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German Pages 565 [570] Year 2013
Lukas Mücke Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956–1972
quellen und studien zur geschichte des östlichen europa Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann und Ludwig Steindorff, in Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. herausgegeben von Jan Kusber
Band 81
Lukas Mücke
Die allgemeine Altersrentenversorgung in der UdSSR, 1956–1972
Franz Steiner Verlag
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V.
Umschlagabbildung: Pravda vom 10. Mai 1956, S. 1: Sowjetische Bürger bei der „freudigen“ Besprechung des am Tag zuvor in derselben Zeitung veröffentlichten Entwurfs des Staatsrentengesetzes. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2013 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10607-8
FÜR CHRISTINE UND AGLAJA
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT .................................................................................................... 11 EINLEITUNG ................................................................................................ 13 Das Thema der Arbeit ................................................................................ 13 Quellen und Herangehensweise ................................................................. 24 1. DEMOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG ................................................. 34 2. DAS SYSTEM DER ALLGEMEINEN ALTERSRENTEN ..................... 52 2.1. Das „Gesetz über die staatlichen Renten“.......................................... 52 2.1.1. Die Entwicklung der staatlichen Altersrentenversorgung bis 1956 ................................................................................... 52 2.1.1.1. Die Entwicklung im Zarenreich bis 1917 .................. 52 2.1.1.2. Die Rentenpolitik der Bol’ševiki bis 1956 ................ 57 2.1.2. Die Genese des Staatsrentengesetzes ...................................... 82 2.1.2.1. Die Motivation für die Durchführung der Reform ..... 82 2.1.2.2. Die Vorbereitung und Verabschiedung des Staatsrentengesetzes ............................................ 98 2.1.2.3. Die Bestimmungen des Staatsrentengesetzes zur Altersversorgung ............................................... 111 2.1.3. Die Formalitäten.................................................................... 121 2.1.3.1. Die Rentenbeantragung ........................................... 121 2.1.3.2. Möglichkeiten des Einspruchs gegen Kommissionsentscheidungen .................................. 127 2.1.3.3. Die Verabschiedung in den Ruhestand.................... 130 2.1.3.4. Die Rentenauszahlung ............................................. 133 2.1.4. Die Umsetzung des Staatsrentengesetzes .............................. 134 2.1.4.1. Die unzureichende Dokumentation der Arbeitsleistung................................................... 136 2.1.4.2. Persönliches Fehlverhalten der Beteiligten ............. 141 2.1.4.3. Lösungsansätze: Strafmaßnahmen und die Heranziehung der obšþestvennost’ .................... 156 2.1.5. Die Finanzierung der staatlichen Altersrenten ...................... 164 2.1.6. Die Nachbesserungen in den Jahren 19561972................... 168 2.1.6.1. Die Anhebung der staatlichen Mindestaltersrente ... 168
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Inhaltsverzeichnis
2.1.6.2. Die Korrekturen an den Bestimmungen zur Weiterarbeit ....................................................... 171 2.2. Das „Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“... 179 2.2.1. Die Altersversorgung in den Kolchosen bis 1964 ................. 180 2.2.1.1. Bauernkomitees, Bauerngesellschaften und Kassen für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe . 180 2.2.1.2. Erste Ansätze einer Kolchosrentenversorgung ........ 187 2.2.1.3. Beschwerdebriefe aus der Kolchosbauernschaft ..... 201 2.2.2. Die Genese des Kolchosrentengesetzes ................................ 207 2.2.2.1. Die Motivation für die Durchführung der Reform .. 207 2.2.2.2. Die Vorbereitung und Verabschiedung des Kolchosrentengesetzes ...................................... 213 2.2.3. Die Bestimmungen des Kolchosrentengesetzes zur Altersversorgung ................................................................ 223 2.2.4. Die Formalitäten.................................................................... 226 2.2.5. Die Finanzierung der Kolchosrenten..................................... 230 2.2.6. Die Umsetzung des Kolchosrentengesetzes .......................... 232 2.2.7. Kritische Resonanz und Nachbesserungen ........................... 237 2.2.7.1. Faktisch ausgeschiedene und ehemalige Kolchosmitglieder ................................................... 238 2.2.7.2. Die Korrektur des Renteneintrittsalters ................... 240 2.2.7.3. Die Anhebung des Rentenniveaus ........................... 242 2.2.8. Exkurs: Die kolchosinterne Rentenversorgung ..................... 247 3. DIE REICHWEITE UND QUALITÄT DER ALTERSRENTEN .......... 253 3.1. Die Reichweite der Altersrentenversorgung .................................... 253 3.1.1. Die Entwicklung der Anzahl der Staatsaltersrentner ............ 253 3.1.2. Die Entwicklung der Anzahl der Kolchosaltersrentner......... 259 3.2. Die Qualität der Altersrentenversorgung ......................................... 261 3.2.1. Die Höhe der Staatsaltersrenten ............................................ 267 3.2.2. Die Höhe der Kolchosaltersrenten ........................................ 278 4. SOWJETISCHE BÜRGER OHNE LEISTUNGSANSPRUCH ............. 284 4.1. 4.2. 4.3. 4.4.
Betroffene Bevölkerungsgruppen .................................................... 284 Die monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte .................... 287 Die Zahl der Sowjetbürger ohne Renten- und Beihilfeanspruch ..... 296 Das Altenheim als Ausfallbürge für nichtrentenberechtigte Arbeiter und Angestellte .................................................................. 300 4.5. Nichtrentenberechtigte Kolchosbauern ............................................ 311
Inhaltsverzeichnis
5. DIE AUSWIRKUNGEN DER RENTENPOLITIK AUF DIE SOZIALSTRUKTUR DER UDSSR ....................................................... 316 5.1. Die Entstehung sozialer Einheiten als Folge sozialpolitischer Staatstätigkeit: Sozialklientele und Versorgungsklassen ................. 316 5.2. Die Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner ................................ 327 5.2.1. Das Konzept der Anspruchsgemeinschaft............................. 327 5.2.2. Die sowjetischen Altersrentner als Anspruchsgemeinschaft 332 5.3. Die sozial differenzierenden Wirkungen der Rentenpolitik ............ 349 6. DIE BEZIEHUNGEN WECHSELSEITIGER VERPFLICHTUNG ZWISCHEN REGIME UND BEVÖLKERUNG .................................... 357 6.1. Der sowjetische Sozialvertrag .......................................................... 357 6.2. Dimensionen von Reziprozität im Kontext der sowjetischen Altersversorgung .............................................................................. 367 6.2.1. Reziprozität und soziale Sicherungssysteme......................... 367 6.2.2. Die paternalistische Dimension der Reziprozität: väterliche Sorge gegen Dankbarkeit und Arbeitsleistung ..... 374 6.2.3. Die qualifikatorische Dimension der Reziprozität: Lebensarbeitsleistung gegen „heilige Verpflichtung“........... 388 7. DIE RENTNERRÄTE: INTERESSENORGANISATIONEN DER SOWJETISCHEN RENTNER ....................................................... 399 7.1. Der Rentnerrat als Organisation der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit ................................................................................... 399 7.2. Die Tätigkeitsbereiche der Rentnerräte............................................ 403 7.2.1. Die Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen .............. 410 7.3. Die Entstehung der Rentnerräte im Spannungsfeld zwischen Eigeninitiative und externer Mobilisierung ..................... 420 7.4. Der Vorwurf der „Absonderung“: Interessenorganisationen in der Kritik ...................................................................................... 433 7.4.1. Die Kampagne gegen die Rentnerräte ................................... 447 8. SCHLUSSTEIL ....................................................................................... 458 8.1. Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse ................................. 458 8.2. Die Wohlfahrtsstaatlichkeit der UdSSR .......................................... 485 VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN ..................................................... 517 LITERATURVERZEICHNIS ................................................................. 518 PERSONENREGISTER .......................................................................... 561
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VORWORT Diese Monographie stellt die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation dar, die im Juli 2012 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft der RuhrUniversität Bochum angenommen wurde. Entstanden ist sie im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojektes zur „Sozialpolitik in der UdSSR, 1956 bis 1970“. Für die Möglichkeit der Teilnahme an diesem Projekt bin ich dem Betreuer meiner Arbeit, Prof. Dr. Stefan Plaggenborg, mehr als verbunden. Vor allem danke ich ihm jedoch für eine Begleitung meines Dissertationsvorhabens, die fachlich immer zielführend und in menschlicher Hinsicht überaus angenehm verlief. In erheblicher Weise profitierte ich auch von der Zusammenarbeit mit Frau Dr. habil. Galina M. Ivanova. Ihre Hinweise zu thematisch relevanten Dokumentenbeständen waren ebenso wertvoll wie die vielen Gespräche, die wir über das Thema führten. Für die großzügige Gewährung von Druckkostenzuschüssen schulde ich zum einen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zum anderen der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung meinen aufrichtigen Dank. In besonderem Maße gilt dies auch für den Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V., der die Publikation nicht nur mit einem erheblichen Betrag fördert, sondern sich in Gestalt von Herrn Prof. Dr. Jan Kusber ebenfalls für ihre Aufnahme in die Reihe „Quellen und Studien zur Geschichte des Östlichen Europa“ ausgesprochen hat. Meinen beiden Eltern, Karin und Siegfried Mücke, danke ich für die finanzielle und vor allem aber auch enorme moralische Unterstützung meiner Studien. Niemand hat größeren Anteil an dem vorliegenden Band als meine Frau, Christine Schröder. Um mir seine Fertigstellung zu ermöglichen, verzichtete sie in diesen langen Jahren auf einen Großteil ihrer spärlichen Freizeit. Ihrer Geduld zu Ehren müssten Lieder komponiert werden. Christine und unserer Tochter Aglaja widme ich dieses Buch.
Winsen (Aller) im Juli 2013
Lukas Mücke
EINLEITUNG DAS THEMA DER ARBEIT In den Jahren 1956 bis 1972 erfuhr die sowjetische Altersrentenversorgung eine grundlegende Reform, in deren Folge erstmals eine Mehrheit der Bürger des Landes Anspruch auf eine staatlich subventionierte Ruhestandsleistung erlangen konnte. Am 14. Juli 1956 verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR das „Gesetz über die staatlichen Renten“1, das die Absicherung der Arbeiter und Angestellten gegen den altersbedingten2 Verlust der Arbeitsfähigkeit auf ein neues Fundament stellte. Es führte nicht nur zur Verdoppelung der durchschnittlichen Bezüge, sondern auch zu einer beträchtlichen Ausweitung des Kreises der Leistungsberechtigten. Zu einer Unterstützungsform, die dem überwiegenden Teil der Bevölkerung offen stand, wurde die Altersrente allerdings erst acht Jahre später: Infolge des am 15. Juli 1964 bestätigten „Gesetzes über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“3 wurden nun ebenfalls dem Gros der einfachen Kolchosmitglieder Ruhestandsleistungen zuteil. Zwar blieben diese deutlich hinter den Leistungen der betagten Arbeiter und Angestellten zurück, doch bedeuteten auch sie eine erhebliche Verbesserung im Vergleich zu den bis dato für die Artelmitglieder4 vorgesehenen Unterstützungsmechanismen. In ihrer Bedeutung für die Verbesserung der Lebenssituation älterer Sowjetbürger und damit für die sowjetische Nachkriegsgesellschaft in ihrer Gesamtheit lassen sich diese beiden Reformen kaum überschätzen. Mit ihnen reagierte der Gesetzgeber auf eine Versorgungssituation, die von extremen Defiziten geprägt war. Schließlich war der rentenpolitische Ansatz des stalinistischen Regimes in erster Linie durch Untätigkeit gekennzeichnet gewesen: Es hatte sich der Verantwortung für die existentielle Absicherung der breiten Bevölkerung schlichtweg entzogen. Zwar waren für die Arbeiter und Angestellten bereits ab Ende der 1920er Jahre
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VVS SSSR, 1956, Nr. 15, Pos. 313. Im Folgenden: Staatsrentengesetz. Neben den Altersrenten wurden mit diesem Normativakt ebenfalls die Bestimmungen zu den staatlichen Invaliden-, Hinterbliebenen- und Kriegsinvalidenrenten reformiert Auch hier wurde eine deutliche Verbesserung der Versorgungssituation erreicht. Zur Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 128142; Andreev, Pravo (1974), S. 182 242; Aþarkan, Art. Pensija po invalidnosti; Art. Pensija po sluþaju poteri kormilތca. VVS SSSR, 1964, Nr. 29, Pos. 340. Im Folgenden: Kolchosrentengesetz. Neben den Ruhestandsgeldern sah auch dieses Gesetzwerk die Erteilung von Invaliden- und Hinterbliebenenrenten vor. Der Begriff des Artels bezieht sich im Rahmen der vorliegenden Arbeit lediglich auf die landwirtschaftlichen und Fischfang-Artele der Sowjetunion, d. h., er wird synonym für den des Kolchos verwendet. Andere, ähnlich titulierte Organisationsformen – wie z. B. das Artel der Gewerbegenossenschaft – bleiben hier außen vor.
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Einleitung
staatliche Altersrenten eingeführt worden. Ihr Bezieherkreis war jedoch eng bemessen geblieben, und nur eine besonders geförderte Minderheit hatte mit Zahlungen rechnen dürfen, die zumindest ein basales Auskommen, weit seltener auch einen sorgenfreien Ruhestand gewährleisteten. In einer noch prekäreren Lage hatten sich die Kolchosbauern befunden, für deren Alterssicherung das Regime sogar bis einschließlich des Jahres 1964 keinerlei Finanzmittel zur Verfügung stellte. Hier war man vollständig auf die Hilfsleistungen der eigenen Artele angewiesen geblieben, die mehrheitlich allerdings nicht über die ökonomischen Voraussetzungen für eine angemessene Unterstützung ihrer Mitglieder verfügten. In der Konsequenz mussten die meisten Sowjetbürger bis zum Inkrafttreten der Rentenreformen auf eine Altersrente verzichten. Hierbei handelte es sich um Menschen, die einen großen Teil ihres bisherigen Lebens hindurch arbeitstätig gewesen waren, oft bei nur geringfügiger Bezahlung und unter großen persönlichen Entbehrungen. Diese Bürger hatten die Wirren der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs durchlebt und an der Kollektivierung der Landwirtschaft oder der Industrialisierung der Volkswirtschaft mitgewirkt. Sie hatten an den Kriegshandlungen des Zweiten Weltkrieges teilgenommen oder seine katastrophalen Begleiterscheinungen erdulden müssen. Nicht wenige von ihnen hatten diese Leiden – unter dem Eindruck der Parteipropaganda – in dem Bewusstsein ertragen, dass sie einen Einsatz für eine gerechte Sache darstellten: einen Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt, zur Verteidigung des Vaterlandes oder zum Aufbau des Sozialismus in der UdSSR. Die Grobmaschigkeit des Netzes der Alterssicherung bedeutete nun aber, dass die meisten betagten Bürger des Landes nicht die geringsten Gegenleistungen für die erbrachten Opfer erhielten und im Alter auf keinerlei staatliche Unterstützung hoffen konnten. Zwar wurde der Sowjetstaat von einem Diktator geführt, in dessen Selbstdarstellung der Rolle einer Vaterfigur, die sich fürsorglich um das Wohl des einfachen Mannes kümmerte, eine zentrale Bedeutung zukam. Tatsächlich aber entsprachen diesem Bild bis ins Jahr 1956 keine Taten: Im Alter und ab dem Moment, in dem sie keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen konnten – und damit aus offizieller Perspektive ihren „gesellschaftlichen Nutzen“ eingebüßt hatten –, mussten die meisten Menschen erfahren, dass sie vollkommen auf sich allein gestellt waren. Verfügten sie nicht über Einkünfte aus der Nebenwirtschaft oder von familiärer Seite, so waren sie mit einem Zustand bitterer Altersarmut konfrontiert. Für diese Personen erlangte somit das in Artikel 12 der Verfassung festgeschriebene Prinzip „Wer nicht arbeitet, der soll nicht essen“ schmerzliche Gültigkeit. Die rentenpolitische Reformtätigkeit, die das neue Regime nach Stalins Ableben (5. März 1953) manifestierte, bedeutete eine deutliche Abkehr von der zuvor betriebenen Politik. Ermöglicht durch den nach der Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkrieges realisierten wirtschaftlichen Aufschwung, war sie nicht vom Prozess der Entstalinisierung zu trennen, der die sowjetische Gesellschaft einem grundlegenden Wandel unterzog. Zu seinen Kennzeichen zählten der Bruch mit der kultischen Verehrung einer einzelnen Führerfigur, die Abkehr der politischen Führung vom Machtinstrument des Massenterrors und die begrenzte Liberalisierung des öffentlichen Lebens. Zur Entstalinisierung gehörten aber auch die Be-
Thema der Arbeit
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mühungen um eine Verbesserung der materiellen Situation der Sowjetbürger. An die Stelle des stalinistischen Konsumverzichts trat nun eine Politik, die auf eine Anhebung des allgemeinen Lebensstandards der breiten Bevölkerung ausgerichtet war.5 Um dieses Ziel zu verwirklichen, betrieb das neue Regime – obwohl es den Begriff selbst nicht verwendete – in einem zuvor ungekannten Maße Sozialpolitik6. Neben seinem Engagement im Bereich der sozialen Sicherung7 investierte der sowjetische Staat in den Wohnungsbau und stabilisierte die Preise von Grundnahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs auf niedrigem Niveau. Desgleichen reformierte er das Entlohnungssystem der Arbeiter und Angestellten, wodurch eine deutliche Anhebung ihrer Mindestlöhne und -gehälter erreicht wurde.8 Unter all diesen Maßnahmen besaß die Reform der Altersrentenversorgung schon aufgrund der enormen Zahl der von ihr berührten Personen einen besonderen Stellenwert. Ab Mitte der 1960er Jahre stellten die Ruheständler das umfangreichste Personenkontingent unter den sowjetischen Rentnern, und zu Beginn des 5
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Allgemein zur Entstalinisierung vgl. Merl, Entstalinisierung; Jones, Introduction; Filtzer, Die Chruschtschow-Ära; Hoffmann, Entstalinisierung, S. 1; Hauslohner, Politics, S. 4144; Pyžikov, Chrušþevskaja ottepelތ. „Sozialpolitik“ wurde in der UdSSR lange Zeit als eine Form der Staatstätigkeit angesehen, die in einem „von Grund auf sozialen“ System wie dem sozialistischen überflüssig sei. Der Begriff wurde stattdessen – ebenso wie der des „Wohlfahrtsstaates“ – negativ mit marktwirtschaftlichen Verhältnissen assoziiert. (Siehe Abs. 8.2.) Als er schließlich doch Ende der 1970er Jahre in den sowjetischen Sprachgebrauch einging, verfügte er über eine eher gesellschaftspolitische Konnotation, zielte social’naja politika nun doch auf die „Gestaltung der Lebensverhältnisse insgesamt“. Vobruba, Legitimationsprobleme, S. 39. Zu ihren Zielen gehörten solcherart auch die Überwindung der Klassenunterschiede und die Formung des „Neuen Menschen“. Vgl. Mrowczynski, Im Netz, S. 102, Anm. 81. Eine Angleichung erfuhr die Begriffsverwendung Ende der 1980er Jahre: So definiert beispielsweise Dunaeva, Material, S. 1, Sozialpolitik als den „wichtigste[n] Bestandteil des komplexen Programms der Perestrojka, deren wichtigstes Ziel in der Erreichung einer neuen, einer humanen und demokratischen Gestalt des Sozialismus besteht“. Zur Definition der „sozialen Sicherung“ wird sich im Folgenden an Koblitz Ruban, Art. Soziale Sicherheit, Sp. 953954, orientiert. Den Autoren zufolge umfasst sie: „1. Leistungen, um Einkommenslosigkeit und Einkommensbelastungen zu verhindern oder auszugleichen, die als Wirkungen von Krankheit, Schwangerschaft, Invalidität, Alter, Tod des Ernährers, Arbeitslosigkeit, außerordentlichen Ausgaben, beruflicher Schädigung [...] jedermann treffen können. [...] 2. Entschädigungen zum Ausgleich solcher Existenznachteile, die von der Allgemeinheit verantwortet werden (Krieg und Kriegsfolgen, Inflation, Strukturkrisen u. a.). 3. Bereitstellung von sozialen Einrichtungen, die jedermann in Anspruch nehmen kann.“ Damit ist die „soziale Sicherung“ vom Begriff der „Sozialpolitik“ zu trennen, der laut Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, S. 26, auch Politikbereiche wie „Arbeitsvertragsrecht, Arbeitsschutz, Arbeitsverfassung, Berufsförderung und Arbeitsvermittlung“ sowie Fragen der Bildungs- und Wohnungspolitik umfasst. Allgemein zur sowjetischen Wohnungspolitik vgl. Kalinina, Housing; DiMaio, Soviet Urban Housing; Plaggenborg, Lebensverhältnisse, S. 805810; Harris, We Too Want to Live. Zur Preispolitik vgl. Clayton, The Social Contract; Stiller, Sozialpolitik, S. 197202. Zum sowjetischen Gesundheitssystem vgl. Field, Health; Kaser, Health Care; Ryan, The Organization; Davis, Political and Economic Influences. Zu den Lohn- und Gehaltsreformen vgl. Filtzer, Soviet Wage Reform; Kirsch, Soviet Wages; Chapman, Recent Trends, S. 151153; Plaggenborg, Lebensverhältnisse, S. 790792; McAuley, Soviet Anti-Poverty Policy, S. 1114.
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Einleitung
folgenden Jahrzehnts bezog etwa ein Zehntel der Sowjetbevölkerung eine Altersrente. Ungleich größer noch war die Zahl der erwerbstätigen Menschen, deren existentielle Nöte bereits durch die Aussicht auf eine solche Leistung gemindert wurden oder deren eigener Lebensstandard sich durch den Umstand verbesserte, dass sie selbst nicht mehr allein für den Unterhalt der eigenen Eltern aufzukommen hatten. Der Bezug einer monatlichen Ruhestandszahlung wurde – mehr als alle anderen sozialen Sicherungsleistungen – zu einer Erfahrung, die von einer Mehrheit der Bürger geteilt bzw. erwartet wurde. Für die hohe Relevanz der Alterssicherung spricht aber ebenfalls die mit ihr verbundene Finanzlast. John Myles’ Feststellung, dass in den westlichen Staaten der Nachkriegszeit „Einkommenstransfers an die ältere Bevölkerung [...] die wichtigste Komponente“ beim Ausbau der nationalen Systeme sozialer Sicherheit darstellten,9 lässt sich ebenso auf die nachstalinsche UdSSR übertragen.10 Für die Altersrentenversorgung als Gegenstand historischer Untersuchung spricht neben ihrer maßgeblichen Bedeutung für die soziale Sicherung noch eine Reihe weiterer Faktoren. So kennzeichnet die zeitgeschichtliche Forschung zweifelsohne ein Desiderat im Hinblick auf die Untersuchung der Grundlagen des Alltagslebens in der UdSSR. Studien zur Lebenssituation älterer Sowjetbürger, die vor allem als ein Problem der materiellen Versorgung begegnet, fehlen für den Bearbeitungszeitraum sogar vollkommen. Dabei verrät gerade die Art und Weise, wie sich die neue politische Führung daran machte, die Versäumnisse der Vergangenheit zu korrigieren, ihr Umgang mit den schwächsten Gliedern des Gemeinwesens, wie ernst es den führenden Vertretern des Sozialismus sowjetischer Prägung mit der Umsetzung ihrer wohlfahrtsbezogenen Ziele war. Die gemeinhin Fedor M. Dostoevskij zugeschriebene Feststellung, dass man anhand eines Blickes in die Gefängnisse eines Landes über seinen Zivilisationsgrad urteilen könne, ließe sich – in leicht veränderter Form – auch auf das Thema der Arbeit übertragen: Um einen Eindruck von der sozialen Qualität einer politischen Ordnung zu gewinnen, bietet es sich an, die materielle Versorgungssituation der älteren Bürger zu studieren, die Lücken im Netz der Alterssicherung zu identifizieren und die Situation in den Alten- und Invalidenheimen zu analysieren. Ein Ziel dieser Untersuchung besteht folglich nicht nur in der Rekonstruktion der Entstehung und der Voraussetzungen der Reformgesetzgebung sowie der detaillierten Beschreibung ihrer Inhalte und Umsetzung. Das Erkenntnisinteresse richtet sich ebenso auf das über die Staats- und die Kolchosrentenversorgung tatsächlich gewährleistete Ni9
Myles, Old Age, S. 17. In ähnlicher Weise befindet Conrad, Alterssicherung, S. 102, dass „die Einkommenstransfers für Arbeitsunfähigkeit, Alter und Ruhestand in ihrer grauen Massivität den Kern moderner Sozialstaaten bilden.“ Zur zentralen Rolle der Altersversorgung vgl. ebenfalls Macnicol, Beveridge, S. 73; Chandler, Shocking Mother Russia, S. 9; Hoffmann, Entstalinisierung, S. 445. 10 Auch hier stieg der Anteil der Aufwendungen für das gesamte Rentensystem unter den Ausgaben des Sozialhaushalts infolge der Reformen von 1956 und 1964 deutlich an. Belief er sich im Jahr 1950 noch auf 17,4 %, so lag er zwischen 1958 und 1972 konstant bei etwa 24 % der sogenannten „Ausgaben für soziale und kulturelle Maßnahmen“. Vgl. NCh SSSR v 1965 g., S. 781 u. 783; NCh SSSR v 1970 g., S. 730 u. 732; NCh SSSR v 1972 g., S. 724 u. 726.
Thema der Arbeit
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veau der Absicherung gegen die mit dem Alter einhergehenden Existenzrisiken. Der offiziellen Lesart zufolge garantierte die „sowjetische gesellschaftliche und staatliche Ordnung [...] den Werktätigen der UdSSR das Recht auf die Sozialversorgung, die [...] alle Voraussetzungen für ein versorgtes Leben im Alter“11
erfüllte. Diese für die Selbstdarstellung des Regimes maßgebliche Behauptung gilt es zu überprüfen. Notwendig erscheint die Beschäftigung mit der sowjetischen Altersrentenversorgung jener Jahre auch aus einem anderen Grund. An ihrem Beispiel lässt sich in geradezu mustergültiger Weise die für die Nachstalinzeit charakteristische, neuartige Qualität der Beziehung zwischen Regime und sowjetischen Bürgern nachvollziehen. Sie kann als Voraussetzung für die Legitimität der neuen Führung und damit für die Stabilität eines politischen Systems verstanden werden, das nicht mehr in der Hauptsache auf der Anwendung von Terror und Zwangsmaßnahmen beruhen sollte. Sind die Maßnahmen zur Steigerung des Lebensstandards als Anzeichen für „ein[en] fundamentale[n] Wandel im Verhältnis von Staat und Bevölkerung“12 zu begreifen, so tritt diese Veränderung vermutlich nirgendwo so deutlich hervor wie im Kontext der Altersrentenversorgung. Sie manifestiert sich zum einen bereits darin, dass die älteren Bürger in ihrer Mehrheit nun nicht mehr als ein Personenkreis galten, der aufgrund seiner Unproduktivität zu vernachlässigen war. Stattdessen begegnete man ihnen als den Inhabern eines berechtigten Anspruches auf Unterstützung. Darüber hinaus kennzeichnete den Umgang von Regimevertretern und Adressaten der Rentenreformen, so die hier vertretene These, ein unverkennbares Element reeller Wechselseitigkeit, eines Gebens und Nehmens, das zuvor nur in der Regimepropaganda gegenwärtig war. Dieses Austauschverhältnis, seine Bedeutung für die politischen Ziele des Regimes wie seine Folgen für die Eigenwahrnehmung der älteren Menschen, gilt es zu analysieren. Ebendiese Auswirkungen der Rentengesetzgebung auf die Selbstverortung der Bürger verdienen auch im Hinblick auf die mit ihnen verbundenen Konsequenzen für die sowjetische Sozialstruktur Aufmerksamkeit. Die Vermutung, dass diese von den Maßnahmen der Jahre 1956 und 1964 nicht unbeeinflusst blieb, ergibt sich zum einen aus der konstitutiven Qualität, die dem sozialpolitischen Handeln westlicher Staaten zugeschrieben wird. Dergestalt hat man darauf hingewiesen, dass der moderne Wohlfahrtsstaat durch die Einteilung der Bevölkerung in Berechtigtengruppen eine Kategorisierung vornehme, die ihrerseits die Identität ihrer Mitglieder beeinflusse und dadurch neue soziale Einheiten erzeuge.13 Die Vermutung liegt nahe, dass die sowjetische Reformtätigkeit ähnliche Ergebnisse zeitigte. 11 Murav’eva, Social’noe obespeþenie, S. 3. 12 Plaggenborg, Experiment, S. 222. 13 Als schlüssiges Beispiel für einen derartigen Effekt führt Baldwin, Die sozialen Ursprünge, S. 690, den Fall der bundesdeutschen Rentner an, die lediglich ihr fortgeschrittenes Lebensalter und ihren Leistungsanspruch gemeinsam hätten und „trotzdem eine sehr starke Macht als politische Akteure auf dem engen Gebiet der Renten- und (teilweise) der Krankenleistungen besitzen“.
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Einleitung
Neben der staatlicherseits vorgenommenen Klassifizierung ist hier allerdings auch den Implikationen des Rentenanspruchs selbst Beachtung zu zollen. Der 1956 vollzogene Wandel im staatlichen Verhalten gegenüber den älteren Bevölkerungsteilen bedeutete nicht zuletzt einen Kommentar zur Lebensleistung dieser Menschen: Die Erteilung der Altersrenten konnte als eine offizielle Anerkennung jener Verdienste wahrgenommen werden, die unter Stalin keine Wertschätzung erfahren hatten. Die von der Gesamtheit der Leistungsbezieher geteilte Gewissheit, einen berechtigten Anspruch auf eine Altersversorgung zu besitzen, musste sich zwangsläufig auf die Eigenpositionierung der Betroffenen gegenüber dem Staat auswirken. Beantwortet werden soll in diesem Zusammenhang die Frage, wie sich die Ergebnisse der rentenpolitischen „Kategorisierungsarbeit“14, die neu konstituierten sozialen Einheiten, konzeptionell beschreiben lassen. Für die Entstehung einer neuen sozialen Einheit der Altersrentner spricht auch das bemerkenswerte Wirken einer in der Forschung bisher kaum beachteten Form der Rentnerorganisation. Im direkten Anschluss an das Inkrafttreten des Staatsrentengesetzes wurden in der gesamten UdSSR und in großer Anzahl sogenannte Rentner- und Arbeitsveteranenräte gegründet. Der Umstand, dass diese Entwicklung augenscheinlich zu einem beträchtlichen Teil auf die Eigeninitiative der älteren Menschen selbst zurückzuführen war, erlaubt es, sie als den organisatorischen Ausdruck der sozial strukturierenden Qualität der Rentenreformen wahrzunehmen. Für die Auswirkungen der Anerkennung des Rentenanspruchs auf die Eigenwahrnehmung der Bürger spricht das erhebliche Selbstbewusstsein, das die Mitglieder der Räte gegenüber den lokalen Autoritäten mitunter an den Tag legten. Im Rahmen der Dissertation soll nicht nur die Vielfalt der Ratsaktivitäten dargestellt werden. Zu untersuchen gilt es darüber hinaus zum einen, in welchem Umfang sich die Organisationen speziell der Anliegen älterer Menschen annahmen – und damit sogar bisweilen als lokale Interessenvertretungen agierten. Zum anderen soll die Reaktion des Regimes auf diese Initiativen analysiert werden. Hier vermitteln sich möglicherweise Erkenntnisse über das Ausmaß, in dem unter Nikita S. Chrušþev eigenständiges Bürgerengagement akzeptiert wurde. Ein weiterer Aspekt der Rentenreformen, der bisher nur wenig Aufmerksamkeit erfahren hat, betrifft schließlich ihre Einordnung in den internationalen Kontext. Die Ausdehnung der Rentenversorgung auf weite Teile der Bevölkerung und die Anhebung der Renten auf ein den Lebensunterhalt gewährleistendes Niveau waren Zielsetzungen, die auch die Sozialpolitik westlicher Staatswesen kennzeichneten. Die in Schweden, Großbritannien, den Niederlanden oder der Bundesrepublik Deutschland während der Nachkriegsjahrzehnte durchgeführten Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Sicherung werden in der vergleichenden Forschung gemeinhin als Beispiele für die Entwicklung des europäischen oder westlichen Wohlfahrtsstaates beschrieben. Dabei finden die zeitgleich in der UdSSR auf demselben Gebiet erzielten Fortschritte trotz der bestehenden Parallelen meist keine Berücksichtigung. Dies scheint ungerechtfertigt. Mit dieser Untersuchung
14 Noiriel, Die Tyrannei, S. 303.
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soll eine Antwort darauf gegeben werden, ob und inwiefern sich auch die Sowjetunion der Jahre 1956 bis 1972 als „Wohlfahrtsstaat“ charakterisieren lässt. Die Entscheidung für den genannten Bearbeitungszeitraum ergibt sich erstens aus der Gesetzgebungstätigkeit zur Altersrentenversorgung, deren wichtigste Marksteine er umfasst: Sein Beginn fällt mit der Verabschiedung des Staatsrentengesetzes zusammen. Und seinen Schlusspunkt setzen die im Juni des Jahres 1971 an beiden Rentensystemen vorgenommenen Nachbesserungen, die noch einmal zu einer deutlichen Anhebung der staatlichen Mindestaltersrenten sowie sämtlicher Kolchosruhestandsgelder führten. Spätere Korrekturen sollten keine vergleichbare Bedeutung mehr für die Formung der Altersrentenversorgung besitzen. Von besonderem Interesse ist der genannte Zeitraum allerdings ebenfalls, weil sich zumindest seine zweite Hälfte mit jenen Jahren deckt, die von vielen Bürgern späterer Jahrzehnte als „goldenes Zeitalter“ der sowjetischen Geschichte wahrgenommen wurden. Diese Ära wird im Allgemeinen speziell mit der ersten Hälfte des Brežnev-Regimes, die der Periode der sogenannten „Stagnation“ voranging, gleichgesetzt.15 Die auf sie bezogene Sowjetnostalgie ließ einen Großteil der Bevölkerung der Russischen Föderation noch zu Anfang des neuen Jahrtausends mit Unzufriedenheit auf die unter Putin umgesetzten Sozialreformen reagieren. Ohne ein Bewusstsein für die politische Stabilität des von Leonid I. Brežnev geführten Systems und das zuvor ungekannte Maß, in dem die Menschen unter seinen Bedingungen Konsumbedürfnisse befriedigen und soziale Sicherheit genießen konnten,16 lässt sich eine derartige Haltung kaum nachvollziehen. Eine unabdingbare Voraussetzung für diese Phase relativer Prosperität stellten allerdings die größtenteils schon unter Chrušþev eingeleiteten Maßnahmen zur Verringerung von Armut und Einkommensungleichheit innerhalb der Bevölkerung dar.17 Drittens schließlich ergibt sich der Untersuchungszeitraum bereits aus der eingeschränkten Zugänglichkeit der relevanten Archivbestände: Aufgrund der geltenden Sperrfristen waren während der Recherchen nur wenige Materialen aus den Jahren nach 1972 einsehbar. Der Gegenstand dieser Untersuchung, die Altersrentenversorgung, wird in einem engen Sinne definiert: Er umfasst allein die erwähnten Versorgungssysteme 15 Brežnev stand dem Politbüro des ZK der KPdSU vom Oktober 1964 bis zum November 1982 vor. Vorschläge zur Gliederung seines Regimes kommen zu leicht abweichenden Ergebnissen. So dauerte die erste Phase der Brežnev-Ära laut Plaggenborg, Entwickelter Sozialismus, S. 320, etwa bis zum Jahr 1970. Als Zäsur hätten insbesondere die Ereignisse des Prager Frühlings (1968) gewirkt, in deren Folge es zu einer Intensivierung der konservativen Züge des Regime und zu einem Versickern der Reformansätze gekommen sei. Cherkasov, The Twilight, S. 7677, unterteilt Brežnevs Ägide hingegen in die Zeit vor und nach dem Ausbrechen seiner Krankheit, die sich erstmals 1973 zu erkennen gegeben habe. Zu den BrežnevJahren – oder Teilen derselben – als „goldener Zeit“ vgl. Plaggenborg, Entwickelter Sozialismus, S. 320; Thatcher, Brezhnev, S. 33; Dubin, Gesellschaft, S. 65; Ryabov, The Evolution, S. 217. Zur Sowjetnostalgie vgl. Dubin, Face, S. 56; ders., Goldene Zeiten; Nostalgia for Brezhnev; Ekman Linde, Communist Nostalgia; Munro, Russiaތs Persistent Communist Legacy; McMann, The Shrinking. 16 Vgl. Plaggenborg, Experiment, S. 226. 17 Vgl. McAuley, Economic Welfare, S. 3.
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für Arbeiter, Angestellte und Kolchosbauern. Andere Rechtsinstitute, die ebenfalls eine Spielart der Ruhestandsversorgung darstellten, bleiben somit ausgespart. Definiert man das Institut der Altersrente als „eine regelmäßig wiederkehrende Einkommenszahlung von Seiten des Staates oder aus anderer Quelle für Menschen, die ein bestimmtes Alter erreicht haben“,18 so schließt dies z. B. die Berücksichtigung einer Leistungsform wie der sowjetischen „Dienstaltersrente“ aus. Deren Bezug leitete sich in erster Linie aus der Summe der individuellen Arbeitsjahre ab. Auch stand sie keineswegs der Allgemeinheit der Werktätigen, sondern lediglich ausgewählten Berufsgruppen zur Verfügung.19 Ähnliches lässt sich in Bezug auf die „persönlichen Altersrenten“20 oder die „Altersrenten für Wissenschaftler“21 feststellen. Ihr Erhalt war zwar sehr wohl an ein bestimmtes Lebensalter gebunden, doch handelte es sich nicht um Transferleistungen, die auf eine Absicherung der gewöhnlichen Bürger zielten. Sie waren stattdessen quantitativ 18 Greve, Art. Pension, S. 22 [eig. Hervorhebung]. Zur zentralen Bedeutung des Überschreitens einer bestimmten Altersgrenze für das Institut der Altersrente vgl. auch Gincburg, Trudovoj staž, S. 47. Siehe diesbezüglich ebenso Ehmer, Sozialgeschichte, S. 80, der den Übergang zu einer „Lebensphase Alter“ „an die Einführung eines Regelpensionsalters geknüpft [sieht], das von der individuellen Arbeitsfähigkeit abgekoppelt war“. Vgl. auch Conrad, Die Entstehung; Backes Clemens, Lebenslagen, S. 7. 19 Für die Erteilung einer Dienstaltersrente war neben der Höhe der Lebensarbeitszeit (meist 25 Jahre) vor allem das tatsächliche Ausscheiden aus dem Beruf maßgeblich. Diese Leistungsart war Berufsgruppen wie Lehrern, Ärzten und Piloten vorbehalten. Nach demselben Prinzip funktionierten zudem die Rentenversorgung der Offiziere und anderer Berufssoldaten sowie das für einige Künstlerberufe eingerichtete Rentenprogramm. Laut Zentralverwaltung für Statistik der UdSSR stellten die „gewöhnlichen“ Dienstaltersrentner 1,7 % (1957) bzw. 0,4 % (1972) der sowjetischen Rentnerschaft. Errechnet aus: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 2 ob.; op. 48, d. 1392, l. 1; Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 85. Allgemein zu dieser Leistungsform vgl. Hülsbergen, Zum Dienstalters- und Auslandsrentensystem; Aþarkan, Art. Pensija za vyslugu let. 20 Persönliche Altersrenten ließ man Einzelpersonen zukommen, die sich nach offizieller Auffassung in besonderer Weise um Staat, Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft oder Technik verdient gemacht hatten. Bis 1970 lag das Renteneintrittsalter fünf Jahre unter dem der staatlichen Standardruheständler. Die Leistungshöhe hing davon ab, ob es sich um Renten von Unions-, Republik- oder lokalem Rang handelte. Der materielle Vorteil, den die Zuweisung einer solchen Leistung bedeutete, erklärte sich nicht nur aus ihrer Höhe (Einem Rentner von Unionsrang konnten z. B. monatlich bis zu 200 R ausgezahlt werden.), sondern auch aus den zusätzlichen Privilegien, die die Bezieher genossen. Zu den persönlichen Altersrenten vgl. Karcchija, Pravovye Voprosy; ders., Pensionnoe obespeþenie, S. 120124; Ahlberg, Das sowjetische Privilegiensystem, S. 128130; Matthews, Privilege, S. 103104. Eine besondere Form der persönlichen Renten waren die der politischen Elite gewährten Leistungen, die nicht an das Maximum von 200 R gebunden waren. Über die Häufigkeit, mit der diese Spitzenrenten während des Untersuchungszeitraums verliehen wurden, finden sich in der Fachliteratur leider keine Informationen. Ihre Existenz belegt das Beispiel Chrušþevs, dem nach seinem Sturz eine Rente von 500 R bewilligt wurde. Vgl. Taubman, Khrushchev, S. 17. 21 Das Sondersystem der Wissenschaftlerrenten kennzeichnete, dass je nach „Rang“ des Antragstellers spezifische Bemessungsobergrenzen galten. Ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften konnte mit bis zu 600 R, ein einfacher wissenschaftlicher Mitarbeiter jedoch nur mit bis zu 40 R rechnen. Vgl. Karcchija, Pensionnoe obespeþenie, S. 106119; Hülsbergen, Zum Wissenschaftlerrentensystem; Astrachan, Art. Pensija; Faude, Strukturelemente, S. 139.
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kaum ins Gewicht fallenden22 Personengruppen vorbehalten, deren besondere Verdienste honoriert werden sollten. Im Zentrum dieser Untersuchung steht jedoch nicht die Funktion einzelner Rentenformen als Instrumente der Privilegierung, sondern ausdrücklich die allgemeingesellschaftliche Relevanz einer erstmals für die Bevölkerung in ihrer gesamten Breite eingeführten Alterssicherung. Wird im Folgenden also von der Altersrente oder dem Ruhestandsgeld gesprochen, so sind damit allein Staats- und Kolchosaltersrente gemeint, die zusammenfassend als die allgemeinen Altersrenten bezeichnet werden.23 Das Bewusstsein um die hohe Bedeutung, die der Alterssicherung im Kontext des Ausbaus der westlichen Wohlfahrtssysteme der Nachkriegszeit zukam, hat dazu beigetragen, dass sie zum Objekt einer Reihe von geschichtswissenschaftlichen, teils auch komparativen, Arbeiten wurde.24 Die allgemeine Altersrentenversorgung der UdSSR ist hingegen nur selten zum Gegenstand spezieller Untersuchungen geworden. Wissenschaftler wie Pavel Stiller, Bernice Q. Madison oder Alastair McAuley zollten ihr primär im Rahmen von Betrachtungen Aufmerksamkeit, die sich der sowjetischen Sozialpolitik in ihrer Gesamtheit annahmen. Ein Schwerpunkt lag dabei zweifelsohne auf der Darstellung der Rentenbestimmungen sowie den Spezifika der über die Altersrenten generierten Versorgungsqualität. Die diesbezüglichen Erkenntnisse erscheinen in vielen Fällen durchaus plausibel. Dies gilt sowohl für die grundsätzlich zurückhaltende Bewertung des Niveaus der staatlichen Altersrenten als auch für die Beobachtung, dass die Kolchosrenten allein aufgrund ihrer geringen Höhe kaum für den Lebensunterhalt ausreichten.25 Ebenso schlüssig erscheint die Feststellung, dass sich die Reichweite der Alterssicherung nicht durch Universalität auszeichnete, weil die Bezugskriterien keineswegs von sämtlichen Bürgern im Rentenalter erfüllt werden konnten.26 Des Weiteren spricht viel für die Beobachtung, dass nicht nur die Kolchos-
22 Persönliche Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten erhielten 1957 0,6 % und 1972 0,7 % aller sowjetischen Rentner. Der Anteil der Bezieher von Wissenschaftlerrenten belief sich im Jahr 1957 auf 0,03 %, fünfzehn Jahre später sogar nur auf höchstens 0,01 %. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 2 ob.; op. 48, d. 1392, ll. 22 ob; Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 85. 23 Um Missverständnisse zu vermeiden, fallen unter den Begriff der staatlichen Altersrente – oder Staatsaltersrente – lediglich die gemäß dem Gesetz vom 14. Juli 1956 gewährten Leistungen. De facto handelte es sich freilich auch bei den Kolchosrenten in gewisser Weise um „staatliche“ Leistungen, da sie über den Staatshaushalt mitfinanziert und ihre Auszahlung von staatlichen Organen kontrolliert wurde. 24 Zu erwähnen sind hier etwa: Gordon, Social Security Policies; Myles, Old Age; Baldwin, The Politics; Williamson Pampel, Old-Age Security; Thane, Social Histories; ders., The History. Unter den deutschsprachigen Arbeiten verdienen besondere Erwähnung: Ehmer, Sozialgeschichte; Conrad, Die Entstehung; ders., Vom Greis. 25 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 150161; Madison, Social Welfare, S. 201; George Manning, Socialism, S. 47. 26 Vgl. McAuley, Economic Welfare, S. 275276; Madison, The Soviet Pension System, S. 171; Chandler, Shocking Mother Russia, S. 46. Dieser Umstand wird auch von einigen sowjetischen Autoren eingestanden. Vgl. z. B. Zacharov, Obespeþenie, S. 113; Netrudosposobnoe naselenie, S. 171.
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bauern im Rahmen der allgemeinen Altersrentenversorgung benachteiligt waren, sondern auch die Frauen deutlich weniger von den Maßnahmen profitierten als ihre männlichen Altersgenossen.27 Überzeugend wirkt ebenso die Einschätzung der gravierenden Folgen der fehlenden Dynamisierung der sowjetischen Ruhestandszahlungen. Sie bedingte, dass Personen, deren Rentenerteilung schon einige Jahre in der Vergangenheit lag, in ihrem Wohlstandsniveau zunehmend hinter werktätiger Bevölkerung und Neurentnern zurückblieben.28 Von besonderem Nutzen erscheinen zudem die von Alastair McAuley vorgenommenen Kalkulationen zur Bestimmung des für die sowjetischen Verhältnisse charakteristischen Existenzminimums.29 Obwohl diese einer leichten Anpassung an die Spezifika des Rentnerbudgets bedürfen, können sie als Grundlage für ein Urteil darüber dienen, ob die allgemeinen Altersrenten zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreichten. Als problematisch erweist sich allerdings, dass viele der geschilderten Erkenntnisse in der Regel auf der sowjetischen Sekundärliteratur und den veröffentlichten statistischen Daten basieren. Die Bewertung von Qualität und Reichweite der Altersrentenversorgung ist somit zwangsläufig von Defiziten und Ungenauigkeiten gekennzeichnet. Dies betrifft insbesondere einen so zentralen Parameter wie die Höhe der durchschnittlichen Altersrenten, zu welcher für die meisten Jahre lediglich ungenaue Schätzwerte vorliegen. Ebenso wenig konnten konkrete Aussagen zur Größe des Kontingents der Nichtrentenberechtigten oder zur Verteilung der Rentnerschaft in Abhängigkeit von der ihnen erteilten Leistungshöhe, von ihrer Republikzugehörigkeit oder von ihrem Wohnort angeboten werden. Ohne diesbezügliche Antworten lassen sich jedoch die Grenzen des Systems der allgemeinen Ruhestandsversorgung nur schwerlich beurteilen. Infolge der mittlerweile erfolgten Öffnung der Archive, die eine Fülle zuvor ungenutzten Materials zugänglich gemacht hat, können diese Fragen in der vorliegenden Arbeit neu und in weit größerem Detail als zuvor behandelt werden. Aufmerksamkeit erfuhren auch die mit der Durchführung der Rentenreformen verbundenen Motivationen der sowjetischen Führung. Hier ist beispielsweise auf die volkswirtschaftlichen Interessen des Regimes verwiesen worden: Die neugeordneten bzw. -eingeführten Altersrenten fungierten dieser Logik gemäß als ein materieller Anreiz für die Steigerung der individuellen Arbeitsproduktivität der Arbeiter, Angestellten und Kolchosbauern.30 Einleuchtend erscheint ebenso der Verweis auf die Systemkonkurrenz mit dem kapitalistischen Westen, die in einen Wettbewerb um den höheren Lebensstandard der jeweiligen Bevölkerung mündete.31 Gleiches gilt für die Argumentation mit den Legitimationsbedürfnissen des neuen Regimes, das bestrebt gewesen sei, die Folgsamkeit der Menschen über die
27 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 273280; Madison, The Soviet Pension System, S. 170. 28 Vgl. George Manning, Socialism, S. 48; Beyme, Reformpolitik, S. 113. 29 Vgl. McAuley, Economic Welfare, S. 1620. Die Überlegungen des Autors basieren auf Sarkisjan Kuznecova, Potrebnosti. 30 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 246; Merl, Jeder nach seinen Fähigkeiten, S. 282. 31 Vgl. Rimlinger, Welfare Policy, S. 252253; Beyrau, Das sowjetische Modell, S. 51.
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Steigerung des allgemeinen Lebensstandards zu sichern.32 Keine Bedeutung wurde allerdings den Unmutsäußerungen der Sowjetbürger über den miserablen Zustand der sozialen Sicherung zugeschrieben. So befindet etwa Stephan Merl, dass die Entstalinisierungspolitik der ersten Jahre bei „zunächst geringem Druck aus der Bevölkerung“ vor allem auf die Initiative der politischen Führung zurückzuführen sei. Angesichts dessen, was über die generelle Neigung der Bürger zum Verfassen von an die Führung des Landes gerichteten Eingaben und Briefen bekannt ist,33 erscheint die Annahme einer derartigen Passivität wenig überzeugend. Es wird im Gegensatz hierzu davon ausgegangen, dass die Kritik, die die Menschen in ihren Schreiben anbrachten, sehr wohl einen Einfluss auf die Entscheidung des Regimes für die Reformdurchführung und die konkrete Gestaltung der Politikinhalte ausübte. Weitaus spärlicher fallen die Ergebnisse der älteren Literatur zu den weiteren, mit dieser Untersuchung verbundenen Erkenntnisinteressen aus. Für die Spezifika der nachstalinschen Relation zwischen Regime und Bevölkerung ist von nicht wenigen Autoren die Vorstellung eines sowjetischen Sozialvertrages geprägt worden. Den Menschen seien Sozialleistungen und andere Maßnahmen zur Steigerung ihres Lebensstandards zuteilgeworden, wofür man von ihnen allerdings im Gegenzug Fügsamkeit und Loyalität erwartet habe.34 Der Vertragsbegriff bietet sich allenfalls als etwas grobe Metapher für die zwischen den beiden Seiten existierenden Wechselseitigkeitsbeziehungen an. Für die konkrete Analyse des historischen Beispiels der UdSSR eignen sich, wie darzulegen sein wird, kontraktualistische Überlegungen weniger. Aus diesem Grunde soll im Folgenden auf alternative Erklärmodelle zurückgegriffen werden. Zu den Autoren, die sich mit den Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Eigenwahrnehmung der Ruheständler und die soziale Struktur der UdSSR beschäftigt haben, gehören auch sowjetische Sozialwissenschaftler. So konstatieren Autoren wie Vladimir D. Šapiro oder Spartak L. Senjavskij, dass die Altersrentner nicht einfach als älterer Teil der Arbeiter, Angestellten und Kolchosbauern, sondern als eigenständige Bevölkerungsgruppe wahrzunehmen seien.35 Besondere Erwähnung verdient in diesem Kontext die Arbeit Stephen Lovells, der bei der Charakterisierung der neu konstituierten sozialen Größe auch die Implikationen des staatlich anerkannten Verdienstes der früheren Werktätigen berücksichtigt. Viel spricht für die von ihm vorgenommene Übertragung von Mark Edeles Konzepts der Anspruchsgemeinschaft36 auf die Altersrentner. Lovells Gedanke, dass Ruhe-
32 Vgl. Chandler, Shocking Mother Russia, S. 10; Hoffmann, Entstalinisierung, S. 462; Vobruba, Legitimationsprobleme, S. 2933. 33 Vgl. Mommsen, Hilf mir, S. 217236; Bittner, Local Soviets; White, Political Communications. 34 Vgl. z. B. Breslauer, On the Adaptability; Hauslohner, Gorbachev’s Social Contract; Cook, The Soviet Social Contract. 35 Vgl. Šapiro, ýelovek, S. 2930; Senjavskij, Izmenenija, S. 359. 36 Siehe unten.
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ständler und Kriegsveteranen als eine gemeinsame soziale Einheit betrachtet werden können,37 besitzt allerdings etwas weniger Überzeugungskraft. Nur wenige westliche Autoren haben schließlich das Phänomen der Rentnerräte thematisiert. Ihm wurde, wenn überhaupt, lediglich en passant Beachtung geschenkt, ohne dass dabei die Signifikanz der Organisationen erkannt worden wäre.38 Und auch die Zahl der sowjetischen Arbeiten, in denen diese Form des Engagements Erwähnung findet, nimmt sich bescheiden aus.39 Verantwortlich hierfür war wohl die nur vergleichsweise kurze Zeitspanne, in der die Räte als geeignetes Instrument zur Mobilisierung der ehrenamtlichen Rentneraktivität anerkannt waren.
QUELLEN UND HERANGEHENSWEISE Neben der erwähnten Sekundärliteratur sowie den für die Rentenbestimmungen maßgeblichen Rechtstexten konnte eine Vielzahl weiterer Quellen ausgewertet werden. Im Vordergrund stand dabei die Auswertung von umfangreichen Archivbeständen, die bisher noch nicht – oder lediglich oberflächlich – zur historiographischen Aufarbeitung des sowjetischen Altersrentensystems verwendet wurden. Für die Rekonstruktion der Entstehung der Reformen, der mit ihnen verbundenen Motivationen und der bei der Vorbereitung der Gesetzentwürfe besonders umstrittenen Detailfragen haben sich die Bestände des Staatsarchivs der Russischen Föderation (GARF) als ertragreich erwiesen. Hier finden sich z. B. die Unterlagen des Staatskomitees des Ministerrats der UdSSR für Fragen der Arbeit und des Erwerbseinkommens (Goskomtrud) (Fonds R 9553). Die Mitarbeiter dieses am 22. Mai 1955 gegründeten zentralen Verwaltungsorgans, das in manchen Aspekten die Funktion eines Unionsministeriums für Sozialversorgung übernahm,40 waren maßgeblich an der Neuregelung der allgemeinen Altersrenten beteiligt.41 Ne37 Vgl. Lovell, Soviet Russiaތs Older Generations, S. 221222. Von Interesse sind auch andere Arbeiten dieses Autors: Vgl. z. B. ders., Soviet Socialism; ders., Les enjeux politiques. 38 Erwähnung finden die Rentnerräte lediglich bei Wesson, Volunteers, S. 241243, und Friedgut, Political Participation, S. 244245. 39 Vgl. z. B. Kozlov, Sootnošenie; Lukjanow Lasarew, Der Sowjetstaat; Dokuþaeva, Obšþestvenno-politiþeskaja dejatel’nost’. 40 Ein solches – das kurzlebige Ministerium der UdSSR für Arbeit und soziale Fragen – wurde in der nachstalinschen UdSSR erst 1991 auf der Grundlage einer Nachfolgeorganisation des Goskomtrud eingerichtet. 41 Das Aufgabengebiet dieser „ersten[n] offizielle[n] sowjetische[n] Institution, die sich mit dem Komplex Lebensstandard ernsthaft beschäftigen sollte“ (Stiller, Sozialpolitik, S. 108.), bestand ebenfalls in der staatlichen Regulierung der Arbeitsentlohnung für Arbeiter und Angestellte. So war der Goskomtrud auch für die Reform des Lohn- und Gehaltssystems verantwortlich. Vgl. Volkov, Trud, S. 23; Kirsch, Soviet Wages, S. 46; Hauslohner, Managing, S. 110112. Im Bereich der sozialen Sicherung beschränkte sich seine Tätigkeit zunächst auf die Ausarbeitung des Staatsrentenentwurfs. Darüber hinaus sollte die Behörde über etwaige Unstimmigkeiten beraten, die zwischen dem Zentralrat der Sowjetgewerkschaften und den Ministerien hinsichtlich der Verwendung von Finanzmitteln aus dem Haushalt der staatlichen
Quellen und Herangehensweise
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ben Protokollen von Komiteesitzungen enthalten diese Bestände auch frühe Entwurfsfassungen der Gesetze, Referate zu Fachfragen und Stellungnahmen anderer an der Gesetzgebung beteiligter Behörden. In demselben Archiv befinden sich die Unterlagen des Ministerrats der RSFSR (F. A 259), des Ministeriums der RSFSR für Sozialversorgung (F. A 413) und des Allunions-Zentralrats der Gewerkschaften (VCSPS) (F. R 5451). Diese Organe partizipierten nicht nur ebenfalls an der Konzeption der Gesetze. In den Aufgabenbereich der beiden letztgenannten Institutionen fiel ebenso die praktische Umsetzung der Gesetzesbestimmungen. So ermöglichen etwa die in ihren Beständen aufbewahrten Berichte über die Begleitumstände der Rentenbewilligungen einen vergleichsweise ungefälschten Eindruck von den Mängeln der staatlichen Planungen. Als wertvoll erweisen sich die genannten Fonds aber auch deshalb, weil sie eine Fülle von Material über die Rentnerräte bereitstellen. Anhand der von ihren Aktivisten selbst verfassten Rechenschaftsberichte sowie der den Räten gewidmeten Reporte von Mitgliedern des staatlichen und Gewerkschaftsapparats lässt sich nicht nur das breite Spektrum ihrer Tätigkeiten beschreiben, sondern ebenfalls ihre Beurteilung von offizieller Seite nachvollziehen.42 Einen beträchtlichen Wert für das Verständnis der Genese der Reformen besitzen zudem die Bestände des Obersten Sowjets der UdSSR (F. R 7523), die u. a. die Protokolle der Sitzungen jener Unterkommissionen enthalten, die über die Endredaktion der Gesetzentwürfe berieten. Von besonderem Interesse erscheinen gleichfalls die Materialien des Empfangszimmers bzw. der Briefabteilung des PräSozialversicherung entstanden. Nach der Verabschiedung des Staatsrentengesetzes wurde der Goskomtrud ebenfalls damit beauftragt, zur Beseitigung von Unklarheiten beizutragen, die sich aus der Anwendung des Gesetzes ergaben. Auch an den nach 1956 vorgenommenen Korrekturen am Staatsrentengesetz sowie der Vorbereitung des Kolchosrentengesetzes von 1964 war das Staatskomitee, das ausgewiesene Fachleute zu seinen Mitarbeitern zählte (z. B. Michail S. Lancev, der der Rentenabteilung vorstand, und Viktor A. Aþarkan, der für das dem Goskomtrud angeschlossene Wissenschaftliche Forschungsinstitut für Arbeit tätig war), beteiligt. Zum ersten Vorsitzenden des Staatskomitees ernannte man Lazar’ M. Kaganoviþ. Der „eiserne Volkskommissar“ ging allerdings schon im Juni 1956 seiner Position verlustig und wurde durch Aleksandr P. Volkov ersetzt. Zur – vermeintlichen oder tatsächlichen – Überforderung Kaganoviþs und der von ihm geäußerten Selbstkritik vgl. Prezidium CK KPSS 1954 1964 (Bd. 1), S. 129131 u. 940. Hierzu und zu seinem groben Umgang mit den Untergebenen vgl. auch die 1957 im Kontext des Vorgehens gegen die Anti-Parteigruppe abgegebene Erklärung seines früheren Stellvertreters Ivan V. Goroškin (CAOPIM, F. 4106, op. 1, d. 8., l. 9091). Vgl. zudem Nastojþivo i posledovatelތno, S. 6. Allgemein zum Goskomtrud und seinen Aufgaben vgl. Karavaev, Za dalތnejšee soveršenstvovanie, S. 75; Art. Gosudarstvennyj komitet, S. 108109; Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 91101. 42 Hervorzuheben sind dabei speziell die Stenogramme der im zweijährigen Turnus einberufenen „Konferenzen der führenden Mitarbeiter der Sozialversorgung der RSFSR“ (für die Jahre 1958, 1960 und 1962: GARF, F. A 259, op. 1, d. 3044, d. 3303 u. d. 3571). Diese Sitzungen, auf denen sich die jeweilige Ministerin mit den Leitern der Regions- und Gebietsorgane ihrer Behörde austauschte, vermitteln eine Vorstellung von der bescheidenen, aber nichtsdestoweniger vorhandenen „Diskussionskultur“ innerhalb des Apparats. Gleichzeitig wurden im Rahmen solcher Beratungen Defizite der eigenen Arbeit und das Phänomen der Rentnerräte durchaus differenziert besprochen.
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sidiums des Obersten Sowjets. Hier findet sich zum einen eine Vielzahl von Briefen und Petitionen, die sowjetische Bürger an die formal höchste Instanz des Landes adressierten, um in persönlichen Notlagen Hilfe zu erhalten oder auf allgemeine Missstände hinzuweisen. Gleichzeitig zeigen die von den Mitarbeitern der Abteilung für den jeweiligen Präsidiumsvorsitzenden verfassten Zusammenfassungen, welche Themen der politischen Führung als besonders relevant beschrieben wurden.43 Der hohe Stellenwert, den das Problem der Altersrentenversorgung für die sowjetische Bevölkerung besaß, offenbart sich an dem Umstand, dass es – speziell vor und nach den Reformen von 1956 und 1964 – zu den am häufigsten angesprochenen sozialpolitischen Themen gehörte. Dass derartige Impulse nicht vollends ungehört blieben, legt nicht nur die Weiterleitung mancher Berichte dieser Abteilung an das ZK der KPdSU nahe. Hierfür spricht ebenfalls, dass die Wortmeldungen der Sowjetbürger in der politischen Diskussion nicht selten als Argument für oder wider die Korrektur von Einzelaspekten der Gesetzgebung angeführt wurden. Am Beispiel solcher Briefe und der über sie erstellten thematischen Zusammenstellungen vermitteln sich zum einen die Mängel, die die sowjetische Alterssicherung vor und teilweise ebenso noch nach den Reformen kennzeichneten. Die Relevanz der Schreiben erklärt sich zum anderen jedoch auch aus der Tatsache, dass sich mit ihrer Hilfe nachvollziehen lässt, wie der Einzelne seine eigene Position gegenüber dem Regime wahrnahm – oder verstanden wissen wollte.44 Die Analyse der zu Rentenfragen verfassten Briefe ermöglicht dementsprechend Erkenntnisse über die sich im Kontext der allgemeinen Ruhestandsversorgung abzeichnende Beziehung zwischen Regime und älterer Bevölkerung. Besondere Erwähnung verdienen an dieser Stelle ebenfalls die in Fonds 1562 des Russischen Staatsarchivs für Wirtschaft (RGAƠ) vorhandenen Dokumente der Zentralverwaltung für Statistik (ZVS) der UdSSR. Hier finden sich reichhaltige, 43 In der Regel zitieren solche Auskünfte ebenfalls aus Schreiben, die als beispielhaft verstanden wurden. Dabei ist sicherlich anzunehmen, dass diese Auszüge mitunter in ihrer Aussage entschärft wurden. Auch muss davon ausgegangen werden, dass eine thematische Filterung stattfand: Bestimmte Themen (z. B. Kritik an den Führungspersönlichkeiten) werden nicht nach „oben“, sondern an die Sicherheitsorgane weitergeleitet, andere als zu banal beurteilt worden sein. Als Quelle ist ihnen somit mit der nötigen Zurückhaltung zu begegnen. In den Briefen enthaltene Kritik wurde jedoch nicht vollständig unterschlagen, und die Mitarbeiter der Briefabteilung wiesen zudem nicht selten auf die „besondere Schärfe“ im Tonfall der Autoren hin. Auch die im Original erhaltenen Briefe selbst lassen sich selbstverständlich nicht als vollkommen ungefälschte Meinungsäußerungen begreifen: Ihre Autoren werden ihre Schreiben oft einer Selbstzensur unterzogen haben. Ebenso wie an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR wurden derartige Eingaben an andere zentrale Staats- und Presseorgane adressiert. Allerdings findet sich in den Beständen des Obersten Sowjets weit mehr Material als etwa in jenen des Ministerrats der UdSSR (F. R 5446). Zu den Briefen und Eingaben sowjetischer Bürger im Allgemeinen siehe Fitzpatrick, Supplicants; Mommsen, Hilf mir, S. 109236; Adams, Critical Letters; White, Political Communications. 44 So konstatiert – den Blick in diesem Fall zwar auf das zaristische Russland gerichtet, jedoch auf die sowjetische Situation übertragbar – Fitzpatrick, Petitions, S. 4: „Ein an die Obrigkeit gerichtetes Gesuch, in dem in den demütigen Worten eines auf das Wohlwollen des Zaren vertrauenden Bittstellers um einen Gefallen gebeten wird, ist fast ein archetypischer Ausdruck der Beziehung zwischen Untertan und Herrscher in einem paternalistischen Staat.“
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bisher noch nicht genutzte statistische Materialien zur sowjetischen Alterssicherung. Für ihre Authentizität spricht der Umstand, dass viele dieser Informationen während des Bestehens der UdSSR der Geheimhaltung unterlagen. So kann nun z. B. erstmals direkt auf die von der ZVS der UdSSR erstellten Jahresberichte zur Anzahl der sowjetischen Rentner und der Höhe der an sie ausgezahlten Mittel45 zurückgegriffen werden, die u. a. den rentenbezogenen Angaben in den statistischen Jahrbüchern zur sowjetischen Volkswirtschaft46 zugrunde liegen. Diese Dokumente bieten quantitative Angaben sowohl zur Gruppe der Ruheständler und ihren Subkategorien als auch zur durchschnittlichen Höhe der monatlichen Bezüge. Zudem gestatten die in demselben Fonds aufbewahrten Ergebnisse der „Stichprobenartigen Untersuchungen zur Zahl und Zusammensetzung der Rentner“ (SPU)47 belastbare Aussagen zur Binnendifferenzierung der Altersrentnerschaft.48 Die Tatsache, dass während der Recherchen keine Dokumentensammlungen außerhalb Moskaus ausgewertet werden konnten, bedingt zwangsläufig ein gewisses Überwiegen der Perspektive des Zentrums.49 Allerdings informieren die in den 45 Dabei handelt es sich zum einen um die „Berichte über die Anzahl der Rentner und über die Summen der ihnen monatlich gemäß dem Gesetz über die staatlichen Renten erteilten Renten“, die entsprechende Informationen zu den Staatsrenten und einigen anderen Leistungsarten bieten. Für den Zeitraum ab 1966 finden sich unter diesen Beständen auch die „Berichte über die Zahl der Rentner aus den Reihen der Kolchosmitglieder und der Mitglieder von Kolchosen, deren Länder den Sowchosen und anderen Betrieben und Organisationen übergeben wurden, die Renten gemäß dem Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder erhalten, und über die Summen der ihnen erteilten Renten“. Die für die Erstellung dieser beiden Berichte notwendigen Daten wurden von den örtlichen Organen der Sozialversorgung auf der Grundlage der persönlichen Konten der registrierten Rentenempfänger ermittelt und an die Republikministerien weitergeleitet. Die Ministerien stellten sie wiederum den für ihren Bereich zuständigen Statistischen Verwaltungen zur Verfügung. Vgl. Pozdnjakova, Statistika, S. 2729. Im Folgenden werden die beiden Berichte der Einfachheit halber kurz als „ZVSJahresberichte“ bezeichnet. 46 Gemeint sind die jährlich von der ZVS publizierten Narodnoe chozjajstvo [NCh] v SSSRBände. 47 Hierbei handelte es sich um Erhebungen, die von den ZVS-Organen in Zusammenarbeit mit den Organen der Sozialversorgung verantwortet wurden. Im Untersuchungszeitraum führte man sie in den Jahren 1959, 1966 und 1972 durch. Die Stichproben widmeten sich z. B. der Differenzierung der Rentnerschaft in Abhängigkeit von ihrer Rentenhöhe oder von dem der Leistungserteilung zugrundeliegenden Durchschnittslohn bzw. -gehalt. Im Fokus standen dabei die Bezieher allgemeiner Renten; persönliche, Wissenschaftler- und Offiziersrentner blieben von den Stichproben unberücksichtigt. Deren Repräsentativität leitet sich vor allem aus dem Umstand ab, dass für die Erhebungen auf die Unterlagen von 10 % der Bezieher in den betreffenden Rentnerkategorien zurückgegriffen wurde. 48 Zusätzlich zu den genannten Materialien wurden auch Unterlagen genutzt, die im Russischen Staatsarchiv für neuere Geschichte (RGANI), im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI), im Zentralarchiv der Stadt Moskau (CAGM) und im Zentralarchiv für die gesellschaftspolitische Geschichte Moskaus (CAOPIM) aufbewahrt werden. 49 Freilich wurden die wichtigsten rentenpolitischen Entscheidungen in der Hauptstadt der UdSSR getroffen. Selbst dem Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung, das formal nur eines von insgesamt sechzehn solcher Ressorts darstellte, kam eine Vorbildwirkung für die Ministerien der anderen Republiken zu. Vgl. Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 101.
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zentralen Archiven aufbewahrten Unterlagen ebenfalls über ortsabhängige Besonderheiten in der Versorgungssituation älterer Menschen. Namentlich die ZVS-Bestände bieten eine Grundlage auch für republikspezifische Vergleiche, die teils erhebliche regionale Unterschiede in der Qualität der Absicherung offenbaren. Abgesehen von den genannten archivalischen Quellen wurden ebenfalls die Sitzungsprotokolle zu den Beratungen der Legislative über die beiden Reformentwürfe50 sowie die sowjetische Presse der betreffenden Jahre ausgewertet. Am Beispiel der Leitartikel, die die Reformen in Publikationen wie der Pravda oder der Trud flankierten, vermittelt sich so etwa ein Eindruck von der Art und Weise, wie die Maßnahmen von der Bevölkerung wahrgenommen werden sollten. Gleiches gilt für die Redebeiträge von wichtigen Funktionsträgern vor dem Obersten Sowjet der UdSSR. Leserbriefe, die zu diesen Schlüsselmomenten der Rentenpolitik in den Zeitungen abgedruckt wurden, mögen – angesichts der redaktionellen Bearbeitung und ihrer selektiven Auswahl – kaum als ungefälschter Ausdruck der öffentlichen Meinung gelten. Ihr Inhalt informiert dessen ungeachtet über die vom Regime als angemessen erachtete Reaktion der Bürger auf die Verbesserung ihrer Altersrentenversorgung. Genutzt wurde auch die sowjetische Sekundärliteratur zum Thema. Selbstredend ist hier zu bedenken, dass der Inhalt dieser Texte von dem Bemühen ihrer Autoren um Systemkonformität gekennzeichnet ist. Dessen ungeachtet findet sich hier allerdings eine Vielzahl von Informationen zu den Inhalten, den Prinzipien und der Entwicklung der Alterssicherung in der UdSSR.51 Zudem zeigen sich Autoren wie Viktor A. Aþarkan, Michail S. Lancev oder Michail L. Zacharov in manchen ihrer Arbeiten doch in dem Sinne „unabhängig“, als dass sie durchaus auf Defizite der Gesetzgebung hinweisen und Vorschläge zu ihrer Überwindung unterbreiten.52 Als von ebenso hoher Bedeutung für das Verständnis von Detailaspekten der Ruhestandsversorgung haben sich die in der Zeitschrift Social’noe 50 Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva; Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva. Von Interesse sind ebenfalls die vor kurzem herausgegebenen Materialen zu den Sitzungen des Präsidiums des ZK der KPdSU: Vgl. Prezidium CK KPSS 19541964 (Bd. 13). 51 Eine maßgebliche Darstellung zur Geschichte der sowjetischen Staatsrenten bietet z. B. Astrachan, Razvitie, an der sich auch ein neueres Werk wie Degtjarev, Pensionnye reformy, für die Sowjetzeit orientiert. Vgl. zudem Gincburg, Trudovoj staž; Karavaev, Razvitie; Karcchija, Razvitie zakonodatel’stva; Sazonov, Osnovnye vechi; Aleksanov, Razvitie. Als Überblicksdarstellungen zu sozialer Sicherung und Rentenversorgung in der UdSSR bieten sich an: Aralov /HYãLQ6RFLDOތQRHREHVSHþHQLH$QGUHHY0DWerial’noe obespeþenie; ders., Social’noe obespeþenie; ders., Pravo (1974); Levšin u. a., Sovetskoe pensionnoe obespeþenie; Karcchija, Pensionnoe obespeþenie. Speziell zur Kolchosrentenversorgung vgl. Vlasov, Social’noe obespeþenie; Ruskol, Materialތnoe obespeþenie; Michalkeviþ Fogel’, Pensionnoe obespeþenie; Zajcev Rašþikov, Social’noe obespeþenie; Zabozlaev u. a., Pensii i posobija. 52 Als in diesem Sinne besonders wertvoll erscheinen beispielsweise: Aþarkan, Itogi; ders., Obespeþenie veteranRY WUXGD GHUV 2EHVSHþHQLH VWDURVWL /DQFHY 6RFLDOތQRH REHVSHþHQLH Y 6665 (1976); Zacharov, Obespeþenie; Karavaev, Za dalތQHMãHH VRYHUãHQVWYRYDQLH GHUV 2 VRveršenstvovanii; Fogel’, Soveršenstvovanie. Unter der neueren russischen Literatur zur sowjetischen Sozialpolitik hervorzuheben ist Ivanova, Na poroge.
Quellen und Herangehensweise
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obespeþenie veröffentlichten Artikel erwiesen. Darüber hinaus bietet dieses Organ des Ministeriums der RSFSR für Sozialversorgung reichhaltige Informationen über die Tätigkeit der Rentnerräte. Zur Struktur der Dissertation: Das erste Kapitel der Arbeit nimmt sich der demographischen Entwicklung der UdSSR an und trägt dadurch zum Verständnis des Kontextes, in dem die Rentenreformen geplant und durchgeführt wurden, bei. Das Maß, indem ein staatliches Handeln im Interesse der älteren Bevölkerung an Bedeutung gewann, musste sich zwangsläufig auch aus der Zahl der Menschen ableiten, die aufgrund ihres fortgeschrittenen Lebensalters oder anderer Ursachen zur Bestreitung ihres Unterhalts auf fremde Hilfe angewiesen waren. Zu behandeln sind dementsprechend das Problem der demographischen Alterung der sowjetischen Gesellschaft und die für diesen Prozess verantwortlichen Faktoren. Eine hohe Relevanz für die Dringlichkeit staatlicher Maßnahmen zur Alterssicherung besitzt freilich ebenfalls die Frage, ob die ihrer Arbeitskraft verlustig gegangenen Bürger auf alternative Unterhaltsquellen zurückgreifen konnten. Personen, die etwa von ihren Verwandten materiell unterstützt wurden, waren in geringerem Maße auf staatliche Zuwendungen angewiesen. Aus diesem Grunde gilt die Aufmerksamkeit zudem der Entwicklung des Anteils der Alleinstehenden an der Sowjetbevölkerung im Rentenalter. Kapitel 2 stellt den umfangreichsten Teil der Arbeit dar. Beabsichtigt ist hier eine umfassende Betrachtung der beiden Teilsysteme der allgemeinen Altersrentenversorgung. Sie beinhaltet einerseits eine rechtsgeschichtliche Darstellung der Entwicklung der Gesetzgebung bis zum Anfang der 1970er Jahre. Zwangsläufig muss diese ebenfalls den Zeitraum vor den beiden Reformen berücksichtigen, wenn sie sowohl die Kontinuität aufzeigen, in der sich die nachstalinsche Alterssicherung bewegte, als auch den Qualitätsgewinn vermitteln soll, der die Versorgungssituation älterer Sowjetbürger nach 1956 bzw. 1965 kennzeichnete. Dabei ist nicht nur den für Teile der Arbeiter- und Angestelltenschaft bereits seit 1928 eingeführten Staatsaltersrenten Beachtung zu schenken, sondern ebenfalls den bescheidenen Vorsehungen, die bis 1964 in den Artelen zur materiellen Absicherung der Arbeitsunfähigen getroffen wurden. Zu klären sind des Weiteren die mit den Neuregelungen verbundenen Motivlagen. Gefragt werden soll dabei u. a. nach den ökonomischen Zielsetzungen der Maßnahmen, ihrem internationalen Kontext und dem Einfluss, den Impulse aus der Bevölkerung auf die Entscheidungsfindung ausübten. Ferner ist hier der Ort, um die Reformbestimmungen im Einzelnen zu beschreiben. Dies beinhaltet ebenfalls die Schilderung der Formalitäten, mit deren Bewältigung sich der individuelle Antragsteller konfrontiert sah, sowie der ihm im Falle einer Leistungsverweigerung zur Verfügung stehenden Rechtsmittel. Von Bedeutung erscheint schließlich zudem die Betrachtung der Umstände, unter denen sich die tatsächliche Umsetzung der Rentengesetze vollzog: Probleme, die auf organisatorische Defizite zurückzuführen waren, mussten den positiven Effekten der Reformen auf die Zufriedenheit der Bevölkerung zwangsläufig entgegenwirken. Die folgenden beiden Kapitel dienen der Annäherung an Reichweite, Qualität und Grenzen der allgemeinen Altersrentenversorgung. Auf der Grundlage der von
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der ZVS der UdSSR gesammelten Informationen zeichnet Kapitel 3 die zahlenmäßige Entwicklung der Leistungsbezieher und ihre Binnendifferenzierung (Mitglieder der statistisch erfassten Subkategorien, geschlechtsspezifische Verteilung etc.) nach. Zudem wird die Zahl der Ruheständler zur Gruppe der Bürger im Rentenalter in Beziehung gesetzt. Gegenstand des Interesses ist darüber hinaus die Entwicklung der Durchschnittsrenten im Untersuchungszeitraum. Um im Rahmen dieser quantifizierenden Herangehensweise zu einer belastbaren Aussage über die Qualität der Alterssicherung zu gelangen, werden die Mittelwerte mit einem Rubelbetrag kontrastiert, der als Existenzminimum verstanden werden kann. Darüber hinaus ist in diesem Abschnitt nach der Differenzierung der Kolchos- und Staatsaltersrenten in Abhängigkeit von ihrer Höhe zu fragen. Die Forschungsliteratur legt, wie erwähnt, nahe, dass sich die Ruhestandsversorgung nicht auf alle Sowjetbürger im Rentenalter erstreckte. Im vierten Kapitel ist deshalb zum einen auf die alternativen Sicherungsmechanismen einzugehen, die für die Unterstützung der Nichtrentenberechtigten vorgesehen waren. Thematisiert werden dabei sowohl die zumindest partiell nach dem Fürsorgeprinzip53 gewährten monatlichen Beihilfen als auch die Versorgung der Alleinstehenden mit Altenheimplätzen sowie die Maßnahmen, die die Kolchose zur ergänzenden Absicherung ihrer Mitglieder durchführten. Darüber hinaus soll in diesem Kapitel – auf Grundlage der SPU-Daten – eine Schätzung der Zahl jener Bürger vorgenommen werden, die im Alter überhaupt keine monatlichen Leistungen erhielten. Das Ergebnis einer solchen Kalkulation vermag eine Vorstellung von der Größe der Löcher im Netz der sowjetischen Alterssicherung zu vermitteln. Kapitel 5 begegnet dem Thema aus einer anderen Perspektive. Gefragt wird hier nach den nicht-intendierten Effekten der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur der UdSSR. Ein verbreitetes Verständnis der Sozialpolitik beinhaltet deren vorrangige Wahrnehmung als „kompensatorisches Krisenarrangement“.54 Eine diffe53 Im Allgemeinen werden drei Kernprinzipien sozialer Sicherung unterschieden. Das Versicherungsprinzip besagt, dass sich Leistungsansprüche aus vorherigen Beitragszahlungen ergeben. Für das Versorgungsprinzip ist der Gedanke maßgeblich, dass sich das Anrecht auf staatliche Unterstützung aus andersartigen „Vorleistungen“ (Dienst als Beamter, Kriegsversehrtheit etc.) ergibt, die eine Finanzierung der notwendigen Leistungen aus dem Staatsbudget rechtfertigen. Vgl. Lampert, Sozialpolitik, S. 217218. Für das Fürsorgeprinzip ist zu konstatieren, dass „entweder überhaupt kein Rechtsanspruch auf Leistungen besteht oder ein Rechtsanspruch nur ,dem Grunde nachދ, das heißt ,an sichދ, nicht aber ein Anspruch auf Hilfe bestimmter Art [...]. Vielmehr werden bei Eintritt eines Schadensfalls oder einer Notlage öffentliche Sach- oder/und Geldleistungen ohne vorherige Beitragsleistungen des Betroffenen nach einer Prüfung der Bedürftigkeit der Leistungsempfänger gewährt [...].“ Ebd., S. 218. Vgl. auch Faude, Strukturelemente, S. 106108; Pilz, Der Sozialstaat, S. 9194. 54 Huf, Sozialstaat, S. 11. Die staatlichen Maßnahmen bzw. das Agieren des westlichen Wohlfahrtsstaates werden demgemäß vornehmlich als Reaktionen auf negative Folgewirkungen des Kapitalismus, der Industrialisierung oder der gesellschaftlichen Modernisierung interpretiert, die auf diesem Wege abgemildert werden sollen. So gleicht Sozialpolitik laut Sachße, Freiheit, S. 9, vor allem die Einbußen an Gewissheit aus, die den gesellschaftlichen Wandel begleitet hätten. Die staatlichen Maßnahmen zur Linderung der aus der „Auflösung stabiler Gemeinschaften“ und dem „Zerfall sozialer Ganzheit“ resultierenden Unsicherheiten seien als
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renziertere Sichtweise vertreten Autoren, die stattdessen den positiven Beitrag unterstreichen, mit dem die staatliche Sozialpolitik das Funktionieren moderner Gesellschaften unterstützt, ja gerade erst ermöglicht habe.55 Eine maßgebliche Untersuchung solcher konstitutiv-gestalterischen Wirkungen hat Stefan Huf durchgeführt, der „Sozialpolitik funktionalistisch als Grundlage für gesellschaftliche Modernisierung“ begreift.56 Einige seiner Befunde lassen sich zweifelsohne auch auf die UdSSR übertragen.57 Im Zusammenhang dieser Arbeit sind jedoch vor allem die Konsequenzen für die Sozialstruktur von Belang. Für ihre Analyse soll vor allem auf zwei Ansätze zurückgegriffen werden. So hat M. Rainer Lepsius den Begriff der Versorgungsklasse für Bevölkerungsteile geprägt, die in unterschiedlicher Weise mit den Leistungen des sozialen Sicherungssystems in Berührung kommen.58 Mit seiner Hilfe erklären sich die Effekte der uneinheitlichen Absicherung der Ruheständlerschaft. Für das Verständnis der Altersrentner als neu konstituierte soziale Einheit bietet sich hingegen das von Mark Edele für die sowjetischen Kriegsveteranen entwickelte Konzept der Anspruchsgemeinschaft an. In ihm ist der Gedanke enthalten, dass die von bestimmten Personenkreisen geteilte Überzeugung vom eigenen Verdienst gegenüber der Gesellschaft ähnliche Verhaltensmuster und psychologische Merkmale hervorgerufen habe. Auf ihrer Grundlage lässt sich Edele zufolge eine distinkte gesellschaftliche Größe identifizieren.59 Das sechste Kapitel behandelt die sich im Kontext der Alterssicherung abzeichnende Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung. Zu diskutieren sind zunächst die Gründe dafür, dass der social contract-Begriff für ihre Beschreibung abzulehnen ist. Für die Konzeptualisierung der Wechselseitigkeit bietet sich im Anschluss eine Orientierung an reziprozitätstheoretischen Vorstellungen an. Autoren wie Stephan Lessenich und Steffen Mau unterstreichen, dass der „Geist der Gabe“60 nicht allein das Miteinander in vormodernen Gesellschaften geprägt habe,
55 56 57
58 59 60
„Kompensationsmechanismen für die spezifischen Risiken und Diskriminierungen industriekapitalistischer Vergesellschaftung“ zu begreifen. Einen Überblick über die Vorstellung von der reaktiv-kompensatorischen Funktion staatlicher Sozialpolitik bietet Huf, Sozialstaat, S. 1830. Zur Interpretation wohlfahrtsstaatlichen Handelns als Ergebnis der Industrialisierung, der Ausbreitung des Kapitalismus oder von Modernisierungsprozessen siehe auch Abs. 8.2. Den allgemeingesellschaftlichen Nutzen sozialpolitischer Maßnahmen betonen etwa Vobruba, Jenseits der sozialen Fragen, S. 8, oder Kaufmann, Staat, S. 24. Vgl. Huf, Sozialstaat. So sollten sozialpolitische Programme auch in der UdSSR über die Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Reproduktion des Humankapitals zur Industrialisierung beitragen. Ebenso unterstützte die Einführung der allgemeinen Altersrentenversorgung die Institutionalisierung des Lebenslaufs. Gleichzeitig lässt sich behaupten, dass die Verringerung der Abhängigkeit von familiärer Unterstützung und der Existenzunsicherheit zur Individualisierung des Sowjetbürgers beitrug. Zur Frage der „Modernität“ sozialistischer Gesellschaften vgl. auch Plaggenborg, Experiment; Arnason, The Future; Srubar, War der reale Sozialismus; Vobruba, Jenseits der sozialen Fragen, S. 132138. Vgl. Lepsius, Soziale Ungleichheit. Vgl. Edele, A Generation; ders., Soviet Veterans as an Entitlement Group. Vgl. Mauss, Die Gabe.
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sondern ebenfalls für die Beziehungen bedeutsam sei, die die wohlfahrtsstaatlichen Programme zwischen einzelnen Bevölkerungsgruppen konstituieren würden.61 Am Beispiel der sowjetischen Rentenversorgung tritt, so eine mit der vorliegenden Arbeit verbundene These, besonders deutlich zutage, dass die staatlichen Leistungen von den beteiligten Parteien als Elemente eines auf Wechselseitigkeit basierenden Arrangements wahrgenommen wurden. Je nach Perspektive lassen sich jedoch unterschiedliche Antworten auf die Frage finden, ob die Altersrenten als eine Darbringung zu verstehen waren, die eine Gegenleistung erforderlich machte, oder ob es sich bei ihnen selbst bereits um die als Reaktion auf eine Vorleistung zu verstehende Gegengabe handelte. Auf der Grundlage der Analyse offizieller Aussagen sowie der Briefe und Eingaben sowjetischer Bürger zu Fragen der Rentenversorgung sollen die verschiedenen Ebenen, auf denen Reziprozität zwischen Regime und Bevölkerung existierte, identifiziert werden. Gleichzeitig gilt es, die Bedeutung, die die Wechselseitigkeitsvorstellungen zum einen für die Stabilität und Leistungsfähigkeit des politischen Systems und zum anderen für die Selbstverortung älterer Menschen gegenüber dem Staat besaßen, zu rekonstruieren. Im siebten Kapitel wird das Phänomen der Rentnerräte aufgegriffen. Zunächst gilt es, ihre Entstehungsbedingungen, Struktur und Arbeitsbereiche im Detail zu beschreiben. Speziell anhand der Betrachtung des Engagements ihrer „Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen“ vermittelt sich zudem ein Eindruck von der prekären Situation älterer Menschen, die nicht in ausreichender Weise von staatlichen Zuwendungen profitieren konnten. Des Weiteren gilt die Aufmerksamkeit dem Wandel in der Haltung, die den Räten von staatlicher Seite entgegengebracht wurde. Ab dem Beginn der 1960er Jahre sank das ihnen von den Autoritäten gezeigte Wohlwollen derart nachdrücklich, dass man schließlich sogar von einer regelrechten Kampagne gegen die Rentnerräte sprechen muss. Zu überprüfen ist dabei die Annahme, dass es sich hierbei um eine Reaktion auf die zunehmend als Störfaktor wahrgenommene Unabhängigkeit mancher Räte handelte. Die Untersuchung des Beispiels dieser Rentnerorganisationen verspricht somit auch eine Antwort auf die Frage, wie das Chrušþev-Regime auf solche bescheidenen Ansätze einer Selbstverwaltung und Entstehung lokaler Interessenorganisationen reagierte. Das achte und letzte Kapitel ist schließlich in zwei Abschnitte untergliedert. Dem ersten kommt die Aufgabe zu, die bisherigen Ergebnisse der Arbeit zusammenzuführen. Der zweite Teilbereich widmet sich der Einordnung des sowjetischen Beispiels in den internationalen Vergleich. Ziel ist dabei die Beantwortung der Frage, ob sich die UdSSR der Jahre 1956 bis 1972 – auf der Grundlage der über die allgemeine Altersrentenversorgung gewonnenen Erkenntnisse – als Wohlfahrtsstaat begreifen lässt. Zur Klärung dieses Problems soll mit einer Definition des Wohlfahrtsstaates gearbeitet werden, die sich der normativen, sichtlich der Rhetorik des Kalten Krieges geschuldeten Voraussetzungen (kapitalistische Wirtschaftsform, Unabhängigkeit des marktwirtschaftlichen Systems, politische Mitbestimmungs- und bürgerliche Freiheitsrechte) entledigt, die oft mit dem welfare state verknüpft werden. Da dieser Begriff in seiner Verwendung seit jeher 61 Vgl. etwa Lessenich – Mau, Reziprozität; Mau, Wohlfahrtsregimes.
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von einer beträchtlichen Uneinheitlichkeit gekennzeichnet ist, scheint ein solches Vorgehen möglich. Die Rede vom Wohlfahrtsstaat impliziert, davon soll hier ausgegangen werden, zuallererst eine Aussage über die Qualität des Schutzes, der den Bürgern gegen den Verlust der Existenzmittel gewährleistet wird. Die Vielfalt der angebotenen Programme oder das Vorhandensein von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft erscheinen also von nachrangiger Bedeutung für die entsprechende Charakterisierung eines Staatswesens, wenn dieses nicht für ein basales Mindestmaß der sozialen Sicherung zu sorgen bereit ist. Als Voraussetzungen für die Existenz eines Wohlfahrtsstaates sollen somit – im Anschluss an Autoren wie Harry K. Girvetz und John H. Veit-Wilson62 – zwei Faktoren gelten: a) die Übernahme staatlicher Verantwortung für das Wohl der Bevölkerung in ihrer gesamten Breite; b) die Garantie eines Lebensstandards oberhalb der Armutsgrenze für sämtliche Bürger des Landes. Lücken im Netz des allgemeinen Altersrentensystems der UdSSR mussten zwangsläufig in vielen Fällen zu einer Unterversorgung der betroffenen Personen führen. Wie kein anderer Bereich der sozialen Sicherung gibt folglich die Ruhestandsversorgung Auskunft darüber, in welchem Umfang der Staat seiner Verantwortung für die Existenzsicherheit seiner Bevölkerung nachkam. So kann mit Hilfe der in Kapitel 4 vorgenommenen Schätzung zur Zahl der Bürger im Rentenalter, die keine monatlichen Leistungen bezogen, ein Urteil über die Wohlfahrtsstaatlichkeit der UdSSR in den Jahren 1956 bis 1972 getroffen werden.
62 Vgl. Girvetz, Welfare State; Veit-Wilson, States (2000).
1. DEMOGRAPHISCHE ENTWICKLUNG Die Entwicklung der sowjetischen Gesamtbevölkerung1 war seit dem Beginn der 1950er Jahre von einem steten Wachstum gekennzeichnet, das anfangs, infolge der besonders geburtenstarken Jahrgänge nach dem Krieg, einen explosiven Charakter besaß und sich auf jährlich 1,7–1,8 % belief. Ab 1963 reduzierte sich dieser Anstieg stetig, so dass sich die Zuwachsrate 1972 nur noch auf 1,0 % belief. In absoluten Zahlen entsprach die Entwicklung bis 1964 einem Jahresgewinn von mehr als drei Millionen Bürgern. Mit Beginn des Jahres 1965 verringerte sich das Wachstum auf Werte, die allerdings immer noch konstant oberhalb der Zwei-Millionen-Grenze angesiedelt waren.2 Insgesamt nahm die Sowjetbevölkerung zwischen 1956 und 1972 von 197.902.000 auf 246.328.000 Menschen zu (Tab 1a). Für den Rückgang des Bevölkerungswachstums zeichnete vor allem die sich verringernde Geburtenrate verantwortlich: Wurden 1959 je 1.000 Einwohner noch 25 Kinder zur Welt gebracht, lag die entsprechende Quote 1972 schließlich nur noch bei 17,8. Die Sterbeziffer stieg in diesem Zeitraum zudem geringfügig an, von 7,6 auf 8,5.3 Erklären lässt sich die in den 1960er Jahren sinkende Zahl der Lebendgeburten zum einen über den vergleichsweise geringen Bevölkerungsanteil der Frauen im gebärfähigen Alter. Zum anderen schenkten auch die vorhandenen Frauen im Schnitt nur wenigen Kindern das Leben. Hier lässt sich ein Zusammenhang zur zunehmenden Urbanisierung der UdSSR und der sich in diesem Kontext entwickelnden „industriellen Bevölkerungsweise“ herstellen.4 Insbesondere die verbreitete Erwerbstätigkeit der Frauen und die oft bescheidenen Wohn-
1
2 3 4
Im Rahmen der Volkszählungen von 1959 und 1970 wurde hinsichtlich der Gesamtbevölkerung zwischen „Wohnbevölkerung“ (postojannoe naselenie) und „ortsanwesender Bevölkerung“ (naliþnoe naselenie) differenziert. Der erstere Begriff bezeichnete einen Personenkreis, der zum Zeitpunkt der Erhebung auf dem Gebiet der UdSSR wohnhaft war. Zur ortsanwesenden Einwohnerschaft, die auch als „faktische“ Bevölkerung begriffen wurde, zählten all jene Sowjetbürger, die sich in diesem Moment auf dem Territorium des Staates aufhielten. Vgl. Batalina, Art. Naliþnoe naselenie; dies., Art. Postojannoe naselenie. Wenn nicht anders gekennzeichnet, wird unter der Gesamtpopulation im Rahmen der vorliegenden Arbeit die „ortsanwesende Bevölkerung“ verstanden. Vgl. Bohn, Bevölkerung, S. 614. Vgl. Heer, The Demographic Transition, S. 211; Helgeson, Demographic Policy, S. 120. Vgl. Helgeson, Demographic Policy, S. 121; Bohn, Bevölkerung, S. 598; Urlanis, Problemy, S. 208209. Zum Konzept der industriellen Bevölkerungsweise, das die sinkende Geburtenrate u. a. mit der „veränderte[n] Stellung des Kindes, die seiner Herausnahme aus dem Arbeitsprozeß und aus der Verpflichtung zur Versorgung der Alten bei sinkender Säuglingsund Kindersterblichkeit folgte“ (Köllmann, Die Bevölkerungsentwicklung, S. 103.), erklärt, vgl. auch Huinink, Soziologische Ansätze, S. 353357; Mackenroth, Bevölkerungslehre.
Demographische Entwicklung
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verhältnisse junger Familien können als Faktoren gelten, die ein zurückhaltendes generatives Verhalten förderten.5
Tab. 1a: Gesamtbevölkerung der UdSSR, 1940–1972 (Stand am 1. Januar)
1940 1950 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
Gesamtbevölkerung der UdSSR 194.077.000 178.547.000 194.415.000 197.902.000 201.414.000 204.925.000 208.827.000 212.372.000 216.286.000 220.003.000 223.457.000 226.669.000 229.628.000 232.243.000 234.823.000 237.165.000 239.468.000 241.720.000 243.891.000 246.328.000
Quelle: Naselenie SSSR 1987, S. 8.
Ein wichtiger Aspekt der demographischen Entwicklung der UdSSR bestand in der Veränderung des Zahlenverhältnisses von städtischer und ländlicher Bevölkerung bzw. der wichtigsten sozialen Kategorien des Landes. Der Anteil der städtischen Einwohner der Sowjetunion nahm dabei konstant zu, so dass diese gemäß der Volkszählung von 1970 erstmals die Bevölkerungsmehrheit stellten. Gleichzeitig setzte sich der Bedeutungsverlust des kollektivwirtschaftlichen Sektors fort. Als Folge der Umwandlung der landwirtschaftlichen Artele zu Sowchosen und der fortgesetzten Abwanderung vornehmlich jüngerer Arbeitskräfte sank der Anteil der Kolchosbauern, die 1939 noch fast die Hälfte der Bevölkerung gestellt hatten, bis 1970 auf höchstens 22,7 % (Tab. 1b).
5
Vgl. Rubakin, Osnovnye problemy, S. 50; Urlanis, Dinamika i faktory, S. 44; Heer, Fertility.
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Demographische Entwicklung
Tab. 1b: Zusammensetzung der sowjetischen Bevölkerung gemäß Volkszählungen von 1939, 1959 und 1970
Gesamtbevölkerung der UdSSRa a) Stadt-Land-Verteilung Städtische Bevölkerunga Ländliche Bevölkerunga b) Soziale Kategorien Arbeiterb Angestellteb Kolchosbauern und selbständige Kleingewerbetreibendeb Andereb
1939
1959
1970
190.678.000
208.827.000
241.720.000
60.409.000 130.269.000
99.978.000 108.849.000
135.991.000 105.729.000
64.258.000 31.462.000
104.831.000 37.798.000
138.747.000 53.420.000
90.000.000
65.572.000
49.553.000
4.958.000
626.000
–
Quelle: a Naselenie SSSR 1987, S. 8. b Errechnet auf der Grundlage der in NCh SSSR. 19221982, S. 30, angegebenen Prozentwerte zur sozialen Zusammensetzung der Sowjetbevölkerung.
Eine Entwicklung, die die Rentenpolitik direkt berühren sollte, war die Veränderung der Alterszusammensetzung der sowjetischen Gesellschaft. Hier ist zweifelsohne von einer demographischen Alterung der Bevölkerungsstruktur zu sprechen, wie sie sich zeitgleich auch in den meisten anderen Industriegesellschaften ereignete. Diese Aussage gilt unabhängig von der Wahl des Messkonzepts, das man zur Charakterisierung der Bevölkerungsdynamik verwendet. Oft wird das Vorhandensein einer demographischen Alterung vor allem dadurch begründet, dass der Anteil derjenigen Menschen an der Gesamtbevölkerung wächst, die in dem Sinne als „alt“ gelten können, als dass sie eine bestimmte Altersgrenze (meist 60 oder 65 Jahre) überschritten haben.6 Auch für die UdSSR kann dergestalt festgestellt werden, dass sich der Anteil der Bürger, die mindestens 60 Jahre zählten, zwischen 1939 und 1959 von 6,8 % auf 9,4 % erhöhte. Innerhalb der folgenden elf Jahre stieg dieser Wert noch einmal auf 11,8 % an. Die Schwäche der Argumentation mit einer solchen Quote besteht darin, dass sie, wie Reiner H. Dinkel konstatiert, relevante Veränderungen, die sich auf den Altersstufen unterhalb der gewählten Altersgrenze vollziehen können, nicht abbildet. Dinkel plädiert deshalb für eine Betrachtung der gesamten Altersstruktur einer Bevölkerung: Weitaus besser lasse sich deren Entwicklung mit Hilfe des sich über die Jahre verändernden Durchschnitts- oder des Medianalters7 beschrei6
7
Eine Bestimmung des Ausmaßes der demographischen Alterung über die proportionale Entwicklung des Teilsegments der als alt definierten Personen kennzeichnet auch den Ansatz vieler sowjetischer Wissenschaftler. Vgl. Kalinjuk, Vozrastnaja struktura, S. 11; Rubakin, Osnovnye problemy, S. 4648; Sonin Dyskin, Požiloj þelovek, S. 32. Das Medianalter entspricht genau jener Altersgrenze, die von der einen Hälfte der Bevölkerung unter- und von der anderen überschritten wird.
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ben. Stiegen diese Indikatoren innerhalb eines bestimmten Zeitraums an, so liege eine demographische Alterung vor; im Falle des Gegenteils sei diesbezüglich von einer „Verjüngung“ zu sprechen.8 Die Veränderung der sowjetischen Bevölkerungszusammensetzung entspricht der ersten der beiden Möglichkeiten: Das Durchschnittsalter stieg von 26,4 (1939) über 29,6 (1959) auf 31,3 Jahre (1970). Eine Zunahme des Medianalters ist ebenfalls zu verzeichnen: von 23,3 (1939) über 26,6 (1959) auf schließlich 29,2 Jahre (1970).9 Auch diese Kennzahlen zeichnen sich allerdings durch eine begrenzte Aussagekraft aus. Details der demographischen Alterung wie etwa die Gewichtung der unterschiedlichen Altersgruppen vermitteln sie nicht.10 Erkenntnisse über die sich infolge der demographischen Entwicklung ergebenden Veränderungen lassen sich schließlich ebenfalls erzielen, indem man das Verhältnis der einzelnen Altersgruppen zueinander misst. Verbreitet ist in diesem Zusammenhang die Kalkulation des sogenannten Altenquotienten (AQ; früher auch Alterslastquote), der die statistische Relation der Bürger im Rentenalter zum Kreis jener Menschen wiedergibt, die sich im erwerbsfähigen Alter befinden.11 Für das Beispiel der UdSSR bietet es sich folglich an, von der Zahl der Personen im Alter zwischen 16 und 55 (wenn es sich um Frauen handelte) bzw. 60 Jahren (Männer) auszugehen. Zu den „Alten“ zählen dementsprechend diejenigen Menschen, die die seit 1928 als Bezugsvoraussetzung im Rahmen der staatlichen Ruhestandsversorgung geltende Altersgrenze12 überschritten haben. Der Vorzug eines derartigen Abhängigkeitsindex besteht darin, dass er gleichzeitig einen Eindruck
8 9
Vgl. Dinkel, Demographische Alterung, S. 65. Siehe hierzu Tab. 1c. Eine genaue Berechnung des Durchschnittsalters ist aufgrund der Klassiertheit der vorliegenden Daten nicht zu leisten. Ausgegangen wurde deshalb von dem Mittelwert der jeweiligen Altersklasse (z. B. 22,5 Jahre für „20–24 Jahre“). Eine Freiheit wurde sich bei der Berücksichtigung der Angaben zur Zahl der Bürger, die die 100-Jahre-Marke überschritten hatten, genommen. Details zur Alterszusammensetzung der Hundertjährigen liegen lediglich zur Volkszählung von 1959 vor. Die diesbezüglich in Pod-jaþich, Naselenie SSSR, S. 36, wiedergegebenen Zahlen legen nahe, dass die 21.708 Hochaltrigen im Schnitt mindestens 105 Jahre alt waren und dass 592 von ihnen sogar nicht weniger als 120 Jahre zählten. An einer derart verbreiteten Langlebigkeit sind berechtigte Zweifel geäußert worden. Vgl. Bennett Garson, The Centenarian Question; Dies., Extraordinary Longevity; Anderson Silver, The Changing Shape. Um solche sicherlich auf Übertreibung zurückzuführenden Auswüchse auszugleichen, ist hier bei der Berechnung des Durchschnittsalters davon ausgegangen worden, dass die Hundertjährigen im Mittel 100 Jahre zählten. 10 So konstatiert Dinkel, Demographie, S. 249: „[...] beide Maße [bewerten] Abweichungen von der Mitte aus nach oben und unten gleich [...]. Eine starke Ballung hin zu mittleren Altersgruppen kann gleiche Wirkungen haben wie eine gleichzeitige Erhöhung der Besetzung an beiden Extremen.“ 11 Zur Berechnung des AQ wird die Zahl der sich im Rentenalter befindenden Bürger durch jene der Menschen im arbeitsfähigen Alter geteilt. Das Ergebnis wird üblicherweise mit dem Faktor 100 multipliziert. Vgl. Schimany, Die Alterung, S. 244245; Kuls Kemper, Bevölkerungsgeographie, S. 78. 12 Siehe Abs. 2.2.1.2. dieser Arbeit.
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Demographische Entwicklung
von der sich potentiell13 aus der Notwendigkeit zur Versorgung der Älteren ergebenden Beanspruchung der erwerbstätigen Bevölkerung vermittelt. Auch dieser Indikator zeugt von dem wachsenden proportionalen Gewicht der älteren Alterskohorten innerhalb der sowjetischen Gesellschaft: Lag der AQ 1939 noch zwischen 12,3 und 18,3, so stieg er bis 1959 auf 21,3 und erreichte 1970 schließlich den Wert von 27,8.14 Möchte man nun den Grad der demographischen Alterung der Sowjetbevölkerung im Jahr 1970 bewerten, bietet sich der Rückgriff auf Überlegungen Germaine Veyret-Verners an. Die Autorin hält eine „Überalterung“ erst dann für gegeben, wenn in Kombination drei Kriterien erfüllt sind, die für sich allein genommen noch nicht aussagekräftig genug wären: Der Bevölkerungsanteil der über 60 Jahre zählenden Menschen überschreitet die 15 %-Marke; das Durchschnittsalter beträgt mehr als 35 Lebensjahr; der „Altersindex“ (Quotient aus dem Anteil der über 60-Jährigen und demjenigen der unter 20-Jährigen an der Bevölkerung) liegt bei mindestens 0,4.15 Die sowjetische Altersstruktur erfüllte gegen Ende des Untersuchungszeitraums lediglich die dritte der genannten Voraussetzungen, so dass dementsprechend – trotz einer in diese Richtung weisenden Tendenz – nicht von einer Überalterung gesprochen werden kann (Tab. 1c). Der Wandel der Altersstruktur einer Bevölkerung ist in der Regel auf einen oder mehrere von drei Prozessen zurückzuführen: auf Veränderungen in der Fertilität bzw. der Mortalität oder auf Migrationsbewegungen.16 Im sowjetischen Beispiel kamen sämtliche Faktoren zum Tragen. Von Belang war zum einen die Veränderung der Sterblichkeit im mittleren und höheren Lebensalter, die eine steigende Lebenserwartung der Bürger zur Folge hatte: Hatte sich diese 1938/39 noch im Schnitt auf 46,9 Jahre (Frauen: 49,7; Männer 44,0) belaufen, so lag sie 1955/56 bei 67 Jahren (Frauen: 69; Männer: 63). Bis 1964/65 stieg sie auf einen Höchstwert von 70,4 Jahren (Frauen: 73,8; Männer 66,1), um bis 1971/72 wieder leicht auf nunmehr 69,5 Jahre (Frauen: 73,6; Männer: 64,5) abzufallen.17 Der Anstieg erklärt sich vor allen Dingen über die Verbesserung der medizinischen Betreuung, die der Bevölkerung zuteilwurde und zu einer Senkung der Kindersterblichkeit führte.18 Im internationalen Vergleich blieben allerdings speziell die für 13 Tatsächlich bezog 1939 freilich nur ein Bruchteil – und auch noch 1959 lediglich ein überschaubarer Prozentsatz (siehe Abs. 4.2.) – der sich im Rentenalter befindenden Bürger eine staatliche Versorgungsleistung. 14 Vgl. Bähr, Bevölkerungsgeographie, S. 9192. 15 Vgl. Kuls Kemper, Bevölkerungsgeographie, S. 82, die auf Veyret-Verner, Populations, Bezug nehmen. 16 Vgl. Dinkel, Demographische Alterung, S. 6669. 17 Vgl. NCh SSSR za 70 let, S. 409; Bohn, Bevölkerung, S. 620; Saþuk, Social’no-demografiþeskaja charakteristika, S. 1011. Die offiziellen Angaben zur sowjetischen Lebenserwartung sind freilich mit Vorsicht zu genießen. Vgl. hierzu insbesondere Tolts, The Failure. 18 Vgl. Kalinjuk, Vozrastnaja struktura, S. 8485; Steženskaja Saþuk, Demografiþeskie sdvigi, S. 249. Die Lebenserwartung der Älteren veränderte sich weniger stark. Ein 60-jähriger Sowjetbürger hatte 1926/27 die Aussicht, noch weitere 16 Jahre zu leben. 1958/59 und 1968– 1971 konnte er den Prognosen zufolge mit zusätzlichen 19 Jahren rechnen. Vgl. Kalinjuk, Vozrastnaja struktura, S. 87.
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Demographische Entwicklung
die männlichen Einwohner der UdSSR prognostizierten Zeitspannen hinter der Lebenserwartung von Geschlechtsgenossen in vielen anderen entwickelten Industriestaaten zurück.19
Tab. 1c: Die Alterszusammensetzung der sowjetischen Bevölkerung 1939, 1959 und 1970 (Zahlen in Tausend) A. Alter in Jahren 0 – 19 10 14 16 – 19 20 – 24 25 – 29 30 – 34 35 – 39 40 – 44 45 – 49 50 – 54 55 – 59 60 – 69 70 u. älter
ohne Altersangabe Gesamtbevölkerung
1939 Gesamtzahl
1959
1970
12.405 11.203 7.808 8.259 10.056 8.917 8.611 4.528 3.998 4.706 4.010 2.905 4.099
11.927 10.826 7.530 8.213 10.287 9.273 10.388 7.062 6.410 7.558 6.437 5.793 7.637
Gesamtzahl 20.510 24.476 24.988 21.999 17.105 13.770 21.145 16.594 19.003 12.256 9.078 12.013 17.595
6.168
2.021
4.148
1.578 203
465 50
22
36
8
190.678
208.827
43.476 28.366 13.029 15.786 18.520 15.598 12.958 9.603 7.776 6.636 5.897 8.536
Alter in Jahren 0– 4 5– 9 10 – 14 15 – 19 20 – 24 25 – 29 30 – 34 35 – 39 40 – 44 45 – 49 50 – 54 55 – 59 60 – 69
Gesamtzahl 24.333 22.029 15.337 16.471 20.343 18.190 18.999 11.591 10.408 12.263 10.447 8.699 11.736
4.462
70 – 79 80 – 89 90 – 99 100 u. älter
Männer
Frauen
Männer
Frauen
10.435 12.475 12.730 11.225 8.627 6.813 10.408 8.140 8.759 4.744 3.430 4.273 5.922
10.075 12.001 12.258 10.774 8.478 6.957 10.736 8.454 10.244 7.512 5.648 7.740 11.673
8.025
2.506
5.519
1.114 153
2.598 278
712 67
1.885 211
5
16
19
4
15
4
4
269
130
138
241.720
B. 1939 Personen unter 16a Personen zwischen 16 u. 55/60 Personen über 55/60
1959
1970
71.842
63.496
74.710
b
99.906 105.803
119.822
130.487
12.998 – 18.895b
25.501
36.255
19 In der BRD konnte ein neugeborener Junge in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit dem Erreichen eines Alters von 67,6 Jahren rechnen; in der DDR lag diese Lebenserwartung bei 68,7, in Frankreich bei 68,0, in Bulgarien bei 68,8 und in den Niederlanden bei 71,0 Jahren. Vgl. Demographic Yearbook 1970, S. 724 u. 726; Andreev, Life Expectancy, S. 288290.
40 Medianalter Durchschnittsalterc Anteil der mind. 60-Jährigen an Gesamtbevölk. Anteil der Bevölkerung im Rentenalter (mind. 55/60) an Gesamtbevölkerung AQ Altersindex nach Veyret-Verner
Demographische Entwicklung 23,3 26,4d
26,6 29,6
29,2 31,3
6,8 %
9,4 %
11,8 %
6,8 – 9,9 %
12,2 %
15,0 %
18,9b
21,3
27,8
0,15
0,37
0,40
12,3 –
Quelle: Itogi vsesojuznoj perepisi 1959 g., S. 4950; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 1213. a Für 1959 und 1970 abgeleitet aus den in Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 1213, enthaltenen Angaben zur Zahl der Personen im arbeitsfähigen und im Rentenalter. b Die Angaben der Volkszählung von 1939 differenzieren nicht nach Geschlecht. Die Höhe des Altenquotienten lässt sich somit nur eingrenzen. c Eine genaue Berechnung des Durchschnittsalters ist aufgrund der Klassiertheit der vorliegenden Daten nicht zu leisten. Ausgegangen wurde deshalb von dem Mittelwert der jeweiligen Altersklasse (z. B. 22,5 Jahre für „20–24 Jahre“). Eine gewisse Freiheit wurde sich bei der Berücksichtigung der Angaben zur Zahl der Bürger, die die 100-JahreMarke überschritten hatten, genommen. Details zur Alterszusammensetzung der Hundertjährigen liegen lediglich für die Volkszählung von 1959 vor. Die diesbezüglich in Pod-jaþich, Naselenie SSSR, S. 36, wiedergegebenen Zahlen legen nahe, dass die 21.708 Hochaltrigen im Schnitt mindestens 105 Jahre alt waren und dass 592 von ihnen sogar nicht weniger als 120 Jahre zählten. An einer derart verbreiteten Langlebigkeit sind berechtigte Zweifel geäußert worden. Vgl. Bennett Garson, The Centenarian Question; Dies., Extraordinary Longevity; Anderson Silver, The Changing Shape. Um solche, sicherlich auf Übertreibung zurückzuführenden Auswüchse auszugleichen, ist hier bei der Berechnung des Durchschnittsalters davon ausgegangen worden, dass die Hundertjährigen im Mittel 100 Jahre zählten. d Urlanis, Problemy, S. 213.
Von maßgeblicher Bedeutung für die demographische Alterung war darüber hinaus der bereits erwähnte Rückgang der Fertilität, der zwangsläufig zu einer Verringerung des Anteils der Kinder und Jugendlichen an der Bevölkerung führen musste. Es ist somit nicht zuletzt auf die in den einzelnen Republiken durchaus unterschiedlichen Geburtenziffern zurückzuführen, dass die dortige Alterszusammensetzung teils deutlich variierte. So machten die mehr als 60 Jahre zählenden „Alten“ 1959 und 1970 speziell in den drei baltischen Republiken einen hohen Bevölkerungsanteil aus, während sie in der Tadschikischen und der Turkmenischen SSR kaum mehr als 7 % der Einwohner stellten (Tab. 1d).20
20 Zur Entwicklung der Geburtsraten, der Sterbeziffern und der Altersstruktur in den Republiken vgl. Bohn, Bevölkerung, S. 610620; Urlanis, Problemy, S. 119134.
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Demographische Entwicklung
Tab. 1d: Der Anteil der Bürger im Alter von mindestens 60 Jahren an der Bevölkerung, 1959 und 1970 UdSSR RSFSR Ukrainische SSR Weißrussische SSR Usbekische SSR Kasachische SSR Georgische SSR Aserbaidschanische SSR Litauische SSR Moldawische SSR Lettische SSR Kirgisische SSR Tadschikische SSR Armenische SSR Turkmenische SSR Estnische SSR
1959 9,4 9,0 10,5 10,7 8,4 7,8 10,9 8,4 11,9 7,7 15,0 9,7 7,9 8,0 7,9 15,1
1970 11,8 11,9 13,8 13,1 8,7 8,2 11,8 8,0 14,9 9,7 17,3 8,9 7,5 8,2 7,2 16,8
Quelle: Sonin Dyskin, Požiloj þelovek, S. 32.
Auch die Migration beeinflusste den Prozess der Alterung. Zwar war die Ab- oder Zuwanderung von Bevölkerungsteilen über die Staatsgrenzen hinweg aufgrund der diesbezüglich stark eingeschränkten Mobilität sowjetischer Bürger von untergeordneter Bedeutung. Anders verhielt es sich jedoch mit den innersowjetischen Bewegungen, in deren Folge es zu Veränderungen der Alterszusammensetzung in den Republiken kam. Hierzu gehörten zum einen Binnenwanderungen wie etwa die der Neulandkampagne geschuldete Bewegung vieler Arbeitskräfte in die Kasachische SSR oder der sich in die entgegengesetzte Richtung ereignende Migrationsstrom in die – aufgrund des höheren Lebensstandards attraktiven – baltischen Republiken.21 Zur demographischen Alterung eines ganzen Wirtschaftsbereichs trug eine andere Spielart der Bevölkerungsbewegung bei: die Stadt-Land-Migration, die vielerorts das Ausmaß einer bäuerlichen Landflucht annahm. Im Zuge von Industrialisierung und Urbanisierung war es seit dem 19. Jahrhundert zu einem quantitativen Rückgang der in der Landwirtschaft tätigen Einwohner des Zarenreichs und später der UdSSR gekommen. Nach Stalins Tod war dieser Prozess kurzzeitig zum Erliegen gekommen. Die Zahl der Beschäftigten stieg bis 1957 sogar wieder leicht an, was zum einen über die Folgen der Neulandkampagne, zum anderen über die Abordnung von Führungskräften und Spezialisten in den Agrarbereich zu erklären ist. Diese Entwicklung war jedoch nur von kurzer Dauer: Mit dem Jahr 1958 setzte abermals eine stetige Verringerung der Zahl der in kollektivwirt21 Vgl. Bohn, Bevölkerung, S. 624. Zu den interregionalen Migrationsbewegungen in der UdSSR vgl. auch Grandstaff, Interregional Migration; Knabe, Bevölkerungsentwicklung; Titma Tuma, Migration; Denisova Faddeeva, Nekotorye dannye.
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Demographische Entwicklung
schaftlichen und staatlichen Agrarbetrieben beschäftigten Personen ein.22 Innerhalb von zwanzig Jahren sank ihre Zahl von 30,9 Mio. (1950) über 29,4 Mio. (1960) auf 26,8 Mio. Personen (1970).23 Für die Alterszusammensetzung ländlicher Gegenden war der Rückgang deshalb relevant, weil es vor allem jüngere Menschen waren, die sich um eine Anstellung in den Städten bemühten. Motiviert wurde diese Bewegung durch den fehlenden Reiz der bäuerlichen Tätigkeit und den vielerorts miserablen Lebensstandard auf dem Lande. Ein Indiz für die Ausmaße der Landflucht liegt etwa in der Tatsache vor, dass die Zahl der 20- bis 29jährigen im sowjetischen „Agrardreieck“ zwischen 1959 und 1970 um 45–60 % sank. In einzelnen Abschnitten der Nicht-Schwarzerdegebiete belief sich diese Verringerung sogar auf mehr als 60 %.24 In besonderer Weise waren dabei die landwirtschaftlichen Artele von dem Bedeutungsverlust des Agrarsektors betroffen: Zwischen 1959 und 1970 verringerte sich die allgemeine Kolchosbevölkerung, wie oben gesehen, um fast ein Viertel.25 Und die Anzahl der im Jahresdurchschnitt in der gesellschaftlichen Produktion der Kollektivwirtschaften tätigen Mitglieder sank parallel dazu von 22,3 Mio. (1960) auf 16,5 Mio. Menschen (1971). Das Ausmaß dieses Schwunds war zu einem guten Teil sicherlich ebenfalls der Umwandlung von Kolchosen in landwirtschaftliche Staatsgüter zuzuschreiben. (Hier stieg die Beschäftigtenzahl zwischen 1960 und 1971 von 6,7 Mio. auf 10,1 Mio.)26 Gerade die Artele waren allerdings auch massiv mit dem Problem der Landflucht konfrontiert. Die Abwanderung gerade der jüngeren Kolchosmitglieder war dabei nicht immer als eine Zuwiderhandlung gegen die in der Kolchosgesetzgebung vorgesehenen Mobilitätsbeschränkungen27 zu interpretieren. Tatsächlich wies dieses Regelwerk Lücken auf, die es z. B. Frauen ermöglichten, das Artel zu verlassen, wenn sie einen externen Bräutigam ehelichten, für den die Bestimmungen des Kolchosrechts nicht maßgeblich waren. Und jungen kolchozniki, die ihren Militärdienst absolviert hatten, war es freigestellt, sich auch außerhalb ihres früheren Artels eine Arbeit zu suchen.28 Konkrete Daten zu den Konsequenzen einer solchen Abwanderung für die Alterszusammensetzung der Kolchosbevölkerung liegen nicht vor. Die Angaben der Volkszählungen von 1959 und 1970 vermitteln nur einen groben Eindruck über die altersstrukturellen Unterschiede zwischen der urbanen und der ruralen Sphäre.29 Dabei kündet allerdings der für beide Bereiche jeweils kalkulierbare Alten22 Vgl. Wädekin, Landwirtschaftliche Bevölkerung, S. 42. Zur Landflucht vgl. auch ders., Landwirtschaftliche Bevölkerung, S. 4752. 23 Vgl. NCh SSSR 19221972, S. 283. 24 Vgl. Fischer, Bevölkerungsentwicklung, S. 77. 25 Siehe Tab. 1b. 26 Vgl. NCh SSSR 19221972, S. 283. 27 Siehe hierzu auch Abs. 2.2.1.2. 28 Vgl. Wädekin, Führungskräfte, S. 5154. 29 Im Rahmen der Volkszählungen wurde diesbezüglich lediglich zwischen „Stadt-“ und „Landbevölkerung“ unterschieden, d. h., in beiden Kategorien fanden sich sowohl Kolchosbauern als auch Sowchosbeschäftigte und andere Arbeiter und Angestellte. Der Begriff der „Landbevölkerung“ umfasst – wie ders., Die Landbevölkerung, S. 40, kritisiert – „alle Menschen, die
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quotient von einem auf dem Lande zu verzeichnenden, ungleich stärkeren Anteil der Betagten an der erwachsenen Bevölkerung. Bezogen auf die städtische Bevölkerung belief sich dieser Indikator im Jahr 1959 auf 16,6. Bis 1970 stieg er um 5,8 auf 22,4. Unter den als „ländlich“ kategorisierten Sowjetbürgern im Alter von mindestens 16 Jahren waren die Personen im Rentenalter von 55 bzw. 60 Jahren deutlich prominenter vertreten: Hier lag der Altenquotient 1959 bei 26,3, und bis 1970 stieg er sogar auf 36,7 an.30 Trotz der fehlenden Detailinformationen kann jedoch als sicher angenommen werden, dass die Artele in weit höherem Maße als andere Bereiche der Agrarwirtschaft unter der Landflucht der Jugend litten. Dass Beispiele wie jenes des Kolchos „Vesna“ (Gebiet31 Kalinin), in dem 1963 jedes dritte Mitglied älter als 60 (Frauen) bzw. 65 Jahre (Männer) war,32 nicht die Ausnahme darstellten, erschließt sich anhand von Äußerungen, die während des im März 1965 tagenden Plenums des ZK der KPdSU getätigt wurden. Ihnen zufolge belief sich das Durchschnittsalter der Mitglieder vieler Kolchose auf mehr als 50 Jahre.33 Infolge der Abwanderung soll sich der Anteil der Arbeitsfähigen an der Kolchosbevölkerung etwa in den Artelen des Nicht-Schwarzerdegebiets zwischen 1959 und 1966 halbiert haben.34 Und M. A. Beznin zufolge führte der Weggang speziell der männlichen Jugend dazu, dass schon „in der ersten Hälfte der 1950er Jahre mehr als die Hälfte der bäuerlichen Höfe des Nicht-Schwarzerdegebiets über keine Männer im arbeitsfähigen Alter [...] verfügte“.35
30
31 32 33 34 35
nicht auf dem Territorium von Städten und städtischen Siedlungen wohnen, also einen Personenkreis, [...] der zu groß und zu verschiedenartig ist, um spezifische und relevante Aussagen zu ermöglichen“. Im Jahr 1959 stellten die Arbeiter und Angestellten (inkl. Sowchosbeschäftigte) so z. B. 42,4 % der „ländlichen“, die Kolchosbauern 3,3 % der „städtischen“ Sowjetbevölkerung. Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1959 g., S. 9091. Verwendet man ein Messkonzept wie das Durchschnittsalter, so fallen die Unterschiede in der Altersstruktur zwischen Stadt und Land weniger gravierend aus: Für die städtische Bevölkerung der UdSSR lassen sich Mittelwerte von 29,6 (1959) und 31,5 Jahren (1970) errechnen. Das Durchschnittsalter der auf dem Lande arbeitenden Bürger lag mit 29,5 (1959) und 31,0 Jahren (1970) sogar noch unter diesen Werten. Verantwortlich für die Parallelität war der ungleich höhere Anteil der Bevölkerung im Alter von weniger als 16 Jahren unter den ländlichen Bürgern: Während sich der entsprechende Anteil hier auf 33,1 % (1959) bzw. 36,4 % belief, lag er unter der städtischen Bevölkerung nur bei 27,5 % (1959) bzw. 26,7 %. Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 1415. Wie weit die Altenquotienten in den Republiken auseinanderliegen konnten, machen die Beispiele der Lettischen und der Turkmenischen SSR deutlich. In Ersterer entsprach der ländliche AQ 40,6 (1959) und 54,7 (1970), in der zentralasiatischen Republik belief er sich nur auf 26,9 (1959) und 25,4 (1970). Errechnet aus ebd., S. 5455 u. 7071. Die regionalen Verwaltungseinheiten oblast’, kraj und rajon werden im Folgenden mit den Begriffen Gebiet, Region und Bezirk übersetzt. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 973, l. 47. Vgl. Lagutin, Problemy, S. 15. Zur demographischen Alterung der Kolchosmitgliederschaft im Ural vgl. auch Bersenev, Razvitie, S. 114115. Vgl. Dmitraško, Vnutrikolchoznye ơkonomiþeskie otnošenija, S. 243. Beznin, Dvor, S. 87.
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Das Problem der gesellschaftlichen Alterung besaß für die sowjetische Altersrentenpolitik aus mehreren Gründen, die in ähnlicher Weise sämtliche entwickelten Industrienationen, die mit diesem demographischen Prozess konfrontiert waren, berührten, Relevanz. Zum einen führte das absolute Wachstum einer älteren Sowjetbevölkerung, die immer weniger darauf bauen konnte, von den eigenen Familienangehörigen versorgt zu werden, zwangsläufig dazu, dass der Staat im zunehmenden Maße mit der Notwendigkeit konfrontiert wurde, hier Verantwortung zu übernehmen. So waren es Pavel Stiller zufolge gerade die Veränderungen in der Alterszusammensetzung der Population, die Mitte der 1950er Jahre „die Aufgabe der selektiven Rentenpolitik erzwangen und ein Aufholen der bisher sehr vernachlässigten Sparte der sozialen Sicherung bewirkten“.36 Zweitens musste mit dem Kontingent der älteren Bevölkerungsteile zwangsläufig auch die finanzielle Belastung für ein Staatswesen ansteigen, das eine adäquate und umfassende Absicherung seiner betagten und arbeitsunfähigen Bürger gegen existentielle Risiken wie Alter, Krankheit oder Armut leisten wollte.37 Die Folgen des Alterungsprozesses für die mit der Alterssicherung verbundene Finanzlast vermitteln sich am Beispiel des überproportionalen Anstiegs des Kontingents der Bürger im Rentenalter: 1939, als sich die staatlichen Leistungen, wie noch zu sehen sein wird, nur auf einen sehr geringen Teil der älteren Bevölkerung erstreckten, machten die Menschen im Alter von mindestens 55 bzw. 60 Jahren lediglich zwischen 6,8 % und 9,9 % der Gesamtbevölkerung aus. Im Jahr 1970 stellten sie hingegen bereits 15,0 %, und zudem bezogen nun schätzungsweise mehr als drei Viertel38 der Personen dieser Altersklasse entweder eine Altersrente oder eine andere Form der regelmäßigen finanziellen Unterstützung. Die faktische Belastung für den Staatshaushalt war folglich auch infolge der demographischen Alterung um ein Vielfaches angestiegen. Drittens schließlich verringerten sich die der Volkswirtschaft zur Verfügung stehenden Arbeitskräfteressourcen: Während sich 1959 noch 57,4 % der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter befunden hatten, lag der entsprechende Prozentsatz elf Jahre später – nicht zuletzt aufgrund des leicht angestiegenen Anteils der unter 16-Jährigen – nur noch bei 54,0 %. Erschwerend kam hinzu, dass der Zeitpunkt des tatsächlichen Beginns der Erwerbstätigkeit für viele junge Sowjetbürger nicht bei 16 Jahren, sondern erst bei 19 bis 20 Jahren lag.39 Vor allem der Arbeitskräftemangel stand im Zentrum der Mitte der 1960er Jahre einsetzenden Beschäftigung sowjetischer Wissenschaftler mit dem Problem der demographischen Alterung.40
36 Stiller, Sozialpolitik, S. 112 [Hervorhebung i. Orig.]. Vgl. auch Vogel, Zur Konzeption, S. 25; Gordon u. a., Razvitoj socializm, S. 67. 37 Zur Relevanz der Veränderung der Altersstruktur für die Entwicklung der mit der Sozialversorgung verbundenen Kosten vgl. Lancev, Vzaimosvjazތ, S. 3. 38 Siehe Abs. 4.3. 39 Vgl. Kalinjuk, Vozrastnaja struktura, S. 103. 40 Vgl. Samarucha Fedotov, Gosudarstvennaja pensionnaja sistema. Zu den ökonomischen Nachteilen der demographischen Alterung vgl. z. B. Rubakin, Osnovnye problemy, S. 48; Šapiro, Izmenenija, S. 8485; Sonin, Ơkonomiþeskie problemy.
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Eine solche Schwerpunktsetzung sollte sich auch auf die Entwicklung der Gesetzgebung auswirken. Hier lassen sich zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen wurde die Bekämpfung des prognostizierten Arbeitskräftedefizits zu einem dominierenden Thema bei der Fortentwicklung der Staatsrentenversorgung. Als probates Mittel zur Bedarfsdeckung wurde dabei insbesondere die – ab 1961 umgesetzte – Förderung der Rentnerweiterarbeit erachtet.41 Zum anderen kann die Abhängigkeit vieler Kollektivwirtschaften vom Arbeitsbeitrag ihrer älteren Mitglieder als Erklärung sowohl für die verspätete Integration der Kolchosbauern in das System der allgemeinen Altersrentenversorgung als auch für das niedrige Niveau ihrer Versorgung dienen. Unterstützungsleistungen, die die betagten Artelmitglieder mit einer Option auf einen arbeitsfreien Ruhestand ausstatteten, konnten vor dem Hintergrund der massiven Landflucht der Jüngeren nicht im staatlichen Interesse sein. Eine weitere Besonderheit der Bevölkerungsstruktur bestand in dem Übergewicht des weiblichen Geschlechts, das nicht nur die arbeitsfähige Kolchosmitgliederschaft kennzeichnete, sondern für die sowjetische Population in ihrer Gesamtheit charakteristisch war. Gemäß der Volkszählung von 1959 stellten die Frauen 55,0 % aller Bürger. Dieses Missverhältnis verringerte sich in den folgenden elf Jahren nur geringfügig: 1970 lag der weibliche Anteil noch immer bei 53,9 %. Zurückzuführen war das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern zu einem guten Teil auf die kriegerischen Konflikte und den staatlichen Terror, die bis 1953 insbesondere unter der männlichen Bevölkerung zu großen Verlusten geführt hatten.42 In Abhängigkeit von der jeweiligen Altersstufe fiel die Disproportion zwischen den Geschlechtern unterschiedlich stark aus. Unter den höchstens 19(1959) bzw. 24-Jährigen (1970) hatte in dem Sinne wieder eine Normalisierung eingesetzt, als dass hier ein leichter Überhang der Jungen und Männer zu registrieren war. Umso geringer nahm sich der männliche Anteil in den älteren Jahrgängen aus. Jenseits der Grenze von 35 (1959) und bzw. 45 Jahren (1970) fiel er auf Werte unterhalb der 40 %-Marke. Besonders ausgeprägt gestaltete sich das Missverhältnis innerhalb derjenigen Altersklassen, die ab 1956 zum Erhalt einer Staats- und ab 1968 zum Bezug einer Kolchosaltersrente qualifizierten: 1959 waren 74,0 %, elf Jahre darauf gar 74,6 % aller Personen im Alter von mindestens 55 41 Dieser Zusammenhang wird beispielsweise von Steženskaja Saþuk, Demografiþeskie sdvigi, S. 250, hergestellt: „Die beobachtete demographische Situation setzt eine Reihe von ernsthaften sozioökonomischen und gesundheitlich-hygienischen Problemen auf die Tagesordnung [...]. Unter die wichtigen Fragen, die eine dringende und umfassende Prüfung erfordern, muss das Problem der maximalen Anhebung der Produktionsaktivität der Bevölkerung höheren Alters eingereiht werden.“ Im Detail zur Entwicklung der Bestimmungen zur Rentnerweiterarbeit siehe Abs. 2.1.6.2. 42 Eine Schlüsselrolle spielte sicherlich der Zweite Weltkrieg. Hatten sich die männlichen Bürger bereits 1940 mit 47,9 % in der Minderheit befunden, so war dieser Anteil Schätzungen zufolge im Jahr 1945 auf nunmehr 43,2–43,3 % geschrumpft: Männer hatten mehr als 80 % der unter 50 Jahre alten sowjetischen Kriegsopfer gestellt. Vgl. Naselenie SSSR za 70 let, S. 22; Bohn, Bevölkerung, S. 611; Naselenie Rossii, S. 177.
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bzw. 60 Jahren Frauen (Tab. 1e). Das hohe Gewicht der weiblichen Bürger in dieser Altersklasse erklärt sich nicht zuletzt über ihre im Vergleich deutlich günstigere Lebenserwartung.43
Tab. 1e: Geschlechtsspezifische Verteilung der Sowjetbevölkerung nach Altersstufen (in %) Alter in Jahren 0– 4 5– 9 10 – 14 15 – 19 20 – 24 25 – 29 30 – 34 35 – 39 40 – 44 45 – 49 50 – 54 55 – 59 60 – 69 70 – 79 80 – 89 90 – 99 100 und älter Gesamtbevölkerung Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (16–54/59 Jahre) Bevölkerung im Rentenalter (ab 55/60 Jahren)
1959
1970
Männer 51,0 50,9 50,9 50,1 49,4 49,0 45,3 39,1 38,4 38,4 38,4 33,4 34,9 32,8 29,4 24,6 25,0 45,0
Frauen 49,0 49,1 49,1 49,9 50,6 51,0 54,7 60,9 61,6 61,6 61,6 66,6 65,1 67,2 70,6 75,4 75,0 55,0
Männer 50,9 51,0 50,9 51,0 50,4 49,5 49,2 49,1 46,1 38,7 37,8 35,6 33,7 31,2 27,4 24,0 22,0 46,1
Frauen 49,1 49,0 49,1 49,0 49,6 50,5 50,8 50,9 53,9 61,3 62,2 64,4 66,3 68,8 72,6 76,0 78,0 53,9
46,0
54,0
49,0
51,0
26,0
74,0
25,4
74,6
Quelle: Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 1213.
Die Tatsache, dass sowjetische Frauen im Schnitt deutlich länger lebten als ihre männlichen Landsleute, trug mit dazu bei, dass sie tendenziell auch weitaus häufiger von einer Erfahrung betroffen waren, die die Abhängigkeit des Einzelnen von staatlicher Unterstützung verschärfte: Personen, die im Alter alleinstehend ihren Unterhalt bestreiten mussten, waren vornehmlich weiblichen Geschlechts.44 43 Diesem Tatbestand entsprechen auch die Unterschiede in der altersspezifischen Sterbeziffer: 1958/59 lag sie für Frauen in einem Alter von mehr als 70 Jahren bei 58,7, 1970/71 kamen in der betreffenden Altersklasse auf 1000 Personen 69 Sterbefälle. Die entsprechenden Kennwerte für männliche Altersgenossen lagen hingegen bei respektive 74,7 (1958/59) und 92,7 (1970/71). Vgl. Powell, Aging, S. 177. 44 Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1959 g., S. 249.
Demographische Entwicklung
47
Bezogen auf die gesamte Wohnbevölkerung der UdSSR nahm das Gewicht der Alleinstehenden im Untersuchungszeitraum zu: Lag ihr Anteil 1959 noch bei 4,5 %, so hatte er sich bis 1970 auf 5,9 % vergrößert. Differenziert man die Werte nach dem Lebens- bzw. Arbeitsbereich der Betroffenen, so sind deutliche Unterschiede zwischen der ruralen und der urbanen Sphäre auszumachen. Ende der 1950er Jahre machten die Alleinstehenden noch 3,3 % der ländlichen und 5,8 % der städtischen Bevölkerung aus. Zu Beginn der 1970er Jahre hatten sich diese Anteile auf 4,8 % (Land) und 6,7 % (Stadt) erhöht.45 Dass die Vereinzelung im Zuge der demographischen Entwicklung der UdSSR zu einem Problem wurde, mit dem speziell die älteren Jahrgänge konfrontiert waren, lässt sich an den Ergebnissen der Volkszählungen ablesen. 1959 hatten 22,0 % aller Betroffenen das 60. Lebensjahr vollendet, elf Jahre später lag der entsprechende Anteil bereits bei 33,1 %.46 Dies bedeutet eine beträchtliche Überrepräsentation, stellte die Altersgruppe in den genannten Stichjahren doch, wie oben gesehen, lediglich 9,4 % (1959) bzw. 11,8 % (1970) der Gesamtbevölkerung. Der beschriebenen Abwanderung der Jüngeren war es zuzuschreiben, dass der Anteil der Betagten unter den Alleinstehenden auf dem Lande besonders hoch war: 1959 zählten 14,9 % aller „städtischen“, jedoch 33,3 % aller „ländlichen“ Personen ohne Familie bzw. familiäre Unterstützung mehr als 60 Jahre. Auch hier waren im Zeitraum bis zur nächsten Volkszählung deutliche Zuwächse zu verzeichnen, die auf die rapide Alterung dieses Bevölkerungsteils schließen lassen: Im Jahr 1970 hatten bereits 23,7 % der städtischen und 50,1 % der ländlichen Betroffenen die genannte Altersgrenze überschritten.47 Informationen über die geschlechtsspezifische Zusammensetzung der älteren Sowjetbürger ohne Familienanschluss bietet vor allem die Volkszählung von 1970. An dem allgemeinen Zahlenverhältnis der männlichen und der weiblichen Alleinstehenden hatte sich in den vorangegangenen elf Jahren kaum etwas verändert: Waren im Jahr 1959 noch 26,9 % von ihnen männlichen, 73,1 % weiblichen Geschlechts gewesen, so lagen die entsprechenden Prozentwerte 1970 bei respektive 26,6 % und 73,4 %.48 Das Übergewicht der Frauen deutet bereits an, dass sie von einer Vereinzelung im Vergleich weit häufiger betroffen waren. Tatsächlich waren 1970 8,0 % aller sowjetischen Frauen bei der Bestreitung des Lebensunterhalts auf sich allein gestellt, während Gleiches nur für 3,4 % der männlichen Bürger galt.49 Ungleich disparater fiel diese Relation in den oberen Altersklassen aus. Hier zeigt sich mit großer Deutlichkeit, dass das Alleinleben im fortgeschrittenen Lebensalter ein Los war, mit dem sich vorwiegend Frauen auseinanderzusetzen
45 Vgl. ebd., S. 240 u. 249; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 5, S. 146; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 7, S. 412. 46 Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1959 g., S. 240 u. 249; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 7, S. 412413. 47 Vgl. ebd. 48 Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1959 g., S. 249; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 7, S. 412. 49 Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 7, S. 412.
48
Demographische Entwicklung
hatten: Sie stellten 92,6 % aller Alleinstehenden im Rentenalter.50 Und während 1970 nur 4,9 % aller Männer über 60 Jahre als alleinstehend galten, lag der entsprechende Prozentsatz unter den Bürgern weiblichen Geschlechts, die das 55. Lebensjahr vollendet hatten, bei 20,9 %. Betroffen war folglich jede fünfte Frau in dieser Altersgruppe, für die auch eine weitere Besonderheit festzustellen war. Galt allgemein die Regel, dass die Alleinstehenden unter der städtischen Bevölkerung stärker als unter der ländlichen vertreten waren, waren ältere und alte Bürgerinnen auf dem Lande von ihr ausgenommen: Sie mussten tendenziell öfter sowohl auf eine Eheverbindung als auch auf die materielle Unterstützung von Verwandten verzichten, als dies für ihre städtischen Altersgenossinnen festzustellen ist (Tab. 1f).
Tab. 1f: Männliche und weibliche Alleinstehende (AS), 1970 AS beiderlei Geschlechts
Männliche AS
Weibliche AS
Städt. Städt. Städt. StädLändStädStädLändLändund und und tischer licher tischer licher tischer licher ländl. ländl. ländl. Bereich Bereich Bereich Bereich Bereich Bereich Bereich Bereich Bereich Gesamtheit der AS* Anteil an WB** AS im Rentenalter* Anteil an ges. WB im Rentenalter
14.202
9.128
5.074
3.779
2.974
806
10.422
6.154
4.268
5,9 %
6,7 %
4,8 %
3,4 %
4,7 %
1,7 %
8,0 %
8,5 %
7,4 %
6.126
2.865
3.260
450
222
228
5.675
2.643
3.032
16,8 %
15,9 %
17,8 %
4,9 %
5,1 %
4,7 %
20,9 %
19,4 %
22,4 %
* Zahlen in Tausend. ** Wohnbevölkerung. Quelle: Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 5, S. 140; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 7, S. 412413.
In einem direkten Zusammenhang mit den beträchtlichen Unterschieden in der familiären Versorgungssituation stand die Tatsache, dass ältere Frauen sich weit seltener in einem Eheverhältnis befanden als gleichaltrige Männer. 1970 waren so nur 8,0 % der männlichen, jedoch 62,9 % der weiblichen Sowjetbürger zwischen 60 und 69 unverheiratet. Jenseits der Altersgrenze von 70 Jahren fiel diese Relation weniger drastisch aus, doch auch hier lag die Häufigkeit des weiblichen Unverheiratetseins mit 80,4 % immer noch viermal so hoch wie der für das andere 50 Orientiert man sich an einer für beide Geschlechter einheitlichen Altersgrenze von 60 Jahren, so lag der weibliche Anteil bei 90,4 % und der männliche bei 9,6 %. Vgl. ebd. S. 413.
Demographische Entwicklung
49
Geschlecht charakteristische Vergleichswert (22,1 %).51 Zurückführen lässt sich eine solche Diskrepanz freilich vor allen Dingen auf die Verwitwung weiter Teile der älteren weiblichen Bevölkerung infolge des Zweiten Weltkrieges und der allgemein deutlich niedrigeren männlichen Lebenserwartung.52 Für die Verbreitung des Alleinlebens zeichnete jedoch ebenfalls die Veränderung der Familienstruktur verantwortlich: Auch in der UdSSR wurde das Modell der mehrere Generationen umfassenden Großfamilie von der städtisch geprägten Kernfamilie abgelöst. Gerade Fortschritte, die in der UdSSR auf dem Gebiet des Wohnungsbaus erzielt wurden, führten dazu, dass die erwachsenen Kinder sich schon früh aus der Enge der gemeinsamen Unterkunft verabschieden und einen eigenen Haushalt gründen konnten. Riss dann der Kontakt ab oder waren die vorhandenen Kinder zu keiner Unterstützung fähig, mussten die Eltern im Alter auf sich allein gestellt bleiben.53 Der Anteil der älteren Sowjetbürger ohne Ehepartner und familiäre Unterstützung variierte in den einzelnen Unionsrepubliken teils erheblich. In Gegenden, die sich durch eine hohe Fertilität auszeichneten oder in denen das Zusammenleben mehrerer Generationen weiterhin ein verbreitetes Familienmodell darstellte, war das Alleinleben eine eher seltene Erscheinung. Dies betraf vor allem die transkaukasischen und zentralasiatischen Gebiete der UdSSR: In der Armenischen SSR zählten so z. B. 1970 nur 6,6 %, in der Tadschikischen SSR lediglich 7,3 % der Personen im Rentenalter als alleinstehend. Weitaus gängiger war die Vereinzelung der älteren Bevölkerung hingegen in Republiken, für die generell ein hoher Grad der demographischen Alterung charakteristisch war. Speziell im Baltikum waren betagte Bürger überdurchschnittlich oft betroffen.54 So lag der Anteil der Alleinstehenden an der Bevölkerung über 55 bzw. 60 Jahre in der Lettischen SSR bei 22,1 % und in der Estnischen SSR gar bei 30,0 %. Unter den sich in diesem Alter befindenden Frauen der letztgenannten Republik lebte sogar mehr als ein Drittel (34,9 %) allein und ohne Familienanschluss (Tab. 1g). Gerade für die alleinstehenden älteren Sowjetbürger besaßen die Bestimmungen der allgemeinen Altersrentenversorgung besonderes Gewicht, waren die Ruhestandsgelder – im Falle einer Bewilligung – doch ihre Haupteinnahmequelle. Auf den Staat mussten sie auch in anderer Weise vertrauen. Fehlten ihnen die zur Führung eines eigenen Haushalts erforderlichen Mittel, so sollten sie in der Theorie mit einem Platz in einem Altenheim ausgestattet werden. Der politischen Führung stellte sich dergestalt die Aufgabe, die für die Versorgung dieses stetig wachsenden Bevölkerungssegments mit den entsprechenden Dienstleistungen notwendige Infrastruktur bereitzustellen.
51 Elf Jahre zuvor waren 9,2 % der Männer und 63,9 % der Frauen zwischen 60 und 69 Jahren unverheiratet gewesen. Unter den über 70-Jährigen hatten die entsprechenden Anteile bei 26,1 % (Männer) und 83,1 % (Frauen) gelegen. Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 263. Vgl. auch Ilyina, Marital-Status Composition. 52 Vgl. Lakiza-Saþuk, Odinoþestvo, S. 51; Kiseleva Sinel’nikov, Ơvol’jucija, S. 29. 53 Vgl. Netrudosposobnoe naselenie, S. 155156; Kalinjuk, Vozrastnaja struktura, S. 108109; Mikul’skij u. a., Social’naja politika KPSS, S. 214215. 54 Vgl. auch Lakiza-Saþuk, Odinoþestvo, S. 55.
50
Demographische Entwicklung
Tab. 1g: Anteil der Alleinstehenden (AS) an der sowjetischen Wohnbevölkerung (WB), 1970 UdSSR
AS beiderlei Geschlechts
Insgesamt
Anteil an WB (%) AS im Rentenalter Anteil an WB im Rentenalter (%)
Männliche AS
Insgesamt Anteil an männl. WB (%)
Ukrain. SSR
Weißruss. SSR
14.201.597 8.579.849 3.007.981
Usbek. SSR
Kasach. SSR
Georg. SSR
613.628
271.313
415.548
123.020
6,4
6,8
2,3
3,2
2,6
6.125.659 3.633.762 1.434.276
275.595
93.997
114.641
64.160
5,9
16,9
6,6
18,3
17,2
18,9
7,6
8,5
9,3
3.779.352 2.249.319
698.763
140.212
112.270
159.687
28.003
3,4
3,8
3,3
3,4
2
2,5
1,3
450.494
221.812
106.445
21.999
12.105
9.479
7.782
4,9
4,9
4,8
5,3
2,8
2,5
3,6
Insgesamt 10.422.245 6.330.530 2.309.218
473.416
159.043
255.861
95.017
9
9,7
2,6
3,8
3,8
5.675.165 3.411.950 1.327.831
253.596
81.892
105.162
56.378
24,3
10,2
10,8
12
AS im Alter von mehr als 60 J. Anteil an männl. WB über 60 (%)
Weibliche AS
RSFSR
Anteil an weiblicher WB (in %) AS im Alter von mehr als 55 J. Anteil an weibl. WB über 55 (%)
8
21
8,9
22,2
21,7
51
Demographische Entwicklung
Aserb. SSR
Litau. SSR
Moldaw. Lettische SSR SSR
Kirgis. SSR
Tadsch. SSR
Armen. SSR
Turkm. SSR
Estn. SSR
120.253
224.240
173.931
232.943
92.962
61.699
41.028
2,4
7,2
4,9
9,9
3,2
2,1
1,6
3,2
12,9
61.530
92.879
77.942
107.836
31.186
19.254
16.502
20.254
81.845
12,1
16,8
17,6
22,1
9,7
7,3
6,6
10,3
30,0
34.714
75.839
39.470
75.725
32.110
25.816
12.212
33.489
61.723
1,4
5,2
2,4
7,1
2,3
1,8
1,0
3,2
10,0
5.675
16.589
8.667
17.454
2.562
2.491
1.882
2.942
12.610
3,7
8,7
6,4
12,2
2,6
2,6
2,2
4,6
16,9
85.539
148.401
134.461
157.218
60.852
35.883
28.816
3,2
9,0
7,1
12,3
4,0
2,4
2,3
3,2
15,4
55.855
76.290
69.275
90.382
28.624
16.763
14.620
17.312
69.235
15,8
21,1
22,5
26,2
12,9
9,9
8,8
13,1
34,9
68.587 174.615
35.098 112.892
Quelle: Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 5, S. 146152; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 7, S. 413443.
2. DAS SYSTEM DER ALLGEMEINEN ALTERSRENTEN 2.1. DAS „GESETZ ÜBER DIE STAATLICHEN RENTEN“ 2.1.1. Die Entwicklung der staatlichen Altersrentenversorgung bis 1956 2.1.1.1. Die Entwicklung im Zarenreich bis 1917 Im Bereich der Sozialgesetzgebung gelangte das Zarenreich nicht über bescheidene Ansätze hinaus. Nur für einen sehr geringen Teil der Bevölkerung existierten Regelungen, die auf eine Absicherung im Alter abzielten. Eine staatlich finanzierte Rentenversicherung existierte im 19. Jahrhundert lediglich für ehemalige zivile und militärische Staatsbedienstete sowie deren Angehörige.1 Zur Ruhestandsversorgung anderer Bevölkerungsgruppen leistete der Staat keinen finanziellen Beitrag. Lediglich in einigen wenigen Wirtschaftsbereichen, wie z. B. in der Bergbauindustrie und dem Eisenbahnwesen, existierten Regelungen zur Absicherung gegen individuelle Lebensrisiken. Die Arbeitnehmer waren dort in Hilfskassen und „Gesellschaften zur gegenseitigen Unterstützung“ organisiert, deren Leistungen sich über die Mitgliedsbeiträge der Beschäftigten und gegebenenfalls ergänzende Zahlungen der Unternehmensleitungen finanzierten. Hier handelte es sich allerdings insofern um ein Ergebnis „staatlicher Sozialpolitik“, als dass die Gründung vieler dieser Organisationen auf eine obrigkeitliche Initiative zurückzuführen war. Meist standen sie entweder unter behördlicher oder unter betrieblicher Leitung. Zudem war die Mitgliedschaft in den Kassen für die Arbeitnehmer verpflichtend.2 1
2
Als Grundlage dieser Zuweisungen diente das „Statut über die Renten und einmaligen Beihilfen für staatliche (militärische und zivile) Bedienstete“ vom 6. Dezember 1827. Wichtigste Voraussetzung für die Qualifikation des Einzelnen zu einer Ruhestfandszahlung war die Anzahl der abgeleisteten Jahre. Anspruch auf eine vollständige Rente erwirkte man in der Regel nach 35 Jahren. Finanziert wurden die Leistungen über einen zentralen Rentenfonds, und die Ruhestandszahlungen variierten in Abhängigkeit vom Dienstrang der betreffenden Person. So konnte etwa ein Direktor der Staatsbank mit einer jährlichen Zuweisung von 560 R rechnen (11 % des früheren Gehalts; zeitgenössischer Rubelkurs), während ein Rechnungsbeamter der Moskauer Sparkasse lediglich auf 85 R (14 %) kam. Das bescheidene Niveau insbesondere des zweiten Beispiels wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Durchschnittslohn eines russischen Fabrikarbeiters in den 1890er Jahren – je nach Beruf und dem Arbeitsort – zwischen 88 und 606 R betragen konnte. Vgl. Sapilov, Pensionnoe obespeþenie, S. 184 185; Degtjarev, Pensionnye reformy, S. 1819; Bennett, Chiny, S. 168169; Kozlova, K istorii, S. 9091. Mitglieder in solchen Einrichtungen waren nicht selten auch die Unternehmer selbst oder andere einflussreiche Personen, auf deren Wohltätigkeit die Fürsorge gründen sollte. Vgl. Semenov, Mutual Benefit Societies, S. 403.
„Gesetz über die staatlichen Renten“
53
Speziell im Ural und dem zaristischen Polen gingen staatliche Bergbauunternehmen nach der Aufhebung der Leibeigenschaft dazu über, Grubenbetriebsgenossenschaften (gornozavodskie tovarišþestva) zu gründen.3 Deren Hilfskassen sollten eine Versorgung der Arbeiter beim Verlust der Arbeitsfähigkeit infolge von Unfällen, Krankheit, aber auch von fortgeschrittenem Alter sowie – im Falle ihres Ablebens – eine Unterstützung der Familienangehörigen gewährleisten.4 Bis 1896 entstanden im Ural 16 solcher Kassen, die über 16.000 Mitglieder besaßen und ca. 3.000 Rentner mit monatlichen Zuwendungen unterstützten.5 Vom Staat dazu aufgerufen, ebenfalls für ihre Beschäftigten Sorge zu tragen, richteten auch private Industrieunternehmen „Kassen zur gegenseitigen Unterstützung“ ein. Wie Inspektionen in den 1890er Jahren zeigten, hielt sich die Schutzfunktion dieser Einrichtungen in Grenzen, da sich die Unternehmensleitungen vielerorts mit eigenen Zuzahlungen zu den Kassen zurückhielten.6 Allerdings gab es auch Ausnahmen. Insbesondere im südrussischen Steinkohlebergbau wurden Arbeiter dringend gesucht und mit dem Verweis auf Unterstützungsleistungen umworben, die u. a. Maßnahmen zur Rentenversorgung beinhalteten.7 Andere Be3
4
5
6 7
Die Einrichtung der Genossenschaften wurde bereits im Gesetz vom 8. März 1861 „Über die Befreiung der Arbeiter von staatlichen Grubenbetrieben und ihre Ausstattung mit Land“ (PSZ 2, XXXVI, Nr. 36719) empfohlen. Ewing, Social Insurance, S. 5354, sieht die staatliche Verantwortungsübernahme für das Wohl der erst kurz zuvor aus der Unfreiheit Entlassenen in der Kontinuität mit Verpflichtungen, die bereits gegenüber den Leibeigenen bestanden hatten: „Nach der Befreiung stand es den Bauern ,freiދ, in den Minen zu arbeiten, und der Staat, der dadurch stillschweigend die Unerheblichkeit dieser Statusveränderung anerkannte, hielt an seinen Verpflichtungen fest. Solcherart wurde eine im hohen Grade traditionelle Beziehung über Nacht in eine rechtliche Beziehung umgewandelt, in ein garantiertes Recht. Gleichzeitig war die paternalistische Untermauerung dieser Reformen unverkennbar.“ Zu den Hilfskassen der Bergbaugenossenschaften vgl. auch Degtjarev, Pensionnye reformy, S. 5561. Voraussetzung war die Beschäftigung über einen bestimmten Zeitraum hinweg sowie die vorherige Zahlung von Mitgliedsbeiträgen. Ewing, Social Insurance, S. 54, sieht in der Abneigung der Arbeiter gegen eine solche Gebühr eine mögliche Wurzel für ihre auch im Kontext der späteren Sozialversicherungsbewegung manifeste Unzufriedenheit über die Eigenbeteiligung an der Absicherung gegen Unfälle und Krankheit. „Die Selbsthilfe-Ideologie, der zufolge Arbeiter in eine Kasse einzahlten und sich solcherart selbst versicherten, ersetzte nie die Überzeugung, dass die Besitzer und der Staat für den Schutz der Arbeiter verantwortlich waren; auch dann nicht, als die Arbeiter aus ihrer Position der Abhängigkeit allmählich zum politischen Aktivismus [...] übergingen.“ Freilich wurde das Prinzip der Selbstbeteiligung an den Versicherungskosten von der Arbeiterschaft auch in anderen Ländern abgelehnt. Vgl. Conrad, Die Entstehung, S. 428; Stearns, Arbeiterleben, S. 254. Ergänzt man die genannten Zahlen um jene 26.000 Bergarbeiter, die im zaristischen Polen an Hilfskassen partizipierten, so genossen zur Jahrhundertwende etwa 9 % aller in diesem Industriezweig Beschäftigten eine solche Form der Absicherung. Bedeutend größer war im Vergleich hierzu der Anteil der in Hilfskassen organisierten Eisenbahnarbeiter, der sich 1902 auf 71 % belief. Vgl. Semenov, Mutual Benefit Societies, S. 409410. Vgl. Ewing, Social Insurance, S. 55, die sich auf ýistjakov, Strachovanie raboþich, S. 58, beruft. Puttkamer, Anfänge russischer Sozialgesetzgebung, S. 196197, merkt hierzu an, dass „allerdings nur etwa 20 Prozent aller im Steinkohlebergbau Verunglückten und ihrer Hinterbliebenen von der Kasse unterstützt [wurden], während die übrigen Unfallopfer direkt von ihren
54
Das System der allgemeinen Altersrenten
rufsgruppen organisierten zum Teil in Eigenregie Hilfskassen auf der Grundlage mutualistischer Prinzipien, d. h., aus Mitgliedsbeiträgen wurden Fonds eingerichtet, um den Existenzrisiken entgegenzuwirken.8 Wie in Westeuropa gewann die Frage der materiellen Situation der Arbeiterschaft im Zuge der – hier mit einiger Verzögerung – einsetzenden Industrialisierung auch in Russland an politischem Gewicht. So fand 1870 in St. Petersburg erstmals ein Fabrikarbeiterstreik statt, und spätestens seit den 1880er Jahren kam es immer wieder zu Unruhen, in denen sich die Unzufriedenheit der Beschäftigten über die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen und die strenge Reglementierung des Arbeitslebens entlud.9 Vor diesem Hintergrund wurde die Regierung in den 1880er Jahren im Bereich der Fabrikgesetzgebung aktiv, um zu einer Lösung der Arbeiterfrage beizutragen.10 Dem identischen Personenkreis galten auch die ersten Bemühungen um eine einheitliche Zufriedenstellung sozialer Sicherheitsbedürfnisse. Gegenstand der Reformbemühungen war zuerst die Absicherung gegen Arbeitsunfälle, was eine Parallele zur Entwicklung sozialpolitischer Staatstätigkeit in den meisten anderen europäischen Ländern darstellte.11
Arbeitgebern, eventuell auch von kommerziellen Versicherungen Unterstützungen erhielten oder eben ganz leer ausgingen, was den Entschädigungen einen ausgesprochen zufälligen Charakter verlieh“. Zu Maßnahmen, die in den Minen der Donbass-Region getroffen wurden, vgl. auch Friedgut, Iuzovka, S. 288299. 8 Vgl. van der Linden, Introduction, S. 18. So lassen sich die Wurzeln der jüdischen „Bruderschaften“ (chevrot), bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Vgl. Semenov, Mutual Benefit Societies, S. 405406; Löwe, Von Mildtätigkeit. Russische Drucker gründeten im Zeitraum zwischen 1838 und 1905 etwa 30 Gesellschaften zur gegenseitigen Hilfe, von denen viele auch Renten auszahlten. Vgl. Bonnell, Roots, S. 7879. Besonders aktiv waren diesbezüglich zudem die russischen Ladenverkäufer, die ab 1859 mehr als siebzig derartiger Organisationen einrichteten. Vgl. Semenov, Mutual Benefit Societies, S. 407408; Tatišþev, Obšþestva vzaimopomošþi, S. 3637. Insgesamt gab es um 1900 im Russischen Reich etwa 300 solcher Gesellschaften, die sich ursprünglich in erster Linie der Absicherung ihrer Mitglieder gegen existentielle Unwägbarkeiten widmeten, zunehmend aber auch mit Fragen befasst waren, die über diesen Rahmen hinausreichten. Vgl. Madison, Social Welfare, S. 19; Svjatlovskij, Iz istorii kass, S. 46; Weinberg, The Politicization. 9 Vgl. Heller, Die Anfänge. 10 Zur russischen Fabrikgesetzgebung siehe insbesondere Puttkamer, Die Anfänge, der den „Aufbau einer wirksamen Arbeiterschutzgesetzgebung in Russland seit den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts [...] zu den zentralen Reformleistungen des ausgehenden Zarenreiches“ zählt (S. 85). Vgl. auch Heller, Die Anfänge; Laveryþev, Carizm, S. 55218; Gorshkov, Toward a Comprehensive Law. 11 Zurückzuführen lässt sich diese Priorität wohl auch darauf, dass deutlicher „als bei Krankheit und Alter [...] der kausale Zusammenhang von Industriearbeit und Erwerbsunfähigkeit bei den Opfern von Arbeitsunfällen zutage [trat], so dass deren Versorgung nicht nur als humanitäre Pflicht, sondern vor allem als gerechte Entschädigung für einen erlittenen Schaden empfunden wurde“. Puttkamer, Anfänge russischer Sozialgesetzgebung, S. 186. Darüber hinaus war sicherlich auch der finanzielle Aspekt relevant: Die Absicherung gegen eine Erwerbsunfähigkeit, die auf das fortgeschrittene Alter des Einzelnen zurückzuführen war, musste zu diesem frühen Zeitpunkt allein aufgrund des immensen Kostenaufwandes abschreckend auf jene Parteien wirken, die für die Finanzierung der Maßnahme verantwortlich gezeichnet hätten.
„Gesetz über die staatlichen Renten“
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So resultierten die Überlegungen über den Schutz der russischen Arbeiter vor den ihnen am Arbeitsplatz drohenden Gesundheitsrisiken in dem Gesetz vom 2. (15.) Juni 190312 „Über die Entschädigung der Opfer von Unfällen“13, das die Fabrikbesitzer verpflichtete, ihre Arbeitnehmer mit einer Rente zu entschädigen, wenn diese aufgrund eines Arbeitsunfalls erwerbsunfähig geworden waren.14 Die Verwerfungen des Jahres 1905 trugen dann mit dazu bei, dass man in den folgenden Jahren verstärkt über weitere Maßnahmen nachdachte, die zu einer Verbesserung des Lebensstandards russischer Arbeiter und dadurch zu einer Beruhigung der gesellschaftlichen Lage führen sollten. Im Zentrum stand dabei die Einführung einer staatlichen Arbeiterversicherung. Von einer solchen Pflichtversicherung erhoffte man sich ebensolche das System stabilisierende Resultate, wie sie mit der im Zarenreich stark rezipierten Bismarckschen Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre assoziiert wurden.15 Zwar bevorzugten die Autoren einiger Entwürfe, die unter dem unmittelbaren Eindruck der revolutionären Ereignisse entstanden, eine „große Lösung“, die auch eine Ruhestandsversorgung umfasste. Jedoch konnten sich derartige Vorstellungen nicht gegen den Widerstand der Industriellen und die Bedenken gegen die Durchführbarkeit einer solchen Maßnahme durchsetzen.16 Ein Indiz dafür, wie wenig die Vorstellung einer staatlichen Verantwortung für das Wohl der Arbeiterschaft in Teilen des Establishments verbreitet war, bietet eine Äußerung des Juristen Boris N. ýiþerin: „Der Arbeiter befindet sich nicht im Staatsdienst; er ist ein Privatmensch, der sich sein Brot mit seiner persönlichen Arbeit verdient. Ihn auf den gleichen Rang zu erheben wie die Ersteren [die Staatsbediensteten; L. M.], hieße, zwei verschiedenartige Sphären miteinander zu vermischen. Unter einem solchen Blickwinkel gäbe es keinen Grund, weshalb man nicht al-
12 Die vor der Klammer aufgeführte Zahl entspricht dem julianischen, die in der Klammer genannte Zahl dem gregorianischen Kalender. Sämtliche Daten nach dem 14. Februar 1918 beziehen sich im Folgenden auf die gregorianische Zählweise. 13 PSZ 3, XXIII, 1903, Nr. 23060. 14 Voraussetzung war dabei allerdings, dass der Unfall nicht auf die Unvorsichtigkeit des Opfers selbst zurückzuführen war. Ging der Arbeiter seiner Arbeitsfähigkeit zu 100 % verlustig, sollte er zwei Drittel seines vorherigen Lohnes erhalten. Bei einer partiellen Einbuße entschieden lokale Verwaltungsbehörden über den Umfang der Unterstützungsleistung. Die Bestimmungen des Normativakts galten jedoch lediglich für die Beschäftigten der Montan- und Fabrikindustrie. Vgl. Stepanov, Die Sozialgesetzgebung, S. 123124; Puttkamer, Anfänge russischer Sozialgesetzgebung; Ivanov, Zakon 1903 g. 15 So konstatierte Petr A. Stolypin, ab 1906 als Innenminister mit der Ausarbeitung dieser Reform befasst: „Es gibt kein ruhigeres und sozialeres Land als Deutschland. Man kann voller Überzeugung und ohne einen Irrtum zu riskieren sagen, dass es dort keinen Umsturz geben wird. Der Sozialismus ist in Deutschland eher eine akademische Frage, und das Schutzventil gegen die Verbreitung [...] sozialistischer Ideen ist die Versicherung der Arbeiter, zu der man jetzt in Deutschland so weitgehend übergeht.“ Trudy mestnych komitetov, S. 32, zit. bei: Stepanov, Die Sozialgesetzgebung, S. 129. Vgl. hierzu auch Heller, Die Anfänge. 16 Vgl. Snow, The Kokovtsov Commission, S. 787788; Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 422436; Gross u. a., Über die Revolution, S. 424; Gorshkov, Toward, S. 6364.
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Das System der allgemeinen Altersrenten lem und jedem eine Rente geben sollte. [...] es hätte etwas Ungeheuerliches, wenn man alle Arbeiter zu Staatsrentnern machen würde.“17
Es sollten noch sieben Jahre vergehen, bis die Arbeiterversicherung Gestalt annahm. Dabei war es sicherlich dem mittlerweile gesunkenen Druck der Straße zuzuschreiben, dass die schließlich von der Dritten Duma verabschiedeten und am 23. Juni (6. Juli) 1912 vom Zaren bestätigten Gesetze18 nur die Fragen einer staatlichen Unfallversicherung und Krankenversicherung adressierten. In ihrer Reichweite blieben sie weit hinter der Sozialgesetzgebung des Deutschen Reiches zurück, deren Grundpfeiler ja gerade die Alters- und Invalidenversicherung gewesen war. Nur etwas mehr als ein Fünftel der russischen Arbeiter und Angestellten wurde in die neue Pflichtversicherung integriert.19 Die für den Krankheitsfall des Einzelnen vorgesehenen Leistungen beinhalteten ferner allein die Auszahlung einer Unterstützung für den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit, nicht die Deckung der durch einen möglichen Krankenhausaufenthalt anfallenden Kosten. Eine Rentenversorgung wurde lediglich im Rahmen der Unfallversicherung gewährt.20 Finanziert wurden die Krankheitsbeihilfen über Beiträge der Arbeitnehmer und Zuzahlungen der Arbeitgeber. Dass die Reformen von 1912 unter dem Gesichtspunkt einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse kaum Wirksamkeit entfalten konnten, lag freilich auch daran, dass bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs nur noch geringe Zeit verbleiben sollte. Anstatt – wie ursprünglich erhofft – eine engere Bindung der Arbeiter an die Regierung zu gewährleisten, zeitigten sie tatsächlich einen gegenteiligen Effekt. Ihre Mängel, und hier insbesondere die Übertragung eines beträchtlichen Teiles der Finanzierungskosten auf die Arbeiterschaft, riefen eine erhebliche Unzufriedenheit hervor. Sie gab einer regelrechten „Sozialversicherungsbewegung“ Nahrung, die zunehmend dem Einfluss der Bol’ševiki unterlag, welche
17 ýiþerin, Kurs, S. 449, zit. bei: Kozlova, K istorii, S. 92. 18 Es handelte sich dabei um die Normativakte „Über die Einrichtung der Behörde für Angelegenheiten der Arbeiterversicherung“, „Über die Einrichtung des Rates für Angelegenheiten der Arbeiterversicherung“, „Über die Versorgung der Arbeiter im Krankheitsfall“ und „Über die Versicherung der Arbeiter gegen Unfälle“ (PSZ 3, XXXII, 1912, Nr. 37444–37447). 19 Vgl. Stepanov, Die Sozialgesetzgebung, S. 135. Madison, The Soviet Pension System, S. 163, stellt – unter Bezugnahme auf Strachovanie raboþich v Rossii, S. 2936, – fest, dass die russischen Pro-Kopf-Leistungen nur etwa 10 % der entsprechenden Ausgaben im Deutschen Reich ausmachten. Der Versichertenkreis beschränkte sich auf die Arbeiter der europäischen Gebiete Russlands und des Kaukasus, und hier speziell auf die Beschäftigten der Fabrik- und Montanindustrie, des Eisenbahn- und Schiffstransportwesens. Wie schon zuvor blieben die im Bauwesen und in der Landwirtschaft Tätigen ebenso außen vor wie die Handwerker. Vgl. Ivanov, Strachovoj zakon 1912 goda, S. 75. 20 Die Höhe einer solchen Rente entsprach zu zwei Dritteln dem zuvor im Durchschnitt bezogenen Verdienst und konnte durch Naturalabgaben ergänzt werden. Das Niveau der monatlichen Leistung für die Hinterbliebenen eines Verunglückten hing von der Art der Verwandtschaftsgrad ab: Eine Witwe konnte ein Drittel, ein Kind ein Sechstel des früheren Verdienstes erwarten. Vgl. ebd., S. 75.
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ihre sozialpolitischen Maximalforderungen dergestalt auf weite Teile der Arbeiterschaft zu übertragen vermochten.21 Zusammenfassend ist festzustellen, dass vor 1917 nur ein kleiner Teil der älteren Bewohner des Zarenreichs in den Genuss von Rentenzahlungen gelangte, unabhängig davon, ob diese nun staatlich oder privat finanziert wurden. Ihre Zahl bezifferte sich Ende des 19. Jahrhunderts voraussichtlich auf nicht mehr als 1 % der Menschen im Alter von mindestens 60 Jahren.22 Die überwiegende Mehrheit der Untertanen des Zaren musste ihre Arbeitstätigkeit somit bis in hohe Alter fortsetzen. Viele betagte Arbeiter hatten die Verbindung zu ihrem heimatlichen Dorf niemals aufgegeben und kehrten nun aufs Land zurück, wo sie möglicherweise noch über ein Grundstück verfügten, von dem sie sich ernähren konnten. Reichten hierfür die Kräfte nicht mehr aus und waren keine unterstützungsfähigen Angehörigen vorhanden, so fiel es in den Verantwortungsbereich der bäuerlichen Gemeinschaft, für die Bedürftigen zu sorgen. Da diese oft nicht über die notwendigen Mittel verfügte, handelte es sich hierbei um eine inadäquate Lösung.23 Darüber hinaus existierte auch im Zarenreich eine Tradition der gesellschaftlichen Wohltätigkeit, die bis ins Mittelalter zurückreichte und Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Zemstvo-Bewegung einen Höhepunkt erreichte.24 Diese Bemühungen konnten allerdings bei weitem nicht dem vorhandenen Bedarf decken. Gemäß der Volkszählung von 1897 wohnten lediglich 55.000 ältere Menschen in Armenhäusern und anderen wohltätigen Einrichtungen, die nur einen äußerst kargen Lebensstandard gewährleisteten.25 Wie begrenzt die für diese Form der Versorgung zur Verfügung stehenden Kapazitäten ausfielen, verdeutlicht der Umstand, dass demselben Zensus zufolge mehr als 250.000 Menschen hauptsächlich von der Bitte um Almosen lebten. Von ihnen war wiederum beinahe die Hälfte älter als 60 Jahre.26
2.1.1.2. Die Rentenpolitik der Bol’ševiki bis 1956 Die Relevanz der Reformen von 1912 für die zukünftige sozialpolitische Entwicklung beschränkte sich nicht nur auf die wenigen von ihnen geschaffenen Normen und Strukturen, die über die Oktoberrevolution hinauswirken sollten. Sie zeigte 21 Zu der Sozialversicherungsbewegung der Jahre 1912–1914 siehe insbesondere Ewing, The Russian Social Insurance Movement. Vgl. auch Laveryþev, Carizm, S. 241246; Rotenberg, Borތba, S. 137141. 22 Vgl. Obšþij svod po imperii rezulތtatov, S. 240241. 23 Ländliche Armenhäuser waren eine Seltenheit, und oft blieb den Betroffenen nichts anderes übrig, als abwechselnd die Hilfe fremder Menschen in Anspruch zu nehmen: Man wohnte solcherart bei zur Dorfgemeinschaft gehörenden Familien, die Kost und Logis boten, und wechselte nach einer Woche oder lediglich einem einzigen Tag in den nächsten Haushalt. Vgl. Lindenmeyr, Work, S. 236238; Madison, Social Welfare, S. 23. 24 Vgl. Lindenmeyr, Poverty. 25 Vgl. Obšþij svod po imperii rezulތtatov, S. 240241; Lindenmeyr, Work, S. 237241. 26 Vgl. Lindenmeyr, Work, S. 237241.
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sich auch daran, dass Lenin und die Bol’ševiki gerade in der Reaktion auf diese Gesetzesakte ihrer Sozial- und Rentenpolitik Konturen verliehen. Ihre Vorstellungen wurzelten allerdings auch in den Arbeiten von Karl Marx. Obwohl dieser sich im Detail mit den Ursachen der Verarmung großer Teile der Bevölkerung unter den Bedingungen des Kapitalismus beschäftigte, gab er jedoch nur wenige Hinweise darüber, wie die Unterstützung alter und arbeitsunfähiger Menschen zu organisieren war. Wohlfahrt manifestierte sich nach Marx in der „sozialen Anerkennung menschlichen Bedarfs sowie in der Verteilung des gesellschaftlichen Produktes in Übereinstimmung mit dem Kriterium des Bedarfs“.27 Als zentrale Norm konnte sie nach seiner Auffassung erst in einer klassenlosen Gesellschaft Gültigkeit erlangen. Voraussetzung war hierfür demzufolge, dass eine gemeinschaftliche Kontrolle über die Arbeits- und Lebensbedingungen existierte und ein kooperatives Produktions- und Verteilungssystem an die Stelle von Markt, Privateigentum und Gewinnstreben getreten war.28 Aufschluss darüber, wie Marx sich die Absicherung Bedürftiger unter den für die Zukunft anvisierten sozialistischen Bedingungen ausmalte, gestattet vor allem seine 1875 verfasste „Kritik des Gothaer Programms“. Hier stellt er fest, dass die Absicherung gegen den Verlust der individuellen Arbeitskraft nicht im Verantwortungsbereich des Einzelnen verbleiben, sondern von der Allgemeinheit übernommen werden solle. Finanziert würden die Maßnahmen über das „gesellschaftliche Gesamtprodukt“, das nach der Kompensation der verbrauchten Produktionsmittel und dem Abzug der Ausgaben für eine zukünftige Produktionsausdehnung übrigbleibe: Bevor diese „Konsumtionsmittel“ zur Entlohnung der „individuellen Produzenten der Genossenschaft“ verwendet werden könnten, müssten Mittel einbehalten werden. Sie sollten erstens der Deckung der Verwaltungskosten zugutekommen und zweitens dem, „was zur gemeinschaftlichen Befriedigung von Bedürfnissen bestimmt ist, wie Schulen, Gesundheitsvorrichtungen etc.“.29 Bedeutsam erscheint hier, dass Marx den Umfang, in dem Gelder für die beiden Kostenbereiche veranschlagt werden müssten, davon abhängig macht, ob die Gesellschaft noch in der sozialistischen Phase verharrte oder bereits die kommunistische erreicht hatte.30 Ein solcher Zusatz bleibt dem letzten Punkt verwehrt, für den demzufolge in beiden Entwicklungsstadien gleichermaßen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden sollten. Hierbei handelt sich um die „Fonds für Arbeitsunfähige etc., kurz, für, was heute zur sog. offiziellen Armenpflege gehört“.31 Zwar ist diese Formulierung recht unkonkret gehalten, doch trägt sie unzweifelhaft der gesell27 Mishra, Marx, S. 289. 28 Vgl. ebd. Allerdings schloss Marx nicht die partielle Entwicklung gesellschaftlicher Wohlfahrt innerhalb von marktwirtschaftlichen Systemen aus, wie seine Begrüßung der britischen Fabrikgesetzgebung nahe legt. Vgl. ebd., S. 293. 29 Marx, Kritik, S. 15. 30 Ebd., zu den Verwaltungskosten: „Dieser Teil wird von vornherein aufs bedeutendste beschränkt im Vergleich zur jetzigen Gesellschaft und vermindert sich im selben Maß, als die neue Gesellschaft sich entwickelt.“ Und zu den Aufwendungen für Schulen etc.: „Dieser Teil [...] nimmt im selben Maß zu, wie die neue Gesellschaft sich entwickelt.“ 31 Ebd.
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schaftlichen Verantwortung für altersschwache und invalide Bevölkerungsteile Rechnung.32 Als von beträchtlicher Bedeutung für die zukünftige Begründung sowjetischer Sozialpolitik sollte sich weiterhin Marxens Vorstellung von den Prinzipien erweisen, nach denen die – nach dem Abzug der gerade genannten drei Kostenbereiche – verbleibenden Konsumtionsmittel verteilt werden sollten. Die Arbeitsvergütung könne erst im kommunistischen Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung gemäß der Devise „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ vollzogen werden. Bis dahin, also in der unmittelbar auf den Kapitalismus folgenden sozialistischen Phase, habe wie zuvor die individuelle Arbeitsleistung als Maßstab für die Zuweisung zu dienen. Unter diesen noch „mit den Muttermalen der alten Gesellschaft“ behafteten Bedingungen müsse sich die Erwerbstätigkeit weiterhin in einem Zusammenhang der Wechselseitigkeit ereignen: „Demgemäß erhält der einzelne Produzent – nach den Abzügen – exakt zurück, was er ihr [der Gesellschaft; L. M.] gibt. Was er ihr gegeben hat, ist sein individuelles Arbeitsquantum. [...] Die individuelle Arbeitszeit des einzelnen Produzenten ist der von ihm gelieferte Teil des gesellschaftlichen Arbeitstags, sein Anteil daran. Er erhält von der Gesellschaft einen Schein, der belegt, dass er soundso viel Arbeit geliefert [...], und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln so viel heraus, als gleich viel Arbeit kostet. Dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat, erhält er in der anderen zurück.“33
Es bleibt festzuhalten, dass Marx dieses Verteilungsprinzip allein auf die Sphäre der individuellen Arbeitsentlohnung bezieht. Hiervon unberücksichtigt bleiben die drei genannten Fonds für Verwaltungskosten, für die „gemeinschaftliche Befriedigung von Bedürfnissen“ und für Arbeitsunfähige. Die Unterstützung der Alten sollte folglich unabhängig von deren Vor- bzw. Gegenleistung erfolgen. V. I. Lenin sprach schon einige Jahre vor den Reformen von 1912 von der Notwendigkeit, eine Alterssicherung für russische Arbeiter einzuführen. In einer im Mai 1903 veröffentlichten Broschüre bezog er auch Teile der Bauernschaft mit in die entsprechende Forderung ein: Betagte Land- und Fabrikarbeiter sollten ebenso wie die Beamten eine staatliche Rente erhalten können, da gerade sie mit ihrer Tätigkeit den Wohlstand der begüterten Klassen erst ermöglichten.34 Derselbe Gedanke fand auch in dem im gleichen Jahr auf dem II. Kongress der SDAPR verabschiedeten Parteiprogramm seinen Niederschlag. Gefordert wurde hier u. a. eine
32 Bereits 1848 hatten Marx und Engels in den „Forderungen der Kommunistischen Partei in Deutschland“ postuliert: „Der Staat garantiert allen Arbeitern ihre Existenz und versorgt die zur Arbeit Unfähigen.“ Marx Engels, Forderungen, S. 4. Vgl. auch Gadžieva, Klassiki, S. 23; McAuley, Social Policy (1987), S. 139140. 33 Marx, Kritik, S. 16. 34 Lenin, An die Dorfarmut, S. 403.
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In beiden Texten fand das Alter als eigenständiger Versicherungsgrund Erwähnung, d. h., es wurde nicht erst dann zu einem Faktor, der die Versorgung des Einzelnen rechtfertigte, wenn es auch zu seiner Arbeitsunfähigkeit führte. Einen größeren Stellenwert gewannen Fragen der sozialen Sicherung für die Bol’ševiki allerdings erst ab 1908, als sie damit begannen, die Bescheidenheit der betreffenden Regierungsbestrebungen agitatorisch zu nutzen. So sprachen sie sich nun für eine staatliche Versicherung gegen Alter, Invalidität, Krankheit und Unfälle aus, die von den Versicherten selbst verwaltet würde.36 Lenin verlieh dieser Linie 1912 mit der Resolution zur VI. (Prager) Allrussischen Konferenz der SDAPR Ausdruck, in der er jene vier Prinzipien vorstellte, auf denen die zukünftige staatliche Versicherung gründen sollte: –
– – –
Eine gerechte staatliche Versicherung sollte die Arbeiter gegen alle Fälle absichern, in denen sie ihre Arbeitsfähigkeit verloren, also gegen Unfall, Krankheit, Alter und Invalidität. Zudem sollten Frauen gegen Verdienstausfälle infolge von Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Angehörige gegen den Verlust des Ernährers geschützt werden. Die Versicherung sollte alle Personen abdecken, die ihr Einkommen aus der Lohnarbeit erzielten, sowie ihre Familien. Sämtliche Versicherten sollten Leistungen erhalten, die ihren Arbeitsverdienst zur Gänze ersetzten. Dabei waren alle hierfür notwendigen Kosten vom Staat und den Unternehmern zu tragen. Die Versicherungsorganisationen sollten nicht bei den Betrieben eingerichtet, sondern nach dem Territorialprinzip strukturiert werden.37
Als „Leninsche Prinzipien“ fungierten diese Forderungen – wenn auch in veränderter Gestalt – bis in die 1980er Jahre hinein als „Leitbild einer sozialistischen Sozialpolitik, zu dem die klassischen Schriften des Marxismus kaum etwas beigetragen hatten“.38 Dabei wurde insbesondere die Behauptung, dass der Einzelne keinen eigenen Beitrag zu seiner Absicherung zu leisten habe, zu einem zentralen Element der Selbstdarstellung – und der Abgrenzung gegenüber kapitalistischen Maßnahmen auf dem Gebiet der sozialen Sicherung. Für die Entwicklung der Alterssicherung relevant war speziell die Tatsache, dass das fortgeschrittene Alter hier nur dann noch als Versorgungsvoraussetzung gelten sollte, wenn die Gebrechlichkeit den Einzelnen daran hinderte – oder zu-
35 Vtoroj s-ezd RSDRP, S. 63. 36 Vgl. Ewing, Social Insurance, S. 7071. 37 Vgl. Šestaja (PraĪskaja) Vserossijskaja konferencija, S. 396. Vgl. auch Rotenberg, Borތba, S. 134135. 38 Kaufmann, Varianten, S. 69.
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mindest in seiner Fähigkeit einschränkte –, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.39 Dies bedeutete einen Rückschritt im Verhältnis zum Parteiprogramm von 1903, das die Einführung einer genuinen Altersrente impliziert hatte. Dabei sollte es auch nach der Machtübernahme der Bol’ševiki bleiben, als diese sich der praktischen Umsetzung ihres sozialpolitischen Programms zu widmen begannen. Angesichts der Wichtigkeit, die die Kampagne um eine Verbesserung der Arbeiterversicherung im vorrevolutionären Wirken der Partei besessen hatte, stand man hier zweifelsohne unter Zugzwang.40 Und so war es nur konsequent, dass das neue Regime bereits am 1. (14.) November 1917, nur wenige Tage nach seiner Konstituierung, eine „Regierungsamtliche Mitteilung über die Sozialversicherung“41 veröffentlichte. In dieser Bestätigung des leninschen Versicherungsprogramms verwies man darauf, dass den Forderungen der Arbeiter nach einer Absicherung gegen existentielle Risiken unter dem Zaren nicht stattgegeben worden war. Des Weiteren kündigte man die Verabschiedung einer Reihe von Dekreten an, die dem Missstand abhelfen sollten. Die in der Mitteilung enthaltenen „Versicherungslosungen“ entsprachen im Großen und Ganzen der leninschen Resolution von 1912. Allerdings wurde hier nicht nur die Absicherung der Lohnarbeiterschaft, sondern auch jene der städtischen und dörflichen Armen in Aussicht gestellt. Die in der Folge tatsächlich verabschiedeten Beschlüsse zur Anhebung der Unfallrenten42, zur Einführung einer Arbeitslosenunterstützung43 und zur Einrichtung einer Krankenversicherung44 bezogen die Agrarbevölkerung allerdings nicht mehr mit ein. Für die Kosten der Maßnahmen sollten zur Gänze die Unternehmer aufkommen. Gerade diese Vorstellung erwies sich jedoch als illusorisch, so dass die Dekrete größtenteils lediglich auf dem Papier Wirkung entfalteten.45 Während also für die Sozialversicherung der Arbeiterschaft kaum Gelder zur Verfügung standen, lag der Schwerpunkt der frühen sowjetischen Rentenpolitik auf der Bereitstellung von Mitteln für die Soldaten des Ersten Weltkrieges und des beginnenden Bürgerkrieges sowie ihrer Familienangehörigen. Finanziert wurden diese Kriegsinvalidenund Hinterbliebenenrenten direkt aus dem Staatshaushalt. In organisatorischer
39 Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 31. In dieser Unterordnung der Alters- unter die Invalidenversorgung bestand eine gewisse Parallele zur Bismarckschen Sozialgesetzgebung, die Bejahrtheit ebenfalls lediglich als eine Subkategorie körperlich bedingter Dienstunfähigkeit behandelte. Vgl. Kohli, Ruhestand, S. 404; Amann, Sozialpolitik, S. 55. 40 Vgl. George Manning, Socialism, S. 36. 41 SU RSFSR, 1917, Nr. 2, Pos. 17. 42 Dekret des Rates der Volkskommissare vom 10.(23.)11.1917 „Über die Steigerung der Renten für Arbeiter, die einen Unfall erlitten haben“ (SU RSFSR, 1917, Nr. 2, Pos. 26). 43 „Ordnung über die Arbeitslosenversicherung“, bestätigt durch die Verordnung des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare vom 11.(24.)12.1917 (SU RSFSR, 1917, Nr. 2, Pos. 17). 44 „Ordnung über die Krankenversicherung“, bestätigt durch das Dekret des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees vom 22. Dezember 1917 (04. Januar 1918) (SU RSFSR, 1917, Nr. 13, Pos. 188). 45 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 90.
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Hinsicht fielen die Leistungen deshalb in den Bereich der Sozialversorgung (social’noe obespeþenie).46 Im Zuge der sich ausweitenden Kontrolle der Warenproduktion und -verteilung durch die Bol’ševiki entwickelte sich der Sowjetstaat im Verlaufe des Jahres 1918 de facto zum alleinigen Arbeitgeber, da der privatwirtschaftliche Sektor fast vollständig zurückgedrängt wurde. Vor diesem Hintergrund entschied man sich im Herbst 1918 dazu, sämtliche Unterstützungen der Arbeitsunfähigen nicht mehr in Gestalt einer Sozialversicherung zu organisieren, die ja gerade auf den Abgaben der Privatunternehmer basierte. Stattdessen sollten sie zur Gänze aus dem Staatshaushalt beglichen werden. Die am 31. Oktober 1918 per Dekret des Rates der Volkskommissare verabschiedete „Ordnung über die Sozialversorgung der Werktätigen“47 besaß einen maßgeblichen Charakter für die Rentenpolitik in der Phase des Kriegskommunismus (1918–1921). Sie proklamierte abermals eine Si46 Im ersten Halbjahr 1918 stellte das Volkskommissariat für Sozialversorgung Mittel für etwa 184.000 Rentner aus den Reihen des Militärs und der zivilen Bevölkerung zur Verfügung. Vgl. Sazonov, Osnovnye vechi, S. 39. Die Begriffe „Sozialversicherung“ (social’noe strachovanie) und „Sozialversorgung“ (social’noe obespeþenie) zeichnen sich durch eine beträchtliche Mehrdeutigkeit aus. So gehen sowjetische Autoren in der Regel davon aus, dass der Ausdruck „Sozialversorgung“ zwei unterschiedliche Sachverhalte bezeichnet. Er ist einerseits in einem weiten Sinne zu verstehen, d. h. als Oberbegriff für das System der Maßnahmen und Leistungen, die der sozialen Sicherung der Bevölkerung dienen. In dieser Form bezeichnet social’noe obespeþenie dem Sozialrechtler V. S. Andreev zufolge „die Gesamtheit bestimmter sozial-ökonomischer Maßnahmen, die mit der Versorgung der Bürger im Alter und bei Arbeitsunfähigkeit, mit der Sorge um Mutter und Kinder sowie mit der medizinischen Betreuung und Heilung als den wichtigsten Mitteln zur Gesundung, Vorsorge und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit zusammenhängen“. Andreev, Pravo (1974), S. 10. Ebenso wird der Ausdruck jedoch in einem engen Sinne interpretiert: als „Versorgung der Alten und Arbeitsunfähigen, die durch die staatlichen Organe der Sozialversorgung auf der Grundlage direkter Zuweisungen aus dem Staatshaushalt gewährleistet wird“. Ebd., S. 9. Vgl. auch Rimlinger, The Trade Union, S. 399; Madison, The Soviet Social Security System, S. 180181. Zu beachten ist dabei, dass diese „zweite“ Sozialversorgung als Teilgebiet der „ersten“ wahrzunehmen ist. Gleiches gilt für das System der „Sozialversicherung“, das sich im Unterschied zur „eng interpretierten“ social’noe obespeþenie nicht an die gesamte, sondern nur an die noch werktätige Bevölkerung richtet. Zu den hier bereitgestellten Leistungen gehören ebenfalls Renten und Beihilfen sowie prophylaktische und therapeutische Angebote. Kennzeichen der von den Gewerkschaften verwalteten staatlichen Sozialversicherung ist zudem, dass ihre Leistungen in hohem Maße über die Beiträge der Betriebe und Dienststellen mitfinanziert werden sollen. Vgl. Karavaev, Art. Social’noe obespeþenie; ders., Art. Social’noe strachovanie. Die Schwierigkeit, die die gegenseitige Abgrenzung der Begriffe bereitet, wird am Beispiel der Staatsaltersrente deutlich. Diese wurde einerseits in einem hohen Maße mit der im „weiten Sinne“ verstandenen Sozialversorgung identifiziert, handelte es sich bei ihr doch um eine der am stärksten verbreiteten Sozialleistungen. Andererseits zählte sie zu den über das System der staatlichen Sozialversicherung zur Verfügung gestellten Leistungen. Ausgezahlt wurden diese Ruhestandsgelder – an nicht mehr erwerbstätige Bezieher – allerdings wiederum von den Organen der Ministerien für Sozialversorgung, die auch bei der Leistungsbeantragung eine wichtige Funktion ausübten. Siehe Abs. 2.1.3. Zur Administration der sozialen Sicherung in der UdSSR vgl. z. B. Maksimovskij, Upravlenie; Madison, The Organization; Lukianenko, Financing. 47 SU RSFSR, 1918, Nr. 89, Pos. 906.
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cherung gegen sämtliche Formen der Arbeitsunfähigkeit. Nutznießer sollten nunmehr all jene werktätigen Personen sein, deren Unterhalt nicht auf der Ausbeutung fremder Tätigkeit beruhte. Zu einem Zeitpunkt, als man sich angesichts des Konfliktes mit der Weißen Armee auch des Rückhalts in der ländlichen Bevölkerung zu versichern bemüht war, integrierte man – zumindest nominell – also neben den Handwerkern abermals auch die Bauernschaft in das Sicherungssystem.48 Fortgeschrittenes Alter zählte unter diesen Bedingungen noch immer nicht als eigenständiges Kriterium, das für den Rentenbezug qualifizierte. Er war betagten Menschen weiterhin nur bei Verlust ihrer Arbeitsfähigkeit möglich, und für dessen Nachweis hatte man ein medizinisches Gutachten vorzulegen.49 Die Höhe der monatlichen Leistung sollte vom Grad abhängen, in dem man seine Arbeitskraft eingebüßt hatte. Erschwerend kam dabei hinzu, dass im Dekret vom 31. Oktober 1918 keine Angaben darüber enthalten waren, ab welchem Lebensjahr man in diesem Zusammenhang konkret als „alt“ gelten konnte.50 Neu war nun, dass nicht mehr der Ersatz des zuvor bezogenen Erwerbseinkommens im Zentrum der Maßnahmen stehen sollte, sondern lediglich die Gewährleistung des Existenzminimums: Die Höhe des Arbeitsverdienstes wirkte sich nicht auf die Qualität der Versorgung aus. Die nivellierende Behandlung der Leistungsempfänger wurde zu diesem frühen Zeitpunkt positiv und als der kommunistischen Ordnung entsprechend gewertet. Nikolaj A. Miljutin, Stellvertretender Volkskommissar der RSFSR für Sozialversorgung, stellte hierzu fest: „Alle wollen in der gleichen Weise essen. Folglich gibt es keinen Grund dafür, einen Unterschied zwischen hoch und niedrig entlohnter Arbeit zu machen.“51 Eine ideologische Rechtfertigung erfuhr auch die Regelung, dass Unterstützungen nun in der Gestalt von Naturalien geleistet werden konnten, da man dies als einen Beitrag
48 Hierzu vgl. auch Sazonov, Dekret SNK. Da die „Ausbeuter fremder Arbeit“ explizit unberücksichtigt blieben, besaß diese Regelung freilich eine klassenkämpferische Dimension. Dem entsprach auch die zeitgleich vollzogene „Überprüfung“ der in früheren Zeiten den Staatsbediensteten des Zarenreichs erteilten Renten. Vgl. Roik, Pensionnaja sistema, S. 6263; Lewschin, Die Hauptetappen, S. 290. 49 Verteidigt wurde ein solcher, mit der Vorstellung vom verdienten Ruhestand nicht zu vereinender Ansatz etwa in der Zeitschrift Voprosy strachovanija, auf deren Seiten ein besonders regimekonformer Autor 1924 konstatierte: „[...] die heuchlerische Achtung vor grauen Haaren und Falten ist ein Witz, der der proletarischen Moral fremd ist [...]. Wenn Du ein Greis bist und noch zur Arbeit fähig, dann arbeite. Wenn Du die Arbeitsfähigkeit aber verloren hast, dann wirst Du eine [Invaliden-]Rente erhalten.“ Voprosy strachovanija (1924), 12, S. 4, zit. bei: Roik, Pensionnaja sistema, S. 67. 50 Hierzu stellt Gincburg, Trudovoj staž, S. 3839, fest: „Der Begriff ,alter Mensch[ ދstarik] wurde nicht präzisiert. Das wäre unabdinglich gewesen, hätte man beabsichtigt, alte Leute – unabhängig vom Gesundheitszustand –, d i e e i n b e s t i m m t e s L e b e n s a l t e r e r r e i c h t h a t t e n [Hervorhebung i. Orig.], als Werktätige materiell sicherzustellen. Verzichtbar war [eine solche Festlegung] in einem System, in dem betagte Personen als Invaliden versorgt wurden.“ 51 Miljutin, Proekt položenija, S. 5, zit. bei: Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 179. Zur Sozialpolitik während des Kriegskommunismus vgl. auch Zimmermann, Wohlfahrtspolitik, S. 216 217.
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zur Überwindung der Geldwirtschaft etikettierte.52 Beide Maßnahmen waren freilich weit davon entfernt, eine wirkliche Verteilung „nach den Bedürfnissen“ zu gewährleisten, sondern in der Hauptsache der staatlichen Mangelwirtschaft geschuldet. Unter den krisenhaften Bedingungen dieser Jahre – Inflation, drastischer Niedergang der Industrieproduktion, Unterversorgung der Städte mit Nahrungsmitteln, Vorrang der Versorgung von Armeeangehörigen und Kriegsversehrten53 – kam die Auszahlung monetärer Leistungen an die Arbeiterschaft praktisch zum Erliegen. Aber auch für eine, dem grassierenden Hunger der Bevölkerung effektiv begegnende Bereitstellung von Lebensmitteln reichten die Kapazitäten nicht aus. Gleichermaßen konnten andere naturalwirtschaftliche Lösungen (Arbeitsbeschaffung, Unterbringung in Invalidenheimen) nur wenig zur Minderung der Not alter und arbeitsunfähiger Bürger beitragen.54 Nach der Beendigung des Bürgerkriegs wurde privatwirtschaftliches Engagement wieder im begrenzten Umfang gestattet und staatlichen Betrieben eine größere finanzielle und wirtschaftliche Unabhängigkeit eingeräumt. In dieser von 1921 bis 1928 dauernden Periode der Neuen Ökonomischen Politik kam es auch im Bereich der sozialen Sicherung zu einer Rück- bzw. Neuorientierung: Abermals entschied man sich für die „Sozialversicherung“ als jenes Prinzip, auf dem die Verteilung von Leistungen basieren sollte. Folgerichtig war ihre Finanzierung nicht mehr allein über Zahlungen aus dem Staatshaushalt zu gewährleisten. Hierzu hieß es in den programmatischen, am 4. September 1922 vom ZK der KPR(B) bestätigten „Thesen über die Sozialversicherung“: „Das Vorhandensein der privaten Industrie und der Übergang der Staatsbetriebe zur wirtschaftlichen Rechnungsführung haben eine Reihe von neuen Aufgaben im Bereich der Sozialversorgung erzeugt. Während in der vergangenen Periode die soziale Sicherung ausschließlich mit Hilfe staatlicher Mittel verwirklicht wurde, so geht aus den gegenwärtigen Verhältnissen die Notwendigkeit hervor, die staatliche Versorgung der Lohnarbeiter durch die Sozialversicherung aus den Mitteln der Betriebe, in denen sie beschäftigt sind, zu ersetzen.“55
Im Zuge dieser Reorganisation engte man den Kreis der Personen, die in den Genuss von Leistungen kommen sollten, abermals ein. Bezugsberechtigt waren nun nur noch die in staatlichen und privaten Unternehmen Beschäftigten. Handwerker, Angehörige der freien Berufe, Privatunternehmer und Bauern blieben indes außen
52 Vgl. Astrachan, Razvitie, S. 2527; Bilinsky, Das Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht, S. 86. 53 Lewschin, Die Hauptetappen, S. 291, berichtet, dass man in der UdSSR 1920 etwa „eine Million Rentenempfänger [zählte]; davon waren zwei Drittel Angehörige der Streitkräfte und deren Hinterbliebene; nur ein Drittel waren Arbeiter und Angestellte“. Finanzmittel der Krankenkassen wurden darüber hinaus im großen Stil zur Herstellung von Arm- und Beinprothesen für Kriegsinvaliden verwendet. Vgl. Caroli, Bolshevism, S. 33. 54 Vgl. Madison, Social Welfare, S. 5052; Minkoff, The Soviet Social Insurance System, S. 7 8; Vjazemskij, Oktjabr’skaja revoljucija, S. 16. 55 Voprosy strachovanija (1922), 1, S. 6, zit. bei: Andreev, Pravo (1974), S. 86. Privatwirtschaftliche Betriebe hatten höhere Abgaben als staatliche Unternehmen zu leisten. Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 91.
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vor. Ihnen wurde anheimgestellt, nach mutualistischen Prinzipien operierende Kassen zur gegenseitigen Unterstützung zu gründen. Folgt man den im Arbeitsgesetzbuch der RSFSR vom 9. November 192256 fixierten Grundsätzen, so umfasste das Spektrum der Sozialleistungen neben einer kostenlosen medizinischen Versorgung auch Zahlungen bei Arbeitslosigkeit und kurzfristiger Erwerbsunfähigkeit (Krankheit, Schwangerschaft, Geburt etc.). Darüber hinaus konnten Hinterbliebenen- und Invalidenrenten beantragt werden. Den letztgenannten Leistungsformen sollte in den folgenden Jahren jedoch nur ein untergeordneter Stellenwert beigemessen werden. Verantwortlich war hierfür die Zurücksetzung der sozialpolitischen Bemühungen gegenüber den Interessen der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Im Vordergrund stand die Regeneration der Arbeitskraft: „Da die sowjetischen Wirtschaftsprobleme aus der Sicht der Planungsbehörden vor allem als Produktionsprobleme erscheinen, wurde die SV [Sozialversicherung; L. M.] nach 1921 in den Dienst der Produktion gestellt: die SV sollte in erster Linie eine schnelle Rückkehr der Arbeitsunfähigen an die Arbeit ermöglichen. Als Folge dieser ,Produktionsorientierung ދdominierte [...] die staatliche Unterstützung im Falle der vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit (Krankheit, Unfall, Pflege erkrankter Familienangehöriger, Geburt, Erholung, Rehabilitation arbeitsfähiger Behinderter), während der zweite [...] Hauptbereich der SV, die Rentenversicherung der dauerhaft Arbeitsunfähigen [...], in den Hintergrund gedrängt wurde.“57
Auch der Hauptklientel der Sozialversicherung, den Lohnarbeitern, wurde der Zugang zu den Sozialleistungen erschwert, indem man ihn an die vorherige Erfüllung zusätzlicher, über die Art der ausgeübten Tätigkeit hinausgehender Bedingungen band. So konnten gelernte Arbeiter etwa nur dann eine Arbeitslosenhilfe beziehen, wenn sie über keine alternativen Unterhaltsmöglichkeiten verfügten. Ungelernte wiederum mussten ein Dienstalter (trudovoj staž) von drei Jahren vorweisen.58 Diese Koppelung der Leistungsqualifikation an die Zahl der Jahre, die man in einem bestimmten Beruf verbracht hatte, vollzog der Gesetzgeber ebenfalls im Hinblick auf eine Unterkategorie der Invalidenversorgung, die sich als eine Vorform der künftigen Altersrente begreifen lässt. Die Bezugsvoraussetzungen der Invalidenrenten wurden nun in Abhängigkeit von der ihnen zugrundeliegenden Form der Arbeitsunfähigkeit differenziert: Personen, die aufgrund von Altersgebrechlichkeit nicht mehr erwerbstätig sein konnten, hatten zusätzlich zum medizinischen Nachweis derselben zu belegen, dass sie mindestens acht Jahre lang – und dies ununterbrochen – als Arbeiter oder Angestellte tätig gewesen waren. Andere
56 SU RSFSR, 1922, Nr. 70, Pos. 903. 57 Stiller, Sozialpolitik, S. 92. Minkoff, The Soviet Social Insurance System, S. 25 u. 27, schätzt, dass die durchschnittliche Krankenbeihilfe in den 1920er Jahren sich auf mindestens 95 % des mittleren Arbeitsentgelts belief, während die Durchschnittrente hier lediglich einen Anteil von 36 % erreichte. Vgl. auch Rimlinger, Welfare Policy, S. 265; Hoffmann, Entstalinisierung, S. 449. 58 Vgl. George Manning, Socialism, S. 38; Lebina u. a., Zabota, S. 36.
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Invalidenrentner blieben von dieser Zusatzanforderung ausgenommen.59 Zweifellos musste es den medizinischen Gutachtern im Einzelfall schwerfallen, zu entscheiden, wann eine Arbeitsunfähigkeit dem individuellen Alterungsprozess, einer Verschlechterung des allgemeinen Gesundheitszustands oder den jeweiligen Arbeitsbedingungen zuzuschreiben war.60 Und so scheint V. A. Aþarkans Feststellung nicht abwegig, dass in der Praxis all jene Bürger, die körperlich nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr in der Lage waren, sich zu betätigen, pauschal als Invaliden „von Alters wegen“ galten, wenn sie das 50. Lebensjahr vollendet hatten.61 Die erstmalige Einreihung des staž-Kriteriums unter die Bezugsvoraussetzungen für eine staatliche Rente erklärte sich zum einen aus der Notwendigkeit, den Empfängerkreis aus Kostengründen nicht über die Maßen anwachsen zu lassen. Darüber hinaus war hier allerdings auch eine „klassenkämpferische“ Dimension evident: Speziell die Anforderung, dass die acht Arbeitsjahre „ununterbrochen“ in einem einzigen Betrieb absolviert sein mussten, schloss in jenen Jahren die Möglichkeit nahezu aus, dass es sich bei dem oder der Rentenberechtigten nicht um einen Kaderarbeiter handelte.62 Von den Leistungen ausgeklammert sollten Personen bleiben, die vor relativ kurzer Zeit, also erst nach den gesellschaftlichen Umbrüchen zu den Arbeitern und Angestellten gestoßen waren.63 Eine wirkliche Lösung der Frage, wie mit dem Problem der Unterversorgung großer Teile der älteren Bevölkerung umgegangen werden sollte, stellte diese Regelung unter dem Dach der Invalidenversorgung nicht dar. Auf Seiten der politischen Führung war man sich allerdings bewusst, dass die Einführung einer Altersrente in Zukunft nicht zu umgehen sein würde. Die mangelhafte Integration älterer Menschen in das System der sozialen Sicherung musste als potentielle Bedrohung für die eigene Legitimationsgrundlage verstanden werden. Hierdurch erklärt sich,
59 Die Acht-Jahre-Anforderung ging auf das Dekret des Rates der Volkskommissare der RSFSR vom 8. Dezember 1921 „Über die Sozialversorgung der Invaliden“ (SU RSFSR, 1921, Nr. 79, Pos. 672) zurück und bezog sich ursprünglich ebenfalls auf die Invaliditätsrenten „infolge allgemeiner Erkrankungen“. Mit Art. 187 des Arbeitsgesetzbuchs von 1922 wurden ihre Bezieher jedoch wieder von dieser Zusatzvoraussetzung befreit. 60 Vgl. Kacman, Nužen li trudovoj staž, S. 11; Lovell, Soviet Socialism, S. 572. 61 Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 3233, dem zufolge das Fehlen einer Altersrente zu diesem Zeitpunkt als nicht allzu schmerzhaft empfunden wurde, da vielen betagten Bürgern der Bezug einer Invalidenrente möglich war. Unter Bezugnahme auf Vasenin, Zastrachovannye, S. 24, führt Aþarkan als Beispiel hierfür an, dass am 1. Januar 1924 63,8 % aller Tomsker Invalidenrentner mindestens 60 Jahre alt waren. 62 Vgl. Gincburg, Trudovoj staž, S. 4041 u. 156. Zum „ununterbrochenen Dienstalter“ siehe auch Abs. 2.1.2.3. 63 Zinaida R. Tettenborn konstatiert dementsprechend, dass die Forderung nach einem achtjährigen Dienstalter im Bereich der Lohnarbeit „durch das Bestreben hervorgerufen wurde, all jene aus dem Kreis der Versicherten auszuschließen, deren Invalidität nicht im Zusammenhang mit der berufsmäßigen Lohnarbeit steht und die vor dem Beginn des Ersten Weltkrieges keiner Lohnarbeit nachgingen“. Tettenborn, Sovetskoe socialތnoe strachovanie, S. 108, zit. bei: Gincburg, Trudovoj staž, S. 40. Vgl. auch Vigdorþik, Socialތnoe strachovanie, S. 185; Karcchija, Razvitie zakonodatel’stva, S. 54.
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dass die „Thesen über die Sozialversicherung“ auch ein Moment der Rechtfertigung beinhalteten. „Die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes diktiert der Arbeiter- und Bauern-Regierung zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewisse Einschränkungen in der Durchführung der Sozialversicherung. [...] Die Sowjetregierung ist gezwungen, […] zeitweilig auf eine Altersversicherung und eine Versorgung bei einer Invalidität mit geringfügigem Verlust der Arbeitsfähigkeit zu verzichten. [...] Erst mit der Erneuerung der Industrie und der Stärkung der wirtschaftlichen Kraft der proletarischen Republik wird es gelingen, diese Mängel zu beheben.“64
Eine derartige, die Bevölkerung auf ein „Später“ vertröstende Argumentationsweise sollte ein Charakteristikum der Auseinandersetzung des Regimes mit Defiziten im Bereich der Rentenversorgung werden. Dabei enthielt diese Strategie immer auch ein Moment des Anreizes zur Steigerung des individuellen Engagements der Bürger, die ja durch ihren Einsatz zur notwendigen Stärkung der Volkswirtschaft beitragen konnten. An der aufgrund der Uneindeutigkeit ihrer Bezugsvoraussetzungen umstrittenen „Altersinvalidenrente“ entzündete sich unter Fachleuten eine Diskussion, in deren Verlauf die einen Stimmen das Fehlen einer Altersversorgung akzeptierten und die Abschaffung der Acht-Jahre-Anforderung vorschlugen, um die Leistung so zumindest an die herkömmliche Invalidenrente anzugleichen.65 Andere Verfasser sprachen sich im Gegensatz hierzu explizit für die Einführung einer wirklichen Altersrente aus, die nicht mehr vom Gesundheitszustand, sondern nur noch vom Dienst- und Lebensalter des Einzelnen abhängen würde. So konstatiert zum Beispiel Arkadij I. Višneveckij: „Indem der Gesetzgeber im Arbeitsgesetzbuch die Begriffe ,Alter ދund ,Invalidität von Alters wegen ދverwendet hat, hat er dadurch mit der Versicherung des Alters als solchem begonnen. Um dies zu Ende zu führen und gleichzeitig die Frage der Abgrenzung der krankheitsbedingt Invaliden gegenüber den altersbedingt Invaliden zu entscheiden, sollte der Gesetzgeber jene Altersgrenze festlegen, deren Erreichen Betagtheit bedeutet und die das Recht auf eine Altersversorgung bedingt.“66
Es sollte noch bis 1925 dauern, bis die Altersinvalidenrente eine Weiterentwicklung erfuhr, die die bestehenden Unklarheiten behob: Nun legte man fest, dass ein Antragsteller mindestens 50 Jahre alt zu sein hatte, wenn er einen Anspruch auf die Leistung erlangen wollte.67 Da dieses Qualifikationsmerkmal dem medizinischen Nachweis der Arbeitsunfähigkeit sowie dem achtjährigen, ununterbrochenen staž deutlich nachgeordnet blieb, würde es irreführen, hier den Begriff des
64 Voprosy strachovanija (1922), 1, S. 6, zit. bei: Azarova, Problemy, S. 100. 65 Detailliert beschäftigt sich Gincburg, Trudovoj staž, S. 4244, mit dieser Diskussion. Vgl. hierzu auch Lovell, Soviet Socialism, S. 572574. 66 Višneveckij, K voprosu, S. 4, zit. bei: Gincburg, Trudovoj staž, S. 42. Vgl. Kacman, Nužen li trudovoj staž, S. 12. 67 Vgl. Ziff. 1 der „Ordnung über die Versorgung der Arbeitsinvaliden und der Familienmitglieder gestorbener oder vermisster Versicherter und Arbeitsinvaliden im Rahmen der Sozialversicherung“, bestätigt durch die Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 28. August 1925 (SZ SSSR, 1925, Nr. 57, Pos. 429).
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„Rentenalters“ zu verwenden.68 Gleichwohl ist die Neuerung als eine Vorform dieses für die Altersrente so zentralen Bezugskriteriums zu verstehen, informierte sie doch erstmals darüber, wann ein Bürger aufgrund seines Alters als versorgungsberechtigt gelten sollte. Wirkliche Altersrenten, also Leistungen, die den betroffenen Personen erst nach dem Überschreiten einer spezifischen Altersgrenze gewährt wurden, wurden erst gegen Ende der Phase der Neuen Ökonomischen Politik ins Leben gerufen. In einer Reihe von separaten Normativakten führte man sie nun nach und nach für die Beschäftigten der meisten sowjetischen Industriebranchen ein. Dabei wurden zunächst Berufsgruppen abgesichert, die der Arbeiterschaft zuzurechnen waren; in der Folge berücksichtigte man dann zunehmend auch die Angestellten. Den Anfang machte der beim Volkskommissariat der UdSSR für Arbeit eingerichtete Unionsrat der Sozialversicherung (URSV), der am 5. Januar 1928 die Verordnung „Über die Gewährung einer Rentenversorgung für die bejahrten Arbeiter von Betrieben der Textilindustrie“ erließ.69 Unabhängig von ihrem gesundheitlichen Befinden konnten die älteren Arbeitnehmer nun eine monatliche Zahlung erwarten, wenn sie Voraussetzungen hinsichtlich des Lebensalters und der absolvierten Arbeitsjahre erfüllten, die die Rentengesetzgebung noch bis in die 1980er Jahre prägen sollten. Das Rentenalter wurde dabei in der Weise differenziert, dass Frauen im Alter von 55, Männer im Alter von 60 Jahren in den Ruhestand treten konnten.70 Der trudovoj staž war – vorerst unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit des Antragstellers und in Anlehnung an die Modalitäten der einige Jahre zuvor eingeführten Dienstaltersrente – in einer Länge von 25 Jahren nachzuweisen. Sowjetische Autoren betonen, dass dem staž 1928 eine völlig neue Rolle zugekommen sei. Während er im Kontext der Altersinvalidenrente noch der „Verrentung nichtproletarischer Elemente“71 entgegengewirkt habe, sei er nun zu einem „Mittel zur Messung der Menge an Arbeit, die der Bürger im Laufe seines ganzen Lebens für die Gesellschaft geleistet hatte“, geworden.72 Sicherlich ist die Behauptung eines solchen prinzipiellen Unterschieds zu relativieren.73 Dessen 68 Hierzu stellt Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 35, der den Terminus für den Bereich der Altersrente reserviert, fest: „[...] im Zusammenhang damit, dass Rentenalter und die medizinische Bestimmung der individuellen Arbeitsunfähigkeit einander ausschließende Begriffe sind, stellt das fünfzigjährige Lebensalter kein Rentenalter dar, sondern [lediglich] die Bedingung für die Erteilung der Invalidenrente [...] bei Vorhandensein des [entsprechenden] Dienstalters.“ 69 INKT SSSR, 1928, Nr. 3, S. 40. 70 Begründet wurde diese Festlegung mit dem Verweis auf Sozialversicherungsstatistiken, die nahe legten, dass ältere Männer und Frauen eine beträchtliche Minderung ihrer Arbeitskraft erlitten. Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 41. 71 Sazonov Fajans, Zakonodatelތstvo, S. 163. 72 Gincburg, Trudovoj staž, S. 48. Vgl. auch Rimlinger, Welfare Policy, S. 267. 73 In gewisser Weise handelte erzielte der „neue“ staž ähnliche Effekte wie das aus früheren Bestimmungen bekannte Dienstalterkriterium: Zum einen ist anzunehmen, dass auch 1928 die Anzahl der Rentenberechtigten und der durch sie entstehenden Kosten vorerst gering gehalten werden sollte. Vgl. hierzu Bychovskij, Novyj zakon, S. 7. Zum anderen können als Reformadressaten vor allem jene Werktätigen angesehen werden, die schon sehr lange der Arbeiter-
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ungeachtet gipfelte in der Verordnung vom 5. Januar 1928 jedoch eine Entwicklung, in der sich die Rentenversorgung mehr und mehr sowohl vom nivellierenden Ansatz Lenins als auch von der marxschen Vorstellung entfernte, dass das sozialistische Leistungsprinzip lediglich für die Arbeitsentlohnung Relevanz besitzen sollte. Es kann also als ein originäres Merkmal der stalinschen Rentenpolitik gelten, dass der Quantität und Qualität der individuellen Arbeitsleistung eine zentrale Bedeutung für die Leistungsbemessung zukam bzw. nach offizieller Lesart zukommen sollte. Bewirkt wurde dies nicht nur durch die Aufwertung des Faktors Dienstalter, sondern auch durch den Bemessungsmodus der Altersrente, die sich auf 44 % des vorherigen Erwerbsverdienstes belaufen sollte.74 Aþarkan beschreibt diesen Prozess wie folgt: „[...] in dem Maße, in dem das Dienstalter, der individuelle Verdienst und die Arbeitsbedingungen die Bedeutung von Rechtstatsachen erlangten, die den Anspruch auf die Rente definierten und ihre Höhe beeinflussten, und in dem die von den Organen der Sozialversorgung festgestellte Bedürftigkeit nicht mehr bei der Bestimmung des Rentenanspruchs berücksichtigt wurde, gewann die Rente [...] zunehmend den Charakter einer Versorgung für die in der Vergangenheit geleistete Arbeit. Ab den 1930er und bis zur Mitte der 1950er Jahre wurde in der juristischen und ökonomischen Literatur beständig darauf hingewiesen, dass das Prinzip des ,Jedem nach seiner Leistung ދauch in der Sozialversicherung wirksam sei.“75
Ausschlaggebend für die Einrichtung dieser ersten echten Altersrente waren neben dem ideologischen Imperativ, endlich mit der Umsetzung der von Lenin in Aussicht gestellten Absicherung der Arbeiterschaft gegen sämtliche Formen des Verlustes der Arbeitsfähigkeit zu beginnen,76 auch fürsorgeferne Intentionen. Von hoher Relevanz war dabei speziell die Unterstützung der während des ersten Fünfschaft angehörten. Ein Nebeneffekt einer solchen „klassenbezogenen“ Rentenpolitik bestand somit weiterhin in der Ausgrenzung von als systemfern wahrgenommenen Personenkreisen. Diese erreichte in jenen Jahren einen Höhepunkt. Vgl. die Verordnung des URSV vom 21. Februar 1929 „Über die Aberkennung des Rechts ehemaliger Gutsbesitzer, Fabrikanten, Gendarmen, Polizisten, Anführer konterrevolutionärer Banden etc. auf Rente und Arbeitslosenhilfe“ (INKT SSSR, 1929, Nr. 1220 u. 30); Chandler, Shocking Mother Russia, S. 28 u. 35 36. 74 Mit diesem Prozentsatz orientierte man sich an den Bestimmungen für Invalidenrentner „infolge einer allgemeinen Erkrankung“ (II. Kategorie). Das Leistungsniveau nahm sich derart bescheiden aus, dass die Textilarbeiter nur sehr zögerlich in den Ruhestand traten. Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 39. 75 Ders., Socialistiþeskij princip, S. 122. Vgl. auch McAuley, Social Policy (1987), S. 154; Koblitz Ruban, Art. Soziale Sicherheit, Sp. 964. 76 Auf einen solchen Zugzwang deutet beispielsweise eine Rede M. I. Kalinins hin, die dieser im März 1928 vor dem Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee hielt. In ihr sprach das formelle Staatsoberhaupt davon, dass die staatliche Verantwortungsübernahme für das Wohl der bis dato Unversorgten für die Rechtfertigung des Regimes überaus bedeutsam sei: „[...] die Frage der Sozialversorgung, der wirklichen Versorgung der Werktätigen ist eine grundlegende Frage [...] für die sozialistische Ordnung. [...] Wenn der Sozialismus nicht den Unbemittelten versorgt, den Arbeitsunfähigen versorgt, dann verliert der Sozialismus all seine spezifischen Besonderheiten, die ihn so sehr von der bourgeoisen Weltsicht unterscheiden, dann verliert er seinen ganzen Reiz für die werktätigen Massen.“ ýto skazala II sessija, S. 119, zit. bei: Aleksanov, Razvitie, S. 2122.
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jahrplanes mit Nachdruck vorangetriebenen Industrialisierung des Landes. Die neue Rentenform sollte als ein Hebel zur Umsetzung der wirtschaftlichen Zielsetzungen des Regimes dienen: Ältere Menschen wurden schlechterdings als Hindernis für die Optimierung der Arbeitsproduktivität wahrgenommen. Somit diente die Einführung einer Altersrente nicht zuletzt dazu, sie aus den Arbeitsprozessen zu entfernen und dergestalt einerseits eine Rationalisierung der Produktion, andererseits eine deutliche Verjüngung der Arbeitnehmerschaft zu gewährleisten. In aller Deutlichkeit vermittelt sich diese Haltung am Beispiel der Resolution zum VIII. Kongress der Gewerkschaften der UdSSR (Dezember 1929): „Es ist notwendig, im Blick zu behalten, dass unter der unvollständigen Verbreitung der Altersversicherung nicht nur die Interessen einzelner Kategorien von Proletariern leiden, sondern auch die Bedürfnisse der entsprechenden Teile der Volkswirtschaft, deren Rationalisierung durch die Anwesenheit von bejahrten Arbeitern mit herabgesetzter Arbeitsproduktivität behindert wird. Deshalb ist es als unabdingbar anzuerkennen, dass im Laufe der nächsten Jahre die Ausweitung der Altersversicherung auf alle Versichertenkategorien erreicht wird. Dabei ist diese Maßnahme zuallererst in Bezug auf die Industriearbeiter zu verwirklichen.“77
Speziell die Textilindustrie zeichnete sich durch ihren im Vergleich mit anderen Schlüsselbranchen verhältnismäßig hohen Anteil an älteren Jahrgängen unter den Beschäftigten aus.78 Gleichzeitig erhoffte man sich gerade hier, durch die Einführung neuer Techniken eine Rationalisierung der Arbeitsprozesse zu erreichen. Die in diesem Zusammenhang erforderliche Flexibilität traute man den betagteren Mitgliedern der Belegschaft jedoch nicht mehr zu.79 Die Aussicht auf eine Versorgung im Alter fungierte dabei auch als ein „Lockmittel für die Jugend“,80 als ein materieller Anreiz, der die schwere Tätigkeit in der Textilindustrie attraktiver gestalten sollte. Dass die Reform der Verjüngung der Arbeitskräfte dienen sollte, machte auch Naum I. Bychovskij in der Zeitschrift Vo77 VIII s-ezd professionalތnych sojuzov, S. 563, zit. bei: Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 39. Vgl. auch die Verordnung des ZK der KPR(B) vom 28. September 1929 „Über die Sozialversicherung“, der zufolge die Altersrenten zuallererst in jenen Industriezweigen eingeführt werden sollten, „in denen die Ersetzung der alten Kader durch junge im Zusammenhang mit der Rationalisierung und der Veränderung der Technik besonders notwendig“ (KPSS o profsojuzach, S. 378379, zit. bei: Karavaev, Razvitie, S. 57.) erschien. Azarova, Problemy, S. 102, führt in diesem Zusammenhang auch das um fünf Jahre niedrigere Rentenalter für Frauen auf die Bemühungen um eine Steigerung der Arbeitsproduktivität zurück: „Insoweit die Erneuerung, die Verjüngung der Kader eines der wichtigsten Ziele der Altersrentenversorgung darstellte, erklärt sich auch das Streben nach einer schnelleren Ablösung ihres weiblichen Teils, der in jenen Jahren über eine weitaus niedrigere Qualifikation verfügte als der männliche.“ 78 Vgl. Sazonov Fajans, Zakonodatelތstvo, S. 167. 79 Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 38; Dogadov, Socialތnoe strachovanie, S. 64. Auf diesen Sachverhalt machte u. a. auch ein 1926 im Zentralorgan der KPR(B) veröffentlichter Beitrag aufmerksam: „Die Untersuchung einer Reihe von Textilbetrieben offenbarte beträchtliche Organisations- und Produktionsmängel, die sowohl durch eine Verbesserung einzelner Produktionsprozesse als auch durch die Umschulung und Ausbildung neuer, qualifizierter Arbeitskräfte behoben werden können.“ Pravda vom 26. Mai 1926, S. 6, zit. bei: Skaridova, Formirovanie, S. 185. 80 Stiller, Sozialpolitik, S. 98.
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prosy truda deutlich. Dabei verwies er auf einen weiteren Effekt, den man sich von dem neuen Rechtsinstitut versprach: Mit seiner Hilfe sollte zudem die Erwerbslosigkeit der jüngeren Generation bekämpft werden. „Der spezifische Zweck des Gesetzes ist die Eliminierung der Alten aus der Produktion [...]. Das neue Gesetz wird von großer Bedeutung sein für unsere arbeitslose Jugend, die die Möglichkeit erlangen wird, die freiwerdenden Arbeitsstellen der Alten zu übernehmen.“81
Um einen Abgang der Arbeitnehmer tatsächlich zu gewährleisten, knüpfte der Gesetzgeber die Rentenauszahlung dementsprechend anfangs an die Bedingung, dass die Erwerbstätigkeit auch tatsächlich beendet worden war.82 Die Umstände und Motivation der Altersrenteneinführung hatten also wenig mit einer Politik zu tun, die allein an einer Befriedigung der Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung interessiert war. Das hohe Gewicht volkswirtschaftlicher Interessen war allerdings, und dies ist für die Einordnung des sowjetischen Beispiels in einen internationalen Kontext von Bedeutung, kein Alleinstellungsmerkmal sowjetischer oder sozialistischer Rentenpolitik. Auch die Einführung des Regelrentenalters in westlichen Gesellschaften ließ sich nicht selten auf Erwägungen zurückzuführen, die in erster Linie auf eine möglichst effiziente Gestaltung der Arbeitsprozesse zielten. So sieht Christoph Conrad in den „Interessen öffentlicher und privater Arbeitgeber“, die die Einführung des modernen Ruhestands „als Ergänzung ihrer Personalpolitik“ begriffen, einen wichtigen Entwicklungsstrang in der Ausbildung der Altersrentensysteme.83 Und Josef Ehmer stellt bezüglich der den Reformen zugrundeliegenden Motivlagen fest: „Wichtig erscheint dabei der massive Schub an Produktivität und Effektivität durch den Einsatz neuer Technologien und einer neuen (,wissenschaftlichen )ދArbeitsorganisation. Zu seinen Kennzeichen zählen eine rapide Intensivierung der Arbeit und eine Verdichtung des Arbeitsta81 Bychovskij, Socialތnoe strachovanie, o. S., zit. bei: Schwarz, Arbeiterklasse, S. 345. Vgl. auch Novickij Milތ, Zanjatostތ, S. 27. 82 In den Betrieben richtete man zu diesem Zweck spezielle Kommissionen ein, die über die Entlassung und Verrentung der älteren Arbeitskräfte wachen sollten. Darüber hinaus scheint die Praxis, ältere Arbeiter auch gegen ihren Willen aus den Beschäftigungsverhältnissen zu entfernen, eine derart verbreitete Erscheinung gewesen zu sein, dass sich der VCSPS genötigt sah, hier entgegenzuwirken. Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 3839, Anm. 39. 83 Conrad, Die Entstehung, S. 428. Gerade angelsächsische Historiker haben die Einführung des Regelrentenalters als eine Form der unfreiwilligen und automatischen Verrentung gedeutet, die ein wesentliches Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert darstellte. Die in jenen Jahrzehnten in den USA und England von der Arbeitgeberseite forcierte Ausbreitung der Zwangspensionierung sei vorrangig auf das Bestreben nach einer sozialverträglichen Entlassung älterer Arbeitnehmer zurückzuführen gewesen. Thane, The Muddled History, S. 236, stellt im Hinblick auf die Entwicklungen in England ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fest: „Die Ausbreitung der Renten auf allen Ebenen scheint am besten durch den in einer Reihe von Berufen steigenden Bedarf an größerer Effizienz und höherer Leistungsfähigkeit zu erklären zu sein. [...] Angesichts ausländischer Wettbewerber wurde der Arbeitsprozess intensiviert, um die Produktivität [...] zu erhöhen. [...] Arbeitgeber führten betriebliche Renten ein und forderten gleichzeitig ein staatliches Programm, da dies ihnen ermöglichen würde, ältere Arbeiter mit gutem Gewissen zu entlassen.“ Vgl. auch Graebner, A History, S. 1853; Haber, Mandatory Retirement.
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Auch bei der Verwendung der Altersrente als Instrument zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit insbesondere der jüngeren Bevölkerungsteile handelte es sich um einen Ansatz, der andernorts in ähnlicher Weise verfolgt oder zumindest diskutiert wurde. So erarbeitete etwa die britische Labour-Regierung 1924 einen „Old Age Pensions Act“, der Renten auch solchen Bürgern zugestand, die über ein gewisses Einkommen verfügten. Voraussetzung war hier allerdings, dass diese Bezüge nicht auf eine unselbständige Tätigkeit zurückzuführen waren. Pat Thane konstatiert diesbezüglich, dass der „innovatorische Ausschluss des Arbeitseinkommens [...] die älteren Menschen dazu bewegen [sollte], aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, um Arbeitsplätze für die Jüngeren bereitzustellen“.85
Wie bereits in der oben angeführten VCSPS-Resolution gefordert, konzentrierte sich die Rentenpolitik nach 1928 auf die Ausdehnung der Altersrentenversorgung auf die Beschäftigten weiterer Industriezweige. Im Mai 1929 wurde eine entsprechende Regelung erlassen, die neben den Arbeitern der Textilindustrie nun auch jene der Bergbau- und Metallindustrie sowie des Eisenbahn- und Schiffstransports betraf. Bedeutsam war dieser Akt auch deshalb, weil er die Altersrentenhöhe vom Niveau der Invalidenleistungen abkoppelte: Sie sollte sich nun auf 50 % des früheren Erwerbsentgelts belaufen, konnte aber eine Höchstgrenze von 11,25 R86 nicht über-, ein Minimum von 2 R nicht unterschreiten. Zudem differenzierte man erstmals auch die staž-Anforderungen in Abhängigkeit von der Geschlechtszugehörigkeit: Während Männer weiterhin 25 Jahre arbeiten mussten, wurde von Frauen nur noch ein Dienstalter von 20 Jahren verlangt.87 Im Dezember desselben Jah84 Ehmer, Sozialgeschichte, S. 84. 85 Thane, Foundations, S. 185. Vergleichbare Intentionen lassen sich auch für die in den USA während der Weltwirtschaftskrise vorgenommene Einführung des Social Security Act (1935) sowie die Verabschiedung der österreichischen Arbeiterrentenversicherung (1927) nachweisen. Vgl. Ehmer, Sozialgeschichte, S. 113116; Graebner, A History, S. 266; Talos, Soziale Sicherung. 86 Um die diachrone Vergleichbarkeit zu gewährleisten, entsprechen die hier und im Folgenden angeführten Rubelbeträge grundsätzlich dem Stand nach der Währungsumstellung vom 1. Januar 1961, die zur Verzehnfachung des Rubelwerts führte. Hatte z. B. die Mindestaltersrente zuvor bei 300 R gelegen, belief sie sich nun auf 30 R. Überall dort, wo in den Zitaten Rubelbeträge genannt werden, die sich auf die Situation vor 1961 beziehen, aber keine Angleichung erfahren haben, wird dies mit einem „*“ kenntlich gemacht (z. B. 40 R*). Bekanntgegeben wurde die Währungsreform mit der Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 4. Mai 1960 Nr. 470 „Über die Veränderung des Preismaßstabs und die Ersetzung des gegenwärtig umlaufenden Geldes durch neues Geld“ (SP SSSR, 1960, Nr. 10, Pos. 69). Zur Rubelaufwertung vgl. auch Bornstein, The Reform. 87 Vgl. die Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 15. Mai 1929 „Über die Versorgung im Alter auf dem Wege der Sozialversi-
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res dehnte man diese Form der staatlichen Alterssicherung auf weitere Branchen von zentraler volkswirtschaftlicher Bedeutung aus. Mit einem Rentenanspruch wurden nun die Arbeiter der Chemie-, der Glas-, der Druck- und der Tabakindustrie ausgestattet.88 Zwar wurden nun auch Maßnahmen eingeleitet, die Personen zugutekamen, die in den genannten Branchen als Angestellte tätig waren. Voraussetzung war hier jedoch die „Produktionsnähe“. So herrschte an der Verjüngung der Werkmeister und Techniker89 staatlicherseits ein ebensolches Interesse wie an der Förderung von ingenieur-technischen Mitarbeitern, deren Tätigkeit sich im Rahmen der Herstellungsprozesse selbst vollzog.90 Ende Februar 1932 verabschiedete der URSV schließlich die Verordnung Nr. 47 „Über die Verbesserung der Invaliden-, Hinterbliebenen- und Altersrentenversorgung“, die erstmals eine Altersrente für die Arbeiter sowie die – direkt an der Produktion beteiligten – ingenieur-technischen Mitarbeiter sämtlicher volkswirtschaftlichen Bereiche vorsah.91 Ihre Bestimmungen sollten sich auch in anderer Hinsicht als von nachhaltiger Wirkung erweisen. Zum einen zog man hier erstmals Konsequenzen aus der Überlegung, dass eine Erwerbstätigkeit unter körperlich belastenden Bedingungen der Arbeitsfähigkeit des Einzelnen engere Grenzen setzte, als dies für Beschäftigte in anderen Berufen zutraf. Für Arbeiter, die unter Tage beschäftigt waren oder sonstigen „schädlichen“ Tätigkeiten nachgingen, wurden günstigere Bezugsvoraussetzungen veranschlagt: Unabhängig von ihrer Geschlechtszugehörigkeit hatten sie lediglich ein Lebensalter von 50 sowie einen staž von 20 Jahren vorzuweisen. Eine zweite, wichtige Neuerung betraf die Leistungsberechnung. Zur Festsetzung der Rentenhöhe unterteilte man die Arbeiter in drei Kategorien. Der ersten wurden die unter Tage Arbeitenden und andere Berufsgruppen mit hohen Belastungen zugewiesen, der zweiten die Beschäftigten eines der „führenden Wirtschaftszweige“ und der dritten Kategorie jene der übrigen Branchen. Berufe der ersten Kategorie ermöglichten eine Rente in Höhe von 60 % des früheren Verdienstes, während in der zweiten 55 % und in der dritten 50 % ausgezahlt wurde.92 Die Obergrenze des monatlichen Erwerbseinkommens, das zur Leistungsbemes-
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cherung“ (SZ SSSR, 1929, Nr. 32, Pos. 289). Vgl. auch GARF, F. A 413, op. 1, d. 2661, l. 82; Sazonov, Pensionnoe obespeþenie, S. 6. Vgl. die Verordnung des URSV vom 12. Dezember 1929 „Über die Altersversorgung der Arbeiter der polygrafischen, der Glas-, Tabak-, Porzellan- und Chemieindustrie“ (INKT SSSR, 1930, Nr. 12). INKT SSSR, 1929, Nr. 4849. Vgl. Ziff. 5 der Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 13. Mai 1930 „Über Maßnahmen zur Heranziehung ingenieur-technischen Personals zur Produktion“ (SZ SSSR, 1930, Nr. 28, Pos. 314); Verordnung des URSV vom 20. September 1930 Nr. 302 „Über die Änderung und Ergänzung der Liste derjenigen saisonalen und befristeten Arbeiten, auf die sich die partielle Sozialversicherung erstreckt“ (INKT SSSR, 1930, Nr. 28). Astrachan, Razvitie, S. 91, merkt an, dass ingenieurtechnische Mitarbeiter durch diese Vergünstigungen dazu bewegt werden sollten, Stellen in der Verwaltung zugunsten von Aufgaben in der Produktion aufzugeben. INKT SSSR, 1932, Nr. 11. Vgl. Astrachan, Razvitie, S. 104105.
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sung herangezogen werden konnte, hob man von 22,50 auf 30 R an.93 Zwar implizierte diese Bestimmung eine deutliche Steigerung, doch führte der Umstand, dass das Maximum bis 1956 nicht mehr an die weitere Entwicklung des Verdienstniveaus angepasst wurde, zur Deckelung der Zahlungen an die Mehrheit der staatlichen Altersrentner: Ihre monatliche Leistung konnte dadurch den Betrag von 15– 18 R nicht mehr überschreiten. Von Bedeutung war schließlich auch die erstmalige Einführung von Rentenzuschlägen für den Fall, dass das individuelle Dienstalter einen bestimmten Wert überschritt oder ein Arbeitsjahr als „Stoßarbeit“ qualifiziert wurde. Solche Anerkennungen besonderer Arbeitsleistungen entsprachen der lohnund sozialpolitischen Neuorientierung, die nach 1931 vollzogen wurde. Diese drückte sich einerseits darin aus, dass man von der Politik der einheitlichen Vergütung ungelernter und qualifizierter Arbeit Abstand nahm, wie sie etwa von Michail P. Tomskij und den Gewerkschaften zur Zeit der Neuen Ökonomischen Politik befürwortet worden war.94 Hochwertige Arbeit sollte nun entsprechend entlohnt werden, wodurch man die Beschäftigten zur Weiterqualifikation motivieren und nicht zuletzt der als Belastung empfundenen Personalfluktuation in den Betrieben entgegen wirken wollte. In einer am 23. Juni 1931 vor Wirtschaftsfachleuten gehaltenen Rede sprach sich Stalin dezidiert gegen die „Gleichmacherei“ (uravnilovka) aus: „Die Gleichmacherei führt dazu, daß der qualifizierte Arbeiter gezwungen ist, von Betrieb zu Betrieb zu wandern, bis er schließlich einen Betrieb findet, wo man die qualifizierte Arbeit gebührend zu schätzen weiß. [...] Um dieses Übel abzustellen, muß man ein Tarifsystem schaffen, das dem Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit, zwischen schwerer und leichter Arbeit Rechnung trägt. [...] Marx und Lenin sagen, daß der Unterschied zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit [...] erst im Kommunismus verschwinden muß, daß daher auch im Sozialismus der ,Arbeitslohn ދnach der Leistung und nicht nach den Bedürfnissen bemessen werden muß. [...] Daraus folgt aber, daß derjenige, der heute das Tarifsystem auf den ,Prinzipien ދder Gleichmacherei aufbaut, [...] mit dem Marxismus, mit dem Leninismus bricht.“95
Die soziale Sicherung hatte sich, wie erwähnt, mit dem Einsetzen des ersten Fünfjahresplanes ebenfalls den Interessen der Industrialisierung der UdSSR unterzuordnen. In diesem Kontext wurden Bereiche wie die Schwangerschafts- und Krankenversicherung zurückgefahren, weil „die allzu großzügige Gewährung von Un93 Dabei galten allerdings für die Beschäftigten einer Reihe von Tätigkeitsbereichen Ausnahmen. So legte man die rentenrelevante Verdienstobergrenze z. B. bei Arbeitern und ingenieurtechnischen Mitarbeitern, die unter Tage in der Kohleindustrie tätig waren, auf 45 R fest. Eine ähnliche Sonderregelung existierte ab Mitte der 1940er Jahre auch für die Mitglieder von Lokomotivbrigaden. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 2661, l. 85; Karcchija, Razvitie zakonodatel’stva, S. 59, Anm. 20. Einen regionalen Sonderfall stellte die Lettische SSR dar, die als Verdienstobergrenze generell 40 R und für die Arbeiter und Angestellten der ersten Kategorie sogar 60 R vorsah. Vgl. Art. 63–64 der vom lettischen Rat der Volkskommissare am 7. Oktober 1944 bestätigten Instruktion (Vedomosti Prezidiuma Verchovnogo Soveta Latvijskoj SSR, 1944, Nr. 51). 94 Vgl. Davies, Crisis, S. 5354; Madison, Trade Unions, S. 85. 95 Stalin, Neue Verhältnisse, S. 52. Vgl. Davies, Crisis, S. 7072; Thompson, Ideology, S. 48.
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terstützungen [...] labile Elemente zum Mißbrauch verleitet“ habe.96 Rentenleistungen sollten nun stärker als zuvor als Anreiz zur Intensivierung der individuellen Arbeitsleistung dienen und dadurch zur Steigerung der allgemeinen Arbeitsproduktivität beitragen. Dementsprechend wandte man sich auch in diesem Fall gegen die Praxis früherer Jahre, als der Differenzierung der Höhe der Sicherungsmaßnahmen weniger Aufmerksamkeit gezollt worden war.97 1937 stattete der Gesetzgeber eine weitere gesellschaftliche Großgruppe in ihrer Gesamtheit mit der – wenigstens in der Theorie bestehenden – Möglichkeit aus, in den Genuss einer staatlichen Ruhestandsversorgung zu gelangen. Mit einer Ende Juli verabschiedeten VCSPS-Verordnung wurde nun auch den sowjetischen Angestellten ein Anrecht auf Invaliden-, Hinterbliebenen- und eben Altersrenten zugestanden.98 Aufgehoben wurde gleichzeitig die Verweigerung einer Rentenleistung für Personen, denen in der Vergangenheit das Wahlrecht aberkannt worden war.99 Beide Maßnahmen mag man auch als eine Umsetzung der kurz zuvor in der Verfassung von 1936 festgehaltenen sozialpolitischen Vorstellungen deuten. Deren Art. 120 sprach schließlich der gesamten Bevölkerung ein Grundrecht auf soziale Sicherung zu: „Die Bürger der UdSSR haben das Recht auf materielle Versorgung im Alter sowie im Fall von Krankheit und Invalidität. Dieses Recht wird gewährleistet durch die umfassende Entwicklung der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten auf Staatskosten, durch unentgeltliche ärztliche Hilfe für die Werktätigen, durch das den Werktätigen zur Verfügung gestellte umfassende Netz von Kurorten.“100
96 Stiller, Sozialpolitik, S. 102. 97 So hieß es etwa in der in der Zeitschrift Voprosy truda: „Die Sozialversicherung war in der [auf den Bürgerkrieg folgenden] Wiederaufbauperiode eine Institution zur Versorgung der Arbeiterklasse. Das sozialistische Heute erfordert von der Sozialversicherung nicht mehr bloß ,VersorgungދHVYHUODQJWGDVVGLH6R]LDOversicherung den Zielen der sozialistischen Offensive dient.“ B., Socialތnoe strachovanie, S. 1617, zit. bei: Schwarz, Arbeiterklasse, S. 325. Vgl. auch Rimlinger, Welfare Policy, S. 273. Der Vorwurf der Gleichmacherei wurde speziell mit dem Volkskommissariat der UdSSR für Arbeit verbunden 1933 entzog man ihm die Zuständigkeit für die Verwaltung der Sozialversicherung und übergab sie den Gewerkschaften. N. M. Švernik, Vorsitzender des VCSPS, umriss aus diesem Anlass die Art und Weise, in der man die wirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen gedachte: „Bürokratie und Gleichmacherei müssen aus der Sozialversicherung getilgt werden. Wir müssen die gesamte Praxis der Sozialversicherung umformen, auf dass Stoßarbeiter und jene mit einem hohen Dienstalter die privilegierteste Behandlung erfahren. [...] Im Zentrum der gewerkschaftlichen Sozialversicherungsarbeit hat die Sorge für denjenigen Arbeiter zu stehen, der sich mit der Erfüllung des industriellen Finanzplans und den Arbeitsnormen abgemüht hat.“ Švernik, O zadaþach VCSPS, S. 31, zit. in: Rimlinger, Welfare Policy, S. 279. 98 Vgl. die Verordnung des Rates der Volkskommissare vom 31. Juli 1937 Nr. 1232 „Über die Bestätigung der Verordnung des VCSPS über die Verbesserung der staatlichen Sozialversicherung der Angestellten“ (SZ SSSR, 1937, Nr. 49, Pos. 203). 99 Vgl. die Verordnung des Rates der Volkskommissare vom 31. Juli 1937 Nr. 1230 „Über die Aufhebung von Einschränkungen in der Rentenversorgung für Personen, die einst ihr Wahlrecht verloren haben“ (SZ SSSR, 1937, Nr. 49, Pos. 205). 100 Stalin, Über den Entwurf, S. 90.
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Angesichts der sehr geringen Verbreitung der Altersrente – Ende 1937 wurde sie lediglich von etwa 200.000 Menschen bezogen –101 und der Nichtberücksichtigung der großen Mehrheit der Kolchosbevölkerung entbehrte eine solche Behauptung freilich jeden Wahrheitsgehalts. Wegen der nur schwer zu erfüllenden Bezugsbedingungen waren viele Bürger im Rentenalter nicht in der Lage, einen Anspruch zu realisieren. So lange, wie dem gleichzeitigen Bezug von Renten und Arbeitsverdienst Grenzen gesetzt waren, entschieden sich potentielle Ruheständler vor dem Hintergrund des niedrigen Leistungsniveaus zudem oft dafür, auf die Beantragung zu verzichten und so lange berufstätig zu bleiben, wie es ihr gesundheitlicher Zustand erlaubte.102 Freilich standen in Anbetracht der Priorität, die die Bereitstellung von Mitteln aus dem Staatshaushalt für die rasche Industrialisierung des Landes genoss, auch keine Gelder zur Verfügung, die die Einrichtung eines umfassenden Systems sozialer Sicherung gestattet hätten. Die Bereitschaft, Personen, die nicht aktive Mitglieder der werktätigen Bevölkerung waren, staatlicherseits zu finanzieren, reduzierte sich spürbar.103 Darüber hinaus bestand in den 1930er Jahren von offizieller Seite ein nur noch vermindertes Interesse am Abgang der betagteren Arbeitnehmer aufs Altenteil. Man nahm diese Menschen zunehmend als Reserve wahr, die zur Deckung des immensen Arbeitskräftebedarfs herangezogen werden konnten. Die die erste Altersrentengesetzgebung kennzeichnende Vorgabe, dass dem Leistungsbezug eine tatsächliche Beendigung der Erwerbstätigkeit voranzugehen habe, war bereits aufgelockert worden.104 Nun entfernte der Gesetzgeber auch die letzten Nachteile, denen sich ein zur Weiterarbeit entschlossener Rentenberechtigter ausgesetzt sah. Mit einer am 28. Dezember 1938 erlassenen Verordnung erlaubte er den gleichzeitigen Bezug von Rente und Erwerbseinkommen, ohne dass eine der beiden Einkommensquellen mit Abzügen belegt wurde.105 Bis 1956 sollte die Weiterarbeit von Ruheständlern somit von 101 Hiervon waren ca. 60.000 Menschen Angestellte. Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 45. 102 Vgl. Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 13. 103 Vgl. Chandler, Shocking Mother Russia, S. 33. 104 Ab 1930 konnte man unter der Bedingung bei seinem früheren Betrieb weiter tätig sein, dass die neue Aufgabe geringer entlohnt war als die vor dem Rentenantritt ausgeübte. (Art. 13 der Regeln des URSV in der Redaktion vom 11. Februar 1930 [INKT SSSR, 1930, Nr. 10]). Ein Jahr später wurde auch diese Einschränkung aufgehoben. Für die Mehrheit der Altersrentner galt nun nur noch, dass die Summe aus Erwerbsvergütung und Rente den früheren Verdienst nicht überschreiten sollte. Nach 1931 erhielten weiterarbeitende Rentner, die von einem vorhandenen Leistungsanspruch keinen Gebrauch machten, sogar Zuschläge für jedes Jahr, das sie ihrem staž hinzufügten. Ab diesem Zeitpunkt lässt sich behaupten, dass die Renten nicht mehr vorrangig der Entfernung der alten Menschen aus den Arbeitsprozessen dienten. Stattdessen sollten sie dazu befähigt werden, ihre frühere Stelle abzugeben und Aufgaben zu übernehmen, die weniger anstrengend, gleichzeitig aber auch weniger gut bezahlt waren. Vgl. Lovell, Soviet Socialism, S. 575; Novickij Milތ, Zanjatostތ, S. 27; Schwarz, Arbeiterklasse, S. 345. 105 Vgl. die Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR, des ZK der KPR(B) und des VCSPS vom 28. Dezember 1938 „Über Maßnahmen zur Regelung der Arbeitsdisziplin und der Verbesserung der Praxis der staatlichen Sozialversicherung sowie über den Kampf gegen den Missbrauch in diesem Bereich“ (SP SSSR, 1939, Nr. 1, Pos. 1). Gerade in den Jah-
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jeglicher Sanktionierung befreit bleiben. Eine weitere bedeutsame Bestimmung dieses Normativakts berührte die Frage der untersten Versorgungsgrenze: Von nun an galt für Personen, die in ländlichen Gegenden wohnhaft waren, eine Mindestaltersrente von 5 R.106 Auch nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges erfuhr der Bereich der Alterssicherung in seiner Gesamtheit keine grundlegende Weiterentwicklung mehr. Vorrang besaß zu diesem Zeitpunkt die Versorgung der immensen Zahl von Kriegsinvaliden. Gleichzeitig lag ein Schwerpunkt der sowjetischen Ausgabenpolitik auf der Beseitigung der Kriegsschäden sowie auf der Förderung der Rüstungs- und Schwerindustrie.107 Dennoch blieb der Krieg nicht ohne nachhaltige Folgen für die Bezieher staatlicher Altersrenten: Speziell in den zeitweilig von der Wehrmacht besetzten Gebieten war es zur Zerstörung und Evakuierung sowjetischer Betriebe, Dienststellen und Fabriken gekommen, wodurch ein großer Teil jener Unterlagen verlorengegangen war, die Informationen über das Erwerbsentgelt, die Arbeitsbedingungen und das Dienstalter ihrer Mitarbeiter enthalten hatten. Um die Dokumentation der individuellen Arbeitsbiographien war es schon vor 1940 äußerst schlecht bestellt gewesen. Nun war der Beleg des notwendigen trudovoj staž von 20 bzw. 25 Jahren für viele ältere Bürger allerdings oft vollständig unmöglich geworden. Abgesehen von der Tatsache, dass das Dienstalterkriterium in seiner Vollständigkeit generell schwer zu erfüllen war, lag insbesondere in dieser Nachweisproblematik ein wichtiger Grund dafür vor, dass der Anteil der Altersrentner an der Gesamtheit sowjetischer Bürger im Alter über 55 bzw. 60 Jahren vor 1956 niedrig blieb.108 Eine Maßnahme, die vor allem für die Bezieher niedriger Renten Relevanz besaß, war die am 16. September 1946 verabschiedete Einführung eines „Brotzuschlags“.109 Er belief sich auf 6 R und steigerte somit die gewöhnliche, sich auf nicht mehr als 15–18 R belaufende Altersrente von Arbeitern und Angestellten immerhin um 33–40 %. Begründet wurde dieser Schritt damit, dass im Zusam-
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ren des Zweiten Weltkrieges sollte ein enormer Bedarf am Einsatz der älteren Bürger entstehen. Um Ruheständler, die bereits die Erwerbstätigkeit eingestellt hatten, zur Rückkehr in die Produktion zu bewegen, wurde auch ihnen der fortgesetzte Rentenbezug unabhängig von der Höhe des Verdienstes gestattet. Vgl. hierzu die Verordnung des Rates der Volkskommissare der UdSSR vom 28. Juli 1941 Nr. 1901 „Über die Bewahrung der Renten für Ruheständler, die in die Produktion zurückkehren“ (SP SSSR, 1941, Nr. 17, Pos. 335). Vgl. Ziff. 23 der Verordnung vom 28. Dezember 1938 (SP SSSR, 1939, Nr. 1, Pos. 1). Hier berücksichtigte man erstmals auch die Zahl der vom Rentner zu versorgenden Familienangehörigen. Ohne unterhaltsberechtigten Verwandten konnte man 5 R beanspruchen, bei einem einzigen 6 R, bei zweien und mehr 7,50 R. Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 104105. Vgl. Lovell, Soviet Russiaތs Older Generations, S. 216217, der auf die Häufigkeit verweist, mit der die Exekutivkomitees der örtlichen Sowjets Mitte der 1950er Jahre den Ministerrat der RSFSR um die ausnahmsweise Gewährung von monatlichen Leistungen für diesen Personenkreis ersuchten. Ein Beispiel für den Briefverkehr, der diesbezüglich auch von Deputierten des Obersten Sowjets der UdSSR geführt wurde, bietet CADKM, F. 92, op. 1, d. 236. Vgl. auch Astrachan, Razvitie, S. 133135; Stiller, Sozialpolitik, S. 99100. Vgl. Izvestija vom 17. September 1946.
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menhang mit der anvisierten Aufgabe des Systems der Lebensmittelrationierung die staatlich festgesetzten Preise für Nahrungsmittel drastisch angehoben worden waren.110 Dass er allerdings vor allem als Unterstützung der bedürftigsten und nicht mehr zur Erwerbstätigkeit fähigen Rentner gedacht war, legt die Einschränkung nahe, dass der Brotzuschlag nur Personen zugutekommen sollte, die nach dem Leistungsantritt nicht weiterarbeiteten. Ferner war er den in den Städten und Arbeitersiedlungen wohnenden Bürgern vorbehalten, vorausgesetzt, sie bezogen eine monatliche Leistung von weniger als 90 R.111 Dies führte de facto zu einer Differenzierung der Mindestaltersrente in Abhängigkeit vom Wohnort: Während sie für die ländlichen Einwohner der UdSSR weiterhin bei 5 R verblieb, besaßen Städter nun einen Anspruch auf geringstenfalls 11 R. An dem niedrigen Niveau der Ruhestandsgelder, die aufgrund der starren oberen Bemessungsgrenze immer weiter hinter der Lohnentwicklung zurückblieben, änderte die Maßnahme freilich kaum etwas. Ein Eindruck davon, wie wenig eine gewöhnliche Altersrente von 15–18 bzw. 21–24 R dazu beitragen konnte, dass der während der Erwerbstätigkeit genossene Lebensstandard im Ruhestand erhalten werden konnte, vermittelt sich anhand der Entwicklung des Durchschnittsverdienstes von Arbeitern und Angestellten seit der Festlegung der 30-R-Bemessungsgrenze. Erhielten sie 1932 im monatlichen Mittel 9,10 R112, so lag dieser Wert 1940 schon bei 33,10 R und 1946 bei 48,10 R. Der rasante Anstieg fand hiermit noch kein Ende: 1950 entsprach das durchschnittliche Erwerbseinkommen offiziellen Angaben zufolge 64,20 R und 1955 – am Vorabend der Staatsrentenreform – sogar 71,80 R.113 Ursprünglich waren nur die sehr gut verdienenden Bürger von der Bemessungsobergrenze tangiert worden; nach dem Krieg drückte sie auf das Leistungsniveau der meisten Standardruheständler. Der Gesetzgeber blieb vor dem Hintergrund des niedrigen Rentenniveaus nicht untätig. Sein Vorgehen beschränkte sich allerdings nur auf eine Minderheit der Altersrentenbezieher, für die er sogenannte „erhöhte Renten“ (povyšennye pensii)114 einführte. Einen Anfang machte man 1947 mit den Beschäftigten der Kohleindustrie.115 Von einem Teil ihrer Arbeitnehmerschaft wurde nun nur noch 110 Vgl. Astrachan, Razvitie, S. 135. Zur Ende 1947 schließlich vollzogenen Abschaffung der Rationierung vgl. auch Hildermeier, Geschichte, S. 699700; Nove, Economic History, S. 298302. 111 Vgl. Karavaev, Razvitie, S. 3; Injutin Kac, Pensii rabotnikam, S. 8485. 112 Vgl. Cibulތskij, Politika, S. 29. 113 Vgl. NCh SSSR v 1970 g., S. 519. 114 Diese Benennung führt ein wenig in die Irre, da sich die Neuerungen nicht nur auf das jeweilige Leistungsniveau, sondern ebenso auf die Qualifikationsmerkmale Lebens- und Dienstalterzeit bezogen. Vgl. Astrachan, Razvitie, S. 136, der deshalb den Begriff der „vergünstigten Renten“ (l’gotnye pensii) vorzieht. Um diese Leistungsform jedoch von den Vorzugsrenten der Nachstalinzeit zu differenzieren, soll hier der Begriff der „erhöhten Renten“ beibehalten werden. 115 Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR Nr. 3211 vom 10. September 1947 „Über die Vorteile und Vergünstigungen für unter Tage tätige Arbeiter, leitende und ingenieur-technische Mitarbeiter der Kohleindustrie und des Kohleschachtbaus“ (SP SSSR, 1947, Nr. 8, Pos. 149).
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das Erreichen eines Alters von 50 sowie eines staž von 20 Jahren gefordert. Die Rente sollte sich auf 50 % des zuletzt bezogenen Gehalts oder Basissatzes belaufen. Anders als zuvor, und hierin bestand die wichtigste Neuerung, war der Leistungsumfang jedoch nicht mehr an eine Obergrenze gebunden.116 In den folgenden Jahren führte man ähnliche Bestimmungen für viele weitere Wirtschaftsbereiche ein. Berücksichtigt wurden – um nur einige zu nennen – neben den Beschäftigten der Chemie-, Metall-, Schiffbau- und Erdölindustrie in diesem Sinne auch jene der Holzindustrie, der Post, des Fluss- und des Schienentransports. Sicherlich verfolgte man mit der Ausdehnung der Maßnahmen auf die genannten Bereiche vor allem das Ziel, die „Arbeiter der führenden Berufe in den wichtigsten Zweigen der Volkswirtschaft“117 zu fördern. In diesem Fall dienten die vorgenommenen Korrekturen einmal mehr dem bekannten Muster, dass man mit Hilfe ruhestandsbezogener Vergünstigungen die Tätigkeit in bestimmten Branchen besonders attraktiv gestalten und somit zur raschen Erholung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit nach dem Krieg beitragen wollte. Der noch immer als ein Hauptgrund für die Einschränkung der Produktivität identifizierten Personalfluktuation wurde dabei durch eine zusätzliche Verschärfung des staž-Kriteriums begegnet: Es wurde vorausgesetzt, dass die Bezieher erhöhter Renten das vollständige 20oder 25-jährige Dienstalter in der jeweiligen Branche oder Behörde absolviert hatten.118 Tatsächlich erstreckten sich die Vergünstigungen aber auch auf Wirtschaftsund Gesellschaftsbereiche, denen keineswegs eine derartige Schlüsselfunktion zukam: Entsprechende Vorteile genossen ebenso Arbeiter der Fisch- und Torfindustrie wie Geologen und Kartographen, während diejenigen etwa der Automobil-, Maschinenbau- und Textilindustrie unberücksichtigt blieben. Dabei war die Härte der Arbeitsbedingungen bei der Auswahl der Begünstigten mitunter weniger wichtig als die Intention, bestimmten Personenkreisen ein Privileg zukommen zu lassen. Dies legt der Umstand nahe, dass sich auch Mitarbeiter nichtindustrieller Behörden wie der Staatskontrolle, des Finanz- und Kreditsystems sowie des Systems der staatlichen Arbeitsreserven Hoffnungen auf eine reichhaltige Ruhestandsversorgung machen konnten. Die Integration einzelner Personenkreise in das System der erhöhten Renten war nicht selten vor allem das Ergebnis erfolgreicher Lobbyarbeit.119 Die Gesetzgebung zu den erhöhten Renten war äußerst unübersichtlich. Anders als in den Jahren 1928–1932, als die Leistungen in unionsweiten Normativakten geregelt worden waren, gingen sie nun auf eine Vielzahl vereinzelter Regierungsbestimmungen zurück, die zudem noch durch Instruktionen der betroffenen Ministerien ergänzt wurden. Die Bezugsbedingungen und das Niveau der Versorgung zeichneten sich dementsprechend durch ein hohes Maß an Uneinheitlichkeit 116 Vgl. Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 49. 117 Astrachan, Razvitie, S. 136. 118 Vgl. Gincburg, Trudovoj staž, S. 5758; Iarskaia-Smirnova Romanov, Multiplicity, S. 214 215. 119 Vgl. Astrachan, Razvitie, S. 140; Lancev, Socialތnoe obespeþenie (1968), S. 407.
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aus: Das erforderliche Rentenalter konnte sich auf 50, 55 oder 60 Jahre belaufen, der staž 20 oder 25 Jahre umfassen. In manchen Fällen differenzierte man diese Anforderungen in Abhängigkeit von der Geschlechtszugehörigkeit, in anderen nicht. Überwiegend entsprach die Leistungshöhe der Hälfte des vor dem Rentenantritt verdienten Lohns oder Gehalts; es kam allerdings auch vor, dass der betreffende Prozentsatz auf 65 % fixiert wurde.120 Der Wirkungsradius der Verordnungen und Anweisungen reichte in den meisten Fällen nicht über die Sphäre der jeweiligen Ministerien und Behörden hinaus. Oft galten sie nicht einmal für einen Wirtschaftszweig in seiner Gesamtheit, sondern nur für bestimmte Teilsektoren.121 Auch im Zuständigkeitsbereich derjenigen Ministerien und Behörden, für die entsprechende Regelungen erlassen worden waren, waren nicht alle Arbeitnehmer zum Bezug einer erhöhten Rente berechtigt. Die jeweils relevanten Regierungsverordnungen enthielten spezielle Verzeichnisse, in denen die Positionen und Ämter aufgeführt wurden, die allein zu einer Rentenvergünstigung qualifizierten. Hierzu gehörten insbesondere Beschäftigte in den im betreffenden Tätigkeitsfeld als „führend“ verstandenen Berufen, Werkmeister, ingenieur-technische und leitende Mitarbeiter sowie herausgehobene Verwaltungsangestellte. Zu sämtlichen Bereichen von Wirtschaft und Kultur sowie des Staatsapparates wurden 1947– 1955 einige Hundert Normativakte erlassen.122 Zur Zahl der Ruheständler, die in den Genuss einer erhöhten Leistung kamen, liegen keine genauen Daten vor. M. S. Lancevs Hinweis, dass 1955 mit 1.700.000 Menschen etwa 28 % aller „Arbeitsrentner“ (pensionery truda) von den 1947 eingeführten Sonderkonditionen profitierten, bezieht u. a. die Invaliden- und Hinterbliebenenrentner mit ein.123 Dennoch vermittelt er einen Eindruck davon, dass sich ihr Anteil keineswegs gering ausnahm. Hierfür spricht ebenfalls die Tatsache, dass von den zu diesem Zeitpunkt etwa 48.400.000 erwerbstätigen Arbeitern und Angestellten ca. 21 % in Branchen oder Berufen aktiv waren, die später zum Erhalt der erhöhten Rente berechtigt hätten.124 120 Vgl. Gincburg, Trudovoj staž, S. 5455; Moskalenko, Zakon, S. 15. 121 Beispielsweise bezogen sich die erhöhten Renten für Beschäftigte der Kohleindustrie allein auf die der Unionsebene direkt unterstellten Bereiche, nicht aber auf Betriebe, für die eine republikanische oder örtliche Zuständigkeit bestand. Darüber hinaus kam es vor, dass sich Sonderregelungen auf eine einzelne Produktionsstätte oder sogar nur auf eine einzige Abteilung beschränkten. Vgl. Karcchija, Razvitie zakonodatel’stva, S. 64. 122 Vgl. Gincburg, Trudovoj staž, S. 54 u. 57, der als „führende Profession“ innerhalb der Eisenund Stahlindustrie z. B. unter Tage tätige Grubenarbeiter nennt. Vgl. auch Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 17. 123 Der Anteil der Altersrentner an den „Arbeitsrentnern“, zu denen auch Dienstalter- und persönliche Rentner gezählt wurden, belief sich Anfang 1955 auf 25,7 %. Vgl. ebd., S. 85. Dass die von Lancev angedeutete Größenordnung aller Wahrscheinlichkeit nach zutrifft, geht aus einem Bericht hervor, den der VCSPS-Vorsitzende N. M. Švernik und die Sozialversorgungsministerin der RSFSR N. M. Murav’eva 1955 für Chrušþev erstellten. Hier wird der Anteil der Bezieher erhöhter Renten auf 30 % beziffert. Vgl. RGANI, F. 5, op. 30, d. 128, l. 2. Auch Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 47, schreibt von einem Drittel aller Arbeiter und Angestellten, die eine erhöhte Rente bezogen. 124 Vgl. Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 49.
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Infolge der Einführung der erhöhten Renten entstanden erhebliche Diskrepanzen im Niveau der Ruhestandsversorgung. Herkömmliche Renten konnten, wie gesehen, die Schwelle von 18 bzw. 24 R nicht überschreiten, was einen Ruhestand Mitte der 1950er Jahre nicht zu finanzieren vermochte. Für die Bezieher von erhöhten Renten galt die Verdienstobergrenze von 30 R zwar nicht, doch führte das keineswegs dazu, dass sie sich in ihrer Gesamtheit eines hervorragenden Lebensstandards erfreuen durften. Zählten sie zur Arbeiterschaft, so wurde als Berechnungsgrundlage für die individuelle Rentenhöhe lediglich der tarifliche Basissatz (tarivnaja stavka) herangezogen.125 Der höchste Basissatz, auf dem der Lohn eines Arbeiters basieren konnte, lag allerdings bei 120 R, so dass seine Altersrente in der Regel die 60-R-Marke nicht überschreiten konnte.126 Bedeutend besser erging es den Angestellten: Zur Berechnung ihrer erhöhten Renten zog man die festen Dienstgehälter heran, was zu weit höheren Altersbezügen führen konnte. Gerade dies war die Ursache für die extreme Spannbreite zwischen sehr hohen und niedrigen Ruhestandsgeldern: Lag 1955 eine Mindestaltersrente für Arbeiter mit einem Wohnsitz auf dem Land noch immer bei 5 R, so konnten sich die erhöhten Renten von Angestellten auf mehr als 400 R belaufen.127 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die soziale Sicherung in der UdSSR vor 1956 nur einem geringen Teil der älteren Arbeiter und Angestellten eine Altersrente zusprach. Die fragmentierte Altersrentengesetzgebung verfolgte keine gesamtgesellschaftliche Stoßrichtung, sondern unterstützte punktuell jene Branchen und Berufsgruppen, die als wertvoll für die Entwicklung der wirtschaftlichen Leistungskraft oder aus anderen Gründen unterstützenswert interpretiert wurden. Anfang 1956 belief sich die Zahl der Leistungsbezieher auf 1.877.000 Menschen (Tab. 2a), was lediglich etwa 0,9 % der Gesamtbevölkerung und wohl weniger als 9 % desjenigen Bevölkerungsteils entsprach, der sich Mitte der 1950er Jahre im Alter von mindestens 55 (Frauen) bzw. 60 Jahren (Männer) befand.128
125 Unberücksichtigt blieben somit die diesen Sockelbetrag ergänzenden Zuschläge für Akkordarbeit und Normübererfüllung bzw. jene Lohnkoeffizienten, die z. B. etwaigen ungünstigen klimatischen Bedingungen Rechnung trugen. Solche Zulagen leisteten einen beträchtlichen Beitrag zum tatsächlich ausbezahlten Arbeitsentgelt. Betrug der Anteil des Grundbetrags an ihm Ende der 1930er Jahre noch 80–90 % (Vgl. Kirsch, Soviet Wages, S. 2.), so fiel er bis Mitte der 1950er Jahre dramatisch ab. L. M. Kaganoviþ stellte 1955 diesbezüglich fest: „Die erhöhten Altersrenten werden für Arbeiter [...] in einer Höhe festgesetzt, die sich auf 50 % des Grundbetrags beläuft. Dieser bildet gegenwärtig nur 50–60 % ihres Lohns, was dazu führt, dass selbst die erhöhten Renten von Arbeitern 300–400 R* nicht überschreiten und lediglich 25–30 % ihres [vorherigen] Verdienstes ausmachen.“ GARF, F. R 9553, op. 1, d. 93, l. 252. 126 Vgl. Novickij Milތ, Zanjatostތ, S. 28. 127 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 93, l. $þDUNDQ2EHVSHþHQLHYHWHUDQRYWUXGD6 47. 128 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, Tab. 9.1, der die Zahl der Personen im Rentenalter für das Jahr 1955 auf 22 Mio. schätzt. Zur Größe der Gesamtbevölkerung siehe Tab. 1a.
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Das System der allgemeinen Altersrenten
Tab. 2a: Die zahlenmäßige Entwicklung der staatlichen Altersrentner 1929–1956 (Stand am 1. Januar) Anzahl sämtlicher Rentner in der UdSSR* Bezieher staatlicher Altersrenten* Anteil in %
1929
1932
1936
1940
1948
1952
1956
1.728
2.136
2.620
3.638
18.803
18.900
16.497
4
45
104
225
718
1.078
1.877
0,2
2,1
4,0
6,2
3,8
5,7
11,4
* Zahlen in Tausend. Quelle: Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 87.
Die staatliche Standardaltersrente fiel in der Regel so niedrig aus, dass der Lebensunterhalt von ihr allein nicht zu bestreiten war. Wer dazu in der Lage war, setzte also die Arbeitstätigkeit über den formalen Rentenantritt hinweg fort. Für eine Weiterarbeit entschieden sich aber auch Sowjetbürger, die sich für eine erhöhte Rente qualifiziert hatten und keineswegs Not litten. Eine solche Sicherungsleistung fungierte für Personen, die im Alter von nur 50 oder 55 Jahren ihrer Energien noch nicht verlustig gegangen waren, als äußerst attraktiver Zuschlag zum Erwerbseinkommen. So überrascht es nicht, dass der Anteil der Weiterarbeitenden unter den Beziehern erhöhter Renten besonders hoch war.129
2.1.2. Die Genese des Staatsrentengesetzes Das im Juli 1956 verabschiedete „Gesetz über die staatlichen Renten“ sollte eine Reihe der beschriebenen Mängel beheben. Vor einer Darstellung der Entstehung sowie der Inhalte des Gesetzeswerks ist zuerst auf die Motivlagen einzugehen, die – von den beschriebenen Defiziten und der demographischen Problematik einmal abgesehen – für die Neuregelung der staatlichen Altersversorgung verantwortlich gemacht werden können.
2.1.2.1. Die Motivationen für die Durchführung der Reform a) Abgrenzung zur Stalinzeit Der Zusammenhang der Reform mit den Entstalinisierungsbemühungen des Regimes liegt auf der Hand, orientiert man sich etwa an der „Geheimrede“ N. S. 129 Während sich unmittelbar vor der Staatsrentenreform knapp 60 % aller Altersrentner für die Weiterarbeit entschieden, lag diese Quote unter den privilegierten Ruheständlern sogar bei 88 %. Vgl. Aþarkan, Pensionnoe zakonodatel’stvo, S. 118.
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Chrušþevs. Deutlich ist in diesem Text ein Bewusstsein für die legitimatorische Wirkung einer an den Bedürfnissen der Bevölkerung ausgerichteten Politik erkennbar.130 Zwar wurden die Mängel der Rentenversorgung in der Regel nicht direkt mit der Person Stalins in Verbindung gebracht.131 Nichtsdestotrotz finden sich Momente der Distanzierung gegenüber der Art und Weise, in der die soziale Sicherung unter seiner Ägide gehandhabt wurde, in Stellungnahmen zur Neuregelung des staatlichen Rentensystems. So stellte Chrušþev in dem für die breite Öffentlichkeit bestimmten „Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU vor dem XX. Parteitag“ die von der Regierung bereits durchgeführten und für die Zukunft ins Auge gefassten Maßnahmen zur Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards vor. Dabei ging er auch auf die veralteten Bestimmungen und „ernsthaften Mängel“ der alten Rentengesetzgebung ein. Gerade der Wunsch nach einer Abgrenzung gegenüber dem Vorgängerregime ermöglichte hier die offene Benennung der bestehenden Missstände. Kritik erntete insbesondere die nach 1947 durch die Einführung der erhöhten Leistungen verursachte „unzulässige Disproportion“ (nedopustimyj raznoboj) innerhalb der Ruhestandsversorgung: „Für eine Reihe von Rentnergruppen wurde ein niedriges Rentenniveau festgelegt, während gleichzeitig einige Personen, darunter auch arbeitsfähige, überhaupt noch nicht alte Menschen, hohe Renten erhalten. [...] Das Zentralkomitee der Partei und der Ministerrat der UdSSR ergreifen Maßnahmen zur Regelung der Rentenversorgung, damit die Beträge der niedrigsten Rentenkategorien deutlich angehoben und die der unbegründet hohen Renten etwas herabgesetzt werden.“132
Auch Nikolaj A. Bulganin erwähnte, als er dem Obersten Sowjet der UdSSR am 11. Juli 1956 den Entwurf des Staatsrentengesetzes präsentierte, das Missverhältnis zwischen hohen und niedrigen Renten. Darüber hinaus machte er auf die „in den Kriegs- und Nachkriegsjahren [entstandene] Spanne zwischen den Rentensätzen und dem erreichten Lohnniveau“ aufmerksam und kritisierte die fehlende Konsequenz in jenen Bestimmungen, die Rentenvergünstigungen für Beschäftigte mit besonders schweren Arbeitsbedingungen vorgesehen hatten.133
b) Impulse aus der Bevölkerung Zu den Veränderungen, die die sowjetische Gesellschaft im Kontext der Entstalinisierung erfuhr, stellt Stephan Merl fest, dass diese zu Beginn fast ausschließlich von den Mitgliedern der neuen Führung selbst angeregt worden seien. Anfangs sei kaum ein diesbezüglich von der Bevölkerung ausgehendes Drängen zu registrieren gewesen. Erst die als Resultat der Reformpolitik entstandenen Partizipationsangebote hätten speziell in den „Bereichen von Kultur und Wissenschaft [zu] Ini-
130 131 132 133
Siehe hierzu Abs. 6.2.2. Vgl. Jones, Introduction, S. 2. Chrušþev, Otþetnyj doklad, S. 72. Bulganin, Der Entwurf, S. 11.
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tiativen von unten und Ansätze[n] zu eigenständigem Denken“ geführt.134 Einen ähnlichen Standpunkt vertritt, bezogen auf die sowjetische Sozialpolitik, in den 1960er Jahren bereits Richard Löwenthal, dem zufolge es keinerlei Hinweise auf vehement vorgetragene Forderungen aus der Bevölkerung nach einer Verbesserung ihrer materiellen Lage gebe.135 Für die Reform von 1956 wie auch spätere rentenpolitische Maßnahmen lässt sich nachweisen, dass solche Beobachtungen nicht zutreffen. Mit ihrer Rentenpolitik reagierte die sowjetische Führung auf eine Vielzahl von Impulsen aus der Bevölkerung, die über die Schieflagen im System der sozialen Sicherung informierten und eine Behebung der Mängel forderten. Diese wurden dem Regime freilich nicht über Interessengruppen vermittelt, sondern in Gestalt von Einzeläußerungen, als an die zentralen Instanzen gerichtete Briefe und Eingaben. Dass man ihnen Aufmerksamkeit schenkte, belegen z. B. die thematischen Zusammenstellungen, die die Briefabteilung des Präsidiums des Obersten Sowjets in den Jahren 1954 und 1955 für das Staatsoberhaupt Kliment E. Vorošilov verfasste. Hier fällt zum einen bereits die schiere Masse jener Äußerungen auf, die Fragen der Rentenversorgung berührten: 1954 handelte es sich um etwa 97.000 bzw. 12 % aller im otdel pisem durchgesehenen Äußerungen.136 Dieser Wert blieb mit 96.384 (11,4%) im darauf folgenden Jahr weitgehend stabil. Für 1955 finden sich darüber hinaus auch Informationen über den Inhalt der Texte: 78,1 % der Autoren tangierten verschiedene Probleme bei der Rentenerteilung, 21,9 % drangen konkret auf eine Anhebung der Renten.137 Besondere Beachtung erfuhren Briefe, die sich mit „allgemeinen Fragen“ einer Verbesserung der Gesetzeslage befassten, deren Autoren also nicht um Unterstützung in Fällen baten, die sie persönlich betrafen, sondern ein gesamtgesellschaftliches Interesse offenbarten. Obwohl ihre Zahl nur einen verhältnismäßig geringen Teil aller Schreiben ausmachte, besaßen die „uneigennützigen“ Wortmeldungen einen hohen Stellenwert, der daran sichtbar wird, dass Vorošilov wiederholt Aufstellungen vorgelegt wurden, die den Inhalt des betreffenden Briefverkehrs lediglich einer einzigen Woche zusammenfassten. Am 18. April 1955 etwa berichtete Jurij A. Korolev, zu dieser Zeit Leiter der Abteilung, von 60 Briefen, die in den vorangegangenen sieben Tagen ans Präsidium geschickt worden seien. Ihre Autoren hätten „ihre Vorschläge und Kritik an [bestehenden] Mängeln mit keinen wie auch immer gearteten persönlichen Klagen“ verbunden. Aufmerksamkeit erregten, so Korolev weiter, hier „sowohl im Hinblick auf ihre Zahl als auch auf die Wichtigkeit [...] diejenigen Briefe, die Bitten um eine Änderung der Rentengesetzgebung“ enthielten. Das Problem der Absicherung älterer und arbeitsunfähiger Bürger, das – gemessen an der Gesamtheit aller an den Obersten Sowjet der
134 135 136 137
Merl, Entstalinisierung, S. 179. Vgl. Lowenthal, Ideology, S. 19. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1573, l. 1. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1587, ll. 2022.
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UdSSR gerichteten Texte – zahlenmäßig hinter den Schreiben zur Wohnraumvermittlung rangierte, war hier das am meisten diskutierte Thema.138 Bereits zehn Tage später referierte Korolev abermals über den Inhalt von diesmal 90 Briefen, unter denen hinsichtlich ihrer Bedeutung und Quantität wiederum die Schreiben zur Rentenversorgung dominierten. Erwähnung fand dabei auch die Wut, die einige Verfasser angesichts der herrschenden Situation verspürten: „In den meisten von ihnen wird betont, dass die erhaltenen Renten sehr niedrig seien und das Existenzminimum der Rentner und ihrer Familien nicht gewährleisteten, während es jedoch gleichzeitig Renten gebe, die dieses Minimum deutlich überschreiten würden. [...] Einige Briefe sind in einem schneidenden, manchmal auch verbitterten Ton verfasst.“
Dabei rekurrierten einzelne Autoren auch auf in der Bevölkerung kursierende Gerüchte, denen zufolge eine Reform der Ruhestandsversorgung unmittelbar bevorstand: „So schreibt der 73-jährige Rentner V. G. Ivanov, der eine Rente von 210 R* bezieht und eine 68-jährige Ehefrau zu versorgen hat: ,Seit ungefähr zwei Jahren [...] geht das Gerücht umher, dass dieses alte und veraltete Gesetz angeblich überarbeitet und dass die Rente erhöht oder besser verteilt wird. Aber, wie sich zeigt, bleibt bis jetzt alles beim Alten. Es scheint, als wäre es nun Zeit, sich dieser Frage endlich anzunehmen.“139
In seiner Darstellung verwies Korolev speziell auf ein Schreiben des A. Brjuškov, der als Chefingenieur u. a. für den Wiederaufbau des Stalingrader Traktorenwerks verantwortlich gewesen war. Bemerkenswert erscheint der Brief, weil er illustriert, welche existentiellen Befürchtungen auch bei leitenden Angestellten durch das Fehlen einer adäquaten Alterssicherung ausgelöst werden konnten. „Bald werde ich 60 Jahre alt. Von Jugend an bin ich jener Arbeit nachgegangen, die mir als führend in unserer Bauindustrie erschien. [...] Jedoch fühle ich, dass die Kräfte nachzulassen beginnen und ich die Arbeit bald nicht mehr im früheren Umfang ausüben kann. Vielleicht werde ich auch ganz aufhören. In diesem Falle erwartet mich, sofern ich lebendig sein werde, ein Dasein, in dem ich bei einer Rente von 200 R*, die für das Existenzminimum nicht ausreicht, dahinvegetiere. Mein ganzes Wesen empört sich über eine solche Perspektive. [...] Was verzögert das Erscheinen des notwendigen und gerechten Gesetzes [...]? Wenn die Ursache für die Langsamkeit in dieser Frage in einem Mangel an Mitteln zu finden ist, dann wird ein jeder gern einen Teil seines Verdienstes abgeben, um eine Versorgung im Alter zu erhalten. [...] Halten Sie es nicht für möglich, dass Sie sich in die schwierige Lage alter Männer und Frauen versetzen und eine Erklärung darüber veröffentlichen, wie und wann diese brennende Frage entschieden wird?“140
Auch in der Folge verlor die Thematik in den Berichten der Briefabteilung nicht an Brisanz. Am 18. August 1955 informierte Korolev den Vorsitzenden des Obersten Sowjets ein weiteres Mal über jene Schreiben, in denen die Bürger „allgemeine Fragen“ aufwarfen. Während des Monats Juli sei abermals eine große Anzahl von Briefen mit Vorschlägen zur Änderung der Rentengesetzgebung eingegangen. Die Bürger würden diesbezüglich eine rasche Lösung fordern, da einige der gel138 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, l. 224. 139 Ebd., l. 273. 140 Ebd., ll. 282283.
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tenden Regelungen bereits deutlich veraltet seien und nicht mehr den gegenwärtigen Bedingungen entsprächen. „Sie unterstreichen, dass es nicht nur für Familien, sondern auch für einen alleinstehenden Rentner absolut unmöglich ist, von 150–200 R* zu leben. Deshalb befindet sich die große Mehrheit von ihnen in einer sehr schwierigen Lage. So schreibt der Altersrentner M. V. Vlasieviþ aus Soþi: ,[...] die Ärzte empfehlen uns Schonkost, aber wir können, abgesehen von einer mageren Suppe und Schwarzbrot, von absolut gar nichts träumen.[ ދ...] Im Zusammenhang hiermit schlagen die Bürger vor, bei einer Prüfung des neuen Gesetzes alle Mängel der alten Rentengesetzgebung zu berücksichtigen und folgende Änderungen vorzunehmen: eine Anhebung der Alters- und Invalidenrenten, die Änderung des Systems der branchenspezifischen Renten [...]. Gleichzeitig fordern sie eine Reduzierung der hohen Ruhestandsgelder, die einigen Rentnerkategorien ausgezahlt werden [...].“141
Sicherlich muss offenbleiben, mit welchem Interesse derartige Überblicke von Vorošilov selbst rezipiert wurden und inwiefern er die Rentenfrage gegenüber seinen Kollegen thematisierte. Dies war aber vielleicht auch gar nicht notwendig, da die beiden anderen zentralen Instanzen des Sowjetsystems, der Ministerrat der UdSSR und das ZK der KPdSU, eine ähnliche „Arbeit mit den Briefen“ betrieben und somit analoge Wortmeldungen aus der Bevölkerung erhielten. Dass die am Rentenreformprozess in verantwortlicher Position beteiligten Personen solche Impulse wahrnahmen, belegt eine Äußerung Ivan V. Goroškins vom Oktober 1955. In einem Bericht zum Fortschritt bei der Entwicklung des Gesetzentwurfs erwähnte der stellvertretende Leiter des Goskomtrud die „vielzähligen Klagen über die Mangelhaftigkeit der Rentenversorgung“, die von Rentnern einträfen.142 Aber auch die maßgebliche politische Führungspersönlichkeit jener Jahre zeigte sich „Volkes Stimme“ gegenüber aufgeschlossen. Im Zuge der Vorbereitung des erwähnten Rechenschaftsberichts verfasste Nikita S. Chrušþev einen als Diskussionsgrundlage kommunizierten Bericht für die Mitglieder des ZK-Präsidiums, in dem er über die Notwendigkeit einer Neuordnung sowohl des Lohn- als auch des Rentensystems sprach. Dabei ging der Erste Sekretär in diesem auf den 25. Oktober 1955 datierten Text offen auf die Schwächen der alten Regeln ein, wobei er bereits hier speziell auf die Disproportion zwischen sehr niedrigen und sehr umfangreichen Leistungen zu sprechen kam. Es sei eine hässliche Praxis, dass mitunter vergleichsweise junge, gesunde Menschen eine hohe Rentenversorgung erhielten, die nirgendwo arbeiteten und ihren Vergnügungen nachgingen. Zudem handele es sich bei den betreffenden Personen nicht selten um Parteimitglieder, die, gemessen an ihrer körperlichen Verfasstheit und ihrem kulturellen Niveau, sehr wohl noch Tätigkeiten von gesellschaftlichem Nutzen ausführen könnten. Die Dringlichkeit der Frage belegte er nun gerade mit den Äußerungen aus der Bevölkerung: „Diese Probleme erregen die breite Masse der Werktätigen sehr; sie warten auf ihre Lösung. Hält man sich in den Betrieben und Behörden auf, so fragen die Arbeiter und Angestellten überall: Wann werden endlich die Renten erhöht, wann die Gehälter in Ordnung gebracht?
141 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1570, ll. 123124. 142 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, l. 2.
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Die Parteifunktionäre berichten, dass fast kein einziges Gespräch vergeht, ohne dass diese Fragen gestellt werden. Das Zentralkomitee der Partei erhält diesbezüglich zudem eine riesige Zahl an Briefen.“143
Die Notlage, in der sich ältere Menschen befanden, die auf staatliche Unterstützungsleistungen verzichten mussten, vermittelte sich Partei und Regierung allerdings nicht nur über Briefe und Eingaben, sondern auch „aus eigener Anschauung“ bzw. über Berichte, die auf den ihnen untergeordneten Hierarchieebenen erstellt wurden. So wurde Chrušþev im April 1954 von Ekaterina A. Furceva, der Ersten Sekretärin des Moskauer Stadtkomitees der KPdSU, über die steigende Anzahl von Menschen informiert, die in der Hauptstadt um Almosen bettelten. Allein in den vergangenen sechs Monaten seien 3.500 Menschen wegen solcher Aktivitäten von der Miliz aufgegriffen worden. In Bezug auf die Zusammensetzung dieser Gruppe stellte sie fest, dass sie zu einem beträchtlichen Teil aus alten und invaliden Menschen bestehe. Viele von ihnen würden sich der ihnen angebotenen Hilfe verschließen.144 Noch eindrücklicher wirkt hier ein als „geheim“ klassifizierter Bericht, den Sergej N. Kruglov, Innenminister der UdSSR, und Nikolaj P. Stachanov, Leiter der Hauptmilizverwaltung der UdSSR, bereits im Februar 1954 für die politische Führung verfassten. In ihm referierten sie über den Umstand, dass in den großen Städten und Industriezentren noch immer eine „untragbare Erscheinung“ zu beobachten sei: die Bettelei. So seien im Zusammenhang mit dem Kampf gegen „antigesellschaftliche, parasitäre Elemente“ im Zeitraum zwischen der zweiten Jahreshälfte 1951 und Ende 1953 von der Miliz insgesamt 446.925 um Almosen bittende Menschen aufgegriffen worden.145 Es bestünden kaum Unterbringungsmöglichkeiten für diese Personen. Dass das Problem der Bettelei auch hier zumindest teilweise auf die Lückenhaftigkeit des Rentensystems zurückzuführen war, ging daraus hervor, dass abermals „ein großer Teil der Bettler arbeitsunfähig und hochbetagt“ war. Nur etwa 10 % der Verhafteten würden als professionelle Bettler kategorisiert. Dem Anteil der alten und behinderten Menschen unter den Bettlern entsprach es denn auch, dass einer der von Kruglov und Stachanov empfohlenen Ansätze zur Behebung des Problems auf die sozialgesetzgeberische Aktivität des Staates zielte. Man empfahl: „Die Überprüfung der Rentengesetzgebung im Hinblick auf eine Erhöhung der Rentenhöhe. Die Erteilung von Renten an Personen, die seit der Kindheit oder infolge von Unfällen Invaliden sind, und an alleinstehende alte Menschen, die über keine anderen Existenzmittel verfügen [...].“146
143 RGANI, F. 1, op. 2, d. 3, l. 5. 144 Freilich handelte es sich bei dieser Hilfe lediglich um die Vermittlung eines Arbeitsplatzes, die für als arbeitsunfähig geltende Personen keine wirkliche Option darstellen konnte, oder um die Unterbringung in einem Invalidenheim. Vgl. RGANI, F. 5, op. 30, d. 78, l. 92. 145 Vgl. ebd., ll. 4146, hier l. 41. Diese Zahl ist ein wenig irreführend, da Bettler, die mehrmals aufgegriffen wurden, in ihr ebenso oft berücksichtigt wurden. 146 Ebd., l. 45. Vgl. auch Ivanova, Na poroge, S. 40.
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c) Systemkonkurrenz Die staatlichen Maßnahmen zur Anhebung des allgemeinen Lebensstandards – und damit auch die Rentenpolitik – sind des Weiteren im Kontext der Systemkonkurrenz zu betrachten. In seinem Schreiben vom 25. Oktober 1955 verwies Chrušþev auf die unvorteilhafte Außenwirkung, die mit entsprechenden Defiziten einherging. Ausländische Besucherdelegationen würden große Aufmerksamkeit darauf verwenden, „wie bei uns die Fragen der Erwerbsvergütung und der Rentenversorgung entschieden werden“. Nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer würden die Mitglieder dieser Gruppen in der Presse Artikel veröffentlichen, die dem Prestige der UdSSR durch den Nachweis schadeten, „dass es um die Rentenversorgung in einer Reihe von bourgeoisen Staaten besser bestellt ist als in der Sowjetunion“.147 Zwar sollten noch sechs Jahre vergehen, bis im neuen Programm der KPdSU die Zielvorgabe formuliert wurde, dass in der UdSSR ein allgemeiner Wohlstand erzeugt werden solle, „der höher ist als in jedem beliebigen kapitalistischen Land“.148 Der Wettbewerb auf diesem Gebiet besaß für die politische Führung jedoch bereits Mitte der 1950er Jahre einen hohen Stellenwert. Ein Aspekt der für die Phase der Entstalinisierung charakteristischen außenpolitischen Konzeption der „friedlichen Koexistenz“ bestand ja gerade in der Verlagerung der Konkurrenz auf den Bereich des Lebensstandards. Ziel war die Übertragung „des internationalen Klassenkampfes [...] auf das Feld der Ökonomie und des Vergleichs im Lebensstandard der Bevölkerung“.149 Die UdSSR befand sich deshalb unter Zugzwang, seitdem nach dem Zweiten Weltkrieg in Großbritannien und anderen westlichen Staaten umfangreiche Maßnahmen zur Absicherung der Bevölkerung gegen soziale Risiken eingeleitet worden waren.150 Zudem sah sich die Sowjetunion mit Bestrebungen der internationalen Gemeinschaft konfrontiert, universell geltende Standards der sozialen Sicherung einzuführen. Diese resultierten 1947 in der Gründung der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS), der sich zehn Jahre später auch die RSFSR anschloss.151 Zudem wurde in Art. 22 der am 10. Dezember 1948 von der UN-Generalversammlung verkündeten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ ebenfalls das Recht der Mitglieder einer Gesellschaft auf soziale Sicherheit festgehalten. Schließlich verabschiedete die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) im Jahr 1952 das Übereinkommen Nr. 102 „Über die Mindestnormen in der sozialen Sicherheit“, das u. a. Empfehlungen zur Gestaltung einer Altersrentenversorgung beinhaltete, die mindestens 50 % aller Arbeitnehmer eines Landes umfassen sollte (Art. 27).152 147 148 149 150 151 152
Ebd. Programm der Kommunistischen Partei, S. 107. Beyrau, Das sowjetische Modell, S. 51. Vgl. auch Merl, Entstalinisierung, S. 177. Siehe Abs. 8.2. Vgl. Inapcha, Meždunarodnaja associacija. Zwar wurde die Konvention nicht von der UdSSR ratifiziert, doch zeigen Äußerungen wie die von Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 59, dass ihre Maßstäbe von sowjetischen Fachleuten sehr wohl ernst genommen wurden. Mitglied in der IAO wurde das
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Ein mit der Rentenreform verbundenes Ziel bestand denn auch in der Gewährleistung eines Versorgungsniveaus, das den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchte. Auf Anweisung Kaganoviþs wurde innerhalb des Goskomtrud eine spezielle Gruppe eingerichtet, die sich der sorgfältigen Betrachtung von Rentenregelungen widmen sollte, die sowohl in kapitalistischen Ländern als auch in den verbündeten Volksdemokratien Geltung besaßen. Dadurch wollte man erreichen, wie Goroškin befand, dass „der neue Gesetzentwurf [...] progressiv ist, die Interessen der Werktätigen weitaus besser berücksichtigt und nicht in einer einzigen grundlegenden Bestimmung schlechter ausfällt als jene Gesetze, die man im Ausland verabschiedet hat“.153
Gleichzeitig diente ein solches Studium auch der eigenen Weiterbildung: Um die verschiedenen Fragen der Rentenreform bestmöglich zu beantworten, meinte man in Erfahrung bringen zu müssen, wie diese im Ausland geregelt worden waren.154 Der Nachweis der Vorteilhaftigkeit des sowjetischen Lösungsansatzes stellte in der Folge einen wichtigen Bestandteil jener Berichte dar, die über die Errungenschaften des Reformprojekts bzw. des verabschiedeten Gesetzes informierten. Als der Goskomtrud-Vorsitzende im Herbst 1955 dem ZK der KPdSU und dem Ministerrat von einer vorläufigen Entwurfsfassung berichtete, ordnete er diese auch in einen internationalen Kontext ein: „Der [hier] vorgestellte Gesetzentwurf sieht Bedingungen für eine Altersrentenversorgung vor, die bedeutend günstiger ausfallen als in jedem beliebigen anderen Land [...]. Die Rentenversorgung der Arbeiter und Angestellten wird in der UdSSR auf Kosten des Staates durchgeführt, während hingegen der Rentenfonds in kapitalistischen Ländern (USA, England etc.) aus [...] den Beiträgen der Arbeiter selbst gebildet wird, was genau genommen ihr Erwerbseinkommen verringert. Der Rentenanspruch leitet sich [in der Sowjetunion] vom Dienstalter ab, wobei Personen, die schwierige und schädliche Arbeiten ausführen, Vorteile genießen. In kapitalistischen Ländern definiert sich das Recht auf eine Rente über die Zahl der Versicherungsbeiträge, d. h. den Umfang der Mittel, die von den Werktätigen selbst in den Sozialversicherungsfonds [...] eingezahlt wurden.“
Kaganoviþ verwies des Weiteren auf das Rentenalter, das in der UdSSR um 5–15 Jahre niedriger ausfallen werde als in den USA, Frankreich und England. Er schloss mit der Bemerkung, dass die im Entwurf vorgesehenen Rentenbezugsbedingungen auch im Vergleich mit mehreren sozialistischen Staaten besonders günstig ausfielen.155 Bereits hier finden sich die charakteristischen Merkmale, die nach 1956 den sowjetischen Eigenvergleich mit der ausländischen Sozialgesetzgebung kennzeichnen sollten. Zum einen wurde die Leistungsfähigkeit ausländischer Rentensysteme über den Verweis darauf entwertet, dass hier die Arbeitnehmer im – Land 1954. Zur sowjetischen Perspektive auf die Arbeit dieser Organisation vgl. Ivanov, International Labour Conventions. 153 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, l. 4. 154 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, ll. 102105. In ebd., d. 90, ll. 131175, finden sich entsprechende Berichte zur Rentenversorgung in Polen, den USA, Frankreich, Italien, China, Ungarn, Rumänien, der ýSSR und Jugoslawien. Eine Gegenüberstellung des Reformentwurfs und ausländischer Gesetzgebung bietet GARF, F. R 7523, op. 45, d. 45, ll. 1626. 155 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 93, ll. 255256.
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scheinbaren156 – Gegensatz zur sozialistischen Verfahrensweise ihre Absicherung selbst finanzieren mussten. Zum anderen reduzierte man die jeweils gewährleistete Versorgungsqualität auf eine Reihe leicht kommunizierbarer Parameter wie denjenigen des Rentenalters oder der Zahl der einer Rentenerteilung notwendigerweise vorangehenden Arbeitsjahre. Unberücksichtigt blieben dabei Aspekte, die der propagandistischen Wirkung abträglich gewesen wären, wie etwa die Reichweite der Sicherungsmaßnahmen oder das Verhältnis zwischen Leistungsniveau und Existenzminimum. Dass das Reformwerk auch eine Botschaft an den Westen, einen Beitrag zum Wettlauf der Systeme darstellte, vermittelte sich auch in den Tagen, die auf seine Verabschiedung folgten. Am 16. Juli 1956, einen Tag nach der Veröffentlichung des Gesetzes, widmete sich ein Pravda-Leitartikel noch einmal der Nachbereitung dieses „Zeugnis[ses] der echten Volksverbundenheit der sowjetischen Gesellschaftsordnung“. Sein Verfasser deutete die Staatsrentenreform als Widerlegung der „verleumderischen Kampagne“, die in der westlichen Presse geführt werde, um den demokratischen Charakter des Sowjetsystems zu diskreditieren und den eigenen Werktätigen dessen Errungenschaften vorzuenthalten: „Aber wie sich die Verleumder auch winden mögen, es wird ihnen nicht gelingen, die Hauptsache zu verdunkeln: Das Wesen der Demokratie besteht nicht in den formalen Merkmalen, sondern darin, dass die politische Macht dem Volke dient, seinen Willen und die grundlegenden Interessen der Mehrheit des Volkes, der Mehrheit der Werktätigen ausdrückt. Die gesamte Politik des Sowjetstaates zeigt anschaulich, dass sein höchstes Ziel und seine tägliche Sorge in der allseitigen Erhöhung des Lebensstandards der Bevölkerung bestanden und bestehen [...].“157
d) Schaffung eines Anreizes zur Steigerung der Arbeitsproduktivität Die sowjetische Entstalinisierungspolitik lässt sich auch als Bündel von Maßnahmen deuten, mit denen die berufstätige Bevölkerung zu einem erhöhten Einsatz am Arbeitsplatz bewegt werden sollte. Neben der bereits erwähnten hohen Personalfluktuation litt die gesamtwirtschaftliche Produktivität insbesondere unter der äußerst niedrigen Arbeitsmoral der Beschäftigten, die sich dem innerbetrieblichen Druck durch Fehlzeiten und mangelnde Leistungsbereitschaft zu entziehen suchten. Vor allem in dieser begrenzten Motivation erblickte die neue Führung um Chrušþev den wichtigsten Grund dafür, dass die gesamtwirtschaftliche Produktion vor dem Hintergrund des eingesetzten Kapitals und der Zahl der verwendeten Arbeitskräfte nur vergleichsweise bescheidene Erträge zu erbringen vermochte. Um die Industrialisierung des Landes voranzutreiben, hoffte man nun, von einem extensiven Wachstumsmodus zu einer intensiven Form der Ertragssteigerung übergehen zu können. Die Lösung des Problems wurde darin gesehen, dass man für die arbeitende Bevölkerung in weit größerem Umfang als zuvor materielle Anreize schuf. 156 Zur Frage des Eigenbeitrags sowjetischer Bürger siehe Abs. 6.2.1. 157 Novoe jarkoe svidetel’stvo podlinnoj narodnosti sovetskogo stroja, in: Pravda vom 16. Juli 1956, S. 1.
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Sie würden die Menschen zur Arbeit in bestimmten, als wichtig verstandenen Industriezweigen und ganz allgemein zur Steigerung der eigenen Leistung bewegen: Die Arbeit sollte sich lohnen, indem sie die Grundlage für einen als ausreichend empfundenen und sich direkt aus dem persönlichen Einsatz ableitenden Lebensstandard darstellte.158 Das reformierte Lohn- und Tarifsystem stellte einen und wohl den wichtigsten Hebel zur Erreichung dieses Ziels dar. Aber auch der Rentenpolitik wurde hier ein sehr ähnlicher, um nicht zu sagen: identischer, Effekt zugewiesen. Deutlich wird dies an der Vehemenz, mit der im Rahmen der Diskussion des Gesetzentwurfs einer Stärkung des Prinzips des „Jedem nach seiner Leistung“ und – damit verbunden – der Beseitigung der „Gleichmacherei“ das Wort geredet wurde. In ähnlicher Weise wie 25 Jahre zuvor, als derselbe Vorwurf gegen den während der Neuen Ökonomischen Politik verfolgten Ansatz erhoben worden war, zieh man nun die stalinsche Rentenpolitik der übermäßigen Nivellierung. Eine solche wurde vor allem mit der seit 1932 geltenden Obergrenze bei der Festsetzung der gewöhnlichen Altersrenten assoziiert. So verursachte Bulganin zufolge „ein derartiges Verfahren bei der Errechnung der Renten Gleichmacherei in den Bezügen, da Werktätigen bei jeglichem Verdienst über 300 R* monatlich die gleiche Rente gewährt wurde“.159
Von der Beseitigung des Limits und der zukünftigen Ableitung des monatlich ausgezahlten Betrags vom tatsächlichen Erwerbseinkommen des Arbeitnehmers erhoffte man sich nun eine Steigerung der individuellen Arbeitsproduktivität.160 Mitte der 1970er Jahre fasst N. M. Pavlova diesen Gedanken noch einmal zusammen: „Um über einen entsprechenden materiellen Wohlstand zu verfügen, strebt der Mensch, der sich im arbeitsfähigen Alter befindet, danach, die Ergebnisse seiner Arbeit zu verbessern. Er weiß, dass sich dies in der Zukunft auf die Höhe seiner Rente niederschlagen wird. Dadurch, dass der Staat Mittel für die Rentenversorgung zur Verfügung stellt, erzeugt er bei den Beschäftigten einen zusätzlichen Anreiz zur ununterbrochenen Weiterqualifikation, zu einer produktiveren und effektiven Arbeit [...].“161
Die Reform von 1956 sah darüber hinaus noch weitere Maßnahmen zur Stärkung des „sozialistischen Leistungsprinzips“ in der Altersrentenversorgung vor. So sollten die Uneinheitlichkeit und Irrationalität, die die Zuteilung von erhöhten Renten bestimmt hatten, korrigiert werden. Vergünstigte Bedingungen sollten jedoch weiterhin Arbeitnehmer zur Wahl von Berufen mit besonders schweren Ar158 Vgl. Filtzer, Labour, S. 118120; ders., The Soviet Wage Reform, S. 88; Merl, Jeder nach seinen Fähigkeiten, S. 282. 159 Bulganin, Der Entwurf, S. 17. 160 So konstatiert etwa Moskalenko, Zakon, S. 21: „Indem es die Anhebung des Niveaus der Rentenversorgung direkt von den Erfolgen bei der Entwicklung der sozialistischen Wirtschaft abhängig macht und die Rentenhöhe vom mittleren Erwerbseinkommen des Beschäftigten, stimuliert das Gesetz das Interesse der Arbeiter und Angestellten an den Resultaten ihrer Arbeit, an dem weiteren Anstieg der sozialistischen Produktion.“ 161 Pavlova, O differenciacii, S. 1196.
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beitsbedingungen motivieren. Schließlich deutete man auch die Einführung von Zuschlägen z. B. für einen besonders langen oder für einen ununterbrochenen staž als Wege, mit denen man sowohl besondere Leistungen honorieren als auch einen positiven Effekt auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität erzeugen konnte.162
e) Verjüngung der Arbeitskräfte und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit Nicht nur im Hinblick auf die gegen die uravnilovka gerichtete Stoßrichtung, sondern auch in einem weiteren wichtigen Aspekt rekurrierte die neue Führung bei der Reform des Altersrentensystems auf ältere Vorstellungen. Wie erwähnt, hatte ein Hauptmotiv für die erstmalige Einführung von Ruhestandsregelungen in der Entfernung älterer Arbeiter aus dem Produktionsprozess bestanden. Identische Überlegungen prägten nun die Reformvorbereitung von 1955/56, mit dem wichtigen Unterschied freilich, dass nun nicht mehr einzelne Branchen, sondern sämtliche Bereiche der Volkswirtschaft „entlastet“ werden sollten. So endete ein als „streng vertraulich“ gekennzeichneter Bericht der für die Endredaktion des Reformprojekts verantwortlichen Bulganin-Kommission (siehe unten) mit dem Verweis darauf, dass das neue Gesetz „den Abgang betagter Arbeiter und Angestellter fördert, die gegenwärtig aufgrund der äußerst niedrigen Rentenhöhen ihre Arbeitstätigkeit fortsetzen“.163 Einen solchen „Abgang“ wollte man allerdings nicht mehr erzwingen: Das über die neuen staatlichen Renten gewährleistete Versorgungsniveau sollte so hoch ausfallen, dass für den gewöhnlichen Ruheständler die Notwendigkeit zum Zuverdienst entfiel. Darüber hinaus gedachte man, es dem Einzelnen weiterhin freizustellen, seine Arbeitstätigkeit parallel zum Leistungsbezug fortzusetzen, so er dies denn beabsichtigte. Allerdings, und hier setzte der Reformhebel an, würde ihm dann im Regelfall nur eine sehr niedrige pauschale Rentenleistung ausgezahlt werden: Die Weiterarbeit sollte sich nicht mehr lohnen.164 Eine offenkundige Parallele zu der Situation um 1928/29 bestand auch im Hinblick auf die Gründe für das neu entflammte staatliche Interesse an einer Beförderung der älteren Jahrgänge in den Ruhestand: Zum einen diente dieser Schritt der Optimierung der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit; zum anderen lässt er sich als eine Maßnahme zur Bekämpfung einer Arbeitslosigkeit interpretieren, die Mitte der 1950er Jahre bedrohliche Züge annahm. Wie 28 Jahre zuvor stand bei der Einschätzung der Arbeitskraft älterer Beschäftigter nicht deren Berufsund Lebenserfahrung im Mittelpunkt, sondern ihre – vermeintlich oder tatsächlich – eingeschränkte Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit. Dass eine solche Wahr162 Vgl. Sazonov Fajans, Zakonodatelތstvo, S. 172. 163 Prezidium CK KPSS 19541964 (Bd. 2), S. 279. 164 Deutlich geht diese Intention aus dem Ergebnis-Protokoll einer Goskomtrud-Sitzung vom 13. September 1955 hervor, dem zufolge arbeitenden „Rentnern [...] die Rente in einer Höhe ausgezahlt werden [soll], die nicht zu ihrer weiteren Arbeit anregt“. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, l. 112.
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nehmung in sowjetischen Betrieben keine Seltenheit war, legt das Protokoll eines im August 1955 einberufenen Treffens von Goskomtrud-Mitarbeitern mit den Leitern der Gewerkschaftskomitees einiger sowjetischer Großbetriebe nahe. Bei dieser Gelegenheit befand z. B. der Vertreter des ZiS-Automobilwerks Gruzincev: „Die Produktivität der Arbeit von Rentnern ist niedrig. Allein dem Mitleid ist es zuzuschreiben, dass man sie nicht entlässt.“ In ähnlicher Weise stellte auch der Gewerkschafter ýichaþev vom Moskauer Serp i molot-Metallwerk fest, dass den betagteren Beschäftigten die Arbeit schwerfalle. Dementsprechend bemühe sich die Verwaltung darum, „sie unter den verschiedensten Vorwänden [...] zu entlassen“.165 Zwar gab es unter den in die Reformvorbereitung einbezogenen Personen auch Fachleute, die vor dem Hintergrund des allgemeinen Arbeitskräftemangels Einwände gegen die beabsichtigte Verschärfung der Weiterarbeitsregelungen erhoben. So sprach sich auf einer diesem Thema gewidmeten Goskomtrud-Sitzung (12. Oktober 1955) eine Mehrheit der sich zu Wort meldenden Teilnehmer für Alternativen zum Modell des niedrigen Pauschalbetrags für erwerbstätige Ruheständler aus.166 Grigorij P. Kosjaþenko, Stellvertretender Leiter des Gosplan der UdSSR, verwies dabei auf die wichtige Funktion, die ältere Arbeitskräfte speziell dort ausübten, wo es an niedrig qualifiziertem und gering entlohntem Personal mangelte.167 Die Goskomtrud-Leitung überzeugten solche Einwände jedoch nicht. Goroškin unterstrich, dass das neue „Gesetz in erster Linie die Situation der nicht arbeitenden [Rentner] zu verbessern beabsichtigt“. Und Kaganoviþ konstatierte in seinem Schlusswort, dass der „Vorschlag, den arbeitenden Ruheständlern die Rente in Abhängigkeit von ihrem Verdienst auszuzahlen, [...] nicht angenommen werden [kann]. Es steht zu befürchten, dass ein Abgang der arbeitenden Rentner in den Ruhestand nicht erfolgt; hierunter darf die Volkswirtschaft nicht leiden. [...] Die Rente für die arbeitenden Rentner ist in der Höhe von 150 R* zu belassen, um die gegenwärtige [wirtschaftliche] Lage nicht zu verschlechtern.“168
165 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, l. 231. Für die Verbreitung einer solchen Geringschätzung des Arbeitsbeitrags der Älteren sprechen auch Berichte, denen zufolge in sowjetischen Betrieben ein gegenüber der Rentnerweiterarbeit nicht sehr aufgeschlossenes Klima herrschte. So stellt Žiromskaja, Problemy, S. 30, diesbezüglich fest, dass „in den Kollektiven häufig ein für den Rentner ungünstiges Klima“ entstanden war. Auch Vorošilovs Briefabteilung wusste von einer Reihe von Briefen zu berichten, in denen Alte und Invalide beklagten, dass sie aufgrund des niedrigen Rentenniveaus einer Erwerbstätigkeit nachgehen mussten, jedoch keine einstellungswilligen Arbeitgeber finden konnten. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, l. 273. 166 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, ll. 112114. 167 Ebd., l. 113. Damit nahm er ein Argument vorweg, das bei der ab 1961 vollzogenen Auflockerung der Bestimmungen zur Anwendung kommen sollte. Siehe Abs. 2.1.6.2. 168 Ebd., l. 115. In identischer Weise verteidigte man die Weiterarbeitsbestimmungen auch während der Diskussion des in der Presse veröffentlichten Gesetzentwurfs. Die zuständige Unterkommission des Obersten Sowjets der UdSSR (siehe unten) begründete den Pauschalbetrag in diesem Zusammenhang damit, dass eine vollständige „Rentenauszahlung [...] keinen Anreiz für die Einstellung der Arbeitstätigkeit durch betagte Menschen schaffen wird. Der Verbleib der Alten am Arbeitsplatz wird jedoch keine Anhebung der Arbeitsproduktivität ermöglichen.“ GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 48, l. 114.
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Neben der Steigerung der wirtschaftlichen Leistungskraft mochte man mit der Entfernung der älteren Arbeiter und Angestellten allerdings auch auf eine Entspannung am Arbeitsmarkt gezielt haben. Offiziell hieß es zwar, dass man das Problem der Erwerbslosigkeit überwunden habe.169 Dass diese Behauptung der tatsächlichen Situation jedoch nicht zur Gänze entsprach, ist keine neue Erkenntnis. So lässt sich der Umstand, dass Arbeitskräfte in den Betrieben über den tatsächlichen Bedarf hinaus „gehortet“ wurden, als eine in der UdSSR weitverbreitete Form der „verdeckten Arbeitslosigkeit“ interpretieren.170 Daneben existierte allerdings auch eine offene, formal jedoch nicht registrierte Arbeitslosigkeit. So litten die Beschäftigten der Kollektivwirtschaften im Winter häufig unter saisonaler Beschäftigungslosigkeit.171 Keine Seltenheit war es zudem, dass Arbeiter und Angestellte, die ihren Arbeitsplatz wechselten, einige Monate ohne Einkommen überbrücken mussten, bis sie eine neue Anstellung antreten konnten. Unabhängig von einer solchen friktionellen Arbeitslosigkeit gelang es dem Regime allerdings auch nicht immer, sämtliche Arbeitssuchende mit einer Tätigkeit auszustatten. Betroffen hiervon waren zum einen Frauen, für die es speziell zwischen dem Ende der 1950er und der Mitte der 1960er Jahre nicht im ausreichenden Umfang adäquate Stellen gab. Zum anderen fiel es vor allem jungen Menschen in strukturschwachen Regionen oft schwer, nach Beendigung ihrer Schulausbildung übergangslos in das Erwerbsleben zu wechseln.172 Mitte der fünfziger Jahre war die Situation nun insofern eine besondere, als dass weitere Personengruppen auf den Arbeitsmarkt drängten und über einen längeren Zeitpunkt nicht in Beschäftigungsverhältnisse vermittelt werden konnten. Die Briefabteilung des Präsidiums des Obersten Sowjets erstellte aus diesem Anlass eine Reihe von Berichten. In ihnen referierte sie über Äußerungen aus der Bevölkerung, in denen über eine „Vielzahl von Fällen, in denen Arbeiter und Angestellten entlassen wurden, über temporäre Arbeitslosigkeit, über die Schwierigkeiten bei der Beschaffung einer anderen Anstellung“ berichtet wurde. Dabei würden die diesbezüglichen Fragen nicht selten in einem äußerst scharfen Ton vorgebracht.173 Zum einen waren insbesondere jene Rückkehrer, die nach 1953 in großer Zahl aus dem Lagersystem und der Verbannung in die Freiheit entlassen worden waren, mit massiven Problemen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz konfrontiert. Die mangelnde Bereitschaft vieler Personalleiter, ehemalige Häftlinge selbst bei einem dringenden Bedarf an Arbeitskräften einzustellen, entzog diesen Menschen die Lebensgrundlage.174 Zu den betroffenen Bevölkerungskreisen gehörten aber 169 170 171 172
Vgl. Morozov, Za bortom, S. 175; Suvorov, Istoriþeskij opyt. Vgl. Beyme, Reformpolitik, S. 8184. Vgl. Jaehne, Sonderstellung, S. 172; U.S. Department of Health, A Report, S. 9. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, l. 12. Vgl. Porket, Work, S. 101110; Brown, A Note, S. 234; Derix, Arbeitslosigkeit, S. 621. 173 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, l. 112. 174 So hieß es etwa in einer für Vorošilov zusammengestellten Information der Briefabteilung vom 18. Mai 1956: „Im Zusammenhang mit den in den letzten Jahren erlassenen Amnestien wurden viele Bürger aus der Haft befreit. Nachdem sie nach Hause zurückgekehrt sind, möch-
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ebenfalls Offiziere und einfache Soldaten, die im Zuge des Abbaus der Streitkräfte in großer Zahl aus der Armee entlassen worden waren.175 Unter Erwerbslosigkeit litten allerdings auch viele reguläre Arbeitnehmer, und hier insbesondere die Angestellten. Dafür verantwortlich war ein drastischer Stellenabbau in sowjetischen Ministerien und Behörden, den Stalins Nachfolger im Herbst 1954 eingeleitet hatten. Um dem „Bürokratismus“, der mangelnden Effektivität und den ausufernden Kosten der Verwaltung entgegenzuwirken,176 hatten das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR am 14. Oktober 1954 die Verordnung Nr. 2150 „Über die bestehenden Mängel in der Struktur der Ministerien und Behörden der UdSSR sowie Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeit des Staatsapparats“177 erlassen. Das in ihr verkündete Ziel bestand in der Verringerung der Personalstärke des zentralen Staatsapparats und der ihm untergeordneten Organisationen und Einrichtungen um 450.000 Menschen (7 %), von der man sich jährliche Einsparungen in Höhe von 500 Mio. R versprach. Wie viele Menschen von den Maßnahmen tatsächlich berührt wurden, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten, aber die Vermutung liegt nahe, dass ihre Zahl beträchtlich war.178 Betroffen waren allerdings nicht nur die Angestellten, sondern auch Arbeiter. So wurde Vorošilov von seiner Briefabteilung im März 1955 darüber informiert, dass auch „Kaderarbeiter, die in dem einen oder anderen Industriezweig jahrzehntelang tätig waren, über eine große Produktionserfahrung und hohe Qualifikation verfügen“179 zu den Entlassenen gehörten. Verantwortlich für diese Entwicklung war, dass manche Betriebsleiter Mitglieder des Verwaltungspersonals, deren Stellen gestrichen worden waren, in die Produktion versetzten. Opfer der Verschiebungen waren nun diejenigen Arbeiter, die sich keiner vergleichbaren Kontakte zur Leitungsebene erfreuten und entlassen wurden, um den ehemaligen Angestellten „Platz zu machen“.180 Personen ohne Anstellung sollten idealiter umgehend
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ten sie mit einer Arbeit anfangen, doch bei weitem nicht alle können eine solche erhalten. Nicht nur in ihrem Fachgebiet, sondern auch in jedem anderen Bereich nicht. Viele weisen daraufhin, dass die Leiter von Einrichtungen und Betrieben sie sogar dann nicht einstellen wollen, wenn es Vakanzen gibt. Der einzige Grund hierfür ist ihre Vorbestraftheit.“ GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, l. 12. Vgl. auch Adler, The Gulag Survivor, S. 164167; Sprau, Rückkehr, S. 6474. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, l. 212; d. 1570, l. 249; d. 1582, l. 10. Vgl. Umbau des Staatsapparates, S. 2095. Rešenija partii i pravitelތstva, S. 144150. Šestakov, Socialތno-ơkonomiþeskaja politika, S. 167, interpretiert die in der Verordnung anklingende Kritik an der Arbeit des Partei- und Staatsapparats als ein Ergebnis des schleichenden Machtverlusts Malenkovs, der in seine bald darauf erfolgenden Absetzung als Ministerratsvorsitzender münden sollte. Der sowjetische Finanzminister A. G. Zverev stellte im Februar 1955 vor dem Obersten Sowjet der UdSSR fest, dass der Personalbestand der Unionsverwaltungen Ende 1954 20,6 % unter demjenigen des Jahres 1952 lag. Laut Churchward, Contemporary Soviet Government, S. 301, reduzierte sich die Zahl der in der Administration beschäftigten Personen zwischen 1954 und 1959 um 568.000 Personen. Ihr Anteil an der Gesamtzahl sowjetischer Arbeitnehmer sank in diesem Zeitraum von 14,0 % auf 9,7 %. Vgl. auch Hofmann, Wohin steuert, S. 70; Manochin, Porjadok, S. 51 u. 76. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, l. 112. Vgl. ebd., ll. 120121.
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mit neuen Positionen ausgestattet werden. Hierbei ergaben sich allerdings erhebliche Schwierigkeiten, wie sich anhand der Berichte der Briefabteilung erkennen lässt. Viele Bürger erhielten bei der Arbeitssuche keinerlei Unterstützung von Seiten der früheren Arbeitgeber und anderer Instanzen, so dass sie auf ihre Eigeninitiative angewiesen blieben. Personen, die über einen längeren Zeitraum keine Stelle fanden, befanden sich dabei häufig in großer Not. Eine Arbeitslosenhilfe existierte ja nicht mehr. Zudem war man nicht selten genötigt, behördeneigene Wohnungen zu verlassen oder aus Wohnheimen auszuziehen.181 Eine belastbare Aussage darüber, wie viele Menschen genau Mitte der 1950er Jahre über einen längeren Zeitraum hinweg arbeitslos blieben, fällt naturgemäß schwer. Dass es sich hier um eine verbreitete Erscheinung handelte, ist jedoch nicht in Zweifel zu ziehen, wenn man sich allein die Vielzahl der Klagen und Eingaben vor Augen führt, die deshalb an das Präsidium des Obersten Sowjets geschrieben wurden.182 Zumindest für die RSFSR vermittelt sich ein Eindruck von der Größe des Bevölkerungsteiles, der im Mai 1956 keinerlei Erwerbsentgelt bezog: Das Innenministerium der Republik berichtete, dass zu diesem Zeitpunkt etwa 75.000 städtische Bürger arbeitslos waren.183 Gesetzt den Fall, dass die Zahl nicht zu niedrig angesetzt war, nimmt sich eine derartige Größenordnung gewiss bescheiden aus, wenn man sie mit der Situation im westlichen Ausland vergleicht. Dennoch ist davon auszugehen, dass ein solches Ausmaß an Arbeitslosigkeit die Führung unter Druck setzte, weil es sich hier um eine in den Städten überaus sichtbare Erscheinung handelte. Berichten zufolge standen die Arbeitssuchenden zu Dutzenden und Hunderten vor Einrichtungen und Betrieben, um dort eine Anstellung zu erhalten.184 Bedrohlicher als die Situation der in ihrer Existenz gefährdeten Menschen selbst musste dem Regime der Eindruck erscheinen, den sie auf den Rest der Bevölkerung machten. Schließlich widerlegte eine verbreitete, nicht zu verschleiernde Arbeitslosigkeit ein zentrales Ideologem der sowjetischen Sozialpropaganda. Dass dieser Widerspruch im Verhältnis zu den offiziellen Ver181 Ein Beispiel für die bedrohliche Situation, in der sich die Betroffenen befanden, bietet das Schicksal des V. A. Ivasenko, der früher in einer Versorgungsabteilung der Moskauer Staatsuniversität angestellt gewesen war. Im Mai 1956 schrieb er an Vorošilov über die Lage, in der sich seine Familie befand: „[...] meine Kinder hungern und die Qualen und Leiden meiner Familie [nehmen] kein Ende [...]. Der zehnte Monat geht zu Ende, in dem ich, ein Familienvater, ein fleißiger und arbeitsfähiger Mensch, keine Arbeit habe und über absolut keine Mittel verfüge. Überall begegne ich großer Gleichgültigkeit. [...] Die sich beinahe über zehn Monate hinweg erstreckende Arbeitslosigkeit hat mich zermürbt, mir alle Kraft und meine mehr als bescheidenen Mittel genommen. [...] Bis zu den Ohren stecke ich in den Schulden. Ich benötige unbedingt Arbeit, damit ich meine Familie ernähren kann, die aus vier Personen besteht, [...] damit meine Kindern nicht hungern [...].“ GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, l. 9. 182 In den ersten beiden Monaten des Jahres 1955 gingen 12.000 Briefe zu dieser Frage ein. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, l. 112. In der Folge reduzierte sich die entsprechende Zahl, doch auch jene noch knapp 17.000 Briefe, die man im Zeitraum November 1955 bis April 1956 registrierte, zeugen davon, dass Schwierigkeiten bei der Arbeitsvermittlung weiterhin ein beträchtliches Problem darstellten. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, l. 8. 183 Vgl. ebd., l. 16. 184 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, ll. 115 u. 119.
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lautbarungen auch von den Bürgern wahrgenommen wurde, belegt z. B. der Brief eines gewissen Voronov: „Es wird über Amerika geschrieben, dass es im Ausland viel Arbeitslosigkeit gibt, dass man dort streikt. Aber warum schreiben unsere Zeitungen denn nicht über unseren Staat, in dem es auch viel Arbeitslosigkeit gibt? Nehmen wir nur Moskau. Wie viele Erwerbslose irren in den Straßen von einem Moskauer Auskunfts- und Informationsbüro zum nächsten, ohne vermittelt werden zu können. Dies verursacht groben Unfug, Raub und Trunkenheit.“185
Als außergewöhnlich und dringend ein staatliches Eingreifen erfordernd stuften auch die Mitarbeiter der Briefabteilung dieses Problem ein.186 Man hielt es im Rahmen einer im Mai 1956 für Vorošilov zusammengestellten Information sogar für angeraten, „im gesamtstaatlichen Maßstab Maßnahmen zu ergreifen, um sämtliche Bürger, die einer Arbeit bedürfen, mit einer solchen zu versorgen“.187 Es scheint also möglich, dass die Reform der Altersversorgung eine solche Maßnahme darstellte, dass man sich an die Funktion erinnerte, die den Altersrenten Ende der zwanziger Jahre zugeschrieben worden war, und mit der Verrentung älterer Beschäftigter neue Arbeitsplätze schaffen wollte. Dergestalt spricht auch einiges für die Annahme, dass das auch 1956 nachweisbare Bestreben, eine Verjüngung der Arbeitskräfte zu erreichen, nicht nur auf den Wunsch nach einer Produktivitätssteigerung zurückzuführen war. Wie gesehen, waren ja gerade die Jungen, die Schulabsolventen, prominent unter den Bürgern vertreten, die auf die Vermittlung einer Stelle warteten. Belegen lässt sich zumindest, dass in Teilen der Bevölkerung die Meinung existierte, dass ältere Bürger mit dafür verantwortlich waren, dass jüngeren Arbeitnehmern Beschäftigungsmöglichkeiten verwehrt blieben. Eindrücklich wurde dieser Gedanke von einer „Gruppe von Arbeitern“ formuliert, die im Februar 1955 an Vorošilov, Bulganin und Chrušþev schrieb. Die Verfasser beklagten sich über die „in der Geschichte noch nie dagewesene Erwerbslosigkeit“, in deren Folge „jeder dritte Bürger keine Arbeit hat, ohne Rücksicht auf seinen Beruf und seine Parteizugehörigkeit“. Eine der Fragen, die die Gruppe dabei stellte, berührte die Regelungen zur Weiterarbeit: „In unserem Land existiert eine riesige Armee von Rentnern. Man muss sagen, dass es solche gibt, die diese Unterstützung verdienen, und solche, die sie nicht verdienen. Nun setzt ein großer Teil der Rentner die Arbeit fort, besetzt bestimmte Posten, bezieht dafür einen Verdienst und gleichzeitig auch die Rente. Bekanntermaßen mildern sich die an Rentner gestellten Arbeitsanforderungen, und das schlägt sich auch in der Arbeit nieder. Sobald ein Arbeitsplatz als Planstelle einmal besetzt ist, kann man keinen anderen mehr dorthin versetzen. Sollte man dies nicht in Ordnung bringen, damit der Staat davon profitiert, wenn der Rentner eine Rente erhält und zu Hause sitzt [...]?“188
185 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, l. 8. 186 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, l. 117. 187 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, ll. 1616 ob. Dass Vorošilov dieser Einschätzung folgte, legt der Umstand nahe, dass Kopien des Berichts an Chrušþev, Bulganin, Mikojan und andere Mitglieder des Präsidiums des ZK der KPdSU gesendet wurden. 188 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, l. 121.
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2.1.2.2. Die Vorbereitung und Verabschiedung des Staatsrentengesetzes Effektiv wurde die Vorbereitung des Staatsrentengesetzes erst nach Stalins Tod eingeleitet. Somit stellt die Reform eine Leistung dar, die fraglos mit dem neuen Regime zu assoziieren ist. Dessen ungeachtet verfügten manche Fachleute und Funktionäre auch zuvor schon überein Bewusstsein dafür, dass das Rentensystem einer Überarbeitung bedurfte. Hauptkritikpunkt war dabei die Unübersichtlichkeit der Vorschriften. Für eine Unifizierung der auf eine Vielzahl normativer Akte verteilten Gesetzgebung sprachen sich einzelne Autoren bereits Ende der 1930er Jahre aus.189 Darüber hinaus finden sich Indizien dafür, dass nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges auch in Regierungskreisen über eine grundlegende Reform der allgemeinen Rentenversorgung nachgedacht wurde. Auf Anweisung von Aleksandr N. Poskrebyšev, Vorsitzender der Kommission für Gesetzesvorschläge des Obersten Sowjets der UdSSR, erstellte das Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung 1947 einen Entwurf für einen neuen Rentenkodex. Dem Begleitschreiben des Ministers Aleksej N. Suchov zufolge zielte man dabei auf die Vereinheitlichung der Gesetzgebung und die Anpassung der Renten an die allgemeine Entwicklung der Löhne und Gehälter.190 Die in dem Entwurf vorgesehenen Bezugsvoraussetzungen für eine Alterssicherung orientierten sich an Richtwerten, die z. T. auch in die Bestimmungen des Gesetzes von 1956 eingehen sollten. Dies betraf insbesondere das Rentenalter, das sich für Männer auf 60 und für Frauen auf 55 Jahre belaufen sollte, sowie das Dienstalter, das man auf 25 respektive 20 Jahre festlegen wollte. Ausgenommen hiervon waren Beschäftigte, die „schädlichen Arbeiten“ nachgingen und bereits mit 50 Jahren den Ruhestand antreten konnten, sofern sie 20 (Männer) bzw. 15 Jahre (Frauen) lang tätig gewesen waren. Die Höhe der anvisierten Alterssicherung entsprach dem früheren monatsdurchschnittlichen Erwerbseinkommen zu 55 %, wobei es sich hierbei um einen Sockelbetrag handelte, der durch Zuschläge ergänzt werden konnte, wenn ein Bürger mindestens fünf Jahre länger arbeitete, als es das Dienstalter-Kriterium vorsah.191 Verabschiedet wurde dieser Rentenkodex unter Stalins Ägide allerdings nicht mehr. Einen neuen Anlauf unternahm man erst nach dem Tod des Diktators. Bereits am 23. Juli 1953 beauftragte das Präsidium des ZK der KPdSU eine Kommission mit der Prüfung eines Verordnungsprojektes, das vom Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung vorbereitet worden war.192 Dieses vom Finanzminister der UdSSR Arsenij G. Zverev geleitete Gremium erarbeitete Vorschläge, die vom Ministerrat der UdSSR allerdings nicht akzeptiert wurden.193 Unterlagen, die einen Einblick in die Ergebnisse ihrer Arbeit böten, liegen nicht vor. Allerdings finden 189 Vgl. z. B. Za edinyj þetkij pensionnyj zakon; Donskoj, Pensionnoe zakonodatelތVWYR/RYHOO Soviet Socialism, S. 578. 190 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 44, ll. 5556. 191 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 44, ll. 910; Chandler, Shocking Mother Russia, S. 39. 192 Ob es sich hierbei um den Suchov-Entwurf handelte, konnte nicht geklärt werden. 193 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 93, l. 250.
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sich in den Beständen des Apparats des ZK der KPdSU Hinweise auf mindestens zwei verschiedene Gesetzentwürfe, die 1954 – möglicherweise von der Kommission – entwickelt wurden und auch eine Neuregelung der Alterssicherung vorsahen. Eine auf den März dieses Jahres zu datierende Fassung sah die Einführung einer Mindestaltersrente von 25 R für die Bewohner von Städten und Arbeitersiedlungen bzw. von 18 R für die Bewohner ländlicher Gegenden vor. Zwei Monate später erarbeitete man einen Entwurf, der eine Leistungsuntergrenze von 30 R (Stadt) respektive 20 R (Land) anvisierte.194 Die in beiden Fällen vorgeschlagene Differenzierung der Rentenhöhe war dem Gedanken geschuldet, dass ältere Bürger auf dem Lande Zusatzeinkünfte besaßen, die aus der privaten Nebenwirtschaft resultierten und einen Vorteil darstellten, den die städtischen Sowjetbürger nicht genossen.195 In seinem Wortlaut erhalten ist ein auf den 19. März 1955 datiertes Gesetzesprojekt „Über die staatliche Rentenversorgung“, für das der VCSPS-Vorsitzende Nikolaj M. Švernik und die Sozialversorgungsministerin der RSFSR Nonna A. Murav’eva verantwortlich zeichneten. Rentenober- und Rentenuntergrenze entsprachen der Fassung vom Mai 1954. Während gewöhnlichen Altersrentnern hier noch immer 55 % des früheren Erwerbseinkommens zugesprochen wurde, sollten jene Arbeitnehmer, deren Beschäftigung unter Tage, bei gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen oder in heißen Werksabteilungen stattgefunden hatte, nun 60 % ihrer Löhne oder Gehälter beziehen können. Erstmals findet sich in diesem Text auch die Bestimmung, dass nicht mehr der Basissatz als diesbezügliche Berechnungsgrundlage verwendet werden sollte, sondern das tatsächliche Erwerbseinkommen, einschließlich aller Prämien und Zuschläge.196 Interessant ist der Entwurf vor allem aus zwei Gründen: Zum einen verdeutlicht er, dass seine Autoren noch nicht von dem vorrangigen Interesse an einer Entfernung der Älteren aus dem Arbeitsprozess geleitet wurden. So ist etwa in Art. 18 von der „äußerst wichtigen Verpflichtung“ der staatlichen Behörden die Rede, dafür Sorge zu tragen, dass betagten und invaliden Menschen jede nur mögliche Hilfe bei der Suche nach einer neuen, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechenden Tätigkeit geleistet werde. Die Betriebe sollten die Weiterarbeit regelrecht fördern, in dem sie für ihre älteren und eingeschränkt arbeitsfähigen Mitarbeitern erleichterte Bedingungen schufen, ihnen also z. B. einen verkürzten Arbeitstag oder zusätzliche Urlaubstage gewährten. Vor allem aber die Art und Weise, wie man die Aufstockung der Rentenversorgung zu finanzieren gedachte, verdient Aufmerksamkeit. Švernik und Murav’eva sprachen sich dafür aus, dass sich die Werktätigen selbst an der Finanzierung der Reform beteiligten: „Art. 22. Es soll festgesetzt werden, dass parallel zur weiteren Anhebung der staatlichen Versorgung der Arbeiter und Angestellten mit Alters- und Invalidenrenten mit Hilfe staatlicher
194 Vgl. RGANI, F. 5, op. 30, d. 57, ll. 7879. Der März-Entwurf hätte die Altersrenten im Schnitt um 6,50 R, der Mai-Entwurf um 8,50 R im Monat angehoben. Vgl. hierzu auch Ivanova, Na poroge, S. 65. 195 Vgl. Moskalenko, Zakon, S. 19. 196 Vgl. RGANI, F. 5, op. 30, d. 128, ll. 613.
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Das System der allgemeinen Altersrenten Unterstützung ein Fonds der persönlichen Ersparnisse von Arbeiter und Angestellten eingerichtet wird. Dieser wird nicht in den Bestand des Fonds der staatlichen Sozialversicherung und der Sozialversorgung eingehen. Er bildet sich auf der Grundlage von monatlichen Abzügen in Höhe von 1 % auf das Erwerbsentgelt von Arbeitern und Angestellten und einer staatlich finanzierten Ergänzung in Höhe eines Zehntels der Summe, die der Arbeiter oder Angestellte eingezahlt hat.“197
Eine solche Herangehensweise hätte sich für den Staat in kostenpolitischer Hinsicht zweifelsohne vorteilhaft ausgewirkt. Sie wäre allerdings einem radikalen Bruch mit der leninschen Tradition gleichgekommen, mit der man ja spätestens seit der Prager Parteikonferenz von 1912 die staatliche Übernahme aller im Bereich von Sozialversorgung und Sozialversicherung anfallenden Kosten assoziierte. Gleichzeitig hätte man hier im offenen Widerspruch zu Art. 120 der Verfassung gehandelt. Darüber hinaus wäre schließlich auch der gern betonte prinzipielle Unterschied zwischen sowjetischer und kapitalistischer Altersversorgungspraxis deutlich abgemildert worden.198 Der weitere Verlauf der Reformvorbereitung bleibt ein wenig im Dunkeln. Spätestens, nachdem die von Švernik und Murav’eva ausgearbeitete Fassung vom ZK-Präsidium abgelehnt worden war, beschäftigte sich eine vom Stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden der UdSSR, Aleksej N. Kosygin, geleitete Kommission mit der Vorbereitung eines weiteren Entwurfs.199 Welche inhaltlichen Besonderheiten diese Fassung aufwies, lässt sich nur aus der an ihr geübten Kritik rekonstruieren. Fest steht, dass man mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, da der Ministerrat der UdSSR am 15. Juni 1955 eine abermalige Überarbeitung anordnete.200 Mit der Aufgabe betraut wurde nun der kurz zuvor gegründete Goskomtrud, wobei man dessen Mitarbeitern für die notwendigen Arbeiten lediglich einen Zeitraum von einem Monat einräumte. Zu den problematischen Passagen des Kosygin-Entwurfs zählte der Vorsitzende des Staatskomitees beispielsweise die Entscheidung, das Rentenalter von 60 bzw. 55 Jahren auch für ein bis drei Millionen 197 Ebd., l. 13. 198 Möglicherweise kann mag man den Švernik-Murav’eva-Entwurf in eine Reihe stellen mit einem Normativakt, der einige Monate zuvor auf den Weg gebracht worden war. Am 22. Januar 1955 hatte der Ministerrat der UdSSR die Verordnung Nr. 113 „Über die Regelung der Auszahlung der Beihilfen bei zeitweiliger Arbeitsunfähigkeit und der Ausgabe von Krankenscheinen“ verabschiedet. Auch diese Bestimmung implizierte eine Mehrbelastung der Bürger, sah sie doch eine zumindest partielle Übernahme der Krankenhauskosten durch die Patienten vor. Vgl. RGANI, F. 5, op. 30, d. 185, l. 87. Dergestalt könnte man, wie Ivanova, Na poroge, S. 67, die offene Beteiligung der Bürger an den Sozialausgaben als ein Merkmal eines „sozialen Kurses“ interpretieren, der speziell mit der Person G. M. Malenkovs zu verbinden ist. Zwar stammte der Švernik-Murav’eva-Entwurf bereits aus der Zeit nach Malenkovs Rücktritt als Ministerratsvorsitzender, doch scheint es zumindest nicht abwegig, dass seine inhaltlichen Schwerpunkte bereits 1954 formuliert worden waren. 199 Hinsichtlich der Mitglieder dieser Kommission bestanden Übereinstimmungen mit der früheren Zverev-Kommission. So hatten K. P. Goršenin, N. A. Murav’eva, G. P. Kosjaþenko und L. N. Solov’ev schon 1953 an der Rentenreform gearbeitet. Es scheint also nicht unmöglich, dass es sich bei der Kosygin-Kommission nicht um eine neue Einrichtung, sondern um das alte Gremium unter neuer Führung handelte. Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, l. 1. 200 Ebd., l. 115.
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Arbeiter der führenden Industriezweige und des Transports einzuführen. Während er in diesem Punkt sicherlich als Verteidiger der Interessen jener Bevölkerungsteile auftrat, die zuvor durch den Bezug „erhöhter Renten“ privilegiert gewesen waren, wandte er sich aber auch gegen Inhalte, die zu Lasten der Empfänger niedriger Leistungen gingen. So bemängelte Kaganoviþ, dass der Entwurf der Vermögenssituation älterer Menschen keine Beachtung schenke: Die Anzahl der unterhaltsberechtigten Familienmitglieder bleibe hier für die Rentenhöhe irrelevant. Gegenstand der Kritik war zudem, dass Leistungsabzüge, die mit dem ländlichen Wohnort eines Antragstellers begründet wurden, nur Bezieher der niedrigen Mindestrenten betreffen sollten, während alle übrigen von der Einschränkung ausgenommen blieben. Gerade die Geringversorgten sollten aber doch von den Reformmaßnahmen profitieren. Eine weitere Schwäche dieses Ansatzes bestand Kaganoviþ zufolge schließlich darin, dass der Entwurf eine Rentenanhebung nur für die zukünftigen Bezieher vorsah, das Gros der bereits eine Leistung erhaltenden Alten also außen vor blieb. Vor dem Hintergrund seiner Mängel bat der GoskomtrudVorsitzende erfolgreich darum, den Kosygin-Entwurf im Staatskomitee grundlegend nachbessern zu dürfen.201 Zur Durchführung dieser Arbeit wurde innerhalb des Goskomtrud eine Kommission unter der Leitung I. V. Goroškins eingerichtet, die innerhalb von acht Monaten zwei Entwurfsfassungen erarbeitete. Bei der ersten handelte es sich um eine unter großem Zeitdruck entstandene Korrektur der Kosygin-Fassung. Sie trug den Titel „Gesetz über die materielle Versorgung der Bürger der UdSSR im Alter, bei Verlust der Arbeitsfähigkeit und dem Verlust des Ernährers“202 und wurde aller Wahrscheinlichkeit nach Ende Juni, Anfang Juli 1955 fertiggestellt. Neu an ihr war vor allem, dass sich die Altersrentenhöhe für alle Berechtigten einheitlich auf 60 % des früheren Erwerbseinkommens belaufen sollte. Erstmals enthalten war hier auch eine neue Lösung der Frage, wie der Leistungsunterschied zwischen Stadt- und Landbewohnern geregelt werden sollte. Der Differenzierung unterlagen nun nicht mehr nur die Mindestrenten, sondern alle Ruhestandsgelder: Arbeiter und Angestellte, die in ländlichen Gegenden wohnhaft waren, sollten monatliche Zahlungen erhalten, die pauschal 10 % unterhalb derjenigen ihrer städtischen Altersgenossen lagen.203 Dieser Ansatz wurde für unzureichend erklärt. Aus dem Protokoll einer am 23. August tagenden Goskomtrud-Sitzung geht hervor, dass man ihm eine „gleichmacherische“ Qualität zuschrieb: Das Prinzip der Bezahlung gemäß dem sozialistischen Prinzip des „Jedem nach seiner Leistung“, das von der Rentenversorgung widergespiegelt werden solle, komme hier zu wenig zur Geltung. Darüber hinaus hielt man die Erstellung von Listen für notwendig, die konkret jene Berufe aufführten, die zu vergünstigten Bezugsbedingungen berechtigen sollten. Ein Umdenken zeichnete sich auch im Hinblick auf die Regelung der Rentnerweiterarbeit ab. War in dem ersten Goskomtrud-Entwurf noch vorgesehen gewe201 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 3, l. 47. 202 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, ll. 94101. 203 Vgl. ebd., ll. 9596.
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sen, dass berufstätige Rentner 50 % ihrer Leistung behalten konnten, so vertrat die Leitung des Staatskomitees nun mit Nachdruck die obenerwähnte Auffassung, dass die Älteren aus dem Arbeitsprozess entfernt werden sollten: „Arbeitende Rentner“, hieß es in dem Protokoll, „sollen entweder gar keine oder nur eine geringe Rente erhalten.“204 Die am weitesten reichende Kehrtwende vollzog man schließlich im Hinblick auf die Rentenfinanzierung. Im Gesetzentwurf „Über die materielle Versorgung“ hatte man diesbezüglich noch einmal auf die bereits aus der Švernik-Murav’eva-Version bekannten „persönlichen Ersparnisse der Bürger“ rekurriert.205 Von dem Gedanken einer offenen Heranziehung der arbeitenden Bevölkerung verabschiedete man sich nun, wie im Sitzungsprotokoll vermerkt wurde: „Der Vorschlag, über Pflichtabzüge vom Verdienst der Arbeiter und Angestellten einen Fonds zu bilden, wird für unannehmbar gehalten.“206 In der Folge machte man sich an eine zweite Fassung mit dem Arbeitstitel „Gesetz über die Rentenversorgung“,207 die von Goroškin am 7. Oktober 1955 präsentiert wurde. Um die uravnilovka zu reduzieren, war nun wieder eine größere Differenzierung der Altersrenten vorgesehen, die sich nicht mehr nur auf die Bezugsbedingungen – Rentenalter und staž –, sondern auch auf den Berechnungsmodus erstreckte. Die Rentenberechtigten wurden abermals in drei Kategorien aufgeteilt, für die jeweils spezifische Modalitäten der Leistungskalkulation galten. Bis zu einem rentenrelevanten Erwerbseinkommen von 40 R sollte sich das Ruhestandsgeld auf 100 % des früheren Lohns oder Gehalts belaufen. Von den diese Grenze überschreitenden Einkünften sollten „gewöhnliche“ Arbeiter und Angestellte – hier als III. Kategorie bezeichnet – 20 % behalten können. Der II. Kategorie wurden die „Arbeiter der führenden Berufe sowie die Angestellten der Industrie- und Baubetriebe, des Transport-, Post- und Fernmeldewesens“ hinzugerechnet, die mit 25 % rechnen konnten. Personen, die unter Tage, in heißen Werksabteilungen und unter schwierigen Arbeitsbedingungen tätig waren (I. Kategorie), wollte man sogar 30 % zugestehen.208 Eine wichtige Neuerung bestand in dem Verweis darauf, dass die Renten unabhängig davon erteilt werden sollten, wie lange die Einstellung der Arbeitstätigkeit im Einzelfall zurücklag. Hierdurch betraf die Reform nicht mehr nur die zukünftigen Leistungsempfänger, sondern auch die „Altrentner“. Darüber hinaus sah dieser zweite Goskomtrud-Entwurf nun auch eine Berücksichtigung der Familiensituation vor: Bei Vorhandensein von unterhaltsberechtigten Angehörigen wollte man dem Ruheständler einen Zuschlag zahlen. Eine deutliche Verbesserung zur geltenden Gesetzeslage stellte ebenfalls die in diesem Entwurf eingeführte Teilrente dar. Bei Erfüllung gewisser Voraussetzungen sollten betagte und invalide Arbeiter oder Angestellte eine Leistung bereits dann erhalten können, wenn sie nicht das gesamte erforderliche Dienstalter
204 205 206 207 208
GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, l. 104. Vgl. ebd., l. 95. Ebd., l. 105. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, ll. 729. Ebd., ll. 911.
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vorweisen konnten.209 Als von dauerhaftem Bestand erwies sich ebenfalls die hier zum ersten Mal aufgenommene Vorschrift, dass weiterarbeitende Altersrentner zusätzlich zu ihrem Erwerbsentgelt nur 15 R von ihrer Rente behalten sollten. Hinsichtlich der wohnortabhängigen Differenzierung der Rentenhöhe fand sich nun eine Lösung, die den Landbewohnern zum Nachteil gereichte. Ihre Leistungen wollte man nurmehr auf 80 % der Bezüge von städtischen Rentnern festsetzen.210 Und im Hinblick auf die Finanzierung des Rentensystems wies die Entwurfsfassung nun jene Sprachregelung auf, die weiterhin einen Kernsatz der sowjetischen Sozialpropaganda darstellen sollte: „Die Rentenversorgung wird [...] auf Kosten des Staates zur Verfügung gestellt, ohne irgendwelche Abzüge vom Erwerbsentgelt.“211 In dieser Gestalt erhielt der Rentengesetzentwurf die Zustimmung der Goskomtrud-Führung.212 Nun integrierte man weitere Staatsorgane und Ministerien in den Reformprozess: Der Gosplan der UdSSR, der VCSPS, das Finanz- und das Justizministerium der UdSSR sowie die Ministerien der Unionsrepubliken für Sozialversorgung wurden um Stellungnahmen gebeten.213 Ihre Korrekturvorschläge wurden von der Goroškin-Kommission zur Kenntnis genommen und zumindest partiell berücksichtigt. Betroffen war hiervon auch die Frage der Stadt-LandDifferenzierung. Wie gesehen, sollte ursprünglich allein der Wohnort als Grundlage für die Rentenminderung herangezogen werden. Ein solcher Ansatz war schon früh von Fachleuten in Zweifel gezogen worden. Murav’eva hatte Kosygin bereits im April 1955 darauf hingewiesen, dass sich das Wohnort-Kriterium zuungunsten jener Arbeiter und Angestellten auswirkte, die zwar auf dem Land lebten, jedoch in ein und denselben Betrieben und Einrichtungen beschäftigt gewesen waren wie ihre städtischen Altersgenossen. Eine Benachteiligung dieser Personen erschien der Ministerin für Sozialversorgung auch deshalb ungerecht, weil sie oft unter zusätzlichen Ausgaben litten, etwa für Transport- oder Mietkosten.214 Im Rahmen der Korrektur des zweiten Goskomtrud-Entwurfs setzte sich nun eine Alternative durch, mit der man meinte, den Faktor der Zusatzeinkünfte, die sich aus der Nutzung der privaten Nebenwirtschaft ergaben, fairer berücksichtigen zu können: Als Voraussetzung für die betreffende Rentenminderung, die man nun endgültig auf 15 % taxierte, entschied man sich für die sogenannte „Verbindung zur Landwirtschaft“. Für ihr Vorhandensein war entscheidend, dass der Ruhe-
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Vgl. ebd., l. 20. Vgl. ebd., ll. 2526. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, l. 9. Vgl. ebd., l. 114. Eine Zusammenfassung dieser Korrekturvorschläge findet sich in GARF, F. R 9553, op. 1, d. 93, ll. 4045. 214 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 2661, l. 20. Andere Stimmen gaben zu Bedenken, dass eine pauschale Orientierung an dem Wohnort-Kriterium die Abwanderung älterer Menschen aus den ländlichen Gegenden hervorrufen würde, obwohl der Staat doch gerade das Gegenteil erreichen wolle, wenn er z. B. beträchtliche Mittel in den ländlichen Wohnungsbau zu investieren plane. Auch hielt man die dortigen Kosten des Lebensunterhalts nicht für zwangsläufig niedriger als in den Städten, da der Einkauf auf dem Kolchosmarkt oft kein preiswertes Vergnügen darstelle. Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 92, l. 204.
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ständler nicht nur auf dem Land lebte, sondern auch in irgendeiner Form an landwirtschaftlichen Prozessen teilhatte und hiervon profitierte.215 Eine weitere Änderung betraf die Bezeichnung der II. Rentnerkategorie. In einem Schreiben, in dem Kaganoviþ dem ZK der KPdSU und dem Ministerrat der UdSSR kurz zuvor den zweiten Goskomtrud-Entwurf vorgestellt hatte, hatte er es noch als einen seiner Vorzüge dargestellt, dass „die Vorteile der Arbeiter der wichtigsten Branchen der Volkswirtschaft bei der Rentenversorgung bewahrt bleiben“.216 Nun vollzog man diesbezüglich eine Kehrtwende: Empfänger der mit der II. Kategorie verbundenen Vergünstigungen sollten nicht mehr „Arbeiter der führenden Berufe und die Angestellten industrieller Betriebe“ sein, sondern „Arbeiter und Angestellte, die in anderen Produktionsstätten mit schwierigen Arbeitsbedingungen beschäftigt sind“.217 Mit der Umformulierung distanzierte man sich – zumindest nominell – von der Unterscheidung von Berufen und Branchen nach „Wichtigkeit“, die ja immer auch ein moralisches bzw. ideologisches Element enthalten hatte. Die gesundheitliche Belastung, die für die Bewertung einer bestimmten Beschäftigung nun ausschlaggebend sein sollte, ließ sich mit wissenschaftlichen Methoden erfassen. Das Institut der vergünstigten Renten wurde dadurch versachlicht. Gleichzeitig führte erst diese neue Definition des Berechtigtenkreises zu einer tatsächlichen Verringerung der Anzahl jener Menschen, die Aussicht auf ein privilegiertes Ruhestandsgeld besaßen, da in den vorherigen Bestimmungen genau ebenjene Klientel bedacht worden war, die schon vor 1956 erhöhte Renten bezogen hatte. Die Orientierung an der Arbeitsbelastung halbierte die Zahl der zukünftigen Vorzugsrentner.218 Nach der Einarbeitung der sich aus den Konsultationen ergebenen Vorschläge scheint der Goskomtrud die Arbeit an dem Rentenentwurf für einige Monate mit geringerer Intensität verfolgt zu haben. Wahrscheinlich beabsichtigte man, den weiteren Prozess zeitlich mit dem XX. Parteitag der KPdSU abzustimmen, als dessen Ergebnis die Reform kommuniziert werden sollte. Am 26. März 1956 endete die Zuständigkeit des Staatskomitees für die weitere Vorbereitung des Normativakts: Es sandte eine auf der Grundlage der Verbesserungen vom Oktober überarbeitete Entwurfsfassung an die „Kommission für die Prüfung des Gesetz-
215 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, ll. 112113; d. 91, l. 1. Zur Definition der „Verbindung zur Landwirtschaft“ siehe Abs. 2.1.2.3. Die Reduzierung der Anzahl jener ländlichen Bewohner, die einen Rentenabzug erleiden sollten, war mit erheblichen Mehrausgaben verbunden. Ersichtlich wird dies etwa daran, dass am 1. Oktober 1956 15,0 % der Staatsaltersrentner als „auf dem Land wohnhaft“ galten, während sich der Anteil der Ruheständler „mit Verbindung zur Landwirtschaft“ auf lediglich 4,3 % belief. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 1. 216 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 93, l. 264. Vgl. auch ebd., d. 91, l. 107. 217 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, l. 2. Mit „anderen Produktionsstätten“ waren jene gemeint, die nicht bereits zur Mitgliedschaft in der I. Kategorie berechtigten. 218 Hierzu stellte die Goroškin-Kommission fest: „Diese gekürzten Listen umfassen ungefähr 3 Mio. Arbeiter und Angestellte, anstelle jener 6–7 Mio., die den ursprünglichen Listen und der gegenwärtigen Gesetzgebung entsprachen.“ GARF, F. R 9553, op. 1, d. 92, l. 37. Bei diesen 3 Mio. Menschen handelte es sich freilich nicht um die Bezieher vergünstigter Renten, sondern um die Arbeitnehmer, denen ein Anspruch für die Zukunft prognostiziert wurde.
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entwurfs über die staatlichen Renten“.219 Dieses von Bulganin geleitete Gremium sollte die letzten Schritte auf dem Wege zur Endredaktion des Textes koordinieren.220 Zu den inhaltlichen Details der von der Kommission durchgeführten Arbeiten lassen sich keine konkreten Angaben machen. Allerdings findet sich in den Goskomtrud-Beständen eine weitere Projektversion, bei der es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um das Ergebnis der Anfang April vorgenommenen Korrekturen handelt.221 Der bereits den endgültigen Titel tragende Entwurf des „Gesetzes über die staatlichen Renten“ soll hier nicht in seinen Einzelheiten vorgestellt werden, um der Beschreibung des späteren Gesetzestextes nicht vorzugreifen. Erwähnt seien allein zwei Entwicklungen. Zum einen wurden die Rentner nicht mehr generell, sondern lediglich im Hinblick auf die Bezugsbedingungen in drei Gruppen unterteilt: Vorteile bei der Rentenberechnung genossen nurmehr jene Arbeiter und Angestellten, die unter Tage, in heißen Werksabteilungen oder unter gesundheitsschädlichen Bedingungen gearbeitet hatten. Der wichtigste Passus betraf die Bemessung der Versorgungshöhe, bei der man insofern einen neuen Weg ging, als dass man sich gegen feste Leistungssätze und für eine differenzierte Rententabelle entschied. Ihr zufolge sollten Geringentlohnte einen höheren Anteil ihres früheren Erwerbsentgelts erhalten als besser verdienende Personen. Dieses degressive Berechnungssystem lässt sich als Beleg dafür interpretieren, dass es Chrušþev und seine Genossen ernst meinten mit der Ankündigung, insbesondere die niedrigen Renten anzuheben und gleichzeitig die nach oben auswuchernden „Unmäßigkeiten“ (izlišestva) einzudämmen. Gleichzeitig gründete es sicherlich jedoch ebenso auf finanzpolitischen Erwägungen: Auf diesem Wege ließen sich die hohen Kosten der Rentenreform ein wenig begrenzen.222 Der von der Bulganin-Kommission redigierte Entwurf wurde noch einmal mit den Vorsitzenden der Ministerräte der Unionsrepubliken abgestimmt. Am 7. Mai 1956 präsentierte man ihn daraufhin dem ZK-Präsidium, dessen Mitglieder den Text in seiner Gesamtheit guthießen. In der aus dieser Sitzung hervorgehenden Verordnung „Der Entwurf des Gesetzes über die staatlichen Renten“ beauftragten sie die Kommission damit, noch einmal letzte Korrekturen umzusetzen und die 219 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 92, l. 35. 220 Hier wird davon ausgegangen, dass es sich bei der „Kommission für die Prüfung des Gesetzentwurfs über die staatlichen Renten“ sowie der ebenfalls von Bulganin geleiteten „Kommission zur Vorbereitung des Gesetzentwurfs über die staatlichen Renten in der Endredaktion“ (Prezidium CK KPSS 19541964 [Bd. 2], S. 274.) um ein und dasselbe Gremium handelte. 221 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 92, ll. 121. Dieser Entwurf entbehrt einer Datierung, stellt aber aller Voraussicht nach das Ergebnis jener Verbesserungen dar, auf die in dem unmittelbar folgenden Dokument (Ebd., ll. 2234.) hingewiesen wird. Bei ihm handelt es sich um eine Reihe von redaktionellen Anmerkungen der Bulganin-Kommission, die auf den 6. April 1956 datiert sind. 222 Eine derartige Intention lässt sich beispielsweise aus dem Protokoll einer Goskomtrud-Sitzung vom 13. September 1955 ablesen, das eine entsprechende Überlegung verzeichnete: „Um eine übermäßige Erhöhung der Renten zu vermeiden, sollte eine differenzierte Berechnungsskala eingeführt werden, der zufolge sich der Prozentanteil für die Rentenerrechnung bei einer Steigerung des Verdienstniveaus, auf dessen Grundlage die Rente festgesetzt wird, verringern würde.“ GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, l. 109.
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fertige Fassung dann zwei bis drei Tage später als Projekt des Ministerrats der UdSSR in der Presse zu veröffentlichen.223 Pünktlich am 9. Mai 1956, einem Datum, an dem man zugleich des Sieges über das Dritte Reich gedachte, wurde die Vorlage in überregionalen Zeitungen wie der Pravda, der Izvestija und der Trud veröffentlicht. Dabei sparte man nicht an der propagandistischen Überhöhung des Ereignisses: Leitartikel unterstrichen die Bedeutsamkeit des neuen Normativakts und die positive Aufnahme, die er in der Bevölkerung finden würde. Gleichzeitig veröffentlichten die Zeitungsredaktionen auch eine Vielzahl von Äußerungen von Menschen, die ihrer Freude über die Reform der staatlichen Rentenversorgung Ausdruck verliehen.224 In ihrer Gesamtheit lassen sich die Reaktionen auf den Entwurf jedoch nicht auf eine rein affirmative Funktion reduzieren, ging mit dessen Veröffentlichung doch eine Aufforderung an die Bevölkerung einher, etwaige Änderungsvorschläge zu machen. Die politische Führung legte Wert auf die Feststellung, dass man mit der Bevölkerung in einen Dialog über die Ausgestaltung der Rentengesetzgebung trete. So kam etwa Michail A. Jasnov, Vorsitzender der Kommission für Gesetzesvorschläge des Unionsrats des Obersten Sowjets, auch auf diesen Zusammenhang zu sprechen, als er sich während der Diskussion des Gesetzentwurfs zu Wort meldete: „Ab dem Moment der Veröffentlichung des Gesetzesvorhabens über die staatlichen Renten kam es in den Betrieben und Einrichtungen des Landes zu Besprechungen und Versammlungen der Werktätigen, die sich der Erörterung des Gesetzentwurfs widmeten. Man kann ohne jede Übertreibung sagen, dass es im Verlaufe der letzten zwei Monate zu einer wahrlich die gesamte Bevölkerung erfassenden Besprechung des Projekts [...] gekommen ist und dass dieser Gesetzentwurf eine allumfassende Zustimmung erfahren hat.“225
Natürlich führte es zu weit, würde man die Diskussionen auf den betrieblichen Belegschaftsversammlungen oder die Veröffentlichung kritischer Anmerkungen in der Presse als einen „neuen, klaren Beweis für die echte demokratische Gesinnung“226 des sowjetischen Systems interpretieren. Dennoch lässt sich nachweisen, dass die Äußerungen aus der Bevölkerung nicht ignoriert wurden, sondern tatsächlich eine gewisse Berücksichtigung innerhalb des weiteren Entscheidungsprozesses erfuhren.227 Die Briefe richteten sich – wie alle schriftlichen Meinungs223 Vgl. RGANI, F. 3, op. 14, d. 21, ll. 12, zit. bei: Prezidium CK KPSS 19541964 (Bd. 2), S. 273274. Vgl. auch Prezidium CK KPSS 19541964 (Bd. 1), S. 128129 u. 939940. 224 Siehe hierzu Abs. 6.2.2. 225 Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva, S. 19. 226 Novoe jarkoe svidetel’stvo podlinnoj narodnosti sovetskogo stroja, in: Pravda vom 16. Juli 1956, S. 1. Artikel wie diese unterstützen Löwenhardt, Decision Making, S. 21, in seiner Annahme, dass die vorrangige Funktion der öffentlichen Diskussion „in der Mobilisierung der Bevölkerung für eine Entscheidung, die [von der Führung] bereits getroffen worden war, in der Zurschaustellung des Sowjetsystems als höchste Manifestation der Demokratie“ bestanden habe. 227 Die Einbeziehung der Bevölkerung in inhaltliche Auseinandersetzungen über Reformprojekte war als solche keine Erfindung Chrušþevs und seiner Kollegen. Sie entsprach einem Muster, das schon unter Stalin die Verabschiedung von Rechtsakten begleitet hatte. Vgl. Fainsod,
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äußerungen – entweder an Presseorgane oder an politische Institutionen. Im ersteren Falle gelangten einige beispielhafte Äußerungen an die Öffentlichkeit. So widmete die Pravda eine ganze Seite ihrer Ausgabe vom 10. Juni 1956 den „Ergänzungen und Korrekturen“ zur Frage der Rentenreform. Prominent vertreten war hier die Forderung nach einer Auflockerung der Bezugsbedingungen für die Standardaltersrentner. Dabei sprach man sich insbesondere für ein niedrigeres Rentenalter aus, und dies ungeachtet der Tatsache, dass das im Entwurf vom 9. Mai vorgesehene Kriterium im internationalen Vergleich bereits ein äußerst niedriges war.228 Weit verbreitet war der Gedanke, dass zumindest für Frauen ein früherer Leistungsantritt möglich sein sollte: Zusätzlich zu den Mühen der Erwerbstätigkeit würden ihnen familiäre und häusliche Aufgaben obliegen, was eine veritable Doppelbelastung bedeute. Auf den Seiten der Pravda wurde dieser Standpunkt von einer Moskauerin namens V. Prokof’eva vertreten: „Mir scheint, dass man Frauen das Recht einräumen sollte, die Altersrente mit der Vollendung des 50. Lebensjahres zu erhalten. Auf den Schultern der Frauen lasten doch neben der Arbeit im Betrieb oder in der Dienststelle auch viele häusliche Verpflichtungen. Sie sollen für die Kinder sorgen, sie erziehen und sich um die anderen Familienmitglieder kümmern, was viel Zeit in Anspruch nimmt. Das gilt es, in Betracht zu ziehen.“229
Mehrere Briefschreiber schlugen zudem vor, dass man Arbeitern und Angestellten, die schon seit ihrer Jugend arbeitstätig waren und deshalb bereits einige Zeit vor dem Erreichen des gesetzlichen Rentenalters über ein Dienstalter von 35 und mehr Jahren verfügten, vergünstigte Bedingungen einräumte: Sie sollten die Altersrente fünf Jahre früher, also bereits mit 55 (Männer) bzw. 50 Jahren (Frauen) erhalten. Publiziert wurden freilich nur Anmerkungen zu einzelnen inhaltlichen Aspekten des Staatsrentenentwurfs. Texte, die die Ausrichtung der gesamten Reform in Frage stellten, indem sie etwa Kritik an dem Niveau der Rentenleistungen oder dem Wegfall der Vergünstigungen für die Beschäftigten zuvor bevorzugter Branchen übten, fanden hier keinen Platz. Aufgrund der in den Leserbriefredaktionen unzweifelhaft vorgenommenen Filterungen gewähren diese Äußerungen folglich keinen repräsentativen Eindruck von der Haltung der Bevölkerung gegenüber dem Rentengesetz. Aussagekräftiger waren diesbezüglich sicherlich die Berichte, die die Zeitungen auch zu den Inhalten nicht veröffentlichter Schreiben erstellten und den Partei- und Staatsorganen zukommen ließen. Eine vorrangige Funktion der Leserbriefveröffentlichungen bestand somit in der Vermittlung der Botschaft an How Russia is Ruled, S. 371; Fitzpatrick, Everyday Stalinism, S. 152155. Auch nach 1956 kam es wiederholt zu öffentlichen Austauschen dieser Art. Vgl. z. B. Churchward, Contemporary Soviet Government, S. 302. 228 Einige Moskauer Briefschreiber argumentierten, dass „unsere Generation drei große Kriege durchlebt, die ganze Schwere des Wiederaufbaus der Volkswirtschaft geschultert hat. Das hat große Einbußen in Bezug auf Gesundheit und Kraft gefordert. Die Menschen, die für das Glück der neuen Generationen gestritten haben, verdienen eine Belohnung.“ Pravda vom 10. Juni 1956, S. 2. 229 Ebd.
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die Bevölkerung, dass man die von ihr eingehenden Vorschläge ernst nahm und berücksichtigte. Es fällt allerdings auf, dass die hier angesprochenen Problembereiche bis zu einem gewissen Grad mit jenen Fragen übereinstimmten, auf die die zwischen Mai und Juli 1956 vorgenommene Überarbeitung des Projekts eine Antwort zu geben versuchte. Nicht zuletzt auf die symbolische Zurschaustellung der Offenheit des Regimes gegenüber der Bürgermeinung war es zurückzuführen, dass viele Briefe und Stellungnahmen zur Rentenreform auch an politische Instanzen adressiert wurden. Dergestalt erhielt etwa das Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung bereits während des ersten auf die Publikation des Entwurfs folgenden Monats ca. 800 Änderungsempfehlungen.230 Die am häufigsten adressierte Instanz war wohl das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, dessen Briefabteilung allein 7.100 Schreiben registrierte.231 Insgesamt wurden mehr als 12.000 an die zentralen politischen und gesellschaftlichen Institutionen gesendete Briefe zur Kenntnis genommen.232 Berücksichtigung fanden solche Stellungnahmen auch im weiteren Gesetzgebungsprozess selbst. Die Verabschiedung der Reform war für die fünfte Sitzungsperiode des Obersten Sowjets der UdSSR der vierten Legislaturperiode (11.–16. Juli 1956) vorgesehen. Zuvor wurde der Entwurf den bei den beiden Kammern des Obersten Sowjets – Unions- und Nationalitätenrat – angesiedelten Kommissionen für Gesetzesvorschläge übergeben, die unter der Leitung von Jasnov und M. A. Gedvilas die einzelnen Bestimmungen noch einmal im Detail durchzuarbeiten und ein abschließendes Gutachten zu erstellen hatten.233 Zu dessen Vorbereitung richtete man eine Unterkommission ein, zu der Vertreter der interessierten Ministerien und Behörden, des VCSPS sowie wissenschaftliche Mitarbeiter hinzugezogen wurden. Ein Aspekt ihrer Arbeit bestand in der Klärung der Frage, inwieweit die aus der Bevölkerung eingegangenen Wünsche und Vorschläge berücksichtigt werden konnten.234 Welche Themen nun in den Briefen der Bürger am häufigsten angesprochen wurden, geht aus einem Schreiben hervor, in dem Jasnov und Gedvilas die Ergebnisse ihrer beiden Kommissionen erläuterten. Hier lässt sich zweifelsohne eine gewisse Übereinstimmung mit der in der Pravda vorgenommenen Auswahl fest-
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Vgl. Lovell, Soviet Russiaތs Older Generations, S. 217. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1587, l. 147. Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva, S. 92. Vgl. die Verordnung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 8. Juni 1956 Nr. 138/14 „Über den Entwurf des Gesetzes über die staatlichen Renten“ (GARF, F. R 7523, op. 45, d. 45, l. 1). Parallel dazu beauftragte der Ministerrat der UdSSR am 14. Juni 1956 eine Gruppe damit, Briefe auszuwerten, die von Einzelpersonen und Betriebskollektiven an die Regierung, den Goskomtrud, den VCSPS, das Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung sowie die Zeitungen Pravda, Izvestija und Trud geschickt worden waren. Mit A. P. Volkov, V. V. Grišin (Vorsitzender des VCSPS) und V. F. Garbuzov (Stellvertretender Finanzminister der UdSSR) war sie prominent besetzt. Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 36, ll. 120127. 234 Die Protokolle zu den Sitzungen der Unterkommission legen nahe, dass dieser Aufgabe Beachtung geschenkt wurde. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 49, ll. 187.
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stellen: Bei einer Gesamtzahl von ca. 10.000 ausgewerteten Briefen forderten 33,3 % der Verfasser eine Senkung des Renteneintrittsalters, wobei speziell die Frauen von einer Lockerung dieser Bezugsbedingung profitieren sollten. Eine Anhebung der Invaliden-, und hier insbesondere der Kriegsinvalidenrenten, brachten 13,0 % ins Spiel. Und in immerhin noch 6,2 % aller Schreiben wurden die Weiterarbeitsregelungen bemängelt.235 Erwähnenswert ist darüber hinaus, dass ein Vertreter der Briefabteilung Vorošilovs vor der Unterkommission von 2.000 Briefen zu berichten wusste, deren Autoren sich dafür aussprachen, dass Bürgern mit einem exzeptionell hohen Dienstalter eine spezielle Zulage zur Rente gezahlt wurde.236 Die die Altersrente betreffenden Entwurfskorrekturen, die die Vorsitzenden der Kommissionen für Gesetzesvorschläge den beiden Kammern des Obersten Sowjets der UdSSR am 12. Juli 1956 präsentierten, wurden zum Teil explizit als Ergebnis der von den Bürgern geäußerten Änderungswünsche dargestellt. Hierbei handelte es sich allerdings nicht mehr um Neufassungen großen Stils, sondern lediglich um Nachbesserungen zu Detailfragen. Jasnov und Gedvilas stellten in ihren Koreferaten einen neuen zehnprozentigen Zuschlag vor, der Personen zugutekommen sollte, deren gesamter staž das erforderte Maß um 15 Jahre übertraf. Mit der Änderung reagierte man offensichtlich – und wie von beiden Rednern betont – auf eines der in den Briefen aus der Bevölkerung am häufigsten adressierten Probleme.237 Ein wenig anders verhielt es sich mit der zweiten vorgeschlagenen Nachbesserung, die auf die Forderungen nach einer Erleichterung der Bezugsbedingungen speziell für Frauen Bezug nahm: Dieses Anliegen wurde in dem Sinne modifiziert, dass man – wie Jasnov – von Vorschlägen sprach, „das Alter und das Dienstalter zu senken, die für die Festsetzung einer Altersrente für kinderreiche Frauen Voraussetzung sind“. Im Einklang mit dem Bürgervotum habe man sich dafür entschieden, eine Vergünstigung für Frauen einzuführen, die mindestens fünf Kinder geboren und diese jeweils bis zum achten Lebensjahr erzogen hatten. Sie sollten den Ruhestand nun bereits fünf Jahre früher antreten können. Jasnov stellte hierzu fest: „Indem sie diesen Vorschlag einbringt, geht die Kommission [für Gesetzesvorschläge des Unionsrats] davon aus, dass die erwähnte Vergünstigung kinderreichen Müttern die Gelegenheit gibt, der Erziehung ihrer Kinder mehr Zeit zu widmen.“238
235 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 46, ll. 4748. Die Differenz der Gesamtbriefzahl zu jenen 12.000, von denen Jasnov im Juli sprach, ist sicherlich auf den zeitlichen Abstand zurückzuführen. Mit Genauigkeit lässt sich dies nicht feststellen, da das Erläuterungsschreiben undatiert ist. Von „ungefähr 10.000“ Briefen wird – ebenfalls ohne Datumsangabe – auch in GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 48, l. 102, berichtet. 236 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 49, l. 13. Auch in diesem Zusammenhang ist freilich anzumerken, dass die mit der Briefauswertung beschäftigten Mitarbeiter möglicherweise eine Vorsortierung vorgenommen hatten, die bestimmte Themen aussparte. 237 Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva, S. 38 u. 93. 238 Ebd., S. 93.
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Forderungen nach einer generellen Lockerung der Bezugsbedingungen oder zumindest einer Besserstellung von Frauen führten somit zu einer Rentenvergünstigung, die sich in erster Linie als familienpolitische Maßnahme interpretieren lässt, welche der Reproduktion der Bevölkerung dienlich sein sollte.239 Trotz einer solchen Eingrenzung des Kreises der Personen, die von der Korrektur profitierten, ließ sich auch sie nur dadurch erklären, dass das Regime die Impulse aus der Bevölkerung bis zu einem gewissen Grad ernst nahm. Zwar nahmen sich diese Änderungen nicht allzu eindrucksvoll aus, und eine Reihe weiterer, ebenfalls mit Nachdruck vorgebrachter Vorschläge sowjetischer Bürger erfuhr keine Realisierung.240 Dessen ungeachtet belegen beide Korrekturen jedoch, dass die öffentliche Diskussion nicht gänzlich ohne Folgen blieb. Der Rentengesetzentwurf und die ihn betreffenden Korrekturen wurden in beiden Kammern des Obersten Sowjets „diskutiert“, wobei die diversen Redebeiträge in der Regel einem sich stetig wiederholenden Muster folgten, welches dem Maße, in dem hier eine kritische Betrachtung vorgenommen wurde, enge Grenzen setzte. Ein beträchtlicher Teil der Wortmeldungen war der Affirmation des Wirkens von Partei und Regierung gewidmet. Davon abgesehen gaben die Delegierten jedoch auch eigenen Überlegungen Ausdruck, die sicherlich mitunter auf die Änderungswünsche der eigenen „Basis“ reagierten. Man übte beispielsweise Kritik an den Weiterarbeitsregelungen und an der Vorgabe, dass die Renten bei „Verbindung zur Landwirtschaft“ gekürzt werden sollten. Die meisten dieser Anmerkungen griffen allerdings jene Themen auf, die in den Bürgervorschlägen prominent figurierten: die Honorierung eines besonders langen staž und die Senkung des Rentenalters.241 In seinem Schlusswort, mit dem er am 13. Juli 1956 die Phase der Entwurfserörterung im Obersten Sowjet beendete, nahm Bulganin für die Regierung zu den verschiedenen Anregungen Stellung und gab dem Staatsrentengesetz dadurch seine endgültige Gestalt. Die beiden wichtigsten Vorschläge der Kommissionen für Gesetzesvorschläge fanden seine Zustimmung. Allerdings milderte er die Voraussetzung für den Erhalt eines Rentenzuschlags bei einem langen allgemeinen Dienstalter in dem Sinne ab, dass hier nicht mehr 15, sondern bereits 10 Jahre als ausreichend erachtet wurden. Die Vergünstigung der Bezugsbedingungen für kinder239 Vgl. Buckley Donahue, Promises, S. 255. 240 Zu den abgelehnten Vorschlägen gehörten z. B. die Ausweitung des Kreises der Rentenberechtigten, die Lockerung der Bezugsbedingungen für eine Teilrente oder auch die Anhebung der Mindestrente. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 48, ll. 103114. 241 Im letzteren Fall argumentierte man dabei auch mit den Spezifika der eigenen Heimatregion. So plädierte etwa Aman Kurbanov aus der Turkmenischen SSR dafür, dass man das heiße Klima Zentralasiens berücksichtigte: Arbeiter und Angestellte, die dort dauerhaft ansässig waren, sollten die gewöhnliche Altersrente schon fünf Jahre früher erhalten können. Eine identische Verringerung brachte Vasilij A. Prokof’ev (Gebiet Murmansk) für die Bewohner des Hohen Nordens ins Spiel und argumentierte in diesem Fall freilich mit den harten Kälteperioden, denen die Bevölkerung seiner Heimatregion ausgesetzt war. Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva, S. 81 u. 124. Zu den regionalen Spezifika der Diskussionsbeiträge vgl. insbesondere Barenberg, For a United, Clear Pension Law, S. 4548.
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reiche Mütter wurde unverändert übernommen. Ablehnend zeigte sich der Ministerratsvorsitzende gegenüber jenen Zusatzanträge, in denen eine Herabsenkung des allgemeinen Rentenalters gefordert worden war. 242 Weitere grundlegende Veränderungen wurden an der Altersrentengesetzgebung nicht mehr vorgenommen. Es spricht somit nicht unbedingt für den Stellenwert, der der sowjetischen Volksvertretung bei der Ausgestaltung der diesbezüglichen Bestimmungen beigemessen wurde, dass die einzige über die Korrekturen der Kommissionen für Gesetzesvorschläge hinausgehende Änderung in der Reduzierung des für einen Rentenzuschlag notwendigen Dienstalters bestand. Am 14. Juli 1956 wurde – wie die Pravda am nächsten Tag vermelden sollte – „das Gesetz über die staatlichen Renten, das den lebenswichtigen Interessen aller Werktätigen unseres Landes entspricht“,243 von den Mitgliedern beider Kammern des Obersten Sowjets der UdSSR einstimmig angenommen. In Kraft treten sollte es zum 1. Oktober desselben Jahres. Am 4. August verabschiedete der Ministerrat der UdSSR einen weiteren Normativakt, der für die Anwendung und Umsetzung der neuen Bestimmungen große Bedeutung besitzen sollte: Die „Verfahrensordnung zur Festsetzung und Auszahlung der staatlichen Renten“ 244 (im Folgenden: Staatsrentenordnung) ergänzte den Gesetzestext in einer Vielzahl von Fragen. So waren hier etwa ausführliche Informationen über das Prozedere und die Bedingungen der Rentenbeantragung und -berechnung enthalten, an denen sich die mit der Umsetzung der Reform betrauten Organe der Sozialversorgung in ihrer Arbeit zu orientieren hatten. Das Ausmaß, in dem mit diesen beiden Schritten eine Vereinheitlichung der Rentengesetzgebung erreicht wurde, verdeutlicht der Umstand, dass gleichzeitig mindestens 836 Verordnungen, Beschlüsse und andere Rechts- bzw. Verwaltungsakte der sowjetischen Exekutive zur Rentenversorgung vollständig oder teilweise ihre Gültigkeit verloren.245
2.1.2.3. Die Bestimmungen des Staatsrentengesetzes zur Altersversorgung Der erste Teil des „Gesetzes über die staatlichen Renten“ betraf nicht nur die Ruheständler, sondern auch die Bezieher der ebenfalls neu geregelten Invaliden- und Hinterbliebenenrenten und vermittelte einige grundlegende Inhalte. Hierzu gehörte etwa die Feststellung, dass es Personen, die sich gleichzeitig für verschiede242 Vgl. Bulganin, Der Entwurf, S. 4851. 243 Pravda vom 15. Juli 1956, S. 1. 244 Verordnung des Ministerrats der UdSSR Nr. 1044 „Über die Bestätigung der Verfahrensordnung zur Festsetzung und Auszahlung der staatlichen Renten“ (SP SSSR, 1957, Nr. 1, Pos. 2). 245 Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 29. Juni 1957 Nr. 808 „Über die Veränderung und die Anerkennung des Außerkrafttretens von Beschlüssen der Regierung der UdSSR sowie von Beschlüssen des ehemaligen Volkskommissariats der UdSSR für Arbeit im Zusammenhang mit der Inkraftsetzung des Gesetzes über die staatlichen Renten und der Verfahrensordnung zur Festsetzung und Auszahlung der staatlichen Renten“ (SP SSSR, 1957, Nr. 7, Pos. 79).
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ne Rentenformen qualifizierten, offen stand, die für sie vorteilhafteste frei zu wählen (Art. 3). Als bedeutsam für die vielen Bürger, die in der Vergangenheit nur geringe Leistungen bezogen hatten, erwies sich Art. 4, dem zufolge es für das Vorhandensein des Rentenanspruchs irrelevant war, wie lange nach der Erfüllung der Bezugskriterien ein entsprechender Antrag gestellt wurde. Auch die Altrentner konnten somit von der Reform profitieren. Des Weiteren fand an dieser Stelle das Leninsche Prinzip Erwähnung, dass die Finanzierung der Renten ohne jede Abzüge vom Verdienst der Werktätigen bewerkstelligt wurde (Art. 7). Die Bezugsvoraussetzungen der neuen Staatsaltersrente entfaltete man im zweiten Abschnitt, der sich zuerst mit dem Kreis der Berechtigten auseinandersetzte. Die Option auf den Erhalt einer monatlichen Zahlung bestand für jene Bürger, die der „staatlichen Sozialversicherung unterlagen“, d. h. deren Lebensarbeitsjahre als rentenrelevant anerkannt wurden. Dies traf weiterhin vor allem für Arbeiter und Angestellte246 sowie darüber hinaus für einige andere Personenkategorien247 zu. An die Stelle der vormals unübersichtlichen Differenzierung der Rentnerschaft trat nun die Unterteilung der Leistungsberechtigten in drei Gruppen: die Standardaltersrentner sowie die zwei bereits erwähnten Arten von Vorzugsrentnern, für die erleichterte Bezugsvoraussetzungen vorgesehen waren. Für Erstere galten wie zuvor das – im internationalen Vergleich niedrige248 – Renteneintrittsalter von 60 (Männer) bzw. 55 Jahren (Frauen) und ein Dienstalter von 25 bzw. 20 Jahren (Art. 8). Das Festhalten an diesen Kriterien sowie die Fortführung der fünfjährigen und geschlechtsabhängigen Altersdifferenz erklärte sich weit weniger aus den Erfordernissen der Zeit als aus dem Bestreben, nicht hinter die Vorgaben zurückzufallen, die die Standardaltersrente bereits seit 1929 kennzeichneten. Die allgemeine Lebenserwartung lag Ende der 1950er Jahre immerhin mehr als 24 Jahre über dem entsprechenden Wert von 1926/27, und Frauen wurden zu diesem Zeitpunkt im Schnitt mehr als sieben Jahre älter als ihre männlichen Mitbürger.249 Die Sowjetbürger konnten ihren Ruhestand nun deutlich länger genießen, was folglich zu einer höheren Belastung der staatlichen Finanzen durch die für die Altersversorgung notwendigen Ausgaben führen musste. Eine Anhebung des Rentenalters, die hier eine Lösung geboten hätte, hätte auch vor dem Hintergrund berechtigt erscheinen können, dass die gestiegene Lebenserwartung
246 Levšin u. a., Sovetskoe pensionnoe obespeþenie, S. 32, definieren „Arbeiter und Angestellte“ in diesem Zusammenhang als all jene Bürger, die auf der Grundlage eines Arbeitsvertrages tätig waren. Nicht zu dieser Kategorie zählten demzufolge Personen, die zwar ebenfalls für Betriebe und Dienststellen arbeiteten, jedoch lediglich über einen Werkvertrag, einen Arbeitsauftrag etc. beschäftigt waren. 247 Hierzu vgl. Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 7; Simonenko, Kto podleĪit; Zabozlaev, Izmenenija, S. 57; Hülsbergen, Die Alters- und Auslandsrentensysteme, S. 6770. 248 Sowjetische Autoren verweisen gern auf die höheren Altersgrenzen in den meisten Staaten des kapitalistischen Auslands. Beispielsweise lag das Rentenalter 1955 in Irland, Norwegen und Frankreich bei 70, in Island und Schweden bei 67, in der BRD und der USA bei 65 Jahren. Ebenfalls mit 60 (Männer) bzw. 55 Jahren (Frauen) wurden italienische Bürger verrentet. Vgl. Economic Survey, S. 123. 249 Vgl. Kalinjuk, Vozrastnaja struktura, S. 87; Bohn, Bevölkerung, S. 620.
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selbstredend zu einer Verlängerung jener Phase geführt hatte, in der das Individuum als arbeitsfähig gelten konnte. Der „traditionelle Konservatismus der sowjetischen juristischen Regelungen [...] und die Angst der sowjetischen Führung vor Einbußen an politischem Prestige“250 gestatteten es jedoch nicht, aus den demographischen Entwicklungen Konsequenzen zu ziehen. Insbesondere in der Furcht vor der Unzufriedenheit der Bevölkerung und dem Ansehensverlust im Ausland, die aus der Begrenzung des Versorgtenkreises resultieren mussten, mögen die Hauptgründe für die prinzipielle Ablehnung einer Anhebung des staatlichen Rentenalters gesehen werden.251 Auch das um fünf Jahre niedrigere weibliche Renteneintrittsalter blieb sakrosankt. Hierfür verantwortlich waren – wie Jakov M. Fogel’ bemerkt – neben „rein moralischen Gründen auch physiologische Eigenschaften, die ihre Arbeitsfähigkeit beeinflussen, sowie der Grad ihrer physischen und nervlich-psychologischen Belastung durch die Geburt und Erziehung der Kinder“.252
Für die Zugehörigkeit zu der zweigeteilten Vorzugsrentnerschaft reichte nicht mehr die Branchenzugehörigkeit eines Individuums aus. Das ausschlaggebende Kriterium stellten nun idealiter allein die Belastungen dar, unter denen ein Beruf vor dem Rentenantritt ausgeübt worden war. Begründet wurde das hier vorgesehene niedrigere Rentenalter sowie das – für die erste Kategorie ebenfalls – reduzierte Dienstalter „mit dem früheren Verschleiß des Organismus aufgrund der ungünstigen Arbeitsbedingungen“.253
250 Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 43. 251 Vgl. Madison, The Soviet Social Security System, S. 180. Sowjetische Autoren beschreiben das Festhalten an den bekannten Altersgrenzen in der Regel als Errungenschaft. So führt M. L. Zacharov diesen Sachverhalt auf die Tradition und die hohe Qualität der staatlichen Sorge um die älteren Menschen zurück. Vgl. Sovetskoe pensionnoe pravo, S. 152. Und Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 76, konstatiert im Zusammenhang mit dem staatlichen Bedarf an der Weiterarbeit älterer Menschen: „Bei der Lösung des Problems der rationalen Verwendung der Arbeitskräfteressourcen beschritt unser Staat selbst in Zeiten der größten Schwierigkeiten mit dem Personalbestand niemals den Weg einer Verschlechterung der Bedingungen der Altersrentenversorgung (nahm z. B. niemals Zuflucht bei einer Anhebung des Rentenalters [...]), sondern suchte einen Ausweg in der Vervollkommnung des materiellen Anreizes zur Teilnahme der Rentner an der gesellschaftlichen Produktion.“ 252 Fogel’, Soveršenstvovanie, S. 8182. Vgl. auch Buckley Donahue, Promises, S. 255. 253 Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 53. Ein solcher Verweis auf den eher einsetzenden Verlust der Arbeitsfähigkeit vermag allerdings dann nicht vollends zu überzeugen, wenn man die Ergebnisse einer Analyse zur Kenntnis nimmt, die das Dnepropetrovsker Institut für die Untersuchung der Arbeitstauglichkeit vornahm: Hier kam man zu dem Resultat, dass lediglich 13–16 % der Personen, die im Alter von 45–50 Jahren die Vorzugsrente angetreten hatten, unter medizinischen Gesichtspunkten als „invalide“ gelten konnten. Vgl. ders., Itogi, S. 6. Vor diesem Hintergrund scheint die Vermutung berechtigt, dass bei der Festlegung der Berufe, die zum Erhalt einer vergünstigten Alterssicherung befähigen sollten, weiterhin auch andere Kriterien eine Rolle spielten: ideologische Vorlieben; die Lobbyarbeit der Vertreter bestimmter Industriebereiche; der Bedarf an Arbeitskräften in Tätigkeitsbereichen, in denen die Nachwuchsrekrutierung Probleme bereitete.
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Darüber, ob ein Arbeitsbereich für eine der beiden Vorzugsrenten qualifizierte, informierten zwei Listen, die der Goskomtrud zu diesem Zweck erstellte.254 Auf ihnen wurden zum einen die jeweiligen Berufsbezeichnungen, zum anderen die Produktionsbereiche,255 in denen die Tätigkeit vollzogen wurde, im Detail aufgeführt. Für Vorzugsrenten „gemäß Liste I“ kamen Arbeiter und Angestellte in Frage, die unter Tage, unter gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen oder in heißen Werksabteilungen tätig waren. Hierzu zählten z. B. Menschen, die in Kohleschächten oder beim Tunnelbau tätig waren oder die in Chemiebetrieben Umgang mit Salpetersäure oder Quecksilber hatten. Die Altersgrenze belief sich für Männer auf 50, für Frauen auf 45 Jahre, und das vorzuweisende Dienstalter lag bei respektive 20 und 15 Jahren. Anspruch auf eine vergünstigte Leistung „gemäß Liste II“ erhielten Beschäftigte „mit anderweitigen Arbeitstätigkeiten unter schwierigen Arbeitsbedingungen“. In dieser Kategorie fanden sich etwa Eisenbahnmaschinisten oder Arbeiter im Bergtagebau.256 Hier galt ein Renteneintrittsalter von 55 (Männer) bzw. 50 Jahren (Frauen), während sich der trudovoj staž nicht von den Standardanforderungen unterschied. Um sich für eine der beiden Vorzugsrenten zu qualifizieren, musste mindestens die Hälfte des notwendigen Dienstalters in einem Beruf absolviert worden sein, der auf der jeweiligen Liste verzeichnet war (Art. 9). Sonderregelungen galten auch für einige weitere Personenkreise: Zum einen mussten die bereits angeführten kinderreichen Mütter lediglich ein Alter von 50 sowie einen staž von 15 Jahren vorweisen (Art. 10). Zum anderen genossen laut Staatsrentenordnung Personen einen Vorteil, deren Arbeitstätigkeit sie in den Hohen Norden geführt hatte: Jedes einzelne Jahr, das ein Werktätiger etwa im Gebiet Murmansk absolviert hatte, zählte bei der Berechnung doppelt.257 Eine solche Vergünstigung existierte schließlich auch für das Personal von medizinischen Ein-
254 Diese Aufstellungen erlangten mit der Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 22. August 1956 Nr. 1173 „Über die Bestätigung der Listen jener Produktionsbereiche, Werksabteilungen, Berufe und Ämter, die zu einer staatlichen Rente zu vergünstigten Bedingungen und in vergünstigter Höhe berechtigen“ Gesetzeskraft. Veröffentlicht wurden sie in Spiski proizvodstv. Insgesamt umfassten die Listen zum Zeitpunkt ihrer Zusammenstellung mehr als 6.000 Berufs- und Amtsbezeichnungen. Vgl. Gorbunov, O pravilach, S. 13. 255 Berechtigt waren in der Regel nicht pauschal alle Bürger, die einen bestimmten Beruf ausübten. Der Produktionszweig, dem man angehörte, war ebenfalls von Bedeutung. In diesem Sinne besaß das Branchenprinzip – in Verbindung mit den konkreten Arbeitsbedingungen – weiterhin Relevanz. Eine Ausnahme bestand hier nur für Professionen, die in der Sparte der „übrigen Berufe“ aufgeführt wurden: So hatte man z. B. als Polierer unabhängig vom jeweiligen Zweig der metallverarbeitenden Industrie, in dem man tätig war, Anspruch auf eine vergünstigte Rente. Vgl. ebd., S. 14. 256 Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 53. 257 Vgl. Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 139141. Hier setzte man eine Praxis fort, die kurz nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs eingeführt worden war. Vgl. das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 1. August 1945 „Über die Vergünstigungen für Personen, die in den Gebieten des Hohen Nordens arbeiten“ (VVS SSSR, 1945, Nr. 51).
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richtungen zur Behandlung von Lepra- und Pestinfizierten, deren Aufgabengebiet von einer erhöhten Ansteckungsgefahr gekennzeichnet war.258 In der Vorreformzeit war es notwendig gewesen, dass ein Antragsteller den gesamten trudovoj staž nachwies, bevor er einen Anspruch auf Altersversorgung realisieren konnte. Hierin hatte, wie erwähnt, ein gewichtiger Grund dafür bestanden, dass ein beträchtlicher Teil der älteren Bürger unversorgt geblieben war. Mit dem Staatsrentengesetz entfernte man sich ein gutes Stück weit von einer solch strikten Handhabung des Dienstalterkriteriums: Nun war es möglich, eine anteilige Rente zu erhalten, wenn man mindestens fünf Jahre lang gearbeitet hatte. Allerdings war diese Option an zusätzliche Vorbedingungen geknüpft, die den Kreis der Bezugsberechtigten in beträchtlicher Weise einschränkten. So hatte man vor der Teilrentenbeantragung zuallererst das für den Empfang einer Standardrente erforderliche Alter von 55 bzw. 60 Jahren zu erreichen. Auch war der diesbezügliche Antrag spätestens einen Monat nach der Beendigung der Arbeitstätigkeit zu stellen.259 Verlangt wurde des Weiteren, dass mindestens drei der geleisteten Arbeitsjahre unmittelbar vor der Verrentung absolviert worden waren.260 Von der anteiligen Leistung ausgeschlossen blieben demnach all jene Menschen, die nicht bis zum Erreichen der Altersgrenze einer sozialversicherungsrelevanten Arbeit nachgegangen waren.261 Des Weiteren waren die Teilrenten noch von einigen weiteren Beschränkungen gekennzeichnet. So verloren Antragsteller, die sich im Falle einer vollständigen Erfüllung des staž-Kriteriums aufgrund ihres Berufsprofils für eine Vorzugsrente qualifiziert hätten, bei unvollständigem Dienstalter den Anspruch auf die vergünstigten Bezugsbedingungen.262 Die Höhe der Teilaltersrenten ent258 Vgl. Ziff. 113 der Staatsrentenordnung von 1956. Vgl. Babkin u. a., Kommentarij, S. 280. 259 Vgl. Ziff. 98a der Staatsrentenordnung von 1956; Karcchija, Pri kakich uslovijach, S. 18; Erläuterung des Goskomtrud vom 15. Juli 1958 Nr. 15; Aþarkan, Art. Pensija pri nepolnom staže. 260 Zweck dieser Vorschrift war es, wie Jasnov vor dem Obersten Sowjet der UdSSR erklärte, zu verhindern, dass Personen, die „in der Vergangenheit ein niedriges Dienstalter erreicht haben, bei Erreichen eines betagten Lebensalters kurzfristig eine Arbeit annehmen und eine Rente bekommen, was ungerecht wäre“. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva, S. 94. 261 Insbesondere der Umstand, dass aufgrund dieser Bedingung ältere Bürger, die einen das halbe Jahrzehnt deutlich überschreitenden staž vorzuweisen hatten, dennoch gänzlich ohne jedwede Unterstützungsleistung bleiben konnten, rief immer wieder Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Teilrentenbestimmungen hervor. Zu denen, die hier Kritik übten, gehörte O. Arturov, ein Mitarbeiter des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Arbeit: „Die Regel [...] verwehrt dieser Personenkategorie faktisch die Möglichkeit, eine Rente zu beziehen, und widerspricht dadurch dem Geist und Wortsinn des Rentengesetzes. Sie sollte aus der Verordnung genommen werden.“ GARF, F. R 9595, op. 1, d. 6, l. 32. Vgl. auch GARF, F. R 5451, op. 29, d. 666, l. 33; F. A 413, op. 1, d. 3571, ll. 5354. Für die allgemeine Unzufriedenheit mit den Restriktionen spricht auch der Umstand, dass 1963 immerhin sechs jener 14 Sozialversorgungsminister der Republiken, die sich in der Zeitschrift Social’noe obespeþenie zur Nachbesserung des Staatsrentengesetzes äußerten, auf eine Änderung von Ziff. 98 drängten. Vgl. Govorjat ministry (Teil 1), S. 412; Govorjat ministry (Teil 2), S. 49. 262 Ebenso wenig erhielt man einen Zuschlag bei Vorhandensein von unterhaltsberechtigten Familienmitgliedern oder eines ununterbrochenen Dienstalters. Vgl. Ziff. 100 der Staatsren-
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sprach proportional dem Maße, in dem man seinen trudovoj staž erfüllt hatte, geringstenfalls jedoch einem Viertel der Mindestrente (Art. 12). Hauptverantwortlich dafür, dass es mit dem Gesetz vom 14. Juli 1956 zu einem beträchtlichen Anstieg der durchschnittlichen Zahlungen kam, war das reformierte Leistungsbemessungssystem. Von besonderer Bedeutung war hier die Festlegung der neuen Ober- und Untergrenze: Der Mindestsatz, mit dem man das Ziel verfolgte, „dem Rentner das notwendige minimale Niveau materieller Sicherheit zu garantieren“,263 belief sich auf 30 R und lag somit um 173 % über der zuvor für städtische Arbeiter und Angestellte gültigen Untergrenze von 11 R. Warum entschied man sich gerade für diesen und keinen anderen Betrag? Möglich scheint, dass man sich hier an jenen 30 R orientierte, die ab dem 1. Januar 1957 das Mindesterwerbseinkommen für städtische Arbeiter und Angestellte darstellten. So befindet etwa Aþarkan in der Rückschau, dass man bei „der Bestimmung der Höhe der Renten des Staatsrentengesetzes von 1956 [...] das Niveau des Arbeitsverdienstes zu dieser Zeit im Blick (Mindesthöhe: 30 R; durchschnittliches Erwerbseinkommen 72 R)“264
gehabt habe. Dagegen ist jedoch einzuwenden, dass die entsprechende Untergrenze beim Erwerbsentgelt erst am 8. September 1956 festgesetzt wurde,265 also knapp zwei Monate nach der Annahme des Staatsrentengesetzes. Sicherlich waren die für die Rentenreform zuständigen Goskomtrud-Mitarbeiter schon lange vor dem September über die Inhalte der Lohn- und Gehaltsreform informiert, die ja unter demselben Dach konzipiert wurde. Man könnte somit von ihrer Vorbereitung beeinflusst worden sein. Tatsache ist allerdings, dass die erstmalige Erwähnung der 30-R-Rentenuntergrenze schon auf den Mai 1954 datierte.266 Der Goskomtrud existierte damals noch nicht, und es ist zumindest fraglich, ob zu jener Zeit bereits von anderer Seite an der Lohn- und Gehaltsreform gearbeitet wurde. Nicht auszuschließen ist hingegen, dass schon Berechnungen zum Existenzminimum durchgeführt worden waren, die einen Betrag von 30 R für städtische Bürger ergeben hatten und die noch zwei Jahre später der Festsetzung von Mindest-
263 264 265
266
tenordnung von 1956. Auch mussten Teilaltersrentner, die nach dem Leistungsantritt z. B. in einem Arbeiter- oder Angestelltenberuf erwerbstätig oder Mitglied eines Kolchos waren, zur Gänze auf ihre Alterssicherung verzichten. Vgl. Ziff. 171 der Staatsrentenordnung von 1956. Diese Einschränkung wurde 1964 dahingehend aufgelockert, dass Tätigkeiten im Agrarsektor zugelassen wurden, was für die Bedeutung spricht, die hier dem Arbeitsbeitrag von Ruheständlern beigemessen wurde. Vgl. z. B. die Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 11. März 1964 Nr. 309 „Über die Erhöhung der materiellen Interessiertheit der Rentner an der Arbeit in der Produktion“ (SP RSFSR, 1964, Nr. 5, Pos. 33); Abrosimova, Pensii, S. 174175. Sacharow Ziwiljow, Sozialfürsorge, S. 33. Aþarkan, Aktualތnye problemy, S. 138. Diese Auffassung wurde auch von westlichen Autoren übernommen. Vgl. z. B. Nove, Economic History, S. 339. Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR, des ZK der KPdSU und des VCSPS vom 8. September 1956 „Über die Anhebung der Erwerbseinkommen für gering entlohnte Arbeiter und Angestellte“ (SP SSSR, 1957, Nr. 2, Pos. 5). Vgl. RGANI, F. 5, op. 30, d. 57, l. 79.
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rente und -verdienst zugrunde lagen.267 Möglicherweise ließ man sich aber auch von der Symbolkraft jener 30-R-Bemessungsobergrenze leiten, die bis 1956 dafür verantwortlich war, dass die Standardaltersrente – inklusive Brotzulage – den Betrag von 21–24 R nicht zu überschreiten vermochte: Die Entscheidung für diesen Betrag als Altersrentenminimum musste die mit der Staatsrentenreform verbundene Steigerung des Versorgungsniveaus offensichtlich werden lassen. Die Rentenobergrenze fixierte man bei 120 R, wodurch eine Deckelung der überhöhten Leistungen für privilegierte Kreise der Arbeitnehmerschaft bewirkt werden sollte. Zwar ist behauptet worden, dass diese Marke Mitte der 1950er Jahre dem durchschnittlichen Erwerbseinkommen sowjetischer Arbeiter und Angestellter entsprochen habe,268 doch trifft dies nicht zu, wenn man sich an die in den Jahrbüchern zur sowjetischen Volkswirtschaft publizierten Daten hält: Hier ist für 1955 lediglich von 71,80 R die Rede – bzw. von 91,80 R, wenn man die Auszahlungen und Vergünstigungen aus den gesellschaftlichen Verbrauchsfonds hinzurechnet.269 Einleuchtender erscheint deshalb die Möglichkeit, dass der Gesetzgeber sich von jenen 120 R inspirieren ließ, die zur Zeit der Reformvorbereitung den höchsten Basissatz darstellten, auf dem die monatlichen Bezüge eines sowjetischen Arbeiters basieren konnten.270 Die Höhe der individuell bezogenen Leistung leitete sich nun aus dem tatsächlich verdienten Erwerbseinkommen ab, was bedeutete, dass man z. B. bei der Rentenberechnung für Arbeiter und Angestellte nicht mehr nur vom Basissatz oder den Dienstbezügen ausging. Stattdessen wurden sämtliche Formen des Erwerbsentgelts, für die Sozialversicherungsbeiträge zu leisten waren, berücksichtigt. Ausgenommen waren hier lediglich die Bezüge für Überstunden und Nebenbeschäftigungen sowie Einmalzahlungen jeder Art (Art. 53). Bei der Festsetzung der Renten folgte man dem erwähnten degressiv abgestuften Berechnungsmodell, das Geringverdiener tendenziell gegenüber Personen mit größeren Einkommen bevorteilte: Je höher das frühere Arbeitsentgelt gewesen war, desto niedriger fiel nun der Rentensatz aus.271 Die erste von sechs Bemessungsgruppen, in die die Leistungsberechtigten eingeteilt waren, vereinigte Ruheständler, die lediglich bis zu 35 R im Monat verdient hatten und nun eine Altersrente beanspruchen konnten, die diesem Betrag zu 100 % entsprach. Am anderen Ende der Skala fanden sich Bürger, deren Lohn oder Gehalt mindestens 100,01 R betragen hatte: Ihr An267 Zu den sowjetischen Berechnungen des Existenzminimums siehe Abs. 3.2. Die Annahme, dass diesbezüglich bereits 1954 wissenschaftlich fundierte Kalkulationen durchgeführt wurden, widerspräche der Meinung McAuleys, dem zufolge man sich mit dem Problem erst ab 1956 beschäftigte. Vgl. McAuley, Economic Welfare, S. 1720, der die in Urlanis, Vlijanie, veröffentlichten Ergebnisse einer Untersuchung der ZVS der UdSSR als Resultat dieser Bemühungen interpretiert. 268 Vgl. Aþarkan, Aktualތnye problemy, S. 139. 269 Vgl. NCh SSSR v 1970 g., S. 519. Zu den gesellschaftlichen Verbrauchsfonds siehe Anm. 447. 270 Vgl. Pravdin, Neproizvodstvennaja sfera, S. /DQFHY 6RFLDOތQRH REHVSHþHQLH Y 6665 (1976), S. 129. 271 Dabei folgte man einem Prinzip, das auch bei der Berechnung der Einkommenssteuer Anwendung fand. Vgl. Madison, Soviet Income Maintenance Policy, S. 101.
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teil belief sich nur noch auf 50 %.272 Dabei setzte man für jede der Gruppen ein Leistungsminimum fest, das dem höchstmöglichen Betrag in der vorangegangen entsprach.273 Einen Vorteil bei der Rentenkalkulation konnten Ruheständler verzeichnen, die sich für eine Vorzugsrente „gemäß Liste I“ qualifizieren konnten: Die diesbezüglichen Bemessungssätze fielen – von der zweiten Gruppe an aufwärts – um jeweils 5 % höher aus als die der übrigen Altersrentner (Art. 13).
Tab. 2b: Die Rentenbemessungstabelle für staatliche Altersrenten
Früheres monatliches Erwerbsentgelt in R
bis 35,00 R 35,01 bis 50,00 R 50,01 bis 60,00 R 60,01 bis 80,00 R 80,01 bis 100,00 R ab 100,01 R
Gewöhnliche Arbeiter und Angestellte sowie Personen mit Anspruch auf eine Vorzugsrente „gemäß Liste II“
Personen mit Anspruch auf eine Vorzugsrente „gemäß Liste I“
Anteil am früheren Erwerbsentgelt (in %)
Niedrigster Rentenbetrag (in R)
Anteil am früheren Erwerbsentgelt (in %)
Niedrigster Rentenbetrag (in R)
100 85 75 65 55 50
30,00 35,00 42,50 45,00 52,00 55,00
100 90 80 70 60 55
30,00 35,00 45,00 48,00 56,00 60,00
Quelle: Art. 13 des Staatsrentengesetzes.
Die Höhe des rentenrelevanten Erwerbsentgelts errechnete sich auf zwei möglichen Wegen: Es war dem Antragsteller freigestellt, ob er den Durchschnittswert seiner Einkünfte a) aus den letzten zwölf der Rentenbeantragung vorangegangenen Monaten oder b) – und dies war neu – aus fünf beliebigen aufeinanderfolgenden Jahren innerhalb des letzten Jahrzehnts vor der Antragstellung bestimmen ließ (Art. 53). Die zweite Option war speziell vor dem Hintergrund der Tatsache attraktiv, dass manche ältere Arbeitnehmer in der Phase unmittelbar vor dem Rentenantritt Einkommenseinbußen erfuhren. Angesichts ihrer verminderten Arbeitsproduktivität im „vorgerückten Alter oder im Zusammenhang mit erlittenen Krankheiten“274 wurden sie von ihren Betriebs- und Fabrikleitern nicht selten mit 272 Für Personen, deren rentenrelevante Löhne oder Gehälter über dem Limit von 240 R lagen, galt de facto ein noch niedrigerer Bemessungssatz, da ihre Altersrente in keinem Fall 120 R überschreiten konnte. 273 Dementsprechend erhielt z. B. ein Bürger, dessen Erwerbsentgelt sich auf 62 R belief, eine Rente in Höhe von 45 R. Der faktische Bemessungssatz belief sich solcherart auf 72,6 % anstelle von 65 %. Auf diesem Wege verhinderte man, dass Personen mit höheren Löhnen oder Gehältern eine niedrigere Rente bezogen als jene mit einem geringeren früheren Verdienst. 274 Vgl. Gorochovskij, Zabota, S. 27.
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Aufgaben betraut, die weniger anspruchsvoll, gleichzeitig aber auch geringer entlohnt waren. Allerdings machte nur eine Minderheit der älteren Arbeitnehmer von der zweiten Möglichkeit Gebrauch.275 Eine besondere Regelung bei der Leistungsberechnung betraf, wie erwähnt, einen Teil der ländlichen Werktätigen. Wohnte ein Antragsteller auf dem Land276 und verfügte er gleichzeitig über eine „Verbindung zur Landwirtschaft“, so fiel das monatliche Ruhestandsgeld um 15 % niedriger aus (Art. 56). Begründet wurde die Minderung mit den vermeintlichen Vorteilen der Dorfbewohner.277 Auch für die Ober- und Untergrenzen galt dieser Abzug: Die Mindestaltersrente belief sich für die Betroffenen demzufolge auf 25,50 R, die Höchstrente auf 102 R. Eine Verbindung zur Landwirtschaft lag unter zwei Bedingungen vor: Zum einen musste der angehende Ruheständler fortwährend auf dem Land leben; zum anderen hatte er entweder Mitglied eines Kolchoshofes zu sein oder – wenn dies nicht der Fall war – über ein privat bewirtschaftetes Hofgrundstück zu verfügen, dessen Größe ein bestimmtes Maß – in der Regel 0,15 ha –278 überschritt. Für die Höhe der dem Ruheständler ausgezahlten Leistung war schließlich auch die Frage relevant, ob sich der Einzelne für einen von drei möglichen Zuschlägen (nadbavki) qualifizierte. Die ersten beiden besaßen in dem Sinne eine Anreizfunktion, als dass sie es honorierten, wenn Personen kontinuierlich oder über einen langen Zeitraum hinweg arbeitstätig waren. Der Zuschlag für ein „unun-
275 Eine sowjetische Untersuchung zu diesem Thema ergab Ende der 1960er Jahre, dass nur 7,9 % aller Rentner die Fünf-Jahre-Variante wählten, während die Leistung in 92,1 % aller Fälle auf der Grundlage des letzten Arbeitsjahres bestimmt wurde. Eine solche Entscheidung bot sich für all jene Bürger an, die von dem allgemeinen Wachstum der Löhne und Gehälter profitieren konnten: Ein zeitlich weiter zurückliegendes Einkommen fiel meist niedriger aus als das der letzten zwölf Monate vor dem Rentenantritt. Vgl. Porket, Social Policy, S. 117; Aþarkan, Pensionnoe zakonodatel’stvo, S. 123124. 276 Unter „ländlicher Gegend“ verstand man alle bewohnten Orte, die weder als Stadt noch als Siedlung städtischen Typs kategorisiert wurden. Vgl. Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 212. 277 Gorochovskij, Zabota, S. 28, stellt in diesem Zusammenhang fest: „Der Lebensstandard von Arbeitern und Angestellten, die fortwährend in ländlichen Gegenden leben, bildet sich gewöhnlich nicht nur auf der Grundlage des Erwerbsentgelts, sondern auch aus den Einkünften aus der privaten Nebenwirtschaft und anderen Einkünften aus der Landwirtschaft, während in den Städten lebende Arbeiter und Angestellte in der Regel über kein anderes Einkommen als den Arbeitsverdienst verfügen. Es wäre ungerecht, die staatliche Altersversorgung [...] ohne Berücksichtigung dieses Umstandes zu gewähren.“ 278 Für einzelne Berufsgruppen existierten etwas mildere Bedingungen: Agronomen, Zootechniker und Tierärzte durften solcherart bis zu 0,25 ha Land bewirtschaften, und Sowchos-Beschäftigten war es mitunter sogar erlaubt, über bis zu 0,50 ha zu verfügen, ohne dass ihre Renten eine Minderung erfuhren. Die Vorschriften zur Größe des privaten Grundstücks der Sowchosarbeiter variierten in Abhängigkeit von dem Verwaltungsgebiet, in dem sich der jeweilige Sowchos befand. Vgl. Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 210, § 2. Es ist davon auszugehen, dass größere private Anbauflächen speziell in klimatisch ungünstigen Gegenden gestattet wurden.
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terbrochenes Dienstalter“ (nepreryvnyj staž)279 von mehr als 15 Jahren erhöhte die Altersrente um 10 % und stellte ein Instrument zur Eindämmung der Fluktuation am Arbeitsplatz dar. Von derselben Steigerung konnte man auch dann profitieren, wenn man ein überdurchschnittlich langes „allgemeines Dienstalter“ (obšþij staž) nachzuweisen vermochte, worunter gewöhnlich ein Zeitraum von mindestens 35 (Männer) bzw. 30 Jahren (Frauen) zu verstehen war. Erfüllte ein Antragsteller allerdings gleichzeitig die Kriterien für beide Zulagen, so hatte er sich für eine von ihnen zu entscheiden. Die dritte Zuschlagsmöglichkeit konnte hingegen parallel realisiert werden und besaß eine kompensatorische Qualität, indem sie die sich aus familiären Umständen ergebenden Mehrausgaben berücksichtigte: Unter der Bedingung, dass ein Ruheständler nach dem Rentenantritt keiner weiteren Erwerbstätigkeit nachging, erhöhte sich seine monatliche Zahlung um 10 %, wenn er einen einzelnen Unterhaltsberechtigten zu versorgen hatte, und um 15 %, wenn es sich hier um zwei und mehr Personen handelte. In allen drei Fällen galt jedoch weiterhin das Rentenmaximum (Art. 14).280 Da sich die Regelungen von 1956 rückwirkend auch auf Personen erstreckten, die bereits vor dem Oktober des Jahres staatliche Leistungen erhalten hatten, musste es in vielen Fällen zwangsläufig zu einer Neuberechnung kommen. Eine große Bedeutung für die positive Rezeption des Reformwerks gerade unter jenen Bürgern, denen es unter den Bedingungen des Status quo ante gar nicht so schlecht ergangen war, besaß deshalb die Bestimmung, dass sich das individuelle Rentenniveau in keinem Fall verschlechtern sollte. Eine Ausnahme bestand allein in Bezug auf Ruhestandsgelder, die den Höchstbetrag überschritten: Sie wurden ab dem 1. Oktober 1956 auf 120 bzw. 102 R heruntergestuft (Art. 57).281 279 Der Begriff des „ununterbrochenen Dienstalters“ bezeichnete Mitte der 1950er Jahre nicht mehr – wie dies ursprünglich einmal der Fall gewesen war – allein die kontinuierliche Beschäftigung in ein und demselben Betrieb. In vielen Fällen, in denen ein Arbeiter oder Angestellter seinen Arbeitgeber wechselte, blieb die nepreryvnost’ seiner Wartezeit solcherart bestehen. Dies war z. B. bereits dann noch der Fall, wenn der Beschäftigte seine Anstellung aus eigenem Antrieb kündigte und innerhalb eines Monats eine neue Stelle anzutreten vermochte. Detailliert setzt sich Gincburg, Trudovoj staž, S. 156169, mit dem Konzept des nepreryvnyj staž auseinander. Vgl. auch Babkin u. a., Kommentarij, S. 282299; Karavaev, Nepreryvnyj staž. 280 Vgl. auch Naralenkova, Nadbavki, S. 49; Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 35. Dass ein Anspruch auf eine dieser drei nadbavki geltend gemacht wurde, war beileibe keine Seltenheit. Den Stichprobenartigen Untersuchungen der ZVS der UdSSR zufolge erhielten 1959 47,3 % und 1966 sogar 50,8 % all jener Ruheständler, die eine volle Altersrente bezogen, einen Rentenzuschlag. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, l. 112; op. 44, d. 2807, l. 87. Vgl. auch Pavlova, O differenciacii, S. 1200. Untersuchungen gemäß, die Ende 1960er Jahre vorgenommen wurden, belief sich dabei der Anteil der Personen, die eine nadbavka aufgrund des Vorhandenseins von unterhaltsberechtigten Angehörigen erhielten, auf 12 %. Vgl. Naralenkova, Nadbavki, S. 50. Ein „allgemeines Dienstalter“ von 30 bzw. 35 Jahren konnten etwa 10 % der Frauen und 15 % der Männer vorweisen. Die meisten Zuschläge (vier von fünf Fällen) basierten zu diesem Zeitpunkt allerdings auf der „Ununterbrochenheit“ der Arbeitstätigkeit. Vgl. Aþarkan, Social’no-pravovye mery, S. 3233; Fogel’, Pravovye voprosy, S. 22. 281 Die Tatsache, dass Personen, die nach dem 1. Oktober 1956 weiterhin ihre alten „erhöhten“ Renten bezogen, keine Leistungseinbußen erlitten, implizierte auch, dass sie bei Weiterarbeit ihr
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Ebenfalls im Staatsrentengesetz enthalten war die Regelung der Weiterarbeit über den Rentenantritt hinaus. Wie bereits im Zusammenhang mit der Reformentstehung dargestellt, konnten gewöhnliche Ruheständler bei einer Fortsetzung ihrer Arbeitstätigkeit lediglich eine Alterssicherung in Höhe von 15 R beziehen. Und auch dies galt nur dann, wenn ihr jeweiliges Erwerbseinkommen die Grenze von 100 R nicht überschritt. Begründet wurde der Pauschalbetrag freilich nicht mit der vermeintlichen Belastung der Produktionsprozesse durch die älteren Arbeitskräfte, sondern mit dem Argument, dass andernfalls der Sinn des Ruhestandsgeldes entstellt werde.282 Ähnliche Bedenken existierten freilich nicht in Bezug auf jenen Teil der Rentnerschaft, an dessen fortgesetzter Tätigkeit ein gesellschaftliches Interesse bestand: Vorzugsrentnern „gemäß Liste I“ bezahlte man 50 % ihrer Altersrente (mindestens jedoch 15 R) aus, wobei die Höhe ihres jeweiligen Lohns oder Gehalts keine Relevanz besaß (Art. 15). Bei der individuellen Entscheidung für oder gegen die Weiterarbeit war schließlich auch der Umstand von Belang, dass man alle zwei Jahre nach der Leistungsfestsetzung eine Neuberechnung der Rentenzahlung erwirken konnte (Art. 54). Diese Möglichkeit wurde dann attraktiv, wenn der Durchschnittsverdienst in der Zwischenzeit gestiegen war und zu einem höheren Ruhestandsgeld berechtigte.
2.1.3. Die Formalitäten 2.1.3.1. Die Rentenbeantragung Die für die Bewilligung der Altersrente entscheidende Instanz war die sogenannte Kommission für die Rentenfestsetzung. Hierbei handelte es sich um ein unter dem Dach des Exekutivkomitees des örtlichen Deputiertenrats eingerichtetes Gremium, das sich in der Regel aus drei Personen zusammensetzte: Als Vorsitzender der Kommission fungierte der Leiter der örtlichen Abteilung der Sozialversorgung; ihm zur Seite standen der Chef der Finanzabteilung des Exekutivkomitees sowie ein Vertreter der Gewerkschaftsorganisation.283 Die Tatsache, dass nicht ein einzelner Verwaltungsangestellter, sondern ein „kollegiales Organ“ für diese Entscheidung zuständig war, sollte es ermöglichen, „die Interessen der Rentner vollständiger und gründlicher zu berücksichtigen“.284 Gleichzeitig war die Teilnahme volles Ruhestandsgeld erhielten und bei Vorhandensein einer „Verbindung zur Landwirtschaft“ keinen 15-prozentigen Abzug erdulden mussten. Vgl. Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 249, § 34; Karcchija, Pensii po starosti, S. 69. 282 So konstatiert Gorochovskij, Zabota, S. 24, bezüglich der vor der Reform gültigen Bestimmungen zur Weiterarbeit: „Gegenwärtig wird arbeitenden Rentnern [...] die Rente vollständig ausbezahlt. Das führt manchmal zu erheblichen Unmäßigkeiten. Außerdem verliert die Rente [so] ihre Bedeutung als Mittel der Versorgung des Arbeitstätigen im Alter und wird zu einer bloßen Zulage zum Erwerbsentgelt.“ 283 Hierbei sollte es sich im Idealfall um einen „juristisch bewanderten, das Rentengesetz perfekt kennenden“ Gewerkschaftler handeln. Podnjat ތurovenތ, S. 3. 284 Karcchija, Pensii po starosti, S. 62.
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von Kommissionsmitgliedern, die nicht den Organen der Sozialversorgung entstammten, als ein potentielles Korrektiv gedacht.285 Die den Rentenbescheid vorbereitenden Tätigkeiten wurden anfangs hauptsächlich von den örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung durchgeführt. Hier hatte der angehende Ruheständler seinen Rentenantrag persönlich oder per Post einzureichen. Bei der Abgabe des Antrags, der über den Namen und die Adresse des angehenden Ruheständlers sowie die Art der von ihm beantragten Leistung informierte, musste man sich mit Hilfe eines Passes oder eines anderen Dokuments, das die Identität der eigenen Person belegte, ausweisen. Dadurch bestätigte der Bürger gleichzeitig, dass er das erforderliche Alter erreicht hatte. Das Datum, an dem man sich an die Organe der Sozialversorgung wandte, besaß unter dem Gesichtspunkt eine besondere Relevanz, dass der Beginn des Rentenanspruches bei einer Bewilligung auf diesen Tag rückdatiert wurde. Dem Gesuch waren Dokumente beizufügen, mit deren Hilfe zum einen die grundsätzliche Berechtigung zum Erhalt der Altersrente, zum anderen ihre jeweilige Höhe bestimmt werden konnte. Hierzu zählten: a) Dokumente, die das individuelle Dienstalter belegten; b) eine Bescheinigung über das rentenrelevante Erwerbseinkommen; c) Papiere, die die Grundlage für Zuschläge oder Leistungsminderungen bildeten. Die für den Nachweis des trudovoj staž übliche Unterlage stellte das Arbeitsbuch dar. Hierbei handelte es sich um ein im Januar 1939 für Arbeiter und Angestellte als ständiges Ausweispapier eingeführtes Dokument,286 das den Beschäftigten über verschiedene, aufeinander folgende Anstellungen hinweg begleitete und so über die Arbeitsbiographie des Beschäftigten und die Höhe seines Dienstalters Auskunft gab.287 In den ersten Jahren nach der Verabschie285 Diesen Gedanken hatte M. A. Gedvilas am 12. Juli 1956 vor dem Nationalitätenrat ausgeführt: „Die Kommission [für Gesetzesvorschläge des Nationalitätenrats] hält es für notwendig, dass [...] die Renten nicht per Anordnung von einzelnen Amtspersonen, von Mitarbeitern der Organe der Sozialversorgung festgesetzt werden, sondern über Beschlüsse spezieller Kommissionen, die von den Exekutivkomitees der auf Bezirks- oder Stadtebene eingerichteten Deputiertenräte gebildet werden. Ein solches Verfahren [...] ist nicht nur demokratischer, es wird auch die notwendige Kritik an Mängeln in der Arbeit der Organe der Sozialversorgung ermöglichen.“ Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva, S. 37. Vgl. auch Astrachan, Principy, S. 112113. 286 Vgl. die Verordnung des Rats der Volkskommissare der UdSSR vom 20. Dezember 1938 „Über die Einführung der Arbeitsbücher“ (SP SSSR, 1938, Nr. 58, Pos. 329). Dieser Schritt reihte sich ein in die zu jener Zeit unternommenen Maßnahmen zur Verschärfung der Arbeitsdisziplin und bedeutete, folgt man Schwarz, Arbeiterklasse, S. 115, „eine beträchtliche Schmälerung der Bewegungsfreiheit der Arbeitnehmer. Grundsätzlich war sie [die Einführung der Arbeitsbücher; L. M.] ein neuer Schritt auf dem Wege zur durchgängigen Zwangsorganisation der Arbeit.“ Vgl. auch Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 68. 287 Eingetragen wurde hier etwa, wann der Beschäftigte seine Anstellung im jeweiligen Betrieb angetreten hatte, wie lange dieser zuvor an Hoch- und Fachschulen ausgebildet worden war oder in der Armee gedient hatte, welche Belobigungen ihm zuteilgeworden waren und ob er schon einmal entlassen worden war, und wenn dies der Fall war, aus welchem Grund. Im Zusammenhang mit der Rentenbeantragung von besonderer Wichtigkeit war allerdings die Tatsache, dass das Arbeitsbuch im Unterschied zu früheren Formen der Dokumentation ebenfalls festhielt, auf insgesamt wie viele Jahre sich das allgemeine Dienstalter der betreffenden Per-
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dung der Reform war der lückenlose Nachweis einer 20 bis 35 Jahre langen Tätigkeit allerdings mit Hilfe des Arbeitsbuches allein – aufgrund seiner späten Einführung – nicht zu bewerkstelligen. Alternativ konnte ein Antragsteller seinen staž deshalb auch in anderer Weise bestätigen lassen: Hierbei waren aus der Zeit vor 1939 stammende Arbeitsaufzeichnungen ebenso zu verwenden wie Gewerkschaftsbücher und Lohnabrechnungshefte. Daneben war es möglich, entsprechende Belege nachträglich von Betrieben, in denen man früher beschäftigt gewesen war, oder den diesen übergeordneten Instanzen einzufordern. Als beweiskräftig galten schließlich auch von Archiveinrichtungen ausgestellte Bescheinigungen. Leichter fiel es mitunter, das für die Leistungskalkulation relevante durchschnittliche Erwerbseinkommen zu belegen. Hierfür musste der angehende Ruheständler lediglich einen Verdienstnachweis präsentieren.288 Das Fehlen oder die Unvollständigkeit der Unterlagen zum Erwerbsentgelt wirkte sich weniger drastisch aus als die Unfähigkeit, die den Mindestanforderungen entsprechende Wartezeit zu belegen: Ein Leistungsanspruch bestand im ersteren Fall weiterhin, allerdings nur in Höhe der Mindestrente.289 Auch in den Fällen, in denen man einen Rentenzuschlag erhalten bzw. von vergünstigten Bezugsbedingungen Gebrauch machen wollte oder mit möglichen Abzügen konfrontiert war, waren diesbezügliche Belege zu erbringen. So sollte man Bescheinigungen der Hausverwaltung vorlegen, wenn man z. B. die Existenz unterhaltsberechtigter Angehöriger oder – als kinderreiche Mutter – das Vorhandensein von mindestens fünf oder mehr Kindern nachweisen wollte. Eine zusätzliche Ausweispflicht bei der Leistungsbeantragung galt aber auch für all jene älteren Menschen, die auf dem Land wohnten: Sie mussten in jedem Fall ein von ihrem Dorfsowjet ausgestelltes Dokument präsentieren, das darüber Auskunft gab, ob sie über eine „Verbindung zur Landwirtschaft“ verfügten oder nicht.290 Dieser dem in der Staatsrentenordnung geschilderten Idealzustand entsprechende Ablauf bedeutete eine große Herausforderung für ältere Bürger, die keine Erfahrung mit derartigen bürokratischen Abläufen oder nur eine geringe Kenntnis des Rentengesetzes besaßen. Zwar oblag es hier den Abteilungen der Sozialversorgung, diese Menschen mit den notwendigen Informationen auszustatten und ihnen in jeder notwendigen Form behilflich zu sein. Die Dienststellen waren jedoch nur unzureichend gerüstet, um des nach dem 1. Oktober 1956 einsetzenden Anson belief. Vgl. Astrachan, Razvitie, S. 133134; Levšin u. a., Sovetskoe pensionnoe obespeþenie, S. 169172; Art. Trudovaja knižka. Zu den Arbeitsbüchern im Allgemeinen vgl. Kaftanovskaja Nikitinskij, Trudovye knižki. 288 Vgl. Babkin u. a., Kommentarij, S. 413419. Zu den Arbeitsbuch-Alternativen vgl. Spravoþnik po pensionnym voprosam, S. 142158. 289 Vgl. Levšin u. a., Sovetskoe pensionnoe obespeþenie, S. 227. 290 Die Unionsrepubliken verabschiedeten jeweils eigene Statuten für die Arbeit der Kommissionen. Vgl. die „Ordnung über die beim Exekutivkomitee des Bezirks- oder Stadtdeputiertenrats der Werktätigen eingerichtete Kommission für die Rentenfestsetzung“ [im Folgenden: Kommissionsordnung], bestätigt durch die Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 10. Juli 1962 Nr. 930 (SP RSFSR, 1962, Nr. 15, Pos. 80), zit. bei: Babkin u. a., Kommentarij, S. 434437, hier S. 437.
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sturms derjenigen Bürger Herr zu werden, die um Aufklärung baten oder ihre Rentenanträge abgaben.291 Die politische Führung war sich des Problems bewusst und bemühte sich deshalb darum, die Gewerkschaften zur Unterstützung der Antragsteller und zur Entlastung der Sozialbürokratie heranzuziehen. Nur wenige Tage nach der Verabschiedung des Staatsrentengesetzes, am 24. Juli 1956, erließ das Präsidium des VCSPS die Verordnung „Über die Aufgaben der Gewerkschaften im Zusammenhang mit der Verabschiedung des Gesetzes über die staatlichen Renten“.292 In ihr wurde den betrieblichen Gewerkschaftskomitees „empfohlen“, Rentengruppen (pensionnye gruppy) zu gründen und in ihrer Tätigkeit zu unterstützen.293 Orientiert man sich an den in der Presse veröffentlichten Beschreibungen, die den Vorbildcharakter der aktiven Rentengruppen deutlich machten, so stellte die Aufklärungsarbeit einen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit dar. Hierzu organisierte man zum einen Vorträge, auf denen die angehenden Ruheständler von Mitarbeitern der Sozialversorgung über die Einzelheiten der Gesetzgebung und die Modalitäten der Rentenbeantragung informiert wurden. Zum anderen wurden Konsultationspunkte eingerichtet, die es ermöglichten, in Einzelgesprächen Unklarheiten zu beseitigen. Die Antragstellung sollte auch ganz konkret unterstützt werden: So war es angedacht, dass die Rentengruppen bei der Beschaffung noch ausstehender Nachweise sowie der Zusammenstellung, Überprüfung und – sofern notwendig –Korrektur der Antragsunterlagen behilflich waren. Durch die Übernahme dieser Aufgaben, die gemeinsam mit den Personalabteilungen und der Buchhaltungen der Betriebe durchzuführen waren, sollte die Bearbeitungszeit in den Abteilungen der Sozialversorgung reduziert werden.294 In wie vielen Betrieben und Dienststellen solche Rentnergruppen eingerichtet wurden, lässt sich allerdings nicht mit Gewissheit feststellen. E. I. Astrachan deutet an, dass eine derartige Praxis lediglich in relativ wenigen, „fortschrittlichen Betrieben“295 an der Tagesordnung war. Eine großflächige Unterstützung der Antragsteller war mit Hilfe dieser Organisationen folglich kaum zu bewerkstelligen. Anfang der 1960er Jahre unternahm man einen Strategiewechsel: Die gewerkschaftliche Rentnerbetreuung wurde nun für sowjetische Betriebe zur Verpflichtung. Gleichzeitig vereinheitlichte und rationalisierte man die zuvor oft variierende Praxis und stärkte die Position der Aktivisten: Gemäß einer im 5. Januar 1962 erlassenen Verordnung des VCSPS-Präsidiums waren von nun an in allen Betrieben, Dienststellen und Organisationen mit einem Personalbestand von min291 Siehe Abs. 2.1.4. 292 Auszugsweise abgedruckt findet sich der Text der Verordnung in: Socialތnoe obespecenie i strachovanie (1972), S. 248250. 293 Die Einbeziehung der Gewerkschaften stellte insofern kein Novum dar, als dass die Gewerkschaftskomitees bereits in der Vorreformzeit ähnliche Funktionen ausgeübt hatten. Vgl. Ziff. 10 der Resolution des VI. Plenums des VCSPS vom 15. Mai 1937 „Über die Berichte der Gewerkschaftsorgane im Zusammenhang mit den Wahlen der Letzteren“ (Bjulleten’ VCSPS, 1937, Nr. 5). 294 Vgl. Kirienko, Raboþij uchodit; Nazarov, Iz praktiki raboty; Kolތþenko, Kak rabotaet. 295 Astrachan, Razvitie, S. 178. Vgl. auch Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 8082.
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destens 100 Mitarbeitern sogenannte „Kommissionen für Rentenfragen“ zu installieren, die den betrieblichen Gewerkschaftskomitees untergeordnet waren.296 Ganz im Sinne des im vorangegangenen Jahr verabschiedeten neuen Parteiprogramms sollten sie aus Ehrenamtlichen gebildet werden,297 von denen erwartet wurde, dass sie sich gut auf allen die Leistungsbeantragung berührenden Gebieten auskannten. Als Kommissionsvorsitzender hatte ein Mitglied des Gewerkschaftskomitees zu fungieren.298 Die Aufgaben der Kommissionen ähnelten jenen der Rentengruppen dahin gehend, dass auch sie für die Belehrung der angehenden Ruheständler verantwortlich waren. Um auf den Kreis der Personen, die in Zukunft der Unterstützung bei der Antragsvorbereitung bedürfen würden, vorbereitet zu sein, hatten sie ferner bereits im Vorhinein all jene Arbeiter und Angestellten zu erfassen, die in den kommenden Jahren das Renteneintrittsalter erreichen würden. Im Falle derjenigen Personen, deren Verrentung unmittelbar bevorstand, bereiteten die Kommissionsmitglieder – in Zusammenarbeit mit der betrieblichen Verwaltung – die hierfür notwendigen Dokumente vor und überprüften die Arbeitsbücher auf ihre Richtigkeit. Dabei wurden ihnen Kompetenzen übertragen, die zuvor allein den Organen der Sozialversorgung vorbehalten gewesen waren: Die Kommissionen für Rentenfragen waren selbst befugt, die Verwaltungen früherer Arbeitgeber zur Zusendung von notwendigen Bescheinigungen und Dokumenten aufzufordern.299 Ende der 1960er Jahre nahm der Gesetzgeber abermals eine Änderung300 am Prozedere der Leistungsgewährung vor. Vorgesehen waren von nun an zwei Wege der Rentenbeantragung: Direkt an die Organe der Sozialversorgung hatten sich nur noch jene Bürger zu wenden, die die Erwerbstätigkeit in dem der Leistungsbeantragung vorangegangenen Zeitraum bereits eingestellt und deshalb keinen Kontakt mehr zu ihren vormaligen Betrieben und Dienststellen besaßen. Alle übrigen Arbeiter und Angestellten sollten sich an die Administration ihres jeweiligen Arbeitgebers wenden, die gemeinsam mit dem Gewerkschaftskomitee für die 296 Vgl. die „Ordnung über die Kommission für Rentenfragen“, bestätigt durch die Verordnung des Präsidiums des VCSPS vom 5. Januar 1962 „Über die Ausweitung des gesellschaftlichen Charakters der Arbeit der Gewerkschaftsorgane bei der Verwaltung der staatlichen Sozialversicherung“ (Sbornik postanovlenij VCSPS, janvar’–mart 1962 g., S. 70). Verfügte ein Betrieb oder eine Einrichtung über weniger als 100 Mitarbeiter, so sollte das Gewerkschaftskomitee die Funktionen der Kommission für Rentenfragen selbst übernehmen. 297 Zum Beitrag der Ehrenamtlichen zur Umsetzung der Gesetzgebung siehe Abs. 2.1.4.3. 298 Vgl. Cederbaum, Komissija, S. 6. 299 Vgl. Spravoþnik po pensionnym voprosam, S. 1113; Cederbaum, Komissija, S. 68; Karavaev, Art. Komissija po pensionnym voprosam; Astrachan, Razvitie, S. 180181. Mancherorts ging die Unterstützung der angehenden Ruheständler noch weiter. So finden sich z. B. Informationen über einen in der Siedlung Savinskij (Gebiet Archangel’sk) agierenden Ausschuss, der selbst die Übergabe der Rentenanträge an die zuständigen Verwaltungsorgane übernahm. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 974, l. 12. Ausdrücklich gelobt wird diese Praxis von Sidorova, Komissija, S. 94. 300 Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 9. April 1969 Nr. 263 „Über die Eintragung von Änderungen in die Verfahrensordnung zur Festsetzung und Auszahlung der staatlichen Renten“ (SP SSSR, 1969, Nr. 10, Pos. 58).
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Vorbereitung der Unterlagen sowie die Vorlage des Rentengesuchs bei der Bezirks- oder Stadtabteilung der Sozialversorgung verantwortlich zeichnete.301 Diese beiden Instanzen konnten zudem eigenständig ablehnende Bescheide ausstellen, wenn der Einzelne die Bezugskriterien ihrer Auffassung nach nicht erfüllte.302 War ein angehender Ruheständler nicht in der Lage, den gesamten trudovoj staž über beglaubigte Papiere zu verifizieren, so bot sich ihm die Möglichkeit, einen Teil der allgemeinen,303 für den Rentenerhalt notwendigen Wartezeit durch die Befragung von Zeugen zu rekonstruieren. Allerdings konnte dieser Weg nur unter der Voraussetzung beschritten werden, dass wenigstens die Hälfte des Dienstalters bereits in Dokumentenform beglaubigt war. Um eine solche Befragung einzuleiten, hatte man bei der Antragsabgabe ein entsprechendes Gesuch zu stellen.304 Dabei teilte die örtliche Abteilung der Sozialversorgung dem Antragsteller mit, zu welchem Termin die von ihm angeführten Personen vorgeladen würden. Wichtig war dabei, dass hier zumindest zwei Bürger aussagebereit waren, die eine genaue Auskunft über die zurückliegende Erwerbstätigkeit geben konnten. Bei mindestens einem von beiden musste es sich erwiesenermaßen um einen früheren Arbeitskollegen aus dem fraglichen Zeitraum handeln.305 Die Anhörung des Antragstellers und die hiervon getrennt geschehende Zeugenbefragung erfolgten dann auf einer Sitzung der Kommission für die Rentenfestsetzung, die sich im Anschluss auf eine endgültige Bestimmung des jeweiligen Dienstalters verständigte. Lagen dem Gremium nun alle für eine Entschlussfindung erforderlichen Dokumente und Kenntnisse vor, so hatte es innerhalb von zehn Tagen darüber zu befinden, ob und in welcher Höhe sie der betreffenden Person eine Altersrente bewilligte. Zu einer positiven Bewertung des Falles gelangte die Kommission dann, wenn sie sich mit zwei von drei Stimmen hierfür aussprach. Bei einem negativen 301 Der Ministerin der RSFSR für Sozialversorgung zufolge wurden 1971 in ihrer Republik bereits 90 % aller Rentenanträge von den Vertretern der betrieblichen Administrationen und Gewerkschaftskomitees in Empfang genommen. Vgl. Komarova, XXIV s-ezd KPSS, S. 3. 302 Der Antragsteller hatte in einem solchen Fall allerdings die Option, sich unmittelbar an die Abteilung der Sozialversorgung zu wenden, wenn er dieser Entscheidung nicht zustimmte. Vgl. Ziff. 141 der durch die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 3. August 1972 Nr. 590 bestätigten Neufassung der „Verfahrensordnung zur Festsetzung und Auszahlung der staatlichen Renten“ (im Folgenden: Staatsrentenordnung von 1972). Vgl. auch Karcchija, Juridiþeskie garantii, S. 95; Komarova, Voplošþenie, S. 7. Laut Fogel’, Social’noe obsluživanie, S. 18, veränderte sich durch die Korrektur der „Gehalt der Rentnerbetreuung selbst. Früher handelte es sich hierbei vorrangig um die Funktion eines speziellen Zweigs der staatlichen Verwaltungsorgane und der gesellschaftlichen Selbstverwaltung [...]. Mit der Einführung des neuen Verfahrens wurde die Betreuung der Rentner zur rechtlichen Verpflichtung sämtlicher staatlicher und gesellschaftlicher Betriebe, Dienststellen, Organisationen, Kolchose und Gewerkschaftsorgane [...].“ 303 Zum Nachweis von Dienstjahren, die die Grundlage für den Erhalt eines Rentenzuschlags bildeten, durften mündliche Aussagen nicht herangezogen werden. Vgl. die Erläuterung des Goskomtrud vom 11. Januar 1957 Nr. 3. 304 Vgl. Ziff. 118 der Staatsrentenordnung von 1956 generell zu den eine solche Befragung betreffenden Bestimmungen. Vgl. auch Smirnova u. a., O svidetelތskich pokazanijach, S. 15; Nikitinskij, Art. Svidetel’skie pokazanija. 305 Vgl. Ziff. 118 der Staatsrentenordnung von 1956.
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Beschluss hatte die Kommission die betroffene Person spätestens fünf Tage danach vorzuladen, sie über die der Entscheidung zugrundeliegenden Motive zu informieren und ihr danach sämtliche Antragsunterlagen auszuhändigen. Gleichzeitig musste der abgewiesene Antragsteller darüber informiert werden, dass er sich an das zuständige Exekutivkomitee des örtlichen Deputiertenrates wenden konnte, wenn er an der Rechtmäßigkeit des Beschlusses zweifelte.306 Rechtskraft erlangte die Gewährung der Altersrente in dem Moment, in dem die Kommission sich für die positive Bewertung des Antrags entschied. Als Zeugnis dieser Tatsache wurde dem neu gewordenen Ruheständler innerhalb von zehn Tagen ein Rentenausweis (pensionnoe udostoverenie) ausgestellt. Hierbei handelte es sich um eine Bescheinigung, die nicht nur persönliche Angaben über den Leistungsempfänger enthielt, sondern auch über die Art der bezogenen Rente, ihre Höhe, den zu ihrer Berechnung herangezogenen Durchschnittsverdienst sowie diejenige Abteilung der Sozialversorgung, bei der man die Alterssicherung beantragt hatte, informierte.307
2.1.3.2. Möglichkeiten des Einspruchs gegen Kommissionsentscheidungen Die Aussichten, sich gegen den Bescheid der Kommission für die Rentenfestsetzung wirkungsvoll zu wehren, waren nur gering. Zweifelte ein Bürger an der Richtigkeit der Ablehnung oder der für ihn errechneten Leistungshöhe, so boten sich ihm nur wenige Optionen, eine Revision dieser Entscheidungen zu bewirken. Ein erster Ansatz betraf die dem Beschluss der Kommission zugrundeliegenden Fakten: Hielt der Betroffene einzelne Bescheinigungen für fehlerhaft, so konnte er in manchen Fällen gerichtlich gegen sie vorgehen.308 Richtete sich der Widerspruch gegen den Bescheid der Kommission selbst, so kam eine zweite Option in Betracht. Sie bestand darin, sich an das Exekutivkomitee des Deputiertenrats des Bezirks bzw. der Stadt zu wenden. Kam man hier zu dem Ergebnis, dass der Beschluss tatsächlich fehlerhaft war, so konnte man ihn aufheben und die Kommis306 Vgl. Astrachan, Art. Komissija. Laut Kulikov, Sovet pensionerov, S. 12, verzichteten viele Kommissionen für die Rentenfestsetzung auf eine entsprechende Information, was dazu führte, dass entsprechende Beschwerden fälschlicherweise an die Gebietsabteilungen oder sogar direkt an das Ministerium für Sozialversorgung adressiert wurden. 307 Vgl. Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 232233. 308 Diese Möglichkeit bot sich unter der Voraussetzung, dass falsche Angaben zum individuellen Alter, zur Zahl der unterhaltsberechtigten Angehörigen oder zum Ehestand vorlagen und die für die entsprechenden Nachweise zuständigen Institutionen eine Korrektur ablehnten. In dem Fall, dass der Antragsteller die Angaben früherer Arbeitgeber zur Art und Dauer der von ihm geleisteten Tätigkeiten bemängelte, stand ihm dieser Weg allerdings nicht offen. Als Beschwerdeinstanz fungierte hier die dem jeweiligen Betrieb oder der Dienststelle übergeordnete Behörde. Vgl. Tarasova, Juridiþeskie fakty, S. 8587; Madison, The Soviet Social Security System, S. 188 u. 191. Die Zuständigkeit der Gerichte regelte die Verordnung des Plenums des Obersten Gerichts der UdSSR vom 25. Februar 1966 Nr. 2 „Über die Gerichtspraxis bei Verfahren zur Bestimmung von Fakten, die eine rechtliche Bedeutung haben“ (Bjulleten’ Verchovnogo Suda SSSR, 1966, Nr. 2, S. 1416).
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sion anweisen, die Antragsunterlagen unter Berücksichtigung der Beschwerdeursachen noch einmal zu prüfen und zu einem der Gesetzeslage entsprechenden, neuen Ergebnis zu kommen.309 Darüber hinaus gab es noch einen weiteren Weg: Unzufriedene Antragsteller konnten sich auch an die der örtlichen Abteilung übergeordneten Organe der Sozialversorgung wenden, die „diese Beschwerden ebenfalls gründlich überprüfen und in notwendigen Fällen die Bezirksabteilungen der Sozialversorgung damit beauftragen, die Frage des Rentenanspruchs (oder der Rentenhöhe) dieses oder jenes Beschwerdeführers neu zu untersuchen und dabei entweder die Aufmerksamkeit auf einen Gesetzesverstoß zu richten oder dem Antragsteller die Richtigkeit der Kommissionsentscheidung zu erklären“.310
Dieser zweite Beschwerdeweg war jedoch deutlich weniger effektiv, da die Organe der Sozialversorgung keine Befugnis besaßen, die Beschlüsse der Kommissionen aufzuheben.311 Derartige Anfechtungsmöglichkeiten wurden in der sowjetischen Fachliteratur als positive Manifestationen der „Gesetzlichkeit“ (zakonnost’) beschrieben.312 Tatsächlich jedoch befand sich ein eventuell in seinen Interessen geschädigter älterer Mensch in einer ausgesprochen schwachen Position: Eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die unabhängig von den verantwortlichen Organen über Beschwerden aus der Bevölkerung urteilte, existierte nicht.313 Auch in der Staatsrentenordnung selbst wurde explizit festgehalten, dass Rentenstreitigkeiten nicht zu jenen Fragen gehörten, die vor Gericht geklärt werden konnten: Als zuständig beschrieben wurden hier allein die den Kommissionen für die Rentenfestsetzung direkt übergeordneten Instanzen.314 Damit folgte man einem für die gesamte sowjetische Administration charakteristischen Muster, das von Petr E. Nedbajlo durchaus kritisch beschrieben wird: „Beschwerden und Anträge gegen unrichtige Handlungen der Amtspersonen und Behörden werden in der Regel der Obrigkeit im Subordinationsverhältnis eingereicht. Die Erfahrung zeigt, dass diese Ordnung nicht immer eine rechtzeitige, objektive und gesetzmäßige Erledi309 Vgl. Ziff. 156 der Staatsrentenordnung von 1956; Ziff. 19 der Kommissionsordnung. Vgl. auch Sovetskoe pensionnoe pravo, S. 372. 310 Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 231. Vgl. auch Astrachan, Principy, S. 119120; ders., Art. Komissija po naznaþeniju pensij, S. 199. 311 Vgl. Maksimovskij, Upravlenie, S. 105; Tarasova, Juridiþeskie fakty, S. 89. Vgl. auch Fajans, Priþiny Īalob, S. 152160. 312 Vgl. etwa Lunev, Obespeþenie, S. 153; Karcchija, Juridiþeskie garantii, S. 101. 313 In der sowjetischen Rechtswissenschaft überwog Mitte der 1950er Jahre die noch aus dem vorigen Jahrzehnt stammende Vorstellung, dass die UdSSR einer Einführung der Verwaltungsjustiz nicht bedürfe, da es sich hier um eine für kapitalistische Staaten charakteristische Einrichtung handelte, mit deren Hilfe die dortige Willkür der Administration verschleiert werden solle. In der UdSSR würden stattdessen „die Rechte und Interessen der Bürger durch das ganze System der gesellschaftlichen Beziehungen geschützt und garantiert, da es keinen Antagonismus zwischen dem einzelnen und dem Kollektiv [...] gibt.“ Abramov, V sovetskom prave, zit. bei: Bilinsky, Rechtsmittel, S. 98. Vgl. auch Meder, Das Sowjetrecht, S. 521523; Küpper, Einführung, S. 546. 314 Vgl. Ziff. 156 der Staatsrentenordnung von 1956.
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gung der Beschwerden und Anträge sicherstellt, da die Verwaltung in diesen Fällen als Richter in eigener Sache auftritt und da die Verwaltungsordnung die Beteiligung der interessierten Personen an der Verhandlung ihrer Sachen in dem Maße, wie dies bei dem Gerichtsverfahren der Fall ist, nicht sicherstellt.“315
Den Umstand, dass ein Antragsteller die einmal vom Exekutivkomitee des örtlichen Sowjets getroffene Entscheidung nicht mehr relativieren konnte, indem er sich an eine diesem wiederum übergeordnete Instanz wendete, bemängelt auch V. V. Karavaev. Er verweist darauf, dass die höhergestellten Organe der Sozialversorgung in solchen Fällen eine Vielzahl von Beschwerden aus der Bevölkerung erhalten würden, jedoch nicht dazu befugt seien, das Exekutivkomitee auf begangene Fehler hinzuweisen, geschweige denn, dessen Beschluss durch einen eigenen zu ersetzen. Um die „Gesetzlichkeit“ der Rentenversorgung zu stärken, befürwortet er es, den auf Regions- bzw. Gebietsebene agierenden Organen der Sozialversorgung die Zuständigkeit für die Bewertung von Einsprüchen gegen die Entscheide der Kommissionen für die Rentenfestsetzung zu übertragen.316 Für einen solchen Transfer sprach nicht zuletzt die Tatsache, dass das Personal auf den höheren Ebenen der Sozialversorgungsorgane in der Regel über ein profunderes Detailwissen zur Rentengesetzgebung verfügte als die Mitglieder der örtlichen Exekutivkomitees.317 Dass aber nicht nur in Fach-, sondern auch in Regierungskreisen ein Bewusstsein für die Mängel des Beschwerdesystems existierte, verdeutlicht ein Bericht „Über den Zustand der Festsetzung und Auszahlung der staatlichen Renten“,318 den Lidija P. Lykova, Murav’evas Nachfolgerin an der Spitze des Sozialversor315 Nedbajlo, O juridiþeskich garantijach, S. 26, zit. bei: Bilinsky, Rechtsmittel, S. 99. Vgl. auch Lohmann, Sozialistisches Sozialrecht, S. 280. 316 Vgl. Karavaev, Za dalތnejšee soveršenstvovanie, S. 8283. Sieben Jahre später spricht der Autor sich zudem für die Bildung von für die Beschwerdeprüfung zuständigen Kommissionen unter dem Dach der Gebietsabteilungen der Sozialversorgung aus, an denen Gewerkschaftsvertreter partizipieren sollen. Vgl. Razvitie, S. 10. Diesem Gedanken widerspricht Karcchija, Juridiþeskie garantii, S. 101: „Dem Vorschlag ist deshalb nicht zuzustimmen, weil es sich bei der Kommission für die Rentenfestsetzung um ein Organ des Exekutivkomitees des Deputiertenrats der Werktätigen handelt. In diesem Zusammenhang ist [nur] das Organ bevollmächtigt, eine Beschwerde über einen Beschluss der Kommission zu bewilligen, dem diese untergeordnet ist. Außerdem garantiert die Prüfung der Beschwerde durch das Exekutivkomitee vor Ort [...] eine vollständige, demokratische und schnelle Entscheidung.“ 317 Vgl. Maksimovskij, Upravlenie, S. 105. Auch Karavaevs Vorschlag bewegte sich freilich nicht über die Grenzen des Eingabe- und Beschwerdewesens hinaus, das hier lediglich optimiert werden sollte. Eine Ausdehnung der Gerichtsbarkeit auf den Bereich der Rentenfestsetzung, die die Interessenwahrung des Antragstellers – im besten Fall – vom guten Willen und dem Kenntnisstand der Sozialbürokratie unabhängig gemacht hätte, wurde allem Anschein nach erst in der zweiten Hälfte der 1970er diskutiert. Vgl. etwa Tarasova, Ochrana, S. 112. Kritik an der Mangelhaftigkeit der zur Verfügung stehenden Rechtsmittel äußert 1979 auch Azarova, O zašþite, S. 46. Sie konstatiert, dass „die Rechtsnorm, die das Recht, Entscheidungen der Kommission anzufechten, betrifft, [...] tatsächlich insofern ,nicht funktioniertދ, als dass sich sowohl die Angestellten der Organe der Sozialversorgung als auch die Bürger selbst über die bloße Formalität solcher Appellationen bewusst sind“. 318 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, ll. 4455.
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gungsministeriums der RSFSR, 1964 für den Ministerrat ihrer Republik erstellte. Zwar stellte sie die Rechtsmittel selbst nicht in Frage, doch verwies sie offen auf das mangelnde Interesse jener Instanzen an diesem Problembereich, die allein dazu befugt waren, Rentenbeschlüsse zugunsten der Antragsteller zu verändern. Die Rentenversorgung hatte hier allem Anschein zufolge ein so niedriges Gewicht, dass man – wie das Stavropol’er Beispiel zeigte – sogar diesbezügliche Anfragen von übergeordneter Stelle ignorierte: „Viele Exekutivkomitees der Bezirks- und Stadtdeputiertenräte der Werktätigen schenken den Fragen der Sozialversorgung [...] nur wenig Aufmerksamkeit, überprüfen und informieren sich selten über die Arbeit der ihnen unterstellten Abteilungen der Sozialversorgung [...]. Sie entziehen sich der Beurteilung von Beschwerden über die Entscheidungen [der] Kommissionen [für die Rentenfestsetzung]. [...] Die Exekutivkomitees der Bezirksdeputiertenräte der (ländlichen) Stavropol’er Region haben 1963 nur zwei gegen die Entscheidungen von Kommissionen für die Rentenfestsetzung gerichtete Beschwerden geprüft, während allein von den Republik- und Unionsorganen mehr als 1.200 Beschwerden zu diesen Fragen an die Region weitergeleitet wurden.“319
2.1.3.3. Die Verabschiedung in den Ruhestand Der Akt der Verrentung beschränkte sich vielmals nicht auf die bloße Aushändigung des Rentenausweises durch die Mitarbeiter der Sozialversorgung. Folgt man entsprechenden Äußerungen in der Presse, so kam es in den auf die Staatsrentenreform folgenden Jahren recht häufig vor, dass Betriebe und Dienststellen ihre Mitarbeiter feierlich verabschiedeten, ihnen dankten und sie beschenkten. Hierbei handelte es sich oft um gesamtbetriebliche Aktionen, die nicht Einzelpersonen, sondern ganze Gruppen von Menschen betrafen, die die Rente antraten. Als Initiatoren dieser Maßnahmen fungierten dabei in der Regel die jeweiligen Gewerkschaftskomitees.320 Ein 1958 in der Social’noe obespeþenie veröffentlichter Artikel, der über die diesbezügliche Praxis in der Voskov-Werkzeugfabrik von Sestroreck (Leningrad) informiert, legt nahe, dass als verdient geltendes Personal mit besonderen Zuwendungen bedacht wurde: „In speziellen Anordnungen wurde vielen Rentnern gedankt, wurden ihnen Geldprämien ausgezahlt. Jeder, der den Ruhestand angetreten hatte, erhielt wertvolle Präsente von der Abteilung oder vom Kollektiv des gesamten Werkes. Dem Leiter der Versuchsabteilung, Vladimir Gennadieviþ Samarin, der 48 Jahre lang im Werk tätig war, sowie dem Prüfmeister der Werkzeugmaschinenbau-Abteilung Ivan Andrejeviþ Antonov, der über ein Dienstalter von 38 Jahren verfügte, wurden Fernseher überreicht. Der Hauptkassierer des Werkes, Georgij Georgieviþ Firfarov, der mehr als 30 Jahre gearbeitet hatte, erhielt eine goldene Armbanduhr. [...] Aber es geht nicht nur um Geschenke. Die Veteranen der Arbeit büßen die Verbindung zur Fabrik nicht ein. Sie alle haben Ehrenpassierscheine erhalten, die ihnen das Recht verleihen, zu jeder beliebigen Zeit das Werksgelände zu betreten.“
319 Ebd., l. 49. 320 Vgl. Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 78.
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Feierlich übergeben wurden diese Berechtigungsausweise auf einem Bankett, das man für die Gesamtheit der den Ruhestand antretenden Mitarbeiter der Fabrik ausrichtete.321 Auch in unveröffentlichten Quellen finden sich Hinweise darauf, dass derartige Festivitäten keine Seltenheit darstellten. Ein Verweis auf eine solche „Verabschiedung in die Rente“ (provod na pensiju) findet sich z. B. in einem Brief, den der Kujbyšever Schlosser Semen S. Šarapov Ende Oktober 1956 an Vorošilov schickte, um sich für das Staatsrentengesetz zu bedanken: „In den Tagen des Rentenantritts gab das Kollektiv unseres Werks uns Alten den verdienten Vorzug aufgrund unserer langjährigen, redlichen Arbeit. Man verabschiedete uns wie nahe Verwandte. Das ganze Kollektiv freute sich über unsere Versorgung im Alter.“322
Auf einer am 19. November 1956 beim VCSPS tagenden Sitzung, auf der Probleme bei der Umsetzung des Staatsrentengesetzes diskutiert wurden, kam auch die damalige Sozialversorgungsministerin der RSFSR auf die provody zu sprechen. Im Zusammenhang mit der massenhaften Verrentung sowjetischer Arbeiter und Angestellter, die die Sozialbürokratie vor große Herausforderungen stellte, verwies Murav’eva nebenbei auf die weite Verbreitung dieser Feiern: „Viele Organisationen und Betriebe [...] begannen am 1. Oktober, genau am 1. Oktober, massenhafte Entlassungen der Werktätigen im Zusammenhang mit ihrem Abgang in die Rente durchzuführen. [...] viele Betriebe entbanden die Werktätigen zu Hunderten gleichzeitig von der Arbeit, verabschiedeten sie feierlich mit Musik, mit wertvollen Geschenken, und am nächsten Tag stießen die Rentner bei den Organen der Sozialversorgung auf riesige Schlangen.“323
Inwiefern feierliche Verabschiedungen dieser Art eine charakteristische Erfahrung waren, die von der Mehrheit der sowjetischen Altersrentner geteilt wurde, kann nicht mit Sicherheit geklärt werden. Einiges spricht dafür, dass die Aufmerksamkeit, die Betriebsleitungen und Gewerkschaftskomitees der Ehrung ihrer älteren Arbeitskräfte schenkten, mit den Jahren nachließ, als die Verrentung älterer Bürger nicht mehr derart prominent im Fokus der gelenkten Öffentlichkeit stand, wie dies 1956 der Fall war.324 Dessen ungeachtet wurde diese Form des Abschieds auch in den 1960er Jahren praktiziert.325 Darüber hinaus lag auch der politischen Führung selbst nachweislich daran, dass sie zu einem gängigen, weitverbreiteten 321 ýernyšev Krivonogov, Oni imejut, S. 33. 322 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 18, l. 133. 323 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 723, l. 15. Auch die Rentner selbst bemängelten die Disparität zwischen herzlicher Verabschiedung am Arbeitsplatz und dem mühsamen Prozess der Rentenbeantragung. Vgl. ebd., d. 666, l. 44. 324 So beklagte sich etwa ein Mann namens Kovalev auf einer im Mai 1961 abgehaltenen Konferenz der Rentnerratsvorsitzenden des Gebiets Sverdlovsk über die immer seltener werdenden provody: „[...] es muss gesagt werden, dass man uns, als wir Ersten in Rente ginge, einen Abend ausrichtete, Geschenke überreichte usw. Nun aber scheiden die Leute ohne irgendwelche Verabschiedungen oder Geschenke aus. Der Mensch ist in Rente gegangen, und das war’s, als ob man vergestoßen wurde. Man hat die Bescheinigung überreicht – und Ende.“ GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 49. 325 Vgl. z. B. Sidorova, Komissija, S. 94.
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Muster wurde, sollte sie doch die Wertschätzung vermitteln, die man den erfahrenen und verdienten Arbeitern und Angestellten des Landes nach offizieller Lesart entgegenbrachte. Ersichtlich wird dies anhand eines aus dem Jahr 1963 stammenden Szenariums, auf dessen Grundlage das Sozialversorgungsministerium der RSFSR einen Film mit dem Titel „Ein Mensch hat die Rente angetreten“ zu entwickeln gedachte. Ziel des Streifens war, wie der stellvertretende Ressortleiter K. M. Dolgov gegenüber dem Staatskomitee des Ministerrats der UdSSR für Kinematographie erläuterte, die Propaganda in eigener Sache.326 Der Darstellung des ehrenhaften und warmen Abschieds, den die Rentner in sowjetischen Betrieben vorgeblich erfuhren, sollte hierbei ein wichtiger Stellenwert zukommen. Vermittelt wurde diese Botschaft am Beispiel des – möglicherweise fiktiven – Rentners Aleksandr M. Titov: „Die Leute versuchen alles dafür zu tun, damit der Rentner keine Entfremdung verspürt, so als würde man ihn aus dem Leben streichen, ihn zum alten Eisen werfen. Die Verabschiedungen finden im Festsaal des Klubs statt. Aleksandr Michajloviþ wird das Rentenbuch ausgehändigt. Der Vertreter der Administration überreicht Titov einen dauerhaften Passierschein. Die Arbeiter – Freunde und Genossen – haben auf gemeinsame Kosten ein ,Füllhorn ދgekauft und es dem Rentner geschenkt, als ein Symbol des ewig jungen Eifers und kräftiger Gesundheit. Sie verabschieden ihn mit Scherzen. Die Sitte, den Genossen mit einer kleinen, aber warmherzigen Feier, die von dem Kollektiv ausgerichtet wird, in dessen Reihen er so viele Jahre gearbeitet hat, in den Ruhestand zu verabschieden, stellt nicht nur ein Zeichen des Respekts und des Tributs dar, die seinen Verdiensten gezollt werden; sie birgt auch eine große Lebensweisheit. Aleksandr Michajloviþ ist zu Tränen gerührt.“327
Die Verabschiedungen in den Ruhestand lassen sich zu den nach der Oktoberrevolution eingeführten zivilen Riten zählen. Dergestalt finden sie auch im Rahmen einer Klassifikation Berücksichtigung, mit deren Hilfe P. P. Kampars und N. M. Zakoviþ die Fülle der in der UdSSR existierenden nichtreligiösen Rituale, Bräuche und Feste zu systematisieren versuchen. Sie unterscheiden dabei vier Kategorien: 1) gesamtstaatliche Revolutionsfeiertage, 2) Arbeitsfeiertage, 3) zivile Zeremonien und auf das Leben bezogene Feiern und Rituale, sowie 4) traditionelle Feiertage, die den Jahreszeiten, der Natur und dem Lied gewidmet sind. Die provody rechnen die Wissenschaftler der Kategorie der Arbeitsfeiertage hinzu, und hier der Untergruppe der Feiern von Arbeitskollektiven und einzelnen ihrer Mitglieder gewidmeten Feste.328 Eine solche Einordnung erscheint vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Verabschiedung explizit über die Arbeitsleistung begründet und als „Brauch, mit dem die Wichtigkeit des Beitrags, den der die Rente antretende Mensch zur Entwicklung eines bestimmten Zweigs der Wirtschaft geleistet hat, unterstrichen wird“,329 beschrieben wird, zweifelsohne berechtigt. Allerdings lässt sich die Rentnerverabschiedung gleichfalls der dritten Kategorie hinzurechnen, 326 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3697, ll. 2728. 327 Ebd., S. 30. 328 Hierzu gehörten u. a. auch Betriebsjubiläen und die Ehrungen von Bestarbeitern. Vgl. Kampars Zakoviþ, Sovetskaja graždanskaja obrjadnostތ, S. 3538; McDowell, Soviet Civil Ceremonies, S. 269270. Zum provod na pensiju als ein originär sowjetischer Brauch vgl. auch Brudnyj, Obrjady vþera, S. 148153. 329 Konvaj, Art. Provody veteranov truda, S. 155.
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welche Übergangsriten wie die „rote Taufe“, die „rote Trauung“ oder die „rote Beerdigung“ umfasst. Auch der provod na pensiju kann schließlich als ein rite de passage gedeutet werden, da er ja eine einschneidende Statusveränderung des Individuums begleitete: Wie wenige andere biographische Einschnitte trennt der faktische Rentenantritt das Leben in zwei distinkte Phasen, das Erwerbsleben auf der einen, den Ruhestand auf der anderen Seite.330 Und wenn sich zu den genannten Zeremonien feststellen lässt, dass sie nicht nur ältere Traditionen überlagerten, sondern auch als „Sozialisierungsagenten bei der Aufnahme von sowjetischen moralischen Normen“331 dienen sollten, dann traf das nicht minder für eine Veranstaltung zu, die einem zentralen Wert der sozialistischen Arbeitsgesellschaft gewidmet war: Die Ehrung altgedienter Mitarbeiter gründete in deren Lebensarbeitsleistung – und galt somit der Arbeit selbst. Gleichzeitig stellte sie eine Botschaft an die Jüngeren dar, die besagte, dass Leistung und jahrelanger Einsatz in der UdSSR honoriert wurden. Darüber hinaus wandte man sich jedoch auch an die Rentner, auf deren Beitrag man nicht vollständig zu verzichten gedachte. Vielerorts war man darum bemüht, auf die – möglichst ehrenamtlich zur Verfügung gestellten – Kenntnisse besonders erfahrener Kräfte auch nach deren Ausscheiden aus der Produktion zurückzugreifen, z. B. zur Ausbildung jüngerer Mitarbeiter oder zu Stoßzeiten, wenn es an regulärem Personal mangelte. Vor diesem Hintergrund lässt sich die verbreitete Aushändigung eines dauerhaften Passierscheins nicht zuletzt über das Bestreben erklären, die Rentner weiterhin an den Betrieb zu binden. Der Ruhestand stellte – trotz aller Rhetorik von der „verdienten Erholung“332 – aus offizieller Perspektive eine Lebensphase dar, in dem ein vorbildlich agierender älterer Bürger sich so lange weiterhin gesellschaftlich engagierte, wie es die individuelle Gesundheit gestattete.333
2.1.3.4. Die Rentenauszahlung In der für ihn zuständigen Abteilung der Sozialversorgung wurde von dem Moment an, in dem die Kommission für die Rentenfestsetzung einen positiven Be330 Zum Konzept des Übergangsritus vgl. Van Gennep, Übergangsriten. Mit dem Rentenantritt als einem rite de passage beschäftigt sich Crawford, Retirement, die zusammenfassend konstatiert (S. 459): „Vor der Verrentung ist der Einzelne ein Arbeiter, und er wird mit seinem Beruf oder Arbeitgeber identifiziert; nach der Verrentung ist er ein Mann im Ruhestand, der mit der Familie identifiziert wird. Während des Rentenrituals wird er von der Gruppe seiner Kollegen [...] getrennt und befindet sich in einem ,heiligen ދZustand, in dem er weder ein Arbeiter noch ein Arbeiter im Ruhestand ist.“ Vgl. auch Herzánová, In Rente gehen, S. 158 159; Savishinsky, The Unbearable Lightness. 331 McDowell, Soviet Civil Ceremonies, S. 265. 332 Siehe Abs. 6.2.3. 333 Solcherart vermag die Charakterisierung des provod na pensiju als ein „Ritus des Lebensendes“ (Binns, Sowjetische Feste, S. 113114.) nicht vollends zu überzeugen, da sie einen Rückzug aufs Altenteil impliziert, den man eigentlich nur den kranken und hochaltrigen Greisen zugestand.
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schluss gefällt hatte, auch die Akte des Ruheständlers (pensionnoe delo) geführt. In ihr bewahrte man den Rentenantrag nebst begleitenden Unterlagen sowie eine Abschrift des Protokolls jener Kommissionssitzung, auf der das positive Urteil gefällt worden war, auf.334 Auch für die fristgerechte Auszahlung des Ruhestandsgelds zeichneten die Mitarbeiter dieser Abteilung verantwortlich. Um eine solche in die Wege zu leiten, richtete die Buchhaltung zunächst ein persönliches Konto für den Neurentner ein. Das weitere Vorgehen richtete sich danach, ob die betreffende Person weiterhin arbeitstätig war oder nicht. Im ersten Fall übernahm die Gewerkschaftsorganisation der Einrichtung, bei der der Rentner beschäftigt war, die Zustellung der – nach Anrechnung des Arbeitsverdienstes oft reduzierten – Altersrente. Ausgezahlt wurde sie über die Verwaltung des Betriebs, und zwar gleichzeitig mit dem Erwerbsentgelt für die zweite Monatshälfte. Voraussetzung war lediglich, dass die zuständige Abteilung der Sozialversorgung diesbezüglich einen „Auftrag“ (poruþenie) ausgestellt hatte.335 Jene Ruheständler hingegen, die sich gegen die Weiterarbeit entschieden hatten, bezogen ihre Rente direkt von dieser Abteilung. Im Normalfall wurde die anfallende Summe als Postanweisung überwiesen: Als Überbringer fungierte also der Briefträger, der die Leistungsempfänger allmonatlich zu Hause aufsuchte und ihnen die Sozialleistung bar auszahlte. Den Erhalt der Rente hatte man dabei per Quittung zu bestätigen. Der genaue Zeitpunkt der Geldauszahlung wurde von den Mitarbeitern der Sozialversorgung festgelegt und variierte je nach Einzelfall. Sie sollte sich allerdings nicht später als am fünften Tag des Monats ereignen, der auf jenen folgte, für den die Leistung bestimmt war. Bestand diesbezüglich ein Interesse, so konnte der Rentner auch beantragen, dass seine Leistung auf ein Sparkassenkonto überwiesen wurde.336
2.1.4. Die Umsetzung des Staatsrentengesetzes Die im Vorangegangenen dargestellten Abläufe der Rentenbeantragung und -auszahlung entsprechen in vielerlei Hinsicht dem Idealzustand, wie er sich aus der Staatsrentenordnung und den diesbezüglichen Anleitungen für die Mitarbeiter der Sozialversorgungsabteilungen und die Aktivisten der Gewerkschaftskomitees ablesen lässt. Vermittelt wird hier der Eindruck einer Prozedur, die dem Bürger rasch und reibungslos zu seinem Recht verhalf. Tatsächlich war dies bei weitem nicht immer der Fall: Die praktische Umsetzung des Gesetzes vom 14. Juli 1956 war während des gesamten Beobachtungszeitraums von Problemen gekennzeichnet. Dies galt insbesondere für die Monate vor und nach dem Inkrafttreten der Re334 Vgl. Ziff. 160 der Staatsrentenordnung von 1956. 335 Vgl. Ziff. 163 der Staatsrentenordnung von 1956. Ein Muster des poruþenie-Formulars findet sich in Vajsfel’d Karavaev, Zakonodatel’stvo, S. 239. 336 Vgl. Ziff. 163 u. 165 der Staatsrentenordnung von 1956; Babkin u. a., Kommentarij, S. 451 452; U.S. Department of Health, A Report, S. 4849. Im Detail beschreibt Petrov-Denisov, Organizacija raboty, die mit der Leistungsauszahlung verbundenen Arbeitsabläufe der Buchhalter der Sozialversorgungsorgane.
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form, als nicht nur Leistungen erstmals nach den neuen Bestimmungen bewilligt, sondern auch viele alten Renten neu berechnet werden mussten. Dass dies eine geradezu herkuleanisch anmutende Aufgabe darstellte, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich die Zahl der Rentner, für die ab dem 1. Oktober 1956 gegebenenfalls ein neuer Betrag zu errechnen war, auf 13.343.204 Bürger belief, während in den drei Monaten bis zum Jahresende 1.113.680 Menschen erstmals in den Genuss einer monatlichen Geldleistung gelangten.337 Die mit der Implementation verbundenen Probleme stießen bei den betroffenen Bevölkerungsteilen auf erheblichen Unmut, dessen sichtbarstes Zeichen in einer Flut von Eingaben und Beschwerden bestand, die in dieser Angelegenheit an politische Institutionen und Zeitungen geschickt wurden. So teilte etwa die Trud mit, dass im Oktober und November 1956 30 % aller eingegangenen Leserbriefe die Rentenversorgung thematisierten.338 Der VCSPS berichtete von 3.200 Briefen und Beschwerden, die er im Zeitraum 1. Juli bis 1. Oktober 1956 zu dem Thema erhalten habe.339 Deutlich mehr Klageschreiben, bis zu 20.000 im Monat, erreichten im darauf folgenden Winter und Frühjahr den Ministerrat der RSFSR.340 Auf ähnlich hohe Werte kam auch das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, dessen Briefabteilung im August 1956 8.000, im September 12.000, im Oktober 18.000, im November 24.000 und in den ersten zwanzig Dezembertagen 13.200 Schreiben registrierte.341 In der Folge nahmen die Zahlen hier zwar wieder ab; sie verblieben allerdings auf einem konstant hohen Niveau, so dass man im Frühjahr 1960 auf die gewaltige Zahl von 600.000 Briefen verweisen konnte, die seit der Verabschiedung des Gesetzes eingegangen waren.342 Ein für die betroffenen Antragsteller besonders schmerzhafter, mit der Zeit jedoch etwas an Brisanz verlierender Missstand bestand darin, dass viele Menschen aus Gründen, für die sie selbst keine Verantwortung trugen, den ihnen zustehenden Versorgungsanspruch nicht realisieren konnten. Darüber hinaus bereiteten sowohl die angemessene Betreuung der älteren und invaliden Bürger als auch die korrekte Verwendung der für die Rentenversorgung veranschlagten Finanzmittel beträchtliche Schwierigkeiten. Diese offensichtlichen Mängel bei der Umsetzung der Staatsrentenreform lassen sich grob auf zwei Problemkreise zurückführen, die im Folgenden beschrieben werden: Zum einen stand es weiterhin äußerst schlecht um die Dokumentation sowjetischer Arbeitsbiographien, zum anderen wurden die geltenden Vorschriften von den beteiligten Parteien oft nicht befolgt, wofür so337 Hier handelt es sich freilich nicht nur um Alters-, sondern auch um Invaliden- und Hinterbliebenenrentner. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 2 ob. Vgl. auch Bulganin, Der Entwurf, S. 28. 338 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 666, l. 68. 339 Vgl. ebd., l. 23. 340 Vgl. Lovell, Soviet Russiaތs Older Generations, S. 217. 341 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, l. 291. 342 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 293, l. 76. Im Oktober 1958, als sie monatlich immer noch knapp 10.000 Briefe zählte, hielt die Briefabteilung fest, dass die „Briefe zu Rentenfragen ungefähr 25 % aller [...] Beschwerden und Eingaben der Werktätigen“ ausmachten. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2372, l. 134.
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wohl Indifferenz als auch mangelnde Qualifikation und kriminelle Energie verantwortlich waren.
2.1.4.1. Die unzureichende Dokumentation der Arbeitsleistung Viele Sowjetbürger, die 1956 und in den darauf folgenden Jahren das allgemeine Renteneintrittsalter von 60 bzw. 65 Jahren erreicht hatten, sahen sich mit der Tatsache konfrontiert, dass sie von der Reform nicht profitieren konnten, obwohl sie ihr Leben lang erwerbstätig gewesen waren. Der Grund hierfür war nahezu identisch mit jenen Umständen, die vor der Reform dafür verantwortlich gewesen waren, dass ein großer Teil der Betagten kein Ruhestandsgeld bezogen hatte: Der Zustand, in dem sich das betriebliche Dokumentationswesen befand, war miserabel und wurde den Anforderungen, die das Rentensystem an es stellte, in keiner Weise gerecht. Nur zu oft erwies es sich als schlechterdings unmöglich, den Nachweis zu erbringen, dass man das für den Leistungserhalt notwendige Dienstalter erreicht hatte. Und ebenso schwer fiel es mitunter Bürgern, die ihre Erwerbstätigkeit mehrere Jahre vor der Leistungsbeantragung eingestellt hatten, Bescheinigungen zur Höhe ihres vormaligen Arbeitseinkommens vorzulegen. Den betreffenden Personen wurde zwar noch eine Mindestrente bewilligt, doch mochte dies für jene, die sich auf der Grundlage ihres tatsächlichen Verdienstes ein höheres Niveau der Absicherung im Alter erhofft hatten, nur einen schwachen Trost darstellen. Ein Großteil der Betriebe und Dienststellen hatte die erforderlichen Informationen nur in unzureichender Weise gesammelt oder festgehalten. So waren die erwähnten Arbeitsbücher vor 1956 häufig äußerst mangelhaft geführt worden. Zudem waren die Folgen des Zweiten Weltkrieges weiterhin spürbar: Unter dem durch die Zerstörung, die Auflösung und die Räumung sowjetischer Einrichtungen bedingten Verlust arbeitsbezogener Archivbestände litten auch jene Bürger, die sich nun nach den neuen Rentenbestimmungen um eine Altersversorgung bemühten. Freilich variierte der Umfang, in dem die Archivlandschaft Schaden genommen hatte, regional beträchtlich. Im Westen und Nordwesten der UdSSR waren die durch Besetzung und Evakuierung hervorgerufenen Einbußen besonders gravierend; benachteiligt waren aber auch die Bewohner von Gebieten, die erst während des Krieges sowjetisiert worden waren.343 Der Weltkrieg zeichnete jedoch nicht 343 Im Unionsrat verwies am 12. Juli 1956 hierauf etwa B. A. Baranauskas, ehemals Vorsitzender des Obersten Sowjets der Litauischen SSR. Er beklagte, dass die meisten Bürger, die vor der Entstehung der Sowjetrepublik in den Betrieben und Einrichtungen Litauens tätig gewesen waren, ihr Dienstalter nicht urkundlich belegen konnten, da diesbezüglich keine Dokumente vorhanden waren. Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva, S. 140. Nicht anders verhielt es sich im Autonomen Gebiet Tuva, das der UdSSR im Oktober 1944 angegliedert worden war. In dessen Vorgängerstaat, der Tuvinischen Volksrepublik, war die Dokumentation der Arbeitstätigkeit nicht üblich gewesen. Die dadurch nach 1956 entstehenden Probleme bei der Rentenbeantragung führten dazu, dass das dortige Gebietsparteikomitee 1960 um eine Sonderregelung ersuchte: Örtliche Antragsteller sollten mehr als 50 % ihres
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allein für diese Missstände verantwortlich. Auch in den elf Nachkriegsjahren waren Betriebe im großen Maßstab umgestaltet und nicht selten aufgelöst worden, wodurch die Arbeitsdokumentation zusätzlichen Schaden genommen hatte.344 Personen, deren Bescheinigungen nur lückenhaft vorlagen, kam zwar die Regelung entgegen, dass der trudovoj staž bis zur Hälfte über Zeugenaussagen rekonstruiert werden konnte. Aber selbst diese Aufgabe stellte oft ein nicht zu lösendes Problem dar. Davon abgesehen erkannte man mündliche Informationen über das frühere Erwerbseinkommen eines Antragstellers überhaupt nicht an. In der Konsequenz blieb es dabei, dass ein großer, quantitativ leider nicht genau zu erfassender Teil der älteren Bevölkerung aufgrund von Dokumentationslücken nur einen verminderten oder überhaupt keinen Leistungsanspruch geltend machen konnte. Die Klage über den Zustand der Archive und die eingeschränkte Relevanz mündlicher Nachweise stellte dementsprechend ein gängiges Motiv in Schreiben dar, in denen um Nachbesserungen an der Rentengesetzgebung gebeten wurde. Sowohl die Briefabteilung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR als auch die entsprechenden Abteilungen des Ministerrats der UdSSR und des VCSPS berichteten hierüber wiederholt in den Jahren 1956–1960.345 Vorrangig mit dem Problem des Dienstalternachweises setzte sich so etwa eine Frau namens E. V. ýerkasova in einem Schreiben an den Ministerratsvorsitzenden auseinander. Sie war 66 Jahre alt, stammte aus Tula und hatte dort von 1918 bis 1941 in einem Bekleidungswerk gearbeitet: „[...] die Dokumente über die Arbeit in der Fabrik sind verlorengegangen, jedoch habe ich mich [...] an Mitarbeiterinnen gewandt, die mit mir zusammen in der Fabrik arbeiteten, damit sie mein Dienstalter bestätigen. Diesen Nachweis hat ein Notar beglaubigt. Unterdessen hat die Bezirksabteilung der Sozialversorgung es abgelehnt, mir eine Rente zuzuerkennen, da mein [gesamtes] Dienstalter nur durch Zeugenaussagen bestätigt wird. Andere Dokumente kann ich jedoch nicht vorlegen, da sich das Werksarchiv wegen der Evakuation [...] nicht erhalten hat. Die ganze Zeit über lebe ich bei der Schwester, die im Kalinin-Kleidungswerk arbeitet und 400 R* verdient. Von meiner Schwester abgesehen habe ich keine Existenzgrundlage.“
Vor dem Hintergrund ihrer Armut bat diese Bürgerin Bulganin darum, ihre Eingabe zu prüfen und sie im Alter nicht unversorgt zu lassen.346 Aus dem Bezirk Novoržev (Gebiet Pskov) meldete sich die 65-jährige A. I. Judina, die mehr als zwanzig Jahre lang als Reinigungskraft und Kellnerin tätig gewesen war. Auch ihre Eingabe war darauf zurückzuführen, dass ihr die für eine Leistungsbeantragung notwendigen Belege fehlten. „Nach dem Kriege konnte ich wegen der Krankheit meiner Tochter, die bei mir lebt, nicht arbeiten. Ich hatte [ursprünglich] Bescheinigungen [über meine Arbeit], doch im Krieg habe staž über Zeugenaussagen belegen dürfen. Der Goskomtrud gab diesem Wunsch statt. Vgl. RGASPI, F. 556, op. 23, d. 107, ll. 6768. 344 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 45, d. 766, l. 161. 345 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 293, l. 77; op. 75, d. 1582, l. 293; op. 75, d. 2372, l. 136; F. R 5451, op. 29, d. 666, ll. 27 u. 36; d. 689, ll. 3336. 346 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 689, l. 34. Verfasst wurde das Schreiben Ende 1956 oder Anfang 1957.
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Das System der allgemeinen Altersrenten ich mehr erlitten als meine Kollegen: Das Haus ging in Flammen auf, und die Belege verbrannten. Heute leben [noch] der ehemalige Leiter des Restaurants, in dem ich [...] gearbeitet habe, der Buchhalter und der Vorsitzende der Konsumgenossenschaft [...]. Vor langer Zeit habe ich eine Rente beantragt und die gleiche Antwort wie auch heute erhalten: ,Notwendig sind Bescheinigungen vom Arbeitsplatz.[ ދ...] aber ich habe mir doch mein Dienstalter erarbeitet und ein Recht darauf, mich auf meine alten Tage hin ebenso auszuruhen wie alle guten Leute. [...] Ich bitte den Ministerrat der UdSSR darum, mir eine Altersrente zuzuerkennen.“347
Zwei Mitarbeiter der „Briefgruppe“ des Ministerratsvorsitzenden, A. Andreev und A. Isupov, hielten derartige Sorgen für berechtigt. Sie schlugen deshalb vor, die Leistungserteilung in Fällen, in denen man das gesamte Dienstalter nur über die Aussagen ehemaliger Arbeitskollegen rekonstruieren konnte, von den Kommissionen für die Rentenfestsetzung prüfen zu lassen. Deren Entscheidung sollte daraufhin noch vom zuständigen Sozialversorgungsministerium bestätigt werden.348 Diese Anregung fand kein Gehör. Für den Stellenwert, der solchen Impulsen aus den Briefabteilungen zugeschrieben wurde, spricht jedoch die Tatsache, dass der Goskomtrud-Vorsitzende A. P. Volkov, der VCSPS-Vorsitzende V. V. Grišin und N. A. Murav’eva einen gemeinsamen Kommentar zu dieser Frage verfassten. Er vermittelt einen Eindruck von den Motiven für die Ablehnung: Man behauptete hier etwa, dass in der Regel nur solche Personen den gesamten staž mit Hilfe von Zeugen belegen müssten, die ihre Arbeit bereits vor 15–20 Jahren eingestellt und sich in der Zwischenzeit andere Unterhaltsquellen organisiert hätten (z. B. Kolchosmitgliedschaft oder familiäre Unterstützung). Auch konstatierten die Drei, dass die Prüfung der Zeugenaussagen durch die Kommissionen für die Rentenfestsetzung nicht deren Authentizität garantiere.349 Als ausschlaggebend für die Akzeptanz des Umstandes, dass ein großer Teil älterer Menschen aufgrund der miserablen Dokumentationslage auf ein Ruhestandsgeld verzichten musste, können jedoch Kostenerwägungen angenommen werden: „Das [von Andreev und Isupov] vorgeschlagene Verfahren zur Prüfung der Zuerkennung von Renten mit der nachfolgenden Bestätigung der Kommissionsbeschlüsse durch die Ministerien der Unionsrepubliken für Sozialversorgung [...] kann den beträchtlichen Zustrom eines zusätzlichen Rentnerkontingents und dementsprechend eine Steigerung der Ausgaben für die Rentenauszahlung hervorrufen.“350
Der Bürgerunmut richtete sich desgleichen gegen die Vorgabe, dass bei einem Fehlen der erforderlichen Verdienstnachweise nur eine Mindestrente zu bewilligen war. Es war charakteristisch, dass sich unter den Verfassern von entsprechenden Eingaben ehemalige Maschinisten, Stahlgießer, Bergarbeiter und andere Berufskategorien mit einem früher hohen Einkommen befanden, die das ihnen nun zukommende Rentenniveau als äußerst niedrig und ungerecht empfanden. Einem 347 Ebd., ll. 3435. 348 Vgl. ebd., l. 36. 349 Ein Einwand, der nicht überzeugt, da auch Zeugenaussagen, die lediglich die Hälfte eines Dienstalters bestätigten, nicht anders als durch die Kommissionen für die Rentenfestsetzung verifiziert wurden. 350 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 290, l. 78.
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Bericht zufolge, den die Briefabteilung des Obersten Sowjets im März 1960 erstellte, boten sie auch Vorschläge zur Problemlösung an: „Die Bürger schlagen vor: Im Falle der durch das Fehlen von Archivangaben bedingten Unmöglichkeit einer Vorlage von Dokumenten über das monatsdurchschnittliche tatsächliche Erwerbsentgelt sollen die Renten auf der Grundlage der Tarifsätze oder Dienstbezüge von Arbeitern und Angestellten berechnet werden, die im entsprechenden Zeitraum denselben Beruf ausübten und dieselbe Qualifikation besaßen.“351
Personen, deren Arbeitstätigkeit zum Zeitpunkt der Rentenbeantragung schon einige Zeit zurücklag, hatten sich, wie erwähnt, an ihre ehemaligen Arbeitgeber zu wenden, um sich nachträglich Bescheinigungen zum Dienstalter oder ihrem monatlichen Verdienst ausstellen zu lassen. Existierten die Betriebe nicht mehr oder verfügten sie über keine Archivbestände, auf deren Grundlage die nötigen Bescheinigungen ausgestellt werden konnten, blieb einem nichts anderes übrig, als sich an zentrale Stellen zu wenden: Je nach Zuständigkeit waren dies entsprechende Einrichtungen der den Betrieben übergeordneten Behörden, staatliche Archive, die unter Umständen die Bestände aufgelöster Ministerien verwalteten, Partei-, Republik- oder auch Bezirksarchive.352 Das Archivwesen war jedoch in keiner Weise für den massenhaften Andrang gerüstet, der nach dem 1. Oktober 1956 einsetzte. Deutlich wird dies anhand eines Berichtes,353 der im Juli 1957 für Vorošilov verfasst wurde. In ihm wies die Briefabteilung darauf hin, dass das Fehlen von staž- und Verdienstnachweisen vielen Menschen eine Rente verwehrte, die über keine alternativen Unterhaltsmöglichkeiten verfügten und sich deshalb an Vorošilov wandten, damit er für Ordnung in der Archivarbeit sorge. Allein in der ersten Jahreshälfte waren beinahe 5.000 solcher Schreiben im Präsidium des Obersten Sowjets eingegangen.354 Wie sehr die Antragsteller auf die Archive angewiesen waren, geht ebenfalls aus der Tatsache hervor, dass diese Einrichtungen allein im Jahr 1956 200.000 Bescheinigungen ausstellten, mehr als zehnmal so viel wie in den vorangegangenen Jahren. Angesichts solcher Zahlen befand die Briefabteilung, dass die praktische Umsetzung des neuen Rentengesetzes in beträchtlicher Weise von der Genauigkeit der Archivarbeit abhänge. Eine von ihr initiierte Untersuchung habe diesbezüglich ernsthafte Mängel offen gelegt. Hier verwies man zum einen auf die oft überaus langen Bearbeitungszeiten der von den 351 GARF, F. R 7523, op. 45, d. 293, l. 83. Obwohl sich auch Fachleute wie M. S. Lancev wenige Jahre später für ein solches Vorgehen aussprachen (Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1130, l. 276.) und seine Umsetzung praktikabel erscheinen musste, wurde die entsprechende Änderung an der Staatsrentenordnung nicht vorgenommen. Verantwortlich war vermutlich auch in diesem Fall der Kostenfaktor. 352 Eine detaillierte Aufstellung der diversen, in Frage kommenden Einrichtungen findet sich in Babkin u. a., Kommentarij, S. 313318. Vgl. auch Salyndykova, Navesti porjadok. 353 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, ll. 109114. 354 Der Briefabteilung zufolge gingen auch bei der Obersten Staatsanwaltschaft der UdSSR monatlich 700 Briefe ein, in denen um Beistand bei der Suche nach den für die Rentenfestsetzung notwendigen Unterlagen ersucht wurde. In der Abteilung für allgemeine Aufsicht der Usbekischen Staatsanwaltschaft würden Schreiben dieser Art sogar 70 % aller Briefe ausmachen. Vgl. ebd., l. 114.
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Bürgern gestellten Anträge,355 zum anderen auf die Lückenhaftigkeit der Bestände, derentwegen notwendige Bescheinigungen nicht ausgestellt werden könnten. Auch in diesem Bericht fand die in den Jahren 1940–1945 erfolgte Zerstörung vieler Bestände Erwähnung. Man gab dabei allerdings zu bedenken, dass der Krieg nicht für alle Verluste verantwortlich zu machen war: „[...] die durch nichts gerechtfertigte Vernichtung von Archiven ereignete sich auch in Gegenden, denen die Besetzung nicht drohte. Und einige Administratoren haben in der Nachkriegszeit unbegründet auch Personalunterlagen, die der ständigen Aufbewahrung unterliegen, vernichtet.“356
Auch in der Folge verschwand das Thema nicht von der Tagesordnung. 1963 betrafen immerhin noch 6,3 % aller an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR adressierten Briefe zu Fragen der Renten- und Sozialversorgung die Ausfertigung von bzw. die Suche nach Dokumenten für die Rentenbeantragung.357 Ein Jahr später war dieser Anteil sogar auf 6,7 % gestiegen.358 Und auch unter den Änderungswünschen, die dem Goskomtrud im Zusammenhang mit dem bevorstehenden XXIV. Parteitag (30. März – 9. April 1971) zugestellt wurden, fanden sich noch Eingaben von Menschen, die aus den genannten Gründen eine staatliche Versorgung im Alter vermissten und sich eine Verbesserung ihrer Lage erhofften.359 Die bisher beschriebenen Nachweisprobleme wurzelten mehrheitlich in der Vorreformzeit. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass es nach 1956 gelungen wäre, sämtliche Mängel bei der Erfassung der individuellen Arbeitstätigkeit zu beseitigen. Das Gegenteil war der Fall. Schwierigkeiten bereitete insbesondere die Einführung der Arbeitsbücher. Vor allem auf dem Lande, in den Sowchosen, sowie in den Unionsrepubliken Zentralasiens verlief dieser Prozess mit großer Verzögerung.360 Über den hier festzustellenden Rückstand tauschten sich auch die Teilnehmer der im Mai 1958 tagenden Konferenz der führenden Mitarbeiter der Sozialversorgung der RSFSR (im Folgenden auch für die Tagungen der Jahre 1960 und 1962: Mitarbeiterkonferenz) aus. Der Leiter der Novosibirsker Abteilung, Tulin, zeichnete bei dieser Gelegenheit ein entmutigendes Bild: „[...] im Sowchos Nr. 53 im Bezirk Tatarsk wurden nur für 237 von 584 Arbeitern Arbeitsbücher eingeführt. [...] Im Sowchos ,Severo-Tatarskij ދverfügen nur 50 % der Arbeiter über ausgefüllte Arbeitsbücher. Dies bei einer vollständigen Versorgung [der Arbeitnehmer] mit Ar355 So würden sich etwa die Mitarbeiter des Staatsarchivs der Roten Armee im Juli noch mit Gesuchen befassen, die schon im März gestellt worden waren. 356 Ebd., ll. 111112. Derartige Fälle waren sicherlich auf das Bestreben der Betriebsleiter, „Platz zu schaffen“, und ihre Gleichgültigkeit oder Unkenntnis in Bezug auf die Rentenrelevanz der Dokumente zurückzuführen. Um den Defiziten des Archivwesens Einhalt zu gebieten, so schlug der Leiter der Briefabteilung abschließend vor, sollten die zuständigen Unionsministerien für Innere Angelegenheiten und für Verteidigung beauftragt werden, „die notwendigen Maßnahmen zur Behebung der Mängel“ einzuleiten. Vgl. ebd., l. 114. 357 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 83, d. 355, l. 208. 358 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 83, d. 389, ll. 159161. 359 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, ll. 186 u. 193. 360 Vgl. GARF, F. A 385, op. 13, d. 1128, l. 9.
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beitsbüchern. In der Arbeitspraxis [...] stoßen wir auf empörende Fakten. So hat der Direktor des Sowchos ,Oktjabr’ދ, Genosse Gurov, den Arbeitern Dienstalterbescheinigungen auf der Grundlage ihrer eigenen Erklärungen ausgestellt, [...] da die der Personalerfassung dienenden Archive ins Lager geworfen, auseinander getragen und in letzter Zeit sogar in die Makulatur, zum Altstoff gegeben worden sind. [...] Dabei ist der Umstand besonders alarmierend, Genossen, dass die von mir angeführten Fakten keine Einzelfälle sind, sondern einen Massencharakter haben.“361
Einer Überprüfung zufolge, die die ZVS 1964 durchgeführt hatte, kam man den Vorgaben auch in den Einrichtungen der Ministerien für Volksbildung nicht in der erforderlichen Weise nach. Hier schnitten die zentralasiatischen Teile der UdSSR besonders schlecht ab. Musste man für die gesamte Sowjetunion konstatieren, dass 18 % der im Bildungswesen Beschäftigen über keine Arbeitsbücher verfügten, so lag die entsprechende Quote in der Tadschikischen SSR bei 49 % und in der Usbekischen SSR sogar bei 54 %. Beschäftigte, die zum „allgemeinen Bedienungspersonal“ zählten, blieben oft in ihrer Gesamtheit unberücksichtigt.362
2.1.4.2. Persönliches Fehlverhalten der Beteiligten Der zweite Problembereich, der die Handhabung des Staatsrentengesetzes erschwerte, lässt sich bei aller Vielschichtigkeit vielleicht unter den Oberbegriff des „Fehlverhaltens“ der beteiligten Personenkreise subsumieren. Die Indifferenz und mangelnde Expertise von Vertretern der Sozialbürokratie führten dazu, dass die Leistungsbeantragung speziell in den ersten Monaten und Jahren für viele Antragsteller von Unannehmlichkeiten begleitet wurde. Zugleich verursachte eben dieses begrenzte Fachwissen, aber auch eine beträchtliche Bereitschaft der Betriebe und Antragsteller, den Bestimmungen zuwiderzuhandeln, erhebliche Fehlzahlungen. Fragt man nach den Gründen, die die Umsetzung der Reformbestimmungen in den ersten Jahren erschwerten, so ist vor allem die dilettantische Vorbereitung der Neuregelung zu erwähnen. Hierzu gehören zwei miteinander verbundene Bereiche: erstens die inhaltliche Aufklärung der Bürger, zweitens die Schaffung der organisatorischen Voraussetzungen für die Bewältigung des zu erwartenden Rentnerandrangs. Die Mitarbeiter der Sozialversorgung waren zwar schon frühzeitig mit der Überprüfung und Neuberechnung jener Renten beschäftigt, die noch nach den alten Regelungen festgesetzt worden waren. Dieser Prozess erforderte jedoch einen derart hohen Aufwand, dass kaum Zeit blieb, die von der Neuregelung betroffenen Bevölkerungsteile über die für sie relevanten Fragen im Detail zu unterrichten. Das dadurch entstehende Informationsdefizit konnte auch mit Hilfe der betrieblichen Gewerkschaftskomitees nicht behoben werden. In einem Bericht, in dem Mitglieder der Kommissionen für Gesetzesvorschläge über Mängel bei der 361 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, ll. 68. Zur nachlässigen Arbeitsdokumentation in den landwirtschaftlichen Betrieben vgl. auch ebd., d. 3838, l. 45; d. 3839, l. 218. 362 Vgl. GARF, F. R 9514, op. 1, d. 280, l. 17. Zum „allgemeinen Bedienungspersonal“ (mladšij obsluživajušþij personal) zählte man z. B. Hausmeister, Wächter, Chauffeure, Boten, Heizer, Reinigungskräfte und Garderobiere. Vgl. Art. Mladšij obsluživajušþij personal, S. 232233.
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Reformumsetzung referierten, wurde deshalb Kritik laut. Es sei nicht nachvollziehbar, dass man die Staatsrentenordnung, „in der die wichtigsten, mit der Rentenfestsetzung verbundenen Fragen erklärt werden, nicht in der allgemeinen Presse veröffentlichte und zum Eigentum des ganzen Volks werden ließ, sondern de facto auf verdecktem Wege nur den Bezirksabteilungen der Sozialversorgung zur Verfügung gestellt hat“.
Die Kenntnis der Vorschriften hätte viele Ungewissheiten bereinigen und die Antragsteller zu einer selbstsicheren und kompetenten Haltung gegenüber einer Sozialbürokratie befähigen können, der sie nun regelrecht ausgeliefert seien.363 Ihr Wissensvorsprung bedingte, dass die Organe der Sozialversorgung nicht nur jene Instanz darstellten, die für den Empfang der Leistungsanträge und der begleitenden Nachweisdokumente verantwortlich zeichneten, sondern gleichzeitig die primäre Anlaufstation für die Erteilung der verschiedensten Auskünfte waren. Um einer solchen Aufgabe Herr zu werden, hätten sie mit größeren Räumlichkeiten und erheblich mehr Personal ausgerüstet werden müssen, als ihnen zur Verfügung standen. Infolge dieses Defizits entwickelte sich der Prozess der Rentenbeantragung und -neuberechnung für viele ältere und mit körperlichen Einschränkungen lebende Bürger zu einer Tortur: Ein in den Beschwerden mit großer Regelmäßigkeit wiederkehrendes Motiv war die Klage über die unzumutbaren Bedingungen, die den Besuch der Sozialversorgungsabteilungen begleiteten. In den ersten Monaten nach dem Inkrafttreten der Reform mussten die Menschen oft über mehrere Stunden hinweg warten, bis sie zu den zuständigen Mitarbeitern vorgelassen wurden. Mochten Jüngere derartige Umstände schon als anstrengend und nervenaufreibend empfinden, so stellten sie für ältere Bürger eine gesundheitsbedrohliche Strapaze dar. Für manche von ihnen war der Besuch der Abteilungen zudem mit einer langen Anreise und beträchtlichen Fahrtkosten verbunden. Aufgrund des großen Andrangs entwickelten sich vor den Ämtern oft lange Schlangen. Wollte man gegen Mittag vorgelassen werden, musste man mitunter schon um vier Uhr morgens ankommen, um eine der wenigen vorhandenen Nummern zu ziehen, die zum Empfang durch einen der Mitarbeiter berechtigten.364 Viele Antragsteller waren allerdings genötigt, sich mehrmals unter die Wartenden einzureihen, bevor sie angehört wurden. In einem Brief an die Trud beschrieb der Moskauer P. M. Mazur diese Situation und führte die Missstände auf den niedrigen Personalbestand der Sozialversorgungsabteilungen zurück: „Wir sind der Abteilung des Leninskij-Bezirks (Moskau) zugeteilt. Schon über einen langen Zeitraum hinweg versuchen wir, zu irgendeinem Mitarbeiter der Bezirksabteilung der Sozialversorgung in die Sprechstunde zu gelangen. Diese Möglichkeit ist uns aber aufgrund der langen Warteschlangen verwehrt. Die Leute stehen stundenlang auf der Straße; viele von ihnen sind krank, betagt, schlecht angezogen [...]. Viele der Rentner befinden sich in einer schwierigen materiellen Situation. Den Worten des Leiters der Abteilung zufolge ist diese für 29.000 Menschen zuständig. Das Personal besteht aus 25 – meist jungen – Menschen. [...] Es ist unbedingt notwendig, die Abteilung des Leninskij-Bezirks zu entlasten, denn man ist kör-
363 GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 48, l. 261. 364 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 666, l. 57.
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perlich einfach nicht in der Lage, stundenlang in der Schlange zu stehen. Umso mehr gilt das für die Winterzeit, die Kälte, denn in die Räumlichkeiten lässt man [die Wartenden] aufgrund von deren geringer Größe nicht.“365
Vom Unmut der frustrierten Bürger wussten auch die Mitarbeiter der Sozialversorgung selbst zu erzählen. Ein Bericht zur Tätigkeit der Abteilung des Moskauer Baumanskij-Bezirks, der auf einer Parteiversammlung vorgetragen wurde, vermittelt, wie immens der Andrang jener Menschen war, die sich im Oktober 1956 an ihre Mitarbeiter wandten: An den Antragsannahmestellen seien täglich im Durchschnitt zwischen 800 und 960 Personen abgefertigt worden. Der Ärger und die Verzweiflung der Betroffenen hätten mitunter zu Zornesausbrüchen geführt: „So holte einmal ein Rentner an den Eingangstüren mit dem Stock zum Schlag gegen die Diensthabende aus, und die kam weinend ins Empfangszimmer, wo fünf KP-Mitglieder anwesend waren. Die Sache artete zwar [...] nicht derart aus, dass man die Miliz hätte rufen müssen. Wegen des mehrere Stunden langen Schlangestehens vor dem Empfang kam es bei den Rentnern jedoch [generell] häufig zu Entrüstung und Gemurre.“366
Einen weiteren gravierenden Mangel in der praktischen Umsetzung der Staatsrentenreform stellte die niedrige Qualität der sowohl von den Abteilungen der Sozialversorgung als auch von den Kommissionen für die Rentenfestsetzung geleisteten Arbeit dar. Der persönliche Kontakt mit den Inspektoren und Mitarbeitern der Sozialbürokratie gestaltete sich häufig als unangenehm, da sie ihrer Verpflichtung, den Antragstellern mit Rat und Tat behilflich zu sein, oft nicht nachkamen. Stattdessen legten sie ein bürokratisches Verhalten an den Tag und benahmen sich den Alten und Invaliden gegenüber grob und taktlos.367 Dem von Vorošilovs Briefabteilung erstellten Bericht zufolge wurde diesen Menschen bei der Bewältigung der Formalitäten nicht geholfen. Auch der Aufgabe, die Anträge zügig zu bearbeiten, kamen die Mitarbeiter der Sozialversorgung nicht nach. Stattdessen herrschte vielerorts der berüchtigte „Amtsschimmel“ (volokita), wurden die Fälle über mehrere Monate hinweg verschleppt. So waren Ende Dezember viele Neuberechnungen noch nicht durchgeführt, obwohl den betroffenen Rentnern schon seit dem 1. Oktober höhere Leistungen zugestanden hätten. Mitverantwortlich waren hier allerdings auch die früheren Betriebe, die notwendige Papiere zum Teil mit Verspätung oder fehlerhaft ausfüllten.368 Einen Eindruck von der 365 Ebd., l. 56. Zu dem Ergebnis, dass die Betreuung der Rentner durch die Organe der Sozialversorgung beklagenswert und für Erstere unzumutbar war, gelangte auch Vorošilovs Briefabteilung. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, l. 292. 366 CAOPIM, F. 4443, op. 1, d. 14, ll. 4244. 367 Diesbezügliche Bedenken waren schon im Vorfeld der Verabschiedung des Gesetzes geäußert worden. So hatte Bulganin vor dem Obersten Sowjet der UdSSR dezidiert auf die Mängel in der bisherigen Arbeit der Organe der Sozialversorgung hingewiesen und ihre Mitarbeiter ermahnt: Sie sollten sich den Anliegen der Werktätigen gegenüber sensibel verhalten, ihre Rentenanträge schnell und konzentriert bearbeiten und im Umgang mit ihnen eine „hohe Kultur“ an den Tag legen. Vgl. Bulganin, Der Entwurf, S. 27. Vgl auch Kozlov, Zakon, S. 14. 368 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, ll. 292293. Zumindest auf dem Papier reagierte hier die politische Führung: Am 4. März 1958 verabschiedete das ZK der KPdSU die Verordnung „Über die Mängel in der Arbeit der Organe der Sozialversorgung bei der Festsetzung der
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nervlichen Belastung, unter der die Rentner deshalb litten, bietet die Schilderung der Moskauerin A. S. Žirkova. In einem Brief an die Trud gab sie die – ihrer Auffassung nach – charakteristische Erfahrung eines Rentners wieder, der sich nach langem Warten einem Mitarbeiter der Sozialversorgung gegenübersah: „Nachdem er all das Unglück [langes Schlangestehen in der Kälte; L. M.] erduldet hat, begibt er sich endlich mit stockendem Herzschlag zum Tisch des Inspektors und händigt diesem seine Unterlagen aus … Zur Antwort vernimmt er die lakonischen, keinen Widerspruch duldenden und mit strenger Stimme gesprochenen Worte: Ihre Dokumente liegen nicht vor. Bringen Sie den Kontrollabschnitt der Benachrichtigung. Der verstimmte Rentner eilt in die Buchhaltung seines Betriebs, wo man ihm versichert, dass alles bereits Ende September [...] per Einschreiben abgeschickt wurde. Nun beginnt ein Leidensweg. Der Rentner irrt immer wieder von der Abteilung der Sozialversorgung zu seiner Dienststelle und zurück … Sein seelisches Gleichgewicht ist gestört. Als Ariadnefaden, der es ermöglicht, aus dem Labyrinth herauszufinden, erweist sich meist, aber nicht immer, wiederum ein Papier, das die mehrmalige Versendung der Dokumente an die Bezirksabteilung belegt. In den Bezirksabteilungen der Sozialversorgung begeistert man sich für Verschleppung und überflüssigen Briefwechsel, was die übergeordneten Organisationen nicht zu unterbinden versuchen! Hinter den Schriftstücken sieht man [dort] nicht die lebendigen Menschen!“369
Derartige Beschwerden erklären sich nicht nur über die enorme Arbeitsbelastung, der die Beschäftigten der Sozialbürokratie in den Monaten unmittelbar vor und nach Inkrafttreten des Staatsrentengesetzes ausgesetzt waren. Deutlich wird dies anhand der Tatsache, dass auch noch vier Jahre später inhaltlich identische Vorwürfe gegen sie erhoben wurden.370 Die fehlenden soft skills der Mitarbeiter der Sozialversorgung wurden auch vom Parteiapparat missbilligend zur Kenntnis genommen.371 Renten der Werktätigen“. In diesem Dokument wurde eine Beendigung der Bürokratismen und Verschleppungen angemahnt. Seine Wirkung scheint begrenzt gewesen zu sein, denn zwei Jahre später mussten ZK-Vertreter konstatieren, dass sich z. B. das Kollegium des zuständigen Ministeriums der RSFSR kaum um die Umsetzung der Verordnung bemüht habe. Vgl. RGASPI, F. 556, op. 23, d. 126, l. 80. 369 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 666, l. 45. 370 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 293, ll. 7685.. Vgl. auch den Beschluss des Exekutivkomitees des Moskauer Stadt-Deputiertenrats vom 12. Dezember 1961 Nr. 58/1 „Über den Zustand der Arbeit der Sozialversorgungsorgane der Stadt Moskau“ (Bjulleten ތIspolkoma Moskovskogo gorodskogo Soveta [1962], 2, S. 610). 371 Dies legt etwa ein Bericht nahe, den der Leiter der ZK-Abteilung für administrative, Handelsund Finanzorgane der RSFSR, V. I. Tišþenko, im Juli 1961 über die als äußerst mangelhaft empfundene Amtsführung von Ministerin Murav’eva verfasste. In diesem Rahmen wurde auch an den Leistungen des von ihr geführten Ressorts Kritik geübt: „Bis zum heutigen Tage kommt es bei der Überprüfung der Frage der Rentenfestsetzung und anderer Alltagsbedürfnisse der Rentner zu Fällen unaufmerksamen Verhaltens gegenüber den Bitten der Werktätigen, zu Formalismus und Verschleppung [...]. Dies bezeugt die Tatsache, dass sich von 11.294 Beschwerden und Eingaben, die vom Ministerium 1960 zur Überprüfung an die örtlichen Organe [...] geschickt wurden, 979 (8,6 %) als berechtigt erwiesen haben [...].“ RGASPI, F. 556, op. 23, d. 126, l. 80. Tišþenko bemängelte des Weiteren, dass das Kollegium des Ministeriums die Kontrolle über die Umsetzung der Partei- und Regierungsbeschlüsse vernachlässige. Gegenüber zuvor geübter Kritik habe man sich resistent gezeigt. Persönlich wurde Murav’eva Vetternwirtschaft, eine zu große Vorliebe für Auslandsreisen und mangelnde
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Für weit mehr Unzufriedenheit sorgte in Regierungskreisen allerdings ein anderes Defizit: Während des gesamten Bearbeitungszeitraums unterliefen den Organen der Sozialversorgung und den Kommissionen für die Rentenfestsetzung Fehler bei der Leistungsberechnung. In der Konsequenz wurden einerseits manchen Beziehern zu geringe, ihrem tatsächlichen Anspruch nicht entsprechende Beträge bewilligt (nedoplaty). Andererseits kam es – und dies musste der politischen Führung weitaus unangenehmer erscheinen – zu beträchtlichen Überzahlungen (pereplaty). Die Größenordnung der Fehlzahlungen kann angesichts fehlender Daten nicht mit Gewissheit nachvollzogen werden. Die zu diesem Thema aussagekräftigsten Informationen betreffen nicht das Gesamtgebiet der UdSSR, sondern die RSFSR. Angaben aus dem ZK-Apparat zufolge beliefen sich die in der größten Unionsrepublik aufgedeckten Überzahlungen 1960 auf 4 Mio. R, einen Wert, der – auf zwölf Monate gerechnet – dem durchschnittlichen Ruhestandsgeld von mehr als 7.100 Altersrentnern entsprach.372 In der Folge verringerten sich die festgestellten Verluste geringfügig. Für 1962 errechnete die innerbehördliche Revision des Ministeriums für Sozialversorgung Überzahlungen in Höhe von 3.871.400 R, für 1963 in der Summe von 3.820.300 R. Die Unterzahlungen fielen in den beiden Jahren ungleich niedriger aus und beliefen sich auf 253.000 R (1962) und 231.000 R (1963) respektive.373 Für spätere Jahre liegen keine dem Umfang dieser Revisionen entsprechende Vergleichsdaten vor, was freilich nicht bedeutet, dass es gelang, das Problem der Fehlzahlungen zu beheben. Einen Hinweis darauf, dass die Überzahlungen nicht nachhaltig reduziert werden konnten, stellt der Umstand dar, dass sich die Höhe der aufgedeckten pereplaty 1974 sogar auf 5,7 Mrd. R belaufen sollte.374 Auch das diesbezügliche Problembewusstsein innerhalb der politischen Führung ließ nicht nach. So führte das Finanzministerium der UdSSR 1964 und 1966 stichprobenartige Kontrolluntersuchungen durch, in die 330 bzw. 416 Organe der Sozialversorgung einbezogen wurden. Die sich verringernde Höhe der durchschnittlich je Abteilung und Republik angefallenen Überzahlungen vermittelt zum einen den Eindruck, dass sich die Arbeit der Bezirks- und Stadtabteilungen der Sozialversorgung und der Kommissionen für die Rentenfestsetzung mit der Zeit verbesserte. Zum anderen lassen die Ergebnisse der Überprüfungen darauf schließen, in welchen Regionen besonders nachlässig gearbeitet wurde: Im Vergleich schnitten die Organe des Sozialversorgungsministeriums der RSFSR überdurchschnittlich gut ab, während gerade die Arbeit der usbekischen Abteilungen von einer besonders hohen Fehlerquote gekennzeichnet war (Tab. 2c).
Kenntniss der Sozialgesetzgebung vorgeworfen. In ihrem Amt sollte sie sich denn auch nur noch bis Ende des Jahres halten können. Allerdings war ihre politische Karriere der genannten Vorwürfe ungeachtet noch nicht beendet: Bis 1966 stand sie der Zentralen Revisionskommission der KPdSU vor. 372 Vgl. ebd. 373 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, ll. 107111. Der Kontroll- und Revisionsapparat des Ministeriums prüfte 1963 mehr als 90 % der Bezirks- und Stadtabteilungen. 374 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 232. Vgl. auch Madison, The Soviet Pension System, S. 194.
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Tab. 2c: Fehleranfälligkeit der örtlichen Sozialversorgungsabteilungen nach Republiken Zahl der kontrollierten Abteilungen der Sozialversorgung 1964 1966 RSFSR Ukrainische SSR Usbekische SSR Kasachische SSR Alle geprüften Republiken
Summe der Überzahlungen (in R)
Durchschnittliche Überzahlung je Abteilung (in R) 1964 1966
1964
1966
114 42 11 17
165 54 19 25
89.500 71.500 30.700 19.600
52.200 37.200 51.000 32.500
785,09 1.702,38 2.790,91 1.152,94
316,36 688,89 2.684,21 1.300,00
330
416
500.000
318.000
1.515,15
764,42
Quelle: GARF, F. A 413, op. 1, d. 3839, ll. 191192; RGAƠ, F. 7733, op. 57, d. 780, ll. 32.
Für die Fehlzahlungen wurden allerdings nicht nur die Organe der Sozialversorgung verantwortlich gemacht, sondern auch die Betriebe und Dienststellen, die Leistungen an weiterarbeitende Rentner auszahlten. Eine 1968 – abermals vom Finanzministerium – durchgeführte Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass bei 7,8 % aller kontrollierten Rentenauszahlungen gegen die Gesetzgebung verstoßen worden war. Dabei übertraf die Summe der Überzahlungen mit insgesamt 143.700 R die durch Unterzahlungen bedingten „Einsparungen“ von 7.900 R mehr als deutlich.375 Die genannten Beträge mögen vor dem Hintergrund der insgesamt für die Rentenversorgung ausgegebenen Staatsmittel nicht allzu eindrucksvoll erscheinen. Hier gilt es jedoch zu bedenken, dass es mit Hilfe der verwendeten Kontroll- und Revisionsmechanismen nur möglich war, einen verhältnismäßig geringen Teil aller Rentenfälle zu prüfen. Die fortwährende Unzufriedenheit der Führung über die Arbeit der Sozialbürokratie erklärt sich somit auch aus dem Wissen darüber, dass die Dunkelziffer der Fehlzahlungen ungleich höher liegen musste. Zurückführen ließen sich die Über- und Unterzahlungen grob auf zwei Problembereiche, die im Folgenden dargestellt werden sollen: zum einen die erwähnte Fehleranfälligkeit der Sozialbürokratie, zum anderen die falschen Angaben der Antragsteller und ihrer Betriebe, bei denen es sich nicht selten um offensichtlichen Betrug handelte.
a) Fehler der Sozialbürokratie und ihre Ursachen Die Beanstandung falscher Entscheidungen gehörte bereits kurz nach dem Inkrafttreten des Staatsrentengesetzes zu den von Bürgern besonders häufig formulierten 375 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 58, d. 2447, ll. 2526. Insgesamt wurden die Zahlungen an mehr als 27.600 weiterarbeitende Rentner geprüft. Der Anteil der weiterarbeitenden Rentner, die eine falsch berechnete Leistung erhielten, belief sich in den kontrollierten kasachischen Betrieben auf 14,2 %, in den litauischen auf 16,5 % und in den estnischen sogar auf 23,4 %.
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Beschwerden. Leistungen wurden falsch berechnet, Zuschläge, auf die ein Anspruch bestand, nicht gewährt. Verantwortlich hierfür waren sowohl individuelle Rechenfehler als auch mangelnde Kenntnis der gesetzlichen Grundlagen. Stellvertretend für die vielen diesbezüglichen Unmutsäußerungen sei hier das an die Trud gerichtete Schreiben eines 74-jährigen Rentners aus Lipeck, A. I. Burlakov, angeführt, dem zwei Zuschläge verwehrt worden waren: „In die Altersrente bin ich 1937 mit 55 Jahren gegangen. Vor dem Inkrafttreten des neuen Rentengesetzes erhielt ich 294,98 R*, nun bekomme ich 300 R*, also die Mindestrente [...]. Für mein ununterbrochenes Dienstalter soll ich einen Zuschlag bekommen, 10 Prozent. Sie zahlen ihn mir jedoch nicht. Außerdem habe ich eine unterhaltsberechtigte alte Ehefrau (Geburtsjahr 1882), für die ich dem neuen Rentengesetz zufolge [ebenfalls] eine 10-prozentige Zulage bekommen soll. Auch diesen Zuschlag bekomme ich nicht. Ich bat die Leiterin der für die Stadt Lipeck zuständigen Abteilung der Sozialversorgung, Genossin Gušþina, um eine Erklärung. Sie antwortete mir, dass mein Durchschnittslohn, auf dessen Grundlage mir die Rente berechnet worden sei, niedrig sei. Ich hätte keinen Anspruch auf irgendeinen Zuschlag. Eine solche Erläuterung halte ich für unzureichend und im Widerspruch zum Rentengesetz stehend.“376
Die notorische Fehleranfälligkeit der für die Rentenfestsetzung zuständigen Instanzen war zum einen sicherlich auf den erwähnten Personalmangel zurückzuführen, der zu einer Überlastung der Mitarbeiter führen musste. Trotz der gewaltigen sich aus der Staatsrentenreform ergebenden Aufgaben kam es zu keiner Aufstockung der hauptamtlichen Beschäftigten der Abteilungen der Sozialversorgung. Zwar zog man in den ersten Monaten nach der Verabschiedung des Gesetzes Arbeitskräfte aus anderen Einrichtungen zur Unterstützung bei den massenhaften Neuberechnungen heran, doch handelte es sich hier nur um eine temporäre Maßnahme und um ungenügend ausgebildete Kräfte. Die Zahl der Mitarbeiter der Organe der Sozialversorgung blieb weitgehend konstant.377 Bemühungen der zuständigen Ministerinnen um die Finanzierung zusätzlicher Stellen blieben bis Mitte der 1960er ohne Wirkung. Erst im Zusammenhang mit der Einführung des Kolchosrentengesetzes, die noch einmal zu einer deutlichen Anhebung der Rentnerzahlen führte, erfolgte
376 GARF, R 5451, op. 29, d. 666, l. 55. Burlakovs Unmut war berechtigt, denn tatsächlich verfügte er über einen Anspruch auf beide Zulagen. Andere Beispiele für derartige Fehlentscheidungen finden sich in ebd., ll. 2336. 377 Deutlich wird dies, wenn man sich vor Augen hält, dass 1945 z. B. in den Stadt- und Bezirksabteilungen der RSFSR 23.700 Mitarbeiter für 8,6 Mio. Rentner zuständig waren (Ratio von 1:363). Bis 1963 war die Zahl der Leistungsbezieher in der größten Unionsrepublik auf 17,3 Mio. angestiegen, während sich die Zahl der Beschäftigten der Sozialversorgung sogar ein wenig verringert hatte, auf insgesamt 22.200 (Ratio von 1:779). Hierdurch wurden die Normen deutlich unterschritten: Insgesamt gesehen lag die Anzahl der Mitarbeiter des Systems der Sozialversorgung um ca. 5.000 Personaleinheiten (23 %) unterhalb der entsprechenden Vorschrift. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, ll. 5051; F. A 259, op. 42, d. 2705, l. 94. Die zulässige Arbeitsbelastung wurde in der Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 10. Juli 1956 Nr. 472 „Über die weitere Strukturverbesserung und die zahlenmäßige Verringerung des Verwaltungspersonals des zentralen Apparats des Ministeriums der RSFSR für Sozialversorgung und seiner örtlichen Organe“ geregelt.
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eine Reaktion: Zum 1. Januar 1965 wurde der Personalbestand der Sozialversorgung in der RSFSR um 4.285 Mitarbeiter erhöht.378 Die personelle Überlastung trug gleichzeitig zu einem weiteren Problem bei, welches die Effizienz der örtlichen Organe minderte: der hohen Personalfluktuation. Viele Mitarbeiter blieben nicht lang genug in den Abteilungen, um die für die Tätigkeit notwendige Erfahrung und Routine zu erlangen.379 Für die mangelnde Attraktivität des Berufsbildes, die diesen Arbeitskräfteumlauf hervorrief, waren allerdings auch zwei weitere Faktoren verantwortlich: sein äußerst niedriges Prestige und vor allem die bescheidene Vergütung. Dem zweiten Aspekt schrieb N. A. Murav’eva 1960 die Hauptverantwortung dafür zu, dass in den Bezirksabteilungen und -einrichtungen eine Fluktuation herrschte, die im Jahr 25– 30 % der Beschäftigten erfasste.380 Vier Jahre später kam auch L. P. Lykova gegenüber dem Ministerrat der RSFSR auf dieses Problem zu sprechen, das sie ebenfalls auf den geringen materiellen Anreiz zurückführte. Die von ihr angeführten Beispiele legen nahe, dass sich die Situation in der Zwischenzeit sogar noch verschlechtert hatte: „Bei dem Verdienstniveau, das in den Organen der Sozialversorgung für [...] [juristisch oder im Rechnungs- und Finanzwesen bewanderte Mitarbeiter] existiert, werden diese nur schwach an die Arbeit gebunden [...]. Die hohe Austauschrate derjenigen Kader der Bezirksund Stadtabteilungen der Sozialversorgung, die mit der Vorbereitung der Dokumente für die Rentenfestsetzung (Inspektoren) und der Rentenauszahlung (Mitarbeiter des Rechnungswesens) beschäftigt sind, ist [...] eine der Ursachen für die Fehler bei der Festsetzung und Auszahlung der Renten. So wurden etwa in den Bezirksabteilungen des (ländlichen) Gebiets Kalinin 40 % der Inspektoren und 62 % der Oberbuchhalter ersetzt. In der Bezirksabteilung der Sozialversorgung der zu diesem Gebiet gehörenden Stadt Ves’egonsk wurde 1963 die gesamte Belegschaft (einschließlich des Abteilungsleiters) ausgetauscht. In [...] Moskau wurden 1963 45 % der Inspektoren und Buchprüfer ersetzt. In der Stadt Leningrad tauschte man im selben Zeitraum 25 % der Abteilungsmitarbeiter aus.“381
Einen Eindruck von der Bescheidenheit des in den Abteilungen üblichen Verdienstniveaus vermittelte die Ministerin der Baschkirischen ASSR für Sozialversorgung, Rabiga Ch. Chabibullina, auf der im Mai 1962 tagenden Mitarbeiterkon378 Vgl. die Anordnung des Ministerrats der RSFSR vom 21. November 1964 Nr. 4466-r. Von diesen 4.285 neuen Stellen entfielen 91,1 % auf die örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung, der Rest auf die übergeordneten Ebenen des Apparats. Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 2705, ll. 1011; Maksimovskij, Upravlenie, S. 161; Lykova, Zadaþa, S. 3. 379 Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 2705, l. 94. Hierbei handelte es sich freilich um kein neues Problem. Schon 1925 soll sich der Arbeitskräfteumlauf in den Organen der Sozialversorgung auf 66 % belaufen haben. Vgl. Madison, Welfare Personnel, S. 61. Allgemein zum Problem der Personalfluktuation in der sowjetischen Volkswirtschaft vgl. Pietsch, Die Fluktuation. 380 Vgl. RGASPI, F. 556, op. 23, d. 125, l. 166. Auf der zwei Jahre zuvor abgehaltenen Mitarbeiterkonferenz hatte die Ministerin das Problem noch geleugnet: „Man sagt, dass es bei uns eine Fluktuation gibt, dass uns die Mitarbeiter davonlaufen. Ich habe es selbst überprüft. Was denn für eine Fluktuation? Bei uns gibt es [...] eine natürliche Personalbewegung. Die Kader werden ausgebildet, werden befördert. Es gibt absolut keine Fluktuation, keine katastrophale Situation im Zusammenhang mit den Arbeitskräften.“ GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, l. 265. Vgl. auch ebd., F. A 385, op. 13, d. 1132, l. 9. 381 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, l. 51.
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ferenz. Sie verwies auf die Schwierigkeiten, vor Ort gut ausgebildete Kräfte zu gewinnen, wenn in Moskau unvorteilhafte Vergütungsnormen festgelegt würden. Es sei an der Zeit, der Unterbewertung der von der Sozialbürokratie geleisteten Arbeit ein Ende zu setzen und die Anhebung der Entgeltzahlungen, auf die man schon so lange und geduldig warte, endlich in die Wege zu leiten.382 Ein weiterer Faktor, der gegen eine Anstellung im System der Sozialversorgung sprach, war ihr geringes Prestige sowohl bei den staatlichen Autoritäten als auch bei der Bevölkerung. Für Ersteres mag auch die bereits erwähnte Tatsache sprechen, dass man den Abteilungen nicht die geeigneten Räumlichkeiten zur Verfügung stellte. Dies konnte man entweder auf die begrenzten Finanzmittel oder aber auf die geringe Wertschätzung durch die Vertreter eines politischen Systems zurückführen, das vor allem der „produktiven“ Tätigkeit einen hohen Stellenwert beimaß. Die Klientel der Sozialbürokratie bestand schließlich gerade aus jenen Personenkreisen, die sich nicht mehr oder nur noch eingeschränkt der gesellschaftlich nützlichen Arbeit widmen konnten. Des Weiteren erklärte sich das bescheidene Ansehen der Sozialversorgungsmitarbeiter in der Bevölkerung auch über die vergleichsweise geringen Voraussetzungen, die man erfüllen musste, um hier eine Anstellung zu finden. Zwar waren Personen mit juristischen oder das Rechnungswesen betreffenden Vorkenntnissen gern gesehen, doch verfügten die Mitarbeiter in der Regel bestenfalls über eine Sekundarbildung.383 Auch hohe Funktionsträger der Sozialversorgung sahen hier einen direkten Zusammenhang mit dem schlechten Image ihrer örtlichen Vertreter. So konstatierte der zuständige Minister der Udmurtischen ASSR, I. F. Avdeev, auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1958: „Offensichtlich findet man im Zusammenhang mit der Personalfrage nirgendwo ein solches Wirrwarr vor wie in unserem System. Das Wort sobes384 ist zu einem Synonym geworden, da man es häufig in dieser Art verwendet: Wenn eine Person sich abgearbeitet, erschöpft hat, dann sagt man ihr, dass es für sie an der Zeit sei, eine Arbeit in einem sobes anzunehmen.“385
Die mangelhafte Ausbildung des Personals zeichnete auch direkt für die hohe Fehlerquote bei der Durchführung der Rentenfestsetzung und -auszahlung verant382 Dabei führte sie einige Beispiele für das ihrer Meinung nach „überaus niedrige Erwerbseinkommen“ der Beschäftigten an: Der Leiter einer Abteilung der Sozialversorgung bezog demzufolge mit 69–79 R den höchsten Monatsverdienst. Ein Oberinspektor erhielt 57–60 R, ein Oberbuchhalter 44–52 R und ein einfacher Rechnungsführer sogar nur 36–44 R. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, ll. 4647. Wie bescheiden sich diese Beträge ausnahmen, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die seit 1957 geltende Mindestgrenze für Löhne und Gehälter bei 30–35 R angesiedelt war. Eine Anhebung der Bezüge für die Mitarbeiter der Sozialversorgung wurde schließlich in einer gemeinsamen Verordnung des ZK der KPdSU, des Ministerrats der UdSSR und des VCSPS vom 15. Juli 1964 Nr. 620 beschlossen. 383 Vgl. Madison, Welfare Personnel, S. 6162. 384 Umgangssprachliche Abkürzung für otdel social’nogo obespeþenija (Abteilung der Sozialversorgung). 385 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, ll. 238239. Darauf, dass sich an dem niedrigen Prestige der Mitarbeiter auch in den folgenden zwei Jahrzehnten nichts grundlegend veränderte, verweist Madison, The Soviet Pension System, S. 198.
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wortlich. Die Materie, mit der die Beschäftigten der Organe konfrontiert waren, war zweifelsohne komplex. Zwar hatte die 1956 durchgeführte Reform zu einer Vereinheitlichung der Gesetzgebung geführt. Die dadurch bewirkte Erleichterung wurde jedoch bald wieder von der nicht nachlassenden normativen Aktivität der Staats- und Republikorgane untergraben. Vorošilovs Briefabteilung kritisierte bereits im Oktober 1958, dass „in den zwei Jahren seit seinem [des Staatsrentengesetzes; L. M.] Inkrafttreten so viele Vorschriften, Erläuterungen und Weisungen herausgegeben worden sind, dass sich selbst die Mitarbeiter der Sozialversorgung manchmal nur mit Mühe [...] zurechtfinden“.386
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass schon früh eine erneute Vereinheitlichung der vorhandenen Regelungen gefordert wurde. Auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1962 kam so etwa der Leiter der Kalininer Abteilung der Sozialversorgung, Šelygov, auf das Problem zu sprechen. Ihm zufolge füllten die Nachbesserungen und Ergänzungen bereits acht Sammelbände mit 1.063 Seiten: „All diese Materialien verwenden wir täglich, doch kann man das alles im Gedächtnis behalten? Zweifellos kann man das nicht. [...]. Es ist an der Zeit, dass sich das Ministerium für Sozialversorgung an die Systematisierung der Normativakte zur Rentenversorgung macht. [...] alle Fragen der Rentenfestsetzung und -auszahlung werden unmittelbar in den Bezirks- und Stadtabteilungen entschieden, und das Nichtvorhandensein einer Systematisierung der Rentengesetzgebung birgt das Potential von Fehlern bei ihrer Anwendung.“387
Eine naheliegende Maßnahme zur Verringerung ihrer Fehleranfälligkeit bestand in der Optimierung der Vor- und Ausbildung der Mitarbeiter. Hier herrschte ein beträchtliches Defizit. Trotz der Tatsache, dass ihre Tätigkeit nicht nur renten-, sondern auch arbeits-, verwaltungs- und familienrechtliche Bereiche berührte, verfügten 1958 in der RSFSR lediglich 900 Mitarbeiter des Systems der Sozial-
386 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2372, l. 136. Einen Eindruck vom Umfang der nach 1956 am Rentenrecht vorgenommenen Änderungen, Konkretisierungen und Ergänzungen vermittelte 1964 Ministerin Lykova: Ihr zufolge hatten die Ministerräte der UdSSR und der RSFSR sowie das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR in den sieben vorangegangenen Jahren diesbezüglich 80 Verordnungen und Erlasse verabschiedet. Im selben Zeitraum seien vom Goskomtrud 70 weitere Beschlüsse und Erläuterungen veröffentlicht sowie Hunderte von Instruktionen herausgegeben worden, die Fragen der Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung berührten. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, l. 50. 387 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 149. Auch im Zusammenhang mit der ab Ende der 1960er Jahre geführten Diskussion um die Kodifizierung der auf verschiedene Rechtsbereiche verstreuten Rentengesetzgebung drangen Fachleute wie V. V. Karavaev darauf, die Bestimmungen handhabbarer zu gestalten: „Mit der Veröffentlichung des Gesetzes von 1956 wurde die Rentengesetzgebung bedeutend vereinfacht. Zu einer minimalen Zahl von Akten zusammengeführt, wurde die Rentengesetzgebung einfacher. Jedoch hat man nach der Verabschiedung des Gesetzes [abermals] eine große Zahl von Akten erlassen, was die Rentengesetzgebung aufs Neue kompliziert, sie verwickelt und sperrig gemacht hat.“ Karavaev, O soveršenstvovanii, S. 60. Zur Diskussion um die Gestaltung jener „Grundlagen der Gesetzgebung über die Sozialversorgung“, die das Ergebnis der – schließlich nicht realisierten – Kodifizierung darstellen sollten, vgl. auch Fogel’, Pravovye voprosy, S. 28; Andreev, Socialތnoe obespeþenie, S. 2530; Madison, The Soviet Social Security System, S. 179186.
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versorgung über ein abgeschlossenes Jurastudium.388 Murav’eva zufolge konnten 1961 maximal 70 % der für die lokalen Abteilungen der Sozialversorgung tätigen Inspektoren und Buchhalter eine Oberschulbildung vorweisen.389 Auch auf dem Gebiet der Weiterbildung bestand ein beträchtlicher Nachholbedarf, waren doch für einen solchen Zweck kaum Vorkehrungen getroffen worden. Der entsprechende Mangel wurde schon früh thematisiert. Auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1958 gab so etwa der Vertreter der Krasnodarer Organe, Krivenko, seiner Irritation über die wenigen vorhandenen Weiterbildungsangebote Ausdruck. Während für die Mitarbeiter der Finanzorgane Fachschulen und Institute existierten, gebe es für das Personal der Sozialversorgungsorgane keine entsprechenden Möglichkeiten.390 Die Führung des Ministeriums zeigte sich in dieser Frage einsichtig. Auf der zwei Jahre später abgehaltenen Mitarbeiterkonferenz ging K. M. Dolgov auf die Kritik ein. Man habe die Anmerkungen geprüft und eine Reihe von Maßnahmen zur fachlichen Qualifizierung der Beschäftigten durchgeführt.391 Allerdings gebe es, so musste der Stellvertreter der Ministerin eingestehen, auf dem Gebiet der Personalarbeit noch immer ernsthafte Defizite. Zum einen bemängelte er den Unwillen sowohl der Gebiets- als auch der örtlichen Organe, junge Fachkräfte einzustellen oder die vorhandenen Mitarbeiter zur Absolvierung von Weiterbildungsmaßnahmen zu motivieren. Und zum anderen würden viele Abteilungsleiter bei der Einstellung neuer Kräfte nicht sorgsam genug vorgehen, was dazu führe, dass ungeeignete Personen angenommen würden, die bald darauf wieder ersetzt werden müssten. Anfang der 1970er Jahre hatte sich die Lage zumindest teilweise verbessert: Nun verfügte das Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung über eigene Fachschulen zur juristischen Ausbildung von Oberschulabsolventen. Laut M. M. Kravþenko, zu dieser Zeit Stellvertreter von Ministerin Domna P. Komarova, belief sich die Zahl der diplomierten Fachkräfte im System der Sozialversorgung der RSFSR auf etwa 21.000 Personen, von denen 5.742 eine Hochschulausbildung 388 Vgl. Karavaev, Za dalތnejšee soveršenstvovanie, S. 84. Orientiert man sich an der Zahl jener 78.000 Mitarbeiter, über die das Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung 1960 verfügte, so entsprach dies einem Anteil von etwa 1,2 %. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 222. 389 Vgl. RGASPI, F. 556, op. 23, d. 125, l. 166. Vielerorts war das Bildungsniveau sogar noch niedriger: So lag der Anteil der Mitarbeiter, die lediglich eine Elementar- oder abgebrochene Oberschulbildung besaßen, in den Regionen Krasnojarsk und Primor’e, den Gebieten ýita und Kemerovo sowie der Jakutischen und der Tuvinischen ASSR im Jahr 1961 bei über 80 %. Manche Verwaltungsgebiete verfügten insgesamt sogar nur über 8–12 Fachkräfte mit einer höheren Schulbildung. Vgl. RGASPI, F. 556, op. 23, d. 126, l. 84. 390 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, l. 171. Zu den Mängeln der innerbehördlichen Schulung vgl. auch ebd., ll. 239 3RWUDþNRY *GH QDP XþLWތVMD" 6 18; Madison, Social Welfare, S. 93. 391 So wurden Dolgov zufolge mittlerweile vier Finanz- und Kredit-Fachschulen sowie von Rechtsund Finanz-Instituten angebotene Fernlehrgänge zur Ausbildung von Inspektoren und Buchhaltern genutzt. Für Studenten der Rechts-, Finanz- und Wirtschaftswissenschaften sei zudem der Kurs „Rentenversorgung in der UdSSR“ eingeführt worden, um verstärkt auch Arbeitskräfte mit Hochschulhintergrund rekrutieren zu können. Vgl. GARF, F. A. 413, op. 1, d. 3303, ll. 216 218.
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genossen hatten. Allerdings musste auch er eingestehen, dass das allgemeine Qualifikationsniveau noch immer nicht ausreichte und die Vorbereitung sowohl der Juristen als auch der Buchhalter der weiteren Optimierung bedurfte.392
b) Betrug durch Antragsteller und Betriebsleitungen Waren die durch die Fehlleistungen der Mitarbeiter der Sozialversorgungsorgane verursachten finanziellen Verluste zweifelsohne schmerzlich, so entstand dem Staatshaushalt durch absichtsvollen Missbrauch ein ungleich größerer Schaden: Verstöße von Betrieben, Dienststellen und Einzelpersonen gegen die Rentenbestimmungen zeichneten so z. B. 1960 für 82,0 %, 1962 für 88,0 % und 1963 für 86,7 % aller nachgewiesenen Überzahlungen in der RSFSR verantwortlich.393 Bemerkenswert ist, dass Betriebsleitungen und Arbeitnehmer oft an einem Strang zogen, wenn es darum ging, umfangreichere Renten zu erschleichen, als dem Einzelnen eigentlich zustanden. Eine in diesem Zusammenhang praktizierte Form des Missbrauchs setzte bei der Höhe des zur Berechnung hinzugezogenen Erwerbsentgelts an. Wie erwähnt, stand es einem älteren Bürger frei, ob er hier einen Durchschnittsbetrag anführte, der das Arbeitseinkommen von fünf aufeinanderfolgenden Jahren oder der zwölf Monate vor der Rentenbeantragung widerspiegelte. Manche Betriebsvertreter machten sich die zweite Alternative nun in dem Sinne zunutze, dass sie die älteren Arbeitnehmer in deren letztem Arbeitsjahr künstlich in eine höhere Verdienstgruppe stuften. Dadurch steigerte sich die monatliche Altersrente zum Teil deutlich. Oft wird es sich bei dieser und den im Folgenden beschriebenen Formen des gemeinschaftlichen Rentenbetrugs um das Ergebnis des Wirkens von Gefälligkeitsnetzwerken gehandelt haben. Bei Bürgern, die die entsprechenden Kontakte nicht besaßen oder nutzen wollten, rief eine solche Praxis Empörung hervor.394 Auch V. F. Garbuzov, der sowjetische Finanzminister, sah hier zwei Jahre später Handlungsbedarf. In einem Schreiben an den Ministerrat verwies er darauf, dass mehr als 90 % aller Antragsteller das letzte Jahr ihrer Erwerbstätigkeit als Berechnungsgrundlage wählten. Maßgeblich für diese Entscheidung verantwort392 Vgl. Kravþenko, Uspech pjatiletki, S. 3. 393 Vgl. RGASPI, F. 556, op. 23, d. 126, l. 80; GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, ll. 107111. 394 So schrieb 1971 ein Mann namens A. Šachov an den Goskomtrud: „Die Berechnung der Renten auf der Grundlage von zwölf Monaten der letzten Arbeit ist nicht richtig, denn viele Menschen haben 30–40 Jahre lang gearbeitet, [...], aber aus verschiedenen Ursachen vor dem Ruhestand kein hohes Erwerbsentgelt zu beziehen vermocht und bekommen [nun] manchmal die Mindestrente. Gleichzeitig wurde eine Reihe von Genossen mehrmals wegen Verletzung der Arbeitsdisziplin entlassen; sie haben nicht [im Zweiten Weltkrieg] gekämpft, keine Belohnungen erhalten, aber über das Blat-System wurde ihnen ein hohes Erwerbseinkommen verschafft. Wegen der letzten zwölf Arbeitsmonate erhalten sie die Höchstrente.“ GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, l. 194. Vgl. auch ebd., d. 2616, ll. 89. Zu dieser Form des Rentenmissbrauchs vgl. auch Plaggenborg, Lebensverhältnisse, S. 804; Porket, Income Maintenance, S. 306; Žiromskaja, Problemy, S. 26; Gitelman, Unequal Encounters, S. 340; Stiller, Sozialpolitik, S. 233.
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lich sei die Tatsache, dass die so kalkulierten Durchschnittsgehälter und -löhne um 50 %, oft auch um mehr als 100 % über dem Betrag lägen, der sich aus dem fünfjährigen Zeitraum ergeben hätte. Ein derartiger Entgeltzuwachs konnte seiner Auffassung nach kaum natürliche Ursachen haben. Der Minister erklärte ihn folglich damit, dass „die Kürze der Periode, die zu seiner [des Durchschnittsverdienstes; L. M] Bestimmung herangezogen wird, es erlaubt, die Mitarbeiter bei faktischer Ausübung der früheren Arbeit auf eine besser bezahlte Stelle [...] zu versetzen“.
Um einer derartigen Praxis ein Ende zu setzen, plädierte er dafür, die Rentenhöhe nur noch auf der Grundlage von fünf aufeinanderfolgenden Jahren zu berechnen.395 Der Vorschlag setzte sich jedoch nicht durch, was sicherlich auch an den Einwänden des Goskomtrud lag, dessen Vertreter darauf hinwiesen, dass ein solcher Missbrauch keineswegs so verbreitet sei, wie vom Finanzministerium behauptet. Dass das Problem nicht die Gesamtheit der sowjetischen Altersrentner betreffe, gehe schon aus der Tatsache hervor, dass das allgemeine Rentenniveau deutlich hinter der Entwicklung der Erwerbseinkommen zurückbleibe. Auch liege das durchschnittlich für eine Rentenbeantragung angeführte Verdienstniveau unterhalb des im Mittel von sowjetischen Werktätigen bezogenen Einkommens.396 Es muss also offenbleiben, wie verbreitet diese Missbrauchsform tatsächlich war. Die „Zusammenarbeit“ von betrieblicher Verwaltung und Antragstellern erstreckte sich jedoch auch auf andere Bereiche. Bei Kontrollmaßnahmen wurden wiederholt Fälle enthüllt, in denen die Buchhaltungen Bescheinigungen ausgestellt hatten, die dem tatsächlichen Dienstalter und Arbeitseinkommen der angehenden Rentner nicht entsprachen.397 Ein wiederholter Vorwurf betraf dabei die Fälschung von Nachweisen, die für den Bezug einer Vorzugsrente Bedingung waren. So wurde 1958 im Nikotinwerk der Stadt Babuškin aufgedeckt, dass die Bezeichnung des Produktionszweiges, in dem ein Antragsteller tätig gewesen war, dergestalt abgeändert worden war, dass sich aus ihr ein Anrecht auf eine vergünstigte Leistung „gemäß Liste I“ ergeben hatte.398 Eine besondere Spielart des Rentenbetrugs mit Hilfe getürkter Belegdokumente fand im ländlichen Bereich Anwendung. Hier versuchte man, den 15-prozentigen Abschlag, der sich aus dem Vorhandensein einer „Verbindung zur Landwirtschaft“ ableitete, zu umgehen. Hilfestellung leisteten dabei Vertreter der Dorfsowjets. Wiederholt wurden diese überführt, Papiere ausgestellt zu haben, die fälschlicherweise beurkundeten, dass Bürger über keine „Verbindung“ verfügten. Im Rahmen einer 395 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2930, ll. 313316. 396 Vgl. ebd., ll. 301303. 397 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 974, l. 84; F. A 413, op. 1, d. 3838, l. 110; RGAƠ, F. 7733, op. 57, d. 70, l. 33. So kam etwa eine im ersten Quartal des Jahres 1961 in Moskau durchgeführte Untersuchung zu dem Ergebnis, dass 3,7 % aller kontrollierten Papiere falsch waren und dass sich der hierdurch entstandene Schaden auf 351.128 R belief. Vgl. den Beschluss des Exekutivkomitees des Moskauer Stadt-Deputiertenrats vom 12. Dezember 1961 (siehe Anm. 370). 398 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, l. 17. Vgl. auch ebd., d. 3838, l. 47; F. R 5451, op. 29, d. 974, l. 89; Stiller, Sozialpolitik, S. 233.
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Überprüfung, die man 1963 in der Region Altai durchführte, erwiesen sich beispielsweise 343 von 14.500 kontrollierten Bescheinigungen (2,4 %) als ungerechtfertigt.399 Dass es sich hierbei keineswegs um ein regional begrenztes Problem handelte, machte drei Jahre später ein Report der Kontroll-Revisionsverwaltung des sowjetischen Finanzministeriums deutlich, in dem von ähnlichen Verstößen in der Litauischen, der Moldawischen, der Kasachischen, der Ukrainischen und der Kirgisischen SSR berichtet wurde.400 Der wohl für die umfangreichsten Überzahlungen verantwortliche Missbrauch ereignete sich im Bereich der Rentnerweiterarbeit. Die Gesetzgebung des Jahres 1956 sah erwähntermaßen vor, dass sich die Alterssicherung der meisten staatlichen Ruheständler, die über den Rentenantritt hinaus erwerbstätig waren, beträchtlich reduzierte oder sogar vollständig wegfiel. Zwar wurden diese Beschränkungen bis 1969 in mehreren Schritten aufgeweicht und die Weiterarbeit dadurch erheblich aufgewertet, doch gab es auch in den 1970er Jahren noch Berufsgruppen, die unter Abzügen zu leiden hatten, sofern sie sich denn gegen einen vollständigen Rückzug auf das Altenteil entschieden.401 Einige Betriebe ersparten ihren Arbeitskräften nun die Leistungsminderung, indem sie den Organen der Sozialversorgung die Tatsache verschwiegen, dass sie einen Rentner beschäftigten. Zu einer solchen Situation hatte der Gesetzgeber selbst mit beigetragen, da er diese Frage bei der Neuregelung der staatlichen Rentenversorgung nicht berücksichtigt hatte: Zwar stand fest, dass die örtlichen Abteilungen über die Aufnahme einer entlohnten Tätigkeit in Kenntnis gesetzt werden sollten,402 doch hatte man im Dunkeln belassen, auf welche Weise konkret über die Anstellung eines Rentners zu informieren war.403 Maßnahmen, die der Gesetzgeber daraufhin zur Festlegung der Arbeitgeberpflichten und der Konsequenzen ihrer Nichterfüllung durchführte,404 blieben ohne 399 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, l. 47. Im gleichen Zeitraum wurden in der Stadt Bolchov (Gebiet Orel) Überzahlungen in der Höhe von 11.987,54 R aufgedeckt, die das Ergebnis gefälschter Nachweise über die Größe von persönlichen Nebenwirtschaften waren. Vgl. hierzu GARF, F. R 5451, op. 29, d. 966, l. 75. 400 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 57, d. 780, l. 35. Ein wirksames Mittel gegen die durch diese Rechtsverstöße entstehenden finanziellen Verluste vermochte man bis Anfang der 1970er Jahre nicht zu finden: Noch 1972 rechnete Garbuzov die getürkten Nachweise über die Größe der privaten Nebenwirtschaft zu den besonders charakteristischen Ursachen von Rentenfehlzahlungen. Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 63, d. 1094, l. 2. 401 Siehe Abs. 2.1.6.2. dieser Arbeit. 402 Vgl. Petrov-Denisov, Organizacija raboty, S. 50. 403 Dass sich aus der Informationslücke Probleme ergaben, war Ende der 1950er Jahre zumindest Fachleuten bewusst. Vgl. Karavaev, Za dalތnejšee soveršenstvovanie, S. 82. 404 Einen ersten entsprechenden Schritt unternahm der Ministerrat der RSFSR am 29. Mai 1961 mit der Verordnung Nr. 640, in der er Betriebsleitungen dazu verpflichtete, die Organe der Sozialversorgung innerhalb von fünf Tagen nach der Anstellung eines Rentners über sie zu informieren, so dass man den sich aus Entlohnung und Art der Tätigkeit ergebenden Rentenrestanspruch kalkulieren konnte. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, ll. 4445; CAOPIM, F. 4443, op. 1, d. 24, l. 29. Allerdings musste man schon bald eingestehen, dass die Maßnahme kaum Wirkung erzielte. Daran vermochte auch die Tatsache nichts zu ändern, dass man die Meldepflicht im Februar 1964 per Verordnung auch auf Unionsebene vorschrieb. Vgl.
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größere Wirkung, und so handelte es sich bei der Nichtmeldung der Rentnerbeschäftigung auch Mitte der 1960er Jahre noch um die wohl mit Abstand am weitesten verbreitete Form des Leistungsmissbrauchs. Deutlich wird dies, wenn man sich vor Augen führt, dass beispielsweise im – industriellen – Gebiet Moskau in den ersten drei Quartalen des Jahres 1963 93,9 % aller erkannten Überzahlungen auf die Verschleierung der Weiterarbeit zurückgingen. Und im Jahr 1965 deckten die Ministerien der RSFSR für Finanzen und Sozialversorgung mehr als 27.000 solcher Fälle auf, in denen Rentenempfänger illegal 3,5 Mio. R bezogen hatten.405 Dass man des Problems auch in der Folge nicht Herr zu werden vermochte, belegt schließlich die Tatsache, dass noch 1967 und in der ersten Hälfte des darauf folgenden Jahres allein in Moskau 3.554 Vergehen dieser Art registriert wurden.406 Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Dunkelziffer aller Wahrscheinlichkeit nach weit höher lag, erklärt sich die enorme Verbreitung der heimlichen Rentnerarbeit nicht allein über das Wirken von Gefälligkeitsnetzwerken. Ihre Ursache war ebenfalls darin zu suchen, dass in Teilen der Volkswirtschaft ein Mangel an qualifizierten Arbeitskräften herrschte und deshalb nicht auf die Expertise altgedienter Mitarbeiter verzichtet werden konnte. Da die gesetzlich vorgesehene Rentenminderung die Weiterarbeit oftmals jedoch unattraktiv machte, waren die Betriebsleitungen möglicherweise geradezu gezwungen, die Beschäftigungsverhältnisse an den Sozialversorgungsorganen vorbei zu organisieren.407 Des absichtlichen Verstoßes gegen die Bestimmungen des Rentenrechts machten sich allerdings auch die Vertreter der Sozialversorgung selbst schuldig. So lassen sich Fälle nachweisen, in denen Mitarbeiter staatliche Mittel veruntreuten. Die Kontroll-Revisionsverwaltung des sowjetischen Finanzministeriums konnte beispielsweise aufdecken, dass einzelnen Rentnern, die mit Angestellten einer Abteilung verwandt waren, doppelte Leistungen ausgezahlt worden waren. Die Hinterziehung der öffentlichen Leistungen nahm mitunter auch einen größeren Umfang an. Ein Hauptbuchhalter der für den Bezirk Mytišþi (Gebiet Moskau) zuständigen Abteilung entwendete innerhalb von fünf Jahren 14.300 R, indem er Zahlungsdokumente fälschte. Und in einem anderen Fall konnten die Leiterin der Bezirksabteilung von Karakul’ (Gebiet Buchara) in der Usbekischen SSR, ihr OberbuchhalZiff. 3 der Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 26. Februar 1964 Nr. 175 „Über die Steigerung der materiellen Interessiertheit der Rentner an der Arbeit in der Produktion“ (SP SSSR, 1964, Nr. 3, Pos. 17). Zur Nichtbefolgung dieser Vorschrift vgl. auch GARF, F. A 413, op. 1, d. 3839, l. 217; RGAƠ, F. 7733, op. 57, d. 780, l. 35; Gruzija: Vypolnim naši zadaþi, S. 4849. 405 Zwei Jahre zuvor hatte die Gesamtsumme aller Überzahlungen, wie oben erwähnt, noch bei 3,3 Mio. R gelegen. In den Jahren 1963–1965 konnten in der RSFSR durch das Verschweigen der Weiterarbeit hervorgerufene Verluste in einer Höhe von insgesamt um die 10 Mio. R aufgedeckt werden. Vgl. GARF, F. A 259, op. 45, d. 5635, l. 17. Zur starken Verbreitung dieser Missbrauchsform vgl. auch ebd., F. A 413, op. 1, d. 3838, l. 110; d. 3839, l. 217. 406 Vgl. CAGM, F. 1937, op. 1, d. 283, ll. 56. Vgl. auch Kogan, Otnošenie, S. 73, der von einer in zwei Moskauer Stadtbezirken durchgeführten Untersuchung berichtet, die zu dem Ergebnis kam, das 15 % der als „nicht erwerbstätig“ registrierten Rentner heimlich einer Arbeit nachgingen. 407 Vgl. Friedgut, Political Participation, S. 284.
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ter und eine Bedienungskraft des Überweisungsfernamts 11.600 R erschleichen, indem sie fiktive Dokumente ausfertigten und Überweisungen an nicht existierende Personen in die Wege leiteten.408 Darüber hinaus ist an dieser Stelle zumindest zu erwähnen, dass nicht nur Überzahlungen, sondern gegebenenfalls auch ein Teil der zu gering berechneten Rentenleistungen auf bewusste Fehlentscheidungen der Kommissionen für die Rentenfestsetzung zurückzuführen waren. E. G. Azarova verweist Ende der siebziger Jahre auf eine Problematik, die sicherlich auch für den Untersuchungszeitraum Relevanz besaß: Die Leiter der Abteilungen der Sozialversorgung zeichneten persönlich dafür verantwortlich, dass die staatlichen Gelder korrekt verwendet wurden. Um Überzahlungen „auszugleichen“, mochte es sich anbieten, legitime Ansprüche sowjetischer Bürger zu beschneiden.409
2.1.4.3. Lösungsansätze: Strafmaßnahmen und Heranziehung der obšþestvennost’ Muss auch der genaue Umfang des durch Über- und Unterzahlungen erzeugten Schadens letztendlich im Ungefähren bleiben, so belegen die Schritte, die die politische Führung zur Behebung der Missstände unternahm, doch unzweifelhaft, dass sie dieses Problem überaus ernst nahm. Von den bereits geschilderten Maßnahmen zur Qualifikation der Mitarbeiter der Sozialversorgung abgesehen, bewegte sich die diesbezügliche Strategie vornehmlich in zwei Richtungen: a) die Verschärfung der juristischen Konsequenzen des Rentenmissbrauchs; b) die Mobilisierung ehrenamtlichen Engagements für die Unterstützung der Organe der Sozialversorgung. Eine erste Regelung, wie im Falle von betrugsbedingten Überzahlungen vorzugehen war, war bereits in der Staatsrentenordnung aufgeführt worden: Hatte sich ein Rentner des Missbrauchs schuldig gemacht, etwa durch die Vorlage falscher Belege, so hatte er die ihm zu viel gezahlte Summe zurückzuerstatten.410 Konsequenzen daraus, dass diese Bestimmung keine abschreckende Wirkung erzielte, zog man mit der am 3. Juli 1963 verabschiedeten Verordnung Nr. 10 des Plenums des Obersten Gerichts der UdSSR „Über die Gerichtspraxis in Zivilsachen über die Einziehung von zu viel gezahlten staatlichen Renten“.411 Sie bekräftigte, dass sämtliche auf Missbrauch zurückzuführenden Mehrbeträge der Rückforderung unterlagen, und erweiterte zudem den Umfang, in dem der Einzelne
408 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 57, d. 780, ll. 3637. 409 Die Autorin weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Leiter der Bezirksabteilungen in geringerem Maße für die Verletzung der Leistungsansprüche der Bürger hafteten als für die Überziehung der Rentenmittel. Während sie im ersten Fall mit einer Disziplinarstrafe zu rechnen hatten, konnten sie im zweiten auch zu finanzieller Entschädigung herangezogen werden. Vgl. Azarova, O zašþite, S. 45. 410 Voraussetzung für die Haftung war das absichtsvolle Handeln des Antragstellers. Vgl. Babkin u. a., Kommentarij, S. 494; Sergeeva, Sudebnaja praktika, S. 3. 411 Bjulleten’ Verchovnogo Suda SSSR, 1963, Nr. 4, Pos. 23.
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haftbar gemacht werden konnte.412 Zwar begrüßten Vertreter des Ministeriums der RSFSR für Sozialversorgung diese Verordnung als Maßnahme, die den Ersatz der verlorenen Gelder beschleunigen werde,413 doch scheint ihr tatsächlicher Effekt eher bescheiden gewesen zu sein. Anfang der 1970er Jahre stellte N. I. Baškatov, ein hochrangiger Mitarbeiter des sowjetischen Justizministeriums fest, dass die örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung – auch bei hohen Summen – nur verhältnismäßig selten entsprechende Klagen erhoben. Für diesen Umstand machte er die Unwissenheit der Mitarbeiter verantwortlich.414 Bereits zwei Jahre zuvor hatte das Plenum des Obersten Gerichts der RSFSR einen Normativakt erlassen, der sich mit den strafrechtlichen Folgen für Personen befasste, die sich des Betrugs schuldig gemacht hatten. In der auf den 31. März 1961 datierten Verordnung Nr. 2 „Über die Gerichtspraxis bei Fällen, die im Zusammenhang mit der ungesetzlichen Auszahlung von staatlichen Renten entstehen“415 wurden die Vergehensformen in Abhängigkeit von ihrer strafrechtlichen Relevanz konkretisiert und differenziert. So stellte man hier z. B. fest, dass der unrechtmäßige Erhalt einer Rente infolge von Betrug und Vertrauensmissbrauch eine „Entwendung staatlichen Besitzes“ im Sinne von Art. 93 des Strafgesetzbuches der RSFSR von 1960 darstellte. Die wissentlich gegen die Vorschriften verstoßende Festsetzung und Auszahlung einer solchen Leistung durch eine hierfür zuständige Amtsperson, die diesen Schritt aus Eigennutz (z. B. gegen ein Bestechungsgeld) vornahm, sollte hingegen gemäß Art. 92 desselben Kodex geahndet werden.416 In welchem Umfang diese Strafmaße tatsächlich Anwendung fanden und darüber hinaus auch zukünftigen Rentenmissbrauch durch Abschreckung eindämmten, lässt sich nicht beantworten. Dass in einer Reihe von Missbrauchsfällen personelle Konsequenzen gezogen wurden, belegt Lykovas Bericht „Über den Zustand der Festsetzung und Auszahlung der staatlichen Renten“. Die Ministerin gab darin über die Zahl der Mitarbeiter ihres Hauses Auskunft, die in den ersten neun Monaten des Jahres 1963 für Gesetzesverstöße und Fehlleistungen zur Verantwortung gezogen worden waren: 77 Angehörige des Systems der Sozialversorgung hatte man ihrer Posten enthoben, gegen 40 Personen war ein Strafverfahren eingeleitet worden, und „materielle und administrative“ Konsequenzen hatten ins412 Vgl. Babkin u. a., Kommentarij, S. 495496; Baškatov, Vzyskanie, S. 5155. 413 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, l. 53; R 5451, op. 29, d. 910, l. 28. 414 Baškatov, Vzyskanie, S. 51: „Eine solche Lage erklärt sich dadurch, dass die Gerichte Klagen, die die Entschädigung des für den Staat entstandenen Schadens betreffen, nach Meinung einiger Mitarbeiter der Abteilungen der Sozialversorgung nicht zur Prüfung annehmen, wenn die Rentenzahlung nicht vollständig eingestellt worden ist.“ 415 Sovetskaja justicija (1961), 9, S. 27. 416 Art. 92 sah als Strafe einen Freiheitsentzug bis zu vier Jahren, eine Besserungsarbeit bis zu einem Jahr oder die Aberkennung des Rechts vor, ein bestimmtes Amt zu bekleiden bzw. eine bestimmte Tätigkeit auszuüben. Ein Verstoß gegen Art. 93 konnte mit einer Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren oder einer Besserungsarbeit bis zu einem Jahr geahndet werden. Handelte es sich um Wiederholungstaten oder waren besonders große Schäden verursacht worden, so konnten die Strafen noch weit höher ausfallen. Vgl. Strafgesetzbuch, S. 5758. Zur Verordnung vom 31. März 1961 vgl. auch Sergeeva, Sudebnaja praktika.
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gesamt 297 Mitarbeiter zu spüren bekommen.417 Auch für die Bestrafung von Leitern und Angestellten sowjetischer Betriebe gab es Beispiele. Hinweise von Mitarbeitern der Organe der Sozialversorgung führten – ebenfalls 1963 – dazu, dass 31 Missbrauchsvergehen an die Staatsanwaltschaft und 35 an die Volksgerichte übergeben wurden. In 26 Fällen erließ man eine Partei-, in 10 eine Ordnungsstrafe, und 19-mal wurden die Angelegenheiten schließlich von den Exekutivkomitees der örtlichen Deputiertenräte erörtert.418 Die Anzahl der Fälle, in denen man derartige Schritte unternahm, nahm sich vor dem Hintergrund der Gesamtzahl der in der RSFSR aufgedeckten Fehlzahlungen zweifelsohne bescheiden aus. Hierfür verantwortlich war wohl auch ein gewisses Desinteresse an der Verfolgung derartiger Vergehen. So bemängelte Lykova, dass Gerichtsorgane und Staatsanwaltschaft nicht mit dem notwendigen Nachdruck gegen die Veruntreuer staatlicher Mittel und die mit ihnen durch die Ausstellung falscher Dokumente kooperierenden Amtspersonen vorgingen. Der Ministerin zufolge hatten Abteilungen der Sozialversorgung zwischen 1960 und 1963 in der Tschetscheno-Inguschischen ASSR 94 Fälle an die Staatsanwaltschaft weitergegeben, in denen Rentner bei der Leistungsbeantragung falsche Dokumente vorgelegt hatten. Die Ergebnisse waren ernüchternd: Bei 86 Personen hatte man auf eine Anklage verzichtet, vermeintlich aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters, und auch die Amtsträger waren, von wenigen Ausnahmen abgesehen, straflos ausgegangen.419 Kritik richtete sich in diesem Bereich allerdings auch gegen die Organe der Sozialversorgung. So bemängelten Vertreter der Gewerkschaftsorganisationen, dass die Rückforderung zu viel gezahlter Summen oft mit nur geringem Elan verfolgt würde, die Schuldigen unbestraft blieben.420 Speziell die Kontroll-Revisionsverwaltung des sowjetischen Finanzministeriums führte eine ganze Reihe von Beispielen an, in denen die Abteilungen ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen waren.421 Angesichts der Zweifel an der Genauigkeit, mit der den Bestimmungen zu der Rückforderung von zu viel gezahlten Rentenbeträgen oder der Bestrafung von Betrügern Folge geleistet wurde, muss es fraglich erscheinen, ob die Verordnungen vom 31. März 1961 und 3. Juli 1963 einen nennenswerten Effekt auf die Rechtstreue sowjetischer Antragsteller ausübten. Der zweite Ansatz, mit dem man die Umsetzung der Rentenbestimmungen zu optimieren gedachte, bestand in der Heranziehung Ehrenamtlicher zur Unterstützung der Organe der Sozialversorgung. Ein Ziel war dabei die Entlastung der personell unterbesetzten Hauptamtlichen, ein anderes die Ermöglichung von Kontroll- und Revisionsmaßnahmen, die weiter reichten als die Anstrengungen der 417 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, l. 53. 418 Vgl. ebd., l. 110. Besondere Strenge zeigte man in der Nordossetischen ASSR, wo man den Direktor des Sowchos „Ardon“, der gefälschte Dokumente über das Dienstalter von Beschäftigten ausgefertigt hatte, seiner Funktion entledigte und zudem aus der Kommunistischen Partei ausschloss. Vgl. ebd., l. 46. 419 Vgl. ebd., ll. 4849. 420 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 974, l. 84. 421 Vgl. z. B. RGAƠ, F. 7733, op. 57, d. 780, ll. 3738; GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2921, l. 16.
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entlohnten Kräfte allein. Die Mobilisierung der ehrenamtlich aktiven Bevölkerung (obšþestvennost’) für die Belange der Rentenversorgung hatte bereits kurz nach der Verabschiedung des Staatsrentengesetzes eingesetzt.422 Anfang der 1960er Jahre wurden die diesbezüglichen Bemühungen verstärkt und ideologisch aufgewertet: Die Führung um Chrušþev machte sie zu einem zentralen Inhalt der staatstheoretischen Neuausrichtung und bezog sich dabei auf Gedanken, die bereits von Lenin in seiner Schrift „Staat und Revolution“423 entwickelt worden waren: Das auf dem XXII. Parteitag (17.–31. Oktober 1961) verabschiedete neue Programm der KPdSU verkündete den erfolgreichen Abschluss der Phase der „Diktatur des Proletariats“, in der es gelungen sei, den Widerstand der Ausbeuterklassen abzuwehren, den Sozialismus in der UdSSR zu etablieren und den Übergang zum Aufbau der kommunistischen Gesellschaft zu sichern. Die Notwendigkeit, das System durch Zwang zu stabilisieren, existiere nun nicht mehr: „Der sozialistische Staat ist in eine neue Entwicklungsperiode eingetreten. Das Hinüberwachsen des Staates in die Volksorganisation der Werktätigen der sozialistischen Gesellschaft hat begonnen. [...] Der Staat, der als Staat der proletarischen Diktatur entstand, hat sich in der neuen, modernen Etappe in den Staat des gesamten Volkes verwandelt, in ein Organ, das den Interessen und dem Willen des gesamten Volkes Ausdruck verleiht. [...] Die allseitige Entfaltung und Vervollkommnung der sozialistischen Demokratie, die aktive Beteiligung der Bürger an der Staatsverwaltung und an der Leitung der Wirtschafts- und Kulturverwaltung, die Verbesserung der Arbeit des Staatsapparates und die Verstärkung der Volkskontrolle über seine Tätigkeit bilden die Hauptrichtung, in der sich das sozialistische Staatswesen [...] entwickelt.“424
Die „Beteiligung der Bürger“ sollte ein zentrales Charakteristikum des „Staates des gesamten Volkes“ (obšþenarodnoe gosudarstvo) darstellen, dessen soziale Basis nun nicht mehr allein die Arbeiterklasse, der freilich weiterhin eine tragende Funktion zugedacht war, sondern die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit bilden sollte.425 Dieser Doktrin mochte die idealistische Vorstellung einer Gesellschaft zugrunde liegen, „in der die Massen aktiv, enthusiastisch und freiwillig zur Verfolgung von Zielen [...], die von zentraler Stelle vorgegeben wurden“, und dadurch zur Entbürokratisierung des Systems beitrugen.426 Die Nutzung ehrenamtlicher Arbeit musste jedoch auch aus Kostengründen reizvoll erscheinen. Gerade für einen Teil des Staatsapparates, der wie das System der Sozialversorgung nicht über die Kapazitäten verfügte, um seine Aufgaben in befriedigender Weise zu erfüllen,
422 Zu verweisen ist hier speziell auf die Aktivitäten der Rentnerräte (siehe Kap. 7). 423 Lenin zufolge würde der Bürokratismus der – vorrevolutionären – „Staatsmaschinerie“ dadurch überwunden, „daß der Sozialismus den Arbeitstag verkürzen, die Massen zu einem neuen Leben emporheben und die Mehrheit der Bevölkerung in Verhältnisse versetzen wird, die a l l e n ohne Ausnahme gestatten werden, ,Staatsfunktionen ދauszuüben. Das aber führt zum völligen Absterben jedweden Staates überhaupt.“ Lenin, Staat und Revolution, S. 417 [Hervorhebungen i. Orig.]. 424 Programm der Kommunistischen Partei, S. 118119. 425 =XU 'RNWULQ YRP Ä6WDDW GHV JHVDPWHQ 9RONHV³ YJO /HSHãNLQ 2EãþHQDURGQRH JRVXGDUVWYR 0H\HU'HU9RONVVWDDW.DQHW7KH5LVHDQG)DOO3\åLNRY2WÄGLNWDWXU\SUROHWDULDWD³ 426 Breslauer, Khrushchev Reconsidered, S. 23.
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bedeutete dies, dass die Einstellung zusätzlicher bezahlter Kräfte der Rekrutierung von Freiwilligen weichen musste.427 Maßnahmen, die auf eine stärkere Nutzung des ehrenamtlichen Engagements für die Belange der Sozialversorgung zielten, wurden schon bald nach dem XXII. Parteitag der KPdSU durchgeführt. Anzuführen ist hier vor allem die erwähnte Verordnung des VCSPS-Präsidiums vom 5. Januar 1962, in deren Folge in vielen Betrieben Kommissionen für Rentenfragen eingerichtet wurden, die sich aus Gewerkschaftsaktivisten zusammensetzten. Der politischen Führung reichten die Fortschritte, die in diesem Bereich gemacht wurden, allerdings nicht. In der Konsequenz verabschiedeten der Ministerrat der RSFSR und der VCSPS am 12. Mai 1964 die gemeinsame Verordnung Nr. 570 „Über die weitere Ausbreitung des ehrenamtlichen Engagements in der Arbeit der Organe der Sozialversorgung und über die Verstärkung der Kontrolle bei der Festsetzung und Auszahlung der Renten“.428 In ihr wurden die Gewerkschaften angewiesen, die Einführung der Kommissionen für Rentenfragen zu beschleunigen. Zum anderen „empfahl“ man den Ministerräten der autonomen Republiken, den Exekutivkomitees der Deputiertenräte und dem Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung, das ehrenamtliche Engagement durch die Gründung spezieller organisatorischer Einheiten zu fördern. Erwähnung fanden dabei insbesondere die bei den örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung einzurichtenden „gesellschaftlichen Räte“ (obšþestvennye sovety) und die „Unterabteilungen der Sozialversorgung“ (podotdely social’nogo obespeþenija). Die auch aus anderen Bereichen der sowjetischen Verwaltung bekannten gesellschaftlichen Räte429 wollte man laut Verordnung einerseits für die „Erarbeitung und Verwirklichung von Maßnahmen zur Vervollkommnung der Arbeit der Organe der Sozialversorgung“, andererseits für die „Kontrolle der Rentenfestsetzung und -auszahlung“ heranziehen.430 Wie aus dem 1965 von Mitarbeitern des Sozialversorgungsministeriums der RSFSR erstellten Entwurf für eine entsprechende Musterordnung zu ersehen ist, sollten diese Organisationen etwa die Arbeit von Einrichtungen koordinieren, deren Tätigkeit Fragen der Sozialversorgung 427 Zum Konnex zwischen dem Personalmangel innerhalb des Systems der Sozialversorgung und der Heranziehung der Ehrenamtlichen vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, ll. 8081; ebd., d. 3838, l. 108. 428 SP RSFSR, 1964, Nr. 8, Pos. 60. Ähnliche Verordnungen wurden auch in anderen Sowjetrepubliken verabschiedet. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 1149, l. 33. 429 Friedgut, Political Participation, S. 270, beschreibt diese Einrichtung folgendermaßen: „Die gesellschaftlichen Räte unterstützen die Verwaltungsabteilungen sowohl bei der Festlegung der Vorgehensweise als auch in ihrem praktischen Handeln, und zwar speziell dort, wo die Realisierung durch ehrenamtliche Aktivität vonstattengehen soll. Der gesellschaftliche Rat soll Fachwissen und Tatkraft zur Verfügung stellen [...].“ 430 SP RSFSR, 1964, Nr. 8, Pos. 60. Die Tätigkeit dieser Gremien erstreckte sich ebenfalls auf die höheren Hierarchieebenen der Sozialversorgung in der RSFSR. Anfang 1964 waren solcherart 5,3 % aller existierenden Räte bei Regions- und Gebietsabteilungen, 46,1 % bei Bezirks- und Stadtabteilungen sowie 48,5 % bei anderen Einrichtungen der Sozialversorgung (z. B. Alten- und Invalidenheimen) und arbeitsärztlichen Expertenkommissionen eingerichtet worden. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3838, l. 108.
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berührte, und zur „operativen und richtigen Entscheidung von Fragen der Verbesserung der sozialen Betreuung alter und invalider Bürger“ beitragen. Auch gehörte es aus Sicht des von Lykova geführten Ressorts zu ihren Aufgaben, bei der Aufklärung und Dokumentenbeschaffung der angehenden Rentner behilflich zu sein und die gewerkschaftlichen Kommissionen für Rentenfragen zu unterstützen und auszubilden. Ferner sollten die Lebensbedingungen von Rentnern sowie beihilfeberechtigten Müttern überprüft und auf diesem Wege die richtige Organisation ihrer Unterstützung ermöglicht werden. Die Kontrollaufgaben der gesellschaftlichen Räte konnten sich sowohl auf die Arbeitsvermittlung für Alters- und Invalidenrentner als auch generell auf die Arbeit der Sozialversorgungseinrichtungen erstrecken. Schließlich sollten sie den Einsatz des gesamten Aktivs der Freiwilligen anleiten sowie gegebenenfalls in Abstimmung mit den Partei- und Sowjetorganisationen Rentnerversammlungen einberufen.431 Im Sozialversorgungsministerium der RSFSR betrachtete man die gesellschaftlichen Räte als „Hauptform des Zusammenschlusses des gesellschaftlichen Aktivs bei den Abteilungen der Sozialversorgung“.432 Ihre Mitglieder rekrutierten sich aus einer Reihe von Bereichen, die direkte Berührungspunkte mit den Aufgaben der örtlichen Abteilungen aufwiesen.433 Oft waren die Räte – in Entsprechung zu den Tätigkeitsbereichen der Organe der Sozialversorgung – in verschiedene Sektoren oder Kommissionen unterteilt, die sich beispielsweise vorrangig mit rechtlichen Fragen, der materiellen und sozialen Betreuung der Bevölkerung, den Kontrollen und Überprüfungen, den Alten- und Invalidenheimen oder der Arbeitsbeschaffung für Rentner beschäftigten.434 Von den „Unterabteilungen“ profitierten insbesondere die vielen älteren und invaliden Sowjetbürger, die in großer Entfernung vom Zentrum ihres Verwaltungsbezirks wohnten. Um ihnen mühsame Anreisen zu ersparen, richtete man in
431 GARF, F. A 413, op. 1, d. 4000, ll. 179180. 432 Ebd., l. 177. 433 Neben Mitarbeitern der Sozialbürokratie und Repräsentanten der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen nahmen an den Sitzungen der Räte idealiter Vertreter der Betriebe, des Gesundheits- sowie des Post- und Fernmeldewesens, der Finanzorgane, Juristen, Ärzte und Rentner teil. Die Zahl der hier involvierten Aktivisten belief sich demgemäß nicht selten auf 30–40 Personen. 434 Die Kontrollfunktion, die von einem auf Gebietsebene eingerichteten gesellschaftlichen Rat ausgeübt werden konnte, vermittelt sich anhand der Beschreibung des I. Fedorþuk, der 1963 einem solchen Gremium im Gebiet Smolensk vorstand: „Vor kurzem kontrollierten die Mitglieder unseres Rates A. Anišþenkov und N. Nazarov die Arbeit der Smolensker Bezirksabteilung bei der Prüfung von Beschwerden und Eingaben der Bürger. Die Ergebnisse trugen sie auf der Ratssitzung vor, wo ernsthafte Mängel festgestellt wurden. Der Deputiertenrat [des Gebiets] verabschiedete [daraufhin] einen Beschluss zu ihrer Behebung. Die Ehrenamtlichen wandten sich mit der Bitte an den Leiter der Gebietsabteilung der Sozialversorgung, zu diesem Problem ein Informationsschreiben zu verfassen und es an alle [örtlichen] Abteilungen zu schicken.“ Fedorþukov, Obšþestvennyj sovet, S. 19. Vgl. auch Artemenkova, Ne uronim, S. 1617. Beispiele für die Tätigkeit von gesellschaftlichen Räten finden sich z. B. in CAGM, F. 1937, op. 1, d. 204, l. 2; d. 252, ll. 3540; CAOPIM, F. 4443, op. 1, d. 24, l. 29; GARF, F. R 5451, op. 29, d. 974, l. 83; F. A 413, op. 1, d. 4000, ll. 175176.
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größeren Siedlungen Zweigstellen der Sozialversorgungsorgane ein, deren Mitarbeiterschaft sich meist aus fünf bis sieben Ehrenamtlichen zusammensetzte. Geleitet wurden sie oftmals von ehemaligen Mitarbeitern der Sozialversorgung. Im Idealfall erfüllten diese Einrichtungen gleich mehrere Funktionen der Bezirks- und Stadtabteilungen: So klärten die obšþestvenniki hier über die gesetzlichen Bestimmungen auf, nahmen die Rentenanträge in Empfang und leiteten sie an die hauptamtlichen Kollegen weiter. Auch kontrollierten sie die Richtigkeit der beigefügten Bescheinigungen und waren, falls notwendig, bei der Beschaffung noch fehlender Unterlagen behilflich. Ferner sollten sie den betrieblichen Kommissionen für Rentenfragen assistieren und die Rentenauszahlungen kontrollieren. Nicht zu ihren Aufgaben gehörten allein die Leistungsauszahlung selbst, die Rentenfestsetzung und -neuberechnung.435 In der Verordnung Nr. 570 fanden die bereits im Zusammenhang mit den Rentengruppen erwähnten „Konsultationspunkte“ (konsul’tacionnye punkty) keine explizite Erwähnung. Dennoch waren auch sie weiterhin eine gängige Form der Nutzung des Freiwilligenengagements, mit der man ebenfalls die Betreuung der Bürger an ihren Wohn- und Arbeitsorten zu verbessern gedachte. Sie sollten den Mitarbeitern der Sozialversorgung die Notwendigkeit ersparen, ältere und invalide Bürger umfangreich über die für sie geltenden Bestimmungen zu informieren. Zu diesem Zweck wollte man in allen größeren Betrieben, Dienststellen, Dorfsowjets oder Hausverwaltungen entsprechende Anlaufstellen installieren, die im Idealfall von den Kommissionen für Rentenfragen oder ähnlichen Einrichtungen betreut wurden.436 Die hier tätigen Ehrenamtlichen veranstalteten Vorträge, Gespräche und Konsultationen, an denen mitunter auch hauptamtliche Mitarbeiter der Sozialversorgung, des Gesundheitswesens und des Justizwesens teilnahmen.437 Eine Spielart der Freiwilligenarbeit, die sich vor allem der Vermeidung von Fehlern bei der Antragstellung widmete, stellten die „Gruppen der gesellschaftlichen Kontrolle“ (gruppy obšþestvennogo kontrolja) dar. Sie wurden direkt unter dem Dach der Bezirks- und Stadtabteilungen installiert und konnten entweder von einem hauptamtlichen Mitarbeiter oder einem Ehrenamtlichen geleitet werden. Ihre Mitglieder sollten sich durch spezielles Fachwissen auszeichnen, weshalb vor allem Juristen, Buchhalter und -prüfer sowie ehemalige Angestellte der Sozialversorgung und der Finanzorgane in Frage kamen. Betraut wurden diese Gruppen mit der Überprüfung der für die Leistungsbewilligung notwendigen Unterlagen und Bescheinigungen sowie der Auszahlungsdokumente. Darüber hinaus nahmen sie in beratender Funktion an der Arbeit der Kommissionen für die Rentenfestsetzung
435 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3839, l. 212; d. 3838, l. 108; F. R 5451, op. 29, d. 910, l. 46. Vgl. auch Levšin u. a., Sovetskoe pensionnoe obespeþenie, S. 5354; Postnikova, Uþastie, S. 3334; Borovikov, Obšþestvennyj podotdel. 436 Beabsichtigt war hier eine größtmögliche Streuung. Als man im Frühjahr 1963 die Anzahl der in Moskau vorhandenen Konsultationspunkte auf 172 berechnete, bewertete man dieses Ergebnis als unzureichend. Vgl. Postnikova, Uþastie, S. 34. 437 Vgl. Levšin u. a., Sovetskoe pensionnoe obespeþenie, S. 55; Babkin, Šire dorogu, S. 8; Semidetova, Opora na aktiv, S. 14.
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teil.438 Ein Beispiel dafür, dass zumindest einigen Einheiten eine gewisse Effizienz zu eigen war, bietet der Fall des Altersrentners P. I. Sorokin aus Dmitrov (Gebiet Moskau). Als Vertreter einer Gruppe der gesellschaftlichen Kontrolle überprüfte dieser ehemalige Buchhalter 1972 mehrere Betriebe seiner Stadt und konnte dabei eine Reihe von Verstößen gegen die Rentenbestimmungen aufdecken. Hierzu gehörte vor allem die Weiterbeschäftigung von Ruheständlern unter getürkten Berufsbezeichnungen.439 Sorokins Entdeckungen zeugen nicht nur von dem Selbstbewusstsein, das die Kontrolleure bisweilen an den Tag legten; sie führten darüber hinaus dazu, dass der Goskomtrud und das Finanzministerium der UdSSR Spezialisten nach Dmitrov entsandten, die die Missbrauchsfälle in der Folge verifizierten.440 Eine ausgesprochen wichtige Funktion kam schließlich ebenfalls den ehrenamtlichen Inspektoren und Buchprüfern (vneštatnye inspektora bzw. revizora) zu. Hierbei handelte es sich um bevollmächtige Ehrenamtliche, die in den Bezirksund Stadtabteilungen mitunter ganze Aufgabenbereiche in Eigenregie übernahmen.441 Auch sie übten Kontrollfunktionen aus, die zur Verringerung von Missbrauch und Fehlzahlungen führen sollten. So überprüften sie in den Betrieben, ob die Arbeitsbücher korrekt geführt wurden, ob die ausgestellten Bescheinigungen zu Dienstalter und Erwerbsentgelt der Antragsteller den Tatsachen entsprachen und ob es mit den Leistungsauszahlungen an weiterarbeitende Rentner seine Richtigkeit hatte. Selbst die örtlichen Organe der Sozialversorgung unterlagen der Revision durch ehrenamtliche Buchprüfer, die in diesem Fall allerdings den übergeordneten Gebietsabteilungen zugeordnet waren.442 Die Dynamik, mit der das ehrenamtliche Element innerhalb der Sozialversorgung an Boden gewann, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich z. B. die Zahl der gesellschaftlichen Räte in der RSFSR zwischen November 1963 und Oktober 1964 von ca. 900 auf 1.468 erhöhte, also um mehr als 60 %. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl der Unterabteilungen auf mehr als das Doppelte, von 840 auf 1.714, und diejenige der ehrenamtlichen Inspektoren und Revisoren von 41.000 auf 56.000 (36,6 %). Die Gruppen der gesellschaftlichen Kontrolle waren ebenfalls überaus verbreitet und existierten Ende 1964 bereits in 91 % der 1.826 Bezirks- und Stadtabteilungen dieser Republik. Die Gesamtzahl der in den 438 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3839, l. 214; Levšin u. a., Sovetskoe pensionnoe obespeþenie, S. 54. 439 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2921, ll. 214216. Zu ähnlichen von Rentnern durchgeführten Inspektionen vgl. z. B. Krasilތnikov, Ja za takoj seminar. 440 Vgl. ebd., ll. 219222. In der Konsequenz ordnete der Goskomtrud weitere Untersuchungen zur Korrektheit der Rentenauszahlungen an arbeitende Ruheständler an, über deren Ergebnisse die Sowjetregierung informiert werden sollte. Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2919, l. 7. 441 Für den Umfang der Verantwortung, die den Freiwilligen mitunter übertragen wurde, spricht dabei die Tatsache, dass sie 1964 in 119 Bezirks- und Stadtabteilungen der RSFSR (ca. 7 %) den Posten des Stellvertretenden Leiters innehatten. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3839, l. 213. Laut Razvivat ތobšþestvennye naþala, S. 1, waren in der RSFSR ca. 40.000 ehrenamtliche Inspektoren und Buchprüfer tätig. 442 Vgl. Michalkeviþ, Polތza bolތšaja, S. 18; Babkin, Šire dorogu, S. 7.
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unterschiedlichen Bereichen der Sozialversorgung aktiven Freiwilligen belief sich zu diesem Zeitpunkt auf 300.400 Menschen.443 Zwar ist festzustellen, dass die Probleme, die sich bei der Umsetzung der Rentenbestimmungen boten, auch mit Hilfe der Ehrenamtlichen nicht behoben werden konnten. Defizite, die sich aus der Unterbesetzung des hauptamtlichen Personals, seiner niedrigen Besoldung und mangelhaften Ausbildung ergaben, konnten nicht von Menschen ausgeglichen werden, die sich lediglich in ihrer Freizeit oder im Ruhestand mit diesen Fragen beschäftigten. Die Tatsache, dass die Überzahlungen bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre hinein nicht überwunden werden konnten,444 belegt die Dauerhaftigkeit der bestehenden Probleme. Dass das System der Sozialversorgung von der Hinzuziehung der obšþestvennost’ beträchtlich profitieren konnte, sollte deshalb jedoch nicht bestritten werden: Einrichtungen wie die Kommissionen für Rentenfragen, die Unterabteilungen oder die Konsultationspunkte trugen zweifelsohne zur Entlastung der Bezirks- und Stadtabteilungen bei. Und auch für die Antragsteller selbst reduzierte sich die Mühsal erheblich, wenn sie nicht mehr für jede einzelne Auskunft die Mitarbeiter der Sozialversorgung aufzusuchen hatten. In den 1960er Jahren blieb die Zahl der Beschwerden über die Mängel der Sozialbürokratie deutlich hinter jenen Werten zurück, die für die ersten Jahre nach der Verabschiedung des Staatsrentengesetzes charakteristisch gewesen waren. Dies spricht dafür, dass sich die praktische Umsetzung der Rentenbestimmungen reibungsloser gestaltete. Auch sollte der Beitrag der Ehrenamtlichen zu den Bemühungen um eine Eindämmung der Fehlzahlungen nicht unterschätzt werden. Angesichts der dünnen Personaldecke der Sozialversorgungsorgane waren die Kontroll- und Revisionsmaßnahmen, die man in der RSFSR und anderen Republiken durchführte, ohne ihr Engagement gar nicht denkbar.445
2.1.5. Die Finanzierung der staatlichen Altersrenten Obwohl man die Staatsaltersrenten als Teil der „staatlichen Sozialversicherung“ beschrieb, wurden die Renten im Umlageverfahren finanziert, d. h., die Kosten deckte man über die Steuereinnahmen und von den sowjetischen Betrieben zu leistenden Abgaben.446 Im Fall der Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten für Arbeiter und Angestellte nutzte man hierfür den „Haushalt der staatlichen Sozialversicherung“ (Bjudžet gosudarstvennogo social’nogo strachovanija; im Fol443 Rund die Hälfte davon machten allerdings die Mitglieder der gewerkschaftlichen Kommissionen für Rentenfragen aus. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3839, ll. 212214; d. 4000, l. 175; F. R 5451, op. 29, d. 910, l. 27; Razvivat ތobšþestvennye naþala, S. 1. Folgt man Astrachan, Razvitie, S. 81, so lag die Zahl der für die Organe der Sozialversorgung der RSFSR aktiven obšþestvenniki auch Anfang 1967 noch bei „mehr als 300.000“. 444 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 63, d. 1094, ll. 16. 445 Vgl. Babkin, Šire dorogu, S. 7; GARF, F. R 5451, op. 29, d. 974, l. 81; F. A 413, op. 1, d. 3838, ll. 52 u. 110. 446 Vgl. Chandler, Shocking Mother Russia, S. 15.
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genden: HSSV), bei dem es sich um einen Bestandteil des Staatsbudgets handelte, der insofern eine gewisse Selbständigkeit besaß, als dass er nominell von den Gewerkschaften verwaltet wurde. Seinen Umfang kalkulierten der VCSPS und das sowjetische Finanzministerium gemeinsam.447 Neben den Renten wurde über die Mittel des Haushalts eine ganze Reihe weiterer Kosten aus dem Bereich von sozialer Sicherung und sozialer Betreuung gedeckt: die Bereitstellung diverser Beihilfenarten, die Finanzierung bzw. Bezuschussung des Aufenthalts in Sanatorien und Erholungsheimen sowie des Baus ebensolcher Einrichtungen, der Unterhalt von Pionierlagern, die Versorgung der Bürger mit Diätverpflegung etc.448 Die Einkünfte des HSSV stammten in der Hauptsache aus zwei Quellen: den direkten Zuweisungen aus dem Staatshaushalt und den Versicherungsbeiträgen (strachovye vznosy).449 Gemäß dem Leninschen Grundsatz, dass die Arbeitnehmer selbst nichts zu ihrer Absicherung beisteuern sollten, wurden die Versicherungsbeiträge von den Betrieben, Dienststellen und Organisationen überwiesen, ohne dass hierfür der Arbeitsverdienst der Werktätigen offen belastet wurde. Die Höhe des Beitrags, der von der zuständigen Gewerkschaftsorganisation erhoben wurde, entsprach einem bestimmten Prozentsatz des betrieblichen Lohnfonds (einschließ-
447 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 42. Zur Berechnung der voraussichtlichen HSSV-Ausgaben für die staatlichen Renten vgl. auch Krulikovskaja u. a., Planirovanie, S. 6073; Usov, Planirovanie. Offizieller Lesart zufolge gehörten die Staats- ebenso wie die Kolchosaltersrenten zu der Vielzahl von Sozial- und Dienstleistungen die über die „gesellschaftlichen Verbrauchsfonds“ (obšþestvennye fondy potreblenija; im Folgenden kurz: GVF) bereitgestellt wurden. Hierunter verstand man jenen Teil der für die Konsumtion der Bürger vorgesehenen Mittel des sowjetischen Nationaleinkommens, „der zusätzlich zum Fonds der Arbeitsentlohnung für die Befriedigung der Bedürfnisse der Mitglieder der sozialistischen Gesellschaft bestimmt“ war. Rakitskij, Art. Obšþestvennye fondy potreblenija, S. 245. Von offizieller Seite wies man ihnen eine hohe ideologische Bedeutung zu, da die Distribution über die GVF als ein für die kommunistische Gesellschaftsform charakteristischer Mechanismus beschrieben wurde. Schließlich erfolge sie für die Bürger „unabhängig von der Quantität und Qualität ihrer Arbeit“. Sarkisjanz, Die gesellschaftlichen Konsumtionsfonds, S. 301 [Hervorhebung i. Orig.]. Den GVF wurde die Finanzierung der den Bürgern gewährten Geldleistungen (neben den Renten auch Beihilfen, Stipendien, Prämien u. a.), Subventionen (z. B. Bezuschussung von Mietkosten und Sanatoriums- bzw. Kuraufenthalten) und kostenlosen Dienstleistungen (unentgeltliche Ausbildung, Kinderbetreuung, Gesundheitsfürsorge etc.) zugeschrieben. De facto stammten die hierzu gezählten Leistungen aus verschiedenen Quellen (z. B. Staatshaushalt, betriebliche Mittel, Kolchosfonds etc.). So lässt sich denn auch feststellen, dass die GVF „keine materiellen Institutionen dar[stellten], sondern [...] eine Art sozialistischer Abstraktion, einen Oberbegriff für verschiedene Posten der sozialen Sicherung“ bildeten. Plaggenborg, Experiment, S. 231232. Zu den gesellschaftlichen Verbrauchsfonds vgl. auch Vogel, Gesellschaftliche Konsumtionsfonds; Stiller, Sozialpolitik, S. 3840; Ivanova, Na poroge, S. 180247; Artemތeva, Obšþestvennye fondy. 448 Vgl. Gosudarstvennoe social’noe strachovanie, S. 202204; Naleszkiewicz, Financing, S. 295. 449 Hinzu kamen noch Einkunftsformen wie die Eigenbeteiligung der Werktätigen an der Finanzierung ihrer Berechtigungsscheine für Kur- und Sanatoriumsaufenthalte oder Strafzahlungen für die verspätete Überweisung von Versicherungsbeiträgen bzw. für Verstöße gegen die Gesetzgebung.
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lich Prämien).450 Dieser „Tarif der Versicherungsbeiträge“ (tarif strachovych vznosov) variierte in Abhängigkeit von dem Wirtschaftsbereich, dem der Betrieb oder die Dienststelle angehörte. So hatte man Anfang der 1970er Jahre die höchsten Sätze in Schlüsselindustrien wie der Kohleindustrie (9,0 %), der Erdölindustrie sowie der chemischen Industrie (beide 8,4 %) zu überweisen, während sich der Tarif für den staatlichen Handel und die Konsumgenossenschaften auf 4,5 % und für die Landwirtschaft nur auf 4,4 % belief.451 Indem man die Abgabe vom Umfang des Lohnfonds ableitete, gedachte man, einen Zusammenhang zwischen der betrieblichen Leistung und den Einkünften des HSSV herzustellen. Somit würde, wie man meinte, der für die Zukunft erwartete Anstieg der volkswirtschaftlichen Produktivität, der sich u. a. in einer Anhebung der Löhne und Gehälter äußern müsse, zu einer Vergrößerung des Anteils der Versicherungsbeiträge an den Einnahmen des Haushalts und zu einer Minimierung der staatlichen Subventionen führen.452 Im Untersuchungszeitraum erfüllte sich diese Erwartung jedoch nicht. Im Gegenteil, der Anteil der Versicherungsbeiträge an den Einnahmen des HSSV reduzierte sich sogar, weshalb man in noch stärkerem Maße als vor der Reform auf Zuzahlungen aus dem Staatsbudget zurückgreifen musste. Tab. 2d zeichnet die Entwicklung beider Finanzquellen nach. Infolge der mit der Staatsrentenreform einhergehenden Mehrbelastungen stieg der Anteil der staatlichen Zuschüsse auf mehr als 50 %. Ein Höhepunkt ihres Gewichts wurde 1963 erreicht, als die Versicherungsbeiträge lediglich 36,5 % der HSSV-Einnahmen ausmachten. In der Folge stieg ihr Anteil wieder langsam an, um sich 1972 schließlich auf 42,2 % zu belaufen. Auf der Ausgabenseite stellten die Renten schon vor der Reform vom 14. Juli 1956 den stärksten Posten. 1957 jedoch wuchs ihr Anteil mit einem Mal auf zwei Drittel an und lag in den folgenden 15 Jahren durchschnittlich bei etwa 70 %. Konkrete Informationen über die Höhe der mit der staatlichen Altersrente verbundenen Gesamtkosten liegen nicht vor.453 Ihre Entwicklung lässt sich nur auf
450 Der Lohnfonds selbst blieb allerdings von den Abzügen unberührt, die aus dem „Gewinn des Betriebes bzw. aus dem Haushalt der örtlichen Sowjets, soweit es sich um den nichtproduktiven Bereich (z. B. Schulen, Krankenhäuser u. dgl.) handelt“, abzuführen waren. Bilinsky, Das Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht, S. 97. Vgl. auch Stiller, Sozialpolitik, S. 45. 451 Vgl. Krulikovskaja u. a., Planirovanie, S. 1718. Im Detail zum Prozedere der Beitragserhebung vgl. auch Gosudarstvennoe social’noe strachovanie, S. 210216. Während hier (S. 212) die Höhe des strachovyj vznos von den Arbeitsbedingungen, der geschlechtsspezifischen Zusammensetzung der Arbeitnehmer und dem Lohn- bzw. Gehaltsniveau innerhalb des jeweiligen Wirtschaftszweigs abgeleitet wird, sieht Stiller, Sozialpolitik, S. 46, einen anderen Zusammenhang: Die Höhe des Beitrags entspricht ihm zufolge „ungefähr der gesellschaftlichen Bedeutung der Zweige und den verschiedenen sozialen Privilegien und Vergünstigungen, die damit verbunden sind“. Der mittlere, von einem Betrieb in den HSSV abzuführende Versicherungsbeitrag lag 1956 bei 6,3 % (GARF, F. R 5451, op. 29, d. 698, l. 14) und 1970 bei 6,1 % (Ebd., d. 1389, l. 7). 452 Vgl. Madison, The Soviet Pension System, S. 173. 453 Die in den Beständen der Sozialversicherungsabteilung des VCSPS (GARF, F. R 5451, op. 29) enthaltenen „Zusammengefassten Finanzberichte über die Erfüllung des Haushalts der
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Grundlage der in den ZVS-Jahresberichten enthaltenen Angaben zu den monatlichen Kosten der Leistungsauszahlung schätzen. Die dabei kalkulierten Werte zeugen von einer deutlichen Zunahme des Gewichts dieser Unterstützungsform unter den Aufwendungen des HSSV, die vor allem ihrer steigenden Reichweite zuzuschreiben war. Lag der entsprechende Anteil 1957 noch bei wenig mehr als einem Drittel, waren 1972 über 55 % aller Ausgaben für die Altersrenten reserviert.454
Tab. 2d: Die Entwicklung des HSSV und der Kosten der staatlichen Altersrentenversorgung (Mio. R) Einnahmen des HSSVa Zahlungen der Betriebe, Dienststellen etc. 1955 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
1.660 1.860 2.350 2.614c 2.856c 2.945c 3.210 3.437 3.406 3.502 4.037 4.328 4.717 5.475 6.286 7.335 7.774 8.302
Subventionen aus dem Staatshaushalt 870 1.260 2.770 3.300 3.723 4.220 4.760 5.223 5.689 6.096 6.504 7.139 7.747 8.376 9.049 9.773 10.579 11.348
Mittel des HSSVa
Ausgaben des HSSV für Rentena
Ausgaben für die staatl. Altersrentenb
2.530 3.120 5.120 5.914 6.579 7.165 7.970 8.660 9.095 9.598 10.541 11.467 12.464 13.850 15.335 17.107 18.353 19.650
1.390 1.830 3.400 4.057 4.487 4.946 5.466 5.969 6.466 6.957 7.407 8.165 8.842 9.576 10.430 11.653 12.795 13.839
– – 1.738 2.121 2.429 2.801 3.210 3.607 4.029 4.483 5.005 5.604 6.254 6.981 7.820 8.726 9.828 10.880
Anteil der Ausgaben für die staatl. Altersrenten am HSSV (in %) – – 34,0 35,9 36,9 39,1 40,3 41,6 44,3 46,7 47,5 48,9 50,2 50,4 51,0 51,0 53,6 55,4
Quelle: a NCh SSSR v 1958 g., S. 904 u. 906; NCh SSSR v 1961 g., S. 764765; NCh SSSR v 1963 g., S. 657658; NCh SSSR v 1965 g., S. 785786; NCh SSSR v 1968 g., S. 778779; NCh SSSR v 1970 g., S. 734735; NCh SSSR v 1972 g., S. 727728. b Eigene Schätzung. (Aus den in den ZVS-Jahresberichten zu den Staatsrenten [siehe Tab. 2e] enthaltenen Informationen über die Gesamthöhe der monatlichen Aufwendungen für die Auszahlung von staatlichen Altersrenten wurde ein Jahresmittelwert errechnet und mit dem Faktor 12 multipliziert.) c Inklusive Mittel der Sozialversicherung der Gewerbegenossenschaften. Vgl. Stiller, Sozialpolitik, Tab. 3.4.
staatlichen Sozialversicherung“ führen die Budgetausgaben für die Altersrenten nicht gesondert auf. 454 Während die Zahl der Altersrentner in diesem Zeitraum um 464 % wuchs (siehe Tab. 3a), stiegen die Kosten der Ruhestandsgelder um 526 %.
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2.1.6. Die Nachbesserungen in den Jahren 1956–1972 Ein mit dem Gesetz vom 14. Juli 1956 verbundenes Anliegen hatte in der Vereinheitlichung der bis zu diesem Zeitpunkt überaus fragmentierten und unübersichtlichen Bestimmungen bestanden. Die realisierten Erleichterungen bei der Handhabung der Rentengesetzgebung wurden in der Folge jedoch bis zu einem gewissen Grade konterkariert, da man die normative Aktivität, wie erwähnt, unvermindert fortsetzte. Verabschiedet wurde eine Vielzahl neuerlicher Rechtsvorschriften, Verwaltungsakte und Erläuterungen, die Fehlentwicklungen korrigieren, Unklarheiten ausräumen und das Versorgungsniveau anheben sollten. Stephen Lovell stellt zutreffend fest, dass das Staatsrentengesetz „nicht dazu diente, ein feststehendes Leistungssystem einzurichten. Vielmehr signalisierte es den Beginn einer 25-jährigen Periode, in der sich das Regime damit abmühte, jene Rentenpolitik auszuarbeiten, die am besten zu seinem Entwurf passte.“455
An dieser Stelle sollen nur die beiden bedeutsamsten Korrekturen an den Bestimmungen zur staatlichen Altersrente behandelt werden: die Anhebung der Mindestaltersrente sowie die Auflockerung der Bezugsmodalitäten für weiterarbeitende Ruheständler.
2.1.6.1. Die Anhebung der staatlichen Mindestaltersrente Für den Lebensstandard jener Altersrentner, deren monatliche Leistungen sich im unteren Bereich bewegten, besaß die Frage der Anhebung der Mindestrente naturgemäß eine ungemein hohe Relevanz. Schließlich sah die Gesetzgebung keine automatische Dynamisierung der Renten vor, d. h., ihre Höhe war nicht – wie z. B. in der BRD – an die allgemeine Entwicklung der Löhne und Gehälter noch erwerbstätiger Bürger gekoppelt. Eine Steigerung der Ruhestandsbezüge war somit nur möglich, wenn sich der Gesetzgeber entschloss, die Mindestrente durch einen Normativakt anzuheben. Der Nachteil eines solchen Verfahrens bestand freilich darin, dass all jene Personen, deren Bezüge über dem neu festgelegten Minimum angesiedelt waren, von einer solchen Maßnahme nicht zu profitieren vermochten.456 Pläne zu einer Korrektur der Mindestaltersrente wurden bereits wenige Jahre nach der Reformverabschiedung entwickelt. Man reagierte damit ein weiteres Mal auf Impulse aus der Bevölkerung: Schon während der öffentlichen Diskussion des Gesetzentwurfs über die staatlichen Renten hatten Bürger ein Leistungsminimum von bis zu 50 R gefordert, was allerdings unter Verweis auf die dadurch entstehenden Mehrkosten abgelehnt worden war.457 Eine wichtige Bedeutung kam in diesem Zusammenhang dem Zugzwang zu, der sich aus den gleichzeitigen Bemü455 Lovell, Soviet Russiaތs Older Generations, S. 219. 456 Vgl. Lohmann, Sozialistisches Sozialrecht, S. 277; George Manning, Socialism, S. 48. 457 Vgl. z. B. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1581, ll. 2022; d. 1569, ll. 75 u. 78; RGAƠ, F. 7733, op. 45, d. 765, l. 38.
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hungen um eine weitere Anhebung der Mindestlöhne und -gehälter von Arbeitern und Angestellten ergab. Ist auch zu bezweifeln, dass man sich bei der ursprünglichen Festlegung der Rentenuntergrenze auf 30 R an Überlegungen zur Gestaltung des entsprechenden Kennwerts für die Erwerbseinkommen orientiert hatte, so wurde ein solcher Konnex nach der Verabschiedung des Gesetzes vom 14. Juli 1956 doch offen hergestellt. Deutlich wird dies bereits im Kontext der Vorbereitung des XXI. Parteitags der KPdSU (27. Januar – 5. Februar 1959), auf dem der Siebenjahrplan verabschiedet werden sollte. Erste Überlegungen zur Korrektur der staatlichen Mindestrenten finden sich in einem als geheim klassifizierten Papier vom 10. November 1958, an dessen Ausarbeitung neben Volkov und Grišin auch L. I. Brežnev und A. N. Kosygin beteiligt waren. In dem Dokument thematisierte man Maßnahmen zur Steigerung des Lebensstandards, die u. a. die Anhebung der Mindestlöhne und -gehälter umfassten. Sie sollte in zwei Etappen realisiert werden: zuerst auf 40–45 R (1959–1962), danach auf 50–60 R (1963–1965). Von diesem Anstieg durfte jedoch, so stellten die Verfasser des Papiers fest, die Entwicklung der staatlichen Mindestrenten nicht abgekoppelt werden. Sie sollte ebenfalls in zwei Schritten vollzogen werden: „Im Zusammenhang mit der Anhebung des Mindesterwerbsentgelts [...] entsteht die Notwendigkeit der Steigerung der Mindestrenten. Wir halten es für möglich, im Jahr 1963 die Anhebung der Mindestaltersrenten von 300 [...] auf monatlich 400 R* in der Stadt und von 255 auf 340 R* für Rentner, die [...] mit der Landwirtschaft verbunden sind, umzusetzen. [...] Nach der Vollendung der zweiten Etappe der Anhebung des Mindesterwerbsentgelts [...] ist es erforderlich, im Jahr 1966 eine neuerliche Steigerung der Mindestrenten auf etwa 450–500 R* im Monat für Altersrentner in der Stadt und im entsprechenden Umfang [also 382,50–425 R*; L. M.] für jene in den ländlichen Gegenden, vorzunehmen [...].“458
Dieser Vorschlag wurde, indem er beinahe wortwörtlich Eingang in die am 5. Februar 1959 auf dem XXI. Parteitag bestätigten „Kontrollziffern zur Entwicklung der Volkswirtschaft der UdSSR in den Jahren 1959–1965“ Eingang fand,459 zu einem offiziellen Politikziel. Dessen Veröffentlichung setzte die Bevölkerung über das Vorhaben in Kenntnis und erzeugte dadurch Erwartungen bei den Altersrentnern, die in dem gesetzten Zeitrahmen jedoch keine Befriedigung erfuhren: Während die Vorgaben zur Anhebung der Löhne und Gehälter zumindest partiell umgesetzt werden konnten, unternahm der Gesetzgeber vorerst keinerlei Schritte zur Aufstockung der niedrigen Ruhestandsgelder. Das Ziel, die Mindestaltersrenten aufzustocken, gab man jedoch nicht auf, und ab 1966 vertrat man es auch wieder der sowjetischen Öffentlichkeit gegenüber. So referierte Brežnev während des XXIII. Parteitages der KPdSU (29. März – 8. April 1966) in seinem Rechenschaftsbericht abermals über die Absicht, die Rentenversorgung der Bürger weiter zu verbessern. An erster Stelle unter den ge-
458 RGANI, F. 2, op. 1, d. 334, l. 181. Vorgesehen war gleichzeitig die zweistufige Anhebung der Hinterbliebenen- und Invalidenrenten. Für den ersten Schritt nahm man – auf alle drei Leistungsformen bezogen – für die Jahre 1963–1965 Kosten in einer Höhe von insgesamt etwa 3,3 Mrd. R an. 459 Vgl. Kontrol’nye cifry, S. 8586. Vgl. auch Astrachan, Principy, S. 45.
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planten Maßnahmen nannte der Generalsekretär dabei die Steigerung der Altersrenten für Arbeiter und Angestellte.460 Konkreter wurde bei der Gelegenheit Kosygin. In seinem Vortrag über die Direktiven für die Jahre 1966 bis 1970 konstatierte der Ministerratsvorsitzende, dass die Mindestaltersrenten um mehr als 30 % angehoben werden sollten.461 In der Höhe orientierte man sich folglich noch immer an der „ersten Etappe“ der Kontrollziffern. Auch dieses Vorhaben konnte allerdings innerhalb des gesetzten Zeitlimits nicht realisiert werden. Nach dem Parteitag korrigierte man zuerst einmal die Verdienstuntergrenze für noch erwerbstätige Arbeiter und Angestellte: Ab dem 1. Januar 1968 lag sie nun bei 60 R.462 Dieser Schritt berührte indirekt auch das Versorgungsniveau der Altersrentner. De facto existierten nun nämlich zwei Minimalsätze: Bürgern, die ab 1968 ein Ruhestandsgeld beantragten und einen vollständigen Leistungsanspruch besaßen, konnte gemäß Bemessungstabelle nicht weniger als 45 R erteilt werden. Den Altrentnern, die noch nicht von der Anhebung der Arbeitseinkommen hatten profitieren können, blieben hingegen ihre Mindestbezüge von 30 R erhalten.463 Spätestens zu diesem Zeitpunkt rief die wiederholte Verzögerung in einer Frage, die für die Bezieher niedriger Ruhestandsgelder existentielle Bedeutung besaß, eine Unzufriedenheit hervor, die sich auch in den Berichten der Goskomtrud-Briefabteilung niederschlug. Ein Beispiel für den scharfen Ton, der dabei angeschlagen wurde, bietet ein Brief, dessen anonymer Verfasser auf die Unmöglichkeit verwies, auf der Grundlage von lediglich 30 R den eigenen Unterhalt zu bestreiten: „Die Frage der Rentenerhöhung wurde doch bereits auf dem XXIII. Parteitag berührt, aber man hat die Leistungen trotzdem nicht angehoben. Man muss nur darüber nachdenken: Wie soll man von 30 R überleben? Etwas davon gibt man für die Wohnung ab, und übrig bleiben 60 Kopeken pro Tag. Bettler erhalten an jedem Tag mehr Almosen. Gut hat man’s in Moskau, aber in den anderen Städten heißt es: Leg dich hin und trete in den Hungerstreik. Sind wir denn etwa schuld daran, dass es damals solch [niedrige] Gehälter gab? Damals lebten wir und quälten uns ab, aber sich im Alter zu erholen ist nicht möglich. Sind wir denn etwa schuld daran, dass der Tod nicht kommt? [...] an uns, die unteren Klassen, denkt man nicht.“464
Erst nach dem XXIV. Parteitag der KPdSU wurde der Gesetzgeber aktiv. Am 3. Juni 1971 erließ das Präsidium des Obersten Sowjets das Dekret „Über die Anhebung der Mindestaltersrenten für Arbeiter und Angestellte“,465 das das Minimum zum 1. Juli des Jahres um 50 % auf insgesamt 45 R bzw. – bei einer Verbindung
460 Vgl. Brežnev, Otþetnyj doklad XXIII s-ezdu, S. 82. 461 Vgl. XXIII s-ezd, S. 48. 462 Vgl. die Verordnung des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR vom 26. September 1967 Nr. 888 „Über Maßnahmen zur weiteren Steigerung des Wohlstands des sowjetischen Volkes“ (SP SSSR, 1967, Nr. 23, Pos. 161). 463 Vgl. Aþarkan, Aktualތnye problemy, S. 139. 464 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, l. 186. 465 VVS SSSR, 1971, Nr. 23, Pos. 238.
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zur Landwirtschaft – 38,25 R anhob.466 Das Maximum von 120 bzw. 102 R blieb unangetastet. Die für städtische Ruheständler geltende Untergrenze belief sich nun auf 75 % des niedrigstmöglichen Lohns bzw. Gehalts. Gleichzeitig wurde die auch in Fachkreisen als ungerechtfertigt kritisierte467 Disparität zwischen den Minimalsätzen für alte und neue Leistungsempfänger vollständig ausgeglichen. Für diejenigen älteren und gering versorgten Bürger, deren Rentenantritt schon mehrere Jahre zurücklag, bedeutete das Dekret eine deutliche Verbesserung ihrer Situation.468
2.1.6.2. Die Korrekturen an den Bestimmungen zur Weiterarbeit Die Nachbesserungen, die an den für die Weiterarbeit relevanten Regelungen vorgenommen wurden, erscheinen in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen handelte es sich hier um einen wichtigen Bereich der Rentenpolitik, in dem der Gesetzgeber innerhalb eines kurzen Zeitraums eine fast vollständige Kehrtwende vollzog. Zum anderen wurzelten diese Änderungen in einer abermaligen Neubewertung des Nutzens, den der ältere Teil der Bevölkerung für die sowjetische Gesellschaft besaß. Eines der Motive für die Durchführung der Rentenreform hatte erwähntermaßen in der Entfernung der als unproduktiv wahrgenommenen älteren Arbeitskräfte aus der Produktion bestanden. Erreichen wollte man diese speziell mit Hilfe der Begrenzung der staatlichen Altersrente auf maximal 15 R für all jene Personen, die sich nicht für eine Leistung „gemäß Liste I“ qualifizieren konnten. Diese Strategie erwies sich als ungemein erfolgreich, da die Weiterarbeit über den Rentenantritt hinaus deutlich an Attraktivität einbüßte. Für manche älteren Bürger, die im Ruhestand auf einen weniger anstrengenden, gleichzeitig aber auch geringer entlohnten Posten wechselten, kam es sogar zu der absurd anmutenden Konstellation, dass sie gegebenenfalls bei fortgesetzter Arbeit weniger verdienten als bei einem Verzicht auf die Weiterarbeit.469 466 In diesem Zusammenhang stiegen auch die niedrigen Teilrenten. Die monatliche Leistung eines Geringverdieners mit unvollständigem Dienstalter, die sich im schlechtesten Fall von der Rentenuntergrenze ableitete, betrug nun im ungünstigsten Fall 11,25 R bzw. – bei Verbindung zur Landwirtschaft – 9,56 R. Vgl. hierzu Prokopenko, O pererasþete, S. 44. 467 Vgl. Aþarkan, Aktualތnye problemy, S. 138139. 468 Zur zahlenmäßigen Entwicklung der Mindestaltersrentner siehe Tab. 3b. 469 In einem in der Pravda veröffentlichten Leserbrief beschrieb der Marineoffizier V. Broska eine solche Situation: „Ein betagter Arbeiter oder Angestellter verfügt gewöhnlich im Alter von 50 bis 60 Jahren über eine große Erfahrung. Und wenn er noch über die Kraft zum Arbeiten verfügt, dann ist es absolut nicht notwendig, ihm diese Möglichkeit vorzuenthalten. [...] Ich führe ein Beispiel an. Ein qualifizierter Schlosser hat bis zur Rentenfestsetzung 1.000–1.500 R* verdient. Er ist schon 60 Jahre alt und kann nicht mehr mit voller Kraft arbeiten, aber er würde gern andere in seinem Beruf ausbilden. Beendete er seine Arbeit, so würde für einen solchen Arbeiter eine Rente in Höhe von 50 % des Verdienstes festgesetzt werden, also 500–750 R*. Wechselte er [nach dem Rentenantritt] zu einer leichteren, den Kräften angemessenen Arbeit, dann würde sein Verdienst zusammen mit der Rente 450–500 R* nicht übersteigen. Daraus folgt, dass der alte Arbeiter für seinen Wunsch, mit der Arbeitstätigkeit fortzufahren, materiell benachteiligt
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Das System der allgemeinen Altersrenten
Auch für besser bezahlte Werktätige bestand kaum ein Anreiz zur Weiterarbeit. Über diesen Sachverhalt berichtete V. A. Aralov, ein Stellvertreter Lykovas, 1962 dem Ministerrat der RSFSR. Dabei bediente er sich des Beispiels eines hochqualifizierten Ingenieurs, der im Falle des Rentenantritts eine Zahlung von 100 R erwarten konnte. Entschied sich dieser Mann für die Fortsetzung der Arbeitstätigkeit, so vermochte auch er unter Umständen überhaupt gar keinen finanziellen Vorteil daraus zu ziehen: „Tritt er eine Stelle mit einem Arbeitsentgelt von 120 R an, so wird das Budget dieses Rentners dem bezogenen Ruhestandsgeld entsprechen und in einigen Fällen sogar niedriger ausfallen. Dies erklärt sich dadurch, dass ihm bei einem solchen Verdienst die Rente nicht ausgezahlt wird. Und von seinem Verdienst wird noch eine Einkommenssteuer in Höhe von 10,80 R einbehalten. Außerdem soll er auch die Transportkosten und andere mit der Arbeit verbundene Ausgaben tragen.“470
Die politische Führung des Jahres 1956 teilte solche Bedenken, wie gesehen, nicht und verbuchte die Konsequenzen ihrer Politik sicherlich als einen Erfolg: Als direkte Folge sowohl des Staatsrentengesetzes als auch der am Arbeitsplatz spürbaren Ablehnung gegenüber der Rentnerweiterarbeit verringerte sich die Zahl der betreffenden Personen im Verlauf des Jahres 1956 um 29,9 %, und ihr Anteil an der Altersrentnerschaft (Weiterarbeitsquote [WQ]) sank um die Hälfte, von 58,9 % auf 28,6 %. Damit war dieser Prozess allerdings noch nicht abgeschlossen: Während die Gruppe der Staatsaltersrentner kontinuierlich anwuchs, nahm das Kontingent derjenigen ihrer Mitglieder, die ihre Erwerbstätigkeit fortsetzten, weiter ab. Ein Tiefpunkt war Anfang 1962 erreicht, als nur noch 9,2 % der Staatsaltersrentner einer gemeldeten Beschäftigung nachgingen (siehe unten Tab. 2e).471 In den darauf folgenden Jahren nahm die Zahl der weiterarbeitenden Rentner allerdings abermals zu. Verantwortlich hierfür war ein Politikwechsel, der sich auch in den öffentlichen Äußerungen der politischen Führung widerspiegelte. Von der Belastung, die die älteren Jahrgänge angeblich für die Wirtschaftsleistung darstellten, war nun keine Rede mehr. Stattdessen rückte man nun das vermeintlich existentielle Bedürfnis nach Arbeit, das auch für die älteren Menschen charakteristisch sei, in den Vordergrund. Eine prägnante Formulierung dieses Gedankens findet sich in einer Rede, die N. S. Chrušþev am 19. April 1962 auf dem XIV. Komsomol-Kongress hielt:
wird.“ Broska, V.: Ne sleduet ograniþivat’ pensii rabotajušþim, in: Pravda vom 10. Juni 1956, S. 2. Äußerungen ähnlichen Inhalts wurden in den folgenden Jahren auch an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR adressiert. Vgl. z. B. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 293, ll. 6465. 470 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3564, l. 299. Mit ähnlichen Argumenten hatte sich sechs Jahre zuvor schon V. V. Karavaev auf einer Sitzung der Unterkommission gegen die im Gesetzentwurf vorgesehene Regelung zur Weiterarbeit ausgesprochen. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 49, l. 14. Vgl. hierzu auch Jones Moskoff, Pensioners, S. 89. 471 Die Tatsache, dass die verschwiegene Weiterarbeit zu den häufigsten Formen des Rentenmissbrauchs gehörte, lässt darauf schließen, dass der tatsächliche Prozentsatz arbeitender Ruheständler höher lag.
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„Nicht derjenige Mensch ist glücklich, der lange gelebt und vielleicht auch gut gearbeitet hat und schon im Voraus denkt, dass ihm nur noch einige Jahre oder Monate bis zu dem Zeitpunkt bleiben, bis er in den Ruhestand tritt, und dabei meint: Dann werde ich zu leben beginnen! Das ist ein grundlegender Irrtum. [...] zu leben vermag der Mensch nur in schöpferischer Arbeit. [...]. Zu leben heißt zu arbeiten, zu arbeiten heißt zu leben! Ich bitte darum, mich richtig zu verstehen: In diesem Fall spreche ich nicht von jenen Genossen, die wegen ihres Alters oder Gesundheitszustands nicht mehr arbeiten können, sondern von jenen, die [...] sich im Ruhestand befinden, obwohl sie ihrem Gesundheitszustand zufolge noch arbeiten könnten.“472
Blieb der sich allein aus Dienst- und Lebensalter ableitende Rechtsanspruch sowjetischer Bürger auf einen „wohlverdienten Ruhestand“ auch weiterhin unangetastet, so untergruben Sätze dieser Art doch sein moralisches Fundament. Zudem befand sich der Gedanke, dass Ruhe und Tatenlosigkeit nur dann eine wünschenswerte Option darstellten, wenn der Einzelne physisch nicht mehr zur Aktivität fähig war, in einem offenkundigen Gegensatz zu dem zentralen Wesensmerkmal des Instituts des Altersrente: Die individuelle Arbeitsfähigkeit sollte hier – anders als im Kontext der Invalidenrente – gerade kein Kriterium für die Entscheidung der Frage darstellen, ob man von der Notwendigkeit zur Erwerbstätigkeit befreit wurde. Einen Monat später ging der Erste Sekretär des ZK der KPdSU auch auf die Voraussetzungen dafür ein, dass sich mehr Rentner als bislang für die Fortsetzung ihrer Arbeitstätigkeit im Alter entschieden. Notwendig sei es, wie Chrušþev auf der Allunionskonferenz der Mitarbeiter des Eisenbahntransports betonte, „das Gesetz über die Rentenversorgung vernünftig [zu überprüfen] und die Bedingungen für eine materielle Belohnung derjenigen Rentner [zu erzeugen], die arbeiten können und wollen, [etwa] durch die Gewährung sowohl einer Rentenvergütung als auch einer gewissen Bezahlung für ihre Arbeit“.
Gehe man in dieser Weise vor, würden Hunderttausende Menschen wieder mit Freude in die Fabriken gehen und mit großem Nutzen für die sowjetische Volkswirtschaft arbeiten.473 Die Einschätzung des Beitrags, den ältere Bürger zur Entwicklung der sozialistischen Ordnung zu leisten vermochten, hatte sich somit innerhalb von nur sechs Jahren in ihr Gegenteil verkehrt.474 472 Pravda vom 21. April 1962, S. 2. 473 Pravda vom 11. Mai 1962, S. 3. Vgl. auch GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, ll. 87 u. 212. 474 Charakteristisch für die veränderte Haltung zur Weiterarbeit war ebenfalls, dass man nunmehr verstärkt auf ihren gesundheitlichen und psychischen Vorteil verwies. Lykova, Sozialfürsorge, S. 15, beruft sich in diesem Zusammenhang auf den französischen Gerontologen François Bourlière, der auf die durch den Ruhestand hervorgerufenen Veränderungen in den Gewohnheiten hingewiesen habe. Der neue Lebensabschnitt sei häufig mit Empfindungen von Einsamkeit, Nutzlosigkeit, Statusverlust und Langeweile verbunden. Vor diesem Hintergrund, so die Ministerin, mache die „Beschäftigung [...] das Leben der Altersrentner sozial reichhaltiger“. Auch erspare sie „denen, die sich plötzlich aus dem gesellschaftlichen Leben ausgeschaltet sehen, Depressionszustände“. Die gesundheitliche Vorteilhaftigkeit der fortgesetzten Erwerbstätigkeit wurde auch von sowjetischen Sozial- und Alterswissenschaftlern in den Vordergrund gerückt. Vgl. z. B. ýebotarev, Dolgoletie, S. 34; Steženskaja Saþuk, Demografiþeskie sdvigi, S. 254; Mikul’skij u. a., Social’naja politika KPSS, S. 218.
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Das System der allgemeinen Altersrenten
Das neuerliche Interesse an der Weiterarbeit der Rentner gründete in der Tatsache, dass die sowjetische Strategie zur Steigerung der Wirtschaftsleistung in beträchtlichem Umfang auf dem extensiven Mehreinsatz von Arbeitskräften gründete. Da einige Bereiche der sowjetischen Ökonomie unter einem zunehmenden Personalmangel litten, meinte man, nicht mehr auf die Mitwirkung der Älteren verzichten zu können.475 Betroffen war hier zum einen der landwirtschaftliche Sektor, der unter der Landflucht der Jüngeren und einer niedrigen Produktivität litt. Volkov und Goroškin, die 1963 im Auftrag des ZK der KPdSU einen Bericht über die Steigerung der materiellen Interessiertheit der Rentner verfassten, verwiesen darin aber auch auf Defizite im nicht-agrarischen Bereich: Ebenfalls zur Weiterarbeit müssten zum einen das „allgemeine Bedienungspersonal“, Beschäftigte des Einzelhandels, Lehrer, Erzieher sowie medizinische Mitarbeiter von heilprophylaktischen und Kindereinrichtungen bewegt werden. Zum anderen zeigte man aber auch an der fortgesetzten Arbeit von Verwaltungsangestellten und von produktionsnah eingesetzten ingenieur-technischen Mitarbeitern Interesse. Eine besondere Förderung sollten zudem arbeitende Rentner erfahren, die in Gegenden wie dem Fernen Osten, dem Ural und Sibirien tätig waren, wo der Bedarf an Arbeitskräften besonders ausgeprägt war.476 Handlungsbedarf sahen Regimevertreter auch in der Kohleindustrie. Hier waren ehemalige Arbeitnehmer zwar dadurch bevorteilt, dass sie, wenn sie eine Altersrente „gemäß Liste I“ bezogen, im Falle der Weiterarbeit 50 % des Ruhestandsgelds behalten konnten; die vorhandenen Probleme bei der Stellenbesetzung wurden dadurch jedoch nicht behoben.477 Einen Lösungsansatz zur Förderung der Weiterarbeit erkannte man, wie Chrušþevs Rede vor den Mitarbeitern des Eisenbahntransportwesens bereits gezeigt hat, vor allem in der Schaffung materieller Anreize.478 Sie machte den Kern einer normativen Tätigkeit aus, die 1961 einsetzte und immer größeren Teilen der Rentnerschaft die Möglichkeit einräumte, die Leistung zusätzlich zur Erwerbstätigkeit vollständig oder mindestens zu 50 % zu erhalten. Kennzeichnend für die Nachbesserungen war, dass die Frage, ob ein Weiterarbeitender eventuell mehr als 15 R behalten durfte, nun nicht mehr nur von seiner früheren Berufszugehörigkeit, sondern stattdessen von der Art der Tätigkeit abhängen sollte, die er nach der Rentenfestsetzung ausübte.479
475 Vgl. Rowland, Withdrawal, S. 146. 476 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1355, l. 41; Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 78 79. 477 Volkov zufolge fehlten hier speziell Rentner, die für Hilfsarbeiten eingesetzt werden konnten, so dass in den betreffenden Arbeitsbereichen hochqualifizierte Arbeiter eingesetzt werden mussten. Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1385, l. 36. 478 Dabei ging man davon aus, dass die dadurch hervorgerufenen Mehrkosten über die sich aus der Weiterarbeit ergebenden Erträge ausgeglichen würden. Vgl. ebd.; Rubakin, Osnovnye problemy, S. 48. 479 Vgl. Aþarkan, Pensionnoe zakonodatel’stvo, S. 119. Auf diesem Wege fiel es zweifelsohne leichter, dem Personalmangel konkret in denjenigen Bereichen der Volkswirtschaft entgegenzuwirken, in denen er am stärksten empfunden wurde.
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Die ersten Maßnahmen widmeten sich vor allem der Agrarwirtschaft. So erließ der Ministerrat der UdSSR am 17. Juni 1961 und 3. Mai 1962 die Anordnungen Nr. 1833-r und Nr. 1082-r, die die Weiterarbeit in diesem Bereich attraktiver gestalteten: Die Regierungen der Unionsrepubliken durften nun den Organen der Sozialversorgung erlauben, Rentnern das volle Ruhestandsgeld auszuzahlen, sofern diese befristet an landwirtschaftlichen Arbeiten in den Sowchosen und Kolchosen teilnahmen. Die Regelung sollte vor allem der Ernteeinbringung zugutekommen und wurde zunächst auf den Zeitraum 1961–1963 begrenzt.480 Die Förderung dieser Form der Weiterarbeit war ebenfalls ein Anliegen, das mit der Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 26. Februar 1964 Nr. 175 „Über die Steigerung der materiellen Interessiertheit der Rentner an der Arbeit in der Produktion“481 verfolgt wurde. Hier ermöglichte man den Unionsrepubliken allerdings nicht nur die volle Rentenauszahlung an alle Rentner, die landwirtschaftliche Arbeiten in Kolchosen, Sowchosen, Zuchtgestüten, Geflügelfabriken etc. ausführten: Von der Regelung konnten auch jene Personen profitierten, die nach dem formellen Rentenantritt über eine feste Anstellung als Arbeiter in einem Sowchos, einem Pferdegestüt oder einem anderen staatlichen Agrarbetrieb verfügten.482 Die Regierungsverordnung besaß allerdings auch eine gesamtwirtschaftliche Relevanz. Mit ihr verbunden war die Zielsetzung einer generellen Neuregelung der Bedingungen, unter denen sich die Ruheständler der Weiterarbeit widmen konnten. In der Verordnung wurde eine ganze Reihe von Berufen aufgeführt, die ein Arbeitskräftedefizit kennzeichnete und deren Ausübung es jetzt ermöglichen sollte, einen höheren Rentenanteil einzubehalten. Vorgesehen war eine deutliche Ausweitung des Personenkreises mit einer Aussicht auf entsprechende Vergünstigungen. Ersichtlich wird dies allein schon anhand der Tatsache, dass sämtliche Tätigkeiten, die als „Arbeiterberuf“ kategorisiert wurden, dazu berechtigten, 50 % des Ruhestandsgelds zusätzlich zum Arbeitseinkommen zu beziehen. Gleiches galt für die Beschäftigungen des allgemeinen Bedienungspersonals sowie für die „weitverbreiteten Berufe des Post- und Fernmeldewesens“. Ebenfalls die Hälfte der Rentenleistung konnten Rentner sich dann bewahren, wenn sie in bestimmten Bereichen etwa als ingenieur-technischer Mitarbeiter, als Arzt, als Erzieher in Kindereinrichtungen oder als Apothekenmitarbeiter tätig waren.483 Um einen An480 Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 3; d. 7881, ll. 89; F. R 9553, op. 1, d. 1355, l. 68; Selތskie pensionery mogut rabotat ތpostojanno, S. 3; Pensionery snova v stroju, S. 2. Mit der Anordnung des Ministerrats der UdSSR vom 3. Januar 1964 Nr. 14-r wurde diese Erlaubnis auf die Jahre 19641965 ausgedehnt. Vgl. hierzu GARF, F. A 259, op. 42, d. 2707, l. 2. 481 SP SSSR, 1964, Nr. 3, Pos. 17. 482 Die Gewährung dieser Möglichkeit motivierte etwa den Ministerrat der RSFSR dazu, am 11. März 1964 die gleichlautende Verordnung Nr. 309 (Sistematiþeskoe sobranie, S. 554555) zu erlassen. Zweieinhalb Jahre zuvor hatte sich das sowjetische Finanzministerium noch gegen die Einbeziehung der ständigen Sowchos-Arbeiter ausgesprochen, da es Mehrausgaben von 12 Mio. R und eine Benachteilung anderer Bereiche der Volkswirtschaft befürchtete. Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 7881, l. 5. 483 Eine detaillierte Aufführung all jener Betriebe und Einrichtungen, die, war hier ein weiterarbeitender Ruheständler tätig, zu diesen Vergünstigungen berechtigten, findet sich in Babkin u. a., Kommentarij, S. 461467.
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Das System der allgemeinen Altersrenten
sporn zur Arbeit in entlegenen und klimatisch benachteiligten Gebieten zu schaffen, galt zudem die Regel, dass ein im Ural, in Sibirien oder im Fernen Osten erwerbstätiger Rentner sogar 75 % der Alterssicherung beziehen durfte. Bedeutsam war schließlich ebenfalls, dass für den genannten Personenkreis eine neue Einkommensobergrenze galt: Die Summe aus Verdienst und Rentenzahlung durfte hier nicht höher als 200 R ausfallen.484 Eine besondere Förderung erfuhr weiterhin die Tätigkeit als Arbeiter unter Tage, in Gruben und Bergwerken, die nun unter bestimmten Voraussetzungen sogar den vollen Rentenbezug ermöglichte, ohne dass die Höhe des Erwerbsentgelts eine Rolle spielte. Die Verordnung vom 26. Februar 1964 und die ihr vorangegangenen Maßnahmen waren tatsächlich erfolgreich, bewirkten sie doch eine Zunahme des Kontingents der weiterarbeitenden Altersrentner: Zwischen 1962 und 1969 vervierfachte sich deren Zahl fast von 553.646 auf 2.069.610, während sich die Weiterarbeitsquote von 9,2 % auf 17,4 % beinahe verdoppelte. Der Zeitraum, in dem die Bestimmungen Gültigkeit besaßen, war allerdings von vornherein auf die Jahre 1964 bis 1968 begrenzt worden. Zudem stellte die verzeichnete Zunahme der Rentnerarbeit die politische Führung noch nicht zufrieden. Dies führte dazu, dass man gegen Ende des Jahrzehnts einen weiteren Schritt zur Förderung der Weiterarbeit unternahm. Mit der Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 31. Dezember 1969 Nr. 995 „Über Maßnahmen zur weiteren Steigerung der materiellen Interessiertheit arbeitsfähiger Altersrentner an der Fortsetzung der Arbeit nach der Rentenfestsetzung“485 wurde die erlaubte Summe aus Verdienst und Ruhestandsgeld auf 300 R angehoben. Deutlich ausgedehnt wurde nun ebenfalls der Kreis derjenigen Personen, die ihr Ruhestandsgeld zur Gänze oder teilweise behalten durften. Altersrentnern, die als Arbeiter, Arbeitsleiter, Meister oder im allgemeinen Bedienungspersonal tätig waren, wurde generell die volle Monatsleistung belassen. Gleiches betraf – in ausgewählten Bereichen – die Beschäftigung als medizinischer Mitarbeiter, als auf dem Lande tätiger Lehrer, im Post-, Fernmelde- und Gesundheitswesen, in Dienstleistungsbetrieben etc. Zwar wurde auch die Möglichkeit, zumindest 50 % der Alterssicherung zusätzlich zum Erwerbsentgelt zu erhalten, auf weitere Berufsprofile ausgedehnt. Infolge der Verordnung Nr. 995 kam es allerdings dazu, dass eine Mehrheit der Weiterarbeitenden 100 % ihrer Renten zu beziehen vermochte.486 Dies impliziert freilich noch nicht, 484 Überschritt man das Limit, so wurde die Rente entsprechend gekürzt. Diese Regelung erstreckte sich nicht auf die erwerbstätigen Vorzugsrentner „gemäß Liste I“, deren Verdiensthöhe weiterhin keine Relevanz für die Höhe ihrer monatlichen Ruhestandsleistung besaß. 485 SP SSSR, 1970, Nr. 2, Pos. 13. Die Gültigkeit der Verordnung erstreckte sich anfangs auf die Jahre 1970 bis 1975, wurde in der Folge jedoch verlängert. 486 Laut A. P. Volkov erhielten von den 2.976.134 Altersrentnern, die am 1. Januar 1971 als weiterarbeitend registriert waren, 51,7 % eine volle Ruhestandsleistung, 17,2 % eine solche im Umfang von 50–75 %, 20,7 % den Pauschalbetrag von 15 R und 10,3 % überhaupt keine parallel zum Arbeitsverdienst bezogene Alterssicherung. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 68, d. 467, l. 113. M. S. Lancev zufolge bezogen zwei Jahre später sogar 91,4 % der erwerbstätigen Ruheständler eine hundertprozentige Leistung. Vgl. Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 136.
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„Gesetz über die staatlichen Renten“
wie etwa von William Moskoff behauptet,487 dass fast alle Altersrentner einen Anspruch auf die vollen Bezüge geltend machen konnten: Es gab weiterhin Personen, denen lediglich 15 R bewilligt wurden. Allerdings ist davon auszugehen, dass die betreffenden Personen sich häufig nicht mehr für eine Weiterarbeit entschieden und somit auch nicht in den entsprechenden Statistiken figurierten. Auch nach diesem Normativakt stieg die Zahl der nach dem Rentenantritt erwerbstätigen Menschen sowohl in absoluten als auch in relativen Werten an; allerdings hoben sich die Wachstumsraten kaum von den vorangegangenen Jahren ab: So nahm ihr Anteil an der Gesamtheit staatlicher Altersrentner zwischen 1969 und 1970 ebenso um 1,6 Prozentpunkte zu, wie dies zwischen 1965 und 1966 der Fall gewesen war. Anfang 1972 zählte man 3.259.193 einer entlohnten Beschäftigung nachgehenden Ruheständler in der UdSSR. Die entsprechende Weiterarbeitsquote lag bei 21,3 %, was zwar im Vergleich mit dem Stand von 1962 eine deutliche Erholung bedeutete, aber noch immer hinter dem Niveau vom 1. Januar 1957 zurückblieb (Tab. 2e).
Tab. 2e: Die zahlenmäßige Entwicklung der weiterarbeitenden Staatsaltersrentner, 1956–1972 (Stand am 1. Januar)
1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
Gesamtzahl der Staatsaltersrentnera
Zahl der weiterarbeitenden Staatsaltersrentnera
1.877.000b 2.710.722 3.493.121 4.006.528 4.530.501 5.379.436 6.039.822 6.729.187 7.435.649 8.180.421 9.020.065 10.015.297 10.986.966 12.019.206 13.185.378 14.336.536 15.290.266
1.106.000b 775.437 670.100 604.646 532.420 544.594 553.646 631.333 747.942 1.025.152 1.267.759 1.527.641 1.748.619 2.096.610 2.500.397 2.976.134 3.259.193
Anteil der weiterarbeitenden Altersrentner an der Gesamtzahl (WQ) 58,9 % 28,6 % 19,1 % 15,1 % 11,8 % 10,1 % 9,2 % 9,4 % 10,1 % 12,5 % 14,1 % 15,3 % 15,9 % 17,4 % 19,0 % 20,8 % 21,3 %
Quelle: a Mit Ausnahme des Jahres 1956: ZVS-Jahresberichte zu den Staatsrenten (RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 1; op. 27, d. 454, l. 6; op. 27, d. 583, l. 1; op. 27, d. 953, l. 1; op. 27, d. 1148, l. 1; op. 27, d. 1274, l. 1; op. 27, d. 1421, l. 1; op. 27, d. 1561, l. 1; op. 37, d. 2718, l. 1; op. 44, d. 2803, l. 1; op. 45, d. 2460, l. 1; op. 45, d. 5961, l. 1; op. 45, d. 9848, l. 1; op. 46, d. 1690, l. 1; op. 47, d. 1560, l. 1; op. 48, d. 1392, l. 1). b Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 87. 487 Vgl. Moskoff, Part-Time Employment, S. 278.
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Das System der allgemeinen Altersrenten
Das Ausmaß, in dem sich ältere Bürger für die Fortsetzung ihrer Arbeitstätigkeit entschieden, differierte unter regionalen Gesichtspunkten erheblich. Überdurchschnittlich hoch fiel die Weiterarbeitsquote vor allem in der Georgischen SSR und – ab Mitte der 1960er Jahre – in der Litauischen SSR aus. Konstant am Ende der Skala anzutreffen waren hingegen die Kasachische SSR und die Kirgisische SSR.488 Den stärksten Zuwachs erfuhr dieser Kennwert im Zeitraum 1966 bis 1972 schließlich in der Turkmenischen SSR, in der er um 12,7, sowie in der Tadschikischen SSR, wo er um 10,9 Prozentpunkte anstieg (Tab. 2f).
Tab. 2f: Der Anteil der Weiterarbeitenden an der Gesamtzahl staatlicher Altersrentner in den Unionsrepubliken, in Prozent (Stand am 1. Januar) UdSSR RSFSR Ukrainische SSR Weißrussische SSR Usbekische SSR Kasachische SSR Georgische SSR Aserbaidschanische SSR Litauische SSR Moldawische SSR Lettische SSR Kirgisische SSR Tadschikische SSR Armenische SSR Turkmenische SSR Estnische SSR
1958 19,2 18,0 22,4 22,3 23,4 17,4 29,7 20,8 20,7 20,9 19,8 17,0 16,9 20,3 19,0 21,3
1966 14,1 13,1 15,5 13,0 14,0 10,4 27,5 20,7 26,2 20,5 21,5 10,0 13,5 17,7 12,1 20,6
1972 21,3 20,9 21,4 18,2 20,8 14,9 35,3 28,9 31,8 27,9 28,0 16,9 24,4 26,1 24,8 28,1
Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 454, ll. 596; op. 44, d. 2803, ll. 116 ob.; op. 48, d. 1392, ll. 134 ob.
Die meisten älteren Bürger, die sich für die Weiterarbeit entschieden, setzten ihre Arbeitstätigkeit nach der Rentenerteilung ohne Unterbrechung fort. Dass Personen sich nach einigen Jahren des Ruhestands dazu entschlossen, abermals eine bezahlte Stelle anzunehmen, war eher selten der Fall. Ein Kennzeichen des Anstiegs der Weiterarbeitsquote war dementsprechend, dass er in der Hauptsache mit Hilfe der Neurentner, d. h. derjenigen Ruheständler, denen die Leistung in den jeweils vorangegangenen zwölf Monaten zuerkannt worden war, bewerkstelligt wurde. Für die letzten Jahre innerhalb des Bearbeitungszeitraums liegen Angaben vor, die über die Weiterarbeitsquote sowohl unter Personen, die im Berichtsjahr die Rente 488 Eine simple Erklärung der WQ über die für die jeweilige Republik charakteristische Durchschnittsrente bietet sich nicht an. So bezog man 1972 zwar in der Litauischen SSR eine im Vergleich sehr niedrige Leistung; die mittlere Altersrente in der Georgischen SSR lag jedoch über dem Unionsdurchschnitt. Siehe Abs. 3.2.1.
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„Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“
angetreten hatten, als auch unter den übrigen Ruheständlern (Altrentner) informieren. Die fast dreimal so hohen Anteile bei den Neurentnern belegen, dass sie durchaus auf die von der politischen Führung gesetzten Impulse reagierten. Im Verlauf des Jahres 1971 hatten sich schließlich sogar mehr als die Hälfte aller neu mit einer Altersversorgung versehenen Bürger für die Fortsetzung ihrer Arbeitstätigkeit entschieden.489 Lancev schlussfolgerte auf der Grundlage dieser hohen Anteile, dass das „System der Stimulierung der Altersrentnerarbeit über die Rentenauszahlung während der Zeit ihrer Erwerbstätigkeit keine Perspektive für eine Erweiterung besitzt. [...] die Reserve arbeitsfähiger Rentner ist praktisch ausgeschöpft.“490
2.2. DAS „GESETZ ÜBER DIE RENTEN UND BEIHILFEN FÜR KOLCHOSMITGLIEDER“ FÜR KOL CHO SMITGLIEDE R“
„GE SETZ Ü BE R DIE RENT EN UND BEIHIL FEN
„GE SETZ ÜBER DIE RENTEN UND BEIHILFEN FÜ R KOLCHO SMITGLIEDE R“
Die Reformtätigkeit des Sowjetregimes beschränkte sich nicht nur auf die Rentenversorgung der Arbeiter und Angestellten. Eine – gemessen an der Zahl der betroffenen Bürger – nicht minder weitreichende Maßnahme galt der Absicherung der dritten großen Bevölkerungsgruppe in der UdSSR: der Kolchosbauern. Fast exakt acht Jahre nach der Staatsrentenreform verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR das „Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“, das einem Großteil dieser Menschen u. a. erstmals eine Altersrente zusprach und gleichzeitig eine Reihe von Mängeln behob, die die bis dato bereits in den Artelen existierenden Unterstützungsmechanismen gekennzeichnet hatten. Um die Qualität der hierdurch hervorgerufenen Veränderungen deutlich machen zu können, ist es zuerst notwendig, die Maßnahmen zu schildern, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes in den Kolchosen zur Versorgung der alten und arbeitsunfähigen Mitglieder durchgeführt wurden.
489 Die WQ der Neurentner entsprach Werten von 41,9 % (1969), 43,7 % (1970), 48,9 % (1971) und 52,2 % (1972). Unter den Altrentnern lag diese Quote bei 14,8 % (1969), 16,2 % (1970), 17,8 % (1971) und 18,6 % (1972). Errechnet aus den ZVS-Jahresberichten zu den Staatsrenten (RGAƠ, F. 1562, op. 45, d. 9848, ll. 1 u. 2 ob.; op. 46, d. 1690, ll. 1 u. 1a ob.; op. 47, d. 1560, ll. 1 u. 2 ob.; op. 48, d. 1392, ll. 1 u. 2 ob.). Besonders hoch lag die Weiterarbeitsquote 1972 bei den „neuen“ Vorzugsrentnern „gemäß Liste I“ (65,2 %) und „gemäß Liste II“ (64,4 %) sowie den ehemaligen Beschäftigten des Hohen Nordens (76,3 %). Vgl. hierzu RGAƠ, F. 1562, op. 48, d. 1392, ll. 1 u. 2 ob. 490 Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 139140.
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2.2.1. Die Altersversorgung in den Kolchosen bis 1964 2.2.1.1. Bauernkomitees, Bauerngesellschaften und Kassen für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe Bis 1964 oblag die Verantwortung für den Schutz ihrer Mitglieder gegen die Folgen des altersbedingten Verlustes der Arbeitsfähigkeit allein bei den Kollektivwirtschaften. Da diese oft nur unzureichende Vorsehungen zur Alterssicherung trafen, besaßen die betagten Bauern meist keine andere Option, als weiter für das Artel zu arbeiten, das private Hofgrundstück bis zu dem Moment zu bewirtschaften, in dem sie dazu nicht mehr in der Lage waren, oder die Hilfe von Familienangehörigen in Anspruch zu nehmen. Ein effektives soziales Netz existierte folglich für einen Großteil der Kolchosbevölkerung nicht. Dennoch war der Gesetzgeber auf diesem Gebiet nicht vollends untätig. Die ersten Verlautbarungen der Bol’ševiki zur sozialen Sicherung der Bauernschaft reichten über bloße Absichtserklärungen nicht hinaus. In der wenige Tage nach dem Oktoberumsturz veröffentlichten „Regierungsamtlichen Mitteilung über die Sozialversicherung“ war, wie bereits erwähnt, festgehalten worden, dass sich das russische Proletariat auch die „vollständige Sozialversicherung der [...] ländlichen Armen“ auf die Fahne schrieb.491 Etwas konkreter wurde man mit dem am 27. Oktober (9. November) 1917 vom II. Allrussischen Rätekongress verabschiedeten Dekret „Über das Land“, das die Enteignung des privaten Besitzes an Grund und Boden verkündete. In ihm wurde bereits die Integration der Landbewohner in ein staatlich finanziertes Sicherungssystem in Aussicht gestellt.492 Der Gedanke einer Absicherung der arbeitsunfähigen Bauern fand schließlich auch in das am 19. Februar 1918 vom Allrussischen Zentralen Exekutivkomitee verabschiedete Dekret „Über die Sozialisierung des Landes“ Eingang. Ähnlich wie in den frühen Regelungen zur Rentenversorgung der Arbeiterschaft sollte das fortgeschrittene Lebensalter allerdings nur im Zusammenhang mit dem tatsächlichen Verlust der physischen Voraussetzungen zur bäuerlichen Arbeit den Erhalt einer Unterstützungsleistung ermöglichen.493 Galt die Tatsache, dass der junge Sowjetstaat nur sehr wenig für eine praktische Verwirklichung seiner rentenpolitischen Versprechen unternahm,494 anfangs für die Arbeiter und Angestellten einerseits und die Bauernschaft andererseits gleichermaßen, so differierte die Art und Weise, in der die beiden Bevölkerungs491 SU RSFSR, 1917, Nr. 2, Pos. 17. 492 SU RSFSR, 1917, Nr. 1, Pos. 3. Hier hieß es diesbezüglich: „Die Ackerbauern, die infolge von Alter oder Invalidität für immer die Möglichkeit verloren haben, das Land zu bearbeiten, verlieren das Recht, dieses zu nutzen, aber im Gegenzug erhalten sie eine Rentenversorgung durch den Staat.“ 493 SU RSFSR, 1918, Nr. 25, Pos. 346. 494 Hauptnutznießer staatlicher Unterstützungen unter der ländlichen Bevölkerung waren auch hier die Kriegsinvaliden. Im Jahr 1921 wurden mehr als 500.000 Bauern, die 85 % aller Kriegsversehrten stellten, mit staatlichen Versorgungsleistungen bedacht. Vgl. Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 198.
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gruppen sozialpolitisch behandelt wurden, spätestens ab dem Beginn der Neuen Ökonomischen Politik in zunehmendem Maße: Während nun die ersten Maßnahmen für eine allgemeine Rentenversorgung der Arbeiter und Angestellten eingeleitet wurden, entschied man sich dazu, die Unterstützung hilfsbedürftiger Bauern stattdessen nach mutualistischen Prinzipien zu organisieren.495 Die soziale Sicherung sollte auf dem Lande von den dort lebenden Menschen selbst getragen werden. Einen Schritt in diese Richtung unternahm man mit dem Dekret des Rats der Volkskommissare der RSFSR vom 14. Mai 1921 „Über die Verbesserung der Organisation der Sozialversorgung der Arbeiter, Bauern und Familien von Rotarmisten“.496 Es ordnete die Einrichtung der sogenannten „Bauernkomitees für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe“ (krest’janskie komitety obšþestvennoj vzaimopomošþi; im Folgenden: krestkomy) bei den Dorfsowjets an. Ihre Klientel bestand in erster Linie aus den über wenig oder keinen Besitz verfügenden Landarbeitern und Kleinbauern, deren materielle Situation man durch die Organisation von gegenseitiger Unterstützung z. B. bei Missernten, Bränden und anderen sozialen oder Naturkatastrophen zu verbessern trachtete. Darüber hinaus sollte für eine „umfassende Hilfe für die Familien der Rotarmisten und der zur Arbeit Verpflichteten, für Invaliden und in Not geratene Bürger“ gesorgt werden.497 Zu den letztgenannten Personen zählten freilich auch die aufgrund von Altersgebrechlichkeit nicht mehr zur landwirtschaftlichen Tätigkeit fähigen Menschen. Die hierfür erforderlichen Mittel hatten die Bauern im Rahmen einer „freiwillig-zwangsweisen Selbstbesteuerung“498 aufzubringen, wobei auch der Staat durch die Bildung eines „Naturalfonds für die Sozialversorgung“ Geld, aber vor allem Nahrungsmittel und Erzeugnisse des täglichen Bedarfs beisteuern wollte.499 495 N. A. Miljutin begründet diese uneinheitliche Herangehensweise 1922 auf der Allrussischen Konferenz zu Fragen der Sozialversicherung mit den seines Erachtens im Grundsatz andersartigen Voraussetzungen: „Es ist unsinnig, jetzt dem Dorf, wo wir besondere Bedingungen, eine besondere Lebensweise vorfinden, organisatorische Formen aufzudrängen, die für die Fabriken und Werke passend und zielführend sind.“ Miljutin, Itogi, S. 18, zit. bei: Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 97. 496 SU RSFSR, 1921, Nr. 48, Pos. 236. Mit dem Dekret reagierte man auf die Notlage vieler Bauern, die auf die Einführung der Naturalsteuer und die gleichzeitige Einstellung einer Praxis zurückzuführen war, in der man aus Pflichtablieferungen stammende Güter auch den wirtschaftlich schwachen Bauern zur Verfügung gestellt hatte. Zeitgleich hatten gravierende Missernten in den Jahren 1921 und 1922 zu einer Hungerkatastrophe geführt. 497 Ebd. Zur Hungersnot von 1921/22 vgl. z. B. Meyer, Studien, S. 167185. 498 Grigorތev, Oþerki, S. 216. Madison, Social Welfare, S. 54, hält es für wahrscheinlich, dass Bauern zur Unterstützung der krestkomy genötigt wurden. Dieser Annahme entspricht die aus dem Jahr 1921 stammende Mahnung Miljutins, dass, wolle man Mitglieder für die Komitees werben, Überzeugungsarbeit besser wirke als die Verwendung von Bajonetten. Vgl. Miljutin, Organizacija, S. 10. 499 Vgl. Aleksanov, V borތbe, S. 45. Die Bol’ševiki erwarteten sich von der Förderung der vzaimopomošþ’ allerdings auch einen Beitrag zur gesellschaftlichen Umgestaltung. So besaßen die Bauernkomitees einen offen klassenkämpferischen Charakter, der darin zum Ausdruck kam, dass sie zum einen den rechtlichen Schutz der armen und mittellosen Teile der ländlichen Bevölkerung vor den „Kulaken“ gewährleisten, zum anderen ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von diesen mindern sollten. Vgl. Trinadcatyj s-ezd RKP(b), S. 474; Carr, So-
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Obwohl die krestkomy allem Anschein nach überaus verbreitet waren,500 nahmen sich die tatsächlichen Ergebnisse ihrer Arbeit bescheiden aus. Oft verfügten sie nur über einen gering bemessenen Getreidefonds, der kaum zur Entlohnung ihrer Verwaltungsangestellten ausreichte. Viele Bauern waren nicht einmal darüber informiert, dass ihre Dorfgemeinde über ein solches Komitee verfügte. Und selbst die häufigste Form der geleisteten Hilfe, die Bestellung der Felder bedürftiger Familien, scheiterte nicht selten am Fehlen der hierfür notwendigen Gerätschaften.501 Auch innerhalb der politischen Führung war man unzufrieden über die niedrige Leistungsfähigkeit der krestkomy,502 was schließlich dazu führte, dass man sie zu den sogenannten „Bauerngesellschaften für die gegenseitige Hilfe“ (krestjan’skie obšþestva vzaimopomošþi; im Folgenden: KOV) weiterentwickelte.503 Wohl nicht zuletzt deshalb, weil das Problem ihrer Vorgänger darin bestanden hatte, dass sie über unzureichende Ressourcen verfügt hatten, sollten sich die KOV verstärkt auch um die Mittelbauern bemühen. Im Gouvernement Novgorod zählte man im Jahr 1926 1.522 Bauerngesellschaften, deren Einkünfte zum einen aus den Mitgliedsbeiträgen und staatlichen Zuschüssen stammten, zum anderen aus den Erträgen der gemeinschaftlichen Bestellung eines Teils des Gemeindelands. Die Ernteergebnisse der kollektiven Arbeiten sollten den Bedürftigen zugutekommen, dienten dabei aber auch „als anschauliches Beispiel für die Einführung der neuen gesellschaftlichen Produktion auf der Grundlage der kollektiven Arbeit, für die Verwendung von Traktoren und Maschinen“. Hilfe leistete man in diesem Fall ebenfalls dadurch, dass schwache Wirtschaften bei Saat und Ernte unterstützt wurden.504 Inwiefern die KOV allerdings einen nachhaltigen Beitrag zur Verbesserung der allgemeinen Versorgungssituation zu leisten vermochten, muss offenbleiben, zumal in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre von Seiten der Kommunistischen Partei auch an ihnen wiederholt herbe Kritik geübt wurde.505
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cialism, S. 320; Müller-Dietz, Die Sozialversicherung, S. 88. Darüber hinaus erhoffte man sich von der „gegenseitigen Hilfe“ zudem einen positiven Effekt bei der Vorbereitung der Bauern auf den Sozialismus. Vgl. Aþarkan, M. I. Kalinin, S. 59; Aleksanov, V borތbe, S. 208. Die Angaben zur Anzahl der Bauernkomitees in der UdSSR in den Jahren 1922–1924 schwanken zwischen 50.000 und 100.000, wobei allerdings entsprechende Statistiken, wie Meyer, Studien, S. 355, anmerkt, „voller behördlicher Beschönigungen“ stecken. Vgl. ebd., S. 353356. Vgl. Trinadcatyj s-ezd RKP(b), S. 445 u. 636. Vgl. hierzu die „Ordnung über die Bauerngesellschaften für die gegenseitige Hilfe“, die am 25. September 1924 durch ein Dekret des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees und des Rats der Volkskommissare der RSFSR bestätigt wurde (SU RSFSR, 1924, Nr. 81, Pos. 813). Zajcev Rašþikov, Social’noe obespeþenie, S. 3031. Zu den KOV als Vorbereitern der Kollektivierung vgl. auch Gušþin, Razvitie, S. 1415; Mašanov, Krest’janskaja vzaimopomošþ’, S. 11. In der Weißrussischen SSR waren die „Gesellschaften“ allem Anschein nach besonders verbreitet. Hier sollen sie bei der Mehrheit aller Dorfsowjets eingerichtet worden sein, und die dortige Gesamtzahl ihrer Mitglieder belief sich dem Vernehmen nach auf 1,5 Mio. Menschen. Vgl. Grigorތev, Oþerki, S. 217. So bemängelte das ZK der KPR(B) beispielsweise im September 1929, dass „die Hauptmasse der Bauernwirtschaften noch bei weitem nicht von den KOV erfasst“ worden sei und die vor-
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Auch in den folgenden Jahren rückte man nicht von dem Prinzip ab, dass Sicherungsleistungen für arbeitsunfähige Landbewohner vorrangig von diesen selbst finanziert werden sollten. Dessen ungeachtet lässt sich jedoch nachweisen, dass Vertreter der Regierung zumindest über die Einführung eines staatlich bezuschussten bäuerlichen Rentensystems nachdachten. Auf das Jahr 1925 datierte etwa ein Vorschlag des Volkskommissariats der RSFSR für Sozialversorgung, allmählich zu einer Rentenversorgung für alte Leute überzugehen, die von wirtschaftlich schwachen Höfen stammten. Die entsprechenden Pläne reiften immerhin bis zur Vorbereitung eines Entwurfs, der in das am 15. Oktober 1927 verlesene „Manifest“ des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR einging. Dessen Wortlaut zufolge sollten zuerst jene Bauern mit einer Rente bedacht werden, die das 70. Lebensjahr vollendet hatten. In den folgenden Jahren wollte man die Altersgrenze kontinuierlich senken, so dass sie fünf Jahre später die endgültige Marke von 60 Jahren erreicht haben würde. Die Höhe der sowohl über Unions- als auch lokale Mittel zu finanzierenden Leistung sollte sich dabei auf jährlich 50 R belaufen.506 Das Manifest blieb diesbezüglich jedoch eine Absichtserklärung ohne praktische Umsetzung. Mit dem Beginn der Kollektivierung entschied man sich vorerst gegen die Durchführung einer derartigen Maßnahme507 und gab stattdessen der bäuerlichen vzaimopomošþ’ eine neue Form. Die Reorganisation der sowjetischen Agrarwirtschaft erforderte nach Meinung der politisch Verantwortlichen ebenfalls eine Anpassung der Unterstützung Hilfsbedürftiger, die nun auf zwei Wegen gewährleistet werden sollte: einerseits über direkte Zahlungen von Seiten der Kollektivwirtschaften, andererseits durch die neu zu gründenden „Kassen für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe der Kolchosbauern“ (kassy obšþestvennoj vzaimopomošþi kolchoznikov; im Folgenden: KOVK). Die ersten dieser Einheiten wurden innerhalb der RSFSR in den Don- und Kuban’-Gebieten gegründet, wobei – wie gern betont wurde – die Eigeninitiative der Kolchosbauern selbst den Ausschlag gegeben haben soll. Gegen Mitte des darauf folgenden Jahres belief sich ihre Zahl be-
handenen Mittel nur unzureichend für die Produktionsunterstützung der armen, mittellosen und bedürftig gewordenen Höfe verwendet würden. Vgl. die Verordnung des ZK der KPR(B) vom 6. September 1929 „Über die Stärkung der Bauerngesellschaften für die gegenseitige Hilfe“ (Izvestija CK VKP(b) 1929, Nr. 2627, S. 29). Vgl. auch Lewin, Russian Peasants, S. 63, Anm. 46; Carr, Socialism, S. 466467. Zur Kritik, die 1926 von bäuerlicher Seite an der geringen, von den Bauernkomitees und -gesellschaften ausgehenden Hilfe geübt wurde, vgl. Die Sowjetunion, S. 192193. 506 Vgl. Vtoraja sessija CIK, S. 47. Die Rentenhöhe von 50 R im Jahr entsprach damaligen Berechnungen zufolge dem durchschnittlichen Arbeitseinkommen eines den Sommer über beschäftigten Landarbeiters. Zum Manifest vom 15. Oktober 1927 vgl. z. B. Gljazer, Iz istorii, S. 204; Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 198199. 507 Zur Überarbeitung des Rentenentwurfs zwischen 1927 und 1931 vgl. Gljazer, Iz istorii, S. 204207. Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 199, meint diesbezüglich, dass die Notwendigkeit einer der mittellosen Landbevölkerung vorbehaltenen Rentenversorgung mit der Kollektivierung entfallen sei, da diese die Grenze zwischen der ärmsten und der mittleren Bauernschaft aufgehoben und das Kulakentum beseitigt habe.
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reits auf etwa 15.000.508 Die rechtlichen Grundlagen, Zielsetzungen und Statuten der KOVK präzisierte man auf Unions- und Republikebene in einer Reihe von Normativakten.509 Indem die Unterstützung nun nicht mehr den Einzelbauern, sondern nur noch der kollektivierten Agrarbevölkerung zukommen sollte, schuf man einen zusätzlichen Anreiz zur Mitgliedschaft in den Kolchosen. Durch ihren Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen sollten die KOVK zudem zur Festigung der Artele beitragen. In der größten Unionsrepublik bestätigten das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee und der Rat der Volkskommissare der RSFSR am 13. März 1931 die „Ordnung über die Kassen für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe der Kolchosbauern und Kolchosbäuerinnen“.510 In ihr wurde festgelegt, dass die KOVK auf freiwilliger Basis in den Kollektivwirtschaften gegründet werden konnten, sobald sich die bevollmächtigte allgemeine Kolchosbauernversammlung zu zwei Dritteln für einen solchen Schritt entschied. In diesem Fall würden alle kolchozniki zu Mitgliedern der Kasse, vorausgesetzt, sie hatten ihr 16. Lebensjahr vollendet.511 Innerhalb des Kolchos sollten die KOVK als selbständige Organisationen mit dem Status von juristischen Personen agieren, die sowohl den Organen des Volkskommissariats für Sozialversorgung als auch dem jeweiligen Dorfsowjet untergeordnet waren. Ihre Finanzierung war sowohl über die Beiträge ihrer Mitglieder als auch über Zuweisungen aus dem gesellschaftlichen Fonds des Kolchos und anderen Quellen512 zu sichern. Die in den KOVK Organisierten sollten dann Hilfe erwarten können, wenn sie „aus verschiedenen Gründen (Krankheit, langanhaltender Verlust der Arbeitsfähigkeit, Tod eines arbeitenden Familienmitglieds, Schwangerschaft, Geburt etc.), nicht an der Produktion teilnehmen können und der gesellschaftlichen Hilfe bedürfen“.513
Die Hilfsleistung selbst konnte sich als Geld- oder Naturalbeihilfe oder in der Vermittlung eines Arbeitsplatzes äußern. Die Unterstützung der hilfsbedürftigen Kolchosmitglieder oblag nun, wie erwähnt, nicht allein den KOVK, sondern ebenso den Kollektivwirtschaften selbst. Bereits in dem am 1. März 1930 bestätigten „Musterstatut des landwirtschaftlichen Artels“514 war festgehalten worden, dass sie den arbeitsunfähigen Mitgliedern – ihren Möglichkeiten entsprechend – Hilfsleistungen gewähren sollten. Konkreter wurde in dieser Beziehung die am 17. Februar 1935 vom Rat der 508 Vgl. Mašanov, Razvitie, S. 8; Karcchija, Razvitie zakonodatel’stva, S. 59. 509 Vgl. z. B. die Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR vom 1. Februar 1932 „Über die Kassen für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe der Kolchose“ (SZ SSSR, 1932, Nr. 9, Pos. 51). 510 SU RSFSR, 1931, Nr. 16, Pos. 184. 511 Brunner Westen, Die sowjetische Kolchosordnung, S. 80, sprechen dementsprechend von „einer[r] eigenartige[n] Mischform von freiwilliger und Pflichtversicherung“. 512 Hierzu zählten die Mittel der liquidierten „Bauerngesellschaften“, von den Organen der Sozialversorgung zur Verfügung gestellte Gelder, konfiszierte Besitztümer und aus von den Gerichten auferlegten Strafen stammende Summen. 513 Vgl. die Ordnung vom 13. März 1931 (siehe Anm. 510). 514 SZ SSSR, 1930, Nr. 24, Pos. 255.
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Volkskommissare der UdSSR und dem ZK der KPR(B) bestätigte Neufassung des „Musterstatuts“,515 die bis Ende 1969 Geltung haben sollte und in der die prinzipielle Verpflichtung der Kolchose zur materiellen Unterstützung festgeschrieben wurde. Vorgesehen war nun die Schaffung eines Hilfsfonds für Alte, Invaliden, Waisen, kurzzeitig Arbeitsunfähige und notleidende Rotarmistenfamilien sowie der Unterhalt von Kinderkrippen. Die Höhe der zu diesen Zwecken bereitgestellten Mittel sollte sich dabei auf nicht mehr als 2 % der Bruttoproduktion eines Kolchos belaufen.516 Zudem stand es den Artelen frei, bedürftigen Bauern „Renten“ entweder in Form einer Geldzuweisung, in Gestalt von Naturalien517 oder durch die Anrechnung von Tagewerken518 zukommen zu lassen.519 Sowohl bei der direkten Unterstützung durch den Kolchos als auch bei den Hilfsmaßnahmen der KOVK handelte es sich in der Regel nicht um Altersrenten im eigentlichen Sinne, da die Versorgungsberechtigten meist auch de facto die Fähigkeit zur landwirtschaftlichen Arbeit und zur Selbstversorgung eingebüßt haben mussten.520 Zudem muss betont werden, dass die Kollektivwirtschaften vor 1965 rechtlich keineswegs verpflichtet waren, ihren in Bedrängnis geratenen Mitgliedern auszuhelfen. Die Gewährung von Hilfen war somit an einen positiven Beschluss der jeweiligen Kolchosversammlung oder -leitung gebunden. Tatsächlich konnten Kolchosbauern nur selten von ihnen profitieren. Zu gering waren in der Regel die von den Kollektivwirtschaften erzielten Überschüsse, als dass ihre Hilfsfonds über ausreichende Mittel zur Linderung der oftmals gravierenden Armut ihrer Mitglieder verfügt hätten. Ferner vermag die Annahme, dass sich die Bauernschaft auf der Grundlage mutualistischer Prinzipien gegenseitig effektiv unterstützen konnte, ebenfalls kaum zu überzeugen.521 515 SZ SSSR, 1935, Nr. 11, Pos. 82. 516 Vgl. Michalkeviþ Fogel’, Pensionnoe obespeþenie, S. 56; Gušþin, Razvitie, S. 16; Hülsbergen, Renten, S. 39. 517 Ein Beispiel für eine Naturalrente stellte etwa die 1952 in Kolchosen des Bezirks Mjaksa (Gebiet Vologda) übliche Praxis dar, betagten Mitgliedern monatlich Brennholz sowie 10–12 kg Getreide zur Verfügung zu stellen. Vgl. Dimoni, Socialތnoe obespeþenie. 518 Das Tagewerk (trudoden’) war bis 1966 jene Normeinheit, in der die Arbeitsleistung der kolchozniki gemessen wurde. Dem ihm zugrundeliegenden Gedanken nach handelte es sich hierbei um die – je spezifische Tätigkeit berechnete – Arbeitsmenge, die ein durchschnittlich ausgebildeter Bauer im Verlaufe eines Tages zu leisten imstande war. Vgl. Art. trudoden’. 519 Die Bereitstellung von Leistungen aus dem Hilfsfonds stellte nicht zwangsläufig einen Sicherungsmodus dar, der von den KOVK zu trennen wäre. Es war sogar im Sinne des Gesetzgebers, dass sich beide Unterstützungsformen ergänzten. Bereits in der Ordnung vom 13. März 1931 (siehe Anm. 510) waren unter den Finanzquellen der KOVK erwähntermaßen ebenfalls Zuweisungen aus dem Gemeinschaftsfonds des jeweiligen Kolchos aufgeführt worden. Und auch in der Verordnung vom 1. Februar 1932 (siehe Anm. 509) hieß es, dass „die Mittel der Kassen durch Abführungen der Kolchose [...] in einer Höhe, die durch eine allgemeine oder eine Delegiertenversammlung des Kolchos [...] bestimmt wird, ergänzt werden“ (Ziff. 6). 520 Fälle, in denen KOVK zu Beginn der 1940er Jahre Personen mit dem Erreichen eines Alters von 60–65 Jahren automatisch eine Hilfsleistung zugebilligt hatten, wurden in der Presse verurteilt. Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 103. 521 So scheint einiges für Stephan Merls Vermutung zu sprechen, dass die Schwäche der KOVK mit zu den hohen Opferzahlen der Kollektivierung beigetragen habe: „[...] allein der Staat
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Eine skeptische Einschätzung des Maßes, in dem arbeitsunfähige Bürger auf dem Land gegen existentielle Risiken abgesichert waren, findet sich auch in der sowjetischen Fachliteratur. So konstatiert Ende der 1950er Jahre N. Dubynin, Vorsitzender der für das Gebiet Stalingrad zuständigen Abteilung der Sozialversorgung, dass die hier seit 1931 gegründeten KOVK „in der Regel schwach arbeiteten“.522 Und V. A. Aþarkan weist darauf hin, dass sich der Hilfsfonds der Kolchose z. B. in den Jahren 1937–1939 im Mittel auf lediglich 1 % der Bruttoproduktion belaufen habe. Zudem habe man meist nur adäquate Arbeitsstellen vermitteln können. Lediglich diejenigen Alten, deren Einkünfte unterhalb des Existenzminimums gelegen hätten, seien mit einer periodischen Versorgungsleistung bedacht worden.523 Insgesamt soll sich die Zahl solcher Leistungsempfänger 1935 auf nicht mehr als 70.000 Menschen belaufen haben.524 Zur Entwicklung der sozialen Sicherung auf dem Lande in den Jahren nach 1939 bietet die Sekundärliteratur kaum Informationen. L. S. Gljazers Verweis darauf, dass die UdSSR vor dem Krieg mit den „dringenden Aufgaben der Schaffung einer mächtigen Industrie und der Stärkung der Abwehrkraft“ befasst gewesen sei, während die Periode nach 1945 „enorme Mittel für den Wiederaufbau der Wirtschaft“ verlangt habe,525 legt jedoch nahe, dass die diesbezügliche Reformtätigkeit gegen Null tendierte. In der Rückschau räumen auch sowjetische Fachleute ein, dass sich die von den Artelen durchgeführten Maßnahmen zur Absicherung ihrer Mitglieder vor 1953 bescheiden ausnahmen und vor allem auf die Gewährung einmaliger Unterstützungen beschränkten.526 Es ist deshalb anzunehmen, dass ein beträchtlicher Teil der arbeitsunfähigen Alten des Kolchossektors nicht über die notwendigen Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts verfügte.527
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[hatte] zu verantworten, dass das bisherige Selbsthilfesystem der Bauern, die bei den Landgemeinden vorgeschriebenen Kassen für die gegenseitige Hilfeleistung, nicht mehr funktionierte. [...] dieses System setzte voraus, daß die Mehrheit der Bauern in der Lage war, sich selbst zu versorgen. Wenn fast alle hungerten, gab es nichts mehr umzuverteilen. [...] Es ist zu vermuten, dass Arbeitsunfähige unter den Opfern der Hungersnot von 193234 überproportional vertreten waren.“ Merl, Bauern, S. 358359. Vgl. Dubinin, Naša objazannostތ, S. 32, dem zufolge sich diese Situation erst ab Beginn der 1950er Jahre verbesserte. Vgl. Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 200. Vgl. Pravda vom 7. August 1937, S. 4. In etwa derselben Größenordnung – 65.700 – bewegte sich die Zahl der betagten Kolchosbauern, die zu jener Zeit in der Russischen Föderation von den KOVK unterstützt wurden. Die Summe der hier aufgewendeten Mittel belief sich auf etwa 800.000 R, pro Person folglich auf ca. 12,18 R. Vgl. Aleksanov, Razvitie, S. 23. Gljazer, Iz istorii, S. 207. Vgl. Realތnye dochody, S. 138. Untersuchungen, die die Organe der Sozialversorgung Anfang der 1950er Jahre etwa im Gebiet Vologda durchführten, zeigten, dass „alte und kranke, oft auch alleinstehende, Menschen (in der Regel in einem Alter von über 70 Jahren; die älteste ,Bettlerin ދzählte 103 Jahre) gezwungen waren, um Almosen zu bitten. In jedem Bezirk zählte man zwischen zehn und fünfzig solcher Menschen.“ Dimoni, Socialތnoe obespeþenie.
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2.2.1.2. Erste Ansätze einer Kolchosrentenversorgung Im Zusammenhang mit der Rentenreform von 1956 wurden ebenfalls Maßnahmen zur Verbesserung der Alterssicherung der kolchozniki eingeleitet. Während der Ausarbeitung des Gesetzes über die staatlichen Renten stellte sich u. a. die Frage, wie mit den alten und arbeitsunfähigen Mitgliedern der Artele verfahren werden sollte. Handlungsbedarf sah in diesem Zusammenhang auch der Ministerrat der UdSSR, der das Landwirtschaftsministerium am 15. Februar 1955 mit der Vorbereitung von Schritten zur Verbesserung der materiellen Situation von Invaliden, Alten und Waisenkindern in den Kollektivwirtschaften beauftragte. Die entsprechenden Vorschläge sollten die weitere Entwicklung der KOVK sowie die Einrichtung von Alten-, Invaliden- und Waisenheimen thematisieren.528 Zur Schilderung seiner diesbezüglichen Überlegungen erstellte der Stellvertretende Minister Vladimir V. Mackeviþ eine Dokumentation „Über die Praxis der materiellen Versorgung der invaliden Kolchosbauern sowie der Alten und Waisenkinder in den Kolchosen“529, die ein ungeschöntes Bild von der Lage der betagten Artelmitglieder zeichnete: Ein großer Teil von ihnen litt unter bitterer Armut. Speziell für Betagte seien Hilfen oft nicht vorgesehen. Die Kassen würden vielerorts nicht existieren. So fehlten sie Mackeviþ zufolge in 840 weißrussischen Kolchosen sowie in mehr als einem Drittel aller Artele der RSFSR. Im Gebiet Omsk verfüge nur die Hälfte aller Einheiten, im Gebiet Moskau nur 500 von insgesamt 1.386 Kolchosen über eine solche Institution. Und auch dort, wo es sie gebe, würden sie häufig nur mangelhaft funktionieren oder untätig sein: In der Weißrussischen SSR sei nur ein Fünftel aller Artelmitglieder in einer Kasse organisiert. Schlecht bestellt sei es auch um die Hilfsfonds, denen die Kollektivwirtschaften in der Regel weit weniger als die maximal möglichen 2 % ihrer Bruttoproduktion überlassen würden. Vor diesem Hintergrund verwundere es nicht, dass sie von vielen Kolchosen nicht für die Bezuschussung der KOVK verwendet würden. Dies führte laut Mackeviþ dazu, dass die Kassen ihre Tätigkeit oft einstellen mussten. Häufig komme es zudem dazu, dass die Kontrolle über die vorhandenen Mittel nicht bei den Kassen selbst, sondern stattdessen bei der jeweiligen Kolchosführung liege, was der ursprünglich intendierten „Selbständigkeit“ Ersterer klar zuwiderlaufe. In Ermangelung ausreichender Sicherungsmaßnahmen blieb den Alten und Invaliden, die dazu noch imstande waren, nichts anderes übrig als, solange es irgend möglich war, weiterhin für den Kolchos zu arbeiten. Dass dies eine massenhafte Erscheinung war, legt das Beispiel der Weißrussischen SSR nahe, in der dem Stellvertretenden Minister zufolge 1954 zwei Drittel von insgesamt 649.500 alten und unter körperlichen Einschränkungen leidenden kolchozniki ihre Arbeit fortgesetzt und dabei im Mittel 100 Tagewerke530 erarbeitet hatten. Ein Teil des 528 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, l. 119. 529 Ebd., ll. 123127. Vgl. auch Chandler, Shocking Mother Russia, S. 41. 530 100 trudodni entsprachen der vielerorts geltenden Mindestanforderung. Vgl. hierzu die Verordnung des Rats der Volkskommissare der UdSSR und des ZK der KPR(B) vom 13. April
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verbliebenen Drittels sei – auf dem Papier – nicht auf die Hilfestellung durch die Gemeinschaft angewiesen gewesen, da er über erwachsene Kinder verfügt habe, die in staatlichen Betrieben und Dienststellen arbeiteten und gesetzlich zur Versorgung ihrer Eltern angehalten waren. Allerdings wurde dieser Verpflichtung, so Mackeviþ, in vielen Fällen nicht nachgekommen. Zu der Tatsache, dass die Lage von alten und invaliden Personen überaus prekär sei, trage schließlich auch das Fehlen von Pflegeeinrichtungen auf dem Lande bei: „In den meisten Republiken werden keine Kolchos- und Interkolchosheime für betagte Kolchosbauern, für Invaliden, die einen Unfall bei der Arbeit im Kolchos erlitten haben, sowie für Kindheitsinvaliden [...] organisiert. Infolgedessen sind die Arbeitsinvaliden und die alleinstehenden alten Kolchosbauern in vielen Kollektivwirtschaften materiell ganz und gar nicht versorgt. So gibt es in den Gebieten und [autonomen] Republiken der RSFSR nur in wenigen Bezirken Kolchos- und Interkolchosheime [...] mit [insgesamt] ungefähr 1.000 Plätzen. In der Weißrussischen SSR existiert kein einziges Kolchos- oder Interkolchosheim für betagte Kolchosbauern.“531
Schließlich verwies Mackeviþ auch darauf, dass das schlechte Versorgungsniveau eine Flut von Briefen und Beschwerden hervorgerufen habe, in denen Betroffene sich über die lediglich formalistische Haltung der Kolchosleitungen und örtlichen Organe gegenüber ihrer Notlage beklagten. So interpretierte etwa ein Bauer namens Bikbulatov aus dem Frunze-Kolchos (Baschkirische ASSR) die fehlende Unterstützung als ein Zeichen des Undanks für die von ihm in der Vergangenheit unter Opfern erbrachte Arbeitsleistung: „Seit der Gründung des Kolchos habe ich als Schmied gearbeitet. Im Jahr habe ich 500 bis 600 Tagewerke erarbeitet und mehrere junge Kolchosbauern in dem Handwerk unterwiesen. Bei dieser Arbeit habe ich mein Gehör verloren und mich verstümmelt. Und nun bin ich 67 Jahre alt und kann nicht mehr arbeiten. Im Alter bin ich schwach, aber der Kolchos leistet keinerlei Hilfe.“
Ähnlich lautete auch die Klage eines V. D. Cholodnyj aus dem im Gebiet Semipalatinsk (Kasachische SSR) gelegenen Kolchos „Krasnye gornye orly“: „In unserer Kollektivwirtschaft ist die Lage derart beschaffen, dass, sobald ein Kolchosbauer einmal für lange Zeit erkrankt, er niemandem mehr von Nutzen ist. Von den Kassen für die gegenseitige Hilfe erhalten Kranke keine Hilfe. Bis 1954 erhielten alte Kolchosbauern 12 kg Brot, hin und wieder auch Speck. In diesem Jahr wird den Betagten, die Kinder haben, die Hilfe verweigert. Bei uns gibt es Alte, die 1920 in der Kommune ihren gesamten Besitz vergesellschaftet haben, nun nicht mehr arbeiten können und denen keine Unterstützung zuteilwird.“532
Die Vorschläge des Landwirtschaftsministeriums zur Behebung der geschilderten Missstände wichen nicht grundlegend von der bis dato gängigen Praxis ab. In seinem Entwurf zu einer Regierungsverordnung sollten die Deputiertenräte der ver1942 Nr. 508 „Über die Anhebung des für Kolchosbauern verbindlichen Minimums an Tagewerken“ (SP SSSR, 1942, Nr. 4, Pos. 61). 531 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, l. 125. 532 Ebd., l. 126.
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schiedenen Hierarchieebenen dazu verpflichtet werden, bei der Organisation von Kolchoskassen behilflich zu sein. Ferner war eine Stärkung der finanziellen Grundlage der KOVK vorgesehen: Den Kolchosen wurde „empfohlen“533, nicht weniger als 1 % der Bruttoproduktion für den Hilfsfonds zu reservieren. Hiervon wiederum sollten mindestens 75 % den Kassen überlassen werden. Und die Ministerien der Unionsrepubliken für Sozialversorgung sollten die korrekte Verwendung der Mittel kontrollieren.534 Die Verordnung wurde in dieser Form nicht realisiert, wobei sich die näheren Ursachen hierfür nicht rekonstruieren lassen.535 Im Frühjahr des folgenden Jahres unternahm man allerdings auf Unionsebene einen Schritt, der tatsächlich zur Integration der älteren und arbeitsunfähigen Kolchosbevölkerung in die Rentenversorgung beitrug: Am 6. März 1956 verabschiedeten das ZK der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR die Verordnung Nr. 312 „Über das Statut des landwirtschaftlichen Artels und die weitere Entwicklung der Initiative der Kolchosbauern bei der Organisation der Kolchosproduktion und der Verwaltung der Kolchosangelegenheiten“.536 Sie motivierte die bäuerlichen Genossenschaften dazu, das von ihnen angenommene Kolchosstatut „unter Berücksichtigung der örtlichen, konkreten Bedingungen des Kolchos in einigen Punkten [...] selbständig zu ändern“. Dadurch beabsichtigte die sowjetische Führung, u. a. dem Umstand entgegenzuwirken, dass ein immer noch großer Teil der Bauern überwiegend im Rahmen ihrer privaten Nebenwirtschaft tätig war.537 Davon abgesehen ermöglichte die neugeschaffene Freiheit zur Setzung eigener Ziele den Kolchosen auch die Einrichtung spezieller Fonds, über die die Rentenauszahlung zu finanzieren war.538 Nun begannen sowjetische Kollektivwirtschaften in Eigenregie damit, ihren arbeitsunfähigen Mitgliedern monetäre oder Naturalrenten zu erteilen.539 Zurückzuführen war diese Entwicklung nicht zuletzt auf den wirtschaftlichen Auf-
533 Der für die Adressierung der Kollektivwirtschaften durch die Partei- oder Staatsführung charakteristische Begriff der „Empfehlung“ suggeriert zwar einen gewissen Respekt vor der Eigenständigkeit der Kolchosgenossenschaften. Tatsächlich handelte es sich hierbei jedoch um verbindliche Rechtsnormen. Vgl. Bilinsky, Aktuelle Rechtsprobleme, S. 6768. 534 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, ll. 128130. 535 Möglich erscheint, dass das Projekt an dem zu seiner Umsetzung notwendigen Personalbedarf scheiterte. Murav’eva rechnete vor, dass eine angemessene Betreuung der KOVK die Einstellung von beinahe 3.000 zusätzlichen Mitarbeitern der Sozialversorgung erfordern würde. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 2663, l. 68. 536 Istorija kolchoznogo prava, S. 449452. 537 Dem Kolchos wurde nun die Möglichkeit eingeräumt, die Größe des seinen Mitgliedern zur Verfügung stehenden Hoflandes von dem Maße abzuleiten, in dem der Einzelne an der Kolchosarbeit teilnahm. Vgl. Kiralfy, The History, S. 213; Beznin, Dvor, S. 8283; Wädekin, Sozialistische Agrarpolitik, S. 229. 538 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, ll. 277278; Mašanov, Razvitie, S. 10; Aleksanov, Razvitie, S. 25. Darüber hinaus verlor auch die Vorschrift, dass Tagewerke nur für tatsächlich geleistete Arbeitstage angerechnet werden durften, ihre Gültigkeit. Von nun an war es möglich, sie auch arbeitsunfähigen Alten, Invaliden oder Kranken zuzuschreiben. Vgl. Pankratov, Novoe, S. 41. 539 Vgl. Zajcev Rašþikov, Social’noe obespeþenie, S. 35.
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schwung, den die Kolchose ab 1953 erfuhren.540 Hiermit verbunden erfuhren auch die Realeinkommen der Kolchosbauern eine beträchtliche Entwicklung, wobei der sich aus der Kolchosarbeit ergebende Verdienst stärker anstieg als die Erträge aus der Bearbeitung des Hoflandes (Tab. 2f).
Tab. 2f: Die Einkommensentwicklung sowjetischer Kolchosmitglieder 1953–1967 (1953 = 100) Einkünfte der Kolchosmitglieder Vergütung der Arbeit für den Kolchos Erträge aus der privaten Nebenwirtschaft
1953 100
1958 135
1960 125
1963 132
1965 155
1967 169
100
177
164
198
261
311
100
118
109
105
113
112
Quelle: Bronson – Krueger, Revolution, S. 223.
Diese Entwicklung der Einkommen lässt darauf schließen, dass der Umfang, in dem in den Kolchosen Ressourcen für die materielle Versorgung Hilfsbedürftiger zur Verfügung standen, ebenfalls zunahm: Die Hilfsfonds profitierten von der wachsenden Rentabilität der Artele. Ebenso ist davon auszugehen, dass die steigenden Einkommen der kolchozniki in einen Zuwachs der KOVK-Einnahmen mündeten. Darüber hinaus wirkte offensichtlich auch die 1956 durchgeführte Staatsrentenreform als Katalysator bei der Entwicklung der Absicherung der Kolchosbauern. Ihre Bestimmungen richteten sich zweifelsohne vorrangig an ehemalige Arbeiter, Angestellte sowie andere „der Sozialversicherung unterliegende“ Werktätige und besaßen somit nur für eine Minderheit der Artelmitglieder Relevanz.541
540 Stalins Nachfolger führten eine Reihe von Maßnahmen durch, die den Lebensstandard der Kolchosbauern und die Prosperität der Kollektivwirtschaften positiv beeinflussten. So verringerte man die Besteuerung des Privatlandes sowie die Menge der zu erwirtschaftenden Naturalabgaben. Des Weiteren wurden die staatlichen Erzeugerpreise angehoben und Zahlungsrückstände erlassen. Im Ergebnis stiegen die Einnahmen der Kolchose deutlich an. Für die kolchozniki lohnte es sich wieder, in die private Nebenwirtschaft zu investieren, um durch den Verkauf der hier erzeugten Produkte die eigene materielle Situation zu verbessern. Der Sowjetstaat profitierte von dieser – im Vergleich zum Neulandprogramm – überaus kostengünstigen, „mit Abstand erfolgreichste[n] und wohl auch wichtigste[n] Reformmaßnahme der Ära Chrušþev“ und erlebte einen Produktionsanstieg, der wohl die Hälfte des bis 1958 zu verzeichnenden Agrarwachstums ausmachte. Merl, Entstalinisierung, S. 213214. Vgl. auch Bronson Krueger, The Revolution, S. 218219; Nove, Die Agrarwirtschaft, S. 353356; Dolgov, Kolchoznyj stroj, S. 15. 541 Hierbei handelte es sich in der Regel nicht um Altersrentner, sondern vor allem um invalide Bauern, deren Versehrtheit auf den Militäreinsatz zurückzuführen war, und ihre Hinterbliebenen. Vgl. Ziff. 1 der Staatsrentenordnung von 1956. Vgl. auch Babkin u. a., Kommentarij, S. 34; Naznaþenie gosudarstvennych pensij, S. 5455. Anfang 1962 belief sich der Anteil der
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Der Rest der Kolchosbevölkerung war von den Segnungen des Rentengesetzes ausgenommen, da die in einer Kollektivwirtschaft absolvierten Arbeitsjahre keine Relevanz für die Leistungsberechtigung besaßen. Über die Gründe dafür, dass der Großteil der ländlichen Sowjetbürger von dieser Reform unberücksichtigt blieb, kann nur spekuliert werden. So ist hier auf die Tatsache zu verweisen, dass die Kolchose nicht der verstaatlichten Wirtschaft zugerechnet wurden und ihre Mitglieder deshalb keinen Anspruch auf die Leistungen aus den gesellschaftlichen Verbrauchsfonds geltend machen konnten.542 Auch kann die Verweigerung der staatlichen Verantwortungsübernahme für die sich in Not befindenden Arbeitsunfähigen auf die ideologisch begründete Diskriminierung des Kolchos als einer „sehr niedrige[n], unreife[n], vorübergehende[n] und [zukünftig] der Verstaatlichung unterliegende[n]“ Organisationsform zurückgeführt werden.543 Diese Annahme erscheint jedoch angesichts des Umstandes, dass es bereits parallel zur Vorbereitung des Staatsrentengesetzes ernsthafte Überlegungen gab, wie die materielle Versorgung der kolchozniki neu geregelt werden könnte,544 als zu pauschal. Als wichtigste Ursache dafür, dass eine grundlegende Verbesserung der materiellen Situation der Kolchosbevölkerung noch nicht in Angriff genommen wurde, ist wohl das Fehlen der für eine große Lösung notwendigen Mittel anzusehen. Vor dem Hintergrund der mit dem Staatsrentengesetz verbundenen Finanzlast mochte es den politisch Verantwortlichen schlechterdings unmöglich erscheinen, auch die Versorgung der alten und arbeitsunfähigen kolchozniki, deren Zahl sich Ende 1956 auf ca. 11.753.900 Menschen belief,545 staatlich zu bezuschussen. Gleichzeitig war man vor dem Hintergrund der demographischen Situation in den Artelen im hohen Maße auf die Arbeitskraft der Alten angewiesen. Ein Interesse, diese Bürger in den Ruhestand zu schicken, existierte – anders als in Bezug auf die betagten Arbeiter und Angestellten – folglich nicht. Zur Absicherung gegen den Verlust der Arbeitsfähigkeit blieben die kolchozniki also weiterhin auf eigene Mittel und die Ressourcen ihrer Artele angewiesen. Diese Selbstverantwortlichkeit unterstrich N. S. Chrušþev, als er im Juli 1956 an einer Konferenz der landwirtschaftlichen Beschäftigten des Ural-Gebiets teilnahm: „Einige Kolchosbauern mögen sagen: Die Renten betreffen nur die Arbeiter und Angestellten, aber nicht uns, die Kolchosbauern. Ihr Genossen Kolchosbauern [...] seid Teilhaber eurer
542 543 544 545
Kolchosbauern, die eine Staatsrente erhielten, in der RSFSR mit 1,2 Mio. Bürgern auf immerhin etwa 26,6 % aller arbeitsunfähigen Artelmitglieder. Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 21. Vgl. Rimlinger, Welfare Policy, S. 292. Rogalina, Kolchozy, S. 253. Allgemein zur Diskriminierung der Kolchosbevölkerung in der UdSSR vgl. Wädekin, Führungskräfte, S. 4184. Siehe unten. Vgl. Dolgov, Kolchoznyj stroj, S. 19. Eine republikspezifische Differenzierung dieser Zahl findet sich in den Archivbeständen der Briefabteilung des Obersten Sowjets der UdSSR. Demnach belief sich die Zahl der alten und arbeitsunfähigen Kolchosbauern etwa in der RSFSR auf 5.305.900, in der Ukrainischen SSR auf 3.444.000, in der Weißrussischen SSR auf 755.400, in der Usbekischen SSR auf 448.200 und in der Georgischen SSR auf 377.800 Personen. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, l. 238.
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Das System der allgemeinen Altersrenten Kooperativwirtschaften. Wenn ihr es erreicht, dass jeder Kolchos gut arbeitet, seine Wirtschaft entwickelt, dann werden die Kolchose für die betagten und invaliden Mitglieder die besten Bedingungen, ein versorgtes Alter schaffen.“546
Die Zäsur, die das Jahr 1956 zweifelsohne auch für die Erteilung von Kolchosrenten bedeutete, erklärt sich denn auch vor allen Dingen aus dem Vorbildcharakter der Staatsrentenreform.547 Eine ganze Reihe von Kollektivwirtschaften machte sich nun daran, ihren Mitgliedern in Eigenregie Renten zu erteilen, und orientierte sich bei der Festsetzung der Bezugsvoraussetzungen an den für die Arbeiter und Angestellten geltenden Regelungen, wofür die jeweiligen Kolchosstatuten im Einklang mit der Verordnung vom 6. März 1956 ergänzt wurden. In mehreren Fällen verabschiedeten speziell die ökonomisch weiter entwickelten Artele auch eigene Verfahrensordnungen zur Rentenfestsetzung und -auszahlung.548 Hierbei handelte es sich selbstredend nicht um eine allein von den einzelnen Kolchosen ausgehende Entwicklung. Sie sollte durch den Einsatz der Sozialversorgungsorgane unterstützt werden, die „alle Kräfte daran zu setzen haben, dass in sämtlichen Kolchosen des Landes Fonds für die Sozialversorgung geschaffen werden, und hierzu die landwirtschaftlichen Verwaltungen und die Exekutivkomitees der Bezirksdeputiertenräte der Werktätigen heranziehen sollen“.549
Schon bald versuchte man auch, der kollektivwirtschaftlichen Rentenpolitik eine gleichförmige Gestalt zu geben. In der Zeitschrift Social’noe obespeþenie wurde zu diesem Zweck etwa die „Verfahrensordnung über die Festsetzung und Auszahlung der Renten für die Kolchosbauern des landwirtschaftlichen Artels Sergo“, eines Kolchos im Gebiet Andižan (Usbekische SSR), veröffentlicht, wodurch man ein Exempel schuf, an dem sich viele Kollektivwirtschaften dieser Unionsrepublik orientieren sollten.550 Zudem verabschiedete man ab 1961 zuerst in einigen Bezirken, dann auch auf der Ebene einzelner Verwaltungsgebiete und -regionen „Musterordnungen“, die oft von den Organen der Sozialversorgung vorbereitet worden waren und einheitliche Regelungen zu den Qualifikationsvoraussetzungen, Berechnungsmodalitäten etc. vorschlugen.551 Der Prozess der Vereinheitlichung der
546 Sel’skoe chozjajstvo vom 31. Juli 1956, zit. bei: Pankratov, Novoe, S. 35. Vgl. auch Minkoff Turgeon, Income Maintenance. 547 Zum prägenden Charakter des Staatsrentengesetzes vgl. Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 42. 548 In Kolchosen, die vor einem bescheideneren materiellen Hintergrund agieren mussten, entschieden oft die allgemeinen Mitgliederversammlungen darüber, ob einem Bauern eine regelmäßige Unterstützung zuteilwerden sollte. Zwar waren die Bezugsvoraussetzungen in diesem Falle nicht rechtlich fixiert, doch ließ man sich auch hier bei der Entscheidungsfindung von Kriterien wie der Zahl der absolvierten Arbeitsjahre, der Qualität des Arbeitsbeitrags, dem Alter und der Bedürftigkeit leiten. Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 22. 549 Derevnin, Pensionnoe obespeþenie, S. 32. 550 Vgl. Položenie o porjadke, S. 5256. Vgl. auch Aleksanov, Razvitie, S. 25. 551 1963 existierten solche Empfehlungen u. a. bereits in den Gebieten Moskau, Tambov, Kujbyšev, Ivanovo, Orenburg und der Tatarischen ASSR. Zu diesem Zeitpunkt hatten auch Sowjetrepubliken wie die Usbekische SSR, die Moldawische SSR und die Lettische SSR eine
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Rentenbestimmungen, der im Kolchosrentengesetz gipfeln sollte, nahm hier seinen Anfang. Die in den Kollektivwirtschaften am weitesten verbreitete Form der Rentenversorgung war die Alterssicherung, was freilich vor allem darauf zurückzuführen war, dass die Betagten die Mehrheit der Arbeitsunfähigen stellten.552 Die für die Leistungsart geltenden Bezugskriterien machen die Anlehnung an das Gesetz über die staatlichen Renten besonders offensichtlich: Von besonderer Relevanz waren auch hier Lebens- und Dienstalter. So entschied sich allem Anschein nach eine Mehrheit der Kolchose dafür, dass männliche Kolchosbauern 60 Jahre, weibliche 55 Jahre alt zu sein hatten, um einen Anspruch auf ein Ruhestandsgeld zu erlangen.553 Häufig lag die betreffende Altersgrenze jedoch auch um fünf, selten hingegen sogar um zehn Jahre über dieser Marke. Der staž, als Gesamtdauer der im Kolchos geleisteten Arbeit interpretiert, sollte sich wie bei den staatlichen Ruhestandsgeldern meist auf 25 (Männer) bzw. 20 Jahre (Frauen) belaufen, wobei es auch hier zu beträchtlichen Abweichungen kommen konnte.554 Es spricht für die Probleme, die in den Kolchosen auf dem Gebiet der Arbeitsmoral herrschten, dass die „Arbeitsjahre“ allerdings oft nur dann als dienstalterrelevant akzeptiert wurden, wenn ein Minimum an individuellem Einsatz vorlag.555 Darüber hinaus wurde meist nur jene Zeit anerkannt, die direkt in jener Kollektivwirtschaft gearbeitet worden war, in der man nun die Rente beantragte.556 Somit trugen die Regelungen
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für die Kolchose ihres Territoriums geltende Musterordnung erlassen. Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 2324. Während ärmere Artele in der Regel nur eine einzelne Leistung anboten, konnten die wohlhabenderen mitunter neben Alters- und Invalidenrenten auch Hinterbliebenen- und sogar persönliche Renten erteilen. Vgl. ebd., S. 24. Hier bietet die sowjetische Fachliteratur kein einheitliches Bild. Von 60 (Männer) bzw. 55 Jahren (Frauen) als der am häufigsten gewählten Altersgrenze sprechen z. B. Ruskol, Materialތnoe obespeþenie, S. 14, Glavnoe napravlenie, S. 5, sowie die Redaktion der Social’noe obespeþenie in Reaktion auf Orlov, Verno. Aleksanov, Razvitie, S. 26, Mašanov, Sostojanie, S. 25, und Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 204, vertreten hingegen die Auffassung, dass die meisten Kolchose sich in dieser Frage auf 65 bzw. 60 Jahre geeinigt hätten. Die letzten drei Autoren schrieben jedoch allesamt zu einem Zeitpunkt, als das Kolchosrentengesetz, das selbst ein Alter von 65 bzw. 60 Jahren voraussetzte, bereits verabschiedet worden war. Deshalb mag sie die Intention geleitet haben, für den Status quo ante eine Markierung zu finden, welche die Kolchosrentenreform nicht zu einem Rückschritt im Bereich der Qualifikationskriterien werden ließ. Folglich erscheint die erstere und zeitnahe Aussage überzeugender. In einzelnen Kolchosen des Gebiets Kurgan hatte man lediglich mindestens zehn Jahre gearbeitet zu haben, während beispielsweise die Musterordnung für die Kollektivwirtschaften des Gebiets Ivanovo für im Ackerbau beschäftigte und unqualifizierte Mitarbeiter einen kolchoznyj staž von 30 bzw. 25 Jahren vorsah. Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 2526. So musste, um ein Beispiel zu nennen, ein Antragsteller im Kolchos „Znamja Oktjabrja“ (Gebiet Vladimir) hierfür mindestens 270-mal im Jahr zur Arbeit erscheinen und dabei nicht weniger als 300 Tagewerke erarbeiten. Leistete er weniger, aber immer noch mindestens 50 % dieser Vorgabe, wurde ihm ein halbes Jahr angerechnet. Vgl. Vlasov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 44. Vgl. Pankratov, Novoe, S. 39. Allerdings sahen manche Kollektivwirtschaften die Zahlung von Teilrenten bei unvollständigem staž vor. Vgl. Zajcev Rašþikov, Social’noe obespeþenie, S. 36.
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zur Unterstützung der Alten und Invaliden zu jener faktischen „Schollenbindung“ bei, die anderweitig bereits durch das restriktive, für die kolchozniki geltende Passsystem557 erzeugt wurde. Ein weiteres, für viele Kolchosrentenbestimmungen typisches Merkmal stellte einen markanten Unterschied zum Inhalt des Gesetzes vom 14. Juli 1956 dar. Bei der Berechnung der Leistungshöhe wurde oft auch die aktuelle Situation des Antragstellers berücksichtigt. Je nach dem Grad, in dem der Einzelne als bedürftig eingeschätzt wurde, und in Abhängigkeit davon, ob ihm alternative Versorgungsquellen zur Verfügung standen, konnte sich die Kolchosrente mindern oder steigern. Der Rentenanspruch existierte nur dann, wenn der Einzelne sich tatsächlich selbst nicht mehr zu helfen wusste. Folglich handelte es sich bei diesen frühen Kolchosrenten zu einem guten Teil um nach dem Fürsorgeprinzip gewährte Leistungen.558 Ihre Höhe variierte beträchtlich in Abhängigkeit von den örtlichen Voraussetzungen. Am oberen Ende des Spektrums waren Artele wie die Kolchose „Pobeda“ (Region Krasnodar) und „Kommunistiþeskij Majak“ (Region Stavropol’) angesiedelt, die ihren Mitgliedern 1964 im Mittel Leistungen von 20 R zahlen konnten.559 Als „ziemlich hoch“ stuften Mitarbeiter des Moskauer Zentralinstituts für die Begutachtung der Arbeitsfähigkeit und die Organisation der Invalidenarbeit (CIƠTIN), die 1963 einen Bericht über die kolchosinterne Rentenversorgung im Gebiet Orenburg erstellten, auch das Leistungsniveau in den Kollektivwirtschaften des dortigen Bezirks Sol’-Ileck ein. Die durchschnittliche Rentenleistung belief sich hier auf 11 R, wobei manchen Artelmitgliedern jedoch auch Beträge von 35 bis 45 R ausgezahlt wurden.560 Die kolchosinternen Rentenbestimmungen besaßen eine disziplinarische Ebene, die weitaus stärker ausgeprägt war als im Rahmen der Staatsrentenversorgung, und den Einzelnen in eine deutliche Abhängigkeit von der Kolchosgemeinschaft setzte. Konnte der angehende Staatsaltersrentner – günstigenfalls – Gehaltsbescheinigungen vorlegen, die seinen Arbeitseinsatz beurkundeten, so sah sich der betagte kolchoznik nicht selten mit der Notwendigkeit konfrontiert, die Kolchosversammlung oder -leitung über seinen zurückliegenden Einsatz urteilen zu lassen. Ein Beispiel für ein solches Arrangement bot der Kolchos „Rossija“ (Gebiet Novgorod), dessen Parteisekretär A. P. Vlasov in der Social’noe obespeþenie über die
557 558 559 560
Siehe hierzu auch Abs. 5.3. Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 2930; Pankratov, Novoe, S. 3839. Vgl. Glavnoe napravlenie, S. 5. Auch solche Durchschnittsleistungen konnten unter anderen klimatischen Voraussetzungen als äußerst niedrig wahrgenommen werden. So wurden 1958 in der Jakutischen ASSR monatliche Kolchosrenten von im Mittel 18,17 R ausgezahlt, die noch durch einmalige Naturalbeihilfen ergänzt wurden. Vermutlich, weil die privaten Nebenwirtschaften unter den extremen klimatischen Bedingungen kaum Erträge abwarfen, fiel das Versorgungsniveau der Alten und Arbeitsunfähigen derart niedrig aus, dass es als zusätzliche Belastung für die in überdurchschnittlicher Weise unter Infektionskrankheiten leidende Kolchosbevölkerung dieser Gegend wahrgenommen wurde. Vgl. RGASPI, F. 556, op. 23, d. 90, ll. 9092 u. 96.
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Gründe dafür informierte, dass die hier ausgezahlten Leistungen unterschiedlich hoch ausfallen konnten: „Die allgemeine Versammlung hat beschlossen, dass jedes Artelmitglied, das das Rentenalter erreicht und aktiv am Kolchosleben teilgenommen hat, 100 R* erhält. Im Kolchos sind nämlich einige Hundert Menschen vereint. Der eine arbeitet gut, der andere ein bisschen schlechter. [...] Kommt nun für diese Leute der Zeitpunkt, die Rente anzutreten, dann schaut die Leitung, wer auf welche Weise gearbeitet hat. Wer gut gearbeitet hat, für den werden 100 R*, wer ein wenig schlechter gearbeitet hat, 60 R* oder sogar nur 40 R* festgesetzt. Wir denken, dass ein solcher Unterschied eine große erzieherische Bedeutung hat.“561
Speziell in den weniger prosperierenden Kolchosen kam es hingegen vor, dass man den Arbeitsunfähigen nur einen Pauschalbetrag zubilligte. Beispiele für eine derartige „gleichmacherische“ Herangehensweise fanden sich in der Udmurtischen ASSR: Im Kolchos „Rodina“ bezogen Mitglieder 1961/62 eine monatliche Altersrente von fünf Tagewerken; in dem – im selben Bezirk Možga gelegenen – Artel „Traktor“ erteilte man sogar nur drei Tagewerke.562 Auch die Organisation der Festsetzung und Auszahlung der monatlichen Leistungen wurde auf unterschiedlichen Wegen realisiert. So war es möglich, dass die Kontrolle über die für die Renten bereitgestellten Mittel bei der Kolchosleitung verblieb, die somit selbst für die Leistungsbewilligung zuständig war. In einigen Bezirken der Usbekischen SSR gewann hingegen Anfang der 1960er Jahre ein Modell Verbreitung, in dem jeweils mehrere Artele gemeinsam eine zentrale Dienstleistungsinstanz, den sogenannten Interkolchos-Rat (mežkolchoznyj sovet), mit der Auszahlung der monatlichen Beträge beauftragten.563 Eine dritte Option bestand in der Übertragung der Zuständigkeit für die Rentenfestsetzung und -auszahlung an die KOVK.564 In manchen Fällen besaßen diese Einrichtungen sogar das alleinige Recht zur Verwendung der Mittel der Rentenmittel.565 561 Ryžov, Pensionery kolchoza, S. 32. Zur disziplinierenden Qualität der Rentenbestimmungen vor 1965 vgl. auch Porket, Income Maintenance, S. 303. 562 Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 30. Die Bescheidenheit dieser Beträge vermittelt sich angesichts der Tatsache, dass 1957 ein Tagewerk im Durchschnitt mit einem Einkommen von 0,75 R gleichzusetzen war. Vgl. Nove, The Incomes, S. 320. 563 Vgl. Aþarkan, Nekotorye voprosy, S. 24. Dem usbekischen Delegierten N. D. Chudajberdyev, der sich am 14. Juli 1964 im Unionsrat zu Wort meldete, zufolge zählte man am Vorabend der Kolchosrentenreform 33 solcher Räte, die etwa 81.000 Artelmitglieder mit einer Rente ausgestattet hatten. Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 203. 564 Vgl. etwa das Beispiel des Kolchos „Rossija“ im Gebiet Volgograd. Hier wurde das Dienstalter des Antragstellers durch die Befragung anderer kolchozniki eruiert und durch die Entscheidung der KOVK-Mitgliederversammlung festgesetzt. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 973, l. 1. 565 Das Ausmaß der Kompetenzen mancher KOVK auf dem Gebiet der Rentenfestsetzung und -auszahlung stieß mitunter auf Kritik. So befindet etwa Ruskol, Socialތnoe obespeþenie, S. 98, dass die Kassen „alle mit der materiellen Versorgung der alten und arbeitsunfähigen Kolchosbauern verbundenen Fragen eigenständig entschieden. [...] die Übertragung der Entscheidung über Festsetzung und Auszahlung der Renten und Beihilfen für Kolchosbauern in den Kompetenzbereich der Kasse für die gegenseitige Hilfe führte dazu, dass die Verwaltungsorgane der Kolchose von so wichtigen Fragen ausgeschlossen wurden.“ Vgl. auch Pankratov, Novoe, S. 4142.
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Die politische Führung stärkte die Position der Kassen durch die Verabschiedung neuer Richtlinien in den Unionsrepubliken, die die Ausdehnung des Systems der kolchosinternen Rentenversorgung nachhaltig fördern sollten.566 In der RSFSR erlangte so das am 6. Januar 1958 vom dortigen Ministerrat verabschiedete „Musterstatut der Kasse für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe im Kolchos“ Gültigkeit,567 das den KOVK Orientierung geben sollte.568 In seinen Empfehlungen wurde unterstrichen, dass über die Verwendung der Kassenmittel, die weiterhin aus Mitgliedsbeiträgen, Zuweisungen aus dem Hilfsfonds und anderen Quellen stammen sollten,569 allein deren Leitung zu verfügen habe. Die Funktionen der Kassen beschränkten sich jedoch nicht allein auf die Rentenversorgung. Dem im Musterstatut gezeichneten Ideal zufolge sollten sie auch Plätze in Sanatorien oder Erholungsheimen zur Verfügung stellen sowie Invaliden mit Prothesen ausstatten. Ferner gehörte die Bereitstellung zinsloser Darlehen zu ihren Kernaufgaben. Von besonderer Relevanz für den Bereich der Altersversorgung war schließlich die Tatsache, dass die KOVK – eigenständig oder im Verbund mit den Kassen anderer Kolchose – Heime für alleinstehende Alte und Invaliden organisieren konnten.570 Wie es für die kolchosinterne Sozialpolitik in ihrer Gesamtheit kennzeichnend war, sollte allerdings auch das Engagement der KOVK nicht voraussetzungslos sein. Im Musterstatut wurde entsprechend festgehalten, dass eine Kasse „jenen ihrer Mitglieder, die unentschuldigt das für sie festgesetzte Tagewerk-Minimum nicht erfüllen, die die Arbeitsdisziplin im Kolchos systematisch stören“,571 keine Hilfe leisten sollte.572 566 Vgl. z. B. Derevnin, Novyj primernyj ustav, S. 27. 567 SP RSFSR, 1958, Nr. 6, Pos. 68. 568 Eine Besonderheit der zuvor von den Kassen gewährleisteten Unterstützung hatte „bis in die letzte Zeit darin [bestanden], dass die Hilfe für die Kolchosbauern keinen systematischen Charakter besaß, sich nicht auf alle Kolchosbauern erstreckte, weder vom Statut des Artels noch vom Statut der Kasse für die gegenseitige Hilfe garantiert wurde. Die Notwendigkeit einer solchen Unterstützungsleistung wurde in jedem konkreten Einzelfall von der Leitung der KOVK entschieden.“ Obšþestvennye fondy, S. 134. 569 Zwar nannte das Musterstatut die Mitgliedsbeiträge als wichtigste Finanzquelle der KOVK. Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 42, konstatieren jedoch, dass ihre Mittel „hauptsächlich aus den Zuweisungen aus der gesellschaftlichen Wirtschaft gebildet werden“. 570 Vgl. auch Derevnin, Pensionnoe obespeþenie, S. 30. Für die Einrichtung solcher Altenheime warb auch N. S. Chrušþev, der sich 1958 in diesem Sinne gegenüber Kolchosbauern aus dem Dorf Kalinovka (Gebiet Kursk) äußerte: „Denken Sie auch an die Alten, bauen Sie ein Heim für betagte Kolchosbauern. Wer von den Alten arbeiten kann, wird arbeiten, aber wer das nicht kann, soll sich ausruhen. Man muss die Alten ernähren, sie pflegen. Sie werden doch allesamt einmal zu alten Menschen werden, und es wird auch nötig werden, Sie zu ernähren. Man muss für normale Lebensbedingungen für betagte Kolchosbauern sorgen.“ Zitiert bei: Vlasov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 61. 571 Ziff. 4 des Musterstatuts vom 6. Januar 1958 (siehe Anm. 567). 572 Welcher Stellenwert den Kassen bei der Minderung der Not auf dem Lande zukommen sollte, macht ein dem Musterstatut vorangestellter Passus deutlich. Hier relativierte der Ministerrat den optionalen Charakter einer Kassengründung: Die staatlichen Exekutivorgane seien angehalten, die „notwendigen Maßnahmen zur Organisation der Kassen in allen Kolchosen der RSFSR zu ergreifen“.
„Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“
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Die mit der Musterordnung vom 6. Januar 1958 intendierte weitere Verbreitung der KOVK konnte langfristig nicht realisiert werden. Wie Tabelle 2g zeigt, sank ihre absolute Zahl sogar rapide. Zwischen 1957 und 1963 reduzierte sich die Gesamtzahl der Kassen um 61,8 %, von 48.596 auf 18.541. Für den Löwenanteil dieser Entwicklung war die zeitgleich zu verzeichnende quantitative Verringerung (minus 52,1 %) der landwirtschaftlichen Kolchose in der UdSSR verantwortlich, ein Ergebnis der Zusammenlegung kleinerer Einheiten zu Großkolchosen sowie ihrer Umwandlung zu Sowchosen. In relativen Werten fiel der Anteil der Kolchose, die über eine Kasse verfügten, an der Gesamtzahl landwirtschaftlicher Artele in der UdSSR anfangs zwar nur leicht, von 57,3 % (1957) auf 56,2 % (1961). In der Folge brach die Quote jedoch deutlich ein, so dass sie zwei Jahre später nur noch bei 45,8 % lag. Lediglich in Bezug auf die Zahl der Kassenmitglieder lässt sich ein jährlicher Zuwachs um durchschnittlich 7,2 % feststellen. Auch diese Tendenz spricht jedoch nicht zwangsläufig für die zunehmende Anziehungskraft der KOVK, da die verbleibenden Kolchose ja auch insgesamt an Mitgliedern gewannen: So nahm zwischen 1957 und 1963 etwa die Zahl der je Kollektivwirtschaft vorhandenen Kolchoshaushalte im Mittel um 9,6 % zu.573
Tab. 2g: Die Anzahl der KOVK in der UdSSR, 1957–1963 (Stand am 1. Januar) 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 Zahl der 48.596 41.457 37.479 30.539 25.264 22.196 18.541 KOVKa Zahl der 12.557.176 11.179.633 10.814.563 10.095.980 8.878.759 8.137.052 7.248.407 Mitgliedera Zahl der sowj. Kol84.776 78.168 69.129 54.596 44.944 41.314 40.504 choseb* Anteil der Kolchose 57,3 % 53,0 % 54,2 % 55,9 % 56,2 % 53,7 % 45,8 % m. KOVK * Der Wert gibt den Stand zum Ende des Vorjahres – inklusive der Fischfang-Kolchose – wieder. Quelle: a RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 2 ob.; op. 27, d. 454, l. 6 ob.; op. 27, d. 583, l. 1 ob.; op. 27, d. 953, l. 1 ob.; op. 27, d. 1148, l. 1 ob.; op. 27, d. 1274, l. 1 ob.; op. 27, d. 1421, l. 1 ob. b SelތVNRHFKR]MDMVWYR6665 66HOތVNRHFKR]Majstvo SSSR (1971), S. 484.
Die Kassen waren keinesfalls, wie mitunter behauptet,574 eine Organisationsform, die allein für die Kollektivwirtschaften der RSFSR charakteristisch gewesen wäre. Tatsächlich existierten sie in sämtlichen Unionsrepubliken. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang zum einen, dass sie in zentralasiatischen Republiken wie der Turkmenischen SSR und der Usbekischen SSR sowie in der Moldawischen 573 Errechnet aus: Selތskoe chozjajstvo SSSR (1960), S. 51 6HOތVNRH FKR]MDMVWYR 6665 (1971), S. 486 u. 488. 574 Vgl. Stiller, Systeme, S. 59.
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Das System der allgemeinen Altersrenten
SSR über besonders viele Mitglieder verfügten. Zum anderen wird deutlich, dass die KOVK in der Russischen Föderation selbst vergleichsweise wenig verbreitet waren. Nur in der Aserbaidschanischen und der Tadschikischen SSR lag der Anteil von Kolchosen mit einer solchen Einrichtung noch niedriger. Auf der anderen Seite waren sie in den meisten anderen Republiken eine überaus gängige Erscheinung. In der Usbekischen, der Turkmenischen und Weißrussischen SSR lag der entsprechende Prozentsatz 1958 sogar bei über 95 % (Tab. 2h).
Tab. 2h: Die Anzahl und Mitgliederschaft der KOVK in den Sowjetrepubliken (1. Januar 1958) Zahl der KOVKa UdSSR RSFSR Ukrainische SSR Weißruss. SSR Usbekische SSR Kasachische SSR Georgische SSR Aserbaidsch. SSR Litauische SSR Moldawische SSR Lettische SSR Kirgisische SSR Tadschikische SSR Armenische SSR Turkmenische SSR Estnische SSR
41.457 16.369 10.986 3.830 1.382 1.237 1.913 362 1.291 700 1.021 392 47 765 339 823
Zahl der KOVKMitgliedera 11.179.633 4.124.917 3.229.711 385.037 724.526 317.500 477.082 5.800 401.525 545.300 266.950 128.371 3.778 153.589 260.605 154.942
Durchschnittliche Mitgliederzahl 270 252 294 101 524 257 249 16 311 779 261 327 80 201 769 188
Gesamtzahl der Kolchoseb* 76.168 44.918 14.872 4.023 1.408 1.781 2.307 1.475 2.043 787 1.279 669 434 859 353 960
Anteil der Kolchose mit KOVK (in %) 54,4 36,4 73,9 95,2 98,2 69,5 82,9 24,5 63,2 88,9 79,8 58,6 10,8 89,1 96,0 85,7
* Der Wert gibt den Stand zum Ende des Vorjahres wieder. Quelle: a RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 454, l. 9. b Selތskoe chozjajstvo SSSR (1960), S. 50.
In Ermangelung entsprechender Daten muss es schwerfallen, generelle Aussagen zur Qualität der von den KOVK gewährten Sozialleistungen zu tätigen. Die in der Literatur vorgestellten Beispiele eines funktionierenden Systems der gegenseitigen Hilfe in den Kolchosen dienten aller Voraussicht nach weit mehr der Förderung des kolchosinternen Modells als der realitätsnahen Beschreibung ihrer allgemeinen Leistungsfähigkeit. Dessen ungeachtet sei an dieser Stelle auf Gegenden verwiesen, in denen die Kassen sowjetischer Lesart zufolge besonders gut funktionierten. In der Region Krasnodar existierten beispielsweise bereits im Jahr 1956 540 KOVK mit insgesamt ca. 480.000 Mitgliedern, denen Darlehen ohne Rückzahlungsverpflichtung im Umfang von insgesamt mehr als 1 Mio. R und rückzahlbare Kredite (z. B. für den Hausbau oder den Viehkauf) in gleicher Höhe
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erteilt wurden.575 Als vorbildlich wurden auch die Hilfskassen im Gebiet Stalingrad beschrieben, die 1957 über etwa 100.000 Mitglieder verfügten. Ihre Mittel beliefen sich auf Geldreserven von ca. 350.000 R und einen Naturalfonds im Wert von 44.000 R.576 Es ist allerdings davon auszugehen, dass solche finanziellen Möglichkeiten nicht die Regel darstellten. So konstatiert P. A. Aleksanov, dass es „nicht wenige Kassen gab, deren Tätigkeit sich auf die Erteilung unbedeutender einmaliger Darlehen und Beihilfen beschränkte“.577 Das Niveau der von den KOVK gewährten Unterstützung variierte in Abhängigkeit von den örtlichen Gegebenheiten und entsprach in diesem Aspekt der sich mit ihrer Finanztätigkeit vielerorts überschneidenden kolchosinternen Rentenversorgung. Dass deren Qualität von den wirtschaftlichen Voraussetzungen des jeweiligen Artels geprägt wurde, war auch der politischen Führung bekannt. Hiervon zeugt ein Bericht, den eine u. a. aus V. V. Mackeviþ, A. P. Volkov und V. V. Grišin bestehende Kommission (im Folgenden: Mackeviþ-Volkov-Kommission) 1960 an M. P. Georgadze, den Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, adressierte. Er enthielt Vorschläge zu einer Reform der Rentenversorgung auf dem Lande.578 Bezogen auf den Status quo stellte man fest, dass ein beträchtlicher Teil der arbeitsunfähigen kolchozniki unversorgt war: „Die Kolchose richten ihren Möglichkeiten entsprechend Hilfsfonds ein, aus denen sie auch denjenigen Kolchosbauern Hilfe leisten, die ihre Arbeitsfähigkeit verloren haben. Wirtschaftlich leistungsstarke Kolchose versorgen ihre alten und arbeitsunfähigen Kolchosbauern in den meisten Fällen; die wirtschaftlich schwachen Kollektivwirtschaften hingegen leisten entweder keine Unterstützung [...] oder nur in unbedeutendem Maße. [...] ungefähr die Hälfte der Kolchose gewährt den Mitgliedern der landwirtschaftlichen Artele überhaupt keine Versorgung im Alter und bei Invalidität.“579
Eine alleinige Erklärung des gewährten Versorgungsniveaus über die ökonomische Verfassung des Artels reicht freilich nicht in allen Fällen weit genug. Nicht selten vermieden es auch vergleichsweise weit entwickelte Kolchose, ihre Mitglieder im Alter oder bei Invalidität mit regelmäßigen Geldzahlungen oder Naturalien abzusichern. So zählte z. B. zu den 94 Wirtschaften im Gebiet Tambov, die 1962 gar keine entsprechenden Bestimmungen kannten, auch eine Reihe von Kol575 576 577 578 579
Vgl. Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 42. Vgl. Dubinin, Naša objazannostތ, S. 32. Aleksanov, Razvitie, S. 24. Siehe unten. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, l. 1. Die Relation zwischen dem Wohlstand einer Kollektivwirtschaft und der Qualität der von ihr erteilten Sozialleistungen offenbart sich auch am Beispiel der RSFSR, in der Kolchose mit einem niedrigen Jahreseinkommen grundsätzlich seltener dazu neigten, ihren Mitgliedern Rentenleistungen zu gewähren: Nur 12 % aller Artele mit einem Jahreseinkommen von bis zu 50.000 R hatten entsprechende Regelungen erlassen. Unter den Kollektivwirtschaften mit Einkünften zwischen 50.000 R und 100.000 R lag dieser Anteil bei 42 %, bei jenen mit jährlichen Einnahmen von 100.000 R bis zu 500.000 R hingegen bei 97 %. In Kolchosen, die die halbe Million Rubel zu übertreffen vermochten, lag die entsprechende Quote sogar bei 100 %. Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 16-19. Zur Abhängigkeit der Absicherung von der wirtschaftlichen Lage des Kolchos vgl. auch Bersenev, Razvitie, S. 113; Müller-Dietz, Die Sozialversicherung, S. 90; Hülsbergen, Renten, S. 40.
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chosen, die über hohe jährliche Geldeinnahmen (600.000 R bis 1.000.000 R) verfügten.580 Hierzu passte, dass ein gängiges Problem darin bestand, dass Artele zu wenig Mittel für die materielle Versorgung der Alten und Invaliden abzweigten oder die Mittel aus den Hilfs- und Rentenfonds zweckentfremdeten.581 Voraussetzung dafür, dass die Kolchosleitungen die Sicherungsmaßnahmen tatsächlich durchführten, war also in jedem Fall eine entsprechende Prioritätensetzung. Zudem war ein System der sozialen Sicherung, dessen Finanzierung allein auf den Überschüssen einer einzigen Kolchoswirtschaft basierte, prinzipiell von Unbeständigkeit bedroht. Alle Artele, die nicht kontinuierlich gewinnbringend zu agieren vermochten, waren damit konfrontiert, dass ihre Einnahmen in dem einen Jahr weit niedriger ausfallen konnten als in dem vorangegangenen. Planungssicherheit war somit schwer zu realisieren.582 Zur Frage, wie viele Mitglieder vor 1965 in den Genuss regelmäßiger Versorgungsleistungen von Seiten ihrer Kolchose kamen, liegen nur spärliche Angaben vor. Laut L. P. Lykova erhielten in der RSFSR 1960 1.060.000 kolchozniki entsprechende Leistungen, für die insgesamt 73,7 Mio. R ausgegeben wurden. Drei Jahre darauf zählte man 1.292.000 Bezieher sowie Aufwendungen in einer Höhe von 98 Mio. R.583 Als Durchschnittswert ergibt sich hier somit eine monatliche Rente von 5,79 R (1960) bzw. 6,32 R (1963). Die ZVS der RSFSR wusste zudem zu berichten, dass im Jahr 1962 78,6 % aller Kolchose ihren Mitgliedern unter bestimmten Voraussetzungen Renten erteilten und dass 27,2 % aller alten und invaliden Kolchosbauern tatsächlich von einer solchen Unterstützung profitieren konnten.584 Bezogen auf das Gesamtgebiet der UdSSR erhielten der MackeviþVolkov-Kommission zufolge Anfang 1959 1.369.000 Personen eine Kolchosrente, also 15,2 % der als betagt und arbeitsunfähig geführten Artelmitglieder. Die Summe der für diese Sozialleistungen verwendeten Mittel belief sich dabei auf 955 Mio. R, was einer durchschnittlichen Monatsleistung von 5,81 R entsprach. Dabei entbehrten etwa 9 Mio. Menschen einer regelmäßigen Unterstützung.585 Im 580 Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 21. 581 Vgl. Aþarkan, Nekotorye voprosy, S. 22. Eine solche Praxis beklagte 1957 z. B. eine Gruppe von Kolchosbauern aus dem Dorf Prudišþi (Gebiet Vladimir) in einem Brief an das Präsidium des Obersten Sowjet: „Die Kolchosleitung verhält sich den alten Kolchosbauern gegenüber unredlich und verwendet die alljährlich aus 2 % der Bruttoproduktion gebildeten Fonds nach eigenem Ermessen. [...] sämtliche Alten des Kolchos erhalten überhaupt nichts, obwohl die Fonds alljährlich gebildet werden. Die Mittel werden jedoch für andere Ziele ausgegeben [...].“ GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, l. 234. 582 Vgl. Heer, The Demographic Transition, S. 226; Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 201. 583 Vgl. Lykova, Vseobšþee socialތnoe obespeþenie, S. 95. Die Aufwendungen für die Rentenzahlungen des Jahres 1963 entsprachen 1,5 % der jährlichen Geldeinnahmen der Kolchose in der RSFSR. Vgl. Mašanov, Sostojanie, S. 16. 584 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 910, l. 39. In der Kirgisischen SSR lag der entsprechende Anteil 1963 unter den in diesem Sinne Hilfsbedürftigen bei ca. 21 %. Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 272. 585 Zudem sollen 193 Mio. R als einmalige Beihilfen an alte und arbeitsunfähige Kolchosmitglieder ausgezahlt worden sein. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, l. 4. Orientiert man sich an den von Dolgov, Kolchoznyj stroj, S. 19, angeführten – und auf Angaben des sowjetischen
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bis zur Verabschiedung des „Gesetzes über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“ verbleibenden Zeitraum nahm die Empfängerzahl jedoch deutlich zu, auf beinahe das Doppelte: Anfang 1964 bezogen 2,6 Mio. Menschen Renten von ihrem Artel, die sich im Durchschnitt auf 6,40 R bezifferten.586 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Chancen auf eine Linderung der materiellen Not im Alter höchst ungleich verteilt waren. Die meisten Kolchosrentner bezogen nur sehr niedrige Leistungen, die für sich genommen keinesfalls ausreichten, um einen Ruhestand zu finanzieren. Auch dies bildete freilich die Ausnahme, da der überwältigenden Mehrheit der Artelmitglieder jede regelmäßige Unterstützung versagt blieb. Eine für ältere und invalide Mitglieder der Kollektivwirtschaften bestehende Garantie, dass man bei Erfüllung bestimmter, einheitlicher Kriterien eine gewisse Mindeststandards erfüllende Rente erhielt, existierte folglich nicht.
2.2.1.3. Beschwerdebriefe aus der Kolchosbauernschaft Die Notwendigkeit, für eine Verbesserung der Alters- und Invalidenversorgung der Artelmitglieder zu sorgen, vermittelte sich der politischen Führung auch in diesem Fall über Briefe, die an die zentralen Instanzen und Presseorgane geschickt wurden. Ebenso wie die Arbeiter und Angestellten versuchten die Kolchosbauern, auf ihre als ungerecht empfundene Benachteiligung hinzuweisen. Ende 1957 registrierte so z. B. die Briefabteilung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, dass sich die Zahl der Schreiben, in denen alte und invalide kolchozniki um die Korrektur der Kolchosrentenversorgung baten, nach der Staatsrentenreform beträchtlich erhöht habe. Die Tatsache, dass im Zeitraum April bis September 1957 2.021 Schreiben eingegangen waren, ließ L. Achmatov, den Landwirtschaftsministeriums basierenden – Werten zur Zahl der betagten und arbeitsunfähigen kolchozniki, dann lag der Anteil der Kolchosrentenempfänger sogar nur bei 11,4 %. Zajcev Rašþikov, Social’noe obespeþenie, S. 3536, zufolge belief sich die Zahl der Bezieher von kolchosfinanzierten Renten 1958 auf 1.108.000 und 1961 auf 1.190.600 Personen. Im ersten Fall habe der Rentenfonds 55 Mio. R umfasst, im zweiten 196 Mio. R. Eine solche explosive Vermehrung der zur Verfügung stehenden Summen erscheint allerdings etwas fragwürdig. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Akifތeva, Rost dochodov, S. 106, der zufolge am 1. Januar 1959 10,7 % aller alten und arbeitsunfähigen Mitglieder von landwirtschaftlichen und Fischfang-Artelen geringe Renten oder einmalige Beihilfen erhielten. 586 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1667, l. 155; Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 200. Die Zahl der Kolchose, die solche Leistungen zumindest einem Teil ihrer alten und arbeitsunfähigen Mitglieder zukommen ließen, belief sich 1963 auf 29.600 (74,9 % der Gesamtzahl aller Ende des Jahres registrierten Artele). Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, ll. 3940; Pockney, Soviet Statistics, S. 206. Um einen Eindruck von der gesamten Größe jenes Teils der Kolchosbevölkerung zu vermitteln, der im Alter oder bei Arbeitsunfähigkeit Versorgungsleistungen erhielt, sei an dieser Stelle auch auf jene kolchozniki hingewiesen, die staatliche Renten bezogen. Der ZVS der UdSSR zufolge belief sich ihre Anzahl am 1. Januar 1958 auf 1.255.815, am 1. Januar 1961 auf 1.377.793 und am 1. Januar 1964 auf 1.185.111 Personen. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 454, l. 6 ob.; op. 27, d. 1148, l. 1 ob.; op. 27, d. 1561, l. 1 ob.
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stellvertretenden Abteilungsleiter, zu dem Schluss kommen, dass sich die materielle Versorgung arbeitsunfähiger Bauern vielerorts in einem schlechten Zustand befand.587 Briefe wie jener des 77-jährigen I. V. Kotovskich aus dem Gebiet Sverdlovsk belegen die katalysatorische Wirkung des Gesetzes vom 14. Juli 1956: „Alle Gesetze unseres Staates sprechen davon, dass unser Alter gut versorgt sein wird. 1956 kam ein Gesetz heraus, mit dem die Renten für alle Invaliden und Betagten angehoben werden sollen. Man bestimmte für sie hohe Summen, bis zu 1.000 R* und mehr … Ich bin davon ausgegangen, dass ich bis ins Alter im Kolchos arbeiten würde und dass dann der Staat auch unseren Alten eine Rente geben würde ... Das Gegenteil ist eingetreten. [...] Ich bitte Sie darum, Genosse Vorošilov, sich mit dieser Rentenfrage der Kolchosbauern zu befassen. Solche Genossen wie mich gibt es viele, und sie alle bekommen keine Rente. Sie alle sind beunruhigt, und das ist, wie es scheint, berechtigt.“588
Andere Artelmitglieder bemängelten, dass die von den Kolchosen bewilligten Renten so niedrig ausfielen, dass sie keine ausreichende Unterstützung im Alter darstellten. Aus dem Gebiet Belgorod schrieb diesbezüglich ein Mann namens F. I. Kamenev an den Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR: „Ich habe Ihnen gegenüber einen Antrag auf Bewilligung einer Rente für mich gestellt. Man hat mir [im Kolchos] fünf Tagewerke im Monat bewilligt, aber von einer solchen Rente kann ich mich nicht ernähren, so dass ich zum Hunger verdammt bin. 28 Jahre habe ich im Kolchos gearbeitet … Gegenwärtig bin ich 62 Jahre alt, und meine Frau ist 60.“589
Ende 1959 wurde das Präsidium des Obersten Sowjets abermals über den Inhalt von Briefen informiert, die die Bewohner der ländlichen Gegenden an Vorošilov adressiert hatten. Insgesamt seien bis einschließlich des Monats November 5.392 Briefe von Kolchosbauern eingetroffen, die sich darüber beschwerten, dass ihnen eine regelmäßige Unterstützung versagt bleibe. Dem Empfangszimmer zufolge zeugten diese – in der Regel aus leistungsschwachen Kollektivwirtschaften stammenden – Äußerungen davon, dass sich die „invaliden und alten Kolchosbauern, die die Fähigkeit zur Arbeit verloren haben und nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, oft in einer schwierigen materiellen Lage“ befanden.590 Als Adressat für den Unmut der kolchozniki diente auch die Zeitung Sel’skoe chozjajstvo, die im November 1959 eine Zusammenfassung des Inhalts derartiger Schreiben erstellte. Hier wurde auch der Brief des D. P. Efremov aufgeführt, eines Bauern aus dem Artel „Krasnoe znamja“ im Gebiet Voronež. Der Mann lobte die Arbeit der Gewerkschaften, die seiner Auffassung nach dafür verantwortlich war, dass sich der Lebensstandard der Arbeiter und Angestellten deutlich verbessert habe. Diese müssten sich nicht um den „morgigen Tag“ sorgen, was leider nicht für Leute wie ihn selbst gelte. Schuld daran sei auch die eingeschränkte Leistungsfähigkeit der KOVK:
587 588 589 590
GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, l. 232. Ebd. Ebd., l. 234. GARF, F. R 7523, op. 78, d. 359, ll. 186187.
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„In den Kolchosen bietet sich ein anderes Bild. Einige Kolchosbauern haben ungefähr 30 Jahre lang in den landwirtschaftlichen Artelen gearbeitet, können aber noch nicht mit einer vollständigen Versorgung ihres Alters rechnen. Sicher, es gibt die Kassen für die gegenseitige Hilfe in den Kolchosen, doch die händigen monatlich jeweils nur 8–10 kg Mehl an Alte und Invaliden ohne Familie aus. Ist das etwa eine Versorgung? [...]. Die Kolchose verfügen über Einnahmen in Millionenhöhe; auf deren Grundlage muss man auch die Artelmitglieder versorgen. Es darf einem nicht um die Mittel leidtun. Man muss dafür sorgen, dass unsere Kolchosbauern, die Erbauer der Sozialismus, sicher wissen, dass ihnen – wie auch den Arbeitern in den Gewerkschaften – ein glückliches Alter sicher ist.“591
Die Klagen rissen in der Folge nicht ab, worüber im Januar 1961 L. I. Brežnev, Vorošilovs Nachfolger, vom Leiter seines Empfangszimmers in Kenntnis gesetzt wurde: Im Vorjahr seien insgesamt etwa 31.000 Briefe eingegangen, die Fragen der Landwirtschaft berührt hätten. Den größten Anteil – ca. 8.000 – hätten dabei Schreiben mit der Bitte um eine Verbesserung der materiellen Situation von betagten und invaliden kolchozniki gestellt.592 Derartige Briefe vermitteln die allgemeine Unzufriedenheit innerhalb der Kolchosbauernschaft angesichts der Tatsache, dass das Niveau der ihnen zur Verfügung stehenden Sozialleistungen oft extrem niedrig ausfiel. Ihre Auswertung gestattet es darüber hinaus jedoch auch, zwei Gruppen innerhalb dieses Bevölkerungssegments zu identifizieren, die von den Defiziten der kolchosinternen Rentenversorgung in besonderer Weise betroffen waren. Hierbei handelte es sich zum einen um ältere kolchozniki, deren Kinder das Artel verlassen hatten, zum anderen um ehemalige Mitglieder von in Sowchose umgewandelten Kolchosen, die nicht in die neu gegründeten landwirtschaftlichen Großbetriebe übernommen worden waren. Den Eltern von abgewanderten Kolchosmitgliedern im arbeitsfähigen Alter blieb eine Rentenzahlung aus den Mitteln der Kolchose oder der KOVK in vielen Fällen versagt. Begründet wurde dies mit dem Hinweis darauf, dass sie von ihren Kindern materiell unterstützt werden konnten und dass folglich die vom Artel zu leistende Hilfe entweder niedriger ausfallen oder zur Gänze wegfallen konnte. Da die Angehörigen oft jedoch weit entfernt lebten oder selbst nicht über die Möglichkeiten zur Bestreitung des elterlichen Unterhalts verfügten, war ein gesicherter Ruhestand auf diesem Wege nicht gewährleistet.593 Eine derart extreme Auslegung der Familiennachrangigkeit von Sozialleistungen besaß eine offen punitive Dimension, die sich speziell in der Art und Weise zeigte, wie Kolchosleitungen mit dem privaten Hofland der Betroffenen verfuhren. Mitte der 1950er Jahre kam es wiederholt dazu, dass Personen, deren Kinder das Kollektiv verlassen hatten, auch diese letzte Existenzgrundlage genommen wurde: Kolchosleitungen reduzierten das zur persönlichen Nutzung gewährte Grundstück oder entzogen es sogar voll-
591 GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, ll. 2021. Zur von den Kolchosbauern geäußerten Kritik an den KOVK vgl. auch GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, l. 243. 592 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 78, d. 400, l. 4. 593 Briefe mit Beschwerden zu dieser Praxis finden sich z. B. in: GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, ll. 3435; op. 75, d. 2362, ll. 243 u. 257258; op. 75, d. 1581, l. 230.
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ständig – und nahmen damit wissentlich in Kauf, dass die Betroffenen in äußerste Not gerieten.594 Der aggressive Charakter der gegen die Nebenwirtschaften der Eltern von abgewanderten kolchozniki gerichteten Maßnahmen erlaubt es, hier von einer besonders schmerzhaften Form der Sippenhaftung zu sprechen. Zu erklären ist sie über die Spezifika des Kolchosrechts, das die Verfügungsgewalt über das Hofland viel eher bei der „Familien- und Arbeitsgemeinschaft in Gesamthand“ als bei der einzelnen Person verortete.595 Diente der Entzug der privaten Nebenwirtschaft jedoch auch als ein Instrument, um einerseits den Nachwuchs noch arbeitstätiger Bauern vom Weggang in die Städte abzuhalten, andererseits die schon dorthin Abgewanderten eventuell sogar zur Rückkehr in das Artel zu „motivieren“,596 so war eine solche Intention vor allem auf den chronischen Arbeitskräftemangel im Kolchossektor zurückzuführen. Ob die Kolchosleitungen in der Folge von der geschilderten Verhaltensweise abrückten, lässt sich an dieser Stelle nicht beantworten. Die Tatsache allerdings, dass das neue, am 28. November 1969 bestätigte „Musterstatut des Kolchos“597 explizit festhielt, dass das Recht zur „Nutzung der Hofgrundstücke [...] auch in Fällen erhalten [bleibt], wenn alle Mitglieder der Familie (des Kolchoshofes) altersbedingt oder infolge von Invalidität arbeitsunfähig sind“,598 legt nahe, dass in dieser Frage noch gegen Ende des folgenden Jahrzehnts Klärungsbedarf herrschte. Auf den bescheidenen Schutz der Kolchose mussten auch die Opfer jenes grundlegenden Transformationsprozesses in der sowjetischen Landwirtschaft verzichten, der ab 1954 – insbesondere aber ab 1957 – zur Umwandlung eines Groß-
594 Dass es sich hierbei um eine weit verbreitete Praxis handelte, geht z. B. aus einer auf den 29. Mai 1955 datierten Notiz hervor, in der damalige Leiter der Briefabteilung Korolev Vorošilov über dieses Problem informierte: Während die Gesamtzahl der an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR gerichteten Schreiben rückläufig sei, verzeichne man einen beträchtlichen Zuwachs von Briefen, in denen Fragen der Zuweisung und der Entziehung des privaten Hoflandes adressiert würden. Zu den Verfassern stellte Korolev – mit deutlicher Sympathie für ihr Anliegen – fest: „In den Beschwerden schreiben sie, dass man nun die alten Kolchosbauern, anstatt ihnen ein versorgtes und ruhiges Alter zu gewähren, [...] aus den Kolchosen ausschließt und ihnen die Hofgrundstücke wegnimmt, die die wichtigste Quelle des Lebensunterhalts darstellen.“ Konnten die Betroffenen nicht von ihren Kindern aufgenommen werden, so waren sie, wie der Leiter der Briefabteilung zu Bedenken gab, mit bitterer Armut konfrontiert. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1570, ll. 92 u. 95. 595 Wädekin, Führungskräfte, S. 5758, deutet es dementsprechend lediglich als eine extensive Interpretation dieser Auffassung, wenn die Artele ganze Familienverbände „für Fehler und Vergehen ihrer einzelnen Mitglieder haftbar machten und gegebenenfalls gesamthaft mit Ausschluß bedrohten“. Als „Vergehen“ galt in diesem Kontext das Verlassen des Kolchos. 596 Einen solchen Schluss legt Korolev nahe, der darauf hinweist, dass „die Möglichkeit des Entzugs des [elterlichen] Hofgrundstücks manchmal als ein Mittel wahrgenommen [wird], um Personen zur Rückkehr in den Kolchos zu bewegen, die ihn in der Vergangenheit verlassen haben, um in der Produktion zu arbeiten“. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1570, l. 95. 597 SP SSSR, 1969, Nr. 26, Pos. 150. 598 Ziff. 42 des Kolchos-Musterstatuts. Vgl. auch Bilinsky, Das neue Musterstatut, S. 157.
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teils der Kollektivwirtschaften in Staatsgüter führte.599 Verantwortlich für die „Sowchosierung“ war vor allem das Bestreben, eine Steigerung der Produktivität zu erreichen. Betroffen waren so speziell die wirtschaftlich leistungsschwachen Artele, die zum einen unter einem Mangel an Arbeitskräften und Ausrüstung, zum anderen unter hoher Verschuldung litten.600 Während die Umwandlung der Kolchose für all jene Mitglieder, die in die neuen Agrarbetriebe übernommen wurden, durchaus rentenbezogene Vorteile barg,601 verschlechterte sich die materielle Situation all jener alten und invaliden „ehemaligen Kolchosmitglieder“602, an deren dortiger Mitarbeit kein Interesse bestand, erheblich. Zwar sollten diese „Übriggebliebenen“ ihr privates Hofgrundstück behalten dürfen. Zudem stand ihnen bei dessen Bewirtschaftung und der Herbeischaffung von Heizmaterial die Unterstützung des Sowchos zu.603 Davon, dass eine solche nicht im ausreichenden Umfang geleistet wurde, künden allerdings die vielen Briefe, in denen sich Betroffene über das Fehlen der Existenzmittel beklagten.604 Mackeviþ zufolge rechnete man 1957 allein in der RSFSR mit 380.000 Ehemaligen, die sich „in einer schwierigen materiellen Lage“ befanden, während sich ihre Zahl in der Kasachischen SSR auf 82.100 und in der Ukrainischen SSR auf 55.700 Menschen belief.605
599 Genaue Angaben zur Zahl der umgewandelten Kolchose und der auf ihrer Grundlage gegründeten Staatsgüter wurden sowjetischerseits nicht publiziert. Einem internen, im Februar 1965 für den Ministerrat der UdSSR erstellten Bericht zufolge belief sich die Gesamtzahl der in den vorangegangenen zehn Jahren zu Sowchosen vereinten und umgeformten Artele jedoch auf mehr als 19.000, also auf ca. 20 % der Ende des Jahres 1953 registrierten Einheiten. Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 760, l. 48; Selތskoe chozjajstvo SSSR (1960), S. 50; Pešechonov, Rolތ, S. 38. 600 Vgl. Wädekin, Die sowjetischen Staatsgüter, S. 1112; Merl, Entstalinisierung, S. 221. 601 Den neu gewordenen „Mitgliedern der Arbeiterklasse“ wurde der Zugang zur staatlichen Rentenversorgung erleichtert: In der am 3. Mai 1957 durch die Verordnung des Ministerrats der UdSSR und des ZK der KPdSU Nr. 495 bestätigten Ordnung „Über das Verfahren bei der Übergabe der Ländereien und des gesellschaftlichen Besitzes der Kolchose an die Sowchose im Zuge ihrer Umwandlung in Sowchose und das Verfahren bei der Entlohnung der Kolchosbauern“ (Svod zakonov SSSR, Bd. 2, Moskau 1990, S. 639) wurde festgestellt, dass die Zeit ihrer ununterbrochenen Arbeit im Kolchos vom Jahr 1939 an – unter bestimmten Voraussetzungen – auf das für den Bezug einer Staatsrente notwendige Dienstalter angerechnet werden konnte. Vgl. auch Vladimirov, O materialތnom obespeþenii, S. 5455. 602 Ist im Folgenden von „ehemaligen Kolchosbauern“ die Rede, so sind damit – dem sowjetischen Sprachgebrauch entsprechend – lediglich jene früheren Artelmitglieder gemeint, die keine Daueranstellung in den neu gegründeten Sowchosen erhielten. 603 Ziff. 6 der Verfahrensordnung vom 3. Mai 1957 (siehe Anm. 601). Vgl. auch GARF, F. A 413, op. 1, d. 3423, l. 70. 604 In der Briefabteilung des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR erachtete man dieses Problem für derart gravierend, dass man Vorošilov empfahl, die Sowjetregierung mit der Verabschiedung einer korrigierenden Verordnung zu beauftragen. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, ll. 181182. 605 Vgl. ebd., l. 196. Hier bleibt ein wenig unklar, ob die genannten Werte die Zahl der alten und invaliden „ehemaligen Kolchosbauern“ oder die Gesamtzahl der Betagten und Arbeitsunfähigen vor der Sowchosierung wiedergeben. Zur zweiten Möglichkeit vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 1075, ll. 35.
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In der Folge unternahm man verschiedene Schritte, die Not mit Hilfe monatlicher Beihilfen zu lindern. So bestand bereits seit 1957 in einigen Unionsrepubliken die Möglichkeit, dass ehemalige Kolchosbauern – ähnlich wie ein Teil der nichtrentenberechtigten Arbeiter und Angestellten –606 eine monatliche Beihilfe in Höhe von 10 R (Bewohner städtischer Ortschaften) bzw. 8,50 R (Bewohner ländlicher Gegenden) erhielten. Diese Sozialleistung war jedoch in der Regel an eine Bedürftigkeitsprüfung gebunden, die ihren Bezug für viele praktisch unmöglich machte.607 Mit ihrer Hilfe konnte die Not der „Ehemaligen“ denn auch nicht grundlegend verbessert werden. Wie aus einer Anfang der 1960er Jahre durchgeführten Überschlagsrechnung hervorgeht, blieb weiterhin eine knappe Mehrheit der früheren Kolchosbauern ohne Hilfe.608 Folglich musste man weiterhin eine Vielzahl von Briefen aus der ländlichen Bevölkerung registrieren, in denen auf die Versorgungsdefizite hingewiesen wurde.609 Im Januar 1961 reagierte der Ministerrat der RSFSR mit einer neuen Verordnung610 auf den Versorgungsnotstand. Nun sollte allen alten und arbeitsunfähigen 606 Siehe Abs. 4.1. 607 Zu den Beihilferegelungen in der RSFSR vgl. die Verordnung ihres Ministerrats vom 13. April 1957 Nr. 208 „Über die materielle Versorgung derjenigen Invaliden und Alten, die keine staatlichen Renten erhalten“ (SP RSFSR 1958, Nr. 1, Pos. 14). Vorgesehen war, dass Leistungsbezieher weder über unterhaltspflichtige Verwandte oder noch über andere Einkommensquellen verfügten. Die hier ebenfalls enthaltene Bestimmung, dass keine „Verbindung zur Landwirtschaft“ vorliegen sollte, wurde zehn Monate später aufgehoben. Gleiches galt für die anfängliche Vorschrift, dass das fortgeschrittene Alter anders als die Invalidität nicht als Grundlage für den Beihilfeanspruch dienen sollte. Vgl. diesbezüglich die Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 24. Februar 1958 Nr. 187 „Über die materielle Versorgung von alten und invaliden ehemaligen Kolchosmitgliedern, deren Länder den Sowchosen und anderen Betrieben und Organisationen übergeben wurden“ (SP RSFSR, 1958, Nr. 10, Pos. 89). 608 Am 1. Oktober 1960 zählte man etwa 963.000 alte und arbeitsunfähige ehemalige Kolchosbauern. Von ihnen hatten ca. 144.000 Personen (15,0 %) eine Arbeit in einem neu gegründeten Sowchos übernehmen können, und etwa 330.000 (34,3 %) bezogen eine regelmäßige Sozialleistung. 489.000 Bürger (50,8 %) erhielten jedoch weder Rente noch Beihilfe. Leider lässt sich aus dieser in den Dokumentenbeständen des Ministeriums der RSFSR für Sozialversorgung aufbewahrten Kalkulation nicht erkennen, ob sich die Zahlen auf die UdSSR oder die RSFSR beziehen. Wahrscheinlicher erscheint die zweite Möglichkeit. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3422, l. 7. 609 Vgl. etwa GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, ll. 2326. Auch unter führenden Mitarbeitern der Organe der Sozialversorgung existierte ein Bewusstsein für die moralische Fragwürdigkeit der Tatsache, dass man die alten und invaliden Kolchosbauern sich selbst überließ. So konstatierte die Leiterin der Leningrader Abteilung, eine Frau namens Kas’janova, auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1960, dass man die Umwandlung der Kolchose unter sozialpolitischen Gesichtspunkten unzureichend durchdacht habe: „[...] wir können ihnen keine Rente erteilen. Selbst im Falle des Ablebens des Ernährers oder bei einem Arbeitsunfall bleiben die Leute in den Kolchosen gegenwärtig ohne jegliche Hilfe. Und wir wundern uns noch, dass es so viele Beschwerden zu dieser Frage gibt. [...] Die Kolchose werden liquidiert, aber eine staatliche Hilfe gibt man den Menschen nicht. Diese absolut unnormale Situation muss korrigiert werden.“ GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 127. 610 Vgl. die Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 7. Januar 1961 Nr. 16 „Über die materielle Versorgung von alten und invaliden ehemaligen Kolchosmitgliedern, deren Länder den
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ehemaligen Kolchosbauern eine monatliche Beihilfe von 8,50 bzw. 10 R ausgezahlt werden. Die Bedürftigkeitsprüfung fiel somit vollständig weg, wodurch viele Menschen erstmals tatsächlich eine staatliche Beihilfe erhielten: Bis zum 1. Mai desselben Jahres wurden in der RSFSR 536.000 Menschen bedacht.611 Das Unterstützungssystem war allerdings weiterhin von schweren Mängeln gekennzeichnet: Für die Finanzierung der Beihilfen fehlten den zuständigen Exekutivkomitees der örtlichen Deputiertenräte schlechterdings die notwendigen Ressourcen.612 Bald darauf übertrug man schließlich einen Teil der Verantwortung für die Gewährleistung dieser Leistungsform auf die Ebene der Unionsrepubliken. Im September entschied der Ministerrat der UdSSR, dass die Beihilfen für die „materiell Bedürftigen“ unter den Ehemaligen613 von nun an über die staatlichen Haushalte der Sowjetrepubliken finanziert werden sollten.614 Voraussetzung für die Erteilung der sich weiterhin meist auf 8,50 bzw. 10 R belaufenden Leistung war somit abermals eine Bedürftigkeitsprüfung des Antragstellers. Auch mit diesem Schritt vermochte man das Versorgungsproblem der ehemaligen Kolchosbauern noch nicht zu lösen. Zum einen war das Leistungsniveau überaus niedrig; zum anderen führte die Beschränkung der monatlichen Beihilfen auf die – nach welchen Maßstäben auch immer – „besondere Not“ Leidenden dazu, dass viele Hilfsbedürftigen weiterhin leer ausgehen mussten. In der Konsequenz beschäftigte die Situation der unversorgten Landbewohner den Gesetzgeber auch noch nach dem Inkrafttreten des Kolchosrentengesetzes.615
2.2.2. Die Genese des Kolchosrentengesetzes 2.2.2.1. Die Motivationen für die Durchführung der Reform Die Entscheidung für eine Reform der Rentenversorgung der Kolchosbauern lässt sich zu einem guten Teil auf dieselben Ursachen zurückführen, die bereits der Neuordnung der Staatsrenten zugrunde gelegen hatten. Die erwähnten Berichte
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Sowchosen und anderen Betrieben und Organisationen übergeben wurden“ (SP RSFSR, 1961, Nr. 1, Pos. 2). Vgl. GARF, F. R 7523, op. 78, d. 400, l. 292. Vgl. ebd., ll. 293298. Wie wenige Beihilfeberechtigte in manchen Gegenden tatsächlich nur bedacht wurden, belegt eine Untersuchung, die das Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung im Gebiet Kursk durchführte. Hier stellte man fest, dass, während am 1. Januar 1962 6.447 Personen über einen Beihilfeanspruch verfügten, eine solche Leistung lediglich an 103 Menschen (1,8 %) tatsächlich ausgezahlt werden konnte. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3564, l. 2. Für alle übrigen Ehemaligen galten voraussichtlich weiterhin die zuvor auf Republikebene getroffenen Bestimmungen. Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 13. September 1962 Nr. 959 „Über die Regelung der Festsetzung und Auszahlung der monatlichen Beihilfen für ehemalige Kolchosmitglieder, deren Länder Sowchosen und anderen Betrieben und Organisationen übergeben wurden“ (SP SSSR, 1962, Nr. 17, Pos. 135). Siehe Abs. 2.2.7.1.
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von Vertretern staatlicher Behörden und Organe zeigen deutlich, dass man sich auf Seiten des Regimes der gravierenden Defizite der bisherigen Maßnahmen zur Absicherung der Kolchosbevölkerung durchaus bewusst war. Die Bemühungen, hier für eine nachhaltige Verbesserung zu sorgen, stellten wie schon im Falle des Staatsrentengesetzes nicht zuletzt eine Reaktion auf Impulse aus der bäuerlichen Bevölkerung dar. Diese nahmen, wie gesehen, vor allem die Gestalt von an die zentralen Instanzen des Landes geschriebenen Briefen an, deren Autoren auf ihre Not hinwiesen und die Ungleichbehandlung mit ihren Altersgenossen aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten beklagten. Der Handlungsbedarf leitete sich jedoch auch aus den ideologischen Imperativen des Regimes ab. In dem 1961 verabschiedeten Parteiprogramm hatte man die Vollendung des kommunistischen Aufbaus für das Jahr 1980 prognostiziert. Dies schloss auch die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft ein. Bei diesem Unterfangen maß man speziell der Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land eine besondere Bedeutung bei.616 Die bestehenden Differenzen zwischen der Lebenssituation der Arbeiter und Angestellten auf der einen und derjenigen der Kolchosbauern auf der anderen Seite galten dabei als eines der zu überwindenden Hindernisse. Sie wurden vor allem auf eigentumsbezogene Unterschiede zurückgeführt: Während die Arbeiter und Angestellten in staatlichen Einrichtungen tätig waren, bewirtschafteten die kolchozniki einen Boden, der sich – formal – im Besitz des jeweiligen Artels und damit auch seiner Mitglieder selbst befand. Eine zentrale Vorgehensweise zur Angleichung der Lebensentwürfe bestand folglich in der Umwandlung der vorhandenen Kolchose in Sowchose. N. S. Chrušþev hatte bereits 1959 festgestellt, dass die „Vereinigung des kollektivwirtschaftlich-kooperativen Besitzes mit dem staatlichen Besitz zu einem einzigen allgemeinen Volksbesitz nicht nur eine einfache wirtschaftsorganisatorische Maßnahme, sondern die Lösung des tiefgründigen Problems der Überwindung des wesentlichen Unterschieds zwischen Stadt und Land“
bedeuten würde.617 Die Disparität zwischen beiden Sphären führte man aber auch auf deren ungleichen wirtschaftlichen Entwicklungsgrad zurück, was darin resultierte, dass man die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität durch Fortschritte bei der Mechanisierung und der Qualifikation des ländlichen Personals als eine zentrale Voraussetzung für ihre Überwindung interpretierte. Einer solchen Lesart zufolge würde sich eine Verbesserung der Lebensbedingungen quasi automatisch aus der Entwicklung des Agrarsektors sowie der gleichzeitigen Steigerung der Einkünfte der Bauern und Kolchosfonds ergeben.618 Die Ausdauer, die nötig gewesen wäre, um zu erfahren, ob die volkswirtschaftliche Entwicklung tatsächlich derartige Ergebnisse zeitigte, besaß das Regime allerdings nicht. Die Durchführung der Kolchosrentenreform sollte zweifelsohne die Verringerung des Ausmaßes, in dem der Lebensstandard älterer Kolchosbauern hinter je616 Vgl. Programm der Kommunistischen Partei, S. 90. 617 Vneoþerednoj XXI s-ezd, S. 102. 618 Vgl. Evans, Soviet Marxism-Leninism, S. 7879; Programm der Kommunistischen Partei, S. 96101.
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nem der Altersgenossen aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten zurückblieb, beschleunigen. Zwar befindet etwa Spartak L. Senjavskij, dass diese Maßnahme das Ergebnis „des objektiven Prozesses der Annäherung zwischen den kollektivwirtschaftlich-kooperativen und den staatlichen Besitzformen auf der Grundlage der Entwicklung der Produktionskräfte und der Vollendung der Produktionsbeziehungen in der Kolchosproduktion“
darstellte.619 Tatsächlich jedoch handelte die politische Führung ihren wenige Jahre zuvor geäußerten Grundsätzen zuwider, indem sie eine staatliche Subventionierung der Rentenleistungen beschloss – und hinsichtlich der Steigerung des Wohlstands der alten und arbeitsunfähigen kolchozniki eben nicht allein auf den Aufschwung des kollektivwirtschaftlichen Sektors vertraute. Mit dafür verantwortlich, dass man keine Geduld zeigte, waren einmal mehr fürsorgeferne Motive. Mit der Einführung bzw. Optimierung der Sozialleistungen suchte man – ebenso wie mit der 1966 durchgeführten Reform der Entlohnung in den Kolchosen –620 einen Impuls zu setzen, der die weitere Entfaltung der kollektivwirtschaftlichen Produktivität unterstützte – und dadurch eine weitere Annäherung zwischen städtischen und ländlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen gerade erst ermöglichte. Eine spezielle Dringlichkeit erlangte diese Zielsetzung dadurch, dass sich die sowjetische Landwirtschaft zur Zeit der Reformvorbereitung in einer akuten Krise befand. War die Agrarproduktion generell hinter dem Wandel der Konsumgewohnheiten und dem auf Industrie- und Bevölkerungsentwicklung zurückzuführenden Kaufkraftzuwachs zurückgeblieben, so hatte insbesondere die schlechte Getreideernte des Jahres 1963 zu einem Defizit geführt, das das Regime zu umfangreichen Auslandsimporten und zur zeitweiligen Begrenzung des Brot- und Mehlverkaufs genötigt hatte. Als Konsequenz aus dieser Problematik nahm die politische Führung Abstand von einer weiteren Ausdehnung des Kulturlandes und entschied sich stattdessen für eine „Intensivierung“ der Landwirtschaft durch die Nutzung von chemischen Düngemitteln und die Anwendung von künstlicher Bewässerung.621 Der niedrigen Produktivität des Kolchossektors schrieb man jedoch auch eine personalpolitische Dimension zu, der man nicht zuletzt über eine Reform der Rentenversorgung begegnen wollte. Dabei setzte man zuerst beim Leitungs- und Fachpersonal der Kollektivwirtschaften an. Wie aus dem Entwurf zu einer Verordnung des ZK der KPdSU „Über Maßnahmen zur Stärkung der leistungsschwachen Kol-
619 Senjavskij, Izmenenija, S. 361362. 620 In der Verordnung des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR vom 16. Mai 1966 Nr. 372 „Über die Erhöhung der materiellen Interessiertheit der Kolchosbauern an der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktion“ (SP SSSR, 1966, Nr. 9, Pos. 92) „empfahl“ man den Kolchosen, von der Entlohnung über Tagewerke Abstand zu nehmen und stattdessen zur Auszahlung eines garantierten Festlohns überzugehen. 621 Vgl. Nove, Die Agrarwirtschaft, S. 369372; Die neue sowjetische Agrarpolitik, S. 6970; Hahn, The Politics, S. 111116; Wädekin, Sozialistische Agrarpolitik, S. 223.
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chose mit fachkundigen Kadern“622 ersichtlich wird, machte man Unzulänglichkeiten in der Qualifikation der Kolchosvorsitzenden, Agronomen, Zootechniker und Mechanisatoren sowie die hohe Personalfluktuation623 für die geringen Erträge vieler Artele verantwortlich. Erklärt wurde die mangelnde Attraktivität dieser Tätigkeitsbereiche für gut ausgebildete Fachkräfte und deren oft nur kurzzeitiger Verbleib in einer solchen Position vor allem mit der miserablen Entlohnung – und dem Fehlen einer Rentenversorgung.624 Tatsächlich leitete man bald darauf Schritte zur Absicherung der „Kolchoselite“ ein: Am 20. Juli 1964 verabschiedete der Ministerrat der UdSSR die Verordnung Nr. 622 „Über die staatliche Rentenversorgung und Sozialversicherung der Vorsitzenden, Spezialisten und Mechanisatoren der Kolchose“,625 die diese Personen nicht mit Kolchosrenten ausstattete, sondern in das System der staatlichen Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten integrierte und somit den Arbeitern und Angestellten in vielerlei Hinsicht gleichstellte.626 Die unberücksichtigte übrige Kolchosbevölkerung stand ebenfalls im Fokus der Bemühungen um eine Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge, und auch in diesem Fall bediente man sich ähnlicher Instrumente. Der Beitrag, den die Neugestaltung der Rentenversorgung dabei leisten sollte, war zwiefacher Natur. Erstens sollten die einfachen Artelmitglieder durch die verbesserten – oder erstmals eingeführten – Sozialleistungen zu einer Steigerung ihrer Arbeitsleistung
622 Prezidium CK KPSS 19541964 (Bd. 3), S. 633636. Vorbereitet wurde diese Verordnung von einer Kommission unter der Leitung von D. S. Poljanskij. Zur endgültigen Version vgl. auch Prezidium CK KPSS 19541964 (Bd. 1), S. 819 u. 1159. 623 In 1.142 von insgesamt 4.000 als „ökonomisch schwach“ kategorisierten Kolchosen der RSFSR hätten Vorsitzende weniger als ein Jahr, in 1.680 Kolchosen nur zwischen einem und drei Jahren gearbeitet. Vgl. ebd., S. 634. 624 Dass die fehlende soziale Sicherung tatsächlich für den Weggang von Spezialisten und Mitgliedern des Leitungspersonals verantwortlich gemacht wurde, belegt z. B. ein Brief, den F. Grin’ko, Vorsitzender eines Kolchos in der Region Altai, 1963 an N. S. Chrušþev schrieb. In ihm konstatierte er: „1. Es ist notwendig, den Kolchos-Spezialisten das Recht auf den Erhalt der staatlichen Rente zu gewähren. 2. Dafür ist es nötig, entsprechende Abgaben zu leisten, d. h., vom Verdienst der Spezialisten muss eine bestimmte Summe in die Versicherungsfonds des Staates abgeführt werden, damit sie dann im Alter und bei Erfüllung des Dienstalters eine Rente [...] erhalten können.“ GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1357, ll. 6062. Einen Zusammenhang zwischen der Rentenversicherung und dem Verbleib der Fachkräfte in den Kolchosen sahen im Juli 1964 auch Deputierte des Obersten Sowjets der UdSSR wie D. R. ýebotarev. Vgl. hierzu Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 97. 625 SP SSSR, 1964, Nr. 13, Pos. 89. 626 Aufgrund dieser Gleichstellung werden die Kolchosvorsitzenden, -spezialisten und -mechanisatoren im Folgenden ausgespart. Wann immer die Sprache auf „Kolchosbauern“ und „Kolchosrentner“ kommt, sind lediglich die einfachen Artelmitglieder gemeint. In einigen Aspekten unterschieden sich die Regelungen allerdings von den für Arbeiter und Angestellte geltenden Bestimmungen. So mussten die Kolchosvorsitzenden mindestens fünf der letzten zehn Jahre in ihrem Amt tätig gewesen sein, während Mechanisatoren die Hälfte ihres staž in diesem Beruf gearbeitet zu haben hatten. Vgl. Prezidium CK KPSS 19541964 (Bd. 3), S. 638; Astrachan, Razvitie, S. 1659ODVRY/HYãLQ6RFLDOތQRHREHVSHþHQLH6 1617; Levšin, Pensii; Ders., Gosudarstvennoe pensionnoe obespeþenie.
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motiviert werden. Dieser Aspekt wurde beispielsweise in dem Entwurf zu einer Stellungnahme unterstrichen, die die Kommissionen für Gesetzesvorschläge anlässlich der Diskussion des Kolchosrentenprojekts im Obersten Sowjet der UdSSR verfassten. Dabei rekurrierte man auf das sozialistische Verteilungsprinzip des „Jedem nach seiner Leistung“: „Im Projekt findet konsequent das Prinzip Anwendung, dass jene Kolchosbauern, die gut in der gesellschaftlichen Produktion der Kolchose mitgearbeitet und einen großen Beitrag zur landwirtschaftlichen Produktion geleistet haben, eine höhere Rentenversorgung genießen sollen. [...] Ein jeder Kolchosbauer soll wissen: Je besser er im Kolchos arbeitet, desto besser wird er im Alter oder bei Invalidität versorgt sein. Dies wird einen neuen wichtigen Stimulus zur weiteren Anhebung der Arbeitsaktivität der Kolchosbauernschaft und der Steigerung der Produktion von landwirtschaftlichen Produkten darstellen.“627
Es fällt dabei auf, dass die disziplinierende Qualität des Rentensystems ungleich stärker in den Vordergrund gerückt wurde, als dies für die Reform vom 14. Juli 1956 kennzeichnend gewesen war. Bei deren Propagierung war man öffentlich überhaupt nicht auf die – durchaus reelle – Möglichkeit zu sprechen gekommen, dass manche Arbeiter und Angestellte auf Sicherungsleistungen verzichten mussten. Nun unterstrich man stattdessen mit Nachdruck, dass die Sozialleistungen nur jenen zugänglich seien, die sich zuvor in der erforderlichen Weise an den Arbeitsabläufen beteiligt hatten. Dadurch bewegte man sich in einer offensichtlichen Kontinuität zu den Voraussetzungen, unter denen bereits viele der kolchosinternen Renten vor 1965 erteilt worden waren. Vorgegeben wurde der Tonfall des erhobenen Zeigefingers von Chrušþev selbst, der am 13. Juli 1964 vor dem Obersten Sowjet der UdSSR darauf hinwies, dass die Renten denjenigen „Kolchosbauern, die eine nachlässige Haltung gegenüber der Arbeit in der gesellschaftlichen Wirtschaft gezeigt haben, [...] in verringerter Höhe oder überhaupt nicht“ erteilt würden.628 Zu denen, die in diesen Tenor einstimmten, zählte auch L. P. Lykova, die am folgenden Tag vor derselben Zuhörerschaft betonte, dass man „nicht zulassen darf, dass Leute gesellschaftliche Wohltaten genießen, die der Kolchosproduktion rein gar nichts gegeben haben“.629 Zweitens diente die Verbesserung der Absicherung gegen existentielle Risiken der Eindämmung der Abwanderung der Jugend aus den Kolchosen, die nicht mindere Probleme bereitete als der Abgang des qualifizierten und Leitungspersonals. Durch die Verbesserung des Lebensstandards wollte man dazu beitragen, dass sich junge Menschen zunehmend für einen Verbleib auf dem Lande entschieden, und somit der demographischen Alterung der dortigen Beschäftigtenstruktur entgegenwirken. Dass man sich auch in den Artelen selbst einen solchen Effekt erhoffte, geht aus einem Brief hervor, den der Vorsitzende des Kolchos
627 GARF, F. R 7523, op. 45, d. 390, l. 29. Der Stimulans-Charakter der Kolchosrenten wird auch in der die Reform begleitenden Fachliteratur unterstrichen. Vgl. z. B. Zabozlaev u. a., Pensii i posobija, S. 9; Dmitraško, Vnutrikolchoznye ơkonomiþeskie otnošenija, S. 236237; Ruskol, Socialތnoe obespeþenie, S. 93; Semenov, Važnyj stimul. 628 Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 37. 629 Ebd., S. 132.
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„Krasnaja zvezda“ (Gebiet Gor’kij), ein Mann namens Kuroþkin, im Januar 1964 an N. S. Chrušþev adressierte. Zu diesem Zeitpunkt waren Informationen über das Reformvorhaben bereits an die Öffentlichkeit geraten. „Sehr geehrter Nikita Sergeeviþ! Verwirklichen Sie ihre Auffassung von den Renten [...]. Die Kolchose werden mit Freuden in den Staatsfonds einzahlen. Ob das nun in Gestalt einer speziellen Abführung oder über eine Anhebung der Einkommenssteuer realisiert wird, ist uns völlig egal. Dieser Beschluss würde es ermöglichen, die Abwanderung der Jugend aus den Kolchosen [...] zu beenden. Das wäre so etwas wie ein zweiter Chemie-Einsatz in den Kolchosen.“630
Gleichzeitig war man allerdings daran interessiert, die Älteren und Alten weiterhin an das Artel zu binden. In Anbetracht ihres hohen Prozentsatzes an der arbeitstätigen Kolchosbevölkerung gab es Stimmen, die darauf hinwiesen, dass ihre Verrentung den Arbeitskräftemangel in den Kollektivwirtschaften noch verschärfen könne.631 Einen vollständigen Rückzug dieser Mitglieder aus der Kolchosproduktion versuchte der Gesetzgeber denn auch zu verhindern, indem er in der Frage der Weiterarbeit eine im Vergleich mit den Regelungen des Staatsrentengesetzes weitaus liberalere Strategie verfolgte.632 Zwar ist nicht nachzuweisen, dass sich die politische Führung bei der Festsetzung der Kolchosrentenhöhe von entsprechenden Erwägungen leiten ließ, aber es ist sicher, dass deren bescheidenes Niveau erheblich mit dazu beitrug, dass sich betagte und invalide Artelmitglieder vergleichsweise oft für eine solche Tätigkeit entschieden. Der Erhalt ihrer verbleibenden Arbeitskraft für den Kolchos ist somit als ein Nebeneffekt der kargen Ausstattung des 1964 reformierten Kolchosrentensystems anzusehen.633
630 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1459, ll. 67. 631 So wies beispielsweise der gewerkschaftliche Vertrauensarzt I. Blinov den VCSPS im März 1964 darauf hin, dass sich angesichts „des hohen Anteils der betagten Kolchosbauern die Zahl der im Kolchos arbeitenden Personen im Zusammenhang mit dem Rentenantritt stark verringern“ werde. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 973, l. 64. 632 Wie groß das Interesse an der Weiterarbeit der Älteren war, verdeutlicht ein im März 1965 in der Social’noe obespeþenie veröffentlichter Beitrag. In ihm wurden die mit der Umsetzung der Kolchosrentenreform verbundenen Aufgaben der Sozialversorgungsorgane geschildert und gleichzeitig die Wichtigkeit des Verbleibs der Rentner in der Produktion des Artels unterstrichen: „Beachtenswert ist dieses Detail: Die meisten Rentner haben, wie auch zu erwarten war, die Arbeit nicht eingestellt. [...]. Die alten Kolchosbauern und -bäuerinnen, die den goldenen Arbeitsfonds der landwirtschaftlichen Artele ausmachen, werden auch in Zukunft die Rente antreten. Und unsere Aufgabe ist es, alles von uns Abhängende dafür zu tun, dass es zu keiner Verringerung der Arbeitskräftereserven in den Wirtschaften kommt. Eine solche Situation kann dadurch erreicht werden, dass man [...] ihnen [den Kolchosrentnern; L. M.] die vom Gesetz gewährten Vorteile und Vergünstigungen systematisch erläutert.“ Pervye itogi, S. 4. Mit den „Vorteilen und Vergünstigungen“ ist hier die Regelung gemeint, dass in der Landwirtschaft arbeitende Kolchosrentner die Rente ohne Abzüge beziehen konnten. Siehe Abs. 2.2.3. 633 Die Wichtigkeit des Beitrags der eigentlich als arbeitsunfähig geltenden Bevölkerungsteile für die Kolchose verdeutlicht die Tatsache, dass die unter 16-jährigen, die sich im Rentenalter befindenden und die als invalide eingestuften Mitglieder Ende der 1960er Jahre 10 % der in den Artelen anfallenden Arbeitsbelastung schulterten. Vgl. Mašenkov, Ispolތzovanie, S. 82.
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Allerdings verlor diese Form der Weiterarbeit kontinuierlich an Gewicht. Unionsweite Zahlen liegen diesbezüglich zwar nicht vor, jedoch lässt sich zumindest für die RSFSR feststellen, dass die Weiterarbeitenden im Jahr 1959 60 %, sechs Jahre später nur noch 50 % (1965) und 1970 sogar weniger als 34 % aller Kolchosmitglieder im Rentenalter stellten.634 Diese Entwicklung ist vermutlich vor allem darauf zurückzuführen, dass die älteren kolchozniki zunehmend von der Summe aus ihren Renten und den Erträgen der Bewirtschaftung des privaten Hoflandes leben konnten.635 Setzte sich das Gesamteinkommen der Kolchoshaushalte schon während der Erwerbstätigkeit im Mittel zu ca. 30 % aus den Einkünften aus der privaten Nebenwirtschaft zusammen,636 so kann für die Zeit nach dem Rentenantritt angenommen werden, dass diese die Haupteinnahmequelle für die meisten Kolchosaltersrentner darstellten.637
2.2.2.2. Die Vorbereitung und Verabschiedung des Kolchosrentengesetzes Erste Überlegungen zur Einrichtung eines allgemeinen Kolchosrentensystems, das der Uneinheitlichkeit der Bezugsbedingungen und des im Einzelfall gewährten Leistungsniveaus ein Ende setzen würde, fielen in ebenjene Zeit, in der man die Rentenversorgung der Arbeiter und Angestellten vorbereitete. Die Frage, wie mit dem übrigen Teil der älteren und invaliden Sowjetbevölkerung zu verfahren sei, stellte sich gewissermaßen von allein. Ein früher Beleg dafür, dass sich der Goskomtrud mit dem Problem zumindest en passant beschäftigte, bietet das Protokoll einer am 27. Juni 1955 unter der Leitung von L. M. Kaganoviþ tagenden Sitzung. In ihm wurde die Notwendigkeit unterstrichen, bei der weiteren Vorbereitung des Staatsrentengesetzes „ernsthaft über die Quellen und das Verfahren einer Altersund Invalidenrentenversorgung der Kolchosbauern nachzudenken“.638 Das Ergebnis dieser Überlegungen fiel freilich bescheiden aus. In der am 7. Oktober präsentierten Entwurfsversion erwähnte man nur noch, dass die materielle Versorgung der Kolchosmitglieder im Verantwortungsbereich der Kollektivwirtschaften und der KOVK liege. Zudem sollte der Ministerrat der UdSSR mit der Ausarbeitung von Maßnahmen zur „weiteren Entwicklung der materiellen Versorgung der Kol634 Vgl. Novickij Milތ, Zanjatostތ, S. 32. Der Prozentsatz von 34 % lag zwar immer noch deutlich über den Weiterarbeitsquoten der staatlichen Altersrentner. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass sich die arbeitstätigen Kolchosrentner oft nicht im selben Maße wie die jüngeren Artelmitglieder engagierten. Die auf die RSFSR des Jahres 1977 bezogene Feststellung, dass Erstere in der Regel nur etwa 40 % des Arbeitspensums der Letzteren leisteten (Vgl. ebd., S. 103.), lässt sich sicherlich in ähnlicher Weise auch auf den Untersuchungszeitraum übertragen. So trifft die Bemerkung der Autoren vermutlich zu, dass „die Kennziffer der Arbeitsaktivität der Kolchosrentner deutlich unter demjenigen der [...] Altersrentner aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten liegt“. Ebd. 635 Die Erträge aus der Nebenwirtschaft fielen nicht selten lukrativer aus als die vom Kolchos erhaltene Arbeitsvergütung. Vgl. Madison, The Soviet Pension System, S. 189. 636 Vgl. McAuley, Economic Welfare, S. 334; Meredova, Ơkonomiþeskie osnovy, S. 44. 637 Vgl. Paschaver, Nekotorye ơkonomiþeskie aspekty, S. 40. 638 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, l. 88.
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chosmitglieder in den genannten Fällen“ beauftragt werden.639 In die Endredaktion des Gesetzes über die staatlichen Renten fand diese Anmerkung jedoch keinen Eingang mehr. Orientiert man sich an einer Äußerung des Ersten Stellvertretenden Ministers der RSFSR für Sozialversorgung, dann waren die diesbezüglichen Überlegungen deshalb allerdings noch nicht zum Stillstand gekommen. Auf einer am 19. Juni 1956 abgehaltenen Sitzung jener Unterkommission der beiden Kammern des Obersten Sowjets der UdSSR, die die Endredaktion des Gesetzentwurfes über die Staatsrenten vorbereitete, vertrat G. M. Kapranov die Auffassung, dass das Thema der Absicherung der kolchozniki nicht in die finale Fassung gehöre: Es gebe diesbezüglich schlechterdings nichts zu vermelden. Auch würden die Kolchosbauern in der Frage keine Ungeduld zeigen, was daran abzulesen sei, so Kapranov im Widerspruch zu den beschriebenen Fakten, dass sie kaum entsprechende Briefe verfassten. Tatsächlich werde gegenwärtig weiter an diesem Problem gearbeitet: „Es gab einen speziellen Regierungsbeschluss, in dem eine bestimmte Gruppe damit beauftragt wurde, das Verfahren für eine Rentenversorgung der Kolchosbauern auszuarbeiten. In den ersten Varianten des Gesetzes wurde darauf hingewiesen. Spätere Erörterungen und andere Umstände haben dazu geführt, dass diese Angelegenheit in einem eigenständigen Verfahren entschieden wird.“640
Es muss offenbleiben, welchen Personen eine solche Weisung erteilt wurde, ob diese zu vorzeigbaren Ergebnissen gelangten und, wenn dies der Fall war, wie sie aussahen. In jedem Fall unternahm die politische Führung drei Jahre später einen neuen Anlauf zur Behebung der Versorgungsdefizite älterer und invalider Kolchosbauern: Am 11. August 1959 erteilte die Sowjetregierung der erwähnten Mackeviþ-Volkov-Kommission den Auftrag, Vorschläge zur Sozialversorgung der Kolchosmitglieder zu unterbreiten.641 Zu Beginn des folgenden Jahres war man schließlich so weit, einen Verordnungsentwurf vorzulegen. Bei der Ausarbeitung der Bezugsbedingungen für die Altersrente hatte man sich dergestalt an den staatlichen Standardrenten orientiert, dass auch hier individuelles Lebensalter und Dienstalter die maßgeblichen Qualifikationsmerkmale darstellten. Im Vergleich zu den für die Arbeiter und Angestellten geltenden Bestimmungen fiel das Renteneintrittsalter allerdings um fünf Jahre höher aus, während die staž-Anforderungen Ersteren entsprachen. Ein zweistufiger Berechnungsmodus der Leistungen sah vor, dass 80 % der für die Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion des Artels erhaltenen Vergütung in die Rente einfließen sollten. Von jenem Teil des früheren Verdienstes, der die Grenze von 30 R überschritt, sollte man jedoch nur noch 25 % erhalten. Mit Hilfe dieser Gleichung meinte man zu gewährleisten, dass das Versorgungsniveau jenes der früheren Sowchosarbeiter, die über ein vergleichbares Einkommen verfügt hatten, erreichte. Im Unterschied zu den Staatsrenten setzte die Mackeviþ-Volkov-Kommission jedoch deutlich niedrigere Rentenober- und -untergrenzen fest: Ein Kolchosaltersrentner sollte monatlich nicht 639 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 90, l. 27. 640 GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 49, l. 72. 641 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, l. 4.
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weniger als 8,50 und nicht mehr als 50 R beziehen können. Finanzieren wollte man die neuen Leistungen über in den einzelnen Sowjetrepubliken zu gründende Fonds. Deren Mittel sollten sich zur Gänze aus den Abgaben der Kolchose speisen. Bezüglich der mit dieser Reform verbundenen Ausgaben kalkulierte man mit einer Summe von 1,7 Mrd. R.642 Eine Umsetzung erfuhr der Entwurf nicht, wofür aller Wahrscheinlichkeit nach die als zu hoch empfundenen Kosten verantwortlich waren.643 Wurde die Reform der Kolchosrenten nun für den Moment zurückgestellt, so verschwand sie doch nicht zur Gänze von der sozialpolitischen Agenda. In dem auf dem XXII. Parteitag der KPdSU verabschiedeten neuen Parteiprogramm hielt man fest, dass auch die Kolchosmitglieder vom Wachstum des Nationaleinkommens profitieren und „auf Krankengeld, Beihilfen bei Verlust der Arbeitsfähigkeit und Altersrenten Anspruch haben“ sollten.644 Für die 1970er Jahre stellte Chrušþev sogar den Übergang „zu einem einheitlichen System der Rentenversorgung aller Arbeitsunfähigen“, also die Überwindung der Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten einerseits und Kolchosbauern andererseits, in Aussicht.645 Gegenständlich wurden die Überlegungen zur Reform der Kolchosrentenversorgung allerdings erst zwei Jahre später. In einem Bericht „Über die Maßnahmen zur Steigerung des Lebensstandards des Volkes“, den P. F. Lomako (Gosplan der UdSSR), V. F. Garbuzov, A. P. Volkov u. a. im November 1963 für das ZK der KPdSU erstellten, wurde eine zweistufige Lösung vorgeschlagen. Man hielt es für realisierbar, 1966/67 eine Rente einzuführen, deren Höhe sich auf 10–20 R belaufen würde. Drei Jahre später wollte man die Leistungen dann auf ein Niveau anheben, das dem der Staatsrentner „mit Verbindung zur Landwirtschaft“ entspräche. Neu war hier, dass die Kolchose nun nicht mehr für die Gesamtheit der Finanzlasten aufkommen sollten: Der Staat würde die Hälfte der notwendigen Aufwendungen übernehmen.646 Solche langfristigen Planungen wurden innerhalb eines kurzen Zeitraums obsolet. Es ist sicherlich auf die Dringlichkeit zurückzuführen, mit der man meinte, auf die Agrarkrise von 1963 reagieren zu müssen, dass man schon wenige Monate 642 Vgl. ebd., ll. 2, 3 u. 7. 643 Hierfür spricht eine interne Notiz A. P. Stepanovs, auch er ein Stellvertreter des GoskomtrudVorsitzenden, in der er sich am 27. Juni 1961 zur Absicherung der kolchozniki äußerte – und dabei wohl auf den Mackeviþ-Volkov-Entwurf Bezug nahm: „Die Frage einer staatlichen Rentenversorgung für die Mitglieder der Kollektivwirtschaften ist geprüft worden. Allerdings wurde sie nicht positiv beschieden, da sie mit hohen zusätzlichen Ausgaben verbunden ist.“ GARF, F. A 385, op. 12, d. 1129, l. 8. Bereits im Oktober des vorangegangenen Jahres hatte N. A. Murav’eva auf einer Sitzung der Kommission für das Gesundheitswesen und die Sozialversorgung des Obersten Sowjets der RSFSR davon gesprochen, dass das „Kolchosgesetz [möglicherweise] angenommen wird. Sie warten alle darauf. Aber man muss sagen, dass der [Staats-]Haushalt wächst, während für das Kolchosgesetz noch einmal 40 Mrd. R* benötigt werden. Dabei hat man unumwunden gesagt, dass kein Geld [mehr] vorhanden ist.“ RGASPI, F. 556, op. 23, d. 125, l. 8. 644 Programm der Kommunistischen Partei, S. 116. 645 XXII s-ezd, S. 200. 646 Vgl. RGANI, F. 2, op. 1, d. 662, l. 133.
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später konkrete Schritte einleitete. Eine Kommission unter der Leitung des Stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden der UdSSR D. S. Poljanskij erarbeitete diesbezüglich einen Entwurf,647 der dem ZK der KPdSU am 21. Januar 1964 vorgestellt wurde.648 Ein Unterschied dieses als „Gesetz über die Renten und Beihilfen der Kolchosbauern“ titulierten Dokuments zu dem Entwurf von 1959/60 bestand in einem nivellierenden Ansatz bei der Leistungsberechnung: Sämtliche Bezieher sollten pauschal 15 R im Monat erhalten.649 Des Weiteren stellte man die Finanzierung der Sozialleistungen auf eine neue Grundlage. Sie wollte man nunmehr einheitlich über den sogenannten „Zentralisierten Unionsfonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern“ (im Folgenden: ZUSVK) gewährleisten, in den die Artele einen fixen Anteil ihrer Geldeinnahmen einzuzahlen hätten. Diese Mittel sollten über jährliche Zuweisungen aus dem Staatshaushalt ergänzt werden.650 Kurz darauf bekundete die Parteiführung auch öffentlich ihren Willen, eine großangelegte Reform der Kolchosrentenversorgung durchzuführen. Den passenden Rahmen hierfür bot das vom 10. bis zum 15. Februar 1964 tagende Plenum des ZK der KPdSU. Der Schwerpunkt der Diskussionen galt der Frage, wie mit Hilfe von mineralischen Düngemitteln, Bewässerungsmethoden, Mechanisierung etc. die „Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion“ erreicht werden konnte. In seiner Abschlussrede kam der Erste Sekretär allerdings auch auf die Verbesserung der Rentenversorgung der kolchozniki zu sprechen, deren Voraussetzungen infolge der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes nun gegeben seien. Bezüglich der bis dato gängigen Mechanismen der sozialen Sicherung in den Artelen konstatierte Chrušþev, dass ihre Verschiedenheit von den für die Arbeiter und Angestellten geltenden Regeln der ökonomischen Entwicklung des Landes entsprochen habe. Dieses kenne schließlich zwei Formen des gesellschaftlichen Besitzes – den staatlichen und den kooperativ-kolchoswirtschaftlichen. Leider charakterisiere die kolchosinternen Maßnahmen jedoch eine beträchtliche Uneinheitlichkeit, und es seien vor allem die fortschrittlichen Kolchose, die Mittel für die Absicherung ihrer Mitglieder bereitstellten: „Es ist notwendig, dass wir ein stabiles System der Sozialversorgung in den Kolchosen einführen. [...]. Ich denke, dass man einen Zentralisierten Unionsfonds für die Sozialversorgung einrichten und aus seinen Mitteln die Renten für die Kolchosbauern erteilen sollte. An der Einrichtung eines solchen Fonds müssen sich vor allem die Kolchose selbst beteiligen. Es erscheint uns zielführend, ein Verfahren festzusetzen, dem gemäß alle Kolchose einen be-
647 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1497, ll. 188193. 648 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1497, ll. 186187. 649 Um dennoch eine gewisse Differenzierung zu erreichen, wurde den prosperierenden Artelen empfohlen, aus eigenen Mitteln Rentenzuschläge zu zahlen, auf dass die Gesamtsumme der Leistungen an das Niveau der Staatsaltersrenten für Personen mit „Verbindung zur Landwirtschaft“ heranreichen würde. 650 Zur Deckung der hierdurch entstehenden Kosten schlug die Poljanskij-Kommission eine fünfprozentige Anhebung der Konsumentenpreise für Wodka, Wein, Bier und Tabakwaren vor. Vgl. ebd., l. 187.
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stimmten Prozentsatz ihrer Einkünfte in den Fonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern abführen.“
Dieser Anteil könne sich in Zukunft verringern, wenn die Landwirtschaft infolge der Intensivierungsmaßnahmen mehr Erträge abwerfe. Von Interesse ist des Weiteren, dass der Erste Sekretär des ZK der KPdSU bereits in dieser Rede die Bereitschaft zeigte, von der Pauschalrente für Artelmitglieder Abstand zu nehmen. Dabei griff er die Einwände der Vertreter von prosperierenden Kollektivwirtschaften auf, die sich augenscheinlich dagegen ausgesprochen hatten, dass ihre Mitglieder Renten derselben Höhe erhalten sollten wie die kolchozniki von schwächeren Artelen. Ausschlaggebend für die Qualität der individuellen Absicherung sollte die Produktivität des Kollektivs sein, deren Mängel als das Ergebnis der unzureichenden Arbeitsleistung seiner Mitglieder angesehen wurden: „Die Rückständigkeit des einen oder anderen Kolchos ist nicht das Resultat besonderer Umstände, sondern meistens das Resultat schlechter Führung, unzufrieden stellender Arbeitsorganisation, schwacher Arbeitsdisziplin. Rückständige Kolchose finden sich in der örtlichen Nähe zu fortschrittlichen. Sie verfügen über Land von derselben Qualität und die notwendige Technik, aber die Arbeitsergebnisse unterscheiden sich. [...] Einen Teil der Verantwortung für diese Rückständigkeit müssen sämtliche Kolchosbauern tragen. Möge der Mensch wissen, dass sich die heutige schlechte Arbeit im Kolchos auf die morgige Altersversorgung niederschlägt.“651
In der Folge führte man die Arbeit an dem Gesetzentwurf, dessen Diskussion und Verabschiedung für die fünfte Sitzungsperiode des Obersten Sowjets der UdSSR der sechsten Legislaturperiode (13.–15. Juli 1964) vorgesehen wurde, weiter. Das Resultat der Bemühungen stellte ein nun als Dekret kategorisierter Entwurf „Über die Renten und Beihilfen für Kolchosbauern“ dar, der sich vor allem in Bezug auf die Leistungsbemessung von seinem Vorgänger unterschied. Wie von Chrušþev auf dem Februarplenum angeregt, nahm man hier von der nivellierenden Behandlung der Kolchosrentner Abstand. Allerdings differenzierte man dabei nun doch nicht nach Kolchosen, sondern nach Einzelpersonen: Die Höhe der ausgezahlten Rente sollte sich wie bei den Arbeitern und Angestellten am früheren Erwerbsentgelt ausrichten. Um diesen Effekt zu erreichen, orientierte man sich an dem von der Mackeviþ-Volkov-Kommission vorgeschlagenen Berechnungsmodus, den man jedoch abwandelte. Gleichzeitig sah man abermals die Einführung einer Maximal- und einer Mindestrente vor.652 Anders als im Fall der staatlichen Renten wurde das Dekretvorhaben nicht in der sowjetischen Presse publiziert. Eine öffentliche Diskussion seiner Bestimmungen war folglich nicht gewünscht, was den Schluss nahe legt, dass sich die politische Führung von dem Dokument anders als acht Jahre zuvor keinen größe-
651 Plenum Centralތnogo Komiteta (Stenografiþeskij otþet), S. 445446. Die geplanten Maßnahmen zur Reform der Kolchosrenten wurden auch in der Plenums-Verordnung gutgeheißen. Vgl. Plenum CK KPSS (KPSS v rezoljucijach), S. 412413. 652 Zu diesen Bestimmungen, die in den endgültigen Gesetzestext Eingang fanden, siehe Abs. 2.3.3.
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ren Propagandaeffekt erhoffte.653 Der Entwurf wurde direkt an die Kommissionen für Gesetzesvorschläge der beiden Kammern der sowjetischen Legislative übergeben, die nun ein Gutachten zu erstellen hatten, dass den Mitte Juli zusammenkommenden Delegierten des Obersten Sowjets der UdSSR bei der Entscheidungsfindung behilflich sein sollte. Zu seiner Vorbereitung gründeten die beiden Ausschüsse abermals eine aus Abgeordneten und Fachleuten bestehende Unterkommission, die ihre Arbeit am 2. Juli 1964 aufnahm. Die während der Sitzungen dieses Gremiums geführten Diskussionen besitzen einen erheblichen Wert für das Verständnis einzelner Detailaspekte des zukünftigen Gesetzes. Besonderes Interesse erwecken sie darüber hinaus, weil sie verdeutlichen, dass den Mitgliedern vor allem eine Frage Probleme bereitete: Wie sollte der Öffentlichkeit vermittelt werden, dass das Versorgungsniveau der Artelmitglieder deutlich hinter dem Rentensystem der Arbeiter und Angestellten zurückbleiben würde? Die diesbezügliche Diskussion entzündete sich insbesondere an einem Absatz in der Präambel des Dekretentwurfs, in dem konstatiert wurde, dass die Kolchosrentenleistungen zukünftig „gemäß dem Wachstum des Nationaleinkommens, insbesondere der Kolchoseinnahmen, allmählich bis zum Niveau der den Arbeiter und Angestellten erteilten staatlichen Renten“ steigen würden.654 Mitglieder der Unterkommission wie der Experte für Haushaltsrecht M. I. Piskotin kritisierten, dass hier nicht darüber aufgeklärt werde, weshalb die Arbeiter und Angestellten deutlich höhere Leistungen beziehen würden als die Artelmitglieder. Dieser Unterschied müsse begründet werden, um keine Irritationen hervorzurufen.655 G. A. Aksenenok, Stellvertretender Leiter des Instituts für Staat und Recht der Akademie der Wissenschaften, bemängelte an dem Verweis auf zukünftige Steigerungen des allgemeinen Wohlstands, dass er den Eindruck erwecke, man entschuldige sich geradezu bei den Kolchosbauern und der übrigen Bevölkerung für die bescheidenen Reformergebnisse. Er hielt es ebenfalls für notwendig, auf die offensichtliche Disparität zwischen den Rentenformen einzugehen, und plädierte dafür, den Absatz durch eine hinreichende Erklärung für den gegenwärtigen Rückstand des neuen Sicherungssystems zu ergänzen: „Die Kolchosbauern unterscheiden sich von den Arbeitern und Angestellten dadurch, dass sie über eigene Nebenwirtschaften verfügen, nicht nur über jene Hofgrundstücke, auf die das Gesetz verweist, sondern wirkliche Nebenwirtschaften. Warum soll man deshalb nicht sagen, dass die Rentenbeträge von diesen Besonderheiten ausgehend festgelegt werden, unter Berücksichtigung dessen, dass die Kolchosbauern, neben den aus der gesellschaftlichen Wirtschaft erhaltenen Einkünften auch noch [solche] Einnahmen haben [...]. Diese Tatsache lässt sich in keiner Weise bestreiten.“656
653 Darauf, dass sich Kolchosbauern von dieser Unterlassung zurückgesetzt fühlten, deutet ein Brief, den die Mitglieder des Artels „Zarja kommunizma“ (Gebiet Zaporož’e) an den Obersten Sowjet der UdSSR schickten. In ihm klagten sie u. a.: „Es ist kränkend, dass das neue Gesetz nicht öffentlich erörtert wurde.“ GARF, F. R 7523, op. 83, d. 427, l. 9. 654 GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 396, l. 81. 655 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 393, l. 147. 656 Ebd., ll. 4445. Vgl. auch ebd., l. 147.
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Andere Redner sprachen sich gegen eine solche Korrektur aus. Die Bezugnahme auf die Erträge aus der Bestellung des privaten Hoflandes mache keinen Sinn, da dieselbe Möglichkeit auch vielen ehemaligen Sowchosarbeitern offen stehe. Vertreten wurde dieser Standpunkt u. a. von Aleksej P. Stoljarov, einem leitenden Mitarbeiter657 des sowjetischen Finanzministeriums: „Man darf nicht vergessen, dass den Bestimmungen der staatlichen Renten zufolge Personen, die mit der Landwirtschaft verbunden sind und ein Grundstück haben, das größer als 0,15 ha ist, eine um 15 % niedrigere Rente erteilt wird. Dabei wird die Nebenwirtschaft berücksichtigt. Statt der [sich so ergebenden] 25 R wegen des Vorhandenseins eines Hofgrundstücks wird die [Mindest-]Rente [der Kolchosbauern nur] 12 R betragen. Das ist keine Erklärung.“658
Schon zuvor hatte M. S. Lancev auf einen weiteren Schwachpunkt des argumentativen Verweises auf die Zusatzeinkünfte der Artelmitglieder hingewiesen: Ein 80-jähriger, gebrechlicher Bauer ziehe kaum noch einen Vorteil aus seinem Hofgrundstück, da er es nicht mehr bestellen könne.659 Am Ende setzte sich Lancevs Auffassung durch; eine Änderung des Präambeltextes wurde mit 11 zu 7 Stimmen abgelehnt.660 Auf eine ergänzende Erläuterung wurde demnach verzichtet. So zeigt diese Auseinandersetzung deutlich, dass es keine in der Sache überzeugenden Gründe für die erheblichen Leistungsunterschiede zwischen den Staats- und den nun vorbereiteten Kolchosrenten gab. Die Konsequenzen der Beratungen in der Unterkommission lassen sich nicht im Detail nachvollziehen, da sich die schließlich der Legislative zur Abstimmung vorgelegte Entwurfsfassung nicht erhalten hat. Sicher ist, dass sie dem Dekretentwurf in den Grundzügen folgte. Einige Korrekturen betrafen Formulierungen,661 andere Änderungsvorschläge flossen in die Korreferate ein, die die Vorsitzenden der beiden Kommissionen für Gesetzesvorschläge – Nizoramo Zaripova (Nationalitätenrat) und Georgij I. Vorob’ev (Unionsrat) – den jeweiligen Kammern des Obersten Sowjets am 14. Juli 1964 präsentierten. Vorob’ev zufolge handelte es sich bei dem neuen Gesetz um einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu jener einheitlichen Rentenversorgung, von der Chrušþev 1961 gesprochen hatte.662 Über die Vorteile des Reformwerks referierend, formulierte er einen Dreiklang, der in der Folge zu einem Gemeinplatz bei der propagandistischen Vermittlung der Kolchosrentenversorgung werden sollte: Es werde 657 Stoljarov war Stellvertretender Leiter der Verwaltung für die Finanzierung der Kultur, des Gesundheitswesens und der Sozialversorgung. 658 Ebd., l. 148. 659 Vgl. ebd., l. 22. Bezog sich Lancevs Einwand sicherlich zuallererst auf die textliche Präambelgestaltung, so stellte er de facto auch die Bestimmungen des Staatsrentengesetzes selbst in Frage. Schließlich galt die 15-prozentige Leistungsminderung bei Vorhandensein einer „Verbindung zur Landwirtschaft“ auch für jene Bezieher staatlicher Altersrenten, deren fortgeschrittenes Alter sie ebenfalls an der Nutzung ihres privaten Hoflandes hinderte. 660 Vgl. ebd., l. 149. 661 So wurde der vorzubereitende Akt nicht mehr als Dekret, sondern abermals als „Gesetz“ eingestuft. Auch wurden dessen Adressaten nicht als kolchozniki, sondern – respektvoller – als „Mitglieder der Kolchose“ tituliert. 662 Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 71.
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ein „stabiles, vom Staat garantiertes und landesweit einheitliches System der Sozialversorgung eingeführt“.663 Gleichzeitig unterstrich er die für die Kolchosrenten spezifische Zukunftsausgerichtetheit der Versorgung: „Der Entwurf geht davon aus, dass die Rentenhöhen, die für Kolchosbauern festgesetzt werden können, zukünftig gemäß dem Wachstum des Nationaleinkommens, speziell der Kolchoseinnahmen, allmählich bis zum Niveau der den Arbeitern und Angestellten erteilten Staatsrenten ansteigen wird.“664
Inhaltlich ergänzten die Korreferate den ursprünglichen Dekretentwurf nur in nachgeordneten Punkten. Zentrale Fragen wie das über die Reform gewährleistete Versorgungsniveau oder die Qualifikationskriterien blieben unangetastet. So empfahl Zaripova gegenüber dem Nationalitätenrat eine Reihe von Korrekturen, die tatsächlich in die verabschiedete Gesetzesfassung eingehen sollten. Hierzu gehörte die – bereits für die Arbeiter und Angestellten – geltende Vorschrift, dass ein kolchoznik, der sich für zwei Rentenformen qualifiziert hatte, zwischen diesen frei wählen können sollte.665 Unterstützung fand auch die Forderung nach der Anrechnung jener Jahre, die ein Individuum in der Sowjetarmee gedient hatte, auf das Dienstalter.666 Andere Vorschläge betrafen das Prozedere der Rentenbeantragung oder die Rechtsmittel gegen eine als fehlerhaft empfundene Bewilligung. Von besonderer Bedeutung für die Bewohner der erst im Zuge des Zweiten Weltkriegs zur UdSSR gestoßenen Gebiete war schließlich eine weitere Empfehlung: Für die Mitglieder von Artelen, die erst mehrere Jahre nach der Kollektivierung gegründet worden waren, sollten spezielle Bezugsbedingungen gelten, welche in der Verfahrensordnung zu regeln seien.667 Eingeleitet hatte N. S. Chrušþev die Sitzungsperiode des Obersten Sowjets am Tag zuvor mit der Rede „Über Maßnahmen zur Erfüllung des Programms der KPdSU im Bereich der Steigerung des Volkswohlstandes“, in der er der Kolchosrentenreform eine „gewaltige historische Bedeutung“ zuschrieb und sie zu den großen sozialen Umgestaltungen zählte, die die Partei in den vorangegangenen Jahren in die Wege geleitet habe.668 Des Weiteren skizzierte er nicht nur die Bestimmungen des Gesetzesvorhabens, sondern stellte auch jene Aspekte desselben vor, auf die sich die folgenden Diskussionen konzentrieren sollten. Hierbei handelte es sich etwa um die Frage der Finanzierung des ZUSVK: Es habe, so Chrušþev, Stimmen gegeben, die sich gegen die Berechnung der von den Kolchosen zu leistenden Abführungen auf der Grundlage der Geldeinnahmen ausgesprochen hätten. Stattdessen solle der Wert der Bruttoproduktion oder der Bruttoeinnahmen als Ausgangsbasis herangezogen werden: „Die Anhänger dieses Vorschlags bringen meiner Meinung nach ziemlich überzeugende Argumente vor. Sie denken, dass, wenn man die Abführungen in den Rentenfonds nur von den 663 664 665 666 667 668
Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 73 [eig. Hervorheb.]. Ebd., S. 7374. Vgl. Art. 3 des Kolchosrentengesetzes. Vgl. Ziff. 50 der Kolchosrentenordnung. Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 139142. Ebd., S. 24.
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Geldeinnahmen her berechnet, dies einige unzuverlässige Menschen dazu veranlassen kann, die Geldeinnahmen künstlich zu senken. Es könnten sich Mitarbeiter finden, die ungefähr so kalkulieren: Wenn man mehr Naturalien an die Kolchosbauern verteilt, dann werden die Geldeinnahmen weniger und man muss weniger in den Rentenfonds einzahlen.“
Chrušþev bezeichnete die Zweifel an der in der Entwurfsfassung vorgesehenen Lösung nicht nur als „überzeugend“, er sprach sich zudem für die Einrichtung einer speziellen Kommission zur Prüfung dieser Frage aus. Dadurch nahm er freilich den Tenor vieler Gesprächsbeiträge zu dem Problem vorweg.669 Zwei Tage wurde tatsächlich ein entsprechender Ausschuss gegründet, der die entsprechende Korrektur vornehmen sollte.670 Ein zweites Thema, das der Erste Sekretär zur Diskussion stellte, betraf die Frage, ob das sozialistische Leistungsprinzip auch bei der Kolchosrentenreform greifen sollte. Dabei unterschied er zwei mögliche Ansätze, die ihm zufolge von Briefautoren, die sich zu dieser Angelegenheit geäußert hätten, vertreten wurden: Die einen hätten sich für die Auszahlung eines Pauschalbetrags an alle Kolchosrentner ausgesprochen. Die anderen, Chrušþev zufolge die Mehrheit, würden meinen: „[...] je höher die Arbeitsproduktivität der Kolchosbauern, je mehr der Kolchos produziert [...], je höher seine Einnahmen und das Niveau seiner Einzahlungen in den Rentenfonds sind, desto größer sollen die Renten für die Kolchosbauern sein.“
Diesen zweiten Standpunkt bewertete er als richtig und setzte sich somit für eine Variante des „Jedem nach seiner Leistung“-Grundsatzes ein, die sich deutlich von jener unterschied, die im Zusammenhang mit dem Staatsrentengesetz Anwendung fand: Als Maß für die Qualität des in der Vergangenheit geleisteten Arbeitsbeitrages sollte nicht mehr allein dessen Durchschnittsverdienst dienen, sondern darüber hinaus die Leistungsfähigkeit seines Kolchos. Wie schon in seiner Abschlussrede vor dem Februarplenum dachte Chrušþev hier an eine Kollektivhaftung der Bauern, die dazu führen sollte, dass die Mitglieder schwacher Artele in toto schlechter versorgt waren als die der prosperierenden: „Weshalb denn sollen die Kolchosbauern so einer [rückständigen] Wirtschaft auf dem Gebiet der Rentenversorgung mit den Kolchosbauern progressiver Wirtschaften gleichgestellt sein? Man kann sagen, dass die ökonomische Verfassung dieser oder jener Wirtschaft in vielem von den Führungspersonen abhängt [...]. Aber wenn der Leiter einer Wirtschaft untauglich ist, müssen die Kolchosbauern ihn ersetzen und einen fähigen Organisator vorschlagen. Das Kollektiv ist eine große Kraft. Mit der nötigen Beharrlichkeit und Zielgerichtetheit, mit einer hohen Arbeitsdisziplin kann man die Rückständigkeit eines jeden Kolchos schnell überwinden.“671
Interessant – und vielleicht ein Zeichen seines sinkenden Einflusses – ist die Tatsache, dass sich dieser von Chrušþev favorisierte Lösungsansatz nicht durchzusetzen vermochte. Zwar wurde er während der folgenden Diskussionen von meh669 Ebd., S. 31. Zur Zustimmung von Deputierten zu diesem Vorschlag vgl. z. B. ebd., S. 99, 255, 304 u. 347. 670 Hierbei handelte es sich um die im Folgenden angeführte Vorob’ev-Kommission. 671 Ebd., S. 3233.
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Das System der allgemeinen Altersrenten
reren Kolchosvorsitzenden aufgegriffen, modifiziert und radikalisiert,672 er erfuhr jedoch keine Realisierung. Dem endgültigen Gesetzeswortlaut zufolge sollte der Gefahr der Gleichmacherei – wie schon 1956 – lediglich durch eine Differenzierung der Renten in Abhängigkeit von der Höhe des früheren Arbeitsentgelts begegnet werden.673 Die Deputierten des Obersten Sowjets, die in der Folge zu Chrušþevs Rede, zu den Korreferaten von Zaripova und Vorob’ev sowie dem Inhalt des Gesetzentwurfs Stellung nahmen, widmeten den Großteil ihrer „Diskussionsbeiträge“ dem Lob der Führung für die Verwirklichung ihrer Vorhaben und das erreichte Wirtschaftswachstum. Auch unterstrichen sie die historische Bedeutung des Kolchosrentengesetzes sowie den positiven Effekt, den es auf die zukünftige Produktivität des Agrarsektors haben würde. Im Vergleich zu der im Juli 1956 an gleicher Stelle erfolgten Erörterung des Staatsrentenentwurfs beschränkten sich die Redner in noch höherem Maße auf die Affirmation der Sozialpropaganda. Vereinzelt gab es jedoch auch Stimmen, die eigene Impulse setzten. So deutete D. R. ýebotarev aus der Region Stavropol’ auf Probleme beim individuellen Nachweis der Erfüllung der Bezugskriterien und forderte ein dem Arbeitsbuch der Arbeiter und Angestellten vergleichbares Dokument, das hier Abhilfe schaffen könnte.674 Thematisiert wurde ebenfalls das Los jener früheren Artelmitglieder, die unter den Folgen der Sowchosisierung zu leiden hatten, weil sie nicht in die neu gegründeten Staatsgüter übernommen worden waren.675 Verabschiedet wurde das „Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“ in seiner Endredaktion am 15. Juli 1964 durch ein einstimmiges Votum. Es sah neben der Erteilung von Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten für sämtliche kolchozniki auch die von Schwangerschafts- und Geburtsbeihilfen für weibliche Mitglieder vor und sollte zum 1. Januar 1965 in Kraft treten. Der Gesetzestext selbst hielt sich in Bezug auf die praktische Umsetzung der Reform überaus bedeckt und verwies in diesem Zusammenhang lediglich auf die „Verfahrensordnung zur Festsetzung und Auszahlung der Renten für Kolchosmitglieder“ (im Folgenden: Kolchosrentenordnung), für deren Vorbereitung der Ministerrat der UdSSR drei weitere Monate benötigte.676 Zur Finanzierung der Leistungen ließ sich dem Gesetz entnehmen, dass der ZUSVK eingerichtet werde. Darüber, in welcher 672 Vgl. in diesem Zusammenhang die Beiträge von T. K. Tret’jakov (Ebd., S. 274278.) und V. V. Graþev (Ebd., S. 301305.). 673 Tatsächlich barg auch diese Leistungsdifferenzierung noch ein Moment der Kollektivhaftung, da die Höhe der individuellen, aus der Kolchosarbeit erzielten Einkünfte ja von der Leistungsfähigkeit des Kolchos beeinflusst wurde. 674 Vgl. ebd., S. 99. In ähnlicher Weise äußerte sich auch B. M. Volodin aus dem KaratschaiTscherkessischen Autonomen Gebiet, der sich für die Ausstellung eines „Arbeitspasses“ aussprach. Vgl. ebd., S. 255. 675 Vgl. ebd., S. 117. 676 Rechtskraft erlangte sie mit der Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 17. Oktober 1964 Nr. 859 „Über die Bestätigung der Verfahrensordnung zur Festsetzung und Auszahlung der Renten für Kolchosmitglieder“ (SP SSSR, 1964, Nr. 20, Pos. 128). Den mit diesem Gesetz ebenfalls eingeführten Schwangerschafts- und Geburtsbeihilfen widmete sich eine eigene, am 4. November 1964 bestätigte Verfahrensordnung (SP SSSR, 1964, Nr. 22, Pos. 136).
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Höhe und auf welcher Grundlage man die Abgaben der Artele zu erheben gedachte, sollte separat entschieden werden. Zur Ausarbeitung entsprechender Vorschläge wurde eine aus Deputierten des Obersten Sowjets bestehende Kommission unter der Leitung von G. I. Vorob’ev (im Folgenden: Vorob’ev-Kommission) gegründet. Ihre Ergebnisse fanden Eingang in zwei Normativakte: die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 3. September 1964 Nr. 746 „Über das Verfahren und die Höhe der an den Zentralisierten Unionsfonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern zu leistenden Abgaben und über organisatorische Maßnahmen in Verbindung mit der Umsetzung des Gesetzes über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“677 und die am 6. November 1964 von der Sowjetregierung bestätigte „Ordnung über den Zentralisierten Unionsfonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern“.678
2.2.3. Die Bestimmungen des Kolchosrentengesetzes zur Altersversorgung Eine erste Voraussetzung für das Anrecht des Einzelnen auf die neue Kolchosrente war seine Mitgliedschaft in einem landwirtschaftlichen oder Fischfang-Artel (Art. 1). Personen, die der Gemeinschaft nicht mehr angehörten, hatten demzufolge auch dann keine Aussicht auf eine Altersversorgung, wenn sie alle anderen Bezugkriterien erfüllten.679 Eine rückwirkende Geltung war den Bestimmungen des Gesetzes somit nicht zu eigen. Der Anspruch auf eine Altersrente leitete sich darüber hinaus aus der Erfüllung der an das individuelle Lebens- und Dienstalter gestellten Bedingungen ab. Hinsichtlich des ersten dieser beiden Kriterien bestand ein grundlegender Unterschied zu den für die Arbeiter und Angestellten geltenden Modalitäten: Männliche Artelmitglieder mussten ihr 65., weibliche ihr 60. Lebensjahr vollendet haben, bevor sie einen entsprechenden Antrag zu stellen vermochten. Wie ließ sich eine solche Differenz von fünf Jahren rechtfertigen? Sicherlich gab es Stimmen, die behaupteten, dass die körperliche Arbeit in der Landwirtschaft gesünder sei und deshalb die individuelle Befähigung zur Berufsausübung prinzipiell länger erhalte, als dies für andere Tätigkeiten gelte.680 Derartige Aussagen blieben jedoch nicht unwidersprochen. So hält etwa I. I. Dmitraško die Annahme,
677 SP SSSR, 1964, Nr. 16, Pos. 106. 678 SP SSSR, 1964, Nr. 22, Pos. 137. 679 Vgl. auch Wädekin, Die Bezahlung, S. 231. Kolesnikov, V povestke dnja, S. 141, deutet an, dass diese Vorbedingung zur Begrenzung des Kreises der Leistungsberechtigten führte und auf wirtschaftliche Überlegungen zurückzuführen war. 680 So konstatiert z. B. Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 203: „Die Arbeitsbedingungen in den Kolchosen, speziell das Arbeits- und Erholungsregime, und die Vielfalt der Arbeit machen es möglich, die Arbeit der Männer bis 65 und der Frauen bis 60 in der gesellschaftlichen Wirtschaft der Kolchose zu nutzen. Die Analyse der Verwendung der Arbeitskräfte in den Kolchosen und den staatlichen Betrieben der Landwirtschaft zeigt, dass die Grenzen des arbeitsfähigen Alters in den Kolchosen höher liegen.“ Vgl. auch Vitte u. a., Uslovija, S. 115.
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Das System der allgemeinen Altersrenten „dass einfache Kolchosbauern die Erwerbsfähigkeit länger bewahren als, sagen wir, die im selben Kolchos arbeitenden Traktoristen, Schmiede, Schlosser, Mähdrescherführer oder die Arbeiter der Städte“,
für geradezu abwegig.681 Mehr Überzeugungskraft besitzt da der Verweis auf ökonomische Beweggründe. Einerseits wäre eine Angleichung der Altersgrenze an das Niveau der Arbeiter und Angestellten mit einer deutlichen Vergrößerung der Bezieherzahl und damit einer beträchtlichen Kostensteigerung verbunden gewesen.682 Andererseits meinte man, wie erwähnt, angesichts der Altersstruktur der Kolchosbauernschaft nicht auf den Arbeitsbeitrag der 55–59 Jahre alten Frauen und 60–64 Jahre alten Männer verzichten zu können.683 Bei der Höhe des Dienstalters beschritt der Gesetzgeber keine Sonderwege: Hier waren von Männern ebenfalls 25 Jahre, von Frauen 20 Jahre der Arbeit zu belegen (Art. 6). Dabei konnte keineswegs nur der Zeitraum angeführt werden, im dem man im Rahmen der gesellschaftlichen Produktion eines Kolchos beschäftigt gewesen war. Auch ein gemischter staž wurde akzeptiert: Neben der Dauer des Dienstes in den Streitkräften galten demzufolge auch Jahre als rentenrelevant, die man als Arbeiter, Angestellter oder in anderen Berufen, die für den Bezug einer Staatsrente qualifizieren konnten, tätig gewesen war (Art. 15).684 Der disziplinarischen Funktion der Renten entsprach dabei, dass ein Zeitraum, in dem ein kolchoznik keine ausreichende Arbeitsleistung gezeigt, also ohne akzeptable Entschuldigung nicht das Minimum an Tagewerken erarbeitet hatte, nicht zum Dienstalter hinzugerechnet wurde.685 Die Zuerkennung von Teilrenten war nicht vorgesehen.686 Gleiches galt für die Bewilligung von Vorzugsrenten mit vergünstigten Bezugsbedingungen. Aller-
681 Dmitraško, Vnutrikolchoznye ơkonomiþeskie otnošenija, S. 237. 682 Überschlagsberechnungen hatten für den Fall einer entsprechenden Senkung des Rentenalters Zusatzkosten in Höhe von 350 Mio. R ergeben. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 33. 683 Zu den Autoren, die auf diesen Zusammenhang deuten, gehört M. S. Lancev: „Gewisse Unterschiede im Niveau der Sozialversorgung der beiden Gruppen [Arbeiter und Angestellte sowie Kolchosbauern; L. M.] und in den Voraussetzungen für die Rentengewährung [...] waren anfangs unvermeidlich. [...]. Während Personen im Rentenalter etwa 10 % der gesamten arbeitenden Bevölkerung in den Städten ausmachten, lag der entsprechende Wert für Kollektivwirtschaften bei 40 %. Unter diesen Umständen war es anfangs notwendig, ein höheres Rentenalter für Kolchosmitglieder festzulegen.“ Lantsev, Progress, S. 243. Vgl. auch Aþarkan, Obespeþenie starosti, S. 203; Ruskol, Socialތnoe obespeþenie, S. 95. 684 Aufgrund der zentralen Bedeutung, die der Kolchosmitgliedschaft für den Rentenanspruch zukam, konnte dieser Zeitraum allerdings nur dann angerechnet werden, wenn er dem Eintritt in das Artel vorangestellt war. Die Möglichkeit, auch Arbeitsjahre als Arbeiter oder Angestellter anrechnen zu lassen, erklärt Fogel’, Vvedenie, S. 61, mit dem „Charakter des Zentralisierten Unionsfonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern, der sowohl aus den Mitteln der Kolchose als auch aus denen des Staats gebildet wird“. 685 Vgl. Ziff. 48 der Kolchosrentenordnung. 686 Forderungen nach der Einführung einer „Rente bei anteiligem Dienstalter“ entgegnete man mit dem Hinweis, dass ein „Kolchosbauer alle Möglichkeiten besitzt, dieses Dienstalter [von 25 bzw. 20 Jahren] im Zeitraum seiner Arbeitsfähigkeit, der etwa 40 Jahre umfasst, zu erlangen“. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 760, l. 28. Eine solche Argumentation war freilich inhalts-
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dings räumte man bestimmten Personenkreisen Sonderkonditionen ein: Hierzu zählten zum einen abermals die kinderreichen Mütter: Hatten sie mindestens fünf Kindern das Leben geschenkt und sie bis zu einem Alter von acht Jahren aufgezogen, so belief sich ihr Renteneintrittsalter auf 55 und das vorzuweisende Dienstalter auf 15 Jahre (Art. 7). Zum anderen machte man bei den staž-Anforderungen Zugeständnisse an die Mitglieder einiger im Westen und Nordwesten gelegener Republiken und Gebiete, in denen die Artele später als im übrigen Teil der Sowjetunion organisiert worden waren. Das von ihnen zu belegende Dienstalter sollte entweder dem Zeitraum entsprechen, den der jeweilige Kolchos bereits existierte, oder der Dauer ihrer Mitgliedschaft im Artel, vorausgesetzt, sie waren diesem innerhalb des ersten Jahres nach seiner Gründung beigetreten.687 Eine weitere Parallele zur Staatsrentenversorgung bestand darin, dass man auch in diesem Fall dem Leninschen Prinzip der vollständigen Kostenübernahme durch den Staat und die Betriebe zu folgen behauptete: Die Kolchosrenten sollten nicht über Abzüge von der Arbeitsvergütung der Artelmitglieder finanziert werden (Art. 4). Der aus dem Dekretentwurf übernommene Berechnungsmodus der Leistungen war in zwei Stufen untergliedert: Von jenem Teil des früheren Kolchosverdienstes, der ein Maximum von 50 R nicht überschritt, sollte der Rentner 50 % erhalten. Hatte das Arbeitsentgelt diese Marke übertroffen, so wurde für den Restbetrag ein Satz von 25 % veranschlagt (Art. 8). Mit einem solchen System behauptete man, sowohl eine leistungsabhängige Differenzierung der Alterssicherung gewährleisten zu können als auch die Interessen derjenigen Kolchosbauern, die früher nur geringfügig entlohnt worden waren, zu schützen.688 Gleichzeitig setzte man der Rentenhöhe einen oberen und unteren Rahmen: Bei der Festsetzung der Höchstrente auf 102 R orientierte man sich an den Regelungen für die staatlichen Altersrentner mit „Verbindung zur Landwirtschaft“, während man das Rentenminimum auf 12 R fixierte (Art. 8).689 Die Höhe der zur Leistungsbemessung herangezogenen Kolchosvergütung errechnete sich aus dem durchschnittlichen faktischen Verdienst, den ein Mitglied während fünf beliebiger, aufeinander folgender Jahre innerhalb der letzten andert-
arm, da die Arbeiter und Angestellten, die sich für eine Teilrente qualifizieren konnten, grundsätzlich über identische Möglichkeiten verfügten. 687 Zu den betroffenen Gegenden gehörten neben der Moldawischen SSR und den drei baltischen Republiken auch einige westliche Verwaltungsgebiete der Weißrussischen SSR und der Ukrainischen SSR sowie – in der RSFSR – die Tuwinische ASSR, das Gebiet Kaliningrad und einige Bezirke des Gebiets Pskov. Vgl. Ziff. 10 der Kolchosrentenordnung; Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 3234. 688 Vgl. ebd., S. 35, § 2. 689 Die Entscheidung für diesen Betrag begründete Lancev vor der Unterkommission des Obersten Sowjets damit, dass das Niveau der Kolchosleistungen ungefähr der Hälfte der Rentenhöhe der Arbeiter und Angestellten entsprechen sollte. Hinsichtlich der Mindestrente sei das gelungen, liege doch das Minimum der „mit der Landwirtschaft verbundenen“ staatlichen Ruheständler bei 25,50 R. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 393, l. 22. Vgl. auch Stiller, Sozialpolitik, S. 155, Anm. 154.
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halb Jahrzehnte vor der Rentenbeantragung bezogen hatte.690 Zu diesem sich aus der Teilnahme an der gesellschaftlichen Produktion des Kolchos ergebenden Entgelt zählte auch die Naturalvergütung, die gemäß der zur Zeit ihrer Auszahlung geltenden staatlichen Festpreise in einen Geldwert umgerechnet werden sollte.691 Zuschläge für einen ununterbrochenen oder besonders langen staž sowie für das Vorhandensein von unterhaltsberechtigten Familienmitgliedern waren nicht vorgesehen. Eine Anhebung der monatlichen Rentenleistung war nur dann möglich, wenn man sich für eine Fortsetzung der Arbeitstätigkeit entschied: Hatte man innerhalb des Kolchos zwei zusätzliche Jahre lang in einer Position gearbeitet hatte, deren Entlohnung die Bemessungsgrundlage übertraf, konnte auch hier eine Neuberechnung des Ruhestandsgelds beantragt werden (Art. 17). Das Bewusstsein dafür, dass die über die Rentenreform generierte Versorgung nicht allerorten zu einer tatsächlichen Steigerung des Leistungsniveaus führen würde, sondern speziell in den prosperierenden Artelen sogar eine Verschlechterung bewirken konnte, kennzeichnete eine Verfügung, die Elemente der kolchosinternen Zuwendungen über die Zäsur des Jahres 1965 hinweg bewahren sollte: Kolchose, die in der Vergangenheit Beträge ausgezahlt hatten, hinter denen das neue Rentenniveau zurückblieb, erhielten die Möglichkeit, für die Differenz aus eigenen Mitteln aufzukommen (Art. 22). Die Frage der Rentnerweiterarbeit wurde in der Kolchosrentenordnung behandelt. Im Einklang mit den Bemühungen um den Verbleib der Arbeitskräfte in der landwirtschaftlichen Produktion galt hier die Regel, dass die Weiterarbeit im Kolchos oder in staatlichen Agrarbetrieben keinerlei Leistungsabzüge nach sich ziehen sollte. Personen allerdings, die sich außerhalb der Landwirtschaft als Arbeiter, Angestellte, selbständige Kleingewerbetreibende oder Freischaffende verdingten, wurde die monatliche Rente überhaupt nicht ausgezahlt.692
2.2.4. Die Formalitäten Das Verfahren der Leistungsbeantragung, -bewilligung und -auszahlung wurde in der Kolchosrentenordnung geregelt. Ein Artelmitglied, das eine Rente erhalten wollte, musste diesbezüglich einen Antrag stellen, auf dem sein Name, seine Adresse und die jeweilige Rentenart, um die es ging, verzeichnet waren. Abzugeben war dieses Papier bei der Leitung des Kolchos, die bei der nun folgenden Bearbeitung des Vorgangs von den sogenannten „Kolchosräten für die Sozialversorgung der Kolchosbauern“ (im Folgenden: KRSVK) unterstützt wurde. Hierbei handelte es sich um die untersten Glieder einer neuen Organisationsform, deren übergeordnete Einheiten auf Bezirks-, Gebiets-, Regions- und Republikebene ein690 Ab dem 1. Januar 1968 verringerte sich diese Periode auf zehn Jahre. Vgl. das Dekret des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. September 1967 (VVS SSSR, 1967, Nr. 39, Pos. 520). Zur Berechnung der Kolchosrenten vgl. auch Levšin, K voprosu. 691 Vgl. Ziff. 55 der Kolchosrentenordnung. 692 Vgl. Ziff. 79 der Kolchosrentenordnung.
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gerichtet wurden.693 Zusammen mit den Organen der Sozialversorgung sollten sie die Rentenversorgung in den Kolchosen gewährleisten. In der Regel verfügten diese „Repräsentativorgane“ über fünf bis elf ehrenamtliche Mitglieder, die auf einer allgemeinen Kolchosversammlung für den Zeitraum von zwei Jahren gewählt worden waren. Zu den vielfältigen Aufgaben und Vollmachten der KRSVK gehörte es, im Auftrag der Kolchosleitung jene Fakten zu klären, auf denen ein etwaiger Versorgungsanspruch gründete. Innerhalb von zehn Tagen nach der Antragstellung sollten die Unterlagen über den staž und den Durchschnittsverdienst vorbereitet werden, die dem Antrag bei der Weiterleitung an die über die Rentenbewilligung entscheidende Instanz beizufügen waren. Dabei war der KRSVK auch dazu bevollmächtigt, gegebenenfalls bei anderen Kolchosen, sonstigen früheren Arbeitgebern oder Archiven um die Zusendung notwendiger Dokumente zu ersuchen und diese auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.694 Die Durchschnittsvergütung hatte über eine entsprechende Bescheinigung verifiziert zu werden, die auf der Grundlage vorhandener Verrechnungsunterlagen zu erstellen und vom Kolchosvorsitzenden sowie dem Hauptbuchhalter zu unterschreiben war. Als Nachweisdokumente für die Dienstjahre im Kolchos galten zum einen das auch für Kolchosbauern ausgestellte Arbeitsbuch, zum anderen Bescheinigungen, die entweder von der Kolchosleitung auf der Grundlage vorhandener Aufzeichnungen oder von Archiveinrichtungen ausgestellt worden waren.695 Aufgrund der Tatsache, dass das Arbeitsbuch allerdings erst ab 1965 in den Kolchosen eingeführt wurde,696 kam der alternativen Methode des staž-Nachweises eine besonders hohe Bedeutung zu: Beim Fehlen entsprechender Belege konnte auch der KRSVK die in einem Artel geleisteten Dienstjahre697 mittels Zeugenbefragung feststellen lassen. Notwendig war dabei ebenfalls das Vorhandensein von mindestens zwei Personen, die für die Teilnahme des Antragstellers an der Kolchosproduktion im jeweiligen Zeitraum zu bürgen vermochten. Im Unterschied zu den für Arbeiter und Angestellte geltenden Regelungen durfte jedoch die Gesamtheit des im Kolchos geleisteten staž auf diesem Wege rekonstruiert werden. Darüber hinaus konnten die beiden Zeugen sogar Zeiträume in der Ar693 Vgl. die „Ordnung der Räte für die Sozialversorgung der Kolchosbauern“, bestätigt durch die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 6. November 1964 Nr. 921 (SP SSSR, 1964, Nr. 22, Pos. 139). Zur Funktion der übergeordneten Räte für die Sozialversorgung vgl. auch Levšin, Sovety, S. 101104. 694 Vgl. Ziff. 7 der Kolchosrentenordnung; Ordnung vom 6. November 1964 Nr. 921 (siehe Anm. 693); Procenko, Ơto dolžen znat’ každyj; Lykova, Zadaþa, S. 34. Zur Funktion der übergeordneten Räte für die Sozialversorgung vgl. auch Levšin, Sovety, S. 101104. 695 Vgl. Ziff. 51a u. 61 der Kolchosrentenordnung; Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 158, § 9. Zum Nachweis der als Arbeiter oder Angestellter geleisteten Dienstjahre siehe Abs. 2.2.3.1. 696 Vgl. die Verordnung vom 3. September 1964 (siehe Anm. 677). 697 Die Möglichkeit, den staž über Zeugenbefragungen zu belegen, bezog sich – anfangs – nicht auf jene Jahre, die ein Antragsteller vor seiner Kolchosmitgliedschaft als Arbeiter oder Angestellter tätig gewesen war. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3992, l. 3; RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 761, l. 74. Mit der gemeinsamen Erläuterung des Goskomtrud und des VCSPS vom 23. Juni 1965 Nr. 20/19 wurde diese Regelung korrigiert. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 398, ll. 35 u. 59.
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beitsbiographie der betreffenden Person beglaubigen, in denen sie nicht mit ihr zusammengearbeitet hatten.698 Bevor die Ergebnisse der vom KRSVK durchgeführten Untersuchung über die individuelle Länge des staž von der Kolchosleitung bestätigt wurden und dadurch Rechtskraft erlangten, konnte diese allerdings noch eine Kürzung des Dienstalters um jene Zeiten veranlassen, in denen der Antragsteller nicht die erforderliche Arbeitsleistung erbracht hatte.699 Auf der Grundlage der zusammengestellten Dokumente entschied die Kolchosleitung nun gemeinsam mit dem KRSVK darüber, ob der Vorgang an die über die Leistungsbewilligung entscheidende Institution weitergereicht werden konnte. Dieser förmliche Akt wurde als „Vorlage zur Rentenfestsetzung“ (predstavlenie o naznaþenii pensii) bezeichnet.700 Folgt man Ja. M. Fogel’, bedeutete der Beschluss für oder gegen die Ausstellung der Vorlage de facto eine Vorentscheidung über die Leistungsgewährung: „Der Antrag auf eine Rentenfestsetzung ist eine Empfehlung der Kolchosleitung und des Kolchosrates [der Sozialversorgung], die auch eine vorläufige Bestätigung des subjektiven Rechts des Kolchosmitglieds auf die Rente in sich birgt.“701
Adressat der Vorlage und Empfänger der für die Rentenbewilligung erforderlichen Unterlagen war die „Kommission für die Festsetzung der Renten und Beihilfen für Kolchosbauern“ (komissija po naznaþeniju pensij i posobij kolchoznikam). Dieses für zwei Jahre gebildete und unter der Anleitung des dem KRSVK direkt übergeordneten Bezirksrats für die Sozialversorgung der Kolchosbauern702 (BRSVK) operierende Organ setzte sich aus drei Personen zusammen: einem Mitglied des Bezirksrats, das der Kommission vorsaß, sowie jeweils einem Vertreter der Sozial-
698 Vgl. die Mitteilung des Ministeriums der RSFSR für Sozialversorgung vom 1. Oktober 1965 Nr. 1-424-9, in: Sbornik oficialތnych materialov, S. 71. Der deutlich tolerantere Ansatz erklärt sich aus dem Wissen der Führung, dass es zum damaligen Zeitpunkt praktisch unmöglich war, die Lebensarbeitsleistung anderweitig zu belegen. In diesem Sinne ist es auch zu werten, dass er sich lediglich auf die Dienstjahre des Zeitraums bis 1965 erstreckte: Für die auf diese Zäsur folgenden Jahre hatte man das Nachweissystem ja, wie man meinte, auf eine stabile Grundlage – die Arbeitsbücher – gestellt. Für nach 1965 geleistete Dienstjahre sollte die Zeugenbefragung nur in Ausnahmefällen Geltung besitzen. Vgl. Ziff. 52 der Kolchosrentenordnung. Zur Zeugenbefragung in den Kolchosen vgl. Mašanov, Organizacija, S. 106107. 699 Vgl. Ziff. 48 der Kolchosrentenverordnung. 700 Dem ebenso betitelten Formular, das die persönlichen Daten des Antragstellers, den Namen des Kolchos, den Zeitpunkt des Beitritts zu diesem und die Höhe des Dienstalters aufführte, mussten neben dem Leistungsantrag auch die Bescheinigungen über Durchschnittsvergütung und staž beigefügt sein. Vgl. Ziff. 59 u. 61 der Kolchosrentenordnung. 701 Fogel’, Porjadok, S. 76. Ein Muster der Vorlage findet sich in Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 152153. 702 Der Bezirksrat für die Sozialversorgung setzte sich zum einen aus Vertretern der Kolchose zusammen, zum anderen aus den Leitern der Bezirksabteilung der Sozialversorgung und der Bezirksfinanzabteilung. Neben der Unterstützung und Anleitung der Kolchosräte und der Kommissionen gehörte zu seinen Aufgaben auch die Bestimmung der von den Artelen zu leistenden Abführungen in den ZUSVK. Vgl. Ziff. 910 der Ordnung vom 6. November 1964 Nr. 921 (siehe Anm. 693).
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versorgungs-703 und der Finanzabteilung des Bezirks. An der Abstimmung über die Rentenerteilung sollte allerdings als vierte Person auch ein Repräsentant des Kolchos mit beschließendem Stimmrecht teilnehmen.704 An diese Kommission vermochte sich ein Kolchosbauer auch unmittelbar mit einem Antrag auf Leistungsbewilligung zu wenden. Voraussetzung hierfür war allerdings, dass die Leitung des Artels die Vorlage zuvor verweigert hatte.705 Zugestellt wurden die Vorlage und die zugehörigen Antragsdokumente über die Zwischeninstanz der Bezirksabteilung der Sozialversorgung. Deren Mitarbeiter nutzten die zehn Tage, die der Kommission für die Renten- und Beihilfenfestsetzung nun blieben, um über die Bewilligung zu befinden, die Unterlagen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und die Entscheidung der Kommissionsmitglieder assistierend vorzubereiten.706 Bei der Abstimmung unter den drei Kommissionsmitgliedern galt grundsätzlich das Prinzip der Stimmenmehrheit. Nahm jedoch ein Vertreter des Artels an der Sitzung teil, konnte es zu einer Patt-Situation kommen, in der die Altersrente zwar bewilligt wurde. Bevor diese Entscheidung Rechtskraft erlangen konnte, musste sie allerdings noch vom BRSVK bestätigt werden.707 Fiel der Beschluss der Kommission negativ aus, hatte der Antragsteller innerhalb von fünf Tagen darüber unterrichtet zu werden. Hierfür wurde ihm eine Mitteilung zugestellt, in der er über die Gründe für die Absage ebenso informiert wurde wie über die Möglichkeit, gegen sie Einspruch zu erheben.708 Das für diesen Fall vorgesehene Verfahren ähnelte den für die Staatsrentner geltenden Regelungen: Stimmte der Antragsteller nicht mit der Entscheidung der Kommission für 703 Dort, wo keine Bezirksabteilung existierte, sollte ein führender Vertreter des Exekutivkomitees des Bezirkssowjets diese Position ausfüllen. 704 Vgl. Ziff. 1 u. 5 der „Ordnung über die Kommission zur Festsetzung der Renten und Beihilfen für Kolchosbauern“, bestätigt durch die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 6. November 1964 Nr. 920 (SP SSSR, 1964, Nr. 22, Pos. 138). Allerdings konnte man auch in Abwesenheit des vierten Mannes zu einer gültigen Entscheidung kommen. Vgl. Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 174, § 5. Insgesamt zählte man am 1. September 1965 ca. 300.000 Kolchosmitglieder, die ehrenamtlich in den Kommissionen für die Renten- und Beihilfenfestsetzung und den Räten für die Sozialversorgung der Kolchosbauern der UdSSR tätig waren. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 87. 705 Ein solches alternatives Prozedere hob den Einfluss der Kolchosleitung jedoch nicht vollends auf, da diese in einem derartigen Fall gemeinsam mit dem KRSVK ein Gutachten zu erstellen hatte, in dem sie die Kommission über die Gründe der Ablehnung informierte. Vgl. Ziff. 60 der Kolchosrentenverordnung. 706 So sollte der zuständige Inspektor nicht nur die Vollständigkeit und Richtigkeit der Papiere prüfen, sondern bereits eine provisorische Berechnung der Rentenleistung durchführen. Vgl. Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 178179. Das mit der Zwischenschaltung der Organe der Sozialversorgung verbundene Ziel war zweifelsohne, den Mangel an rentenbezogenem Fachwissen auszugleichen, der für die mit diesen Vorgängen befassten Kolchosfunktionäre angenommen werden musste. Der Vorob’ev-Kommission zufolge, die sich für eine solche Vorgehensweise aussprach, hatte sie den Nebeneffekt, dass sich die Verwendung der für die Kolchosrenten und -beihilfen notwendigen Geldmittel nicht der staatlichen Kontrolle entzog. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 392, l. 257. 707 Vgl. Ziff. 6 der Ordnung vom 6. November Nr. 920 (siehe Anm. 704). 708 Vgl. Ziff. 71 der Kolchosrentenordnung.
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die Renten- und Beihilfenfestsetzung überein, konnte er sich an die ihr direkt übergeordnete Verwaltungsebene wenden, den BRSVK. Wenn dieser nach Prüfung der Unterlagen zu dem Ergebnis kam, dass der Beschluss fehlerhaft war, hob er ihn auf und wies die Kommission an, von neuem und unter Berücksichtigung der vom Bezirksrat angemahnten Korrekturen über die Leistungsfestsetzung zu befinden. Eine Ablehnung der Beschwerde durch das genannte Gremium besaß allerdings einen endgültigen Charakter. Die Gerichtsbarkeit war auch für die Klärung von Unstimmigkeiten, die den Kolchosrentenantrag betrafen, explizit nicht zuständig.709 Im Falle eines positiven Kommissionsentscheides wurde der Beginn des Leistungsanspruches auf das Datum der Rentenbeantragung zurückdatiert. In der örtlichen Abteilung der Sozialversorgung, der der Kolchosrentner durch seinen Wohnort zugewiesen war, legte man nun eine Rentenakte an, auf deren Grundlage der Rentenausweis ausgestellt wurde. Ausgehändigt wurde dieses Dokument durch die Leitung des Artels und den KRSVK.710 Erwies sich die Rentenfestsetzung als fehlerhaft, so haftete der Kolchos für den entstandenen Schaden. Verantwortlich für die Auszahlung des monatlichen Betrages waren ebenfalls die Sozialversorgungsorgane, die die Renten mit Hilfe der Organe des Post- und Fernmeldewesens zustellten.
2.2.5. Die Finanzierung der Kolchosrenten Die Finanzierung der Kolchosrenten und -beihilfen erfolgte über den ZUSVK, der sich sowohl aus Beiträgen der Kollektivwirtschaften als auch aus ergänzenden Zuwendungen von staatlicher Seite speiste. Der Vorteil eines solchen Organisationsmodus lag auf der Hand: Zuvor war die Aufbringung der notwendigen Gelder Aufgabe des einzelnen Kolchos gewesen, der, wenn er zu den vielen leistungsschwachen Einheiten gehörte, selten in der Lage war, die hiermit verbundene Bürde zu tragen. Nun verteilte sich die Last auf eine Vielzahl starker und schwacher Schultern, und auch der Staat stützte das neue Modell mit beträchtlichen Mitteln. Über die Einrichtung des Unionsfonds hatte bereits während der Diskussion über die Reform im Obersten Sowjet der UdSSR Einigkeit bestanden. Offen geblieben war allerdings, wie hoch die Abgaben der Artele ausfallen sollten und welchen Teil ihrer Einkünfte man zu deren Berechnung heranziehen wollte. Zur Klä709 Vgl. Ziff. 72 der Kolchosrentenordnung; Karcchija, Juridiþeskie garantii, S. 101103. In Ermangelung entsprechender Quellen kann wenig über die allgemeinen Erfolgsaussichten solcher Beschwerden gesagt werden. Lediglich für die Armenische SSR liegen Daten vor: Bis zum 1. September 1965 war hier 340 Personen eine solche Leistung abgesprochen worden, weil die staž- oder Altersvoraussetzungen nicht erfüllt worden waren. In 281 Fällen war gegen den Bescheid Einspruch erhoben worden – mit einer recht guten Aussicht auf Erfolg: 180 (64,1 %) dieser Beschwerdeführer gab der jeweilige BRSVK Recht, woraufhin die Kommissionsentscheidung aufgehoben wurde. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 398, l. 57. 710 Vgl. Ziff. 76 u. 77 der Kolchosrentenordnung.
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rung der Einzelheiten hatte man die Vorob’ev-Kommission gegründet, als deren direktes Ergebnis die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 3. September 1964711 anzusehen ist. Mit diesem Normativakt setzte sich die bereits von N. S. Chrušþev bevorzugte Variante durch, dass die von den Kolchosen zu leistenden Beiträge nicht auf der Grundlage der Geldeinnahmen, sondern auf jener der Bruttoeinnahmen errechnet wurden. Verantwortlich hierfür war, wie aus einem Bericht der Kommission zu ersehen ist, die Tatsache, dass dadurch die Leistungsfähigkeit der Kolchose besser berücksichtigt werden konnte: „[...] die Kommission ist davon ausgegangen, dass das Bruttoeinkommen ein Kennwert ist, der die realen Resultate der wirtschaftlichen Tätigkeit des einen oder anderen Kolchos am richtigsten und objektivsten ausdrückt. Indem es sowohl sämtliche Einnahmen, die aus dem Verkauf der Produktion entstanden sind, als auch Einkünfte in Naturalform (Vermehrung des Viehbestands, Vergrößerung der Saatgut- und Futtermittelfonds) einschließt, spiegelt es die gesamte in der jeweiligen Wirtschaft neu erzeugte Produktion wider.“712
Bestimmt wurde in derselben Verordnung auch die Höhe der von staatlicher und Kolchosseite abzuführenden Anteile. Der Staatshaushalt sollte in den Jahren 1965 bis 1967 die feststehende Summe von 400 Mio. R zur Verfügung stellen. Hinsichtlich des von den Kollektivwirtschaften zu erbringenden Beitrags legte man sich lediglich auf die Jahre 1964 und 1965 fest. Im ersten Jahr sollten die Artele 2,5 %, im Folgejahr 4 % der Bruttoeinnahmen in den ZUSVK abführen. Das Zustandekommen der zweiten Prozentzahl hatte Lancev am 2. Juli 1964 auf der ersten Sitzung der Unterkommission erläutert. Ihm zufolge stellte sie die Grenze der Belastbarkeit der Kolchose dar, würden höhere Abführungen doch zu einer Reduzierung der Kolchoslöhne führen. Gleichzeitig könne der Beitrag der Kollektivwirtschaften nicht geringer ausfallen, wolle der Staat nicht den Hauptteil der anfallenden Kosten tragen.713 Auf die Einzelheiten der Bildung des ZUSVK ging die Verordnung Nr. 746 kaum ein. Diese Aufgabe kam der bereits erwähnten „Ordnung über den Zentralisierten Unionsfonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern“714 zu. In ihr wurde festgelegt, dass die Kolchosabgaben nicht konstant bei 4 % der Bruttoeinnahmen liegen sollten, sondern am Ende eines jeden Jahres vom Ministerrat der UdSSR zu bestimmen waren, wobei der Gosplan der UdSSR, das sowjetische 711 Siehe Anm. 677. 712 GARF, F. R 7523, op. 45, d. 392, ll. 254255. 713 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 393, l. 20. Die Vorob’ev-Kommission begründete ihre Entscheidung für die genannten Prozentsätze mit Hilfe einer konkreten Kalkulation, der zufolge sich die Gesamtsumme der 1965 für die Auszahlung von Kolchosrenten und -beihilfen anfallenden Kosten auf 1,3–1,4 Mrd. R belaufen würde. Die 2,5-prozentige Abgabe sollte die Rentenauszahlung zu Beginn des Jahres ermöglichen und würde, ausgehend von den prognostizierten Gesamtbruttoeinnahmen des Jahres 1964, einen Betrag von 400 Mio. R ergeben. Über die vierprozentige Abführung des Folgejahrs würden zusätzliche Mittel in einer Höhe von 720 Mio. R in den ZUSVK gelangen, die durch die staatlichen Zuweisungen im Umfang von 400 Mio. R ergänzt würden. Es entstehe folglich sogar ein Überschuss, der 1966 und 1967 als Reserve dienen könne. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 392, l. 256. 714 Siehe Anm. 678.
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Finanzministerium und die ZVS der UdSSR diesbezügliche Vorschläge erarbeiten sollten. Allerdings blieb es in der Folge dennoch konstant bei diesem Prozentsatz, ehe er im Juni 1970 per Verordnung für fünf Jahre auf 5 % angehoben wurde.715 Statt der von Chrušþev in Aussicht gestellten Verringerung des von den Kolchoswirtschaften abzuführenden Anteils ihrer Geld- und Naturaleinkünfte, kam es also zu einer Steigerung desselben. Bei der Berechnung der Kolchosabgaben war von den im Rechenschaftsbericht des jeweils vorangegangenen Jahres ausgewiesenen Bruttoeinnahmen auszugehen. Um Fehler zu vermeiden, hatten die diesbezüglich vom Artel durchgeführten Kalkulationen vom BRSVK durchgesehen und anschließend von der Bezirksfinanzabteilung begutachtet zu werden. Stand der zu zahlende Betrag fest, so wurde er über das ganze Jahr verteilt in vier Schritten überwiesen.716
2.2.6. Die Umsetzung des Kolchosrentengesetzes In Anbetracht der beschriebenen Probleme bei der Realisierung des Staatsrentengesetzes verwundert es nicht, dass die praktische Umsetzung der zweiten großen Rentenreform nicht so unkompliziert verlief, wie es die Lektüre der Kolchosrentenordnung suggeriert. Tatsächlich war die Einführung der allgemeinen Rentenversorgung für die einfachen Artelmitglieder mit weitaus größeren Schwierigkeiten verbunden. Bei der Reform vom 14. Juli 1956 hatte man auf den zwar in vieler Hinsicht inadäquaten, jedoch nichtsdestoweniger bereits existierenden Strukturen eines staatlichen Rentensystems aufbauen können. Auch hatten die mit ihrer Umsetzung beauftragten Organe der Sozialversorgung und Gewerkschaftsorganisationen einige Erfahrung in diesem Bereich vorweisen können. Das Kolchosrentensystem musste hingegen von Grund auf neu aufgebaut werden. Zwar war es den mit der Ausarbeitung der Gesetzgebung betrauten Fachleuten möglich gewesen, sich an den Inhalten der Staatsrentenversorgung zu orientieren. Die administrativen Strukturen (Räte für die Sozialversorgung der Kolchosbauern, Kommissionen für die Festsetzung der Renten und Beihilfen etc.) hatten auf dem Lande jedoch erst etabliert, das nötige Personal erst ausgebildet zu werden. Zudem erwies sich ein Mangel, der bereits die Bewilligung der Staatsrenten erschwert hatte, als besonders hinderlich: Ein Dokumentationswesen, das für den individuellen Nachweis des Dienstalters und des Durchschnittsverdiensts unab-
715 Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 3. Juni 1971 Nr. 343 „Über die Höhe der Kolchosabgaben an den Zentralisierten Unionsfonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern in den Jahren 1971 bis 1975“ (SP SSSR, 1971, Nr. 11, Pos. 86). 716 Bis zum 5. März des jeweiligen Jahres sollten 15 %, bis zum 15. Mai 25 %, bis zum 15. August 30 % und bis zum 15. November die restlichen 30 % des Betrages gezahlt werden. Bestanden hierfür die Voraussetzungen, konnten die Kolchose ihre Abgaben auch vorzeitig leisten. Vgl. Ziff. 5–7 der ZUSVK-Ordnung (siehe Anm. 678); Artem’eva, Centralizovannyj sojuznyj fond. Zur Kalkulation der Bruttoeinnahmen vgl. auch Smyslov, Kak podsþitat ތ.Xlikov, Kak obrazuetsja.
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dinglich war, existierte nur in Ansätzen. So musste L. P. Lykova im Juli 1964 gegenüber dem Büro des ZK der KPdSU für die RSFSR konstatieren: „Sowohl bei den Dokumenten über das Dienstalter und die Vergütung der Kolchosmitglieder als auch bei den Verrechnungs- und Zahlungsunterlagen gibt es keine Einheitlichkeit, und ihre ständige Aufbewahrung wurde nicht organisiert. In der Regel gibt es eine Dokumentation in den Kolchosen erst während der letzten drei bis fünf Jahre.“717
Aber auch in jenen Artelen, in denen man Informationen über das Dienstalter und die Entlohnung der Mitglieder sammelte, konnte nicht vorausgesetzt werden, dass behutsam mit den Papieren umgegangen worden war. Die in diesem Bereich auch nach der Gesetzeseinführung noch an den Tag gelegte Achtlosigkeit übertraf sogar die Zustände in den Sowchosen, wenn man dem Befund Lykovas eine allgemeingültige Qualität beimisst. Dem Ministerrat der RSFSR berichtete sie im April 1965 von den Ergebnissen entsprechender Kontrollen: „Wie die Überprüfung gezeigt hat, bleibt die Aufbewahrung der vorhandenen Dokumente über das Dienstalter und den Verdienst in den Kolchosen weiterhin unbefriedigend. Häufig zeugen die Tatsachen von einer außerordentlich nachlässigen Haltung gegenüber dem Archiv in den Kolchosen. So hat ein Wächter in einem der Kolchose der Region Chabarovsk die Archivdokumente zum Anheizen des Ofens verwendet. In diesem Kolchos sind somit alle Dokumente über das Dienstalter und die Vergütung der Kolchosbauern [...] verbrannt worden. [...] In dem im Bezirk Pskov gelegenen Kolchos ,Krasnyj partizan[ ދ...] wurde 1963 ein beträchtlicher Teil der Archivdokumente vernichtet, weil für ihre Aufbewahrung der Platz fehlte, und die verbleibenden Unterlagen befinden sich in einem chaotischen Zustand.“718
Das Fehlen einer für die reibungslose Anwendung des Gesetzes notwendigen dokumentarischen Infrastruktur war denn auch bereits den an seiner Ausarbeitung beteiligten Personen bekannt gewesen. So hatte etwa M. S. Lancev auf einer Sitzung der Unterkommission über die entsprechenden Defizite berichtet: „Die komplizierteste Frage, die hier [...] aufgekommen ist, betrifft die Berechnung des Dienstalters. Wir haben eine großangelegte Untersuchung in verschiedenen Republiken und Gebieten durchgeführt, Dutzende Kolchose überprüft und uns davon überzeugt, dass es absolut keine zuverlässigen Dokumente zur Berechnung des Dienstalters gibt [...]. Die Arbeitsbücher, die für die Kolchosbauern zu Millionen herausgegeben wurden, liegen im Lager oder wurden weggeworfen.“719
Die Alternative zum dokumentarischen Nachweis, die Zeugenbefragung, führte nach dem Inkrafttreten der Reform zu extremen Verzögerungen. Wie enorm der 717 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3847, l. 14. Nicht anders verhielt es sich in anderen Republiken: In der Weißrussischen SSR begann man z. B. erst zwischen 1958 und 1961, in der Kasachischen SSR zwischen 1956 und 1959 und in der Armenischen SSR zwischen 1955 und 1960 mit der Aufbewahrung von entsprechenden Arbeitsnachweisen. Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, l. 30; GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 398, l. 56. 718 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3993, ll. 257258. 719 Gerade deshalb hatte Lancev – erfolglos dafür plädiert, die staž-Kalkulation zu einer Aufgabe des Kolchos werden zu lassen. So würden die „liberalstmöglichen Bedingungen“ geschaffen: Die Entscheidung des Artels, ein Mitglied für die Rentenfestsetzung vorzuschlagen, sollte allein bereits ausreichen, um das individuelle Dienstalter als für den Leistungserhalt ausreichend zu qualifizieren. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 393, ll. 2223.
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mit der massenhaften Einholung der notwendigen Aussagen verbundene Aufwand war, zeigt Lykovas Hinweis, dass man zu diesem Zweck bis zum 1. September 1965 allein in der RSFSR mehr als 4,5 Mio. Menschen befragen musste.720 Die Verspätungen riefen Beschwerden aus der betroffenen Kolchosbevölkerung hervor,721 zeitigten jedoch – in finanzpolitischer Hinsicht – auch ein positives Resultat. Dadurch, dass nun viele Renten ihre Empfänger nicht vor dem April oder Mai erreichten, reduzierte sich die anfallende Finanzlast beträchtlich. Diesen Effekt unterstützte auch eine weitere, in ihrem Umfang anscheinend nicht antizipierte Entwicklung. Hatte man anfänglich mit einer durchschnittlichen Kolchosrente (inklusive Invaliden- und Hinterbliebenenleistungen) von 15,36 R gerechnet,722 lag der Kennwert Ende des Jahres tatsächlich nur bei 12,62 R.723 Ein derart bescheidener Wert erklärte sich aus der Häufigkeit, mit der der Mindestsatz von 12 R zuerkannt wurde: Die Autoren eines im Juli 1965 unter Leitung des Goskomtrud erstellten Berichtes über den Fortgang der Gesetzesumsetzung kamen zu dem Ergebnis, dass hiervon mehr als 90 % aller Antragsteller betroffen waren. Verantwortlich machten sie dabei zwei Faktoren: Zum einen verwiesen sie auf das niedrige Niveau der früheren Durchschnittsvergütung. Zum anderen deuteten sie auf das Fehlen einer adäquaten Arbeitsdokumentation. Schließlich galt auch für Kolchosbauern die Regel, dass ihnen, konnten sie ihren früheren Verdienst nicht zweifelsfrei belegen, lediglich die Mindestrente zuerkannt wurde.724 Die Gewichtung, mit der die beiden Faktoren jeweils zur Erteilung des Minimalsatzes beitrugen, lässt sich nicht mit Genauigkeit rekonstruieren. Zumindest einen gewissen Eindruck von diesem Verhältnis vermittelt allerdings die am 1. Januar 1966 von der ZVS durchgeführte Stichprobenartige Untersuchung (SPU), die Informationen über die Differenzierung von 590.000 Kolchosaltersrentnern in Abhängigkeit von der ihrer Leistungserteilung zugrundeliegenden Durchschnittsvergütung bietet (siehe Tab. 2i). Orientiert man sich an dieser Stichprobe, so wurden 63,6 % der Minimalsätze erteilt, weil keine Unterlagen über die frühere Vergütung vorlagen. Dabei fällt auf, dass hier männliche Artelmitglieder mit einer entsprechenden Quote von 50,8 % weit seltener von den Dokumentationsdefiziten berührt waren als Frauen (66,8 %).725 720 Zum Vergleich: Die Gesamtzahl der zu diesem Zeitpunkt mit einer Kolchosrente ausgestatteten Personen belief sich in der RSFSR auf 3.289.673. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, ll. 5455. Zu dem unterschiedlichen Ausmaß der Verzögerungen in den Unionsrepubliken vgl. ebd., l. 8789. 721 Vgl. GARF, F. A 259, op. 45, d. 2706, l. 45; F. R 7523, op. 83, d. 427, l. 205. 722 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 93. 723 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2805, l. 1. V. A. Babkin zufolge waren die Kosten für die 1965 anfallenden Renten- und Beihilfenauszahlungen anfänglich auf insgesamt 1,4 Mrd. R veranschlagt worden. Im Herbst 1965 hatte sich diese Summe um 28,6 % auf 1 Mrd. R verringert. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, ll. 9293. 724 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1667, l. 156; F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 31. 725 Zu einem anderen Ergebnis gelangte eine 1965 vom sowjetischen Finanzministerium durchgeführte Untersuchung von ca. 10.500 Rentenfällen. Ihr zufolge waren 61,4 % der Mindestrentenerteilungen auf das niedrige Lohnniveau, 38,6 % auf das Fehlen von Unterlagen zurückzuführen. Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, l. 41. Absolute Angaben liegen nur für die
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Tab. 2i: Die Erteilung von Mindestrenten (MR) wegen fehlender Verdienstunterlagen (SPU vom 1. Januar 1966)
Erfasste Kolchosaltersrentner Weibliche Kolchosaltersrentner Männliche Kolchosaltersrentner Gesamtzahl
Bezieher mit Leistungserteilung auf der Grundlage einer früheren Vergütung von: höchstens mind. 23,99 R 24,00 R
Bezieher mit Gesamtzahl MR wg. fehder lender VerKolchosdienstaltersrentner unterlagen mit MR (B) (A)
Anteil (A) an (B)
451.486
144.293
17.102
290.091
434.384
66,8%
138.514
52.406
32.045
54.063
106.469
50,8%
590.000
196.699
49.147
344.154
540.853
63,6 %
Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2807, ll. 138 u. 139.
Der Umstand, dass der überwältigenden Mehrheit der Artelmitglieder ein geringer Pauschalbetrag zuerkannt wurde, bedeutete freilich, dass das sozialistische Leistungsprinzip im Kontext der Kolchosrentenversorgung nur eine äußerst geringe Wirkung entfaltete. Hatte N. S. Chrušþev am 13. Juli 1964 behauptet, dass die qualitativ hochwertige Arbeit im Kolchos zu einem besser versorgten Ruhestand führen würde,726 so konnte diese zentrale Zielsetzung auf kurze Sicht nicht verwirklicht werden. In Fachkreisen gestand man offen ein, dass der Ist-Zustand des Jahres 1965 Elemente jener uravnilovka aufwies, deren Vermeidung als Merkmal der Kolchosrentenversorgung kommuniziert wurde.727 Gleichzeitig wurde dem Problem jedoch nur ein temporärer Charakter zugeschrieben. In diesem Sinne hatte sich bereits während der Gesetzesvorbereitung Valentina P. Salina, eine Mitarbeiterin Lancevs in der Rentenabteilung des Goskomtrud, vor der Unterkommission geäußert: „Hinsichtlich der Angaben über den Verdienst im Kolchos verhält es sich überaus schlecht. [...] Wenn man sich [bei der Leistungsbemessung] auf die faktische Vergütung im Kolchos bezieht, dann ergibt sich, dass 80 % der Kolchosbauern das Minimum erhalten. Dergestalt wird in dem Artikel728 von zukünftigen Entwicklungen ausgegangen. [...] Den Artikel sollte
Armenische SSR vor: Von 35.228 Personen, denen hier bis Ende August eine Mindestleistung zuerkannt worden war, hatten 29.350 (83,3 %) sie aufgrund von fehlenden Verdienstunterlagen erhalten. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 398, l. 58. 726 Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 33. 727 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1667, l. 158. Zur Differenzierung der Renten in Abhängigkeit vom früheren Arbeitsbeitrag als einem Grundprinzip der neuen Bestimmungen vgl. Fogel’ Vlasova, Principy, S. 1415. 728 Es handelte sich um Artikel 12 des Dekretentwurfs, der den Artikeln 16 und 17 des Kolchosrentengesetzes entsprach und die Berechnung der für die Leistungskalkulation relevanten Durchschnittsvergütung behandelte.
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Das System der allgemeinen Altersrenten man so belassen, wie er ist. Frühere Angaben über den Verdienst haben sich ja nicht erhalten.“729
Der Verweis auf die Zukunftsausgerichtetheit des Artikels und die Vorstellung, dass es mit den Jahren zu größeren Unterschieden in der Rentenversorgung kommen würde, entbehrten dabei nicht einer gewissen Grundlage. Von den angestrebten Verbesserungen in der Arbeitsdokumentation konnte zweifelsohne eine Verringerung der Mindestrentnerzahl erwartet werden, da zukünftige Leistungsempfänger ihre Vergütung nun besser nachweisen konnten. Das Fehlen von Nachweisunterlagen stellte einen Störfaktor dar, der dort, wo er sich aus in der Vergangenheit begangenen Nachlässigkeiten ableitete, als gegeben zu akzeptieren war. Anders verhielt es sich mit einem weiteren Problembereich: dem Fehlverhalten der an der Leistungserteilung beteiligten Funktionsträger. So mussten die mit der Kontrolle der Rentenbeantragungen beauftragten Finanzorgane etwa erfahren, dass die Ausfertigung der für die Bewilligung notwendigen Bescheinigungen durch die Kolchosleitungen und KRSVK gravierende Mängel aufwies: Oft entsprachen die hier aufgeführten Angaben zu Lebensalter und staž des Antragstellers nicht der Realität.730 Zurückzuführen war dies auf eine Reihe von Faktoren. Das Personal der Kolchosleitungen und die ehrenamtlichen Mitarbeiter waren häufig hoffnungslos überfordert. Zum einen war die Arbeitsbelastung speziell in den ersten Monaten nach der Gesetzeseinführung, die von massenhaften Antragstellungen und Zeugenbefragungen gekennzeichnet waren, auch hier so enorm, dass sich Fehler kaum vermeiden ließen. Zum anderen ist zu vermuten, dass viele KRSVK-Mitglieder trotz entsprechender Qualifizierungsmaßnahmen nicht die Voraussetzungen erfüllten, die eine korrekte Zusammenstellung der Antragsunterlagen und die Vorbereitung der „Vorlagen zur Rentenfestsetzung“ erforderten.731 Darüber hinaus versagten aber auch die Überwachungsmechanismen. Zwar haftete nur der Kolchos für die durch falsche Rentenzuweisungen verursachten Mehrausgaben. De facto war er jedoch keineswegs allein für deren Zustandekommen verantwortlich: Die ausgefertigten Dokumente hatten ja vor der Weiterleitung an die Kommissionen für die Renten- und Beihilfenfestsetzung von den Organen der Sozialversorgung überprüft zu werden. Für die korrekte Vorgehensweise der Kolchosräte mussten ebenfalls die BRSVK sorgen. Und an den Entscheidungen der Kommissionen über die Leistungserteilungen partizipierten schließlich auch die Mitarbeiter der Finanzorgane. Regierungsvertreter wie Lykova oder F. N. Manojlo, Garbuzovs Stellvertreter, verwiesen in der Fehleranalyse denn auch wiederholt auf die nur lückenhafte Kontrolle der genannten Institutionen.732 729 GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 393, l. 82. 730 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, ll. 2223; GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, ll. 8990. 731 So bemängelte L. P. Lykova im Herbst 1965, dass „die unglückliche Zusammensetzung einiger Räte, die aus betagten und unzureichend kompetenten Kolchosbauern bestehen, in einer Reihe von Gebieten, Regionen und Autonomen Republiken der Dokumentation geschadet und zur verzögerten Ausfertigung der Vorlagen für die Rente geführt hat“. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 54. Vgl. auch ebd., F. A 413, op. 1, d. 3992, l. 2. 732 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, l. 22; GARF, F. A 259, op. 45, d. 2706, l. 45.
„Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“
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Die Sowjetregierung begegnete den Defiziten, indem sie das Landwirtschaftsministerium und die ZVS der UdSSR beauftragte, die Kolchosleitungen methodisch besser anzuleiten. Und in Bezug auf die Mängel bei der Antragsbearbeitung setzte man zuallererst auf die Verbesserung der Arbeitsdokumentation: Hier wurden vor allem die Ministerräte der Republiken angehalten, für eine Einführung der Arbeitsbücher in sämtlichen Kollektivwirtschaften des Landes zu sorgen.733 Dafür, dass man dies kurzfristig nicht erreichte, spricht, dass die Zeitschrift Social’noe obespeþenie das Ausstellen falscher Antragsunterlagen in den Kolchosen und die fehlende Anleitung durch die Bezirks- und Gebietsräte für die Sozialversorgung auch im Herbst 1966 noch adressierte.734 Zu diesem Zeitpunkt waren die Arbeitsbücher vielerorts noch immer nicht im Gebrauch,735 und es deutet einiges daraufhin, dass der Prozess ihrer Einführung auch zu Beginn der 1970er Jahre noch nicht abgeschlossen war.736
2.2.7. Kritische Resonanz und Nachbesserungen Durch die Reform der Kolchosrenten wurde ein Großteil der Kolchosbevölkerung erstmals mit einer Rente oder, was für das Sicherheitsbedürfnis der Jüngeren von nicht zu unterschätzender Bedeutung war, mit einer Aussicht auf eine solche ausgestattet. Dass die Bestimmungen dieses zweiten großen Rentenreformwerks der Nachstalinzeit – bei aller Bescheidenheit der generierten Leistungen – eine deutliche Verbesserung im Verhältnis zum allgemeinen Status quo ante darstellten,737 musste sich auch den Begünstigten selbst erschließen. Allerdings besaß die sich hieraus ergebende Zufriedenheit keine universale Qualität. Ein gewisser Teil der Kolchosbevölkerung hatte ja bereits zuvor Rentenleistungen bezogen, die den nunmehr geltenden Regelungen in einigen Fällen sogar überlegen gewesen waren. Hinzu kam, dass neben der Vorreformzeit noch ein zweiter Referenzpunkt existierte, auf den sich ein kolchoznik beziehen konnte, wenn er die neuen, vom Staat garantierten Sozialleistungen bewerten wollte: Die 1956 eingeführten Staatsrenten standen nicht nur den städtischen Arbeitern und Angestellten zur Verfügung, sondern mit den Sowchosbeschäftigten sowie den Kolchosvorsitzenden, -mechanisatoren und -spezialisten auch Personenkreisen, mit denen der einfache Kolchosbauer in Berührung kam. So erklärt es sich, dass die Kolchosrentenreform neben dankbarer Zustimmung auch auf eine kritische Resonanz stieß, die von der politischen Führung registriert und überaus ernst genommen wurde. Der Kanal, über den die Änderungsvorschläge mitgeteilt wurden, war einmal mehr der an die zen733 734 735 736
Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 399, l. 94. Vgl. z. B. Veliþkin, Pensionirovanie, S. 15. Vgl. Babkin, Itogi goda, S. 67. Vgl. Michno, Trudovaja knižka, S. 22. Vgl. auch das Schreiben des Ministeriums der RSFSR für Landwirtschaft vom 18. März 1971 „Über Maßnahmen zur Behebung der Mängel bei der Erfassung der Arbeitstätigkeit und der Führung der Arbeitsbücher der Kolchosbauern“, in: Sbornik oficialތnych materialov, S. 132124. 737 Siehe Abs. 3.2.2.
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tralen politischen Instanzen und Presseorgane adressierte Brief. Davon abgesehen bemühte sich die Führung auch selbst aktiv um einen Eindruck von den Reaktionen auf das neue Gesetz. Hiervon zeugen etwa Berichte aus den Unionsrepubliken, die für die Kommissionen für die Gesetzesentstehung erstellt wurden und deren Verfasser sich nicht nur zum Fortgang der Reformumsetzung, sondern auch zu den an sie herangetragenen Änderungswünschen äußerten. Indem der Gesetzgeber diese zu einer Grundlage seines Handelns machte, zeigte er ein weiteres Mal, dass er derartige Impulse durchaus ernst nahm. Bereits drei Monate nach der Einführung des Gesetzes, am 1. April 1965, führte er erste wichtige Korrekturen durch, denen nur wenige Jahre später – am 26. September 1967 und am 3. Juni 1971 – weitere Nachbesserungen von zentraler Bedeutung folgten. Die Änderungsvorschläge tangierten eine ganze Reihe von Bereichen. Im Folgenden werden vor allem jene drei Themen adressiert, die am häufigsten angesprochen wurden: die Inklusion von Teilen der Kolchosbevölkerung, denen ein Leistungsanspruch verwehrt worden war, die Senkung der Altersgrenze für Kolchosaltersrentner und die Anhebung der Mindestaltersrenten.
2.2.7.1. Faktisch ausgeschiedene und ehemalige Kolchosmitglieder Die zentrale Bedeutung, die der Tatsache beigemessen wurde, dass ein Antragsteller Mitglied in einem Kolchos zu sein hatte, bedingte, dass viele Menschen, die über das notwendige Dienst- und Lebensalter verfügten, auch nach der Einführung des Gesetzes unversorgt blieben. Betroffen waren hiervon vor allem zwei Kategorien: zum einen die sogenannten „faktisch ausgeschiedenen Kolchosmitglieder“ (faktiþeski vybyvšie þleny kolchozov), zum anderen die bereits erwähnten „ehemaligen Kolchosmitglieder“. Zurückzuführen war ihre Ausgrenzung nicht zuletzt auf den Wunsch nach einer Vermeidung der zusätzlichen Finanzlasten, die bei ihrer Versorgung anfallen würden. In diesem Sinne ist eine Anmerkung M. S. Lancevs zu interpretieren, der sich vor der Unterkommission zu dem Problem äußerte: „Und noch zu einer Frage, die im Zusammenhang damit gestellt wird, dass das Gesetz keine rückwirkende Kraft besitzt. Das ist wegen jenen notwendig, die wie der ehemalige Kolchosbauer vom Land in die Stadt gekommen sind und die nach der Veröffentlichung des Gesetzes eine Rente erhalten wollen. Wir müssen versuchen, dieser Personenkategorie auszuweichen, da sie einen ziemlich hohen Prozentsatz ausmachen kann.“738
Zu den „faktisch ausgeschiedenen“ Kolchosmitgliedern gehörten sowohl Personen, die dem Artel tatsächlich den Rücken gekehrt hatten, als auch solche, die zwar weiter im Kolchos lebten, allerdings die „Arbeitsverbindung“ zu ihm verloren hatten. Eine Rentenversorgung war einzig den „Kolchosveteranen“ unter ihnen gewährt worden, also jenen Bauern, die seit dem Beginn der Kollektivierung im Artel gearbeitet hatten, ihre Tätigkeit jedoch aufgrund des fortgeschrittenen
738 GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 393, l. 24.
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Alters oder einer Invalidität eingestellt hatten.739 Ursprünglich hatte die Ausgrenzung der „faktisch Ausgeschiedenen“ wohl auch disziplinarische Motive, sollten dergestalt doch nicht zuletzt die letuny, also Arbeitskräfte, die häufig die Stelle wechselten, von der Rentenzahlung ausgenommen werden. Allerdings waren auch andere Teile der Kolchosbauernschaft von ihr betroffen. Bereits im August 1964 hatte die Vorob’ev-Kommission zu Bedenken gegeben, dass ein solcher Passus auch jenen die Rente verwehrte, „die als verdiente Menschen arbeitsunfähig geworden und aus respektablen Gründen (Der Kolchos konnte sie nicht versorgen.) gezwungen waren, ins benachbarte Dorf zu gehen, zu den Kindern, die für ihren Unterhalt sorgen“. Ihr Korrekturvorschlag, eine Beschränkung des betroffenen Personenkreises auf die „Kolchosmitglieder, die als Arbeitsfähige ohne triftige Gründe aus dem Kolchos ausgeschieden sind“, wurde jedoch abgelehnt.740 Erfolgreicher verliefen die Bemühungen um eine Verbesserung der Situation der „ehemaligen Kolchosmitglieder“. Im Unterschied zu den „faktisch Ausgeschiedenen“ konnte ihnen nun wirklich keinerlei Verantwortung für den Umstand zugeschrieben werden, dass sie einem Artel nicht mehr angehörten. Unmittelbar nach dem 1. Januar 1965 hatte sich für diese Bürger erst einmal nichts verändert. Sie hatten wie zuvor bestenfalls auf die Zuteilung einer monatlichen Beihilfe von 8,50 bzw. 10 R hoffen können. Die Empfindung, dass ihre Benachteiligung gegenüber anderen Kolchosbauern, deren Lebensarbeitsleistung nicht höher als die eigene anzusetzen war, kaum gerechtfertigt sein könne, motivierte Sowjetbürger dazu, sich auch in dieser Frage an die Obrigkeit zu wenden. Laut Empfangszimmer des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR kennzeichnete Briefe wie jenen des S. I. Rudnov aus Sverdlovsk eine besondere „Schärfe“ des Tonfalls:741 „Ich bitte darum, die Situation der ehemaligen Kolchosbauern, die sich als aus der Gesellschaft hinausgeworfen erweisen, zu überprüfen. Zum Zeitpunkt der Umwandlung der Kolchose in Sowchose waren viele betagte Kolchosbauern, die im vergangenen Jahrhundert geboren wurden, bereits arbeitsunfähig und von der materiellen Versorgung durch die Kolchosen abhängig. Nach der Reorganisation [...] hat diese Personenkategorie ihre materielle Versorgtheit eingebüßt. Ihnen wurde eine staatliche Beihilfe von 8,50 R im Monat erteilt. Unter diesen Menschen gibt es Menschen, die ihr gesamtes Leben der Stärkung und Entwicklung der Kolchose gewidmet haben. Und was bleibt ihnen nun auf ihre alten Tage? Nichts als ein Bettlerleben. Die vierte Sitzungsperiode des Obersten Sowjets hat ein Gesetz über die Renten für Kolchosbauern verabschiedet, aber diese Kategorie von Leuten ist abermals außerhalb des
739 In ihrem Fall wurden sogar die Jahre dem staž hinzugerechnet, die sie nach Einstellung der Erwerbstätigkeit noch weiterhin in der Kolchosgemeinschaft gelebt hatten. Vgl. Ziff. 48 u. 58 der Kolchosrentenordnung; Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 148, § 9 u. 10. Der Begriff des „faktischen Ausgeschiedenseins“, der nicht mit einem Austritt oder einem Ausschluss aus der Kollektivwirtschaft gleichzusetzen war, sorgte für einige Irritationen, da er unterschiedlich ausgelegt wurde. An der notwendigen Klärung des Terminus versucht sich Lukތjanenko, Nekotorye voprosy. 740 GARF, F. R 7523, op. 45, d. 392, ll. 259260. Zu den Briefen, die diesbezüglich an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR geschickt wurden, vgl. auch GARF, F. R 7523, op. 83, d. 427, ll. 23. 741 Vgl. ebd., l. 1.
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Das System der allgemeinen Altersrenten Gesetzes geblieben. Meiner Meinung nach ist es notwendig, diese alten Männer und Frauen materiell zu versorgen [...].“742
Derartige Äußerungen ließen die politische Führung ihre Entscheidung über die Nichtberücksichtigung der ehemaligen Kolchosmitglieder revidieren. So beauftragte der Ministerrat der UdSSR bereits im Dezember eine Kommission damit, die Frage neu zu überdenken. Den bei der Gelegenheit durchgeführten Kalkulationen zufolge belief sich die Zahl der Betroffenen Anfang 1965 auf 1,1–1,2 Mio. Sowjetbürger, von denen 0,7–0,75 Mio. bereits eine monatliche Beihilfe erhielten, während die übrigen 0,4–0,45 Mio. Ehemaligen auf jede Unterstützung verzichten mussten.743 Am 1. April 1965 verabschiedete der Ministerrat der UdSSR schließlich die Verordnung Nr. 258 „Über die Rentenversorgung der ehemaligen Kolchosmitglieder, deren Länder Sowchosen und anderen Betrieben und Organisationen übergeben wurden“.744 In ihr wurde verfügt, dass die ehemaligen Kolchosbauern unter den Voraussetzungen, die für die übrigen Artelmitglieder galten, einen Anspruch auf eine Alters- oder Invalidenrente, ihre unterhaltsberechtigten Familienmitglieder auf eine Hinterbliebenenrente geltend machen konnten. Auch diese Sozialleistungen wurden über den ZUSVK finanziert.745 Die Durchschnittsrente der ehemaligen Kolchosmitglieder lag Ende des Jahres bei 12,13 R, und ihre Gesamtzahl belief sich laut ZVS auf 1.187.410, was 15,2 % der gesamten Kolchosrentnerschaft entsprach.746
2.2.7.2. Die Korrektur des Renteneintrittsalters Die Fixierung der für den Rentenbezug maßgeblichen Altersgrenze auf 60 bzw. 65 Jahre stellte den wohl am häufigsten kritisierten Aspekt der Reform dar.747 Der Unmut resultierte vornehmlich aus zwei Umständen. Einerseits erkannte man hierin eine ungerechtfertigte Benachteiligung gegenüber den Staatsrentnern, die ihren Ruhestand mindestens fünf Jahre früher antraten.748 Negativ wirkte sich zudem der Vergleich mit der Vorreformzeit auf die Einschätzung des Renteneintrittsalters 742 743 744 745
Ebd., l. 5. Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 760, l. 48. SP SSSR, 1965, Nr. 89, Pos. 68. Als bedürftig eingestufte Personen, deren staž bzw. Lebensalter nicht für die Rentenerteilung ausreichte, konnten weiterhin eine monatliche Beihilfe gemäß der Verordnung vom 13. September 1962 (siehe Anm. 614) erhalten. Vgl. auch Tarašþanskij, Pravo, S. 202/XNތMDnenko, O pensijach. 746 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2805, ll. 11 ob. Auch in den folgenden Jahren blieben die von „Ehemaligen“ bezogenen Leistungen im Schnitt auf dem Mindestniveau. Ihr Anteil an der Gesamtheit der Kolchosrentner sank bis zum 1. Januar 1973 auf 12,19 %. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 49, d. 1967, l. 1. Der großen Mehrheit der „Ehemaligen“ wurden Altersrenten erteilt. Deutlich wird dies etwa am Beispiel der RSFSR, in der Invalidenrenten nur in 1,5 % und Hinterbliebenenrenten sogar nur in 0,1 % aller im Juni 1965 bearbeiteten Fälle beantragt worden waren. Vgl. GARF, F. A 259, op. 45, d. 2706, l. 43. 747 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, ll. 33 u. 58; RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 761, l. 1. 748 Siehe Abs. 5.3.
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aus. Viele der vor 1965 in den Kolchosen erteilten Ruhestandsleistungen waren bereits mit 55 (Frauen) bzw. 60 Jahren (Männer) erteilt worden, was sicherlich in der Hauptsache an dem Vorbildcharakter gelegen hatte, den die 1956 durchgeführte Rentenreform für die Verabschiedung kolchosinterner Regelungen besessen hatte. Davon abgesehen hatte diese auf der Ebene der einzelnen Artele festgesetzte Grenze allerdings auch von staatlicher Seite eine indirekte Bestätigung erhalten. In Art. 6 des am 8. August 1953 vom Obersten Sowjet der UdSSR verabschiedeten „Gesetzes über die Landwirtschaftssteuer“749 war nämlich bestimmt worden, dass zu den Faktoren, die zu einer Steuerbefreiung infolge von Arbeitsunfähigkeit führen sollten, auch das fortgeschrittene Alter von 55 bzw. 60 Jahren zählen sollte. Diese Entscheidung war zwar für Fragen der Rentenversorgung ohne Belang, doch beeinflusste sie zweifelsohne die Wahrnehmung der Artelmitglieder hinsichtlich des Zeitpunkts, ab dem man als „alt“ und eines besonderen Entgegenkommens wert zu gelten hatte.750 In jedem Fall führte die Anhebung der Altersgrenze dazu, dass die 55- bis 59-jährigen Frauen und 60- bis 64-jährigen Männer unter den Artelmitgliedern, die schon vor dem 1. Januar 1965 eine Rente erhalten hatten, ihrer Unterstützung verlustig gingen. Die Zahl der Betroffenen war erheblich. Laut einer Schätzung der ZVS der UdSSR handelte es sich um eine Größenordnung von 500.000 bis 700.000 Kolchosbauern.751 Es ist wohl vor allem der Vehemenz zuzuschreiben, mit der gegen die Altersgrenze protestiert wurde, dass in offiziellen Kreisen schon bald nach der Gesetzeseinführung eine Korrektur dieser Bestimmung ausdrücklich befürwortet wurde. Bereits die Autoren des im Juli 1965 unter Federführung des Goskomtrud erstellten Berichts über die Reformumsetzung hielten es „unter Berücksichtigung der Notwendigkeit einer Beseitigung der Unterschiede zwischen Kolchosmitgliedern sowie Arbeitern und Angestellten in der Rentenversorgung“ für zweckmäßig, eine Nachbesserung der Altersgrenze, die „in der Mehrheit der von Kolchosbauern erhaltenen Briefe“ gefordert wurde, zu prüfen.752 Ende desselben Monats gab diesbezüglich auch L. P. Lykova gegenüber dem Ministerrat der RSFSR ein positives Votum ab, das sie mit dem Verweis auf die öffentliche Meinung begründete: „[...] die Analyse der eingegangenen Briefe von Kolchosmitgliedern [und] die Untersuchung der Anregungen der Räte für die Sozialversorgung der Kolchosbauern und der Kolchosleitungen sowie der Vorschläge des Republikrats [für die Sozialversorgung der Kolchosbauern] zei-
749 VVS SSSR, 1953, Nr. 7. 750 Vgl. Ruskol, Materialތnoe obespeþenie, S. 1415. Siehe hierzu etwa das Schreiben der Kolchosbäuerin Podoprigorova aus dem Gebiet Volgograd, die sich gegen die Behauptung wehrte, im arbeitsfähigen Alter aus ihrem Kolchos ausgeschieden zu sein: „Das stimmt nicht. Ich schied im Alter von 56 Jahren aus, aber damals hielt man dieses Alter schon für ein Kennzeichen von Arbeitsunfähigkeit, und die Wirtschaften befreiten einen sogar von der Landwirtschaftssteuer.“ RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 761, l. 75. Vgl. auch die Briefbeispiele in GARF, F. R 7523, op. 83, d. 427, ll. 79; RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 761, l. 76. 751 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 33. Vgl. auch GARF, F. A GARF, F. A 259, op. 45, d. 2706, l. 46. 752 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1667, ll. 157158.
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Das System der allgemeinen Altersrenten gen, dass die Frage einer möglichen Senkung des für die Festsetzung der Altersrente für die Kolchosmitglieder notwendigen Alters geprüft werden sollte [...]. Solche Vorschläge machen auch viele lokale Partei- und Sowjetorgane.“753
Besonderes Gewicht besaß sicherlich die Stellungnahme einer von Vladimir A. Babkin, dem Leiter der Rentensektion im Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung, geleiteten Arbeitsgruppe (im Folgenden: Babkin-Arbeitsgruppe). Sie hatte im Auftrag der Kommissionen für Gesetzesvorschläge jene Berichte analysiert, die von den Kommissionsmitgliedern selbst über den Fortgang der Reformumsetzung in ihren jeweiligen Heimatrepubliken verfasst worden waren. In ihrem Resümee bezeichnete die Arbeitsgruppe eine Senkung des Rentenalters ebenfalls als unterstützenswert und schlug eine Realisierung des Vorhabens für das Jahr 1966 vor.754 Umgesetzt wurde es am 26. September 1967: Mit dem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR „Über die weitere Verbesserung der Rentenversorgung“755 legte der Gesetzgeber fest, dass das Kolchosrentenalter vom 1. Januar 1968 an ebenfalls bei 55 (Frauen) bzw. 60 Jahren (Männer) liegen würde. Wie weit die Maßnahme reichte, illustriert die Tatsache, dass die Zahl der Kolchosaltersrentner im Verlaufe des Jahres 1968 um 2.428.215 Personen (30,5 %) anwuchs.756
2.2.7.3. Die Anhebung des Rentenniveaus Die Kritik richtete sich schließlich ebenfalls gegen die Höhe der Ruhestandsversorgung. Auch in diesem Fall argumentierte man, dass die sich meist an dem Minimum von 12 R orientierenden Beträge eine Verschlechterung zur Vorreformzeit bedeuteten. Über derartige Äußerungen wusste das Empfangszimmer des Präsidiums des Obersten Sowjets zu berichten: „So hieß es in der Eingabe der Bürgerin I. D. Astachova, 77 Jahre, aus dem Gebiet Rostov: ,Für diese 35 Jahre ehrlicher Arbeit habe ich eine Rente von 12,60 R erhalten. Der Kolchos hatte mir eine Rente von 30 R bezahlt, wovon man immerhin leben konnte.’ Eine Gruppe betagter Kolchosbauern aus dem Kolchos ,Rascvet ދim Bezirk Žarma des Semipalatinsker Gebiets [...] schrieb: ,Uns hat man die Mindestrente von 12 R im Monat erteilt. Wir erhalten eine staatliche Rente, die niedriger ist als das, was wir früher im Kolchos bekamen. Man gab uns immerhin 7,50 R [...], 15 kg Mehl im Monat und anderthalb bis zwei Tonnen Futter für die Kuh.“ދ757
753 GARF, F. A 259, op. 45, d. 2706, l. 46. 754 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 97. Zum allgemeinen Konsens in dieser Frage passte, dass man auch in der sozialpolitischen Fachliteratur bereits früh die Zweckmäßigkeit einer solchen Korrektur betonte. Vgl. Fogel’, Vvedenie, S. 4849; Ruskol, Socialތnoe obespeþenie, S. 95. 755 VVS SSSR, 1967, Nr. 39, Pos. 520. 756 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 45, d. 5963, l. 3; d. 9851, l. 1. Im Jahr 1965 durchgeführte Schätzungen hatten ergeben, dass etwa 2,1 Mio. Artelmitglieder von der Verringerung des Rentenalters um fünf Jahre profitieren würden. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 33. 757 RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, l. 47.
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In einigen Gegenden war eine solche Verringerung des Leistungsniveaus sogar eine verbreitete Erscheinung. So informierten Partei- und Sowjetorgane des Gebiets ýita das ZK-Büro für die RSFSR und den Ministerrat der Unionsrepublik darüber, dass die Renten in den meisten Kolchosen ihres Zuständigkeitsbereichs nur 50–66,7 % der zuvor erteilten Beträge ausmachten. Dies führe verständlicherweise zu Unzufriedenheit. Darüber hinaus würden die Kolchosleitungen gebeten, für die Differenz in der Alterssicherung aufzukommen.758 Die vorhandenen Informationen legen jedoch nahe, dass solche positiven Beschreibungen der Vergangenheit nur für die prosperierenden Artele charakteristisch gewesen sein konnten, hatte die Mehrheit der Alten und Arbeitsunfähigen doch vor 1965 keine oder deutlich niedrigere Leistungen erhalten. Dessen ungeachtet wurde Kritik an der Höhe der Kolchosaltersrenten auch von weniger privilegierten kolchozniki geübt, die 12 R als einen viel zu geringen Betrag erachteten, um einen sicheren Lebensabend zu gewährleisten. Über das Leistungsniveau beschwerten sich dergestalt einige Kolchosrentner aus Boksitogorsk (Gebiet Leningrad), die sich Anfang der 1970er Jahre an den Goskomtrud wandten: „Wir, Kolchosrentner, die 12-Rubel-Renten beziehen, leben bei den Verwandten. Wir befinden uns bereits im achten Lebensjahrzehnt. Für keine Arbeit sind wir mehr gut, und es gibt auch Fälle, in denen wir ebenfalls den Kindern nichts mehr nützen. Wie sollen wir von 12 R unser Leben fristen?“759
In diesem Zusammenhang störte man sich einmal mehr an der Besserstellung der Sowchosarbeiter, deren Ruhestandsgelder ungleich generöser ausfielen.760 Bemängelt wurde schließlich auch jene uravnilovka, die mit dem Gesetz nicht bekämpft, sondern – im Gegenteil – befördert worden war. Die Nivellierung beinahe sämtlicher Rentenbezieher auf dem niedrigstmöglichen Nenner widersprach nicht nur der staatlichen Wirtschaftspolitik, sie vertrug sich auch nicht mit dem Gerechtigkeitsempfinden der Artelmitglieder. Manche Bürger erinnerten daran, dass die ursprünglichen Verlautbarungen der politischen Führung nicht mit dem gegenwärtigen Mangel an Differenzierung in Einklang zu bringen seien. Zu jenen, die sich 1965 dergestalt gegenüber Anastas I. Mikojan, damals Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets, äußerten, gehörte A. P. Simakova aus dem Gebiet Ivanovo: „Im Gesetz über die Renten für Kolchosmitglieder heißt es, dass es in der Rentenversorgung der Kolchosbauern keine gleichmacherische Herangehensweise geben dürfe. Jene Kolchosbauern, die gut arbeiten und einen großen Beitrag zur gesellschaftlichen Produktion leisten, sollen besser versorgt werden. Im Kolchos ,Bol’ševik ދbeträgt die durchschnittliche monatliche Arbeitsvergütung der besten Kolchosbauern 24 R. Diese Kolchosbauern erhalten eine 758 Einer Rentenaufstockung von Seiten der Kolchose des Gebiets ýita stand im Wege, dass deren Finanzlast nach der Reform gestiegen war: In den ZUSVK zahlten sie Beträge ein, die zwei- bis dreimal so hoch waren wie ihre früheren Abführungen in die eigenen Hilfs- oder Rentenfonds. Vgl. RGASPI, F. 556, op. 16, d. 114, l. 84. 759 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, l. 190. Vgl. auch RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 761, l. 75. Auch sowjetische Fachleute hielten dieses Rentenniveau für zu niedrig. Schon 1965 spricht sich Ja. M. Fogel’ für eine diesbezügliche Korrektur aus. Vgl. Fogel’, Vvedenie, S. 49; Dmitraško, Vnutrikolchoznye ơkonomiþeskie otnošenija, S. 237. 760 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, ll. 4647; GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 398, l. 119.
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Das System der allgemeinen Altersrenten Rente [...] von 12 R. Es gibt auch eine Kategorie von Kolchosbauern, bei denen sich eine monatliche Vergütung von im Schnitt 6 bis 7 R ergab, und auch sie werden eine Rente von 12 R beziehen. Ist das etwa keine Gleichmacherei?“761
Derartige Kritik blieb nicht ungehört. In ihren Überlegungen zur Optimierung des Kolchosrentensystems gingen die Vertreter der beteiligten Behörden auch auf die Forderungen nach einer Korrektur der Leistungsuntergrenze ein. Allerdings lehnten sie einen solchen Schritt mit der Begründung ab, dass die uravnilovka dadurch noch verstärkt würde.762 Als ausschlaggebend muss hier jedoch abermals vor allem der Kostenfaktor angenommen werden. Entsprechende Kalkulationen kamen zu dem Ergebnis, dass jeder Rubel, um den man die Mindestaltersrente erhöhen würde, die jährlichen Aufwendungen um ca. 90 Mio. R ansteigen lassen würde.763 Die Sowjetführung blieb hier vorläufig untätig, signalisierte ihre Handlungsbereitschaft allerdings 1966 auf dem XXIII. Parteitag der KPdSU, als sie die Verbesserung der Ruhestandsleistungen für die gewöhnlichen Artelmitglieder mit in die von Kosygin vorgestellten Direktiven zum achten Fünfjahrplan (1966–1970) aufnahm: Ebenso wie die Altersrenten der Arbeiter und Angestellten wollte man jene der Kolchosbauern bis Ende des Jahrzehnts um mehr als 30 % anheben.764 Zur Tat schritt man indes erst 1971, als man nicht nur die Mindestaltersrenten für Staatsrentner nach oben korrigierte, sondern zeitgleich auch zwei grundlegende Änderungen an der Ruhestandsversorgung der Kolchosbauern vornahm, die als weitere Schritte zur Annäherung an das Leistungsniveau der Arbeiter und Angestellten kommuniziert wurden. Bereits im Vorjahr hatte man das Repertoire der den Artelmitgliedern staatlicherseits zur Verfügung gestellten Sozialleistungen um Beihilfen wie z. B. das Krankengeld, Geburts- und Bestattungsbeihilfen sowie die Bezuschussung von Sanatoriums- oder Erholungsaufenthalten erweitert, wofür man als neue Finanzierungsquelle den Zentralisierten Unionsfonds für die Sozialversicherung der Kolchosbauern eingerichtet hatte.765 Nun stockte man die Rentenleistungen auf: Am 3. Juni 1971 erließ das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR das Dekret „Über die Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der Rentenversorgung der Kolchosbauern“,766 das u. a. eine neue Ober- und Untergrenze für die Kolchosaltersrenten festlegte. Ab dem 1. Juli desselben Jahres wurde das Leistungsminimum auf nunmehr 20 R angehoben. Parallel dazu passte man das Rentenmaximum an die Staatsrentenversorgung an: Es lag jetzt ebenfalls bei 120 R, was tatsächlich jedoch keine wirkliche Veränderung bedeutete, da jener 15-prozentige 761 762 763 764 765
RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, l. 48. Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1667, l. 258; F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 34. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 97. Vgl. XXIII s-ezd, S. 48. Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR und des VCSPS vom 27. März 1970 Nr. 214 „Über Maßnahmen zur Verwirklichung der Sozialversicherung der Kolchosbauern“ (SP SSSR, 1970, Nr. 6, Pos. 41). Die Kolchose hatten einen Betrag in diesen zweiten Unionsfonds abzuführen, der sich auf 2,4 % der Summe belief, die für die naturale und monetäre Vergütung ihrer Mitglieder anfiel. Vgl. Tarašþanskij, Pravo, S. 146148; Stiller, Sozialpolitik, S. 4849; Batygin, Socialތnoe strachovanie. 766 VVS SSSR, 1971, Nr. 23, Pos. 239.
„Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“
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Abschlag, um den die Staatsrenten bei einem ständigen Wohnsitz auf dem Land und dem Vorhandensein einer Nebenwirtschaft von 0,15 ha bereits seit 1956 gemindert wurden, nun auch auf die Kolchosrenten übertragen wurde. Da nur wenige Leistungsempfänger in den Städten wohnten, ist davon auszugehen, dass die meisten Ruheständler von diesem Abzug betroffen waren.767 Verantwortlich dafür, dass das Kriterium der „Verbindung zur Landwirtschaft“ nicht mehr nur unter der Hand zur Begründung des niedrigeren Leistungsniveaus der Kolchosrentner herangezogen wurde, sondern nun auch ganz konkret bei der Kalkulation der monatlichen Bezüge Anwendung fand, war die zweite wichtige mit dem Dekret verbundene Neuerung: Die im Staatsrentengesetz enthaltenen Bestimmungen zur Rentenberechnung galten ab sofort ebenfalls für die Mitglieder der Kollektivwirtschaften, was gleichzeitig implizierte, dass der seit 1965 gebräuchliche zweistufige Berechnungsmodus durch die degressiv abgestufte Bemessungstabelle der Arbeiter und Angestellten (siehe Tab. 2b) ersetzt wurde.768 Anders als im Falle der zur selben Zeit nachgebesserten Staatsrenten stiegen ab dem 1. Juli 1971 folglich nicht nur Altersrenten, die zuvor unterhalb des neuen Mindestniveaus angesiedelt gewesen waren. Auch die Bezieher höherer Kolchosrenten konnten von Zuschlägen profitieren, die sich im Schnitt auf mehr als 8 R beliefen (Tab. 2j).
Tab. 2j: Die Steigerung der Kolchosaltersrenten im Jahr 1971 Zur Leistungsberechnung herangezogene durchschnittliche Arbeitsvergütung (in R) 20,00 30,00 40,00 50,00 60,00 70,00 80,00 100,00 120,00 160,00 200,00 240,00 300,00 358,00
Alte Rentenhöhe gemäß Art. 8 des Kolchosrentengesetzes vom 15. Juli 1964 (in R) 12,00 15,00 20,00 25,00 27,50 30,00 32,50 37,50 42,50 52,50 62,50 72,50 87,50 102,00
Neue Rentenhöhe gemäß Dekret vom 3. Juni 1971 (in R) bei Vorhandenbei Fehlen der sein der „Verbin„Verbindung zur dung zur LandLandwirtschaft“ wirtschaft“ 20,00 20,00 30,00 25,50 34,00 28,90 42,50 36,13 45,00 38,25 45,50 38,68 52,00 44,20 55,00 46,75 60,00 51,00 80,00 68,00 100,00 85,00 120,00 102,00 120,00 102,00 120,00 102,00
Rentenzuwachs für Kolchosaltersrentner mit „Verbindung zur Landwirtschaft“ (in R) 8,00 10,50 8,90 11,13 10,75 8,68 11,70 9,25 8,50 15,50 22,50 29,50 14,50 0,00
Quelle: Eigene Berechnung.
767 Verschont blieben nur jene Leistungen von dieser Minderung, die bei einer Kürzung unter die Mindestgrenze von 20 R fallen würden. 768 Vgl. auch Michno, Novyj porjadok, S. 1415.
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Das System der allgemeinen Altersrenten
Die Erhöhung der Mindestaltersrenten und die Übertragung des bis dato den Staatsrentnern vorbehaltenen Bemessungsmodus lassen sich ebenso als Resultat der Bestrebungen interpretieren, das ideologisch gesetzte Ziel der Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land zu erreichen, wie dies für die bereits 1967 beschlossene Senkung des Rentenalters galt. Nicht bestreiten lässt sich jedoch, dass der Gesetzgeber hier abermals auf die vielfach an der Reform vom 15. Juli 1964 geäußerte Kritik reagierte. Welche Bedeutung die politische Führung den geschilderten Korrekturen und damit auch der Berichtigung des Eindrucks beimaß, den sie mit ihrem rentenpolitischen Engagement bei der betroffenen Bevölkerung erweckt hatte, lässt sich an den für diese Zwecke in die Hand genommenen Finanzmitteln erkennen. Ursprünglich hatte es geheißen, dass sich zukünftige Verbesserungen der Rentenversorgung aus der Steigerung der Arbeitsproduktivität der Artelmitglieder bzw. der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Kolchossektors ergeben würden.769 Die beschriebenen Nachbesserungen zeigen jedoch, dass man ein weiteres Mal entweder nicht die notwendige Geduld aufbrachte, um die Ergebnisse eines solchen Prozesses abzuwarten, oder der postulierten Gesetzmäßigkeit derartiger volkswirtschaftlicher Entwicklungen kein Vertrauen schenkte. Die Einnahmenstruktur des ZUSVK belegt stattdessen, dass die enormen Kostenzuwächse fast vollständig über die Steigerung der Zuwendungen aus dem Staatshaushalt gedeckt wurden, während der Beitrag der Kolchose im Vergleich hierzu nur geringfügig zunahm: Infolge der 1967 beschlossenen Senkung des Renteneintrittsalters und einiger anderer Korrekturen kam es beinahe zu einer Verdreifachung des staatlichen Anteils, der in den nachfolgenden Jahren die Abgaben der Artele konstant übertreffen sollte. Zwar wuchsen diese im Zusammenhang mit der 1971 beschlossenen Anhebung des von den Kolchosen abzuführenden Anteils der Bruttoeinnahmen auf 5 % an. Für den größten Teil des bis 1972 zu verzeichnenden – und vor allem auf die Folgen des Dekrets vom 3. Juni 1971 zurückzuführenden – Wachstums des ZUSVK zeichneten jedoch die staatlichen Zuschüsse verantwortlich: Sie stiegen zwischen 1970 und 1972 um 69,3 %.770 In welchem Umfang die Entwicklung der Kolchosaltersrenten für den Zuwachs der ZUSVK-Mittel verantwortlich zeichnete, lässt sich anhand der in der folgenden Tabelle aufgeführten Ergebnisse einer Schätzung rekonstruieren: Im Jahr 1969 waren wohl 79,9 %, 1972 sogar 84,7 % dieser Gelder für die Auszahlung der Ruhegelder an betagte Artelmitglieder bestimmt.
769 Vgl. Ruskol, Socialތnoe obespeþenie, S. 95. 770 Vgl. auch Madison, The Soviet Pension System, S. 206.
247
„Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“
Tab. 2k: Die Einnahmenstruktur des ZUSVK, 1965–1972 (Mio. R) Gesamtsummea Abführungen der Kolchosea Staatliche Zuschüssea Ausgaben für die Kolchosaltersrentend
1965
1966
1967
1968
1969
1970
1971
1972
1.052
–
–
–
2.109
2.154
–
3.495
615b
800c
900c
835c
850
774
1.050c
1.159
437
400
400
1.145
1.259
1.380
1.690
2.336
1.109
1.186
1.436
1.686
1.742
2.353
2.962
Quelle: a Stiller, Sozialpolitik, Tab. 5. b Berechnung Stillers (ebd.). c Schätzung Stillers (ebd.). d Eigene Schätzung: Aus den in den ZVS-Jahresberichten zu den Kolchosrenten (siehe Tab. 3a) enthaltenen Angaben zur Gesamthöhe der monatlichen Aufwendungen für die Auszahlung von staatlichen Altersrenten wurde ein Jahresmittelwert errechnet und mit dem Faktor 12 multipliziert.
2.2.8. Exkurs: Die kolchosinterne Rentenversorgung Im Rahmen der Betrachtung der 1965 eingeführten Ruhestandsversorgung ist es notwendig, ebenfalls auf die Rolle einzugehen, die nach dieser Zäsur weiterhin der „kolchosinternen Sozialversorgung“ (vnutrikolchoznoe social’noe obespeþenie), und hier speziell den vollständig aus Artelmitteln finanzierten Rentenleistungen zugewiesen wurde.771 Zwar ersetzten die Bestimmungen des Kolchosrentengesetzes die mancherorts bereits zuvor eingeführten Regelungen zur Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenensicherung, die ihnen in der Regel sowohl in Qualität als auch Reichweite nachstanden. Auch bedeuteten die verpflichtenden Abführungen an den ZUSVK für viele Artele eine finanzielle Mehrbelastung, die zu einer Minimierung der aus eigenen Mitteln gespeisten Hilfs- und Rentenfonds führen musste.772 Dies implizierte jedoch nicht, dass nach dem 1. Januar 1965 auf das in den Kolchosen gegebenenfalls noch vorhandene Restpotential verzichtet werden sollte. Anders als im Falle der Staatsrentenversorgung, in deren Kontext die HSSV-Mittel als alleinige Quelle für die Subventionierung der monatlichen Ruhestandsversorgung dienten, war es ausdrücklich gewünscht, dass die Artele mit eigenen Zuzahlungen zur Absicherung ihrer Alten und Arbeitsunfähigen beitrugen. Eine gesetzliche Grundlage bot sich der kolchosinternen Rentenversorgung mit Art. 22 des Kolchosrentengesetzes, der es den Artelen freistellte, solche Zuzahlungen zu leisten.773
771 Zu anderen Formen der kolchosinternen Sozialversorgung siehe Abs. 4.4. 772 So sank z. B. der Umfang der in den Kolchosen des Ural-Gebiets für die Sozialversorgung bestimmten Fonds im Zeitraum 1960–1966 von 13,5 Mio. R auf 5,1 Mio. R. Vgl. Akifތeva, Rost dochodov, S. 108. 773 Vgl. Dmitraško, Vnutrikolchoznye ơkonomiþeskie otnošenija, S. 236.
248
Das System der allgemeinen Altersrenten
Für ein derartiges Engagement der Kollektivwirtschaften lassen sich im Großen und Ganzen zwei Motivationen differenzieren: die Fürsorge für Bedürftige und die Auszeichnung von als besonders verdient wahrgenommenen Kolchosbauern. In dem 1968 publizierten Kommentar zum Kolchosrentengesetz wurde dementsprechend vor allem von Rentenzuzahlungen gesprochen, die den „Veteranen der Kolchosproduktion, die über eine lange Zeit gewissenhaft in der gesellschaftlichen Produktion gearbeitet haben“, gewährt würden. An gleicher Stelle berichtete man auch davon, dass mancherorts „Veteranen der Kolchosproduktion, die sich besonders ausgezeichnet und dem Kolchos gegenüber verdient gemacht haben“, eine „persönliche Rente“ bewilligt werde.774 Die Zahl der Kolchose, die in der RSFSR persönliche Renten erteilten, belief sich Ende der 1960er Jahre nach offiziellen Angaben auf mehr als 4.000, also mindestens 28,5 % aller Artele.775 Eine einheitliche Herangehensweise bei der Bestimmung der Leistungshöhe existierte dabei indes nicht: „Die Höhe der persönlichen Renten wird in jedem Einzelfall in Abhängigkeit von den Verdiensten des Rentners gegenüber dem Kolchos, von der Dauer seiner Arbeitstätigkeit und vom Grad des Verlustes der Arbeitsfähigkeit festgelegt. Berücksichtigt wird auch die materielle Versorgtheit, die Zahl der unterhaltsberechtigten Familienmitglieder usw. In den Kolchosen des Gebiets ýeljabinsk, der Baschkirischen ASSR und anderer Gegenden werden persönliche Renten Männern bei einem Dienstalter von nicht weniger als 30, Frauen bei nicht weniger als 25 Jahren erteilt. Und in einer Reihe von Fällen entsprechend bei nicht weniger als 35 bzw. 30 Jahren. Im Kolchos ,XXII s-ezd Partii ދdes Bezirks Orlovskij (Gebiet Rostov) erteilt man persönliche Renten all jenen Kolchosbauern, die nicht weniger als die Hälfte ihres Dienstalters in der Viehzucht gearbeitet haben.“776
Bei der kolchosinternen Erteilung von Rentenzuzahlungen ließ man sich von Prinzipien leiten, die in ähnlicher Form bereits die allgemeine Kolchosrentenversorgung charakterisierten. Im Artel „40 let Oktjabrja“ aus der Region Krasnodar fand so etwa das Leistungsprinzip Anwendung, da den Mitgliedern eine Aufstockung ihrer Leistungen auf 30 R nur unter der Voraussetzung zuteilwurde, dass sie mindestens 25 Jahre im Kolchos gearbeitet hatten. In ähnlicher Weise wurde in mehreren Kollektivwirtschaften des Gebiets Sverdlovsk ein Zuschlag von 50 % gezahlt, wenn man der Gemeinschaft bereits seit den ersten Jahren der Kollektivierung angehört hatte. Und in einer Reihe von Kolchosen der Tschetscheno-Inguschischen ASSR bewahrten Bezugskriterien ihre Gültigkeit, die schon für die Vorreformzeit kennzeichnend gewesen waren: Hier war eine 30-prozentige Zuzahlung an die fortgesetzte Arbeit des Einzelnen im Rahmen der Kolchosproduk774 Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 247248. Diese Rentenform hatte mit den gleichnamigen Leistungen für Arbeiter und Angestellte neben dem Titel nur die Tatsache gemein, dass auch sie Personen mit besonderen Verdiensten vorbehalten sein sollte. 775 Vgl. Spravka o vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii. Zur Gesamtzahl der Kolchose in der RSFSR gegen Ende des Jahres 1970 vgl. NCh SSSR v 1970 g., S. 388. 776 Ebd., S. 324. Im Gesetzeskommentar wird in diesem Zusammenhang das Beispiel des Kolchos „Rassvet“ (Gebiet Rostov) angeführt, der 30 seiner Mitglieder sogar „persönliche Renten“ in einer Höhe von jeweils 50 bis 70 R im Monat erteilt haben soll. Vgl. Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 248.
„Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“
249
tion gebunden.777 Die Voraussetzungen für den Erhalt einer persönlichen Rente oder eines Zuschlags waren in solchen Fällen schwerer zu erfüllen als die Qualifikationskriterien der allgemeinen Kolchosrente. Es handelte es sich demnach primär um Leistungen, für deren Erteilung nicht die Bedürftigkeit, sondern die besonderen Meriten des Individuums ausschlaggebend waren.778 Anders verhielt es sich, wenn die Zahlungen speziell jenen zugutekommen sollten, die nach dem 1. Januar 1965 einer zuvor genossenen Rente verlustig gegangen waren. Informationen über die Verbreitung solcher kolchosinterner Unterstützungen liegen nur für die Estnische SSR vor: Bezifferte man die Anzahl der derart benachteiligten Personen am 1. September 1965 auf 2.287, so wurden hiervon immerhin 1.152 Artelmitglieder (50,4 %) mit einer Ersatzrente aus eigenen Mitteln ausgestattet.779 In der RSFSR hingegen hatten die meisten Kolchose die Rentenzahlung an Personen, die ihren Leistungsanspruch verloren hatten, zu diesem Zeitpunkt eingestellt.780 Die wenigen Angaben zur Verbreitung der kolchosinternen Rentenformen lassen einheitlich darauf schließen, dass ihr Bezieherkreis eng bemessen war. So sollen im Jahr 1965 nur 0,3 % der Kolchosbauern des Ural-Gebiets eine Zuzahlung, persönliche Rente oder anderweitige materielle Unterstützung von ihrem Artel erhalten haben.781 Absolute Zahlen liegen lediglich für den 1. Januar 1967 vor. Der ZVS der UdSSR zufolge belief sich die Anzahl ihrer Empfänger in der UdSSR auf insgesamt 199.169, einen Wert, der 2,2 % der Bezieher von aus dem ZUSVK finanzierten Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten entsprach. Nutzt man diesen Prozentsatz als Kennwert für die Verbreitung der von den Artelen in Eigenregie ermöglichten Rentenleistungen, so lassen sich Rückschlüsse auf republikspezifische Unterschiede ziehen: Am mit Abstand gebräuchlichsten waren sie demzufolge in der Moldawischen SSR; überdurchschnittlich oft wurden sie auch in der Estnischen und der Kirgisischen SSR verliehen. Besonders selten waren sie hingegen in der Aserbaidschanischen, der Turkmenischen und der Georgischen Sowjetrepublik (Tab. 2l).782
777 Vgl. Spravka o vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii, S. 322. Zu den persönlichen Renten für Kolchosmitglieder vgl. auch Michalkeviþ, Pensii i posobija þlenam, S. 11; Mašanov, Organizacija, S. 112. 778 Zu den Formalitäten der Beantragung und Auszahlung von Rentenzuzahlungen vgl. Tarašþanskij, Pravo, S. 199200. 779 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 83, d. 429, l. 125. 780 Vgl. GARF, F. A 259, op. 56, d. 2706, l. 46. Vgl. auch Pavlova, S þuvstvom, S. 18. 781 Vgl. Bersenev, Razvitie, S. 115116. 782 Der Statistik ist sich leider nicht zu entnehmen, wie viele der Empfänger einer solchen kolchosinternen Leistung gleichzeitig eine staatlich subventionierte Alters-, Invaliden- oder Hinterbliebenenrente bezogen.
250
Das System der allgemeinen Altersrenten
Tab. 2l: Die Verbreitung der kolchosinternen Rentenleistungen in der UdSSR und den Sowjetrepubliken (1. Januar 1967) Bezieher von ZUSVKfinanzierten Renten UdSSR RSFSR Ukrainische SSR Weißrussische SSR Usbekische SSR Kasachische SSR Georgische SSR Aserbaidsch. SSR Litauische SSR Moldawische SSR Lettische SSR Kirgisische SSR Tadschikische SSR Armenische SSR Turkmenische SSR Estnische SSR
8.854.869 3.843.225 2.515.920 529.689 462.910 210.679 232.647 176.705 190.003 172.646 107.219 113.825 113.490 65.238 68.700 51.973
Bezieher einer kolchosinternen Rentenleistung 199.169 82.062 61.938 3.954 10.434 3.931 595 685 1.088 22.728 2.481 3.696 2.292 581 262 2.442
Zahl der Bezieher kolchosinterner Renten im Verhältnis zur Zahl der Empfänger von ZUSVK-Renten (in %) 2,2 2,1 2,5 0,7 2,3 1,9 0,3 0,4 0,6 13,2 2,3 3,2 2,0 0,9 0,4 4,7
Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 45, d. 2460, l. 33.
Es ist davon auszugehen, dass die sowjetischen Artelmitglieder auch noch gegen Ende des Jahrzehnts kaum von derartigen Zusatzleistungen profitieren konnten. Hierfür spricht etwa das Beispiel des Sverdlovsker Gebiets, in dem im Jahre 1969 lediglich 1.064 Kolchosrentnern ergänzende Natural- und Geldleistungen in einer Höhe von etwa 29.000 R ausbezahlt wurden, im monatlichen Mittel also nicht mehr als 2,27 R pro Person.783 In der gesamten RSFSR ließ man den alten und invaliden Mitgliedern im selben Jahr kolchosinterne Rentenleistungen in einer Höhe von ungefähr 14 Mio. R zukommen.784 Ginge man davon aus, dass die Leistungen tatsächlich allein den am 1. Januar 1969 registrierten 4.769.739785 Kolchosaltersund -invalidenrentnern der Republik zukamen, ergäbe dies einen Durchschnittsbetrag von gerade einmal 24 Kopeken im Monat.786 In der UdSSR lagen die für
783 Vgl. Mašanov Šajchatdinov, O vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii, S. 18. 784 Im selben Zeitraum zahlten die Kolchose 376 Mio. R in den ZUSVK ein. Vgl. Spravka o vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii, S. 321322. 785 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 45, d. 9851, l. 17. 786 Im Vorjahr waren Komarova, ýeloveku truda, zufolge 11 Mio. R ausgezahlt worden. Vgl. auch Brunner Westen, Die sowjetische Kolchosordnung, S. 84.
„Gesetz über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder“
251
Rentenzuzahlungen und persönliche Kolchosrenten insgesamt anfallenden Kosten im Jahr 1970 bei 23 Mio. R.787 Der bescheidene Umfang der Zahlungen stellte denn auch die politische Führung nicht zufrieden. So kritisierte die unter dem Dach des Sozialversorgungsministeriums der RSFSR eingerichtete Verwaltung für Kolchosrenten und -beihilfen, dass viele „Kolchose, die über die objektiven Möglichkeiten verfügen, keine Zuzahlungen zu den Renten leisten“.788 Man bemühte sich deshalb aktiv um eine Stärkung dieses Aspekts der Kolchostätigkeit, für den man auch im KolchosMusterstatut von 1969 warb: Art. 40 desselben hielt fest, dass das Artel „auf die Entscheidung der allgemeinen Versammlung hin Zuzahlungen zu allen Arten von Renten [...] leisten und persönliche Renten für die Veteranen des Kolchosaufbaus und jene Personen, die sich besondere Verdienste bei der Entwicklung der gesellschaftlichen Wirtschaft des Kolchos erworben haben, festsetzen kann“.789
Auf den ersten Blick war hier zwar nicht von einer Verpflichtung, sondern nur von der Möglichkeit der Rentenzuzahlung sowie der eigenständigen Erteilung persönlicher Renten die Rede.790 Indem eine entsprechende Praxis allerdings erstmals in einem offiziellen Dokument von de facto normativer Qualität fixiert wurde, kommunizierte man sie als wünschenswert – und trieb somit die bis dato untätigen Kolchosleitungen dazu an, ihren Mitgliedern derartige Leistungen bereitzustellen. Unterstützung fand das Anliegen einmal mehr auf den Seiten der Social’noe obespeþenie, auf denen man Kolchosvorsitzenden das Wort erteilte, die ihre Absicht zur Anhebung der Leistungen bekundeten. Zu ihnen gehörte auch I. N. Širjaev vom Kirov-Kolchos im Gebiet Orenburg: „Unsere Kolchosbauern erhalten schon seit langem Zuschläge zu den Renten. Doch wir möchten ihre Höhe gern dem Rentenniveau der Sowchosarbeiter annähern. Über all das, was dafür notwendig ist, verfügen wir. [...] Die Leitung hat bereits Listen mit denjenigen Kolchosbauern erstellt, denen eine Rentenanhebung bevorsteht. Der Mindestbetrag wird 30 R sein, der maximale 55 R. In der Hauptsache werden die Renten derjenigen angehoben, die weiterarbeiten. Berechnen werden wir sie auf der Grundlage des Durchschnittsverdiensts, nach einer speziellen Skala und unter Berücksichtigung des Arbeitsbeitrags der Person. [...] Gesteigert werden auch die Renten der persönlichen Rentner und verdienten Kolchosbauern.
787 Vgl. Aleksanov, Razvitie, S. 31. Darauf, dass kolchosinterne Renten Anfang der 1970er Jahre selbst in prosperierenden Artelen selten waren, verweist auch Madison, Soviet Income Maintenance Policy, S. 114: „Die Kolchoswirtschaft kann aus eigenen Mitteln materielle Hilfe leisten. Ein wohlhabender Kolchos, die von der Autorin 1971 besucht wurde, hat [...] z. B. 73 Personen eine Rente gewährt. Diese Zahl entspricht 3,8 % der 1.917 Rentner, die in dieser Wirtschaft leben.“ 788 Spravka o vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii, S. 326327. 789 SP SSSR, 1969, Nr. 26, Pos. 150. Vgl. auch Wädekin, Das neue Musterstatut, S. 292293; Bilinsky, Das neue Musterstatut, S. 157159. 790 Vgl. Šajchatdinov, Socialތnoe obespeþenie, S. 99101, der angesichts der Tatsache, dass viele Artele keine freiwilligen Zahlungen leisteten, für eine obligatorische Ergänzung der über den ZUSVK finanzierten Renten durch eine kolchosfinanzierte „zusätzliche Sozialversorgung“ plädiert.
252
Das System der allgemeinen Altersrenten Die Zuzahlung zu den Mindestrenten erhalten nur jene, die sich bei der Arbeit in der Kolchosproduktion bewährt haben.“791
Deutlich wird hier, dass bei der Aufstockung der kolchosinternen Rentenversorgung nicht nur das Bewusstsein um die Defizite der allgemeinen Kolchosrentenversorgung, sondern vor allem der für die sowjetische Sozialpolitik zentrale Anreizgedanke im Vordergrund stand. Von einer Umsetzung entsprechender Maßnahmen erhoffte man sich in erster Linie dieselbe Steigerung der Arbeitsproduktivität, die bereits eine wichtige Motivation für die beiden Rentenreformen dargestellt hatte. Indem das Ziel der kolchosinternen Zusatzleistungen mit der Belohnung von vorbildlichen Mitgliedern der Gemeinschaft identifiziert wurde, wies man diesem alternativen Kolchosrentensystem also primär die Aufgabe zu, die Differenzierungsdefizite der über den ZUSVK generierten Absicherung auszugleichen. Eine nivellierende Anhebung der Rentenleistungen aller Mitglieder eines Artels konnte demzufolge gar nicht gewünscht sein, weil sie den stimulierenden Effekten der internen Unterstützungsleistungen entgegengewirkt hätte. Zudem war es im Regimeinteresse, der Öffentlichkeit gegenüber als für die Hebung des Lebensstandards der Kolchosrentner hauptverantwortliche Instanz in Erscheinung zu treten. Die mit dem Dekret vom 3. Juni 1971 umgesetzte Anhebung der allgemeinen Kolchosruhestandsgelder war denn dann auch eine Maßnahme, für die Partei und Sowjetregierung die alleinige Urheberschaft beanspruchen konnten. Möglich war sie auch dadurch geworden, dass der Staat im Vorjahr durch die Anhebung des von den Kolchosen in den ZUSVK abzuführenden Anteils ihrer Bruttoeinnahmen792 einen Teil jener Mittel abgezogen hatte, die andernfalls für die kolchosinterne Sicherung zur Verfügung gestanden hätten.
791 Tri otveta, S. 1617. Offen kam auch die Sozialversorgungsministerin auf die mit den kolchosinternen Rentenleistungen verbundene Zielsetzung zu sprechen: „In vielen Gebieten erhalten die Veteranen der Kolchosarbeit [...] aus Kolchosmitteln Zuzahlungen zu den in Entsprechung mit dem Gesetz [vom 15. Juli 1964] erteilten Renten. Einige Kolchose bezeichnen diese Zuzahlungen als persönliche Renten und unterstreichen dadurch ihre Bedeutung als materielle Belohnung für die Verdienste in der Kolchosproduktion.“ Komarova, ýeloveku truda, S. 6. Vgl. auch Džioev, Zabota; Babkin, Primernyj Ustav, S. 3. 792 Vgl. die Verordnung vom 3. Juni 1971 Nr. 343 (siehe Anm. 715).
3. DIE REICHWEITE UND QUALITÄT DER ALTERSRENTEN 3.1. DIE REICHWEITE DER ALTERSRENTENVERSORGUNG 3.1.1. Die Entwicklung der Anzahl der Staatsaltersrentner Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes über die staatlichen Renten kam es zu einer Vergrößerung der Zahl der Leistungsempfänger, die die Zuwächse der vorangegangenen Jahre deutlich überschritt. Verantwortlich hierfür war nicht primär die Ausweitung des Berechtigtenkreises auf zuvor unberücksichtigte Personengruppen, sondern die Erleichterung des Zugangs zum Sicherungssystem für die Arbeiter und Angestellten. Dadurch, dass die Bestimmungen der Reform rückwirkende Geltung besaßen und es möglich war, einen großen Teil des Dienstalters über Zeugenaussagen zu verifizieren, konnten nun jene älteren Mitbürger eine Altersrente beantragen, die wegen der Mängel in der Nachweisdokumentation in der Vergangenheit keinen Anspruch hatten realisieren können. Aufgrund des erhöhten Leistungsniveaus mochten sich zudem Personenkreise für ein Ruhestandsgeld entscheiden, die zuvor auf ein solches verzichtet und sich stattdessen für die Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit entschieden hatten.1 Erstmals kamen schließlich auch noch jene zur Gruppe der Altersrentenbezieher hinzu, die sich zumindest für die neu eingeführte Rente „bei unvollständigem Dienstalter“ qualifiziert hatten. Den ZVS-Jahresberichten zufolge registrierte man am 1. Januar 1957 insgesamt 2.710.722 staatliche Altersrentner,2 was einen Anstieg um etwa 44,4 % gegenüber dem Vorjahr bedeutete. Diese Steigerung lag deutlich über den Zuwachsraten der vorangegangenen Jahre (im Mittel 13,6 %),3 berücksichtigte allerdings noch nicht jene Neurentner, deren Ruhestandsgeld aufgrund der Verzögerungen bei der Leistungsbeantragung erst im Verlauf des Jahres 1957 bewilligt werden konnte. Bis zum 1. Januar 1958 nahm die Altersrentnerzahl folglich noch einmal überdurchschnittlich – um 28,9 % – auf den Wert von 3.493.121 zu.4 In der Folge normalisierte sich der jährliche Anstieg, der nun den Zuwachsraten der Vorreformzeit glich, wobei zwar ab 1961 eine stetig fallende Tendenz zu verzeichnen war. Insgesamt übertraf die jährliche Zunahme allerdings – mit wenigen Ausnahmen – das Wachstum anderer Rentenkategorien, so dass die Bezieher staatlicher Altersrenten, die Anfang 1956 lediglich 11,4 % aller sowjetischen Rentner ausgemacht hatten, am 1. Januar 1972 36,3 % dieser Bevölkerungsgruppe stellten. 1 2 3 4
Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 100. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 1. Allein innerhalb der letzten drei Monate des Jahres 1956 stieg die Zahl der Altersrentner um 501.446 Personen. Vgl. Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 87. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 454, l. 6.
254
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
Nun bezogen 15.290.266 Sowjetbürger eine solche Leistung. War die Gesamtbevölkerung der UdSSR in den vorangegangenen 15 Jahren um 24,5 % angestiegen, so hatte sich die Zahl der Empfänger staatlicher Altersrenten gleichzeitig um 464,1 % vergrößert (Tab. 3a).
Tab. 3a: Die Zahl der Bezieher von allgemeinen Altersrenten, 1956–1972 (Stand zu Jahresbeginn)
1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
Bevölkerung der UdSSRa
Rentnergesamtzahlb
Gesamtzahl sowj. Altersrentner
Zahl der Staatsaltersrentnerc
197.900.000 201.400.000 204.900.000 208.800.000 212.400.000 216.300.000 220.000.000 223.500.000 226.700.000 229.600.000 232.200.000 234.800.000 237.200.000 239.500.000 241.700.000 243.900.000 246.300.000
16.497.000 18.406.000 19.636.000 19.917.000 20.606.000 21.857.000 23.762.000 24.807.000 25.845.000 26.489.000 32.029.000 33.774.000 35.091.000 38.826.000 40.115.000 41.300.000 42.067.000
1.877.000 2.710.722 3.493.121 4.006.528 4.530.501 5.379.436 6.039.822 6.729.187 7.435.649 8.180.421 16.066.660 17.709.452 18.953.614 22.413.867 23.715.154 24.887.674 25.889.254
1.877.000b 2.710.722 3.493.121 4.006.528 4.530.501 5.379.436 6.039.822 6.729.187 7.435.649 8.180.421 9.020.065 10.015.297 10.986.966 12.019.206 13.185.378 14.336.536 15.290.266
Sämtliche Zahl der Bezieher von Kolchosallg. Kolaltersrentnerd chosrentend – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 7.046.595 7.946.885 7.694.155 8.854.869 7.966.648 9.262.916 10.394.661 11.850.642 10.529.776 12.062.375 10.551.138 12.121.119 10.598.988 k. Angabe
Quelle: a Pockney, Soviet Statistics, S. 6. b Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 87. c ZVS-Jahresberichte zu den Staatsrenten: siehe Tab. 2e (bis auf 1956). d ZVS-Jahresberichte zu den Kolchosrenten: RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2805, l. 1; op. 45, d. 2462, l. 1; d. 5963, l. 3; d. 9851, l. 1; op. 46, d. 1691, l. 1; op. 47, d. 1561, l. 1; op. 48, d. 1393, l. 1.
Leider ist es nur bedingt möglich, diese Entwicklung in eine Relation zur Größe jenes Bevölkerungsteils zu setzen, der aufgrund seiner sozialen Herkunft oder des ausgeübten Berufs für den Erhalt der staatlichen Altersrente in Frage kam. Zu den sowjetischen Arbeitern und Angestellten liegen keine Angaben vor, die Aussagen zu ihrer altersabhängigen Differenzierung gestatten. Die überaus dynamische Ausbreitung der Unterstützungsform lässt sich folglich nur grob und unter Bezugnahme auf die beiden im Untersuchungszeitraum durchgeführten Volkszählungen nachzeichnen. Dabei soll das prozentuale Verhältnis der Zahl der staatlichen Altersrentner zur Zahl jener Sowjetbürger, die sich den Erhebungen gemäß im Ren-
Reichweite der Altersrentenversorgung
255
tenalter von 60 bzw. 55 Jahren befanden, im Folgenden als „staatliche Altersrentnerquote“ (ARQ-S) bezeichnet werden.5 Am 15. Januar 1959 hatten 25.500.902, elf Jahre später 36.254.586 Menschen diese Altersgrenze überschritten.6 Lag die ARQ-S im ersten Fall noch bei 15,7 %, so hatte sie sich bis zum 15. Januar 1970 auf 36,4 % mehr als verdoppelt. Für das zweite Stichjahr lassen sich auch die entsprechenden Quoten für die Unionsrepubliken feststellen: Überdurchschnittlich hoch war die ARQ-S in der RSFSR (45,1 %), der Estnischen SSR (45,0 %) und der Lettischen SSR (37,4 %). Deutlich bescheidener stand es um die Reichweite der staatlichen Altersrenten in vornehmlich agrarisch geprägten Republiken wie der Usbekischen SSR (20,7 %) und der Tadschikischen SSR (15,8 %). Schlusslicht war hier allerdings die Moldawische SSR, in der die ARQ-S lediglich bei 15,1 % lag.7 Betrachtet man nun die Zusammensetzung der staatlichen Altersrentnerschaft (Tab. 3b) etwas genauer, so ist zu konstatieren, dass die überwältigende Mehrheit dieser Bürger keinen Anspruch auf vergünstigte Bezugskriterien geltend machen konnte. Die Vorzugsrentner stellten nie mehr als 10,1 % aller staatlichen Ruheständler. Gemessen an den begrenzten Daten, die zur vormaligen Verbreitung der „erhöhten Renten“ vorliegen, bedeutete dies eine deutliche Reduzierung des Anteils jener Leistungsempfänger, die sich für ein spezielles Entgegenkommen des Staates qualifizierten. Unter den Vorzugsrentnern bildeten die Leistungsempfänger „gemäß Liste I“ die Mehrheit: Sie stellten 1957 5,5 % aller Altersrentner, erreichten 1965 mit 6,7 % einen Höhepunkt der Verbreitung, um in der Folge bis 1972 wieder auf einen Anteil von 5,1 % abzufallen. Jene Personen, denen aufgrund ihres früheren Berufs immerhin noch eine Leistung „gemäß Liste II“ zustand, machten in diesen drei Stichjahren respektive 2,1 %, 3,4 % und 3,8 % der Bezieher aus. Von Interesse ist des Weiteren die Größe der Gruppe jener Bürger, die lediglich einen Anspruch auf eine Altersrente „bei unvollständigem Dienstalter“ geltend machen konnten. Anfang 1957 qualifizierten sich 97.713 Menschen für eine solche Leistung, was gerade einmal 3,6 % aller Staatsaltersrentner entsprach. In den folgenden Jahren gewann die Subkategorie allerdings deutlich an Gewicht. Zurückzuführen war dies sicherlich darauf, dass sich ältere Bürger nun rechtzeitig 5
6 7
Der Anteil der Kolchosaltersrentner an der Zahl der Sowjetbürger im Rentenalter wird an späterer Stelle entsprechend als ARQ-K, der gemeinsame Anteil beider Beziehergruppen als ARQ bezeichnet. Diese Quote ist freilich nur als ein Mittel der Annäherung an die tatsächliche Rentenverbreitung wahrzunehmen, das keine absoluten Verhältnisse wiedergibt. Ein nennenswerter Teil der staatlichen Ruheständler – Vorzugsrentner und kinderreiche Mütter – bezog seine Versorgungsleistung schließlich bereits vor der Vollendung des 60. bzw. 55. Lebensjahres. Den SPU zufolge hatten 1959 10,4 % und 1972 5,5 % aller Staatsaltersrentner das Standardeintrittsalter noch nicht erreicht, während 1972 1,8 % aller Kolchosaltersrentner (wohl vor allem kinderreiche Mütter) jünger als 55 bzw. 60 Jahre waren. Errechnet aus: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 115117; op. 48, d. 1397, ll. 296, 302 u. 350351. Siehe Abs. 4.2. Errechnet aus: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 583, l. 1; op. 46, d. 1690, l. 1; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 1213. Errechnet aus: RGAƠ, F. 1562, op. 46, d. 1690, l. 43; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 1273. Siehe Tab. 3d.
256
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
genug auf die strikten Bezugskriterien einstellten, indem sie darauf achteten, während der letzten drei Jahre vor der Leistungsbeantragung in Beschäftigung zu sein. Innerhalb nur eines einzigen Jahrfünfts erfuhr ihre absolute Anzahl beinahe eine Verzehnfachung auf 942.540 Personen. Den höchsten Anteil an der Gesamtheit sowjetischer Ruheständler aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten stellten die Teilrentner im Jahr 1966 mit 16,6 %.8 Eine breite Mehrheit der Ruheständler genoss im Kontext seiner Alterssicherung weder Privilegien noch musste er prozentuale Einbußen hinnehmen. Die Zahl dieser gewöhnlichen Staatsaltersrentner9 belief sich 1957 auf 2.406.519 Menschen, was einem Anteil von 88,8 % entsprach. In der Folge sank er vor allem aufgrund des raschen Wachstums der Teilrentnerschaft auf einen Tiefststand von 73,3 % (1965), um daraufhin jedoch abermals anzusteigen. 1972 bezogen schließlich 76,8 % aller Staatsaltersrentner ein gewöhnliches Ruhegeld. Hinsichtlich der Differenzierung der Ruheständler in Abhängigkeit von ihrem Wohnort lässt sich feststellen, dass der Anteil der Personen mit einem ruralen Hintergrund in den 15 Jahren stark anstieg: Während Anfang 1957 15,7 % als auf dem Lande wohnhaft registriert waren, galt dies 1972 schon für 26,2 % der Leistungsempfänger. Zu erklären ist diese Entwicklung sicherlich zum einen mit der proportionalen Zunahme der in der Landwirtschaft tätigen Arbeiter und Angestellten.10 Davon abgesehen resultierte sie auch aus der Integration jener ehemaligen Kolchosbauern, denen es während der Sowchosierung gelang, eine Anstellung auf einem Staatsgut zu erlangen (ab 1957), sowie der Aufnahme der Kolchosvorsitzenden, -spezialisten und -mechanisatoren (ab 1964) in die Staatsrentenversorgung. Interessant ist dabei, dass gleichzeitig der Anteil jener Ruheständler, die über eine „Verbindung zur Landwirtschaft“ verfügten, an der Gesamtheit der staatlichen Altersrentner eine gegenläufige Entwicklung nahm. Zwar erfuhr er
8
Einen hohen Anteil von Teilrentnern verzeichneten 1966 speziell die im Westen und Nordwesten gelegenen Republiken. In der Weißrussischen SSR belief er sich so z. B. auf 38,3 %, in der Litauischen SSR auf 33,4 % und in der Moldawischen SSR auf 32,9 % aller Staatsaltersrentner. Überdurchschnittlich hoch fiel er ebenfalls in zentralasiatischen Republiken wie der Usbekischen SSR (26,1 %) und der Kasachischen SSR (25,0 %) aus. Als verantwortlich für die Häufigkeit des Teilrentenbezugs muss der miserable Zustand der Arbeitsdokumentation in diesen Gegenden erachtet werden. Ein vergleichsweise niedriger Anteil der Bezieher anteiliger Ruhestandsgelder wurde hingegen in den transkaukasischen Republiken registriert: In der Georgischen SSR lag er bei 11,7 %, in der Aserbaidschanischen SSR bei 10,4 % und in der Armenischen SSR sogar nur bei 9,3 %. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 47, d. 1560, ll. 132 ob. 9 Als „gewöhnliche Altersrentner“ werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit alle Ruheständler bezeichnet, die weder Vorzugs- noch Teilrenten bezogen. Zu unterscheiden ist der Begriff demnach von jenem der Standardrentner, der auch die Bezieher anteiliger Leistungen berücksichtigt. 10 Der Anteil der im Jahresdurchschnitt in Sowchosen und landwirtschaftlichen Nebenbetrieben Tätigen an der Gesamtheit der sowjetischen Arbeiter und Angestellten stieg zwischen 1955 und 1967 von 5,6 % auf 10,6 %. Vgl. Trud v SSSR (1968), S. 4041 u. 126.
Reichweite der Altersrentenversorgung
257
anfangs einen Zuwachs, von 4,3 % (1957) auf 7,0 % (1963); in der Folge sank er allerdings deutlich ab: Anfang 1972 lag er nur noch bei 3,2 %.11 Als ein sicherer Beleg für das steigende Niveau der Alterssicherung von Arbeitern und Angestellten sind die Angaben zur Zahl der Mindestrentner zu bewerten. Während die Größe dieser Gruppe in absoluten Zahlen bis 1971 weitgehend konstant blieb, halbierte sich ihr Anteil an der Gesamtheit staatlicher Altersrentner beinahe von 9,7 % (1957) auf 5,0 % am 1. Januar 1971. Die in den darauf folgenden zwölf Monaten zu registrierende Vervierfachung auf 20,5 % ist selbstredend auf die am 3. Juni 1971 verabschiedete Anhebung der Mindestaltersrenten auf 45 R zurückzuführen. Über die geschlechtsspezifische Differenzierung der Ruheständler informieren die ZVS-Jahresberichte nicht. Zumindest einen Eindruck verschaffen hier allerdings die Stichprobenartigen Untersuchungen der ZVS der UdSSR (Tab. 3c). Ihnen zufolge war das Geschlechterverhältnis 1959 beinahe ausgeglichen. In den folgenden Jahren verschob es sich zugunsten der weiblichen Bezieher, die 1966 56,6 % und 1972 61,3 % der Gesamtheit stellten. Dieses Übergewicht war freilich demographisch bedingt: Den Volkszählungen zufolge stellten Frauen, wie eingangs dargelegt, 1959 ebenso wie 1970 fast drei Viertel der Sowjetbürger im Rentenalter. Folglich waren sie de facto auch noch zu Beginn der 1970er Jahre unterrepräsentiert. Besonders selten waren weibliche Ruheständler sowohl unter den Beziehern mit einer „Verbindung zur Landwirtschaft“ als auch unter den Vorzugsrentnern „gemäß Liste I“ zu finden. Nur ein sehr geringer Prozentsatz der Frauen war ausreichend lange in Berufen tätig gewesen war, die den Zugang zu dieser Vorzugsrente ermöglichten.12 Stark vertreten waren Frauen unter den Beziehern anteiliger Ruhestandsgelder, welche im Allgemeinen als eine Rentenform galten, die in besonderer Weise mit ihrem Geschlecht assoziiert wurde.13 Speziell gegen Ende des Untersuchungs11 Zu erklären ist dieser Rückgang vermutlich dadurch, dass das steigende Leistungsniveau immer mehr Empfänger von der Notwendigkeit befreite, ein Hofgrundstück zu bewirtschaften, welches jene Größennorm überschritt, ab der die monatlichen Bezüge eine 15-prozentige Minderung erfuhren. 12 Folgt man den SPU, so qualifizierten sich 1959 nur 4,4 %, 1966 nur 3,4 % und 1972 nur 3,2 % aller staatlichen Altersrentnerinnen für eine Vorzugsrente „gemäß Liste I“. Die Vergleichswerte für männliche Ruheständler lagen in diesen drei Stichjahren bei 12,8 %, 11,7 % und 9,5 %. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 119120; op. 44, d. 2807, ll. 9899; op. 48, d. 1397, ll. 296 u. 302. 13 Zugrunde lag hier die Vermutung, dass es Frauen im Vergleich schwerer fallen musste, bei Erreichen des Rentenalters auch die staž-Anforderungen zu erfüllen. Zu groß war die zeitliche Beanspruchung, die mit der Kindererziehung oder der Führung des Haushaltes einherging, als dass nicht mit längeren Unterbrechungen oder gar mit einer vorzeitige Beendigung der Arbeitstätigkeit zu rechnen war. So sprach sich V. V. Grišin 1962 etwa gegen Überlegungen des Goskomtrud aus, die Teilrenten-Bezugsbedingungen weiter zu verschärfen: Dadurch würden „noch größere Hindernisse für Frauen hinsichtlich des Rentenerhalts geschaffen“ und insbesondere jene benachteiligt, „die fünf bis sechs Jahre gearbeitet haben, und dann im Zusammenhang mit der Geburt von Kindern und in Anbetracht der fehlenden Möglichkeit, diese in Betreuungseinrichtungen unterzubringen, zur Beendigung ihrer Arbeitstätigkeit gezwungen sind“. GARF,
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Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
zeitraums war hier tatsächlich ein – im Vergleich zur Zusammensetzung der gewöhnlichen Rentner – überdurchschnittlich hoher weiblicher Anteil zu verzeichnen.14 Gemessen an der Geschlechterdifferenzierung der Sowjetbevölkerung im Alter von mindestens 55 bzw. 60 Jahren waren sie indes auch 1972 noch unterrepräsentiert.
2.407 2.944 3.255 3.535 4.100 4.493 4.963 5.455 5.998 6.630 7.383 8.161 9.033 10.005 10.964 11.738
206 301 374 460 525 604 676 746 827 890 976 1.042 1.124 1.210 1.293 1.360
AR mit „Verb. zur Landw.“
249 282 322 372 411 457 505 547 576
AR mit ländlichem Wohnsitz
570
Bezieher einer Teilrente
gemäß Liste II
gemäß Liste I 150 – – – – – – 497 545 569 604 631 667 706 746 783
Städtische und ländliche Altersrentnera Altersrentner mit Wohnsitz auf dem Land
98 248 378 536 753 943 1.090 1.235 1.356 1.499 1.656 1.784 1.863 1.969 2.080 2.193
427 634 740 871 1.167 1.398 1.625 1.813 1.975 2.246 2.600 2.866 3.123 3.428 3.735 4.004
117 185 212 247 335 427 470 481 406 426 466 495 530 564 596 494
Bezieher von Mindestrentena
Sämtliche Vorzugsrentner
2.711 3.493 4.007 4.531 5.379 6.040 6.729 7.436 8.180 9.020 10.015 10.987 12.019 13.185 14.337 15.290
Bezieher einera Vorzugsrente
AR mit städtischem Wohnsitz
Bezieher von „gewöhnlichen“ ARb
1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
Gesamtzahl der staatlichen AR
Tab. 3b: Die Binnendifferenzierung staatlicher Altersrentner (AR), 1957–1972 (Zahlen in Tausend; Stand am 1. Januar)
2.284 2.860 3.266 3.660 4.213 4.642 5.104 5.623 6.205 6.774 7.415 8.121 8.897 9.757 10.602 11.286
– – – – – – – 725 751 775 780 772 748 743 716 3.142
Quelle: a ZVS-Jahresberichte zu den Staatsrenten (siehe Tab. 2e). b Errechnet auf Grundlage der Angaben zur Gesamtzahl der staatlichen Altersrentner, der Bezieher einer Vorzugsrente und der Teilrentner.
F. R 9553, op. 1, d. 1355, l. 39. Zu Briefen, deren Autoren sich gegen die restriktiven Qualifikationskriterien wandten, da insbesondere Frauen unter ihnen zu leiden hatten, vgl. GARF, F. R 7523, op. 45, d. 293, l. 80; RGANI, F. 5, op. 63, d. 110, ll. 145146. Auf den hohen Anteil weiblicher Teilrentner verweist auch Azarova, Problemy, S. 34. 14 Tatsächlich waren die Bezieher anteiliger Ruhestandsgelder laut SPU nur 1972 stärker unter den Frauen vertreten als unter den männlichen Leistungsempfängern: Bezogen im Jahr 1959 11,8 % der Männer Teilaltersrenten, lag dieser Anteil 1966 bei 17,7 % und 1972 bei 12,6 %. Unter den staatlichen Altersrentnerinnen beliefen sich die entsprechenden Prozentsätze auf 10,9 % (1959), 17,1 % (1966) und 15,8 % (1972). Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 119120; op. 44, d. 2807, 9899; op. 48, d. 1397, ll. 296 u. 302.
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Reichweite der Altersrentenversorgung
Tab. 3c: Die geschlechtsspezifische Differenzierung der staatlichen Altersrentnerschaft 1959, 1966 und 1972 SPU
1959
1966
1972
Kategorie der staatlichen Altersrente Staatliche Altersrentner hiervon: Gewöhnliche Altersrentner Vorzugsrentner hiervon: Vorzugsrentner gemäß Liste I Vorzugsrentner gemäß Liste II Teilrentner Altersrentner mit „Verbindung zur Landwirtschaft“ Staatliche Altersrentner hiervon: Gewöhnliche Altersrentner Vorzugsrentner hiervon: Vorzugsrentner gemäß Liste I Vorzugsrentner gemäß Liste II Teilrentner Altersrentner mit „Verbindung zur Landwirtschaft“ Staatliche Altersrentner hiervon: Gewöhnliche Altersrentner Vorzugsrentner hiervon: Vorzugsrentner gemäß Liste I Vorzugsrentner gemäß Liste II Teilrentner Altersrentner mit „Verbindung zur Landwirtschaft“
Männer (in %) 50,4
Frauen (in %) 49,6
47,5 71,6
52,5 28,4
74,8 63,2 52,4 67,9 43,4
25,2 36,8 47,6 32,1 56,6
39,3 67,6
60,7 32,4
72,7 59,2 44,3 59,8 38,7
27,3 40,8 55,7 40,2 61,3
36,5 62,8
63,5 37,2
65,3 59,5 33,5 65,6
34,7 40,5 66,5 34,4
Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 119120; op. 44, d. 2807, ll. 9899; op. 48, d. 1397, ll. 296 u. 302.
3.1.2. Die Entwicklung der Anzahl der Kolchosaltersrentner Die Umsetzung des Gesetzes vom 15. Juli 1964 führte unter den Mitgliedern der landwirtschaftlichen und Fischfang-Artele zu einer Ausweitung des Kreises der Rentenberechtigten, die noch größere Ausmaße nahm als acht Jahre zuvor (siehe Tab. 3a). Hatten 1964 etwa 2,6 Mio. Personen kolchosinterne Rentenleistungen erhalten, so verdreifachte sich die Zahl der bewilligten Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten bis zum 1. Januar 1966 auf nunmehr 7.946.885. Den Großteil dieser nun über den ZUSVK finanzierten Leistungen machten mit 7.046.595 (88,7 %) die Kolchosaltersrenten aus. Die Zuwachsraten der folgenden Jahre fielen allerdings geringer aus als es im Falle der für Arbeiter und Angestellte vorgesehenen Ruhestandsgelder zu beobachten gewesen war. Eine Ausnahme stellte
260
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
hier lediglich das Jahr 1968 dar, in dessen Verlauf die Bezieherzahl – infolge der Senkung des Renteneintrittsalters – um mehr als 30 % anstieg. Bezogen zu Anfang des Jahres 1970 10.529.776 Bürger eine Kolchosaltersrente, so ergab sich hieraus eine Altersrentnerquote (ARQ-K) von 29,0 %, während demzufolge die Gesamtzahl der Bezieher allgemeiner Altersrenten einer ARQ von 65,4 % entsprach. Auch in diesem Fall können entsprechende Quoten für die einzelnen Sowjetrepubliken kalkuliert werden. Am häufigsten wurden Kolchosaltersrenten in denselben Gegenden erteilt, die bezüglich der staatlichen Altersrentnerquote unterdurchschnittlich abschnitten: Verfügte die Usbekische SSR über eine ARQ-K von 45,2 %, überschritt der Kennwert in der Moldawischen und der Tadschikischen SSR sogar die 50 %-Grenze. Am Ende des Spektrums fanden sich dementsprechend die in ihrer Rentnerschaft urban geprägten Republiken Lettische SSR, RSFSR und Estnische SSR wieder. Eine Ausnahme von dieser Spiegelbildlichkeit stellte allein die Kasachische SSR, die die niedrigste ARQ-K (17,5 %) besaß und in der gleichzeitig auch kein übermäßig hoher Anteil staatlicher Altersrentner zu verzeichnen war. In der Konsequenz verzeichnete man in der zentralasiatischen Republik mit 52,5 % die unionsweit niedrigste allgemeine Altersrentnerquote. Überall sonst bewegte sich die ARQ in einem Bereich von 61,0 % (Georgische SSR) bis 67,6 % (RSFSR) (Tab. 3d).
Tab. 3d: Republikspezifische Altersrentnerquoten (Stand im Januar 1970)
UdSSR RSFSR Ukrain. SSR Weißruss. SSR Usbek. SSR Kasach. SSR Georg. SSR Aserbaid. SSR Litauische SSR Moldaw. SSR Lettische SSR Kirgisis. SSR Tadschik. SSR Armen. SSR Turkmen. SSR Estnische SSR
Gesamtzahl der Bürger im Rentenaltera 36.254.586 19.885.806 8.340.566 1.455.128 1.239.747 1.353.160 688.242 507.153 552.107 442.232 487.821 320.703 262.732 249.925 196.410 272.944
Zahl der staatlichen Altersrentnerb 13.185.378 8.963.821 2.052.087 373.153 257.126 473.545 173.761 148.777 125.246 66.775 182.345 72.002 41.621 89.982 42.321 122.816
Zahl der Kolchosaltersrentnerc 10.529.776 4.477.609 3.173.632 602.566 560.773 236.637 245.947 192.343 223.207 223.160 124.939 127.506 135.199 72.616 78.606 55.036
ARQ-S (in %) 36,4 45,1 24,6 25,6 20,7 35,0 25,3 29,3 22,7 15,1 37,4 22,5 15,8 36,0 21,6 45,0
ARQ-K (in %) 29,0 22,5 38,1 41,4 45,2 17,5 35,7 37,9 40,4 50,5 25,6 39,8 51,5 29,1 40,0 20,2
ARQ (in %) 65,4 67,6 62,7 67,1 66,0 52,5 61,0 67,3 63,1 65,6 63,0 62,2 67,3 65,1 61,6 65,2
Quelle: a Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 1272. b RGAƠ, F. 1562, op. 46, d. 1690, l. 43. c RGAƠ, F. 1562, op. 46, d. 1691, l. 20.
Qualität der Altersrentenversorgung
261
Widmet man sich nun der geschlechtsspezifischen Differenzierung der kollektivwirtschaftlichen Ruheständler, so lässt sich hier ein ausgeprägteres Übergewicht der weiblichen Bezieher feststellen: Gemäß der SPU von 1966 stellten die Frauen 76,5 %, jener von 1972 zufolge sogar 78,5 % aller Kolchosaltersrentner.15 Der Volkszählung von 1970 zufolge belief sich der Anteil der weiblichen Bürger an der ländlichen Sowjetbevölkerung im Rentenalter zu diesem Zeitpunkt auf 73,5 %.16 Folglich lässt sich zumindest für den Beginn der 1970er Jahre17 annehmen, dass weibliche Leistungsbezieher unter den Ruheständlern überdurchschnittlich vertreten waren. Mit der am 15. Juli 1964 verabschiedeten Reform der Kolchosrentenversorgung wurde die Altersrente zu der am weitesten verbreiteten Rentenleistung: Zu Beginn des Jahres 1966 stellten ihre Bezieher 50,2 %, sechs Jahre später sogar 62 % aller in der UdSSR registrierten Rentner. Die Aussicht auf einen Lebensabend, während dessen man für die Bestreitung des Unterhalts nicht mehr vollends auf die eigene Arbeitskraft und etwaige Familienangehörige angewiesen war, wurde somit für einen Großteil der Bevölkerung zur Regel. Zwar bedeutete eine solche Ausdehnung allein schon einen erheblichen Qualitätsgewinn für die Alltagsversorgung und die Sicherheitsbedürfnisse sowjetischer Bürger. Die Verbreitung dieser Leistungsformen allein sagt allerdings noch wenig aus über das mit Hilfe der neuen Renten generierte Wohlstandsniveau.
3.2. DIE QUALITÄT DER ALTERSRENTENVERSORGUNG Bevor im Folgenden auf die Entwicklung der durchschnittlichen Altersrenten eingegangen werden kann, ist es notwendig, sich über eine Referenzgröße zu verständigen, die Rückschlüsse auf die Adäquatheit der Sozialleistungen erlaubt. Hier bietet sich die Orientierung an einem Wert an, der sich als biologisches Existenzminimum konzeptualisieren lässt, also jenes Einkommen beschreibt, das den Erwerb „grundlegende[r] und unverzichtbarer Güter und Dienstleistungen“18 ermöglicht. Als auf niedrigstem Niveau ausreichend sollen jene Rentenbeträge wahrgenommen werden, die eine solche Mindestanforderung erfüllten. Die Annäherung an eine Versorgungsqualität, die aufgrund ihrer Unzulänglichkeit als – in einer sozialistischen Gesellschaft nicht tolerierbare – Bedürftigkeit zu definieren war, gab auch einen Gegenstand sowjetischer Untersuchungen ab. Ihre Autoren vermieden in diesem Zusammenhang allerdings aus ideologischen Gründen die Rede von der „Armut“ (bednost’), deren Überwindung offizieller Diktion gemäß ja eine zentrale Errungenschaft des Sozialismus darstellte, und bevorzugten den
15 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2807, ll. 132122; op. 48, d. 1397, ll. 350351. 16 Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 15. 17 Die im Rahmen der Volkszählungen vorgenommene Altersklassierung erlaubt keine konkreten Rückschlüsse auf die Zahl der ländlichen Sowjetbürger im bis Ende 1967 geltenden Kolchosrenten-Eintrittsalter (mindestens 65 bzw. 60 Jahre). 18 Rossi, Art. Existenzminimum.
262
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
Euphemismus der „Unterversorgtheit“ (maloobespeþennost’).19 Der Begriff wurde im absoluten Sinne gebraucht, d. h., er implizierte, dass dem Individuum ein zum Überleben oder – wie G. S. Sarkisjan und N. P. Kuznecova befinden – zum Erreichen eines Zustands, in dem nicht nur die physiologischen, sondern auch kulturellen und gesellschaftlichen Bedürfnisse gedeckt wurden, notwendiges Minimum nicht zur Verfügung stand.20 Mit der Bestimmung des Existenzminimums sollte nicht zuletzt die Festlegung von Mindestlöhnen und -renten untermauert werden sollten.21 Dabei folgte man in den 1950er und 1960er Jahren einem normativen Ansatz in der Tradition Benjamin S. Rowntrees22 und ging von einem wissenschaftlich zu bestimmenden Mindestmaß der „rationalen Bedürfnisse“ aus: Berücksichtigt wurden hier nicht nur die Kosten von Nahrungsmitteln, Unterkunft und Bekleidung, sondern auch die der Nutzung kultureller Angebote und kommunaler Dienstleistungen. Ausgenommen blieben allerdings von Seiten des Staates gratis zur Verfügung gestellte Leistungen wie etwa die medizinische Versorgung, der Besuch von Bildungseinrichtungen oder Mietvergünstigungen. Der Rubelwert des sich so ergebenden „Minimums der materiellen Versorgtheit“ (MMV) errechnete sich dann aus den gängigen Preisen für die Bestandteile des Warenkorbs.23 1956 führte die „Abteilung für den Lebensstandard der Werktätigen“ des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Arbeit Kalkulationen zur Höhe des Existenzminimums durch, die allerdings nicht mehr in die Überlegungen zur Höhe der Mindestaltersrente einfließen konnten24 und über deren konkrete Ergebnisse keine Informationen vorliegen. Möglich, dass sie auch zehn Jahre später noch die Grundlage inoffizieller Auffassungen über die Verortung der Armutsgrenze darstellten. Auszuschließen ist freilich aber ebenso wenig, dass in der Zwischenzeit noch weitere Untersuchungen zu dieser Frage durchgeführt worden waren. In jedem Fall bietet eine auf den 21. Juni 1965 datierte Aufstellung des Zentralen Wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstituts (CƠNII) des Gosplan der RSFSR Aufschluss über den Rubelwert, auf den man das Existenzminimum inoffiziell taxierte. Die Verfasser des als geheim klassifizierten Berichtes „Über zusätzliche
19 Vgl. Braithwaite, The Old and New Poor, S. 30. 20 Vgl. Sarkisjan Kuznecova, Potrebnosti, S. 8. Von der „absoluten“ Armut ist die „relative“ Armut zu unterscheiden. Von ihr wird dann gesprochen, wenn das Versorgungsniveau von Menschen zu stark vom durchschnittlichen Lebensstandard innerhalb einer Gesellschaft abweicht. Das zur Vermeidung dieser relativen Armut nötige Mindestmaß wird dementsprechend auch als soziokulturelles Existenzminimum verstanden. Vgl. Hauser, Das Maß, S. 96 97; Enderle, Sicherung, S. 1619. 21 Vgl. Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 130131. 22 Vgl. Rowntree, Poverty. 23 Vgl. Ahlberg, Armut, S. 1160; Sarkisjan Kuznecova, Potrebnosti, S. 89; McAuley, Economic Welfare, S. 17. 24 Die Abteilung hatte die Höhe des Existenzminimums sowohl eines einzelnen Arbeiters als auch einer vierköpfigen Familie berechnet. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Reports (Dez. 1956) waren der Goskomtrud und die ZVS der UdSSR jedoch noch nicht über die Ergebnisse der Berechnungen informiert worden. Vgl. GARF, F. R 9595, op. 1, d. 5, l. 81.
263
Qualität der Altersrentenversorgung
Maßnahmen zur Liquidierung der Unterversorgtheit von Arbeitern und Angestellten in den Jahren 1966 bis 1970“ führten an, dass das „Existenzminimum [...] gemäß den Berechnungen des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Arbeit Pro-Kopf-Einkünften von 40 R [entspricht], und Einnahmen in Höhe von 65 R das Wohlstandsniveau [uroven’ dostatka] gewährleisten“.25
Besser dokumentiert sind die Untersuchungen von Sarkisjan und Kuznecova, die 1967 für eine vierköpfige urbane Familie (Vater, Mutter, zwei Kinder) ein „Minimum der materiellen Versorgtheit“ bestimmen. Es soll „(in Verbindung mit den gesellschaftlichen Verbrauchsfonds) die Reproduktion der Arbeitskraft des einfachen Arbeiters gewährleisten“.26 Die Kosten für die Garantie eines solch kargen Lebensstandards berechnen sie, ausgehend von Daten, die 1965 vom Wissenschaftlichen Forschungsinstitut für Arbeit zusammengetragen wurden, auf insgesamt 205,60 R. Pro Kopf ergibt dies einen Wert von 51,40 R (Tab. 3e).
Tab. 3e: Umfang und Ausgabenstruktur des MMV-Familienbudgets (1967) Kostenart
Monatliche Summe (in R)
Nahrung Kleidung, Wäsche, Schuhe Möbel und Geschirr Gebrauchs- und Haushaltsgegenstände, Sportwaren Kurzwaren, Körperpflegeartikel und Medikamente Tabak, Streichhölzer, Wein, Wodka Gesamtausgaben für den Warenkauf
115,00 43,00 5,50 4,50 2,70 5,50 176,20
Wohnung und kommunale Dienstleistungen Erholung und Heilbehandlung Kulturelle und ausbildungsbezogene Bedürfnisse Friseur, Dampfbad und Wäscherei Transport und Kommunikation Andere Ausgaben wie z. B. Beiträge für die Mitgliedschaft in gesellschaftlichen Organisationen Gesamtausgaben für Dienstleistungen Gesamtausgaben für die Familie Gesamtausgaben pro Familienmitglied
Anteil an Gesamtausgaben (in %) 55,9 20,9 2,6 2,2 1,3 2,7 85,7
11,00 2,80 3,60 4,70 4,80
5,4 1,4 1,7 2,3 2,3
2,50
1,2
29,40
14,3
205,60 51,40
100,0 –
Quelle: Sarkisjan Kuznecova, Potrebnosti, S. 66.
25 Untersuchungen zufolge, die in der RSFSR zur Einkommensdifferenzierung der Arbeiter und Angestellten durchgeführt worden waren, verfügten zu diesem Zeitpunkt 39,2 % von ihnen über ein Pro-Kopf-Einkommen, das die 40-R-Grenze nicht überschritt. Vgl. RGANI, F. 5, op. 20, d. 225, l. 2. 26 Sarkisjan Kuznecova, Potrebnosti, S. 18.
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Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
Sarkisjan und Kuznecova unterscheiden das MMV-Budget allerdings von einem Versorgungsgrad, der einer Armutsgrenze gleichzusetzen wäre: Im Unterschied zu diesem soll das MMV nicht nur das Überleben sichern, sondern „alle menschlichen Bedürfnisse [umfassen], die in dem gegebenen Zeitraum in der sozialistischen Gesellschaft als vernünftig anerkannt sind“.27 Auch wenn die hier etwa für den Urlaub, die abendliche Freizeitgestaltung oder für Genussmittel vorgesehenen Ausgaben zu niedrig waren, als dass sie effektiv zur Verschönerung des Alltags hätten beitragen können, handelt es sich bei ihnen doch tatsächlich um Beträge, die bei der Bestimmung eines biologischen Existenzminimums überflüssig scheinen. Im Unterschied zur Vorgehensweise McAuleys, der die Berechnungen unverändert übernimmt und für 1965 von einer Armutsgrenze von 50 R ausgeht,28 soll das Pro-Kopf-MMV an dieser Stelle deshalb leicht modifiziert und um einige Positionen reduziert werden. Als für ein Überleben auf niedrigstem Niveau entbehrlich erscheinen die Ausgaben für „Kurzwaren, Körperpflegeartikel und Medikamente“, für „Tabak, Streichhölzer, Wein, Wodka“, für „Friseur, Dampfbad und Wäscherei“ und für „Vereinsbeiträge“. Gleiches gilt für die Aufwendungen für kulturelle Veranstaltungen und Erziehungsmaßnahmen. Der von den beiden Autoren errechnete Wert vermindert sich dementsprechend um 9,7 %, so dass im Rahmen dieser Arbeit für das Jahr 1967 von einem Existenzminimum ausgegangen werden soll, das ein Pro-Kopf-Einkommen von 46,65 R erforderte.29 Ein solcher Rubelwert bezieht sich, wie gesehen, auf die Situation eines durchschnittlichen Mitglieds einer vierköpfigen Musterfamilie. Folglich gilt es zu bedenken, dass dessen Bedürfnisse – unabhängig davon, ob es sich nun um ein Kind oder um ein Elternteil handelte – deutlich von jenen eines Ruheständlers abweichen konnten. So plädiert beispielsweise V. A. Aþarkan dafür, für die Festlegung der Mindestsätze für jede einzelne Rentenkategorie Untersuchungen zum
27 Ebd. Vgl. auch Socialތnoe razvitie, S. 145146. 28 Vgl. McAuley, Economic Welfare, S. 1819, der hier den Umfang der „versteckten Inflation“ (siehe im Folgenden) während der Jahre 1965 bis 1967 berücksichtigt. Von einer Armutsgrenze von 50 R sprechen auch: Matthews, Class, S. 8284; Madison, Soviet Income Maintenance Policy, S. 112. Als Beleg dafür, dass die Kalkulationen von Sarkisjan und Kuznecova von offizieller Seite zur Kenntnis genommen und akzeptiert wurden, wird gemeinhin die 1974 eingeführte Beihilfe für Kinder aus unterversorgten Familien angeführt. Sie war an die Voraussetzung gebunden, dass in den Familien ein monatliches Pro-Kopf-Einkommensniveau von 50 R nicht überschritten wurde. De facto handelte es sich um eine Anerkennung dieser Marke als Armutsgrenze. Vgl. das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 25. September 1974 „Über die Einführung von Kinderbeihilfen für unterversorgte Familien“ (VVS SSSR, 1974, Nr. 40, Pos. 663). 29 Für einen alleinstehenden Arbeiter oder Angestellten sind höhere Lebenshaltungskosten anzunehmen. Über das genaue Ausmaß dieser Differenz geben Sarkisjan und Kuznecova keine Auskunft. McAuley, Economic Welfare, S. 18, schlägt vor, hier von einem Zuschlag zwischen 16,4 % und 18,8 % auszugehen, was – ausgehend von der hier durchgeführten Modifikation – ein Existenzminimum von 54,30 R bis 55,42 R ergeben würde. Da eine Mehrheit der sowjetischen Altersrentner allerdings gemeinsam mit einem Ehepartner oder anderen Angehörigen lebte, soll im Folgenden weiterhin von 46,65 R als der maßgeblichen Armutsgrenze ausgegangen werden.
Qualität der Altersrentenversorgung
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normativen Konsumentenbudget der jeweiligen Beziehergruppe durchzuführen. Zu den Unterschieden in der Bedürfnisstruktur zwischen der arbeitenden Bevölkerung und den nicht mehr erwerbstätigen Rentnern konstatiert er: „Der Bedarf der Rentner [...] an den meisten materiellen Gütern und Dienstleistungen ist niedriger als der Bedarf der Arbeitenden. Das bezieht sich vor allem auf einen so überaus wichtigen Haushaltsposten wie die Ausgaben für die Nahrung. Die geringere Beweglichkeit der Rentner führt zu einem bescheideneren Bedarf an Kleidung, Schuhen, Wäsche sowie einer längeren Abnutzungsdauer dieser Gegenstände. Es ist auch zu berücksichtigen, dass Rentner, insbesondere Altersrentner, einen [...] geringeren Bedarf an Industriewaren und speziell an langlebigen Wirtschaftsgütern haben. Viele Rentner verfügen über einen ausreichenden Vorrat an diesen Dingen, den sie in dem Zeitraum vor dem Rentenantritt erworben haben. Bescheidener fällt auch der Bedarf der Rentner an Transportdienstleistungen aus.“30
Spricht auch einiges für Aþarkans Behauptungen,31 so ist doch eine alternative Erklärung für das „geringere Interesse“ älterer Menschen an Kleidung, langlebigen Wirtschaftsgütern etc. nicht von der Hand zu weisen: Aufgrund der nach dem Rentenantritt erfahrenen Einnahmeeinbußen standen für solche bei der unmittelbaren Existenzsicherung entbehrliche Güter möglicherweise einfach keine Mittel mehr zur Verfügung.32 Nicht in Frage zu stellen scheint allerdings die Tatsache, dass der Nahrungsbedarf eines Menschen mit dem Alter abnimmt.33 Der Umfang einer solchen Reduzierung variiert allerdings stark in Abhängigkeit von der Geschlechtszugehörigkeit und dem individuell erreichten Alter.34 Gesicherte Erkenntnisse, die Rückschlüsse auf das Maß erlauben würden, in dem das Existenz-
30 Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 131. 31 Bestätigt wurden solche Annahmen auch durch in späteren Jahren durchgeführte Untersuchungen. Mitte der 1980er Jahre ging man davon aus, dass der Bedarf eines Altersrentners 75 % des Konsumentenbudgets einer noch erwerbstätigen Person ausmachte. Unklar ist allerdings, ob sich dieser Prozentsatz auf Rentner bezog, die bei ihren Kindern wohnten, oder auf alleinstehende Personen. Vgl. Netrudosposobnoe naselenie, S. 167. 32 So ist etwa L. A. Levkovas entsprechende, auf die Jahre um 1985 gemünzte Feststellung sicherlich ebenso auf die Jahre zwischen 1956 und 1972 zu übertragen: „[...] nicht nur altersspezifische Faktoren beeinflussen [...] die Veränderung des Umfangs und der Struktur des Bedarfs. In beträchtlicher Weise handelt es sich hierbei um die Folge der Verringerung der Geldeinnahmen, deren geringe Höhe die Rentner dazu zwingt, ihre Ausgaben für nicht zwingend notwendige Waren zu begrenzen.“ Ebd., S. 182183. 33 Verantwortlich hierfür sind etwa die Verlangsamung des Stoffwechsels und hormonale Veränderungen. Gleichzeitig reduziert sich die körperliche Tätigkeit infolge einer beendeten Berufstätigkeit und einer verringerten physischen Belastbarkeit. Vgl. Petru Sprinz, Ernährung, S. 273; Expertisen zum ersten Teilbericht, S. 125126. 34 Angaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zufolge verringert sich der tägliche Energieverbrauch eines Mannes zwischen dem 25. und dem 75. Lebensjahr um 400 kcal, der einer Frau um 200 kcal. Vgl. Zwerschke u. a., Geriatrie, S. 938. Ein Bürger, dessen Verrentung erst kurze Zeit zurück liegt, verbraucht andererseits kaum weniger Nahrung als noch zur Zeit seiner Erwerbstätigkeit. Die Weltgesundheitsorganisation empfahl so etwa bereits 1974 für Personen im Alter von 51–60 Jahren eine Kalorienversorgung, die zu 86 % derjenigen von 20bis 30-jährigen Menschen gleichkam. Bei 61–70 Jahre alten Personen sprach man sich hingegen für einen entsprechenden Anteil von 79 % aus. Vgl. Netrudosposobnoe naselenie, S. 185.
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Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
minimum älterer Bürger hinter jenem ihrer jüngeren Landsleute zurückblieb, liegen jedoch nicht vor. Aus diesem Grund soll hier im Rahmen einer zurückhaltenden Schätzung davon ausgegangen werden, dass der Nahrungsbedarf – und somit der entsprechende Ausgabenposten innerhalb des von Sarkisjan und Kuznecova erstellten MMV-Budgets – pauschal um 10 % niedriger ausfiel als derjenige eines Mitglieds der vierköpfigen Musterfamilie. Die für Nahrungsmittel anfallenden Ausgaben verringern sich demzufolge um 11,50 R bzw. – pro Kopf der Familie gerechnet – 2,88 R. Die Armutsgrenze soll demgemäß für das Jahr 1967 im Folgenden bei 43,77 R liegen. Dieser Rubelwert ist allerdings angesichts einer versteckten Inflation im Bereich der Konsumgüter keinesfalls absolut zu setzen. Unter Berücksichtigung der von Gertrude E. Schroeder und Barbara Severin durchgeführten Schätzungen zum Ausmaß der Geldentwertung soll davon ausgegangen werden, dass die Lebenshaltungskosten zwischen 1956 und 1972 jährlich um durchschnittlich 1,3 % anstiegen.35 Überträgt man diese Wachstumsrate auf das für das Jahr 1967 anzunehmende Existenzminimum von 43,77 R, so ergibt sich für dessen Entwicklung innerhalb des Bearbeitungszeitraums das folgende Bild:
Tab. 3f: Die Entwicklung der Armutsgrenze, 1956–1972
Existenzminimum (in R) 1956 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966
37,97 38,47 38,97 39,47 39,99 40,51 41,03 41,57 42,11 42,65 43,21
Entwicklung des Lebenshaltungskostenindex nach Schroeder – Severin (1967 = 100) 86,76 87,88 89,03 90,18 91,36 92,54 93,75 94,96 96,20 97,45 98,72
35 Vgl. Schroeder Severin, Soviet Consumption, S. 631. Eine Übertragung dieses Lebenshaltungskostenindex auf die Armutsgrenze führt bereits McAuley, Economic Welfare, S. 19, durch. Howard, A Note, S. 606, bemisst die versteckte Inflation auf 0,8–1,2 %. Hier wird jedoch den Berechnungen von Schroeder und Severin der Vorzug gegeben, weil sie zu einer etwas zurückhaltenderen Bewertung des Rentenniveaus führen. Beide Schätzungen sind aufgrund der Unvollständigkeit des verwendeten statistischen Materials freilich mit Bedacht zu bewerten. Dies gilt sicherlich auch für Stiller, Sozialpolitik, S. 153, Anm. 143, der von einer jährlichen Inflation in Höhe von 2 % ausgeht. Vgl. auch Nuti, Hidden and Repressed Inflation, S. 4854; Thieme, Probleme, S. 5253.
Qualität der Altersrentenversorgung 1967 1968 1969 1970 1971 1972
43,77 44,34 44,92 45,50 46,09 46,69
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100,00 101,30 102,62 103,95 105,30 106,67
Quelle: Schroeder Severin, Soviet Consumption, S. 631; eigene Berechnung.
Eine derartige Armutsgrenze kann freilich nicht über jeden Zweifel erhaben sein. Abgesehen davon, dass die Adäquatheit des von Sarkisjan und Kuznecova zusammengestellten Budgets auf der Grundlage der vorhandenen Daten nicht überprüft werden kann, spiegelt ein solcher Einheitsbetrag die regionalen Unterschiede im Bereich der Lebenshaltungskosten nicht ausreichend wider. Die Ausrichtung der diesem Existenzminimum zugrundeliegenden Untersuchungen auf die in städtischer Umgebung wohnhaften Bürger lässt zudem vermuten, dass eine Konzentration auf die Situation von Sowchosarbeitern und Kolchosmitgliedern zu durchaus anderen Resultaten geführt haben könnte. Die im Folgenden verwendete Armutsgrenze ist folglich als ein Hilfswert zu betrachten, der als Maßstab für die Bewertung des Rentenniveaus dienen soll, dabei allerdings nicht sämtliche Unwägbarkeiten bei der Bestimmung des biologischen Existenzminimums sowjetischer Altersrentner beseitigen kann.36
3.2.1. Die Höhe der Staatsaltersrenten Anders als zur Zahl der Ruheständler finden sich in sowjetischen Publikationen nur punktuelle Hinweise37 auf die mittlere Höhe der staatlichen Renten. Das tatsächliche Leistungsniveau und seine Entwicklung wurden im Untersuchungszeitraum unter Verschluss gehalten. Westliche Autoren mussten sich deshalb darauf beschränken, auf Grundlage der offiziell ausgewiesenen Rentenausgaben und der bekannten Rentnerzahlen einen gemeinsamen Mittelwert für sämtliche Spielarten dieser Sozialleistung (Alters-, Invaliden-, Hinterbliebenen-, Dienstalter-, persönliche Rente etc.) zu errechnen.38 Mit Hilfe der ZVS-Jahresberichte können
36 Zumindest als ein Indiz dafür, dass die Rubelwerte nicht zu niedrig angesetzt sind, können die Äußerungen der Rentner selbst herangezogen werden. In 18 der für diese Arbeit ausgewerteten Wortmeldungen sowjetischer Bürger äußerten sich die Verfasser konkret zu der von ihnen favorisierten Höhe der staatlichen Mindestrente. In 15 von ihnen wurden Beträge zwischen 30 und 50 R gefordert (Durchschnitt: 42,14 R). Lediglich drei Briefschreiber sprachen sich für ein deutlich höheres Minimum zwischen 60 R und 80 R aus (Durchschnitt: 70 R). GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, l. 186; F. R 7523, op. 83, d. 41, l. 95; F. R 9595, op. 1, d. 122, l. 52. 37 Vgl. z. B. NCh SSSR za 70 let, S. 439, für das Jahr 1971. 38 Vgl. McAuley, Social Policy (1982), S. 160; Porket, Income Maintenance, S. 307. Eine speziell auf die Altersrenten ausgerichtete Schätzung nimmt Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 52, vor, der den tatsächlichen Werten für die zweite Hälfte der 1950er Jahre
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Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
nun erstmals konkrete Aussagen nicht nur zur durchschnittlichen Höhe der Staatsaltersrente, sondern auch zu derjenigen ihrer Unterkategorien getätigt werden (Tab. 3g). Möglich ist dies, weil die Berichte ebenfalls Informationen über die für die Leistungsauszahlung im Monatsmittel verwendeten Gelder bereithalten.
Tab. 3g: Die Durchschnittsbezüge der Staatsaltersrentner, 1956–1972: gewöhnliche, Vorzugs- und Teilrenten in R (Stand am 1. Januar) Sämtliche Staatsaltersrentnera 1956c 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
47,40 46,36 46,96 47,30 47,52 46,78 46,92 47,21 47,58 48,08 48,87 49,24 49,99 51,11 52,26 53,37 57,08
Gewöhnliche Staatsaltersrentner b – 45,06 46,10 46,77 47,34 47,11 47,32 46,21 48,30 48,88 49,75 50,19 51,04 52,28 53,39 54,64 58,61
Vorzugsrentner a VorzugsVorzugsSämtliche rentner rentner Vorzugsgemäß gemäß rentner Liste II Liste I 71,83 76,84 58,94 71,37 75,50 60,46 73,33 – – 73,72 – – 73,79 – – 73,56 – – 74,95 – – 75,42 – – 76,17 80,84 66,83 75,45 81,42 63,90 77,24 81,99 68,85 77,53 82,44 69,58 77,96 82,89 70,38 78,31 83,60 70,58 79,65 84,82 72,42 79,77 84,75 72,98 81,13 86,24 74,18
Teilrentnera
– 25,71 25,22 25,76 26,12 26,23 27,08 34,24 27,14 27,87 28,11 28,33 28,81 29,04 29,69 30,29 34,01
Quelle: a ZVS-Jahresberichte zu den Staatsrenten (siehe Tab. 2e). b Errechnet auf Grundlage der Angaben zur Gesamtheit der Staatsaltersrentner, Vorzugsrenter und Teilrentner. c Stand 1. Oktober 1956.
Eines der zentralen Ergebnisse der Staatsrentenreform bestand in der deutlichen Steigerung des allgemeinen Leistungsniveaus. Gemäß den Vorreformbestimmungen hätten sowjetische Altersrentner am 1. Oktober 1956 Zahlungen in einer durchschnittlichen Höhe von 22,26 R erhalten. Stattdessen beliefen sich die Ruhestandsgelder zu Anfang des folgenden Jahres im Mittel (nun) auf 46,36 R. In einem einzigen Schritt verbesserte sich die Qualität der staatlichen Alterssicherung somit um 108,3 %.39 Die von sowjetischer Seite erhobene Behauptung, dass die durchaus nahe kommt, ab 1962 allerdings im Schnitt etwa 3,50 R über den mit Hilfe der ZVS-Berichte nachgewiesenen Durchschnittsbeträgen liegt. 39 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 1. Die am 1. Oktober 1956 registrierte Durchschnittsrente von 47,39 bleibt hier unberücksichtigt, da zu diesem Zeitpunkt der Prozess der Leistungsneuberechnungen und erstmaligen Rentenerteilungen noch nicht abgeschlossen war und
Qualität der Altersrentenversorgung
269
Reform zu einer Verdoppelung der Bezüge geführt habe,40 ist demnach zutreffend. In der Folge stieg die durchschnittliche Altersrente weiter an. 1971 erreichte sie den Betrag von 53,37 R und lag schließlich Anfang 1972, nachdem zuvor erstmals die Mindestaltersrente angehoben worden war, bei 57,08 R. Somit blieben diese Mittelwerte konstant oberhalb der Armutsgrenze: anfangs mit etwa 8 R, Mitte der 1960er Jahre mit ca. 5,50 R und zu Beginn des Jahres 1972 mit 10,39 R. Zu einem gewissen Teil war das Leistungsniveau auf die deutlich höheren Bezüge der Vorzugsrentner zurückzuführen, die im Schnitt mehr als 50 % über jenen der gewöhnlichen Altersrentner lagen. Besonders hoch fielen die Ruhestandsgelder „gemäß Liste I“ aus, die sich Anfang 1957 auf 75,50 R beliefen und 1972 einen mittleren Betrag von 86,24 R erreichten. Damit übertrafen sie sogar die Qualität der persönlichen Renten von Republikrang.41 Aber auch die Vorzugsrenten „gemäß Liste II“ lagen mit Beträgen zwischen 60,46 R (1957) und 74,18 R (1972) noch weit über den herkömmlichen Renten. In beiden Fällen zeichnete vor allem das der Rentenbemessung zugrundeliegende Erwerbsentgelt, dessen Höhe nicht zuletzt den schwereren Arbeitsbedingungen geschuldet war, für die großzügigere Alterssicherung verantwortlich. Gegenteilig verhielt es sich mit den Teilaltersrenten. Ihr proportionaler Berechnungsmodus führte für sich genommen nicht notwendigerweise zu niedrigen Monatszahlungen. Zumindest theoretisch konnten Ruheständler hier Beträge erzielen, die bis knapp unterhalb der Höchstrente von 120 R reichten; immer vorausgesetzt, sie verfügten sowohl über einen hohen trudovoj staž als auch über einen entsprechenden Monatsverdienst. In der Praxis waren höhere Leistungen jedoch überaus selten und Zahlungen, die nicht an die Mindestaltersrente heranreichten, die Regel.42 So war die durchschnittliche anteilige Altersrente konstant der Wert folglich nur bedingt aussagekräftig ist. Eine Umrechnung solcher Rubelwerte in zeitgenössische D-Mark-Beiträge muss schwerfallen, da sich die tatsächliche (d. h. nicht über den amtlichen Devisenkurs abgebildete) Kaufkraft der sowjetischen Währung infolge fehlender statistischer Daten nicht zweifelsfrei nachvollziehen lässt. Zumindest einen Annäherungswert bietet die Kalkulation Backe-Dietrichs, der zufolge im Jahr 1964 ein Rubel die Kaufkraft von DM 2,78 besessen habe. Vgl. Backe-Dietrich, Die offiziellen Devisenkurse, S. 434. Andere Autoren gelangen zu ähnlichen Ergebnissen. So geht Ruban, Die Entwicklung, S. 6971, von einer Kaufkraft aus, die 1959 DM 3,00 entsprach. Vgl. auch Nove, The Purchasing Power, S. 193. Backe-Dietrichs DM 2,78 würden, berücksichtigt man die inflationäre Entwicklung der letzten 47 Jahre, im Jahr 2010 einer Kaufkraft von EUR 5,20 entsprechen. Vgl. Entwicklung der Kaufkraft in Deutschland (DM-Basis). 40 Vgl. z. B. Moskalenko, Zakon, S. 15; Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1958), S. 33. 41 Die durchschnittliche persönliche Rente von Republikrang lag 1957 bei 45,42 R, 1965 bei 77,01 R und 1972 schließlich bei 85,91 R. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 2 ob.; op. 37, d. 2718, l. 1 ob.; op. 48, d. 1392, l. 2. 42 Laut SPU von 1959 bezogen 69,4 % der Teilaltersrentner Leistungen von weniger als 30 R, 29,9 % 30–60 R und nur 0,01 % mehr als 60 R. 13 Jahre später kam die ZVS der UdSSR zu dem Ergebnis, dass 69,1 % von ihnen weniger als 40 R, 29,9 % 60–70 R und 0,9 % mehr als 70 R erhielten. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 1718; op. 48, d. 1397, ll. 41 u. 43. Zur sowjetischen Kritik an dem niedrigen Niveau der Teilrenten vgl. Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 140.
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Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
unterhalb des Existenzminimums angesiedelt: 1957 belief sie sich auf 25,71 R, und auch im Jahr 1972 fehlten ihr mit 34,01 R noch mehr als 12 R bis zur Armutsgrenze. Das Hauptkontingent der staatlichen Ruheständlerschaft, das Gros der gewöhnlichen Altersrentner, die weder eine vergünstigte noch eine anteilige Leistung bezogen, konnte mit einer reichhaltigeren Absicherung rechnen. Ihre monatliche Versorgung lag 1957 im Schnitt bei 45,06 R und stieg bis 1972 auf 58,61 R. Von einem über die staatliche Alterssicherung generierten „Wohlstand“ kann hier freilich nicht gesprochen werden. Die bescheidenen Bezüge ermöglichten allerdings eine Versorgung, die sich doch ein wenig vom Existenzminimum abhob. Die Qualität der staatlichen Altersrentenversorgung unterschied sich des Weiteren erheblich in Abhängigkeit vom Wohnort der jeweiligen Person: Rentner mit einem urbanen Hintergrund erhielten in der Regel deutlich höhere Leistungen. Die Durchschnittsrente von Leistungsempfängern, die in Städten oder städtischen Arbeitersiedlungen lebten, stieg von 48,01 R (1957) auf 60,39 R (1972). Ungleich karger nahmen sich dagegen die monatlichen Bezüge von Bürgern aus, die auf dem Lande lebten. Ihre Ruhestandsgelder beliefen sich direkt nach der Staatsrentenreform im Mittel auf 37,55 R und fünfzehn Jahre später auf 47,76 R. War bereits der erste Durchschnittswert unterhalb der Armutsgrenze angesiedelt, so galt dies umso mehr für die Bezüge jener Personen, die aufgrund der Größe ihres Hoflandes oder der Zugehörigkeit zu einem Kolchoshof als „mit der Landwirtschaft verbunden“ galten. Der 15-prozentige Abzug, dem ihre Renten unterzogen wurden, musste sich zwangsläufig negativ auf das Versorgungsniveau auswirken: 1957 lagen ihre mittleren Bezüge 6,02 R, acht Jahre später 12,35 R und 1972 immer noch 5,66 R unterhalb des Existenzminimums (Tab. 3h).
Tab. 3h: Die Durchschnittsbezüge der Staatsaltersrentner, 1956–1972: städtische und ländliche Renten (Stand am 1. Januar) Staatsaltersrentner mit städtischem Wohnsitz (WS)a 1956c 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967
48,85 48,01 – – – – – – 51,35 51,67 52,60 53,00
Staatsaltersrentner mit ländlichem WS Staatsaltersrentner Sämtliche Staatsaltersrentner ohne „Verbindung Staatsaltersrentner mit „Verbindung zur zur Landwirtmit ländlichem WS Landwirtschaft“a schaft“b 39,18 33,07 41,67 37,55 32,45 39,46 – 31,80 – – 31,13 – – 30,85 – – 29,81 – – 29,63 – – 28,30 – 35,88 29,26 38,27 36,82 30,30 38,50 37,61 31,07 39,14 38,52 32,07 39,93
271
Qualität der Altersrentenversorgung 1968 1969 1970 1971 1972
53,73 54,81 55,96 57,15 60,39
39,39 40,58 41,74 42,64 47,76
32,76 33,84 35,13 35,31 41,03
40,77 41,96 43,04 44,03 48,71
Quelle: a ZVS-Jahresberichte zu den Staatsrenten (siehe Tab. 2e). b Errechnet auf Grundlage der Angaben zur Zahl der Staatsaltersrentner mit Wohnsitz auf dem Land, der Staatsaltersrentner mit „Verbindung zur Landwirtschaft“ und der Gesamtzahl der staatlichen Ruheständler. c Stand 1. Oktober 1956.
Die ZVS-Berichte informieren ferner über das Niveau der Versorgung in den Unionsrepubliken, das durchaus unterschiedlich ausfiel. Tab. 3i gibt die Höhe der zu Beginn und gegen Ende des Untersuchungszeitraums vor Ort registrierten Altersrenten wieder. Hohe Werte lassen sich Anfang 1957 vor allem für die Aserbaidschanische SSR, die Ukrainische SSR und die Kirgisische SSR feststellen, wobei es sich um Republiken handelte, die sich vor allem durch einen hohen Anteil an Vorzugsrentnern auszeichneten. Dass hier ein Zusammenhang bestand, macht auch die Tatsache deutlich, dass die Litauische SSR, die Weißrussische SSR und die Lettische SSR, in denen die Durchschnittsrente zu diesem Zeitpunkt am niedrigsten ausfiel, zu den Republiken mit den proportional gesehen wenigsten Vorzugsrentnern gehörten.43 Fünfzehn Jahre später standen Georgien, Armenien und abermals die Ukraine an der Spitze. Die Ukrainische SSR zeichnete sich dabei ein weiteres Mal vor allem durch den sehr hohen Anteil von Personen aus, die sich für eine Leistung gemäß Liste I oder Liste II qualifiziert hatten.44 Für die beiden transkaukasischen Unionsrepubliken war allerdings ein anderes Merkmal charakteristisch: Hier bezogen nur vergleichsweise wenige Personen eine Altersrente „bei anteiligem Dienstalter“. Die Signifikanz dieses Kriteriums für das zweite Stichjahr bestätigt sich auch am Ende der Liste, wo sich 1972 jene drei Republiken (Weißrussische SSR, Litauische SSR und Moldawische SSR) einfanden, in denen die Teilrentner am stärksten vertreten waren.45
43 Während Anfang 1957 im Unionsdurchschnitt 7,6 % der Altersrentner eine Vorzugsrente erhielten, lag dieser Anteil in der von der Bergbauindustrie geprägten Ukrainischen SSR bei 15,7 %, in der Kirgisischen SSR bei 13,4 % und in der Aserbaidschanischen SSR bei 10,2 %. In der Weißrussischen SSR belief sich der entsprechende Prozentsatz lediglich auf 2,4 %, in der Lettischen SSR auf 1,2 % und in der Litauischen SSR schließlich nur auf 0,7 %. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 325, ll. 294. 44 14,6 % der ukrainischen Altersrentner erhielten am 1. Januar 1972 eine Vorzugsrente. Auf die Gesamtheit der UdSSR bezogen lag die Quote bei 8,9 %. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 48, d. 1392, ll. 134 ob. 45 Der Anteil der Teilrentner an der Gesamtheit der Altersrentner belief sich unionsweit auf 14,3 % und fiel in den erwähnten Republiken folgendermaßen aus: Armenische SSR: 6,9 %; Georgische SSR: 9,1 %; Ukrainische SSR: 15,8 %; Litauische SSR 27,2 %; Weißrussische SSR: 27,9 %; Moldauische SSR: 32,8 %. Vgl. ebd.
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Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
Tab. 3i: Durchschnittsbezüge der Staatsaltersrentner in den Unionsrepubliken, 1957 und 1972 (Stand am 1. Januar)
UdSSR RSFSR Ukrainische SSR Weißrussische SSR Usbekische SSR Kasachische SSR Georgische SSR Aserbaidsch. SSR Litauische SSR Moldawische SSR Lettische SSR Kirgisische SSR Tadschikische SSR Armenische SSR Turkmenische SSR Estnische SSR
Durchschnittliche staatliche Altersrente (in R) 1957 1972 46,36 57,08 46,29 57,40 48,86 58,70 40,46 48,86 44,22 53,29 47,29 56,26 45,18 58,99 51,39 57,83 38,52 49,91 42,27 50,68 39,97 54,23 47,61 55,74 46,85 55,52 45,91 58,89 46,38 58,20 41,48 55,45
Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 325, ll. 294; op. 48, d. 1392, ll. 134 ob.
Die Wachstumsrate der Altersrente nahm sich überaus bescheiden aus. Zwischen 1957 und 1972 stieg die mittlere Sicherungsleistung staatlicher Ruheständler lediglich um 23,1 %. Vergleicht man diese Entwicklung mit der von Schroeder und Severin angenommenen Entwicklung der Lebenshaltungskosten (21,4 %), so kommt sie beinahe einem Stillstand gleich. Zurückzuführen war der geringe Zuwachs auf die fehlende Dynamisierung der Renten, d. h. ihre Abkopplung von der Entwicklung des Löhne und Gehälter noch erwerbstätiger Arbeiter und Angestellter. Die im Juni 1971 vorgenommene Anhebung der Mindestaltersrenten stellte somit den einzigen Fall einer Korrektur der in der Vergangenheit erteilten Summen dar. Der bis zum 1. Januar 1971 verzeichnete Rentenanstieg war allein auf die Entwicklung des Niveaus der in jedem Berichtsjahr neu erteilten Ruhestandsgelder zurückzuführen, die den Zuwachs der Erwerbsentgelte widerspiegelten und sich mit der Zeit immer deutlicher von jenem der „Altrenten“ absetzten.46 Je weiter der Zeitpunkt der Leistungsfestsetzung zurücklag, desto bescheidener nahm sich die Versorgungsqualität gegenüber den Bezügen der gerade erst Verrenteten aus.47 46 Zu den Altrenten sind in diesem Kontext sämtliche Ruhestandsleistungen zu zählen, die erstmals im jeweils vorangegangenen Berichtsjahr oder früher statistisch erfasst worden waren. Vgl. auch Pavlova, O differenciacii, S. 11971198. 47 Während eine durchschnittliche Neurente im Jahr 1964 nur 0,91 R über dem Mittel der Altrenten lag, belief sich diese Differenz 1968 auf 3,24 R und 1972 bereits auf 6,66 R. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 1561, l. 1; op. 45, d. 5961, l. 1; op. 48, d. 1392, l. 1.
Qualität der Altersrentenversorgung
273
Offensichtlich wird diese Gesetzmäßigkeit durch die SPU des Jahres 1972, die sich u. a. auch der Differenzierung ihres Samples in Abhängigkeit vom jeweiligen Jahr des Rentenantritts widmete: Rentner, die im Jahr der Staatsrentenreform erstmalig in den Genuss der staatlichen Altersversorgung gelangt waren, bezogen sechzehn Jahre später durchschnittlich 53,10 R, während Personen, denen dies zwischen 1961 und 1965 widerfahren war, 54,70 R erhielten. Betagte, die ihren Ruhestand hingegen erst 1971 angetreten hatten, verfügten 1972 im Mittel über eine Sicherung in Höhe von 60,60 R.48 In noch gravierenderem Umfang blieben die durchschnittlichen Altersrenten allerdings hinter den Einkünften der arbeitenden Bevölkerung zurück. Entsprachen Erstere 1960 noch zu 58,5 % dem mittleren Arbeitsentgelt eines Arbeiters oder Angestellten, so lag diese Quote sechs Jahre später schon bei 49,0 % und 1972 sogar nur noch bei 44,2 %.49 Die Ruheständler waren somit vom Wachstum des allgemeinen Wohlstands abgekoppelt und in doppelter Hinsicht benachteiligt. Zum Ersten mussten sie erfahren, dass sich ihre materielle Situation faktisch verschlechterte, da die Renten infolge des Anstiegs der Konsumentenpreise und der fehlenden Dynamisierung mit jedem Jahr an Kaufkraft einbüßten. Zum Zweiten wurde ihr in der Regel ohnehin äußerst bescheidener Lebensstandard durch die Wahrnehmung getrübt, immer weiter hinter einer gesellschaftlichen Entwicklung zurückzubleiben, die zu einem steigenden Erwerbsentgelt der noch arbeitenden Bevölkerung und zu wachsenden Bezügen der neu in den Ruhestand tretenden Bevölkerung führte.50 In jedem Fall konnte die Zielsetzung, beim Übergang zur kommunistischen Gesellschaft nicht nur den Gegensatz zwischen Stadt und Land sowie zwischen geistiger und körperlicher Arbeit zu überwinden, sondern auch eine „allmählich[e] Verringerung des Unterschieds in den Einkünften von arbeitsfähigen und arbeitsunfähigen Sowjetbürgern“51 zu erreichen, nicht realisiert werden. Die im Vorangegangenen angeführten Durchschnittsrenten vermitteln einen Eindruck von dem allgemeinen Versorgungsniveau der Leistungsempfänger. Im 48 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 48, d. 1397, l. 323. 49 Da es sich bei den in NCh SSSR v 1972 g., S. 516, enthaltenen Angaben über das Einkommen der Arbeiter und Angestellten um Jahresmittelwerte handelt, sind die ihnen gegenübergestellten Durchschnittsrenten anders berechnet: Verwendet wurde der Durchschnitt der zu Beginn und gegen Ende des jeweiligen Jahres vorliegenden Werte (1960: 47,15 R; 1966: 49,06 R; 1972: 57,59 R). Vergleicht man die Zahlen mit den „Reallöhnen“ (Summe aus Arbeitsverdienst und Leistungen aus den GVF. Die Entwicklung der „versteckten“ Inflation bleibt hier unberücksichtigt.) dieser Jahre, so machen die Altersrenten sogar nur 43,8 % (1960), 36,6 % (1966) und 32,8 % (1972) aus. Ein Vergleich mit dem Rentenniveau westlicher Alterssicherungen fällt für das Jahr 1960 durchaus positiv für die UdSSR aus. Zu diesem Zeitpunkt bezogen in der BRD ehemalige Arbeiter im Schnitt 31,4 %, frühere Angestellte 50,8 % ihres Bruttoarbeitsentgelts als Versichertenrente. In den USA lag der entsprechende Prozentsatz für Alleinstehende sogar nur bei 18,3 % und für Ehepaare bei 27,7 %. Vgl. Conrad, Die Entstehung, S. 438. In beiden Fällen ist freilich davon auszugehen, dass der frühere Durchschnittsverdienst deutlich über den Bezügen sowjetischer Arbeiter und Angestellter lag. 50 Vgl. Roik, Pensionnaja sistema, S. 85. 51 Mstislavskij, Na puti, S. 34.
274
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
Unklaren belassen sie freilich die Größe des Bevölkerungskontingents, das Renten ober- und unterhalb dieser Markierung bezog. Informationen über die Differenzierung der Ruheständler in Abhängigkeit von der Höhe des ihnen erteilten monatlichen Betrags bieten die SPU von 1959, 1966 und 1972.52 Die in Tab. 3j–3l ausgewiesenen Daten betreffen die Bezieher sowohl ungekürzter Vollrenten als auch anteiliger Ruhestandsgelder, deren Leistungen oft unterhalb der Mindestsätze lagen.53 Die Klassierung der Rentenbeträge wich in den drei Stichjahren leicht voneinander ab. Um eine Verfälschung des Datenbestandes zu vermeiden, sollen hier die in den Originalen vorgenommenen Einteilungen größtenteils unverändert54 übernommen werden.
Tab. 3j: Differenzierung der Staatsaltersrenten gemäß SPU vom 1. Juli 1959 Höhe der monatlichen Altersrente (in R) 0,0 10,1 20,1 30,1 40,1 50,1 60,1 70,1 80,1 90,1 100,1
– 10,0 – 20,0 – 30,0 – 40,0 – 50,0 – 60,0 – 70,0 – 80,0 – 90,0 – 100,0 – 110,0
Anteil an Weibliche Anteil an Männliche Gesamtzahl Staatsalters- Gesamtzahl Sämtliche Anteil an Staatsaltersweibl. rentner männl. Staatsalters- Gesamtzahl rentner (inkl. StaatsaltersStaatsaltersrentner (in %) (inkl. Teilrentner Teilrentrentner rentner) (in %) nerinnen) (in %) 576 0,3 640 0,3 1.216 0,3 6.066 2,8 5.886 2,8 11.952 2,8 27.080 12,6 50.629 24,0 77.709 18,3 30.718 14,3 54.470 25,8 85.188 20,1 42.676 19,9 55.513 26,3 98.189 23,1 39.465 18,4 27.871 13,2 67.336 15,8 26.367 12,3 9.166 4,3 35.533 8,4 10.870 5,1 2.676 1,3 13.546 3,2 7.756 3,6 1.451 0,7 9.207 2,2 5.787 2,7 836 0,4 6.623 1,6 4.207 2,0 505 0,2 4.712 1,1
52 Ausgewertet wurden die SPU zuvor bereits von Pavlova, O differenciacii, die zwar ein Kurvendiagramm zur Verteilung der Leistungen anbietet, dabei jedoch die x- und y-Achsen unbeschriftet lässt. Die Häufigkeit bestimmter Rentenbeträge in den Stichjahren lässt sich so lediglich erahnen. Den Versuch einer Nutzung dieser Informationen unternimmt neben Schönfelder, Sozialpolitik, S. 47, insbesondere Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 50. Die von Stiller angenommenen Charakteristika der Verteilung (1. und 9. Dezil) weichen deutlich von den im Folgenden berechneten Werten ab, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass er die Bezieher von anteiligen Ruhestandsgeldern, deren Leistungen zum Teil deutlich unterhalb der 30 R-Mindestgrenze verblieben, nicht oder in nur geringem Maße berücksichtigt. Die von Pavlova etwa für die SPU von 1959 angegebene graphische Kurve legt, wenn man – anders, als es Stiller möglich war – mit den Ursprungsdaten vertraut ist, nahe, dass die Autorin selbst die Teilrentner mit berücksichtigt. 53 Die SPU von 1966 bietet, im Unterschied zu ihrer Vorgängerin und ihrer Nachfolgerin, keine Angaben zur Geschlechterverteilung der Empfänger anteiliger Altersrenten. Aus diesem Grund werden sie in Tab. 3k gesondert ausgewiesen. 54 Dessen ungeachtet wurden hier einzelne „Klassen“ zusammengeführt. In den SPU selbst werden die Betragsklassen unterhalb der 50-R-Marke nicht in 10-R-, sondern in 5-R-Schritten organisiert.
275
Qualität der Altersrentenversorgung 110,1 – 120,0 Gesamtzahl Median (in R) 1. Dezil (in R) 9. Dezil (in R) Dezil-Verhältnis (90/10)
12.524 214.092
5,8
1.105 210.748
0,5
13.629 424.840 43,80 23,87 73,96
3,2
3,10
Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 11, 12, 17 u. 18.
Tab. 3k: Differenzierung der Staatsaltersrenten gemäß SPU vom 1. Januar 1966 Höhe der monatlichen Altersrente (in R) 0,00 – 10,00 10,00 – 19,99 20,00 – 29,99 30,00 – 39,99 40,00 – 49,99 50,00 – 59,99 60,00 – 69,99 70,00 – 79,99 80,00 – 89,99 90,00 – 99,99 100,00 – 109,99 110,00 – 120,00 Gesamtzahl Median (in R) 1. Dezil (in R) 9. Dezil (in R) Dezil-Verhältnis (90/10)
Männliche Staatsaltersrentner (ohne Teilrentner) 0 0 4.061 39.804 59.761 70.571 54.471 23.422 16.786 13.622 9.330 30.013 321.841
Weibliche Staatsaltersrentner (ohne Teilrentner) 0 0 7.007 157.941 136.809 76.368 25.773 8.020 4.498 2.541 1.459 3.366 423.782
Bezieher anteiliger Altersrenten 3.240 30.401 61.828 40.488 16.503 2.949 647 289 150 82 53* 52* 156.682
Sämtliche Staatsaltersrentner 3.240 30.401 72.896 238.233 213.073 149.888 80.891 31.731 21.434 16.245 10.842 33.431 902.305 44,99 27,76 77,39
Anteil an Gesamtzahl (in %) 0,4 3,4 8,1 26,4 23,6 16,6 9,0 3,5 2,4 1,8 1,2 3,7
2,79
* Schätzung: In der SPU findet sich nur die Angabe, dass 105 Teilrentner über 100 R bezogen. Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2807, ll. 8, 10 u. 18.
Tab. 3l: Differenzierung der Staatsaltersrenten gemäß SPU vom 1. Januar 1972 Höhe der monatlichen Altersrente (in R) 0– 9 10 – 19 20 – 29
Anteil an Männl. Gesamtzahl Staatsaltersmännl. rentner Staatsalters(inkl. rentner Teilrentner) (in %) 0 0,0 4.186 0,7 14.067 2,4
Weibl. Staatsaltersrentner (inkl. Teilrentnerinnen) 0 15.022 38.443
Anteil an Gesamtzahl Sämtliche weibl. StaatsalStaatstersrentner altersrentner (in %) 0,0 0 1,6 19.208 4,1 52.510
Anteil an Gesamtzahl (in %) 0.0 1,3 3,4
276 30 – 39 40 – 49 50 – 59 60 – 69 70 – 79 80 – 89 90 – 99 100 – 109 110 – 120 Gesamtzahl Median (in R) 1. Dezil (in R) 9. Dezil (in R) Dezil-Verhältnis (90/10)
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten 36.081 109.454 128.667 91.538 47.846 38.995 30.042 22.628 73.358 596.862
6,0 18,3 21,6 15,3 8,0 6,5 5,0 3,8 12,3
61.140 400.089 252.037 75.519 30.082 18.861 13.066 7.989 17.308 929.556
6,6 43,0 27,1 8,1 3,2 2,0 1,4 0,9 1,9
97.221 509.543 380.704 167.057 77.928 57.856 43.108 30.617 90.666 1.526.418 52,23 38,32 92,73
6,4 33,4 24,9 10,9 5,1 3,8 2,8 2,0 5,9
2,42
Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 48, d. 1397, ll. 22, 28, 41 u. 43.
Aufgrund der von den Urhebern der Stichproben vorgenommenen Einteilungen kann nicht festgestellt werden, wie viele der berücksichtigten Ruheständler genau jeweils Leistungen unterhalb der Armutsgrenze erhielten. Die Daten sprechen dessen ungeachtet dafür, dass es sich hier um einen hohen Prozentsatz handelte. Orientiert man sich grob an der Betragsklasse, in der diese Markierung zu verorten ist, so lässt sich feststellen, dass der Anteil derjenigen, die 1959 maximal 40 R bezogen – also im besten Fall nur unwesentlich mehr, als es dem Minimum von 39,47 R entsprach – 41,4 % ausmachte. Sieben Jahre darauf, die Armutsgrenze lag nun bei 43,21 R, erhielten immer noch 38,2 % eine Leistung, die die 40 R nicht überschritt. Für das Jahr 1972 mit einem Existenzminimum von 46,69 R bietet sich schließlich eine Ausrichtung an der nächsthöheren Betragsklasse an: Der Anteil jener Ruheständler, die mit weniger als 50 R im Monat rechnen mussten, lag zu diesem Zeitpunkt bei 44,4 %. Mit der Zahlung vergleichsweise hoher Altersrenten konnte hingegen nur ein geringer Teil des Samples rechnen, obschon hier eine steigende Tendenz zu beobachten ist. Leistungen, die in eine der vier oberen Betragsklassen fielen, also zwischen 80 R und dem Höchstsatz von 120 R betrugen, empfingen 1959 nur 8,0 %, sieben Jahre später 9,1 % und im Jahr 1972 14,6 % aller in der Stichprobe berücksichtigten staatlichen Ruheständler. Mit Hilfe der SPU vermitteln sich auch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Qualität der Alterssicherung. Anders als die ZVS-Jahresberichte bieten sie so z. B. für zwei Stichjahre Informationen über die Durchschnittsrenten von Männern und Frauen: Die männlichen Mitglieder des Samples konnten im Mittel mit 54,56 R (1959) und 57,97 R (1966) kalkulieren, Frauen hingegen lediglich über 41,20 R (1959) und 42,27 R (1966) verfügen.55 Für die Jahre 1959 und 1972 bieten sich zudem Hinweise auf die Verteilung der Altersrenten, die ebenfalls von der Benachteiligung weiblicher Sowjetbürger künden. Während so z. B. Ende der fünfziger Jahre 30,1 % der männlichen Leistungsempfänger nicht mehr als 40 R erhielten, lag 55 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 119120; op. 44, d. 2807, ll. 9899.
Qualität der Altersrentenversorgung
277
dieser Prozentsatz unter den Frauen bei 53,0 %. Noch ausgeprägter stellte sich das Missverhältnis 1972 dar, als 55,4 % der Ruheständlerinnen, aber nur 27,4 % der männlichen Altersrentner Leistungen unter 50 R ausgezahlt wurden. Kein anderes Bild ergibt sich schließlich aus der Betrachtung der vier oberen Betragsklassen: Ihnen gehörten 1959 lediglich 1,8 % und 1972 6,2 % der Frauen an. Ungleich besser waren hier die Männer gestellt, die den SPU zufolge zu 14,1 % (1959) bzw. zu 27,6 % (1972) zwischen 80 R und 120 R erhielten. Zurückzuführen war ein solches Ungleichgewicht vornehmlich auf zwei Faktoren: den höheren Anteil von Personen unter den weiblichen Beziehern, die sich nur für eine Altersteilrente qualifizierten und deshalb oft Leistungen unterhalb der 30 R-Grenze erhielten, und das deutlich niedrigere vormalige Lohn- und Gehaltsniveau der Frauen.56 Die Angaben der SPU belegen zudem, dass die Differenzierung der staatlichen Altersrenten von Jahr zu Jahr abnahm. Belief sich die 90/10-Dezil-Ratio, die hier als Maß für die Ungleichheit der Ruhestandsgelder dienen soll,57 im Jahr 1959 auf 3,10, so sank sie bis 1966 auf 2,79 und erreichte sechs Jahre später einen Wert von gerade einmal 2,42. Die Tatsache, dass die Höhe der durchschnittlich bezogenen Rentenbeträge anstieg, die Leistungsobergrenze von 120 R allerdings unangetastet blieb, musste zwangsläufig zu einer zunehmenden Nivellierung der Bezüge führen.58 Der mit der Staatsrentenreform verbundene Effekt einer Über56 Ersichtlich wird dies einmal mehr über die SPU, die – in den Jahren 1966 und 1972 – Angaben zur Höhe des Arbeitsentgelts bieten, auf dessen Grundlage die Erteilung der vollständigen Altersrenten vorgenommen worden war. Ihnen zufolge basierte die Alterssicherung betagter Frauen im Jahr 1966 zu 41,1 % auf einem Verdienst von weniger als 50 R. Und auch 1972 lag der entsprechende Anteil immerhin noch bei 30,1 %. Unter männlichen Ruheständlern waren die Geringstverdiener seltener vertreten: Ihr Anteil belief sich 1966 auf 15,4 % und 1972 auf 11,0 %. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen überrascht es nicht, dass Männer in weit größerer Zahl auf höhere Löhne und Gehälter zurückblicken konnten: 1966 gründeten 30,6 % der männlichen Leistungen auf einem Verdienst von mehr als 120 R. Und 1972 lag die Quote bei 43,7 %. Für Frauen beliefen sich die entsprechenden Prozentsätze hingegen auf 5,8 % (1966) und 13,33 % (1972). Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2807, ll. 72 u. 75; op. 48, d. 1397, ll. 103104. 57 Ebenso wie der Median den Punkt innerhalb einer Verteilung bezeichnet, der sie in zwei gleich große Teile separiert, zeigt das 1. bzw. 9. Dezil jenen Wert an, der das untere bzw. obere Zehntel vom Rest der berücksichtigten Datenwerte trennt. Der Quotient aus dem 9. und dem 1. Dezil eignet sich demzufolge zur Visualisierung des Abstandes zwischen hohen und niedrigen Altersbezügen. Zu den Vorteilen des Dezil-Verhältnisses als Maß der sowjetischen Einkommensungleichheit vgl. McAuley, Economic Welfare, S. 2022. 58 Es erübrigt sich beinahe festzustellen, dass der Modus der Altersrentenberechnung zu einem Ausgleich der vor dem Leistungsantritt bestehenden Einkommensunterschiede führte. Wie stark diese Vereinheitlichung ausfiel, wird deutlich, wenn man die frühere Lohn- und Gehaltsdifferenzierung betrachtet. Die SPU bieten, wie erwähnt, auch Angaben zur Höhe der Arbeitsverdienste, auf deren Grundlage die Rentenleistungen berechnet wurden. (Ausgespart bleiben hier allerdings die früheren Verdienste von Teilrentnern.) Für 1959 lässt sich zur Verteilung der Arbeitsentgelte eine Dezil-Ratio von 4,43 (Median: 58,48 R; 1. Dezil: 30,12 R; 9. Dezil: 133,39 R) errechnen, für 1966 ein Verhältnis von 4,41 (Median: 67,37 R; 1. Dezil: 33,58 R; 9. Dezil: 147,93) und für 1972 eines von 4,13 (Median: 82,94 R; 1. Dezil: 42,52 R; 9. Dezil: 175,92 R). Die Kalkulationen basieren auf: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 97 u. 99; op. 44, d. 2807, ll. 72 u. 75; op. 48, d. 1397, ll. 103104. Zum Vergleich: Laut Rabkina Rimaševskaja, Raspreditel’nye otnošenija, S. 20, war die Einkommensverteilung unter den
278
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
windung der vormaligen uravnilovka schwächte sich dergestalt innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums wieder ab.
3.2.2. Die Höhe der Kolchosaltersrenten Auch zur Qualität der von den Artelmitgliedern bezogenen Ruhestandsgelder liegen von der ZVS der UdSSR gesammelte Daten vor. Am 1. Januar 1966 registrierte man diesbezüglich einen Mittelwert von 12,53 R, was deutlich unterhalb der diesbezüglich in der Fachliteratur publizierten Angaben liegt.59 Orientiert man sich an jenen 6,40 R, die für 1964 als kolchosinterne Durchschnittrente angenommen wurden,60 so bedeutet dies immerhin einen Zuwachs um 95,8 %. Dessen ungeachtet blieben die Leistungen somit nur geringfügig oberhalb des Mindestrentensatzes, der, wie erwähnt, von der überwältigenden Mehrheit bezogen wurde. Im Vorfeld der Reform vom 15. Juli 1964 war man noch von einer durchschnittlichen Altersrente von 15,54 R ausgegangen.61 In der Folge stieg das mittlere Ruhestandsgeld zwar stetig an. Es konnte sich allerdings bis 1971 nur geringfügig von der 12 RGrenze entfernen (Tab. 3m).
Tab. 3m: Durchschnittsbezüge von Kolchosaltersrentnern, 1966–1972 (Stand am 1. Januar)
1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
Höhe der durchschnittlichen Kolchosaltersrente (in R) 12,53 12,54 12,69 13,30 13,55 14,00 23,07
Quelle: ZVS-Jahresberichte zu den Kolchosrenten (siehe Tab. 3a). Arbeitern und Angestellten von einem Dezil-Verhältnis charakterisiert, das sich 1959 auf 4,21, 1966 auf 3,26 und 1972 auf 3,10 belief. Zur Einkommensverteilung in der UdSSR vgl. auch Bergson, Income Inequality; Flakierski, Income Inequalities. 59 Lagutin, Problemy, S. 17, spricht von einer nach der Kolchosrentenreform zu verzeichnenden Durchschnittsrente von „ungefähr 15 R“. Diese Angabe ist selbst dann nicht zutreffend, wenn man davon ausgeht, dass der Autor sich auf alle drei Formen der Kolchosrente bezieht: Deren allgemeiner Mittelwert lag Anfang 1966 mit 12,62 R nur unwesentlich über der Altersrente. (Die durchschnittliche Kolchosinvalidenrente betrug 13,37 R, die mittlere Kolchoshinterbliebenenrente 13,54 R.) Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2805, l. 1. 60 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1667, l. 155. 61 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, l. 20.
Qualität der Altersrentenversorgung
279
Da auch die Kolchosrenten keiner Dynamisierung unterlagen, ging der Zuwachs ebenfalls auf das Konto der neu bewilligten Leistungen, deren Empfänger von der verbesserten Arbeitsdokumentation und der Einkommensentwicklung in den Artelen profitierten. Im Kontext der Kolchosrentenversorgung ist deshalb gleichfalls eine wachsende Disparität zwischen Alt- und Neurenten zu bemerken.62 Hiermit verbunden war zudem ein drastisches Zurückbleiben der Leistungshöhe hinter den Bezügen noch arbeitstätiger kolchozniki. Trifft es zu, dass sich deren monatlicher Durchschnittsverdienst 1968 auf 66,20 R belief,63 so machte das über die ZUSVK finanzierte Ruhestandsgeld im Jahresmittel (13,00 R) lediglich 19,6 % dieser Summe aus. Eine deutliche Korrektur der Alterssicherung vollzog der Gesetzgeber mit den Nachbesserungen vom 6. Juni 1971, die nicht nur das Mindestniveau anhoben, sondern durch die Veränderungen am Berechnungsmodus auch Renten steigerten, die sich auf mehr als 20 R beliefen. Am 1. Januar registrierte man deshalb eine Zunahme der Durchschnittsbezüge um fast zwei Drittel auf nunmehr 23,07 R. An der Tatsache, dass die mittlere Kolchosaltersrente deutlich unterhalb der Armutsgrenze lag, änderte die Maßnahme jedoch nichts. Der Abstand zu den mittleren Einkommen erwerbstätiger Artelmitglieder konnte allerdings ein wenig reduziert werden, lag der Jahresmittelwert der Kolchosaltersrente (23,27 R)64 nun doch immerhin bei 28,8 % der mittleren Vergütung (80,70 R).65 In den Republiken differierte auch die Qualität der den Artelmitgliedern gewährten Alterssicherung zum Teil beträchtlich. Die höchsten Durchschnittswerte waren in der Estnischen SSR zu verzeichnen, während die Weißrussische SSR im Vergleich konstant am schlechtesten abschnitt (Tab. 3n). Zurückzuführen waren diese Positionierungen sicherlich vor allem auf das jeweilige Niveau der Vergütung für die Kolchosarbeit: Sowohl 1965 als auch 1970 zahlte man in der baltischen Republik am meisten, in Weißrussland am wenigsten für einen Arbeitertag.66
62 Im Jahr 1967 lag die mittlere Neurente mit 12,78 R lediglich 0,27 R über der durchschnittlichen Altrente. 1970 belief sich die Differenz auf 2,66 R und 1972 sogar auf 4,41 R. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 45, d. 2462, l. 1; op. 46, d. 1691, l. 1; op. 48, d. 1393, l. 1. 63 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 161. 64 Die durchschnittliche Kolchosaltersrente lag am 1. Januar 1973 bei 23,46 R. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 49, d. 1967, l. 1. 65 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 161. 66 Vgl. Trud v SSSR (1988), S. 206208. Ein estnischer Kolchosbauer verdiente 1970 126,20 R, ein weißrussischer hingegen nur 56,70 R. Vgl. NCh SSSR v 1970 g., S. 435. Wie sehr sich die Kolchosrentenversorgung in der Estnischen SSR von derjenigen in anderen Republiken abhob, wird auch am Beispiel der neu bewilligten Ruhestandsgelder deutlich. Während ein 1972 verrenteter kolchoznik im Unionsdurchschnitt mit einer Alterssicherung von 27,29 R rechnen konnte, erhielt ein estnischer Neurentner im Mittel 41,36 R, was beinahe an das Existenzminimum dieses Jahres heranreichte. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 48, d. 1393.
280
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
Tab. 3n: Die durchschnittlichen Kolchosaltersrenten in den Unionsrepubliken, 1966 und 1972 (Stand am 1. Januar)
UdSSR RSFSR Ukrainische SSR Weißrussische SSR Usbekische SSR Kasachische SSR Georgische SSR Aserbaidschanische SSR Litauische SSR Moldawische SSR Lettische SSR Kirgisische SSR Tadschikische SSR Armenische SSR Turkmenische SSR Estnische SSR
Höhe der durchschnittlichen Kolchosaltersrente (in R) 1966 1972 12,53 23,07 12,40 22,84 12,41 22,76 12,25 22,75 13,08 24,36 12,88 23,06 13,16 23,21 13,54 23,55 12,26 23,16 12,84 23,85 12,99 25,84 12,81 23,60 12,72 23,77 13,80 25,51 13,56 25,29 13,92 28,96
Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2805; op. 48, d. 1393.
Im Unterschied zum Altersrentensystem der Arbeiter und Angestellten unterlagen die von den Kolchosmitgliedern empfangenen Leistungen nur einer überaus schwachen Differenzierung. Verantwortlich hierfür war die erwähnte Tatsache, dass nur wenigen Beziehern Renten bewilligt wurden, die sich nennenswert von den Mindestsätzen absetzen konnten. Die SPU bieten auch zur Verteilung der Kolchosrenten Informationen, wobei die Klassierung der Leistungsbeträge in den Stichjahren abermals voneinander abweicht. Geschlechtsspezifische Informationen enthält zudem allein die im Jahr 1972 vorgenommene Stichprobe.
Tab. 3o: Differenzierung der Kolchosaltersrenten* gemäß SPU vom 1. Januar 1966 Anteil an Anteil an Anteil an Gesamtzahl Gesamtzahl Gesamtzahl Sämtliche Weibl. Männl. der weibl. männl. KolchosKolchosKolchosKolchosKolchosKolchosaltersrentner altersrentner altersrentner altersrentner altersrentner altersrentner (in %) (in %) (in %) 12,00 107.503 77,6 438.168 97,1 545.671 92,5 12,01 – 12,99 2.762 2,0 1.937 0,4 4.699 0,8 13,00 – 13,99 2.919 2,1 1.545 0,3 4.464 0,8 14,00 – 14,99 2.621 1,9 1.330 0,3 3.951 0,7 15,00 – 15,99 2.466 1,8 1.194 0,3 3.660 0,6 Höhe der monatlichen Altersrente (in R)
281
Qualität der Altersrentenversorgung 16,00 – 17,99 18,00 – 19,99 20,00 – 29,99 25,00 – 29,99 30,00 – 39,99 40,00 – 59,99 60,00 u. mehr Gesamtzahl Median 1. Dezil 9. Dezil DezilVerhältnis (90/10)
4.259 3.316 5.851 4.646 1.833 309 29 138.514
3,1 2,4 4,2 3,4 1,3 0,2 0,0
1.812 1.278 2.033 1.535 568 76 10 451.486
0,4 0,3 0,5 0,3 0,1 0,0 0,0
6.071 4.594 7.884 6.181 2.401 385 39 590.000 12,00 12,00 12,00 1,00
* Ausgenommen sind hier die Bezüge der „ehemaligen Kolchosmitglieder“. Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2807, ll. 132 -133.
Tab. 3p: Differenzierung der Kolchosaltersrenten* gemäß der SPU vom 1. Januar 1972 Höhe der monatlichen Altersrente (in R) 20 21 22 – 24 25 26 – 29 30 – 34 35 – 39 40 – 49 50 – 59 60 – 69 70 – 79 80 – 89 90 – 99 100 – 109 110 – 119 120 Gesamtzahl Median (in R) 1. Dezil (in R) 9. Dezil (in R) DezilVerhältnis (90/10)
Kolchosaltersrentner 703.463 5.787 19.811 6.873 26.900 54.595 55.884 36.774 8.510 1.956 887 403 211 185 40 90 922.369 20,00 20,00 36,14
Anteil an Gesamtzahl (in %) 76,3 0,6 2,1 0,7 2,9 5,9 6,1 4,0 0,9 0,2 0,1 0,0 0,0 0,0 0,0 0,0 76,3
1,81
* Ausgenommen sind auch hier die Bezüge der „ehemaligen Kolchosmitglieder“. Quelle: RGAƠ, F. 1562, op. 48, d. 1397, l. 341.1
1,0 0,8 1,3 1,0 0,4 0,1 0,0
282
Die Reichweite und Qualität der Altersrenten
Ins Auge fällt hier zuerst das hohe Gewicht der Empfänger von Minimalleistungen. 1966 machten sie mit 92,5 % fast die Gesamtheit der in der Stichprobe berücksichtigten Personen aus. Sechs Jahre darauf hatte sich der Anteil der – nunmehr 20 R erhaltenden – Mindestrentner auf 76,3 % verringert. Auch jene Leistungen, die sich von der jeweiligen Rentenuntergrenze ein wenig abzusetzen vermochten, fielen überaus bescheiden aus. Mehr als 20 R bezogen 1966 bloß 2,9 % der Ruheständler, und über Altersbezüge, die zudem die 40-R-Grenze überschritten und dadurch an das Existenzminimum zumindest heranreichten, verfügten sogar nur kaum mehr wahrnehmbare 0,1 %. 1972 hatte sich die Lage zwar ein wenig entspannt, aber noch immer dominierten die extrem niedrigen Renten: Lediglich 17,3 % der Bezieher konnten mit mehr als 30 R rechnen, 5,3 % mit mehr als 40 R. Über das Existenzminimum von 46,69 R verfügten so wahrscheinlich weniger als 3 % der Kolchosrentner. Das neue Maximum von 120 R erhielten gerade einmal 90 Altersrentner (0,01 %), was belegt, dass diese Grenze, die eine Gleichbehandlung mit den betagten Sowjetbürgern aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten suggerierte, für die Versorgungsrealität der Artelmitglieder faktisch keine Bedeutung besaß. Die SPU bestätigen also, was bereits aufgrund der niedrigen Durchschnittsrenten zu vermuten war: In den Jahren 1966 und 1972 blieben die monatlichen Bezüge fast der gesamten kollektivwirtschaftlichen Altersrentnerschaft unterhalb der Armutsgrenze. Dessen ungeachtet lassen sich die in den sechs Jahren erzielten Erfolge nicht negieren. Die durchschnittliche Rentenhöhe hatte sich fast verdoppelt, und auch die in den Fachkreisen und der Bevölkerung kritisierte Nivellierung der Leistungen auf dem niedrigstmöglichen Nenner konnte ein wenig reduziert werden. Aufgrund der extrem hohen Anzahl von Personen, denen ein identischer Betrag bewilligt worden war, hatte sich die Dezil-Ratio 1966 noch auf 1 belaufen, d. h., es hatte eine minimale Konzentration und eine weitgehend egalitäre Verteilung vorgelegen. Bis 1972 reduzierte sich diese uravnilovka ungeachtet der Tatsache, dass die Anhebung der Mindestaltersrente auf 20 R einem derartigen Prozess entgegenwirkte: Das Dezil-Verhältnis stieg auf 1,8 an, was vor allem auf die gestiegene Differenzierung der Einkünfte aus der Kolchosarbeit zurückzuführen war: Hatte die Rentenerteilung 1966 nur in 8,3 % aller Fälle auf einer früheren Arbeitsvergütung basiert, die zu einer Leistung oberhalb des Minimalsatzes berechtigte, lag der Prozentsatz 1972 schon bei 25,7 %.67 Auch im Falle der Kolchosrentenversorgung lässt sich konstatieren, dass die weiblichen Leistungsempfänger im Allgemeinen niedrigere Renten erhielten als männliche Ruheständler. So belegt die Stichprobe von 1966, dass die Mindestrentner unter den Frauen ungleich stärker vertreten waren. Den hier gesammelten Daten zufolge bezogen 97,5 % der Ruheständlerinnen Mindestrenten, während der entsprechende Anteil unter den männlichen Beziehern bei 79,5 % lag.68 Zu er67 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2807, ll. 138139; op. 48, d. 1397, ll. 346 u. 348. 68 Die Prozentsätze beziehen sich auf die Gesamtheit der Kolchosaltersrentner, schließen in diesem Fall also auch die ehemaligen Kolchosmitglieder mit ein. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2807, ll. 132133.
Qualität der Altersrentenversorgung
283
klären ist das Ungleichgewicht zum einen durch den Umstand, dass die Frauen weitaus stärker unter den Defiziten der Arbeitsdokumentation zu leiden hatten.69 Davon abgesehen zeichnete allerdings auch in diesem Fall das im Allgemeinen bescheidenere Niveau der früher den weiblichen Artelmitgliedern zuteilgewordenen Entlohnung für die niedrigen Renten verantwortlich.70
69 Siehe Tab. 2j. 70 Nur 3,7 % der in der SPU von 1966 berücksichtigten Frauen hatten eine Vergütung nachweisen können, die die 24-R-Grenze überschritt, bei den männlichen Kolchosaltersrentnern handelte es sich immerhin um einen Anteil von 23,1 %. Vgl. ebd., ll. 138139. Für 1972 liegen zwar keine geschlechtsspezifischen Daten zur Rentenverteilung vor. Jedoch deutet die Information, dass sich die Höhe des Kolchosverdienstes, der der Leistungsberechnung ursprünglich zugrunde lag, bei Männern im Mittel auf 42,30 R, bei Frauen auf 21,80 R belaufen habe, daraufhin, dass zu diesem Zeitpunkt sehr ähnliche Verhältnisse herrschten. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 48, d. 1397, ll. 346 u. 348.
4. SOWJETISCHE BÜRGER OHNE LEISTUNGSANSPRUCH 4.1. BETROFFENE BEVÖLKERUNGSGRUPPEN Trotz aller Fortschritte, die bei der Entwicklung der allgemeinen Altersrentenversorgung erzielt wurden, ist festzustellen, dass das sowjetische System der sozialen Sicherung Lücken aufwies. Die Tatsache, dass das Regime keine adäquate, vom Fürsorgeprinzip geleitete Grundsicherung einführte, die auch jenen zuteilwurde, die sich nicht für die Rente qualifizieren konnten, zeigt, dass man die Bedürftigkeit der betroffenen Personen wissentlich in Kauf nahm. In der sowjetische Öffentlichkeit wurde das Vorhandensein von Bevölkerungsgruppen, die überhaupt keine staatliche Versorgungsleistung bezogen, nur selten reflektiert. Dies verwundert nicht, war dieser Umstand doch kaum mit der Selbstdarstellung des Regimes zu vereinbaren, in deren Rahmen der „Sorge um das Wohl des Volkes“ eine zentrale Rolle zukam. Wie eingangs erwähnt, hatte Lenin 1912 auf der Prager Konferenz der SDAPR jene Prinzipien umrissen, die eine bolschewistische Sozialversicherung kennzeichnen sollten. Zu ihnen gehörte der später mit dem Begriff der „Universalität“ (vseobšþnost’) umschriebene Grundsatz, dass sämtliche in Lohnarbeit tätigen Arbeiter in den Genuss einer Absicherung gelangen sollten.1 Die Behauptung, dass ihm Genüge getan wurde, dass also in der UdSSR für die umfassende Alterssicherung der betagten und invaliden Bürger gesorgt sei, kennzeichnete auch die Verlautbarungen von Fachleuten wie Nina N. Saþuk. Auf einem Symposium des Kiewer Instituts für Gerontologie beschrieb die Demographin 1966, wie man in der UdSSR dem Problem der gesellschaftlichen Alterung begegnete. Im Unterschied zum kapitalistischen Ausland genössen „die älteren und die altersschwachen Personen die verdiente Aufmerksamkeit und Fürsorge des Staates und der gesamten Gesellschaft. Sie sind materiell versorgt [...]. Personen, die ihre Gesundheit eingebüßt haben oder der Existenzmittel entbehren, werden zur vollständigen staatlichen Versorgung in die Altenheime aufgenommen.“2
Solch hehre Projektionen entsprachen jedoch nicht der Wirklichkeit, da die Ableitung der Rentenberechtigung vom individuellen Dienstalter die Inklusion beträchtlicher Teile der älteren Sowjetbevölkerung in die Ruhestandssicherung verhinderte: Die für die gewöhnliche Altersrente erforderlichen 20 bzw. 25 Jahre der Arbeitstätigkeit konnten häufig nicht nachgewiesen werden. Zwar war vorgesehen, dass die betroffenen Bürger unter Umständen Anspruch auf ein anteiliges Ruhegeld erheben konnten, doch verwehrten dessen restriktive Voraussetzungen einem nennenswerten Teil von ihnen den Erhalt der Leistung. Zudem waren die
1 2
Vgl. Šestaja (PraĪskaja) Vserossijskaja konferencija, S. 396. Saþuk, Social’no-demografiþeskaja charakteristika, S. 12.
Betroffene Bevölkerungsgruppen
285
Mitglieder der Kollektivwirtschaften zur Gänze von dieser Möglichkeit ausgenommen. Der Umstand, dass das sowjetische Rentensystem nicht alle älteren und arbeitsunfähigen Menschen erreichte, blieb allerdings zumindest in der Fachliteratur nicht gänzlich unerwähnt. So stellt M. L. Zacharov fest, dass die von manchen Autoren behauptete Gültigkeit des vseobšþnost’-Prinzips in der Rentenversorgung noch nicht gegeben sei. Freilich handelte es sich ihm zufolge bei den Nichtrentenberechtigten um eine kleine Gruppe: „Die Gewährung einer für alle Bürger gleichen und realen Möglichkeit des Rentenerhalts bedeutet noch nicht die tatsächliche Rentenversorgung ausnahmslos aller Alten und Arbeitsunfähigen. Unter den Bedingungen des heute gültigen Rechts, dem zufolge die Rentenbestätigung an bestimmte Voraussetzungen bezüglich des Dienstalters und einer Reihe anderer Faktoren [...] gebunden ist, bleibt immer ein unbedeutsamer Teil älterer und arbeitsunfähiger Menschen übrig. Diese haben aufgrund von verschiedenen, biographisch bedingten Umständen keinen Rentenanspruch erlangt. Folglich darf man die universale Rentenversorgung noch nicht als ein Prinzip des geltenden Rentenrechts erachten; bei ihr handelt es sich [vielmehr] um eine objektiv existierende Tendenz in der Entwicklung und Vervollkommnung des einheitlichen Systems der Rentenversorgung, die kurz vor der Vollendung steht.“3
Zur regionalen, berufs- und geschlechtsspezifischen Zusammensetzung jenes Teils der Bevölkerung, der sich für keinerlei Rentenform zu qualifizieren vermochte, stehen keine gesonderten Daten zur Verfügung. Es lassen sich jedoch Personenkreise identifizieren, denen die Erfüllung des Dienstalter-Kriteriums in besonderer Weise Schwierigkeiten bereitete und die aus diesem Grunde vermutlich weit stärker sowohl unter den Teilrentnern als eben auch unter den Nichtrentenberechtigten vertreten waren als andere Bürger. Unter den Arbeitern und Angestellten waren dies zunächst einmal frühere Kolchos- oder Einzelbauern, die Beschäftigungen in Sowchosen, Industriebetrieben oder sonstigen Einrichtungen angenommen hatten, die der staatlichen Sozialversicherung unterlagen. Die vor der beruflichen Veränderung absolvierten Jahre der landwirtschaftlichen Arbeit wurden dem trudovoj staž nicht hinzugerechnet.4 Diese Regelung sollte bis Anfang der siebziger Jahre einen wiederholt geäußerten Kritikpunkt an der Rentengesetzgebung darstellen.5 Unter erschwerten Bedingungen bei der Erreichung des erforderlichen Dienstalters litten auch ehemalige Häftlinge sowie die Opfer politischer Verfolgung. Die Jahre des Freiheitsentzugs und der Verbannung wurden dem Einzelnen nur in je-
3 4
5
Sovetskoe pensionnoe pravo, S. 3435. Vgl. Ziff. 109b-v der Staatsrentenordnung von 1956. Eine Ausnahme wurde, wie erwähnt, nur denjenigen ehemaligen Kolchosbauern gewährt, die im Zuge der Umwandlung ihres Artels in einen Sowchos übergetreten waren: Ab 1939 wurden ihre im Kolchos geleisteten ununterbrochenen Arbeitsjahre dem staatlichen Dienstalter hinzugerechnet. So drängte etwa ein Drittel der etwa 6.000 Briefschreiber, die sich 1970 mit Vorschlägen zur Verbesserung des Kolchosrentensystems an das Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung wandten, auf die Berücksichtigung der Arbeitsjahre im Kolchos bei der Berechnung des für die Staatsrente relevanten trudovoj staž. Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 63, d. 501, l. 103. Vgl. auch ebd., op. 56, d. 762, l. 50.
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Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
nen Fällen zum trudovoj staž hinzugerechnet, in denen er nachträglich die Rehabilitation erfahren hatte.6 Zudem stellte es sich häufig genug für die Rehabilitierten alles andere als einfach dar, die Arbeitsjahre vor der Verhaftung zu belegen. Nicht selten waren die zum Nachweis erforderlichen Dokumente bei der Verhaftung konfisziert worden oder angesichts mangelhafter Archivierung nicht mehr auffindbar. Ebenso waren hier Aufschluss gebende Zeugenaussagen nach mehr als 20 Jahren unter Umständen nicht mehr zu organisieren.7 Zudem spricht einiges dafür, dass eine Mehrheit der nach 1954 aus Lager und Verbannung Heimgekehrten nicht rehabilitiert wurde.8 Zu den Nichtrentenberechtigten zählte des Weiteren sicherlich ein Großteil der „faktisch ausgeschiedenen Kolchosmitglieder“, die sich auch dann nicht für eine Kolchosaltersrente qualifizierten, wenn sie über einen staž von 25 bzw. 20 Jahren verfügten. Betroffen waren hier also nicht zuletzt diejenigen, die, weil sie von ihrem Kolchos nicht mehr ausreichend versorgt werden konnten, denselben vor Erreichen des Rentenalters verlassen hatten, um in den Städten einer besser bezahlten Arbeit nachzugehen oder von dort lebenden Verwandten unterhalten zu werden.9 Schließlich besaß das Problem auch eine geschlechtsspezifische Dimension: Frauen waren im Rahmen der sowjetischen Alterssicherung nicht nur durch niedrigere Monatszahlungen gegenüber ihren männlichen Altersgenossen benachteiligt. Sie waren ebenfalls überproportional unter denjenigen Bürgern vertreten, die sich gar nicht für eine Altersrente qualifizierten. In der Perestrojka-Zeit verweist 6
7
8
9
Diese Periode konnte für den Nachweis des „allgemeinen“, des „ununterbrochenen Dienstalters“ sowie als Grundlage für die Erteilung einer Vorzugsrente verwendet werden. Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 8. September 1955 Nr. 1655 „Über die Anzahl der Berufsjahre, die Arbeitsvermittlung und die Rentenversorgung von Bürgern, die unbegründet strafrechtlich zur Verantwortung gezogen und in der Folge rehabilitiert worden sind“. Bei Vorliegen einer Rehabilitation war es allerdings zweitrangig, ob der Antragsteller in den Jahren der Inhaftierung oder Verbannung tatsächlich einer Arbeit nachgegangen war. Vgl. Efimov, Pravovye voprosy, S. 42. Der Goskomtrud plädierte im April 1959 angesichts der Probleme, die es den Angehörigen von mittlerweile verstorbenen Rehabilitierten bereitete, Dokumente über deren Arbeitszeit und -entlohnung zu erhalten, für die pauschale Erteilung von Hinterbliebenenrenten unabhängig von einem solchen Nachweis. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3162, l. 81. Die Vermutung liegt nahe, dass es noch lebenden früheren Häftlingen oft nicht minder schwerfallen musste, die entsprechenden Belege darzubringen. Laut Adler, The Gulag Survivor, S. 3031, bewegen sich die Angaben zur Zahl der 1954– 1961/1962 rehabilitierten Sowjetbürger im Bereich von 258.322 (Vgl. Moskovskie Novosti vom 31. Februar 1996, S. 14.) bis 737.182 (Vgl. Rogovin, Partija, S. 487.). Im darauf folgenden Zeitraum bis 1987 können der Autorin zufolge nicht mehr als einige hundert Verurteilungen offiziell rückgängig gemacht worden sein. Insgesamt geht Adler von einer im Jahr 1953 etwa 2,5 Mio. Menschen umfassenden Gulag-Bevölkerung aus. Vgl. Adler, The Gulag Survivor, S. 22; Craveri Chlevnjuk, Krizis, S. 182. Merl, Entstalinisierung, S. 198, spricht hingegen von Schätzungen, die Zahlen von bis zu zwei Mio. Rehabilitierten erreichen. Vgl. auch Kuvakin, Socialތnoe obespeþenie, S. 7. Eine Sonderbehandlung genossen dabei, wie gesehen, nur die „Veteranen“ der Kolchosbewegung, die den gewöhnlichen Artelmitgliedern gleichgestellt blieben.
Die monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte
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E. G. Azarova darauf, dass unter „denen, für die das Universalitäts-Prinzip keine Wirksamkeit entfaltet, [...] die Frauen den größten Anteil“ stellen.10 Diese Behauptung bestätigt sich für den Untersuchungszeitraum dann, wenn man noch einmal die Geschlechterdifferenzierung der Rentenbezieher betrachtet. Während weibliche Bürger sowohl 1959 als auch 1970 fast 75 % aller sowjetischen Bürger im Rentenalter stellten, lag ihr Anteil an der gesamten Rentnerschaft in der entsprechenden Altersgruppe deutlich unter einem solchen Wert: Orientiert man sich an den SPU der Zentralverwaltung für Statistik, so stellten die Frauen nur 64,7 % (1959) bzw. 66,9 % (1972) der mindestens 55 bzw. 60 Jahre alten Leistungsbezieher.11 Diese Unterrepräsentation unter den Leistungsbeziehern impliziert freilich im Gegenzug, dass weibliche Bürger unter den Nichtrentenberechtigten umso häufiger anzutreffen waren.
4.2. DIE MONATLICHEN BEIHILFEN FÜR NICHTRENTENBERECHTIGTE Eine Möglichkeit staatlicher Unterstützung, die einem Teil der Arbeiter und Angestellten ohne Rentenanspruch offen stand, war der Bezug einer monatlichen Beihilfe.12 Im Gegensatz zur Teilrente handelte es sich hierbei nach offizieller Lesart weder um eine Unterkategorie der Altersrente noch überhaupt um eine als Rente im eigentlichen Sinne verstandene Leistung. Gleichwohl wies sie die Züge einer Sozialrente auf, die jenen Menschen zugedacht war, die durch das Netz der allgemeinen Rentenversorgung fielen.13 In Anbetracht ihrer keineswegs allumfassenden Reichweite stellten die monatlichen Beihilfen eines der Instrumente dar, die die vseobšþnost’ der materiellen Absicherung garantieren sollte. So verwies beispielsweise N. A. Murav’eva während der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1958 auf dieses Rechtsinstitut, als sie sich gegen eine Nachbesserung des Staatsrentengesetzes aussprach, und zeigte sich dabei konform mit dem Standpunkt des Ersten Sekretärs: „Als das Gesetz angenommen wurde, sagte Genosse Chrušþev, dass Sie nicht alle Bedürfnisse des Menschen mit der Rente befriedigen werden. Es existieren viele Formen sozialer Hilfe, mehrere Spielarten. Und für einen Genossen, der nicht sieben Jahre lang [sic!]14 in der Produktion zu arbeiten vermag [um sich für eine Teilrente zu qualifizieren], gibt es andere
10 Azarova, Problemy, S. 3334. 11 Diese Prozentsätze berücksichtigen auch die Angaben zur Altersstruktur der Bezieher von Invaliden-, Hinterbliebenen-, Kriegsinvaliden- und Dienstaltersrenten. Errechnet auf Grundlage von: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 115117; op. 48, d. 1397, ll. 296, 302 u. 350 351. 12 Vgl. die kurz gehaltenen Beschreibungen von Hülsbergen, Die Alters- und Auslandsrentensysteme, S. 200203; Bilinsky, Das Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht, S. 150; Stiller, Sozialpolitik, S. 170; George Manning, Socialism, S. 5455. 13 Vgl. Tsivilev Rogogin, Social Assistance, S. 181. 14 Tatsächlich hatte sich der staž auf mindestens fünf Jahre zu belaufen.
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Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch Unterstützungsformen. Wer über keinen Ernährer verfügt und keine Kinder besitzt, für den gibt es die Beihilfe.“15
Seine Bezeichnung als „Beihilfe“ suggeriert eine Zugehörigkeit des Rechtsinstitutes zu jenem sozialpolitischen Komplex, dem so wichtige Varianten staatlicher Hilfe angehörten wie das Krankengeld, die Schwangerschafts- und die Geburtsbeihilfe, das Bestattungsgeld oder die Leistungen für kinderreiche und alleinstehende Frauen. Die Bandbreite der unter diesem Nenner vereinigten Subventionsarten, die bezüglich der Zahlungshäufigkeit, der Betragshöhe und der betroffenen Bevölkerungsgruppen in vielerlei Hinsicht voneinander differierten, war so umfangreich, dass sowjetische Sozialrechtler beim Versuch einer Begriffsbestimmung zuallererst auf ihre formale Nichtidentität mit dem Institut der Rente verweisen mussten.16 Allerdings erschöpfte sich hierin auch schon die Gemeinsamkeit der monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte mit den übrigen genannten Sozialleistungen: Letztere wurden schließlich meist über die mit ihnen verbundene Zielsetzung definiert, also die materielle Versorgung entweder bei zeitlich befristeter Arbeitsunfähigkeit (Krankengeld oder Schwangerschaftshilfe) oder die punktuelle finanzielle Hilfe in Fällen erhöhter finanzieller Belastung (Geburts- oder die Bestattungshilfe).17 Beide Kriterien erfüllten die monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte nicht, handelte es sich bei Ihnen doch um wiederholte und vor allem um zeitlich unbefristete Zuwendungen.18 Diese Merkmale sowie der Umstand, dass sie sich ebenfalls vor allem an Invaliden und Menschen im Rentenalter richteten, führten dazu, dass manche Autoren sie primär als eine Spielart der Rente auffassten.19 Die Differenz zu dieser bestand allerdings in dem, wie M. L. Zacharov es formuliert, „äquivalenzlosen Charakter“ der monatlichen Beihilfen: Ihre Zuerkennung war in keiner Weise an die Voraussetzung der in der Vergangenheit geleisteten „gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit“ gebunden, die von Zacharov selbst als grundlegendes Kennzeichen der Altersrente verstanden wird.20 15 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, l. 253. Weitere Versorgungsalternativen stellten laut Chrušþev die Erteilung einer persönlichen Rente oder die Unterbringung in einem Altenheim dar. 16 So definiert Andreev, Socialތnoe obespeþenie, S. 223, Beihilfen als „alle anderen (neben den Renten bestehenden) Geldzahlungen aus den Fonds für die Arbeitsunfähigen, die eine Unterstützung für Bürger in gesetzlich festgelegten Fällen darstellen“. 17 Vgl. Socialތnoe strachovanie v SSSR, S. 94; Ivanova, Ponjatie, S. 78; Stiller, Sozialpolitik, S. 165. Zum Institut der Beihilfe vgl. auch Polupanov, Posobija. Beihilfen z. B. aus Anlass der Geburt eines Kindes oder der Beerdigung eines Angehörigen wurden ebenfalls nicht weiterarbeitenden Rentnern erteilt. Vgl. Aþarkan, Posobija prestarelym, S. 2231. 18 Eine Ausnahme stellte hier lediglich – bezogen auf die Invaliden der III. Kategorie – das Regelwerk der Usbekischen SSSR dar. Siehe unten Anm. 31. 19 Vgl. Osin, Ponjatie, S. 133. 20 Vgl. Sovetskoe pensionnoe pravo, S. 406. So verweist auch Osin, Ponjatie, S. 134, angelegentlich der Unterscheidung von Alters- und Invalidenrente einerseits und monatlicher Beihilfe für Nichtrentenberechtigte andererseits auf die Differenz hinsichtlich der jeweils zugrundeliegenden Maxime: Fuße die zweite vor allem auf dem Grundsatz der gesellschaftlichen Humanität gegenüber den Arbeitsunfähigen, so basiere die Rentenversorgung darüber hinaus insbesondere auf dem Prinzip der Verteilung gemäß der individuell erbrachten Leistung. Siehe Abs. 6.2.3.
Die monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte
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Die ZVS der UdSSR schenkte solcher Verschiedenheit bei der Zusammenstellung statistischer Angaben zu den Sozialleistungen geringere Aufmerksamkeit. Ihre Jahresberichte über die staatlichen Renten führen nicht nur über die diversen Rentnerkategorien Buch, sondern gleichfalls über die Zahl der Empfänger monatlicher Beihilfen für Nichtrentenberechtigte, die sogar dem Gesamtumfang der hier ausgewiesenen Rentner hinzugerechnet wird. Besonders aufschlussreich ist dabei die Tatsache, dass auch die seit 1959 alljährlich in den Narodnoe chozjajstvo v SSSR-Jahrbüchern veröffentlichte Gesamtzahl aller sowjetischen Rentenbezieher die Empfänger monatlicher Beihilfen für Nichtrentenberechtigte integriert.21 Die die Staatsrentenreform ergänzende Einführung dieser Fürsorgeleistung stellte keine Innovation im eigentlichen Sinne dar, hatte man doch zuvor schon ähnliche Maßnahmen gekannt. So konnten sich z. B. in der RSFSR seit Mitte der 1930er Jahre Invaliden der I. und II. Kategorie für regelmäßige Geldzahlungen qualifizieren, wenn sie nachzuweisen vermochten, dass sie weder über ein existenzsicherndes Einkommen noch über unterhaltspflichtige Verwandte verfügten. Kategorisiert wurden diese Leistungsempfänger als „übrige Invaliden“ bzw. „übrige Rentner“.22 Die zweite Bezeichnung verdeutlicht, dass man bis Mitte der 1950er Jahre noch keinen Wert auf die begriffliche Trennung der Subvention von den herkömmlichen Renten legte.23 Das Niveau der Zahlungen blieb äußerst niedrig und variierte in Abhängigkeit vom Wohnort: Zu Anfang des Jahres 1956 bezogen auf dem Land ansässige Invaliden der Kategorie „Übrige“ zwischen 1,43 und 1,63 R, wohingegen Stadtbewohnern mehr als das Vierfache zuerkannt wurde, nämlich zwischen 7,43 und 7,63 R. Der höchstmögliche Betrag entsprach also nur einem Drittel der durchschnittlichen Staatsaltersrente.24 Darüber hinaus bezog
21 Die in den Jahrbüchern enthaltenen Angaben zu den Rentnerkategorien, die in die Gesamtzahl einflossen, zeichnen sich nicht durch Transparenz aus. Die Annahme, dass hier ebenfalls die Empfänger monatlicher Beihilfen Berücksichtigung fanden, gründet auf RGAƠ, F. 1562, op. 46, d. 1690, l. 43. Dieses Dokument enthält Informationen über die Beziehergruppen, die in der Kategorie „Altersrentner, Invalidenrentner, Dienstaltersrentner, Hinterbliebenenrentner, persönliche und andere Rentner“ zusammengefasst wurden. Da sich diese Kategorie unter derselben Bezeichnung auch in den Narodnoe chozjajstvo-Bänden findet (Vgl. etwa NCh SSSR v 1970 g., S. 570.), handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine Berechnung, die dem Jahrbuch als Grundlage dienen sollte. Aus der entsprechenden Aufstellung wird nun ersichtlich, dass sich die „anderen Rentner“ aus den Empfängern monatlicher Beihilfen für Nichtrentenberechtigte sowie den Beziehern der Renten für Wissenschaftler und für darstellende Künstler zusammensetzten. 22 Siehe die Instruktion Nr. 27/04 „Über das Verfahren bei der Versorgung der Invaliden, die nicht in den Geltungsbereich der Gesetze über die Rentenversorgung fallen“, die am 13. März 1935 vom Volkskommissariat der RSFSR für Sozialversorgung bestätigt wurde. Vgl. auch GARF, F. A 259, op. 7, d. 8744, ll. 2325. 23 Osin, Ponjatie, S. 133, erklärt die Bezeichnung dieser Leistung als Rente mit der Fortgesetztheit der Zahlung sowie ihrer Funktion als Hauptunterhaltsquelle. 24 Vgl. GARF, F. A 259, op. 7, d. 8744, ll. 3 u. 23. Vor dem 1. Oktober 1956 bezogen sowjetische Altersrentner im Mittel 22,26 R. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 1. Regional konnten die „übrigen Renten“ noch geringer ausfallen: Auf Sachalin etwa beliefen sie sich auf 1,10 R (Land) bzw. 7,10 R (Stadt). Vgl. hierzu RGAƠ, F. 7733, op. 45, d. 767, l. 143.
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mit ca. 42.000 Menschen nur eine geringe Zahl arbeitsunfähiger Einwohner der RSFSR eine derartige Hilfsleistung.25 Der Umstand, dass die Erfüllung des Dienstalter-Kriteriums auch nach der Staatsrentenreform eine zentrale Voraussetzung für die Rentenbewilligung darstellte, bedingte die fortwährende Aktualität der Frage, wie mit jenen Bürgern zu verfahren sei, die sich nicht einmal für eine Teilrente zu qualifizieren vermochten. Ab 1957 wurden neue Regelungen über ihre Absicherung verabschiedet, wobei die Normierung der diesbezüglichen Bestimmungen den Ministerien der Republiken für Sozialversorgung überlassen wurde,26 die sowohl hinsichtlich des Kreises der Bezugsberechtigten als auch des Leistungsniveaus überaus unterschiedliche Lösungen finden sollten.27 Weitgehende Übereinstimmung herrschte dahin gehend, dass der Begriff der „übrigen Renten“ – bis auf zwei Ausnahmen28 – durch die Bezeichnung der „monatlichen Beihilfe“ ersetzt wurde. Zur Finanzierung der Subventionen sollten die Mittel der örtlichen Deputiertenräte herangezogen werden.29 Die Zusammenstellung der für die Antragstellung notwendigen Unterlagen sowie die Abgabe einer Empfehlung zur Berechtigung des Ansinnens oblag den Mitarbeitern der lokalen Organe der Sozialversorgung, während die Entscheidung über die Bewilligung der Beihilfen im Kompetenzbereich der Exekutivkomitees der lokalen Sowjets verblieb.30 Die Kriterien, die der nichtrentenberechtigte Bürger zu erfüllen hatte, um sich für eine Beihilfe zu qualifizieren, variierten allerdings beträchtlich in Abhängigkeit von der jeweiligen Gesetzeslage. So existierte keine einheitliche Regelung über die Art der Arbeitsunfähigkeit, die den Einzelnen bei fehlendem Rentenanspruch zum Erhalt der Beihilfe befähigte. In der RSFSR z. B. blieb die monatliche 25 Vgl. GARF, F. A 259, op. 7, d. 8744, l. 4. 26 Den Beginn machte der Ministerrat der RSFSR, der am 13. April 1957 die Verordnung Nr. 208 „Über die materielle Versorgung derjenigen Invaliden und Alten, die keine staatlichen Renten erhalten“ (SP RSFSR, 1958, Nr. 1, Pos. 14) verabschiedete. Eine Aufstellung der für die einzelnen Republiken wirksamen Verordnungen bietet Zacharov, Obespeþenie, S. 115119. 27 Ausgenommen blieben einige Sonderformen der monatlichen Beihilfe für Nichtrentenberechtigte, die auf unionsweiten Normativakten basierten. Hierzu gehörten zum einen die erwähnten Leistungen für ehemalige Kolchosmitglieder, zum anderen die 1968 eingeführten Beihilfen für Invaliden der I. und II. Kategorie, die von Kindheit an behindert waren und das 16. Lebensjahr vollendet hatten. Sie erhielten Zahlungen in einer Höhe von 16 R. Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 10. November 1967 Nr. 1025 „Über die monatlichen Beihilfen für Invaliden von Kindheit an“ (SP SSSR, 1967, Nr. 29, Pos. 202). Zur Größe dieser Beihilfegruppen siehe Tab. 4a. 28 In der Kirgisischen und der Turkmenischen SSR wurden die monatlichen Leistungen weiterhin als „Rente“ bezeichnet. Vgl. Zacharov, Obespeþenie, S. 114, Anm. 6. 29 Lohmann, Sozialistisches Sozialrecht, S. 278, vermutet, dass mit dieser finanzpolitischen Entscheidung möglicherweise der „Tendenz [entgegengewirkt werden sollte], dass die Lokalverwaltungen durch eine großzügige Auslegung der Bestimmungen einen Teil der regionalen Defizite auf die Zentralebene verlagern“. Indem die Kommunen für die monatlichen Beihilfen selbst aufzukommen hätten, sei die „gewünschte restriktive arbeits- und familiennachrangige Handhabung des Sozialfürsorgerechts“ gewährleistet worden. 30 Vgl. Madison, Social Welfare, S. 206208.
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Beihilfe auch nach 1957 lediglich den Invaliden der I. und II. Kategorie vorbehalten, die gleichzeitig in allen anderen Teilen der Sowjetunion mit einer derartigen Leistung rechnen konnten.31 Das Erreichen des Rentenalters von 55 bzw. 60 Jahren galt hingegen allein in Weißrussland, Usbekistan und sieben weiteren, bevölkerungsärmeren Republiken als Qualifikationsgrundlage, weshalb eigentlich nur für diese Gegenden von der monatlichen Beihilfe als einer alternativen Form der Alterssicherung gesprochen werden kann.32 Die Bevorzugung der Invalidität gegenüber dem Altersmerkmal bei der Frage der Bezugsberechtigung erklärt Zacharov damit, dass, während die Notwendigkeit der Beihilfenerteilung bei körperlich Behinderten über jeden Zweifel erhaben sei, viele alte Menschen de facto nach dem Erreichen des Rentenalters noch arbeitsfähig seien. Dies betreffe speziell jene Menschen, die die Grenze von 55 bzw. 60 Jahren noch nicht lange überschritten hätten.33 Zwar besitzt dieses Argument angesichts der Beobachtung, dass die Mehrheit der weiterarbeitenden Altersrentner ihre Berufstätigkeit vor allem in den ersten fünf auf den Rentenantritt folgenden Lebensjahren fortsetzte,34 seine Berechtigung. Davon unberührt bleibt allerdings die Tatsache, dass in den betroffenen Republiken auch hochaltrige, in ihrer Leistungsfähigkeit dergestalt deutlich eingeschränkte Bürger einer monatlichen Zahlung entbehren mussten. Naheliegender erscheint es somit, den Grund für eine Begünstigung der Invalidität einmal mehr in der Vermeidung jener zusätzlichen Kosten zu suchen, die im Falle einer Berücksichtigung der Personen ohne Altersrentenanspruch entstanden wären. Regionale Unterschiede bestanden des Weiteren hinsichtlich der Kriterien, die als Beleg für die Bedürftigkeit der Antragsteller anerkannt wurden. Neben dem Faktum des fehlenden Rentenbezugs wurde dabei in allen Fällen das Nichtvorhandensein von Existenzmitteln vorausgesetzt. Gleichermaßen war in sämtlichen Sowjetrepubliken das Fehlen von unterhaltspflichtigen Verwandten nachzuweisen.35 31 Zu den Regelungen in der RSFSR vgl. Levšin u. a., Sovetskoe pensionnoe obespeþenie, S. 381383. In der Usbekischen SSR wurden auch Invalide der III. Kategorie mit einer monatlichen Beihilfe ausgestattet, jedoch nur in den Fällen, in denen man sie nicht mit einem ihren Voraussetzungen entsprechenden Arbeitsplatz ausstatten konnte. Zudem war der Bezug der finanziellen Unterstützung auf sechs Monate begrenzt. Vgl. Sovetskoe pensionnoe pravo, S. 407. 32 Die Sozialgesetzgebung der Estnischen und der Lettischen SSR kannte schließlich mit der Minderjährigkeit noch einen dritten Berechtigungsgrund, der speziell für jene Bürger Relevanz besaß, die sich nicht für eine Hinterbliebenenrente qualifizierten. Vgl. Zacharov, Obespeþenie, S. 121, Tab. 1. 33 Vgl. ebd., S. 121. 34 Vgl. Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 119. 35 Dabei spielte die tatsächliche materielle Situation der Angehörigen, die ja gegebenenfalls selbst nur einen bescheidenen Lebensstandard genossen, in den meisten Fällen keine Rolle. Eine Ausnahme bildeten die Weißrussische, die Usbekische SSR und fünf weitere Unionsrepubliken, in denen auch dann eine monatliche Beihilfe erteilt werden konnte, wenn vorhandene Verwandte nicht in der Lage waren, die nichtrentenberechtigte Person zu unterstützen. Vgl. Zacharov, Obespeþenie, S. 124. Zur Verpflichtung der Familienangehörigen zur Unterstützung der Bedürftigen vgl. Art 18 u. 20 der „Grundlagen der Gesetzgebung der Sowjet-
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Lediglich sieben Republiken, darunter mit der RSFSR und der Ukrainischen SSR allerdings die bevölkerungsreichsten, setzten zudem die Abwesenheit einer „Verbindung zur Landwirtschaft“ voraus.36 Verschieden waren auch die Bestimmungen zur Höhe der monatlichen Leistung. Sie differierte meist in Abhängigkeit vom Wohnort: Städtische Empfänger konnten beispielsweise in der RSFSR und zehn weiteren Republiken mit einer Zahlung von 10 R rechnen, wohingegen auf dem Land ansässige Bürger 8,50 R erhielten.37 Georgien veranschlagte unter den gleichen Vorzeichen 12 bzw. 10 R. Einen Sonderfall bildeten die drei baltischen Republiken: Während in der Lettischen und der Litauischen SSR Leistungen von bis zu 15 R erteilt werden konnten, sah das diesbezügliche estnische Regelwerk gar einen Festbetrag von 16 R vor.38 Aufschluss hinsichtlich der Frage, wie viele arbeitsunfähige Sowjetbürger ohne Rentenanspruch nun in den Genuss der monatlichen Beihilfe kamen, geben die ZVS-Jahresberichte (Tab. 4a). Wenn sich die Zahl der Empfänger am 1. Januar 1957 auf 85.020 belief, so entsprach dies 0,6 % aller in den ZVS-Jahresberichten zu den staatlichen Renten aufgeführten Leistungsbezieher.39 Bis Januar 1961 wuchs diese Gruppe auf 423.973 Menschen (2,4 %) an. Der im folgenden Jahr zu beobachtende steile Anstieg auf 1.265.500 erklärt sich damit, dass hier erstmals die Empfänger monatlicher Beihilfen unter den „ehemaligen Kolchosbauern“ mit berücksichtigt wurden. Ebenso ist der sich nach 1968 abzeichnende Zuwachs der Beihilfenempfänger auf die Entscheidung der Statistiker zurückzuführen, die „Invaliden von Kindheit an“ in diesem Kontext mit aufzuführen.40 Betrachtet man allerdings die zahlenmäßige Entwicklung der Empfänger „herkömmlicher“ Unterstützungszahlungen aus den örtlichen Budgets, wie sie sich in bereinigter Form darstellt, so ist eine abnehmende Tendenz nicht zu übersehen: Während 1964 mit ca. 371.115 nicht-
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union und der Unionsrepubliken über die Ehe und die Familie“, bestätigt durch das Gesetz der UdSSR von 27. Juni 1968 (VVS SSSR, 1969, Nr. 27, Pos. 241); Madison, Soviet Income Maintenance Policy, S. 114. Zur Bedingung wurden schließlich vereinzelt auch die Aussichtslosigkeit der Vermittlung einer geeigneten Arbeitsstelle an den Antragsteller (Lettische, Kirgisische und Turkmenische SSR) und die Unmöglichkeit, ihm einen Platz in einem Alten- und Invalidenheim zu besorgen (Kirgisische, Turkmenische und Estnische SSR), gemacht. Vgl. ebd., S. 125127. Das Vorhandensein einer tatsächlichen „Verbindung zur Landwirtschaft“ besaß dabei keine Relevanz. Demzufolge verringerte sich die Beihilfe auch dann, wenn keine Zusatzverdienste aus der Nebenwirtschaft zu verzeichnen waren. Zweifel an der Rechtfertigung dieser Regelung äußert Zacharov, Obespeþenie, S. 130. Vgl. ebd. Das höhere Leistungsniveau in den baltischen Republiken lässt sich sicherlich nicht zuletzt auf die vergleichsweise komfortable Ausstattung der dortigen örtlichen Budgets zurückführen, die vom hohen Industrialisierungsgrad des wirtschaftlich produktivsten Teils der UdSSR profitierten. Die Summe der in den von der ZVS-Jahresberichten zu den Staatsrenten erfassten Rentner beinhaltet nicht nur die Angaben zu den staatlichen Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrentnern, sondern ebenfalls solche zu anderen Bezieherkategorien wie etwa den persönlichen, den Wissenschaftler- oder den Dienstalterrentnern. Am 1. Januar 1957 belief sich die Gesamtzahl auf 13.343.204 Personen. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 2 ob. Siehe Anm. 27.
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rentenberechtigten Alten und Invaliden noch etwa 1,4 % der in den ZVS-Jahresberichten zu den Staatsrenten aufgeführten Rentner41 eine solche monatliche Beihilfe in Anspruch nehmen mussten, sank dieser Wert bis Anfang 1972 auf 112.772 bzw. 0,4 %.42
Tab. 4a: Die Anzahl der Empfänger monatlicher Beihilfen für Nichtrentenberechtigte in der UdSSR (Stand am 1. Januar) Empfänger monatlicher Beihilfen insgesamta 1957 1958 1959 1960 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969 1970 1971 1972
84.879 157.198 230.593 300.784 423.973 1.265.538 1.301.347 1.247.013 1.210.248 372.224 352.280 338.755 508.699 406.928 402.669 407.659
davon: Empfänger mon. Beihilfen aus örtlichen Budgetsb
371.115 382.628 347.164 336.862 325.372 282.279 147.338 125.791 112.772
Invaliden „von Kindheit an“c
Ehemalige Kolchosmitgliederd
875.898e 827.620f 25.060f 15.418f 13.383f 226.420 259.590 276.878 294.887
Quelle: a ZVS-Jahresberichte zu den Staatsrenten: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 332, l. 2 ob.; d. 454, l. 6 ob.; d. 583, l. 1 ob.; d. 953, l. 1 ob.; d. 1148, l. 1 ob.; d. 1274, l. 1 ob.; d. 1421, l. 1 ob.; d. 1561, l. 1 ob.; op. 37, d. 2718, l. 1 ob.; op. 44, d. 2803, l. 1 ob.; op. 45, d. 2460, l. 1 ob.; d. 5961, l. 1 ob.; d. 9848, l. 2 ob.; op. 46, d. 1690, l. 1a ob.; op. 47, d. 1560, l. 2 ob.; op. 48, d. 1392, l. 2 ob. b Differenz der in den benachbarten Spalten ausgewiesenen Zahlen. c ZVS-Jahresberichte zu den Staatsrenten: RGAƠ, F. 1562, op. 45, d. 9848, l. 2 ob.; op. 46, d. 1690, l. 1a ob.; op. 47, d. 1560, l. 2 ob.; op. 48, d. 1392, l. 2 ob. d Die Beihilfeempfänger unter den „ehemaligen Kolchosbauern“ gingen bereits 1962 und 1963 – sowie sicherlich auch noch nach 1968 – in die Gesamtzahl der Empfänger monatlicher Beihilfen ein, wurden jedoch in diesen Jahren in den ZVS-Berichten noch nicht – bzw. nicht mehr – gesondert ausgewiesen. e Rekonstruiert auf der Grundlage der in RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 1561, l. 1 ob., enthaltenen Daten zur Höhe der Durchschnittsbeihilfe und der monatlich für die Beihilfenzahlung an ehemalige Kolchosbauern anfallenden Ausgaben. f ZVSJahresberichte zu den Staatsrenten: RGAƠ, F. 1562, op. 37, d. 2718, l. 1 ob.; op. 44, d. 2803, l. 1 ob.; op. 45, d. 2460, l. 1 ob.; d. 5961, l. 1 ob.
41 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 1561, l. 1 ob. 42 Am 1. Januar 1964 registrierte man in diesen ZVS-Jahresberichten 20.790.084, acht Jahre später 23.720.589 Leistungsbezieher. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 1561, l. 1 ob.; op. 48, d. 1392, l. 2 ob.
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Zur Vermittlung eines Eindrucks von der unterschiedlichen Häufigkeit, mit der von den monatlichen Beihilfen in den einzelnen Regionen Gebrauch gemacht wurde, sei exemplarisch auf das Jahr 1958 verwiesen, für das republikspezifische Daten vorliegen. Unionsweit erhielten am 1. Januar des Jahres 1,0 % aller in den ZVS-Jahresberichten über die Staatsrenten aufgeführten Leistungsbezieher diese Unterstützungsform. Über die niedrigsten Empfängerquoten verfügten dabei die Georgische SSR (0,2 %) und die Turkmenische SSR (0,3 %). Auch die RSFSR lag mit 0,6 % noch deutlich unter dem landesweiten Mittel. Die proportional gesehen meisten Beihilfenbezieher fanden sich in Republiken, die neben der Invalidität zudem das fortgeschrittene Lebensalter als Berechtigungsgrundlage akzeptierten. Mit einem beträchtlichen Abstand führte das Baltikum die Liste an: Für die Lettische SSR lässt sich dabei eine Quote von 4,2 % errechnen, während die Litauische SSR und die Estnische SSR auf 4,9 % bzw. 9,0 % kamen.43 Die beschriebenen Leistungen weisen einige Parallelen zu westlichen, ihren Ursprung in der Armenhilfe besitzenden Formen der Sozialfürsorge auf. So wurden die monatlichen Beihilfen ebenfalls als „finanzielle Unterstützung für mittellose Personen zur Sicherung einer basalen Lebensführung“44 konzipiert. Ferner bedeutet die die sowjetische Regelung kennzeichnende Familiennachrangigkeit der Leistungen ebenso wie die der Beihilfenerteilung voranzugehende Bedürftigkeitsprüfung, dass das auch aus dem bundesdeutschen Sozialhilferecht geläufige Subsidiaritätsprinzip wirksam war: Niemand sollte eine Unterstützung erhalten, der sich selbst helfen oder von anderen Menschen Mittel beziehen konnte. Auch war der Bezug der monatlichen Beihilfen nicht an Kriterien wie das Lebensalter oder die Höhe der Anwartschaft bzw. des Dienstalters gebunden. Das Leistungsprinzip besaß hier keine Relevanz.45 Dabei wirkte das Fürsorgeprinzip am Beispiel der Beihilfen nur äußerst lückenhaft. Prinzipiell wurden sie ja nicht allen bedürftigen Bürgern, sondern nur den aufgrund von Invalidität oder Alter als arbeitsunfähig geltenden Bürgern zuerkannt.46 Des Weiteren verhinderten die strengen Bezugsbedingungen, dass sämtliche Nichtrentenberechtigten eine Zahlung erhielten. Und schließlich hing die Realisierung des Leistungsanspruches immer von den finanziellen Möglichkeiten der örtlichen Haushalte ab. Waren deren Mittel erschöpft, so konnte Ansprüchen, die von den Organen der Sozialversorgung bereits als rechtmäßig anerkannt worden waren, eine Umsetzung verwehrt bleiben.47 Darüber hinaus fielen die Beihil43 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 454, l. 9. 44 Lohmann, Sozialistisches Sozialrecht, S. 277. 45 Vgl. Wittkämper, Art. Subsidiaritätsprinzip, S. 1995; Schellhorn, Art. Sozialhilfe, S. 411 412; Osin, Ponjatie, S. 134. 46 Vgl. hierzu Lohmann, Sozialistisches Sozialrecht, S. 277, der diesen Sachverhalt auf das sozialtheoretische „Primat der Arbeit“ und die in der Konstitution verankerte „Einheit des Rechts auf und Pflicht zur Arbeit“ zurückführt. 47 Auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1960 machte der Teilnehmer Krivenko die Fremdbestimmtheit der örtlichen Finanzhaushalte dafür verantwortlich, dass für die Beihilfenauszahlung oft nicht genügend Geldmittel vorhanden waren: „[...] versuchen Sie einmal diese Beihilfe zu bekommen, wenn das Budget eines jeden Gebiets, einer jeden Region vom Finanz-
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fen auch in ihrer Höhe hinter Sozialfürsorgeleistungen westlicher Wohlfahrtssysteme zurück: Zwar bedeuteten die ab 1957 umgesetzten Reformen eine Verbesserung in Relation zu den „übrigen Renten“. Dennoch reichten die Zahlungen bei weitem nicht an die staatlichen Mindestrenten und noch viel weniger an das Existenzminimum heran. Für das karge Beihilfenniveau waren zum einen ebenfalls kostenpolitische Erwägungen verantwortlich. Zum anderen aber sollten Menschen, die nicht im ausreichenden Maße gearbeitet hatten, im Ruhestand nicht ebenso viel erhalten wie die Bürger, die die für den Rentenerhalt qualifizierenden Voraussetzungen erfüllt hatten. Deutlich wird diese Haltung beispielsweise an einer Notiz, in der sich N. A. Murav’eva und andere Funktionsträger im Oktober 1956 gegenüber dem Ministerrat der RSFSR zur Reform der „übrigen Renten“ äußerten: „Es wird vorgeschlagen, die Höhe der Renten für diese Kategorie von Bürgern (85–100 R*) niedriger zu veranschlagen als die Mindestrenten für Invaliden aufgrund einer allgemeinen Erkrankung der I. und II. Gruppe48 [...]. Eine Festsetzung dieser [„übrigen“] Renten auf dem vom Gesetz [über die staatlichen Renten] geregelten Mindestniveau würde nämlich dazu führen, dass sich diese Personen in der gleichen Lage befänden wie jene Arbeiter und Angestellten, die einen geringen Arbeitsverdienst bezogen haben, und das kann nicht für richtig gehalten werden.“49
Sicherlich war sowohl in der Bevölkerung als auch auf Seiten der politischen Führung ein Bewusstsein dafür vorhanden, dass die monatlichen Beihilfen nicht dazu geeignet waren, Personen ohne Rentenanspruch vor der Armut zu bewahren.50 Offene Kritik an ihrer bescheidenen Qualität übte M. L. Zacharov, dem zufolge diese Leistung nicht den mit ihr verbundenen „sozialen Zielen“ entsprach: „Die Höhe der Beihilfe ist so beschaffen, dass sie praktisch nicht als alleinige Unterhaltsquelle zu dienen vermag. Es ist sichtbar an der Zeit, die Beihilfensumme etwas ministerium bestätigt wird.“ GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 75. Zum maßgeblichen Einfluss des Finanzapparats bei der Zusammenstellung und der Umsetzung der örtlichen Budgets vgl. Lewis, Politics, S. 165172; Lewis Sternheimer, Soviet Urban Management, S. 83; Ross, Local Government, S. 103; Piskotin, Bjudžetnye prava, S. 236298. 48 Die Mindestrente für Invaliden aufgrund einer allgemeinen Erkrankung belief sich zu diesem Zeitpunkt auf 36 R (I. Kategorie) bzw. 28,50 R (II. Kategorie). 49 GARF, F. A 413, op. 1, d. 2782, ll. 2122. Osin, Ponjatie, S. 135, rechtfertigt die Leistungsdifferenz ebenfalls mit dem fehlenden Arbeitsbeitrag der Beihilfeempfänger: „Die Renten sind eine ,verdiente)ދRUPGHU9HUVRUJXQJEHLGHQ%HLKLOIHQHQWIlOOWGLHVHUYHUELQdende Aspekt, und seine Abwesenheit kommt auch im Wesen der beihilfeartigen Zahlungen zum Ausdruck. [...] Die monatlichen Beihilfen stellen eine Hilfeleistung für ,noch oder bereitsދ arbeitsunfähige Bürger dar und können die Qualität der Rentenversorgung nicht erreichen; sie nähern sich lediglich deren Mindestniveau an.“ 50 So bemerkte der erwähnte Krivenko auf der Mitarbeiterkonferenz von 1960: „Wenn wir eine Beihilfe von 85 R* gewähren, was bringt das denn überhaupt?“ GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 75. Auch kritisierten die Vorsitzenden der Exekutivkomitees der Deputiertenräte der Stavropoler Region und des Astrachaner Gebiets im Mai 1963 gegenüber dem Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung, dass Leistungen in einer Höhe von 8,50 R, die den aus der Türkei in die UdSSR übergesiedelten Molokanen und Nekrassow-Kosaken ausgezahlt wurden, nicht zum Lebensunterhalt ausreichten. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3696, ll. 211 u. 213215; F. R 9553, op. 1, d. 1382, ll. 241, 244 u. 246.
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anzuheben.“51 Trotz solcher Äußerungen erfuhren die gesetzlichen Regelungen, auf denen die Erteilung der monatlichen Beihilfen basierte, im Bearbeitungszeitraum keinerlei Korrektur.52
4.3. DIE ZAHL DER SOWJETBÜRGER OHNE RENTENUND BEIHILFEANSPRUCH ZAHL DER SOWJET BÜRGE R OHNE RENTEN- UND BEIHILFEAN SPRUCH
ZAHL DER SOWJE TBÜ RGER OHN E RENT EN- UND BEIHILFEANSPRU CH
Wie groß derjenige Teil der älteren Sowjetbevölkerung, der keine regelmäßige monatliche Leistung erhielt, tatsächlich war, lässt sich nicht zweifelsfrei klären. Die Volkszählungen von 1959 und 1970 informieren zwar über die Gesamtzahl der Sowjetbürger im Alter von mindestens 55 bzw. 60 Jahren.53 Jedoch ist nicht mit Genauigkeit zu eruieren, wie viele Empfänger der diversen Rentenformen dieser Altersklasse nun jeweils angehörten: Während sich ein nicht geringer Prozentsatz der über Invalidenrente, persönliche Rente und andere Rentenformen versorgten Menschen im Rentenalter befand, war dies bei einem Teil derjenigen Altersrentner, die Vergünstigungen erfahren hatten, nicht der Fall. Auskunft über die Zahl der Nichtrentenberechtigten gibt allein ein 1968 verfasster GoskomtrudBericht über Planungen zur Anhebung des allgemeinen Lebensstandards in den Jahren 1971–1975. In ihm wurden die Kosten einer einjährigen Versorgung von Nichtrentenberechtigten mit Leistungen in der Höhe von 30 R auf insgesamt 5 Mio. R taxiert. Man ging folglich von einer Bezieherzahl von weniger als 14.000 Menschen aus. Eine solche Zahl ist allerdings nur begrenzt aussagekräftig, da die Verfasser des Berichtes lediglich die Absicherung von Personen in Berufen aus dem nichtkollektivwirtschaftlichen Bereich, die der staatlichen Sozialversicherung bisher nicht unterlagen, beabsichtigten. Bürger, deren Problem in der Nichterfüllung der staž-Anforderungen bestand, blieben hier außen vor.54 Nur ein westlicher Autor versucht sich an einer Quantifizierung der Nichtversorgten im Bearbeitungszeitraum, ist dabei aber gezwungen, mit recht freien Schätzungen vorlieb zu nehmen: Alastair McAuley nimmt an, dass 1959 neben dem Gros betagter Kolchosbauern auch etwa die Hälfte der Arbeiter und Angestellten auf eine Versorgung verzichten musste. Für das Jahr 1970 hält er es für wahrscheinlich, dass – die Artelmitglieder nicht einberechnet – zwischen sechs und sieben Millionen Sowjetbürger unversorgt waren.55 51 Zacharov, Obespeþenie, S. 129. 52 Erst 1985 beschloss der Gesetzgeber ihre Anhebung auf 30 R. Vgl. die Verordnung des ZK der KPdSU, des Ministerrats der UdSSR und des VCSPS vom 14. Mai 1985 „Über die vordringlichen Maßnahmen zur Verbesserung des materiellen Wohlstands unterversorgter Rentner und Familien sowie zur Verstärkung der Sorge um alleinstehende hochbetagte Bürger“ (SP SSSR, 1985, Nr. 17, Pos. 80). Vgl. auch Frolova Egorova, Posobija, S. 168. 53 Vgl. Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 2, S. 1213. 54 Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2136, l. 118. 55 Vgl. McAuley, Economic Welfare, S. 276. „1970 stellten [...] die Altersrentner fast zwei Drittel der Menschen im Rentenalter. Zieht man in Betracht, dass einige eine andere Rentenart erhielten, so profitierten vielleicht drei Viertel oder vier Fünftel der Bevölkerung über 60
Zahl der Sowjetbürger ohne Renten- und Beihilfeanspruch
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Mit Hilfe der in den SPU von 1959 und 1972 enthaltenen Informationen über die altersspezifische Verteilung verschiedener Rentnerkategorien lassen sich nun konkretere Überlegungen zur Anzahl der unberücksichtigten Sowjetbürger im Rentenalter anstellen (Tab. 4b). Das zu dieser Frage ausgewertete Sample der SPU von 195956 umfasst mit 1.721.442 männlichen und weiblichen Rentenbeziehern 8,6 % aller damaligen Sowjetrentner. Während hier 89,57 % der Altersrentner älter als 55 bzw. 60 Jahre sind, beläuft sich der entsprechende Wert bei den Invalidenrentnern lediglich auf 22,64 %. Korrespondierende Größenverhältnisse lassen sich des Weiteren für die Hinterbliebenenrentner (47,59 %), die Dienstaltersrentner (27,64 %) sowie für die Kriegsinvaliden- und Kriegshinterbliebenenrentner (44,57 %) errechnen. Eine Aussage zur Gesamtzahl sowjetischer Rentenund Beihilfenempfänger in der betreffenden Altersgruppe wird nun möglich, indem man die Prozentwerte auf den absoluten Umfang der einzelnen Rentnerkategorien überträgt, wie er sich aus dem ZVS-Jahresbericht für das Jahr 195957 ergibt. Leider bietet die erwähnte SPU keinerlei Informationen über die altersbezogene Differenzierung der Bezieher der übrigen Rentenarten, wie etwa der persönlichen Renten, der Zuwendungen für Offiziere und Unteroffiziere, für Wissenschaftler und darstellende Künstler oder der Bezieher monatlicher Beihilfen für Nichtrentenberechtigte. Für diese Gruppen kann der Anteil der Leistungsbezieher jenseits der Altersgrenze von 55 bzw. 60 Jahren nur vermutet werden: Im Rahmen einer sehr konservativen Schätzung soll hier unter der Annahme, dass die entsprechende Proportion nicht geringer ausfiel als bei den Invalidenrentnern, mit einer Maßgabe von 22,64 % kalkuliert werden. Überträgt man diese Größenverhältnisse nun auf die Gesamtrentnerzahl von 1959, gelangt man zu dem Ergebnis, dass 9.054.224 Menschen bzw. 45,46 % aller Leistungsbezieher das Rentenalter erreicht hatten. Da die Volkszählung desselben Jahres 25.500.902 Bürger der UdSSR als der betreffenden Altersgruppe zugehörig ausweist, lässt sich demzufolge behaupten, dass von diesem Teil der Bevölkerung im Jahr 1959 insgesamt 16.446.678 Personen (64,49 %) einer staatlichen Versorgungsleistung entbehrten. Bis Anfang der siebziger Jahre reduzierte sich der Anteil der Unversorgten unter den älteren Bürgern in beträchtlicher Weise. Ersichtlich wird eine solche Entwicklung, wiederholt man die soeben dargestellten Kalkulationen für das Jahr der folgenden Volkszählung. 1970 selbst wurde zwar keine Analyse der altersspezifischen Differenzierung sowjetischer Leistungsempfänger durchgeführt. Allerdings bietet die SPU von 1972 entsprechende Daten, die – unter der Annahme, (55) von staatlicher finanzieller Hilfe [...]. Das bedeutet jedoch immer noch, dass etwa sechs oder sieben Mio. ältere Sowjetbürger vollständig auf ihre Ersparnisse oder das Einkommen ihrer Verwandten angewiesen sind [...].“ Madison, The Soviet Pension System, S. 171, stellt ebenfalls Überlegungen zur Größe des entsprechenden Kontingents an. Diese konzentrieren sich jedoch mit dem Jahr 1975 auf einen Zeitpunkt, der außerhalb der hier relevanten Periode liegt. Die Autorin errechnet einen Anteil der Unversorgten an der Bevölkerung im Rentenalter in Höhe von 13–15 %. Dies entspräche einer Größenordnung von 5,0–5,8 Mio. Menschen. Vgl. auch dies., Soviet Income Maintenance Programs, S. 7778, Anm. 42. 56 RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 958, ll. 115117. 57 RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 583, ll. 11 ob.
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Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
dass in den zwei vorangegangenen Jahren keine grundlegenden Verwerfungen stattgefunden haben – für diesen Zweck operationalisiert werden können. Anders als die Stichprobe von 1959 hält die zweite Erhebung, die mit 3.139.372 Rentnern etwa 7,5 % aller sowjetischen Rentner abdeckt, zwar detaillierte Angaben zum Anteil der Staatsaltersrentner (94,54 %) und der Kolchosrentner (94,42 %) jenseits der Altersgrenze von 55 bzw. 60 Jahren bereit; für die Invaliden-, Hinterbliebenen- und anderen hier erfassten Rentner kann ihr jedoch lediglich ein Pauschalsatz von 29,01 % entnommen werden.58 Er wird im Rahmen der Schätzung ebenfalls für die übrigen, von der SPU unberücksichtigten Rentnerkategorien sowie die Beihilfenempfänger verwendet. Die Kalkulation ergibt, dass sich Anfang der siebziger Jahre mit geschätzten 28.167.739 Personen 70,22 % aller sowjetischen Leistungsbezieher im Rentenalter befanden. Verglichen mit der Gesamtzahl der Sowjetbürger dieses Alters, die sich 1970 laut Volkszählung auf 36.254.586 bezifferte, ist folglich zu konstatieren, dass nunmehr noch 8.086.847 Menschen auf Geldbeträge von Seiten des Staates verzichteten. Der Anteil der Unversorgten an der hier relevanten Altersgruppe lag damit bei 22,31 %, was immerhin beinahe eine Drittelung des Wertes von 1959 bedeutete.59 Ein solcher Zuwachs an Reichweite ist freilich in erster Linie auf die Inklusion der älteren Kolchosbauern in die Rentenversorgung zurückzuführen. Die schätzungsweise mehr als acht Millionen Bürger, die 1972 weder Rente noch monatliche Beihilfe bezogen, stellen eine Größenordnung dar, die belegt, wie weit man auch zu diesem Zeitpunkt noch von einer universalen Absicherung der Alten und Arbeitsunfähigen entfernt war. Es ist allerdings davon abzusehen, die Unversorgten pauschal mit jenen Sowjetbürgern gleichzusetzen, die sich in einem Zustand bitterer Altersarmut befanden. Zum einen ist zu bedenken, dass hier gleichfalls Personen berücksichtigt werden, die ihre Berufstätigkeit in gewohnter Weise über das 55. bzw. 60. Lebensjahr hinaus fortsetzten und in voller Absicht auf die Beantragung der Altersrente verzichteten.60 Zum anderen ist der Nichtbezug einer Leistung ebenso wenig wie der Erhalt einer nur geringfügigen Unterstützung zwangsläufig mit Bedürftigkeit gleichzusetzen. Speziell vor dem Hintergrund dessen, dass viele Nichtrentenberechtigte weiblichen Geschlechts waren, ist davon auszugehen, dass zumindest für manche von ihnen im Alter eine Versorgung über das Einkommen des Ehepartners oder Unterstützungsleistungen von Seiten gegebenenfalls vorhandener Kinder zustande kam.
58 Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 48, d. 1397, l. 296, 302 u. 350351. 59 Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 139, zufolge betrug der Rentneranteil an der Bevölkerung im Rentenalter 1968 38 % und 1973 67 %. 60 Erklären lässt sich ein solches Verhalten einerseits mit der Tatsache, dass diese Menschen wegen eines zu hohen Verdienstes aus der Weiterarbeit keine Rentenleistung beziehen konnten. Sie mochten es zudem andererseits vorziehen, noch nicht als Rentner zu gelten, und sich solcherart den früheren Status und die bekannte Lebensweise zu bewahren. Vgl. Šapiro, ýelovek, S. 1617.
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Zahl der Sowjetbürger ohne Renten- und Beihilfeanspruch
Tab. 4b: Sowjetbürger im Rentenalter, die keine monatliche Leistung bezogen (1959 und 1970) 1959 Anzahl der Personen im Gesamtzahl Rentenalter (SPU von 1959)*
1970
Gesamtzahl
Anzahl der Personen im Rentenalter (SPU von 1972)*
Staatsrentner Altersrentner
4.006.528a
3.588.647 (89,57 %)
13.185.378b
12.465.456 (94,54 %)
Invalidenrentner
4.367.098a
988.711 (22,64 %)
4.743.562b
1.376.107 (29,01 %)
Hinterbliebenenrentner
2.287.831a
1.088.779 (47,59 %)
4.543.460b
1.318.058 (29,01 %)
Kriegsinvaliden- u. Kriegshinterbliebenenrentner
5.835.149c
2.600.726 (44,57 %)
3.190.429d
925.543 (29,01 %)
259.688a
71.778 (27,64 %)
210.841b
61.165 (29,01 %)
––
––
12.062.375e
11.389.294 (94,42 %)
3.160.706f
715.584 (22,64 %)
2.178.955g
632.115 (29,01 %)
19.917.000h
9.054.224 (45,46 %)
40.115.000h
28.167.739 (70,22 %)
Dienstaltersrentner Kolchosrentner (inkl. Altersrentner) Übrige Rentner (Offiziere, persönl. Rentner, Wissenschaftler etc.) und Bezieher mon. Beihilfen Sämtliche Rentner und Bezieher monatlicher Beihilfen für Nichtrentenberechtigte Sowjetbevölkerung im Rentenalter Menschen im Rentenalter ohne Renten und Beihilfen Gesamtbevölkerung Anteil der Personen ohne Leistung an Sowjetbev. im Rentenalter Anteil der Personen o. Leistung an Gesamtbevölkerung
25.500.902i
36.254.586i
16.446.678
8.086.847
208.826.650
i
241.720.134i
64,49 %
22, 31 %
7,88 %
3,35 %
* Schätzung. Quelle: a RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 583, ll. 11 ob. b RGAƠ, F. 1562, op. 46, d. 1690, ll. 11a ob. c Errechnet auf Grundlage von RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 583, l. 1 ob. d Errechnet auf Grundlage von RGAƠ, F. 1562, op. 46, d. 1690, l. 1a. e RGAƠ, F. 1562, op. 46, d. 1691, l. 20. f Differenz zwischen der Gesamtrentnerzahl auf der einen und der Summe von „1.1.“ und „1.2.“ auf der anderen Seite. e Differenz zwischen der Gesamtrentnerzahl auf der einen und der Summe von „1.1“, „1.2.“ und „1.3.“ auf der anderen Seite. h Stiller, Die sowjetische Rentenversicherung, S. 87. i Siehe Tab. 1c.
300
Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
4.4. DAS ALTENHEIM ALS AUSFALLBÜRGE FÜR NICHTRENTENBERECHTIGTE ARBEITER UND ANGESTELLTE Eine Möglichkeit der Versorgung jener älteren Menschen, die keine zum Leben ausreichende finanzielle Unterstützung bezogen, war die Unterbringung in einem der Alten- und Invalidenheime des Landes. Für den Staat, der die für eine Gewährung der „vollen staatlichen Versorgung“ notwendigen Finanzmittel aufzubringen hatte, bedeutete dies eine im Vergleich zur Rentenzahlung ungleich kostspieligere Variante der Alterssicherung.61 Ihre Funktion als letzte sich im Rahmen des sozialen Sicherungssystems bietende Möglichkeit der existentiellen Absicherung übten die Pflegeheime gewissermaßen in verdeckter Weise aus, richtete sich ihr Angebot offiziellem Sprachgebrauch zufolge doch vorrangig an alte und invalide Bürger, deren Betreuung nicht von Verwandten bestritten werden konnte. Die Problemlage, der es Abhilfe zu schaffen galt, bestand dieser Lesart zufolge eher in der Pflegebedürftigkeit als in dem Fehlen einer Existenzgrundlage. Ein Beispiel für eine derartige Sichtweise bietet etwa Chrušþevs Rechenschaftsbericht vor dem XX. Parteitag der KPdSU, in dem er über die Wichtigkeit des Baus neuer Altenheime referierte: „Es ist dringend notwendig [...], sich verstärkt um die Versorgung jener Bürger zu kümmern, die alleinstehend sind oder aus irgendwelchen Gründen nicht in der Familie leben können. Für sie sollen Häuser gebaut werden, wo sie, die zeit ihres Lebens ehrlich gearbeitet haben, einen wirklich ruhigen, versorgten Lebensabend erfahren können.“62
In dem bereits angeführten Schreiben an das Präsidium des ZK der KPdSU, in dem der Erste Sekretär im Oktober 1955 jene Themen diskutiert hatte, die es in den Rechenschaftsbericht aufzunehmen gelte, hatte er allerdings offen auf die schwierige materielle Lage der für die Unterbringung in Frage kommenden Bürger hingewiesen. Die Notwendigkeit des Heimbaus wurde hier damit erklärt, dass die alleinstehenden alten Menschen „unter äußerst schlechten Bedingungen leben. Man muss ihnen mehr Aufmerksamkeit und Fürsorge zukommen lassen, Altenheime bauen und dafür gute Grundstücke zur Verfügung stellen, z. B. in Sowchosen oder in Datschengegenden.“63
Im Rahmen des sowjetischen Systems der institutionellen Alten- und Behindertenbetreuung waren – in Abhängigkeit von der zugrundeliegenden Finanzierung – drei Kategorien von Einrichtungen zu unterscheiden. Das Gros stellten die staatlich finanzierten Einrichtungen, zu denen sowohl die der Allgemeinheit zugedachten und von den Organen der Sozialversorgung verwalteten Heime zählten als auch jene Institute, die von einzelnen Betrieben, Verbänden oder Branchenministerien unterhalten wurden. Daneben wurde seit Ende der 1960er Jahre verstärkt an der Ein61 Schenkt man den hierzu veröffentlichten Zahlen Glauben, so lagen die durchschnittlich pro Heimbewohner anfallenden Kosten 1962 bei monatlich 50 R, 1968 bei 61,41 R und 1972 schließlich bei 75 R. Vgl. Hayenko, Social Security, S. 74; Tulisov, Razvitie, S. 48. 62 Chrušþev, Otþetnyj doklad, S. 72. 63 RGANI, F. 1, op. 2, d. 3, l. 89.
Das Altenheim als Ausfallbürge
301
richtung von entgeltlichen „Pensionaten“ für alte Menschen gearbeitet. Die Kosten des Aufenthalts in diesen Institutionen waren von den Bewohnern selbst oder ihren Angehörigen aufzubringen.64 Schließlich existierten drittens auf dem Land Heime, die von einzelnen Kollektivwirtschaften oder von mehreren gemeinschaftlich betrieben wurden.65 Hinsichtlich ihrer Funktion bzw. des von ihnen bedienten Personenkreises lassen sich drei Typen von Heimen differenzieren: a) Heim-Internate der allgemeinen Art, die sich an erwachsene Arbeitsunfähige richteten; b) Einrichtungen, die auf die Unterbringung minderjähriger Personen mit Behinderungen spezialisiert waren; c) Betreuungsanstalten für Menschen mit psychischen Erkrankungen.66 Die Voraussetzungen für eine individuelle Aufnahme in ein Alten- oder Invalidenheim regelten Statuten, die in die legislative Kompetenz der Unionsrepubliken fielen. Allgemein bestanden sie in dem Erreichen des Rentenalters oder dem Nachweis einer Invalidität der I. oder II. Kategorie. Als ergänzende Bedingungen galten zum einen die erwähnte Abwesenheit von unterhaltspflichtigen Angehörigen, zum anderen die nicht vorhandene Notwendigkeit einer stationären medizinischen Behandlung. Für die Ausstellung der Berechtigungsscheine, auf deren Grundlage die jeweiligen Heimleitungen die Unterbringung des Einzelnen in die Wege leiten konnten, waren die örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung zuständig.67 Relevant für die Funktion der Heime als Ausfallbürgen bei drohender Unterversorgung war nun die Tatsache, dass „in Ausnahmesituationen“ auch die Aufnahme von Personen möglich war, die über arbeitsfähige Familienmitglieder verfügten. In solchen Angelegenheiten war die Einholung einer speziellen Erlaubnis notwendig, die ebenfalls von den Organen der Sozialversorgung einzuholen war.68 Die Methode, nichtrentenberechtigte alte und invalide Menschen über die Einweisung in eine solche Einrichtung vor der Armut zu bewahren, wird zumindest von Zacharov offen benannt: „Eine tiefgehende Untersuchung verdient auch das in unserem Lande entstandene System der Versorgung von alten und arbeitsunfähigen Bürgern, die aus irgendwelchen Gründen kein Anrecht auf den Erhalt einer staatlichen Rente besitzen, jedoch angesichts unzureichender materieller Versorgtheit dringend der Hilfe des Staates bedürfen. Bekanntermaßen können solche Menschen auf ihren Wunsch in Einrichtungen der Sozialversorgung untergebracht werden – speziell für Alte und Invaliden geschaffene Internate –, wo sie im vollen Umfang staatlichen Unterhalt und Betreuung erfahren.“69
64 Für die RSFSR vgl. die Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 9. Januar 1969 „Über die entgeltlichen Pensionate für hochbetagte Bürger“ (SP RSFSR, 1969, Nr. 23, Pos. 9); Eršova, Opeka, S. 6668. 65 Zu den Alten- und Invalidenheimen für Kolchosmitglieder siehe den folgenden Abschnitt. 66 Zur Kategorisierung sowjetischer Altenheime vgl. Fogel’, Social’noe obsluživanie, S. 44; Kogan, Socialތnoe obsluživanie, S. 40; Aþarkan, Art. Dom-internat. 67 Vgl. Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 90. 68 Vgl. Karcchija, Pravila, S. 125126. 69 Zacharov, Obespeþenie, S. 113. In dieselbe Richtung weist V. S. Kogans Beobachtung, dass Personen, die einer alten- oder behindertengerechten Betreuung in ihrer häuslichen Situation entbehrten, erst zu Beginn der achtziger Jahre die wichtigste Klientel sowjetischer Heimversor-
302
Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
Mit der Aufgabe, die Unversorgten aufzufangen, war die institutionelle Alten- und Invalidenbetreuung – „schon immer eine Schwachstelle im sowjetischen System sozialer Sicherung“70 – in Wirklichkeit hoffnungslos überfordert: Weder entsprachen die Bausubstanz und die Qualität der vorhandenen Gebäude in der Regel den Mindeststandards einer menschenwürdigen Betreuung noch verfügten die Heime über Aufnahmekapazitäten, die dem in der Bevölkerung bestehenden Bedarf auch nur annähernd entsprochen hätten. Sicherlich gab es in der Sowjetunion Einrichtungen, in denen die Verhältnisse einem Niveau entsprachen, das man ausländischen Besuchern präsentieren konnte, ohne befürchten zu müssen, dass das nach außen projizierte Bild der „sozialistischen Humanität“ Schaden nehmen könnte.71 Solche Häuser können jedoch nicht als exemplarisch für die Situation bedürftiger Menschen angesehen werden, die häufig gerade nicht in speziell zu diesem Zweck entworfenen Domizilen untergebracht waren. Stattdessen adaptierte man nicht selten vorhandene Strukturen, die sich für den Aufenthalt nicht eigneten. Solche Mängel figurieren prominent in Klageschreiben von Betroffenen, aber auch in kritischen Bestandsaufnahmen der verantwortlichen Organe selbst. In einem 1960 für die Sozialversicherungsabteilung des VCSPS verfassten Bericht über die Situation in den Heimen der RSFSR verwies der Autor I. Soldatenkov auf die für die in ihnen lebenden Alten, Invaliden und Kinder wenig geeigneten Bedingungen: „Sie sind in der Regel in umgebauten Gebäuden ehemaliger [...] Gutshäuser, die viele Jahre zuvor gebaut worden sind, untergebracht, in früheren Lagern, Forstwirtschaftsbetrieben und Bauernhütten, von denen viele sich in einem einsturzgefährdeten Zustand befinden. Von solchen Häusern gibt es in der RSFSR 101, und in ihnen leben 17.800 Menschen.72 [...] In einer äußerst schwierigen Lage befindet sich das Invalidenheim von Klinzy (Gebiet Brjansk) mit 110 Plätzen [...], das sich in einem Backsteinhaus aus dem Jahr 1896 und anderen aus der Vorkriegszeit stammenden Gebäuden mit hinterfüllten Skelett-Tragwerken befindet, die wegen ihrer Instabilität nicht instand gesetzt werden. In dem Heim gibt es weder eine Dampfheizung noch eine Kanalisation oder eine Wasserleitung. Die gleiche Situation findet sich in den meisten Gebieten, Regio-
gung stellten. „Früher“, so bemerkt er in einer Rückschau, „gingen in erster Linie Rentner ins Heim, die unter einem unzureichenden Niveau materiellen Wohlstandes oder schlechten Lebensbedingungen litten.“ Kogan, Socialތnoe obsluživanie, S. 33. Westliche Autoren äußern entsprechende Vermutungen schon früher. So befindet Madison, Social Welfare, S. 208, dass sich die Maßnahmen unter der Hand vor allem an arme Bürger richteten: „[...] obwohl die Bestimmungen feststellen, dass es die ,Alleinstehenden ދunter den Rentnern sind, die einen vorrangigen Anspruch auf Anstaltsfürsorge besitzen, ist es offensichtlich, dass die Heime viele aufnehmen, die zwar nicht alleinstehend sind, deren gesamte Ersparnisse gemeinsam mit ihren Renten jedoch nicht ausreichen, um die bloße Existenz zu sichern.“ 70 Stiller, Sozialpolitik, S. 67. 71 So besuchten die Teilnehmer einer Delegation der US-amerikanischen Social Security Administration, die 1958 die UdSSR bereiste, um einen Eindruck vom sowjetischen Sozialsystem zu gewinnen, sechs Altenheime, die allesamt „gut ausgestattet“ waren. Dafür, dass die Repräsentativität dieser Einrichtungen zu bezweifeln ist, spricht allerdings der Umstand, dass sich unter ihnen ein Heim für alternde Schauspieler, eines für „Veteranen der Bühne“ und eine Einrichtung, die als Bestandteil des Kiewer Zentrums für Gerontologie geplant war, befanden. Vgl. U.S. Department of Health, A Report, S. 9396. 72 Diese Zahlen entsprechen etwa 15 % aller Ende 1959 in der RSFSR vorhandenen Heime und 17 % der in ihnen untergebrachten Menschen. Siehe Tab. 4c.
Das Altenheim als Ausfallbürge
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nen und autonomen Republiken. Viele Alten- und Invalidenheime (85 %) haben keine Zentralheizung, mehr als die Hälfte keine Wasserleitung; in 42 Häusern gibt es keine Elektrizität.“73
Trotz des vorhandenen Wissens um die gravierenden Unzulänglichkeiten der Ausstattung und Bausubstanz konnten diese in den folgenden Jahren nur langsam und nicht vollständig behoben werden. So zeichnete Sergej P. Trapeznikov, Leiter der ZK-Abteilung für Wissenschaft und Lehranstalten, dem Zentralkomitee der KPdSU im September 1967 ein nur geringfügig verbessertes Bild der Zustände in den Betreuungseinrichtungen: Viele der u. a. in vormaligen Baracken und Klostergebäuden untergebrachten Heime seien aufgrund der langjährigen Nutzung baufällig, zum Teil gänzlich unbewohnbar. Von den sich auf dem Gebiet der RSFSR befindenden Heimen würden 44,8 % einer Wasserleitung, 68,6 % einer Kanalisation und 62,3 % einer Zentralheizung entbehren.74 Derartige Beobachtungen wurden flankiert von Briefen, in denen die Bürger selbst ihrer Befremdung Ausdruck verliehen. So heißt es etwa in einer Aufstellung, die im Februar 1966 vom Empfangszimmer des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR verfasst wurde: „Beachtung verdienen auch die Briefe von Bürgern, die sich in Alten- und Invalidenheimen befinden und darüber beklagen, dass [...] in vielen Einrichtungen unabdingbare kommunale Bequemlichkeiten fehlen: Wasserleitungen, Kanalisation, Zentralheizungen, Badestuben, Waschküchen und Ähnliches mehr. In den Briefen wird betont, dass es Alten und Invaliden besonders schwer falle, solche Unannehmlichkeiten zu ertragen. Wie die Überprüfung [dieser Hinweise] ergeben hat, ist die Mehrheit der von Alten und anderen Arbeitsunfähigen eintreffenden Klagen begründet.“75
Die Missstände blieben – zumindest für die RSFSR ist dies zu konstatieren – nicht ohne Reaktion. 1968–1970 wurden in der größten Unionsrepublik 49 Mio. R in die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Einrichtungen investiert.76 Diese Anstrengungen mögen einigen Erfolg gezeitigt haben. Allein, die Instandsetzungsmaßnahmen konnten bei weitem nicht überall für Abhilfe sorgen. Wie der Autor eines Schlussberichtes zum Erfolg der durchgeführten Maßnahmen bemerkte, musste auch Anfang 1971 noch in einem Viertel aller Alten- und Invalidenheime auf fließendes Wasser und eine Zentralheizung verzichtet werden, während gar 50 % weiterhin einer Kanalisation ermangelten. Mitverantwortlich für das 73 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 910, l. 54. 74 Vgl. RGANI, F. 5, op. 59, d. 50, l. 251. Das Problem der ausbleibenden Versorgung mit fließendem Wasser konnte freilich auch für den Rest der Bevölkerung bis zum Ende der Sowjetunion nicht gelöst werden. Vgl. Merl, Konsum, S. 523; Eaton, Daily Life, S. 158; Grušin, ýetyre žizni Rossii. Ơpocha Brežneva (þast’ 1-ja), S. 349350. 75 GARF, F. R 7523, op. 83, d. 41, ll. 2021. Zwischen 1961 und 1965 gingen beim Obersten Sowjet der UdSSR 4.092 Briefe ein, die den Aufenthalt arbeitsunfähiger Personen in den Heimen des Landes zum Thema hatten. Vgl. auch RGANI, F. 5, op. 60, d. 56, l. 111: Die Anzahl jener Alten und Invaliden, die in für die Bewohnung ungeeigneten Unterkünften wohnten, belief sich im Oktober 1968 auf etwa 6.000 Menschen. 76 Vgl. die Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 13. Dezember 1967 Nr. 915 „Über die Maßnahmen zur Ausweitung des Systems der Heim-Internate für Alte und Invalide und die Verbesserung der Lebensbedingungen in diesen Häusern“.
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Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
Fortbestehen dieses Problems war die Tatsache, dass die Ausdehnung des Heimnetzes abermals vor allem auf der Nutzbarmachung funktionsfremder Gebäude basiert hatte.77 Kennzeichnend für den Alltag der Heimbewohner war zudem die Bescheidenheit einer Verpflegung, die auf niedrig angesetzten Kaloriennormen basierte.78 Ihre Betreuung oblag ferner Pflegekräften, die – schlecht bezahlt und ohne eine spezialisierte Ausbildung von ausreichender Güte – nicht selten ein unmotiviertes bis grobes Gebaren gegenüber den ihnen Anvertrauten manifestierten.79 Des Weiteren war der Aufenthalt in einem Heim für jene Menschen, die gesundheitlich dazu befähigt waren, oft auch mit dem Ausüben von Arbeitstätigkeiten verbunden. Möglich war hier etwa ein Einsatz im Rahmen der Nebenwirtschaft der Einrichtung oder in Heilungs- und Betriebswerkstätten.80 Angesichts der prekären finanziellen Ausstattung der meisten Heime ist davon auszugehen, dass ihre Leitungen solcher Arbeitstätigkeit aufgrund der mit ihr verbundenen Zusatzeinkünfte eine hohe Priorität beimaßen. Vermutlich resultierte hieraus eine auf die Weiterarbeit bezogene Erwartungshaltung, der sich ein Insasse kaum zu entziehen vermochte.81 Ein zusätzlicher Faktor, der erheblich zur Minderung der Lebensqualität beitrug, war die Überbelegung der Einrichtungen, ebenfalls ein rekurrierendes Motiv in Beschwerden an das Präsidium des Obersten Sowjets.82 Vorgesehen war eigentlich, dass dem Individuum ein Wohnraum von mindestens 4 m² zur Verfügung stand.83 Viele Heime vermochten jedoch selbst diese bescheidene Vorgabe
77 62,4 % der in der RSFSR vorhandenen Heime seien in solchen umfunktionierten Bauten eingerichtet worden. Vgl. GARF, F. A 259, op. 45, d. 6725, l. 1. 78 Vgl. Stiller, Sozialpolitik, S. 69; U.S. Department of Health, A Report, S. 95. 79 Kaum schmeichelhaft fiel etwa das Resümee einer 1973 durchgeführten gewerkschaftlichen Untersuchung sowjetischer Heime aus: „[...] in einer Reihe von Heimen [...] fehlt es an Ausrüstung und Inventar, wird die Ernährung, speziell die Diätkost, schlecht organisiert. Gleiches gilt für die Arbeitstherapie. Von Seiten des Pflegepersonals werden Verletzungen der Arbeitsdisziplin und Grobheiten im Umgang mit den Alten und Invaliden zugelassen.“ GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2924, l. 360. Vgl. auch Madison, Social Welfare, S. 192. 80 50 % des durch diese Beschäftigung erarbeiteten Lohnes durften behalten werden, der Rest ging an die Heimverwaltung. Vgl. Karcchija, Pravila, S. 129. 81 Den Teilnehmern der US-Delegation von 1958 wurde von sowjetischer Seite mitgeteilt, dass 70 % der Heimbewohner in der RSFSR auf diese Weise arbeitstätig seien. Vgl. U.S. Department of Health, A Report, S. 94. Sowjetische Autoren begrüßen derartige Aktivitäten als arbeitstherapeutische Maßnahmen, die dem „in der Natur des Menschen liegenden Bedürfnis nach Arbeit und Tätigkeit“ entgegenkämen. Galkin, Trudovaja terapija, S. 23. Vgl. auch Lovell, Soviet Russiaތs Older Generations, S. 213. 82 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 83, d. 41, l. 21; RGAƠ, F. 7733, op. 58, d. 749, l. 63. 83 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 58, d. 749, l. 65. Dass diese Maßgabe auch aus sowjetischer Sicht als sehr niedrig angesetzt gelten musste, legt eine Untersuchung des Kiewer Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für experimentelle Projektierung nahe, der zufolge sich der Mindestwohnraum eines Heimbewohners auf 9–12 m² belaufen sollte. Vgl. Kogan, Socialތnoe obsluživanie, S. 32. Eine solche Fläche hätte den Mitte der 1950er Jahre in den Sowjetrepubliken geltenden Normen zur Größe der Wohnfläche entsprochen, die einer Einzelperson zustehen sollte. Vgl. Baru, Žilišþnye prava, S. 4445.
Das Altenheim als Ausfallbürge
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nicht zu erfüllen. Laut Sozialversorgungsministerium der RSFSR unterboten im Jahr 1967 323 Einrichtungen (39,3 %) den Standard.84 Wie nicht zu verwundern vermag, wurde die Überlastung der Heimkapazitäten von einer niedrigen Qualität der medizinischen Betreuung begleitet. So informierte etwa 1963 ein gewerkschaftliches Gebietskomitee den VCSPS von den Mängeln im Alten- und Invalidenheim der Stadt Magadan: „Im Zuge der Überprüfung wurde eine Reihe von Fehlern bei der medizinischen und kulturellen Betreuung der Invaliden festgestellt [...]. Das Magadaner Invaliden- und Altenheim befindet sich größtenteils in umgewandelten Gebäuden mit hinterfüllten Skelett-Tragwerken und Baracken. In den Gebäuden ist es eng. Ein besonders großer Platzmangel herrscht in der Krankenstation des Heimes. In den Zimmern ist es schwül, da sich hier statt [der vorgesehenen] 40 bis zu 60 Menschen befinden.“85
Tab. 4c führt die Angaben zusammen, die über die Anzahl der Altenheime in der UdSSR und der RSFSR zur Verfügung stehen. Zwar stieg die Zahl aller in der Sowjetunion verfügbaren Plätze zwischen 1955 und 1972 in absoluten Zahlen von 131.200 auf etwa 300.000 an, doch nimmt sich der Zuwachs vor dem Hintergrund der Bevölkerungsentwicklung ein wenig bescheidener aus. Kamen Ende 1960 7,4 Unterbringungsmöglichkeiten für Alte und erwachsene Invalide auf 10.000 Sowjetbürger, so verbesserte sich dieser Indikator bis Ende 1970 auf lediglich 9,8.86
84 Ähnliche Zustände waren auch in der Ukrainischen SSR, der Weißrussischen SSR und anderen Republiken zu beobachten. Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 58, d. 749, l. 65. Im Mittel verfügte zu diesem Zeitpunkt jeder Bewohner über einen Wohnraum von 2,3 m². Vgl. RGANI, F. 5, op. 59, d. 50, l. 251. 85 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 910, l. 1. Zu einer gewerkschaftlichen Untersuchung sowjetischer Alten- und Invalidenheime, die noch 1973 zu ähnlichen Ergebnissen kam, vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2924, l. 360. 86 In der Kalkulation werden die Plätze in Einrichtungen für psychisch Erkrankte mit berücksichtigt, da auf die UdSSR bezogen keine Daten zur Zahl allein der Bewohner von Heimen des „allgemeinen Typs“ vorliegen. Dies ist nur für die RSFSR der Jahre 1959 und 1966 der Fall: Hier stieg die Zahl der in den regulären Alten- und Invalidenheimen gegen Ende des Jahres verfügbaren Plätze lediglich von 5,6 auf 6,9 je 10.000 Bewohner der RSFSR. Zu der diesen Variablen zugrundeliegenden Bevölkerungszahl der RSFSR am 1. Januar der Jahre 1960 und 1967 vgl. Naselenie Rossii, S. 4142.
306
Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
Tab. 4c: Die Anzahl der Alten- und Invalidenheime und der in ihnen vorhandenen Plätze (Stand am 31. Dezember) Anzahl der Alten- und Invalidenheime davon: für für minderGesamtzahl Erwachsene jährige [u. a. des Invaliden „allg. Typs“] UdSSR 1940 1950 1955 1960 1963 1965 1966 1970 1971 1972 RSFSR 1940 1955 1959 1960 1962 1963 1965 1966 1969 1970 1971
785a 868a 1.030b 1.237a 1.341c 1.370b 1.420c 1.471a 1.480b 1.490b
177k
1.060h
k
h
285
1.186
Anzahl der vorhandenen Heimplätze davon: für für minderGesamtzahl Erwachsene jährige [u. a. des Invaliden „allg. Typs“] 93.000a 95.000a 131.200e 179.000a 216.978c 249.260c 286.000a 293.000b 300.000i
291k
1.199h
441
79
362
678g 709 750j
? 104
? [411]g 605
811
154
657
62.800 81.800e 105.458g 111.700 126.000j 130.800e 150.200
f
f
f
f
822
155
667 [460]
i
854 861 867
154.600
19.140k
159.860h
46.550k
239.450h
44.640k
255.360h
7.400
55.400
? 11.000
? [67.500]g 100.700
20.300 f
129.900 133.300 [89.300]f
26.600 28.300
155.400 161.000
20.900
i
168 172
693 695
175.000 182.000 189.300
Quelle: Die nicht eigens erläuterten Zahlen zur RSFSR entstammen Zdravoochranenie i social’noe obespeþenie, S. 122. a Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 78. b Stiller, Sozialpolitik, Tab. 8. Abgesehen von der Angabe zum Jahr 1972 handelt es sich hier um Schätzungen des Autors. c RGANI, F. 5, op. 59, d. 50, l. 250. d NCh SSSR za 70 let, S. 439. e Aþarkan, Obespeþenie veteranov truda, S. 89. f GARF, F. R 7523, op. 101, d. 411, ll. 1728, hier l. 18. g GARF, F. R 5451, op. 29, d. 910, ll. 5156, hier l. 51. Die Zahlen beziehen sich laut Text auf den 1. Juli 1960. Hier gehe ich gleichwohl davon aus, dass Mitte des Jahres keine gesonderte statistische Erhebung durchgeführt wurde und dass sich der Wert dementsprechend auf den 31. Dezember 1959 bezieht. h Karcchija, Pravila, S. 124. Die Werte für das Jahr 1972 beziehen sich im Original auf den 1. Januar 1973. i Aþarkan, Art. Dom-internat. j GARF, F. A 413, op. 1, d. 3706, l. 2. k Differenz zwischen den beiden jeweils benachbarten Werten.
Misst man die Entwicklung des Platzangebots nun am Umfang derjenigen Bevölkerungsgruppe, die in ihrer Gesamtheit am ehesten dazu tendierte, von ihm Gebrauch zu machen, so ist sogar ein Rückgang der Kapazitäten zu verzeichnen: Während sich für Ende 1960 behaupten lässt, dass auf einen Heimplatz im Durch-
307
Das Altenheim als Ausfallbürge
schnitt 11,5 alleinstehende Bürger jenseits der Altersgrenze von 60 Jahren kamen, galt diesbezüglich 1970 nur noch ein Verhältnis von 1 : 16,4.87 Die Versorgung der älteren Bevölkerungsteile mit Heimplätzen differierte zwischen 1960 und 1970 beträchtlich in den einzelnen Unionsrepubliken. Tab. 4d verschafft diesbezüglich einen Eindruck, da hier die in den Republiken vorhandenen Heimplätze mit dem jeweiligen Umfang der „älteren“ Bevölkerung kontrastiert werden. Die relativ gesehen größte Anzahl von Betten stand im Baltikum zur Verfügung. Kamen dort auf 1000 betagte Personen 10–14 Unterbringungsmöglichkeiten, so entsprachen die Verhältnisse in der RSFSR (6–7) und der Weißrussischen SSR (5–7) in etwa dem Unionsdurchschnitt. Republiken wie die Kasachische, die Georgische und die Moldawische SSR stellten mit einem Angebot von 12 Plätzen in diesem Vergleich die Schlusslichter dar.
Tab. 4d: Alten- und Invalidenheimplätze in der UdSSR und ihren Republiken (je 1000 ältere Menschen) UdSSR RSFSR Ukrainische SSR Weißrussische SSR Usbekische SSR Kasachische SSR Georgische SSR Aserbaidschanische SSR Litauische SSR Moldauische SSR Lettische SSR Kirgisische SSR Tadschikische SSR Armenische SSR Turkmenische SSR Estnische SSR
1960 5 6 4 5 3 4 1 1 10 2 13 3 4 3 4 14
1965 6 6 4 7 3 4 1 2 11 2 14 4 3 3 4 14
1970 6 7 4 7 3 4 1 1 11 1 14 4 3 2 4 14
Quelle: Kogan, Social’noe obsluživanie, S. 31.
Angesichts der geringen Bettenkapazitäten konnten bei weitem nicht alle Menschen, für die eine Unterbringung in einem Pflegeheim eine Option gewesen wäre, mit einem Einweisungsschein ausgestattet werden. Selbst für jene Menschen, die aufgrund des Grades ihrer körperlichen Versehrtheit oder des Fehlens ander87 Errechnet aus: Itogi vsesojuznoj perepisi 1959 g., S. 248; Itogi vsesojuznoj perepisi 1970 g., Bd. 7, S. 413/DQFHY6RFLDOތQRHREHVSHþHQLHY6665 6 78. Hier handelt es sich um Näherungswerte. Für Anfang 1959 und Anfang 1970 liegen keine Daten über die Menge der Heimplätze vor. Deshalb wurden die über die Volkszählungen vermittelten Angaben zur Zahl der Alleinstehenden mit den Informationen über die Anzahl der in der UdSSR Ende 1960 bzw. Ende 1970 vorhandenen Heimplätze in Beziehung gesetzt.
308
Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
weitiger Versorgungsmöglichkeiten von akuter Not bedroht waren, reichten die vorhandenen Kapazitäten nicht aus. Hinweise auf die enormen Ausmaße des Heimplatzbedarfs bietet die bereits angeführte Darstellung Trapeznikovs: „[...] in den meisten Unionsrepubliken deckt das Netz der vorhandenen Heime nicht den Bedarf der dringend pflegebedürftigen Rentner. Am 1. Januar 1967 blieben mehr als 27.000 Bitten um eine Heimaufnahme unerfüllt. In der Russischen Föderation befinden sich etwa 21.000 Menschen auf der Warteliste, in der Ukrainischen SSR 1.700, in der Weißrussischen SSR 1.300 und in der Kasachischen SSR mehr als 2.000 Menschen.“88
Für andere Jahre liegen entsprechende Daten allein für die RSFSR vor. Bereits im Oktober 1960 belief sich die Zahl der „nicht untergebrachten alleinstehenden Alten“ auf etwa 20.000,89 und noch zu Beginn des Jahres 1971 wurde die Gruppe der akut eine Heimunterbringung benötigenden Menschen auf ca. 19.000 beziffert.90 Allerdings ist daran zu zweifeln, dass diese Werte dem tatsächlichen Bedarf entsprachen. Es ist nicht mehr nachzuvollziehen, inwiefern die Methoden der Mitarbeiter der Organe der Sozialversorgung tatsächlich dazu geeignet waren, jene unter den Antragstellern ausfindig zu machen, die die größte materielle Not litten. Einwände gegen die Vollständigkeit des über diese Werte vermittelten Bildes führte etwa Soldatenkov ins Feld. Er merkte an, dass die ihm für 1960 vorliegende Zahl nur die Alleinstehenden unter den akut Bedürftigen einschließe. Berücksichtigung hätten weder „jene Bürger [erfahren], die über Familien verfügen, jedoch aus vielen Gründen nicht in ihnen leben können, noch betagte Rentnerehepaare, die von der Rente zur vollständigen staatlichen Versorgung [ins Altenheim] wechseln möchten“.91
Die fehlenden Möglichkeiten, alle Hilfsbedürftigen mit einem Bett in einer Betreuungseinrichtung auszustatten, ließen sich schwerlich mit der offiziell postulierten vseobšþnost’ der staatlichen Sozialpolitik in Einklang bringen. Dementsprechend finden sich in den Äußerungen von führenden Vertretern der Sozialbürokratie mitunter Spuren der Beklemmung ob dieser Fehlleistung. Überaus direkt 88 RGANI, F. 5, op. 59, d. 50, l. 250. 89 GARF, A 385, op. 13, d. 1129, l. 14. Dass dieser Wert tatsächlich nicht nur „Alte“, sondern auch Invaliden unterhalb der Rentenaltersgrenze umfasste, legt Soldatenkovs Bericht nahe, dem zufolge sich Anfang desselben Jahres mehr als 16.000 Alte und Erwachsene mit Behinderungen sowie über 3.000 minderjährige Invaliden auf den Wartelisten der Organe der Sozialversorgung befanden. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 910, l. 52. 90 Vgl. GARF, F. A 259, op. 45, d. 6725, l. 1. 91 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 910, l. 52. So stellen N. N. Saþuk und N. N. Lakiza-Saþuk fest: „Aus einer Reihe von Gründen befindet sich nur ein verhältnismäßig geringer Teil alter, alleinstehender Menschen ständig in Einrichtungen dieser Art oder [...] erhält bestimmte Hilfeleistungen von Seiten des Personals der Heim-Internate.“ Problemy požilogo þeloveka, S. 157. An der Korrektheit der bekannten Daten zweifelte 1960 auch M. I. Gladkov, Mitglied der unter dem Dach des Obersten Sowjets der RSFSR eingerichteten Kommission für das Gesundheitswesen und die Sozialversorgung: „Es gibt jene, die den Weg kennen und sich bereits an Sie [die Organe der Sozialversorgung] gewendet haben, aber wie viele Alleinstehende sind irgendwo, irgendwie untergekommen, leben in irgendeiner fremden Familie und tragen die schwere Last der Altersschwäche!“ GARF, F. A 385, op. 13, d. 1129, l. 14.
Das Altenheim als Ausfallbürge
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kam N. A. Murav’eva 1960 auf das Problem zu sprechen. Auf einer Sitzung der Kommission des Obersten Sowjets der RSFSR für das Gesundheitswesen und die Sozialversorgung konstatierte die Ministerin, dass trotz aller bisherigen Erfolge die Zahl der noch nicht untergebrachten Bürger unverändert hoch bleibe: „Wir können noch nicht einmal die elementaren Anliegen des Sowjetmenschen erfüllen. Es gab ja eine spezielle Anweisung der Regierung, dass man, wenn ein Werktätiger aus irgendeinem Grund nicht in der Familie leben kann, ihm einen Platz [in einem Heim] bereitstellen solle, unter malerischen Bedingungen. Man soll ein Altenheim bauen, aber wir setzen ihn auf die Warteliste. Der Mensch hat 30–40 Jahre gearbeitet, und wir können ihm seine Bitte nicht erfüllen. Das ist auch aus politischer Perspektive unvorteilhaft. Der Mensch steht auf der Warteliste und manchmal erlebt er nicht mehr, dass er an die Reihe kommt. Zu uns kommen Leute, die sagen: ,Helfen Sie diesem Alten, ihm fehlt die Kraft, sich ein Brot zu kaufen, sich einen Tee zu kochen. ދWir aber zwingen ihn, auf der Warteliste zu stehen, obwohl ihm sofort ein Platz gegeben werden müsste. Aber dazu sind wir noch überhaupt nicht bereit.“92
Die Gründe für den langsamen und hinter der Bevölkerungsentwicklung zurückbleibenden Ausbau des Heimsystems sind in erster Linie im ausbleibenden politischen Willen bzw. der fehlenden Möglichkeit zu suchen, diesem Ziel die erforderlichen finanziellen Mittel zukommen zu lassen. Deutlich wird dies an der Tatsache, dass die Investitionspläne dem vorhandenen Bedarf nicht entsprachen. Für die unzureichende materielle Grundlage einer Inbetriebnahme neuer Heime spricht bereits das Ausmaß, in dem diese nicht in neuen, ihrer Funktion adäquaten Häusern, sondern in bestehenden Gebäuden installiert wurden, die hygienische Mindeststandards nicht zu erfüllen vermochten. Hierbei handelte es sich offensichtlich um Notbehelfe angesichts ausbleibender staatlicher Hilfen. Den Umfang, in dem die lokalen Mitarbeiter der Sozialversorgung hier auf Eigeninitiative angewiesen waren, illustriert Murav’evas Schilderung einer Regierungssitzung, auf der 1960 die Probleme beim Ausbau des Heimnetzes in der RSFSR thematisiert worden waren. Die Ministerin hatte sich dabei des Vorwurfes zu erwehren gehabt, bei der Materialbeschaffung zu hohe Ansprüche zu stellen: „Genosse Poljanskij [Vorsitzender des Ministerrats der RSFSR; L. M.] erklärte die Gründe für die Schwierigkeiten, und gleichzeitig tadelte er uns heftig: Er warf uns vor, dass wir [...] alles aus Metall herstellen möchten und keine Maßnahmen ergreifen, um [Abflussrohre] aus Holz oder Steingut herzustellen. Er erzählte davon, wie die Krasnodarer dieses Problem entschieden, indem sie Rohre in der Erde fanden. Wir hätten diesbezüglich eine barbarische Haltung. Es herrscht ein großer Mangel an Rohren. Wir können nicht einmal 40 % des Bedarfes decken. Nichtsdestoweniger haben jene Gebietsorganisationen, die nach Rohren gesucht haben, sie auch gefunden. [...] Genosse Poljanskij erklärte, dass die Schwierigkeiten ebenfalls in Zukunft bestehen würden, dass sie ein Resultat unseres Wachstums seien, aber ich wiederhole: Er
92 GARF, F. A 385, op. 13, d. 1129, ll. 186187. Sieben Jahre später verfasste V. P. Barybin, Stellvertretender Minister der RSFSR für Sozialversorgung, einen Bericht über die Reichweite des Heimsystems seiner Republik, den eine ähnliche Tendenz kennzeichnete: „Das Programm der KPdSU sieht die Aufnahme sämtlicher alten und invaliden Arbeitsveteranen vor, die eine solche wünschen. Dennoch ermöglicht das Bettensystem der vorhandenen Heime [...] bei weitem nicht einmal die erforderliche Unterbringung der akut bedürftigen Bürger.“ GARF, F. R 7523, op. 101, d. 411, l. 17.
310
Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch warf uns vor, dass wir nicht selbst alle Maßnahmen ergreifen. Eine ganze Reihe von Beispielen führte er an, in denen man Rohre unter der Erde, im Wasser oder im Schnee gefunden habe.“93
Auch als in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre im größeren Umfang Gelder für den Bau neuer und die Renovierung alter Gebäude zur Verfügung gestellt wurden,94 besaßen diese Vorhaben nur eine begrenzte Reichweite. So entsprachen 1967 die Pläne für die RSFSR, die Ukrainische SSR, die Weißrussische SSR und eine Reihe weiterer Republiken laut M. P. Skljarov, dem damaligen Leiter des Empfangszimmers des Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR, bei weitem nicht dem vorhandenen Bedarf. Beispielsweise sollten in der RSFSR Pflegeheime mit einem Volumen von lediglich 9.256 Betten gebaut werden, während sich allein die Zahl der besondere Not Leidenden auf mehr als das Doppelte belief.95 Problematischer als der Geldmangel erwies sich aber der Umstand, dass die Bauvorhaben oft nur unzureichend umgesetzt, die bewilligten Mittel nicht ausgegeben wurden: 1962 etwa waren bereits im dritten aufeinanderfolgenden Jahr die den Investitionsbau in der RSFSR betreffenden Pläne nicht erfüllt worden. Deshalb hatte die Regierung der Republik die bewilligten Mittel jeweils im vierten Quartal wieder zurückgezogen.96 Ein ähnliches Defizit sollte auch die folgenden Jahre kennzeichnen.97 In dem Umfang, in dem die Verzögerungen auf organisatorische Mängel, auf das Fehlen von Baumaterialien oder Arbeitskräften zurückzuführen waren,98 entsprangen sie natürlich Problemlagen, die das sowjetische Bauwesen jener Jahre in seiner Gesamtheit kennzeichneten.99 Allerdings waren die Rückstände allem Anschein nach ebenfalls der niedrigen Priorität geschuldet, die dem Ausbau des Heimnetzes zugeschrieben wurde. Dem Parteibüro-Sekretär des Sozialversorgungsministeriums der RSFSR Koþnov zufolge war die 1968 registrierte Planuntererfüllung vor allem damit zu erklären, dass „die Unionsministerien, die die Errichtung der Sozialversorgungseinrichtungen leiten, diese Bauvorhaben für zweitrangig erachten“.100 93 GARF, F. A 385, op. 13, d. 1129, l. 4. Dass die solcherart zweitverwerteten Abfluss-Systeme in vielen Fällen diverse Stadien der Verwitterung durchlaufen hatten und solcherart kaum in der Lage waren, flächendeckend das Kanalisationsproblem zu lösen, liegt auf der Hand. 94 Vgl. etwa die Verordnung vom 13. Dezember 1967 (siehe Anm. 76) und die Verordnung desselben Organs vom 15. Juli 1971 Nr. 387 „Über den Gang des Baus, der Instandsetzung und der Einrichtung der Alten- und Invalidenheime“. 95 Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 58, d. 749, S. 68. 96 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 202. Im Zeitraum 1961–1965 fanden hier solcherart lediglich 32,3 Mio. R von zugesprochenen 53,6 Mio. R für den Bau von Pflegeheimen Verwendung. Vgl. RGANI, F. 5, op. 59, d. 50, ll. 250252. 97 Vgl. RGANI, F. 5, op. 60, d. 56, l. 111. Zur Untererfüllung der Pläne zum Heimbau vgl. auch Madison, Soviet Income Maintenance Policy, S. 115. 98 Vgl. RGANI, F. 5, op. 59, d. 50, l. 251. 99 Vgl. z. B. Bauwirtschaft in der Sowjetunion, S. A 690. 100 RGANI, F. 5, op. 60, d. 56, l. 111. Vgl. auch Lykovas im Mai 1963 an den Ministerrat der RSFSR gerichtete Beschwerde über die Zustände beim Bau eines Alten- und Invalidenheims in der Stadt Saratov: Der schleppende Gang der Arbeiten resultierte hier der Ministerin zu-
Nichtrentenberechtigte Kolchosbauern
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Welche Möglichkeiten boten sich nun jenen Bürgern, die unfreiwillig auf die erforderliche Heimunterbringung verzichten mussten? Zumindest für den Beginn der sechziger Jahre finden sich Hinweise darauf, dass eine aus dem drastischen Platzmangel geborene Alternative zur Heimbetreuung in der Hospitalisierung bestand: Krankenhäuser wurden zu Auffangbecken für hilfsbedürftige Menschen umfunktioniert. Soldatenkov zufolge befanden sich 1960 „einige Tausend Menschen, die derartiger Hilfe bedürfen, für lange Zeit in Heilanstalten, obwohl sie gar keine medizinische Behandlung benötigen“.101 Von solchen Maßnahmen abgesehen, blieben unversorgte alte und invalide Sowjetbürger auf Formen kommunaler Unterstützung angewiesen, die nicht oder nur noch sehr bedingt dem Bereich staatlich betriebener Sozialpolitik zuzuordnen sind.102 In jedem Fall konnten die Schwachstellen des sowjetischen Systems sozialer Sicherung auf diesem Wege nicht zur Gänze behoben werden. Ein Teil der Menschen, die von keinerlei staatlichen Hilfemaßnahmen profitieren konnten, war auf jene Überlebensstrategie zurückgeworfen, die bereits die Altersarmut in der Zeit vor der Staatsrentenreform gekennzeichnet hatte. So informierte Nikolaj V. Podgornyj, Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, A. N. Kosygin im April 1967 über den Tenor der Klagen jener Bürger, deren Gesuch um eine Heimunterbringung abschlägig beschieden worden war: „Wie aus den Briefen und Erklärungen zu folgern ist, befinden sich alleinstehende arbeitsunfähige Bürger aufgrund der Verweigerung einer Aufnahme in ein Alten- und Invalidenheim in einer besonders schwierigen Lage. Einige von ihnen, die zudem nicht über die zum Lebensunterhalt notwendigen Mittel – und manchmal auch nicht einmal über eine Unterkunft – verfügen, sind, wie sie mitteilen, zum Betteln und Umherirren gezwungen.“103
4.5. NICHTRENTENBERECHTIGTE KOLCHOSBAUERN Zur Größe des Kontingents der alten und arbeitsunfähigen Kolchosbauern, die nicht mit einer staatlich oder kolchosintern finanzierten Rente rechnen konnten, liegen keine Erkenntnisse vor. An der Existenz dieser Gruppe ist jedoch nicht zu zweifeln. Der geforderte Nachweis des 25- bzw. 20-jährigen Dienstalters konnte nicht immer gelingen: zum einen wegen der gravierenden Dokumentationsdefizite, zum anderen aufgrund der Tatsache, dass nicht jedem einzelnen Antragsteller die notwendigen Zeugen zur Bestätigung der eigenen Arbeitsbiographie zur Verfügung stehen konnten. Die Tatsache, dass man Artelmitgliedern, die den staž nur folge daraus, dass das dortige „Gebietsexekutivkomitee die Ausführungsorganisation nicht bei der Konzentration von Arbeitskräften an diesem Objekt unterstützt hat, sondern, im Gegenteil, Arbeiter auf andere Baustellen umgelenkt hat“. GARF, F. A. 413, op. 1, d. 3696, l. 141. 101 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 910, l. 52. 102 Hierzu gehörten Hilfeleistungen, die von auf ehrenamtlicher Basis operierenden Organisationen wie den Rentnerräten angeboten wurden. Siehe Abs. 7.2.1. 103 RGAƠ, F. 7733, op. 58, d. 749, l. 63. Vgl. auch die nahezu identische Beobachtung M. P. Skljarovs in: GARF, F. R 7523, op. 83, d. 41, l. 20.
312
Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
partiell zu belegen imstande waren, eine Teilrente vorenthielt, bedeutete, dass eine unvollständige Erfüllung dieses Kriteriums zum Verlust ihrer Rentenleistung führte.104 Viele betagte kolchozniki ohne Rentenanspruch blieben in ihren Artelen, durften sie doch, sofern sie als arbeitsunfähig galten, ihr privates Hofgrundstück auch dann bewirtschaften, wenn sie nicht mehr an der gesellschaftlichen Produktion teilnahmen.105 Gleichzeitig war der Kolchos dazu angehalten, sie anderweitig materiell zu unterstützen, wenn er ihnen keine Rente aus eigenen Mitteln erteilte. Im Kolchos-Musterstatut von 1969 wurde auch diese Frage geregelt, was ein staatliches Eingeständnis der Lücken im Netz der Kolchosrentenversorgung bedeutete. So forderte man die Kollektivwirtschaften weiterhin dazu auf, einen Teil der Bruttoproduktion in einen „Fonds der Sozialversorgung und materiellen Unterstützung der Mitglieder“ abzuführen. Des Weiteren sollte ein Teil der sich aus dem Anbau von Nutzpflanzen ergebenden Naturalproduktion für die Unterstützung von Rentnern, Invaliden und Bedürftigen einbehalten werden.106 Interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch, dass der Wortlaut des Statuts die Fürsorge für die Nichtrentenberechtigten als Verpflichtung für die Artelleitungen kommunizierte. Im Unterschied zur kolchosinternen Rentenzuzahlung oder -erteilung blieb die Unterstützung der Hilfsbedürftigen also nicht dem jeweiligen Ermessen überlassen, hieß es diesbezüglich doch: „Arbeitsunfähigen Kolchosmitgliedern, die keine Renten oder Beihilfen erhalten, leistet der Kolchos aus den eigenen Mitteln materielle Hilfe.“ Über die konkrete Gestalt einer solchen Unterstützung ließ das Statut allerdings wenig verlauten. Erwähnung fand lediglich, dass die Kollektivwirtschaften einen Teil ihrer finanziellen Ressourcen für den Bau von Alten- und Invalidenheimen abzweigen durften.107 Auch im Kolchossektor kam den Heimen somit die Funktion eines Ausfallbürgen für die Defizite des Rentensystems zu. Häufig wurden derartige Einrichtungen von den Kassen für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe unterhalten, also über die Beiträge der Artelmitglieder selbst und Zuschüsse der Kollektivwirtschaften finanziert. Grundsätzlich änderte auch die Reform vom 15. Juli 1964 wenig daran, da die KOVK keineswegs überall obsolet wurden.108 Dem tatsächlich bestehenden Bedarf an einer Unterbringung wurden diese Einrichtungen allerdings noch weit weniger gerecht, als dies bereits für die den Arbeitern und Angestellten offen stehenden Institutionen zu 104 Ausgenommen war hier nur jener Teil der „ehemaligen Kolchosbauern“, der sich aufgrund einer vom Exekutivkomitee des zuständigen örtlichen Sowjets verifizierten Bedürftigkeit für den Bezug einer monatlichen Beihilfe von 8,5 oder 10 R qualifiziert hatte. Anfang 1968 zählte man in der UdSSR allerdings nur noch 13.383 Empfänger einer solchen Sozialleistung (siehe oben Tab. 4a). 105 Vgl. Ziff. 42 des Kolchos-Musterstatuts. 106 Vgl. Ziff. 36 u. 37 des Kolchos-Musterstatuts. Zum „Fonds der Sozialversorgung und materiellen Unterstützung der Mitglieder“ vgl. auch Tarašþanskij, Pravo, S. 148151. 107 Ziff. 40 des Kolchos-Musterstatuts. 108 Vgl. Aleksanov, Razvitie, S. 31. Gemäß Gesetzeskommentar sollten die Kassen weiterhin hilfsbedürftige Mitglieder z. B. durch die Zahlung einmaliger Darlehen unterstützen oder ihnen bei Naturkatastrophen aushelfen. Vgl. Kommentarij k zakonodatelތstvu, S. 12.
313
Nichtrentenberechtigte Kolchosbauern
konstatieren war. Orientiert man sich an den von der ZVS der UdSSR angebotenen Daten zur Anzahl der zwischen 1964 und 1972 von KOVK betriebenen Heime, so vermittelt sich der Eindruck eines nur in Ansätzen entwickelten Versorgungsmechanismus. Ihre Zahl belief sich Anfang 1972 auf lediglich 244 und hatte somit in den acht vorangegangenen Jahren einen Zuwachs von nur einer einzigen Einheit erfahren. Veränderungen, allerdings negativer Art, hatte es de facto lediglich in der verfügbaren Bettenzahl gegeben: Waren 1964 in den Heimen noch im Schnitt 34 Insassen untergebracht worden, so sank die Belegung bis 1972 auf nur noch 15 Personen (Tab. 4e).109
Tab. 4e: Die Zahl der in den Kolchosheimen vorhandenen Plätze, 1964–1972 (Stand am 1. Januar) 1964 Zahl der von KOVK betriebenen Altenund Invalidenheime Zahl der in diesen Heimen betreuten Kolchosbauern Bewohner je Heim
1966
1968
1970
1972
243
210
226
243
244
8.156
2.914
3.727
3.622
3.701
33,6
13,9
16,5
14,9
15,2
Quelle: ZVS-Jahresberichte zu den Kolchosrenten: RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 1561, l. 1 ob.; op. 44, d. 2803, l. 1 ob.; op. 45, d. 5961, l. 1 ob.; op. 46, d. 1690, l. 1a ob.; op. 48, d. 1392, l. 2 ob.
Die Zahl der von den KOVK unterhaltenen Heime gibt noch nicht die Gesamtheit solcher Einrichtungen wieder. Wie im Musterstatut vorgeschlagen, gingen manche Kolchose dazu über, die Kosten für den Bau und den Betrieb derartiger Häuser gemeinsam mit anderen Artelen zu schultern. Die dabei erreichten Fortschritte nahmen sich jedoch ebenfalls bescheiden aus: 1972 belief sich die Zahl der in der UdSSR eingerichteten Interkolchosheime für Alte und Invaliden auf gerade einmal 24 Einheiten.110 Auch in Ermangelung konkreter Informationen über die Größe jener Gruppe innerhalb der Kolchosbevölkerung, die aufgrund des Fehlens der Existenzmittel auf die Einweisung in ein solches Heim angewiesen war, lässt sich annehmen, dass die allgemeine Bettenzahl nicht einmal in Ansätzen für die Deckung des vorhandenen Bedarfs ausreichte. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Tatsache, dass infolge der Abwanderung vieler junger Menschen gerade auf dem Land 109 Die drastische Verringerung der ohnehin schon überaus geringen Heimkapazitäten zwischen 1964 und 1966 ist sicherlich als eine Folge der Kolchosrentenreform zu interpretieren: Es kann davon ausgegangen werden, dass die KOVK nach der Reform nicht mehr über die früheren finanziellen Möglichkeiten verfügten. Angesichts der staatlichen Unterstützung der Artelmitglieder und der von den Kolchosen zu leistenden Abgaben in den ZUSVK werden die Kassen beträchtliche Einnahmeeinbußen erfahren haben. 110 Vgl. Aleksanov, Razvitie, S. 31.
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Sowjetische Bürger ohne Leistungsanspruch
ein besonders hoher Anteil von Alleinstehenden im Rentenalter zu verzeichnen war. Zudem wurde die Mangelhaftigkeit der vorhandenen Strukturen intern von Offiziellen bestätigt: In einem Ersuchen, das das sowjetische Landwirtschaftsministerium am 28. September 1967 an den Ministerrat der UdSSR richtete, bat man darum, alten und invaliden kolchozniki die Aufnahme in die den Arbeitern und Angestellten vorbehaltenen staatlichen Alten- und Invalidenheime zu gewähren. Begründet wurde dies einerseits mit der geringen Zahl der vorhandenen Kolchosheime, für deren Bau der Staat weder Materialien noch Ausrüstung oder Inventar zur Verfügung stelle, andererseits mit der niedrigen Qualität der in ihnen gewährten medizinischen Betreuung. Zur Größe des betroffenen Kontingents stellte man fest: „Den Angaben des Ministeriums der RSFSR für Sozialversorgung zufolge ist es derzeit äußerst notwendig, 4.600 Kolchosbauern in Altenheime einzuweisen; bis zum Ende des gegenwärtigen Planjahrfünfts wird ihre Zahl auf 44.600 Menschen anwachsen. Ähnlich stellt sich die Lage in der Weißrussischen SSR, der Ukrainischen SSR, der Lettischen SSR und der Moldawischen SSR dar.“111
Unter der Hand war die Betreuung von Artelmitgliedern in den staatlichen Heimen freilich bereits gängige Praxis. So stellten Erstere 1967 z. B. in der Weißrussischen SSR, in der es damals noch überhaupt keine kollektivwirtschaftlichen Häuser gab, 65 % der Insassen von staatlichen Einrichtungen.112 In der RSFSR lebten drei Jahre später etwa 18.800 Kolchosbauern in den vom Ministerium für Sozialversorgung verwalteten Heimen – und beanspruchten dadurch immerhin mehr als ein Zehntel aller Plätze für sich. Die Zahl der Artelmitglieder, die zu diesem Zeitpunkt zusätzlich noch auf eine Unterbringung in einem Kolchosheim warteten, wurde dabei auf ungefähr 10.000 beziffert.113 Die Vermittlung eines Heimplatzes war allerdings nicht die einzige Unterstützungsform, die Kolchose ihren nichtrentenberechtigten Mitgliedern zukommen lassen konnten. Es kam ebenfalls zu monetären und naturalen Hilfestellungen, wobei diese sicherlich oft auch Personen zugutekamen, die bereits eine Kolchosrente bezogen. Die Sachleistungen konnten sich etwa als unentgeltliche Versorgung mit Elektrizität oder Bereitstellung von Transportmitteln, Saatgut oder Heizmaterial manifestieren. Darüber hinaus war man mitunter beim Bau oder der Renovierung des Hauses behilflich. Mancherorts verkaufte man den Bedürftigen Getreide zum Selbstkostenpreis oder verbilligt. Umsonst oder zu vergünstigten Preisen stellte man ebenfalls Lebensmittel zu Verfügung.114 P. A. Aleksanov zufolge gewährten im Jahr 1970 ca. 10.000 Kolchosen (31 % der Gesamtzahl) ihren Mitgliedern materielle Hilfen, deren Summe sich auf insgesamt 131,7 Mio. R be-
111 RGAƠ, F. 7733, op. 58, d. 749, l. 40. Das Ersuchen wurde von der Sowjetregierung abgelehnt. Zuvor hatte eine Kommission, die von ihr mit der Prüfung dieses Vorschlags beauftragt worden war, auf die fehlenden Kapazitäten der staatlichen Pflegeeinrichtungen verwiesen. Vgl. ebd., l. 2. 112 Vgl. RGAƠ, F. 7486, op. 1, d. 1834, ll. 89. 113 Vgl. Spravka o vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii, S. 327. 114 Vgl. Mašanov Šajchatdinov, O vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii, S. 19; Mašanov, Organizacija, S. 113114.
Nichtrentenberechtigte Kolchosbauern
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lief.115 Informationen über die Häufigkeit, in der explizit Artelmitgliedern, die sich selbst nicht mehr zu versorgen wussten, eine materielle Unterstützung erteilt wurde, bot der Republikrat der RSFSR für die Sozialversorgung der Kolchosbauern. Unter Bezugnahme auf Daten der ZVS der RSFSR zeichnete er 1970 ein ernüchterndes Bild: „[...] die Kolchose des Gebiets Vladimir leisten 154 Kolchosbauern, die in eigenen Häusern wohnen, aber der fortwährenden Pflege bedürfen, eine regelmäßige materielle Hilfe. In den Kolchosen der Tschuwaschischen ASSR gibt es 1.329 dieser Menschen, im Gebiet Kursk 115, im Gebiet Vologda 78 und im Gebiet Brjansk 770.“116
Es kann also als sicher angenommen werden, dass die Maßnahmen zur Absicherung der nichtrentenberechtigten Kolchosbauern bei weitem nicht ausreichten. Nicht von ungefähr musste etwa die Verwaltung für Kolchosrenten und -beihilfen des Sozialversorgungsministeriums der RSFSR feststellen, dass es „ungeachtet einer gewissen Arbeit, die in der Russischen Föderation bei der Organisation der kolchosinternen Sozialversorgung geleistet wurde, [...] bei der Lösung dieser Fragen große Mängel“
gebe.117 Für die Bedürftigen kam erschwerend hinzu, dass ihr Anspruch auf kolchosinterne Hilfen noch weit weniger gesichert war, als dies für den Bereich der allgemeinen Altersrentenversorgung galt. Ein Mitglied, das um Geldzahlungen oder die kostenlose Bereitstellung von Lebensmitteln ersuchte, war demgemäß nicht nur auf das Vorhandensein der finanziellen Mittel im Kolchos angewiesen. Es musste auch das Wohlwollen der über die Zuteilung der Unterstützung befindenden Instanzen (Kolchosleitung, Kolchosversammlung oder KRSVK) genießen. Dergestalt war es nicht minder einer möglichen Willkür der maßgeblichen Kräfte innerhalb der Gemeinschaft ausgesetzt als dies für das Kolchosrentensystem in den Jahren vor 1965 kennzeichnend gewesen war. Der Staat, sieht man einmal davon ab, dass er einem überschaubaren Teil der „ehemaligen Kolchosbauern“ monatliche Beihilfen gewährte, entzog sich de facto vollständig aus der Unterstützung der nichtrentenberechtigten kolchozniki.
115 Dieser Wert schloss jedoch auch die Unterhaltskosten für Altenheime, Geburtshäuser, die mit der medizinischen Versorgung verbundenen Aufwendungen etc. ein. Ausgespart blieben hier lediglich die Aufwendungen für Rentenzuzahlungen und persönliche Renten. Vgl. Aleksanov, Razvitie, S. 31. 116 Kritik von Seiten des Republikrats rief dabei nicht etwa die Tatsache hervor, dass es sich – gemessen an der Gesamtheit der in diesen territorialen Einheiten lebenden Rentner – um eine verschwindend geringe Personenzahl handelte, sondern der Umstand, „dass in keinem einzigen der genannten Gebiete die Organisation von Kolchos- oder Interkolchosheimen für Alte und Invaliden [...] beschlossen wird“. Spravka o vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii, S. 327. 117 Spravka o vnutrikolchoznom socialތnom obespeþenii, S. 328.
5. DIE AUSWIRKUNGEN DER RENTENPOLITIK AUF DIE SOZIALSTRUKTUR DER UDSSR Die Effekte der Reformen von 1956 und 1964 erstreckten sich nicht allein auf den Lebensstandard der älteren Bevölkerungsteile. Es lässt sich zudem behaupten, dass sie die Sozialstruktur der UdSSR veränderten, indem sie in zweierlei Hinsicht zu ihrer Differenzierung beitrugen: Zum einen bildete sich mit den Altersrentnern in ihrem Gefolge eine neue und eigenständige gesellschaftliche Größe aus, deren Mitglieder grundlegende Parallelen im Hinblick auf Verhaltensweisen und Wertorientierungen aufwiesen. Die Relevanz dieser Einheit vermittelt sich nicht nur über die stetig wachsende Zahl ihrer Mitglieder, sondern auch über den Umfang der Mittel, die zu ihrer Versorgung bereitgestellt wurden. Zum anderen beförderte die Rentenpolitik gleichzeitig die Heterogenität der Ruheständlerschaft, wofür nicht zuletzt die Unterschiede verantwortlich zeichneten, die für ihre Subkategorien im Hinblick auf die Qualität und die Zugangsbedingungen bestanden. Indem hier manche Altersrentner gegenüber anderen bevorteilt wurden, erzeugte man neue Oppositionen zwischen Teilen der älteren Sowjetbevölkerung oder bestätigte – speziell in der Beziehung zwischen Arbeitern und Angestellten einerseits sowie Kolchosbauern andererseits – Differenzen, die somit in die Lebensphase Alter hinübergetragen wurden. Bevor diese beiden konstitutiv-gestalterischen Wirkungsaspekte der nachstalinschen Rentenpolitik konzeptionell beschrieben werden, erscheint es notwendig, einleitend auf Überlegungen und Konzepte zu verweisen, die für derartige Effekte geprägt worden sind. Zum Teil handelt es sich dabei um Analyseinstrumente, die anlässlich der Untersuchung westlicher Gesellschaften entwickelt wurden, so dass sich die entsprechenden Passagen partiell vom sowjetischen Gegenstand lösen.
5.1. DIE ENTSTEHUNG SOZIALER EINHEITEN ALS FOLGE SOZIALPOLITISCHER STAATSTÄTIGKEIT: SOZIALKLIENTELE UND VERSORGUNGSKLASSEN Für die sowjetischen Institutionen der sozialen Sicherung galt ebenso wie für westliche Wohlfahrtsstaaten, dass sie „Definitionen, Klassifikationen und Regeln von Risiken, Berechtigungen und Zielgrößen“ ausarbeiteten, verbreiteten und Informationen sammelten, um die Einordnungen mit Gehalt zu füllen.1 Einem solchen Verständnis zufolge handelte es sich zweifelsohne auch bei den sowjetischen Altersrentnern um eine sozialpolitisch konstruierte Kategorie. Doch führte es zu kurz, sie lediglich darauf zu reduzieren, in diesem Sinne eine „Kollektivität [zu sein], die 1
Conrad, Wohlfahrtsstaaten, S. 165166.
Sozialklientele und Versorgungsklassen
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von anderen identifiziert und definiert“2 wurde. Vielmehr müssen die sowjetischen Ruheständler als Beispiel einer Fremdzuschreibung gelten, die soziale Wirklichkeit gewann: Die Betroffenen internalisierten die Kategorisierung, welche dadurch eine „Schwerkraft in der realen Welt“ entwickelte und zu einer objektiven Tatsache wurde.3 Richard Jenkins bemerkt, dass, sobald die Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Kategorie die gegenseitige Anerkennung dieser Zuschreibung beinhalten, die ersten Schritte zu einer Gruppenidentifikation eingeleitet seien.4 Ob die Altersrentner nun bereits als „Gruppe“ zu beschreiben sind, erscheint aufgrund des Umstandes fraglich, dass der Begriff doch häufig an das Vorhandensein eines Zusammengehörigkeitsgefühls unter den Mitgliedern gebunden ist.5 Dieses lässt sich jedoch nicht ohne weiteres voraussetzen. Einer solchen Einschränkung ungeachtet stellt es jedoch eine Tatsache dar, dass die Verleihung bzw. bereits die Inaussichtstellung des Rentnerstatus das Selbstverständnis, die Wertorientierung, das Verhalten und die Alltagsgestaltung der Betroffenen beeinflusste. Und diese Konsequenzen machen es notwendig, die Altersrentner trotz ihrer Heterogenität als eine soziale Einheit wahrzunehmen. Möchte man einen Eindruck von ihrer Lebenssituation und gesellschaftlichen Verortung vermitteln, reicht es folglich nicht aus, wenn man sich nur auf die vormalige Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Berufsgruppe oder auf die Höhe seines der Rentenberechnung zugrundeliegenden Erwerbseinkommens bezieht.6 Ein Bewusstsein hierfür entwickelten auch sowjetische Autoren. Bekanntlich postulierte man, dass mit der Arbeiterschaft und der Kolchosbauernschaft zwei „Klassen“ in der UdSSR existierten, die sich jedoch – anders als im kapitalistischen Westen – nicht in einer Konkurrenz zueinander befänden. Beide galten gleichermaßen als Teile des sozialistischen Wirtschaftssystems, das die Produktionsmittel im Besitz der Allgemeinheit beließ. Sie unterschieden sich jedoch „im Hinblick auf ihre Beziehung zu den Produktionsmitteln, auf ihre Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und auf die Formen der Verteilung des gesellschaftlichen Einkommens“.7
An ihrer Seite sah man die vorrangig mit geistiger Arbeit befassten Mitglieder der „Intelligenz“. Diese wurden, da sie über keine selbständige Relation zu den Mitteln der Produktion verfügten, nicht als Klasse, sondern als „Schicht“ bezeichnet, die ihr Wissen und ihre Tätigkeit den Zielen der Arbeiterklasse zur Verfügung
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Jenkins, Social Identity, S. 43. Emcke, Kollektive Identitäten, S. 229. Vgl. Jenkins, Social Identity, S. 108. Vgl. Gukenbiehl Schäfers, Gruppe, S. 117; Weber, Wirtschaft, S. 21. Schroeter, Die Lebenslagen, S. 38, führt in diesem Zusammenhang das Beispiel älterer Männer an, die ihren früheren Berufsstatus „mit dem Übergang in den Ruhestand verloren [...], möglicherweise Macht und Einfluß eingebüßt und sich im Alter ganz anderen Aufgaben zugewandt [haben], die in keinerlei Zusammenhang mit ihrem Beruf stehen“. Glezerman, Art. Klassy, S. 280. Vgl. auch Bohn, Bevölkerung, S. 635.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur
stellte.8 In offiziellen Statistiken der UdSSR fand als Alternative zum IntelligenzBegriff vornehmlich die Bezeichnung der „Angestellten“ Verwendung.9 Trotz des oberflächlichen und grob vereinfachenden Charakters dieser Klassifizierung blieben beträchtliche Teile der als arbeitsfähig geltenden Sowjetbürger von ihr unberücksichtigt: Verantwortlich hierfür war, dass die Dreiteilung zum einen auf der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, zum anderen eben auf der „Rolle“ in der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation10 beruhte. Bevölkerungsteile, deren Mitglieder nicht oder nicht im Rahmen dessen, was man als „Volkswirtschaft“ begriff, arbeitstätig waren, mussten dementsprechend ausgespart bleiben. Zu nennen sind hier etwa jene Personen, deren Aktivität sich auf die persönliche Nebenwirtschaft beschränkte, sowie Hausfrauen, Schüler der höheren Klassen und Studierende. Gleiches galt nun freilich für die Rentner und Rentnerinnen, deren monatliches Einkommen sich idealiter nicht mehr aus der Erwerbstätigkeit ableitete und die sich somit nicht mehr in eine Beziehung zu den Mitteln der Produktion setzen ließen. Folgerichtig begreift S. L. Senjavskij die Rentnerschaft nicht einfach als den älteren Teil von Kolchosbauern, Arbeitern und Angestellten, sondern nimmt sie als „zwischen den Klassen“ befindliche Bevölkerungskategorie (kategorija mežklassovych obšþestvennych grupp) wahr. Speziell die Altersrentner müssten nach der Staatsrentenreform von 1956 als gesonderte gesellschaftliche Gruppe verstanden werden: Diese werde dadurch charakterisiert, dass „Personen, die ihr angehören, Veteranen der Arbeit [sind], die gänzlich ihren wohlverdienten, gesellschaftlich abgesicherten Ruhestand angetreten haben“. Ihre sozioökonomische Bedeutung bestehe nicht nur in der zurückliegenden Arbeitstätigkeit, „sondern ebenso darin, dass sie in dem Maße, wie sie ihre Arbeitsfähigkeit partiell bewahrt haben, noch eine zusätzliche Reserve zur Ergänzung der entsprechenden Kategorien von Werktätigen“ darstellten.11 Auch Vladimir D. Šapiro teilt die Auffassung, dass ein Ruheständler nicht mehr derselben sozialen Einheit zugerechnet werden könne, der er früher angehörte. Diese übe zwar einen bleibenden, über den Rentenantritt hinausreichenden Einfluss auf den Lebensstil aus. Um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sich der Einzelne darüber hinaus weiterhin seiner vormaligen Klasse oder Schicht zugehö-
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Vgl. Senjavskij, Izmenenija, S. 128131. Dennoch stimmen beide Begriffe inhaltlich nicht zur Gänze überein, wie etwa Amvrosov, Socialތnaja struktura, S. 19, feststellt: „Im buchstäblichen Sinne handelt es sich bei den Angestellten um jene Arbeiter der sozialistischen Gesellschaft, die beim Staat und in den gesellschaftlichen Organisationen im Dienst stehen und für ihre Arbeit ein festgesetztes Gehalt beziehen. Jene Angestellten, die über eine niedrige Bildung verfügen und geistige Tätigkeiten von niedriger Qualifikation ausführen, sind natürlich keine Geistesschaffenden.“ Bezieht man sich z. B. auf Rutkeviþ, Tendencii izmenenija, S. 66, so lässt sich diese „Rolle“ im Sinne der Arbeitsteilung als spezifischer „Charakter der Arbeit“ begreifen. Vgl. Teckenberg, Die soziale Struktur, S. 32. Senjavskij, Izmenenija, S. 359. Arbeitende Rentner waren dieser gesellschaftlichen Gruppe Senjavskij zufolge jedoch nicht hinzuzurechnen, sondern derjenigen Klasse oder Schicht, in deren Kontext ihre fortgesetzte Erwerbstätigkeit fiel.
Sozialklientele und Versorgungsklassen
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rig fühle, sei es deshalb angebracht, vom „Arbeiter-Rentner“, „Angestellten-Rentner“ oder „Kolchosbauern-Rentner“ zu sprechen. Es sei aber festzuhalten, dass „das Bewusstsein und das Verhalten des Menschen, der die Arbeit niedergelegt hat, von seiner Zugehörigkeit zu einer großen sozial-demographischen Gruppe bestimmt werden – den Altersrentnern, deren Mitglied er geworden ist“. Je weiter der Rentenantritt zeitlich zurückliege, desto dominanter werde die Bindung an diese Gruppe. Sie befinde sich, so Šapiro, zwar außerhalb der gesellschaftlichen Sozial- und Klassenstruktur, sei aber eng mit ihr verflochten: Die Institution des Rentenantritts, die als eine massenhafte soziale Abstiegsmobilität (massovaja nischodjašþaja social’naja mobil’nost’)12 zu begreifen sei, führe zu Veränderungen dieser Struktur, indem sie in ausnahmslos allen sozialen und beruflichen Gruppen einen Generationenwechsel hervorrufe.13 Der Gedanke, dass sozialpolitische Maßnahmen die Sozialstruktur einer Gesellschaft beeinflussen, indem sie Bevölkerungskategorien erzeugen, die ihrerseits die Eigenwahrnehmung der Betroffenen beeinflussen, ist nicht neu. Folgt man etwa dem Migrationshistoriker Gérard Noiriel, so trug der Sozialstaat dazu bei, dass sich die nationale Identität in westlichen Gesellschaften von einem bloßen spirituellen Prinzip zu einer rechtlichen und administrativen Wirklichkeit wandeln konnte. Dieser Prozess sei eine Folge der kontinuierlichen „Kategorisierungsarbeit [des Sozialstaates], in deren Verlauf sich kollektive Entitäten herausbilden, die wiederum auf die Identität der Individuen einwirken“.14 Eingehender hat sich Peter M. Baldwin mit der Staatsaktivität im Bereich der sozialen Sicherung beschäftigt. Im Zusammenhang mit der Frage, welche Gesellschaftsgruppen vorrangig zum Ausbau der westeuropäischen Sozialsysteme beigetragen hätten, befindet er, dass ein „Sozialversicherungssystem seine eigenen Akteure selbst schafft und definiert“. Zur Illustration dieser Auffassung deutet Baldwin auf die deutschen Angestellten: Sie seien als selbständige soziale Einheit erst dadurch konstituiert worden, dass ihnen mit dem „Versicherungsgesetz für Angestellte“ vom 20. Dezember 1911 eine eigene Absicherung gegen die Folgen von Alter und Berufsunfähigkeit sowie für den Todesfall zuteilgeworden war. Als besonders deutliches Beispiel des sozial strukturierenden Effektes staatlicher Sozialpolitik führt er allerdings jene Be12
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Šapiro, ýelovek, S. 29. Der Autor verweist darauf, dass sich der kurz vor dem Rentenantritt stehende Arbeitnehmer auf der Höhe seines Könnens befinde und deshalb ein großes Ansehen unter seinen Kollegen genieße. Mit der Verrentung müsse er jedoch auf diese Stellung sowie eine weitere Karriere verzichten und zudem erhebliche Einkommenseinbußen in Kauf nehmen. Ebd., S. 2930. Der Begriff der sozial-demographischen Gruppe wird in Raboþaja kniga sociologa, S. 9192, auf die Gesamtheit der sowjetischen Rentner bezogen. Eine solche Gleichsetzung der Alten mit der Rentnerschaft macht jedoch schon deswegen keinen Sinn, weil nicht nur viele Vorzugsrentner, sondern ebenso ein Großteil der Invalidenrentner noch nicht das Rentenalter von 55 bzw. 60 Jahren erreicht hatten. Vgl. auch Amvrosov, Socialތnaja struktura, S. 17. Noiriel, Die Tyrannei, S. 303. Vgl. ebenfalls Geisen, Sozialstaat, S. 35. Lessenich Mau, Reziprozität, S. 262, verstehen es als ein Resultat „staatlicher Interventionspraktiken, die genau festlegen, wer wann und unter welchen Umständen zur Beitragsleistung herangezogen wird“, dass gesellschaftliche Gruppen kategorisiert und determiniert werden.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur
völkerungskategorie an, deren sowjetisches Pendant Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist: „Direkter ist die Verbindung, wenn man die Rentner betrachtet, die nur ihr Alter und ihre Verbindung zum Rentensystem gemeinsam haben und trotzdem eine sehr starke Macht als politische Akteure auf dem engen Gebiet der Renten- und (teilweise) der Krankenleistungen besitzen. Das Sozialversicherungssystem operiert nicht nur in Kategorien von Klassen und Interessengruppen im ökonomischen Sinn, sondern ebenso in versicherungsmathematischen Kategorien, die es selbst geschaffen hat. Es verteilt nur sekundär zwischen reich und arm, zwischen Mittel- und Arbeiterklasse, aber primär und direkt zwischen gesund und krank, jung und alt, festangestellt und arbeitslos, unversehrt und verunglückt.“15
Bei den Gruppen, deren Interessen für die Reform des Sozialsystems ausschlaggebend gewesen seien, habe es sich nicht nur um Sozial- und Interessenverbindungen im engeren Sinne gehandelt, sondern auch um Risikokategorien. Als solche hätten sie in Bezug auf die soziale Sicherung ähnliche Anliegen vertreten, die wiederum von diesem System selbst definiert worden seien. Als „Kategorie handelnder Akteure“ im engeren Sinne lassen sich die Risikogemeinschaften Baldwin zufolge allerdings hauptsächlich innerhalb des sozialpolitischen Reformkontextes verstehen.16 Der Sozialwissenschaftler Horst Baier bezieht den Gedanken der wohlfahrtspolitischen Konstituierung von sozialen Einheiten auf die moderne – bundesdeutsche – Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Er vertritt die These, dass in Deutschland ein Herrschaftswandel von einer „nationalstaatlich verfassten Industriegesellschaft“ zu einer „sozialstaatlich verfassten Verteilungsgesellschaft“ stattgefunden habe.17 Dabei sei ein Strukturwandel zu beobachten, als dessen „vorläufig letzte Etappe in der sozialen Strukturgenealogie von den ständischen Formationen der alteuropäischen Gesellschaft über den Klassendualismus des Hochkapitalismus zur durchindividualisierten Schichtenhierarchie der Leistungsgesellschaft [die Bevölkerung] sich jetzt – unter den Imperativen des Sozialstaats – [...] in makrosoziale Versorgungs- und Betreuungseinheiten“
gliedere. Diese Einheiten bezeichnet Baier als Sozialklientele. Die Zugehörigkeit zu ihnen ergebe sich aus dem Bedarf an charakteristischen Sozialleistungen. So verlangten etwa lohnabhängig Beschäftigte nach der Sicherung ihrer Arbeitsplätze, 15
16
17
Baldwin, Die sozialen Ursprünge, S. 690. Als „definitorisches Produkt der Versicherungsgesetzgebung“ wird der „Angestellte“ zuvor bereits bei Hockerts, Sicherung, S. 302, beschrieben. Vgl. auch Ritter, Der Sozialstaat, S. 84. Peter M. Baldwin zufolge handeln im Rahmen der Reform des sozialen Sicherungsnetzes oft auch „Klassen“ als Risikogemeinschaften. Als Beispiel führt der Autor die selbständigen Mittelschichten an: „Wenn es um Sozialversicherungsreform ging, haben sie oft keine gemeinsamen Interessen als Klasse finden können und sind stattdessen in versicherungsmathematisch definierte Risikoeinheiten auseinander gefallen. Die Nachkriegsgeschichte der deutschen und vor allem der französischen Renten- und Krankenversicherung zeigt, wie oft innerhalb des Mittelstandes Kämpfe zwischen einzelnen Risikogemeinschaften mit entgegengesetzten Erwartungen an die Reformen ausgefochten wurden.“ Baldwin, Die sozialen Ursprünge, S. 691. Vgl. Baier, Herrschaft, S. 133137. Vgl. Deutschmann, Zur Kritik, S. 160.
Sozialklientele und Versorgungsklassen
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während Landwirte oder Arbeitnehmer im Bergbau auf staatliche Subventionierung angewiesen seien. Heranwachsenden würden Maßnahmen zur Berufsbildung und -förderung zuteil, während Frauen spezielle Hilfen z. B. im Falle der Mutterschaft benötigten. Allen voran stünden die zeitlich vor allen anderen Sozialtransfers eingeführten Sicherungsmaßnahmen für Kranke, Invaliden und Rentner: Speziell die Sozialversicherung dient Baier zufolge als „das juristische und institutionelle Korsett [...], das die sozialstaatlichen Antworten auf die ,Neue soziale Frage ދeinrahmt“. Er sieht die Sozialordnung vom „Herrschaftsparadigma der Sozialpolitik“ geprägt, dem entsprechend Verteilereliten die begrenzt zur Verfügung stehenden Leistungen regulieren und „mittels öffentlicher Sozialdienste den abhängigen Sozialklientelen zuteilen lassen“.18 Allerdings lässt sich das Sozialklientel-Konzept kaum auf die Gesamtheit der in Abhängigkeit Beschäftigten übertragen, da die staatliche Subvention zumindest in Bezug auf jene Bürger, die den Großteil ihres Einkommens aus der eigenen Erwerbstätigkeit beziehen, meist keine übergeordnete Relevanz besitzt. Es ist ferner davon auszugehen, dass dem Klientelstatus eine eher geringe Bedeutung für die Bestimmung der Lebenslage eines Menschen zukommt, der die jeweilige Unterstützung nur über einen kurzen Zeitraum in Anspruch nimmt, wie dies etwa im Fall der Mutterschaftshilfe oder des Krankengelds zu konstatieren ist. Da die entsprechenden Kategorien von Sozialleistungsempfängern in ihrer personellen Zusammensetzung einer beträchtlichen Fluktuation unterliegen, scheint es angebracht, sie weniger als gesellschaftliche Großgruppen denn als statistische Kategorien wahrzunehmen.19 Der Einwand tangiert freilich nicht die Adressaten staatlicher Alterssicherungsmaßnahmen. So lässt sich gerade die Sphäre der Rentner und Pensionäre als „ein eigenständiger sozialstaatlich erzeugter Lebensbereich [begreifen], weil einzig diese die Züge einer einerseits dauerhaften und andererseits vom Erwerbssystem eindeutig abgegrenzten Soziallage trägt“.20
Eine differenziertere Herangehensweise kennzeichnet die Überlegungen von M. Rainer Lepsius, der sich der Analyse von sozialen Konflikten, die aus wohlfahrtsstaatlichen Prozessen resultieren, gewidmet hat. Er geht dabei von der Annahme aus, dass öffentliche Transferleistungen zwar zu einer „Verringerung der Intensität traditioneller Klassenkonflikte beigetragen“ haben, indem sie die Abhängigkeit des individuellen Lebensstandards von der Erwerbstätigkeit mindern. Gleichzeitig habe die staatlich betriebene Sozialpolitik jedoch zu neuen Ungleichheiten geführt, die wiederum gesellschaftliche Reibungen hervorrufen könnten.21 Lepsius bewegt sich dabei auf der konzeptionellen Grundlage der Klassentheorie Max Webers. Dieser bezeichnet bekanntlich eine Bevölkerungsgruppe als „Klasse“, die
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Baier, Herrschaft, S. 140141. Vgl. Alber, Der Sozialstaat, S. 144. Winter, Sozialpolitische Interessen, S. 4950. Vgl. auch Hradil, Sozialstrukturanalyse, S. 154155. Vgl. Alber, Versorgungsklassen, S. 227.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur
sich in einer identischen „Klassenlage“ befindet. Die Klassenlage wiederum ist zu verstehen als die jeweils charakteristische Möglichkeit „1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals [...], welche aus Maß und Art der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter und Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt“.22
Dabei werden von Weber drei Typen von Klassen unterschieden: die Besitzklassen, die Erwerbsklassen sowie die sozialen Klassen. Erstere kennzeichne, dass ihre Klassenlage primär durch Besitzunterschiede definiert werde. Für die Erwerbsklassen gelte hingegen, dass sich ihre Marktchancen aus der jeweiligen Durchsetzungsfähigkeit auf dem Arbeitsmarkt und den hierfür zur Verfügung stehenden Qualifikationen ableiteten. Mit dem dritten Konzept versucht Weber schließlich das Problem zu lösen, dass die Unterteilung der Bevölkerung nach Marktchancen prinzipiell zu einer unbegrenzten Anzahl von Klassenlagen führt: Die sozialen Klassen werden von Mobilitätsbarrieren gekennzeichnet. Bei ihnen handelt es sich um die Gesamtheit jener Klassenlagen, „zwischen denen ein Wechsel Į. persönlich, ȕ. in der Generationenfolge[,] leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt“.23 Lepsius deutet nun auf die seit 1945 zu beobachtenden Veränderungen der bundesdeutschen Klassenstruktur, die auf das Wirken des Wohlfahrtsstaates zurückzuführen seien: Besitz- und Erwerbsklassen hätten an Relevanz bei der Prägung gesellschaftlicher Spannungen eingebüßt.24 Der Bedeutungsgewinn, den stattdessen die Sozialpolitik und die Zuweisung von Kollektivgütern für die Lebenslagen der Bürger erfahren hätten, berechtige zur Einführung eines die Webersche Trias ergänzenden Klassentypus. Für ihn wählt er den Begriff der „Versorgungsklasse“: „Im Anschluß an Webers Definitionen könnte man formulieren: ,Versorgungsklasse ދsoll eine Klasse insoweit heißen, als Unterschiede in sozialpolitischen Transfereinkommen und Unterschiede in der Zugänglichkeit zu öffentlichen Gütern und Dienstleistungen die Klassenlage, 22 23
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Weber, Wirtschaft, S. 177. Weber hat das Konzept der „sozialen Klasse“ in der Folge exemplifiziert: Unter diesen Begriff fallen etwa die „Į. die Arbeiterschaft [...], ȕ. das Kleinbürgertum und ܵ. die besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit (Techniker, kommerzielle und andere ,Angestellteދ, das Beamtentum, untereinander eventuell sozial s e h r geschieden, [...]), į. die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten“. Ebd., S. 179. Vgl. auch Groß, Klassen, S. 23; Giddens, Die Klassenstruktur, S. 55; Parkin, Max Weber, S. 93. Hier beruft sich Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 166, auf Entwicklungen wie die Anhebung des Lebensstandards, die Verringerung der Arbeitszeit und die Transformation der Erwerbsstruktur. Und er verweist auf den quantitativen Rückgang der wirtschaftlich selbständigen Bevölkerungsteile. Zudem seien diese „Besitzer ihrer Produktionsmittel [...] für die Erhaltung ihrer Lebenslage auf die unmittelbare Einkommenserwirtschaftung angewiesen und [...] insbesondere auch für die Alterssicherung von sozialpolitisch administrierten Transferzahlungen abhängig“. Ebd., S. 170. Und bezüglich der Erwerbsklassen befindet er, dass sich die Abhängigkeit der Bevölkerungsmehrheit vom Markt in der Gegenwart „nicht mehr klassentypisch als viel mehr über sektorale oder konjunkturelle Marktänderungen, insbesondere über Änderungen auf den verschiedenen Arbeitsmärkten“ äußere. Ebd., S. 178.
Sozialklientele und Versorgungsklassen
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d. h. die Güterversorgung, die äußere Lebensstellung und das innere Lebensschicksal bestimmen. Versorgungsklassen ergeben sich stets dann, wenn der Zugang zum sozialpolitischen Versicherungssystem unterschiedlich ist oder eine Disparität zwischen den erbrachten Aufwendungen und den erhaltenen Leistungen typisch gleichartige Bevölkerungsgruppen betrifft.“25
Lepsius’ Überlegungen sind nicht unbeanstandet geblieben. So teilt Jens Alber zwar die Beobachtung, dass Unterschiede hinsichtlich des Umfanges, in dem Personenkreise Nutzen aus dem wohlfahrtsstaatlichen Transfersystem ziehen, eine „eigenständige Dimension gesellschaftlicher Ungleichheit“ konstituieren. Gleichzeitig merkt er jedoch an, dass die hierdurch eventuell bedingten Spannungen noch nicht zur Ausprägung gesellschaftlicher Konfrontationen in der Bundesrepublik beigetragen hätten. In den meisten Fällen stellten Differenzen in der staatlichen Subventionierung keinen geeigneten Ausgangspunkt für die Herausbildung von Interessengruppen dar.26 Diesen Einwand greift Stefan Hradil auf und plädiert des Weiteren dafür, dass man die Konzeption der Versorgungsklassen „im Sinne Max Webers bescheidener als Hinweis auf Gruppierungen auffasst, die nur ähnliche äußere Lebenslagen gemeinsam haben“. Er fügt allerdings hinzu, dass es nur wenige Bevölkerungsgruppen gebe, deren Situation in einem solchen Umfang von öffentlichen Gütern und Dienstleistungen abhänge, dass der Begriff der Versorgungsklasse zu ihrer Charakterisierung gerechtfertigt sei: Rentner und Arbeitslose bezögen ihren Lebensunterhalt zwar aus staatlichen Zuweisungen. Da sich die Höhe der jeweiligen Leistungen allerdings aus der vorherigen Arbeitstätigkeit ableite, handele es sich hier vor allem um das Ergebnis der Erwerbsklassenzugehörigkeit.27 Ungeachtet solcher Einwände hat das Konzept der Versorgungsklasse auch bei der Analyse sozialistischer Gesellschaften Verwendung gefunden. Zwar befindet sich das Beispiel der DDR dabei im Zentrum der Aufmerksamkeit deutscher Sozial- und Politikwissenschaftler. Aufgrund der systembedingten Parallelen zur UdSSR erscheinen die hier vorgebrachten Argumente jedoch ebenfalls im Kontext der vorliegenden Arbeit von Belang. Zunächst einmal wird die Übertragung des Konzepts sicherlich durch den Umstand erschwert, dass die Webersche Klassentypologie, auf der Lepsius’ Überlegungen basieren, für kapitalistische Gesellschaften entwickelt worden ist. Geht man also davon aus, dass es sich bei „Klassen“ nicht zuletzt um „gesellschaftliche Großgruppen [handelt], deren Angehörige gleiche Interessen aufgrund gleicher Stellung auf dem Markt – oder besser: auf den Märkten – haben“, dann ist anzunehmen, dass es in planwirtschaftlich organisierten Systemen weder Erwerbs- noch Besitzklassen geben kann.28 Allerdings waren auch die Bürger der sozialistischen Systeme genötigt, ihre Arbeitskraft zu verwerten: Der überwiegende Teil der Bevölkerung bestritt seinen Lebensunterhalt aus der Erwerbstätigkeit. Freilich vermag diese Feststellung allein 25 26 27 28
Ebd., S. 179. Alber, Versorgungsklassen, S. 228. Hradil, Soziale Ungleichheit, S. 8384 [Hervorh.g i. Orig.]. Kocka, Stand, S. 139. Vgl. auch Bohn, Bevölkerung, S. 631; Berger, Was behauptet, S. 33 34.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur
nicht den erheblichen Unterschieden im Lebensstandard Rechnung tragen, die aus der systembedingten Begünstigung einzelner Bevölkerungsgruppen resultierten. Zu den Autoren, die sich in ihrer Beschreibung der DDR-Gesellschaft auf Webers Begrifflichkeiten beziehen, gehört Martin Kohli: Während er den Besitzklassen in diesem Zusammenhang keine größere Relevanz beimisst, konstatiert er, dass sich die Lebenschancen des DDR-Bürgers in beträchtlicher Weise von seinem Erwerbsund Funktionsstatus ableiteten. Deshalb hänge die positive Beschreibung der Sozialstruktur des Landes davon ab, „ob man die Zuteilung von Lebenschancen im Sinne von Privilegien durch den politischen Status zum Erwerbsbereich rechnet oder nicht. Je nachdem wird man von einem Überwiegen der Erwerbsklassen oder von einer Kombination von Erwerbs- oder Funktionsklassen sprechen“.29
Zur Existenz von Versorgungsklassen in der Deutschen Demokratischen Republik existieren unterschiedliche Standpunkte, die sich in der Hauptsache mit dem Beispiel der Rentner auseinandersetzen. Manfred G. Schmidt geht von dem Vorhandensein positiv begünstigter Versorgungsklassen aus, die er jedoch als das Ergebnis der Einrichtung und Weiterentwicklung privilegierender Alterssicherungssysteme versteht. Lepsius’ Konzept wird hier also nur auf die Mitglieder der für bestimmte Berufsgruppen offen stehenden Zusatz- und Sonderversorgungssysteme bezogen, denen höhere Leistungen zuteilwurden als dem Gros der Standardruheständler.30 Kohli wiederum argumentiert ähnlich, wie dies Hradil mit Blick auf die BRD getan hat: Versorgungsklassen hätten „aufgrund der strukturellen Zentralität der Arbeit [...] einen geringeren Stellenwert als im Westen“ besessen. Wenn überhaupt, so seien sie für das Rentenalter relevant gewesen. Aber auch hier gelte die Einschränkung, dass sie sich nicht zu unabhängigen Strukturierungsdimensionen entfalten konnten: Zu groß sei die „Abhängigkeit der Rentenhöhe vom früheren Erwerbsstatus“ gewesen.31 Diese Begründung vermag allerdings nicht zu überzeugen. Sicher, orientiert sich die Höhe der Alterssicherung am zuvor bezogenen Monatseinkommen, so wird die Binnendifferenzierung der Erwerbstätigen, ihr jeweiliges Wohlstandsniveau, fraglos auf den Ruhestand übertragen. Hier wäre zweifelsohne von einer Statussicherung und Bekräftigung der Erwerbsklassen über die Zäsur der Verrentung hinweg zu sprechen. Anders verhält es sich jedoch in Rentensystemen, in denen der Berechnungsmodus mit einer niedrigen Lohnersatzquote einhergeht. Je drastischer die hierdurch bedingte Einkommensreduzierung ausfällt, desto klarer 29
30
31
Kohli, Die DDR, S. 51. Der Autor deutet die Abhängigkeit der Lebenschancen vom Erwerbs- und Funktionsstatus als Kennzeichnen einer radikalen Modernität der Gesellschaft. Vgl. ebenso Schmidt, Sozialpolitik der DDR, S. 104, der die Auffassung vertritt, dass die Erwerbsklassen für die Sozialstruktur der DDR keine prägende Qualität gehabt hätten, da Gesellschaft, Wirtschaft und Politik parteistaatlich durchdrungen gewesen seien. Vgl. Schmidt, Grundlagen der Sozialpolitik, S. 715718. Eine identische Auffassung vertritt Bouvier, Die DDR, S. 219221. Zu den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen in der DDR vgl. Bienert, Die Altersversorgung; Mutz, Aufstieg; Hoffmann, Das Alterssicherungssystem, S. 2325. Kohli, Die DDR, S. 51.
Sozialklientele und Versorgungsklassen
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gestaltet sich die Abhängigkeit des Einzelnen von den Modalitäten des Rentensystems, desto deutlicher zeigt sich die Linie, die Erwerbstätige und Ruheständler voneinander trennt. In diesem Sinne spricht sich auch Claus Wendt dagegen aus, Rentner als Bestandteil der Erwerbsklassen wahrzunehmen. Bezogen auf die Situation der BRD, in der Aussage jedoch generalisierbar, hält er stattdessen ihre Bezeichnung als Versorgungsklasse für angemessen, weil Rentensysteme eben nicht bloß das Produkt der Marktkräfte und den Ausdruck der Vermögensverhältnisse darstellen, sondern das Ergebnis sozialpolitischer und administrativer Entscheidungen.32 Zwar seien die Einkünfte im Rentenalter berechenbar, sie unterschieden sich jedoch in Abhängigkeit von der individuellen Dauer der Arbeitstätigkeit, der Höhe des Erwerbseinkommens und der Zugehörigkeit zu etwaigen Sonderversicherungssystemen. In der Konsequenz sei deshalb die „Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme [...] die letztendlich entscheidende Variable für die Determinierung der Lebensverhältnisse in potentiellen sozialen Krisensituationen“.33 Beizupflichten ist deshalb auch Hans G. Hockerts, der den Begriff auf die große Masse der unprivilegierten Ruheständler in der DDR bezieht: „Es scheint gerechtfertigt, das Gros der Rentner in der DDR als eine solche Versorgungsklasse zu betrachten. Soweit sie nicht durch Sonder- und Zusatzsysteme herausgehoben waren, verfügten die Rentner über eine auf einem Mindestplafond nivellierte Kaufkraftausstattung: Die Scheidelinie tritt als ,Differenzierungsdominante der Einkommensstrukturދ34 deutlich hervor. Ebenso gerieten die Rentner bei der Wohnungsversorgung, wahrscheinlich auch beim Zugang zum Gesundheitswesen, ins Hintertreffen.“35
Signifikant ist hier der Verweis auf die für die Regelalterssicherung der DDR – aber in gleichem Maße ebenso für jene der UdSSR – charakteristische Tendenz zur uravnilovka, zur Vereinheitlichung der Einkünfte aus der Alterssicherung auf niedrigem Niveau.36 Im Resultat wurde Personen, die früher höhere Gehälter bezogen hatten, ein prozentual geringerer Anteil als Rente ausgezahlt als jenen Menschen, die zuvor bedeutend weniger verdient hatten. Verstärkt wurde die Nivellierung im sowjetischen Fall freilich durch den degressiven Charakter des Berechnungsmodus.37 Dieser Mechanismus reduzierte offensichtlich jene enge An32
33 34 35 36
37
Vgl. Wendt, Krankenversicherung, S. 56. In ähnlicher Weise erachten es Mayer Müller, Individualisierung, S. 56, als maßgeblich „für den Begriff der Versorgungsklassen [...], dass sie durch politische und administrative Maßnahmen [...] und nicht durch Austausch auf dem Markt, Kaufkraft oder Vertragsbeziehungen“ gebildet werden. Wendt, Krankenversicherung, S. 56. Hockerts zitiert hier Adler, Einige Grundzüge, S. 167. Hockerts, Grundlinien, S. 530. Diese ergab sich in beiden Fällen aus der Begrenzung der Leistungshöhe: Während die Beitragsbemessungsgrenze in der DDR zwischen 1947 und 1990 bei 600 Mark stagnierte, verblieb sie für das Gros sowjetischer Arbeiter und Angestellten de facto bei 240 R. Zur DDR vgl. Gennett, Die Rentenfrage, S. 426; Hoffmann, Lebensstandard, S. 470; Schulz, Soziale Sicherung, S. 132. Zwar kannte das Rentensystem der DDR diesen degressiven Modus nicht; Einkommensunterschiede wurden jedoch auch hier zusätzlich eingeebnet. Seit 1968 ergab sich die monatliche Alterssicherung aus einem Festsatz von 110 Mark und einem einprozentigen Steigerungsbetrag für jedes Jahr der versicherungspflichtigen Beschäftigung. Hierzu stellt Hoff-
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur
lehnung des Umfangs der Alterssicherung an den früheren Erwerbsstatus, die von Kohli und Hradil als Argument gegen das Vorhandensein einer Versorgungsklasse „Rentner“ angeführt wird. Auf ihn ist es zurückzuführen, dass das im Rahmen des sozialistischen Sicherungssystems wirksame Äquivalenzprinzip weit weniger ausgeprägt war als in der bundesdeutschen Variante. Somit konnte sich auch die dem Prinzip zugeschriebene Reproduktion des Schichtgefüges38 der Erwerbstätigen auf der Ebene der Rentenbezüge nur in abgeschwächter Form vollziehen. Dadurch, dass die Leistungen auf niedrigem Niveau vereinheitlicht wurden, löste sich die Qualität der Alterssicherung von der Stellung, die ihre Bezieher in ihrem früheren Arbeitsleben eingenommen hatten. Dieser Effekt ist mit der Situation in jenen Sozialsystemen zu vergleichen, die im hohen Maße auf dem Versorgungsprinzip gründen und ihre Bürger mit Grundrenten ausstatten, welche sich in keiner Relation zur früheren Erwerbstätigkeit des Einzelnen befinden. Solche Grundrenten stellen gewissermaßen den Endpunkt einer Entwicklungsrichtung dar, in der sich die von einer zunehmenden Nivellierung geprägten Rentensysteme der UdSSR und der DDR bewegten. In beiden Fällen ist die Unterstützung durch das Sicherungssystem von vorrangiger Bedeutung für den im Alter erfahrenen Lebensstandard.39 Lepsius’ Konzept kann somit einen Beitrag zur Analyse der sozialstrukturellen Folgewirkungen der sowjetischen Rentenpolitik leisten. Übertragen auf den Kontext der UdSSR ließe sich jede einzelne der Rentnersubkategorien als Versorgungsklasse eigenen Rechts deuten: In allen Fällen bedeuteten die jeweils gültigen spezifischen Bezugsvoraussetzungen und Berechnungsmodalitäten einen „Unterschied im Zugang zum sozialpolitischen Versicherungssystem“. Jedes der diesen Variationen zugrundeliegenden Regelwerke barg Elemente, die eine Privilegierung oder Benachteiligung gegenüber anderen Rentnerkategorien darstellen konnten, deren Mitglieder möglicherweise ebenso lange und hart arbeitstätig gewesen waren, vielleicht sogar genauso viel verdient hatten. So muss es im lepsiusschen Sinne als „Disparität zwischen den erbrachten Aufwendungen und den erhaltenen Leistungen“ gedeutet werden, wenn etwa persönliche Rentner von Unionsrang Zahlungen bis zu einer Höhe von 200 R erwarten und – bis 1970 – bereits mit 55 bzw. 50 Jahren in
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mann, Das Alterssicherungssystem, S. 28, fest: „Da die Beitragsbemessungsgrenze der Pflichtversicherung bei 600 M monatlich lag, betrug der jährliche Steigerungssatz demzufolge nur 6 M und Einkommensdifferenzierungen hatten auf diesem Wege keine Bedeutung für die Rentenhöhe.“ Vgl. Winter, Sozialpolitische Interessen, S. 49. Aus diesem Grund gestaltet sich die Übertragung von Lepsius’ konzeptioneller Ergänzung auf das Beispiel sozialistischer Gesellschaften auch vergleichsweise unproblematisch: Wo – anders als im Falle der Weberschen Besitz- und Erwerbsklassen – keine „Güter und Leistungsqualifikationen [...] für die Erzielung von Einkommen oder Einkünften“ (Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 168169.) verwertet werden müssen, ist es von zweitrangiger Bedeutung, ob das Staatssystem einer markt- oder einer planwirtschaftlichen Ausrichtung unterliegt.
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den Ruhestand treten konnten.40 Verglichen hiermit waren die staatlichen Standardaltersrentner zweifelsohne „diskriminiert“. Gleichzeitig konnten sie wiederum eindeutig als gegenüber den Kolchosaltersrentnern und -rentnerinnen bevorteilt gelten, da diese ja in noch viel größerem Ausmaß von der Nivellierung ihrer Rentenbeträge auf einem – hier sogar extrem – niedrigen Niveau betroffen waren. Allerdings eignet sich das Konzept nicht dazu, die Wirkmächtigkeit der Reformen in ihrer gesamten Breite zu erfassen. Lepsius selbst merkt an, dass weder Besitz- und Erwerbsklassen noch Versorgungsklassen für sich genommen soziale Einheiten darstellten, „d. h. Gebilde gleicher Verhaltensweisen, spezifischer Interaktionsdichte oder ähnlicher Wertorientierungen“. Mit diesen Begriffen lässt sich folglich keine Aussage zu den Konsequenzen tätigen, die die Verleihung des Rentnerstatus für das Selbstverständnis seiner Besitzer und ihre Positionierung gegenüber dem Regime besaß. Alle drei Klassentypen bezeichnen vorderhand lediglich Personengruppen, die „im Hinblick auf bestimmte Elemente ihrer Lebenslage eine Gleichartigkeit aufweisen, ohne jedoch schon vergesellschaftet zu sein“.41
5.2. DIE ANSPRUCHSGEMEINSCHAFT DER ALTERSRENTNER 5.2.1. Das Konzept der Anspruchsgemeinschaft Abhilfe vermag hier ein Konzept zu leisten, das Mark Edele in seinen Arbeiten über die sowjetischen Kriegsveteranen der Nachkriegszeit eingeführt hat. Edele geht davon aus, dass es sich bei diesem Personenkreis um eine „neue soziale Einheit“42 gehandelt habe. Zu deren Beschreibung orientiert er sich an Rogers Brubakers und Frederick Coopers Kritik des Identitäts-Begriffs, jenem „hoch umstrittenen Markenzeichen“ des cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften.43 Aufgrund der Vielzahl der mit ihm verbundenen Konnotationen halten ihn die beiden Soziologen nicht für geeignet, als Kategorie der Analyse zu dienen: „,Identität ދtendiert dazu, zu viel (wenn man sie in einem starken Sinn versteht), zu wenig (wenn man sie in einem schwachen Sinn versteht) oder überhaupt nichts zu bedeuten (aufgrund seiner absoluten Mehrdeutigkeit).“44
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Mit der Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 30. Juli 1970 Nr. 632 „Über die Eintragung von Änderungen in die Verordnung über die persönlichen Renten“ wurde das Eintrittsalter für diese Rentnerkategorie jenem der Staats- und Kolchosaltersrentner angepasst. Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 182183. Edele, A Generation, S. 5, orientiert sich dabei an Zubkova, Poslevoennoe sovetskoe obšþestvo, S. 2837, die die Veteranen als novyj socium deutet. Conrad, The Dynamik der Wenden, S. 145. Brubaker Cooper, Beyond „Identity“, S. 1. „Starke“ Konzeptionen entsprechen den Autoren zufolge dem Alltagsgebrauch des Identitätsbegriffs und betonen eine über Zeiten und Personen hinweg bestehende Gleichheit, die den Gruppenmitgliedern mitgegeben sei. In theoretischen Diskussionen weitaus häufiger anzutreffen seien „weiche“ Auslegungen, die den Konstruktivismus von Identitätsvorstellungen unterstreichen. Zur Kritik beider Positionen vgl. ebd., S. 1011; Weiss, Das Fremde, S. 371372.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur
Speziell im Kontext der Untersuchung von sozialen Bewegungen, Ethnizität oder Nationalismus werde Identität als ein kollektives Phänomen gedeutet: Sie bezeichne eine fundamentale und konsequente Gleichheit unter den Mitgliedern einer Gruppe oder Kategorie, die als Solidarität, geteilte Überzeugungen oder gemeinsame Aktion zutage trete. Und diese Übereinstimmung werde entweder als „objektiv gegeben“ oder als „subjektiv erfahren“ gedeutet. Die darin begründete Uneindeutigkeit führe dazu, dass die Linie zwischen einer Verwendung des Identitätsbegriffes als einer Kategorie der sozialen und politischen Praxis und der Nutzung als einer Kategorie sozial- und politikwissenschaftlicher Analyse verschwimme.45 Um die gedankliche Genauigkeit der Untersuchung zu gewährleisten, sprechen sich die Autoren für die Nutzung alternativer Begrifflichkeiten aus: Dabei plädieren sie z. B. für „Identifizierung“ (identification) als einen prozessualen Terminus, der das Augenmerk auf die Akteure lenke, die sich selbst entweder in ein Beziehungsgeflecht (Freundschaft, Verwandtschaft etc.) oder in eine Personengruppe einordnen, welche über ein gemeinsames Attribut verfügt (Nationalität, Sprache, Religion etc.). Der Begriff impliziere noch nicht, dass am Ende dieses Vorgangs notwendigerweise die innere Gleichheit einer Gruppe stehe. Das gelte ebenso für den Begriff der „Kategorisierung“ (categorization), der eine externe Identifizierung umschreibe. Eine solche werde zum einen im sozialen Alltag vollzogen, in dem Menschen kontinuierlich der Beurteilung durch ihre Mitbürger ausgesetzt sind. Darüber hinaus, und dies ist im Kontext der konstitutiven Aspekte der sozialpolitischen Staatstätigkeit von besonderem Interesse, verweisen Brubaker und Cooper auf das Wirken der für moderne Staatswesen typischen „formalisierten, kodifizierten, objektivierten Systeme der Kategorisierung, die von mächtigen, autoritativen Institutionen entwickelt wurden“.46 Für Edeles Überlegungen darüber, auf welchen Prinzipien die soziale Integration der Kriegsveteranen beruhte, sind schließlich drei Termini von Belang, die sich auch für eine Annäherung an die sowjetischen Altersrentner und -rentnerinnen eignen. Sie bezeichnen den Zusammenhalt von kollektiven Einheiten und seine Bedingungen: „Kommunalität“ (commonality) verwenden Brubaker und Cooper für die Übereinstimmung von Personen hinsichtlich eines gemeinsamen Attributs. Als „Konnektivität“ (connectedness) bezeichnen sie die relationalen Verbindungen, die Menschen miteinander vernetzen. Und mit dem Begriff des „Zusammengehörigkeitsgefühls“ (groupness) versehen die Autoren schließlich die Empfindung von Menschen, Teil einer distinkten, begrenzten und solidarischen Gruppe zu sein.47
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Vgl. Brubaker Cooper, Beyond „Identity“, S. 4 u. 7; Krzoska, Identitäten, S. 1516. Brubaker Cooper, Beyond „Identity“, S. 15. Als einen Ausdruck, der zur Frage herangezogen werden könne, wie individuelles und kollektives Verhalten von partikularistischen Deutungen der eigenen Person geprägt wird, empfehlen die Autoren „Selbstverständnis“ (selfunderstanding), worunter „die Vorstellung des Einzelnen davon [verstanden wird], wer man ist, wo man sozial verortet ist, und wie man (auf dieser Grundlage) zu handeln bereit ist“. Ebd., S. 17. Ebd., S. 1921.
Die Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner
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Die Kriegsveteranen zeichneten sich Edele zufolge durch eine beträchtliche Heterogenität aus. Unterschiede bestanden sowohl bezüglich des Alters, der Nationalität und der sozialen Position als auch im Hinblick auf die ideologische Ausrichtung und den rechtlichen Status.48 Gleichzeitig fand ihre soziale Integration unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg noch keine Unterstützung durch die Existenz und die Aktivität eines eigenen Dachverbands. Den Zusammenhalt erleichterten des Weiteren keinerlei staatlich forcierte Maßnahmen, die man als „Kategorisierung“ deuten könnte: Zwar waren den Kriegsteilnehmern unmittelbar nach dem Ende der militärischen Auseinandersetzungen gewisse Privilegien zugesprochen worden.49 Die Gruppenkohärenz der Veteranen wurde jedoch durch die Vielzahl der rechtlich relevanten Subkategorien geschwächt (Kriegsinvaliden, ehemalige Kriegsgefangene, demobilisierte Soldaten etc.).50 Zudem hatte der Staat die Vergünstigungen in ihrer überwiegenden Mehrheit bis 1948 wieder abgeschafft.51 Edele argumentiert nun, dass diese Menschen trotz derart kontraproduktiver Maßnahmen und über alle Differenzen hinweg als soziale Einheit Bestand hatten. Eine primäre Kommunalität lag hier offenkundig in dem gemeinsam geleisteten Kriegsdienst vor, ebenso in den Problemen bei der Anpassung an einen „zivilen“ Alltag. Speziell die erste Erfahrung habe, so Edele, zu einem Gefühl der Verbundenheit unter den Veteranen geführt. Da die Entwicklung eigener Veteranenorganisationen vor 1956 am staatlichen Widerstand scheiterte, manifestierte sich die Konnektivität der Veteranen Edele zufolge hauptsächlich in der Gestalt von informellen Kontakten. Diese hätten sich jedoch nur in Ausnahmefällen zu stabilen Netzwerken entwickelt; meist hätten die Interaktionen nur einen zeitlich begrenzten und instabilen Charakter besessen.52 Ob die Veteranen generell Gefühle der Zusammengehörigkeit empfanden, vermag Edele nicht zu beantworten. Viele der von ihm ausgewerteten Briefe zeugen davon, dass sich ihre Autoren in erster Linie als Mitglieder der offiziell anerkannten Subkategorien präsentierten. Aber daneben gab es auch Äußerungen, die darauf schließen lassen, dass zumindest einige Verfasser von einer
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Vgl. hierzu Edele, Soviet Veterans as an Entitlement Group, S. 113121. So sollten heimkehrende Soldaten etwa mit Baumaterialien oder Krediten ausgestattet werden, wenn ihr Haus im Krieg beschädigt worden war. Auch sollten die beruflichen Positionen, die die Rückkehrer bekleideten, im Vergleich zu der vor dem Krieg ausgeübten Tätigkeit höher- oder zumindest gleichwertig sein. Vgl. ders., Soviet Veterans of the Second World War, S. 190191. Vgl. Lovell, Les enjeux politiques, S. 114. Vgl. Edele, Soviet Veterans as an Entitlement Group, S. 125. Freilich ist dabei anzumerken, dass die Erinnerung an eine bereits einmal vorhanden gewesene Privilegierung sowie der Unmut über die Abschaffung derselben eine nicht minder integrierende Wirkung ausgeübt haben mochte. Zudem stellt eine staatlicherseits betriebene Politik nicht die einzige Form relevanter Kategorisierung dar. Im allgemeinen Sprachgebrauch der Bevölkerung wurden ehemalige Kriegsteilnehmer sicherlich auch dann einheitlich als „Veteranen“ identifiziert, wenn ihnen staatliche Ansprüche versagt blieben. Vgl. ebd., S. 130131.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur
grundlegenden Gemeinschaft aller Frontkämpfer und Kriegsveteranen ausgingen, die den Anspruch auf eine gleichartige Behandlung rechtfertigte.53 Dabei hält es Edele jedoch gar nicht für notwendig, dass alle ehemaligen Soldaten ein solches Gruppenbewusstsein ausbildeten. Als ausreichendes und wichtigstes Argument für ihre Wahrnehmung als eine distinkte gesellschaftliche Größe gilt ihm der Umstand, dass die Veteranen sich in ähnlicher Weise verhielten bzw. psychologische Merkmale miteinander teilten. Jenes Moment, das Lepsius zufolge den Versorgungsklassen fehlt, um als „soziale Einheiten“ verstanden zu werden, ist hier demnach gegeben. Diese konstitutive Kommunalität bestand, so Edeles These, in der Auffassung, dass man sich durch den im Krieg geleisteten Einsatz, der mit einem hohen Risiko für das eigene Leben einhergegangen war, ein Entgegenkommen der Gesellschaft verdient habe. Für die entstandene Kollektivität prägt er nun den Begriff der „Anspruchsgemeinschaft“ (entitlement community): „Dieses tiefempfundene Gefühl des Anspruchs war relativ unabhängig von einer tatsächlichen Wechselwirkung in der Gestalt förmlich definierter Privilegien, von ideologischen Anschauungen, der sozialen Position oder der Existenz bzw. dem Fehlen eines Gruppenbewusstseins. Welchen Gang ihr Leben nach dem Krieg auch genommen hatte, die meisten Veteranen nahmen an, dass sie sich spezielle Rechte gegenüber der größeren, von ihnen verteidigten Gemeinschaft verdient hatten. Auf der grundsätzlichsten Ebene existierten Veteranen deshalb zwischen 1948 und 1956 als eine Anspruchsgruppe, d. h. als eine Gruppe von Menschen, die ein Gefühl des individuellen Anspruchs gegenüber der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit hegten.“54
Die Meinung, dass sich aus dem Dienst des Einzelnen an der Waffe eine Verpflichtung der Gesellschaft ergebe, wurzelt Edele zufolge dabei nicht allein in dem unmittelbaren Kriegserlebnis; sie sei ebenso ein Resultat russischer und sowjetischer Militärpolitik. So hat etwa Joshua Sanborn die 1912 verabschiedete Einführung von staatlich finanzierten Verpflegungszuteilungen für Soldatengattinnen als Beleg für eine neue wechselseitige Qualität in den Beziehungen zwischen Obrigkeit und Bürger interpretiert: Im Rahmen eines impliziten Abkommens sei der Bürger nun berechtigt gewesen, Forderungen gegenüber dem Staat zu stellen.55 Auch die Bol’ševiki selbst hätten ab 1919 die Vorstellung kommuniziert, dass Sol53
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Edele, A Generation, S. 546, zitiert hier exemplarisch einen Arbeiter, der am 9, Mai 1945 auf einer Versammlung seinem Enthusiasmus über das Ende des Zweiten Weltkrieges Ausdruck verlieh: „Wir Frontkämpfer haben den Feind aufgrund unseres starken Hinterlandes besiegt, dessen Arbeiter der Front Tag für Tag zu Hilfe kamen. Die Aufgaben der friedlichen Rekonstruktion sind enorm. Wir müssen all das wiederaufbauen, was während des Krieges zerstört wurde. … Hurra! Auf den Genossen Stalin!“ Original in: RGASPI, F. 17, op. 88, d. 469, l. 18. Ders., Soviet Veterans as an Entitlement Group, S. 132133. Der Autor gebraucht die Begriffe „Anspruchsgemeinschaft“ und „Anspruchsgruppe“ (entitlement group) synonym. Da, wie bereits erwähnt, das oftmals mit der Idee der Gruppe assoziierte Zusammengehörigkeitsgefühl ihrer Mitglieder weder für Kriegsveteranen noch für Altersrentner allgemein vorausgesetzt werden kann, findet hier und im Folgenden lediglich die erste der beiden Varianten Verwendung. Vgl. Sanborn, Drafting, S. 107. Zuvor sei staatlicherseits der Dienst des Einzelnen als eine Sache der Pflicht und Tradition eingefordert worden.
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daten Rechte erlangten, indem sie ihrer nationalen Pflicht nachkamen. Dadurch seien die Rotarmisten in ihrer Empfindung bestätigt worden, dass der Staat ihnen aufgrund des Kriegsdienstes Respekt zolle und dabei Privilegien zuteilwerden lasse, die sie von der Masse der Zivilisten abhoben.56 Als markanter Beleg für die nachhaltige Bedeutung und die integrierende Kraft des von den Kriegsteilnehmern gehegten Anspruchsgedankens dient Mark Edele die Geschichte des Sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen (Sovetskij komitet veteranov vojny). Gegründet wurde diese Organisation im September 1956, jedoch keineswegs als Reaktion darauf, dass Veteranen nach einer unionsweiten Interessenvertretung verlangten. Das Komitee wurde vielmehr eingerichtet, um eine Vertretung des sowjetischen Standpunkts im Rahmen der WVF (World Veterans Foundation) zu ermöglichen: Es sollte als ein Instrument nach innen und außen gerichteter Propaganda fungieren. Bei dieser Orientierung blieb es jedoch nicht. Auf die Gründung des Komitees folgte ein massenhafter Andrang ehemaliger Soldaten, die die von offizieller Seite vorgegebenen Ziele ignorierten und das Komitee schrittweise zu einer Organisation werden ließen, die sich vorrangig mit den Anliegen und Interessen der ehemaligen Kriegsteilnehmer beschäftigte.57 Hier habe, so Edele, eine Entwicklung eingesetzt, an deren Ende die Bestätigung der Veteranen als gesellschaftliche Gruppe von besonderem Prestige stehen sollte: „Diese hartnäckige Weigerung, die offiziellen Richtlinien zu akzeptieren, [...] sollte bis ins Jahr 197858 deutlich erkennbar bleiben, als die Ansprüche der Veteranen endlich in Gestalt wirklicher Privilegien befriedigt wurden. Zusammen mit der zunehmenden Stärke und dem wachsenden Lobbyismus des Sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen – und vor dem all-
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Vgl. ebd., S. 50 u. 62. Auch von Hagen, Soldiers, S. 331, greift bei seiner Beschreibung des „militarisierten Sozialismus“, der die UdSSR der Zwischenkriegszeit gekennzeichnet habe, auf kontraktualistische Bilder zurück. Seiner Auffassung nach profitierten Soldaten von einem besonderen Sozialvertrag: Sie hätten dem Regime ihre Loyalität und ihren Dienst zur Verfügung gestellt und im Gegenzug materielle und prestigebezogene Vorteile erhalten. Vgl. auch Edele, Soviet Veterans as an Entitlement Group, S. 133134, der gleichzeitig auf eine entsprechende ideengeschichtliche Tradition verweist, die sich bis in die Antike zurückverfolgen lasse. Vgl. hierzu etwa Reciprocity in Ancient Greece; Brunt, The Army, S. 7980; Link, Konzepte. Eine detailreiche Schilderung dieses Vorgangs bietet Edele, Soviet Veterans of the Second World War, S. 164184. Zum Sowjetischen Komitee der Kriegsveteranen vgl. auch Fieseler, Stimmen, die sich speziell mit der Arbeit der sich unter seinem Dach organisierenden Invalidensektion beschäftigt. Diese fungierte ihrerseits einige Jahre lang als Interessenvertretung speziell für die Kriegsinvaliden des Zweiten Weltkrieges. In diesem Jahr wurde die Verordnung des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR vom 10. November 1978 Nr. 907 „Über Maßnahmen zur weiteren Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen der Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg“ (SP SSSR, 1978, Nr. 27, Pos. 164) verabschiedet. Der Akt bedeutete die Anerkennung der Kriegsteilnehmer in ihrer Gesamtheit – und nicht mehr nur einzelner Unterkategorien – als ein Bevölkerungsteil, der sich aufgrund seiner Verdienste für den Erhalt bestimmter Vergünstigungen qualifizierte. Zu ihnen gehörten u. a. ein Nachlass auf die Kosten der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, zinsfreie Kredite zur Finanzierung des Hausbaus und die Erlaubnis, sich auch während des Ruhestands in der Polyklinik ihrer ehemaligen Arbeitsstätte behandeln zu lassen. Vgl. Edele, Soviet Veterans of the Second World War, S. 205.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur gemeinen Hintergrund des voll ausgewachsenen Kults um den Großen Vaterländischen Krieg – bewirkte diese Anerkennung der Veteranen als eine besondere Statusgruppe, dass sie als eine wichtige Säule der sowjetischen Ordnung institutionalisiert wurden.“59
5.2.2. Die sowjetischen Altersrentner als Anspruchsgemeinschaft Die Idee der Anspruchsgemeinschaft lässt sich für die Beschreibung der sowjetischen Altersrentner operationalisieren, gestattet sie es doch, diesen Bevölkerungsteil nicht nur als bloße Kategorie, als das Ergebnis einer sozialpolitischen Klassifizierung wahrzunehmen, sondern als gesellschaftliche Größe, deren Mitglieder die externe Zuschreibung verinnerlicht hatten. Auf die Vorzüge des Begriffes verweist bereits Stephen Lovell, der ihn als Analysekategorie zur Untersuchung der sozialen Auswirkungen der staatlichen Umverteilungen in der UdSSR der „Klasse“ vorzieht: „Im Staatssozialismus zählte die Beziehung des Einzelnen zu den Produktionsmitteln weitaus weniger als sein Zugang zu den Mitteln des Konsums (d. h. als sein Anspruch auf einen Anteil an den kollektiven Ressourcen).“60
Er merkt dabei an, dass der nachstalinsche Sowjetstaat die ältere Generation prominenter als je zuvor habe hervortreten lassen. Ein katalysatorischer Effekt sei dabei der Staatsrentenreform von 1956 zugekommen, in deren Folge sich die Altersrentnerschaft zu einer weitaus umfangreicheren Anspruchsgemeinschaft entwickelt habe, als dies vor dieser Zäsur der Fall gewesen sei.61 Wie die Kriegsveteranen kennzeichnete auch die Altersrentner eine beträchtliche Heterogenität. Dies wurde bereits anhand der beschriebenen Differenzierung der Leistungsbezieher im Hinblick auf die Qualität ihrer Renten deutlich. Darüber hinaus bestanden Unterschiede hinsichtlich der Alltagsgestaltung: Dem Gros derjenigen Personen, die mit dem Rentenantritt die Erwerbstätigkeit eingestellt hatten, stand ein seit 1962 wieder allmählich ansteigender Prozentsatz von Rentnern gegenüber, die sich für eine Weiterarbeit entschieden. In den meisten Fällen stellte hier das Ruhestandsgeld nicht die Haupteinkommensquelle dar.62 Zudem begegnete mit den Kolchosaltersrentnern eine Gruppe, deren Rentenzahlung so niedrig war, dass die Weiterarbeit im Rahmen der privaten Nebenwirtschaft bis ins hohe Alter eine Normalität blieb. Uneinheitlich gestaltete sich auch die altersspezifische Verteilung der Ruheständler. Verhältnismäßig junge Sowjetbürger kamen ebenso in den Genuss dieser Sozialleistung wie Hochaltrige. Orientiert man sich an den Zahlen des Jahres 1966, so hatten hier etwa 20 % der Rentenbezieher das 60. Lebensjahr noch nicht erreicht, während knapp 30 % von ihnen älter als 70
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Ders., Soviet Veterans as an Entitlement Group, S. 137. Lovell, Soviet Russiaތs Older Generations, S. 222. Vgl. ebd., S. 221. Vgl. Šapiro, ýelovek, S. 16.
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waren.63 Schließlich bezog sich die Heterogenität der Staats- und Kolchosaltersrentner ebenso auf ihre soziale Herkunft, ihre Bildung und Erfahrungen. Die Binnendifferenzierung dieser Kategorie musste zwangsläufig ähnlich komplex ausfallen wie diejenige der Bevölkerungsteile, aus denen sie sich rekrutierte. Lässt sich also hinsichtlich der Diversität ihrer Mitglieder eine Parallele feststellen, so galten für die soziale Integration von Kriegsveteranen und Altersrentnern dennoch grundsätzlich andere Voraussetzungen. Zwar handelte es sich bei den Ruheständlern in den Jahrzehnten vor der Staatsrentenreform aufgrund ihres geringen zahlenmäßigen Umfanges lediglich um eine Randgruppe im sowjetischen System sozialer Sicherung. Dessen ungeachtet existierten sie jedoch immerhin schon seit der erstmaligen Einführung einer Altersrente in der Textilindustrie (1928) als staatlich anerkannte Bevölkerungskategorie. Sie unterlagen somit schon früh jener staatlichen „Kategorisierungsarbeit“, auf die die Veteranen noch bis 1978 verzichten mussten. Zwar ist der Einfluss von Fremdzuschreibungen auf die Eigenwahrnehmung des Einzelnen – und umso mehr auf die Ausbildung eines Gruppenbewusstseins – mit Vorbehalt zu betrachten. Die Erteilung des Rentnerstatus muss allerdings zu jenen staatlichen Einstufungen gerechnet werden, die für die Lebensweise der betroffenen Bürger die nachhaltigsten Konsequenzen besitzen. Dies gilt insbesondere für den Zeitraum nach 1956, als die Anhebung des Leistungsniveaus sowie die Verleidung der Weiterarbeit den Ruhestand als eine Zeit, in der man nicht mehr zur Gewinnung seines Unterhalts arbeitete, für immer mehr Sowjetbürger zu einer Realität werden ließen. Mit dem Übergang in die neue Lebensphase war eine Reihe von Prozessen verbunden, die sich nachhaltig auf die Selbstverortung der Betroffenen auswirken mussten: In der Regel führte die Verringerung des verfügbaren Einkommens zu einer Minderung des individuellen Wohlstands. Zudem ging die Beendigung der Erwerbstätigkeit mit einem Funktionsverlust, Statuseinbußen und einer nachhaltigen Umstrukturierung der Alltagserfahrung einher. Auf der anderen Seite ist freilich zu betonen, dass die rechtlich fixierte Position des Standardaltersrentners nicht mit einem Ansehen zu vergleichen war, wie es aus dem Kriegsdienst resultierte. Die Rentenqualifikation wurde im Laufe der Jahre für einen großen Teil der älteren Bevölkerung immer mehr zur Regel, so dass die hiermit verbundenen Leistungen kaum als ein Privileg kommuniziert bzw. wahrgenommen werden konnten, das die Besonderheit ihrer Empfänger gegenüber anderen Bevölkerungsteilen hervorhob. Aufgrund der der Verrentung innewohnenden Normalität lassen sich die Altersrentner in ihrer Gesamtheit also kaum als Statusgruppe im Sinne Edeles64 begreifen. Als Ausnahme von dieser Re63 64
Die Prozentsätze basieren auf der SPU von 1966. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 44, d. 2807, ll. 9899 u. 146. In Anlehnung an den von Weber, Wirtschaft, S. 179180, entwickelten Standesbegriff interpretiert Edele, A Generation, S. 11, die Statusgruppe derart, dass ihre Mitglieder eine positive Wertschätzung und hieraus resultierende Privilegien genießen. Definiert man Status andererseits etwas breiter, als eine gesellschaftliche Einordnung, die jeder sozialen Position zu eigen ist, dann handelt es sich bei einer solchen Gruppe um „eine Anzahl von Menschen mit ähnlich hohem Status“. Hradil, Soziale Ungleichheit, S. 33. Dieser Lesart folgend, ließen
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gel wären hier freilich Subkategorien wie die Vorzugsrentner und – mit Abstrichen – die „Veteranen der Arbeit“ zu werten: Erstere grenzten sich über die widrigen Bedingungen der von ihnen vormals ausgeführten Tätigkeiten sowie die Höhe der monatlichen Bezüge von den Standardrentnern ab. Und in den Fällen, in denen einzelne ältere Sowjetbürger von ihren Betrieben mit der Bezeichnung „Veteran der Arbeit“ ausgezeichnet worden waren, mochte ihr Ansehen auf lokaler Ebene sicherlich jenes der übrigen Rentner übertroffen haben. Die diesen Ehrentitel kennzeichnende begriffliche Annäherung an die Gruppe der Kriegsteilnehmer implizierte zumindest, dass dem individuellen Arbeitsbeitrag der Ausgezeichneten ein ähnliches Prestige innewohnte wie dem Dienst an der Waffe.65 Zur Konnektivität der Ruheständler ist anzumerken, dass die relationalen Beziehungen zwischen ihnen in vielen Fällen sicherlich nicht über das engere Umfeld hinausreichten, also sich in der Hauptsache auf persönliche Bekanntschaften, ehemalige Kollegen und nachbarschaftliche Kontakte beschränkten. Es kennzeichnet Altersrentensysteme, deren Zahlungen zur tatsächlichen Gewährleistung eines arbeitsfreien Ruhestands ausreichen, dass sie zu einer Verlagerung des Schwerpunkts der sozialen Kontakte ihrer Nutznießer führen. Mit dem Ende der Berufstätigkeit konzentrieren diese sich zwangsläufig nicht mehr auf den beruflichen, sondern auf den familiären Bereich. In den meisten Fällen reduzieren sich dadurch die Berührungspunkte zu Gleichaltrigen.66 Gleichwohl bot sich Sowjetbürgern im Rentenalter, die an der Begegnung und dem Austausch mit Personen speziell der gleichen Altersklasse interessiert waren, eine Alternative in Gestalt des ehrenamtlichen Engagements auf lokaler Ebene. Einrichtungen wie die „Organisationen der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit“67 gründeten auf der freiwilligen und unentgeltlichen Teilnahme ortsansässiger Bürger. Ruheständler waren angesichts der ihnen häufig zur Verfügung stehenden Freizeit natürliche Rekrutierungsobjekte für die Aktivitäten von Haus- und Straßenkomitees, von Kameradschaftsgerichten, freiwilliger Feuerwehr oder Repara-
65
66 67
sich die Altersrentner – ihrer Heterogenität entsprechend – mehreren Statusgruppen zuordnen. Zur Differenz zwischen Webers Begrifflichkeit und der Verwendung des Statusgedankens in der jüngeren amerikanischen und deutschen Sozialwissenschaft vgl. auch Kreckel, Politische Soziologie, S. 6465. Der Umstand, dass die Begriffe Arbeitsveteran (veteran truda) und Rentner (pensioner) oft synonym verwendet wurden, deutet allerdings daraufhin, dass die Grenzen zwischen beiden Kategorien – und somit ebenfalls etwaige mit ihnen verbundene Statusunterschiede – in der öffentlichen Wahrnehmung verschwammen. Gegen diese Praxis spricht sich z. B. Karavaev, Razvitie, S. 8, aus: „Übrigens ist es bei uns dazu gekommen, dass der Begriff ,Veteran der Arbeit ދohne ausreichende Gründe für all jene verwendet wird, denen eine Altersrente erteilt worden ist. Es ist aber kaum statthaft, dass, wenn ein Mann über eine 25-jährige Lebensarbeitszeit bei einem Alter von 60 Jahren verfügt, dies schon die Grundlage dafür darstellt, dass man ihm einen so hohen Titel verleiht.“ Vgl. Winter, Sozialpolitische Interessen, S. 67; Stadié, Altsein, S. 105; Crawford, Retirement, S. 447. Zu dieser Organisationsform siehe Abs. 7.1.
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turbrigaden. Aufgrund des – glaubt man zeitgenössischen Quellen68 – ausgesprochen hohen Rentneranteils bestand ein Nebeneffekt der Partizipation in diesen Organisationen darin, dass man gleichzeitig in den Kontakt mit Altersgenossen trat. Höchstwahrscheinlich bestand gerade hierin ein Reiz des Engagements. Eine etwaige Gruppenintegration von Rentnern wurde in solchen Strukturen freilich höchstens indirekt geprägt, da sich hier oft auch noch berufstätige Bürger beteiligten. Anders verhielt es sich jedoch mit Organisationen, die speziell für ältere Sowjetbürger konzipiert waren. In ähnlicher Weise, wie es für Bevölkerungsgruppen wie die Jugend (Pionierorganisation, Komsomol) oder die Frauen (Komitee sowjetischer Frauen, Frauenräte) spezifische Organisationsformen gab, deren Mitgliedschaft auf sozial-demographischen Kriterien beruhte, existierten in der UdSSR Einrichtungen, die den älteren Menschen zugedacht waren. Zu nennen sind hier etwa die Rentnerklubs sowie die Arbeitsveteranen- und Rentnerräte.69 Die verbindende Qualität des gemeinsamen Rentnerstatus mochte in ihrer Intensität nicht mit jenen Banden zu vergleichen sein, die zwischen Veteranen bestanden, die die den Fronteinsatz kennzeichnende Erfahrung der Lebensgefahr miteinander teilten. Der Elan, mit dem sich insbesondere die Rentnerräte nach 1956 ausbreiteten70 und der wohl zu einem nicht geringen Anteil der Eigeninitiative sowjetischer Ruheständler zuzuschreiben war, zeugt jedoch davon, dass einem Teil dieser Menschen sehr an einer solchen Gemeinschaft gelegen war.71 Die Frage, ob sowjetische Altersrentner im Allgemeinen über ein Zusammengehörigkeitsgefühl im Sinne Brubakers und Coopers verfügten, lässt sich anhand des eingesehenen Materials nicht seriös beantworten. Gegen das Vorhandensein eines allgemeinen Wir-Gefühls spricht sicherlich, dass das Rentnerdasein von vielen älteren Sowjetbürgern mit negativen Konnotationen versehen wurde. Nicht wenige Ruheständler, die sich mit Briefen an die Staats- und Parteiorgane oder an die Presse wandten, gaben der Empfindung Ausdruck, gesellschaftlich marginalisiert zu sein. Der mit der Einstellung der Berufstätigkeit einhergehende Funktionsverlust trug mit dazu bei, dass die Betroffenen meinten, als überflüssige und nicht vollwertige Mitglieder der sowjetischen Arbeitsgesellschaft zu gelten.72 Folgt man Äußerungen von älteren Menschen, die sich über das geringe Niveau der ihnen zukommenden Versorgung beklagten, so wurde dieser Aspekt der Eigenwahrnehmung durch das Ausbleiben bzw. den geringen Umfang bestimmter Unterstützungsleistungen des Staates noch verstärkt. Entsprechende Mängel wurden als Belege für die fehlende Wertschätzung von Seiten des Regimes interpretiert. 68
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1962 sollen allein in Moskau 125.000 Rentner ehrenamtlich die Arbeit der Sowjetorgane unterstützt haben. Vgl. Nužny li obosoblennye organizacii (14/62), S. 52. Auch solche Organe gesellschaftlicher Selbsttätigkeit, bei denen es sich formal nicht um Rentnerorganisationen handelte, setzten sich bisweilen vollständig aus Ruheständlern zusammen. Vgl. Wesson, Volunteers, S. 244. Vgl. Dokuþaeva, Obšþestvenno-politiþeskaja dejatel’nost’, S. 29. Zu den Rentnerräten siehe Kap. 7. Zum analogen Interesse westlicher Ruheständler an derartigen Kontakten vgl. Rosow, Social Integration; Trela, Some Political Consequences; Woll-Schumacher, Desozialisation, S. 20. Vgl. z. B. GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1582, l. 292.
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Erschwerend kommt hinzu, dass diese negativen Aspekte des Selbstverständnisses von Altersrentnern schwer von denjenigen zu trennen sind, die mit der Lebensphase Alter identifiziert wurden. Es liegt nahe, für die sowjetische Situation ähnliche Mechanismen zu veranschlagen, wie sie die Frage nach den Voraussetzungen einer Altenbewegung z. B. in westlichen Systemen kennzeichnen. In den sechziger und siebziger Jahren durchgeführte Untersuchungen zur kollektiven Identität älterer Menschen in den USA legen nahe, dass hier eine Gruppenidentität nur schwach ausgeprägt war.73 Als Ursache hierfür ist angeführt worden, dass gerade das klar negativ besetzte Altersbild, das von Vorstellungen des sozialen Abstiegs und der Prestigeeinbuße geprägt war, eine positive Identifizierung mit der Gruppe der Alten verhinderte.74 In diesem Kontext scheint es da nur konsequent, wenn ein signifikanter Teil derjenigen Menschen, die das Alter von 60 Jahren überschritten hatten, den Zustand des „Altseins“ für die eigene Person verleugnete.75 Entsprechende Umfragen, die über das Altersbild sowjetischer Rentner informieren würden, liegen nicht vor. Allerdings mag man die systemübergreifend festzustellende Stigmatisierung dieser Lebensphase als Grundlage für die Vermutung nehmen, dass sich älter werdende Bürger auch in der UdSSR gegen ihre Zurechnung zum „dritten Alter“ wandten. Ein Indiz hierfür liegt etwa in der Tatsache vor, dass sich einzelne Leistungsempfänger gegen ihre Bezeichnung als „Altersrentner“ verwahrten.76 Dabei ist es jedoch wichtig, sich des Unterschiedes zwischen dem subjektiv empfundenen „Altsein“ einerseits und dem objektiv vorhandenen Rentnerstatus gewahr zu bleiben. Die mit dem fortgeschrittenen Lebensalter verbundenen, gesellschaftlich konstruierten Zuschreibungen ließen sich möglicherweise aus jener Mischung von Faktoren verbannen, auf denen das Selbstbild des Einzelnen gründete.77 Anders verhielt es sich jedoch mit der Zugehörigkeit zur sowjetischen Al73 74 75
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Vgl. Streib, Are the Aged, S. 46; Rosow, Socialization, S. 76. Vgl. Rosow, Socialization, S. 75. Eine in Bengtson Cutler, Generations, S. 155, vorgestellte Umfrage kam solcherart 1972 zu dem Ergebnis, dass sich nur 38,1 % der befragten US-Bürger jenseits der Altersgrenze von 60 Jahren als „alt“ bezeichneten. Vgl. Rosow, Socialization, S. 8891. Fluck, Zur Diskussion, S. 291, hält diesen Befund für auf die Situation in der BRD übertragbar. Vgl. Lykova, Sozialfürsorge, S. 11, die für diese Empfindung Ende der 1960er Jahre Verständnis zeigt. Schon während der öffentlichen Diskussion des Staatsrentenentwurfs hatten sich Bürger gegen den Begriff Altersrente (pensija po starosti) ausgesprochen. So schrieb eine Bürgerin namens A. N. Tukaljakova im Mai 1956 an den Finanzminister der UdSSR: „Das Wort ALTERSrente sollte vermieden werden: Mit 55 bzw. 60 Jahren sind andere Frauen und Männer noch in der Lage, die Arbeit auf demselben Niveau wie alle anderen fortzusetzen [...]. Bei der gegenwärtigen Sorge um uns Sowjetmenschen möchten wir auf ewig jung sein. Das Wort ALTER hat einen psychologischen Einfluss auf die Moral des Menschen. Besser wäre es zu sagen: Rente infolge des Erreichens der Altersgrenze.“ [Hervorhebung i. Orig.] Dies mochte zumindest so lange gelingen, bis der individuelle Alterungsprozess zu körperlichen und gesundheitlichen Einbußen führte. Fluck, Zur Diskussion, S. 291, sieht einen Zusammenhang zwischen sozio-ökonomischen Status und Gesundheitszustand einerseits und der Akzeptanz des eigenen Altseins: „Je niedriger der eigene Lebensstandard und je schlechter die Gesundheit ist, desto eher identifiziert man sich als alt. Daneben spielen das Erleben
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tersrentnerschaft, die man kaum ignorieren konnte: Die mit der Verleihung des rechtlichen Status einhergehenden Begleiterscheinungen – die Beendigung der Erwerbstätigkeit sowie der daraus resultierende Prestigeverlust und Freizeitgewinn, die Ausstellung des Rentenausweises oder der monatliche Besuch des Briefträgers, der einem das Rentengeld aushändigte – waren aus der Lebenswirklichkeit nicht zu eliminieren.78 Die Vergegenwärtigung dieser Mitgliedschaft sagt freilich noch wenig darüber aus, inwiefern sich der Einzelne positiv mit anderen Altersrentnern identifizierte, ihnen gegenüber Empfindungen der Solidarität hegte. Ist hier also Skepsis angebracht, so finden sich dennoch Hinweise darauf, dass zumindest einzelne Vertreter ein Wir-Gefühl verspürten. In nicht wenigen Beschwerdebriefen und Eingaben nahmen die Autoren eine Haltung ein, die sie ihre Klage stellvertretend für die Gesamtheit des betroffenen Personenkreises vorbringen ließ. Eine solche Solidarität kennzeichnet etwa das Schreiben des ehrenamtlich für die Sozialversorgungsorgane der Stadt Tula tätigen N. S. ýekalin. Dieser wandte sich 1971 an den Goskomtrud, um – vor dem XXIV. Parteitag der KPdSU – an die versprochene Anhebung der Mindestaltersrenten zu erinnern: „Die Altersrentner, die eine Rente von 30 R erhalten, das sind Veteranen der Arbeit, Teilnehmer der sozialistischen Oktoberrevolution, Teilnehmer des Bürgerkriegs und des Vaterländischen Kriegs. Aufgrund ihres Gesundheitszustands und ihres Alters können sie nicht mehr arbeiten, sie sind schon 70 Jahre alt und älter. Sämtlichen Arbeitern und Angestellten hat man das Arbeitsentgelt erhöht, den Invaliden die Rente. Für alle hat sich die materielle Situation verbessert, aber die Altersrentner hat man umgangen, und ihre materielle Situation [...] hat sich infolge der Währungsreform [von 1961; L. M.] und der Erhöhung der Preise für einige Nahrungsmittel und Alltagsgegenstände erheblich verschlechtert.“79
Die Identifikation mit der Altersrentnerschaft in ihrer Gesamtheit kennzeichnet auch die Eingabe von V. N. Loban’ (Gebiet ýernovcy), der aus dem identischen Anlass an das Staatskomitee schrieb und dabei an die Ankündigungen Brežnevs und Kosygins erinnerte. Sein Anliegen vertrat er dabei in der Gewissheit, für eine Bevölkerungsgruppe zu sprechen, die ähnlich empfand wie er selbst: „Wir alle waren sehr erfreut, als [...] Genosse A. N. Kosygin sagte: ,Es wird beabsichtigt, die Mindesthöhe der Altersrenten für Arbeiter und Angestellte um mehr als 30 % zu erhöhen.ދ [...] Jedoch blieb es diesen Plänen zu unserem großen Bedauern versagt, verwirklicht zu werden. Wir möchten hoffen, dass dieses für uns so unangenehme Versäumnis auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU korrigiert wird.“80
Die deutlichste Ausprägung einer Perspektive, die die Sowjetrentner als eine eigenständige Gruppe wahrnahm, findet sich wohl in den Äußerungen der Mitglieder von Rentnerräten. Eine solche Haltung kennzeichnete beispielsweise die Ver-
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signifikanter Veränderungen im Leben (wie z. B. der Tod des Ehepartners, die Übersiedlung ins Heim) sowie der meist damit einhergehende Verlust wichtiger sozialer Funktionen eine entscheidende Rolle.“ Vgl. ebenfalls Riley Foner, Aging, S. 305. Die Weiterarbeit nach dem Rentenantritt führte freilich dazu, dass auch das eigene Selbstbild im Status quo ante verweilen konnte. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, l. 183. Ebd., l. 184. Vgl. auch GARF, F. A 259, op. 45, d. 3969, ll. 1213 ob.
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treter des Rates der Stadt Gorodišþe (Gebiet Penza), die im Dezember 1964 an die Regierung der RSFSR schrieben, um sich gegen die Benachteiligung der Ruheständler als Konsumenten zu verwenden.81 Hier ist speziell die Einleitung des Briefes von Interesse: In ihr wurden die Rentner nicht mehr als ein Bestandteil der Arbeiter-, Angestellten- oder Kolchosbauernschaft begriffen, sondern – Senjavskij und Šapiro gewissermaßen vorwegnehmend – als eigenständige sozialstrukturelle Größe: „Neben den Arbeitern und den Angestellten der staatlichen Betriebe und Institutionen, der Sowchosen und Kolchosen, wächst bei uns eine Bevölkerungsgruppe kontinuierlich, die von der staatlichen Rente lebt: die Rentner, die in den Ruhestand getreten sind.“82
Diese Beispiele zeigen, dass sich zumindest in Teilen der Rentnerschaft ein WirGefühl ausbildete. Da der aus den eigenen Vorleistungen erwachsene Anspruch auf staatliche Unterstützung hier als konstitutives Element fungierte, lässt sich – wie vielleicht sonst nur in Bezug auf die Kriegsveteranen – von einem „Gruppenbewusstsein im Verhältnis zum Staat“83 sprechen. Für die Konzeptualisierung der Altersrentner als Anspruchsgemeinschaft im Sinne Edeles ist das Vorhandensein eines universalen Zusammengehörigkeitsgefühls, wie gesehen, allerdings nicht von vorrangiger Bedeutung. Die Grundlage dafür, dass diese wohlfahrtspolitische Kategorie als eine soziale Entität eigenen Rechts verstanden werden kann, bildet ähnlich wie bei Lepsius die Übereinstimmung ihrer Mitglieder im Hinblick auf Verhaltensweisen und zentrale Wertvorstellungen.84 In beiden Aspekten ähnelten Ruheständler den Kriegsveteranen in offensichtlicher Weise. Auch ihre Wahrnehmung der eigenen Situation und der Beziehung zum Staat bzw. zur übrigen Gesellschaft war durchdrungen von meritorischen Vorstellungen. Die angemessene Versorgung im Alter stellte einen Anspruch dar, dem nachzukommen der Staat ihrem subjektiven Empfinden gemäß regelrecht verpflichtet war. Jedoch resultierte diese Schuld nicht aus dem Militärdienst, sondern aus der lebenslangen Arbeitstätigkeit der älteren Menschen: Sie wurde dabei keineswegs nüchtern als Broterwerb interpretiert, sondern – sicherlich nicht zuletzt unter dem Einfluss der allgegenwärtigen Arbeitspropaganda – zu einem Beitrag der älteren Menschen zum Aufbau der Sowjetunion überhöht. Deutlich wird diese Attitüde speziell dann, wenn Rentner – oder solche, die es werden wollten – auf Versorgungsmängel aufmerksam machten und diesbezüglich Besserungen einforderten. Ein häufig wiederkehrendes Motiv, das derartige Briefe an zentrale Organe oder an Periodika kennzeichnete, war der Verweis der Autoren auf das eigene Verdienst, das sich nicht mit der als defizitär erlebten Situation vertrage. Hierbei handelte es sich um eine Konstante, die sich sowohl in Schreiben aus der Mitte der fünfziger Jahre finden lässt als auch in solchen, die zu Beginn der siebziger Jahre verfasst wurden. Zudem charakterisierte dieses Merk81 82 83 84
Siehe Abs. 7.4. GARF, F. A 259, op. 45, d. 3969, l. 14. Zum Schreiben dieses Rentnerrats siehe auch Abs. 7.4. Plaggenborg, Experiment, S. 344 [Hervorhebung i. Orig.]. Vgl. Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 182.
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mal die Texte von Vertretern beider Großgruppen: Arbeiter und Angestellte erinnerten ebenso an die eigene Lebensarbeitsleistung wie dies für Vertreter der Kolchosbauernschaft der Fall war. Bereits jene Briefautoren, die vor 1956 auf eine Reform des Rentensystems drängten, machten von dieser Argumentationsweise Gebrauch. Ein frühes, auf den August 1953 zu datierendes Beispiel ist ein an K. E. Vorošilov adressiertes Schreiben, in dem eine Rentnergruppe sich für eine Anhebung der Renten für die Mehrheit der zivilen Rentner aussprach. Hier bestehe nämlich eine Diskrepanz: Während ehemalige Berufssoldaten bei einem 25-jährigen staž Renten beziehen würden, die dem früheren Sold zu 90 % entsprächen, vermöchten andere alte und invalide Bürger bei identischer Lebensarbeitszeit mit nicht mehr als 15 R zu rechnen.85 Bei diesen handele es sich jedoch oft um „Menschen, die sich viele Jahre ehrlich und gewissenhaft für das Wohl des Volkes gemüht haben, nun aber aufgrund ihres Gesundheitszustandes oder ihres Alters nicht mehr arbeitsfähig sind“.86
Auch der bereits zitierte Chefingenieur Brjuškov drängte 1955 gegenüber dem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR auf die rasche Durchführung der bereits seit längerem angekündigten Rentenreform. Dabei unterstrich er seinen Anspruch auf eine zum Lebensunterhalt ausreichende Rente mit dem Hinweis auf seine persönlichen Meriten: Er habe sowohl in leitender Funktion an diversen Großbauprojekten mitgewirkt als auch mehrere Fachpublikationen verfasst, in denen er seine Erfahrungen der nachfolgenden Generation vermittelt habe. Dennoch könne er vor dem Hintergrund der geltenden Gesetzgebung nicht auf eine ausreichende Versorgung im Alter hoffen. Brjuškovs Enttäuschung wurde ebenfalls durch die Tatsache hervorgerufen, dass Angehörige privilegierter Berufsgruppen, obwohl ihre Lebensleistung kaum höher einzuschätzen sei, wesentlich besser gestellt waren: „Inwiefern bin ich schlechter als irgendein Ingenieur, der für das Innenministerium oder im Eisenhüttenwesen tätig ist und dessen Arbeit in den meisten Fällen weder den Umfang hatte noch mit der Verantwortung einherging, die jene kennzeichnet, die ich ausübte und ausübe? Diese Leute erhalten, sogar ohne dass sie ihre Berufstätigkeit beenden, im Alter von 50 bis 55 Jahren eine Rente, die oft 2.000–3.000 R* beträgt.“
Den Grundsatz, dass sich das Niveau der Absicherung in einem adäquaten Verhältnis zur Arbeitsbiographie des Einzelnen befinden sollte, beanspruchte Brjuš-
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Diese Behauptung war nicht ganz richtig: Bei einem Dienstalter von 25 Jahren entsprach die Dienstalterrente 50 %, bei 35 Jahren sogar 80 % des vormaligen Soldes. Vgl. Ziff. 5 der Verordnung des Rats der Volkskommissare der UdSSR vom 5. Juni 1941 Nr. 1474 „Über die Renten und Beihilfen für Angehörige des höchsten, höheren und mittleren Offizierskorps, für Angehörige des unteren Offizierskorps des verlängerten Dienstes, für Spezialisten der Mannschaften des verlängerten Dienstes und deren Familien“ (SP SSSR, 1941, Nr. 15, Pos. 282). Zu den Offiziersrenten vgl. auch Bilinsky, Das Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht, S. 142145; Stiller, Sozialpolitik, S. 9697. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 51, l. 6.
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kov allerdings nicht für sich allein. Indem er ihn auf die Gesamtheit der bis dato unterversorgten Ruheständler übertrug, zeigte er sich mit ihr solidarisch: „In der schwierigen Situation, dass sie eine Rente von 200 R* beziehen, befinden sich Zehn-, wenn nicht Hunderttausende alter Menschen. Jeder von ihnen hat ein hartes Arbeitsleben hinter sich gebracht und ist würdig, ein versorgtes Alter zu erfahren, wie es in der Verfassung steht.“87
Auch nach der Staatsrentenreform von 1956 boten sich älteren Arbeitern und Angestellten Gelegenheiten, über Unzulänglichkeiten in der Versorgung oder rechtliche Benachteiligungen ungehalten zu sein. Entschieden sie sich dazu, ihrem Verdruss Ausdruck zu verleihen, so griffen sie oft auf das bewährte Argumentationsmuster zurück. Die in den sechziger Jahren gängige Praxis der Vergabe separaten Wohnraums stellte einen solchen Anlass dar: Hier waren Mehrpersonenhaushalte gegenüber Rentnern, die von ihren Kindern getrennt lebten, klar bevorteilt. Insbesondere Kleinfamilien sollten von den unter N. S. Chrušþev in die Wege geleiteten Investitionen in den Wohnungsbau profitieren, entsprach dies doch der bevölkerungspolitischen Ausrichtung der Maßnahmen, die nicht zuletzt zu einer Anhebung der Geburtenrate führen sollten.88 Ältere Bürger hingegen konnten meist nur dann in den Genuss eines neuen Heims gelangen, wenn sie ein solches gemeinsam mit der Familie der Tochter oder des Sohnes bezogen. Für sich lebende Rentnerehepaare oder alleinstehende Ruheständler blieben bei der Verteilung neuen Wohnraums in der Regel außen vor. Selbst in Fällen, in denen Einzelpersonen mit auf die betreffenden Wartelisten genommen wurden, hatten sie lediglich Aussicht auf eine größere Raumzuteilung in der Gemeinschaftswohnung. Der Unmut der älteren Sowjetbürger über diese Zurücksetzung äußerte sich in Gestalt von Beschwerdebriefen, die bezeugen, dass die ausbleibende Zuteilung eigener Wohnungen als Beleg dafür gesehen wurde, dass Staat und Gesellschaft die von den Absendern in der Vergangenheit geleisteten Opfer nicht würdigten.89 Eindringlich liest sich etwa die Klage des Leningrader Rentners Vladimir Zakrevskij, der sich im September 1963 an Leonid I. Brežnev wandte. In seinem Schreiben äußerte er Verständnis dafür, dass arbeitstätige Bürger ein Anrecht auf eine separate Wohnung hatten. Nicht nachvollziehen konnte er jedoch, dass Gleiches nicht für die Menschen seiner Generation gelten sollte: „[...] ich muss fragen, was wir in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren denn getan haben? Waren wir tatsächlich ein Haufen Faulenzer? Haben wir denn nicht den Sozialismus errichtet, die Parteibeschlüsse umgesetzt, den Klassenkrieg geführt, die Kollektivfarmen aufgebaut und das faschistische Reptil vernichtet? Nun sind wir vergessen.“90
Als Diskriminierung empfanden Rentner auch die in der RSFSR bis 1965 geltenden Regelungen zu den Verbraucherkrediten. Noch gegen Ende der fünfziger Jahre war der Abschluss von Ratenzahlungsgeschäften im Einzelhandel zum Erwerb 87 88 89 90
GARF, F. R 7523, op. 75, d. 1569, ll. 282283. Vgl. Harris, We Too Want to Live, S. 152. Vgl. ebd., S. 156161. Zitiert bei: Ebd., S. 160161.
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von dauerhaften Konsumgütern für alle Bürger der UdSSR untersagt gewesen.91 1959 wurde dieses Verbot zuerst für die städtischen Arbeiter und Angestellten aufgehoben;92 ein Jahr später räumte man ebenfalls den Kolchosbauern, Sowchosarbeitern und anderen in der Landwirtschaft Beschäftigten die Möglichkeit ein, den Kaufpreis für eine Reihe von Produkten in Teilzahlungen zu begleichen.93 Den meisten sowjetischen Rentnern blieb eine solche Option allerdings bis 1965 verwehrt. Als Ursache für die Benachteiligung gegenüber den noch arbeitstätigen Bevölkerungsgruppen wurde auf die in Ziff. 178 der Staatsrentenverordnung enthaltene Regelung verwiesen, dass Renten – im Unterschied zum individuellen Arbeitseinkommen – bei einer Zwangsvollstreckung nicht verpfändet werden durften.94 Diese Erklärung reicht jedoch nicht aus, da selbst, nachdem der Gesetzgeber hier eine Angleichung vollzogen hatte,95 Ruheständlern nicht in sämtlichen Unionsrepubliken gestattet wurde, die Kosten für erstandene Artikel in Raten zu bezahlen.96 Erst im Januar 1965 beschloss auch der Ministerrat der RSFSR, den Rentnern eine entsprechende Möglichkeit einzuräumen.97 91
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Dieses Verbot wurzelte in dem mit dem Ende der Neuen Ökonomischen Politik einhergehenden Vorgehen gegen den privaten Wirtschaftssektor. Vgl. Schultz, Ratenzahlungsvertrag, S. 194. Vgl. die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 12. August 1959 Nr. 915 „Über den Verkauf von dauerhaften Verbrauchsgütern an Arbeiter und Angestellte auf Kredit“ (SP SSSR, 1959, Nr. 17, Pos. 130); Jazev, Dogovor, S. 56 u. 1415. Vgl. die Verordnung des ZK der KPdSU und des Ministerrats der UdSSR vom 8. August 1960 Nr. 851 „Über die Maßnahmen zur weiteren Verbesserung des Handels“ (SP SSSR, 1960, Nr. 14, Pos. 114). Voraussetzung war hier die Mitgliedschaft in einer Konsumgenossenschaft. 1963 wurden in der RSFSR Waren im Werte von 175,6 Mio. R auf Kredit verkauft, was etwa 3 % des Industriegüter-Umsatzes entsprach. Vgl. den Bericht des Vorsitzenden der Russischen Union der Konsumgesellschaften M. Denisov „Über den Verkauf von Waren auf Kredit an die ländliche Bevölkerung“, in: GARF, F. A 250, op. 45, d. 3969, ll. 4748. Die Erleichterung des Erwerbs von Waren wie z. B. Radioempfängern, Kühlschränken, Waschmaschinen aber auch von Wohnhäusern ist freilich im Kontext der staatlichen Bemühungen zur Anhebung des allgemeinen Lebensstandards der Bevölkerung zu sehen: Ein Ziel des 1959 einsetzenden Siebenjahrplanes bestand ja explizit in der Erhöhung der Produktion derartiger Verbrauchsgüter (Vgl. Kontrol’nye cifry, S. 82.), die dann noch leichter an ihre Abnehmer gelangen konnten, wenn man diesen die Möglichkeit des Ratenkredits einräumte. Vgl. Schultz, Ratenzahlungsvertrag, S. 197. Vgl. Art. 178 des Gesetzes der UdSSR vom 8. Dezember 1961 „Über die Bestätigung der Grundlagen der Zivilprozessordnung der UdSSR und der Unionsrepubliken“ (VVS SSSR, 1961, Nr. 50, Pos. 526). Vgl. auch Ancupova, Potrebitelތskij kredit, S. 56. Zwar bestand eine solche Möglichkeit in der Ukrainischen SSR, der Georgischen SSR und den meisten anderen Republiken, jedoch rückte mit der RSFSR die bevölkerungsreichste von ihnen zu diesem Zeitpunkt noch nicht von ihrem Verbot ab. Vgl. die Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 12. Januar 1965 Nr. 52 „Über die weitere Verbesserung des Warenhandels auf Kredit“ (SP RSFSR 1965, Nr. 2, Pos. 5). Für die Verzögerung mögen Uneinigkeiten innerhalb der russischen Regierung darüber, wie die Ratenzahlungsgeschäfte formal zu organisieren seien, verantwortlich gewesen sein. Deutlich wurden die gegensätzlichen Positionen im Zuge der Neufassung der „Instruktion über das Verfahren beim Kauf von Waren auf Kredit“. Der Handelsminister der RSFSR, D. V. Pavlov, plädierte dafür, dass Rentner nur über die Zwischeninstanz der Sozialversorgungsorgane
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Der Entschluss, die konsumpolitische Benachteiligung der Rentner in der RSFSR aufzuheben,98 scheint nun ebenfalls unter dem Eindruck einer Vielzahl von Unmutsäußerungen aus der Bevölkerung gefasst worden zu sein. So erwähnte V. A. D’jakov, Stellvertreter des Ministerratsvorsitzenden der RSFSR, im Rahmen eines Plädoyers für die Kreditgewährung die vielen Beschwerden und Eingaben, in denen Ruheständler um das Recht ersuchten, dauerhafte Waren auf Kredit zu kaufen. Auslöser war hier nicht zuletzt der Wunsch nach einer Gleichstellung mit den Altersgenossen anderer Landesteile, merkte D’jakov doch an, dass sich die „Anzahl der Klagen von Rentnern der RSFSR nach der positiven Entscheidung dieser Frage in den meisten anderen Unionsrepubliken erhöht hat“.99 Viele der Schreiben, die zu diesem Thema bei zentralen Instanzen oder der Presse eingingen, weisen die bekannten Merkmale auf: Die Äußerung, dass man sich ungerecht behandelt fühlte, wurde begleitet von der Erwähnung der eigenen Leistung oder – wenn man für die eigene Gruppe zu sprechen meinte – der Opfer, die die gesamte Generation erbracht hatte. Als Beispiel sei hier das Schreiben des Vladivostokers D. I. Merkušev angeführt, der sich im November 1964 an die Izvestija wandte: „[...] es ist doch absolut unverständlich, warum die Rentner nicht zu jener Kategorie von Menschen gehören, die berechtigt sind, Waren auf Kredit zu erwerben. [...] der Rentner ist ein Mensch, der einen Großteil seines Lebens, seiner Kräfte und Energie der Arbeit für das Wohl der Heimat gewidmet hat und nun in den wohlverdienten Ruhestand getreten ist. Bedeutet dies denn nicht, dass er bereits ein gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft geworden ist? Das ist doch eigenartig! Im Programm unserer Partei heißt es: ,Die heutige Generation wird im Kommunismus leben. ދAber die Rentner werden kaum im Kommunismus mit vielen Vergünstigungen leben; jene, die den jungen Leuten zuteilwerden, bleiben ihnen vorenthalten.“100
Verbraucherkredite aufnehmen sollten. Von dieser Behörde sollten Bescheinigungen ausgestellt werden, die den Verkäufer über die Rentenhöhe des Kunden informierten. Andernfalls bestünde keine Kontrolle mehr darüber, ob die Raten auch tatsächlich beglichen werden konnten, was zu einem systematischen Anstieg individueller Verschuldung führen würde. Vgl. GARF, F. A 259, op. 45, d. 3969, ll. 89 u. 2829. Das Sozialversorgungsministerium der RSFSR weigerte sich jedoch zunächst, die Ausstellung der erforderlichen Bescheinigungen zu übernehmen. Vgl. ebd., d. 3970, l. 23. Motiviert wurde dieser Widerstand sicherlich durch den hierdurch anfallenden Arbeitsaufwand, der die personell unterbesetzten Mitarbeiter der Behörde zusätzlich belasten musste. Letztendlich musste sich Lykovas Ministerium allerdings unterordnen: Der Wortlaut, in dem die Instruktion im März 1965 schließlich verabschiedet wurde, folgte dem Vorschlag des Handelsministeriums. Vgl. die Verordnung des Ministerrats der RSFSR vom 9. März 1965 Nr. 320 „Über die Instruktion über das Verfahren beim Verkauf von Waren auf Kredit“ (SP RSFSR, 1965, Nr. 4, Pos. 19). 98 Während es sich hier de facto um eine bloße Gleichstellung der Rentner mit der noch arbeitenden Bevölkerung handelte, kommunizierte etwa Fogel’, Social’noe obsluživanie, S. 61, die Gewährung der Möglichkeit zur Kreditaufnahme als eine Leistung, die einen Bestandteil der „sozialen Betreuung“ älterer Menschen darstelle. 99 GARF, F. A 259, op. 45, d. 3969, l. 6. Als Argument, das für die Notwendigkeit der Aufhebung des Verbots, sprach, bezog sich auch Aleksandr I. Struev (19061991), der Vorsitzende des Staatskomitees des Ministerrats der UdSSR für den Handel, auf die Vielzahl der von Partei- und Sowjetorganen erhaltenen Briefe. Vgl. ebd., l. 68. 100 Ebd., ll. 1213 ob. Vgl. auch ebd., ll. 2022.
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Deutlich wird hier zudem, wie der Anspruch auf eine angemessene Behandlung in seiner Begründung neben der zurückliegenden Lebensleistung auch auf ideologische Verheißungen der politischen Führung Bezug und sie somit beim Worte nahm. Von dieser Strategie machten ebenfalls jene Briefautoren Gebrauch, die Anfang der siebziger Jahre, im Vorfeld des XXIV. Parteitages der KPdSU, auf die Umsetzung der lange angekündigten Erhöhung der Mindestruhestandsgelder für Arbeiter und Angestellte drängten. Die Rentner beriefen sich auf die Ankündigungen der Staatsführung, nicht ohne ihre Forderungen abermals über die Erwähnung der eigenen Lebensleistung zu legitimieren. Stellvertretend ein Auszug aus dem an den Goskomtrud adressierten Brief des Ruheständlers Pšenicyn aus Orechovo-Zuevo (Gebiet Moskau): „Uns Rentnern, die wir eine Rente von 30–40 R bekommen, war bekannt, dass die Rente gegen Ende des Fünfjahrplans, d. h. Ende 1970, erhöht werden sollte. Wir Greise sind zwischen 79 und 85 Jahre alt, haben mehr als nur ein Jahrzehnt in Fabriken gearbeitet und beziehen eine Rente, die sich von einem geringen Arbeitsentgelt ableitet. Wir sind keine Konterrevolutionäre, aber dennoch denken nicht nur wir, sondern ebenfalls die Arbeiter, dass bereits 390 Sputniks gestartet worden sind. In dieser Zeit hätte man nicht nur den Mond, sondern auch die anderen Planeten erkunden können, aber die Rente ist dieselbe geblieben. [...] Hoffentlich erleben wir es noch, dass uns die Rente erhöht wird. Wir bitten darum, das Problem auf dem Parteitag zu lösen.“101
Der Sarkasmus, in den Pšenicyn sein Unverständnis über die fehlende Umsetzung der Parteibeschlüsse kleidete, verdeutlicht beispielhaft, mit welchem Selbstbewusstsein manche Rentner ihre Postulate vertraten. Dieses mochte sicherlich nicht zuletzt aus der Verzweiflung geboren sein, aber seine Grundlage bildete doch die Vorstellung, dass eine ausreichende Absicherung im Alter das Ergebnis eines moralischen Imperativs darstellte. Die bisherigen Beispiele haben die Haltung von älteren Menschen aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten wiedergegeben. Die Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner erstreckte sich jedoch ebenfalls auf die Kolchosbauernschaft. Sicher, vor der Reform von 1964 hatte eine große Mehrheit der in den ländlichen Kollektivwirtschaften Beschäftigten keine Aussicht auf eine Alterssicherung, und auch nach dieser Zäsur nahm sich das hiesige Versorgungsniveau äußerst bescheiden aus. Viel mehr noch als jene betagten Bürger, die ihren trudovoj staž in städtischen Betrieben oder auf Sowchosen erarbeitet hatten, waren diese Menschen auf familiäre Unterstützung und die Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit angewiesen. Die unterschiedlichen Lebensbedingungen sind zweifelsohne zu 101 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, l. 185. Einen identischen Widerspruch erkennt auch Nove, Social Welfare, S. 9: „Je mehr die Sowjetunion mit ihrem technischen Fortschritt angibt, mit ihren Sputniks und Mondraketen, mit ihrer Gleichrangigkeit mit oder der Überlegenheit über die USA in Bewaffnungsfragen, desto unzufriedener werden ihre Bürger mit ihren zurückgebliebenen Lebensbedingungen, desto unverständlicher muss es erscheinen, dass nichts Drastisches unternommen wird, um diese zu verbessern.“ Weitere Beispiele für Schreiben, in denen Rentner auf die Umsetzung der Direktiven des XXIV. Parteitages drängten, finden sich z. B. in: GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, ll. 184 u. 186194; F. R 7523, op. 101, d. 514, ll. 187188.
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berücksichtigen, will man der Heterogenität der sowjetischen Altersrentnerschaft gerecht werden. Allerdings teilten ältere Kolchosbauern eine wichtige Gemeinsamkeit mit ihren Altersgenossen aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten. Auch sie selbst nahmen sich nicht als passive Empfänger staatlicher Mildtätigkeit wahr. Im Gegenteil, die ausgewerteten Äußerungen zeugen davon, dass ihre Autoren in keinem geringeren Maße der Auffassung waren, eine angemessene Absicherung zu verdienen. Aus diesem Grund traten sie dem Staat in ihren Briefen ebenfalls fordernd entgegen, als Inhaber eines als rechtmäßig empfundenen Anspruchs. Dem eigenen biographischen Kontext entsprechend bezog man sich dabei freilich vorrangig auf die Dienste bei der Entwicklung der sowjetischen Landwirtschaft. Darüber hinaus schrieb man der eigenen Lebensleistung auch einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen zu. So befand etwa die aus dem Gebiet Jaroslavl’ stammende Bäuerin E. F. Demidova gegenüber der Zeitung Sel’skoe chozjajstvo, dass, wenn „wir Kolchosbauern nicht Nahrung für die Arbeiter geliefert hätten, [...] keine einzige Fabrik, kein einziges Werk [hätte] funktionieren können“.102 Ein für Kolchosbauern spezifisches Motiv bei der Darlegung der eigenen Verdienste war die Bezugnahme auf den persönlichen Beitrag zur Kollektivierung der Landwirtschaft. Neben der Erinnerung daran, dass man dem Kolchos schon in den Anfangsjahren beigetreten war,103 unterstrichen die Autoren ihre Systemkonformität auch mit der Erwähnung, dass sie in vorderster Front an den weniger angenehmen Seiten der Gründerzeit beteiligt gewesen waren. So kritisierte beispielsweise 1960 die Kolchosbäuerin N. Ja. Zajka (Gebiet Sumy) den geringen Umfang der ihr vom Kolchos zugeteilten Alterssicherung, indem sie feststellte: „Ich bin seit 1930 Kolchosmitglied. Immer war ich im Aktiv, führte den Kampf gegen Kulaken und Desorganisatoren. [...] Die Kinder jener Kulaken und Mittelbauern, die wir verbannten, gingen in die Industrie und bekommen dort nun eine Rente vom Staat. [...]. Wir Veteranen der Kolchosarbeit schlagen vor, dass man uns, den Aktivisten und Organisatoren der kollektivwirtschaftlichen Ordnung, die wir in den Kolchosen mehr als 30 Jahre gearbeitet haben, eine staatliche Rente zuerkennt.“104
102 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, ll. 245246. Vgl. ebenso ebd., l. 232; GARF, F. R 7523, op. 78, d. 359, l. 187; op. 83, d. 427, ll. 78; RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 762, ll. 4748. 103 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 78, d. 359, l. 6. 104 GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, ll. 2122. Vgl. auch ebd., op. 83, d. 427, l. 8; op. 75, d. 2362, ll. 242243; op. 78, d. 359, l. 6; RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 761, l. 76. Dass eine solche „Veteranenschaft“ von offizieller Seite akzeptiert wurde, bestätigte der sowjetische Agrarminister V. V. Mackeviþ 1958 in einem Bericht an den Ministerrat der UdSSR. In ihm kam er auf das Problem zu sprechen, dass infolge der Sowchosierung nicht zuletzt gerade diese Menschen einer Unterstützung im Alter entbehren mussten: „In der überwältigenden Mehrheit sind das genau jene Kolchosbauern, die in den Jahren der durchgängigen Kollektivierung und der Liquidierung des Kulakentums als Klasse die Mühen der Kolchosorganisation auf ihren Schultern trugen und nicht wenige Arbeit in ihre Stärkung und Entwicklung investierten.“ GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, l. 196. Eine praktische Anerkennung der Verdienste dieses Teils der ländlichen Bevölkerung bedeutete freilich ebenso die bereits erwähnte Regelung, dass ihnen ab 1965 auch dann eine Kolchosrente erteilt werden sollte, wenn sie „faktisch“ aus dem Artel ausgeschieden waren.
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Der Gedanke, dass der in den Kollektivwirtschaften geleistete Beitrag zum Aufbau des Sozialismus nicht geringer zu gewichten war als die Arbeit in den Fabriken und Sowchosen, findet sich ebenfalls in Äußerungen aus der Zeit nach der Verabschiedung des Kolchosrentengesetzes. Dessen Modalitäten boten älteren Landbewohnern, wie dargelegt wurde, noch immer genügend Anlässe, eine weitere Verbesserung ihrer Situation einzufordern. Und auch hier bot die vor dem im Frühjahr 1971 organisierten XXIV. Parteitag erfolgte Aufforderung an die Bevölkerung, in Briefen kundzutun, welche Themen bei dieser Gelegenheit zur Sprache kommen sollten, eine passende Gelegenheit, um Korrekturen einzufordern. So begründeten die bereits erwähnten Boksitogorsker Kolchosrentner ihren Anspruch auf eine Anhebung der Mindestrente gleichfalls mit der vieljährigen Arbeit für das landwirtschaftliche Artel: „Schon in den ersten Jahren der Kollektivierung traten wir den Kolchosen bei. Anfangs arbeiteten wir mit der Hand, bestellten den Boden mit Pferden und Ochsen und verwendeten Bastkörbe zur Aussaat. Wir stärkten die Kolchosen und wurden irgendwann zu Veteranen des Krieges und der Arbeit [...]. Wir bitten die Sowjetregierung darum, unsere Frage auf dem XXIV. Parteitag zu entscheiden.“105
Es ist demnach festzuhalten, dass die sowjetische Rentenpolitik die Sozialstruktur der UdSSR nachhaltig beeinflusste, indem sie die Altersrentner zu einer eigenständigen sozialen Einheit von – schon aufgrund der zahlenmäßigen Entwicklung – wachsender gesellschaftlicher Bedeutung werden ließ. Von einer bloßen sozialrechtlichen Kategorie unterschied diesen Bevölkerungsteil, dass er bei aller Heterogenität Überschneidungen hinsichtlich seiner Wertorientierungen und Verhaltensweisen im lepsiusschen Sinne aufwies:106 Vor dem Hintergrund der eigenen Vorleistungen deutete man die materielle Versorgung im Alter als einen berechtigten Anspruch. Diese Auffassung manifestierte sich dergestalt als ein ähnliches Verhalten, als dass ältere Briefschreiber von der gleichen Argumentationsstrategie Gebrauch machten: Sie verwiesen auf die eigenen Verdienste, den Beitrag, den sie mit ihrer Arbeit in der Industrie, in den Sowchosen und den Kolchosen des Landes zum Aufbau des Sozialismus geleistet hatten. Und sie traten im Verhältnis zu den staatlichen Instanzen, an die sie sich wandten, nicht selten fordernd auf, als Kreditoren, die auf die Einlösung einer ihnen gegenüber bestehenden Schuld pochten. Lassen sich diese Menschen folglich als „Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner“ konzeptualisieren, so ist hervorzuheben, dass ihr nicht nur Sowjetbürger zuzurechnen waren, denen eine monatliche Ruhestandszahlung bereits bewilligt worden war. Wie die Zitatbeispiele nahe legen, gaben ältere Arbeiter, Angestellte und Kolchosbauern, denen der Rentnerstatus nicht oder noch nicht verliehen worden war, ihren Wechselseitigkeitsvorstellungen in identischer Form Ausdruck. Als konstitutives Element ist demzufolge nicht allein die Verleihung des Rechtstitels selbst, sondern bereits seine Inaussichtstellung für die Zukunft
105 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, l. 190. 106 Vgl. Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 182.
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oder eine Verleihung an andere Bevölkerungsgruppen zu betrachten.107 Diese Erteilung wurde von den Unberücksichtigten als Ungerechtigkeit wahrgenommen und weckte bzw. verstärkte eigene Erwartungen auf ein Entgegenkommen des Parteistaates. In einer Gesellschaft hingegen, die das Institut der Altersrente nicht als eine für größere Teile der Allgemeinheit vorgesehene Leistung kannte, war es weitaus unwahrscheinlicher, dass sich ein derartiges Anspruchsdenken formieren konnte. Betrachtet man die Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner im Gesamtkontext der sowjetischen Gesellschaft, so stellt sich die Frage, wie sie von anderen Bevölkerungsgruppen abzugrenzen ist. Stephen Lovell plädiert dafür, die entitlement communities der Altersrentner und Kriegsveteranen gemeinsam zu betrachten, und argumentiert, dass es in den auf die Staatsrentenreform folgenden Jahrzehnten im Zuge der demographischen Entwicklung zu einer stetigen Angleichung beider Bevölkerungsgruppen gekommen sei. Sowohl die sowjetische Rentnerschaft als auch jene Bürger der UdSSR, die am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hätten, seien bis Ende der siebziger Jahre in einem Maße gealtert, dass das Wort „Veteran“ ebenso wie der „Rentner“ die Funktion eines Synonyms für einen „alten Menschen“ erlangt hätten: „Obwohl der Rentner von 1956 nicht zwangsläufig eine alte Person war, verstärkte sich in den folgenden Jahrzehnten die Verbindung zwischen der Alterung und dem Rentnerstatus [...]. Die Erfindung und Konsolidierung des sowjetischen Altersrentners erwies sich als perfekt mit derjenigen des Veteranen harmonierend. Während der Große Vaterländische Krieg als die bestimmende Kollektiverfahrung der sowjetischen ,Nation ދetabliert wurde, kam es im Laufe der Zeit [...] dazu, dass sich die ,Kriegsgeneration ދschließlich gänzlich mit der ,älteren Generation ދdeckte.“108
Der „Rentner-Identität“, so Lovell, sei es gelungen, sich an die Entwicklung derjenigen des „Veteranen“ zu hängen und von ihrem Prestige zu profitieren. Als sichtbarer Ausdruck eines solchen Zusammengehens gilt ihm dabei die terminologische Parallelisierung, in deren Folge der Veteranen-Begriff verstärkt auch zur Beschreibung der Ruheständler verwendet worden sei.109 Zudem hätten das Verdienst der Veteranen der Arbeit in der zweiten Hälfte des Brežnev-Regimes im öffentlichen Diskurs oft im gleichen Atemzuge Erwähnung gefunden wie jenes 107 Da auch Nichtrentenberechtigte der Anspruchsgemeinschaft angehörten, erscheint die Bezeichnung derselben als „Altersrentner“ auf den ersten Blick als ungenau. Rechtfertigung findet sie jedoch nicht nur in der Tatsache, dass ein großer Teil der Mitglieder eine solche Leistung tatsächlich erhielt, sondern ebenfalls in dem Umstand, dass das Ruhestandsgeld auch im Zentrum der Bemühungen der Nichtrentenberechtigten um eine Sicherung des eigenen Lebensabends stand. 108 Lovell, Soviet Russiaތs Older Generations, S. 222. Gegen eine Gleichsetzung beider Anspruchsgemeinschaften spricht, dass sich die ehemaligen Frontsoldaten in ihrem Durchschnittsalter tatsächlich nur innerhalb eines relativ kurzen Zeitfensters den Altersrentnern annäherten. Bereits Ende 1979 fiel die Rote Armee in Afghanistan ein, und die folgenden verlustreichen zehn Jahre führten abermals zu einer erheblichen Verjüngung der Veteranenschaft. Edeles Konzept, das ja ebenfalls die Soldaten des Ersten Welt- und des Bürgerkriegs integriert, ist unzweifelhaft auch auf diese neuen frontoviki auszudehnen. 109 Vgl. ders., Les enjeux politiques, S. 115.
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der Helden von Stalingrad und Kursk. Ab diesem Zeitpunkt habe, so Lovell, die ältere Generation in ihrer Gesamtheit „eine kohärente und etablierte soziale Identität“ dargestellt, die über moralische Autorität und ein hohes gesellschaftliches Ansehen verfügte.110 Sicherlich ist zu hinterfragen, ob man aus der propagandistischen Zelebrierung der älteren Bevölkerungsteile, der Leistungen von Kriegs- und Arbeitsveteranen, auf ihr tatsächliches Prestige zu schließen vermag. Die Menschen werden die ihnen entgegengebrachte gesellschaftliche Wertschätzung nicht zuletzt aus der Höhe ihrer Renten abgeleitet haben. Um ihre Versorgung war es Ende der 1970er Jahre jedoch schlechter bestellt als in den Jahren unmittelbar nach der Staatsrentenreform, in denen ordenbehangene Senioren noch nicht zu festlichen Anlässen paradiert hatten.111 Dafür, dass die gelenkte sowjetische Öffentlichkeit Ende der 1970er Jahre verstärkt dazu tendierte, die Kriegsteilnehmer und Rentner als miteinander „verwandte“ Bevölkerungsteile, vielleicht sogar zusammenfassend als „die ältere Generation“ wahrzunehmen, mag einiges sprechen. Dergestalt wäre auch die auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU angekündigte und vom Politbüro am 25. September 1986 beschlossene Gründung des „Allunionsrats der Kriegs- und Arbeitsveteranen“ zu interpretieren. Mit ihm richtete man einen nationalen Dachverband ein, der als institutionelle Vertretung der älteren Bevölkerungsteile in der UdSSR verstanden werden sollte.112 Aus dieser Entwicklung ist jedoch noch nicht abzuleiten, dass Kriegsveteranen und Rentnerschaft tatsächlich eine gemeinsame „soziale Identität“ besessen bzw. – um dem Edeleschen Sprachgebrauch verhaftet zu bleiben – eine einheitliche Anspruchsgemeinschaft gebildet hätten. Der Empfindung des Einzelnen, dass der Staat ihm etwas für in der Vergangenheit erbrachte Leistungen schuldete, ist eine Schlüsselfunktion bei der Konstituierung der sozialen Einheit zuzuweisen. Deshalb scheint es angebracht, die Spezifität des jeweiligen Anspruches ebenfalls als Grundlage für die Differenzierung verschiedener Teile der älteren Bevölkerung zu nehmen. Gewiss würde es nicht zutreffen, wollte man die Kriegsveteranen des Zweiten Weltkrieges und die Altersrentner als in jedem Fall klar voneinander zu trennende Größen verstehen. Schließlich erhielt ein großer Teil der ehemaligen Soldaten, die weder die Voraussetzungen für eine der den Berufssoldaten offen stehenden Renten erfüllten noch eine Kriegsinvalidenrente bezogen, im Alter eine Staats- oder Kolchosrente. Diese Sowjetbürger waren folglich sowohl Altersrentner als auch Kriegsveteranen. Das bedeutet allerdings keinen Widerspruch, ist doch davon auszugehen, dass die Grenzen zwischen solchen Einheiten fließend und „multiple
110 Vgl. ders., Soviet Russiaތs Older Generations, S. 221. 111 Entsprach die durchschnittliche staatliche Altersrente 1977 39,4 % des Durchschnittslohnes von Arbeitern und Angestellten, so hatte dieser Quotient 1960 noch bei 58,9 % gelegen. Vgl. Stiller, Systeme, S. 6569; RGAƠ, F. 1562, op. 27, d. 953, l. 1. 112 Tätigkeitsschwerpunkt des Dachverbandes sollte neben der besseren Befriedigung der Bedürfnisse dieser Menschen ihre Mobilisierung für die gesellschaftlich nützliche Tätigkeit sein. Vgl. Mikul’skij u. a., Social’naja politika KPSS, S. 220; Sovety veteranov vojny; Lykova, Dela.
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Zugehörigkeiten [...] eher die Regel als die Ausnahme“ waren.113 Zudem unterschieden manche der Briefautoren, die auf ihre zurückliegenden Verdienste zu sprechen kamen, nicht explizit zwischen dem Dienst an der Waffe und dem Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft oder der Industrie.114 Da zur Selbstidentifikation älterer Sowjetbürger keine sozialwissenschaftlichen Daten vorliegen, können diesbezüglich nur Vermutungen angestellt werden. Aber es scheint doch plausibel, wenn man davon ausgeht, dass Menschen, die sowohl im Krieg gedient als auch den Status eines Altersrentners genossen, sich vorrangig über ihre Fronterfahrung definierten. Einerseits mag den oft traumatischen Erlebnissen eine größere biographische Signifikanz als der regulären Erwerbstätigkeit beigemessen worden sein, andererseits wohnte dem Status des zivilen Rentners geringeres Prestige inne. Chrušþevs Absetzung im Jahr 1964 bedeutete ebenfalls eine Zäsur in der sowjetischen, auf den Zweiten Weltkrieg bezogenen Erinnerungskultur: Nun setzte eine von offizieller Seite geförderte Glorifizierung des Sieges über das Dritte Reich ein, die in regelmäßige Erinnerungsfeiern und den Bau monumentaler, diesem Ereignis gewidmeter Denkmäler mündete. Am Jahrestag des Sieges musste nicht mehr gearbeitet werden, und den frontoviki wurden Gedenkmedaillen ausgehändigt.115 Die Kriegsveteranen wurden unter Brežnev als „,moralische Vorbilderދ, Hüter der ,unerschütterlichen Grundsätze[ ]ދund der ,besten Eigenschaften des sowjetischen Menschen “ދdargestellt.116 Es ist deshalb anzunehmen, dass sich die derart Aufgewerteten in ihrem Selbstverständnis deutlich von gleichaltrigen Mitbürgern distanzierten, die das Kriegserlebnis nicht geteilt hatten. Menschen, die sich in hohem Maße über den Einsatz ihres Lebens und die Erfahrung äußerster Gewalt definierten, akzeptierten den langjährigen Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft aller Voraussicht nach ebenso wenig wie die Beschäftigung in der Industrie als Leistungen, die den ihren vergleichbar waren. In diesem Sinne lassen sich auch die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre kulminierenden und schließlich erfolgreichen Bemühungen, besondere Privilegien für die Kriegsteilnehmer zu erlangen, interpretieren: Sie belegen nachgerade, dass man für sich selbst eine Sonderrolle innerhalb der eigenen Altersgruppe reklamierte. Trotz der personellen Überschneidungen und der vorhandenen Parallelen im Hinblick auf ihr fortgeschrittenes Lebensalter und ihre Wechselseitigkeitserwartungen sind Kriegsveteranen und Altersrentner demzufolge als separate Anspruchsgemeinschaften zu verstehen. Dies gilt ebenfalls für Bevölkerungsgruppen wie – um nur zwei Beispiele zu nennen – persönliche Rentner und Wissenschaftlerrentner. Erstere mochten ihren Anspruch auf ein Entgegenkommen des Staates auf ihre „besonderen Verdienste gegenüber dem Sowjetstaat im Bereich der revolutionären, staatlichen, gesellschaftlichen und wirt113 Creuzberger Lindner, Das Geheimnis, S. 312. Vgl. auch Calhoun, Social Theory, S. 2729; Mitnick, Rights, S. 92. 114 Vgl. z. B. GARF, F. R 7523, op. 78, d. 68, l. 49; op. 83, d. 346, l. 195; RGANI, F. 5, op. 63, d. 110, l. 104. 115 Vgl. Fieseler Ganzenmüller, Einführung, S. 8. 116 Dubin, Goldene Zeiten, S. 228.
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schaftlichen Tätigkeit“117 zurückführen. Und auch die Wissenschaftlerrentner werden ihre in der Vergangenheit erbrachten Beiträge auf dem Gebiet der Forschung und der Ausbildung junger Akademiker sicherlich nicht selten als Leistungen begriffen haben, die sie von der Masse der übrigen älteren Arbeiter und Angestellten abhoben. Die dem Gedanken der Anspruchsgemeinschaft zugrundeliegenden Vorstellungen wurzelten freilich nicht nur in dem individuellen Empfinden der potentiellen und tatsächlichen Rentenbezieher. Sie müssen gleichfalls als ein Ergebnis des offiziellen Diskurses betrachtet werden: Die Darstellung des wechselseitigen Charakters der Sozialleistungen befand sich im Zentrum einer wohlfahrtspolitischen Propaganda, in deren Kontext die Fürsorge immer auch als ein Mittel der Mobilisierung zu begreifen war. Den verschiedenen Ebenen, auf denen sich diese „Reziprozität“ manifestierte, widmet sich die Arbeit im Folgenden. Zuvor ist allerdings auf den Umstand zu sprechen zu kommen, dass sich die sozialstrukturellen Folgen der Rentenpolitik nicht auf die Erzeugung von Anspruchsgemeinschaften beschränkten.
5.3. DIE SOZIAL DIFFERENZIERENDEN WIRKUNGEN DER RENTENPOLITIK DIE SOZIAL DIFFERE NZIERENDEN WI RKUNGEN DER RENTENPOLITIK
DIE SOZIAL DIFFE RENZIERENDEN WIRKUNGEN DE R REN TENPOLITIK
Die Ambivalenz der Rentenreformen zeigt sich darin, dass sie, parallel zu den beschriebenen Effekten, ebenfalls neue Oppositionen innerhalb der Bevölkerung erzeugten – oder zumindest gesellschaftliche Ungleichheiten, die bereits die Lebensphase der Erwerbstätigkeit gekennzeichnet hatten, bekräftigten. Unterschiede im Leistungsniveau und in den Bezugsvoraussetzungen führten bei den jeweils Benachteiligten zu einer Unzufriedenheit, welche sich abermals anhand von Briefen vermittelte, die aus diesem Anlass an die zentralen Instanzen geschickt wurden. Sie sind gerade deshalb von Interesse, weil viele von ihnen Momente der Abgrenzung gegenüber jenen Bevölkerungsgruppen enthalten, die als Nutznießer einer Begünstigung wahrgenommen wurden. Eine „soziale Realität“ gewann folglich nicht nur die Verleihung des Status Altersrentner, sondern auch die Zuordnung zu Subkategorien wie jener des Teil- oder Vorzugsrentners, des Staatsrentners mit „Verbindung zur Landwirtschaft“ oder des Kolchosrentners. Einen Beleg für die differenzierende Qualität des uneinheitlichen Zugangs zu den Rentenleistungen stellen etwa die obenerwähnten Äußerungen aus dem Jahr 1953 dar, in denen Bürger sich über die Besserstellung von ehemaligen Berufssoldaten beklagten. Gewöhnliche Arbeiter und Angestellte, die zu diesem Zeitpunkt mit äußerst niedrigen Rentenzahlungen zu kalkulieren hatten, hegten kein Verständnis dafür, dass für das Alter der Berufssoldaten im Übermaß gesorgt
117 Ziff. 1 der „Ordnung über die persönlichen Renten“, bestätigt durch die Verordnung des Ministerrats der UdSSR vom 14. November 1956 Nr. 1475 (SP SSSR, 1957, Nr. 2, Pos. 8). Vgl. auch Karcchija, Pravovye voprosy, S. 67.
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war.118 Gleiches galt auch im Hinblick auf die Bezieher persönlicher Renten. So forderte ein Mann namens Šerstjuk aus Poltava 1954 in einem an die Pravda adressierten Leserbrief, „die Höhe der persönlichen Renten und der militärischen Dienstaltersrenten zu verringern und das erbärmliche Niveau der Renten für die gewöhnlichen Sterblichen anzuheben“.119 Ein mit der Staatsrentenreform verbundenes Ziel Anliegen hatte bekanntlich in der Reduzierung der Disproportion zwischen den „erhöhten Renten“ für die Mitglieder bestimmter Berufsgruppen und den äußerst niedrigen regulären Leistungen bestanden, die für die Gesetzgebung der Stalinzeit kennzeichnend gewesen war. Durch die Festsetzung der Höchst- und Mindestrenten näherte man sich diesem Ziel. Dessen ungeachtet wurden Elemente der Differenzierung der Altersrentnerschaft durch die neu eingeführten Vorzugsrenten beibehalten. Vieles spricht dafür, dass die Standardrentner bestimmte Aspekte einer solchen Privilegierung als ungerecht empfanden. Einen Anlass zur Unzufriedenheit boten hier u. a. die Regelungen zur Weiterarbeit, die jene Rentner begünstigten, die sich für eine Vorzugsleistung „gemäß Liste I“ qualifiziert hatten. Der durch diese Ungleichbehandlung hervorgerufene Unmut vermittelte sich auch M. S. Lancev, der 1961 in einem Bericht für den Goskomtrud-Vorsitzenden auf mögliche Nachbesserungen an der Altersrentengesetzgebung einging. Im Zuge seiner Argumentation für eine Veränderung der Regelungen zur Weiterarbeit stützte er sich dabei auf die Häufigkeit, mit der das Problem von den betroffenen Bevölkerungsteilen thematisiert wurde: „In vielzähligen Briefen von Werktätigen, die bei Regierungsorganisationen und im Komitee eintreffen, wird vorgeschlagen, für die Auszahlung von Vorzugsaltersrenten an arbeitende Ruheständler genau dasselbe Verfahren anzuwenden wie bei der Auszahlung gewöhnlicher Altersrenten [...]. Die Abteilung für die staatliche Rentenversorgung unterstützt diesen Vorschlag.“120
Noch deutlicher traten die rentenpolitisch bewirkten „Spannungen“ zwischen Beziehergruppen am Beispiel der Kolchosrentenversorgung zutage. Schon im Zeitraum vor 1965 hatten kolchozniki nicht nur allgemein die Abwesenheit einer flächendeckenden staatlichen Hilfe missbilligt, sondern häufig auch ihrer Empörung darüber Ausdruck verliehen, dass die staatlichen Altersrentner ungleich besser gestellt waren. Die Reform vom 15. Juli 1964 veränderte hier allein in dem Sinne 118 Vgl. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 51, l. 6. Forderungen nach einer Korrektur der Rentenbestimmungen für Offiziere wurden auch noch zwei Jahre später laut. Vgl. hierzu ebd., op. 75, d. 1570, l. 124. 119 RGANI, F. 5, op. 30, d. 59, l. 118. Aufschlussreich ist ebenfalls der Leserbrief der A. Ja. Geletka aus der Stadt Uman’ (Ukrainische SSR). Sie schrieb von der Begegnung mit einem fünfzigjährigen Major im Ruhestand, der eine Rente von 305 R beziehe, obwohl er, wie er selbst zugebe, noch zehn Jahre lang in der Armee dienen könne. „Man kommt aus dem Staunen nicht heraus, wie so etwas in unserem Staat der Werktätigen passieren kann, wo alle Arbeitsfähigen dazu verpflichtet sind, ihren Möglichkeiten entsprechend zu arbeiten. Als erzeuge man speziell eine Kaste der Faulenzer, die [...] über alle Maßen versorgt werden.“ Ebd., ll. 123124. Vgl. auch GARF, F. R 7523, op. 45, d. 293, ll. 5658. 120 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 1130, l. 276.
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etwas, dass nun meist nicht mehr der Zustand vollständiger Unversorgung, sondern das im Kontrast zu den Arbeitern und Angestellten deutlich niedrigere Sicherungsniveau bemängelt wurde. Eine Kontinuität herrschte fraglos darin, dass die eigene Benachteiligung als schmerzlicher Beleg dafür wahrgenommen wurde, dass sich die konstitutionell verankerte Gleichberechtigung aller Sowjetbürger de facto nicht auf die Artelmitglieder erstreckte.121 Beispielhaft für jene Briefautoren, die Ende der 1950er Jahre keinerlei Hilfeleistungen bezogen, kritisierte etwa die bereits angeführte E. F. Demidova 1958, dass eine Bekannte gleichen Alters – im Gegensatz zu ihr selbst – versorgt werde. Angesichts der Leistungen der Kolchosbauernschaft, die nicht hinter jenen der Industriearbeiter zurückstünden, sei das nicht nachzuvollziehen: „Mich interessiert, warum es so ist, dass Arbeiter und Angestellte auf der Grundlage ihrer Lebensarbeitszeit und ihres Alters ein Ruhestandsgeld bekommen, ihr Alter staatlich abgesichert ist. Und was bin ich denn, etwa ein Stiefkind der Sowjetmacht? Meine gleichaltrige Freundin von nebenan befindet sich schon im Ruhestand, ich aber nicht. Ich meine, dass das sehr ungerecht ist.“122
Eine ähnliche Auffassung kennzeichnete die Haltung jener insgesamt 15 Kolchosbauern aus dem Gebiet Saratov, die sich 1960 an das sowjetische Landwirtschaftsministerium wandten. Ihr Schreiben stieß dort auf so viel Aufmerksamkeit, dass es an die Kommissionen für Gesetzesvorschläge der beiden Kammern des Obersten Sowjets der UdSSR weitergeleitet wurde. Unter Verwendung der üblichen ideologischen Versatzstücke verwiesen die Verfasser darauf, dass man in der Periode des kommunistischen Aufbaus lebe, einer Zeit, in der Wissenschaft und Technik in noch nie gesehener Weise entwickelt würden und in der der Frieden über den Krieg gesiegt habe. Zu diesen Errungenschaften, so der Tenor des Schreibens, hätten auch die Kolchosbauern das Ihre beigetragen. Unerklärlich sei deshalb ihre drastische Benachteiligung: „[Es ist, als ob] die Ungleichheit von Arbeitern und Kolchosbauern im Staat die Kolchosbauern auf die Position von Hilfsarbeitern des Staates verweisen würde, und nicht auf die von den Arbeitern und Angestellten gleichberechtigten Mitgliedern. Es ist die Zeit gekommen, die Kolchosbauern nicht nur als Mitglieder des Staates anzuerkennen, wenn sie vor Gesundheit strotzen, sondern auch dann, wenn sie krank sind, invalide oder alt. [...] Die Sowchosarbeiter gehen im Alter in die Rente, die Kolchosbauern werden hingegen von den Kindern versorgt (wenn sie welche haben), oder der Kolchos gibt ihnen 16 kg Brot im Monat, was 27–30 R* kostet. So überzeugend sieht die Gleichheit von Arbeitern und Kolchosbauern aus, wobei die einen wie die anderen sich mit der Herstellung von Brot beschäftigen. Von daher kommt auch das Missverhältnis zwischen dem Leben der Stadt und dem des Dorfes; beim Aufbau der kommunistischen Gesellschaft müssen diese Grenzen überwunden werden. [...] Es ist notwendig, die
121 Art. 123 der sowjetischen Verfassung von 1936 stellte fest: „Die Gleichberechtigung der Bürger der UdSSR auf sämtlichen Gebieten des wirtschaftlichen, staatlichen, kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens, unabhängig von ihrer Nationalität und Rasse, ist unverbrüchliches Gesetz.“ Stalin, Über den Entwurf, S. 91. 122 GARF, F. R 7523, op. 75, d. 2362, ll. 245246.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur Arbeit der Kolchosbauern als gleichwertig mit der der Arbeiter und Angestellten anzuerkennen, ebenso ihr Recht auf Heilung, Erholung und ein versorgtes Alter.“123
Nach der Verabschiedung des Kolchosrentengesetzes berief man sich auf jene seiner Bestimmungen, die eine Benachteiligung gegenüber den Arbeitern und Angestellten bedeuteten. Einen zentralen Gegenstand der Kritik stellte dabei die geringe Höhe der Leistungen dar. Auf den Punkt brachten diese Haltung einige Kolchosbäuerinnen aus dem weißrussischen Gebiet Gomel’, die im Jahre 1971 an den Goskomtrud schrieben. Auch sie störten sich speziell an dem Umstand, dass Sowchosarbeiter und -arbeiterinnen identischen Tätigkeiten nachgingen, für sie aber nicht nur besser entlohnt wurden, sondern ebenfalls eine weit großzügigere Alterssicherung erwarten konnten. Es erschien ihnen offensichtlich, dass bei der Versorgung der älteren Sowjetbürger zweierlei Maß angelegt wurde: „Wir arbeiten als Melkerinnen im Lepešinskij-Kolchos. Geht eine Melkerin des Kolchos in Rente, dann bekommt sie ein Ruhestandsgeld von 12 R. Eine Melkerin des Sowchos bekommt jedoch bis zu 50 R, obwohl die Arbeit bei ihnen dieselbe ist. Warum gibt es denn eine solche Ungerechtigkeit? Wir bitten Sie darum, unsere Eingabe [...] zu prüfen und dafür zu sorgen, dass die Renten für Kolchosbauern-Arbeiter und Sowchosarbeiter identisch sind.“124
Bei der Darstellung der Reaktionen auf das Kolchosrentengesetz wurde im Vorangegangenen bereits darauf hingewiesen, dass das Eintrittsalter von 60 bzw. 65 Jahren zu jenen Bestimmungen zählte, die den größten Unwillen bei den Betroffenen erregten. Seine Unpopularität erklärt sich nicht allein aus der Auffassung, dass diese Altersgrenze als ein Widerspruch zur biologisch bedingten Leistungsfähigkeit älterer Kolchosbauern wahrgenommen wurde. Als ausschlaggebend für die Häufigkeit, mit der eine Nachbesserung des entsprechenden Passus eingefordert wurde, muss der Vergleich mit den für die Staatsrentner geltenden Bezugsbedingungen angenommen werden.125 123 GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, l. 18. 124 GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, ll. 189190. Weitere Beispiele für Briefe, in denen Kolchosbauern sich über die Besserstellung speziell von Sowchosarbeitern beklagten, finden sich z. B. in: ebd., F. R 7523, op. 83, d. 427, l. 212; RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 761, ll. 72 73; d. 762, l. 47. Einen Beleg dafür, dass diese Perspektive auch von manchen Funktionären geteilt wurde, bietet die „Auskunft über die Praxis der Anwendung des Gesetzes über die Renten und Beihilfen für Kolchosmitglieder in der Kirgisischen SSR“, die T. B. Baltagulov im Herbst 1965 für die Kommission für Gesetzesvorschläge des Nationalitätenrates im Obersten Sowjet der UdSSR erstellte. Zu den hier aufgeführten Vorschlägen, wie die Kolchosrentenreform zu verbessern sei, gehörte die Anpassung des Rentenalters an jenes der Arbeiter und Angestellten. Diesen Gedanken begründete Baltagulov mit dem Hinweis darauf, dass „Arbeitsaufwand und -bedingungen in der landwirtschaftlichen Produktion sowohl in Sowchosen und anderen Agrarbetrieben als auch in Kolchosen identisch“ seien. GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 398, l. 119. Vgl. auch ebd., F. A 259, op. 45, d. 2706, l. 47. 125 So heißt es im bereits angeführten Bericht der Babkin-Arbeitsgruppe über die Umsetzung des Kolchosrentengesetzes: „Das Hauptmotiv für diesen Vorschlag besteht darin, dass Arbeitern und Angestellten, darunter ebenfalls jenen der Sowchosen, sowie auch einigen Kategorien von Kolchosbauern (den Kolchosvorsitzenden, Spezialisten und Mechanisatoren) die Altersrente [bereits] im Alter von 60 (Männer) und 55 Jahren (Frauen) erteilt wird.“ GARF, F. R 7523, op. 45a, d. 399, l. 95.
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Der Vorstellung, gegenüber Arbeitern und Angestellten diskriminiert zu sein, verlieh auch ein Mann namens Eršov Ausdruck, der sich 1965 an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR wandte: Er deutete das höhere Eintrittsalter der kolchozniki als Ergebnis fehlender Anerkennung und folgerte daraus, dass man „Kolchosbauern für Menschen zweiter Wahl“ halte.126 Ebenso als Kränkung wurde diese Ungleichbehandlung von Mitgliedern des Kolchos „Bol’ševik“ im Gebiet Voronež empfunden. An den Ministerrat der UdSSR gewandt, fragten sie 1965: „Welchen Unterschied gibt es denn zwischen Arbeitern und Kolchosbauern? Die Ersten produzieren Werte für die Industrie, und wir Kolchosbauern stellen jenen Wert her, ohne den kein Mensch existieren kann. Und was passiert? Eine technische Angestellte des Dorfsowjets geht mit 55 Jahren in den Ruhestand, eine Kolchosbäuerin hingegen, die in ihrer Nachbarschaft wohnt und schwerer gearbeitet hat, mit 60. Wir halten das für von Grund auf ungerecht.“127
Die Vorschrift, dass eine Person, die sich um eine Altersrente bemühte, zum Zeitpunkt der Antragstellung Mitglied in einem Kolchos sein musste, übte einen ähnlichen Effekt aus. So drückte V. I. Jarancev aus der Kabardino-Balkarischen ASSR gegenüber dem Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR sein Befremden über diese Bestimmung aus. Eine ihm bekannte Frau, die im Alter von 58 Jahren – und nach 28-jähriger Kolchoszugehörigkeit – aus dem Artel ausgeschieden sei, besitze keinen Versorgungsanspruch: „In der Bezirksabteilung hat man mir erklärt, dass sie nicht die Voraussetzungen erfülle, um eine Kolchosrente zu bekommen. Das hat mich erstaunt. Arbeiter und Angestellte können an jedem Ort des Landes eine Rente beantragen, wenn sie über die notwendigen Dokumente verfügen. Wie ist es zu erklären, dass für Kolchosbauern andere Bedingungen gelten? Viele der alten Kolchosbauern werden bis ans Ende ihrer Tage beleidigt bleiben. Und was werden sie über unsere Gesetze denken?“128
Die Benachteiligung der Kolchosaltersrentner im Verhältnis zu den staatlichen Ruheständlern wirkte sich freilich nicht nur auf die Selbstverortung der älteren Generation aus. Sie musste auch für die jüngeren Mitglieder der Kollektivwirtschaften Relevanz besitzen: Einerseits lasen diese an der Situation ihrer Eltern und Großeltern ab, womit sie selbst zu rechnen hatten, wenn sie erst einmal das betreffende Alter erlangt hatten; andererseits bedeutete die fehlende oder – ab 1965 – geringe Unterstützung ihrer Verwandten durch Staat und Kolchos eine Belastung der eigenen materiellen Ressourcen. Schließlich oblag es ihnen, die Versorgungsdefizite der Angehörigen gegebenenfalls auszugleichen. Darüber hinaus wurde das bescheidene Niveau der Alterssicherung in den Gesamtkontext der Benachteiligung der Kolchosbauern eingeordnet. Ein Beispiel für eine derartige Perspektive bietet ein Brief aus dem Jahr 1958, in dem sich der zwanzigjährige V. S. Gotynjan aus dem Gebiet Odessa gegen die verbreitete Praxis wandte, kolchosinterne Renten nur an Kinderlose auszuzahlen. Dabei verband er das Unverständnis über die mangelhafte Versorgung des Vaters mit der Klage über die eigenen Bildungschancen: 126 GARF, F. R 7523, op. 83, d. 427, l. 9. 127 RGAƠ, F. 7733, op. 56, d. 761, l. 72. 128 GARF, F. R 7523, op. 83, d. 427, ll. 78.
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Die Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur „[...] unfreiwillig vergleicht man das Leben der Kolchosbauern mit demjenigen der Arbeiter. Warum existiert eine solche Gegensätzlichkeit? Warum geht ein Arbeiter, der eine bestimmte Zeit lang gearbeitet hat, in Rente, der Kolchosbauer aber nicht? Es gelten doch wohl für Kolchosbauern und für Arbeiter dieselben Rechte? [...] meine Eltern sind bereits seit vielen Jahren arbeitsunfähig. Dennoch haben sie all ihre Kräfte dafür investiert, dass unser [d. h. ihrer insgesamt drei Kinder; L. M.] Wissensdurst gestillt wird. [...] Die Verwirklichung unserer Träume wird jedoch von der Sorge um das tägliche Brot beeinträchtigt. Ganz anders verliefe mein Leben, wenn mein Vater ein Arbeiter wäre. Aber ich und meine Altersgenossen, die Kinder von Arbeitern, wir haben doch dieselben Rechte! Wieso können wir nicht in gleicher Weise vom Recht auf die Hochschulbildung Gebrauch machen?“129
Nun ist die Situation im Bereich der Altersversorgung nur einer von vielen Aspekten, die der Kolchosbauernschaft den Eindruck vermitteln mussten, „Staatsbürger minderen Rechts“130 zu sein. Einschränkungen bestanden z. B. hinsichtlich der Mobilität der kolchozniki: Da ihnen die Ausstellung von Inlandspässen versagt blieb, waren sie in einer Weise zum Verbleib in der Produktionsgenossenschaft genötigt, die an die Schollenbindung erinnerte.131 Anders als etwa Sowchosarbeiter waren sie gezwungen, ihre Arbeitskraft faktisch unentgeltlich für Zusatzaufgaben wie den Straßen- und Wegebau zur Verfügung zu stellen.132 Da Kolchosbauern formal nicht als Arbeitnehmer, sondern als „Mitbesitzer“ des jeweiligen Artels galten, standen sie zudem außerhalb der Reichweite wichtiger arbeitsrechtlicher Regelungen.133 Besonders nachteilig für den Lebensstandard wirkte sich das Arbeitsentgeltsystem der Kollektivwirtschaften aus. Ihre Mitglieder bezogen bis in die 1960er Jahre hinein keinen festen Lohn, sondern partizipierten anteilig am jährlich erwirtschafteten Ertrag des Kolchos.134
129 GARF, F. R 7523, op. 45, d. 397, l. 30. 130 Wädekin, Führungskräfte, S. 45. 131 Vgl. Berzin Panova, „Za“ i „Protiv“, S. 96; Wädekin, Führungskräfte, S. 4657. In den Besitz von Inlandspässen gelangten Kolchosbauern erst ab 1976. Zum Passwesen der UdSSR vgl. Ahlberg, Das sowjetische Paßsystem, S. 99105; Matthews, The Passport Society, S. 3034; Bilinsky, Das innere Ressort, S. 152157. 132 Kerblay, The Russian Peasant, S. 17, vergleicht diese Situation mit der Fronarbeit der zaristischen Leibeigenschaft. Dass eine solche Analogie auch von sowjetischen Schriftstellern gezogen wurde, belegt Steininger, Literatur, S. 183. 133 So konnte ein Bauer seinen Kolchos lediglich in einigen wenigen Ausnahmefällen in arbeitsrechtlichen Fragen verklagen. Darüber hinaus besaßen Arbeitsschutzbestimmungen nur eine geringe Relevanz. Ein allgemein anerkanntes Anrecht auf bezahlten Urlaub existierte nur für Arbeiter und Angestellte. Zudem erfuhr die Länge des Arbeitstages in den Kollektivwirtschaften keinerlei gesetzliche Regelung, die eine Umsetzung der verfassungsrechtlichen Vorgabe auch für diesen Bevölkerungsteil bedeutet hätte. Vgl. Wädekin, Führungskräfte, S. 61 67; Küpper, Einführung, S. 528; Bilinsky, Aktuelle Rechtsprobleme, S. 5455; Meder, Das Sowjetrecht, S. 139. 134 Der Lohnfonds bildete sich jedoch erst am Ende des Wirtschaftsjahres, nachdem sämtlichen finanziellen Verpflichtungen des Kolchos nachgekommen war. Dieser „Rest“, den man bis 1965 überwiegend auf der Grundlage der Berechnungseinheit des Tagewerks (trudoden’) unter den Mitgliedern des Artels verteilte, lag nicht selten unterhalb des Existenzminimums. Wädekin hat die rechtliche Diskriminierung der Kolchosmitglieder darauf zurückgeführt, dass für diesen Teil der ländlichen Bevölkerung de facto nicht die allgemeine Rechtsordnung
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Die sozialpolitischen Benachteiligungen sind somit nicht aus der Gesamtsituation dieses Bevölkerungsteiles zu lösen. Allerdings ist davon auszugehen, dass das fehlende bzw. bescheidenere Ruhestandsgeld angesichts des zentralen Stellenwertes, der der Rentenversorgung im Alter zukam, dem betagten Kolchosbauern besonders deutlich ein Bewusstsein dafür vermittelte, dass er eine geringere Wertschätzung seitens der Staatsmacht genoss als Arbeiter und Angestellte. Verantwortlich dafür war nicht nur der existentielle Wert der Ruhestandsleistung, sondern ebenfalls die ihr von der sozialpolitischen Propaganda verliehene Bedeutung: Die Altersrente wurde als eine Leistung kommuniziert, die den Werktätigen einen „wohlverdienten Ruhestand“ gewährleisten sollte.135 Im Umkehrschluss musste der Umstand, dass man den älteren kolchozniki faktisch einen arbeitsfreien Lebensabend verwehrte, als Hinweis darauf verstanden werden, dass deren Verdienste nicht für eine solche Gegenleistung ausreichten. Die rentenpolitische Schlechterstellung beschränkte sich somit nicht nur auf den Bereich der Umverteilung, sondern barg auch ein Moment der Hierarchisierung, da sie einen Kommentar zur Lebensleistung des Individuums und zu seinem Stellenwert im gesamtgesellschaftlichen Gefüge darstellte. Es wurde bereits angeführt, dass die Schlechterstellung einzelner Ruheständlerkategorien nicht allein auf die Höhe des früher bezogenen Erwerbsentgelts zurückzuführen war: Wenn die Mindestalterssicherung von Kolchosbauern nicht einmal zur Hälfte derjenigen der Arbeiter und Angestellten entsprach, wenn sich die Weiterarbeit für Vorzugsaltersrentner weit mehr lohnte als für Standardruheständler, dann zeichneten hierfür primär die Bestimmungen der Rentengesetzgebung selbst verantwortlich. Aufgrund des für diese Bevölkerungsgruppen jeweils unterschiedlichen Zuganges zu den Sozialleistungen sowie der Ungleichheit im Verhältnis zwischen der zurückliegenden Arbeitsleistung und dem im Alter genossenen Versorgungsniveau lassen sich diese Subkategorien als Versorgungsklassen verstehen. Signifikant ist dabei, dass sich eine solche Charakterisierung kaum für jene Kritik anfällig zeigt, die Jens Alber gegen das Konzept ins Feld geführt hat. Wie oben dargestellt, argumentiert er – bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland – gegen die Vorstellung, dass eine sozialpolitische Diskriminierung als Fundament für die Formierung von Interessengruppen dienen könne, und verweist dabei darauf, dass zwischen „den Empfängern verschiedener Sozialleistungen [...] keine strukturell vorgegebenen Kontakte oder Kommunikationskanäle“ bestünden. Relevant sei dies aus dem einfachen Grund, dass „Disparitäten, die nicht wahrgenommen werden und nicht in regelmäßigen Kontakten zum Tragen kommen, [...] als Basis für die Organisation von Konfliktgruppen ungeeignet“ erschienen.136 Es trifft sicherlich zu, dass sich auch im sowjetischen Fall keine Belege dafür finden lassen, dass die spezifischen Anliegen der Mitglieder von Rentnerkategogegolten habe, sondern die im Statut der jeweiligen Kollektivwirtschaft festgelegten Bestimmungen. Vgl. Wädekin, Führungskräfte, S. 45. 135 Siehe Abs. 6.2.3. 136 Alber, Versorgungsklassen, S. 228.
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rien als Ausgangspunkt für Organisationsprozesse gedient hätten: Interessengruppen, die sich dezidiert mit der Verbesserung der Lage von Kolchosrentnern oder der Gleichberechtigung von staatlichen Standardrentnern beschäftigten, existierten selbst auf lokaler Ebene aller Voraussicht nach nicht.137 Davon abgesehen lassen die ausgewerteten Briefe jedoch darauf schließen, dass die betroffenen Bürger – auch in Ermangelung der genannten „Kommunikationskanäle“ – über ein sehr ausgeprägtes Bewusstsein für die teils eklatanten Ungleichheiten verfügten. Für dessen Entwicklung reichte offenkundig aus, dass man über die Rentenmodalitäten anderer Bevölkerungsteile informiert war und sie in Relation zu der eigenen Situation setzte. Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass Eingaben und Petitionen durchaus als ein Mittel der Auseinandersetzung im „Kampf“ um knappe Ressourcen anzusehen sind: Die Autoren vertraten ihre Anliegen gegenüber jenen Instanzen, von denen sie vermuteten, dass sie eine Entscheidung zu ihren Gunsten herbeiführen oder zumindest positiv beeinflussen konnten. Diese Versuche älterer Menschen, eine Verbesserung der eigenen Lage bzw. eine Reduzierung des Versorgungsvorsprungs anderer zu erreichen, können somit mit einiger Berechtigung als Ausdruck eines „sozialen Konflikts“ gelten: Nach Lewis A. Coser ist ein solcher Gegensatz als „Kampf um Werte und um Anrecht auf mangelnden Status, auf Macht und Mittel, [als] Kampf, in dem einander zuwiderlaufende Interessen notwendig einander entweder neutralisieren oder verletzen oder ganz ausschalten“,138
zu verstehen. Diese Definition lässt sich auch auf die hier geschilderten Fälle übertragen. Der Organisationsgrad der beteiligten Parteien, also die Frage, ob es sich um Interessengruppen bzw. -verbände handelte oder ob die jeweilige Versorgungsklasse lediglich als Chor von ähnlich lautenden Einzelstimmen zu fassen war, erscheint dabei von sekundärer Bedeutung. Demzufolge lassen sich die vom Regime vorgenommenen Nachbesserungen am Niveau der Versorgung sowie an den Bezugsbedingungen als partielle Erfolge der Bemühungen einzelner „Konfliktparteien“ um Gleichberechtigung interpretieren: Hierzu zählte ebenso die Reform vom 15. Juli 1964 wie die 1967 beschlossene Angleichung des Kolchosrentenalters oder die 1971 vollzogene Anhebung der Mindestaltersrenten. In allen Fällen hatte sich zuvor der vehemente Unmut der bis dato gegenüber anderen Rentnerkategorien Benachteiligten geäußert.
137 Diese Aussage bezieht sich nicht auf die Rentnerräte, die, wie noch zu zeigen sein wird, mitunter als Interessenorganisationen auftraten. In solchen Fällen vertraten sie allerdings Ruheständler bzw. ältere Bürger im Allgemeinen, ohne sich dabei allein die Anliegen bestimmter Subkategorien auf die Fahnen zu schreiben. 138 Coser, Theorie, S. 8.
6. DIE BEZIEHUNGEN WECHSELSEITIGER VERPFLICHTUNG ZWISCHEN REGIME UND BEVÖLKERUNG 6.1. DER SOWJETISCHE SOZIALVERTRAG Auch nach dem Ableben Stalins zeichneten sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in der UdSSR durch Stabilität aus, ungeachtet der Tatsache, dass seine Nachfolger von dem Mittel der massenhaften Verbreitung von Angst und Schrecken keinen und von jenem der repressiven Kontrolle in weitaus geringerem Maße als zuvor Gebrauch machten. Zur Erklärung dieses Umstandes lässt sich annehmen, dass es dem Regime gelang, ein „funktionale[s] Äquivalent zum Terror“1 zu finden, sich also auf anderem Wege der Folgsamkeit, vielleicht sogar der Loyalität der sowjetischen Bürger zu versichern. Zur Beschreibung dieses Ersatzes haben nicht wenige Autoren kontraktualistische Begrifflichkeiten ins Feld geführt: Einer solchen Lesart zufolge war die Nachstalinzeit von einem neuartigen Verhältnis zwischen dem sozialistischen Regime und der Bevölkerung bzw. den als maßgeblich verstandenen Bevölkerungsteilen gekennzeichnet, das als ein ungeschriebener Sozialvertrag zu bezeichnen ist. Hierdurch wird auf die „wichtigste Argumentationsfigur der neuzeitlichen politischen Philosophie“ Bezug genommen, mit deren Hilfe Vertragstheoretiker wie John Locke, Thomas Hobbes, und Jean-Jacques Rousseau die Existenz des Staates, bestimmte Formen politischer Herrschaft und die sich in diesem Zusammenhang ergebenden Verpflichtungen der Mitglieder des Gemeinwesens begründet haben.2 Die Verfechter des klassischen Vertragsgedankens gehen, sehr vereinfachend gesprochen, von einem vorgesellschaftlichen Naturzustand aus, der von der Abwesenheit einer staatlichen Gewalt gekennzeichnet ist und in dem die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse (Gesundheit, physische Sicherheit, Schutz des Eigentums) nicht gewährleistet wird. Da eine solche Situation von den Menschen als mangelhaft empfunden wird, regeln sie ihr Zusammenleben in einem Übereinkommen, das ihrem zukünftigen Handeln Grenzen setzt. Der auf freiwilliger Zustimmung basierende Vertrag wird zur Grundlage der abstrakten Herrschaftsgewalt des Staates und bestimmt die Regeln des Miteinanders, also die Rechte und Pflichten der Mitglieder des neu konstituierten Gemeinwesens. Aus Eigeninteresse übertragen die Individuen also ihre „Einzelgewalt [...] auf den Staat [...], der auf diesem
1 2
Merl, Entstalinisierung, S. 176. Schmidt Zintl, Gesellschaftsvertrag, S. 29. Die maßgeblichen Texte des klassischen Kontraktualismus sind: Locke, Zwei Abhandlungen; Hobbes, Leviathan; Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag. Zur Geschichte des Kontraktualismus vgl. Kersting, Die politische Philosophie; The Social Contract from Hobbes; Levin, Social Contract.
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Wege der Einzelübertragungen eine Gesamtgewalt erwirbt“3 und als Garant für die neue Ordnung zu fungieren hat.4 Im Zuge seiner Übertragung auf das Beispiel der UdSSR wurde der Sozialvertrag im Sinne einer impliziten Übereinkunft zwischen dem Chrušþev- bzw. dem Brežnev-Regime auf der einen und der Bevölkerung bzw. Teilen derselben auf der anderen Seite begriffen: Die Stabilität des Sowjetsystems habe darauf beruht, dass der Bevölkerung im Gegenzug für ihre Akzeptanz des gesellschaftlichen Status quo, ihre Loyalität und Folgsamkeit gegenüber der politischen Führung sowie ihren Verzicht auf politische Freiheitsrechte eine Reihe von Gegenleistungen geboten worden sei. Hierbei habe es sich vor allem um Maßnahmen zur Anhebung des Lebensstandards gehandelt, die sich im Einzelnen aus der Arbeitsplatzgarantie, dem Ausbau des Systems der sozialen Sicherung, der Garantie eines niedrigen Preisniveaus für Lebensmittel und Wohnraum sowie der Subventionierung des Bildungswesens zusammensetzten. Erstmals lässt sich die Annahme eines solchen „Tauschgeschäfts“ in einem 1975 publizierten Aufsatz von Walter D. Connor nachweisen, der darin allerdings noch nicht auf eine kontraktualistische Terminologie zurückgreift, sondern von der „Erwartungshaltung“ (expectancy) der Bevölkerung spricht, deren Befriedigung für die Beständigkeit der Verhältnisse unabdingbar sei. Hierunter versteht er die Tatsache, dass sich „die Sowjetbürger trotz ihres Desinteresses an der Politik und der Überzeugung ihrer eigenen Schwäche stark an den ,Erträgen ދdes politischen Gemeinwesens orientieren. Als Untertanen, und nicht als parochial5 orientierte Personen, erwarten sie Dinge vom Staat. Und hierin liegt eine der Hauptursachen für die Stabilität des Systems, jedoch auch eine mögliche Gefahrenquelle, da diese Erwartung sich vorteilig oder nachteilig auswirken kann.“6 Es ist George W. Breslauer, der die Vorstellung, dass die zwischen beiden Seiten bestehende Beziehung auf einem stillschweigenden Abkommen basiere, in die Diskussion einführt – und sich dabei allerdings auf den Zeitraum nach 1965 beschränkt. Er charakterisiert das von Brežnev geführte politische System als sich in wesentlichen Punkten von jenem der Stalinzeit unterscheidend. Aufgrund der andersgearteten Herangehensweise an Fragen des sozialen Wandels, der politischen Beteiligung der Parteieliten und des Lebensstandards wendet sich Breslauer gegen eine Wahrnehmung des Regimes als totalitär und führt zu seiner Charakterisierung den Begriff des „wohlfahrtsstaatlichen Autoritarismus“ (welfare-state authoritarianism) ein. Kennzeichnend für die politische Situation unter Brežnev seien der korporative Pluralismus der Partei- und Facheliten sowie die Ausweitung der Berücksichtigung von Fachleuten bei der politischen Entscheidungsfindung gewe3 4 5
6
Gamper, Staat, S. 116. Vgl. auch Engländer, Die neuen Vertragstheorien, S. 34; Kersting, Zur Logik, S. 217; Schmidt Zintl, Gesellschaftsvertrag, S. 31. Hier nimmt Connor augenscheinlich auf die von Almond Verba, The Civic Culture, geprägte Unterscheidung von „parochialer Kultur“ (parochial culture), „Untertanenkultur“ (subject culture) und „partizipativer Kultur“ (participant culture) Bezug. Vgl. auch Pickel Pickel, Politische Kultur- und Demokratieforschung, S. 6364. Connor, Generations, S. 26 [Hervorhebung i. Orig.].
Der sowjetische Sozialvertrag
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sen. Auch sei den politisch konformen Bürgern „physische Sicherheit und der Rückzug ins Private“ gewährt worden. Zudem habe man sich um die Gewährleistung eines minimalen und steigenden Maßes an materieller und sozialer Sicherheit bemüht.7 Auf der Grundlage dieser Merkmale spricht Breslauer von einem „sozialen und politischen ,Kontrakt ދdes wohlfahrtsstaatlichen Autoritarismus“: „Es handelt sich nicht um einen Vertrag in der liberal-demokratischen Vorstellung einer verbindlichen Übereinkunft zwischen Gleichen. Er repräsentiert vielmehr das Muster der politischen, sozialen und materiellen Leistungen, die seit Chrušþevs Absetzung von den herrschenden Autoritäten gewährt wurden, sowohl um die Beziehungen untereinander zu regeln als auch um Willfährigkeit und Initiative bei gesellschaftlichen Gruppen hervorzurufen.“8
Als für die Stabilität der UdSSR verantwortlich erkennt auch Gail W. Lapidus die Fortschritte, die bis 1978 im Bereich des Massenkonsums und des ökonomischen Wohlstands erzielt wurden, wobei sie die Jahre unter Chrušþevs Ägide mit einbezieht. Zu registrieren sei eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Erwartungen der Bevölkerung und den vielfältigen Leistungen des Regimes im Bereich der Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards. Diese Fortschritte deutet auch Lapidus als Komponenten einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Übereinkunft, die zudem die an die Eliten des Landes gerichtete Privilegienpolitik umfasst habe: „Zusammengenommen stellten sie die zentralen Bestandteile eines stillschweigenden ,sozialen Paktes ދzwischen der Führung und ihrer Bevölkerung dar, dem zufolge von Letzterer erwartet wurde, dass sie das Regime und seine Politik unterstützte. Dieser Pakt bildete wiederum den Grundstein für die besonderen Leistungen, die von den Schlüsseleliten genossen wurden [...].“9
Die umfangreichste Studie zur Frage, ob sich die sowjetische Sozial- und Arbeitspolitik der Nachstalinzeit auf ein solches Abkommen zurückführen lässt, hat Linda J. Cook verfasst, die sowohl die Brežnev-Jahre als auch die Perestrojka-Zeit behandelt. Dabei geht die Autorin – im Unterschied zu Breslauer und Lapidus – davon aus, dass das „Vertragsarrangement“ nicht alle Gruppen innerhalb der sowjetischen Bevölkerung im gleichen Umfang tangierte. Ausgenommen seien so etwa die Intelligenzija und die nichtslawischen Nationalitäten gewesen, da sie die Legitimität der herrschenden Ordnung in Frage gestellt hätten. Gleiches gelte weitgehend auch für die ländliche Bevölkerung, die nur partiell von der Anhebung 7
8
9
Vgl. Breslauer, On the Adaptability, S. 220. Zum Konzept des wohlfahrtsstaatlichen Autoritarismus vgl. auch Plaggenborg, Experiment, S. 223; Christova, Zwischen Totalitarismus, S. 142143. Breslauer, On the Adaptability, S. 221. Die Jahre des Chrušþev-Regimes nimmt der Autor von der Kennzeichnung als „wohlfahrtsstaatlicher Autoritarismus“ ausdrücklich aus. Zwar sei N. S. Chrušþev kein Stalinist gewesen und habe sich um eine Verbesserung des Lebensstandards, um die Abkehr vom Massenterror sowie um eine verstärkte Berücksichtigung der Fachmeinungen von Wissenschaftlern verdient gemacht. Sein Versuch, einen auf sich selbst ausgerichteten Personenkult mit der Mobilisierung der Massen gegen die ihnen übergeordneten Funktionsträger zu verbinden, habe jedoch ebenso wie die sprunghafte Wirtschafts- und Verwaltungspolitik zur Verunsicherung weiter Teile der Bevölkerung und damit zur Instabilität der Verhältnisse beigetragen. Vgl. ebd., S. 222223. Lapidus, Social Trends, S. 188.
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des Lebensstandards profitiert und kaum Möglichkeiten besessen habe, ihren Unmut kollektiv zu äußern. Cooks Augenmerk richtet sich deshalb vor allem auf die slawische Arbeiterschaft, die sowohl „politisch konform [...] und die größten Profiteure des Wohlfahrtsstaates“ als auch von zentraler Bedeutung für die gesamte sowjetische Industrie gewesen sei.10 Nützlich erscheint die von der Autorin vorgenommene Präzisierung der These vom Sozialvertrag, deren Gültigkeit von ihr an drei Voraussetzungen geknüpft wird: a) das sowjetische Regime bemüht sich regelmäßig um die „ökonomische Sicherheit und das soziale Wohlergehen“ der Arbeiter; b) die politische Führung verfolgt eine solche Politik, weil sie sich dazu – in Kenntnis der Erwartungen der Arbeiter oder um die Folgen ihrer Unzufriedenheit für die Arbeitsproduktivität zu vermeiden – gedrängt sieht; c) die Arbeiter verhalten sich im Gegenzug folgsam und ruhig.11 Cooks Untersuchungen bestätigen sie in der Annahme, dass zwischen der politischen Führung und diesem als maßgeblich empfundenen Teil der sowjetischen Bevölkerung eine Form des Austausches stattfand, die die Verwendung der kontraktualistischen Begrifflichkeit rechtfertigt: „Die Befundlage [...] unterstützt die Sozialvertragsthese. Das Brežnev-Regime hat durchweg für volle und sichere Beschäftigung, egalitäre Lohnpolitik, Stabilität der Ladenpreise und soziale Dienstleistungen gesorgt. [...] Auf der Grundlage des zugänglichen Materials entspricht das Muster des kollektiven politischen Verhaltens der Arbeiter während der Brežnev-Jahre der These: Im Allgemeinen blieben die Arbeiter so lange ruhig, wie das Regime dem Vertrag gemäß handelte. Streiks und Unruhen häuften sich [erst] in den frühen 1980er Jahren, als sich die Leistungen messbar verschlechterten.“12
Der Cooks und zuvor bereits Breslauers Ansatz kennzeichnende Fokus der kontraktualistischen Überlegungen auf die Jahre nach Chrušþevs Absetzung vermag nicht zu überzeugen. Begreift man die umfangreichen Maßnahmen, die der Gesetzgeber im Bereich der Altersrentenversorgung durchführte, als zentralen Baustein einer sowjetischen Sozialpolitik, mit deren Hilfe um die Loyalität der Bevölkerung geworben wurde, so verbietet sich die Nichtbeachtung derjenigen Jahre, in denen die Reformen konzipiert und zum Teil auch umgesetzt wurden. Destabilisierende Momente, wie sie etwa von der Neulandkampagne ausgingen, mögen die Wertschätzung der staatlichen Leistungen gemindert, jedoch kaum negiert haben. Cooks Beschränkung der einen der beiden Parteien des social contract auf die slawische Arbeiterschaft lässt sich vor dem Hintergrund der Rentenpolitik eben10 11 12
Cook, The Soviet Social Contract, S. 4. Vgl. ebd., S. 5. Cook, The Soviet Social Contract, S. 202. Einzelne Aspekte der Sozialvertragsthese finden sich auch bei: Bialer, Stalinތs Successors, S. 160; Lane, Soviet Labour, S. 229; Adam, Social Contract. Zu erwähnen ist an dieser Stelle ebenfalls die von James R. Millar explizit für die Brežnev-Jahre geprägte Vorstellung vom Little Deal, die ebenfalls den Gedanken eines stillschweigenden Abkommens zwischen Regime und Bevölkerung, das der Stabilität des Systems dient, transportiert. Der Schwerpunkt liegt hier allerdings weniger auf dem Engagement des Staates im Bereich der sozialen Sicherung als auf seiner Toleranz gegenüber der Partizipation sowjetischer Bürger an der informellen Ökonomie. Vgl. Millar, The Little Deal. Vgl. diesbezüglich ebenfalls Ruffley, Children, S. 2546; Lovell, The Shadow, S. 91.
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falls kaum rechtfertigen. Zwar ist nicht zu bestreiten, dass die Arbeiter von manchen Regelungen des staatlichen Altersrentensystems stärker profitierten als die zu den Angestellten gezählten Berufsgruppen.13 Die grundlegenden Entscheidungen des Reformwerks von 1956 unterschieden jedoch nicht zwischen beiden Arbeitnehmerkategorien. Für den Zeitraum zwischen 1956 und 1972 erscheint es zudem fraglich, ob man aus dem in Teilen der Intelligenz sicherlich vorhandenen Bewusstsein um Missstände auf eine Ablehnung der politischen Ordnung durch die gesamte Gruppe zu schließen vermag. Auch nichtslawische Sowjetbürger bezogen keine grundsätzlich niedrigeren Renten als Russen, Ukrainer und Weißrussen.14 Ferner war die sowjetische Nationalitätenpolitik zumindest bis 1972 von einer gewissen Flexibilität geprägt, in deren Folge es nicht zu national bewegten Unruhen kam, die auf eine grundsätzlich geringer ausfallende Legitimation des sowjetischen Systems unter den Nichtslawen hätten schließen lassen.15 Als zweifelsohne gegenüber den in urbaner Umgebung lebenden Arbeitern und Angestellten benachteiligt müssen, wie Cook richtig annimmt, die ländlichen Bewohner der UdSSR und hier speziell die betagten Kolchosbauern gelten. Der Vergleich mit der Situation der älteren Arbeiter und Angestellten stellt allerdings nur einen, wenn auch bedeutsamen, Aspekt der Bewertung der Alterssicherung in den Artelen dar. Für sich genommen sorgten die Zuwächse des Leistungsniveaus und die Ausweitung der Berechtigtenzahl, die die Einführung der allgemeinen Kolchosaltersrenten charakterisierten, nicht für eine Verschlechterung, sondern für eine deutliche Verbesserung der vor 1965 vielerorts gegen Null tendierenden Qualität der Ruhestandssicherung. Deshalb muss der von Cook vertretenen Nichtberücksichtigung der Kolchosbauern bei der Betrachtung der Frage, ob es zu einem „Sozialvertrag“ zwischen Bevölkerung und politischer Führung kam, widersprochen werden. Die Bemühungen um die Einführung von staatlich mitfinanzierten Renten sowie die im Anschluss an die Reform vom 15. Juli 1964 durchgeführten Korrekturen können als schlüssiger Beleg dafür dienen, dass das Regime diesen Teil der sowjetischen Bevölkerung keinesfalls außer Acht ließ.16 13
14
15 16
Zu nennen sind hier vor allen Dingen die Vorschriften zur Rentnerweiterarbeit. Auch lohnpolitische Benachteiligungen der Angestellten wirkten sich mittelbar auf das Rentenniveau aus. Vgl. Hauslohner, Gorbachev’s Social Contract, S. 59, Anm. 8. Das vorhandene statistische Material ermöglicht keine Differenzierung der Rentenbezieher in Abhängigkeit von ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Allerdings ist festzustellen, dass die Bewohner einiger Republiken mit vergleichsweise geringem slawischen Bevölkerungsanteil – der Turkmenischen, Georgischen sowie Armenischen SSR – 1972 über eine im Durchschnitt höhere staatliche Altersrente als die Bewohner der RSFSR verfügten. Siehe Tab. 3i. Vgl. Kappeler, Russland, S. 310. Walter D. Connor selbst, auf den sich Cook, The Soviet Social Contract, S. 220, Anm. 9, bei der Begründung für die Konzentration auf die sowjetischen Arbeiter beruft, hat die Feststellung, dass es dem Regime gelungen sei, mit Hilfe seiner Lohn- und Sozialpolitik für Stabilität zu sorgen, keineswegs auf diesen Bevölkerungsteil begrenzt. In Bezug auf seinem Befund, dass die sowjetischen Arbeiter Fürsorge seitens der Staatsführung erwarteten, konstatiert Connor, Workers, S. 320: „Nichts hiervon trifft allein auf die Arbeiter zu. Bauern, Angestellten-Funktionäre und eine Mehrheit der Intelligenz teilen [...] so ziemlich dieselbe Orientierung.“
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Die These vom Sozialvertrag ist nicht alternativlos geblieben. So sind einzelne Elemente der Sozialpolitik auf Ursachen zurückgeführt worden, die wenig mit kontraktualistischen Überlegungen gemeinsam hatten. Im Fokus stand dabei insbesondere die Vollbeschäftigung sowjetischer Bürger. Für David Lane resultiert sie primär aus ideologischen Imperativen. Die Priorität, die dieser Zielsetzung in der UdSSR beigemessen wurde, sei auf den hohen Wert zurückzuführen, den die „Arbeit“ im Rahmen der marxistisch-leninistischen Weltanschauung besitze: „Die sowjetische Ideologie der Arbeit übt einen größeren Zwang auf die politische Führung aus, als er im Kapitalismus festzustellen ist: Es existiert nicht nur die Erwartung [innerhalb der Bevölkerung], dass alle mit bezahlter Arbeit versorgt werden, sondern auch, dass eine solche Arbeit ,befriedigend ދsein soll.“17 Ein anderes Erklärmodell führt das Phänomen der Vollbeschäftigung stattdessen auf die „weichen Budgetbeschränkungen“ zurück, die den Investitionen der Betriebe de facto kaum Grenzen gesetzt hätten. In der Konsequenz sei es dort zu einer Hortung von Arbeitskräften gekommen, deren Umfang den tatsächlichen Bedarf überstiegen habe und, wenn überhaupt, nur während kurzer Produktionsschübe gegen Ende der jeweiligen Planungsperiode zum Tragen gekommen sei.18 Auch für die angenommenen Effekte der staatlichen Sozialpolitik, die Passivität und Folgsamkeit der sowjetischen Bevölkerung, finden sich Begründungen, die Alternativen zur Sozialvertragsthese darstellen. So führen Donald Filtzer und Viktor Zaslavsky den ausbleibenden Widerstand der Arbeiterschaft gegen die politischen Verhältnisse vor allem auf die auf niedrigerem Niveau fortgesetzte Repression sowie die damit verbundene „Atomisierung“ der Menschen zurück, d. h. ihre Unfähigkeit zur kollektiven Organisation.19 Sarah Ashwin wiederum lässt die in Abhängigkeit von Geschlechtszugehörigkeit, Lebensumfeld und Arbeitsplatz differierende Qualität der auf der Grundlage des „Sozialvertrags“ erzielten Vorteile an der Stichhaltigkeit des Arguments zweifeln: „Es war schwer zu glauben, dass beispielsweise niedrig entlohnte Textilarbeiterinnen, die in Wohnheimen lebten, und viele andere Kategorien von Arbeitern durch die Wohltätigkeit ihrer kommunistischen Herren ,abgefunden ދwurden.“20 Als Gegenbeleg zur Zentralität des Vertrages verweist die Autorin zudem auf den Umstand, dass die Arbeiter inaktiv geblieben seien, als die Sozialleistungen während der 1980er Jahre wegfielen. Als für die soziale Stabilität der sowjetischen Gesellschaft nach Stalins Ableben hauptverantwortlich erachtet sie stattdessen „die soziale Organisation des traditionellen sowjetischen Betriebs“, bei dem es sich um die ausschlaggebende Vermittlungsinstanz staatlichen Schutzes und materieller Leistungen gehandelt habe.21 In ähnlicher Weise interpretiert auch Stephen Crowley die Passivität der arbeitenden 17 18
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Lane, Soviet Labour, S. 16. Eingeführt wird das Konzept der „weichen Budgetbeschränkungen“ von Kornai, Economics. Zu seinem Zusammenhang mit dem Phänomen der Vollbeschäftigung vgl. auch Hanson, The Serendipitous Soviet Achievement, S. 83 u. 88. Vgl. Filtzer, Soviet Workers, S. 125127 u. 223225; Zaslavsky, In geschlossener Gesellschaft, S. 4647. Ashwin, Endless Patience, S. 190. Ebd., S. 188193.
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Bevölkerung primär als Ergebnis der Abhängigkeit des Einzelnen von der Leitung seines Betriebes, die die Kontrolle über die Zuteilung von Nahrung, Urlaubspässen, Wohnraum etc. ausgeübt und die Belegschaft dadurch zu beeinflussen und spalten vermocht habe.22 Hier können und sollen diese Erklärungsansätze nicht grundlegend diskutiert werden. Lässt man den Gedanken zu, dass nicht ein einzelnes Modell die Stabilität des sowjetischen Systems nach Stalin erschöpfend erklärt, so spricht wenig dagegen, sie nebeneinander gelten zu lassen. Ein sich, wie von Lane behauptet, aus der sozialistischen Ideologie ergebender Handlungsdruck lässt sich selbst dann nicht verleugnen, wenn man die in den offiziellen Verlautbarungen zur Sozialgesetzgebung enthaltene Propaganda mit der gebührenden Zurückhaltung zur Kenntnis nimmt. Und auch der Widerspruch zwischen dem Vertragsgedanken und dem Konzept der Atomisierung wird ein wenig gemildert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Zaslavsky Maßnahmen zur Anhebung des Lebensstandards als eine unabdingbare Voraussetzung für die Verhinderung kollektiver Organisation erachtet.23 Die von ihm und Filtzer unterstrichene Bedeutung der fortgesetzten Repression und sozialen Kontrolle wird selbst von Anhängern der Vertragsthese nicht vollends negiert. Überhaupt kann davon ausgegangen werden, dass die systemkonforme Mehrheit der Sowjetbürger der Chrušþev- und Brežnev-Jahre in Ermangelung anderweitiger Erfahrungen gar keinen Widerspruch zwischen der harten Hand und der engmaschigen Kontrolle der Führung sowie den von ihr ausgehenden „fürsorglichen“ Maßnahmen zur Sicherung bzw. Besserung ihrer Lebenssituation ausmachte.24 Auch der Widerspruch zwischen der von Ashwin und Crowley unterstrichenen Bindung des Einzelnen an seinen Betrieb und einer sich aus den Modalitäten eines angenommenen „Kontrakts“ ergebenden Folgsamkeit gegenüber der staatlichen Autorität lässt sich ein wenig relativieren. Schließlich scheint es problematisch, die Betriebe und Dienststellen, in denen sich die jeweilige Erwerbstätigkeit vollzog, als unabhängige Akteure zu interpretieren. Zum einen handelte es sich bei ihnen um Basisorganisationen der jeweiligen Branchenministerien, deren Haushalt Teil des Staatsbudgets war,25 zum anderen unterlagen sie der Kontrolle der örtlichen Parteiorganisationen. Sozialleistungen und andere Vorteile, die aus dem Kontakt mit Vertretern der Betriebsadministration gewonnen werden
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Vgl. Crowley, Hot Coal. Allgemein zur Kritik an der Sozialvertragsthese und alternativen Erklärungsmodellen vgl. auch Cook, The Soviet Social Contract, S. 812; Connor, Soviet Society, S. 5960. Zaslavsky, In geschlossener Gesellschaft, S. 54: „[...] die Sowjetführer [sind] – wenn sie nicht Terror anwenden wollen – nur dann in der Lage, die Stabilität des Regimes und die Atomisierung der Arbeiterklasse aufrechtzuerhalten, wenn sie eine allmähliche Verbesserung des Lebensstandards zu garantieren vermögen.“ Zur positiven Haltung der Sowjetbürger zur Idee des „starken Staates“, die sogar die nostalgische Verklärung der Stalinzeit einschließen konnte, vgl. Connor, Workers, S. 319320; Smith, The Russians, S. 296333. Vgl. Kaufmann, Varianten, S. 76.
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konnten, müssen demzufolge ebenfalls als Ergebnisse der von Staat und KP verantworteten Sozialpolitik betrachtet werden.26 Wird der Gedanke einer zwischen Regime und Bevölkerung bestehenden Beziehung des Gebens und Nehmens auch durch die genannten Einwände nicht grundsätzlich in Frage gestellt, so ist dennoch von einer Verwendung des Begriffs „Sozialvertrag“ abzusehen. Wie im Folgenden kurz dargelegt werden soll, eignet sich diese Vorstellung – unabhängig davon, ob man den Kontrakt als ein historisches Ereignis begreift, ob man ihm eine hypothetische oder eine implizite Qualität zuschreibt – nicht für die Betrachtung des sowjetischen Beispiels. Die Tatsache, dass der für den kontraktualistischen Gedanken zentrale Vertragsschluss nicht, wie etwa von John Locke angenommen,27 als ein reales geschichtliches Ereignis angesehen werden kann, hat bereits David Hume unterstrichen: Es ließen sich keinerlei historische Quellen finden, auf deren Grundlage man davon ausgehen könne, dass es in irgendeinem Land jemals tatsächlich zu einem solchen „ursprünglichen Vertrag“ (original contract) gekommen sei. Und selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, dass ein entsprechendes Abkommen einmal geschlossen worden sei, gehöre es einer derart weit zurückliegenden Vergangenheit an, dass es kaum Relevanz für die Gegenwart beanspruchen könne.28 Spätestens seit Kant wird der Sozialkontrakt dementsprechend vornehmlich als eine hypothetische Konstruktion verstanden, die dergestalt Realität besitze, als dass sie als Richtschnur bei der Beurteilung realer Gesetze und Vorschriften fungiere.29 Der Vertrag wird dabei als eine Übereinkunft gedacht, der die Beteiligten potentiell zustimmen könnten.30 Armin Engländer gibt zu bedenken, dass eine solche Vorstellung, die nicht von einer tatsächlichen freiwilligen Selbstverpflichtung der Bürger ausgehe, beinhalte, dass „auch die vertragsschließenden Naturoder Urzustandsparteien keine realen, sondern nur fiktive Individuen [sind]. Dann lässt sich in einer Fortführung der Humeschen Argumentation fragen, wie ein fiktiver Vertrag fiktiver Individuen reale Individuen binden können soll. Wie Richard Dworkin gegen [...] John Rawls anführt: ,Ein hypothetischer Vertrag ist nicht einfach eine blasse Form eines wirklichen Vertrags; er ist überhaupt kein
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So stellt Vobruba, Legitimationsprobleme, S. 40, fest, dass die betrieblichen Funktionen bei der Vermittlung sozialer Leistungen zu keiner „legitimatorischen Entlastung“ des sozialistischen Staates führten, weil „die Unternehmen vom Staat gelenkt waren und auch so wahrgenommen wurden“. Vgl. Locke, Zwei Abhandlungen, S. 262265. Vgl. Hume, Of the Original Contract, S. 47. Kant, Über den Gemeinspruch, S. 153, deutet den Sozialkontrakt dergestalt als „eine b l o ß e I d e e der Vernunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: nämlich jeden Gesetzgeber zu verbinden, dass er seine Gesetze so gebe, als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben entspringen k ö n n e n , und jeden Untertan, so fern er Bürger sein will, so anzusehen, als ob er zu einem solchen Willen mit zusammen gestimmt habe.“ [Hervorhebung im Orig.]. Zu den moderneren Varianten eines solchen Ansatzes gehören Rawls, A Theory, und Nozick, Anarchy. Vgl. auch Homann, Rationalität, S. 179.
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Vertrag.“ދ31 Die Annahme eines hypothetischen Sozialkontraktes, der die Vorstellungswelt der Sowjetbürger maßgeblich beeinflusst habe, scheint in diesem Sinne wenig überzeugend. Autoren, die die Vorstellung der die Legitimität und Stabilität eines Staatswesens begründenden Übereinkunft seiner Mitglieder auf die UdSSR übertragen haben, machen in der Regel von einer dritten Option Gebrauch. Sie beschreiben den Sozialkontrakt, wie oben bereits angeführt, als ein implizites Abkommen. Für eine solche Vorstellung ist die Überlegung kennzeichnend, dass die freiwillige Zustimmung der Menschen nicht verbal oder schriftlich bekundet worden sein muss, um eine gegebene staatliche Ordnung zu legitimieren. Bereits die Tatsache, dass die in dem Staatswesen lebenden Bürger „kooperieren und nicht emigrieren“, könne man, so Karl Graf Ballestrem, „als stillschweigende Zustimmung (tacit consent) und Anerkennung der bestehenden Verhältnisse verstehen, ja sogar als eine Art Versprechen, auch in Zukunft zu kooperieren“.32 Gegen eine Anwendung des impliziten Vertragsmodells spricht sich schon Hume aus, der bestreitet, dass der Verbleib einer Person in einem bestimmten Territorium grundsätzlich als das Ergebnis einer freiwilligen Willensentscheidung wahrgenommen werden könne. Einem nur über einen bescheidenen Wohlstand und keinerlei Fremdsprachenkenntnisse verfügenden Bürger biete sich schlechterdings nicht die Möglichkeit, sein Heimatland zu verlassen und andernorts eine neue Existenz aufzubauen.33 Und auch das Schweigen eines Individuums könne nur dann als eine das System bejahende Meinungsäußerung gewertet werden, wenn das Gegenteil, ein Widerspruch gegen die bestehenden Verhältnisse, überhaupt möglich sei, ohne dass er strafende Sanktionen hervorrufe. Ballestrem selbst berücksichtigt diese Einwände, indem er die Existenz eines impliziten Gesellschaftsvertrags an das Vorhandensein rechtlich garantierter und tatsächlich realisierbarer politischer Freiheiten knüpft: Von einer stillschweigenden Zustimmung könne nur dann ausgegangen werden, wenn „ein Staat abweichende Meinungen, legale Opposition und Emigration zulässt“.34 Gerade hier wird deutlich, dass sich auch das Modell des impliziten Sozialvertrags keineswegs für Regime eignet, die ihren Bürgern dieses erforderliche Mindestmaß an Rechten nicht einräumen. Als ein solches ist zweifelsohne auch ein undemokratisches und autoritäres System wie die UdSSR der Chrušþev- und Brežnev-Jahre zu bezeichnen. Dem Schweigen der Sowjetbürger könnte hier nur in Verkennung der Tatsachen eine affirmative Qualität zugeschrieben werden, da es ihnen auch nach 1953 kaum möglich war, 31
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Engländer, Die neuen Vertragstheorien, S. 9 [Hervorhebung i. Orig.], der hier Dworkin, Bürgerrechte, S. 253, zitiert. Vgl. auch Deinhammer, Gesellschaftsvertrag, S. 407408; Westphal, Von der Konvention, S. 156. Ballestrem, Vertragstheoretische Ansätze, S. 5. Elemente dieser Vorstellung identifiziert Ballestrem bereits in den Arbeiten von John Locke, Thomas Hobbes und Jean-Jacques Rousseau. Vgl. hierzu ebd., S. 56. Vgl. Hume, Of the Original Contract, S. 451. Vgl. ebenfalls Castiglione, History, S. 106. Ballestrem, Vertragstheoretische Ansätze, S. 14. Zum Typus des impliziten Sozialvertrags vgl. ebenfalls ders., Die Idee; Eschenburg, Die Legitimation, S. 3438; Cornides, Die Denkmöglichkeit.
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eine gegebenenfalls ablehnende Haltung gegenüber den herrschenden Verhältnissen nach außen zu tragen. Der Öffentlichkeit bekannte wie unbekannte Regimekritiker wurden weiterhin politisch verfolgt, selbst wenn sie nicht mehr von physischer Vernichtung bedroht waren. Zwar können die – auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit ausgewerteten – Briefe als Indiz dafür gesehen werden, dass Briefautoren gegenüber den Autoritäten des Landes maßvoll Kritik an bestimmten Politikinhalten üben konnten. Es ist jedoch deshalb noch bei weitem nicht davon auszugehen, dass Bürger, die in ihren Schreiben Fundamentalkritik an der Führung übten und Zweifel an der Legitimität des Systems äußerten, keinerlei Sanktionen entgegensahen.35 Als ebenso wichtiges Argument gegen die Vorstellung einer sich im Schweigen der Bevölkerung manifestierenden Zustimmung zu den Modalitäten eines impliziten Vertrages ist die fehlende Bewegungsfreiheit anzusehen: Eine Emigration, die als Ablehnung der Übereinkunft zu interpretieren wäre, war selbst jenen Sowjetbürgern, die über die notwendigen wirtschaftlichen Voraussetzungen verfügt hätten, kategorisch untersagt. Will man den Begriff des Sozialvertrags nicht bloß als grobe Metapher für das Vorhandensein von wie auch immer gearteten Austauschverhältnissen nutzen, verbietet sich folglich seine Übertragung auf das sowjetische Beispiel. Der Bevölkerung kann schlechterdings nicht unterstellt werden, dass sie den Status quo in einem Akt der freiwilligen Zustimmung unterstützte. Eine Entscheidung gegen diesen Begriff bedeutet allerdings kein Votum gegen die mit ihm verbundene Vorstellung, dass die Beziehung zwischen politischer Führung und Bevölkerung Aspekte der Wechselseitigkeit aufwies, die zur sozialen Stabilität des sowjetischen Systems beitrugen. Auch der in der Vertragsthese angelegte Gedanke, dass die Gesellschaft auf die Politik Einfluss nahm, dass das Regime im cookschen Sinne zu einem Entgegenkommen regelrecht „gedrängt“ wurde, verliert keineswegs seine Bedeutung. Walter D. Connor selbst betrachtet die Frage der Verwendbarkeit des social contract-Begriffs mittlerweile als eine Angelegenheit des semantischen Geschmacks, die an der legitimierenden Kraft, die den Sozialmaßnahmen innegewohnt habe, nichts ändere: „Ob man es nun für sinnvoller erachtet, mit kontraktualistischen Begriffen zu arbeiten oder stattdessen die Abhängigkeit der Bevölkerung vom Staat zu betonen: Es gibt reichlich Belege dafür, dass die Gewohnheit zu einer Erwartung von staatlicherseits zur Verfügung gestellten Gütern führte. In der Hauptsache bewerteten die Menschen die Arbeitsplatzgarantie und andere Leistungen als ,Errungenschaften des Sozialismus ދund als Teil der ,natürlichen ދsowjetischen Ordnung, die ihnen vertraut war. Es scheint auch wahrscheinlich, dass die sowjetische
35
Auch in Bezug auf die autoritär geführte UdSSR erscheint hier Engländers Einwurf passend, dass speziell „am Beispiel moderner totalitärer Zwangssysteme [...] schnell deutlich [wird], wie wertlos Schweigen als Indikator für die Zustimmung der Bevölkerung zur herrschenden Ordnung sein kann, wenn es überwiegend auf repressiven Maßnahmen der staatlichen Autorität beruht. Jedenfalls dort, wo offener Dissens eher Ausweis persönlichen Heldenmuts als eine gleichwertige und nicht risikoreichere Alternative zu bloßem Schweigen darstellt, droht die Konstruktion vom impliziten Vertrag zum ideologischen Rechtfertigungsinstrument von Diktatur und Unterdrückung zu werden.“ Engländer, Die neuen Vertragstheorien, S. 7.
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Führung in gewissem Sinne verstand, dass dies die Haltung der Bevölkerung war und dass die Leistungen die soziale Ordnung zu untermauern halfen.“36
Wird im Folgenden die Natur der sich vor dem Hintergrund der Rentenpolitik abzeichnenden Beziehung von Regime und Bevölkerung näher untersucht, so bietet sich hierfür der Rückgriff auf die ursprünglich in der Soziologie und Anthropologie beheimatete Reziprozitätstheorie an. Sie ermöglicht einen geeigneten Zugang zu der zwischen den beiden Seiten bestehenden Beziehung des Gebens und Nehmens, die in dem Sinne weder eine hypothetische noch eine implizite Qualität besaß, als dass die beteiligten Parteien in ihren Äußerungen konkret auf ihre eigenen Leistungen und die sich aus ihnen für die „Gegenseite“ ergebenden Imperative Bezug nahmen.
6.2. DIMENSIONEN VON REZIPROZITÄT IM KONTEXT DER SOWJETISCHEN ALTERSVERSORGUNG 6.2.1. Reziprozität und soziale Sicherungssysteme Als Beginn der modernen sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Reziprozität wird gemeinhin Marcel Mauss’ 1923/24 erschienener Essay „Die Gabe“37 erachtet. In ihm unterstreicht der Autor die zentrale Bedeutung, die der Gabentausch für die symbolische Reproduktion archaischer und vormoderner Gesellschaften besessen habe: Über den Zyklus der Reziprozität – den Kreislauf des Gebens, Annehmens und Erwiderns – seien soziale Beziehungen verwirklicht worden, da der Vorgang des Gebens nicht einmalig und ohne Konsequenzen bleibe, sondern Verhältnisse der Verpflichtung konstituiere. Von der Person, die eine Gabe empfangen habe, sei erwartet worden, dass sie mit einer eigenen Leistung antwortete, bei der es sich etwa um ein Gegengeschenk oder auch nur eine Dankesbezeugung handeln konnte. Wären die im Hinblick auf das reziprozitäre Handeln bestehenden Erwartungen enttäuscht worden, so hätte dies negative Folgen zeitigen können, wenn in Zukunft etwa auf eine Kooperation verzichtet worden wäre.38 Oft galt und gilt das Augenmerk der Verfasser reziprozitätstheoretischer Arbeiten vorrangig menschlichen Beziehungen von direkter und persönlicher Art, die in engen und übersichtlichen Kontexten angesiedelt sind. Die hier zu beobachtenden Verpflichtungs- und Wechselseitigkeitserwartungen sind durch die unmittelbare soziale Kontrolle und die Stabilität der Gemeinschaft abgesichert. Im Zentrum des Interesses stehen dabei nicht nur die sich im Kontext der Familie er36 37 38
Connor, Soviet Society, S. 5859. Mauss, Die Gabe. Vgl. Adloff Mau, Zur Theorie, S. 1213; Marten Scheuregger, Einleitung, S. 910. Adloff, Die Reziprozität, S. 29, geht davon aus, dass die für die soziologische Betrachtung der maßgeblichen Einflüsse auf das menschliche Handeln maßgebliche Dichotomie von Eigeninteresse (Thomas Hobbes) und Selbstlosigkeit (Jean-Jacques Rousseau) „durch die Wirkung der Gabe als Initiatorin sozialer Reziprozität transzendiert bzw. aufgelöst wird“.
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gebenden Austauschbeziehungen, die „quasi-natürliche Verpflichtungsgefühle gegenüber anderen Mitgliedern und ihren Bedürfnissen aufkommen lassen“, sondern auch bäuerliche Hilfssysteme gegen die Risiken der Witterung oder die im Frühstadium der Industrialisierung aufgekommenen kollektiven Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterschaft.39 In neueren sozialwissenschaftlichen Arbeiten ist nun vermehrt darauf hingewiesen worden, dass reziprozitäre Gabenbeziehungen ebenso die Wirklichkeit moderner Gesellschaften prägen. Als Beispiele werden dabei etwa Transaktionen im Kontext des ehrenamtlichen Engagements oder – weiterhin – in Bereich von Familie und Freundschaft angeführt.40 Andere Autoren nutzen das Konzept zudem für die Betrachtung der sich im Rahmen westlicher Wohlfahrtsstaaten konstituierenden Relationen. Reziprozität ist in diesem Kontext mit Steffen Mau als „Formen von Gegenseitigkeit innerhalb von solidarischen und kooperativen Arrangements, die mit normativen Vorstellungen über die Gewichtung und das Verhältnis unterschiedlicher Beiträge einhergehen“,41 zu definieren. Gemeinsam mit Stephan Lessenich weist Mau darauf hin, dass sich auf der Ebene des Gesamtstaats angesiedelte soziale Sicherungsmechanismen auf den ersten Blick nicht als Beispiele für eine von Reziprozitätserwartungen geprägte Form der Unterstützung eignen mögen: Die hier gestifteten Sozialbeziehungen würden eben nicht auf „unmittelbare[n] Verpflichtungsgefühle[n], sondern [...] auf der Grundlage einer rechtlich und institutionell fixierten Ordnung [basieren]. Nicht persönliche Beziehungen und damit verbundene Motivlagen prägen die Transfers innerhalb der Systeme der sozialen Sicherheit, sondern unpersönliche Beziehungen zu anderen Mitgliedern eines politischen Gemeinwesens“.42 Ungeachtet dieser klaren Differenzen zur zwischenmenschlichen Gabe schreiben die beiden Autoren jedoch auch dem westlichen Wohlfahrtsstaat reziprozitäre Züge zu. Dessen Vereinbarungen zu Beitragspflichten und Leistungsberechtigungen deuten sie als „einen spezifische[n] Modus der Vergesellschaftung [...], durch den gesellschaftliche Gruppen in ein institutionell bestimmtes Verhältnis zueinander gesetzt werden“: Im Wirken der Sicherungssysteme der Gegenwart lasse sich ebenfalls ein „Geist der Gabe“ finden, da sie Relationen von Gegenseitigkeit und Verpflichtung zwischen Bevölkerungsteilen wie z. B. Bürgern im erwerbsfähigen Alter und Rentnern, Gesunden und Kranken etc. stifteten, die sich als staatlich organisierte Geldströme manifestierten. Ungeachtet ihrer institutionellen Vermittlung, die keinen direkten Kontakt zwischen den Beiträgern und Empfängern mehr gestatte, erzeugten die Transferleistungen doch „ein Gefüge sozialer Beziehungen, innerhalb dessen sich Individuen und Gruppen in ein Verhältnis mit anderen Gruppen gesetzt sehen. Materielle Umverteilung findet immer auch als ,Umverteilung in den Köpfenދ43 [...]
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Lessenich Mau, Reziprozität, S. 257258. Vgl. Caillé, Gift; Godbout, Homo Donator; Hollstein, Reziprozität; Bode Brose, Die neuen Grenzen. Mau, Wohlfahrtsregimes, S. 352. Lessenich Mau, Reziprozität, S. 258. Vgl. hierzu auch Hillebrandt, Praktiken, S. 195197. Prisching, Bilder, S. 282.
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statt, das heißt in der sozialen Wahrnehmung fließen Transferströme von (real existierenden oder bloß imaginierten) Absendern zu Empfängern.“44 Des Weiteren verweisen Lessenich und Mau auf die zentrale Bedeutung, die Reziprozitätsnormen für die Frage besitzen, ob Individuen oder Kollektive gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Programmen eine negative oder positive Haltung an den Tag legen. Für die Bereitschaft der Bürger, den Wohlfahrtsstaat zu unterstützen, sich an seiner Finanzierung zu beteiligen, sei nicht allein die Erwartung des für die Zukunft in Aussicht gestellten Gewinnes ausschlaggebend, sondern ebenfalls die Überzeugung, dass auch alle anderen Beteiligten den ihren Möglichkeiten entsprechenden Beitrag leisteten.45 Eine derartige Einstellung entspreche weniger dem primär aus Eigeninteresse handelnden und an der Nutzenmaximierung orientierten homo oeconomicus als dem Typus des homo reciprocans. Der homo reciprocans ist, wie Mau betont, „kein rein altruistisch motivierter Sozialcharakter im Sinne von Wohltätigkeit oder Barmherzigkeit, sondern seine Bereitschaft zu geben ist an die Erfüllung bestimmter Reziprozitätserwartungen gebunden. Wir haben es also mit einer Form von konditionaler Großzügigkeit zu tun. In einem kollektiven System sind Geber viel eher bereit einen Beitrag zu leisten, wenn sie das Gefühl haben, etwas zurück zu erhalten, sei es symbolischer oder pekuniärer Natur.“46 Als ein Reziprozitätsarrangement lässt sich nun auch die sich am Beispiel der allgemeinen Altersrentenversorgung manifestierende Beziehung zwischen Regime und Bevölkerung in der UdSSR charakterisieren. Auf den ersten Blick mag einer solchen Übertragung des Konzepts die vermeintliche Tatsache entgegenstehen, dass hier keine Ressourcentransfers zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen stattfanden. Immerhin gehörte es seit der VI. (Prager) Allrussischen Konferenz der SDAPR zu den zentralen Inhalten der sozialpolitischen Propaganda, dass die Bürger keinen finanziellen Beitrag zur Deckung der mit der sozialen Sicherung verbundenen Aufwendungen zu leisten hatten. Bei dieser „Befreiung“ der Werktätigen von der Abgabenlast handelte es sich allerdings um eine Fiktion. Tatsächlich partizipierte auch die arbeitstätige Sowjetbevölkerung an der Finanzierung der Alterssicherung ihrer älteren Mitbürger. Zum einen war sie über die indirekte und direkte Besteuerung an der Finanzierung des Staatsbudgets beteiligt,47 dessen Mittel
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47
Lessenich Mau, Reziprozität, S. 262. Vgl. ebd., S. 264. Mau, Wohlfahrtsregimes, S. 353. Falk, Homo Oeconomicus, S. 14, beschreibt diesen Einstellungstypus über das Beispiel der Steuermoral: „[...] für den Homo Reciprocans [spielt es] eine wichtige Rolle, ob andere ihren Beitrag zu einem öffentlichen Gut leisten oder nicht. Wenn ein reziprokes Individuum den Eindruck hat, die anderen zahlten ihre Steuern, wird es sich ebenso verhalten (,gutes ދErwartungsgleichgewicht). Herrscht hingegen der Eindruck vor, die anderen zahlten ihre Steuern nicht, wird ein reziproker Steuerzahler eine geringere Steuermoral aufweisen (,schlechtes ދErwartungsgleichgewicht).“ Zur hohen Relevanz der Reziprozitätsnorm für die Akzeptanz sozialer Sicherungssysteme vgl. auch Ullrich, Reziprozität; Bowles Gintis, Reciprocity, S. 3738; Wax, Rethinking. So stammten etwa im Jahr 1965 7,5 % der Staatseinnahmen aus direkten und 37,8 % aus indirekten Steuern. Vgl. George Manning, Socialism, S. 60.
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zur Subventionierung der allgemeinen Rentenversorgung verwendet wurden. Zum anderen müssen sowohl die von den Betrieben und Dienststellen geleisteten Beiträge zur Sozialversicherung als auch die Kolchosabgaben in den ZUSVK als Arbeitgeberbeiträge begriffen werden, für die mittelbar nicht zuletzt die Arbeitnehmer selbst aufkamen. De facto handelte es sich hierbei um Lohnnebenkosten, die auf das Niveau des Arbeitsentgelts drückten und gegebenenfalls über die Preisbildung für produzierte Güter an die Konsumenten weitergereicht wurden.48 Die Hervorhebung der staatlichen Übernahme aller Kosten wurde interessanterweise in den 1970er Jahren ebenfalls von sowjetischen Ökonomen relativiert. So stellt Lancev fest, dass die Fonds der Sozialversorgung einen Bestandteil des notwendigen Produkts darstellen, „da im Falle des Fehlens einer Sozialversorgung die Unterhaltung sowohl der vollständig Arbeitsunfähigen [...] als auch der zeitweise Arbeitsunfähigen [...] unmittelbar von den Produzenten auf Kosten der Mittel, die sie für ihre Arbeit erhalten, verwirklicht werden würde“.49 Gegen die Vorstellung, dass die Werktätigen während ihres Arbeitslebens nichts für die Finanzierung ihrer Ruhestandsversorgung getan hätten, wendet sich auch Konstantin Ch. Vermišev, der für den Umfang, in dem ein Sowjetbürger an der eigenen Alterssicherung partizipiert hat, Zahlen nennt: „Während der 40–45 Jahre der Arbeitstätigkeit eines neuen Gesellschaftsmitglieds werden neben den 60.000–65.000 R, die ihm als Erwerbsentgelt ausgezahlt werden, 65.000–72.000 R [vom Staat] als Rücklagen behalten. Mit Letzteren trägt es seine Schuldenlast gegenüber der Gesellschaft (15.000 R)50 ab und streckt seine sich im Schnitt auf [einen Zeitraum von] 15 Jahre[n] erstreckende Altersrentenversorgung vor ([...] 13.000 R). Und es überlässt der Gesellschaft 37.000–44.000 R bzw. 57–60 % der von ihm während des Zeitraums seiner Arbeitstätigkeit erzeugten Rücklagen zur weiteren Entwicklung der Produktivkräfte.“51
Solche Äußerungen, die sich in einem deutlichen Widerspruch zu in der Vergangenheit bezogenen Positionen befanden,52 entsprachen einer neuen, realistischeren 48
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Hier besteht eine offensichtliche Parallele zur Situation in Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland, wo man, wie Lessenich, Ein (un)moralisches Angebot, S. 160, anmerkt, die Parität als Fiktion wahrnehmen könne, da „letztlich [...] der Arbeitgeberanteil am Sozialversicherungsbeitrag nichts anderes als ein umetikettierter Lohnbestandteil [ist], der nicht zur Auszahlung gelangt, sondern vorab in die Versicherungskassen umgeleitet wird. Bezogen auf die vermeintliche ,Solidarität zwischen den Klassen ދist die hälftige Beitragsfinanzierung also eine Luftbuchung [...].“ Zur Fiktivität der Übernahme sämtlicher Kosten durch den sozialistischen Staat vgl. auch Beyme, Sozialismus, S. 74. Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 21. Vgl. auch Stiller, Sozialpolitik, S. 23. Hierunter versteht Vermišev die Ausgaben, die dem Staat während der Ausbildung des Einzelnen entstanden sind. Vermišev, Stimulirovanie, S. 107. Siehe ebenfalls Bljachman, Kak zarabatyvaešތ, S. 67, dem zufolge aus 45 % des von Werktätigen erzeugten Wertes Rücklagen gebildet würden. Vgl. auch Madison, The Soviet Pension System, S. 176; Kalinjuk, Vozrastnaja struktura, S. 100; Malތcev, Problemy, S. 85. So beanstandete I. L. Baevskij Anfang der 1930er Jahre die Auffassung L. V. Zabelins, dass die Rente eine sozialisierte Form des Arbeitsverdienstes darstelle: „Die Mittel, die zusätzlich zum individuellen Erwerbsentgelt der Anhebung des Lebensstandards unseres Arbeiters dienen sollen, haben absolut nichts von einem ,Arbeitsverdienst“, haben nichts Vergesellschaf-
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Betrachtungsweise innerhalb der politischen Führung. Dies belegt eine Rede, die Brežnev im Juli 1973 anlässlich der Verleihung des Ordens der Völkerfreundschaft an die Ukrainische SSR hielt. In ihr kam er auch auf die mit der Durchführung der Sozialprogramme verbundenen Anstrengungen zu sprechen: Man habe sich daran gewöhnt, dass von Jahr zu Jahr weitere Maßnahmen zur Anhebung des Lebensstandards durchgeführt würden. Dabei vergesse man, dass hierfür eine sehr beharrliche Arbeit notwendig sei: „Wir alle sagen ja oft ,kostenlosދ: kostenlose Bildung, kostenlose medizinische Versorgung, kostenloser Reisescheck usw. In einem gewissen Sinne ist das zweifelsohne richtig. [...] Aber irgendwer muss doch die Arbeit des Lehrers, des Arztes, die Ausgaben für den Unterhalt der Schulen, Krankenhäuser usw. bezahlen. In diesem Sinne gibt es kein ,kostenlosދ. Die Ausgaben trägt der Staat, d. h. das gesamte Volk, alle, die im Lande arbeiten.“53
Sicherlich kann vermutet werden, dass der Zusammenhang zwischen den Erträgen der eigenen Arbeitsleistung und der Finanzierung der staatlichen Rentenversorgung infolge der anderslautenden offiziellen Verlautbarungen nur den wenigsten Bürgern geläufig war.54 An der Tatsache, dass gerade die Mitglieder der Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner die Auffassung teilten, Vorleistungen erbracht zu haben, die zu einer Ruhestandsversorgung berechtigten, änderte dies freilich nichts. Für ihre Reziprozitätserwartungen besaß der über die individuelle Arbeitsleistung vollzogene Beitrag zur Entwicklung der sowjetischen Volkswirtschaft dieselbe Funktion wie jene Einzahlungen in die Rentenversicherung, aus denen ein bundesdeutscher Rentner seinen Versorgungsanspruch abzuleiten vermag. Hinsichtlich der spezifischen Form der gesellschaftlichen Wechselseitigkeit, die sich im Rahmen eines wohlfahrtsstaatlichen Reprozitätsarrangements ausbilden kann, sind verschiedene Varianten denkbar. So existieren diverse Vorschläge zur Typologisierung der möglichen Spielarten, auf deren Grundlage auch dann eine Beschreibung der sich vor dem Hintergrund der sowjetischen Altersrentenversorgung manifestierenden Reziprozität möglich wird, wenn man sich gegen die Wahrnehmung der UdSSR als Wohlfahrtsstaat entscheidet. Carsten Ullrich differenziert beispielsweise zwischen „Realtypen von Reziprozitätsvorstellungen“, die sich im Hinblick a) auf die angenommene Zeitspanne zwischen Leistung und Gegenleistung, b) auf die personelle Übereinstimmung oder Nicht-Übereinstimmung von Gebendem und Nehmendem, und c) auf die Form und Erwartbarkeit der Gegenleistung unterscheiden. Auf den Kontext der sowjetischen Alterssicherung ist speziell der Realtyp der „Erwartungsreziprozität“ übertragbar. Er bezieht sich auf intertemporale und sich zwischen verschiedenen Altersgruppen innerhalb einer Bevölkerung ereignende Umverteilungen: Die Inanspruchnahme der Gegenleistung für den eigenen
53 54
tetes (,Sozialisiertes)ދ, d. h., in ihnen gibt es nichts, das der individuellen Verwendung vorbehalten wird.“ Baevskij, Fondy, zit. bei: Andreev, Socialތnoe obespeþenie, S. 124125. Andreev lobt diese Haltung noch 1971 als „gerechtfertigte Kritik“. Zu Zabelins Standpunkt vgl. Zabelin, Teorija, S. 167; ders., Puti, S. 111. Pravda vom 27. Juli 1973, S. 2. Vgl. Prangulaishvili, Die Reformen, S. 29.
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Beitrag wird hier langfristig, für zukünftige Lebensphasen, anvisiert, „in denen eine Umkehrung der Verteilungsposition – sei es aufgrund eines höheren Bedarfes an Gesundheitsleistungen oder infolge einer geringeren Zahlungsfähigkeit – als sicher angesehen wird“.55 Steffen Mau geht – in Anlehnung an Gøsta Esping-Andersens Trias der wohlfahrtsstaatlichen Welten – von vier idealtypischen „Reziprozitätsregimes“ aus. Im Zentrum seines Ansatzes stehen dabei allerdings nicht Merkmale wie die Dekommodifizierung, die Stratifizierung und der welfare-mix,56 sondern Strukturen sozialer Beziehungen und Reziprozitätsnormen. Von Interesse ist hier insbesondere das im Anschluss an Marshall D. Sahlin57 entwickelte Modell der „ausgeglichenen Reziprozität“, das auf dem Äquivalenzprinzip beruht: Das Niveau der in Aussicht stehenden Gegenleistungen soll hier den Erwartungen der Beteiligten gemäß der Qualität des zuvor erbrachten Beitrags entsprechen. Mau führt die Bismarcksche Sozialgesetzgebung als ein Beispiel für diesen – ebenfalls von intertemporaler Umverteilung gekennzeichneten – Idealtypus an, aber es lassen sich gleichzeitig Parallelen zur allgemeinen Altersrentenversorgung in der UdSSR feststellen. Sie bestehen nicht nur in der Status erhaltenden Funktion der Versorgung, sondern auch in Wechselseitigkeitserwartungen, denen zufolge diejenigen „Ansprüche als beitragsgerechte Ansprüche [gelten], die eine Art Kompensation für zuvor geleistete Beiträge darstellen“.58 Einer direkten Übertragung früherer Einkommensunterschiede auf das Niveau der Ruhestandsversorgung stand im sowjetischen Fall zwar die Setzung von Rentenober- und -untergrenzen, mit deren Hilfe die vor 1956 verzeichneten Disparitäten im Leistungsniveau vermieden werden sollten, entgegen. Und auch die de facto zu verzeichnende Nivellierung der meisten Kolchos- und eines guten Teils der Staatsaltersrenten lief diesem Effekt unzweifelhaft entgegen. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Reziprozitätserwartungen sowjetischer Bürger in einem hohen Maße von der offiziellen Propaganda geprägt wurden, und hier gehörte gerade der Verweis auf das sozialistische Leistungsprinzip des „Jedem nach seiner Leistung“ zu den wichtigsten Inhalten. Die Höhe der im Alter bezogenen Rente sollte sich demzufolge primär über die Qualität des zuvor vom Leistungsempfänger erbrachten Arbeitsbeitrags definieren.59 In diesem Sinne lässt sich ebenfalls die für die Mitglieder einzelner Versorgungsklassen charakteristische Unzufriedenheit über die Besserstellung anderer Rentnersubkategorien auf enttäuschte Reziprozitätserwartungen zurückführen. Wenn ein Kolchosrentner sich darüber beklagte, dass die früheren Beschäftigten der Staatsgüter über eine bessere Alterssicherung verfügten, obschon sie in der Vergangenheit identische Tätigkeiten ausgeübt hatten, dann wurzelte der Unmut 55 56 57 58 59
Ullrich, Reziprozität, S. 16. Siehe Abs. 8.2. Sahlins, The Sociology. Mau, Wohlfahrtsregimes, S. 358. Weitere Ansätze zur Typologisierung von Reziprozitätsvorstellungen stammen z. B. von Goodin, Structures; Lessenich, Back to Basics; Stegbauer, Reziprozität. Einen informativen Überblick über die verschiedenen Herangehensweisen bieten Lessenich Mau, Reziprozität, S. 265271. Vgl. auch Marten Scheuregger, Einleitung, S. 1112.
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in der Empfindung, dass gegen die reciprocal fairness60 verstoßen worden war: Man war zu der Überzeugung gelangt, dass die Leistungen der anderen Bürger ungerechtfertigterweise mit weitaus üppigeren Gegenleistungen honoriert wurden. Lassen sich dergestalt systemübergreifende Ähnlichkeiten in den Wechselseitigkeitsarrangements feststellen, so differiert das sowjetische Modell doch in einem äußerst wichtigen Punkt von der Situation in westlichen Wohlfahrtssystemen. Die staatliche Funktion einer bloßen institutionellen Vermittlung der Ressourcentransfers sowie der Definition der sich in den Reziprozitätsbeziehungen befindenden Gruppen blieb im Fall der sowjetischen Rentenpolitik unerwähnt. Indem man die Finanzierung der Sozialleistungen als Ergebnis der staatlichen Sorge und ohne Eigenbeteiligung der Bürger zustande kommend deklarierte, unterstützte man die Vorstellung, dass der Staat selbst als Ursprung der Sozialleistungen anzusehen sei. Das reziprozitäre Verhältnis bestand dieser Logik gemäß primär zwischen ihm bzw. seinen führenden Repräsentanten auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite. Dementsprechend fehlte der Gedanke einer generationsübergreifenden oder verschiedene Bevölkerungsgruppen miteinander verbindenden Solidarität, wie er z. B. in der bundesdeutschen Konstruktion des „Generationenvertrags“ Ausdruck findet, im sowjetischen Diskurs weitestgehend. Der de facto ebenso wie im kapitalistischen Westen vorliegende „Sozialtransferstaat“ wurde somit als „Leistungsgewährungsstaat“ kommuniziert.61 Den Umstand berücksichtigend, dass ein Verhältnis gegenseitiger Pflichten und Leistungen zwischen sowjetischen Bevölkerungsgruppen bestand, jedoch nicht oder nur unzureichend artikuliert wurde, ließe sich das sowjetische Arrangement demnach als ein Beispiel für eine „umgeleitete Reziprozität“ bezeichnen. Im Folgenden soll nun im Detail untersucht werden, wie sich die zwischen Regime und Bevölkerung nachzuweisende Reziprozität in der UdSSR manifestierte. Gegenüber einer auf dem kontraktualistischen Gedankenexperiment gestützten Vorgehensweise bietet dies den Vorteil, dass die Elemente der Wechselseitigkeit, die den Gegenstand der Erwartungen abgebenden Gaben und Gegengaben bzw. Rechte und Verpflichtungen, gegenständlicher und in weit höherem Maße als empirische Realität behandelt werden können. Dabei ist festzustellen, dass diese Beziehung von einer beträchtlichen Ambivalenz gekennzeichnet war: Es lassen sich zwei nebeneinander bestehende Ebenen differenzieren, die sich dergestalt in einem Widerspruch zueinander befinden, als dass die ursprüngliche „Gabe“ in den beiden Fällen von unterschiedlicher Seite ausging. Diese Ebenen sollen im Folgenden einerseits als die paternalistische, andererseits als die qualifikatorische Dimension der Reziprozität bezeichnet werden. 60 61
Mau, Wohlfahrtsregimes, S. 353. Vgl. zu dieser Opposition Lessenich Mau, Reziprozität, S. 262. Ein seltenes Beispiel für eine Auffassung, die offenkundige Parallelen zur Vorstellung des Generationenvertrags aufweist, bietet allerdings M. L. Zacharov: „Es ist anzumerken, dass die Rentenversorgung über das durch die Arbeit des Volkes [...] gebildete Nationaleinkommen des Landes finanziert wird. In diesem Fall kann man begründeterweise bestätigen, dass die Arbeitenden die Betagten und Arbeitsunfähigen unterhalten, die wiederum, als sie selbst in der Vergangenheit gearbeitet haben, eben solche Bürger unterhielten.“ Sovetskoe pensionnoe pravo, S. 61.
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6.2.2. Die paternalistische Dimension der Reziprozität: väterliche Sorge gegen Dankbarkeit und Einsatz Die erste Reziprozitätsdimension mag als der „obrigkeitlichen“ Perspektive entsprechend verstanden werden, da sie sowohl legitimatorische als auch ökonomische Interessen der Regierenden widerspiegelt. Von maßgeblicher Bedeutung ist hier die Vorstellung, dass die sozialgesetzgeberischen Maßnahmen als Resultat der „väterlichen Sorge“ von Partei und Regierung anzusehen sind. Die Gegengabe der Bevölkerung besteht in der hierdurch hervorgerufenen Dankbarkeit der Sowjetbürger, die darüber hinaus ganz konkrete Formen annehmen, d. h. zu einer Steigerung der individuellen und kollektiven Arbeitsleistung führen soll. Wie wichtig das Bild der um das Wohl der Bevölkerung bemühten politischen Führung für die Eigendarstellung des Regimes war, belegt seine Prominenz in offiziellen Stellungnahmen zum Thema der Rentenpolitik und den begleitenden Presseartikeln. Dass es sich hierbei um das Ergebnis einer bewusst gesetzten propagandistischen Strategie handelte, zeigt etwa der Beschluss einer am 27. Juni 1955 von L. M. Kaganoviþ geleiteten Goskomtrud-Sitzung. In Bezug auf die bei dieser Gelegenheit besprochene Überarbeitung des Gesetzesvorhabens heißt es hier: „a) Im Einführungsteil soll die Notwendigkeit eines einheitlichen Gesetzes über die Rentenversorgung darlegt werden. In diesem Zusammenhang ist darauf einzugehen, dass die Renten erhöht werden sollen, und dass es sich hierbei um das Resultat der staatlichen Sorge um die Werktätigen handelt.“62 Der Kommunikation des fürsorglichen Charakters des Regimes galt auch das Augenmerk L. P. Lykovas, die sich neun Jahre später aus Anlass der Diskussion des Gesetzentwurfs über die Kolchosrenten im Unionsrat zu Wort meldete. Die Sozialversorgungsministerin der RSFSR unterstrich die enorme Bedeutung, die der Aufklärung der Kolchosbevölkerung über das neue Regelwerk zukomme. Eine solche Notwendigkeit ergab sich nicht nur aus der Tatsache, dass die Artelmitglieder über ihre Rechte und Pflichten informiert sein sollten. Im Fokus stand für die Ministerin vor allem die Multiplikation der gewünschten Vorstellung von der Natur der sozialistischen Herrschaft: „Es ist wichtig, dass ein jeder Kolchosbauer versteht, welch eine enorme Sorge die Kommunistische Partei und der Sowjetstaat um die Anhebung des Lebensstandards des sowjetischen Volkes hegen.“63 Für das Bewusstsein der Sowjetbürger um die Fürsorglichkeit des Regimes sorgte denn auch eine Vielzahl von publizierten Äußerungen zu dem Thema. Vorgegeben wurde diese Linie von den politischen Führungspersönlichkeiten. Ein Beispiel bietet etwa Nikolaj A. Bulganins am 11. Juli 1956 vor den beiden Kammern des Obersten Sowjets gehaltene Rede über den Entwurf des Staatsrentengesetzes. Der Vorsitzende des Ministerrats konstatierte bereits in der Einleitung, dass das Projekt „ein markanter Ausdruck der unermüdlichen Sorge der Kommu62 63
GARF, F. R 9553, op. 1, d. 91, l. 87. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 132. Vgl. auch Lykova, Zadaþa, S. 6.
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nistischen Partei und der Sowjetregierung um das Wohl des Volkes“64 sei. Gleichzeitig verwies er auf die Rückmeldungen aus der Bevölkerung, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits – auf der Grundlage der im Mai in den wichtigsten Zeitungen publizierten Entwurfsfassung – mit den Reforminhalten hatte vertraut machen können: „In den Briefen und Telegrammen wird darauf hingewiesen, daß die Veröffentlichung des Gesetzentwurfs für die Werktätigen ein großes Ereignis war, daß die Erhöhung der Rentensätze ihre materielle Lage wesentlich verbessert. Die Verfasser der Briefe danken der Kommunistischen Partei und der Sowjetregierung herzlich für die väterliche Sorge um die Werktätigen.“65
Die Gleichsetzung des Verhältnisses von Regime und sowjetischen Bürgern mit einer Vater-Kind-Beziehung lässt die paternalistische Konnotation des hier verwendeten Sorge-Begriffes offenkundig werden. Gegen Ende seines Vortrags kam Bulganin noch einmal auf die Wertschätzung zu sprechen, die der politischen Führung widerfahren sei – und verdeutlichte somit, dass es sich hierbei um die seines Erachtens adäquate Reaktion handelte: „Die Parteilinie hat bei unserem Volke volle Billigung und Unterstützung gefunden. Die Menschen der Sowjetunion wissen, dass sie alle ihre Erfolge der ruhmreichen Kommunistischen Partei, der unermüdlichen organisatorischen Tätigkeit dieser Partei zu verdanken haben.“66 Ähnlich äußerte sich am 13. Juli 1964 N. S. Chrušþev in seiner Rede „Über Maßnahmen zur Erfüllung des Programms der KPdSU im Bereich der Steigerung des Volkswohlstandes“ vor demselben Organ der Volksvertretung. Der reziprozitäre Charakter der Regime-Bevölkerung-Beziehung wurde hier noch dadurch unterstrichen, dass die sich aus der Wahrnehmung der staatlichen Fürsorglichkeit ergebende Dankbarkeit explizit als „Antwort“ der Sowjetbürger beschrieben wurde. Der Erste Parteisekretär erwähnte dabei allerdings auch die konkrete Gestalt, in der sich diese Verbundenheit äußern werde: „Die Einführung eines einheitlichen Systems der Rentenversorgung in den Kolchosen wird zu einem neuerlichen Aufschwung der schöpferischen Aktivität der Werktätigen des Dorfes bei ihrem aufopfernden und edlen Kampf um weitere Erfolge der Landwirtschaft führen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass unsere ruhmreiche Kolchosbauernschaft auf die Sorge von Partei und Regierung mit bemerkenswerten Arbeitstaten [...] antworten wird.“67
Eine überaus wichtige Rolle bei der Vermittlung dieser Vorstellung übernahm die Presse, die die vorgegebenen Argumentationsmuster dutzendfach wiederholte. So versah das Zentralorgan der KPdSU den Leitartikel seiner Ausgabe vom 10. Mai 1956 mit dem Titel „Für das Wohl des sowjetischen Menschen“ und berichtete in ihm bereits einen Tag nach der Veröffentlichung des vorläufigen Staatsrentenentwurfes von dessen freudiger Rezeption in der Bevölkerung:
64 65 66 67
Bulganin, Der Entwurf, S. 3. Ebd., S. 26. Ebd., S. 31. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 39.
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Beziehungen wechselseitiger Verpflichtung zwischen Regime und Bevölkerung „Arbeiter, Kolchosbauern, die Intelligenz sowie die Soldaten der sowjetischen Armee und Flotte diskutieren dieses Dokument enthusiastisch und fassen es als Äußerung der unermüdlichen Sorge von Kommunistischer Partei und Sowjetregierung um das Wohl des Volkes auf. [...] Alle sowjetischen Menschen erklären als Antwort auf die neuerliche Sorge von Partei und Regierung um die Anhebung des nationalen Wohlstandes ihre Bereitschaft, hingebungsvoll im Namen des weiteren Erblühens der Heimat zu arbeiten, noch umfangreicher den sozialistischen Wettbewerb um eine vorzeitige Erfüllung des Sechsten Fünfjahrplans zu entwickeln.“68
Deutlich wird auch hier, dass die beschriebene Dankbarkeit oft weniger als das Ergebnis empirischer Beobachtung denn als Beschreibung eines als angemessen empfundenen Verhaltens aufzufassen ist. Kommuniziert wurden folglich Reziprozitätserwartungen. Dass diese auch unter Brežnevs Ägide nahezu unverändert in Kraft blieben, belegt ein Leitartikel, der am 28. September 1967 in der Pravda erschien. Sein Anlass waren die zwei Tage zuvor beschlossenen Maßnahmen zur Verbesserung der Rentenversorgung, deren wichtigstes Element die Verringerung des Renteneintrittsalters für Kolchosbauern auf 60 bzw. 55 Jahre darstellte. Unter dem Titel „Für das Wohl des Volkes“ hieß es hier u. a.: „Die Beschlüsse des Septemberplenums (1967) des ZK der KPdSU [...] sind ein neuer klarer Beweis für die unermüdliche Sorge der Partei um die Verbesserung des Lebens des Volkes, der konsequenten Umsetzung ihrer edlen Programmlosung: ,Alles im Namen des Menschen, für das Wohl des Menschenދ. [...] Die freudige Nachricht über die vom Politbüro des ZK der KPdSU ausgearbeiteten und vom Plenum des ZK der KPdSU gutgeheißenen Maßnahmen zur weiteren Anhebung des Volkswohlstandes wurde von den sowjetischen Menschen mit großer Begeisterung aufgenommen. Auf Treffen und Versammlungen geben Arbeiter, Bauern und Mitglieder der Intelligenz ihrer tiefen Dankbarkeit gegenüber der Partei und ihrem Zentralkomitee für diese leninsche Sorge Ausdruck. Millionen von Werktätigen trachten danach, sie mit neuen Erfolgen beim kommunistischen Aufbau zu beantworten.“69
Auch gegen Ende des Untersuchungszeitraums entsprach ein solcher „Tausch“ noch der offiziellen Linie. So sprachen etwa die Verfasser eines im August 1971 in derselben Zeitung erschienenen Leitartikels über „Moralische Anreize“ von den Erfolgen, die bei der Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse der Bevölkerung erzielt worden seien – und die die bekannte Reaktion am Arbeitsplatz hervorrufen würden: „[...] auf die Sorge der Partei antwortend mobilisieren die Sowjetmenschen [...] in ihren Arbeitsgebieten neue Reserven zur Steigerung der Effektivität der Produktion.“70 Die Funktion der Presseorgane beschränkte sich jedoch nicht nur auf die Darstellung des Reziprozitätsverhältnisses aus Regimeperspektive. Über die auf ihren Seiten veröffentlichten Äußerungen aus der Bevölkerung zu den Rentenreformen führten sie ebenfalls den vermeintlichen Nachweis, dass die sowjetischen Bürger diese Wechselseitigkeit verinnerlicht hatten, also Kenntnis von den aus der für68 69 70
Pravda vom 10. Mai 1956, S. 1. Vgl. auch „Velikaja zabota o blage naroda“, in: Trud vom 9. Mai 1956, S. 1. Pravda vom 28. September 1967, S. 1. Vgl. auch „Vse vo imja þeloveka, dlja blaga þeloveka“, in: Pravda vom 15. Juli 1964, S. 1. Pravda vom 12. August 1971, S. 1.
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sorglichen Gabe des Staates resultierenden Verpflichtungen besaßen. Zeitungen wie die Pravda, die Izvestija oder die Trud publizierten im Gefolge der Reformen wiederholt Leserbriefe, deren Autoren sich für die um sie gehegte Sorge bedankten und eine Steigerung der Arbeitsleistung ankündigten, die dabei „als Antwort“ auf die Rentenpolitik deklariert wurde. Suggeriert wurde auf diesem Wege die explizite Anerkennung der sich im Rahmen der paternalistischen Reziprozitätsdimension für die Bürger ergebenden Verpflichtungen. Charakteristischerweise waren solche Bekundungen mit Überschriften versehen, die das Wesentliche ihres Inhalts bereits aussagekräftig zusammenfassten: Neben dem gleich mehrfach verwendeten Versprechen „Wir werden noch besser arbeiten“71 entschieden sich die verantwortlichen Redakteure für Titel wie „Einhellige Zustimmung“,72 „Die große Sorge um den Menschen“, „Wir erhöhen die Metallproduktion“,73 „Ein herzliches Danke“74, „Dem heimatlichen Staate sei gedankt!“75, „Unsere Antwort ist die Stoßarbeit“ oder „Wir bleiben nichts schuldig“76. Stellvertretend für viele andere Schreiben ähnlichen Inhalts sei hier aus zwei veröffentlichten Briefen zitiert, deren Autoren bekundeten, die richtigen Konsequenzen aus der staatlichen Fürsorge ziehen zu wollen. Zu den Texten, die die Trud drei Tage nach der Veröffentlichung des Staatsrentenentwurfes publizierte, gehörte auch die „Antwort der Metallurgen“ aus Stalingrad: „Tag und Nacht arbeiten die Metallurgen mit großem Elan. Bei allem spüren sie die Sorge von Kommunistischer Partei und Sowjetregierung um das Wohl des Volkes. [...] Der Entwurf des neuen Gesetzes über die Staatsrenten rief ein Gefühl tiefer Freude unter den Metallurgen hervor. [...] Auf der Versammlung der Metallurgen des Ersten Siemens-Martin-Werks ergriff der Stahlgießer I. Gerasimenko das Wort: ,Unsere teure Kommunistische Partei steht zu ihrem Wort. [...] Der XX. Parteitag der KPdSU hat ein großangelegtes Programm zur Verbesserung des Lebensstandards des sowjetischen Volkes entworfen. Diese Entscheidungen werden nun in die Tat umgesetzt. [...] Als Antwort auf diese Sorge um das Wohl de Bevölkerung verpflichtet sich das Kollektiv des Siebten Siemens-Martin-Ofens dazu, dem Land im Mai 500 Tonnen Stahl über dem Plansoll zu liefern.“ދ77
In ähnlicher Weise äußerten sich acht Jahre darauf drei Mitglieder des in der Usbekischen SSR gelegenen Sverdlov-Kolchos gegenüber der Pravda. In ihrem am 15. Juli 1964 veröffentlichten und – ebenfalls mit der Bekundung „Wir werden noch besser arbeiten“ überschriebenen – Brief nahmen sie zu der Rede Stellung, die Chrušþev zwei Tage zuvor vor dem Obersten Sowjet gehalten hatte. Auch in diesem Fall mündete das Gefühl der Dankbarkeit in das Bestreben, die eigene Arbeitsleistung zu steigern: „Wir haben uns mit großer Aufmerksamkeit im Radio den Vortrag von N. S. Chrušþev angehört. Jedes seiner Worte freute uns und inspirierte uns zu neuen großen Arbeitstaten. Wir 71 72 73 74 75 76 77
Trud vom 12. Mai 1956, S. 1; Pravda vom 10. Mai 1956, S. 2, und vom 17. Juli 1964, S. 4. Trud vom 12. Mai 1956, S. 1. Pravda vom 12. Mai 1956, S. 1. Pravda vom 15. Juli 1964, S. 6. Social’noe obespeþenie (1957), 11, S. 2831. Pravda vom 28. September 1967, S. 1. Trud vom 12. Mai 1956, S. 1.
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Beziehungen wechselseitiger Verpflichtung zwischen Regime und Bevölkerung danken unserer Partei und Regierung für die Sorge um uns ländliche Arbeiter. Der Entwurf des Gesetzes über die Renten und Beihilfen für Kolchosbauern [...] verbessert nicht nur unseren Alltag, sondern erhöht auch das Interesse der Kolchosbauern an der Entwicklung der Landwirtschaft. Das neue Gesetz [...] teilt der ganzen Welt ein weiteres Mal mit, wie sich unser Land um das Glück des Volkes sorgt.“78
Nicht anders fielen die publizierten Reaktionen auf die 1971 durchgeführten Nachbesserungen der Kolchosrentenbestimmungen aus, die eine Anhebung der Mindestrenten und die Veränderung des Berechnungsmodus bewirkten. Auch in diesem Fall resultierten die Neuerungen der Presse zufolge in der Freude der Betroffenen und ihrem Wunsch, als „Zeichen der Dankbarkeit wie früher im heimatlichen Kolchos zu arbeiten“.79 Für die außerordentlich hohe Bedeutung, die der Tatsache – oder der Vermittlung des Eindrucks – beigemessen wurde, dass die Sowjetbevölkerung die Modalitäten des Wechselseitigkeits- und Verpflichtungsverhältnisses anerkannte und internalisierte, spricht schließlich noch eine weitere Redundanz. Viele jener Deputierten des Obersten Sowjets der UdSSR, die 1956 und 1964 die Rentengesetzentwürfe diskutierten, kamen in ihren Redebeiträgen auf den großen Dank der Bevölkerung ihrer Heimatgegenden und seine Konsequenzen zu sprechen. Das Muster der Wortmeldungen folgte weitgehend Äußerungen wie jener von Taira A. Tairova, einer aus der Aserbaidschanischen SSR stammenden Deputierten, die am 12. Juli 1956 unter Verwendung der bekannten Versatzstücke vor dem Nationalitätenrat sprach. Dabei lobte sie nicht nur, dass die „Sorge um das Wohl des Volkes“ schon seit jeher das für die Tätigkeit von Partei und Regierung wichtigste Gesetz dargestellt habe und noch immer darstelle. Sie rekurrierte ebenfalls auf die diesbezüglichen Reaktionen sowjetischer Bürger, die aus einer derartigen Anteilnahme einen Handlungsauftrag ablesen würden. Dieser konnte sich allerdings, wie der folgende Auszug aus ihrer Rede belegt, auch auf Personen erstrecken, die selbst nicht mehr direkt an den Arbeitsprozessen beteiligt waren. „Mit einem Gefühl von tiefer Verbundenheit und Dankbarkeit begegneten alle Werktätigen unseres Landes dem Entwurf des neuen Gesetzes über die staatlichen Renten. Hiervon künden ausdrucksvoll die vielzähligen Stellungnahmen der Arbeiter und Angestellten auf Versammlungen und in der Presse. [...] Eine Bewohnerin der Stadt Mingeþaur, die Genossin Rentnerin Achmedova, hat erklärt: ,Ich habe drei Kinder und erhalte für sie eine Rente in Höhe von 508 R*. Laut Entwurf für das neue Gesetz werde ich 750 R* erhalten. All meine Kinder gehen zur Schule. Als Antwort auf die Sorge von Partei und Regierung verspreche ich, mich noch mehr darum zu bemühen, sie zu Bürgern zu erziehen, die unserer großartigen Heimat würdig sind.ދ Alle sowjetischen Menschen begrüßen den Entwurf des Gesetzes über die staatlichen Renten voller Enthusiasmus und antworten auf die Sorge von Partei und Regierung mit neuen Arbeitssiegen.“80
78 79 80
Pravda vom 15. Juli 1956, S. 6. Pavlova, S þuvstvom, S. 19. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR þetvertogo sozyva, S. 6667. Analoge Textstellen finden sich für das Jahr 1956 z. Β. in ebd., S. 5051, 7071, 84, 88, 9192, 105, 136 und 166. Während der Diskussion des Kolchosrentengesetzes wurde die Dankbarkeit der Bevölkerung und ihr Wille zur „Gegengabe“ in einer ähnlichen Art und Weise beschworen. Vgl.
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Eingangs wurde bereits betont, dass diese Ebene der Reziprozität den Anliegen der politischen Führung entgegenkam. Indem man die Optimierung des individuellen Einsatzes für die volkswirtschaftliche und gesamtgesellschaftliche Entwicklung der UdSSR als eine sich aus der Sorge der politischen Führung ergebende ethische Verpflichtung kommunizierte, handelte man in Übereinstimmung mit den wirtschaftsbezogenen Zielen der Rentenpolitik. Die als Resultat erhoffte Erzeugung eines moralischen Imperativs stimmte dabei mit den Effekten überein, die man sich von der materiellen Anreizwirkung einer Rentenleistung versprach, deren Höhe sich – im Idealfall – aus der Qualität der vormaligen Arbeitsleistung des Antragstellers ableitete. In beiden Fällen sollte eine zukünftige Mobilisierung gegenwärtig noch nicht zur Gänze realisierter Potentiale der Bevölkerung bewirkt werden. Eine zweite wichtige Funktion einer solchen Form der Reziprozität bestand in der Legitimation des politischen Systems. Die Betonung der „Sorge von Partei und Regierung“ überhöhte die Sozialpolitik zu einem Aspekt der Staatstätigkeit, der – wie dies Christoph Boyer für die DDR formuliert – nicht allein technischinstrumentelle Aufgaben bewältigte, sondern die „Leitidee ,Sozialismus[ ދ...] als Inbegriff von Gerechtigkeit und Gleichheit, menschlicher Wärme und materiellem Wohlstand [inszenierte]“.81 Davon abgesehen wurde die „Sorge“ aber auch als ein zentrales Charakteristikum des neuen Regimes in den Vordergrund gestellt, das dessen diametrale Verschiedenheit von der Art und Weise belegen sollte, in der die Sowjetbürger bis 1953 behandelt worden waren. Es diente somit eindeutig der Abgrenzung, wenn Chrušþev dem verblichenen Diktator in der Geheimrede vorwarf, die „lebhaft[e] und eifrig[e] Sorge um die Menschen“ vernachlässigt zu haben. Hätte man eine solche an den Tag gelegt, so „wären die Menschen nicht zurückgestoßen und vergeudet, sondern auf unsere Seite gezogen worden“. Ganz in Übereinstimmung mit der für die Entstalinisierung im Allgemeinen charakteristischen Behauptung der Rückbesinnung auf den wahren Kern des Marxismus-Leninismus identifizierte Chrušþev diese Sorge als einen „Grundsatz Lenins“.82 Nun, unter den neuen politischen Bedingungen, sollte er wieder zu seinem Recht kommen, sollten die Massen abermals für die Kommunistische Partei gewonnen werden. Dass eine solche legitimatorische Erwartung explizit mit der Rentenreform verbunden wurde, machte N. A. Bulganin deutlich. Gegen Ende seiner Rede vom 11. Juli 1956 stellte der Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR fest, dass mit „der Verabschiedung dieses Gesetzes [...] die Schaffensinitiative der sowjetischen Menschen und ih[r] weitere[r] Zusammenschluss um die Kommunistische Partei der Sowjetunion“ gefördert werde.83 Ein solcher „Zusammenschluss“ meinte
81 82
83
hierzu etwa Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 101, 127, 130, 166, 168, 257 u. 308. Boyer, Die Sozial- und Konsumpolitik, S. 44. Chruschtschows „Geheimrede“, S. 493494. Nicht selten wurde die Anteilnahme des Regimes dementsprechend als „leninsche Sorge“ (Leninskaja zabota) bezeichnet. Vgl. z. B. Pravda vom 15. Juli 1964, S. 6; Safarov, Leninskaja zabota; Sinicyn, Sovetskij obraz žizni, S. 81. Bulganin, Der Entwurf, S. 30.
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nichts anderes als die weitere Stabilisierung der neuen Führung des Landes mit Hilfe einer Politik, die den Interessen der Bevölkerung entsprach. Die beschriebene Reziprozitätsdimension überschneidet sich in vielerlei Hinsicht mit einer auch für andere sozialistische Länder typischen „paternalistischen Politikpräsentation“. Gert Meyer spricht in diesem Zusammenhang – und bezogen auf das Beispiel der DDR – von mehreren „Topoi“, die „paternalistisch[e] Beziehungsmuster von einander gegenseitig verpflichtenden Leistungen“84 kennzeichnen, welche über die Massenmedien vermittelt würden. Als Ausgangspunkt für die Möglichkeit der staatlichen Verteilung von Sozialleistungen diene der hierfür typischen Logik gemäß zuerst die Mitwirkung der Bürger bei der volkswirtschaftlichen Entwicklung des Landes: „Auf dieser Grundlage ist es dann aber ,unsere gute Regierungދ, die für zahlreiche Bekundungen der Dankbarkeit sorgt und vielfältige Formen der Selbstverpflichtung zu erhöhten Gegenleistungen entgegennimmt. Arbeit und ,gesellschaftliche Aktivitäten ދder Werktätigen erscheinen fast als eine Art persönlicher Bringschuld für empfangene und versprochene Wohltaten. Das sozialpolitische Geben und Nehmen wird ständig personalisiert, eine scheinbar persönliche Beziehung zwischen Bürokratie und Bürgern wird suggeriert. [...] Paternalistisch [...] sind das schönfärberische, vereinnahmende Lob der Oberen und der Ton, der zur Identifikation mit ,unserem sozialistischen Staat ދoder der ,sozialistischen Nation ދbewegen soll. [...] So wird durch handfeste Leistungen, aber auch durch ,Inszenierungen von oben ދAkzeptanz für die Politik der Partei und Sympathie für ihre Repräsentation propagiert und organisiert.“85
Nun mag man behaupten, dass eine paternalistische Reziprozität zwischen Regime und Bevölkerung keine Novität darstellt, wenn man die Geschichte der UdSSR in ihrer Gesamtheit oder sogar die Verhältnisse im Russland der Vorrevolutionszeit in den Blick nimmt. So kennzeichnete die Vorstellung, dass die Relation von politischer Führung und Bevölkerung Gemeinsamkeiten mit einer Eltern- bzw. Vater-Kind-Beziehung aufweist, unzweifelhaft bereits die Wahrnehmung vieler Untertanen des Zarenreichs. Schon im 19. Jahrhundert wurde der autokratische Herrscher in Petitionen als „geliebter Vater“ adressiert, der doch vor Ort für Gerechtigkeit sorgen möge.86 Gerade in der Bauernschaft war der Mythos vom „guten Zaren“ verbreitet gewesen, der wie ein Familienoberhaupt Anteil an ihrem Schicksal nahm und nur von seiner Umgebung daran gehindert wurde, all jene Missstände zu beheben, unter denen die dörfliche Bevölkerung zu leiden hatte. Erst nach den Ereignissen des „Blutsonntags“ vom 9. Januar 1905 sollte diese Vorstellung an Einfluss verlieren.87 Besonders offensichtlich treten die Kontinuitäten jedoch im Verhältnis zu der Art und Weise zutage, in der die Beziehung zwischen sowjetischen Bürgern auf der einen sowie Partei und Regierung auf der anderen Seite während der Herrschaft Stalins propagandistisch behandelt wurde. Wie sehr der öffentliche Diskurs bereits vor 1953 von der Idee durchdrungen war, dass es sich bei sämtlichen Gütern und Dienstleistungen, die der Bevölkerung zu84 85 86 87
Meyer, Sozialistischer Paternalismus, S. 435436. Ebd., S. 436437 [Hervorhebung i. Orig.]. Vgl. Mommsen, Hilf mir, S. 54, 56 u. 104105; Fitzpatrick, Supplicants, S. 92. Vgl. Figes, Tragödie, S. 31; Bonnell, Roots, S. 447.
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teilwurden, um Gaben handelte, für die sie dem Regime zu Dank verpflichtet sei, hat Jeffrey Brooks überzeugend beschrieben. Bereits unter Lenin sei es üblich gewesen, die Partei, die „Revolution“ oder die „Arbeiterschaft“ als jene Instanzen zu identifizieren, denen man für positive Entwicklungen dieser Art verpflichtet zu sein hatte. Unter Stalins Ägide sei dann die Person des Führers selbst in den Mittelpunkt einer moralischen „Ökonomie des Geschenks“ gerückt: „Die Idee, dass gewöhnliche Menschen der Partei und dem Staat aufgrund der Revolution etwas schuldeten, entwickelte sich später zu einer Rhetorik des Geschenks, der zufolge alle guten Dinge mehr von der Partei und Stalin gegeben worden seien, als dass sie von denen verdient worden seien, die sie genossen. Die Erhebung der Dankbarkeit und der Abhängigkeit in den Rang des Exemplarischen kennzeichnet jene Umwandlung, in deren Folge die ,Sowjetmachtދ, die Partei und die Revolution zu den Hauptakteuren in der Gesellschaft wurden. Stalin wurde zum ultimativen Nutznießer dieser Bestehlung der individuellen Bürger um ihre Handlungsfähigkeit. Und seine Vormachtstellung wurde in den 1930er Jahren von der Losung ,Dank Dir, Genosse Stalin, für ein glückliches Leben ދverkörpert.“88
Die stalinsche „Ökonomie des Geschenks“, so Brooks, habe auch in dem Sinne eine Abkehr von der zuvor üblichen Propaganda dargestellt, als dass die Glorifizierung der Selbstaufopferung der sowjetischen Bürger immer weniger in den Vordergrund gerückt worden sei. Habe der Appell an selbige noch bis zur Vollendung des Ersten Fünfjahresplans (1932) im Zentrum der Presseäußerungen gestanden, so habe sich deren Fokus in der Folge immer mehr auf das Lob der erreichten Lebensqualität sowie die Beschreibung der Belohnungen verschoben, die all jenen zustünden, die gute Arbeit leisteten.89 Die Art und Weise, in der das Verhältnis zwischen dem stalinschen Regime und der Bevölkerung in der Presse beschrieben wurde, entsprach der für die Chrušþev- und Brežnev-Zeit typischen Vermittlung der paternalistischen Reziprozität in vielerlei Hinsicht bis ins Detail.90 Vor dem Hintergrund solcher Parallelen 88
89 90
Brooks, Thank you, S. 27. Vgl. auch ebd., S. XV. Zur Kontinuität zwischen der Vorstellung vom väterlich sorgenden Zaren und der öffentlichen Wahrnehmung Stalins vgl. ebenfalls Hildebrandt, Politische Kultur, S. 216221. Vgl. ebd., S. 83. Als Beispiel sei auf einen Leitartikel verwiesen, der am 2. März 1951 in der Moskovskaja Koþegarka (S. 1) erschien. Unter dem Titel „Die stalinsche Sorge um die sowjetischen Menschen“ wurde hier von den Reaktionen auf eine Senkung der Preise für bestimmte Lebensmittel und Industriewaren berichtet, die dem geschilderten Muster folgten: Dem die Preisreduzierungen bestätigenden Normativakt (Verordnung des Ministerrats der UdSSR und des ZK der KPR(B) vom 28. Februar 1951 „Über die neuerliche Senkung der staatlichen Einzelhandelspreise für Lebensmittel- und Industriewaren“) begegne das sowjetische Volk mit „einem Gefühl der tiefen Dankbarkeit gegenüber der Partei, der Regierung und unserem geliebten Führer und Lehrer Genosse Stalin“. Es handele sich um einen „klare[n] Beweis für die unermüdliche Sorge der bolschewistischen Partei und der Sowjetregierung um den Wohlstand des Volkes“, der „im Zusammenhang mit den neuen Erfolgen, die im Jahr 1950 bei der Entwicklung von Industrie und Landwirtschaft erzielt worden sind“, möglich geworden sei. Und auch die Gegengabe der „Umsorgten“ glich, wenn man von der Ausrichtung auf die Person des Diktators und der besonderen emotionalen Tönung einmal absieht, den Versprechungen, die als Antwort auf die Rentenreformen von 1956 und 1964 gemacht wurden: „Die Bergarbeiter, Eisenbahner, Chemiearbeiter, Energetiker [...] haben mit von Herzen
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überrascht es nicht, dass einige Autoren die Auffassung vertreten, dass der Paternalismus das Sowjetsystem während des gesamten Zeitraums seiner Geschichte kennzeichnete, also nicht als ein Alleinstellungsmerkmal der nachstalinschen Phase zu betrachten ist. So setzt ihn János Kornai mit der Selbstlegitimierung des Regimes gleich, dessen Vertreter sich „sicher [sind], dass sie die Interessen der Regierten besser verstehen als diese selbst. Die Bürokratie steht in loco parentis: Alle anderen Schichten, Gruppen und Individuen in der Gesellschaft sind Kinder, Zöglinge, deren Entscheidungen für sie durch ihre erwachsenen Vormunde getroffen werden müssen.“ Kornai zählt die paternalistische Rolle zu den zentralen Legitimationsgrundlagen der sowjetischen Herrschaft.91 Zwar stellte die Bevormundung der Bevölkerung tatsächlich seit der Oktoberrevolution, die von den als revolutionäre Avantgarde auftretenden Bol’ševiki initiiert worden war, eine Konstante der sowjetischen Politik dar. Ein derart weit gefasstes Verständnis des Paternalismus-Begriffs wird jedoch nicht der Zäsur gerecht, die das Ableben Stalins für die Beziehung zwischen Regime und sowjetischen Bürgern bedeutete: Zwar wurden die Kommunikationsmuster, wie gesehen, in mehr oder weniger unveränderter Form beibehalten; im Unterschied zum Status quo ante entsprach dem, was als „Sorge von Partei und Regierung“ propagiert wurde, nun allerdings ein sozialpolitisches Programm, das große – und stetig wachsende – Bevölkerungsteile erstmals tatsächlich in einem zuvor ungekannten Maß gegen existentielle Risiken schützte. Die großsprecherische Sozialpropaganda hatte also – bei aller Übertreibung – eine nicht zu leugnende Entsprechung in der Wirklichkeit. Interpretiert man eine paternalistische Beziehung als eine Relation, in der den Bürgern, die einer autoritären Herrschaft unterworfen sind, nicht nur propagandistische Versprechungen, sondern realiter eine gewisse Fürsorge in Gestalt von weitreichenden Sicherheitsgarantien zuteilwird, so lässt sich also lediglich die nachstalinsche UdSSR mit diesem Terminus charakterisieren. Einen solchen Standpunkt vertritt Ferenc Fehér, der diesbezüglich von einem „paternalistischen Legitimationsmodus“ spricht, der die Loyalität der Bevölkerung auch vor dem Hintergrund nachlassender Unterdrückung gesichert habe. Als maßgebliche Elemente eines paternalistischen Systems versteht er erstens die Tatsache, dass der Staat von „allen Revolutionen von oben“ Abstand genommen habe.92 Zweitens würden die Bürger spürbare Vorteile aus ihrem politischen Gehor-
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kommenden Worten ihre grenzenlose Liebe und Ergebenheit gegenüber dem Schöpfer unseres Glückes, dem teuren und geliebten Genossen Stalin ausgedrückt und sich dazu verpflichtet, noch besser zu arbeiten und ein weiteres Wachstum der Produktion, die Steigerung ihrer Qualität und die Verringerung ihrer Selbstkosten zu erreichen.“ Ähnliche Textstellen finden sich in: Trud vom 1. April 1952, S. 1; Magnitogorskij Metall vom 4. März 1951, S. 1; Uþitel’skaja gazeta vom 2. März 1949, S. 1. Zur „stalinschen Sorge“ um das Wohl des Volkes vgl. ebenso Nemov, Stalinskaja zabota. Kornai, Das sozialistische System, S. 6162. Von einem paternalistischen Charakter des stalinschen Regimes geht ebenfalls Siegelbaum, Dear Comrade, aus. Vgl. auch Verdery, What Was Socialism, S. 2425. Fehér, Paternalism, S. 70. Der Autor hält die Neulandkampagnen für die letzte großangelegte Maßnahme dieser Art.
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sam ziehen, wozu die Steigerung des Lebensstandards, die Entpolitisierung des Alltagslebens sowie die Tatsache gehöre, dass sie ihre Unterstützung der Verhältnisse nicht mehr expressiv nach außen tragen müssten. Drittens sei die privilegierte Stellung der Machteliten gefestigt worden.93 In einem paternalistisch geprägten System werde der Staat in „eine autoritäre Gemeinschaft [umgewandelt], die sich um die physische und kulturelle Reproduktion des Einzelnen kümmert, [...] die empfehlenswerten Verhaltensformen vorschreibt [und] den Handlungsspielraum des Individuums definiert“. Von zentraler Bedeutung ist Fehér zufolge eine für sowjetische Verhältnisse neuartige Wahrnehmung des Bürgers, dessen existentielle Bedürfnisse nun partiell anerkannt würden, wenn er als einzelner und sich demütig benehmender Bittsteller auftrete.94 Aus der Perspektive der Bevölkerung zieht ein solches Regime seine Legitimation also aus der „Negation von Terror und existentieller Unsicherheit“.95 Eine alternative Möglichkeit der Beschreibung der sich über die paternalistische Reziprozitätsdimension vermittelnden Legitimationsbedürfnisse bietet ein Ansatz, mit dem Max Webers Trias der Idealtypen rechtmäßiger Herrschaft erweitert wird. Weber unterscheidet bekanntlich zwischen rationaler, traditionaler und charismatischer Herrschaft.96 Unberücksichtigt bleibt dabei der Gedanke, dass Legitimität ebenfalls auf der effizienten Befriedigung der sicherheitsbezogenen und materiellen Bedürfnisse seiner Bürger basieren kann. Die Bedeutung ebendieses Bereiches staatlichen Handelns wird von Arnold Gehlen unterstrichen, der die Auffassung vertritt, dass in den Industriegesellschaften des 20. Jahrhunderts der „Glauben an die Gründe der Berechtigung eines gegebenen Herrschaftssystems“ von untergeordneter Bedeutung für seine Akzeptanz sei. Für die Frage, ob eine staatliche Ordnung als legitim anerkannt werde, sei weit mehr die „unbestimmt befristet[e] Erwartung ihrer sozialeudämonistischen Erfolge“ entscheidend.97 93 94 95 96
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Vgl. ebd., S. 7172. Ebd., S. 7374. Köhler, Professionelle Pädagogen, S. 33. Der erstere Typus gründet auf dem „Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“. Traditionale Herrschaft ist vom „Alltagsglauben an die Heiligkeit“ langfristiger Traditionen und der auf ihrer Grundlage mit der Regierung betrauten Personen gekennzeichnet. Und eine charismatische Legitimation gründet nach Weber auf der „außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen“. Weber, Wirtschaft, S. 124. Gehlen, Rez. Johannes Winckelmann, S. 577. Vgl. auch ders., Studien, S. 255; Lange, Niklas Luhmanns Theorie, S. 70; Würtenberger, Legitimität, S. 738. Zur Abhängigkeit der Überzeugung von der Rechtmäßigkeit einer Ordnung von der Befriedigung der existentiellen Bedürfnisse der Mitglieder einer Gesellschaft vgl. ebenfalls Heidorn, Legitimität, S. 4446. Kopp Müller, Herrschaft, S. 68, unterstreichen in diesem Zusammenhang den Bedeutungswandel, dem der Legitimitätsbegriff durch Gehlens Kritik unterzogen worden sei: Die vorrangige Orientierung habe sich „von einem normativen Substrat als Ausdruck gemeinschaftlicher Glaubensüberzeugungen zur materiellen Basis mit ihren unspezifischen Leistungserwartungen hin verschoben“.
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Diese Vorstellung ist, obwohl dies der ursprünglichen Intention des Autors nicht ganz entspricht,98 von mehreren Autoren auch auf das Beispiel der UdSSR übertragen worden. Zu ihnen gehört etwa Stephen White, der dem „sozialeudämonistischen Legitimationsmodus“ eine zentrale Wertigkeit für die Bemühungen sozialistischer Regime um eine Stabilisierung ihrer Herrschaft zuschreibt: „In Staaten, deren Regierungsformen nicht in dieser Weise [d. h. in Entsprechung mit dem Weberschen Idealtypus der rationalen Herrschaft; L. M.] legitimiert sind, [...] basiert der Herrschaftsanspruch generell auf anderen Grundlagen: in einem gewissen Umfang auf traditionaler und charismatischer Basis, insbesondere aber auf [...] dem sozioökonomischen Leistungsniveau bzw. dem, was als ,sozialeudämonistische Legitimation ދbezeichnet worden ist [...]. Dieser Legitimationsmodus gründet auf der staatlichen Rolle als Verteiler von sozialen und wirtschaftlichen Leistungen an die Bürger [...].“99
Die Feststellung, dass über die Reform bzw. Einführung der staatlich finanzierten Rentenversorgung und andere Maßnahmen eine solche spezifische Form der Legitimität erzeugt werden sollte, schließt also nicht aus, dass daneben noch andere Modi der Herrschaftsbegründung nachweisbar sind. Bereits Max Weber geht davon aus, dass seine Idealtypen in der Realität selten vorkommen und dass stattdessen „höchst verwickelt[e] Abwandlungen, Übergänge und Kombinationen dieser reinen Typen“ anzutreffen sind.100 Angesichts des Stellenwertes, der diesen Maßnahmen innerhalb der sowjetischen Propaganda zukam, kann jedoch behaupten werden, dass die eudämonistische zu einer dominanten Form der Legitimation wurde und zumindest den für die Herrschaft Stalins zentralen Typus der charismatischen Herrschaft in den Hintergrund drängte.101 Eine Charakterisierung der diesbezüglichen Strategien sagt freilich nichts darüber aus, inwiefern hierdurch tatsächlich eine Stabilisierung des Regimes erreicht werden konnte. Ob die breite Bevölkerung tatsächlich die gewünschte Dankbarkeit 98
Gehlen, Studien, S. 255, hält eine solche Legitimation nur unter der Voraussetzung für gegeben, dass der jeweilige Staat „die Freiheitsrechte im Allgemeinen und die von den Bildungsschichten beanspruchten im Besonderen schont, daß er kein spezifisches Pathos geltend macht und überhaupt ein zu kompaktes In-Erscheinung-Treten der staatlichen Funktionen vermeidet“. 99 White, Economic Performance, S. 463. Vgl. auch Tökés, Analysis, S. 8385; Gill, Changing Patterns, S. 249 u. 357358. Holmes, The End, S. 15, sieht „einen wichtigen Unterschied zwischen dem social contract-Ansatz und der Vorstellung von eudämonistischer Legitimation: Ersterer impliziert keinerlei normative Beziehung (abgesehen von der gegenseitigen Beachtung des Vertrags) zwischen den Herrschern und den Massen. Mit Letzterer geht hingegen die Behauptung einher, dass die Fähigkeit einer Ordnung, die ökonomischen, sozialen und wohlfahrtsbezogenen Forderungen der Massen zu formen und zu befriedigen, einen legitimierenden Effekt auf diese Ordnung ausüben kann.“ 100 Weber, Politik, S. 6. 101 Freilich war die charismatisch begründe Rechtfertigung weiterhin von Bedeutung, wie die Tatsache belegt, dass sowohl unter Chrušþev als auch unter Brežnev ein – im Verhältnis zur Stalinzeit zweifelsohne abgeschwächter – auf die politischen Führer ausgerichteter Personenkult existierte. Darüber hinaus lassen sich für die Chrušþev- und Brežnev-Jahre weitere Formen der Herrschaftsbegründung (z. B. nationalistische, zielrationale oder partizipatorische Legitimation) nachweisen. Vgl. hierzu Gill, Changing Patterns; Heller, Phases; Rigby, Introduction.
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empfand und das Regime als rechtmäßig anerkannte oder ob sie sich nur aufgrund der Furcht vor Repression und der Unfähigkeit zur kollektiven Organisation in ihrer Mehrheit konform verhielt, lässt sich hier nicht beantworten. Angesichts der Begrenztheit der diesbezüglich zur Verfügung stehenden Quellen existieren keine Methoden, die einen nüchternen – und vor allem repräsentativen – Blick auf die Legitimität der politischen Führung in den Augen der sowjetischen Bevölkerung gestatten würden. So ist Alfred Meyer darin zuzustimmen, dass die Frage nach dem Rückhalt, den die herrschenden Eliten in den sozialistischen Staaten in der Bevölkerung genossen, bestenfalls in der Rückschau beantwortet werden kann: „Sobald ein Regime gestürzt ist, müssen wir davon ausgehen, dass es nicht besonders legitim war.“102 Die in der Presse publizierten Dankesbezeugungen sind nur mit größter Vorsicht als Ausdruck der tatsächlichen Empfindungen sowjetischer Bürger zu betrachten: Weder lässt sich das Ausmaß ihrer Bearbeitung in den Leserbrief-Redaktionen103 der Zeitungen feststellen noch kann gemutmaßt werden, wie charakteristisch ihr Inhalt für die Vielzahl der unveröffentlicht gebliebenen Zusendungen war. Auch in den Fällen, in denen es sich um authentische Stellungnahmen handelte, musste die Auswahl der Dankesbriefe im Bewusstsein um die propagandistischen Zielvorgaben erfolgen. Aussagekräftiger sind deshalb Briefe, die direkt an die politischen Autoritäten adressiert wurden und nicht für die Publikation bestimmt waren.104 Der Umstand, dass sich hier die bekannten Elemente der paternalistischen Dimension finden lassen, kann als Indiz dafür dienen, dass die Reziprozitätsnormen von den Verfassern derartiger Schreiben tatsächlich verinnerlicht worden waren. Als Bestätigung der Legitimation der politischen Ordnung und als willfährige Reaktion auf die Aufrufe zur Steigerung des Arbeitseinsatzes kann etwa ein Brief gelten, den der im Gebiet Vologda ansässige Rentner N. A. Samolegov im Oktober 1956 an K. Ơ. Vorošilov adressierte: „Erlauben Sie mir, über Ihre Person unserer Kommunistischen Partei und der Sowjetregierung meine tiefe Dankbarkeit für die dem werktätigen Menschen entgegengebrachte Sorge auszudrücken. Mir wurde ein neues Rentenbuch ausgehändigt, dem zufolge ich 350 R* Altersrente erhalten werde. Ich bin 63 Jahre alt und meine Lebensarbeitszeit beläuft sich auf 28
102 Meyer, Legitimacy, S. 67. Vgl. auch Holmes, The End, S. 9. 103 Ist die Textform des veröffentlichten Leserbriefs aufgrund der vorherigen redaktionellen Bearbeitung generell als das Ergebnis einer „kollektiven Produktion“ (Wetzel, Der Leserbrief, S. 24.) zu bezeichnen, so muss diese Feststellung in Bezug auf sowjetische Presseerzeugnisse wohl um so mehr zutreffen. Zumindest für die Spätphase der Stalinzeit lässt sich sogar davon ausgehen, dass kollektive Ergebenheitsadressen zur Gänze in den Zeitungsredaktionen fabriziert wurden. Vgl. Gestwa, Die Stalinschen Großbauten, S. 324. 104 Solche Äußerungen wurden sicherlich ebenfalls vor der Weiterleitung an den Adressaten oder der Entscheidung für eine archivarische Aufbewahrung von den Mitarbeitern der jeweiligen Briefabteilung gefiltert. Zu drastisch ausfallende Kritik wird höchstwahrscheinlich aussortiert worden sein.
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Beziehungen wechselseitiger Verpflichtung zwischen Regime und Bevölkerung Jahre, aber ich werde meinen Möglichkeiten entsprechend arbeiten, um mit meiner Arbeit der geliebten Heimat zu helfen.“105
Abgesehen von solchen Briefen, die keinem anderen Zweck zu dienen scheinen als dem Ausdruck echter Dankbarkeit, fällt es allerdings schwer nachzuvollziehen, wann die Bezugnahme auf die beschriebene Wechselseitigkeit aus einer Internalisierung der Regimevorgaben resultiert und wann es sich stattdessen um Bekenntnisrituale handelt, die der Darstellung der eigenen Konformität dienten. Wie Ulf Brunnbauer konstatiert, stellte eine solche „Affirmation der Ideologie [...] einen wichtigen Bestandteil der sozialen Praxis dar und war nicht immer nur von oben angeordnet, sondern kam mitunter auch von unten, da die Zurschaustellung von ideologischer Loyalität die Positionen des jeweiligen Bürgers im Konkurrenzkampf um knappe Mittel stärkte. [...] Ideologie war aus dieser Perspektive eine Form der Identität, die aus pragmatischen Erwägungen praktiziert werden konnte und zur Artikulation von legitimen Forderungen diente.“106 Die Bezugnahme auf das Ideologem der staatlichen „Sorge“ kennzeichnet dergestalt ebenso Äußerungen, deren eigentlicher Zweck in der Anbringung von Kritik oder Verbesserungsvorschlägen zur Rentenversorgung bestand. Dieses Muster begegnet etwa im Kontext der Diskussion über den am 9. Mai 1956 in der Presse veröffentlichten Staatsrentenentwurf. So mündete eine vier Tage darauf in Petropavlovsk-Kamþatskij (Region Kamþatka) abgehaltene Sitzung von Angestellten der Gebietsfinanzorgane in einen Beschluss, dem einleitend das Versprechen vorangestellt war, die sich aus der Fürsorge des Regimes ergebenden Verpflichtungen wahrzunehmen: „Wir sowjetischen Angestellten mit langjähriger Arbeitserfahrung sind davon überzeugt, dass es sich bei der Sorge um das Wohl des Volkes um die größte, die wesentlichste Sorge der Kommunistischen Partei und der Sowjetregierung handelt. Der Gesetzentwurf über die staatlichen Renten [...] bezeugt den Zuwachs unseres Landes an Macht und Reichtum. Als Antwort auf die neuerliche und große uns gewidmete Sorge von Partei und Regierung werden wir noch besser arbeiten und das Volkseigentum bewahren.“
In einem zweiten Schritt äußerte man dann aber einen konkreten Änderungswunsch, der als indirekte Kritik an der Nichtberücksichtigung der eigenen Interessen zu interpretieren ist: „Als Zusatz zum Gesetzentwurf über die staatlichen Renten soll dieser Satz eingetragen werden: ,Arbeiter und Angestellte, die mehr als zehn Jahre in den Gebieten des Hohen Nordens gearbeitet
105 GARF, F. R. 7523, op. 75, d. 17, l. 12. In diesem und den beiden folgenden Dokumenten (d. 18 u. 19) wurden etwa 900 als Antwort auf die Staatsrentenreform im Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR eingegangene Dankesbezeugungen gesammelt. 106 Brunnbauer, Die sozialistische Lebensweise, S. 3436. In eine ähnliche Richtung zielt Gail Kligman mit ihrem Konzept der Duplizität, die sie als Bestandteil des „sozialistischen Habitus“ versteht. Vgl. Kligman, The Politics, S. 14. Darauf, dass die Gewohnheit, in Briefen und Petitionen Elemente des offiziellen Diskurses aufzunehmen, Parallelen zum von Kotkin, Magnetic Mountain, S. 198237, für die 1930er Jahre beschriebenen „bolschewistischen Sprechen“ aufweist, verweist bereits Varga-Harris, Forging, S. 111. Vgl. auch Yurchak, The Cynical Reason, S. 165169.
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haben, werden [...] der Kategorie der unter schädlichen Arbeitsbedingungen Beschäftigten zugerechnet [d. h. mit Vorzugsrenten ,gemäß Liste IދDXVJHVWDWWHW/ M].“ދ107
Zumindest ein Indiz dafür, dass das Regime aus der Perspektive weiter Teile der Bevölkerung der Bevölkerung eudämonistisch oder paternalistisch legitimiert war, bieten Untersuchungen, wie sie etwa von Jeffrey A. Ross durchgeführt worden sind. Im Jahr 1972 wurden 437 nach Israel ausgewanderte ehemalige Sowjetbürger über „Struktur und Zusammensetzung“ ihrer Entfremdung von der politischen Ordnung ihrer früheren Heimat befragt. Keinen Anlass zur Kritik sah die überwiegende Mehrheit der jüdischen Emigranten in Bezug auf die positive Entwicklung des Lebensstandards in der früheren Heimat: Während 83,4 % der Befragten bekundeten, dass sie das System ablehnten, berichteten 67,2 %, dass sich die sowjetische Bürokratie der Interessen der Bevölkerung sehr wohl annehmen würde. Sogar 90,2 % konstatierten, dass der Lebensstandard in den vorangegangenen 25 Jahren deutlich zugenommen habe.108 Auf die Relevanz paternalistischer Ideen für die tatsächliche Vorstellungswelt sowjetischer Bürger verweisen auch die Ergebnisse einer Umfrage, die im August/September 1960 von Mitarbeitern des Instituts für öffentliche Meinung der Komsomol’skaja pravda durchgeführt worden war. Thema der Untersuchung waren die „Dynamik und Probleme des Lebensstandards der Bevölkerung“. Wie Boris A. Grušin referiert, gaben speziell die Antworten auf den vierten Punkt des Fragebogens („Was würden Sie zur schnellstmöglichen Behebung der von ihnen beschriebenen Probleme vorschlagen?“)109 indirekt ebenfalls Auskunft über die Einstellung der sowjetischen Bürger gegenüber dem Staat. Zwei Ergebnisse erachtet Grušin für besonders wichtig: Zum einen habe sich das Volk der gegebenen Ordnung gegenüber loyal verhalten und die Linie von Partei und Regierung gebilligt. Zum anderen habe es nicht nur den allgemeinen politischen Kurs der Staatsmacht unterstützt, sondern auch die meisten konkreten Schritte zur Umsetzung desselben. Davon abgesehen identifiziert Grušin eine weitere Besonderheit der Beziehung „Volk – Staatsmacht“. Die Äußerungen der Befragten110 hätten einen deutlich ausgeprägten Paternalismus bezeugt: „[...] hier ist nicht nur von der Unterstützung der im Lande existierenden Macht, nicht nur von der Zustimmung zu ihrer Politik die Rede, sondern von weit mehr. [...] Die Arbeiter des mord107 RGAƠ, F. 7733, op. 45, d. 767, l. 206. Ähnliche Beispiele finden sich z. B. in: Ebd., l. 82 83; GARF, F. R 5451, op. 29, d. 666, l. 50; F. R 7523, op. 45a, d. 51, l. 6; op. 101, d. 514, l. 188. 108 Vgl. Ross, The Composition, S. 111113. 109 Vgl. Grušin, ýetyre žizni Rossii. Ơpocha Chrušƛeva, S. 118. 110 Auch sie entsprachen, orientiert man sich an den wiedergegebenen Beispielen, den bekannten Kommunikationsmustern. So bekundete etwa der 32-jährige B. N. A-in [die Namen wurden anonymisiert; L. M.] aus Kišinev: „Die Anhebung meines Lebensstandards verbinde ich hauptsächlich [...] mit der Sorge der KPdSU um die werktätigen Massen.“ Und G. T. S-v, Kolchosvorsitzender aus der Mordwinischen ASSR, stellte fest: „Dank der Sorge unserer teuren Kommunistischen Partei haben die ländlichen Arbeiter besser zu leben begonnen.“ Ebd., S. 156. Inwiefern es sich hier um innere Überzeugungen oder um „Bekenntnisrituale“ handelte, lässt sich freilich auch in diesem Fall nicht klären.
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Beziehungen wechselseitiger Verpflichtung zwischen Regime und Bevölkerung winischen Kolchos haben nicht deswegen begonnen besser zu leben, weil sie angefangen haben effektiver zu arbeiten, sondern ,dank der Sorge der Parteiދ. Eine junge Frau hat das Institut abgeschlossen, führt dieses Ereignis jedoch nicht auf die eigenen Vorsätze und Lebenspläne zurück, sondern auf die ,weise Führung von KPdSU und Regierungދ. Das heißt, dass die Leute sich überaus deutlich nicht als aktive, selbständige Subjekte sozialen Handelns begreifen, die ein eigenständiges Leben führen und ihr Schicksal in den eigenen Händen halten. Das absolute Gegenteil ist der Fall: Sie sind nur kraftlose Wesen, deren Glück vollständig von irgendeinem Anderen ,oben ދabhängt, so wie bei Kindern, deren Eltern in einem jeden Augenblick entweder bestrafen oder beglücken können.“111
6.2.3. Die qualifikatorische Dimension der Reziprozität: Lebensarbeitsleistung gegen „heilige Verpflichtung“ Die von Grušin beanstandete Passivität der Sowjetbürger als Empfänger von Gaben, deren Voraussetzung allein in der väterlichen Sorge der Führung des Landes gesehen wurde und für die das Individuum sich lediglich a posteriori – durch Dank oder vermehrten Einsatz – erkenntlich zeigen konnte, lässt sich nur für die erste der beiden sich am Beispiel der staatlichen Altersversorgung zeigenden Reziprozitätsdimensionen behaupten. Parallel zu ihr liegt jedoch noch eine weitere Ebene der Wechselseitigkeit vor, von der mit größerer Sicherheit angenommen werden kann, dass sie der Perspektive der älteren Bevölkerung selbst entsprach. Hier stellte die Altersrente eine Leistung dar, die aus einem rechtmäßigen Anspruch resultierte, den sich der einzelne betagte Sowjetbürger durch seine Lebensarbeitsleistung erworben hatte. Dabei figurierte der Bezieher nicht als demütig auftretender Bittsteller, sondern als selbstbewusster und keineswegs zu Dank verpflichteter Besitzer eines Anrechtes auf Versorgung. Eine Relativierung erfuhr die paternalistische Reziprozitätsebene einerseits von einem emigrierten Dissidenten wie Valerij N. ýalidze, der Mitte der 1970er Jahre die sozialpolitische Propaganda kritisierte: „[...] die Ideologen informieren die Bevölkerung nicht darüber, dass (zum Beispiel) die Zahlung von Renten oder die Wohnungszuweisung nichts darstellen, wofür der Regierung gedankt werden sollte, sondern eher etwas sind, das als eine staatliche Verpflichtung im Rahmen des sowjetischen Wirtschaftssystems zu betrachten ist. Es wird fortwährend vorausgesetzt, dass alles Gute vom Staat kommt und das Ergebnis der staatlichen Großzügigkeit ist.“112
Sie war andererseits aber bereits im Wesen der sowjetischen Rente angelegt, da die staatliche Absicherung gegen den altersbedingten Verlust der Existenzmittel an Vorbedingungen geknüpft war. Maßgeblich war die Leistungsorientierung: Für die Rentenberechtigung war eben nicht nur das individuelle Alter, sondern auch das Dienstalter entscheidend. Des Weiteren wurde die Höhe der Ruhestandsversorgung – zumindest in der Theorie – über die zur Leistungsberechnung herangezogene Durchschnittshöhe des Arbeitsverdienstes von der Qualität des vormaligen Beitrags zur Entwicklung der Volkswirtschaft beeinflusst. 111 Ebd. [Hervorhebung i. Orig.] 112 Chalidze, To Defend, S. 19. Vgl. auch Connor, Generations, S. 26.
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Dessen ungeachtet herrschte in der zeitgenössischen Fachliteratur ein Dissens bezüglich der Definition des Renteninstituts, der sich gerade an dieser Frage festmachte. Umstritten war insbesondere, wie der Zusammenhang zwischen der früheren Arbeitsleistung und der Rente zu deuten sei. Eine als orthodox zu charakterisierende Argumentationslinie erklärte die Ableitung der Leistungshöhe vom früheren Durchschnittsverdienst Anfang der 1950er Jahre mit der Tatsache, dass das Arbeitsentgelt als Index für das vormalige Konsumniveau des Antragstellers fungiere. Allein der individuelle Verbrauch sei für das Maß verantwortlich, in dem der Einzelne Unterstützung von staatlicher Seite erhalte.113 Das sozialistische Prinzip des „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ galt diesem Ansatz zufolge lediglich für den Bereich der Arbeitsvergütung. Er sei sehr wohl von Gegenseitigkeit (vzaimnost’) und Entgeltlichkeit (vozmezdnost’) gekennzeichnet, da das Individuum der Gesellschaft gegenüber zur Arbeit verpflichtet sei, während die Gesellschaft im Gegenzug für eine Entlohnung zu sorgen habe, die der Quantität und Qualität der Tätigkeit entspreche. Auf den Bereich der staatlichen Sozialversicherung sei die Vorstellung einer solchen Relation jedoch nicht übertragbar: „Die Verpflichtungen liegen hier nicht auf beiden Seiten, sondern nur auf einer: Das Organ der staatlichen Sozialversicherung ist verpflichtet, dem Arbeiter oder Angestellten [...] eine Beihilfe zu erteilen, eine Rente festzusetzen und zu erteilen oder eine andere Versorgungsform zu gewähren, während der Arbeiter oder Angestellte keinerlei Verpflichtungen gegenüber den Organen der staatlichen Sozialversicherung unterliegt.“114
Nicht grundlegend anders äußert sich zwanzig Jahre später Vitalij S. Andreev, der die sowjetische Rente als „monatliche Zahlungen alimentären Charakters [d. i. Unterhaltscharakters; L. M.] [...] im Alter, bei Invalidität, langjährigem Dienst oder Verlust des Ernährers“ definiert, die „im Zusammenhang mit der früheren gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit festgesetzt werden, in einer Höhe, die in der Regel mit dem früheren Verdienst vergleichbar ist“.115 Zwar spricht Andreev von einer Beziehung zwischen Rentenleistung und früherer Arbeitstätigkeit, doch meint er hiermit lediglich, dass man sich bei der Festlegung des Umfangs der Unterstützungsleistung an dem früheren Erwerbsentgelt ausrichte. Der Zweck dieser Orientierung bestehe in der Erzeugung eines materiellen Anreizes zur Steigerung des individuellen Arbeitseinsatzes vor der Antragstellung sowie in der Bewahrung des früheren – oder eines geringfügig niedrigeren – Lebensstandards über den Rentenantritt hinaus.116 Von zentraler Bedeutung ist hier der für Andreevs Sozial-
113 Vgl. Krasnopolތskij, Osnovnye principy, S. 6465. Vgl. auch Kuypers, Social Insurance, S. 46; Hülsbergen, Die Alters- und Auslandsrentensysteme, S. 139. 114 Krasnopolތskij, O prirode, S. 6768. Die Betonung des Fehlens von Verpflichtungen gegenüber der Sozialbürokratie spielt freilich auf die Tatsache an, dass der sowjetische Arbeitnehmer – vorgeblich – keine eigenen Beiträge zur Finanzierung der ihm zuteilwerdenden Unterstützung zu leisten hatte. Vgl. Rimlinger, Welfare Policy, S. 254. 115 Andreev, Socialތnoe obespeþenie, S. 128. 116 Vgl. ebd., S. 126. Vgl. auch Kuypers, Social Insurance, S. 256.
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rechtsverständnis maßgebliche Begriff der Alimentarität (alimentarnost’).117 Er impliziert, dass die Leistungen keinen Gegenleistungscharakter besaßen. Sie wurden dieser Auffassung gemäß also unentgeltlich und in dem Sinne „äquivalenzlos“ (bezơkvivalentno) gewährleistet, als dass sie nicht an zuvor oder im Anschluss erbrachte Gegenleistungen gebunden waren.118 Für Andreev stellt die Rente somit eine voraussetzungslose staatliche Transferleistung dar. Eine solche Definitionslinie entsprach freilich den Zielen der sozialpolitischen Propaganda: Einer Logik gemäß, der zufolge ein Empfänger nichts für den Erhalt einer Sozialleistung beizutragen hatte, entsprang sie tatsächlich allein der „väterlichen Sorge von Partei und Regierung“. Unterstützt wurde dadurch die Wahrnehmung der Renten, Beihilfen etc. als „Geschenke“119, die gerade aufgrund ihrer Voraussetzungslosigkeit moralische Reaktionen – Dankbarkeit und Steigerung des Einsatzes – hervorrufen konnten. Die ideologische Brisanz, die dem „korrekten“ Verständnis der Renten und anderer Sozialleistungen somit zukam, erklärt auch die Vehemenz, mit der sich Andreev gegen einen Ansatz verwendet, wie ihn V. A. Aþarkan vertritt.120 Dieser stellt zwar nicht in Abrede, dass die Rente Züge der Alimentarität aufweist, doch bestreitet er, dass das Institut seinem ganzen Wesen nach eine alimentäre Form der Versorgung darstellt. Als eine solche versteht er primär die monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte, da ihre Erteilung nicht von der früheren Tätigkeit abhänge.121 Für die Rente hingegen sei eine solche Dependenz sehr wohl zu konstatieren: „Das Recht eines Arbeiters, Angestellten oder Kolchosbauern auf eine Rente entsteht aus der Arbeit. Die Rentenversorgung [...] wurzelt in dem Arbeitsverhältnis, sie ist eine Folge des Arbeitsverhältnisses. Der Rentenanspruch leitet sich für den Arbeiter, Angestellten oder Kolchosbauern nicht allein aus dem Altsein oder der Invalidität ab, sondern aus diesen juristischen Fakten in Verbindung mit der Arbeit, mit der gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit in der Vergangenheit. Man kann sagen, dass es ohne die Arbeit, die gesellschaftlich nützliche Tätigkeit in
117 So verbindet Andreev, Socialތnoe obespeþenie, S. 19, das Spezifische der für das Sozialversorgungsrecht kennzeichnenden „Methode der rechtlichen Regulierung [...] vor allem mit dem alimentären Charakter der von ihm geregelten Verhältnisse im Bereich der Sozialversorgung. Dabei meinen wir [...] nicht nur im Zusammenhang mit der Unterhaltsgewährung an natürliche Personen bestehende Verhältnisse [...]. Einen alimentären Charakter können ebenso Verhältnisse besitzen, in denen staatliche Organe als das zur Versorgung verpflichtete Subjekt [...] fungieren.“ Vgl. ebenfalls ders., Pravo (1974), S. 2829. Zum Begriff der Alimentarität vgl. auch Faude, Strukturelemente, S. 122124. 118 Vgl. Zacharov Tuþkova, Pravo, S. 79. Ivanova Tarasova, Predmet, S. 35, „aktualisieren“ – und verwässern – den Begriff der Alimentarität, indem sie ihn auf kosten- und äquivalenzlose Sozialleistungen beziehen, die keine zukünftige Gegenleistung in Form von neuerlicher Arbeitstätigkeit erfordern. Vgl. auch Faude, Strukturelemente, S. 123, Anm. 89. 119 Zum ideologisch vermittelten Geschenkcharakter der sowjetischen Sozialleistungen vgl. Rimlinger, Welfare Policy, S. 254256; Beyme, Sozialismus, S. 7374. 120 Zur Kritik an Aþarkan vgl. Andreev, Socialތnoe obespeþenie, S. 123127; Karcchija, Pensionnoe obespeþenie, S. 68. 121 Vgl. Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 57 u. 60.
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der Vergangenheit, keine Rente gibt. Deshalb kann man die Rente als eine verdiente, erarbeitete materielle Versorgung betrachten.“122
Die Signifikanz der zurückliegenden Erwerbstätigkeit für den Leistungserhalt motiviert Aþarkan sogar dazu, die Rente – trotz all ihrer auch von ihm nicht verleugneten Verschiedenheit zum gewöhnlichen, aus der „lebendigen Arbeit“ resultierenden Verdienst – als eine Form der Arbeitsvergütung (voznagraždenie za trud) zu bezeichnen.123 Dabei definiert er diese Sozialleistung als „monetäre Unterstützung“, die „den Bürgern für ihre frühere Arbeit oder eine andere gesellschaftlich nützliche Tätigkeit erteilt wird und für sie eine fortwährende und grundlegende Quelle des Lebensunterhalts darstellt“.124 Der von Aþarkan beschriebene enge Konnex zwischen Arbeitsbiographie und Rentenleistung gestattet es, das sowjetische Rentenrecht, wie dies Walter G. Leisner für das bundesdeutsche Sozialversicherungsrecht getan hat, „in dem Sinn als eine Folgematerie des Arbeitsrechts und des Berufsrechts [anzusehen], dass ihr Existenzsicherungsgehalt nicht weiter reicht als der des Beschäftigungsrechts“. In beiden Fällen besaß nur derjenige einen Anspruch auf eine Zahlung, der zuvor in der erforderlichen Weise arbeitstätig gewesen war. Ein Unterschied ist lediglich im Hinblick auf die Veränderung des für das Beschäftigungsrecht kennzeichnenden Gegenleistungscharakters zu vermerken. Dieser Charakter wandelt sich Leisner zufolge „in der Sozialversicherung zum grundsätzlichen Bezug der Sozialleistungen auf das, was der Berechtigte jeweils eingezahlt hat“.125 Im sowjetischen 122 Ebd., S. 5758. Vgl. auch Osin, Ponjatie, S. 135. 123 Vgl. Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 5960. Ähnlich äußert sich M. L. Zacharov, der die Altersrente zwar nicht als Arbeitsvergütung, wohl aber als das Ergebnis einer Vorleistung begreift: „Die Rente wird gegenwärtig noch nicht allen Alten und Arbeitsunfähigen ausgezahlt; man muss sich die Rente ,verdienenދ, ,erarbeitenދ. Dieser ziemlich verbreitete Ausdruck unterstreicht richtigerweise, dass die Rente momentan in der Regel für die Arbeit oder die Erfüllung anderer Verpflichtungen, die den Sowjetbürgern auferlegt wurden, festgesetzt und ausgezahlt wird. Folglich kann man die Rente noch nicht als eine absolut äquivalenzlose Zahlung betrachten [...].“ Sovetskoe pensionnoe pravo, S. 61. Vgl. auch Osin, Ponjatie, S. 135. Gerade hier setzt Andreev, Socialތnoe obespeþenie, S. 126, mit seiner Kritik an Aþarkan an: Eine Rente dürfe nicht als Arbeitsvergütung verstanden werden, da die Arbeit „in unserem Land vollständig und sofort bezahlt wird. Anderenfalls wird der Eindruck erzeugt, dass in Bezug auf einige Personen, insbesondere diejenigen, die [noch] keine Rente erhalten, eine unvollständige Arbeitsentlohnung zugelassen wird, da die frühere Arbeit nicht vollständig entlohnt zu sein scheint.“ Vgl. ähnlich auch Astrachan, Principy, S. 52. 124 Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 68. Einen Verdienstcharakter der sowjetischen Altersrenten erkennen ebenfalls Buckley Donahue, Promises, S. 254: „Ihrem Wesen nach wurden die Altersrenten zu einem impliziten Teil des Arbeitsvertrags, wobei Arbeiter eine Lohnrate in Erwartung einer ,verspäteten Zahlung ދwährend des Ruhestandes akzeptierten.“ Vgl. auch McAuley, Social Welfare, S. 249251; Chandler, Shocking Mother Russia, S. 1516. 125 Leisner, Existenzsicherung, S. 273. Aþarkans Ansatz weist generell Parallelen zu westdeutschen Vorstellungen auf, denen zufolge die „Gegenseitigkeit von Leistung und Gegenleistung“, „das wechselseitige Geben und Nehmen“ (Wannagat, Lehrbuch, S. 32.), zentrale Merkmale der Sozialversicherung darstellen. Auch im Kontext der bundesdeutschen Rentenreform von 1957 wurde die vom Altersrentner erbrachte Vorleistung nicht allein mit den früheren monetären Beitragsleistungen identifiziert. So stellen etwa Jantz Zweng, Kommen-
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Beispiel, das keine offene Bürgerbeteiligung an der Finanzierung der sozialen Sicherung kannte, erstreckte sich diese Relation stattdessen auf die Anzahl der geleisteten Dienstjahre, die Art des ausgeübten Berufs und die Höhe des vormaligen Durchschnittslohns. Ein weiteres Argument dafür, dass auch in der UdSSR die Vorstellung verbreitet war, dass die Rentenleistungen keineswegs eine voraussetzungslose Gabe darstellten, liegt in der erwähnten Relevanz des sozialistischen Leistungsprinzips für den Bereich der Sozialversorgung vor. Zwar betont ein Autor wie G. S. Sarkisjan, dass die Versorgung mit Leistungen aus den GVF eine „qualitativ neue Verteilungsweise, die sich ihrem Inhalt nach von der Verteilung nach der Arbeitsleistung unterscheidet“, darstelle. Auch er leugnet jedoch nicht, dass das Leistungsprinzip „als herrschende Verteilungsweise einen gewissen Einfluß auf die gesellschaftlichen Konsumtionsfonds“ ausübt.126 L. Ja. Gincburg befindet dementsprechend, dass der Grundsatz des „Jedem nach seiner Leistung“ insbesondere bei den Regelungen zur Lebensarbeitszeit zur Geltung komme: „[...] eine volle Altersrente wird beispielsweise nach allgemeiner Regel erteilt, wenn Männer ein Dienstalter von 25 Jahren erreicht haben. Bei einem niedrigeren Dienstalter [...] wird eine Teilrente proportional zur Länge des Dienstalters erteilt, bei einem besonders langen Dienstalter ein Zuschlag für das Dienstalter usw. In all diesen Fällen ist die Umsetzung des Prinzips ,Jedem nach seiner Leistung ދabsolut offensichtlich.“127
Zu denjenigen, die darüber hinaus auch in dem Berechnungsmodus der Rente ein Beispiel für die Wirksamkeit des Leistungsprinzips erblicken, gehört E. I. Astrachan: Die Tatsache, dass sich der Arbeitsverdienst aus der Qualität und Quantität der geleisteten Tätigkeit ableite, bedinge selbstredend, dass die auf seiner Grundlage kalkulierte Rente ebendiese Merkmale der früheren Erwerbstätigkeit widerspiegele.128 Gleichzeitig herrschte, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, weitgehend Einigkeit darüber, dass die Prägung des Renteninstituts durch das Leistungsprinzip weniger dominant ausfiel, als dies für die Arbeitsentlohnung angenommen wurde. Astrachan, der die Rente wie Andreev vor allem als eine Form der alimentären, entgeltlos vom Staat bereitgestellten Versorgung interpretiert, spricht von einer „indirekten Anwendung“ des Leistungsprinzips.129 Selbst Aþarkan geht von einer „begrenzten Wirksamkeit“ dieses Grundsatzes aus, wobei er allerdings nicht auf einen vermeintlichen Unterhaltscharakter der Sozialleistung rekurriert,
126 127 128 129
tar, S. 56, zu der dieser Reform zugrundeliegenden, neuartigen Betrachtungsweise fest: „Entscheidend ist der Wert der Arbeitsleistung. Der Gegenwert für die Arbeit besteht während des Arbeitslebens in Lohn und Gehalt und weiteren Nebenleistungen, nach Abschluß des Arbeitslebens in der Rente und weiteren Nebenleistungen. Damit wird die Rente aus ihrer prinzipiellen Bezogenheit zum nominellen Geldwert des Beitrags gelöst. Sie ist nicht eine Geldleistung als Gegenwert für vorher erbrachte Geldleistungen, sondern sie ist die Gegenleistung für eine vorher erbrachte […] Arbeitsleistung.“ Vgl. auch Wallrabenstein, Versicherung, S. 113. Sarkisjanz, Die gesellschaftlichen Konsumtionsfonds, S. 302. Gincburg, Trudovoj staž, S. 1213. Vgl. Astrachan, Principy, S. 60. Vgl. ebd., S. 5254. Vgl. hierzu auch Andreev, Materialތnoe obespeþenie, S. 95.
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sondern auf den Umstand, dass auch erwerbsunabhängige Faktoren wie z. B. die Familiensituation eines Antragstellers auf die Gestaltung seiner Rente Einfluss nehmen.130 Derartige Betrachtungen kennzeichnet freilich eine Tiefenschärfe, die für die Wahrnehmung sowjetischer Bürger, die den Feinheiten des wissenschaftlichen Diskurses in der Regel nur ein geringes Interesse entgegenbrachten, nicht vorausgesetzt werden kann. Umso signifikanter erscheint die Tatsache, dass dem Hinweis auf die für die Reformen charakteristische Wirksamkeit des Leistungsprinzips bei der öffentlichen Vermittlung der staatlichen Rentenpolitik eine hohe Priorität zukam. Dergestalt erwähnte bereits N. A. Bulganin am 11. Juli 1956, dass für „die Errechnung der Rentenbezüge [...] laut Gesetzentwurf der [faktische] Verdienst des Arbeiters oder Angestellten in Ansatz gebracht [wird], was dem Prinzip der Verteilung nach der Leistung entspricht“.131 Auch die Überwindung der uravnilovka durch eine verstärkte Rentendifferenzierung, die man mit Hilfe der neuen Bestimmungen zu erreichen behauptete, implizierte eine Wiederinkraftsetzung dieses Grundsatzes.132 Schließlich besaß der Verweis auf das Leistungsprinzip eine wichtige Funktion bei der Instrumentalisierung der Renten als Stimulans zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Deutlich wird dies insbesondere im Kontext der Kolchosrentenreform. Offensiver als acht Jahre zuvor unterstrich man hier die Bedeutung, die der Arbeitsleistung als Voraussetzung für eine adäquate Ruhestandssicherung zukommen sollte. Auf den Punkt brachte die Argumentationslinie Chrušþev in seiner Rede vom 13. Juli 1964: „[...] wenn wir uns innerhalb des Systems der Arbeitsentlohnung vom Prinzip der materiellen Interessiertheit an der Steigerung der Produktionserzeugung leiten lassen, dann darf man das Prinzip bei der Rentenversorgung der Kolchosbauern nicht ignorieren. Ließe man in dieser Angelegenheit eine Gleichmacherei zu, dann würde dies all jene tödlich beleidigen, die aufopferungsvoll arbeiten, die dank eines hohen Maßes an Bewusstsein, Leidenschaft und Können einen großen Beitrag zu unserer gemeinsamen Sache leisten. Man muss allen Kolchosbauern direkt und offen sagen, dass die Rentenpolitik des Sowjetstaates darauf zielen wird, jene im Alter zu fördern, die besser gearbeitet haben. Möge ein jeder Mensch wissen, dass er, wenn er heute gut arbeitet, im Alter besser versorgt sein wird.“133
Offizielle Stellungnahmen dieser Art betonten die von den Bürgern zu erbringenden Vorleistungen und entsprachen dergestalt weit eher der von Aþarkan präsentierten Rentendefinition. Die wirtschaftsbezogenen, fürsorgefernen Politikziele standen somit in einem Widerspruch zu der Vermittlung einer paternalistischen Reziprozität, der die von Andreev und Astrachan behauptete Alimentarität der Rentenversorgung entgegenkam. Und so mag es nicht zuletzt auf die volkswirtschaftlichen Interessen
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Vgl. Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 5051. Bulganin, Der Entwurf, S. 12. Vgl. Moskalenko, Zakon, S. 21. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 3233. Vermittelt wurde dieser Zusammenhang darüber hinaus etwa in: Glavnoe napravlenie, S. 4; Fogel’ Vlasova, Principy, S. 1415; Lykova, Programma, S. 8.
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zurückzuführen sein, dass der von diesen Autoren vertretene Standpunkt im Fachdiskurs der 1970er Jahre immer mehr an Bedeutung verlor.134 Von dem Gedanken, dass sich der Bürger eine Rentensicherung erarbeiten musste, ist es nicht weit zu der Idee, dass sich eine Person, die in der für die Qualifikation erforderlichen Weise tätig gewesen war, die Versorgung dadurch regelrecht verdient hatte. Die Tatsache, dass eine solche Auffassung einen zentralen Baustein in der Eigenwahrnehmung älterer Sowjetbürger darstellte, wurde bereits im Zusammenhang mit der Beschreibung der Auswirkungen der Rentenpolitik auf die Sozialstruktur des Landes dargelegt.135 Das Konzept der Anspruchsgemeinschaft gründet auf der von einer kollektiven Einheit geteilten Vorstellung, dass eine erbrachte Vorleistung das Entgegenkommen der Gesellschaft oder des Staates zu einem moralischen Imperativ machte. Hierin besteht eine grundlegende Differenz zur Position des Leistungsempfängers im Kontext der paternalistischen Reziprozitätsdimension: Der in seinem Lebensalter fortgeschrittene Bürger figurierte keineswegs als passives, kindähnlich bevormundetes Subjekt, sondern als Inhaber eines gefühlten, wenn auch nicht immer rechtlich abgesicherten, Anspruches auf eine adäquate Absicherung gegen existentielle Risiken. Anders als auf der paternalistischen Ebene besteht die ursprüngliche, die zuerst erfolgende Gabe nicht in den Früchten der staatlichen Sozialpolitik, sondern in der Arbeitstätigkeit oder dem gesellschaftlichen Engagement der Bürger. Es ist der Staat, der sich gewissermaßen unter Zugzwang gesetzt sieht, den Wechselseitigkeitserwartungen gemäß zu reagieren und für die verdiente Absicherung zu sorgen. Angesichts einer derartigen Verschiebung scheint es gerechtfertigt, hier von der qualifikatorischen Reziprozitätsdimension zu sprechen. Diese qualifikatorische Ebene befindet sich in einem unauflösbaren Gegensatz zu den paternalistisch geprägten Vorstellungen wechselseitiger Verpflichtungen: Eine Sozialleistung kann schlechterdings nicht im selben Atemzug sowohl als vorrangiges Ergebnis der väterlichen Sorge von Partei und Regierung als auch als logische Konsequenz individuellen Einsatzes gedacht werden. Zudem lässt sich für eine solche Unterstützung, wenn sie lediglich die notwendige Reaktion auf die Vorleistung anderer darstellt, keineswegs jene Dankbarkeit beanspruchen, die im Zentrum der eudämonistischen Legitimationsbedürfnisse des Regimes 134 Das Merkmal der Alimentarität wurde zunehmend in Frage gestellt. So verweist Fogel’, Pravo, S. 39, darauf, dass man „seit den Zeiten des römischen Rechts ausschließlich Beziehungen als alimentär versteht, die aus der Verpflichtung der einen Familienmitglieder entstehen, die anderen mit Unterhalt zu versorgen“. Vgl. ebenso Sovetskoe pensionnoe pravo, S. 59. Osin, Ponjatie, S. 134, konstatiert Ende der 1970er Jahre, dass das Leistungsprinzip für die Rente „vordringlichste Bedeutung“ besitze und sich hier – anders als im Fall der monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte – „direkt und unmittelbar“ zeige. In diesem Zusammenhang vermittelt sich auch Buckley Donahue, Promises, S. 255, der Eindruck, dass Renten generell primär „als eine verdiente Leistung für Arbeiter mit einem hohen Dienstalter [beschrieben wurden], und nicht als ein Programm, das auf die Ausrottung der Armut oder moralisch motivierte Transferleistungen für marginalisierte Bevölkerungsteile ausgerichtet war“. Die allgemeine Kritik an dem Begriff der Alimentarität veranlasst V. S. Andreev schließlich dazu, ganz auf seine Verwendung zu verzichten. Vgl. Andreev, Pravo (1987), S. 37. 135 Auf entsprechende Briefbeispiele soll deshalb an dieser Stelle verzichtet werden.
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stand. Eines derartigen Widerspruches ungeachtet ginge man fehl, wenn man die qualifikatorische Reziprozität allein im Bereich der subjektiven Wahrnehmung sowjetischer Bürger verortete. Getragen und bestätigt wurde sie auch über einen offiziellen Diskurs, der die staatliche Bringschuld explizit anerkannte. Ein aussagekräftiges Beispiel für diesen Tatbestand bietet ein weiteres Mal Bulganins Rede vom 11. Juli 1956. In ihr sprach der Vorsitzende des Ministerrats von den Beziehern der neuen Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenrenten als Personen, denen man die Unterstützung schuldig sei. Von zentraler Bedeutung erscheint dabei, dass sich die Verpflichtung nicht aus religiösen oder weltanschaulichen Motiven ableitete, sondern aus der Lebensarbeitsleistung der betagten Menschen: „In unserem Land erhalten Renten Arbeiter und Angestellte, die viele Jahre ihres Lebens zum Wohl der sozialistischen Gesellschaft gearbeitet haben, Familien von Arbeitern und Angestellten bei Verlust ihres Ernährers, Arbeits- und Militärinvaliden und Familienmitglieder von Werktätigen, die bei der Verteidigung unseres Heimatlandes gefallen sind. Die Sorge für den materiellen Unterhalt dieser Menschen ist die heilige Pflicht unseres Staates.“136
Auch Chrušþev bezeichnete die an Partei und Regierung gestellte Aufgabe, mit allen Mitteln die Wirtschaft zu entwickeln und dergestalt den Lebensstandard der Werktätigen zu steigern, als eine „heilige Schuld“. Während diese sich im Kontext seiner Rede vom 13. Juli 1964 auch als Folge eines vornehmlich ideologischen Imperativs begreifen lässt,137 nahm sein Nachfolger an der Spitze der KPdSU zwei Jahre später abermals direkten Bezug auf die Vorleistungen der Personen, die vom staatlichen Engagement profitieren sollten. Bevor Brežnev in seinem Rechenschaftsbericht gegenüber dem XXIII. Parteitag auf die für das kommende Planjahrfünft anvisierten Verbesserungen der Rentenversorgung einging, kam auch er auf die Motivation der Maßnahmen zu sprechen. Er stellte fest, dass die „Sorge um die materielle Versorgung von Menschen, die einen großen Teil ihres Lebens der Arbeit gewidmet und nun den verdienten Ruhestand angetreten haben, [...] eine Verpflichtung des sozialistischen Staates“ darstelle.138 Dass die qualifikatorischen Reziprozitätsnormen nicht allein in derartigen öffentlichkeitswirksamen Auftritten, sondern ebenso im Alltagsdiskurs sowjetischer Funktionäre Spuren hinterließen, zeigte sich beispielsweise bei der Diskussion des Heimplatzmangels. M. I. Gladkov, der im Oktober 1960 als Mitglied der Kommission des Obersten Sowjets der RSFSR für das Gesundheitswesen und die Sozialversorgung zu dieser Frage Stellung bezog, charakterisierte die Sorge um die Alten und Alleinstehenden gleichfalls als „unsere heilige Verpflichtung“: „Jeder von uns sollte seine eigene Zukunft vorhersehen: Für den einen wird dies früher, für andere später der Fall sein. Die Leute altern, und der Staat muss für sie sor-
136 Bulganin, Der Entwurf, S. 9 [eig. Hervorhebung]. 137 Chrušþev zufolge ergab sich diese Schuld nicht zuletzt aus dem „leninschen Vermächtnis“. Vgl. Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 16. 138 Brežnev, Otþetnyj doklad XXIII s-ezdu, S. 81 [eig. Hervorhebung]. Vgl. auch Sazonov, Osnovnye vechi, S. 48.
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gen.“139 Das Los jener alten oder kriegsversehrten Bürger, denen die Aufnahme in eine Pflegeeinrichtung versagt blieb, wurde in internen Schreiben gerade deshalb beklagt, weil die Betroffenen Vorleistungen erbracht hatten. So verwies das Parteibüro des Sozialversorgungsministeriums der RSFSR 1968 in einem Bericht an die ZK-Abteilung für Wissenschaft und Lehranstalten speziell auf diesen Sachverhalt: „[...] mehr als 16.000 akut bedürftige Bürger können über längere Zeit nicht vom Staat unterstützt werden. Unter ihnen befinden sich viele Invaliden des Vaterländischen Krieges, [...] und auch Veteranen der Arbeit, die zeit ihres Lebens mehr als nur ein Jahrzehnt lang redlich gearbeitet haben.“140 Die Vorstellung vom „verdienten Ruhestand“ erfuhr eine so starke Verbreitung, dass sie als ein Synonym für die Lebensphase des Rentenbezugs fungierte. Im allgemeinen Sprachgebrauch war der Gedanke an die individuellen Vorleistungen des Beziehers somit von der Alterssicherung nicht mehr zu trennen. Ein Beispiel dafür, wie diese Vorstellung bereits früh über die sowjetische Presse kommuniziert wurde, bietet ein im Dezember 1956 in der Literaturnaja gazeta verfasster Artikel, dessen Autorin darauf verwies, dass die älteren Bürger des Landes zwei Monate nach dem Inkrafttreten des Staatsrentengesetzes spürbar an Selbstbewusstsein gewonnen hätten. Zurückzuführen sei dies auf die durch die Reform zutage tretende „reichliche und allgemeine Anerkennung ihrer arbeitsbezogenen Verdienste gegenüber dem Land“.141 Im Kontext der zweiten großen Rentenreform wurde der Vorleistungsaspekt, wie gesehen, noch expliziter in den Vordergrund gerückt. In Übereinstimmung mit der erwähnten Betonung des sozialistischen Leistungsprinzips unterstrich man 1964, dass die Kolchosrenten nur jenen vorbehalten sein sollten, die sie sich verdient hätten. Zu denen, die sich während der Diskussion des Gesetzentwurfs in der sowjetischen Volksvertretung derart äußerten, gehörte V. V. Graþev, der Vorsitzende eines Artels im Gebiet Kursk: „Die Rente soll [...] jenen erteilt werden, die ihre Arbeit für unser aller Sache, für die Entwicklung der Kolchose eingesetzt haben, die sich das Recht auf eine Versorgung im Alter verdient haben.“142 139 GARF, F. A 385, op. 13, d. 1129, l. 14. Zuvor hatte freilich schon Chrušþev die Dringlichkeit des Baus neuer Altenheime damit begründet, dass jene, die einer Unterbringung bedurften, „zeit ihres Lebens ehrlich gearbeitet haben“. Chrušþev, Otþetnyj doklad, S. 72. Siehe Abs. 4.3. 140 RGANI, F. 5, op. 60, d. 56, l. 111 [eig. Hervorhebung]. Vgl. auch RGANI, F. 5, op. 59, d. 50, l. 250. 141 Maksimova, ýeloveþeskaja dolžnostތ, S. 3. 142 Zasedanija Verchovnogo Soveta SSSR šestogo sozyva, S. 301. Die offensichtliche disziplinarische Motivation solcher Äußerungen vermittelt Gorin, Pensiju, S. 6. Der Vorsitzende des Kolchos „Podgornoe“ (Gebiet Voronež) und Deputierte des Obersten Sowjets der RSFSR konstatierte bezüglich der für die Finanzierung der Kolchosrenten aufzubringenden Mittel: „Das sind Volksgelder. Sie wurden durch kollektive Arbeit erarbeitet und für die Versorgung von alten und von arbeitsunfähigen Kolchosbauern abgeführt, die über viele Jahre lang gewissenhaft auf den Feldern und in den Zuchtbetrieben gearbeitet haben. [...] Man muss die Sache so organisieren, dass kein einziger Schwarzarbeiter, kein einziger Drückeberger uns betrügen kann. Die Rente soll derjenige erhalten, der sie verdient, der gewissenhaft im landwirtschaftlichen Artel gearbeitet hat.“
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Speziell in der Fachliteratur der 1970er Jahre sollte dieser Zusammenhang besondere Berücksichtigung finden. So interpretiert N. M. Pavlova die Renten – in der bekannten Weise – zum einen als alimentäre, zum anderen als auf den vormaligen Arbeitsbeziehungen basierende Leistungen. Darüber hinaus ist ihr zufolge die Sicherung im Alter jedoch nicht von dem Bewusstsein um die Arbeitsleistungen des Einzelnen zu trennen. Allein die Tatsache, dass eine Rente erteilt, dass ihre Höhe berechnet werde, stelle „bereits so etwas wie die staatliche Anerkennung und Bewertung der Verdienste des Menschen gegenüber der Gesellschaft dar“.143 In eine ähnliche Richtung zielt auch V. D. Šapiro, wenn er – ganz im Sinne der offiziellen Propaganda – die sowjetische Haltung gegenüber den betagten Mitbürgern beschreibt: „Die Situation der älteren Generation in der UdSSR und anderen Ländern des Sozialismus unterscheidet sich von der Lage der alt werdenden Menschen in der kapitalistischen Welt. Die Menschen der älteren Generation werden als Forderungsberechtigte [kreditory] betrachtet, die einen gewaltigen Beitrag zur Entstehung, zur Entwicklung und zum Fortschritt unserer Gesellschaft geleistet haben.“144
Man würde also falsch liegen, reduzierte man die zwischen Regime und Bevölkerung bestehende Beziehung wechselseitiger Verpflichtung lediglich auf ihre paternalistische Dimension. Sicher, als „soziales Recht“ im Sinne Thomas H. Marshalls145 kann der Rentenanspruch eines sowjetischen Bürgers nicht gewertet werden. Dennoch ist die aus diesem Umstand abgeleitete Schlussfolgerung Zsuzsa Ferges, dass die in sozialistischen Ländern verteilten Sozialleistungen „Geschenke geblieben [sind], Almosen des Parteistaats, die die Unterordnung der ,Untertanenދ bekräftigen“,146 in ihrer Rigorosität abzulehnen: Sie deckt sich nicht mit der Lebenswirklichkeit der Betroffenen. Überall dort, wo die Rente als Ergebnis eines berechtigten Anspruches verstanden wurde, bekräftigte sie gerade nicht die individuelle Subordination, sondern stärkte das Selbstbewusstsein der älteren Bürger.147 Im Hinblick auf die individuelle Einordnung des Versorgungsanspruches 143 Pavlova, O differenciacii, S. 1197. Vgl. auch Šapiro, ýelovek, S. /DQFHY 6RFLDOތQRH obespeþenie v SSSR (1976), S. 121. 144 Šapiro, Ustanovka, S. 111. 145 Siehe hierzu Abs. 8.2. 146 Ferge, Social Policy Regimes, S. 207. 147 Auch wenn die den Bürgern gewährten Garantien aufgrund der fehlenden Rechtssicherheit westlichen Standards nicht genügten, ist davon auszugehen, dass nur ein geringer Teil der Bevölkerung die ihm zuteilwerdenden Leistungen als „Geschenke“ empfand. Emigrantenbefragungen, die sich u. a. der Wahrnehmung der staatlichen Sozialpolitik widmeten, führte man erst nach dem Ende des Bearbeitungszeitraums durch. Es ist jedoch – bei aller geratenen Vorsicht gegenüber dieser Quellenform – zu vermuten, dass die von Madison, The Soviet Pension System, S. 176, referierten Ergebnisse einer 1980 durchgeführten Untersuchung auch etwas über die Überzeugungen von Bürgern aussagen, die zehn Jahre zuvor noch in der UdSSR lebten: „Trotz fortgesetzter ,Geschenkދ-Propaganda verstehen weniger als 2 % der Rentner ihre Leistungen als Geschenke: 91 % sind überzeugt, dass sie sie zur Gänze bezahlt haben, der Rest meint, für sie in Teilen bezahlt zu haben. In vielen Kommentaren wird betont, dass man durch die vielen Jahre der harten Arbeit, für die man nur einen Hungerlohn erhalten habe, [...] mehr als die volle Summe beglichen habe.“
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ist zudem nicht zu unterschätzen, dass das konstitutionell verankerte „Recht auf materielle Versorgung im Alter sowie im Fall von Krankheit und Invalidität“ – seiner faktischen Irrelevanz ungeachtet – einen Gemeinplatz der rentenpolitischen Propaganda darstellte, während der Begriff des „Geschenks“ in diesem Kontext keinerlei Verwendung erfuhr. Man mag einen empfundenen Anspruch als unerheblich abtun. Gegen eine derartige Einschätzung spricht allerdings, dass die staatliche Rentenpolitik, wie bereits dargelegt, auch als eine Reaktion auf Impulse aus einer Bevölkerung zu verstehen ist, die ihr Missfallen über den Zustand der Altersversorgung mittels der ihnen zur Verfügung stehenden Kommunikationskanäle kundtat. Als Beleg dafür, dass das Regime ein verstärktes Interesse an dem Inhalt der an es gestellten Erwartungen zeigte, kann die erhöhte Priorität angeführt werden, die nach 1953 der „Arbeit mit den Briefen“ beigemessen wurde.148 Zwar befähigte die verbesserte Auswertung der an sie gerichteten Schreiben durch die staatlichen Institutionen und Presseorgane das sowjetische Beschwerderecht nicht dazu, einen adäquaten Ersatz für die fehlende Verwaltungsgerichtsbarkeit darzustellen.149 Sie steigerte jedoch unzweifelhaft die Sensibilität sowohl gegenüber der „öffentlichen Meinung“ im Allgemeinen als auch gegenüber den Hinweisen auf Mängel in den gesetzlichen Bestimmungen oder auf Fehler bei deren Umsetzung. Wie an früherer Stelle erwähnt, spricht einiges dafür, dass manche der Berichte, die in den Briefabteilungen der höchsten Staats- und Parteiorgane sowie der wichtigsten Zeitungen zu Themen verfasst wurden, die die Bevölkerung in besonderer Weise bewegten, mit als Grundlage für in die Wege geleitete Korrekturen dienten. Die im Rahmen der vorliegenden Arbeit verwendeten Briefbeispiele belegen, dass viele der auf Veränderungen an der Altersrentenversorgung drängenden Verfasser nicht nur an die väterliche Sorge von Partei und Regierung appellierten, sondern ebenfalls auf die eigenen Vorleistungen verwiesen, die ein staatliches Handeln zu einem moralischen Imperativ machen würden. Hierbei handelte es sich vielleicht sogar um die mit dem stärksten Nachdruck argumentierenden und deshalb im besonderen Maße zur Kenntnis genommenen Briefautoren. Indem die Sowjetführung nun auch auf solche Schreiben reagierte und tatsächlich für Verbesserungen sorgte, entsprach sie gleichzeitig den qualifikatorischen Erwartungen, wodurch diese Reziprozitätsdimension bekräftigt wurde.
148 Maßnahmen zur Verbesserung der „Arbeit mit den Briefen“ waren etwa die Verordnung des ZK der KPdSU vom 2. August 1958 „Über ernsthafte Mängel bei der Prüfung von Beschwerden, Briefen und Eingaben der Werktätigen“ (Spravoþnik partijnogo rabotnika, S. 550552) oder das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 12. April 1968 „Über das Verfahren bei der Prüfung von Vorschlägen, Eingaben und Beschwerden der Bürger“ (VVS SSSR, 1968, Nr. 17, Pos. 144). Zum Umgang mit kritischen Äußerungen und Klagen dieser Art nach 1953 vgl. z. B. Mommsen, Hilf mir, S. 217236; Adams, Critical Letters; White, Political Communications. 149 Vgl. Zöller, ... und es kostet, S. 236237.
7. DIE RENTNERRÄTE: INTERESSENORGANISATIONEN DER SOWJETISCHEN RENTNER Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Auswirkungen der Rentenpolitik auf die sowjetische Sozialstruktur wurde bereits dargelegt, dass sich die konstitutivgestalterischen Effekte nicht auf die „moderne, relativ trennscharfe soziale Gliederung der Bevölkerung in Altersgruppen und Generationen“1 beschränkten. Unter dem Eindruck der Reformen von 1956 und 1964 entwickelte sich eine neue soziale Einheit: die Anspruchsgemeinschaft der sowjetischen Altersrentner. Als einen unmittelbaren Ausdruck dieser Entwicklung lässt sich die nach der Staatsrentenreform einsetzende, überaus dynamische Ausbreitung einer Organisationsform wahrnehmen, die meist als „Rentnerrat“ (sovet pensionerov) oder „Rat der Arbeitsveteranen“ (sovet veteranov truda), mitunter ebenfalls als „Ältestenrat“ (sovet starejšin bzw. sovet starejšich) bezeichnet wurde. Ihr Wirkungsbereich blieb, anders als etwa im Fall des überregional vertretenen Sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen, zwar größtenteils auf die lokale Ebene beschränkt. Auch waren sie eine Erscheinung, die hauptsächlich für die sowjetische Arbeiter- und Angestelltenschaft charakteristisch war.2 Zudem sollten die Räte aus offizieller Perspektive zuallererst der Mobilisierung und Koordinierung des ehrenamtlichen Engagements der Rentner im Dienste der gesellschaftlichen Entwicklung dienen. In vielen Fällen entwickelten diese bei Betrieben und Fabriken ebenso wie bei örtlichen Sowjets und Hausverwaltungen eingerichteten Formationen allerdings ein derart ausgeprägtes Eigenleben, dass sie einem Teil der Partei-, Sowjet- und Gewerkschaftsorgane erheblich zur Last fielen. Ihr Einsatz für die Belange der eigenen Altersgenossen erlaubt es, die besonders aktiven Rentnerräte als Interessenorganisationen zu verstehen, deren Aktivität ein Ausmaß annahm, welches die politische Führung 1962 veranlasste, ihnen in einer regelrechten Kampagne Einhalt zu gebieten. Gleichzeitig gerieten die Rentnerräte als Organisationsform insgesamt in Misskredit.
DER REN TNERRAT AL S ORGANI SATION DER GESEL LSCHAFTLICHEN SEL BSTTÄTIGKEIT
7.1. DER RENTNERRAT ALS ORGANISATION DER GESELLSCHAFTLICHEN SELBSTTÄTIGKEIT
DER RENTNE RRA T ALS O RGANI SATION DER GE SELL SCHAFTLI CHEN SELBSTTÄTIGKEIT
Die ersten Rentnerräte entstanden bereits in den Monaten unmittelbar nach dem Inkrafttreten des Staatsrentengesetzes. Frühe Beispiele einer solchen Organisation bieten die Einrichtungen in der Textilfabrik „Raboþij F. Zinov’ev“ von Ivanovo 1 2
Leisering, Sozialstaat, S. 8. Zumindest fanden sich keine Hinweise auf Rentnerräte, die in den Kolchosen gegründet wurden.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
(November 1956) oder in der Moskauer „Trechgornaja Manufaktura“ (Dezember 1956).3 In den folgenden Jahren vermehrten sich die Räte mit einer solchen Dynamik, dass es etwa in der RSFSR gegen Ende des Jahrzehnts kaum einen großen Betrieb gab, der nicht über eine solche Einrichtung verfügt, kaum eine Bezirks- oder Stadtabteilung der Sozialversorgung, die nicht auf das ehrenamtliche Engagement ihrer Mitglieder zurückgegriffen hätte.4 Informationen über die Ausdehnung dieser Organisationsform liegen vor allem für die größte Unionsrepublik vor: In der RSFSR registrierte man 1961 – bezogen auf 40 Gebiete, Regionen und autonome Republiken – bereits 3.280 Rentnerräte.5 Drei Jahre später wurden im gesamten Territorium der Russischen Föderation 10.682 sovety pensionerov gezählt.6 Der Elan, mit dem sich die Räte ausbreiteten, motivierte insbesondere Vertreter des Systems der Sozialversorgung wiederholt dazu, von einem kollektiven Prozess größeren Maßstabes zu sprechen. So sprach man erstmals bereits Anfang 1957 von einer „Bewegung der Arbeitsveteranen“, die es zu organisieren gelte.7 Diese Charakterisierung entwickelte sich zu einem Gemeinplatz8 und wurde zudem von hohen Funktionsträgern wie K. M. Dolgov verwendet. So sprach der Stellvertretende Minister der RSFSR für Sozialversorgung 1959 davon, dass „diese Räte eine eigenständige und sehr wertvolle gesellschaftliche Bewegung jener Rentner, die freiwillig verschiedenartige gesellschaftliche Aufträge erfüllen, anführen“.9 Der Begriff der „Bewegung“ wurde darüber hinaus ebenfalls von den Rentneraktivisten selbst genutzt, die dadurch ihrem eigenen Selbstbewusstsein Ausdruck verliehen.10 Dass 3 4 5
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Vgl. Skromnye i slavnye dela, S. 20; GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 21. Vgl. Vasilތev, Nepravilތnye vzgljadi, S. 34. Besonders vertreten waren die Räte zum einen in Städten wie Moskau, Leningrad, Gor’kij oder ýeljabinsk. Zum anderen wiesen administrative Einheiten wie die Region Krasnodar (307 Rentnerräte) und die Baschkirische ASSR (mehr als 275) eine hohe Verbreitung auf. Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, ll. 39 u. 47. Vgl. Socializm i narodovlastie, S. 88. Diese Werte schließen auch die Angaben zur Zahl der Ältestenräte ein. Genc Ratner, Organizovatތ, S. 9. Vgl. z. B. Petuchova ýunareva, Iniciativa, S. 10; ýernikov, Pervye šagi, S. 17; Vasilތev, Pora, S. 44; Veterany truda obmenivajutsja opytom (1960), S. 43. Dolgov, Ob uþastii, S. 44. Im selben Jahr sprach mit V. A. Aralov auch ein weiterer stellvertretender Minister der RSFSR für Sozialversorgung von der „bemerkenswerten gesellschaftlichen Bewegung der Rentner“, die in den vorangegangenen zwei Jahren „aus den Tiefen des Volkes heraus entstanden ist“. Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 83. Vgl. auch V pomošþ ތsovetam pensionerov, S. 36; Naši luþšie pomošþniki, S. 1. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 73. Es ist zu unterstreichen, dass die Verwendung des Bewegungsbegriffs nicht der gängigen Definition einer sozialen Bewegung entspricht. Der Umstand, dass auch Mitarbeiter der Organe der Sozialversorgung – als Regimevertreter – von einer „Bewegung“ der Rentner bzw. Rentnerräte sprachen, macht deutlich, das hier nicht von einem „Prozeß des Protestes gegen bestehende soziale Verhältnisse, der bewusst getragen wird von einer an Mitgliedern wachsenden Gruppierung“, oder einem „Gegenpol“ zum herrschenden System (Rammstedt, Bewegung, S. 3839.) die Rede war. Der überwiegende Teil der Aktivisten verstand sich selbst vermutlich als systemkonform und deutete das eigene Engagement als im Interesse des von Partei und Regierung unterstützten gesellschaftlichen Fortschritts. Für die Beschreibung der Rentnerräte passender erscheint hier der Ansatz
Der Rentnerrat als Organisation der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit
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man es hier mit einer weite Teile der älteren Bevölkerung berührenden Erscheinung zu tun hatte, konstatiert in der Rückschau auch T. N. Dokuþaeva: Die nach der Reform vom 14. Juli 1956 entstandenen Rentnerorganisationen hätten „mehr oder weniger eine Massenerscheinung“ dargestellt.11 Worum handelte es sich nun bei den Rentner- oder Arbeitsveteranenräten? Sowjetischerseits bemühte man sich erst ab Beginn der 1960er Jahre, um eine theoretische Einordnung der vielgestaltigen Formen, in denen sich die Bürger des Landes ehrenamtlich engagierten. Im Kontext dieser Überlegungen kategorisierte man die Rentnerräte – ebenso wie etwa Straßen- und Hauskomitees, Frauen-, Neuererräte und Kameradschaftsgerichte – als „Organisationen der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit“ (obšþestvennye samodejatel’nye organizacii). A. K. Konev versteht hierunter eine „Form der freiwilligen Vereinigung eines bestimmten Kollektivs von Bürgern, die auf deren Initiative oder die Empfehlung eines staatlichen Organs hin gegründet“ worden ist. Ihr Ziel bestehe in „der breiten Heranziehung der Werktätigen zur praktischen Entscheidung allgemeinstaatlicher Aufgaben oder Aufgaben von lokaler Bedeutung in verschiedenen Bereichen des Lebens. Die Zusammensetzung der selbsttätigen Organisation wird auf einer allgemeinen Versammlung des Kollektivs der Bürger am Ort ihrer gemeinsamen Arbeit oder Wohnhaftigkeit gewählt.“12
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von Peter Glotz, der den Bewegungsbegriff ex negativo definiert, indem er ihn ebenfalls für Gesellungsformen verwendet, „die nicht über eine ,stehende Organisation ދverfügen, die also kein flächendeckendes oder annähernd flächendeckendes Netz von Vertrauenskörpern oder Vertrauensleuten anstreben, sich keine festgelegte und rasch handlungsfähige Führungsstruktur zulegen, keine auf Dauer angelegte Kommunikation institutionalisieren“. Glotz, Die Bedeutung, S. 9. Tatsächlich deckt sich die Wortverwendung wohl mit dem in der DDR üblichen Sprachgebrauch, wonach mit einer Bewegung ein „organisierte[r] Zusammenschluß einer Gruppe von Menschen, die ein gleiches politisches, künstlerisches oder geistiges Ziel anstrebten“, gemeint war. Wolf, Sprache, S. 27. Als gemeinsame Zielsetzung der Räte müsste die Heranziehung der Rentner für Tätigkeiten von gesellschaftlichem Nutzen betrachtet werden. Freilich rückt auch der sowjetische Bewegungsbegriff den dynamischen Aspekt des innerhalb kurzer Zeit große Ausbreitung erfahrenden Ratsmodells in den Vordergrund. Dokuþaeva, Obšþestvenno-politiþeskaja dejatel’nost’, S. 30. Konev, Mestnye Sovety, S. 14. Mitunter werden die Rentnerräte auch als „Organe der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit“ (obšþestvennye samodejatel’nye organy) klassifiziert. Vgl. Jampolތskaja, Osnovnye þerty, S. 4245; Lukjanow Lasarew, Der Sowjetstaat, S. 216232; Révész, Die Formung, S. 480482. Konev, Mestnye Sovety, S. 14, hält den Organ-Begriff allerdings für unpassend, da er mit der Vorstellung eines Zusammenschlusses von Bürgern einhergehe, die als Vertreter staatlicher Behörden oder anderer Organisationen in dieses Gremium delegiert worden seien. Kozlov, Sootnošenie, S. 117, verweist zur Unterscheidung von selbsttätigen Organen und Organisationen vor allem darauf, dass die Organisationen meist über eine unmittelbare Verbindung zu einem einzigen Kollektiv verfügten, während an der Gründung der Organe „häufig [...] mehrere verschiedene Kollektive von Bürgern teilhaben“. Vgl. ebenso Friedgut, Political Participation, S. 242; ýigir, Obšþestvennye samodejatelތnye organizacii, S. 3033. Eine Differenzierung der beiden Organisationstypen erscheint berechtigt, zollt sie doch der Tatsache Rechnung, dass das Engagement in ihnen von unterschiedlichen Loyalitäten geprägt war: Während so etwa die „Delegierten“ eines gesellschaftlichen Rats naturgemäß nicht zuletzt jene Einrichtungen vertraten, die sie in dieses Gremium entsandt hatten,
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
Von den als „gesellschaftlichen Massenorganisationen“13 klassifizierten Institutionen (z. B. Gewerkschaften, Komsomol, Gesellschaft des Roten Kreuzes der RSFSR), die ebenfalls auf der freiwilligen Partizipation sowjetischer Bürger basierten, unterschieden sich die Organisationen der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit durch eine Reihe von Kennzeichen. So wurde in ihnen beispielsweise nicht allein über die neu hinzukommenden Mitglieder abgestimmt: Das jeweils maßgebliche Kollektiv (bei einem Hauskomitee z. B. die Bewohner eines Wohnhauses, bei einem Elternkomitee die Elternschaft einer Schule usw.) bestimmte über die personelle Zusammensetzung in ihrer Gesamtheit.14 Auch fehlte den selbsttätigen Organisationen eine eigene materielle Grundlage, da ihre Mitglieder bzw. Aktivisten im Normalfall keine finanziellen Beiträge zahlten, woraus sich eine besondere Abhängigkeit von dritter Seite ergab. Dem entsprach, dass sie – zumindest in der Theorie – in Anlehnung an und unter der Aufsicht von Einrichtungen und Behörden arbeiteten, deren Tätigkeit sie unterstützen sollten. Hierbei konnte es sich – abgesehen von den zuständigen Parteiorganen – um die örtlichen Sowjets und ihre Abteilungen, um betriebliche Gewerkschaftsorganisationen, um Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser und Kinderheime oder um Wohnungsverwaltungen handeln.15 Ein weiteres Charakteristikum war der vergleichsweise niedrige Grad ihrer Organisation. Im Unterschied zu Komsomol, Gewerkschaften etc. besaßen die selbsttätigen Organisationen meist keine ausgeprägte hierarchische Struktur. Eine übergeordnete Vertretung für sie wurde abgelehnt, da der „Charakter, den die Tätigkeit dieser gesellschaftlichen Organe aufweist, [...] ihre Vereinigung im Republik- oder gar Unionsmaßstab nicht erforderlich“ mache.16 C. A. Jampol’skaja zufolge war eine solche Dezentralisierung gerade deshalb sinnvoll, weil die Rentnerräte, Straßenkomitees etc. den Exekutivkomitees der örtlichen Sowjets und anderen Dacheinrichtungen Beistand leisten sollten: „Das System dieser staatlichen Organe gründet bekanntlich auf dem Prinzip des demokratischen Zentralismus und setzt eine bestimmte Stufe der Zentralisierung voraus, die für die Einheit und Abgestimmtheit der Aktionen des Systems in seiner Gesamtheit sorgt. Deshalb ist es nicht notwendig, die Zentralisierung auch in Bezug auf die Organe der massenhaften Selbsttätigkeit der Werktätigen zu doppeln. Im Gegenteil, mit ihrer Hilfe wird die zweite Seite des Prinzips des demokratischen Zentralismus, insbesondere die Berücksichtigung der örtlichen Bedingungen sowie die Nutzung der lokalen Initiative und der schöpferischen Energie der breiten Masse der Werktätigen, noch weiter entfaltet.“17
Einige selbsttätige Organisationsformen kennzeichnete schließlich der Umstand, dass die Tätigkeit der einzelnen örtlichen Einheiten überaus verschiedene Gestalt annehmen konnte. Dies war vor allem darauf zurückzuführen, dass kein Einver-
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waren hingegen die Mitglieder eines Straßenkomitees in hohem Maße auch jenen Bewohnern ihrer Nachbarschaft verpflichtet, die sie auf der konstituierenden Versammlung gewählt hatten. Vgl. Jampolތskaja, Obšþestvennye organizacii, S. 38; Kozlov, Sootnošenie, S. 87. Vgl. Kozlov, Sootnošenie, S. 103. Vgl. Konev, Mestnye Sovety, S. 1416; Lukjanow Lasarew, Der Sowjetstaat, S. 217218; Wesson, Volunteers, S. 241; Friedgut, Political Participation, S. 243. Lukjanow Lasarew, Der Sowjetstaat, S. 218. Jampolތskaja, Osnovnye þerty, S. 43. Vgl. auch Révész, Die Formung, S. 481.
Die Tätigkeitsbereiche der Rentnerräte
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nehmen über das jeweilige Aufgabenprofil herrschte: Für Frauenräte und Rentnerräte, die hiervon in besonderer Weise betroffen waren, existierten keine einheitlichen Statuten, was Ju. M. Kozlov darauf zurückführt, „dass diese Organisationen sich innerhalb eines bestimmten Zeitraums im Stadium der Suche nach den eigenen Aufgaben befunden haben. Deshalb haben sie entweder ohne Statuten agiert oder diese eigenständig erarbeitet.“18 Die Rentnerräte zeigten sich nun exemplarische Vertreter des Typus. In der Regel bestanden sie aus einer überschaubaren Anzahl von 8 bis 20 Mitgliedern, die von ihrer Peergroup, also auf allgemeinen Rentnerversammlungen, gewählt worden waren.19 Ein Mitglied fungierte dabei als Vorsitzender. Meist bestand diese Zusammensetzung ein bis zwei Jahre lang, nach denen sie neu bestätigt werden musste. Die Häufigkeit der Ratssitzungen variierte: Oft traf man sich einmal im Monat, manchmal aber auch in kürzeren Abständen.20 Auch die Rentnerräte sollten keineswegs unabhängig agieren, sondern unter der Anleitung jener gewerkschaftlichen oder staatlichen Einrichtungen, die von ihnen unterstützt werden sollten, sowie der zuständigen Parteiorgane. Meistens wurden sie bei den Gewerkschaftskomitees der Betriebe und Fabriken eingerichtet, denen sie in der Regel einmal im Jahr über ihre Arbeit Bericht erstatten sollten. Darüber hinaus ließen sich manche Räte ihre Arbeitspläne im Vorhinein bestätigen.21 Für Rentner, die in größerer Entfernung von ihrem früheren Arbeitgeber wohnten oder nicht mehr gewerkschaftlich organisiert waren, wurden Räte nach dem Territorialprinzip gegründet. Als Dachorganisationen für diese Bezirks- oder Stadtrentnerräte fungierten die Exekutivkomitees der örtlichen Deputiertenräte – und hier speziell die Abteilungen der Sozialversorgung. Ebenso gab es Einrichtungen, die Dorfsowjets oder Hausverwaltungen angegliedert waren.22
7.2. DIE TÄTIGKEITSBEREICHE DER RENTNERRÄTE Zur Durchführung der operativen Arbeit gründeten die Rentnerräte gewöhnlich mehrere – meist zwischen vier und sechs – Sektionen, die sich jeweils aus einem als Leiter fungierenden Mitglied des Rentnerrats sowie anderen Freiwilligen aus den Reihen der Rentner zusammensetzten (siehe Abb. 1). Einen Eindruck vom möglichen Umfang dieser Aktive vermittelt das Beispiel der Organisationen des Gebiets Sverdlovsk. Hier waren Anfang der 1960er Jahre im Durchschnitt 200 Ehrenamtliche für 18
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Kozlov, Sootnošenie, S. 105. Wie im Folgenden gezeigt wird, erklärt sich das Fehlen einer položenie zur Vereinheitlichung der Arbeit der Rentnerräte vor allem aus dem Unwillen der politischen Führung, eine solche zu erlassen. Da die 10.682 im Jahr 1964 in der RSFSR existierenden Räte über 207.966 Mitglieder verfügten, lässt sich hier ein Durchschnittswert von 19 Personen errechnen. Vgl. Socializm i narodovlastie, S. 88. So traf der Rat der Arbeitsveteranen des Moskauer Vladimir-Il’iþ-Werks sogar zweimal wöchentlich zusammen. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 15. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 872, l. 7. Vgl. Dolgov, Ob uþastii, S. 45.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
einen Rat tätig.23 Die Tätigkeit der Sektionen erstreckte sich auf eine Vielzahl von Bereichen, von denen hier nur die am weitesten verbreiteten skizziert werden sollen. Thematisch orientierten sich die einzelnen Unterabteilungen oft am Aufgabenprofil der Kommissionen der Betriebsgewerkschaftskomitees,24 was sich darauf zurückführen lässt, dass die meisten Rentnerräte deren Arbeit unterstützen sollten.
Abb. 1: Die Organisationsstruktur der Rentnerräte
Quelle: Eigene Darstellung.
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Am 1. Januar 1961 existierten in diesem Gebiet 161 bei Gewerkschaftskomitees, 82 bei ländlichen Bezirksdeputiertenräten und 9 bei Stadt- und urbanen Bezirkssowjets eingerichtete Rentnerräte, für die sich insgesamt mehr als 45.000 Rentner engagierten. 54 Räte zählte man allein in Sverdlovsk. Über das größte Aktiv verfügte dabei eine betriebliche Einrichtung in Nev’jansk mit 695 Personen. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 12. Vgl. Lewytzkyj, Die Gewerkschaften, S. 135.
Die Tätigkeitsbereiche der Rentnerräte
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Überall dort, wo die Rentnerräte in einem Betrieb installiert worden waren, kam den „Produktionssektionen“ (proizvodstvennye sekcii) eine besondere Bedeutung zu. Hier sollten die Aktivisten ihre Expertise und Erfahrung zugunsten der Leistungsfähigkeit des ehemaligen Arbeitgebers einsetzen. Dies bedeutete zum einen, dass sie dessen gegenwärtige Mitarbeiter von ihrem Know-how profitieren ließen, indem sie z. B. unerfahrene Arbeitskräfte in der Bedienung von Maschinen oder der Anwendung von Produktionstechniken unterwiesen.25 Ein solcher Kontakt konnte die Qualität einer regelrechten „Patenschaft“ (šefstvo) über junge Arbeiter annehmen, in deren Rahmen diesen nicht nur Fertigkeiten vermittelt werden sollten, sondern auch ideelle Werte. Hierzu gehörten – so der Sekretär des Sverdlovsker Gebietsgewerkschaftsrats ýevtaev in seinem Bericht über eine im Januar 1959 veranstaltete Rentnerkonferenz – z. B. „Elemente der kommunistischen Einstellung zur Arbeit und zum sozialistischen Eigentum sowie die Qualitäten der hohen kommunistischen Moral des jungen Sowjetmenschen“.26 Des Weiteren partizipierten die Sektionsmitglieder an Beratungen zur Steigerung der Arbeitsleistung, wobei sie mancherorts auf Betriebs- oder Abteilungsebene die Produktionskonferenzen besuchten.27 Häufig übernahmen sie ebenfalls Kontrollfunktionen, wozu zum einen etwa die Überprüfung der Frage gehörte, ob Auflagen bezüglich des Arbeits- und Brandschutzes sowie der Sicherheitstechnik erfüllt oder ob Abteilungen korrekt auf die Winterperiode vorbereitet worden waren. Zum anderen inspizierte man aber auch die Qualität von Produktionserzeugnissen oder von vorgenommenen Reparaturen.28 In einem Aufsatz mit dem Titel „Die das Alter bezwingende Arbeit“, dessen Autor, P. Kljuev, das Wirken der Räte anlässlich der erwähnten Konferenz propagierte, wurde diese Form des Rentnerengagements in der folgenden Weise gepriesen: „Es fällt schwer, die Hilfe, die die Rentner, die erfahrenen Produktionsarbeiter, ihrem Betrieb leisten, überzubewerten. Man kann ihnen [...] unter den Mitgliedern der Gesellschaft der Rationalisatoren und Erfinder begegnen, in den Klassen der Gewerbeschulen, bei der Patenschaft über junge Arbeiter, an den Abenden zum Austausch der Arbeitserfahrung und in den Kursen zur Qualifizierung in der Produktion. [...] Die Rentner, die erfahrenen Produktionsarbeiter, haben nämlich ihren Beruf gut verinnerlicht, und jede Profession hat ihre eigenen ,Geheimnisse ދund Besonderheiten. Sie bewahren und verstecken ihre Erfahrung nicht, sondern übergeben sie gern ihren Nachfolgern. Auch darin besteht das Neue, das Sowjetische!“29
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Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, ll. 4647; KuzތPLQ\FK1HFKRWLPâRURFKRYD3ROH]naja rabota. Ebd., l. 47. De facto scheinen die Rentner nicht zuletzt eine Kontrollfunktion übernommen zu haben. Im bei Sverdlovsk gelegenen Verch-Isetsker Hüttenwerk hatte man ýevtaev zufolge 95 Nachwuchsarbeitern 89 Rentner zugewiesen, was durchaus Erfolge gezeitigt habe: Während man in den ersten zehn Monaten des Jahres 1958 durchschnittlich 39 Fälle verzeichnet habe, in denen Arbeitnehmer unentschuldigt gefehlt hätten, sei dieser Wert im November und Dezember auf 22 gefallen. Vgl. ebd. Vgl. ebd., l. 58; Starye sormoviþi ne sidjat bez dela, S. 44. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 872, ll. 8 u. 10; Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 84%ROތšaja obšþestvennaja sila, S. 5. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 59.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
Während bei solchen Aufgabenstellungen vornehmlich von den geistigen Kapazitäten der Aktiven profitiert wurde, kam es ebenfalls nicht selten vor, dass man die ehemaligen Mitarbeiter in die Arbeitsabläufe selbst einband. Attraktiv war ihr praktischer Beitrag vor allen Dingen dort, wo nicht genügend Arbeitskräfte zur Verfügung standen und deshalb die Planerfüllung gefährdet war. Im August 1960 bat so beispielsweise der Direktor der Sverdlovsker Fabrik Uralobuv’, deren Belegschaft zum Teil für eine Erntekampagne abgestellt worden war, um die Unterstützung der Rentner bei der Umsetzung des Produktionsprogramms. In der Folge kehrten 40 Ehemalige des Betriebs sowie 30 weitere Rentner für zwei Monate an die Werkbank zurück.30 Bei der Erfüllung der „sozialistischen Verpflichtungen“ seines Betriebs war auch der Rat der Arbeitsveteranen des Eisenhüttenwerks von Alapaevsk (Gebiet Sverdlovsk) behilflich. Hier beteiligten sich die Rentner nicht nur an der Rekonstruktion verschiedener Werksobjekte: „Sie haben an der Vorbereitung des Beschickungsgutes für die Siemens-Martin-Abteilung teilgenommen, 5.222 Arbeitertage geleistet sowie 7.012 t Metall angehoben und verladen. Es wurden sieben Subbotniki durchgeführt, bei denen 590 Rentner mitmachten und 566 t Metall angehoben und verladen wurden. Außerdem [...] haben sie auch am Bau einer Sporthalle [und] am Häuserbau teilgenommen. Beim Bau des 24., des 32. und des 53. Wohnhauses haben 35 Rentner gearbeitet und 550 Arbeiterschichten geleistet.“31
In diesem Zusammenhang ist ebenfalls auf einen aktiven Arbeitsbeitrag hinzuweisen, den Rentnerräte sektionsunabhängig leisteten. Dort, wo es die räumliche Nähe zu ländlichen Betrieben gestattete, unterstützten manche Einrichtungen die Agrarproduktion. Dies betraf selbstredend jene Räte, die innerhalb eines Sowchos bzw. beim Exekutivkomitee eines Siedlungs- oder Dorfsowjets eingerichtet worden waren und an den landwirtschaftlichen Kampagnen teilnahmen. Im Bezirk Krasnoufimsk (Gebiet Sverdlovsk) gründete man beispielsweise 1960 aus Rentnern bestehende Arbeitsgruppen und Brigaden, die beim Getreidejäten, der Ernteeinbringung sowie beim Bau und der Reparatur von Viehfarmen mithalfen und hierfür wiederholt ausgezeichnet wurden.32 Aber auch urbane Rentnerräte engagierten sich in diesem Bereich. So rief etwa der Stadtrentnerrat von Krasnokamsk (Gebiet Perm’) im Jahr 1958 dazu auf, während der Saatkampagnen für einige Tage lang in den nahe gelegenen Kolchosen mitzuhelfen.33 Und aus den 1960er Jahren sind Beispiele überliefert, in denen die Aktivisten in Sowchose und Kolchose gingen, für die der eigene Betrieb eine Patenschaft übernommen hatte. Einen entsprechenden Fall schilderte der Leiter der Sozialversorgung im Gebiet Sverdlovsk, Dolgunec, auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1962: 30
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Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 78. Die Zweimonatsfrist deutet darauf hin, dass diese „Hilfestellung“ entlohnt wurde. Seit 1958 war es möglich, die Altersrente ohne Abzüge weiter zu beziehen, wenn man nicht mehr als zwei Monate lang einer entlohnten Tätigkeit nachging. Siehe die entsprechende Erläuterung des Goskomtrud vom 24. April 1958 (Ochrana truda i social’noe strachovanie [1958], 1, S. 85). Vgl. auch Karavaev, Za dalތnejšee soveršenstvovanie, S. 76. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 2. Vgl. Bezuglov, Veterany truda, S. 7. Vgl. Petuchova ýunareva, Iniciativa, S. 10.
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„Der Rentnerrat des Ural-Aluminiumwerks [in der Stadt Kamensk-Ural’skij] vereinigt ungefähr 700 Arbeitsveteranen. Im vergangenen Jahr haben sich die Direktion und die gesellschaftlichen Organisationen mit der Bitte an den Rentnerrat gewandt, den Werktätigen des Patensowchos von Kolþedan beim Kartoffel- und Gemüseanbau behilflich zu sein. Die Rentner reagierten auf diesen Vorschlag und nahmen an der Kartoffel- und Gemüsepflanzung teil. Besonders aktiv beteiligten sich die Rentner während der Erntekampagne. In den Sowchosabteilungen ernteten sie 27 ha Gemüse, 5 ha Kartoffeln und 4 ha Kohl. Insgesamt leisteten die Arbeitsveteranen mehr als 2.500 Arbeitertage.“34
Zurück zu den Sektionen: Eine Überwachungsfunktion, die keinen direkten Bezug zu den betrieblichen Abläufen besaß, übten die „Sektionen für gesellschaftliche Kontrolle“ (sekcii obšþestvennogo kontrolja) aus. Ihre Mitglieder inspizierten im Auftrag von städtischer Verwaltung und Gewerkschaftskomitees Kantinen, Büfetts und Geschäfte.35 Fanden sie heraus, dass man nicht sauber genug arbeitete oder Produkte minderer Qualität verkaufte bzw. zubereitete, so gaben sie die Informationen an die zuständigen Stellen weiter. Auf diesem Wege suchte man auch zu verhindern, dass die Angestellten Waren veruntreuten oder die Kunden betrogen, indem sie ihre Produkte falsch bewerteten oder Nahrungsmittel verkauften, deren Haltbarkeit überschritten war.36 So fand etwa eine derartige Sektion in Astrachan’ heraus, dass in einzelnen Geschäften defekte Waagen mit veralteten Prüfzeichen verwendet wurden, Preisschilder fehlten und Waren falsch einsortiert worden waren. Infolge dieser Untersuchung wurde zudem ein Kioskverkäufer, der verdorbenes Fleisch verkauft hatte, entlassen.37 Als Objekte der „gesellschaftlichen Kontrolle“ dienten allerdings auch Einrichtungen wie Wohnheime, Krankenhäuser oder Kindergärten.38 34
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GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 87. Vgl. auch ebd., F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 63. Es ist davon auszugehen, dass diese Form des „Rentnerengagements“ in vielen Fällen ebenfalls entlohnt wurde. Wie in Abs. 2.1.6.2. erwähnt, war Rentnern 1961 mit der Regierungsanordnung vom 17. Juni 1961 Nr. 1833-r (siehe Kap. 2, Anm. 480) die Möglichkeit eingeräumt worden, befristete Arbeit in den Sowjet- und Kollektivwirtschaften zu übernehmen. Mancherorts wurden die erwirtschafteten Mittel in die Arbeit der Rentnerräte investiert. So finanzierte der Stadtrentnerrat von Mariinsk (Gebiet Kemerovo) 1962 mit Hilfe des Verdienstes aus der landwirtschaftlichen Tätigkeit seiner Aktivisten die Ausstattung eines ständigen Agitpunktes mit Spruchbändern zu den Beschlüssen des XXII. Parteitags der KPdSU und Informationspostern zur Rentengesetzgebung. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 159. Auch hier führte man eine Tätigkeit aus, die zu den zentralen Aufgaben der Gewerkschaftskomitees gehörten, welche zu diesem Zweck spezielle Unterabteilungen gründeten. Vgl. Brunner, Die Kontrolle, S. 99; Adams, Citizen Inspectors, S. 125130. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 104; F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 15. Vgl. auch Sovety pensionerov bolތšaja sila, S. 30. Vgl. Skromnye i slavnye dela, S. 20. Ein weiteres Beispiel für ein entsprechendes Engagement stellen die Rentneraktivisten der Stadt Tichoreck (Region Krasnodar) dar. 1958 bereits 18 Monate lang in diesem Bereich tätig, stellten sie angesichts der eigenen Erfolge mit einem gesunden Maß an Selbstbewusstsein fest: „Wir haben den Händlern die Hände von den Gewichten genommen.“ GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, l. 166. Vgl. auch ebd., d. 3706, l. 5; F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 15; d. 833, l. 11; Nikolaev, Snova v obšþem stroju, S. 15. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 24. Die Beschreibung der Inspektion eines Wohnheims für junge Arbeiter findet sich ebenfalls im Beitrag des Krasnodarer Vertreters auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1958. Krivenko schrieb hierzu: „Es hat Fälle gegeben, in de-
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Die „Sektionen für Siedlungskomfort“ (sekcii blagoustrojstva) deckten einen weiteren, als für das Rentnerengagement charakteristisch zu bezeichnenden Handlungsbereich ab: die Gestaltung der Nachbarschaft. Hierzu gehörten primär Maßnahmen zur Begrünung der städtischen Umgebung. Die Ehrenamtlichen pflanzten zu diesem Zweck z. B. Pappeln und Ahornbäume, Akazienbüsche und Blumen. Darüber hinaus fühlten sie sich nicht selten für die Sauberhaltung der Straßen und Plätze zuständig.39 Selbst vor größeren baulichen Maßnahmen machten die Sektionen nicht halt. Ihr Hauptaugenmerk galt dabei vor allem den jüngeren Generationen. So legte man etwa in der Umgebung von Jugendwohnheimen Rasenflächen an, errichtete und renovierte Spiel- oder Sportplätze. In Fällen wie dem des Rentnerrats der Siedlung Šartaš (Stadt Sverdlovsk) konnte dabei sogar auf fremde Mittel verzichtet werden. Der Vorsitzende der übergeordneten Bezirksorganisation stellte hierzu im Mai 1961 belobigend fest: „Dieser Rat hat [...] gemeinsam mit den Straßenkomitees der Siedlung einen guten Kinderspielplatz, der über alle nötigen Anlagen verfügt und sämtlichen Bauvorschriften entspricht, neu errichtet. Zu diesem Zweck hat er keine einzige Kopeke aus unserem Budget benötigt. Alles wurde auf ehrenamtlicher Grundlage errichtet. Um die Baumaterialien bat man sechs verschiedene Organisationen [...]. Die Arbeitskraft war kostenlos, d. h., sie wurde von den Rentnern der Siedlung gestellt. Für den Bau des Platzes wurden insgesamt 655 Arbeiterstunden geleistet, davon 522 (80 %) von Rentnern und 133 (20 %) von anderen Bürgern der Siedlung. [...] Von diesem Rat wird bereits ein zweiter Kinderspielplatz für dieselbe Siedlung geplant, der im Sommer des nächsten Jahres gebaut werden soll.“40
Die „Sektionen für kulturelle Massenarbeit“ (kul’turno-massovye sekcii) setzten sich für die „kulturvolle Freizeitgestaltung“ ein, die auch einem Aufgabenschwerpunkt der betrieblichen Gewerkschaftskomitees entsprach, welche „Rote Ecken“, Büchereien und Kulturhäuser betrieben.41 Hier widmeten sich die Rentner zum einen der politischen Aufklärung und Erziehung der Bevölkerung, indem sie zu Vortragsabenden luden, auf denen über als wichtig verstandene politische Ereignisse referiert wurde. Im Jahr 1962 hatte so etwa der Mariinsker Rentnerrat im örtlichen
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nen Kommissionen für kulturelle und Lebensbedingungen aus Rentnern gebildet wurden. Diese überprüften, wie die jungen Kaderarbeiter leben, und stellten fest, dass sie schlecht lebten. Man erstellte eine Liste mit den notwendigen Dingen, die für die Schaffung eines normalen Lebens angeschafft werden mussten. Zuerst stritten die leitenden Wirtschaftsfunktionäre darüber, ob sich der Besitz dieser Dinge lohnt, aber unter der Einwirkung der Rentner aus den Reihen der alten Kaderarbeiter wurden die Wohnheime in Ordnung gebracht.“ GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, l. 167. Im Sverdlovsker Kirov-Bezirk wurden so z. B. im Zeitraum November 1959 bis November 1960 3.055 Zierbäume, 57.760 Büsche verschiedener Art und 88.800 Blumen gepflanzt, was allerdings dem Vorsitzenden des Bezirksrentnerrats zufolge ein hinter den Erwartungen zurückbleibendes Ergebnis darstellte. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 72. Vgl. auch ebd., d. 833, l. 65; GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 80. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, ll. 7273. Vgl. auch ebd., d. 780, l. 49; d. 872, l. 8; Sovety pensionerov bolތšaja sila, S. 30; Ljudi našich dnej, S. 52. Vgl. Anweiler, Erziehungs- und Bildungspolitik, S. 128. Allgemein zur betrieblichen Kulturarbeit der sowjetischen Gewerkschaften vgl. Schuhmann, Macht die Betriebe, S. 275; Sane, Workers ތControl, S. 105106; Iljin, Die kulturelle Aufklärungsarbeit.
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Haus der Kultur 27 Vorträge organisiert, in denen die Entscheidungen des XXII. Parteitags der KPdSU vermittelt worden waren und an denen jeweils 400–500 Menschen teilgenommen hatten.42 Einen ähnlichen Schwerpunkt setzte auch der Rentnerrat der Stadt ýkalovsk (Gebiet Gor’kij), der im selben Jahr Vorlesungen zu den folgenden Themen anbot: „Über die internationale Lage; über den Entwurf des Programms der KPdSU; über die Beschlüsse des XXII. Parteitags der KPdSU; über den Luftschutz; über V. I. Lenin [...].“43 Richteten sich solche „Informationsangebote“ an die Allgemeinheit bzw. die örtliche Rentnerschaft, so konzentrierte sich das Engagement der „Sektionen für kulturelle Massenarbeit“ ebenfalls auf die Jugend, die ein weiteres Mal von den Erfahrungen der Älteren profitieren sollte. Dementsprechend organisierte man spezielle Veranstaltungen, auf denen Zeitzeugen ebenso vom Aufbau des Sowjetsystems berichteten wie über den Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg. Gern gesehen waren zudem Berichte über persönliche Begegnungen mit den Größen der Vergangenheit, wie sie beispielsweise vom Rat der Arbeitsveteranen des Moskauer Vladimir-Il’iþ-Werks beschrieben wurden: „In den Abteilungen des Werks wurden Konversationen mit jungen Arbeitern über die Oktoberrevolution, über Erinnerungen an V. I. Lenin und andere Themen geführt. Die Gespräche führten Reitergardisten, die am bewaffneten Aufstand teilgenommen hatten: die Genossen I. I. Kalaþev, A. U. Uvarov, Budanov und N. Ja. Ivanov. Letzterer war einmal Vorsitzender einer Versammlung, auf der V. I. Lenin im Jahr 1938 [sic!] auftrat, und hat persönlich die Sozialrevolutionärin Kaplan verhaftet, die einen Mordanschlag auf V. I. Lenin verübt hatte.“44
Die Funktion dieser Sektionen lässt sich jedoch nicht auf die bloße Kommunikation von regimekonformen Ideologieinhalten oder die Vermittlung des offiziellen Geschichtsverständnisses reduzieren. Sie trugen auch zur Unterhaltung ihrer Klientel bei. So organisierten die Ehrenamtlichen Kino- und Konzertaufführungen, gründeten Chor- und Theatergruppen, in denen die älteren Bürger selbst mitwirken konnten, und verteilten bisweilen Lottoscheine oder abonnierten Zeitungen und Zeitschriften für die Rentner.45 Ebenso veranstalteten sie Ausflüge, die mit
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GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 158. Eine Beschreibung dieses Aspekts der Rentnertätigkeit findet sich auch in einem drei Jahre zuvor anlässlich des XXI. Parteitags verfassten „Appell[s] der Teilnehmer der Gebietskonferenz an alle Ruheständler und Arbeitsveteranen des Sverdlovsker Gebiets“: „Nehmt aktiv an allen gesellschaftlichen und politischen Kampagnen teil. Es ist unsere Pflicht, der Bevölkerung [...] die historischen Entscheidungen des [...] Parteitags der Kommunistischen Partei, das auf diesem entwickelte grandiose Programm zum Aufbau des Kommunismus zu erklären.“ GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 54. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 872, l. 10. Vgl. auch ebd., d. 833, l. 5. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 15. Andere Persönlichkeiten der Kommunistischen Partei, von denen bei ähnlichen Gelegenheiten erzählt wurde, waren beispielsweise G. K. Ordžonikidze, N. K. Krupskaja, S. M. Kirov und F. E. Dzeržinskij. Vgl. hierzu Pensioner ne þelovek v otstavke!, S. 6; Strumilovskij, Rajonnyj sovet, S. 48. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, ll. 56. Dass diese Unterhaltungsangebote vom Bildungsauftrag der Sektionen nicht immer klar zu trennen waren, deutet Kulikov, Sovet pensionerov, S. 12, an. Ihm zufolge halfen solche Kino- oder Konzertabende „dem Rat, eine reguläre Verbindung mit den Rentnermassen aufrechtzuerhalten und die erzieherische Arbeit durchzuführen“. Um die älteren Menschen für Vorträge über Lenin oder den Parteitag zu
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
der Besichtigung von Museen, als interessant empfundenen Betrieben, Planetarien und landwirtschaftlichen Ausstellungen oder mit ausgedehnten Waldspaziergängen einhergingen.46 Einen direkten Bezug zur Lebenswirklichkeit der älteren Menschen selbst wiesen auch die Aktivitäten der „rentenrechtlichen Sektionen“ (pensionno-pravovye sekcii) auf, die sich in ähnlicher Weise um die Unterstützung der Organe der Sozialversorgung und die Aufklärung der Bürger verdient machen sollten wie die gewerkschaftlichen Rentengruppen. Dabei stützten sich Sektionen wie jene des für den Sverdlovsker Kirov-Bezirk zuständigen Rentnerrats nicht nur auf ehemalige Juristen, sondern ebenfalls auf noch erwerbstätige Rechtsberater. Man bot zum einen Gesprächsabende über rechtliche Fragen an; zum anderen wurden in einigen Gegenden des Bezirks Beratungsdienste eingerichtet, in deren Rahmen die Ehrenamtlichen sowohl für individuelle Konsultationen zur Verfügung standen als auch Eingaben und Beschwerden verfassten. Dies war etwa dann der Fall, wenn sich herausstellte, dass bei der Bearbeitung eines Rentenantrags oder der betrieblichen Ausstellung der notwendigen Dokumente ein Fehler unterlaufen war.47 Davon abgesehen unterstützten derartige Sektionen die Sozialbürokratie ganz direkt, indem sie den Antragstellern etwa bei der Zusammenstellung der Unterlagen oder bei der Auffindung und Vorladung von Zeugen behilflich waren.48 Desgleichen übernahmen auch sie Kontrollfunktionen, wenn sie z. B. die Betriebe der Umgebung besuchten, um die korrekte Führung der Arbeitsbücher zu überprüfen.49
7.2.1. Die Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen Lässt sich feststellen, dass die Aktivitäten der „rentenrechtlichen Sektionen“ der Entlastung der personell unterbesetzten Organe der Sozialversorgung dienten, so trifft dieser Sachverhalt nicht minder auf die Arbeit der „Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen“50 (žilišþno-bytovye sekcii) zu. Zumindest in der Theorie gehörte es zu den Verpflichtungen der örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung, sich über den Versorgungsbedarf der Rentner zu informieren, und dort, wo dies notwendig war, nach Möglichkeit für eine Befriedigung desselben zu sorgen.
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mobilisieren, bedurfte es augenscheinlich eines Zerstreuungsanreizes. Vgl. auch GARF, F. R 5451, op. 29, d. 872, l. 10; Strumilovskij, Sovet veteranov, S. 28. Vgl. z. B. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, ll. 2, 16 u. 23; d. 872, l. 9; d. 920, l. 17; Kulikov, Sovet pensionerov, S. 12. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 79; F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 159. Vgl. Petuchova ýunareva, Iniciativa, S. 10; Bolތšaja obšþestvennaja sila, S. 5. Vgl. Stoljarov, Samodejatel’nye organizacii, S. 33. Hier wird zusammenfassend von den „Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen“ gesprochen. Die Uneinheitlichkeit der Ratsstrukturen brachte es jedoch mit sich, dass ein Teil der in diesem Zusammenhang genannten Aufgaben (die Gewährung materieller Hilfen) mancherorts von gesonderten „Sektionen für die Sozialversicherung“ (sekcii social’nogo strachovanija) übernommen wurde, während den Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen vor allem die Wohnungsreparatur und -beschaffung oblag. Vgl. z. B. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, ll. 3940.
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Hierfür fehlten freilich die erforderlichen Kapazitäten, und so lag es nahe, „als beste Helfer in dieser Angelegenheit die Rentnerräte“ zu betrachten.51 Die Sektionsmitglieder machten es sich zur Aufgabe, die im Einflussgebiet des jeweiligen Rates wohnhaften Rentner zu Hause zu besuchen und zu eruieren, inwiefern sie der Hilfe von außen bedurften. Mancherorts nahmen sich die Ehrenamtlichen dabei vor, in einem bestimmten Zeitraum sämtliche Rentner aufzusuchen. In anderen Fällen wurde man stattdessen erst dann aktiv, wenn die betreffenden Personen dem Rat gegenüber eine Unterstützung beantragt hatten.52 Sicherlich besaßen solche Hausbesuche mitunter eine Kontrollfunktion, finden sich doch Beispiele, in denen sie der Auffindung von Rentnern dienten, die heimlich einer Erwerbstätigkeit nachgingen und dadurch staatliche Mittel hinterzogen.53 In vielen der in den Quellen beschriebenen Beispiele bemühten sich die Aktivisten jedoch sichtlich um eine Besserung der Lebenssituation von notleidenden Arbeitsunfähigen. Hierzu zählten neben kranken und alleinstehenden Altersrentnern freilich ebenso Invaliden- und Kriegsinvalidenrentner wie auch Bürger, die keinerlei Rentenanspruch geltend machen konnten. Gerade ihr Engagement im Dienste von Menschen, die keine ausreichenden Zuwendungen von staatlicher Seite erhielten, begründet die besondere Relevanz der Rentnerräte: Mit den äußerst bescheidenen Mitteln, über die sie verfügten, fungierten diese Formationen als Ausfallbürgen für die Defizite der sowjetischen Sozialpolitik. Erschwert wurde das diesbezügliche Engagement natürlich dadurch, dass sie über keine eigenen Ressourcen verfügten. Zwar gibt es Beispiele dafür, dass einzelne Rentnerräte die Gründung von Kassen für die gegenseitige Hilfe förderten, aus deren freiwilligen Mitgliedsbeiträgen für Unterstützungsleistungen aufgekommen werden sollte. Hierbei scheint es sich jedoch um Ausnahmen gehandelt zu haben.54 In der Regel mussten alle Leistungen, die die Sektionen zur Verfügung stellten, andernorts erbeten werden. Die Ehrenamtlichen zeigten diesbezüglich Initiative und brachten – wie z. B. im Sverdlovsker Kirov-Bezirk – „ihr Anliegen dort vor, wo es notwendig war; und mit Hilfe der Bezirksabteilung der Sozialversorgung und auch der Gewerkschafts-, Wirtschafts- und anderer gesell51 52
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Zacharov Karaseva, Tam, gde rabotajut tvorþeski, S. 17. Im Statut des bei dem Moskauer Kombinat „Trechgornaja manufaktura imeni F. Ơ. Dzeržinskogo“ eingerichteten Ältestenrats heißt es diesbezüglich: „Der Ältestenrat führt seine Sitzungen durch, auf denen er die Vertreter der Gruppen [d. i. Sektionen; L. M.] und die Rentner, die in seinem Auftrag an der Arbeit des Rats teilnehmen, anhört. Er prüft die von den Rentnern gestellten Anträge auf Verbesserung ihrer Wohn- und Lebensbedingungen, auf materielle oder eine andere Unterstützung. Er setzt sich bei den entsprechenden Organisationen im Betriebsbereich für die Rentner ein, im Auftrag des [gewerkschaftlichen] Fabrikkomitees auch außerhalb des Betriebs.“ GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 27. Vgl. auch ebd., ll. 13 14. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 104; Dolgov, Ob uþastii, S. 46. Ein Beispiel für ein solches Vorgehen boten die Rentner des Waggonbauwerks von Kalinin, die die freiwillige Zahlung von Mitgliedsbeiträgen in einer Höhe von 2 R beschlossen. Dieser Praxis wurde jedoch bereits 1959 ein Ende gesetzt, als sich die Betriebsleitung dafür entschied, regelmäßig Mittel für die Gewährung von Hilfsleistungen zur Verfügung zu stellen. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 4. Vgl. auch CAOPIM, F. 3669, op. 1, d. 2, l. 54.
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schaftlicher Organisationen wurde eine positive Lösung in diesen [...] wichtigen Fragen erreicht“.55 Dass man mit einem derartigen Engagement vor allem die Armen unter den Arbeitsunfähigen adressierte, geht beispielsweise aus dem Protokoll einer im Mai 1961 einberufenen Versammlung der Vorsitzenden von Rentnerräten und Gewerkschaftskomitees des Sverdlovsker Gebiets [im Folgenden: Sverdlovsker Gebietskonferenz] hervor. Der Beitrag eines Mannes namens Zubkov, der den Rentnerrat des Trusts Tagilstroj vertrat, verdeutlicht, dass man sich auch bei Einrichtungen des Gesundheitswesens um Unterstützung bemühte: „Die Sektion für Wohn- und Lebensbedingungen beschäftigt sich in der Hauptsache mit dem Alltagsleben der Rentner und Alten. Unter den Alten gibt es ebenfalls Leute, die keine Rente erhalten. [...] 1961 kamen bei uns zwei solcher Fälle zutage. Der eine Mann ist 62 Jahre alt; er hat keine Rente bezogen und von dem gelebt, was man ihm gab. Wir gehören nicht zur Bezirksabteilung der Sozialversorgung, so dass wir einen Vertrag mit einer Psychiatrie geschlossen haben, die ihm eine Fürsorgeleistung in Höhe von 25 R [...] zahlt. Weil dieser Mann nicht richtig im Kopf ist, händigen wir ihm das Geld nicht aus; stattdessen gebe ich es einem Geschäft, und dort holt er sich jeden Tag Lebensmittel für 70–80 Kopeken ab. Nun der zweite Fall: Eine alte Mutter bekommt keine Rente, der Sohn ist so etwas wie ein Epileptiker, aber eine Invalidität ist nicht festgestellt worden. Die beiden gingen so weit, dass sie buchstäblich alles verkauften und auf dem nackten Boden schliefen. Die Mutter ging betteln. Wir haben ihm eine Invalidenrente und der Mutter eine gewöhnliche Beihilfe56 in Höhe von 10 R besorgt. Dann haben wir dem zuerst erwähnten psychisch Kranken kostenlos Bett- und Leibwäsche, der Mutter und dem Sohn Bettwäsche gegeben.“57
Meist waren es allerdings die Betriebe oder deren Gewerkschaftskomitees, die den Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen einen Teil ihrer Mittel für soziale Zwecke überließen.58 Die auf diesem Weg geleistete Unterstützung nahm sehr verschiedene Gestalt an. Eine von den bedürftigen Empfängern sicherlich bevorzugte Form der Hilfe bestand in der Vermittlung von monetären Beihilfen. Manche Ehrenamtliche fanden belobigende Worte für die entsprechende Unterstützung ihrer Arbeit durch die Betriebe und Gewerkschaftskomitees. So hoben etwa Vertreter des zum Verch-Isetsker Hüttenwerk (Gebiet Sverdlovsk) gehörenden Rentnerrats hervor, dass die Finanzierung der materiellen Hilfsleistungen für Bedürftige ihre Autorität nachhaltig gestärkt habe. Gleichzeitig unterstrichen sie jedoch auch den Vorteil, den ihr eigenes Engagement besaß. Es habe sich gezeigt, dass niemand mit der tatsächlichen Situation der älteren und arbeitsunfähigen Menschen besser vertraut sei als die Rentnerräte: „Das Werkkomitee der Gewerkschaft hat den Rat beauftragt, den Rentnern des Werks Fürsorge sowie alle Formen der Hilfe zukommen zu lassen, und ihm eine Obergrenze in Höhe von 12.000 R* für die Gewährung von materieller Unterstützung gesetzt. Das ist mehr, als irgendeiner der Werksabteilungen zur Verfügung steht. Außerdem hat die Werksadministration noch einmal 6.000 R* für dieselben Ziele beigesteuert. [...] Nun wenden sich die Rentner im Falle irgendwelcher Komplikationen in ihrem Leben in erster Linie an den Rentnerrat. Dieser 55 56 57 58
GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 69. Gemeint ist hier die aus den örtlichen Haushalten finanzierte monatliche Beihilfe für Nichtrentenberechtigte. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, ll. 5556. Vgl. auch ebd., d. 833, l. 249. Vgl. z. B. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, ll. 4, 22 u. 39; d. 833, l. 12; d. 835, l. 14.
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führt mit Hilfe seines Aktivs eine Untersuchung der materiellen und sozialen Umstände durch, und in Abhängigkeit von deren Ergebnissen entscheidet er über die Gewährung [...] einer Unterstützung für den Rentner. Der Rat ist gut über die Lebensbedingungen des Rentners informiert, und das gestattet es, mögliche Fehler zu umgehen [...].“59
Im Falle des auf der Ebene des Sverdlovsker Železnodorožnyj-Bezirks operierenden Arbeitsveteranenrats vermittelt sich auch ein Eindruck von der Verbreitung und der Höhe solcher Zuwendungen. Im Zeitraum Oktober 1959 bis Oktober 1960 hatte dessen Sektion für Wohn- und Lebensbedingungen die häuslichen Umstände einer Vielzahl von Rentnern untersucht und schließlich insgesamt 176 Personen materielle Hilfen in einer Höhe von 2.750 R verschafft. Die durchschnittliche Betragshöhe – 15,63 R – vermag allerdings nicht zu beeindrucken und legt zudem nahe, dass es sich hier meist um einmalige Zuschüsse handelte.60 Dafür, dass ein solches Leistungsniveau keine Ausnahme darstellte, spricht die Tatsache, dass andere Rentnerräte ähnliche Zahlen nannten: So bezogen im zu derselben Stadt gehörenden Kirov-Bezirk 653 Rentner materielle Hilfen in einer durchschnittlichen Höhe von 12,68 R.61 Etwas höhere Geldhilfen konnten die Sektionsmitglieder des Novotrubnyj-Werks in Pervoural’sk (Gebiet Sverdlovsk) vermitteln, die in den Jahren 1959 und 1960 142 Personen Unterstützungsleistungen von im Schnitt 21,16 R verschafften.62 Und auch im Automobilwerk von Gor’kij lagen die von der dortigen žilbytovaja komissija 1962 organisierten Zuwendungen in der Regel bei 20–30 R.63 Zahlungen dieser Art vermochten die Situation von Menschen, deren Lebensunterhalt nicht gesichert war, kaum nachhaltig zu verbessern. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass dann, wenn die geringen, von den Betrieben und Ge59
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GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 27. Darüber hinaus finanzierten manche Betriebsleitungen ebenso die Durchführung von Rentnertreffen und stellten gratis Büromaterialien und Briefmarken zur Verfügung. Vgl. hierzu GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 4. Dass die partielle Übertragung der Zuständigkeit für die Unterstützung Hilfsbedürftiger an die Rentnerräte mit Vorteilen verbunden war, unterstrichen auch Gewerkschaftsfunktionäre. So konstatierte die Vorsitzende des Uralobuv’-Fabrikkomitees, Efimova, im Mai 1961: „Um materielle Hilfe zu erhalten, stellen die Rentner ihre Anträge unmittelbar beim Rentnerrat. Dies geschieht aus dem Grund, dass sich die Abteilungsgewerkschaftsleitung der Angelegenheit nur formal nähert. Sie sagt, dass ihr Limit aufgebraucht sei, und gibt nur 10 R. Der Rentnerrat aber beschäftigt sich aufmerksam mit dieser Sache und stellt fest, dass eine Hilfe in Höhe von 25–30 R notwendig ist.“ GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 61. Der Anteil der in dieser Weise Bedachten an der Gesamtzahl der Rentner variierte in Abhängigkeit von dem jeweiligen Betrieb zwischen 3,7 % und 46,3 %. Auch die Höhe der bewilligten Unterstützungen fiel unter denselben Vorzeichen überaus unterschiedlich aus. Der niedrigste Durchschnittsbetrag lag bei 10,03 R, der höchste bei 50,77 R. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 45. Der Wert bezieht sich auf den Zeitraum November 1959 – November 1960. Vgl. ebd., l. 71. Vgl. ebd., l. 80. Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 74. Unions- oder republikweite Angaben zu den von den Betrieben und Gewerkschaften finanzierten Geldhilfen für bedürftige Rentner liegen nicht vor. Lediglich bei Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 78, findet sich der Hinweis, dass die Gewerkschaftsorganisationen des Gebiets Novgorod – vermutlich innerhalb eines Jahres – 29.800 R für einmalige Beihilfen bereitgestellt hätten.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
werkschaftskomitees für die Unterstützung der Bedürftigen vorgesehenen Gelder einmal aufgebraucht waren, auch Personen, die sich in einer akuten Notlage befanden, vollständig leer ausgingen.64 Die Hilfen der Rentnerräte besaßen jedoch nicht allein eine monetäre Dimension, sondern umfassten darüber hinaus auch eine ganze Reihe von Sach- und Dienstleistungen. Zu ihnen gehörte die Bereitstellung von Heizmaterial für als besonders bedürftig eingestufte alte und invalide Bürger. Hierbei handelte es sich um eine wichtige Leistung, da viele Rentner – ebenso wie weite Teile der übrigen Bevölkerung – noch nicht in einer mit Zentralheizung ausgestatteten Unterkunft wohnten.65 Die Dringlichkeit, die das Problem noch im Jahr 1963 kennzeichnete, geht aus den Briefen hervor, die betroffene Rentner an den Präsidiumsvorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR sandten. Besonders häufig trafen entsprechende Schreiben aus der RSFSR und der Ukrainischen SSR ein, was Brežnevs Empfangszimmer veranlasste, einen speziellen Bericht zu dieser Frage zu erstellen. Hier wurde auch der Brief einer Gruppe von Rentnern aus dem Gebiet Belgorod aufgeführt, die sich in charakteristischer Weise als Angehörige der Anspruchsgemeinschaft präsentierten: „Wir, die wir unser ganzes Leben, mehr als 40–50 Jahre lang, gearbeitet haben, entbehren jeder Möglichkeit, Heizmaterial für die Winterperiode zu erhalten. [...] Dass die örtlichen Organisationen uns gegenüber eine derart unaufmerksame Haltung zeigen, kränkt uns.“ Eine Untersuchung ergab, dass die Beschwerden berechtigt waren und dass nicht nur Privatpersonen unter diesem Mangel litten, sondern ebenso Schulen, Krankenhäuser und andere Einrichtungen.66 Dort jedoch, wo Heizmaterial ausreichend vorhanden war, stellte seine Anschaffung für ältere und invalide Menschen, die nur über geringe Mittel verfügten, eine zusätzliche finanzielle Belastung dar,67 die als solche von Teilen des Regimes auch anerkannt wurde.68 64
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Vgl. hierzu z. B. das auf den 19. Mai 1961 datierte Schreiben des Rentnerratsvorsitzenden des A. K. Serov-Hüttenkombinats, Vorob’ev, an das zuständige Gebietsgewerkschaftskomitee: „Das Gewerkschaftskomitee hat in seinem Budget eine gewisse Summe vorgesehen, die der Rat für bedürftige Rentner ausgeben kann, etwa 75 R im Monat [...]. Gleichwohl gibt es Fälle, in denen die Entscheidungen des Rates über die Gewährung von Hilfen für Rentner nicht umgesetzt werden, da der Etat aufgebraucht worden ist.“ GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 88. Vgl. Eaton, Daily Life, S. 158. Laut K. M. Gerasimov, Gosplan-Vorsitzender der RSFSR, zeichnete eine Reihe von Faktoren für dieses Defizit verantwortlich: der erhöhte Verbrauch im vorangegangen langen Winter von 1962/63; hinter dem Plan zurückbleibende Heizmateriallieferungen; Beschränkungen bei der Ausgabe von Stroh an die Bevölkerung. Die Mitarbeiter des Empfangszimmers kritisierten zudem, dass der Umfang der Kohleförderung nicht auf den in der Bevölkerung und bei kulturell-sozialen Einrichtungen herrschenden Bedarf hin abgestimmt worden sei. Vgl. GARF, F. R 7523, op. 83, d. 346, ll. 195196. Vgl. GARF, F. R 9553, op. 1, d. 2618, l. 185. So sprach sich etwa der Ministerrat der Lettischen SSR im Dezember 1970 dafür aus, dass alleinstehenden Rentnern, die entweder eine Mindestrente oder eine monatliche Beihilfe für Nichtrentenberechtigte bezogen, Brennholz für einen um 50 % ermäßigten Preis erhielten. Vgl. RGAƠ, F. 7733, op. 63, d. 501, l. 14. Dieser Vorschlag konnte sich gegenüber dem Goskomtrud nicht durchsetzen: In einer Stellungnahme konstatierte I. V. Goroškin, dass es
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Die Rentnerräte reagierten auf die fehlenden Möglichkeiten der Bedürftigen zur Anschaffung des Heizmaterials und setzten sich dafür ein, dass das – abermals meist aus betrieblichen und gewerkschaftlichen Etats finanzierte – Holz die richtigen Adressaten erreichte. 1959/60 versorgten die Organisationen des Sverdlovsker Kirov-Bezirks dergestalt 350 Menschen mit Heizstoffen.69 In ähnlicher Weise konnte der Alapaevsker Rat der Arbeitsveteranen 1960 insgesamt 203 m³ Holz kostenlos bereitstellen und zudem die örtliche Abteilung für Wohn- und Kommunalwesen (ŽKO) dazu bewegen, weitere 500 m³ gegen Barzahlung zu liefern. Für den Transport dieser Menge, so der stellvertretende Ratsvorsitzende Maslov, seien 68 Autofahrten notwendig gewesen.70 Im Rahmen der von Sektionsmitgliedern durchgeführten Hausbesuche wurde den kranken und den aufgrund ihrer Altersgebrechlichkeit oder körperlichen Behinderung auf fremde Unterstützung angewiesenen Personen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. In einer Reihe von Fällen vermittelte man ihnen, sofern sie denn nach Meinung der Ehrenamtlichen nicht mehr für sich selbst sorgen konnten, einen Platz in einem Alten- oder Invalidenheim.71 Betreut wurden Hilfsbedürftige aber auch in ihrer häuslichen Umgebung. Ein Beispiel hierfür stellt das in der Social’noe obespeþenie geschilderte Engagement der Aktivisten eines im Moskauer Sovetskij-Bezirks gegründeten Rentnerklubs dar: „Der Rentnerin T. S. ýernyševa war bekannt geworden, dass im Haus Nr. 11 an der Ersten Brester Straße eine alleinstehende, 70-jährige blinde Greisin wohnt. Bei einem Besuch erkannte die Genossin ýernyševa, dass die alte Frau wirklich allein und hilflos war: Das Zimmer war ungeheizt, Brennholz nicht vorhanden und niemand da, um welches zu bringen. Die ýernyševa setzte sich mit der Komsomolgruppe der 128. Schule in Verbindung. Die Komsomolzen der 10. Klasse ,B[ ދ...] kamen [daraufhin], um der blinden Rentnerin zu helfen. Die Komsomol-Mädchen brachten das Zimmer in Ordnung und putzten es, sie wuschen die Greisin und zogen ihr frische Kleidung an, sie reinigten die Bettwäsche. Auch kauften und beschafften die Komsomolzen Brennholz, zersägten und spalteten es, heizten den Ofen. Die Komsomolzen übernahmen die Patenschaft über die Greisin und versprachen, ihr regelmäßig zu helfen.“72
Bestand die Leistung der ehrenamtlichen Rentnerin hier vor allem in der Feststellung des Unterstützungsbedarfs sowie der Hinzuziehung der kommunistischen Jugendorganisation, so übernahmen die Aktivisten in anderen Fällen selbst Betreuungs- und Pflegeaufgaben. Zu verweisen ist hier etwa auf die Freiwilligen des ýkalovsker Stadtrentnerrats, die eine Bürgerin namens Kokorina nicht nur gratis mit Matratze, Kissen, Bettdecke und -wäsche versorgten, ihr Zimmer in Ordnung
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zweckdienlicher sei „die Verbesserung der materiellen Versorgung der Rentner [...] über die Anhebung ihrer Renten zu verwirklichen“. Ebd., l. 12. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 71. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 12. Andere Beispiele für das Engagement der Räte auf diesem Gebiet finden sich in: ebd., l. 64; F. R 5451, op. 29, d. 872, ll. 9 u. 11; d. 833, l. 63; ýernikov, Pervye šagi, S. 16; Kulikov, Sovet pensionerov, S. 13. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 22; d. 872, ll. 78; CAOPIM, F. 3669, op. 1, d. 2, l. 54. Nikolaev, Snova v obšþem stroju, S. 15.
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brachten und beheizten, sondern die gelähmte Frau zudem einmal im Monat wuschen.73 Für Kranke, Erholungsbedürftige und andere Rentner, denen man etwas Gutes zu tun bestrebt war, stand eine weitere Form der „Sozialleistung“ im Vordergrund: die Ausstellung von Berechtigungsscheinen (putevki) für den vergünstigten, seltener auch kostenlosen Aufenthalt in einem Sanatorium oder Ferienheim.74 Alters- und Invalidenrentnern konnten in dieser Frage allerdings nur jene Räte behilflich sein, die unter dem Dach einer Gewerkschaftsorganisation eingerichtet worden waren.75 Dort, wo es Berechtigungsscheine zu verteilen gab, agierten die Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen einmal mehr als ein verlängerter Arm der gewerkschaftlichen Komitees, die – bzw. deren Untereinheiten in den Betriebsabteilungen (cechkomy) – über die Vergabe der Erlaubnis entschieden.76 Der Einsatz der Ehrenamtlichen war hier nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil Personen, die aus dem Arbeitsleben ausgeschieden waren, von den Gewerkschaften selten mit einem Platz in einer solchen Einrichtung ausgestattet wurden: Häufig hatten Rentner den direkten Kontakt mit der nominellen Arbeitnehmervertretung ihres früheren Arbeitgebers verloren, und auch dort, wo dies nicht der Fall war, wurden sie oft nicht berücksichtigt. Auf der im Mai 1961 tagenden Sverdlovsker Gebietskonferenz benannte man offen die Ursachen für die Vernachlässigung. So hielt es der Vorsitzende des Werkkomitees der Maschinenfabrik Uralmašzavod, Ivanov, für eine allgemein bekannte Tatsache, dass die Abteilungsgewerkschaftsleitungen niemals Berechtigungsscheine für Rentner ausstellten. Würden diese um einen solchen bitten, so entgegne man ihnen: „Du erholst Dich doch auch so zu Hause.“77 Ivanovs Pendant von Uralobuv’, eine Frau na73
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Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 872, d. 11. Zu von Sektionsmitgliedern übernommenen Pflegetätigkeiten vgl. auch GARF, F. R 5451, op. 29, d. 974, l. 92; CAOPIM, F. 3669, op. 1, d. 2, l. 54. Voraussetzung für den Erhalt einer solchen Berechtigung war ein ärztliches Gutachten, das die Notwendigkeit einer gesundheitsförderlichen Behandlung feststellte. Vgl. Eaton, Daily Life, S. 181. Zwar verfügten auch die Ministerien für Sozialversorgung und ihre örtlichen Organe über ein gewisses, ihnen vom VCSPS überlassenes putevka-Kontingent, doch fiel dieses so bescheiden aus, dass es für die Kriegsinvaliden reserviert war. Einer Aufstellung zufolge, die G. M. Kapranov für die Kommission für das Gesundheitswesen und die Sozialversorgung des Obersten Sowjets der RSFSR erstellte, stand ein Berechtigungsschein im Schnitt für 18 Kriegsinvaliden zur Verfügung. Deshalb plädierte der Stellvertretende Minister 1959 dafür, dass man den VCSPS darum bat, auch für die nicht mehr erwerbstätigen Altersrentner Plätze in solchen Einrichtungen bereitzustellen. Vgl. GARF, F. A 385, op. 13, d. 1128, ll. 136137. Eine identische Haltung vertrat die Redaktion der Social’noe obespeþenie. Vgl. hierzu Sovety pensionerov bolތšaja sila, S. 32. Vgl. Rimlinger, The Trade Union, S. 414; Osakwe, Soviet Trade Union Organizations, S. 292. Beispiele für die Vermittlung von Berechtigungsscheinen durch die Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen finden sich u. a. in: GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 107; F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 13; d. 803, ll. 71 u. 87; d. 833, l. 27; d. 835, l. 48; d. 872, l. 9; Starye sormoviþi ne sidjat bez dela, S. 44; Kulikov, Sovet pensionerov, S. 13. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 60. Bei derselben Gelegenheit berichtete der Vertreter des Rentnerrats des Nižnij Tagiler Lenin-Hüttenkombinats, dass sein Gewerkschaftskomitee
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mens Efimova, unterstrich, dass die Rentnerorganisationen unter diesen Umständen die geeigneten putevka-Vermittler waren: „[...] diese Fragen müssen im Rentnerrat entschieden werden. Dem Gewerkschaftskomitee der Betriebsabteilung gibt man die Berechtigungsscheine doch, damit die Arbeiter in den Urlaub gehen. Natürlich kann es diese nicht den Rentner zuteilen. Aber wenn das Betriebskomitee einige Berechtigungsscheine für den Rentnerrat reserviert, dann werden sie den Rentnern auch gegeben werden.“78
Die Rentnerräte und ihre Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen übernahmen somit zweifelsfrei eine wichtige Funktion bei der Ermöglichung des Besuchs von Ferien- und Heileinrichtungen für Alters- und Invalidenrentner. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass die Kontingente der von den Gewerkschaften überlassenen putevki weit hinter dem tatsächlichen Bedarf zurückblieben. Zwar finden sich Tätigkeitsberichte, die darauf schließen lassen, dass in einem einzigen Jahr 8–12 % aller bei einem Rat registrierten Rentner mit einem Berechtigungsschein ausgestattet worden waren.79 Dies wird jedoch kaum der Normalfall gewesen sein: Da es bereits dem einfachen, keine Privilegien genießenden Erwerbstätigen in der Regel überaus schwer fiel, an eine solche Erlaubnis zu gelangen,80 muss davon ausgegangen werden, dass der durchschnittliche Rentnerrat nur über eine vergleichsweise geringe Anzahl dieser Scheine verfügte. Speziell die putevki für einen Sanatoriumsaufenthalt waren oft nur in geringer Zahl erhältlich.81 Ein weiteres wichtiges Aufgabenfeld der Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen war schließlich die – bereits in der Namensgebung angedeutete – Unterstützung der Rentner in Fragen der Wohnraumbeschaffung oder -renovierung. Eine solche war notwendig, da die sowjetische Wohnungspolitik die älteren und invaliden Bürger klar benachteiligte. Zwar war die Lage jener Personen, die über Wohnraum verfügten und an ihm festzuhalten gedachten, auch im Ruhestand gesichert: Der Rentenantritt wirkte sich für Personen, die z. B. eine von ihrem ehemaligen Arbeitgeber bereitgestellte Bleibe nutzten, folglich nicht negativ aus, da das Mietverhältnis weiterhin in Kraft blieb. Probleme ergaben sich aber dann,
78 79 80 81
zwar putevki für Alte und Arbeitsunfähige zur Verfügung stelle, „jedoch hauptsächlich in der Winterzeit, wenn sie auf den Berechtigungsscheinen sitzen bleiben. Erst gerade jetzt, als sie erfuhren, dass eine Brigade des VCSPS angekommen ist, haben sie uns zwei solcher Scheine gegeben.“ Ebd., l. 48. Ebd., l. 62. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, ll. 12 u. 22. Vgl. Ivanova, Na poroge, S. 238. Der Arbeitsveteranenrat des Alapaevsker Eisenhüttenwerks verteilte 1960 z. B. 89 Scheine für den Besuch eines Erholungsheims und lediglich drei für einen Sanatoriumsaufenthalt. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 12. Im Moskauer Vladimir-Il’iþ-Werk lag diese Ratio sogar nur bei 39:1. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 16. Wie viele Sowjetrentner sich insgesamt in entsprechenden Einrichtungen erholten bzw. therapieren ließen, kann hier nicht nachvollzogen werden. Laut Vinogradov Revuckaja, Problemy, S. 276, wurde 1968 in der RSFSR mehr als 35.000 Rentnern ein aus staatlichen Mitteln finanzierter Sanatoriums- oder Kuraufenthalt gewährt. Einer noch einmal ungefähr gleich hohen Anzahl soll diese Möglichkeit von den Gewerkschaftsorganisationen eingeräumt worden sein.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
wenn ältere Ehepaare oder alleinstehende Rentner ihre alte Unterkunft um einer neuen willen verlassen wollten. Um den Zuschlag für eine betriebliche Wohnung zu erhalten, hatte man sich auf eine Warteliste eintragen zu lassen, die von der Verwaltung des Betriebes sowie seinem Gewerkschaftskomitee zu bestätigen war und über die in der Folge das Exekutivkomitee des örtlichen Deputiertenrates zu informieren war.82 Auf eine solche Liste aufgenommen zu werden, fiel gerade den Rentnern in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre überaus schwer. Zum Nachteil gereichte ihnen auch in dieser Frage die Tatsache, dass sie in vielen Fällen den Kontakt zu den gewerkschaftlichen Komitees ihrer früheren Arbeitsstellen eingebüßt hatten. Generell konzentrierte sich deren Interesse vor allem auf die arbeitstätigen Kollegen.83 Darüber hinaus stellte die noch 1956 gültige Vorschrift, dass die betriebs- und behördeneigenen Wohnungen „Personen, die sich in einem Arbeitsverhältnis zu dem Betrieb, der Einrichtung oder der gesellschaftlichen Organisation“84 befanden, vorbehalten sein sollten, generell in Frage, ob hierzu ebenfalls die ehemaligen Arbeitskräfte zählten. Zum anderen waren die ab 1957 im großen Maßstab durchgeführten staatlichen Wohnungsbauprogramme generell von pronatalistischen Vorstellungen geprägt. Die Bevorzugung junger Kernfamilien bei der Zuteilung neuer, separater Unterkünfte machte es Alleinstehenden und Rentnern fast unmöglich, von den Fortschritten auf diesem Gebiet zu profitieren.85 Die Vernachlässigung der Alten und Invaliden bei der Wohnraumvergabe erreichte schließlich ein solches Ausmaß, dass die politische Führung zur Einleitung von – auf Republikebene realisierten – Gegenmaßnahmen genötigt war. So verabschiedete beispielsweise der Ministerrat der RSFSR am 7. März 1960 die Verordnung Nr. 322 „Über die Wohnraumversorgung von Personen, die die Arbeit im Zusammenhang mit dem Rentenantritt eingestellt haben“. Hier stellte man klar, dass auch Rentner, „die einer Verbesserung der Wohnbedingungen bedürfen, mit dem Wohnraum derjenigen Betriebe, Einrichtungen und Organisationen versorgt werden sollen, in denen sie früher gearbeitet haben, und zwar gleichberechtigt mit den Arbeitern und Angestellten dieser Betriebe, Einrichtungen und Organisationen“. Die Exekutivkomitees der örtlichen Sowjets sollten diese Gleichbehandlung kontrollieren und jene Rentner, für die keine betriebseigenen Unterkünfte zur Verfügung standen, aus dem eigenen Wohnfonds versorgen.86 Dass die Korrektur nicht gänzlich ohne Wirkung blieb, zeigt etwa das Beispiel der in Leningrad zentral für die Wohnraumverteilung zuständigen Behörde, die in der Folge auch alleinstehende und bis dato in Wohnheimen lebende Rentner auf ihren Wartelisten registrierte. Allerdings erhielten sie in der Regel keine Wohnungen, sondern lediglich größere Zimmer.87 82 83
84 85 86 87
Vgl. Skripko, Art. Vedomstvennaja žilaja plošþadތ. So konstatiert Motkov, Rajonnaja konferencija, S. 45: „Es ist kein Geheimnis, dass viele Gewerkschaftsorganisationen häufig jene vergessen, die die Produktion verlassen haben, und in erster Linie den Arbeitenden selbst Wohnraum [...] gewähren.“ Vgl. Baru, Žilišþnye prava, S. 18. Vgl. Harris, We Too Want to Live, S. 152. SP RSFSR, 1960, Nr. 11, Pos. 45. Vgl. auch Žilišþnye lތgoty pensioneram, S. 33. Vgl. Harris, We Too Want to Live, S. 154.
Die Tätigkeitsbereiche der Rentnerräte
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Vor dem Hintergrund der wohnungspolitischen Marginalisierung ihrer Klientel spielten die Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen eine gewichtige Rolle. Mittels der von ihnen durchgeführten Hausbesuche konnten sie eruieren, welche Personen am dringendsten einer neuen Unterkunft bedurften und sich auf dieser Grundlage bei dem Betrieb und seiner Gewerkschaftsorganisation um die Zuteilung der entsprechenden Wohnfläche bemühen. In Fällen wie dem des Rentnerrats der Glashütte von Irbit (Gebiet Sverdlovsk) konnte man das Engagement durchaus als erfolgreich einstufen: Hier belegten die vier innerhalb des Jahres 1961 von seinen Ehrenamtlichen organisierten und „unter den akut Bedürftigen“ verteilten Wohnungen, dass man ihn nicht in minderem Umfang bedachte als die einzelnen Betriebsabteilungen.88 Von einer funktionierenden Zusammenarbeit wusste auch der Rentnerratsvorsitzende des Automobilwerks von Gor’kij, Bogdanov, zu berichten. Auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1962 beschrieb er diese folgendermaßen: „[Die Unterabteilungen des Rentnerrats] arbeiten im engen Kontakt mit den Abteilungsgewerkschaftskomitees. Wenn sich die Frage der Versorgung [eines Rentners] mit einer Wohnung stellt, dann wird hier die gesamte vorbereitende Arbeit geleistet, und erst im Anschluss wird die Angelegenheit dem Abteilungskomitee vorgestellt, das sie wiederum der Kommission für Wohn- und Lebensbedingungen [des Betriebsgewerkschaftskomitees] präsentiert. So kommt es dazu, dass die Rentner in dieser Frage richtig versorgt werden.“89
Andere Beispiele zeigen jedoch, dass dem diesbezüglichen Engagement der Aktivisten oft enge Grenzen gesetzt waren. Die zuständigen Stellen kamen in solchen Fällen nicht oder nur unzureichend ihren Verpflichtungen zur Versorgung der Rentnerschaft nach. Im Sverdlovsker Kirov-Bezirk bemängelten die Mitglieder der Räte so z. B., dass das Exekutivkomitee des Bezirkssowjets der Wohnraumzuweisung an Rentner nur eine äußerst geringe Priorität beimesse: Obwohl im Berichtszeitraum zwanzig Rentnerfamilien auf der Warteliste gestanden hätten, seien nur fünf Personen mit einer Wohnung bedacht worden. Während man hier die Zuteilung von betrieblichen Unterkünften im Großen und Ganzen als gelungen erachtete,90 bezogen die Mitglieder anderer Rentnerräte ihre Kritik auch auf die Gewerkschaftsorganisationen. Wie schon im Zusammenhang mit der putevka-Vergabe weigerten sich speziell die auf der Ebene der Betriebsabteilungen agierenden Funktionäre nicht selten, ihre ehemaligen Kollegen bei der Wohnraumverteilung zu berücksichtigen. Im Rahmen der am 7. März 1961 tagenden Rentnerversammlung des Sverdlovsker Turbomotorenwerks kam das Ratsmitglied P. A. Erachtin auf diesen Sachverhalt zu sprechen und verwies dabei darauf, dass hier ein Widerspruch zu den gesetzlichen Normen vorliege, der die Tätigkeit der Sektionen immens erschwere:
88 89 90
Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 63. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, ll. 7475. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 71.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner „Ich spreche über die Arbeit der Kommission [d. i. der Sektion; L. M.] für Wohn- und Lebensbedingungen. 195991 hat die Verordnung des Ministerrats festgelegt, dass Leute, die die Rente angetreten haben, von denjenigen Einrichtungen Wohnraum erhalten sollen, in denen sie früher gearbeitet haben. Unser Werkkomitee hat das so verstanden, dass die Rentner in ihren [früheren] Abteilungen einen Antrag stellen sollen [...]. Wir haben 17 Anträge gestellt, aber niemand hat eine Wohnung erhalten, mit Ausnahme des Genossen Suslov aus der Werksabteilung 7. Das Problem wurde am 18. August im Parteikomitee besprochen, wo man entschieden hat, dass dem Rat Wohnraum zugeteilt werden soll. Man hat aber keinen zur Verfügung gestellt. [...] Sogar den denjenigen, die in einsturzgefährdeten Räumlichkeiten leben, hat man keine Wohnfläche gegeben. Wenn es sich so mit der Einstellung des Werkkomitees verhält, wie kann die Kommission für Wohn- und Lebensbedingungen dann arbeiten?“92
Die Tatsache, dass das Interesse älterer und invalider Bürger an einer Verbesserung ihrer Lebensumstände mitunter von den Betriebsleitungen und den Gewerkschaften missachtet wurde, wurde von diesen selbst bestätigt. So bewies der Vorsitzende des Werkkomitees von Uralmašzavod, Ivanov, abermals seine Bereitschaft zur kritischen Reflexion über die eigene Organisation, wenn er darüber sprach, wer in den einzelnen Abteilungen Wohnraum an Rentner verteilte: „Niemand natürlich. Selbst dann, wenn man den Leiter der Werkshalle und den Vorsitzenden des Abteilungskomitees mit der Pistole zwänge, würden sie den Rentnern keine Unterkunft zuteilen.“93 Da vielerorts nicht genügend Quadratmeter zur Disposition standen, um sämtlichen um eine Veränderung ihrer Wohnsituation bemühten Rentnern eine neue Bleibe zu organisieren, widmeten sich die Ehrenamtlichen der Sektionen häufig auch der Renovierung der alten Quartiere. Die hierfür notwendigen Finanzmittel erhielten sie abermals von dritter Seite, also von Gewerkschaften und Betriebsverwaltungen, von Bezirkswohnungsverwaltungen, wirtschaftsleitenden Organen und örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung.94
7.3. DIE ENTSTEHUNG DER RENTNERRÄTE IM SPANNUNGSFELD ZWISCHEN EIGENINITIATIVE UND EXTERNER MOBILISIERUNG Jeder der beschriebenen Tätigkeitsbereiche entsprach der Unterstützung, die die Organisationen der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit für die Exekutivkomitees der örtlichen Deputiertenräte, die Gewerkschaftsorganisationen etc. leisten sollten. In einem gewissen Sinne sind die Rentnerräte somit nicht zuletzt als Ergebnis einer Maßnahme zu begreifen, mit der das Regime versuchte, die Freizeitgestaltung seiner Bürger zu beeinflussen und für seine Ziele zu instrumentalisieren. Es führte allerdings zu kurz, die Räte auf diesen Tatbestand zu reduzieren und lediglich als 91 92 93 94
Gemeint ist hier wohl – trotz falscher Datierung – die Verordnung vom 7. März 1960 (siehe Anm. 86). GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 90. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 60. Vgl. z. B. CAOPIM, F. 3669, op. 1, d. 2, l. 54; GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, ll. 16 u. 28; d. 803, ll. 45 u. 71; d. 872, l. 9; Strumilovskij, Opirajas ތna aktiv, S. 18; ýernikov, Pervye šagi, S. 16.
Die Entstehung der Rentnerräte
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ein obrigkeitliches Konstrukt zu verstehen. Die eingangs formulierte These, dass es sich hier im Gegenteil um genuine Rentnerorganisationen handelte, deren Existenz auch den Bedürfnissen eines relevanten Teils der Anspruchsgemeinschaft selbst entsprach, wird nicht zuletzt durch die Tatsache gestützt, dass ihre Gründung vielerorts der Eigeninitiative zugeschrieben wurde. Ein häufig wiederkehrendes Motiv in Texten, in denen über die Schaffung von Rentner- und Arbeitsveteranenräten berichtet wurde, bestand dementsprechend in der Feststellung, dass sie sich auf den eigenen Wunsch der Rentner zurückführen lasse. Dies klingt in Tätigkeitsberichten wie dem des Ältestenrats der Moskauer „Trechgornaja Manufaktura“ an, dessen Verfasser darauf verwiesen, dass ihre Organisation „auf die Initiative der Rentner hin“ gegründet worden sei.95 Und auch in Kljuevs Aufsatz „Die das Alter bezwingende Arbeit“ heißt es dergestalt: „Es hat sich gezeigt, dass viele Hunderte Rentner [...] sich aus eigener Initiative ein weites Feld für eine neue gesellschaftlich nutzbringende Wirksamkeit eröffnet haben. In einer Reihe von Betrieben sind auf den Vorschlag der Rentner selbst hin und mit der Unterstützung der gesellschaftlichen Organisationen Rentnerräte entstanden, die die Initiativen einzelner Rentner vereinigen und sie in eine bestimmte Richtung lenken.“96
In Aufsätzen und Presseartikeln, in denen die neue „Bewegung“ beschrieben wurde, war dieser Topos ebenfalls prominent vertreten. Im Mai 1958 betonte so etwa Ơ. Maksimova in der Literatur’naja gazeta den grass roots-Charakter der Ratsgründungen, bei denen keinerlei Einwirkung von außen spürbar gewesen sei: „Die Leute haben sich an ihre Werke gewandt, zuerst einzeln. Sie sind zum [gewerkschaftlichen] Werkkomitee, in die eigene Abteilung gegangen, haben zugeschaut und von Zeit zu Zeit einen Rat gegeben. Dann haben sie begonnen, sich den Unterricht in der Aktivistenschule, das Wohnheim, die Kantine anzusehen und an Versammlungen teilzunehmen. Schließlich haben einige Rentner, die sich im Parteikomitee oder im Arbeitszimmer des Chefingenieurs trafen, vorgeschlagen: ,Lasst uns doch zusammenkommen. ދDie Gründung der Räte der Arbeitsveteranen hat sich gleichzeitig im ganzen Land vollzogen. Diese Bewegung ist, in keiner Weise von oben organisiert, als natürliche Form der Rentnerpartizipation an der allgemeinen Arbeit des Volkes entstanden.“97
Ähnlich formulierte dies auch der Leiter der Moskauer Gebietsabteilung der Sozialversorgung, Vazjulin, der 1960 auf einer Rentnerversammlung davon sprach, dass die „Rentnerräte auf den Anstoß der Rentner selbst hin gegründet worden sind und das Resultat des Volksschaffens darstellen“.98 Eingang fand die Vorstel-
95 96 97 98
GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 21. Vgl. auch ebd., l. 45; d. 835, l. 64. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 56. Maksimova, O tech, S. 1. Veterany truda obmenivajutsja opytom (1960), S. 44. Auf die fehlende externe Vorbereitung der Ratsgründung verweist ebenso Ušakov, Slovo, S. 41, dem zufolge die neuen Einrichtungen „spontan nach dem massenhaften Altersrentenantritt der Werktätigen infolge des neuen Gesetzes“ aufkamen. Vgl. hierzu auch Sovety veteranov truda, S. 1.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
lung, dass es sich bei den Räten um „Initiativorganisationen“ gehandelt habe, schließlich ebenso in sowjetische Fachpublikationen.99 Zu den Gründen, die ältere Bürger dazu bewegten, einen Teil ihrer Freizeit der ehrenamtlichen Aktivität zu widmen, finden sich sowohl in den publizierten als auch in den unveröffentlichten Quellen Aussagen, die sich in der Weise zusammenfassen lassen, dass man der Allgemeinheit und dem Fortschritt weiterhin von Nutzen sein wollte. Hervorragend versinnbildlicht wird diese Haltung etwa durch jene Losung, die sich der Vereinigte Rentnerrat des Lenin-Hüttenkombinats von Nižnij Tagil gab: „Nicht auf das Lebensende warten, sondern leben, kämpfen und beim Aufbau des Kommunismus helfen!“100 Sie vermittelt sich aber ebenfalls anhand der Beschreibung einer Ratsentstehung in der Stadt Tichoreck. Auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1958 berichtete der Leiter der Sozialversorgung in der Region Krasnodar, Krivenko, dass die Rentner des örtlichen Werks schon im Jahr zuvor auf einer Versammlung zusammengekommen seien. Auf ihr habe man sich mit der Frage auseinandergesetzt, was denn nach dem Leistungsantritt nun weiter passieren solle. Wollte man tatenlos sein oder auch weiterhin am Kampf um den Aufbau des Kommunismus partizipieren? Man habe sich für die zweite Option entschieden: „Die alten Kaderarbeiter forderten“, so Krivenko, „dass man sie nach dem Rentenantritt nicht für nutzlos halten solle, und schlossen sich zu Rentnerräten zusammen.“101 Das Bedürfnis, aktiv und unterstützend an der gesellschaftlichen Entwicklung teilzuhaben, wurde auch in den Äußerungen der Aktivisten selbst thematisiert. Auf der vier Jahre später einberufenen Mitarbeiterkonferenz ging Bogdanov vom Gor’kijer Automobilwerk dabei gleichfalls auf die Zäsur ein, die das Staatsrentengesetz für das Rentnerengagement bedeutet habe: „Vor 1956 gab es eine große Gruppe von Leuten, die eine staatliche Altersversorgung erhielten, eine Versorgung ihres verdienten Ruhestands, und es kam zu der Situation, dass diese Menschen angestrengt arbeiteten und [ehrenamtlich] überhaupt nichts taten. [...] Das waren Leute, die die Oktoberrevolution geschultert hatten. Das waren Leute, die den Ruin und den Wiederaufbau unserer Industrie, [...] die ersten Planjahrfünfte und [...] die Mühen des Großen Vaterländischen Krieges geschultert hatten. Können diese Menschen [zu Hause] sitzen, die Arme verschränken, während sich in unserem Lande ein grandioser Aufbau ereignet? Können diese Menschen dabei nun etwa außen vor bleiben? Deshalb [...] haben wir in den Jahren 1956/1957 begonnen, an dieser Sache teilzunehmen, an der Sache der Sozialversorgung [...].“102
Die Argumentation mit dem Wunsch, „nicht beiseite stehen zu wollen“, entsprach ebenfalls dem Tenor von Artikeln, die z. B. in der Social’noe obespeþenie die
99
Vgl. Formy uþastija obšþestvennosti, S. 148. Astrachan, Razvitie, S. 181, konstatiert noch 1971, dass die Ratsgründungen auf die Initiative von Rentnern zurückzuführen seien, „die sich an der ehrenamtlichen Arbeit zu beteiligen wünschten“. 100 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 103. Der Vereinigte Rentnerrat umfasste 14 bei den betrieblichen Hausverwaltungen angesiedelte Räte. 101 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, l. 166. 102 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, ll. 7273.
Die Entstehung der Rentnerräte
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Gründung von Rentnerräten propagierten.103 Dass ähnliche Überlegungen auch Rentner in anderen Sowjetrepubliken zum Engagement bewegten, suggeriert der Bericht eines Aktivisten aus der Estnischen SSR. E. Voroncov, Mitglied im Rentnerrat des Central’nyj-Bezirks von Tallinn, schrieb hierzu am 11. Juli 1959 in der Zeitung Sovetskaja Ơstonija: „Während der letzten Jahre sind Millionen Menschen in Rente gegangen. Anfangs erholten sich diese Leute nur. Es war angenehm, den verdienten Ruhestand nach langen Jahren der Arbeit zu genießen. Aber die Zeit verging, und viele Veteranen der Arbeit streckten die Hand nach der gesellschaftlichen Tätigkeit aus. Und das ist natürlich. Kein Sowjetmensch kann sich vorstellen, nicht am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Das Bewusstsein, dass du etwas für die Gesellschaft Nützliches machst, steigert den Lebenstonus, hebt des Menschen Mut. Nun ist der Mensch in Rente gegangen. Der Staat hat ihm ein ruhiges Alter gesichert. Bedeutet das aber, dass man sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen soll? Nein! Die meisten Veteranen der Arbeit stimmen dem nicht zu. Sie [...] leisten den Partei-, Sowjet- und Gewerkschaftsorganen eine ihren Möglichkeiten entsprechende Hilfe.“104
Ein weiteres – in der Öffentlichkeit vermitteltes – Motiv für die Partizipation betraf vor allem die in den Betrieben und Fabriken eingerichteten Rentnerräte. Hier unterstrich man die emotionale Bindung an das frühere Kollektiv und rückte die Möglichkeit, sich weiterhin in der Gemeinschaft der ehemaligen Arbeitskollegen zu bewegen, in den Vordergrund. Ein Beispiel für eine solche Haltung bietet noch einmal Kljuevs Aufsatz, in dem ein Rentner aus Pervoural’sk zitiert wird, der vierzig Jahre lang in der Produktion tätig gewesen war. Nach dem Rentenantritt habe er sich zuerst darauf beschränkt, sich um den Haushalt zu kümmern und den Umgang mit Freunden zu pflegen. Doch nach kurzer Zeit habe ihn das nicht mehr ausgefüllt: „[...] bald habe ich verstanden, wie schwer es ist, ohne die Arbeit zu leben, die für mich ein gesellschaftliches Bedürfnis geworden ist. Ich habe eine solche Sehnsucht nach dem eigenen Werk, der eigenen Abteilung und den Arbeitskollegen verspürt, dass ich keine Ruhe fand und davon sogar krank wurde. Weder Ärzte noch Medikamente konnten mir Erleichterung verschaffen.“
Als effektives Mittel gegen dieses Leiden habe stattdessen die Beteiligung an den Aktivitäten des betrieblichen Rentnerrats gewirkt.105 Schließlich wurden auch Vorstellungen, die Elemente der paternalistischen Reziprozität beinhalteten, als Motivation für die Freiwilligenarbeit angeführt. Hier liegt eine offenkundige Parallele zu dem Verhalten sowjetischer Arbeitnehmer vor, die auf die Rentenreformen mit der Ankündigung reagierten, ihre individuelle Arbeitsleistung als Zeichen der Dankbarkeit zu steigern. Personen, die ihre Erwerbstätigkeit eingestellt hatten, blieb dies zwar verwehrt, nicht jedoch die Mög103 Vgl. hier z. B. KuzތPLQ\FK1HFKRWLP6RYHW\SHQVLRQHURYEROތãDMDVLOD6 30; Starye sormoviþi ne sidjat bez dela, S. 44; Pensioner ne þelovek v otstavke!, S. 5; Sovety veteranov truda, S. 12. 104 Voroncov, Aktivnaja obšþestvennaja sila, S. 3. 105 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 55. Auf die Bindung an das ehemalige Kollektiv als Ursache für ehrenamtliche Aktivität verweisen u. a. auch Strumilovskij, Rajonnyj sovet; Pensioner ne þelovek v otstavke!, S. 5; Naši luþšie pomošþniki, S. 1.
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lichkeit, sich auf ehrenamtlicher Basis zu engagieren. Eine derartige Einstellung manifestierte ein Vertreter des zum Verch-Isetsker Hüttenwerk gehörenden Rats der Arbeitsveteranen, der im Oktober 1960 über das Wirken seiner Organisation referierte. In diesem Zusammenhang bemerkte er einleitend, dass er und seine Altersgenossen sich als „Antwort auf die Sorge der Partei und der Regierung um uns Rentner [...] nicht vom sprudelnden Leben unseres Landes zurückziehen“ könnten. Auch im Ruhestand wollten sie deshalb aktiv am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ihres Werks und Stadtbezirks partizipieren.106 Sämtlichen der vorgestellten Beweggründe für das Rentnerengagement ist freilich mit Vorsicht zu begegnen. Paternalistische Wechselseitigkeitsvorstellungen entsprachen, wie gesehen, nicht zuletzt der obrigkeitlichen Perspektive auf das gewünschte Verhältnis von Regime und Bevölkerung. Ebenso ähnelt der Topos des Sowjetmenschen, für den der Dienst an der Gesellschaft und die Gemeinschaft mit Kollegen und Mitbürgern existentielle Bedürfnisse darstellen, im hohen Maße dem Idealbild des Neuen Menschen, dessen Formung beim Aufbau der zukünftigen kommunistischen Ordnung eine primäre Bedeutung zugeschrieben wurde. Nicht von ungefähr gehörten Prinzipien wie die „gewissenhafte Arbeit zum Wohle der Gesellschaft“ oder „Kollektivgeist und kameradschaftliche Hilfe“ zu dem, was als „Sittenkodex der Erbauer des Kommunismus“ Eingang in das neue Parteiprogramm gefunden hatte.107 Den Konnex zwischen diesen arbeitsethischen Vorstellungen und dem ehrenamtlichen Rentnerengagement veranschaulicht die bereits zitierte Ơ. Maksimova: „Oft definieren wir den Kommunismus als jene Zeit, in der die Arbeit zu dem vordringlichsten menschlichen Bedürfnis wird; eine Arbeit, wie es V. I. Lenin formuliert hat, ,zum Nutzen der Gesellschaft, die geleistet wird, ohne dass man mit einer Belohnung rechnet [...]; eine Arbeit, die sich aus der Gewohnheit speist, für den Vorteil der Allgemeinheit zu arbeiten …ދ Das, was sich nun vor unseren Augen ereignet, die Rückkehr der Rentner zur gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit, entspricht einer wahrhaft kommunistischen Einstellung zur Arbeit. Diese Rückkehr hat man nicht vorausgesehen, auf sie war man nicht vorbereitet, sie hat sich unerwartet vollzogen. Sie ist jedoch ebenso gesetzmäßig wie der sozialistische Wettbewerb und der großartige Marsch der Jugend zur Arbeit in den Osten.“108
Wenn die hier vorgestellten Äußerungen also zweifelsohne den offiziellen „Motivationsdiskurs“ widerspiegeln, so schließt dies nicht aus, dass ein nennenswerter Teil der Ehrenamtlichen solche Grundsätze entweder tatsächlich verinnerlicht hatte oder die Zeit seiner Arbeitstätigkeit aus anderen Ursachen vermisste. Unter den mit dem Rentenantritt einhergehenden Statuseinbußen litten schließlich auch die Bürger marktwirtschaftlich organisierter Länder, die sich nicht weniger über den eigenen Beruf definiert hatten, als dies für die Einwohner sozialistischer „Arbeitsgesellschaften“ charakteristisch gewesen sein mag. Gleichermaßen spricht wenig dagegen, dass der Verlust des täglichen Umgangs mit den Kollegen oder die grund-
106 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 4. 107 Programm der Kommunistischen Partei, S. 140141. Vgl. auch Evans, Soviet MarxismLeninism, S. 8993; De George, Soviet Ethics, S. 8994; Fetscher, Von Marx, S. 181. 108 Maksimova, O tech, S. 1.
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legend gewandelte Struktur des Alltagsablaufs sowjetischen Bürgern tatsächlich Probleme bereitete, die man mit Hilfe ehrenamtlicher Tätigkeit zu mildern hoffte. In Ermangelung zeitgenössischer soziologischer Arbeiten, die sich der Klärung der für die sowjetischen Rentner maßgeblichen Motivlagen widmen,109 können letztendlich keine sicheren Aussagen zu den maßgeblichen Beweggründen getätigt werden. In jedem Fall war die rasche Ausdehnung der Rentnerräte nach 1956 allein mit dem Verweis auf die Eigeninitiative nicht zu erklären. Ohne die Zustimmung des Regimes wäre ein solcher Prozess auch nicht denkbar gewesen. Tatsächlich vollzog er sich unter der Duldung, vielerorts aber ebenfalls unter der aktiven Unterstützung der staatlichen Behörden, der Partei- und der Gewerkschaftsorgane. In Berichten über die Ratsgründungen wurde denn auch häufig darauf verwiesen, dass sich diese zwar auf den Anstoß durch die Rentner hin, jedoch nicht ohne eine tatkräftige Unterstützung von außen vollzogen hätten.110 Oft gingen von den Partei- und Gewerkschaftskomitees sogar die maßgeblichen Impulse aus. So beriefen sie nicht selten gerade jene Rentnerversammlung ein, auf der die Organisation eines Rentnerrats beschlossen wurde.111 In anderen Fällen, speziell dann, wenn die Räte unter ihrem Dach operieren sollten, fungierten die örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung als Geburtshelfer und sprachen sich vor den Bezirkspartei-
109 Solche Untersuchungen wurden erst in den 1970er Jahren durchgeführt, als die Voraussetzungen für das Rentnerengagement aller Voraussicht nach grundsätzlich andere waren: Die Begeisterung über die von der Regierung durchgeführten sozialpolitischen Reformen war mittlerweile ebenso abgeflaut wie die Vorstellung, durch individuelles Engagement am Aufbau eines „Kommunismus“ mitzuwirken, dessen Realisierung wieder in größere Ferne gerückt war. Auch entschied sich nun ein im Vergleich mit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre weit größerer Teil der älteren Arbeitnehmer vorerst gegen den Rentenantritt und für eine Fortsetzung der Erwerbstätigkeit. Dessen ungeachtet mögen die Ergebnisse entsprechender Untersuchungen zumindest einen allgemeinen Eindruck davon bieten, unter welchen Voraussetzungen man in der UdSSR ehrenamtlich tätig wurde. Eine Befragung, die in den 1970er Jahren unter der Leitung von Vladimir D. Šapiro im Moskauer Bezirk ýeremuški durchgeführt worden war und bei der mehrfache Antworten gestattet waren, kam so etwa zu dem Ergebnis, dass 49 % der Ehrenamtlichen tätig wurden, weil sie einen entsprechenden Auftrag (obšþestvennoe poruþenie) erhalten hatten. Ein ebenso hoher Anteil führte an, der Gesellschaft Nutzen bringen zu wollen, während 37 % auf die Freude an der Kommunikation bzw. der Gemeinschaft mit anderen Menschen verwiesen. 28 % meinten, an der jeweiligen Tätigkeit Interesse zu finden, und 14 % gaben zu, an dem Respekt, der ihnen entgegengebracht wurde, Gefallen zu finden. Lediglich 7 % begründeten ihr Engagement mit dem Wunsch, die freie Zeit auszufüllen. Vgl. Šapiro, ýelovek, S. 148. Mit den Voraussetzungen des Rentnerengagements befassen sich u. a. auch ders., Social’naja aktivnost’, S. 99128; Šapiro Pyžov, Obšþestvennopolitiþeskaja dejatel’nost’; Dmitriev, Socialތnye problemy, S. 5370; Dokuþaeva, Obšþestvenno-politiþeskaja dejatel’nost’, S. 1018. 110 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 64; d. 780, l. 56; F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 77. 111 Ein solches Vorgehen ließ sich z. B. im Waggonbauwerk von Kalinin oder im Moskauer Kleinwagenwerk beobachten. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 4. u. 13.
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leitungen und den Exekutivkomitees der örtlichen Deputiertenräte für ihre Einrichtung aus.112 Die lokalen Abteilungen der Sozialversorgung, aber auch die Grundorganisationen der KPdSU und der Gewerkschaften gingen dabei zu einem guten Teil in dem Bewusstsein vor, im Sinne ihrer jeweiligen Führungsorgane zu handeln. In der RSFSR war es speziell das Ministerium für Sozialversorgung, das für die neuen Rentnerformationen warb. So verfasste Murav’evas Stellvertreter G. M. Kapranov bald nach dem Inkrafttreten des Staatsrentengesetzes eine Direktive, in der er die lokalen Abteilungen darauf hinwies, dass die Rentnerräte „überaus ernsthafte Aufmerksamkeit verdienen, da sie eine gewaltige Bedeutung bei der Mobilisierung der Rentner für eine Partizipation an der gesellschaftlichen Arbeit besitzen“.113 Als von hoher Relevanz für ihre Verbreitung muss insbesondere die Wirksamkeit der ministeriumseigenen Zeitschrift Social’noe obespeþenie eingeschätzt werden, die in den ersten Jahren nach der Staatsrentenreform eine Vielzahl von Artikeln veröffentlichte, deren Autoren über die Tätigkeit der Räte berichteten und das Modell dadurch als empfehlenswert propagierten. Gleichzeitig wurde den örtlichen Abteilungen der Sozialversorgung auf diesem Wege vermittelt, welche Verhaltensmuster der Rentneraktivisten als lobenswert oder kritikwürdig anzusehen waren. Der hohe Stellenwert, der den selbsttätigen Einrichtungen von Seiten der Redaktion beigemessen wurde, zeigt sich auch darin, dass ihnen über einige Jahre hinweg sogar ein eigener Abschnitt mit dem Titel „Die Räte der Arbeitsveteranen“ gewidmet wurde. Das Interesse der Sozialbürokratie an den neuen Rentnerorganisationen erklärt sich freilich vor allem aus dem Nutzen, den sie sich von ihnen versprachen. Es wurde bereits erwähnt, dass das von personeller Unterbesetzung und mangelnder Qualifikation der vorhandenen Mitarbeiter gezeichnete System der Sozialversorgung in hohem Maße auf die ehrenamtliche Mithilfe der Rentner angewiesen war. Der Beitrag, den die Räte mit ihren Sektionen für rentenrechtliche Fragen und für Wohn- und Lebensbedingungen leisten konnten, besaß folglich einen potentiell hohen Wert für die Sozialversorgungsorgane. In der Rückschau kam man 1963 in der Social’noe obespeþenie offen auf diesen Zusammenhang zwischen der Notlage der Sozialbürokratie und den Anfängen der „Rätebewegung“ zu sprechen: „Das war der Zeitraum zwischen dem Ende des Jahres 1956 und dem Beginn des Jahres 1957, als Tausende von Werktätigen dank des neuen Staatsrentengesetzes in den verdienten Ruhestand gingen. [...] Und die Abteilungen der Sozialversorgung waren zu dieser Zeit derart überlastet, dass es ihnen kaum gelang, pünktlich die Rente festzusetzen. [...] Der einzige Ausweg war der folgende: Bei jeder Abteilung musste ein Aktiv mobilisiert werden, das den etatmäßigen Mitarbeitern dabei behilflich war, die Arbeit auf dem Gebiet der Sozialversorgung gut zu organisieren und auszuführen. Zu diesem Zweck begann man dann auch damit, 112 Vgl. ýernikov, Pervye šagi, S. 16; Ilތjušeþkin Eremkin, O sovetach, S. 1213; Petuchova ýunareva, Iniciativa, S. 10. 113 Ušakov, Slovo, S. 42. Vgl. auch ýernikov, Pervye šagi, S. 16, der einen Brief des Ministeriums erwähnt, in dem das Beispiel des beim Schiffsbauwerk „Krasnoe Sormovo“ in Gor’kij eingerichteten Rates als empfehlenswert gelobt worden sei.
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bei den Bezirks- und Stadtabteilungen Rentnerräte einzurichten. Sie überprüften die Dokumente, untersuchten die Lebensbedingungen der Invaliden, erklärten den Leuten die Gesetzgebung. Diese Arbeiten führten sie unter der Anleitung der Abteilungen der Sozialversorgung aus. In diesem Stadium stellten die Rentnerräte eine große Hilfe für die Abteilungen der Sozialversorgung dar. Hierin besteht ihr Verdienst.“114
Auch die Partei- und Gewerkschaftskomitees erhielten Anweisungen zur Aktivierung der Rentner, die sich allem Anschein nach auf die Gründung von Rentnerräten in sowjetischen Betrieben auswirkten. Am 19. April 1958 verabschiedete so z. B. das ZK der KPdSU die Verordnung „Über die Heranziehung der Rentner zur aktiven gesellschaftlichen Arbeit“, in der kritisiert wurde, dass zu wenig für die Nutzung des Potentials der Arbeitsveteranen getan werde, die „bei richtigem und sachkundigem Einsatz [...] eine ernsthafte Unterstützung“ darstellen könnten. Die Gewerkschaftsorganisationen wurden angehalten, die Arbeit mit den Rentnern zu verbessern und Maßnahmen zu ihrer umfassenden Mobilisierung einzuleiten. Genannt wurden dabei ebenfalls die möglichen Betätigungsfelder, die sich in vielem mit den oben beschriebenen Aufgabenprofilen der Rentnerräte deckten: die politische Arbeit innerhalb der Bevölkerung; die Kontrolle von Geschäften, kommunalen Dienstleistungsbetrieben und medizinischen Einrichtungen; die Arbeit für Freiwilligenorganisationen und -gesellschaften.115 Wenig später, am 4. Mai 1958, erließ auch der VCSPS eine im Titel identische Verordnung, die diesen Inhalt noch einmal für die Mitglieder der sowjetischen Gewerkschaften aufbereitete.116 Beiden Texten schrieb man von offizieller Seite – und sicherlich nicht ohne Berechtigung – einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung des Rentnerengagements und die Gründung von Rentnerräten zu.117 In ihnen wurde allerdings für die Förderung des Rentnerengagements im Allgemeinen geworben, nicht für die Einrichtung spezieller Organisationsformen. Namentlich fanden die Rentnerräte keine Erwähnung. Zu bedenken ist ferner, dass sie in vielen Betrieben schon ein bis anderthalb Jahre vor dieser Verordnung gegründet worden waren. Wenn die Verordnungen also einen positiven Einfluss auf die weitere Ausbreitung der Räte hatten, dann wohl deshalb, weil sie bereits als der gängige Rahmen anerkannt waren, in dem sich der freiwillige Beitrag der älteren und invaliden Bürger üblicherweise vollzog. Es ist dabei allerdings zu betonen, dass die Tatsache, dass Ende der 1950er Jahre in der Russischen Föderation ein „Großbetrieb, der über keinen Rat der Arbeitsveteranen verfügt, schon eine seltene Ausnahme darstellt“,118 augen114 Nužny li rajonnye, S. 1213. 115 Spravoþnik partijnogo rabotnika, S. 546547. 116 Bjulleten’ VCSPS (1958), 9, S. 12. In Ergänzung zum Normativakt des ZK der KPdSU wurde hier zusätzlich noch empfohlen, die Rentner in den Kommissionen für die Rentenfestsetzung, den arbeitsärztlichen Expertenkommissionen und anderen Freiwilligenorganisationen einzusetzen. 117 So führte z. B. eine Arbeitsgruppe unter Leitung des Stellvertretenden Ministerratsvorsitzenden der RSFSR V. P. Moskovskij, die sich Ende August 1961 mit den Erfolgen bei der Förderung des Rentnerengagements beschäftigte, die Vermehrung der Rentnerräte auf die ZKVerordnung vom 19. April 1958 zurück. Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 8. Vgl. auch ebd., l. 47. 118 Vasilތev, Nepravilތnye vzgljadi, S. 34.
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scheinlich nicht über explizite Weisungen der höchsten Partei- und Gewerkschaftsführung zu erklären ist. Das Ausbleiben solcher direkter Stellungnahmen besaß vor allem deshalb einige Relevanz, weil es mit dazu beitrug, dass die Aktivisten sich als Teil einer aus sich selbst entwickelnden Bewegung wahrnahmen. Gleichzeitig musste man es jedoch auch als Zeichen fehlender Anerkennung von Seiten des Regimes interpretieren. Einen Mann wie Bogdanov erfüllte dies auf der Mitarbeiterkonferenz von 1962 mit Bedauern. Im Zusammenhang mit der Schilderung der Anfänge seines Rentnerrats paarte sich diese Empfindung allerdings ebenfalls mit dem Stolz über die Ausmaße, die das Rentnerengagement im Lande angenommen hatte: „[...] in den Jahren 1956 und 1957 haben wir begonnen, uns an dieser Sache zu beteiligen, an der Sache der Sozialversorgung. Zu unserem großen Leidwesen hat diese Rentnerbewegung – ich nehme mir die Freiheit, sie als eine Bewegung zu bezeichnen −, die das ganze Land erfasst hat, in offiziellen Kreisen keine Resonanz gefunden.“119 Als ein weiterer Beleg dafür, dass die neuen Organisationen ursprünglich im Einvernehmen mit der herrschenden Ordnung entstanden, ist der Umstand zu bewerten, dass sich ihre gewählte Mitgliedschaft idealiter vor allem aus angesehenen und besonders respektierten Vertretern der Gesellschaft zusammensetzen sollte. Das mochte sich in den bei betrieblichen Gewerkschaftskomitees eingerichteten Räten vor allem auf die „die höchste Autorität genießenden Veteranen der Arbeit, die über eine hohe Lebens- und Produktionserfahrung verfügen“,120 beziehen, was zweifellos Sinn machte: Von solchen Personen waren die hochwertigsten Beiträge zur Tätigkeit der Produktions- und anderer Sektionen zu erwarten.121 In besonderer Weise spricht jedoch die Tatsache, dass ein hoher Anteil unter den Ratsmitgliedern gleichzeitig der Partei angehörte, zum einen für die Systemnähe vieler Aktivisten, zum anderen für den Beitrag, den die KP zur Entstehung der Rentner- und Arbeitsveteranenräte leistete. Es sollte deren Renommee unzweifelhaft aufwerten, wenn V. A. Aralov und A. V. Levšin 1959 im Hinblick auf ihre Zusammensetzung feststellten: „In die Arbeitsveteranenräte werden in der Regel die verdienten, von allen am höchsten respektierten Leute gewählt. Unter ihnen finden sich viele alte Kommunisten: Teilnehmer des Bürgerkriegs und des Großen Vaterländischen Krieges, ehemalige rote Partisanen und Kommandanten der Sowjetarmee, Helden der Fünfjahrpläne, erfahrene Partei-, Wirtschafts- und Sowjetfunktionäre. Diesen Leuten geht die Sache vor allen anderen Dingen. In jedem Zweig der Wirtschaft und der Kultur sind sie gern gesehene Gäste, Konsultanten und Ratgeber.“122
Sicherlich ist die Vorstellung, dass es sich bei den Räten um Formationen gehandelt habe, die vor allem die Honoratioren der jeweiligen Rentnerschaft zur Mit-
119 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 73. 120 In dieser Form wurden die 28 Mitglieder des zum Verch-Isetsker Hüttenwerk gehörenden Rentnerrats beschrieben. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 27. Vgl. auch GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 38; Strumilovskij, Opirajas ތna aktiv, S. 17; V pomošþ ތsovetam pensionerov, S. 37. 121 Vgl. Strumilovskij, Rajonnyj sovet, S. 47. 122 Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 83. Vgl. auch Naši luþšie pomošþniki, S. 2.
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arbeit reizten, zu einem guten Teil dem Wunschdenken geschuldet. Dafür, dass Parteimitglieder unter ihnen überdurchschnittlich vertreten waren, finden sich jedoch Beispiele. Der Stadtrentnerrat von Pjatigorsk (Region Stavropol’) verfügte 1960 etwa über ein Aktiv von 18.000 Personen, von denen 1.500 Personen (8,3 %) über ein Parteibuch verfügten. Hier ist freilich davon auszugehen, dass die Kommunisten unter den tatsächlichen Mitgliedern des Rats noch weit stärker vertreten waren.123 So verhielt es sich beispielsweise sowohl in den zum Vereinigten Rentnerrat des Nižnij Tagiler Lenin-Hüttenkombinats gehörenden „Unterräten“, wo sie 36,3 %, als auch im Stadtrentnerrat von ýerepovec (Gebiet Vologda), wo sie sogar 80 % der gewählten Ehrenamtlichen stellten.124 Mangels diachroner Angaben zur Zusammensetzung der Räte lässt sich nicht klären, inwiefern es sich bei dieser überproportionalen Repräsentation der KPMitglieder um eine vorübergehende Erscheinung handelte. In jedem Fall kennzeichnete sie ebenso andere selbsttätige Organisationsformen wie z. B. die freiwilligen Volksmilizen, für deren Tätigkeiten „verlässliche Leute“ gebraucht wurden. T. H. Friedgut zufolge könnte es gerade für die Frühphase solcher Einrichtungen charakteristisch gewesen sein, dass eine hohe Zahl von Parteiaktivisten an ihrer Tätigkeit partizipierte und diese lenkte. Je etablierter und routinierter die jeweilige Organisation dann in der Folge geworden sei, desto stärker hätten sie sich später wieder aus ihr herausgezogen.125 Wie dem auch sei, Rentner, die der KPdSU angehörten, neigten wohl auch in den sechziger und siebziger Jahren weit häufiger als andere dazu, ihre freie Zeit in den „Dienst an der Allgemeinheit“ zu investieren.126 Relevanz besitzt der Verweis auf die hohe Zahl von Parteigenossen unter den gewählten Mitgliedern der Rentnerräte aus zweierlei, zueinander in einem gewissen Widerspruch stehenden Gründen. Zum einen kann nicht ausgeschlossen werden, dass das zuständige Parteikomitee bei der individuellen Entscheidung für ein Engagement in der Rentnerorganisation „motivierend“ nachhalf. Gerade die Partei sah sich ja wie keine andere Institution für die Förderung der kommunistischen Arbeitsethik zuständig. Dass die Fortsetzung einer gesellschaftlich nutzbringenden Tätigkeit über den Rentenantritt hinaus in manchen Kreisen eine geradezu imperative Qualität besaß, legt etwa der Bericht eines gewissen Galkin nahe. Die123 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, ll. 77 u. 79. Anfang 1961 lag der Anteil der KP-Mitglieder an der Gesamtbevölkerung bei 4,4 %, Anfang 1971 bei 5,9 %. Vgl. Hildermeier, Geschichte, S. 855. 124 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 103; Kulikov, Sovet pensionerov, S. 11. 125 Vgl. Friedgut, Political Participation, S. 259, der sich hier an Volkov, Tak roždaetsja, S. 26, orientiert. 126 Laut der von V. D. Šapiro Mitte der 1970er Jahre im Moskauer Bezirk ýeremuški durchgeführten Untersuchung (siehe Anm. 109) waren hier 60 % aller Rentner, die über ein Parteibuch verfügten, ehrenamtlich aktiv, während der entsprechende Anteil bei den Parteilosen lediglich bei 11 % lag. Vgl. Šapiro, ýelovek, S. 144; Šapiro Pyžov, Obšþestvenno-politiþeskaja dejatel’nost’, S. 93. Eine 1977/78 in Leningrad organisierte Umfrage kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Hier belief sich der Prozentsatz der im Ruhestand Engagierten bei den KP-Mitgliedern auf 61,2 %, bei den übrigen Bürgern auf lediglich 5,8 %. Vgl. Dmitriev, Socialތnye problemy, S. 69.
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ser unterrichtete im April 1961 V. P. Moskovskij, Stellvertreter des Ministerratsvorsitzenden der RSFSR, über die Arbeit der Rentnerorganisationen in der Baschkirischen ASSR – und übte dabei auch Kritik am fehlenden Einsatz ehemals eminenter Funktionäre: „Im Landwirtschaftsministerium der Baschkirischen ASSR nehmen einige Rentner nach dem Rentenantritt in keiner Weise an der gesellschaftlichen Arbeit teil. Zu diesen Leuten gehören: der Stellvertretende Minister Genosse Kaminskij, die ehemalige Sekretärin des Parteibüros Genossin Grigor’eva, der frühere Sekretär des Bezirkskomitees der KPdSU Genosse Nurgaleev, der Agronom Genosse D’jakonov und andere.“127
In einem aus demselben Jahr stammenden Tätigkeitsbericht monierte auch der stellvertretende Vorsitzende des Alapaevsker Rats der Arbeitsveteranen, Maslov, den Umstand, dass viele Rentner mit einer großen Arbeitserfahrung nicht an den Aktivitäten der Produktionssektion teilnähmen. Dabei nannte er die Namen einiger Personen und interpretierte das ehrenamtliche Engagement weniger als eine auf reiner Freiwilligkeit basierende Entscheidung denn als eine Verpflichtung, der man sich nicht entziehen dürfe: „[...] das Verhalten dieser Genossen ist grundfalsch. Wir dürfen bei dieser großen schöpferischen Arbeit, die das Kollektiv der Hüttenwerker im Kampf um die vorzeitige Erfüllung des Siebenjahrplans leistet, nicht beiseite stehen. Es ist unsere Pflicht, am gesellschaftlichen Leben und der Produktion unseres heimatlichen Werks teilzunehmen.“128 Ist also davon auszugehen, dass speziell von Parteigenossen ehrenamtliches Engagement in einer Weise gefordert wurde, die der offiziellen Freiwilligkeitsrhetorik zuwiderlief,129 so lässt sich die hohe Repräsentation doch auch anders deuten. Möglich scheint schließlich ebenfalls, dass die Mitglieder der KPdSU einfach stärker als andere Bürger dazu neigten, moralische Prinzipien, wie sie u. a. im „Sittenkodex der Erbauer des Kommunismus“ enthalten waren, zu verinnerlichen. Schließlich ist davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nach dem XX. Parteitag und insbesondere dem XXII. Parteitag, der die Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaftsform in die nahe Zukunft rückte,
127 GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 42. 128 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 4. Ein weiteres Beispiel dafür, wie Ratsmitglieder versuchten, bei der persönlichen Entscheidung zum Engagement „nachzuhelfen“, bietet der Beitrag des Vorsitzenden des Stadtrentnerrats von Mariinsk, D’jakov, auf der Mitarbeiterkonferenz von 1962: „Wir haben ein wachsames Auge auf die Menschen, die nicht an den Versammlungen teilnehmen und selten die Kinovorführungen [...] besuchen. Wir behalten sie im Auge, weil diese Gruppe [...] unter einen antigesellschaftlichen Einfluss geraten kann und sich möglicherweise nicht mit dem beschäftigt, was notwendig ist, und sich nicht so verhält, wie es sich gebührt.“ GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 158. 129 Ein Indiz dafür, dass Rentner zur Arbeit in den Räten gedrängt wurden, stellt auch die Mahnung der Verfasser von Sovety pensionerov bolތšaja sila, S. 31, dar: „[...] dies muss man immer bedenken: Die Teilnahme [an der Arbeit der Rentnerräte] ist eine absolut freiwillige! Es kann nicht die Rede davon sein, dass auf die Alten irgendein Druck ausgeübt wird, dass man ihrer möglichst hohen prozentuellen Erfassung hinterher jagt.“
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von der allgemeinen Aufbruchstimmung erfasst wurde.130 So liegt die Annahme nahe, dass nicht wenige Bürger tatsächlich den Drang verspürten, tatkräftig am gesellschaftlichen Fortschritt mitzuwirken. Nimmt man an, dass die Ratsgründungen vielerorts auf die Zustimmung und die Unterstützung durch die lokalen Partei- und Gewerkschaftskomitees oder die örtlichen Deputiertenräte angewiesen waren, so impliziert dies freilich noch lange nicht, dass die Räte lediglich als von ihren Dacheinrichtungen gelenkte Einheiten wahrzunehmen sind. Tatsächlich fiel das Ausmaß, in dem die Rentnerorganisationen eine Anleitung von außen erfuhren, in vielen Fällen bescheiden aus. Deutlich wird dies z. B. dort, wo sich die „Unterstützung“ eines Rates auf eine bloße Tolerierung beschränkte und die Rentner selbst als die treibende Kraft in Erscheinung traten. Um einen solchen Fall handelte es sich bei der Gründung des Vereinigten Rentnerrats des Lenin-Hüttenkombinats von Nižnij Tagil. Dessen Vorsitzender Puþinskij konstatierte auf der Sverdlovsker Gebietskonferenz: „Wer leitet uns an und wie ist unsere Organisation entstanden: Die Mitarbeiter der Gewerkschaft mögen es mir nachsehen, aber ich muss sagen, dass unsere Rentnerorganisation auf den Wunsch und die Initiative der Rentner selbst hin gegründet wurde. Welche Unterstützung wurde uns zuteil? Nur die, dass man uns nicht gestört hat. [...] wir selbst haben erreicht, dass die Gewerkschaft uns zur Kontrolle über den Handel, über die Dienstleistungsbetriebe usw. heranzog [...].“131
Das hier beschriebene Fehlen einer Unterstützung lässt sich freilich ebenfalls als Ergebnis des generellen Desinteresses, ja der Ablehnung deuten, die viele Gewerkschaftskomitees dem Wirken der Räte entgegenbrachten. Eine solche Indifferenz gegenüber den ihnen angegliederten Organisationen offenbarte sich vor allem darin, dass die Gewerkschafter den Informationen über die Aktivitäten der Räte oft keine Aufmerksamkeit schenkten und auch an einer nachhaltigen Zusammenarbeit wenig Interesse zeigten. So berichtete 1957 etwa ein Vertreter der VCSPSAbteilung für die Sozialversicherung namens Šutov, dass die Sektionen des im Moskauer Kleinwagen-Werk eingerichteten Rentnerrats in vollständiger Unabhängigkeit von den Kommissionen des Werkkomitees agierten. Darüber hinaus habe sich das Werkkomitee in den vorangegangenen zwölf Monaten nicht ein einziges Mal den Bericht über die Arbeit des Rentnerrats angehört.132 Dass es sich hier keineswegs um einen Einzelfall handelte, geht ebenfalls aus dem Rechenschaftsbericht des für den Sverdlovsker Kirov-Bezirk zuständigen Rentnerrats hervor. Gleichgültigkeit kennzeichne eine ganze Reihe von Gewerkschaftsorganisationen des Bezirks, was mit dafür verantwortlich sei, dass die betroffenen Räte ihre Aufgaben nicht zufriedenstellend erfüllen könnten: „Einzelne Fabrik- und Werkkomitees leiteten ihre Räte nicht nur nicht an, sondern interessierten sich auch nicht für ihre Arbeit. So haben sich beispielsweise die früheren Mitglieder des 130 Zur positiven Aufnahme des Parteiprogramms in größeren Teilen der Bevölkerung vgl. Vajlތ Genis, 60-e, S. 513525; Titov, The 1961 Party Programme, S. 1821; Gestwa, Die Stalinschen Großbauten, S. 369. 131 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 42. 132 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 14.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner Werkkomitees der Brotfabrik ,Avtomat ދwährend der vergangenen zwei Jahre nicht ein einziges Mal [...] einen Bericht über die Arbeit des Arbeitsveteranenrats dieses Betriebes angehört und sich nicht dafür interessiert, womit er (der Rat) sich beschäftigt [...]. Dieser Mangel in der Arbeit ist unserer Meinung nach in der einen oder anderen Weise auch für andere betriebliche Fabrik- und Werkkomitees unseres Bezirks charakteristisch.“133
Dass es sich hierbei um ein weitverbreitetes Problem handelte, bestätigte zudem der VCSPS-Vertreter Denotkin, der im Mai 1961 auf der Sverdlovsker Gebietskonferenz das Wort ergriff und einzelne Fabrik- und Werkkomitees (FZMK) lobend hervorhob, die ihre selbsttätigen Organisationen unterstützten und „sich sogar die Berichte der Rentnerräte anhören“. Hierbei handele es sich jedoch um Ausnahmen: „[...] wenn man einen weiteren Kreis von FZMK in den Blick nimmt, dann beschäftigen sie sich noch in unzureichender Weise mit der Arbeit der Rentnerräte und leiten sie nur ungenügend an. Die Mehrheit der FZMK hat in vier Jahren nicht ein einziges Mal über die Arbeit der Rentnerräte gesprochen, und das spricht ja für sich selbst. Es gibt eine Reihe von FZMK, die sich absolut nicht für die Arbeit der Rentnerräte interessieren.“134
Diese Indifferenz resultierte aus der fehlenden Wertschätzung des Engagements der Ratsmitglieder und -aktivisten. So zeugt eine Reihe von Berichten von der abschätzigen Haltung, mit der man den Ehrenamtlichen begegnete. Der Tenor entsprechender Äußerungen lautete dabei, dass der auf Freiwilligkeit basierende Einsatz keine wirkliche Arbeit darstelle und dass sich die Rentner ihm nur deshalb widmeten, weil sie nichts Besseres zu tun hätten.135 Zudem lehnte ein Teil derjenigen Gewerkschaftler, die die Heranziehung der Rentner zur „gesellschaftlich nutzbringenden Tätigkeit“ generell für erstrebenswert hielten, die Räte selbst als überflüssig ab, weil er der Auffassung war, dass die Betriebs- und Werkkomitees allein imstande waren, den notwendigen organisatorischen Rahmen bereitzustellen.136 Das offiziell gern verkündete Lob der Erfahrung der Rentner wurde dementsprechend nicht von allen für ihre Heranziehung zuständigen Funktionären geteilt. Der bereits zitierte P. Kljuev gibt auch die abschätzigen Äußerungen wieder, mit denen sich die Vertreter der Betriebsadministrationen an die ehemaligen Arbeitnehmer wandten:
133 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 76. Ähnliche Hinweise auf die fehlende Anleitung durch Gewerkschaftskomitees finden sich z. B. in ebd., l. 88; d. 780, l. 23; d. 833, l. 89; F. A 259, op. 7875, l. 2; Sovety veteranov truda, S. 6. 134 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 66. 135 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 89; d. 835, l. 64. Stoljarov, Samodejatel’nye organizacii, S. 31, erwähnt in diesen Zusammenhang auch, dass die nach ehrenamtlicher Betätigung suchenden Rentner speziell in den ersten Jahren nach der Verabschiedung des Staatsrentengesetzes dem Vorwurf ausgesetzt gewesen seien, an „altersbedingter Schrulligkeit“ zu leiden. 136 Vgl. Ušakov, Slovo, S. 42; Poþemu v Omske, S. 44. Es finden sich dementsprechend auch Beispiele, in denen Gewerkschaftskomitees auf vorhandene Rentnerräte als Vermittlungsinstanzen bei der Verteilung von Wohnraum und putevki explizit verzichteten und die Leistungen den betroffenen Ruheständlern direkt zukommen ließen. Vgl. hierzu z. B. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 48.
Interessenorganisationen in der Kritik
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„,Sie haben das Ihre gearbeitet, sich den Ruhestand verdient. Nun erholen Sie sich und kümmern Sie sich nicht um fremde Angelegenheitenދ, sagt der eine. ,Erholen Sie sich, beschäftigen Sie sich mit Ihren persönlichen Dingen, und in der Produktion kommen wir auch ohne Sie zurechtދ, sagt ein anderer. ,Ich weiß selbst gut genug, was zu tun ist, und kann auf Ihre Ratschläge verzichten. Sie haben nichts zu tun. Vor lauter Langeweile können Sie Ihr Interesse nicht auf Ihre eigenen Probleme beschränken. ދSolche Erwiderungen bekommen die Rentneraktivisten manches Mal zu hören. [...] Leider leisten die Leiter der Gewerkschaftskomitees solchen Ausfällen der Administratoren keinen Widerstand [...].“137
Hier ging der geringe Respekt für die Tätigkeit der ehrenamtlich Aktiven offensichtlich in eine unumwundene Ablehnung über, die einige Schnittmengen mit der zunehmend ebenfalls von offizieller Seite an den Räten geübten Kritik aufwies. Auf sie ist im Folgenden einzugehen. Die Gleichgültigkeit, die vielen Rentnerorganisationen zuteilwurde, zeichnete zum einen sicherlich mit dafür verantwortlich, dass ihnen oft nur bescheidene Mittel zur Umsetzung ihrer sozialen und kulturellen Programme zur Verfügung gestellt wurden. Ein ähnlicher Zusammenhang muss für den Umstand angenommen werden, dass den Räten meist nicht einmal Räumlichkeiten überlassen wurden, in denen sie ihre Sitzungen abhalten und um Unterstützung ersuchende Altersgenossen empfangen konnten.138 Davon abgesehen führte allerdings gerade erst die fehlende Aufsicht dazu, dass manche Rentnerräte „sich absondern“, d. h. eine begrenzte Unabhängigkeit entwickeln konnten. Aus dem ihnen gewährten Spielraum und vor allem dem Selbstbewusstsein ihrer Aktivisten entwickelte sich eine spezielle Eigendynamik. Sie gestattet es, einen beträchtlichen Teil dieser selbsttätigen Formationen – trotz des Beitrages, den Partei, Sowjetorgane und Gewerkschaften zu ihrer Gründung und ihrer operativen Arbeit leisteten – als in hohem Maße um die Anliegen der eigenen Klientel besorgte Rentnerorganisationen zu begreifen.
7.4. DER VORWURF DER „ABSONDERUNG“: INTERESSENORGANISATIONEN IN DER KRITIK Ein Eindruck von den Dimensionen, die dieses Eigenleben annahm, vermittelt sich in erster Linie anhand der Kritik, die an den Rentnerräten geübt wurde. Anfangs handelte es sich hierbei noch um Beanstandungen, die lediglich auf die Korrektur des Fehlverhaltens einzelner Einrichtungen zielten. Innerhalb weniger Jahre erreichte das Ausmaß, mit der das Wirken dieser selbsttätigen Formationen auf eine negative Resonanz stieß, jedoch ein Niveau, das darauf schließen lässt, dass den Rentnerräten in ihrer Gesamtheit die Ablehnung des Regimes zuteilwurde. 137 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 62. 138 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 24, d. 2064, l. 83; F. A 413, op. 1, d. 3696, l. 169; RGASPI, F. 556, op. 23, d. 107, l. 31. In dieser Frage waren in Abhängigkeit von dem zugrunde liegenden Organisationsprinzip Unterschiede festzustellen: Den auf Stadt- oder Bezirksebene gegründeten Räten fiel es im Vergleich mit den betrieblichen Einrichtungen schwerer, Räumlichkeiten zugeteilt zu bekommen. Vgl. Sovety pensionerov bolތšaja sila, S. 31.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
Gerade die Häufung der öffentlich und nichtöffentlich geäußerten Unzufriedenheit mit den Räten muss als Indiz dafür gelten, dass das – zu Recht oder zu Unrecht – beklagte Verhalten nicht nur für einige wenige Räte charakteristisch war, sondern für einen beachtlichen Teil derselben. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Vorwürfe nicht nur eine mangelhafte Effizienz adressierten. Das traf zweifelsohne ebenfalls zu, speziell dann, wenn man den Rentnerorganisationen vorhielt, dass es ihnen nicht gelang, sämtliche in gesundheitlicher Hinsicht noch einsetzbare Rentner innerhalb ihres Einflussbereiches für ehrenamtliche Aufgaben heranzuziehen.139 Der Schwerpunkt der Kritik richtete sich allerdings gegen Handlungsweisen, die deutlich an das Gebaren von – lokal agierenden – Interessenorganisationen erinnern. Von zentraler Bedeutung war hierbei der Vorwurf der „Absonderung“ (obosoblenie) der Rentnerräte, der sich zu einer Art Überbegriff für die Verfehlungen entwickeln sollte, die man einem beträchtlichen Teil der Rentnerräte unterstellte.140 Gemeint war eine Tätigkeit, die sich nicht in die Arbeit der Gewerkschaftskomitees, der Partei- oder Sowjetorgane einfügte, sondern unabhängig von diesen Instanzen entwickelte. Als „abgesondert“ galten sowohl betriebliche Räte, deren Arbeit keiner Kontrolle von Seiten der Gewerkschaftsorganisationen unterlag, als auch jene Einrichtungen, die auf der Ebene einer Stadt oder eines Bezirks operierten. Gerade ihnen, die nominell den Exekutivkomitees der Deputiertenräte und der zuständigen Parteiorganisation unterstellt waren, wurde ein besonderes Maß an unstatthafter Selbständigkeit unterstellt.141 Die autonome Handlungsweise solcher Rentnerräte wurde meist den in ihrem Engagement fehlgeleiteten Aktivisten angelastet, was die Grundlage dafür darstellte, dass man die Räte als Organisationsform generell für mangelhaft erachten konnte. Dabei kommt man, nüchtern betrachtet, freilich nicht umhin, einen Zusammenhang zwischen der Isoliertheit ihres Wirkens und der beschriebenen Gleichgültigkeit herzustellen, die von Partei, Gewerkschaften und mitunter auch den Abteilungen der Sozialversorgung gegenüber den Rentnerorganisationen an den Tag gelegt wurde. Erst das nicht vorhandene Interesse dieser Institutionen, der fehlende Einsatz bei der Anleitung und Koordination der Ratsaktivitäten, verschaffte den Rentnern den notwendigen Freiraum.142 Abgesehen von der langen,
139 Vgl. z. B. GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 2; F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 69; Formy uþastija obšþestvennosti, S. 149; Sovety pensionerov bolތšaja sila, S. 31. 140 Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 8; Nužny li obosoblennye organizacii (9/62); Nužny li obosoblennye organizacii (14/62); Wesson, Volunteers, S. 241. 141 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, ll. 62 u. 210; F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 65; Nužny li rajonnye, S. 13. 142 Gespür für einen solchen Konnex zeigte V. P. Moskovskij, der sich im Oktober 1961 gegenüber dem ZK der KPdSU zu den Rentnerräten äußerte: „Von Seiten der Partei-, Sowjet- und Gewerkschaftsorganisationen wird die Tätigkeit der Rentnerräte nur in unzureichender Weise angeleitet und kontrolliert. Infolgedessen üben einzelne Rentnerräte ihre Arbeit in Absonderung sowohl von den Gewerkschaftskomitees und ihren Kommissionen als auch von den ständigen Kommissionen der Deputiertenräte der Werktätigen aus [...].“ GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, ll. 23.
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oft nicht spürbaren Leine, an der sich diese selbsttätigen Organisationen bewegten, müssen allerdings ebenso die beträchtliche Initiative und die hohe Motivation ihrer Mitglieder als Voraussetzungen dafür gelten, dass viele der Räte eigene Wege gingen. Hätte es sich bei ihnen um nicht mehr als obrigkeitliche Konstruktionen gehandelt, um substanzlose organisatorische Rahmen zur Mobilisierung ehrenamtlicher Wirksamkeit, dann hätten die Aktivisten aus dem Ausbleiben externer Impulse sicherlich eine andere Konsequenz gezogen: Ihr Engagement wäre zum Erliegen gekommen. Die Absonderung der Räte wurde mit einer Reihe von Mängeln in Verbindung gebracht. Beanstandet wurde beispielsweise, dass ihre Arbeit zu Funktionsüberschneidungen führe: Sie würden Aufgaben übernehmen, die eigentlich zum Profil anderer Behörden und Organisationen gehörten. Berechtigt war dieser Einwand sicherlich in Bezug auf das Verhältnis zu anderen selbsttätigen Organisationen: Da die Tätigkeitsbereiche oft nicht einheitlich geregelt, geschweige denn aufeinander abgestimmt waren, musste es zwangsläufig zu Doppelungen kommen. So befassten sich etwa nicht nur die Aktivisten der Rentnerräte mit der „gesellschaftlichen Kontrolle“ von Handelsbetrieben, sondern oft auch diejenigen der Straßenkomitees und Frauenräte. Dies führte mitunter dazu, dass ein und dasselbe Geschäft mehrmals überprüft wurde.143 Meist zielte der Vorwurf des „Parallelismus“ allerdings darauf ab, dass die Räte Aufgaben übernehmen würden, die eigentlich zu den Kompetenzen übergeordneter Einrichtungen gehörten. Dergestalt stellte Dolgov 1959 klar, dass sie „keine Parallelarbeit zur Arbeit der Sowjet-, Wirtschafts-, Gewerkschafts- und gesellschaftlichen Organisationen leisten, diese nicht ersetzen dürfen, sondern ihnen behilflich sein und ihre Tätigkeit über bereits existierende Organe, Kommissionen und Sektionen der genannten Organisationen [...] realisieren sollen“.144 Erblickte man in der Tätigkeit der Stadt- und Bezirksrentnerräte Überlappungen mit den Aufgaben der ständigen Kommissionen der örtlichen Deputiertenräte,145 so sah man durch die in den Betrieben eingerichteten Einheiten insbesondere die Position der Gewerkschaftskomitees gefährdet. Dass die Funktionsüberschneidungen von VCSPS-Vertretern als schädlich eingeschätzt wurden, geht aus dem Bericht eines V. Borisov hervor, der das Präsidium seiner Organisation im Juli 1962 mit Begründungen für ein Vorgehen gegen die selbsttätigen Rentnerorganisationen versorgte: „Einige Rentnerräte gründen verschiedene Kommissionen und Sektionen, die in vielerlei Hinsicht Parallelarbeit zu den Tätigkeiten der FZMK-Kommissionen leisten und Letztere oft stören. So sind beim Rentnerrat des Werks ,Krasnaja Ơtna( ދGebiet Gor’kij) vier Sektionen [zu gewerkschaftlichen Aufgabengebieten] eingerichtet worden: für die Produktion, für die
143 Vgl. Šibaev u. a., Rul’, S. 61; Konev, Mestnye Sovety, S. 18. 144 Dolgov, Ob uþastii, S. 46. 145 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 261.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner Wohn- und Lebensbedingungen, für die kulturelle Massenarbeit und für die freiwilligen Gesellschaften.“146
Auch andere Autoren führten die thematischen Übereinstimmungen in der Arbeit der Untereinheiten von Räten und Gewerkschaftskomitees als Argument für die Tatsache der unproduktiven Parallelarbeit an.147 Dabei blieb jedoch unberücksichtigt, dass diese Parallelität vor allen Dingen darauf zurückzuführen war, dass die Ratssektionen ursprünglich die Betriebskomitees in all ihren Wirkungsbereichen unterstützen sollten. Dass viele Gewerkschaftskomitees hieraus keinen Nutzen zu ziehen vermochten, sondern das ehrenamtliche Wirken der Rentner sogar als Gefahr für ihre eigene Position wahrnahmen, muss somit ebenfalls auf den Umstand zurückgeführt werden, dass Erstere wenig Interesse an einer Anleitung der Rentnerorganisationen zeigten: So war eine Koordination ihrer Arbeit mit den Tätigkeitsbereichen der Gewerkschaftskomitees von vorneherein ausgeschlossen. Eng mit dem Kritikpunkt der Parallelarbeit verbunden war der Vorwurf, dass die Räte Funktionen an sich zögen, die ihnen „wesensfremd“ seien. Hierzu zählte man Anfang der 1960er Jahre plötzlich auch Kompetenzen, die von zentraler Bedeutung für die sozialen Zielsetzungen dieser selbsttätigen Einrichtungen waren, aber nun als allein den Gewerkschaften vorbehalten apostrophiert wurden. Auf der Sverdlovsker Gebietskonferenz kritisierte Denotkin nicht zuletzt die eigenen Funktionäre, indem er feststellte: „Viele Gewerkschaftsorganisationen haben vergessen, welche Rechte die FZMK besitzen, und den Rentnerräten Kontingente für die Verteilung von Wohnungen, die Ausstellung von Berechtigungsscheinen für Sanatorien, Erholungsheime, Pionierlager usw. überlassen. Dadurch haben sie den Rentnerräten Funktionen der Abteilungsgewerkschaftsorganisationen übertragen, die ihnen wesensfremd sind [...]. Die meisten Leiter der bedeutenden Gewerkschaftsorganisationen sind oft in Moskau. Da hätte man doch einmal die Frage stellen können, wie zu verfahren ist. Nein, man entscheidet selbständig vor Ort und vergisst, dass die Rechte der FZMK vom Obersten Sowjet der UdSSR gewährt worden sind und dass niemand diese Rechte außer Kraft setzen kann.“148
Während davon ausgegangen werden kann, dass die beschriebene Form des Fehlverhaltens für den Großteil der Rentner-, Arbeitsveteranen- und Ältestenräte kennzeichnend war, verstießen einzelne Organisationen auch in anderer Form gegen das, was von Beobachtern als adäquate Handlungsweise verstanden wurde. So entschieden manche Räte über die Aufnahme von Rentnern in die jeweilige Gewerkschaft, verwalteten die Karteikarten der vorhandenen Mitglieder, nahmen die Monatsbeiträge in Empfang oder stellten bei Verlust neue Mitgliedschaftsauswei146 GARF, F. R 5451, op. 24, d. 2064, ll. 8283. Der Bericht bildet eine der Grundlagen für die Verordnung des VCSPS-Präsidiums vom 21. Juli 1962 (siehe unten Anm. 182). Vgl. auch GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 3; CAOPIM, F. 3669, op. 1, d. 2, l. 153; Nužny li obosoblennye organizacii (14/62), S. 49. 147 Vgl. z. B. Poþemu v Omske, S. 44. Auf der Sverdlovsker Gebietskonferenz empfahl der Sekretär des Gebietsgewerkschaftsrats ýevtaev dementsprechend, überhaupt „keine Sektionen in den Rentnerräten zu gründen, sondern die Rentner in die Kommissionen der Werkkomitees aufzunehmen“. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 73. 148 Ebd., ll. 6768. Vgl. auch ebd., d. 780, l. 56.
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se aus.149 Andere beschäftigten sich nicht nur mit der Arbeitsvermittlung für die Rentner ihres Einzugsbereichs, sondern beteiligten sich ebenfalls an der Aushandlung des von ihnen zu beziehenden Erwerbsentgelts – oder agierten selbst als wirtschaftliche Betriebe.150 Auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1962 berichtete L. P. Lykova, dass einzelne Formationen sogar so weit gingen, Fragen zu besprechen, die das Plenum eines KPdSU-Bezirkskomitees betrafen, oder Kandidaten für Leitungsfunktionen in den Volkswirtschaftsräten vorzuschlagen.151 Verständlich werden solche Abweichungen von der Norm, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine entsprechende Richtschnur gar nicht existierte. Wie bereits erwähnt, zählten die Rentnerräte zu jenen Organisationsformen der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit, für die weder auf Unions- noch auf Republikebene einheitliche Statuten erlassen worden waren. Es galten folglich keinerlei verbindliche Richtlinien, die den Mitgliedern Auskunft darüber gegeben hätten, wie sie ihre Arbeit im Detail zu strukturieren hatten bzw. welchen Aktionsfeldern sie sich widmen konnten. Dass es hierbei zu erheblichen Variationen kommen musste, war somit unvermeidlich, zumal auch jene Gewerkschaftskomitees und Abteilungen der Sozialversorgung, die ihren Anleitungsauftrag ernst nahmen, keinen eindeutigen Vorgaben folgen konnten. Eine solche Freiheit widersprach den Vorstellungen vieler ehrenamtlich Aktiver, Gewerkschaftsfunktionäre und Vertreter der Sozialbürokratie, die in Übereinstimmung mit den von offizieller Seite an sie gerichteten Erwartungen agieren wollten. Dies führte dazu, dass die Bitte um die Verabschiedung einer allgemeingültigen und einheitlichen „Rentnerratsordnung“ (Položenie o sovetach pensionerov) ein gängiges Motiv in den Äußerungen sowohl von engagierten Aktivisten als auch von Gewerkschaftsfunktionären und Vertretern der Organe der Sozialversorgung war.152 Die politische Führung entzog sich jedoch einer solchen Standardisierung, wobei hierfür möglicherweise die Ablehnung seitens des Zentralrats der Sowjetgewerkschaften verantwortlich war. Eine solche Schlussfolgerung legte M. T. Cvetova auf einer im Dezember 1962 einberufenen Sitzung der Kommission für das Gesundheitswesen und die Sozialversorgung des Obersten Sowjets der RSFSR nahe. Als bei dieser Gelegenheit die Rentnerräte thematisiert wurden, erwähnte das Mitglied des Kollegiums des Ministeriums für Sozialversorgung, dass man in
149 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 68; F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 3. 150 Vgl. Vasilތev, Neskolތko nejasnych voprosov, S. 41; Dolgov, Ob uþastii, S. 46. 151 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 210. Wahrscheinlich handelte es sich bei den hier angesprochenen Fällen um dieselben, die auch in Nužny li obosoblennye organizacii (9/62), S. 72, angesprochen wurden: In der Baschkirischen ASSR hatte ein Bezirksrentnerrat den Verbleib des Stellvertretenden sovnarchoz-Vorsitzenden diskutiert, während ein anderer einen Beschluss mit dem folgenden Inhalt verabschiedet hatte: „Die Genossen Mezina, Mal’cev und Žarikov sollen an dem Plenum teilnehmen und dem Veteranenrat auf der Sitzung von 20. Februar dieses Jahres von den Ergebnissen berichten.“ 152 Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, l. 51; F. A 413, op. 1, d. 3044, l. 168; Vasilތev, Nepravilތnye vzgljadi, S. 35; Kulikov, Sovet pensionerov, S. 13; Ušakov, Slovo, S. 4243; Sovety pensionerov bolތšaja sila, S. 31.
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seinem Ressort drei bis vier Jahre zuvor einen Ordnungsentwurf ausgearbeitet hatte: „Zweimal wandten wir uns an den VCSPS, doch hat man uns eine kategorische Absage erteilt. Man sagte uns, dass die Initiative bei dem einzelnen Rentnerrat, der bei einem Betrieb oder einer Dienststelle eingerichtet worden ist, liegt und dass diese Räte unter der Anleitung der Partei- und Gewerkschaftsorganisationen nach denjenigen Plänen arbeiten sollen, die von selbigen Organisationen ausgearbeitet werden. Es wurde uns davon abgeraten, eine spezielle Ordnung für die Rentnerräte abzufassen.“153
Als Grund für die Ablehnung einer einheitlichen Gestaltung ihrer Arbeit ist also anzunehmen, dass man die Verfügungsgewalt von Partei und Gewerkschaften über die Räte nicht durch Vorgaben einschränken wollte. Man ging folglich davon aus, dass eine direkte Anleitung durch diese Instanzen gewährleistet und dass deshalb eine Handreichung für die ehrenamtlichen Aktivisten selbst überflüssig war.154 Nach außen hin wurde diese Haltung von führenden Vertretern der Sozialbürokratie geteilt. Einer der Stellvertretenden Minister der RSFSR für Sozialversorgung verwies beispielsweise darauf, dass die auf Ebene der Regionen, Gebiete und autonomen Republiken agierenden Partei- und Sowjetorgane besser als zentrale Institutionen einzuschätzen wüssten, welcher Beitrag vor Ort vonnöten sei.155 Ebenso sahen die Verfasser eines 1960 publizierten Social’noe obespeþenie-Leitartikels bei den Ratsaktivitäten die Grenzen der Planbarkeit erreicht: Man könne sich kein Dokument denken, das alle Situationen berücksichtige, mit denen die Räte der Arbeitsveteranen konfrontiert seien.156 Da von zentraler Stelle keine Vorgaben gemacht wurden, übernahmen es die Mitglieder der Rentnerorganisationen vielerorts selbst, Statuten festzulegen, an denen sie sich in ihrem Handeln orientieren konnten.157 153 GARF, F. A 385, op. 13, d. 1132, ll. 2324. Das Dokument, das M. T. Cvetova hier anspricht, ist aller Voraussicht nach identisch mit dem in GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, ll. 5962, einsehbaren Entwurf einer „Ordnung über die Rentnerräte“. Zur fehlenden Erlaubnis für die Veröffentlichung eines solchen Statuts vgl. ebenfalls GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 43. 154 Eine solche mochte auch deshalb nicht wünschenswert erscheinen, weil sie die Position der Rentnerräte in gewisser Weise gestärkt hätte: Veröffentlichte Statuten hätten den Ratsmitgliedern Argumente dafür geliefert, sich dem Einfluss ihrer Dachorganisationen zu widersetzen, wenn diese sich nicht an den Wortlaut der Regelungen gehalten hätten. 155 Vgl. Dolgov, Ob uþastii, S. 49. 156 Vgl. Sovety veteranov truda, S. 3. 157 Vgl. Nužny li obosoblennye organizacii (9/62), S. 71; Nužny li obosoblennye organizacii (14/62), S. 50; GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 80. Beispiele für solche Rentnerratsordnungen finden sich z. B. in Uþastie obšþestvennosti v rabote, S. 152163; GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, ll. 2629. Begleitet wurde diese Normierungstätigkeit zumindest in den ersten Jahren von der Social’noe obespeþenie, auf deren Seiten zum einen Artikel über den Erfahrungstausch von Rentneraktivisten (Vgl. z. B. Veterany truda obmenivajutsja opytom (1958); Veterany truda obmenivajutsja opytom (1960); Gužov Krupyšev, Opyt.), zum anderen Konsultationen und Beschreibungen einer als positiv verstandenen Ratstätigkeit abgedruckt wurden. Vgl. z. B. Strumilovskij, Sovet veteranov; V pomošþ’ sovetam pensionerov; Skromnye i
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Mit der Bemängelung der Übernahme vermeintlich wesensfremder Aufgaben zollte man bereits dem Umstand Rechnung, dass die Räte ein – für den Geschmack der Autoritäten – zu hohes Maß an Eigeninitiative zeigten. Die an ihnen geübte Kritik machte hier jedoch nicht halt: Den Kern der Beanstandungen bildete der Vorwurf, dass diese Entfernung von der „Norm“ sie dazu verleite, sich vor allem mit den Anliegen der eigenen Klientel zu beschäftigen. K. M. Dolgov etwa hielt es für einen Fehler, dass sich einige Räte mit der rechtlichen Beratung von Rentnern, der Stellung von Anträgen in ihrem Namen sowie der Einrichtung von Hilfskassen befassten und sich als „selbständige, unabhängige Organisationen“ gerierten. Ferner gab er zu bedenken, dass manche Räte scheinbar all ihre Kräfte darauf verwandten, die Gewährung zusätzlicher Vergünstigungen und Privilegien für die Rentnerschaft zu erreichen. Hierzu zählte er etwa die Erlaubnis zur unentgeltlichen Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, die kostenlose Bereitstellung von Medikamenten, die Gewährung von Mietnachlässen und die Legalisierung verschiedener Formen des Nebenverdiensts.158 Ein ehrenamtlicher Inspektor namens S. Vasil’ev, der sich mit der Arbeit der Leningrader Organisationen beschäftigt hatte, berichtete in der Social’noe obespeþenie von ähnlichen Eindrücken. Ihm zufolge war es gerade für einige der bei Hausverwaltungen und Wohnungskontoren eingerichteten Räte kennzeichnend, dass sie der Unterstützung und Betreuung der älteren und invaliden Bürger eine unbegründet hohe Aufmerksamkeit schenkten. Dies sei zwar dort, wo eine reelle Notlage vorliege, richtig, stelle aber nicht den Kern der Ratstätigkeit dar: Hauptaufgabe sei schließlich die Mobilisierung der Rentner für die Erfüllung nationaler Aufgaben unter der Anleitung der Partei- und Sowjetorganisationen.159 Auf ein solches Fehlverhalten kam man ebenfalls auf der im Januar 1959 durchgeführten Gebietsversammlung der Sverdlovsker Arbeitsveteranen zu sprechen. In seinem Bericht über die Veranstaltung führte der bereits erwähnte ýevtaev dabei die Verantwortung an, die seiner Auffassung nach die Gewerkschaftskomitees auch für diese Praxis besaßen: „Wie die Erörterung gezeigt hat, gibt es in der Arbeit einer Reihe von Rentnerräten Mängel, die durch die schwache Anleitung und Unterstützung [...] von Seiten der Gewerkschaftsorganisationen zu erklären sind. Um einen solchen Fehler handelt es sich bei der Erscheinung, dass ein spezieller, tatsächlich nicht besonders großer Teil der Rentner bestrebt ist, die gesellschaftliche Tätigkeit der Rentner auf den engen Rahmen der Selbstbetreuung zu reduzieren, die Rentnerräte zu so etwas wie einer Berufsorganisation zu machen, die nur für die persönlichen Alltagsbedürfnisse der Rentner eintreten und sich nur um die Zufriedenstellung ihrer slavnye dela. Auf Gebietsebene erließen auch Gewerkschaftsräte entsprechende Ordnungen. Vgl. hierzu GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 27; d. 835, l. 52. 158 Dolgov, Ob uþastii, S. 4647. Vgl. auch Nužny li obosoblennye organizacii (9/62), S. 72. Ebenfalls als Einrichtungen, die sich „wie selbständige Organisationen“ verhielten, kritisierte L. P. Lykova 1963 die Stadt- und Bezirksrentnerräte in Rostov am Don, die „separate Räumlichkeiten für ihre Lager, Finanzmittel für Büromaterial, Portokosten, Transport- und andere Ausgaben, die Übertragung der Zuständigkeit für Klubs, Sanatorien und Erholungsheime gefordert haben“. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3696, l. 169. Vgl. hierzu auch GARF, F. R 5451, op. 24, d. 2064, l. 83. 159 Vgl. Vasilތev, Nepravilތnye vzgljadi, S. 35.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner kulturellen Anliegen sorgen. Diese falschen Ansichten wurden von fast allen, die auf der Versammlung der Arbeitsveteranen das Wort ergriffen, verurteilt.“160
Der Begriff der „Berufsorganisation“ scheint hier gerade vor dem Hintergrund, dass der Ruhestand ja gerade die Beendigung der Erwerbstätigkeit impliziert, nicht zutreffend und ist als Synonym für denjenigen der „Interessenorganisation“ zu begreifen. Verwendung fand er schon zuvor, beispielsweise im Leitartikel der den Rentnerräten gewidmeten Septemberausgabe der Social’noe obespeþenie. In ihm begründete man, weshalb die Wahrnehmung der Rentnerräte als Berufsorganisationen unstatthaft sei: „Der Rentner, das ist kein Beruf, keine besondere soziale Gruppe. Die Rentner verfügen nicht über irgendwelche besonderen Interessen und Bedürfnisse, die sich von den Interessen und Bedürfnissen sowjetischer Arbeiter und Angestellten unterscheiden. Es ist vollkommen unnütz, wenn die Rentnerorganisationen im eigenen Saft schmoren, während ihnen die Weite des gesellschaftlichen Lebens offen steht.“161
Die Annahme, dass die Absonderung eines Teils der Rentnerräte darin gipfelte, dass diese als regelrechte Interessenorganisationen auftraten, stützt sich nun jedoch nicht nur auf die Stellungnahmen von Vertretern der Gewerkschaftsorganisationen und des Ministeriums der RSFSR für Sozialversorgung. Eine Bestätigung findet sie auch in den Äußerungen und der Verhaltensweise der Aktivisten selbst. Dass die Sorge um das Wohlergehen der eigenen Altersgenossen schon früh in ihrem Fokus stand, machen auch die Berichte über Räte deutlich, deren Vorgehen auf den Seiten der Social’noe obespeþenie als lobenswert vorgestellt wurde. So schrieb hier z. B. G. Kuz’minych, Vorsitzender eines betrieblichen Arbeitsveteranenrates im transbaikalischen ýita, davon, dass zu den Pflichten seiner Organisation auch die „Berücksichtigung der Bedürfnisse und Forderungen der Rentner sowie die Unterstützung bei deren Befriedigung“ gehöre.162 Ob das Engagement der Ehrenamtlichen in den Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen nun die anderen Tätigkeitsbereiche in den Schatten stellte oder nicht, kann nicht abschließend geklärt werden. Unwahrscheinlich klingt eine solche Behauptung allerdings nicht: Die Unterstützung von hilfsbedürftigen Bürgern versprach schließlich eine höhere Befriedigung als der Versuch, früheren Arbeitskollegen mit einem Rat zur Seite zu stehen, der von ihnen möglicherweise als Einmischung interpretiert wurde. Zudem legt die Tatsache, dass diese Unterabteilungen in so gut wie allen Räten eingerichtet worden waren, über die Informationen zur Verfügung stehen, in jedem Fall nahe, dass ihren Aktivitäten vielerorts eine beträchtliche Bedeutung beigemessen wurde. Zwar handelte es sich bei der Vermittlung von materiellen Beihilfen, Wohnraum und Heizmaterial an notleidende sowie der von Berechtigungsscheinen für Sanatorien und Erholungsheime an kranke oder als besonders verdient geltende Rentner um Tätigkeiten, die auch deshalb als gesellschaftlich nutzbringend galten, weil sie Gewerkschaften und Or160 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 49. Vgl. auch Veterany truda obmenivajutsja opytom (1960), S. 44. 161 Naši luþšie pomošþniki, S. 3. 162 Kuzތminych, Ne chotim.
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gane der Sozialversorgung entlasteten. Für die Ehrenamtlichen selbst mochte jedoch im Vordergrund stehen, dass es sich hier um einen Dienst an den Mitgliedern der Rentnerschaft handelte. Als der Interessenwahrung dienend lassen sich ebenso andere von den Räten übernommene Aufgaben charakterisieren. Ein Beispiel bietet hier etwa der beim Hüttenkombinat der Stadt Serov (Gebiet Sverdlovsk) eingerichtete Rentnerrat. Dessen Vorsitzender Vorob’ev ging in seinem im Mai 1961 verfassten Tätigkeitsbericht auch auf die von seiner Organisation gezeigte „Sorge“ um die Alten und Invaliden ein: „[...] es gibt Beschwerden über Verzögerungen bei der Rentenauszahlung, z. B. die Beschwerde des Rentners O. I. Mel’þakov, eines Invaliden des Vaterländischen Krieges. Er soll Ende des Monats vor die Kommission [für die Rentenfestsetzung] treten. Bis zur Verkündigung des Ergebnisses hat man die Auszahlung der Rente eingestellt. Genosse Mel’þakov ist gelähmt, die Ehefrau krank, die Tochter invalide und der Sohn geht zur Schule. Eine vierköpfige Familie, die von 40 R Rente lebt, und diese hat man eingestellt, wodurch die Familie in eine außerordentlich schwierige Situation geraten ist. Das Einschreiten des Rentnerrats hat ihnen geholfen, die Rente zu erhalten.“163
Einen Einsatz, der sich nicht auf die im Wirkungskreis des Rates wohnhaften Personen beschränkte, sondern die Interessen der Rentnerschaft in ihrer Gesamtheit adressierte, zeigte der städtische Rat von Gorodišþe (Gebiet Penza). Seine Mitglieder schrieben im Dezember 1964 an den Ministerrat der RSFSR, um gegen die bereits erwähnte Benachteiligung der Bezieher von Rentenleistungen bei der Kreditaufnahme zum Kauf dauerhafter Konsumgüter zu protestieren. Stein des Anstoßes war hier die Tatsache, dass man den Alten und Invaliden etwas vorenthielt, was der erwerbstätigen Bevölkerung gewährt wurde. Man vertrat also ein emanzipatorisches Anliegen, wenn man konstatierte: „Dieser zehnte Teil der Bevölkerung [bezogen auf die Einwohnerschaft von Gorodišþe; L. M.] – die Rentner – befindet sich in einer im Vergleich mit den Arbeitern und Angestellten rechtlich ungleichen Situation. [...] Sie verfügen über viele Vergünstigungen im Bereich des Gesundheitswesens, aber in Bezug auf die kulturelle Betreuung und die Versorgung mit Dienstleistungen ist ihnen versagt, all das zu nutzen, was die arbeitstätigen Sowjetmenschen nutzen können. Ein Beispiel: Im Dienstleistungskombinat kann der Rentner auf Kredit keine Kleidung bestellen. Er kann auch keinen Aufschub bei der Bezahlung für eine Wohnungsreparatur erwirken, in der Staatsbank kein Darlehen für den Wohnungsbau erhalten usw. Wir bitten darum, diese Fragen der kulturellen Betreuung der Rentner und ihrer Versorgung mit Dienstleistungen zu prüfen und für eine Situation zu sorgen, in der sie gegenüber allen in der Produktion tätigen Arbeitern und Angestellten gleichberechtigt sind.“164
Voraussetzung dafür, dass sich die Räte in diesem Sinne für ihre Klientel aussprachen, sich mit solchen und ähnlichen Anliegen sowohl an lokale als auch an höhergestellte Partei-, Sowjet- und Gewerkschaftsorgane wandten, war ein beträchtliches Selbstbewusstsein. Es speiste sich zum einen, wie gesehen, schon aus dem
163 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 88. 164 GARF, F. A 259, op. 45, d. 3969, ll. 1415.
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rein quantitativen Gewicht, dass man innerhalb der lokalen Bevölkerung besaß,165 zum anderen aber aus den für die qualifikatorische Reziprozität typischen Vorstellungen: Die Ehrenamtlichen sahen sich als Vertreter einer Bevölkerungsgruppe, die viel zur Entwicklung der sozialistischen Ordnung, zum Sieg über die deutsche Wehrmacht, zum Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg etc. beigetragen hatte, deren Verdienste zudem durch die Durchführung der Rentenreform und die diese begleitenden offiziellen Stellungnahmen als allgemein anerkannt gelten konnten. Eine solche Wahrnehmung befähigte die Räte dazu, im Kontakt mit den örtlichen Machtinstanzen selbstsicher und bisweilen regelrecht fordernd aufzutreten. Dazu gehörte auch, dass man die eigenen Tätigkeiten ernst genommen wissen wollte. So beschwerte sich 1960 etwa ein Mitglied des auf der Ebene des Oktjabrskij-Stadtbezirks von Omsk eingerichteten Rentnerrats in der Social’noe obespeþenie darüber, dass das Exekutivkomitee des zuständigen Bezirkssowjets keinerlei Konsequenzen aus den von den Ehrenamtlichen durchgeführten Kontrollen ziehen würde und alle Mängel unkorrigiert blieben.166 Selbstvertrauen zeigte ebenfalls der Rat des Sverdlovsker Kirov-Stadteils. Aus dem – oben angeführten – Befund, dass die Gewerkschaftskomitees ihres Bezirks kaum Interesse an den Rentneraktivitäten zeigen würden, leitete man unbescheiden einen Handlungsauftrag für die nächsthöhere gewerkschaftliche Hierarchieebene ab: „Der Gebietsrat der Gewerkschaften muss hieraus seine notwendigen Schlüsse ziehen und die betreffenden Personen dazu zwingen, der Verbesserung der Arbeit mit den gesellschaftlichen Organisationen seiner Betriebe, insbesondere mit unseren Räten der Arbeitsveteranen, Aufmerksamkeit zu schenken.“167 Welche Unbequemlichkeiten sich aus dem selbstbewussten Gebaren der Rentner ergeben konnten, machte auch der anonyme Verfasser eines 1963 erschienenen Social’noe obespeþenie-Artikels deutlich, der sich dem Phänomen der territorial organisierten Räte gewissermaßen in der Rückschau widmete: Statt unter der Anleitung von Sowjet-, Partei- und Gewerkschaftsorganen tätig zu werden, hätten sie diesen Instanzen „hier und da [sogar] Widerstand geleistet“.168 Ein oppositioneller Charakter wurde den Rentnerorganisationen ebenfalls von dem KP-Mitglied N. P. Matjunina bescheinigt, das im Februar 1964 an einer Parteiversammlung der Sozialversorgungsabteilung des Moskauer Baumanskij-Bezirks teilnahm. Einen Gesprächspartner über die in der Presse an den Rentnerräten geübten Beanstandungen informierend, stellte sie fest: „Kritisiert wurden Rentnerräte [...], die 165 Auf der Mitarbeiterkonferenz des Jahres 1960 berichtete so z. B. der Vorsitzende des Pjatigorsker Stadtrentnerrats Januševskij von einer Begegnung mit einem Veteranen, der im Ersten Weltkrieg eine Division kommandiert hatte, bei der er diesem voller Stolz entgegnet habe: „Du verfügtest über eine Armee von 3.000 bis 4.000, ich verfüge jetzt über eine Armee von 18.000 Menschen.“ GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 77. 166 Vgl. Poþemu v Omske, S. 45. 167 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 803, l. 76. Darauf, dass die Gebietsgewerkschaftsräte oft selbst kein Interesse dafür aufbrachten, wie vor Ort mit den Rentnern gearbeitet wurde, verweist z. B. P. Kljuev in GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 62. 168 Nužny li rajonnye, S. 13.
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sich nicht mit dem beschäftigt haben, was notwendig ist. Sie stellten sich vielen Sowjet- und Parteiorganisationen entgegen, und das darf nicht sein.“169 Agierten Rentnerorganisationen als Vertreter der Interessen ihrer Altersgenossen, so war dies nicht nur auf die Initiative besonders motivierter Mitglieder zurückzuführen, die zu der Schlussfolgerung gelangt waren, dass ihre Tätigkeiten sich nicht auf die bloße Unterstützung von staatlichen und betrieblichen Organisationen beschränken sollten. Hier spielten gleichzeitig strukturelle Rahmenbedingungen eine Rolle, die ebenso für andere Organisationen der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit charakteristisch waren. Dabei kam vor allem dem Umstand Bedeutung zu, dass die Mitglieder dieser Formationen nicht allein der Partei, den Gewerkschaftsorganisationen und Sowjetorganen verpflichtet waren, die sich im Idealfall ihrer Anleitung widmeten. Sie hatten sich zudem gegenüber jenen Kollektiven zu verantworten, die sie in die jeweilige Einrichtung hinein gewählt hatten – und von denen sie nach Ablauf von einem oder zwei Jahren in ihrer Mitgliedschaft bestätigt werden mussten. Dass eine solche Abhängigkeit nicht ohne Folgen blieb, konstatiert insbesondere Ju. M. Kozlov, dem zufolge selbsttätige Organisationen, die von der Öffentlichkeit (obšþestvennost’) gebildet wurden, auch deren Anliegen verpflichtet waren. So repräsentiere ein Hauskomitee etwa die Interessen der Hausbewohner, das Elternkomitee einer Schule jene der elterlichen Allgemeinheit. Doch sei dies noch nicht alles: „Die Hauptsache besteht darin, dass auch die Organe selbst ohne eine Verbindung zu der jeweiligen Allgemeinheit nicht existieren können. Gerade die Bürger wählen sie ja auf ihren allgemeinen Versammlungen, die ebenfalls den organisatorischen Ausdruck der Interessen der entsprechenden Kollektive [...] darstellen. Die in offener Abstimmung gewählten gesellschaftlichen Organe arbeiten unter der Kontrolle der Bürger, sie legen vor den Versammlungen der Allgemeinheit Rechenschaft über ihre Tätigkeit ab. [...] Der Begriff der Organisationen der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit ist untrennbar mit demjenigen Bürgerkollektiv verbunden, das das Komitee oder den Rat wählt und es bzw. ihn dadurch beauftragt, seine Interessen vor den entsprechenden Verwaltungsorganen zu vertreten.“170
Ob sich Kozlovs Überlegungen tatsächlich auf die gesamte Vielfalt selbsttätiger Organisationen übertragen lassen, ist an dieser Stelle nicht zu beantworten. Für das Verhalten jener Rentnerräte, die als Interessenvertretungen auftraten, besitzen sie jedoch einiges Erklärungspotential: Die Gewissheit, die Gesamtheit der Rentnerschaft – des jeweiligen Betriebs, Bezirks oder der jeweiligen Stadt – zu vertreten, trug zu dem Selbstbewusstsein, mit dem sie mitunter auftraten, sicherlich bei. Zugleich bieten aber auch die Quellen Hinweise darauf, dass es sich bei den konstituierenden Rentnerversammlungen keinesfalls immer um Wahlveranstaltungen handelte, die lediglich einen Alibicharakter besaßen. Hier wurde mitunter offen Kritik an der mangelhaften Arbeit der Ratssektionen und der ausbleibenden Unterstützung z. B. durch die Werk- und Fabrikkomitees geäußert. Ein Beispiel für eine in dieser Weise unzweifelhaft lebendige Zusammenkunft bot die bereits angeführte Rentnerversammlung des Sverdlovsker Turbomotorenwerks, auf deren 169 CAOPIM, F. 4443, op. 1, d. 23, l. 27. 170 Kozlov, Sootnošenie, S. 103104.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
Tagesordnung ebenfalls der Rechenschaftsbericht des Rates und die Wieder- bzw. Neuwahl seiner Mitglieder standen. Aus dem zugehörigen Protokoll geht deutlich die Unzufriedenheit mancher Rentner über die Leistung ihrer Vertreter hervor. Man missbilligte so etwa den fehlenden Einsatz der Ehrenamtlichen bei der Erziehung der Jugend, die ein ungebührliches Verhalten an den Tag lege, sowie die zu gering ausfallende Unterstützung des betrieblichen Chors – und appellierte an den neu zu wählenden Rat, die Missstände zu beheben. Auf den mangelhaften Einsatz für die Belange der Rentner selbst kam bei dieser Gelegenheit ein gewisser Ivanov zu sprechen, dessen Beitrag die Züge einer Fundamentalkritik aufwies, die sogar die allgemeine Qualität des Rentensystems mit einschloss: „[...] ich bin zu dem Schluss gelangt, dass seine [des Rentnerrats; L. M.] gesamte ,aktive Tätigkeit ދdarin bestanden hat, am Tisch zu sitzen und zu den Feiertagen Glückwünsche zu verschicken. Aber hat sich der Rentnerrat mit der Frage beschäftigt, ob jene Summe ausreicht, die der Staat auszahlt? Die Rente, die wir bekommen, reicht nicht aus, aber das zwingt ihn nicht dazu, aktiv zu werden. Der Rentnerrat muss aktiv arbeiten, dann wird alles gut.“171
Dem Wirken der Organisation als Wahrerin der Rentnerinteressen galt auch die Aufmerksamkeit jener Teilnehmer, die auf die sozialen Tätigkeiten des Rats Bezug nahmen. Ein Redner namens ýervjakov kritisierte die Untätigkeit der Sektion für Lebensbedingungen angesichts der Tatsache, dass der zavkom keinen Wohnraum für die ehemaligen Mitarbeiter bereitstelle. Ein anderer, Artem’ev mit Namen, widmete sich der Frage der Zuteilung von Berechtigungsscheinen für Sanatoriumsaufenthalte. Zwar lobte er den Einsatz der Ehrenamtlichen auf diesem Gebiet, doch äußerte er gleichfalls seinen Unmut über dessen bescheidene Ergebnisse. Er befand, dass sie weitaus zufriedenstellender ausfallen würden, wenn man auf die Unterstützung von Partei und Gewerkschaft zählen könnte. Ebenso wie Ivanov richtete Artem’ev einen ausdrücklichen Handlungsauftrag an die neuen Ratsmitglieder, wobei er sie zu einem kraftvollen Auftreten gegenüber den örtlichen Autoritäten aufrief: „Wir haben 35 bis 40 Jahre abgearbeitet. Ich selbst habe 33 Jahre in einer heißen Werksabteilung gearbeitet, und nun geben sie uns bei 220 Rentnern drei Berechtigungsscheine für einen Kuraufenthalt. In anderen Räten verhält es sich besser mit den Berechtigungsscheinen. Das Werkkomitee und die Parteiorganisation müssen das berücksichtigen. Die neuen Mitglieder des Rentnerrats müssen mehr vom Werkkomitee fordern, und das Werkkomitee muss den Rentnern mehr Aufmerksamkeit zollen.“172
Mit dem Verweis auf die Lebensarbeitszeit bediente sich auch Artem’ev des für die Anspruchsgemeinschaft charakteristischen Argumentationsmusters. Der Beitrag, der er und seine Altersgenossen in den Jahren ihrer Erwerbstätigkeit geleistet hatten, stellte jene „Vorleistung“ dar, die die an Gewerkschaft und Partei gerichteten Forderungen zu einer gerechten Sache werden ließ. Ein weiteres, besonders aussagekräftiges Indiz dafür, dass von der Entwicklung mancher Rentnerräte zu regelrechten Interessenorganisationen gesprochen
171 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 833, l. 90. 172 Ebd., l. 89.
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werden kann, bietet schließlich ein ebenfalls häufig gegen die Räte ins Feld geführter Kritikpunkt: Es wurde ihnen vorgehalten, dass sie vielerorts bestrebt seien, sich eine eigenständige hierarchische Struktur zu verleihen, was ihrem Charakter als Organisation der gesellschaftlichen Selbsttätigkeit zuwiderlaufe. Im Zentrum entsprechender Anschuldigungen standen zumeist die nach dem Territorialprinzip organisierten Stadt- und Bezirksrentnerräte, denen nicht nur die Absonderung von Partei und Sowjetorganen vorgeworfen wurde, sondern auch die Übernahme von Leitungskompetenzen für Räte, die auf der Ebene der Betriebe oder Hausverwaltungen des Bezirks operierten. Die Tatsache, dass sich solche Einrichtungen nicht nur auf die Unterstützung der örtlichen Exekutivkomitees oder die Konsultation der anderen sich in der jeweiligen Stadt bzw. dem jeweiligen Bezirk befindenden Räte beschränkten, sondern als Repräsentanten dieser Einheiten und ihnen mitunter gegenüber sogar weisungsbefugt interpretierten, ist nicht zu leugnen. Ein Beispiel hierfür war etwa der oben angeführte Rentnerrat des Sverdlovsker KirovBezirks, der das fehlende den betrieblichen Einrichtungen seines Bereichs entgegengebrachte Interesse zum Anlass für einen Appell an den Gebietsrat der Gewerkschaften nahm.173 Der Gedanke der Leitungsfunktion der Stadt- bzw. Bezirksräte fand durchaus einige Befürworter, vermochten sie den betrieblichen Organisationen doch eine Orientierung zu geben, die umso wichtiger war, als dass eindeutige Vorgaben zur Arbeitsgestaltung bekanntlich fehlten. Galkin, der die Rentnerräte der Baschkirischen ASSR für die Regierung der RSFSR inspiziert hatte, machte für die von ihm im Ordžonikidze-Bezirk der Stadt Ufa aufgedeckten Missstände gerade das Nichtvorhandensein eines anleitenden Bezirksrentnerrats verantwortlich.174 Für eine gewisse Rangfolge (staršinstvo) unter den Rentnerorganisationen sprachen sich auch I. Gužov und S. Krupyšev aus, zwei Vertreter des städtischen Rentnerrats von ýerepovec, deren Artikel als Diskussionsbeitrag in der Social’noe obespeþenie abgedruckt wurde. Sie verwendeten sich dabei gegen die Auffassung von S. Vasil’ev, der sich zuvor auf den Seiten derselben Zeitschrift175 gegen jedwede Hierarchie unter den Räten ausgesprochen hatte: „Für falsch halten wir ebenso den Einwand des Genossen Vasil’ev [...] gegen die Höherrangigkeit dieses Rates [eines Stadt- oder Bezirksrentnerrats; L. M.] im Verhältnis zu den übrigen Rentnerräten. [...] In den Betrieben werden die Rentnerräte in der Praxis oft mit Unterstützung des städtischen Rentnerrats gegründet. In ýerepovec wurden beispielsweise alle neun Zweigarbeitsveteranenräte mit Hilfe des Stadtrentnerrats eingerichtet. Weshalb kann dieser denn im Folgenden nicht verwandtschaftliche Beziehungen zu diesen Einrichtungen aufrechterhalten, mit dem Status der ältesten Bruderorganisation? Der Erfahrungsaustausch unter ihnen, die lebendige Verbindung und die allgemeine Ausrichtung ihrer Tätigkeit können dieser gesellschaftlichen Bewegung doch nichts außer Nutzen bringen. Alle diese Aufgaben
173 Um eine den einzelnen Einrichtungen eindeutig übergeordnete Instanz handelte es sich ebenfalls bei dem in der Stadt Njandoma (Gebiet Archangel’sk) gegründeten „Organisationskomitee der Rentnerräte“. Vgl. Monastyrskich, Pensionery. 174 Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 42. 175 Vgl. Vasil’ev, Nepravil’nye vzgljadi.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner kann man dem Stadtrentnerrat auferlegen, natürlich, ohne dass ihm die betrieblichen Rentnerräte in irgendeiner Weise administrativ unterstellt werden.“176
Obwohl die beiden Autoren explizit anmerkten, dass hier keine „administrative Unterstellung“ vorlag, war der in dem Beispiel beschriebene Stadtrentnerrat den anderen doch zweifelsohne übergeordnet. Wie sehr der von Gužov und Krupyšev vertretene Standpunkt der offiziellen Sichtweise zuwiderlief, machte die Redaktion der Zeitschrift deutlich, die sich veranlasst sah, dem Artikel einen Hinweis darauf folgen zu lassen, dass sie mit seiner Tendenz nicht übereinstimmte: Irgendeine Form der Höherrangigkeit eines städtischen Rentnerrats im Vergleich zu den Organisationen in den Betrieben sei schlechterdings überflüssig.177 Kritische Auseinandersetzungen mit der Hierarchisierung der Räte nahmen denn auch einen ungleich größeren Raum auf den Seiten der Social’noe obespeþenie ein. Missbilligung fand hier etwa das Beispiel des bei der Hauptverwaltung von Metrostroj gegründeten „zentralen Rentnerrats“, dem gegenüber die in den Wohnsiedlungen der Arbeiter dieses Moskauer U-Bahn-Baubetriebs gegründeten Räte rechenschaftspflichtig waren. Ersterer sandte zudem jeweils zwei Bevollmächtigte in die Siedlungsräte. Der Bekundung der Vertreter des zentralen Rentnerrats, dass man keine direkten Weisungen erteile, schenkte der anonym bleibende Verfasser des betreffenden Artikels keine Beachtung: Zu erkennen seien hier die typischen Merkmale einer Organisation, die untergeordnete Einheiten anleite. Eine solche behördenähnliche Struktur mache jedoch keinen Sinn, da die „Rentnerräte [bereits] von denjenigen Partei- und gesellschaftlichen Organisationen oder Sowjetorganen, bei denen sie eingerichtet worden sind, geleitet werden“.178 Eine andere gegen diese Subordination gerichtete Argumentationslinie zielte auf die unterschiedlichen Tätigkeitsfelder der einerseits nach dem Produktions-, andererseits nach dem Territorialprinzip organisierten Räte. So verwies man im Leitartikel der im Mai 1960 veröffentlichten Social’noe obespeþenie-Ausgabe darauf, dass die „Bestrebung einiger Genossen, eine zentralisierte, vertikale Struktur der Rentnerräte zu schaffen“, als falsch anzusehen seien, weil man mit den verschiedenen Ratsformen inkompatible Ziele verfolge: Die Bezirks- oder Stadtrentnerräte sollten die Sowjet- und Parteiorgane des Bezirks oder eben der Stadt unterstützen, die betrieblichen Räte hingegen vor allem den Wirtschaftsbetrieben und deren Gewerkschaftsorganisationen behilflich sein.179 Die Ansätze zur Schaffung hierarchischer Strukturen beschränkten sich allerdings nicht nur auf die genannten unteren Verwaltungsebenen. Manche Aktivisten verfolgten Pläne, die weit über diese hinausreichten und im Falle ihrer Verwirkli176 Gužov Krupyšev, Opyt, S. 4041. 177 Vgl. ebd., S. 41. 178 Nenužnaja centralizacija, S. 42. Eine ähnliche Struktur wiesen die Rentnerräte des LeninHüttenkombinats von Nižnij Tagil auf. Vgl. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 835, ll. 41 u. 43. Mit der Anleitung der Räte durch die Partei, Gewerkschaften etc. begründen auch andere Autoren ihre Ablehnung solcher Hierarchien. Vgl. z. B. Davajte pogovorim, S. 38; Vasilތev, Neskolތko nejasnych voprosov, S. 42. 179 Sovety veteranov truda, S. 3.
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chung möglicherweise zur Entstehung einer Massenorganisation geführt hätten, deren Reichweite derjenigen des Sowjetischen Komitees der Kriegsveteranen vergleichbar gewesen wäre. Eine entsprechende Gefahr sah K. M. Dolgov bereits 1959: „Einige Rentner streben danach, eine Unionsorganisation der Rentner zu gründen, mit Republik-, Regions-, Gebiets- und Bezirksabteilungen, mit einer vertikalen Hierarchie, mit einer Rechenschaftslegung der nachgeordneten gegenüber den übergeordneten Abteilungen und dergleichen mehr. Aber wozu ist das von Nutzen? [...] Wozu soll man denn die selbsttätigen, freiwilligen örtlichen Rentnerorganisationen in eine zentralisierte ,Gesellschaft ދmit Rechenschaftslegung, Apparat usw. verwandeln?“180
7.4.1. Die Kampagne gegen die Rentnerräte Die Häufigkeit, mit der die beschriebenen Mängel zum Gegenstand einer öffentlich und intern an den Rentnerräten geäußerten Missbilligung wurden, nahm innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraumes deutlich zu und spiegelte derart ihren raschen Kursverfall wider. Als man Ende der 1950er Jahre erste Texte publizierte, die das Fehlverhalten von solchen Einrichtungen zur Sprache brachten, stand bei weitem noch nicht die Organisationsform als Ganzes im Fokus der Aufmerksamkeit. Dolgovs 1959 geäußerte Vorwürfe richteten sich so beispielsweise nur gegen „einige Rentnerräte“ sowie „diesen und jenen Rentner“. Der Schwerpunkt seines Artikels lag jedoch auf dem Lob der Rentnerräte, die einen „Achtung genießenden Platz bei der schöpferischen Arbeit des sowjetischen Volkes, das den Kommunismus aufbaut“, genössen.181 Nur wenige Jahre später hatte sich die Perspektive grundlegend gewandelt, und die Rentnerräte gerieten so sehr in die Kritik, dass es offensichtlich wurde, dass sie keinerlei Sympathien der politischen Führung mehr genossen. Der Umstand, dass sich die drei auf dem Papier für ihr Wirken maßgeblichen Institutionen beinahe gleichzeitig in der einen oder anderen Form von ihnen distanzierten, gestattet es, diesbezüglich von einer regelrechten Kampagne gegen die Rentner- und Arbeitsveteranenräte zu sprechen. Die Ablehnung, die diese Einrichtungen von Seiten der sowjetischen Gewerkschaften erfuhren, hatte in dem Sinne die schwerwiegendsten Folgen, als dass sie zum Gegenstand eines entsprechenden Rechtsaktes wurde. Hierbei handelte es sich um die am 21. Juli 1962 vom Präsidium des VCSPS verabschiedete Verordnung „Über die Verbesserung der Arbeit der gewerkschaftlichen Organisationen im Bereich der Heranziehung der Rentner zur Teilnahme an der gesellschaftlichen Tätigkeit“. In ihr wurde beklagt, dass sich die Gewerkschaftskomitees zu wenig 180 Dolgov, Ob uþastii, S. 4748. Erwähnt sei an dieser Stelle auch, dass in der Baschkirischen ASSR ein auf Ebene der Autonomen Republik operierender „Veteranenrat“ existierte. Hier konnte jedoch nicht mit Sicherheit geklärt werden, ob es sich um einen überregionalen „Rat der Arbeitsveteranen“ handelte oder um eine Vereinigung ehemaliger Frontsoldaten. Vgl. GARF, F. A 259, op. 42, d. 7875, l. 39. 181 Dolgov, Ob uþastii, S. 4748. Vgl. auch GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 49; Veterany truda obmenivajutsja opytom (1960), S. 44.
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für die Mobilisierung dieses Personenkreises einsetzen würden und dass deren reiche Erfahrung somit sowohl für die Betriebe als auch für die Fabrik- und Werkkomitees verlorengehe. Richtete sich dieser Punkt noch gegen das gewerkschaftliche Desinteresse, so kritisierten die Verfasser ebenfalls die Rentnerräte selbst, wobei sie auf jegliche Differenzierung verzichteten und die Organisationen in toto adressierten. Angeführt wurden die bekannten Vorwürfe: Sie würden Parallelarbeit zur Tätigkeit der Gewerkschaftskomitees und deren Kommissionen leisten und dadurch versuchen, selbige zu ersetzen. Sie würden sich in ihnen wesensfremde Fragen einmischen, wozu man die Einmischung in Personalfragen und Gewerkschaftsangelegenheiten ebenso zählte wie die sozialen Aktivitäten der Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen. Ein solches Verhalten führe zur „Isolierung der gesellschaftlichen Kräfte, zur Opposition der Rentnerorganisationen gegen die Tätigkeit der gewerkschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Organisationen, wodurch der Arbeit ein Schaden zugefügt werde“. In der Konsequenz teilte das VCSPS-Präsidium mit, dass es dieses Gebaren der Rentnerräte missbillige, und trug seinen untergeordneten Gewerkschaftsräten und -komitees auf, die Versäumnisse im Bereich des Umgangs mit den Rentnern zu korrigieren.182 Der Standpunkt der Parteiführung vermittelte sich über die Zeitschrift Partijnaja žizn’, die der Frage nach der Notwendigkeit der Existenz von „abgesonderten Rentnerorganisationen“ 1962 zwei gleichlautende Artikel widmete. In dem ersten Text verwies man darauf, dass sämtliche Interessen der Rentner in zufriedenstellender Weise von den Partei- und Gewerkschaftsorganisationen vertreten würden, weswegen die Gründung besonderer Rentnerorganisationen als überflüssig anzusehen sei. Des Weiteren verlaufe ihr ehrenamtliches Engagement dann am erfolgreichsten und nützlichsten, wenn es sich in der Gemeinschaft mit anderen Bevölkerungsgruppen vollziehe. Hier wiederholte man auch das Argument, dass andernfalls eine Zerstreuung der Kräfte drohe und die Arbeit im Leerlauf verharre: Die sich aus der Eigenständigkeit der Rentnerräte ergebenden Forderungen nach Büromaterial, Räumlichkeiten, Erstattung von Porto- und Transportkosten etc. lenkten die Aktivisten nur von der allgemeinen Arbeit ab, beschränkten sie auf den Bereich privater Interessen und leisteten dem Bürokratismus Vorschub. Der Text endete mit der Feststellung, dass die abgesonderten Räte nicht zur nutzbringenden Teilnahme der Rentner am gesellschaftlichen Leben beitrügen. Auf deren Erfahrungen könne jedoch angesichts der großen Aufgaben, die es zu bewältigen gelte, nicht verzichtet werden.183 Als Reaktion auf den Artikel traf in der Redaktion der Partijnaja žizn’ eine Vielzahl von Leserbriefen ein. Und obwohl deren meist aus der Rentnerschaft stammende Verfasser angeblich „mit geringen Ausnahmen allesamt ihre volle Solidarität“ mit seinem Inhalt ausdrückten, sah man sich dazu motiviert, knapp zweieinhalb Monate später noch einmal zu dieser Frage Stellung zu beziehen. Zitiert wurde nun aus den beifälligen Äußerungen der Briefschreiber, die – oft selbst 182 Sbornik postanovlenij VCSPS, Ijul’-sentjabr’ 1962 g., S. 7577. 183 Vgl. Nužny li obosoblennye organizacii (9/62), S. 7172.
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Mitglieder solcher Formationen – an der Existenzberechtigung der Räte zweifelten und sich sogar für ihre Auflösung aussprachen. Die Kritik an den Räten beschränkte sich dabei nicht nur auf die „abgesonderten“ Einheiten, sondern wurde verallgemeinernd auf das gesamte Organisationsmodell übertragen. Deutlich macht dies ein Zitat aus dem Brief eines gewissen Neronov. Die Tatsache, dass es sich bei dem Mann um den Sekretär des KPdSU-Stadtkomitees von Rostov am Don handelte, legt ebenso nahe, dass seine Auffassung der Parteidiktion entsprach, wie der Umstand, dass die Redaktion seinen Ausführungen explizit zustimmte. Neronov zufolge hatte es sich bei den Räten um ein organisatorisches Experiment gehandelt: „Damals gingen wir so vor, dass wir verschiedene Rentnerräte gründeten. Man kann sagen, dass das ein Versuch war. Wir meinten, dass diese Form eine Heranziehung der Rentner zur aktiven Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglichen würde. Heute, da das gesellschaftliche Engagement alle Sphären der Tätigkeit immer weiter durchdrungen hat, sind vom Leben selbst viele neue Formen der ehrenamtlichen Arbeit erzeugt worden. [...] Unter diesen Bedingungen erscheint die ursprüngliche Form der Heranziehung der Rentner zur praktischen Arbeit weniger lebensnotwendig. Deshalb haben die Partei- und Sowjetorgane nach der Beratung mit dem Aktiv und den Rentnern beschlossen, die Rentnerräte abzuschaffen. Die alte Form hat sich somit überlebt.“184
Der gegen die Räte geführten Kampagne konnte sich selbstredend auch das Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung nicht entziehen. Offenkundig wurde die überwiegend negative Haltung, die die Führung des Ressorts den Rentnerorganisationen mittlerweile entgegenbrachte, auf der am 10. und 11. Mai 1962 in Moskau tagenden Mitarbeiterkonferenz, die im Zeichen der Bemühungen um eine stärkere Nutzung des ehrenamtlichen Potentials stand. Zu Beginn der Veranstaltung hielt L. P. Lykova ein Referat über die „Aufgaben der Organe der Sozialversorgung im Lichte der Entscheidungen des XXII. Parteitags der KPdSU“, in dem sie u. a. auf die Notwendigkeit zu sprechen kam, über die Stadt- und Bezirksrentnerräte zu diskutieren. Auch die Ministerin hielt die Einrichtung von „abgesonderten“ Formationen für unzweckmäßig und begründete ihre Auffassung mit den bekannten Kritik-Versatzstücken (Parallelarbeit, Übernahme wesensfremder Funktionen etc.). Besser sei es, wenn sich die Rentner in den ständigen Kommissionen der Deputiertenräte, den Partei- und den Gewerkschaftsorganisationen einbrächten.185 Gegen Ende der Konferenz, auf der die Frage der Räte tatsächlich eines der am stärksten diskutierten Themen darstellte, ergriff Lykova noch ein weiteres Mal das Wort. Unter ihren Vorrednern hatte es eine ganze Reihe von Rednern gegeben, die – wie im Folgenden zu sehen sein wird – die Arbeit dieser selbsttätigen Organisationen keineswegs negativ eingeschätzt hatten. Vermutlich war es gerade hierauf zurückzuführen, dass die Ministerin nun die positiven Beispiele von Einrichtungen in Gor’kij, Sverdlovsk, Volgograd und Leningrad von ihrer Kritik ausnahm, also eine im Vergleich zu Partei und Gewerkschaften weniger apodiktische 184 Nužny li obosoblennye organizacii (14/62), S. 5152. 185 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 261.
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Perspektive vertrat. Gleichwohl unterstrich sie noch ein zweites Mal, dass es „keinen Sinn macht, die Rentner allerorten von den Partei-, Sowjet- und Gewerkschaftsorganisationen zu isolieren. Wir müssen im Kontakt mit und unter Anleitung der Partei- und Sowjetorganisationen arbeiten. Deshalb ist eine solche Absonderung auch nicht im Interesse unserer Rentner.“186 Mochte Lykovas Verdikt auch milder ausfallen als die zuvor beschriebenen, so spricht dennoch viel dafür, dass ihr Ministerium ebenfalls von den Rentnerräten in ihrer Gesamtheit abrückte. Als stärkstes Indiz für eine solche Entwicklung kann die Beobachtung gelten, dass diese Formationen in der Folge auf den Seiten der ressorteigenen Social’noe obespeþenie so gut wie gar nicht mehr stattfanden. War in den Jahren zuvor kaum ein Monat ohne einen Bericht vergangen, der sich mit den Räten befasste, so fanden sie nun nur noch überaus selten Erwähnung. Lediglich ein einziges Mal wurde ihnen in den 1960er Jahren noch ein eigener Artikel gewidmet. In der Septemberausgabe des Jahres 1963 reagierte die Redaktion auf einen Brief des Leiters der Sozialversorgung in der ukrainischen Hafenstadt Cherson, M. Kungurov. Dieser hatte sich erkundigt, ob nach dem Territorialprinzip operierende Räte weiterhin gegründet werden sollten und wie mit den noch bestehenden zu verfahren sei. Es ist sicherlich nicht allzu weit hergeholt, wenn man die abgedruckte Antwort mit der generell vom Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung vertretenen Haltung gleichsetzt. Unter Heranziehung des bekannten Argumentationsmusters kam die Redaktion zu einem negativen Ergebnis: Die Rentnerorganisationen hätten sich in der Vergangenheit immer mehr von den örtlichen Abteilungen entfernt, sich hierarchische Strukturen verliehen, wesensfremde Funktionen übernommen und sich mancherorts sogar den Autoritäten widersetzt. Während sich die Redakteure dreieinhalb Jahre zuvor noch gegen eine Übertragung einzelner negativer Beispiele auf die Gesamtheit der Räte ausgesprochen hatten,187 schreckten sie nun vor einer solchen Verallgemeinerung nicht mehr zurück: „Urteilen Sie selbst, ob eine solche Organisation notwendig ist! Natürlich nicht. Wir benötigen ehrenamtlich tätige Helfer. Ohne Aktiv zu sein, bedeutet für die Organe der Sozialversorgung, ohne Hände zu sein. Es werden aber Leute gebraucht, die arbeiten wollen – und nicht ,anleitenދ.“188 Es ist als selbstverständlich anzunehmen, dass die Mitglieder der Rentnerräte das rasch sinkende Prestige ihrer Organisationsform auch vor Ort zu spüren bekamen, wo sich die ihnen von den lokalen Autoritäten entgegengebrachte Haltung innerhalb eines kurzen Zeitraums drastisch verändern konnte. Ein anschauliches Bild davon, wie sich ein solcher Wandel konkret vollzog, zeichnet Ơl’rad Ja. Parchomovskij in einem im April 1961 in der Izvestija veröffentlichten Feuilleton mit dem Titel „Wasser in einem Sieb“. Der Verfasser beschreibt seinen Besuch bei 186 Ebd., ll. 210212. 187 In Poþemu v Omske, S. 45, hatte man noch in der folgenden Weise zu den gegen die Räte erhobenen Vorwürfen Stellung genommen: „Möglicherweise hat irgendwo wirklich ein Rentnerrat versucht, ein Werkkomitee zu ersetzen und Parallelarbeit zu dessen Tätigkeit zu leisten. Man muss die Mitglieder eines solchen Rates auf ihren Fehler hinweisen, aber das stellt keine Grundlage dafür dar, die Rentnerräte insgesamt in Verruf zu bringen.“ 188 Nužny li rajonnye, S. 13.
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einem quasi im „Untergrund“ stattfindenden Treffen von Rentnern, den ehemaligen Mitgliedern des für „illegal“ erklärten städtischen Rats der Arbeitsveteranen von Fastov (Gebiet Kiev), einer Einrichtung, die ein Jahr zuvor „unter dem Donnern eines absolut berechtigten Applauses“ gegründet worden sei. Diese Organisationsform versteht Parchomovskij als höchstes Stadium einer ehrenamtlichen Aktivität, mit der die Rentner voller Enthusiasmus ihre vorrangige Beschäftigung mit Freizeitaktivitäten hinter sich lassen würden. „Der heutige Rentner ist ein erstaunlicher Mensch. Der verdiente Ruhestand stellt ihn nicht mehr zufrieden. Es gibt ihm wenig, in der Sonne zu sitzen und sich allmonatlich für den Erhalt der Rente einzuschreiben. [...] Der Rentner möchte mit der Zeit Schritt halten. Und wenn sein Schritt auch nicht so ausholend und federnd ist wie der des Komsomolzen, so möchte er dennoch nicht zurückbleiben. Er geht unter die gesellschaftlichen Kontrolleure, schreibt Zeitungsartikel oder organisiert einen ,Großmutterdienstދ. Und schließlich erreicht er die höchste Form seiner gesellschaftlichen Tätigkeit: Er gründet bei den örtlichen Organen der Sowjetmacht die Räte der Arbeitsveteranen, der unermüdlichen Helfer der Deputiertenkommissionen auf dem Gebiet der Staatsverwaltung.“
Der Autor weist des Weiteren darauf hin, dass die Fastover Rentner, als sie im Februar 1960 den Entschluss zur Ratsgründung mitteilten, mit großen Ehren vom Stadtexekutivkomitee empfangen worden seien. Dieses habe die „Ordnung über die Vereinigung der Arbeitsveteranen beim Stadtsowjet“ bestätigt und damit begonnen, verantwortungsvolle Aufträge zu erteilen. Die anfangs gezeigte Dankbarkeit der lokalen Autoritäten für das Engagement der Rentner in fast allen Bereichen des städtischen Lebens hielt Parchomovskij zufolge jedoch nicht lange vor, sondern verbrauchte sich so schnell, wie „Wasser in einem Sieb“ ausläuft. Die Offiziellen hätten das Wirken der Rentner bald als Störfaktor empfunden und ihnen mitgeteilt, dass sie sich zu sehr sorgten, zu viele Fragen stellten und für zu große Unruhe sorgten. Es bekomme ihnen besser, wenn sie zu Hause blieben und sich dem Damespiel widmeten. Laut Parchomovskij blieb es allerdings nicht bei bloßen Bekundungen der Ablehnung. Da die Rentner ihr Engagement nicht gedrosselt hätten, sei es am 22. März 1961 zur Eskalation gekommen: „Für diesen Tag wurde eine Berichts- und Wahlversammlung des Rats der Arbeitsveteranen einberufen. Auf irgendjemandes Anweisung hin wurden die Aushänge, die über die Versammlung informierten, heruntergerissen. Die Führungspersönlichkeiten des Bezirks traten den Rentnern mit einem Ausdruck tiefster Unversöhnlichkeit auf dem Gesicht entgegen. Schon am Tag zuvor hatten sie untereinander entschieden, den Rat der Veteranen aufzulösen und seine Mitglieder zur Fortsetzung ihrer gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit (es versteht sich: auf streng freiwilliger Grundlage) verschiedenen Gewerkschaftskomitees zuzuteilen. Anders gesagt: Sie sollen nicht im Wege sein und nicht bei der Arbeit stören. [...] Dann ergriff der Staatsanwalt Korobko das Wort: ,Euer Lied ist ausgesungenދ, sagte er den Arbeitsveteranen. ,Wir haben festgestellt, dass eure Organisation … verfassungswidrig ist. Das Stadtexekutivkomitee hat euch aufgrund eines Fehlers anerkannt. In der Verfassung sind die Räte der Arbeitsveteranen nicht vorgesehen. Ihr könnt gehen. Zu den Gewerkschaften. Oder nach Hause. Wie es euch beliebt.“ދ
Korobko wird zum Gegenstand von Parchomovskijs Sarkasmus: Der Staatsanwalt habe „eine die Kräfte übersteigende Verantwortung geschultert“ sowie „ungezwungen und kühn unser Grundgesetz“ auslegt, indem er die konstitutionelle
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Nichterwähnung der Räte als Beleg für ihre Illegalität anführte. Tatsächlich eröffne das sowjetische Leben den Bürgern aber jeden Tag neue Formen des gesellschaftlichen Engagements. Zudem entspreche die Gründung der Rentnerräte vollkommen dem Geist der sowjetischen Demokratie. Korobkos Verhalten, aber auch die rentnerfeindliche Haltung der lokalen Partei- und Sowjetorgane erklärt sich der Verfasser mit deren Bequemlichkeit: „Konfrontiert mit einer neuen und überaus wichtigen Erscheinung in unserem Leben, ergriff diese Genossen die Furcht vor neuen Sorgen und Scherereien, und sie kapitulierten schmählich.“ Parchomovskij zeigt Mitgefühl für die Rentneraktivisten, auf deren beste Intentionen man mit Kränkungen reagiert habe, äußert dabei aber auch seine Gewissheit darüber, dass diese Leute sich ihren Weg zurück in die Legalität erkämpfen würden. Gleichzeitig bestätigt der Autor, dass von den Räten manche Störimpulse ausgegangen seien. Hierin erblickt er allerdings ausdrücklich eine Qualität, denn „je mehr er [der Rentner; L. M] Leuten wie Korobko [...] Unruhe bereitet, desto besser“.189 Interessant ist der Izvestija-Artikel zum einen deshalb, weil er beschreibt, wie schnell die Haltung des örtlichen Establishments umschlagen konnte – und der Enthusiasmus der im hohen Maße engagierten Rentner der bitteren Erkenntnis weichen musste, dass ihr oft gutgemeinter Beitrag nur als Einmischung von Unruhestiftern wahrgenommen wurde. Zum anderen macht er deutlich, dass diese Ablehnung, die von manchen Betriebsleitungen, Gewerkschafts- und Parteikomitees – und spätestens ab 1962 auch vom Regime selbst – geteilt wurde, nicht zwangsläufig mit der öffentlichen Meinung gleichzusetzen war. Eine Relativierung erfuhr die Kritik an den Rentnerräten ebenfalls von anderer Seite. Die meisten wohlmeinenden Stimmen zu ihrer Tätigkeit stammten selbstredend aus den ersten Jahren nach der Verabschiedung des Staatsrentengesetzes, als das Organisationsmodell offizielle Wertschätzung – oder zumindest Duldung – genoss. Lobende Worte fanden so beispielsweise nicht nur Fachleute wie V. V. Karavaev, V. A. Aralov und A. V. Levšin.190 Das Engagement etwa der betrieblichen Rentnerräte stieß auch auf das Wohlwollen von Personen, die im direkten Kontakt mit ihnen standen. Dergestalt waren es keineswegs alle Partei-, Fabrik- und Werkkomitees, die diese Organisationen ablehnten oder mit Desinteresse straften. Ein Beispiel für eine ganze Reihe ähnlich lautender Darstellungen bietet der Bericht des Instrukteurs Fedorov, der im März 1959 das Maschinenbauwerk von Mytišþi (Gebiet Moskau) besucht hatte: „Dem Urteil des Werks- und des Parteikomitees zufolge ist der Rentnerrat eine absolut lebenswichtige Organisation sowie überaus notwendig für die Vereinigung der nicht mehr ar-
189 Parchomovskij, Voda v rešete, S. 3. Eine englischsprachige Übersetzung dieses Textes findet sich in: Current Digest of the Soviet Press 13 (1961), 15, S. 3233. 190 Vgl. Karavaev, Socialތnoe strachovanie, S. 192; Aralov Levšin, Socialތnoe obespeþenie, S. 8687.
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beitstätigen Rentner und die Nutzung ihrer Arbeitserfahrung. Sie leisten eine große Hilfe bei der Arbeit des gewerkschaftlichen Werkkomitees.“191
Anerkennung wurde den Rentnerorganisationen aber auch und vor allem von Seiten der Sozialbürokratie zuteil, wobei dies nicht nur an den Social’noe obespeþenie-Artikeln der ersten Jahre abzulesen ist, sondern ebenso an den Stellungnahmen von Teilnehmern der Mitarbeiterkonferenzen. Dabei wurde hier keineswegs allein 1958, also zur Hochzeit der „Rentnerrätebewegung“, beifällig bemerkt, dass die Rentner „nicht nur eine große Hilfe für die städtischen Partei- und Sowjetorganisationen, sondern ebenfalls [...] für die Arbeit der Organe der Sozialversorgung“ darstellen würden.192 Auch zwei Jahre später fanden leitende Angestellte lobende Worte angesichts der Tatsache, „welch gewaltige Arbeit die Rentnerräte leisten, u. a. zu Angelegenheiten der Sozialversorgung“.193 Bemerkenswert scheint jedoch vor allem, dass diese positive Beurteilung von manchen Führungskräften noch im Mai 1962 aufrechterhalten wurde, zu einem Zeitpunkt also, als kein Zweifel mehr daran bestand, dass die selbsttätigen Rentnerorganisationen die Gunst der maßgeblichen Autoritäten verloren hatten. Die Teilnehmer der Mitarbeiterkonferenz jenes Jahres nahmen Lykovas oben erwähnten Aufruf zu einer Diskussion über die Räte durchaus ernst, und die meisten derer, die sich in ihrem Verlauf zu Wort meldeten, verteidigten die Einrichtungen mit Nachdruck. So sprach sich z. B. der Vertreter der Region Krasnodar, Najanov, für eine differenzierte Herangehensweise aus. Während er die unabhängig auf Bezirksebene agierenden und sich in fremde Angelegenheiten einmischenden Rentnerräte als schädlich erachtete, übertrug er dieses Urteil doch nicht auf die Gesamtheit der Rentnerorganisationen. Schließlich stellten sie seiner Meinung nach in vielen Fällen eine ernsthafte Unterstützung für seine Behörde dar.194 Die Leiterin der Organe der Sozialversorgung im Gebiet Rjazan’, Šiškova, äußerte sich uneingeschränkt wohlwollend über die Räte. In ihrem Zuständigkeitsgebiet habe man eine Reihe von Veranstaltungen durchgeführt, auf denen die Ehrenamtlichen ihre Erfahrungen austauschen und sich mit dem Beispiel besonders vorbildlicher Räte vertraut machen konnten. Dies habe die Arbeit der Räte spürbar verbessert. Zudem sah Šiškova in der durch das Fehlen zentraler Vorgaben bedingten Uneinheitlichkeit in der Arbeitsgestaltung sogar einen Vorteil: Die Rentner würden deshalb nicht nach Schablonen, sondern „höchst individuell“ vorgehen. Darüber hinaus vermochte sie auch keine „Absonderung“ der Räte zu erkennen:
191 GARF, F. R 5451, op. 29, d. 780, l. 41. Ähnliche Hinweise auf ein positives Feedback zur Tätigkeit der Räte finden sich in: Ebd., ll. 2, 9, 11, 14, 16 u. 23; F. R 5451, op. 29, d. 835, ll. 5960; d. 974, l. 92; F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 93; Skromnye i slavnye dela, S. 20. 192 So die Leiterin der Moskauer Gebietsabteilung der Sozialversorgung Rjazanova (GARF, F. A 413, op. 1, d. 3044, ll. 2324). Vgl. auch ebd., ll. 166167. 193 GARF, F. A 413, op. 1, d. 3303, l. 43. Der Leiter der Krasnodarer Sozialversorgung, Krivenko, verwies darauf, dass „wir heute mit Gewissheit sagen müssen, dass wir diese [in den vorangegangen zwei Jahren erzielten] Erfolge nicht errungen hätten, wenn uns diese Genossen nicht so aktiv geholfen hätten“. Ebd., l. 67. Vgl. auch ebd., ll. 102 u. 157. 194 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, l. 62.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner „In unserem Rjazaner Gebiet [...] arbeiten gegenwärtig 67 bei Betrieben und Siedlungssowjets eingerichtete Rentnerräte. In diesem Augenblick gibt es keinen einzigen Bezirk ohne einen solchen Rentnerrat. [...] sie erledigen ihre Arbeit unter der strengen Anleitung der Partei-, Gewerkschafts- und Sowjetorganisationen, je nachdem, ob der Betrieb über eine Partei- und Gewerkschaftsorganisation verfügt, und beim Siedlungssowjet arbeitet dieser Rat unter der Führung des örtlichen Sowjets. Und es gibt überhaupt keine Befürchtung, dass unsere Rentner ihre Befugnisse überschreiten und die leitenden Organe ersetzen. Bei uns hatte das keinen Platz, und so ist es auch nicht vorgekommen. [...] Das heißt, man muss die Räte nicht fürchten, man muss sie organisieren.“195
Ähnlich äußerte sich auf der Konferenz schließlich auch Dolgunec aus dem Sverdlovsker Gebiet, der sich für eine Stärkung dieses hilfreichen selbsttätigen Engagements aussprach,196 oder der Volgograder ýižikov, der speziell auf die große Unterstützung von Seiten der Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen verwies.197 Stellt man also fest, dass die unteren Ebenen der Gewerkschafts- und Parteiapparate ebenso wie die der Sozialversorgung, die ja im direkten Kontakt mit den Rentnerräten standen, keineswegs grundsätzlich eine negative Haltung zu ihnen entwickelt hatten, so gelangt man zu zwei Schlussfolgerungen: Zum einen ist nicht zwingend davon auszugehen, dass die Aktivität der Räte 1962 prinzipiell weniger „gesellschaftlichen Nutzen“ erbrachte, als dies vier Jahre zuvor der Fall gewesen war. Zum anderen wird die Annahme unterstützt, dass der „Kursverfall“, mit dem ihr Organisationsmodell konfrontiert war, eine im hohen Maße von oben initiierte Maßnahme darstellte. Die Kampagne gegen die Rentnerräte blieb nicht ohne Resultate. Erwähnt wurde bereits, dass die Räte in den folgenden Jahren in der Presse kaum noch Erwähnung fanden. Es ist ferner als wahrscheinlich zu erachten, dass das Selbstbewusstsein und die Eigeninitiative ihrer Mitglieder im Umgang mit den lokalen Autoritäten grundsätzlichen Schaden nahmen. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass viele dieser Aktivisten Parteimitglieder waren, die sich in Einzelfragen möglicherweise in Opposition zu den in der Heimatregion relevanten Vertretern der Gewerkschaften, Sowjetorgane und Parteikomitees begriffen, kaum aber in einem Gegensatz zu dem Sowjetsystem in seiner Gesamtheit und seinen höchsten Machtinstanzen. Es ist davon auszugehen, dass viele ehrenamtlich Engagierte einen Teil ihrer Motivation tatsächlich ebenfalls aus dem Bewusstsein gezogen hatten, am Aufbau der kommunistischen Gesellschaft zu partizipieren. Deshalb muss die Erkenntnis, dass der Rentnerrat als Organisationsform jeglicher Sympathie von Seiten der politischen Führung verlustig gegangen war, demotivierend gewirkt haben. Gleichzeitig mag freilich auch vor Ort ein erhöhter Druck auf die Aktivisten ausgeübt worden sein, der ihren Tätigkeiten die Spitze nahm. Darüber ist allerdings nur zu spekulieren. Als sicher kann lediglich angenommen werden, dass von den Räten nach 1962 kaum noch Impulse ausgingen, die von den maßgeblichen Instanzen als störend wahrgenommen wurden: In den Archivbeständen von Organisationen und 195 Ebd., ll. 133134. 196 Vgl. ebd., l. 87. 197 Vgl. ebd., ll. 6465.
Interessenorganisationen in der Kritik
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Behörden wie dem VCSPS oder dem Ministerium der RSFSR für Sozialversorgung finden sich nach 1962 keine Unterlagen kehr, die darauf schließen ließen, dass man ihrer weiteren Entwicklung noch größere Aufmerksamkeit schenkte. Dieses fehlende Interesse an den Rentnerräten mochte schließlich auch noch auf einen weiteren Faktor zurückzuführen sein: Mittlerweise standen neue Modelle zur Heranziehung der Rentner für „gesellschaftlich nützliche Tätigkeiten“ zu Verfügung, von denen man sich einen höheren Mehrwert versprach. Zu nennen sind hier im gewerkschaftlichen Bereich vor allem die Kommissionen für Rentenfragen, die viele Aufgaben der in den Betrieben gebildeten Räte übernahmen.198 Zu ihren Mitgliedern gehörten auch Rentner, doch oblag die Kommissionsleitung in jedem Fall einem Vertreter des Fabrik- oder Werkkomitees. Die Organe der Sozialversorgung konnten ebenfalls nicht auf den freiwilligen Beitrag der verrenteten Bürger verzichten. Dieser sollte nun jedoch in den ab 1961/62 verstärkt propagierten gesellschaftlichen Räten, Unterabteilungen der Sozialversorgung und Konsultationspunkten oder von ehrenamtlichen Inspektoren und Buchprüfern geleistet werden.199 Mehr als von anderen Organisationen kann von den sogenannten „Kommissionen für die Arbeit mit den Rentnern“ (komissii po rabote s pensionerami) behauptet werden, dass sie sich in der Nachfolge der Rentner- und Arbeitsveteranenräte befanden. Hierbei handelte es sich um Einrichtungen, die bei den Wohnraumnutzungskontoren oder Hauskomitees installiert wurden. Sie standen in weit höherem Maße unter der Kontrolle der zuständigen Parteiorganisationen und setzen sich in der Regel aus einem Vertreter der jeweiligen Dachorganisation sowie bis zu neun Ehrenamtlichen zusammen. Viel spricht dafür, dass die Kommissionen explizit mit dem Ziel gebildet wurden, den Platz der auf dieser Ebene zuvor existierenden Räte einzunehmen. Deutlich macht dies etwa ein Rechenschaftsbericht der Moskauer Organe der Sozialversorgung über die im Jahr 1965 auf dem Gebiet der Rentnerbetreuung geleistete Arbeit. Der Verfasser, N. Bogdan, lobte hier ausdrücklich die im Berichtszeitraum vollbrachte „große Arbeit auf dem Gebiet der Gründung von Kommissionen für die Arbeit mit den Rentnern, die die früher existierenden Rentnerräte ersetzen“.200 Auch die Kommissionen sollten das ehrenamtliche Engagement der Rentner an ihrem Wohnort koordinieren und dabei einige der von ihren Vorgängern ausgeübten sozialen Funktionen übernehmen. So galten sie Anfang der 1970er Jahre etwa einem leitenden Angestellten der Moskauer Organe der Sozialversorgung wie A. Lojter als „wichtigste Träger der Arbeit auf dem Gebiet der Betreuung alleinstehender kranker Rentner“.201 Angaben über die Verbreitung dieser Organisationsform liegen lediglich für Moskau vor, wo ihre Gründung von Seiten der 198 Vgl. z. B. GARF, F. R 5451, op. 29, d. 872, l. 1; Ljudi našich dnej, S. 51. 199 Vgl. GARF, F. A 413, op. 1, d. 3571, ll. 259261; d. 3696, l. 170; Nužny li rajonnye, S. 13. 200 CAGM, F. 1937, op. 1, d. 245, l. 19. Vgl. auch CAOPIM, F. 3669, op. 1, d. 2, l. 153. Dabei entsprach ein solcher Prozess freilich nicht immer einer vollständigen Neugründung, sondern häufig einer Reorganisation des früheren Rats, dessen Mitglieder in die Nachfolgestruktur übernommen wurden. Vgl. Postnikova, Uþastie, S. 35. 201 Lojter, Odinokim pensioneram, S. 33.
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Die Rentnerräte: Interessenorganisationen der sowjetischen Rentner
Stadtverwaltung gefördert wurde.202 Hier waren die Kommissionen 1965 bei 300 von insgesamt 370 und 1969 bei 454 von 521 Wohnraumnutzungskontoren eingerichtet worden.203 Es ist allerdings davon auszugehen, dass das Beispiel der russischen Hauptstadt eine Vorbildfunktion auch für andere sowjetische Städte ausübte. Den Nachfolgeorganisationen gemeinsam war die Tatsache, dass sie die Freiwilligentätigkeit der Rentner in einer Weise gewährleisten sollten, die als effektiver und weniger störend galt. Ins Auge fällt dabei, dass es sich bei keinem der Nachfolgemodelle um eine selbsttätige Formation handelte, die einem wahlberechtigten Rentnerkollektiv verpflichtet war. Zudem arbeiteten sie ohne Ausnahme in einer weit engeren Anlehnung an übergeordnete Instanzen, als es bei den nach dem Territorialprinzip operierenden Bezirks- und Stadtrentnerräten de facto der Fall gewesen war: Ihre Vorsitzenden rekrutierten sich nicht aus der Rentnerschaft, sondern wurden in die Gremien von übergeordneter Stelle delegiert. Beide Faktoren mussten dazu führen, dass die Rentner in der Folge nicht mehr jene Eigendynamik an den Tag legen konnten, die sie in den Jahren 1956–1962 gekennzeichnet hatte. Die in der Kampagne des Jahres 1962 gipfelnde Ablehnung der Rentnerräte führte zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit vielerorts zu ihrer Umwandlung oder gar Auflösung, nicht jedoch zu einem generellen Verbot. Auch nach dieser Zäsur gab es weiterhin Rentner- und Arbeitsveteranenräte in der UdSSR. Trifft die eingangs angeführte Information zu, dass man 1964 in der RSFSR 10.682 Räte zählte,204 so ist der auf den ersten Blick paradox anmutende Befund zu machen, dass ihre Zahl in der Folge sogar anstieg. Eine mögliche Erklärung bietet die Tatsache, dass vor allem die auf Stadt- und Bezirksebene aktiven Räte ins Kreuzfeuer der Kritik geraten waren. Der Zuwachs muss folglich über die in den Betrieben eingerichteten – und durch eine stärkere Anleitung seitens der dortigen Partei- und Gewerkschaftsorganisationen „domestizierten“ – Räte erreicht worden sein. Hinweise auf ihr Fortbestehen finden sich ebenfalls in anderen Unionsrepubliken wie z. B. der Moldawischen SSR, wo man 1965 und 1970 mehr als 60 so bezeichnete Einrichtungen zählte.205 Erwähnt werden sie jedoch auch noch in Publikationen aus den 1970er und 1980er Jahren.206 Beispiele wie jenes des im „Krasnoe Sormovo“-Schiffsbauwerk von Gor’kij eingerichteten Rentnerrats, der 2006 sein fünfzigstes Jubiläum feiern konnte, belegen zudem, dass diese Organisationen mancherorts bis ins neue Jahrtausend zu überdauern vermochten.207 202 Der Moskauer Stadtsowjet veröffentlichte ein diesbezügliches Empfehlungsschreiben und sprach sich – möglicherweise in einer gesonderten Veröffentlichung – gegen eine Weiternutzung des Begriffs „Rentnerrat“ aus. Vgl. CAOPIM, F. 4443, op. 1, d. 24, l. 29; d. 21, l. 2. 203 Vgl. CAGM, F. 1937, op. 1, d. 245, l. 19; d. 316, l. 7. 204 Vgl. Socializm i narodovlastie, S. 88. 205 Vgl. RGANI, F. 5, op. 62, d. 82, l. 32; op. 63, d. 13, l. 14. 206 Vgl. z. B. Maksimovskij, Upravlenie, S. 161; Fogel’, Social’noe obsluživanie, S. 125; Šapiro, Social’naja aktivnost’, S. 80; Dokuþaeva, Obšþestvenno-politiþeskaja dejatel’nost’, S. 3033. 207 Vgl. Zubkova, Nenapisannaja straniþka.
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Zeugt das Fortbestehen der Räte von der Langlebigkeit des Wunsches, dem Engagement der Rentner eine eigene organisatorische Gestalt zu verleihen, so überdauerte ebenso der Gedanke, dass dieser Teil der Bevölkerung einer überregionalen Vertretung bedurfte. Sowjetische Sozialgerontologen, die ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre über Wege nachdachten, wie die Rentner dazu motiviert werden konnten, ihre Freizeit stärker als bisher in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, sprachen sich für die Gründung einer in seiner Reichweite mit dem Komsomol vergleichbaren Struktur aus. Zu diesen Wissenschaftlern gehörte auch Vladimir D. Šapiro: „Bei weitem nicht alle Formen der Teilnahme der Rentner am gesellschaftlichen Leben stellen diese zufrieden, da sie nicht immer die sozialpsychologischen Besonderheiten der Gruppe berücksichtigen. Als aussichtsreichster Weg zur Entwicklung der Rentneraktivität ist die unverzügliche Gründung einer Allunionsgesellschaft ,Veteranދ, die über ein Netz lokaler Grundeinheiten verfügt, anzusehen. Eine solche Gesellschaft würde jene vereinigen, die in den Ruhestand getreten sind, ihrer Tätigkeit einen kollektiven, zielgerichteten Charakter verleihen und, was die Hauptsache ist, die Eigenart der alternden Menschen berücksichtigen. [...] Unserer tiefen Überzeugung nach ist eine Massenbewegung von Arbeitsveteranen, die zu Kollektiven von Altersgenossen zusammengeschlossen sind, in der Lage, das gesellschaftliche Prestige der älteren Generation anzuheben, diese für eine vielseitigere Tätigkeit zu gewinnen und den optimistischen Blick auf die sozialen Möglichkeiten des Menschen in der späten Phase des Lebens zu stärken.“208
Anders als mehr als anderthalb Jahrzehnte zuvor brach man um 1980 mit einer solchen Überlegung keine Denkverbote mehr. Sicher war dies darauf zurückzuführen, dass das Regime die noch existierenden Rentnerorganisationen nicht mehr als Bedrohung wahrnahm. Darüber hinaus fanden sich in den 1980er Jahren in den höchsten politischen Kreisen Befürworter einer unionsweiten Organisation, die allerdings nicht mehr nur die zivilen Rentner, sondern auch die Kriegsveteranen umfassen sollte. Während der Perestrojka wurde dieses Projekt mit der Gründung des „Allunionsrats der Kriegs- und Arbeitsveteranen“ verwirklicht.
208 Šapiro, ýelovek, S. 157158. Vgl. hierzu auch Dmitriev, Socialތnye problemy, S. 5761; Pyžov, Obšþestvenno-politiþeskaja aktivnost’, S. 134. Dokuþaeva, Obšþestvenno-politiþeskaja dejatel’nost’, S. 34, verweist in diesem Zusammenhang auf das Beispiel der ostdeutschen „Volkssolidarität“, die mehr als 2 Mio. DDR-Bürger im Rentenalter vereinigt habe.
8. SCHLUSSTEIL 8.1. ZUSAMMENFASSUNG DER BISHERIGEN ERGEBNISSE Betrachtet man die Ergebnisse der sowjetischen Altersrentenpolitik, so bietet sich ein durchaus ambivalentes Bild: Die Bestimmungen der Reformen von 1956 und 1964 resultierten in einer erheblichen Verbesserung der bis dato gekannten Ruhestandssicherung; gleichzeitig war jedoch auch der neue Status quo von Defiziten gekennzeichnet, die dafür verantwortlich waren, dass ein Teil der älteren Sowjetbürger seinen Lebensunterhalt weiterhin nicht über die staatlichen Zahlungen allein bestreiten konnte. Auf dem Papier hatte die staatliche Altersrentenversorgung der Arbeiter und Angestellten unmittelbar vor 1956 zwar allen Mitgliedern dieser Bevölkerungskategorie offen gestanden. Infolge der an das individuelle Dienstalter gestellten Anforderungen sowie des überaus mangelhaften Zustandes der Arbeitsdokumentation war jedoch nur ein verhältnismäßig geringer Teil der Bürger im Rentenalter in den Genuss einer solchen Leistung gekommen. Hinsichtlich der individuellen Rentenhöhe waren extreme Disproportionen zu verzeichnen gewesen: Für das Gros der herkömmlichen Leistungsbezieher hatte ein Berechnungsmodus gegolten, dem zufolge die Altersrenten höchstens 24 R betragen und damit für sich genommen nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts ausreichen konnten. In Bezug auf die Beschäftigten ausgewählter, als volkswirtschaftlich relevant wahrgenommener Wirtschaftsbereiche, Verwaltungsapparate und Berufe hatte der Gesetzgeber hingegen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Politik des materiellen Anreizes verfolgt, die die Erteilung von „erhöhten Renten“ vorsah, welche sich mitunter auf ein Vielfaches der Standardruhestandsgelder beliefen. In der Konsequenz war es durch die große Anzahl der betreffenden Normativakte nicht nur zu einer Verkomplizierung der Rechtsmaterie gekommen, die deren Handhabung ausgesprochen schwierig gestaltete, sondern zudem zu einer Ungleichbehandlung der Rentenempfänger, die den Unmut der Benachteiligten wecken musste. Die Kolchosbauern waren von der Möglichkeit des Erhalts einer Staatsaltersrente a priori ausgeschlossen worden.1 Für die Sicherung ihres Lebensabends waren primär die Kolchose und ihre KOVK verantwortlich gewesen. Zu keinem Zeitpunkt hatte allerdings eine Verpflichtung zur Absicherung der Mitglieder bestanden. Infolge mangelnden Willens der Leitungen, aber vor allem wohl der wirtschaftlichen Schwäche der meisten Artele hatte nur eine Minderheit von ihnen bis 1964 eine Rentenversorgung installiert, die sämtlichen Betagten innerhalb der Gemeinschaft zugutegekommen war. Allerdings war auch über die auf diesem Wege bereitgestellten Leistungen in der Regel nur eine Versorgung weit unterhalb des 1
Vorausgesetzt, es handelte sich nicht um Staatsaltersrentner, die nach dem Antritt des Ruhestands in einen Kolchos eingetreten waren.
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Existenzminimums möglich gewesen. Darüber hinaus ist hier kaum von Altersrenten im eigentlichen Sinne zu sprechen, da die kolchosinternen Leistungen oft an eine Bedürftigkeitsprüfung sowie andere vom Lebens- und Dienstalter unabhängige Voraussetzungen (fortgesetzter Arbeitseinsatz, frühere Arbeitsdisziplin, Verbleib der Kinder im Kolchos etc.) gebunden waren. Erschwerend war schließlich hinzugekommen, dass der individuelle Anspruch auf eine Rentenerteilung nie von unabhängiger Seite garantiert worden, sondern stattdessen von der Zustimmung der maßgeblichen Instanzen innerhalb des Artels abhängig gewesen war. Als Konsequenz derartiger Defizite hatten viele Sowjetbürger – auf dem Land zweifelsohne mehr noch als in den Städten – im Rentenalter auf alternative Versorgungsstrategien zurückgreifen müssen. Wem es möglich gewesen war, der hatte die Erwerbstätigkeit fortgesetzt, im Rahmen seiner privaten Nebenwirtschaft gearbeitet oder Zuflucht bei Verwandten gesucht. Dass derartige Alternativen bei weitem nicht in der Lage gewesen waren, ein effektiv arbeitendes System sozialer Sicherung zu ersetzen, ergibt sich zum einen aus den vielzähligen Klagen und Beschwerden, die in dieser Frage an das Regime verfasst wurden. Zum anderen kündeten offizielle Berichte von der Verbreitung der Bettelei unter älteren Bürgern. Eine Alterssicherung, die nachhaltig zur Minderung der mit dem fortgeschrittenen Alter einsetzenden Lebensrisiken beitrug, hatte vor dem 1. Oktober 1956 lediglich für einen sehr geringen Teil der Sowjetbevölkerung existiert. Die Rentengesetze sorgten – im Verbund mit den in den darauf folgenden Jahren vorgenommenen Korrekturen – für eine deutliche Linderung der Altersarmut, da nun immer mehr Sowjetbürger in den Genuss eines Ruhestandsgeldes gelangen konnten: Mit dem Gesetz vom 14. Juli 1956 wurde nicht nur der Nachweis der Erfüllung der Bezugskriterien erleichtert, indem man nun ebenfalls Zeugenaussagen als Beleg für das individuelle Dienstalter akzeptierte. Auch die rückwirkende Geltung der Bestimmungen und die Einführung einer Teilaltersrente trugen dazu bei, dass die staatliche Altersrentenversorgung deutlich an Reichweite gewann. Zu der am stärksten verbreiten Rentenleistung wurde die Altersrente jedoch erst nach der Rentenreform vom 15. Juli 1964, die den Bezug des Ruhestandsgelds für Kolchosmitglieder unionsweit einheitlich regelte. Die Befreiung des Anspruchs aus der Abhängigkeit von der Prosperität der jeweiligen Kollektivwirtschaft und dem Wohlwollen ihrer Verantwortlichen barg gleichsam ein Moment der Emanzipation des Kolchosrentners von der Entscheidungsgewalt seiner Artelleitung. Gewährleistet wurde dies, indem man die Leistungen über den ZUSVK finanzierte, in den die Kolchose obligatorische Anteile ihrer Bruttoeinnahmen einzahlten und der zusätzlich aus dem Staatshaushalt subventioniert wurde. Ein Eindruck von der Entwicklung des Bezieherkreises der Altersrenten vermittelt sich bei seiner Gegenüberstellung mit jener Altersgruppe, die vorrangig von einer solchen Zahlung profitierte: Entsprach das Verhältnis der Zahl aller Altersrentner zur Bevölkerungsgruppe der über 55- bzw. 60-Jährigen im Jahr 1955 wohl einem Anteil von weniger als 9 %, so lag diese Quote nach der Inklusion der Kolchosmitglieder bei 65,4 % (1970). Der Leistungsbezug stellte nun nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel dar.
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Schlussteil
Für die Verbesserung der materiellen Situation der älteren Menschen in der UdSSR war die Anhebung des Niveaus der Ruhestandsleistungen von ebensolcher Bedeutung wie die Vergrößerung der Reichweite. Ihre Entwicklung kann mit Hilfe der von der ZVS der UdSSR gesammelten Daten im Detail nachvollzogen werden. In beiden Fällen bewirkten die Reformen eine Verdoppelung der jeweils im Mittel bewilligten Unterstützung. Im Kontext der staatlichen Altersrenten bedeutete dies eine wirklich nachhaltige Verbesserung der Qualität, da die durchschnittlichen Zahlungen zwar bescheiden ausfielen, dessen ungeachtet jedoch konstant oberhalb des Existenzminimums lagen. Es lässt sich also behaupten, dass nach 1956 erstmals eine Mehrheit der staatlichen Ruheständler ihren Lebensunterhalt allein auf Grundlage ihrer Renten bestreiten konnte. Ungeachtet dieses Erfolgs profitierten nicht alle älteren Arbeiter und Angestellten im gleichen Maße von den Zuwächsen. Zwar sorgte die Festlegung einer Leistungsobergrenze dafür, dass die hohen und niedrigen Bezüge nicht mehr in der früheren Weise divergierten. Unabhängig davon lagen die Beträge der Vorzugsrentner gemäß Liste I oder Liste II (7,6–10,2 % aller Staatsaltersrentner) jedoch deutlich über den Leistungen aller übrigen Staatsaltersrentner. Nur im ersteren Fall kann vermutet werden, dass der Ruhestand als eine Lebensphase erfahren wurde, die nicht zwangsläufig von der Begrenztheit der zur Verfügung stehenden Mittel gekennzeichnet war. Während sich die große Mehrheit der gewöhnlichen Ruheständler (73,3–88,8 %) in ihren Bezügen nur unwesentlich von der allgemeinen Durchschnittsrente absetzten, waren es insbesondere die Empfänger anteiliger Altersrenten (3,6–16,6 %), deren Leistungen in der Regel recht weit unterhalb der Armutsgrenze angesiedelt waren. Sie waren allerdings nicht die Einzigen mit derart bescheidenen Zuweisungen: Folgt man den Angaben zur Rentendifferenzierung, die die Stichprobenartigen Untersuchungen der ZVS bereithalten, erhielten insgesamt etwa 40 % der staatlichen Altersrentner eine Leistung unterhalb des Existenzminimums. Noch weitaus karger nahm sich die über das neue Kolchosrentensystem gewährleistete Versorgungsqualität aus: Die monatlichen Leistungen der überwiegenden Mehrheit der Ruheständler entsprachen hier lediglich dem Minimum von 12 R bzw. – ab 1971 – 20 R. Mit Beträgen oberhalb der Armutsgrenze konnten auch gegen Ende des Bearbeitungszeitraums wohl nicht mehr als 3 % der älteren Artelmitglieder rechnen. Die Kolchosaltersrenten dienten somit im Normalfall nicht als Haupteinnahmequelle für betagte Landbewohner, was durchaus im Sinne des Gesetzgebers war. In den Artelen – sei es in der gesellschaftlichen Produktion, sei es im Rahmen der Nebenwirtschaft – konnte man vor dem Hintergrund der dortigen Altersstruktur nicht auf den Arbeitsbeitrag der Älteren verzichten. Im Hinblick auf die Qualität der Altersrentenversorgung in ihrer Gesamtheit ist ein offensichtliches Stadt-Land-Gefälle festzustellen. Es kennzeichnete zum einen bereits die Verteilung innerhalb der staatlichen Ruheständlerschaft: Personen mit städtischem Wohnsitz erhielten im Schnitt um 34,5 % höhere Leistungen als ihre ländlichen Pendants, deren Bezüge in der Regel knapp unterhalb der Armutsgrenze angesiedelt waren. Verantwortlich hierfür waren sowohl das niedrigere Verdienstniveau im Agrarbereich als auch die Rentenminderung, der all jene
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ausgesetzt waren, die über eine „Verbindung zur Landwirtschaft“ verfügten. Zum anderen äußerte sich dieses Gefälle in der beschriebenen Disparität zwischen den Altersrenten von Arbeiter und Angestellten einerseits und Kolchosbauern andererseits. Während die Staatsrentenreform immerhin einer Mehrheit der Ersteren einen reellen, obwohl meist überaus bescheidenen Ruhestand gewährte, blieb den Artelmitgliedern nach 1965 eine solche Option verwehrt. Die Einführung der über den ZUSVK finanzierten Leistung entband sie nicht von der Notwendigkeit, zumindest auf dem eigenen Hofgrundstück weiter tätig zu sein oder auf die Unterstützung von Angehörigen zurückzugreifen. Erreicht wurde dessen ungeachtet jedoch auch hier eine spürbare Verbesserung der materiellen Situation im Vergleich zum Status quo ante, die solche Abhängigkeiten zweifelsohne abmilderte. In der Schlechterstellung der Frauen bestand ein weiteres Merkmal der nach Stalins Tod reformierten allgemeinen Altersrentenversorgung. Im Kontext beider Rentensysteme fielen ihre Altersrenten deutlich hinter jene ihrer männlichen Altersgenossen zurück. So waren staatliche Altersrentnerinnen unter den Empfängern von Leistungen unterhalb des Existenzminimums überproportional vertreten, und weiblichen Ruheständlern aus den Reihen der Kolchosmitglieder wurde weitaus öfter als Männern eine Mindestrente zuerkannt. Zurückzuführen waren diese Umstände sicherlich vor allem auf den normalerweise geringeren früheren Arbeitsverdienst der älteren Frauen. Für die Kolchosrentnerinnen ist darüber hinaus jedoch ebenfalls darauf zu verweisen, dass ihnen eine Mindestleistung häufiger als Männern aufgrund von fehlenden Vergütungsnachweisen zugeteilt werden musste. Besonders unvorteilhaft wirkte sich das bescheidenere Niveau der weiblichen Sicherung aus, weil ältere Frauen – aufgrund der Begrenztheit der männlichen Lebenserwartung – im Alter häufig alleinstehend und folglich in einem höheren Maße auf die monatlichen Zahlungen angewiesen waren. Schließlich äußerte sich die Benachteiligung der Sowjetbürgerinnen auch dergestalt, dass es ihnen – vor dem Hintergrund ihrer häuslichen und familiären Verpflichtungen – generell größere Mühe bereitete, die an das Dienstalter gestellten Anforderungen zu erfüllen: Auf Grundlage der SPU-Angaben zur Geschlechterdifferenzierung der Rentnerschaft lässt sich feststellen, dass sich Frauen überdurchschnittlich häufig weder für ein vollständiges noch für ein anteiliges staatliches Ruhestandsgeld qualifizieren konnten. Dass das zweiteilige sowjetische Altersrentensystem keineswegs für eine lückenlose Absicherung aller Bürger im Rentenalter sorgte, lässt sich als wohl als prägnantester Ausdruck der Begrenztheit seiner Reichweite verstehen. Die Bezugskriterien waren so gesetzt, dass sie – angesichts der bestehenden Probleme bei der Arbeitsdokumentation sowie der Eigenheiten sowjetischer Biographien – nicht von allen Unterstützungsbedürftigen erfüllt werden konnten. Gleichzeitig waren alternative Mechanismen, die als „letztes Netz“ der staatlichen Einkommenssicherung hätten fungieren können, ineffektiv: Die monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte waren nicht nur viel zu niedrig und an eine strikte Bedürftigkeitsprüfung gebunden, sondern standen vielerorts auch nur den Invaliden zur Verfügung. Und für eine adäquate Anstaltsfürsorge fehlte es an einer ausreichenden Bettenzahl, geeigneten Gebäuden und motiviertem Personal. Entgegen einer
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offiziellen Diktion, der zufolge die sowjetische Sozialversorgung als Resultat der Kolchosrentenreform „die weitestgehende Entwicklung [erfahren hat] und die gesamte Bevölkerung des Landes erfasst“,2 erfuhr das Leninsche Prinzip der Universalität in der Alterssicherung de facto keine Verwirklichung. Anfang der 1970er Jahre bezogen wohl immerhin noch etwa 8 Mio. Menschen jenseits der Altersgrenze von 55 bzw. 60 Jahren weder Rente noch Fürsorgeleistung. Wie viele von ihnen aus freien Stücken auf einen möglichen Leistungsbezug verzichteten, kann nicht eruiert werden. In jedem Fall ist allerdings davon auszugehen, dass ein beträchtlicher Teil der Betroffenen materielle Not litt, da ihm jene Versorgungsstrategien, die die Mehrheit der älteren Sowjetbürger vor den Rentenreformen gekannt hatte (private Nebenwirtschaft, Arbeitstätigkeit bis zum Verlust der physischen Voraussetzungen, familiäre Unterstützung, Betteln etc.), nicht das nötige Auskommen sicherten. Da der Gesetzgeber keine ausreichenden Maßnahmen ergriff, diesem – im öffentlichen Diskurs so gut wie verschwiegenen – Bevölkerungskontingent zur Seite zu stehen, kann ihm unterstellt werden, dass er seine Notlage wissentlich in Kauf nahm. Sicherlich fehlten die notwendigen Mittel für eine höherwertige Alterssicherung. Die Tatsache jedoch, dass vor allem jenen ein Ruhestandsgeld verwehrt blieb, die nicht den erforderlichen trudovoj staž vorweisen konnten, zeigt, dass hier mit aller Härte das sozialistische Leistungsprinzip zur Anwendung gelangte, dem auch die Schwächsten der Gesellschaft untergeordnet wurden.3 Von Bedeutung waren jedoch ebenfalls propagandistische Imperative. So erklärt Klaus von Beyme die nachhaltige Vernachlässigung des Fürsorgeprinzips damit, dass die sozialistischen Systeme „seine Ventilfunktion für individuelle und temporäre Notlagen geringer ein[schätzen] und [...] dazu [neigen], ideologisch so zu reagieren, als ob individuelle Notfälle nicht auftreten könnten. Die individualisierende Sozialhilfe hätte das kollektive Prinzip durchbrochen, die vorzeitige Abschaffung gewisser Notlagen wie Arbeitslosigkeit in Frage gestellt [...].“4 Diesem Argument ist beizupflichten, wäre die Einführung einer reellen Grundsicherung für unversorgte Bürger im Rentenalter doch dem ungünstigen Eingeständnis gleichgekommen, dass Altersarmut auch in der UdSSR als Problem existierte. Als ein zusätzlicher Faktor, der die positiven Effekte der beiden Rentenreformen bis zu einem gewissen Grad relativierte, ist schließlich ihre praktische Umsetzung zu bewerten. Sie war für die Antragsteller insbesondere in den ersten Monaten und Jahren nach dem Inkrafttreten der Gesetze oft mit einer Reihe von Unannehmlichkeiten verbunden, die die Freude über die Verbesserung ihres Lebensstandards in den Hintergrund drängte. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang sowohl die Fehlentscheidungen und enormen Verzögerungen bei der Bearbeitung der Anträge als auch die miserable Qualität der Betreuung durch die Mitarbeiter der Sozialversorgungsorgane. Verantwortlich waren hier gravierende Mängel in der Reformvorbereitung: Der Staat gab zwar Unsummen für die Rentenfinanzie2 3 4
Lykova, Vseobšþee socialތnoe obespeþenie, S. 95. Siehe unten. Beyme, Sozialismus, S. 53.
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rung aus, sparte jedoch bei der Schaffung der notwendigen Infrastruktur. Weder wurde die Sozialbürokratie mit den erforderlichen Räumlichkeiten zum Empfang der Menschenmassen ausgestattet, noch verfügte ein Großteil ihrer Mitarbeiter über die nötige Qualifikation zur korrekten Behandlung der oft komplizierten Materie. Ihre Grobheit im Umgang mit den älteren Bürgern lässt sich ebenfalls über die Überlastung und die fehlende Identifikation der Mitarbeiter mit ihrer gering entlohnten Tätigkeit erklären: Ohne Zweifel bestand jedoch das schwerwiegendste Hindernis bei der Versorgung der älteren Bevölkerung mit einem „verdienten Ruhestand“ in der Unzulänglichkeit der Arbeitsdokumentation. Sei es aufgrund von betrieblicher Nachlässigkeit bei der Aufbewahrung der Unterlagen zur Art und Dauer individueller Arbeitstätigkeit, sei es infolge der kriegsbedingten Zerstörung diesbezüglicher Archivbestände – oft konnte der Einzelne auch mit Hilfe von Zeugen keinen Nachweis über sein tatsächliches Dienstalter oder die durchschnittliche Höhe des früheren Arbeitsverdienstes führen. In der Konsequenz musste es zur Schmälerung oder gar dem Verlust berechtigter Leistungsansprüche kommen. All diese unbestreitbaren Schwächen disqualifizieren das sowjetische Altersrentensystem zweifelsohne in den Augen von Betrachtern, die die Beseitigung einer im absoluten Sinne verstandenen Altersarmut als Mindestanforderung an ein System begreifen, das sich auf dem Feld der Sozialpolitik mit dem marktwirtschaftlich organisierten Westen messen wollte. Ein Ruhestand als Lebensphase, in der der Einzelne von der Notwendigkeit befreit war, sich seinen Unterhalt durch Arbeit zu verdienen oder materielle Unterstützung von familiärer oder anderer Seite zu erhalten, wurde bis 1972 für viele, aber eben bei weitem noch nicht für alle betagten Bürger Realität. Um sich der gesellschaftlichen Relevanz der Reformen gewahr zu werden, reicht die Orientierung an einem solchen Standard allerdings nicht aus. Die Mehrheit der Sowjetbürger besaß zwischen 1956 und 1972 so gut wie keine Informationen darüber, welches Niveau eine Altersrentenversorgung unter anderen Umständen erreichen konnte, da sie über keine ungefilterten Kenntnisse über das Ausland verfügten. Wollten die Menschen die unter Chrušþev und Brežnev erreichten Verbesserungen der Altersversorgung bewerten, mussten sie auf ihren eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen. So stellt Seweryn Bialer im Hinblick auf die Ursachen für die Stabilität der sowjetischen Gesellschaft fest, dass „der einzige legitime Blickwinkel [zur Beurteilung derselben] derjenige der Sowjetbürger selbst ist. Hier stellt die Binnenwirtschaft den entscheidenden Bereich dar, und der Referenzpunkt zur Beurteilung ihrer Leistung ist der Vergleich mit der unmittelbaren sowjetischen Vergangenheit.“5 Diese Vorstellung ist 5
Bialer, Stalinތs Successors, S. 149. Ähnlich äußert sich Dubin, Face, S. 10: „Es ist ziemlich klar, was die einfache Person angesichts der tatsächlichen und ideologischen Isolation vom Westen und einer entfernteren Vergangenheit [...] als Vergleichsgrundlage bei der Einschätzung ihres gegenwärtigen Lebens nutzte. [...] Wir sollten zudem festhalten, dass jede durchschnittliche Person, Familie oder Mikro-Gruppe täglich solche Vergleiche zog. Sie richteten sich bei der Bewertung ihres Lebens, allgemein gesprochen, an zwei Achsen aus: Zuerst verglichen sie es mit ihrer eigenen jüngeren Vergangenheit, d. h. der Nachkriegszeit und dem Ende der Stalin-Ära, und zweitens mit dem Leben ihrer Eltern (deren absolute Mehrheit aus Dörfern kam, die von Stalin enteignet, beraubt und entrechtet worden waren).“ Vgl. auch
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fraglos auch auf die Wahrnehmung der Fortschritte im Bereich der Altersversorgung zu übertragen. Ebenso wie die gesamte Bevölkerung sich, genoss sie die allgemeine Aufbruchstimmung und das bescheidene Maß neu gewonnener Freiheiten, vor allem von dem Kontrast zur gesellschaftlichen Atmosphäre vor 1953 leiten ließ, orientierte sich auch ein Staatsrentner zuallererst am Vorreformzustand der Alterssicherung. Gemessen an der Kargheit des Ausgangsniveaus hatte sich das Los der älteren Arbeiter und Angestellten in überdeutlicher Form zum Besseren gewendet. Gleiches galt für die Lage der Artelmitglieder, die 1965 in der Mehrzahl überhaupt zum ersten Mal Leistungen erhielten und 1971 eine spürbare Aufstockung ihrer Renten erfuhren. Die Ruheständler besaßen freilich noch einen zweiten Referenzpunkt: Als Mitglieder der einzelnen Altersrentenkategorien bewerteten sie ihr eigenes Leistungsniveau auf der Grundlage des Vergleichs mit jenem der anderen Beziehergruppen. Standardruheständler orientierten sich somit an den Privilegien der Vorzugsrentner, und die große Gruppe der Kolchosaltersrentner erlangte nicht zuletzt aus der Kenntnis um die großzügigere Versorgung der Staatsrentner ein Bewusstsein für die Mängel der eigenen Sicherung. Das Wissen um die Uneinheitlichkeit der staatlichen Fürsorge beeinflusste jedoch nicht allein das Ausmaß, in dem der Einzelne mit den Reformergebnissen zufrieden war. Es lag auch den Veränderungen zugrunde, denen sich die sowjetische Sozialstruktur infolge der nachstalinschen Rentenpolitik ausgesetzt sah. Die Mitglieder der Unterkategorien der staatlichen Altersrentenversorgung und die Kolchosruheständler verfügten über einen jeweils eigenen Zugang zum Sicherungssystem; zudem zahlte sich die in der Vergangenheit erbrachte Arbeitsleistung für sie in jeweils unterschiedlicher Weise aus. Vor diesem Hintergrund lassen sie sich mit dem Begriff der Versorgungsklasse beschreiben, den M. Rainer Lepsius für Klassenlagen geprägt hat, die vor dem Hintergrund des zunehmenden Ausbaus sozialer Sicherungssysteme in besonderer Weise durch „Versorgungsansprüche bzw. öffentliche Versorgungsangebote“6 definiert werden. Die für Staatsund Kolchosruheständler, für Vorzugsrentner, gewöhnliche und Teilrentner unterschiedlichen Bezugskriterien und Bemessungsmodi bedingten eine negative bzw. positive Privilegierung gegenüber den jeweils anderen Altersrentnern, welche den im Alter genossen Lebensstandard, den Status und die Alltagsgestaltung nachhaltig bestimmte. Die Höhe der monatlich ausgezahlten Leistungen leitete sich eben nicht allein aus dem früheren Erwerbseinkommen ab; ausschlaggebend waren gleichfalls die Spezifika einer Gesetzgebung, die bei der Bewertung des individuellen Leistungsanspruchs eine ganze Reihe weiterer Faktoren (Art und Ort der früher ausgeübten Arbeitstätigkeit, Kolchoszugehörigkeit, Qualität des Dienstalters, Größe der privaten Nebenwirtschaft, Zahl der unterhaltsberechtigten Familienangehörigen etc.) berücksichtigte. Sicherlich fielen die Unterschiede zwischen den Subkategorien geringer aus als noch vor 1956 bzw. 1964: Infolge der Einfüh-
6
Bahry, Politics, S. 72; Lapidus, Social Trends, S. 189. Zur Isolation sowjetischer Bürger von der Außenwelt vgl. auch Connor, Soviet Society, S. 6272. Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 182.
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rung der Rentenobergrenzen und -untergrenzen lagen etwa die Vorzugsrenten weit näher bei den Standardrenten, als dies für die vormaligen „erhöhten Renten“ gegolten hatte. Ebenso verringerte sich das Ausmaß, in dem die mittleren Kolchosaltersrenten hinter den staatlichen Ruhestandsgeldern zurückblieben, bis zum Ende des Untersuchungszeitraums. Einkommensunabhängige Faktoren waren jedoch unzweifelhaft auch noch 1972 mit dafür verantwortlich, ob sich ein betagter Sowjetbürger eines erwerbsfreien Ruhestands erfreuen konnte oder im Alter auf zusätzliche Unterhaltsquellen angewiesen war. Eine besondere Relevanz gewinnt die Identifikation dieser Versorgungsklassen nicht zuletzt deshalb, weil man sie als Konfliktparteien im Streit um die begrenzten, für die Zwecke der Altersrentenversorgung zur Verfügung stehenden Ressourcen erachten kann. Zwar bildeten sie keine Interessenvertretungen aus, die sich für eine Korrektur der eigenen Bezugskriterien und Berechnungsmodalitäten einsetzten. Zudem ist kaum anzunehmen, dass sich ihre Mitglieder dergestalt mit ihrer „Klassenzugehörigkeit“ identifizierten, dass sie sich zuerst etwa als Standardrentner und erst in einem zweiten Schritt als „Altersrentner“ verstanden. Dessen ungeachtet lässt sich kaum bezweifeln, dass sich „Mitglieder“ der einzelnen Unterkategorien mit den bescheidenen ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten aktiv gegen ihre Benachteiligung im Bereich der Ruhestandsversorgung wandten. Als bevorzugtes – und vor dem Hintergrund der überaus beschränkten Partizipationsmöglichkeiten sowjetischer Bürger wohl auch einziges – Instrument der Auseinandersetzung figurierten dabei die an die politischen Institutionen gerichteten Eingaben und Beschwerden der Betroffenen. Zu verweisen ist diesbezüglich auf Schreiben, in denen ältere Kolchosbauern um ein niedrigeres Renteneintrittsalter ersuchten, Teilrentner sich um die Anerkennung all ihrer Arbeitsjahre als rentenrelevant bemühten oder Standardrentner dieselben Weiterarbeitsregelungen einforderten, die für Vorzugsrentner galten. Sie alle waren nicht nur Zeugnisse des Unmutes über die eigene Benachteiligung, sondern de facto ebenfalls Ausdruck der aktiven Bemühung der Versorgungsklassen um eine Gleichberechtigung im Zugang zur Altersrentenversorgung. Dass sich hier ein „sozialer Konflikt“ abzeichnete, verdeutlicht auch die Tatsache, dass nicht wenige Briefautoren in ihren Texten explizit auf andere Teile der älteren Bevölkerung verwiesen, denen es – ihrem Empfinden nach ungerechtfertigterweise – besser erging als ihnen selbst. Derartige Differenzen mochten in ihrem Ausmaß bescheiden sein, wurden sie doch von der sowjetischen Allgemeinheit kaum zur Kenntnis genommen. Folgenlos blieben sie deshalb nicht: Da die vom Regime nach 1956 bzw. 1965 an der Altersrentenversorgung vorgenommenen Korrekturen nicht zuletzt als Reaktionen auf die in Teilen der Bevölkerung weiterhin bestehende Unzufriedenheit über Einzelaspekte der Gesetzgebung zu werten sind, dienten sie faktisch ebenfalls der Entschärfung der Reibungen zwischen den Versorgungsklassen. In diesem Sinne kann der von Jens Alber gegen Lepsius’ Konzept vorgebrachte Einwand, dass keine der durch Missverhältnisse im Zugang zu sozialpolitischen Leistungen hervorgerufenen „Spannungen einen relevanten Beitrag zur Strukturierung
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sozialer Konflikte geleistet“7 hätten, für die nachstalinsche UdSSR keine Gültigkeit beanspruchen. Die Schaffung neuer Versorgungsklassen stellte jedoch nicht den alleinigen Beitrag der Rentenreformen zur sozialen Differenzierung der sowjetischen Gesellschaft dar. Lepsius selbst weist darauf hin, dass es sich bei den Versorgungsklassen streng genommen nicht um „soziale Einheiten“ handele, da die in ihnen vereinten Bürger weder ein identisches Gebaren noch vergleichbare Wertüberzeugungen oder eine typische Interaktionsqualität aufweisen würden.8 Tatsächlich ist jedoch festzustellen, dass es infolge der Inaussichtstellung und Durchführung der Rentenreformen zur Ausbildung einer gesellschaftlichen Größe anderer Art kam, die zumindest die beiden ersten Voraussetzungen erfüllte. Getragen wurde sie allerdings nicht von den Rentenunterkategorien; sie war stattdessen auf der übergeordneten Ebene der Altersrentner angesiedelt. Sie stellte somit nicht allein das Ergebnis einer versicherungsmathematischen Einteilung dar, sondern erlangte eine „Schwerkraft in der realen Welt“.9 Diese Kollektiveinheit verband einen großen – und stetig wachsenden – Teil der älteren Sowjetbevölkerung über alle Verschiedenheiten hinweg: Sie umfasste sowohl Bezieher hoher als auch niedriger Leistungen, sowohl weiterarbeitende Rentner als auch solche, die die Erwerbstätigkeit oder die Bewirtschaftung des privaten Hoflandes eingestellt hatten, sowohl kollektivwirtschaftliche als auch staatliche Ruheständler. Tatsächlich waren ihr sogar Bürger zuzuordnen, die sich gar nicht für eine Altersrente qualifizieren konnten. Auf der Grundlage des ausgewerteten Materials lassen sich deutliche Parallelen hinsichtlich der Eigenwahrnehmung und des Verhaltens im Kontakt mit staatlichen Institutionen feststellen. Diese unterschieden die betreffenden Bürger nicht nur von der noch im erwerbstätigen Alter befindlichen Bevölkerung, sondern gleichfalls von den Beziehern anderer Rentenarten (Invaliden-, Hinterbliebenen-, persönliche Rentner etc.). In Anlehnung an das von Mark Edele für die sowjetischen Kriegsveteranen entwickelte Konzept lässt sich die neue soziale Einheit als Anspruchsgemeinschaft charakterisieren. Als Kommunalität ihrer Mitglieder ist zum einen das fortgeschrittene Lebensalter zu begreifen, das sich in der Tatsache offenbarte, dass die für Vorzugs-, Standard- bzw. Kolchosrentner jeweils geltende Altersgrenze überschritten wurde. Gleichzeitig implizierte dieses Alter freilich auch, dass das Individuum lange Jahre seines Daseins der „gesellschaftlich nutzbringenden Tätigkeit“ gewidmet hatte. Von zentraler Bedeutung erscheinen jedoch die Überschneidungen im Selbstverständnis der Mitglieder: Es einte sie die Vorstellung, dass die eigene zurückliegende Lebensleistung ein Verdienst darstellte, das ihre ausreichende materielle Absicherung im Alter zu einer regelrechten Verpflichtung für den sowjetischen Staat werden ließ. Hieraus leitete sich zudem ein ähnliches Verhaltensmuster ab: In Briefen, die an staatliche Institutionen oder Presseorgane adressiert wurden, findet sich mit großer Regelmäßigkeit der Verweis auf den eigenen Beitrag zum 7 8 9
Alber, Versorgungsklassen, S. 228. Vgl. Lepsius, Soziale Ungleichheit, S. 182. Emcke, Kollektive Identitäten, S. 229.
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gesellschaftlichen Fortschritt. Betagte Arbeiter und Angestellte erinnerten an die Energien, die sie bei der Industrialisierung des Landes und dem Wiederaufbau der Wirtschaft nach den Verheerungen des Zweiten Weltkrieges gelassen hatten. Und Kolchosbauern rekurrierten auf ihren Einsatz während der Kollektivierung, die Langjährigkeit ihrer Mitgliedschaft im Artel oder die Versorgung der Industriearbeiterschaft mit unverzichtbaren Lebensmitteln. Die Mängel in der Rentengesetzgebung, in deren Folge vielen älteren Bürgern nur bescheidene – oder sogar gar keine – Ruhestandsgelder erteilt wurden, interpretierte man vor diesem Hintergrund als kränkendes Zeichen der fehlenden Anerkennung. Auffällig ist dabei das besondere Selbstbewusstsein der Verfasser, das sich in dem fordernden Auftreten gegenüber ihren Adressaten zeigte und offensichtlich in der Überzeugung eines moralischen Anrechts auf die adäquate Alterssicherung gründete: In den Schreiben, in denen sie auf Korrekturen an der Rentengesetzgebung drangen, traten sie als Personen auf, denen der Staat etwas schuldig war. Das Faktum der Qualifikation für das Ruhestandsgeld selbst erscheint dabei von untergeordneter Bedeutung, da die Vorstellung eines existierenden Anspruchs auch in den Äußerungen von älteren Bürgern begegnete, denen eine solche Leistung noch nicht erteilt worden war. Somit ist zu konstatieren, dass sich die Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner nicht allein auf die Bezieher der Sozialleistung erstreckte, sondern zudem auf einen Teil der Nichtrentenberechtigten: Das gemeinsame Selbstverständnis entstand folglich nicht nur aufgrund der staatlichen Zuweisung der Altersrente, die – als eine an das Lebensalter und den trudovoj staž gebundene Unterstützung – die individuell erbrachte Vorleistung von vorneherein implizierte. Es resultierte bereits aus dem Wissen darüber, dass ein solches Institut für große Teile der älteren Bevölkerung zur Verfügung stand, sowie aus der als ungerecht empfundenen Erfahrung, dass Mitbürger von ihm profitierten, deren Entbehrungen und Arbeitsleistungen subjektiv nicht höher einzustufen waren als die eigenen. Beide sozialstrukturellen Effekte der Reform der Alterssicherung bedeuteten eine Zunahme der sozialen Differenzierung der sowjetischen Bevölkerung. Folglich handelte es sich um nicht-intendierte Folgewirkungen einer staatlichen Sozialpolitik, die das Gegenteil erreichen wollte. Schon Lenin hatte den Sozialismus im November 1919 als ein Stadium definiert, in dem die „Abschaffung der Klassen“ bewerkstelligt werde, wobei es sich um ein Ziel handele, das die fortgesetzte Diktatur des Proletariats rechtfertige und zwingend notwendig mache.10 Allerdings war es auch nach offizieller Lesart erst partiell verwirklicht worden, als N. S. Chrušþev auf dem XXII. Parteitag der KPdSU die die proletarische Diktatur ablösende Doktrin vom „Staat des gesamten Volkes“ verkündete. Zwar erachtete der Erste Sekretär den „Klassenantagonismus“ selbst als überwunden,11 doch hielt er es darüber hinaus für notwendig, im Zuge des kommunistischen Aufbaus zudem die „Abschaffung der restlichen Unterschiede zwischen den Klassen, deren Verschmel-
10 11
Lenin, Ökonomik, S. 330. Chrušþev, O programme, S. 211.
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zung zu einer klassenlosen Gesellschaft der Arbeiter des Kommunismus“12 zu erreichen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit befand sich dieses Thema ebenso während der Ende der 1960er Jahre einsetzenden Phase des „entwickelten Sozialismus“. Nun interpretierte man die in der Vergangenheit erreichten gesellschaftlichen Veränderungen als Belege für die „Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft in der UdSSR in Richtung auf eine soziale Homogenität und das Ansteigen der Stufe ihrer Einheitlichkeit“.13 Die Reformen von 1956 und 1964 wirkten einer solchen Vereinheitlichung der sowjetischen Bevölkerung zumindest partiell entgegen. Sicherlich lässt sich die bis 1972 erreichte langsame Annäherung der Alterssicherung der Kolchosrentner an das Niveau der staatlichen Altersrentner als – bescheidener – Beitrag für die in Aussicht gestellte „Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land“ deuten. Die Erzeugung der Versorgungsklassen, die insbesondere am Beispiel der rentenpolitisch benachteiligten Kolchosmitglieder zutage tritt, bestätigte jedoch zuerst einmal die bestehenden Differenzen zwischen ihnen und den betagten Arbeitern und Angestellten. Während es die Versorgungsklassen auch zuvor schon in ähnlicher Form (z. B. Bezieher „erhöhter Altersrenten“, Standardrentner), jedoch in geringerem Umfang gegeben hatte, wirkte die Entstehung der Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner der Homogenisierung in besonderer Weise entgegen. Mit ihr entstand aus Menschen, die zuvor lediglich als betagte und unproduktive Teile der Arbeiter-, Angestellten- oder Kolchosbauernschaft zu bezeichnen gewesen waren, eine grundlegend neue Kollektiveinheit. Diese unterschied sich in ihren Lebensumständen und der Definition des eigenen Wertes deutlich von der jüngeren Bevölkerung – und hegte deshalb grundsätzlich andere Erwartungen gegenüber dem Sowjetstaat, die sie nicht selten mit besonderem Nachdruck vertrat. Die Konstituierung der Anspruchsgemeinschaft muss auch in Verbindung mit der sich im Kontext der Rentenversorgung manifestierenden Beziehung zwischen Staat und Bevölkerung betrachtet werden. Die Annahme, dass sie in einem hohen Maße von Wechselseitigkeit gekennzeichnet war, hat sich auf der Grundlage des ausgewerteten Materials in mehrfacher Hinsicht bestätigt. Es ist allerdings davon Abstand zu nehmen, für diese Relation den für die Beschreibung der nachstalinschen UdSSR gern verwendeten Begriff des Sozialvertrags zu nutzen. Unabhängig davon, ob man ihn als geschichtliches Faktum, als hypothetisches Gedankenexperiment oder als stillschweigende Übereinkunft deutet: Der Gedanke eines Abkommens zwischen zwei Parteien eignet sich schlechterdings nicht für eine Situation, in der einer der beiden Seiten jene Freiheitsrechte verwehrt wurden, die es ihr ermöglicht hätten, offen gegen den Inhalt der Vereinbarung zu widersprechen – oder sich ihr durch Emigration zu entziehen. Weitaus sinnvoller erscheint es stattdessen, sich bei der Beschreibung dieses Verhältnisses an reziprozitätstheoretischen Überlegungen zu orientieren. Stephan Lessenich, Steffen Mau und andere Autoren haben unterstrichen, dass auch das Wirken westlicher Wohlfahrtsstaaten 12 13
Ebd., S. 167. Vgl. auch Semenov, Na puti, S. 45; Glezerman, Ot klassovoj differenciacii, S. 39. Rutkewitsch, Die Sozialstruktur, S. 21. Vgl. auch Mrowczynski, Im Netz, S. 102103.
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von einem Kreislauf der Gabe, Annahme und Gegengabe gekennzeichnet ist. Die Sozialleistungen stellen keine einseitigen und folgenlosen Hilfsmaßnahmen dar, sondern sind an zuvor oder im Anschluss zu erbringende Gegenleistungen gebunden: Über die Ressourcentransfers zwischen den einzelnen Bevölkerungsteilen werden diese dadurch in soziale Beziehungen, d. h. in Verhältnisse des Anspruchs und der Verpflichtung, zueinander gesetzt. Inwiefern das jeweilige Sozialsystem – und damit auch die gesellschaftliche Ordnung – dabei als gerecht akzeptiert wird, hängt im hohen Maße davon ab, ob die Reziprozitätserwartungen der Beteiligten erfüllt werden: also von der Auffassung des Einzelnen, dass er für seinen Anteil an der Finanzierung der Unterstützungsleistungen eine angemessene ideelle oder finanzielle Gegenleistung erhält, indem er z. B. sein eigenes Alter versorgt weiß. Von Bedeutung ist zudem die Überzeugung, dass auch andere Bürger des Gemeinwesens einen ihren Möglichkeiten entsprechenden Beitrag zur Gewährleistung der staatlichen Sicherung leisten.14 Unabhängig davon, ob die UdSSR nun als ein Wohlfahrtsstaat betrachtet werden kann oder nicht,15 charakterisierte eine derartige Reziprozität ebenfalls die Beziehungen der an der sowjetischen Altersrentenversorgung beteiligten Parteien. Auch im vorliegenden Beispiel lässt sich die Bevölkerung in Gebende und Nehmende differenzieren, gab es einerseits Erwerbstätige, die Werte erzeugten und Steuern zahlten, welche die Bereitstellung von Sozialleistungen ermöglichten, andererseits alte und arbeitsunfähige Personen, die selbige erhielten. Der Staat erließ hier ebenfalls Richtlinien, auf deren Grundlage die Vorleistungen der Antragsteller (gemessen in Dienstalter, Lebensalter, Verdiensthöhe, Kinderzahl etc.) definiert wurden und aus denen sich der Anspruch auf eine Gegenleistung in Gestalt des Schutzes gegen die Folgen des Verlustes der Arbeitskraft ableitete.16 Dabei unterschied sich die zu registrierende Wechselseitigkeit jedoch in einem wichtigen Punkt von der Situation in westlichen Gesellschaften: Durch die Behauptung, dass die Rentenleistungen auf Kosten des Staates und ohne Abzüge von der Entlohnung der Werktätigen ermöglicht wurden, verschleierte das Regime den Beitrag der Bevölkerung zu ihrer Finanzierung und die eigene Funktion innerhalb des Sozialsystems: Nicht als Vermittler und Organisator der sich zwischen den Bevölkerungsteilen vollziehenden Ressourcentransfers trat es auf, sondern als alleiniger Ursprung der verbesserten Alterssicherung. In der öffentlichen Wahrnehmung überwog somit der Eindruck eines vornehmlich zwischen Staat und Bevölkerung bestehenden Verhältnisses der Wechselseitigkeit. Dies lässt sich, da es von den tatsächlichen Relationen ablenkte, als eine „umgeleitete Reziprozität“ beschreiben, die geradezu die Voraussetzung dafür bedeutete, dass das Regime mit Hilfe seiner Rentenpolitik überhaupt einen herrschaftsstabilisierenden Effekt zu erzielen vermochte. Die Vermutung liegt nahe, dass eine derartige Überbetonung der staatlichen Rolle nicht nur für die UdSSR, sondern auch für andere autoritäre und vordemokratische
14 15 16
Vgl. Mau, Wohlfahrtsregimes, S. 352353. Hierzu siehe Abs. 8.2. Vgl. Marten Scheuregger, Einleitung, S. 9.
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Systeme charakteristisch war bzw. ist, die sozialpolitische Maßnahmen zur Legitimierung der eigenen Herrschaft durchführen bzw. durchführten.17 Die Beziehung von Regime und Bevölkerung verfügte über zwei nebeneinander bestehende Ebenen, zum einen eine paternalistische Dimension, zum anderen eine qualifikatorische Dimension der Reziprozität. Die Elemente beider Ebenen lassen sich sowohl anhand von offiziellen Regimeäußerungen, von Presseartikeln und Leserbriefen als auch über interne Äußerungen politischer Funktionsträger und unveröffentlichte Schreiben einfacher Sowjetbürger nachvollziehen. Die erste Dimension entsprach dem über die Propaganda erzeugten Bild einer politischen Führung, die den Bürgern des Landes gegenüber eine Haltung der „väterlichen Fürsorge“ manifestierte. Hier figurierte die auf die Rentenreformen zurückzuführende Anhebung des Lebensstandards älterer Menschen als eine Gabe, die auf das Wohlwollen von Partei und Regierung zurückzuführen war. In offiziellen Stellungnahmen von Mitgliedern der politischen Führung sowie flankierenden Presseartikeln wurden die Verbesserungen charakteristischerweise als ein Ergebnis der „leninschen Sorge um das Wohl des Volkes“ beschrieben. Gleichzeitig kommunizierte man in den Texten jedoch unmissverständlich, welche reziprozitären Erwartungen man mit einer derartigen Manifestation der „sozialistischen Humanität“ verknüpfte. Als angemessene Antworten der von den Leistungen profitierenden Menschen beschrieb man zum einen das von ihnen zu empfindende Gefühl der Verbundenheit, zum anderen die Steigerung ihres individuellen Einsatzes im Interesse des gesellschaftlichen Fortschritts. Eine Bestätigung dieses Arrangements lieferten die Autoren von abgedruckten Leserbriefen, die ihrer großen Dankbarkeit und Begeisterung Ausdruck verliehen – und im selben Atemzug bekundeten, dass sie von den Reformen zu „neuen Arbeitstaten“ motiviert würden. Ähnliche Aussagen finden sich allerdings auch in unveröffentlichten Äußerungen. Folglich ist die Annahme begründet, dass ein repräsentativer Teil der Sowjetbevölkerung die genannten Erwartungen entweder in dem Sinne erfüllte, dass er den Staat dankbar als Hauptverantwortlichen der Verbesserungen anerkannte und hie17
Zur Überprüfung dieser Annahme wären weitere, komparative Untersuchungen notwendig, so dass hier lediglich auf mögliche Beispiele hingewiesen werden kann. Nicht verwundern wird die Erkenntnis, dass sozialpolitische Fortschritte auch im offiziellen Diskurs der DDR in einer „persönliche[n] Verpflichtung [der Bürger] gegenüber der Politik von Staat und Partei“ resultierten. Meyer, Die DDR-Machtelite, S. 359. Deshalb ist wohl davon auszugehen, dass sich ähnliche Beziehungsmuster ebenfalls in anderen sozialistischen Staaten des Ostblocks vorfinden lassen. Eine umgeleitete Reziprozität lässt sich jedoch auch für das Bismarcksche Sozialversicherungssystem nachweisen. Zwar war die Rolle des Staates hier eine grundsätzlich andere: Für die Finanzierung der Sozialleistungen kam nicht er selbst, sondern allein die Arbeitgeber und Arbeitnehmer auf, während Steuermittel unangetastet bleiben sollten. Dessen ungeachtet verstand man die Reformmaßnahmen ebenfalls als „Instrument[e] zur Sicherung des Staates“ (Saul, Industrialisierung, S. 183.), die eine direkte Beziehung zur Bevölkerung herstellen sollten. Als „wohltätige Institution“ wollte auch der deutsche Staat, wie Bismarck am 18. Mai 1889 in einer Rede vor dem Reichstag konstatierte, vom „gemeinen Mann“ (Zit. bei: Ebd., S. 185. Vgl. zudem Schmidt, Sozialpolitik. Historische Entwicklung, S. 2728.) wahrgenommen werden. Und von diesem wurde als angemessene Reaktion erwartet, dass er sich dem Staat gegenüber loyal zeigte. Vgl. Baier, Herrschaft, S. 137.
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raus einen Handlungsauftrag ableitete, oder sich ihrer zumindest bewusst war und den Anschein der Konformität erwecken wollte. Die erhofften – und laut Propaganda tatsächlich erreichten – Reaktionen lassen sich unterschiedlichen, mit der staatlichen Rentenpolitik verbundenen Zielen zuordnen. So zeugt die Absicht der Dankeserzeugung in überdeutlicher Weise von dem Bedürfnis der nachstalinschen Führung nach einer Rechtfertigung der eigenen Herrschaft, die sich nicht mehr allein auf das Charisma der Führungspersönlichkeiten oder teleologisch auf die Rolle der Partei bei der Erreichung des Kommunismus stützte. Eine Verbundenheit für die Erträge einer Regierungspolitik musste nachgerade mit der Affirmation derselben gleichgesetzt werden. Gelang es also dem Regime wirklich, von den beachtlichen „Legitimationswirkungen des sozialen Sicherungssystems“18 zu profitieren, so ließe sich die Ursache hierfür in der Verinnerlichung eben dieses Aspektes der paternalistischen Reziprozität durch die sowjetischen Bürger finden. Je nachdem, ob man den Schwerpunkt auf die Zufriedenheit stiftende Funktion seines Outputs oder auf die Spezifika der Selbstdarstellung des Regimes setzen möchte, kann eine solche Form der Legitimation entweder als sozial-eudämonistischer oder paternalistischer Natur beschrieben werden. Die als Gegengabe gleichfalls erwartete Optimierung des individuellen Einsatzes entsprach hingegen den fürsorgefernen Bestimmungen einer Rentenversorgung, die in der UdSSR immer auch im Dienste der volkswirtschaftlichen Entwicklung stand. Indem aus der „väterlichen Sorge“ das moralische Pflichtgebot an die erwerbstätige Bevölkerung abgeleitet wurde, in Zukunft noch bessere Arbeitsergebnisse zu erbringen, suchte man nicht nur allgemein die Entwicklung des „Neuen Menschen“ in der UdSSR zu befördern. Es war damit ebenfalls beabsichtigt, einen mobilisatorischen Effekt zu erzielen, den man sich bereits in anderer Hinsicht von der Altersrente versprach: Die Steigerung der Arbeitsproduktivität sollte bekanntlich schon durch den Anreizcharakter des Rechtsinstituts bewerkstelligt werden, das – zumindest auf dem Papier – bessere Leistungen durch entsprechend höhere Ruhestandsgelder honorierte. Bei oberflächlicher Betrachtung mag der Eindruck entstehen, dass diese Form der Wechselseitigkeit bereits vor dem Ableben Stalins existierte. Tatsächlich kennzeichneten seine Bausteine – der Verweis auf die väterliche Sorge der Führung, auf die Dankbarkeit der Bevölkerung sowie auf deren Bereitschaft zur Leistungssteigerung – schon vor 1953 den Duktus der offiziellen Verlautbarungen, der Leitartikel und der Schreiben an Partei- und staatliche Institutionen. Das fundamental Neuartige der Regime-Bevölkerung-Beziehung der Nachstalinzeit vermittelt sich demzufolge nicht über die Wortwahl einer Propagandamaschinerie, die die „stalinsche“ lediglich durch die „leninsche Sorge“ ersetzte. Es besteht in der Tatsache, dass einem großen – und stetig wachsenden – Teil der einfachen Sowjetbürger soziale Sicherungsleistungen erstmals in einem Umfang zur Verfügung gestellt wurden, der die früheren Worthülsen tatsächlich mit Inhalt füllte. Die Fürsorge war nun nicht mehr bloße Behauptung, sondern zeitigte wirkliche Effekte. Dementsprechend 18
Beyme, Sozialismus, S. 33.
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konnte die Bekundung der Dankbarkeit – anstatt bloßes Bestätigungsritual zu sein – nun in der realen Empfindung der „Umsorgten“ wurzeln. Die qualifikatorische Dimension der Wechselseitigkeit unterschied sich in dem Sinne geradezu diametral von der ersten Ebene, als dass die Altersrentner hier nicht als Empfänger der Gabe, sondern selbst als Gebende figurierten. Und als solche rechneten sie mit einer angemessenen Reaktion von Seiten des Staates, der sich somit unter Zugzwang gesetzt sah. Dabei deckte sich die Vorleistung der älteren Bürger mit der Grundlage ihrer Mitgliedschaft in der Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner: Es handelte sich um die lebenslange Arbeitstätigkeit des Einzelnen, die man, da sie als Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt in der UdSSR verstanden wurde, als ein Verdienst interpretierte. Dieses machte die Gegengabe, die adäquate Absicherung des Einzelnen gegen den Verlust der Arbeitsfähigkeit im Alter, zu einem Imperativ für das Regime. Die qualifikatorische Reziprozitätsdimension war nicht nur in den Eingaben von Bürgern gegenwärtig, die energisch die Verbesserung ihrer materiellen Situation einforderten, sondern zudem in einen öffentlichen Diskurs eingebettet, der solche Erwartungen als gerechtfertigt anerkannte. Hierfür sprechen sowohl die weite Verbreitung der Rede vom verdienten Ruhestand als auch die Förderung eines zivilen Ritus wie der Verabschiedung in die Rente, die ja nicht zuletzt die Ehrung der langjährigen Mitglieder der Belegschaft für ihre zurückliegenden Leistungen am Arbeitsplatz beinhaltete. Zu verweisen ist desgleichen auf den Umstand, dass politische Führungspersönlichkeiten wie Bulganin oder Brežnev die Reform der Rentenversorgung ebenfalls als das Ergebnis einer Verpflichtung beschrieben, die man gegenüber Menschen empfand, die lange Jahre ihres Lebens erwerbstätig gewesen waren. Die Interpretation der Altersrente als Konsequenz aus einer Vorleistung prägte jedoch nicht allein vermeintliche Lippenbekenntnisse dieser Art; über die Wirksamkeit des sozialistischen Leistungsprinzips beeinflusste sie auch die Rentenpolitik selbst. So kann sie als eine weitere Ursache für das Fehlen einer effektiven Grundsicherung angeführt werden. Dass ein Teil der älteren Bevölkerung Renten oder monatliche Beihilfen unterhalb des Existenzminimums bzw. überhaupt keine Unterstützung bezog, rechtfertigte man als das Ergebnis eines zu geringen individuellen Einsatzes: Personen, die in der Vergangenheit nicht in der erforderlichen Weise tätig gewesen waren, hätten ihr Anrecht auf eine bessere Versorgungsqualität verwirkt.19 Auch für sie besaß demzufolge Artikel 12 der sowjetischen Verfassung vom 5. Dezember 1936 Geltung, allerdings in leicht abgewandelter Form: „Wer nicht gearbeitet hat, soll auch nicht essen.“ Es ist somit Alastair McAuley zuzustimmen, der die ausbleibende Einrichtung einer wirklichen Sozialhilfe für die Bedürftigen darauf zurückführt, dass man ein solches Institut als
19
Offen vertreten wird diese Position etwa von Andreev, Pravo (1974), S. 271, der die Empfänger monatlicher Beihilfen für Nichtrentenberechtigte als Menschen beschreibt, „die in der Periode der Arbeitsfähigkeit nicht gearbeitet oder sich in der gesellschaftlichen Produktion unzureichend angestrengt und keinen gesellschaftlichen Reichtum erzeugt haben“.
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potentielles Hindernis für die Mobilisierung der Arbeits- und Leistungsbereitschaft sowjetischer Arbeitnehmer erachtete: „Sowjetische Entscheidungsträger verwahrten sich entschieden gegen den Grundsatz, dass der Staat verpflichtet sei, für ein Sicherungsnetz zu sorgen, einen Mindeststandard des Konsums, den niemandes Einkommen unterschreiten dürfe. Dieses Beveridge-Prinzip verstand man als Widerspruch zur sozialistischen Distribution, seine Akzeptanz sollte angeblich zur Faulheit ermuntern. Dieser Mangel an Mitgefühl in Chrušþevs Sozialpolitik ist als Widerschein eines grundlegenden Elements der Gedankenwelt der sowjetischen Nachkriegszeit zu verstehen – der Relevanz meritokratischer Werte.“20
Als relevant erweisen sich solche Belege für die Anerkennung der qualifikatorischen Reziprozitätsvorstellungen der älteren Bevölkerung, da sich das Regime ihnen in der Praxis nicht vollständig entziehen konnte. Die aus dem Sozialvertragsdiskurs geläufige Idee, dass das Regime eine wohlfahrtsorientierte Politik verfolgte, weil es sich infolge der innerhalb der Bevölkerung herrschenden Erwartungen dazu genötigt sah, findet hier eine Bestätigung. Wenn Bürger ihrer Unzufriedenheit über das ihrer Auffassung nach unzureichende Niveau der Alterssicherung Ausdruck verliehen und dabei auch auf die eigene Lebensleistung verwiesen, dann machten sie einen Anspruch geltend, dem gegenüber sich die Führung keineswegs indifferent zeigte. Die Durchführung der sozialgesetzgeberischen Maßnahmen lässt sich nicht ohne Berücksichtigung derartiger Vorstellungen erklären. Gleiches gilt für im Nachhinein umgesetzte Korrekturen wie etwa die Senkung des Kolchosrentenalters und die Anhebung der Mindestruhestandsgelder. Sicherlich wäre es unzureichend, die Forderungen von Teilen der älteren Bevölkerung als den alleinigen Antrieb für die sowjetische Rentenpolitik zu betrachten. Faktoren wie die Förderung der allgemeinen Arbeitsproduktivität, die Eindämmung der Arbeitslosigkeit, die Systemkonkurrenz mit dem marktwirtschaftlich organisierten Ausland und ideologische Zielsetzungen spielten ebenso eine Rolle. Desgleichen kam man den Forderungen nur bis zu einem bestimmten Punkt entgegen: Die Gewährleistung einer über dem Existenzminimum angesiedelten Ruhestandsversorgung für die bis dato Gering- bzw. Unversorgten war auch 1972 noch nicht realisiert worden. Die Tatsache, dass sich Partei und Regierung in ihrem Handeln von Eingaben, Briefen und Beschwerden beeinflussen ließen, ist jedoch nicht in Zweifel zu ziehen. Die Feststellung der qualifikatorischen Reziprozitätsdimension relativiert eines der Merkmale, die häufig mit autoritären politischen Systemen wie der UdSSR der Nachstalinzeit assoziiert werden: die Depolitisierung der Bevölkerung.21 Die Vorstellung, dass die Bürger der sozialistischen Staaten keinen Einfluss auf die Form und den Umfang ausübten, in denen ihnen Sozialleistungen zuteilwurden,22 lässt sich für den Fall der UdSSR nicht aufrechterhalten. Schließlich
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McAuley, Social Policy (1987), S. 155. Vgl. Linz, Autoritäre Regime, S. 40. Vgl. auch Zimmerman, Mobilized Participation, S. 333. So konstatiert beispielsweise Deacon, Social Policy, Social Justice, S. 7: „Die Empfänger von Wohlfahrtsleistungen waren die Objekte der Versorgung und niemals aktive Subjekte
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sind die Meinungsäußerungen älterer Menschen als eine Form der Partizipation anzuerkennen, die im Untersuchungszeitraum zumindest bescheidene Wirkungen erzielte. Es steht außer Frage, dass diesen Menschen die überwiegende Mehrheit all jener Möglichkeiten zur politischen Teilhabe verwehrt blieb, die westliche Staatswesen für ihre Bürger bereithielten. Das Mitglied der Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner ist deshalb jedoch noch nicht als bloßes Objekt der vom Regime getroffenen Entscheidungen zu begreifen. Die enorme Zahl der rentenbezogenen Eingaben und Beschwerden, die an die höchsten politischen Instanzen des Landes geschickt wurden, zeigt, dass Einzelpersonen sich oft für die eigenen Belange einsetzten, indem sie als ungerecht verstandene Bestimmungen kritisierten und auf eine Behandlung pochten, die ihren Reziprozitätserwartungen entsprach. Ihre Haltung war von einem spürbaren Eigenbewusstsein gekennzeichnet, das sie als aktiv handelnde Subjekte auftreten ließ. In diesem Sinne ist folglich Jeffrey Hahn zuzustimmen, der das „Bild der sowjetischen Bürger als passive Gegenstände der Regierungspolitik sowie als stoische und klaglose Untertanen, denen die Gelegenheiten oder der Wunsch zur Beanstandung und Beeinflussung von Entscheidungen fehlten, die ihr Leben betrafen, zumindest auf lokaler Ebene [für] unzutreffend“ erachtet.23 Vieles spricht dafür, qualifikatorische Wechselseitigkeitsvorstellungen nicht als ein Phänomen wahrzunehmen, das allein für die sich im Kontext der Altersrentenversorgung manifestierenden Beziehungen zwischen dem Regime und der älteren Bevölkerung kennzeichnend gewesen wäre. Dass sich diese Beobachtung auf die Anspruchsgemeinschaft der sowjetischen frontoviki übertragen lässt, deren Verdienste an der Gesellschaft in der Öffentlichkeit noch weit mehr Anerkennung fanden als jene der Arbeitsveteranen, liegt auf der Hand. Von Interesse ist dabei aber ebenfalls eine Untersuchung von Christine Varga-Harris zur Frage, wie sich die Bewohner der UdSSR nach 1953 als sowjetische Bürger definierten. Die Auswertung von Petitionen zur Wohnraumvergabe führt hier zu der Erkenntnis, dass auch die Mitglieder vieler anderer Personenkategorien ihren Anspruch auf ein Entgegenkommen des Regimes nicht grundlegend anders untermauerten als die Altersrentner.24 Die Annahme liegt also nahe, dass die Vorstellung, zwischen dem Einzelnen und dem Regime bestehe eine Relation der Wechselseitigkeit, in der sich Ersterer infolge seiner Vorleistungen in der Position sah, Forderungen im Hinblick auf eine Anhebung seines Lebensstandards zu stellen, ein Charakteristikum sowjeti-
23 24
bei der Definition der Bedürfnisse [...]“. Vgl. auch Götting, Transformation, S. 73; Pomorski, Criminal Law Protection, S. 242. Hahn, Soviet Grassroots, S. 262. Zu ähnlichen Auffassungen vgl. DiFranceisco Gitelman, Soviet Political Culture, S. 618619; Mommsen, Hilf mir, S. 12. Varga-Harris, Forging, S. 103: „Die Antragsteller schilderten [...] nicht allein die Einzelheiten ihrer materiellen Umstände, sondern boten auch autobiographische Details, die ihren persönlichen Wert für das Regime verifizierten, den sie mit ihrer Identität verschmolzen. Letztere diente als ein Mittel, um den Anspruch auf Belohnung, Entschädigung oder Wiedereinbürgerung durchzusetzen. Tatsächlich stellten Individuen ihre Forderungen, indem sie auf ein großes Reservoir von öffentlichen Identitäten zurückgriffen: Soldat, Arbeiter, Weise, Invalide, Kriegswitwe, Mutter, Parteimitglied und Rehabilitierter.“
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scher Bürger der Tauwetterzeit darstellte. Die qualifikatorische Reziprozität würde somit nicht nur ein Merkmal der Perspektive von Kriegsveteranen und Ruheständlern sein, sondern eine gesamtgesellschaftliche Qualität besitzen. Wie stark derartige Überzeugungen in der Gesamtbevölkerung tatsächlich verbreitet waren, kann dabei freilich nicht abschließend beantwortet werden. Zur Klärung dieser Frage wäre eine Untersuchung sowjetischer Briefe der Nachstalinzeit notwendig, die mit einer weit größeren Materialbasis operieren würde. Herausgearbeitet werden müssten auch die Unterschiede zum Selbstbild sowjetischer Briefschreiber der Stalinzeit. Ein Indiz dafür, dass hier markante Differenzen zu verzeichnen sind, bietet die Arbeit Sheila Fitzpatricks, die die Auffassung vertritt, dass sich die Autoren der 1930er Jahre grob in zwei Typen differenzieren lassen, in „Bittsteller“ (supplicants) und „Bürger“ (citizens). Erstere hätten sich in ihren Texten wie Untertanen gebärdet, ihre Petitionen und Beschwerden an Autoritätspersonen adressiert, die als wohlwollende, väterliche Patrone imaginiert worden seien. Sich selbst habe man als das Opfer widriger Umstände dargestellt. Auch dann, wenn die „Bittsteller“ um Gerechtigkeit oder Milde ersuchten, seien sie nie als Inhaber eines Rechtsanspruches auf ein Entgegenkommen aufgetreten. Anders der zweite Typus: Er habe vorgegeben, in den Briefen an Zeitungsredaktionen oder politische Instanzen seiner „Bürgerpflicht“ nachzukommen, indem er Politikinhalte bemängelte, auf Korruption hinwies oder vermeintliche Übeltäter denunzierte. Mit dieser Kritik habe sich der „Bürger“ mitunter sogar Risiken für sein persönliches Wohlergehen ausgesetzt. Eigene Interessen habe er verleugnet, da er im öffentlichen Interesse zu handeln gemeint bzw. behauptet habe, und sich dabei oft explizit auf sein Recht berufen, angehört zu werden.25 Für die mit Stalins Ableben einhergehende Zäsur spricht nun, dass sich die Briefe von Autoren mit qualifikatorischen Reziprozitätsvorstellungen keinem der beiden Muster zuordnen lassen: Ihr offensichtliches Selbstbewusstsein und forderndes Auftreten befinden sich in einem Gegensatz zur Unterwürfigkeit des „Bittstellers“; der Umstand, dass ihre Schreiben oft in dem Streben nach einer Verbesserung der eigenen materiellen Lage wurzeln, steht einer Charakterisierung als „Bürger“ im Fitzpatrickschen Sinne im Wege. Mit dem „Bürger“ verbindet sie allerdings die Überzeugung, das jeweilige Anliegen auf der Grundlage eines speziellen Rechtes äußern zu können, eines Anspruches, der in diesem Fall weniger aus den verfassungsmäßig zugesicherten Rechten als aus den individuell erbrachten Vorleistungen resultiert.26 Der hybride Charakter der Position des Einzelnen im Verhältnis zum Regime zeigt sich freilich auch dergestalt, dass die paternalistische und die qualifikatorische Dimension der Reziprozität – trotz ihrer Gegensätzlichkeit – nicht selten in ein und derselben Äußerung vorhanden waren. So konnte Bulganin etwa in der Rede, in der er das Staatsrentengesetz als Ergebnis der „unermüdlichen Sorge“ von Partei und Regierung beschrieb, gleichzeitig davon sprechen, dass die Reform 25 26
Vgl. Fitzpatrick, Supplicants, S. 103104. In diesem Sinne spricht Varga-Harris, Forging, S. 111, von einem „neuen Modus der Verhandlung“, für den kennzeichnend sei, dass die Verfasser von Petitionen „sowohl um Gerechtigkeit ersuchten als auch Rechte anführten“.
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auf eine Verpflichtung zurückzuführen sei, die sich aus der langjährigen Arbeit der Menschen im Dienste des sozialistischen Aufbaus ergebe.27 Ebenso vermochte ein Bürger in einem Schreiben an einen Parteifunktionär zuerst an dessen väterliches Wohlwollen zu appellieren, um daraufhin auf jene Aspekte der eigenen Biographie zu verweisen, die ein Entgegenkommen vermeintlich zu einer moralischen Notwendigkeit machte. Um den Adressaten zu überzeugen, setzte ein solcher Briefverfasser offensichtlich nicht selten alle Argumentationsmittel ein, die ihm zur Verfügung standen. Ob es sich bei diesem Mischcharakter tatsächlich um ein Ergebnis der Entstalinisierung handelte, müsste eingehend geprüft werden. Zweifel scheinen diesbezüglich angebracht, identifiziert Margareta Mommsen doch eine „eigentümliche Mischung aus kritischer Teilhabe und der Haltung eines Mündels“ bereits in Leserbriefen aus der Zeit des Spätstalinismus.28 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sowohl paternalistische als auch qualifikatorische Wechselseitigkeitsvorstellungen bereits für Untertanen des Zaren kennzeichnend gewesen waren.29 Die Frage, ob bzw. in welchem Umfang mit Hilfe der Rentenpolitik tatsächlich jene Wirkung erreicht wurde, die von Breslauer, Cook etc. dem „Sozialvertrag“ zugeschrieben wird, lässt sich an dieser Stelle nicht abschließend beurteilen. Von einem systemstabilisierenden Effekt ist dann auszugehen, wenn die Reziprozitätsnormen von der Bevölkerung verinnerlicht und die Erwartungen, die sie hinsichtlich der Reaktion auf ihre Vorleistungen hegte, befriedigt wurden.30 Inwieweit die Elemente der paternalistischen Reziprozitätsdimension für die Bürger 27 28
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Bulganin, Der Entwurf, S. 3 u. 9. Mommsen, Hilf mir, S. 216, erklärt das Nebeneinander damit, dass „hier unterschiedliche politische Kulturen zusammenwirkten. Während im Umgang mit der Obrigkeit Traditionen der politischen Massenkultur des Zarismus fortzuleben schienen, offenbarten sich in dem ,besonderen Verhältnis ދzwischen Sowjetbürger und politischer Autorität auch neue Wertvorstellungen, die das kommunistische Herrschaftssystem dem Bürger zur Selbstbehauptung gegenüber einer korrupten und bürokratischen Verwaltung an die Hand gab“. Die Kontinuitätslinien lassen sich bis zum Moskauer Aufstand des Jahres 1648 zurückverfolgen. Vor dem Hintergrund des für diese Zeit charakteristischen Herrscherbildes vom väterlichen Zaren, der seinen Untertanen, den „hilflosen Kindern“, Schutz gewährt, mag es nicht überraschen, dass die Petitionen der Aufrührer Elemente paternalistischer Reziprozität aufwiesen. So erinnerten die Aufständischen den Zaren an den von ihm geleisteten Schwur, das Volk zu beschützen, und wiesen auf die negativen Konsequenzen (Verlust der Unterstützung in der Bevölkerung) für den Fall hin, dass er es nicht vor dem schädlichen Einfluss seiner Berater bewahre. Vgl. Kivelson, The Devil Stole, S. 743745. Verantwortlich für die Vehemenz des gewaltsamen Protestes war jedoch ebenfalls die Enttäuschung qualifikatorischer Erwartungen: Die Träger des Aufstandes, die Moskauer Dienstleute und Steuerzahler, sahen sich in ihren Anrechten geschmälert, die sie aus dem Dienst am Herrscher ableiteten. Vgl. Roller-Aßfalg, Der Moskauer Aufstand, S. 8384. Derartige Parallelen legen nahe, dass qualifikatorische Wechselseitigkeitsvorstellungen sich zwangsläufig immer dann ergeben, wenn individuelle Tätigkeiten zur Unterstützung einer bestimmten Person oder Sache aufgewertet werden. Ob es sich dabei um die regelmäßige Zahlung einer Abgabe, den militärischen Einsatz oder eine als höheren Zielen dienend kommunizierte einfache Arbeitstätigkeit handelt, scheint von untergeordneter Bedeutung. Vgl. Bowles Gintis, Reciprocity, S. 3738.
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Geltung besaßen oder ihre Bestätigung lediglich dem Wissen um die politischen Etiketten geschuldet war, lässt sich auf Grundlage der ausgewerteten Quellen nur schwer beantworten. Sicher ist, dass eine nachhaltige Steigerung der Arbeitsproduktivität nicht erreicht werden konnte: Die sowjetische Volkswirtschaft litt auch in den 1970er Jahren in unveränderter Weise unter diesem Problem.31 Auf der anderen Seite erscheint es hingegen wahrscheinlich, dass die für weite Teile der Bevölkerung realen Erträge der Rentenpolitik als „Errungenschaften des Sozialismus“ gewertet wurden, die als Grundlage für die Zustimmung zum Status quo und die Erwartung zukünftiger Wohltaten diente.32 Skepsis ist allerdings bei der Einschätzung der langfristigen Effekte der gesetzgeberischen Maßnahmen angebracht. Je weiter die jeweilige Reform zurücklag, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass die mit ihr verknüpften Verbesserungen als eine Selbstverständlichkeit wahrgenommen wurden und ihre Mängel in der öffentlichen Wahrnehmung in den Vordergrund traten.33 Es ist folglich davon auszugehen, dass die über die Alterssicherung hervorgerufenen Legitimationswirkungen der Reformtätigkeit 1956 bzw. 1965 deutlich stärker ausfielen als Anfang der 1970er Jahre. Die Relevanz, die der Befolgung der qualifikatorischen Reziprozitätsnormen für die Stabilität der Verhältnisse zukam, vermittelt sich auch anhand der Ereignisse der postsowjetischen Zeit, als der staatlicherseits betriebene Rückbau der der Rentnerschaft gewährten Vergünstigungen eine destabilisierende Wirkung erzielte. Während des Bestehens der UdSSR äußerten Rentner ihr Missfallen über die staatliche Nichterfüllung ihrer Wechselseitigkeitserwartungen nicht offensiv. Im Kontext sozialer Proteste wie z. B. der gewaltsam unterdrückten Unruhen von Novoþerkassk (Gebiet Rostov)34 wurden nach allem, was bekannt ist, keine Forderungen nach einer grundlegenden Erneuerung des Rentensystems laut. Dies mochte entweder damit zusammenhängen, dass die Sicherheitsbedürfnisse älterer Menschen in einem Maße erfüllt wurden, welches zu derartigen Forderungen keinen Anlass bot, oder auf andere Ursachen (Furcht vor Repression, Fehlen einer einflussreichen kollektiven Organisation etc.) zurückzuführen sein. Auch standen den Rentnern jene bescheidenen Mittel, mit denen die noch erwerbstätige Bevölkerung ihren Unmut ausdrücken konnte (Absentismus, geringer Arbeitseinsatz, 31 32 33
34
Vgl. Deacon, Social Policy, Social Justice, S. 42; Simon, Zeitgeschichtliche SowjetunionForschung, S. 33; Stiller, Sozialpolitik, S. 204205. Connor, Soviet Society, S. 59. Bezogen auf die Bismarcksche Sozialgesetzgebung beschreibt Saul, Industrialisierung, S. 196, einen solchen Effekt. In ähnlicher Weise geht Lepsius, Die Institutionenordnung, S. 24, von einer „abnehmende[n] Bindekraft“ der DDR-Sozialpolitik aus. Vgl. auch Schmidt, Sozialpolitik der DDR, S. 115. Zwischen dem 1. und dem 3. Juni 1962 kam es in der Stadt Novoþerkassk zu Unruhen, die von den Arbeitern des dortigen Budennyj-Werks für Elektrolokomotiven getragen wurden. Auslöser war eine allgemeine Unzufriedenheit, die u. a. auf vorangegangene Lohnkürzungen, schlechte Arbeitsbedingungen, einen Mangel an Lebensmittelprodukten in den örtlichen Läden sowie die am 1. Juni beschlossenen Preiserhöhungen auf Grundnahrungsmittel zurückzuführen waren. Bei der Niederwerfung der Proteste wurden 23 Teilnehmer getötet. Sieben weitere verurteilte man später zum Tode durch Erschießen. Vgl. Kozlov, Mass Uprisings, S. 224287; Baron, Bloody Sunday.
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gegebenenfalls sogar Streik), schlechterdings nicht mehr zur Verfügung.35 Dies impliziert jedoch nicht, dass die Alten und Invaliden bei einer Enttäuschung ihrer Reziprozitätserwartungen zwangsläufig inaktiv geblieben wären. Dass sie sehr wohl über das Potential zu einem sozialen Protest erheblichen Ausmaßes verfügten, wenn sie sich in ihren Interessen geschädigt sahen, zeigte sich – freilich unter deutlich veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – nach dem Kollaps der UdSSR. Anfang 2005 beschloss die Regierung der Russischen Föderation, eine Reihe von Vergünstigungen (z. B. entgeltlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, kostenlose Versorgung mit Medikamenten, Anspruch auf Heilstättenkur), die den Ruheständlern seit der späten Sowjetzeit gewährt worden waren, durch die Zahlung eines niedrigen monetären Pauschalbetrags zu ersetzen. In Reaktion darauf kam es landesweit zu Demonstrationen, an denen sich Zehntausende von Rentnern beteiligten, die die Rückgängigmachung der betreffenden Bestimmungen forderten.36 Die Unzufriedenheit, die diese Menschen auf die Straßen trieb, erklärt sich nicht allein aus dem Umstand, dass der Staat seiner paternalistischen Rolle nicht mehr gerecht wurde und ihre Versorgung mit obrigkeitlichen Geschenken unterließ. Zurückzuführen war sie wohl vor allem auf das Gefühl, dass den Rentnern eine Gegengabe verwehrt blieb, auf die sie aufgrund ihrer persönlichen Lebensleistungen einen Anspruch verspürten. Verletzt worden waren eben jene qualifikatorischen Reziprozitätserwartungen, die bereits für die betagten Bürger der UdSSR kennzeichnend gewesen waren. Für die hohe Bedeutung, die den im Kontext der Alterssicherung wirksamen qualifikatorischen Überzeugungen der Sowjetbürger zugeschrieben wurde, spricht zudem bereits das Zögern, mit dem man sich in den 1990er Jahren an die Reform des unter dem sowjetischen Erbe leidenden Altersrentensystems machte. Bis in die Perestrojka-Zeit hatten der Rentneranteil an der Gesamtbevölkerung und die mit seiner Versorgung verbundenen Kosten in einer Weise zugenommen,37 die nahe legte, dass das System in seiner bisherigen Form ökonomisch nicht aufrechtzuerhalten war.38 Das am 15. Mai 1990 verabschiedete Gesetz „Über die Rentenversorgung der Bürger in der UdSSR“39 sorgte diesbezüglich jedoch noch nicht für eine Lösung: Einerseits sah es sogar noch eine Erhöhung der Rentenausgaben 35 36
37
38 39
Vgl. Connor, Soviet Society, S. 57 u. 78. Zu Arbeitsniederlegungen in der Sowjetunion der 1950er und 1960er Jahre vgl. ders., The Accidental Proletariat, S. 213215. Begleitet wurden diese vehementen Unmutsbekundungen, die in den Jahren nach dem Zerfall der UdSSR ihres Gleichen suchten, von einem drastischen, wenn auch zeitlich begrenzten Verfall der Popularität Präsident Putins. In der Konsequenz zeigten sich die Moskauer Stadtverwaltung und einige weitere regionale Administrationen bereit, die Vergünstigungen aus eigenen Mitteln weiterzufinanzieren. Vgl. Wieder Rentnerproteste in Rußland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.01.05, S. 4; Myers, Putin Reforms. Anfang 1989 stellten die Rentner 20,8 % der Bevölkerung, während dieser Anteil 1959 bei 9,5 % und 1970 bei 16,6 % gelegen hatte. Die Höhe der Rentenausgaben entsprach 1989 12,1 % des Staatshaushalts (1970: 10,5 %). Vgl. NCh SSSR v 1989 g., S. 17, 84, 612 u. 615; NCh SSSR v 1972 g., S. 724 u. 726; Vestnik statistiki (1971), 9, S. 92. Vgl. Chandler, Shocking Mother Russia, S. 45; Cook, Institutional and Political Legacies, S. 108. Vedomosti SND i VS SSSR, 1990, Nr. 23, Pos. 416.
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vor, andererseits erfuhr es infolge der Ende 1991 erfolgenden Auflösung der Union keine Umsetzung mehr. Auf seiner Grundlage hatte man in der RSFSR jedoch bereits Ende 1990 ein eigenes Gesetz40 verabschiedet, das mit der Selbständigkeit dieser Republik zur Grundlage ihrer Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung wurde. Die Kontinuität zur sowjetischen Rentenpolitik war somit – trotz zwischenzeitlicher inhaltlicher und administrativer Korrekturen –41 gewährleistet. Die gravierenden wirtschaftlichen Probleme, die den Transformationsprozess in der Russischen Föderation begleiteten, führten jedoch dazu, dass die den Bürgern vertraute Qualität der Versorgung nicht aufrechterhalten werden konnte. Die Kapitaldeckung des Rentensystems litt unter der Instabilität der ökonomischen Gesamtsituation, in deren Folge betriebliche Versicherungsbeiträge nicht in dem vorgeschriebenen Umfang überwiesen wurden, die Arbeitslosigkeit generell zur Verringerung der Beitragszahler führte und die Schwäche des Bankensystems die Auszahlung der monatlichen Leistungen erschwerte. Belastend kam hinzu, dass die Inflation nicht nur den Effekt der neu eingeführten Leistungsindexierung aufhob, sondern ebenfalls den Wert der Renten verringerte und zu ihrer abermaligen Nivellierung auf einem kargen Niveau beitrug.42 Während andere „Errungenschaften“ des Sozialismus (z. B. Garantie eines Arbeitsplatzes, Übernahme von Bildungs- und Mietkosten), die zur Qualität des sowjetischen Lebensstandards beigetragen hatten, abgebaut wurden, veränderte man das staatliche Rentensystem bis in die 1990er Jahre hinein kaum. Weder wurde seine Finanzierungsgrundlage grundlegend reformiert43 noch das Eintrittsalter 40 41
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Gesetz der RSFSR vom 20. November 1990 Nr. 340-1 „Über die staatlichen Renten in der RSFSR“ (Vedomosti SND i VS SSSR, 1990, Nr. 27, Pos. 351). So war die Differenzierung zwischen Kolchos- und Staatsrenten aufgehoben und das Niveau der Mindestaltersrente an jenes der Mindestlöhne und -gehälter (70 R) angeglichen worden. Vgl. das Gesetz der UdSSR vom 1. August 1989 Nr. 313-1 „Über dringende Maßnahmen zur Verbesserung der Rentenversorgung und der sozialen Betreuung der Bevölkerung“ (Vedomosti SND i VS SSSR, 1989, Nr. 9, Pos. 209). Zudem hatte man den Gewerkschaften die Zuständigkeit für die der Leistungsauszahlung zugrundeliegenden Finanzmittel durch die Einrichtung des Rentenfonds der Russischen Föderation entzogen. Vgl. die Verordnung des Obersten Sowjets der RSFSR vom 22. Dezember 1990 Nr. 442-1 „Über die Organisation des Rentenfonds der RSFSR“ (Vedomosti SND i VS RSFSR, 1990, Nr. 30, Pos. 415). Mit der am 27. November 1991 bestätigten „Ordnung über der Rentenfonds der Russischen Föderation“ (Vedomosti SND i VS RSFSR, 1990, 30. Januar 1992, Nr. 5, Pos. 180) wurde erstmals auch die arbeitende Bevölkerung selbst direkt an der Finanzierung der Ruhestandsversorgung beteiligt. Und schließlich sah das Gesetz der RSFSR vom 22. Dezember 1990 ebenfalls die Dynamisierung der Renten vor, die nun in Entsprechung zur Entwicklung der Lebenshaltungskosten bzw. der Löhne und Gehälter angehoben werden sollten. Vgl. auch Degtjarev, Pensionnye reformy, S. 212213. Vgl. Buckley, Obligations, S. 329331; Degtjarev, Pensionnye reformy, S. 262; Feiguine, Rentenreform, S. 2; Tchernina, Die russischen Rentner, S. 1013. In den 1990er Jahren belief sich die durchschnittliche Rente auf nur 30–40 % des mittleren Erwerbseinkommens. Gegen Ende des Jahrzehnts stellten die Empfänger von Mindestleistungen zudem ein Drittel aller Rentner. Vgl. Buckley, Obligations, S. 329. Erst Anfang des neuen Jahrtausends hat man eine grundlegende Reform des allgemeinen Rentensystems durchgeführt, das sich nun stärker am Versicherungsprinzip orientiert. Die Bil-
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für Ruheständler angehoben. Diese Tatsache lässt sich zum einen als Argument für die Relevanz der Pfadabhängigkeit, der „Schwerkraft früherer Sozialpolitik“,44 verwenden, also für die fortdauernde Prägewirkung von rentenpolitischen Entscheidungen, die teilweise – wie das Renteneintrittsalter für Standardrentner – bereits Ende der 1920er Jahre getroffen worden waren. Sie muss aber auch als Beleg für den sakrosankten Status des Rentensystems interpretiert werden. Seine relative Unantastbarkeit kann, wie Cynthia Buckley und Dennis Donahue andeuten, auf die qualifikatorischen Reziprozitätserwartungen eines Bevölkerungsteils zurückgeführt werden, der aufgrund seiner Größe über einen erheblichen Einfluss an der Wahlurne verfügte: „Staatsrenten wurden [in der UdSSR] weitgehend als erarbeitete, verdiente und hochgeschätzte Transfers wahrgenommen. [...] Als soziale Garantie werden Renten – zumindest in der Russischen Föderation – anders gesehen als Wohlfahrtszahlungen oder Einkommenstransfers. Sie werden als verzögerte Entlohnung für geleistete Dienste verstanden. Als Teil des sozialen Sicherungsnetzes werden sie als wichtiger eingestuft, da sie eine erarbeitete Transferleistung darstellen. Die sowjetische Einstellung zur Rentengewährung [...] bildet eine besonders schwierige Barriere für die Rentenreform. Individuen im oder kurz vor dem Rentenalter besitzen einen historisch eingebetteten Anspruch auf staatliche Renten.“45
Wendet man die Aufmerksamkeit nun wieder der Gegenwart des Untersuchungszeitraums zu, so lässt sich die Bedeutung sowohl paternalistischer als auch qualifikatorischer Reziprozitätsvorstellungen ebenfalls im Wirken der als unmittelbare Reaktion auf die Verabschiedung des Staatsrentengesetzes entstandenen Rentnerund Arbeitsveteranenräte erkennen. Bei diesen handelte es sich um selbsttätige Organisationen, die flächendeckend auf territorialer oder betrieblicher Ebene gegründet wurden und deren vornehmliche Aufgabe aus offizieller Sicht in der Heranziehung der Rentner für ehrenamtliche Tätigkeiten bestand. Sie sollten die Arbeit der örtlichen Partei-, Sowjet- und Gewerkschaftsorgane unterstützen. Dabei war ihr Beitrag in einer Vielzahl von Bereichen gefragt: Die in den jeweiligen Ratssektionen aktiven Rentner brachten ihre Erfahrung in der Produktion ihrer früheren Betriebe ein, kontrollierten Handelsbetriebe und Kantinen, versuchten sich an der Bildung der Jugend, widmeten sich der kulturellen Massenarbeit und der Verschönerung der Nachbarschaft oder unterstützten die Arbeit der Sozial-
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dung der allgemeinen Altersrente wurde im Föderalgesetz vom 17. Dezember 2001 Nr. 173FZ „Über die Arbeitsrenten in der Russischen Föderation“ (SZ RF, 24.12.2001, Nr. 52 [T. 1], Pos. 4920) geregelt. Sie setzt sich nun aus drei Säulen zusammen: einer Grundleistung, die der Mindestrente plus Zuschlägen entspricht; einer Versichertenrente, die dazu führen soll, dass die monatliche Leistung die Höhe der zuvor eingezahlten Rentenversicherungsbeiträge berücksichtigt; einer als Zusatzleistung konzipierten und aus privaten und staatlichen Rentenfonds finanzierten Akkumulationsrente. Vgl. Losovskaja, Die Altersvorsorge, S. 2829; Chandler, Shocking Mother Russia, S. 146. Ein solches Drei-Säulen-Modell kennzeichnet ebenso die Lösungsansätze anderer Transformationsstaaten (z. B. Polen und Ungarn). Vgl. Leienbach, Zehn Jahre, S. 55. Zur Rentenpolitik der 1990er Jahre vgl. auch Kuhlmann, Die Entwicklung. Conrad, Wohlfahrtsstaaten, S. 160. Vgl. auch Lessenich, Soziologische Erklärungsansätze, S. 5051. Buckley Donahue, Promises, S. 256. Vgl. auch ebd., S. 267.
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versorgungsorgane. Die im letztgenannten Bereich ausgeführten Tätigkeiten kamen oft gleichzeitig den Mitgliedern der eigenen Altersgruppe zugute: Man half diesen bei der Rentenbeantragung, bei der Beschaffung und Renovierung von Wohnraum, bemühte sich für sie um Sanatoriumsplätze und setzte sich dafür ein, dass gering- oder unversorgten Personen eine materielle Unterstützung zuteilwurde. Die Begründungen, die von Ratsaktivisten für ihren Einsatz angeführt wurden, wiesen Elemente der paternalistischen Reziprozität auf. Der Verweis darauf, bei den Bemühungen um den gesellschaftlichen Fortschritt nicht beiseite stehen zu wollen, sich weiterhin nützlich zeigen zu wollen, entsprach den mobilisatorischen Intentionen der Rentenpolitik: Wenn man es als Pflicht bezeichnete, sich für die Allgemeinheit oder den ehemaligen Betrieb zu engagieren, dann reagierte man in der Weise auf die „staatlichen Wohltaten“, die sich das Regime ebenfalls von der noch arbeitstätigen Bevölkerung erhoffte. Der moralische Imperativ des Dienstes an der sozialistischen Sache erstreckte sich somit auch auf den Ruhestand. In diesem Zusammenhang lässt sich behaupten, dass das „sozialstaatlich abgesichert[e] ,Recht auf Nicht-Arbeit“ދ46, das man alten Menschen in der UdSSR zusprach, durch ein derartiges Pflichtgebot und durch die ab 1961 einsetzende Propagierung der Weiterarbeit als ein tiefempfundenes Bedürfnis der sowjetischen Rentner de facto relativiert wurde. Sollte der ehrenamtliche Einsatz der Rentner in erster Linie von gesamtgesellschaftlichem Nutzen sein, so lassen sich die Räte doch nicht auf ihre Funktion als dienstbare Mobilisatoren des ehrenamtlichen Engagements reduzieren. Eine zusätzliche Relevanz besitzen sie in der Frühphase ihres Wirkens gleich in mehrfacher Hinsicht. So deuten insbesondere die Aktivitäten der in den Sektionen für Wohn- und Lebensbedingungen aktiven Rentner auf die Lücken im sowjetischen Netz der sozialen Sicherung: Ihre Tätigkeitsberichte lenken die Aufmerksamkeit auf die prekäre Lebenssituation jener älteren und invaliden Bürger, deren Auskommen auch nach 1956 nicht gesichert war und die deshalb auf eine ergänzende, von den Räten vermittelte Unterstützung angewiesen waren. Das über die ZVSStichproben vermittelte Wissen um die Existenz von gering- oder unversorgten älteren Bevölkerungsteilen findet hier auf der Ebene der Alltagsversorgung eine Entsprechung. Sie zeigt, dass sich die offizielle Sozialpropaganda von der Universalität und Allseitigkeit der Absicherung nicht mit der Erfahrung von Bürgern decken konnte, in deren Nachbarschaft die Klientel der Rentnerräte lebte: bedürftige ältere und invalide Menschen, die auf monatliche Beihilfen und auf Hilfe bei der Führung ihres Haushalts, bei der Beschaffung von Heizmaterial sowie der Renovierung ihrer Wohnungen angewiesen waren. In einem gewissen Sinne fungierten die Räte als Ausfallbürgen für die Defizite des staatlichen Systems, dem sie dadurch einen Dienst erwiesen, wofür sie aber, wie sich zeigen sollte, keine angemessene Wertschätzung erfahren sollten. Da sie aber zum einen über keine eigenen Ressourcen verfügten und zum anderen von ihren Dachorganisationen nur mit bescheidenen Mitteln ausgestattet wurden, reichte ihr Beitrag freilich ebenso 46
Götting Lessenich, Sphären, S. 278.
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wenig zur Überwindung der bestehenden Notlagen aus, wie diese mit Hilfe der sowjetischen Alten- und Invalidenheime gelingen konnte. Des Weiteren ist die überaus dynamische Ausbreitung der Rentnerräte nicht von der Entstehung der Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner zu trennen, als deren organisatorischer Ausdruck sie betrachtet werden können. Hierfür spricht, dass diese Formationen als Kontext ehrenamtlicher Aktivität vor der Reform der staatlichen Renten gänzlich unbekannt waren und dass sich ihre Mitglieder überwiegend aus der Masse derjenigen Bürger rekrutierten, denen die Leistungen 1956 erstmals zugebilligt oder deutlich erhöht worden waren. Zudem speiste sich das besondere Selbstbewusststein, das die Ratsmitglieder und -aktivisten nicht selten im Umgang mit den örtlichen Autoritäten an den Tag legten, aus eben jenen Vorstellungen von qualifikatorischer Reziprozität, die auch die Anspruchsgemeinschaft kennzeichneten. Wandte man sich mit der Bitte um Geld- oder Sachleistungen an die lokalen Autoritäten oder setzte man sich bei Regierungsvertretern für die Beseitigung von Nachteilen für ältere Menschen ein, so argumentierte man nicht selten mit den besonderen Verdiensten, die sich diese Menschen erworben hatten. Das Beispiel der Rentnerräte unterstreicht nochmals, dass die neu konstituierte soziale Einheit der Altersrentner keineswegs als ein passiver Bevölkerungsteil aufzufassen ist. Infolge einer Bewegungsfreiheit, die sich aus der politischen Atmosphäre der Entstalinisierung sowie aus der ihnen nicht selten entgegengebrachten Gleichgültigkeit ergab, verfügte ein Teil der Räte über einen beträchtlichen Betätigungsspielraum, der es ihnen gestattete, sogar als eigenständige Akteure aufzutreten. Insbesondere die nach dem Territorialprinzip organisierten Stadt- und Bezirksrentnerräte konzentrierten sich in einer Weise „auf den engen Kreis der Rentnerangelegenheiten“, dass es erforderlich scheint, sie als lokale Interessenorganisationen wahrzunehmen. Von diesen gingen so starke Störimpulse aus, dass ihnen mitunter sogar eine Haltung des Widerstands gegen Partei- und Sowjetorganisationen unterstellt wurde. Es würde allerdings zu weit führen, die sich zu einem beträchtlichen Teil aus systemkonformen Parteimitgliedern zusammensetzenden Räte als oppositionelle Strukturen zu interpretieren. Zutreffender erscheint es, in dem Abweichen mancher Räte von den von offizieller Seite gesetzten Handlungsschwerpunkten und ihrer bisweilen gering ausgeprägten Botmäßigkeit gegenüber den lokalen Machtinstanzen ein markantes Beispiel für einen von sowjetischen Bürgern manifestierten Eigen-Sinn zu erblicken. Ihn hat Ulf Brunnbauer – mit Bezug auf sozialistische Systeme im Allgemeinen – beschrieben: „Mit dem in der sozialhistorischen DDR-Forschung populären Konzept des ,Eigen-Sinnsދ sollte [...] ein Verhaltensmuster [bezeichnet werden], das sich zwar einerseits den Intentionen der Partei partiell entziehen konnte, aber andererseits in der Regel auch auf die Herrschaftsideologie und -praxis Bezug nahm. ,Eigensinniges ދVerhalten konnte zum Beispiel darin bestehen, sich die Politik der Partei eigenwillig anzueignen und offizielle Möglichkeiten für sich zu vereinnahmen, ohne zwangsläufig damit auch die Intentionen, welche die Partei mit der Bereitstellung dieser Möglichkeiten verbunden hatte, zu erfüllen. Allerdings entstanden die
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,Interessen ދder sozialen Akteure, ihre Bedürfnisse und Realitätswahrnehmungen, ihr Habitus und ihre Identität nicht unabhängig von der Politik und Ideologie des Regimes.“47
Die Nutzung der Räte zur Wahrung von Rentnerinteressen ist als eine solche Form der „Vereinnahmung der offiziellen Möglichkeiten“ zu interpretieren. Und auch die Beobachtung, dass sich „eigen-sinnige“ Akteure nicht außerhalb des ideologisch bzw. vom Regime selbst gesetzten Rahmens bewegten, findet eine Bestätigung: Aktivisten, die ihre Forderungen nach Wohnraumzuweisungen oder Berechtigungsscheinen für einen Sanatoriumsaufenthalt mit dem Verweis auf das Dienstalter ihrer Klientel unterstützten, folgten damit nur einer offiziellen Rhetorik, die aus eben dieser Vorleistung „eine heilige Pflicht des Staates“ zur Sorge um das materielle Versorgungsniveau abgeleitet hatte. Einer solchen Präzisierung ungeachtet stieß die von manchen Rentnerräten gezeigte Unabhängigkeit schließlich auf einen erheblichen Unwillen des Regimes. Kritik, die zuvor nur an einzelnen selbsttätigen Formationen geübt worden war, wuchs sich ab 1961/62 zu einer regelrechten Kampagne aus, in der das gesamte Organisationsmodell der Rentnerräte als sich „überlebt“ habend diskreditiert wurde. Auf lokaler Ebene entzog man ihnen die Unterstützung der Partei-, Gewerkschafts- und Sowjetorgane, brachte sie auf Linie oder löste sie gar vollständig auf. Die Ursachen für einen derart rapiden Kursverfall sind vielfältiger Natur. So ist es zum einen sicherlich kein Zufall, dass er sich in zeitlicher Parallelität zur Proklamation der Doktrin vom „Staat des gesamten Volkes“ ereignete, die eine umfangreiche Nutzung des Freiwilligenengagements sowjetischer Bürger vorsah. Die Rentnerräte entsprachen in ihrer bisherigen Form nicht den Vorstellungen der politischen Führung, die eine engere Anleitung der ehrenamtlichen Tätigkeiten durch staatliche Instanzen intendierte, als sie hier gewährleistet war. Die Inhalte der an den Räten geäußerten Kritik legen zudem nahe, dass man vielerorts nicht mit den mobilisatorischen Ergebnissen ihrer Anstrengungen zufrieden war. So wurde häufig beanstandet, dass zu wenige Rentner innerhalb ihres Wirkungsbereiches für die „gesellschaftliche Arbeit“ herangezogen werden konnten. Vor allem aber sind die Gründe für das niedrige Ansehen dieser Rentnerorganisationen wohl in ihrem Störpotential für die unteren und oberen Ebenen der Macht zu suchen. Die lokalen Autoritäten waren direkt mit dem bisweilen überbordenden Engagement der Räte konfrontiert, das dann, wenn es z. B. um die Kontrolle öffentlicher Einrichtungen oder Ratschläge zur Produktionsoptimierung ging, einfach nur als lästig empfunden werden mochte. In Fällen aber, in denen diese Einrichtungen auf Missstände in der Versorgung der älteren und invaliden Menschen hinwiesen und deren Behebung einforderten, kratzten sie am offiziellen Selbstbild des von „väterlicher Fürsorge“ geleiteten Regimes – und stellten dadurch seine Legitimationsgrundlage und moralische Integrität in Frage. Hohe Bedeutung dafür, dass sich das Regime schließlich zu einer Kampagne gegen die Rentner- und Arbeitsveteranenräte entschloss, muss aber dem Auftreten 47
Brunnbauer, Die sozialistische Lebensweise, S. 3940. Vgl. auch Lindenberger, Die Diktatur, S. 24. Ursprünglich geprägt wurde das Eigen-Sinn-Konzept freilich durch Alf Lüdtke. Vgl. hierzu Lüdtke, Eigen-Sinn: Fabrikalltag; ders., Eigensinn.
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eines relevanten Teiles derselben als lokal operierende Interessenvertretungen zugeschrieben werden. Das Regime negierte prinzipiell das Vorhandensein von Partikularinteressen, von Unterschieden in der Bedürfnisstruktur zwischen arbeitenden und im Ruhestand befindlichen Bürgern, wie sie mit der Existenz der sich vermeintlich als „Berufsorganisationen“ gerierenden Formationen verbunden wurden. In diesem Zusammenhang wird insbesondere das Bestreben mancher Räte, eine eigene hierarchisch-zentralisierte Organisationsstruktur zu erhalten, mit Unwillen betrachtet worden sein, drohte hier doch die Entstehung einer neuen unionsweiten Interessenorganisation, die mit dem Alleinvertretungsanspruch der KPdSU nicht zu vereinbaren war.48 „Autonome Öffentlichkeiten, interessenorientierte Assoziationen und Diskurse ,von unten ދüber gesellschaftliche Fragen wurden“, wie Martina Ritter treffend formuliert, „immer als gefährlich begriffen und mussten entweder unterdrückt oder reguliert werden.“49 In Anbetracht der Unbequemlichkeiten, die bereits von einzelnen Räten ausgehen konnten, mochte die Vorstellung einer solchen Massenorganisation, die potentiell auf die Defizite im Bereich der Renten- und Heimversorgung aufmerksam machen konnte, kaum wünschenswert erscheinen. Das Schicksal der Rentnerräte verdeutlicht zudem, wie das Regime verfuhr, wenn es sich mit dem Aufkeimen gesellschaftlicher Strukturen konfrontiert sah. Es kann als Beleg dafür dienen, dass sich „Gesellschaft“ unter sowjetischen Bedingungen noch deutlicher als eine „staatliche Veranstaltung“ bzw. „staatsbedingt“ erwies, als dies für den Zarismus behauptet werden kann.50 Die auf Rentnerversammlungen gewählten Räte waren repräsentative Organisationen ihrer Klientel, deren Gründung und überaus dynamische Ausbreitung – trotz Unterstützung und Duldung durch Partei und Sowjetorgane – auch auf die Initiative der älteren Bürger selbst zurückzuführen waren. Dergestalt handelte es sich bei diesen selbsttätigen Formationen um „gesellschaftsfundierte Institutionen“51 – oder zumindest um eine Mischung aus ebensolchen und staatlichen Institutionen. Ihr soziales Engagement im Dienste der Altersgenossen, für das ihnen häufig Mittel von Gewerkschaften, Betriebsadministrationen oder Organen der Sozialversorgung zur freien Verfügung gestellt wurden, lässt sich – auch ungeachtet der Tatsache, dass sie nicht als juristische Personen agierten – als eine Form der Selbstverwaltung begreifen. Und schließlich waren besonders selbstbewusste Rentnerräte in manchen Fällen sogar dazu befähigt, gegenüber örtlichen Vertretern der Staatsmacht eine Posi48 49 50
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Vgl. Garcelon, The Shadow, S. 310. Ritter, Neue Männer, S. 247. Zu der auf das 18. Jahrhundert bezogenen Vorstellung der „Gesellschaft als staatliche Veranstaltung“ vgl. Geyer, Gesellschaft. Vgl. ähnlich auch Torke, Die staatsbedingte Gesellschaft. Darauf, dass sich jedoch zumindest in der Spätphase des Zarenreichs „Ansätze eines politischen und sozialen Pluralismus in Form von politischen Parteien, wirtschaftlichen Verbänden und sozialen Organisationen herausgebildet“ hatten, verweist Timmermann, Revolution, S. 10, der die sowjetische Situation ebenfalls als Steigerung im Verhältnis zum zaristischen Regime begreift. Zur Entstehung von „Gesellschaft“ auf lokaler Ebene vgl. auch Gesellschaft als lokale Veranstaltung; Hildermeier, Rußland, S. 124125. Hildebrandt, Politische Kultur, S. 261.
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tion der Kritik zu beziehen. Hier entwickelte sich also tatsächlich – während eines kurzen Zeitraums und als direkte Folge der Rentenpolitik – ein „Dualismus von Staat und ,Gesellschaft“ދ.52 Die Kampagne gegen die Räte ist demzufolge ebenfalls über den Wunsch des Regimes zu erklären, diese auf lokaler Ebene – oft sicherlich nur potentiell – existierenden Gegengewichte zum eigenen Machtanspruch auszuhebeln und die absolute „Staatsbedingtheit“ allen politischen und gesellschaftlichen Handelns abermals durchzusetzen. Die ehrenamtliche Aktivität der sowjetischen Rentner, auf die auch in Zukunft nicht verzichtet werden konnte, durfte sich von nun an nur noch unter der direkten Anleitung der Partei-, Gewerkschafts- und Sowjetorgane vollziehen.
8.2. DIE WOHLFAHRTSSTAATLICHKEIT DER UDSSR Der von Stalins Nachfolgern durchgeführte Ausbau sowohl der Altersrentenversorgung als auch anderer Bereiche des sozialen Sicherungssystems ist keineswegs als eine im internationalen Vergleich singuläre Erscheinung zu betrachten. Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts war die Innenpolitik vieler europäischer sowie einiger außereuropäischer Staaten von einem erhöhten sozialpolitischen Engagement gekennzeichnet. Zu diesem Zeitpunkt war die Soziale Frage, also das die Industrialisierung, die Urbanisierung und das demographische Wachstum begleitende Problem der Verarmung weiter Teile der europäischen Bevölkerungen, vielerorts auf die politische Tagesordnung gerückt. Als Vorbild fungierte hier das Beispiel des Deutschen Reiches, das in den 1880er Jahren unter Bismarck Pflichtversicherungen gegen Krankheitsfälle, Arbeitsunfälle, Invalidität und den Verlust der Arbeitskraft infolge fortgeschrittenen Alters einführte. An ihnen orientierten sich bis 1914 viele andere Staaten, darunter, wie gesehen, auch das Zarenreich.53 Ein enormer Entwicklungsschub war allerdings speziell nach dem Zweiten Weltkrieg zu verzeichnen, als die meisten entwickelten westlichen Staaten „relativ umfassende Programme für alle der vier Hauptrisiken“ Unfall, Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit einführten.54 Zu den offensichtlichsten Veränderungen im Bereich der sozialen Sicherung kam es bei der Ruhestandsversorgung, wo bestehende Systeme auf immer größere 52 53 54
Geyer, Gesellschaft, S. 49. Zur Geschichte der staatlichen Sicherungssysteme vor dem Zweiten Weltkrieg vgl. Flora u. a., Zur Entwicklung, S. 727732; Kuhnle Sander, The Emergence, S. 6268. Flora u. a., Zur Entwicklung, S. 742. Die Autoren sehen diese Entwicklung bereits 1950 abgeschlossen. Ihr Fazit ziehen sie aus der Untersuchung von zwölf westeuropäischen Staaten. Nullmeier Kaufmann, Post-War Welfare State, S. 84, führen den Zäsurcharakter des Jahres 1945 weniger auf den Ausbau der Sicherungssysteme zurück. Schließlich könne „der gesamte Zeitraum zwischen 1918/20 und 1973/75 [...] als eine Phase des Wachstums und der Expansion“ begriffen werden. Neuartig sei vielmehr das erst während des Zweiten Weltkrieges entwickelte Verständnis der „Sozialpolitik und des Wohlfahrtsstaates auf der Grundlage des Gedankens der sozialen Rechte als Schlüsselelemente der universellen Menschenrechte, die den freiheitlichen und demokratischen Rechten ebenbürtig“ waren.
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Teile der Bevölkerungen ausgedehnt und auch in ihrer Qualität grundlegend ausgebaut wurden. Josef Ehmer spricht in diesem Zusammenhang von einem „radikale[n] Bruch mit den bisherigen Traditionen, der eine wesentliche Anhebung des Rentenniveaus und den Übergang zu einem ,versorgten Ruhestand ދeinleitete“. Während die Arbeiterrenten zuvor lediglich als eng bemessene Zugabe zum Lebensunterhalt fungiert hätten, seien sie nun als „echter Lohnersatz“ wahrgenommen worden. Die staatlichen Altersrentensysteme vieler europäischer Länder hätten nun tatsächlich der Einkommenssicherung ihrer Bürger zu dienen begonnen.55 Als Katalysator der Nachkriegsentwicklung fungierte der 1942 dem britischen Parlament von William Beveridge vorgelegte Plan zur Absicherung der britischen Bevölkerung gegen Daseinsrisiken. Dieses „Grunddokument des modernen Wohlfahrtsstaates“56 beinhaltete u. a. die Einführung einer einheitlichen Alterssicherung für alle Bürger.57 Beabsichtigt war die Gewährleistung eines Schutzes, der einen menschenwürdigen Lebensunterhalt auf bescheidenem Niveau ermöglichte. Die Zielsetzungen des Beveridge-Plans wurden nicht nur in Großbritannien umgesetzt, wo man 1946 den National Insurance Act verabschiedete. Er übte darüber hinaus einen erheblichen Einfluss auf die Rentenpolitik anderer Länder aus. So führte Schweden im selben Jahr eine allgemeine Basisrente ein, die die vorherigen, an Bedürftigkeitsnachweise gebundenen Regelungen ersetzte. 1947 vollzog man einen ähnlichen Schritt in den Niederlanden. Kanada (1951) und Dänemark (1956) verabschiedeten wenige Jahre später universalistische Sicherungsmodelle. Und auch die Bundesrepublik Deutschland reformierte ihr Rentensystem 1957 grundlegend, indem sie die Ruhestandsleistungen für Arbeiter und Angestellte auf ein existenzsicherndes Niveau anhob und an die Entwicklung der Löhne und Gehälter anpasste.58 Verantwortlich für diesen Ausbau der Sicherungssysteme waren einer verbreiteten Vorstellung gemäß speziell die Durchsetzung der Massendemokratie und die Entstehung stabiler und repräsentativer Parteiensysteme, die den in der Bevölkerung existierenden Bedürfnissen und Forderungen eine hohe politische Relevanz verliehen. In der Konsequenz bildeten sich staatliche Wohlfahrtssysteme aus, die die Bürger in einem zuvor ungekannten Maße gegen Existenzrisiken absicherten.59 Auch infolge des in den entwickelten westlichen Industriestaaten verzeichneten Wirtschaftsaufschwungs konnten großangelegte Programme zur Förderung 55
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Ehmer, Sozialgeschichte, S. 124. Myles, Old Age, S. 17, stellt zu diesem Wandel in der sozialpolitischen Herangehensweise fest: „[...] das traditionelle Konzept der Versorgung alter Menschen als Sozialfürsorge [social assistance] wich dem Gedanken der sozialen Sicherheit. Es reichte nicht länger aus, ein soziales Sicherungsnetz für jene einzurichten, die aus dem Arbeitsmarkt ausschieden. Stattdessen beabsichtigte man nun, für einen Ruhestandslohn zu sorgen, der dazu ausreichte, den Marktlohn zu ersetzen.“ [Hervorhebung i. Orig.] Vgl. auch Götting, Transformation, S. 152. Ritter, Der Sozialstaat, S. 146. Vgl. auch Macnicol, Beveridge, S. 8393. Vgl. Conrad, The Emergence, S. 177179; Gordon, Social Security Policies, S. 4447; Ehmer, Sozialgeschichte, S. 119121; Ritter, Der Sozialstaat, S. 146158. Vgl. Wincott, Slippery Concepts, S. 311; Bartolini Mair, Identity.
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der sozialen Sicherheit, der sozialen Dienstleistungen, des Bildungswesens und der Arbeitslosenunterstützung umgesetzt werden. Hatte man Formen kollektiver Existenzsicherung wie etwa die Armenhilfe in mehreren europäischen Ländern schon vor der Bismarckschen Sozialgesetzgebung gekannt,60 so unterschieden sich die neuartigen Programme doch in einer ganzen Reihe von Aspekten von ihren Vorläufern. Jens Alber und Martin Schölkopf differenzieren diesbezüglich fünf Punkte: „1) Sie basieren auf national gesetzlicher Regelung. 2) Sie sichern das Einkommen im Falle des Eintritts gewisser Standardrisiken des Einkommensverlustes. 3) Auf die Leistungen besteht ein individueller Rechtsanspruch, und der Leistungsempfang ist mit keinerlei politischen Diskriminierungen verknüpft. 4) Die Systeme haben verpflichtenden Charakter [...]. 5) Zur Finanzierung werden neben den Versicherten der Staat und die Arbeitgeber herangezogen.“61
Für den in der Regel einen beträchtlichen Teil des Nationaleinkommens beanspruchenden sozialen Bereich der Staatstätigkeit hat sich im internationalen Sprachgebrauch – und im speziellen Bezug auf die Erfahrung westlicher Gesellschaften – der Begriff des Wohlfahrtsstaates (welfare state) durchgesetzt.62 Er steht im Zentrum einer komparativen Forschung, die sich der Frage nach den Ursachen für die Entstehung und Entwicklung der Wohlfahrtsstaaten sowie nach den Gründen ihres vielerorts ab Mitte der 1970er Jahre zu beobachtenden Rückbaus widmet. Gegenstand ihres Interesses ist zudem die Erklärung und Klassifizierung der zwischen den einzelnen nationalen Sozialsystemen bestehenden Unterschiede in Struktur und Umfang.63 Die Vielfalt der von der Wohlfahrtsstaatsforschung entwickelten Ansätze – ein „akademische[s] Babel der Paradigmen, Modelle, Interpretationen und Berechnungen“64 – ist zu enorm, als dass hier der Versuch einer adäquaten
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Vgl. etwa Ritter, Der Sozialstaat, S. 2959; Süßmann, Die Wurzeln. Alber Schölkopf, Art. Sozialstaat/Wohlfahrtsstaat, S. 707. An dieser Stelle wird der Begriff des Wohlfahrtsstaates aufgrund seiner internationalen Verbreitung jenem des Sozialstaates vorgezogen. Dabei wird von einer synonymen Bedeutung beider Ausdrücke ausgegangen. Zu dieser Möglichkeit vgl. z. B. Thibaut, Art. Sozialstaat. Nicht unerwähnt bleiben soll die Tatsache, dass die Termini von einigen Autoren mit durchaus verschiedenem Gehalt versehen werden. So zieht Gerhard A. Ritter den „Sozialstaat“ vor, da er „weiter und eindeutiger gefaßt ist als der Begriff des Wohlfahrtsstaates. Er vermeidet sowohl die Anklänge an die bürgerliche Freiheiten beschränkende paternalistische Wohlfahrt absolutistischer Staaten wie auch die Mißverständnisse, die sich aus der in den Vereinigten Staaten inzwischen üblichen Unterscheidung zwischen ,Welfare[ ދ...] und der meist positiv beurteilten ,Social Security[ ދ...] ergeben.“ Ritter, Der Sozialstaat, S. 13. Zu den unterschiedlichen Konnotationen der Termini vgl. auch Alber Schölkopf, Art. Sozialstaat/Wohlfahrtsstaat, S. 705; Schulz, Wohlfahrtsstaat, S. 482; Bouvier, Die DDR, S. 2123. Alber, Soziale Dienstleistungen, S. 278, hält das Erkenntnisinteresse für einseitig. Er identifiziert lediglich zwei Aufgaben, auf die sich die komparative Wohlfahrtsstaatsforschung konzentriert: „Variationen der Höhe der Sozialleistungsquote zu erklären und Variationen des Zeitpunkts der Einführung sozialer Sicherungsprogramme zu analysieren.“ Baldwin, The Politics, S. 37. Veit-Wilson, States (2002), S. 312, spricht von einer regelrechten „Wohlfahrtsstaatsindustrie“.
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Zusammenfassung unternommen werden könnte.65 Im Folgenden soll deshalb vorwiegend auf jene Konzepte eingegangen werden, die die Entwicklungen des sowjetischen Sicherungssystems in der einen oder anderen Weise berücksichtigen. Ein Hindernis für die Einbeziehung der nachstalinschen UdSSR in den internationalen Vergleich, das gleichzeitig jedoch überhaupt jegliche Analyse wohlfahrtsstaatlicher Prozesse, Funktionen und Wirkungen ungemein erschwert, besteht in der fehlenden Klärung der zentralen Begrifflichkeit: Es existiert kein Einvernehmen über die Definition des Wohlfahrtsstaates, der nicht selten ohne vorherige Begriffsklärung behandelt wird. Beklagt wird dieses Desiderat bereits 1963 von Richard M. Titmuss, der feststellt, dass der Terminus mittlerweile für jeden Menschen etwas anderes bedeute.66 Und John Veit-Wilson, auf dessen eigene Begriffsbestimmung an späterer Stelle einzugehen ist, sieht auch vierzig Jahre danach noch dieselbe Problematik: Die weite Verbreitung von unterschiedlichen Deutungen des Wohlfahrtsstaatsbegriffs habe bewirkt, dass er „aller erklärenden Bedeutung entledigt [sei] und [...] als Synonym für moderne Industriestaaten“ schlechthin genutzt werde.67 Eine hiermit verbundene Erschwernis ergibt sich aus dem Umstand, dass in nur wenigen Arbeiten dargelegt wird, „ab wann und mit welchen Kriterien eine Gesellschaft als Wohlfahrtsstaat bezeichnet werden kann“.68 Unklar bleibt also, welche Mindestvoraussetzungen genau zu erfüllen sind, um diese „Auszeichnung“ zu verdienen. Wann vermag sich ein Staat, der zwar in einem bestimmten Umfang eine aktive Sozialpolitik betreibt, diese nicht für sich beanspruchen, weil sein Engagement dafür eben noch nicht ausreicht? Reicht die Aktivität im Dienste der sozialen Sicherheit der Menschen aus, oder impliziert die Rede vom Wohlfahrtsstaat darüber hinausgehende Qualitäten des staatlichen Engagements? Daniel Wincott differenziert – interessanterweise am Beispiel von Gøsta Esping-Andersens wegweisender Arbeit über die Typologie der Wohlfahrtsregime69 – allein drei verschiedene Arten, in der der Begriff des Wohlfahrtsstaates häufige Verwendung finde. „Er kann bedeuten: 1. Das ,Goldene Zeitalter“, die Nachkriegsperiode des Kapitalismus (bzw. ihre dominanten Merkmale) [...]; 2. eine bestimmte Ontologie oder Form des Staates (was der Staat ist), die üblicherweise Garantien ,vollständiger sozialer BürgerrechteދHLQVFKOLHW oder 3. Sektoren staatlicher Aktivität wie z. B. die Einkommenssicherung, das Gesundheits- und
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Einen informativen Überblick über die Vielzahl der Erkenntnisinteressen und Forschungsansätze bieten z. B.: Uusitalo, Comparative Research; Quadagno, Theories, S. 11012; Pierson, Beyond the Welfare State, S. 665; Schmid, Wohlfahrtsstaaten, S. 86126; Lessenich, Soziologische Erklärungsansätze. Vgl. Titmuss, The Welfare State, S. 3. Vgl. auch Lowe, Introduction, S. 2. Veit-Wilson, States (2000), S. 1. In diesem Sinne bemerkt auch Kaufmann, Varianten, S. 9, dass „die meisten empirischen Untersuchungen [...] sich bei der Auswahl ihres Materials an Äußerlichkeiten, beispielsweise der Zugehörigkeit zur OECD“ orientieren würden. Conrad, Wohlfahrtsstaaten, S. 156, Anm. 2. Esping-Andersen, The Three Worlds.
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das Bildungswesen (ein Wohlfahrtsstaat ist etwas, das ein Staat besitzt, oder bezieht sich auf Dinge, die er tut).“70
Solcher Vielfalt ungeachtet gibt es gleichwohl Definitionen, die sich größerer Zustimmung erfreuen, über deren Elemente ein gewisser Konsens zu bestehen scheint. Zu ihnen gehört der Ansatz Harry K. Girvetz’, der den Wohlfahrtsstaat grob als „institutionelles Ergebnis der Übernahme einer rechtlichen und deshalb formalen und expliziten Verantwortung für das elementare Wohlergehen all ihrer Mitglieder durch die Gesellschaft“ beschreibt.71 Andere Autoren verweisen nicht nur auf die moralische Verpflichtung des Staates, sondern wenden ihre Aufmerksamkeit auch der Frage zu, welche weiteren Voraussetzungen ein Staatswesen zu erfüllen hat, um nicht nur als Sozialpolitik betreibend, sondern als genuiner welfare state zu gelten. Insbesondere Asa Briggs vertritt die Auffassung, dass hierfür bestimmte Mindestanforderungen zu erfüllen sind: Indem staatlicherseits die Kräfte des Marktes eingeschränkt würden, solle den Menschen erstens ein „Mindesteinkommen unabhängig vom Marktwert ihrer Arbeit oder ihres Eigentums“ gewährt werden; zweitens habe die existentielle Unsicherheit verringert zu werden, mit der der Einzelne im Falle von fortgeschrittenem Alter, Krankheit oder Arbeitslosigkeit konfrontiert sei; drittens sei „allen Bürgern, unabhängig von Status oder Klasse der bestmögliche Standard in Bezug auf eine bestimmte, vereinbarte Auswahl sozialer Dienste“ zu bieten.72 Nicht grundlegend anders beschreibt Dorothy Wedderburn die die britische Forschung der 1960er Jahre kennzeichnenden Vorstellungen über das Wesen des Wohlfahrtsstaates: Ihm entspreche ein „staatliches Engagement gewissen Grades, das das Spiel der Marktkräfte modifiziert, um ein minimales Realeinkommen für alle zu sichern. Implizit, wenn nicht sogar ausdrücklich, wird dies getan, um Individuen gegen die Risiken der Arbeitsunfähigkeit, die aus Krankheit, Alter und Arbeitslosigkeit entstehen können, zu schützen.“73 Schon diese frühen Definitionen beschränken sich allerdings nicht nur auf die Erwähnung der vom Staat zu erbringenden Mindestleistungen, sondern verknüpfen ihren Gegenstand mit normativen Vorstellungen, die primär dem westeuropäischen Kontext gerecht werden und somit den Transfer auf sozialistische Gesellschaften erschweren, wenn nicht gar verhindern. Der moderne Wohlfahrtsstaat ist einer solchen Logik entsprechend nicht von der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu trennen, vor deren negativen materiellen und sozialen Folgewirkungen das Individuum bewahrt werden soll. Hierauf deutet bereits die von Briggs und Wedderburn vorausgesetzte wohlfahrtsstaatliche Beeinflussung der Wirtschafts-
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Wincott, Reassessing, S. 413. Girvetz, Welfare State, S. 512. Prägnant erscheint auch die Definition des Wohlfahrtsstaates als „eine institutionalisierte Form der sozialen Sicherung“, die „ein Existenzminimum für jeden Menschen [gewährleistet], [...] vor den elementaren Risiken der modernen Industriegesellschaft (v. a. Alter, Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Unfall. Pflege) [schützt] und [...] das Ausmaß gesellschaftlicher Ungleichheit durch Redistribution [bekämpft]“. Schmid, Art. Wohlfahrtsstaat, S. 1098. Briggs, The Welfare State, S. 43. Wedderburn, Facts, S. 128.
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prozesse.74 Von einem unauflöslichen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Ordnung und dem Wohlfahrtsstaat gehen in den 1970er Jahren ebenfalls Vertreter des neo-marxistischen Ansatzes wie Claus Offe oder James O’Connor aus.75 Sie führen die Krise, in der sich die europäischen Sozialsysteme zu diesem Zeitpunkt nach allgemeinem Dafürhalten befinden, auf ihnen inhärente Widersprüche zurück, die sich direkt aus dem Wesen des Kapitalismus ergeben würden.76 Marktwirtschaftliche Verhältnisse hat allerdings auch Gøsta Esping-Andersen im Sinn, als er 1990 in seiner maßgeblichen Arbeit über die Typologisierung wohlfahrtsstaatlicher Regime „drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“77 differenziert. Wenige Jahre zuvor spricht sich der dänische Soziologe zudem explizit gegen einen Transfer des Wohlfahrtsstaatsbegriffs auf die Staaten des Ostblocks aus. Für sie sei der Anspruch kennzeichnend, dass „die Wohlfahrts- und Gleichheitsfunktionen von allen gesellschaftlichen Institutionen ausgeübt werden; dass eine sozialistische Planwirtschaft tatsächlich per se der Wohlfahrt entspricht. Eine derartige soziale Ordnung hat prinzipiell kaum Verwendung für einen Wohlfahrtsstaat [...].“78 Sinnvoller sei es, in Bezug auf die UdSSR, DDR, Ungarn etc. von „Wohlfahrtsgesellschaft[en]“79 zu sprechen. Einen unauflöslichen Zusammenhang zwischen Wirtschaftsform und Wohlfahrtsstaat erkennt schließlich auch Franz-Xaver Kaufmann. Ihm zufolge kennzeichnet „das wohlfahrtsstaatliche institutionelle Arrangement [...] die Autonomie des marktwirtschaftlichen Systems, welches sie wiederum mit den durch Wirtschaftsinteressen dominierten ,kapitalistischen ދGemeinwesen verbindet“.80 Eine andere Traditionslinie, als dessen wichtigster Vertreter Thomas H. Marshall anzusehen ist, interpretiert die soziale Staatsbürgerschaft als den Kern des Wohlfahrtsstaates. Von Bedeutung ist hier der Gedanke, dass die staatlichen Leistungen nicht mehr das Ergebnis obrigkeitlicher Barmherzigkeit darstellen, sondern Ausdruck eines als legitim anerkannten Anspruches der Bürger sind. Den Wohlfahrtsstaat deutet Marshall als Ergebnis einer systematischen gesellschaftlichen Entwicklung, in deren Verlauf die „volle[n] Mitglied[er] der Gemeinschaft“81 ih74 75 76
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So befindet Briggs, The Welfare State, S. 44: „In Gesellschaften ohne Marktwirtschaft berührt das Problem der ,Wohlfahrt ދganz andere Sachverhalte.“ Vgl. z. B. Offe, Strukturprobleme; OތConnor, The Fiscal Crisis. So verwies man darauf, dass kapitalistische Staaten einerseits sozialpolitische Programme finanzierten, um die politische Legitimation und soziale Reproduktion zu sichern. Andererseits würden diese Maßnahmen jedoch den Akkumulationsprozessen entgegenlaufen, die das primäre Staatsziel ausmachten. Vgl. hierzu überblickhaft Klein, OތGoffeތs Tale, S. 78; Pierson, Beyond the Welfare State, S. 4859; Lessenich, Soziologische Erklärungsansätze, S. 45. Eigene Hervorhebung. Zu Esping-Andersens Typologie siehe unten. Esping-Andersen, The Comparison, S. 5. Ebd. Hier bezieht sich der Autor auf Überlegungen Zsuzsa Ferges. Vgl. Ferge, A Society. Kaufmann, Varianten, S. 37. Anzuführen ist in diesem Kontext schließlich auch die Definition Lawrence M. Meads, der den Wohlfahrtsstaat als „eine Reihe von Einkommenstransfers (Sozialhilfe, Renten), Naturalleistungen (Ernährung, Unterkunft, Gesundheitsversorgung) und anderen Dienstleistungen, die – in wohlhabenden Gesellschaften – die Bürger vor den Wechselfällen des Kapitalismus beschützen“, versteht. Mead, Citizenship, S. 197. Marshall, Staatsbürgerrechte, S. 38.
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ren sich aus insgesamt drei Elementen zusammensetzenden Staatsbürgerstatus vervollständigt hätten. Im geschichtlichen Verlauf habe man zuerst bürgerliche, daraufhin politische und schließlich soziale Rechte für sich gewinnen können. Die sozialen Rechte beinhalten Marshall zufolge „eine ganze Reihe von Rechten, vom Recht auf ein Mindestmaß an wirtschaftlicher Wohlfahrt, über das Recht auf einen vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards. Die am engsten mit ihm verbundenen Institutionen sind das Erziehungswesen und die sozialen Dienste.“82 Politische Freiheiten assoziiert auch Richard M. Titmuss mit dem Wohlfahrtsstaat, den er als eine „besondere Erscheinung der demokratischen Gesellschaften des Westens“ versteht.83 An Marshalls Ansatz orientiert sich zudem Franz-Xaver Kaufmann, der eine wohlfahrtsstaatliche Entwicklung nur „bei zunehmender Gewährleistung sozialer Rechte“ für gegeben hält, also nur dann, wenn „politisch induzierte institutionelle Entwicklungen die sozioökonomischen Versorgungsstrukturen eines Landes nachhaltig in Richtung auf eine umfassende Teilhabe der Gesamtbevölkerung verändern“.84 Kaufmanns Definition des Wohlfahrtsstaates rekurriert ebenfalls auf den normativen Charakter sowohl der staatsbürgerlichen Rechte als auch der Marktwirtschaft: „In der gebotenen Kürze formuliert, erscheint der Wohlfahrtsstaat als eine bestimmte Form gesellschaftlicher Organisation, die gekennzeichnet ist durch die Verbindung von demokratischer Staatsform und privatkapitalistischer Wirtschaftsform mit einem ausgebauten, zentralstaatlich regulierten Sozialsektor, auf dessen Leistungen ein staatlich verbürgter Anspruch nach rechtlich definierten Bedarfskriterien für jedermann besteht.“85
Ein solcher Wohlfahrtsstaatsbegriff lässt sich schwerlich auf die sozialistische Sozialpolitik übertragen, deren Ausgrenzung bereits dem Gebrauch des Ausdrucks zum Zeitpunkt seiner Einführung entsprach. Erstmalige Verwendung findet der Terminus im englischen Sprachraum86 bei William Temple, der für die positive Konnotation des Begriffs verantwortlich zeichnet. In seiner 1941 erschienenen 82 83 84 85
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Ebd., S. 40. Titmuss, The Welfare State, S. 2. Kaufmann, Varianten, S. 3839 [Hervorhebung i. Orig.]. Kaufmann, Religion, S. 94 [Hervorhebung i. Orig.]. In ähnlicher Weise befinden Alber Schölkopf, Art. Sozialstaat/Wohlfahrtsstaat, S. 705, dass im Konzept des Wohlfahrtsstaates „eine Verpflichtung des Staates auf eine umfassende Politik des Ausbaus sozialer Staatsbürgerrechte mit[schwingt], die sich nicht mit der Sicherung von Konsumchancen begnügt, sondern auch die Förderung von Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung anstrebt und den Abbau ungleicher Teilnahmechancen am gesellschaftlichen und politischen Leben zum Ziel erhebt“. Vgl. auch Plaggenborg, Experiment, S. 226. Im Deutschen kannte man den „Wohlfahrtsstaat“ bereits weit früher. Der konservative Staatssozialist Adolph Wagner verstand den über den Begriff transportierten Gedanken der staatlichen Übernahme sozialer Aufgaben schon 1879 als eine wünschenswerte Erscheinung. Vgl. Wagner, Allgemeine oder theoretische Volkswirthschaftslehre, S. 257. In der Folge und speziell in der Spätphase der Weimarer Republik war er allerdings vor allem negativ im Sinne des „Versorgungsstaats“ konnotiert. Vgl. Ritter, Der Sozialstaat, S. 6; Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, S. 164.
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Schrift „Citizen and Churchman“ stellt er den Typus des Welfare-State explizit dem des Power-State gegenüber, der in seinem Tun „nicht von moralischen Überlegungen beschränkt“ werde. Als Beispiele für den Machtstaat erachtet der Erzbischof von Canterbury sowohl Nazideutschland als auch Sowjetrussland.87 Eine in ähnlicher Weise ideologisch vorgeprägte Perspektive kennzeichnete freilich ebenso die Argumentation sowjetischer Autoren, die sich strikt gegen eine Gleichsetzung der sozialistischen Sozialpolitik mit den Bemühungen westlicher Staaten verwahrten. Hier bewegte man sich im Rahmen einer langen marxistischen Tradition, der zufolge eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiter und Angestellten im Kapitalismus prinzipiell nicht zu realisieren war. Eine Lösung der Sozialen Frage konnte dieser Auffassung nach erst nach der Abschaffung des privaten Eigentums an den Mitteln der Produktion gelingen.88 In der nachstalinschen UdSSR wurde – den neo-marxistischen Ansatz in manchem vorwegnehmend – der Wohlfahrtsstaat als Resultat der Unwägbarkeiten interpretiert, die sich für die arbeitende Bevölkerung aus der kapitalistischen Produktionsweise ergaben. Der Sozialismus galt dabei als eine gesellschaftliche Ordnung, die aufgrund der ihr innewohnenden sozialen Effektivität und Gerechtigkeit auf jene nachträglich durchgeführten Reparaturmaßnahmen, mit denen man die westliche Sozialpolitik gleichsetzte, verzichten konnte.89 So führt etwa V. S. Andreev die in der „Bourgeoisie“ für die soziale Sicherung der Arbeiter und Angestellten entwickelten Systeme auf die „Verschlechterung ihrer materiellen Lage, Arbeitslosigkeit und die Unsicherheit über den morgigen Tag [zurück]; es handelt sich um die unproduktiven Kosten der kapitalistischen Produktion, die aufgrund der nachdrücklichen Forderungen der Werktätigen für die Milderung der Auswirkungen der genannten Umstände verwendet werden.“ Eine effektive Beseitigung der Ursachen für die fehlende Absicherung des Proletariats werde auf diesem Wege jedoch nicht erreicht. Hierfür sei die Beseitigung des Kapitalismus vonnöten, 87
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Temple, Citizen, S. 3435. Zur antisowjetischen bzw. gegen den „Machtstaat“ gerichteten Konnotation des von Temple verwendeten welfare state-Begriffs vgl. auch Ritter, Der Sozialstaat, S. 6; Ruth, Die zweite „Neue Nation“, S. 87; Bruce, The Coming, S. IX. Ein für sozialistische Regime charakteristischer Standpunkt zu dem Thema findet sich in Geschichte der Sozialpolitik, S. 12: „Für die Klassiker des Marxismus-Leninismus war die Lösung der sozialen Frage des Proletariats [...] eine langfristige Aufgabe, die, anknüpfend an die sozialpolitischen Kämpfe im Kapitalismus, über mehrere Reifestufen führt und letztlich erst im Kommunismus erreicht sein wird. Merkmale dieses Prozesses sind neben der politischen Macht der Arbeiterklasse unter Führung einer revolutionären Partei, neben der sozialen Aktivität der Volksmassen vor allem die Entfaltung der Produktivkräfte, eine hohe Arbeitsproduktivität und ein Niveau des gesellschaftlichen Reichtums, das es ermöglicht, das kommunistische Verteilungsprinzip ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissenދ einzuführen.“ Während Karl Marx selbst keine Äußerungen über den – zu seiner Zeit noch nicht existierenden – Wohlfahrtsstaat tätigte, zeugen seine Arbeiten zumindest davon, dass er den Kapitalismus und die wirtschaftliche Selbstbestimmtheit der breiten Bevölkerung für unvereinbar hielt. So charakterisiert er die Situation des Arbeiters mit Begriffen wie „Despotismus“ und „ökonomische Hörigkeit“. Marx, Das Kapital, S. 351 u. 603. Vgl. auch Wildt, Gibt es, S. 63; Vobruba, Legitimationsprobleme, S. 3839; Pierson, Marxism, S. 175177. Vgl. Lohmann, Perestrojka, S. 306.
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der die Grundlage für die Ausbeutung der Werktätigen darstelle. Eine solche sei hingegen in der Sowjetunion durch den Aufbau des Sozialismus und die Überwindung des Klassengegensatzes tatsächlich bewerkstelligt worden.90 Dem offiziellen Sprachgebrauch zufolge entsprach die ausreichende Absicherung gegen die Folgen der Arbeitsunfähigkeit geradezu dem innersten Kern der sozialistischen Ordnung.91 Eine fundamentale Differenz zwischen kapitalistischen und sozialistischen Maßnahmen der sozialen Sicherung meint auch M. S. Lancev zu erkennen. Die kapitalistische Theorie und Praxis seien von dem Versuch gekennzeichnet, das Ausmaß der Armut und der Auswirkungen von Arbeitslosigkeit, fortgeschrittenem Alter, Invalidität und Krankheit so gering wie möglich zu halten. Dabei handele es sich jedoch nicht um einen Selbstzweck, sondern lediglich um ein Mittel, um die kapitalismusinhärenten Widersprüche abzumildern.92 Das Ziel der in sozialistischen Ländern betriebenen sozialen Sicherungspolitik sei hingegen ein grundlegend anderes: „Das System der Sozialversorgung ist vor allem dazu bestimmt, die arbeitsunfähigen Gesellschaftsmitglieder mit den notwendigen Existenzmitteln zu versorgen und die Voraussetzungen für die Entwicklung ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu schaffen.“93 So verwundert es nicht, dass sowjetische Autoren auch den konkreten Begriff des Wohlfahrtsstaates – im Russischen gosudarstvo blagodenstvija oder gosudarstvo vseobšþego blagosostojanija – ablehnten. Der „Mythos Wohlfahrtsstaat“ wurde als propagandistische Konstruktion des kapitalistischen Westens abqualifiziert. Folgt man beispielsweise Vasilij D. Popkov, so wurde die „Theorie vom Wohlfahrtsstaat“ vor allem zur Widerlegung des wissenschaftlichen Sozialismus instrumentalisiert. Ihre Verbreitung sei auf das Bestreben bürgerlicher und reformistischer Ideologen nach einer Lähmung und Desorientierung der heimischen Arbeiterschaft zurückzuführen. Zudem versuche man auf diesem Wege, den Klassencharakter und die repressive Rolle des Staates im Kapitalismus zu übertünchen.94 Als „apologetische Konstruktion“, die den ausbeuterischen Charakter der westlichen Wirtschaftsordnung verschleiern sollte, wurde der Wohlfahrtsstaat auch noch Anfang der 1970er Jahre verstanden: 90 91
92 93 94
Andreev, Materialތnoe obespeþenie, S. 3839. Vgl. Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1958), S. 28; Rimlinger, Welfare Policy, S. 253254. Zacher, Sozialrecht, S. 333334, stellt diesbezüglich fest: „Westliche Sozialpolitik versteht sich ja als Korrektur von Entwicklungen, die sozial unbefriedigende Zustände herbeigeführt haben oder herbeiführen würden, als Gegenkraft zu den sozial indifferenten oder gar schädlichen Kräften. [...] Ganz im Gegenteil nimmt sich ein sozialistisches System vor, die Verhältnisse a priori so zu gestalten und zu ordnen, daß sie ,sozial richtig ދsind, a priori für eine Verteilung zu sorgen, die eine Umverteilung unnötig macht. Sozialpolitik scheint aufzugehen in der allgemeinen Politik.“ Siehe hierzu auch die in der DDR verbreitete Verurteilung der westlichen Sozialpolitik als „Lazarettstation des Kapitalismus“. Vgl. Hoffmann, Entstalinisierung, S. 446. Lancev, Socialތnoe obespeþenie v SSSR (1976), S. 18. Vgl. Popkov, Kritika, S. 4 u. 8. Zur sowjetischen Wohlfahrtsstaatskritik vgl. auch Nazarenko, Gosudarstvo; Zivs, A Critique, S. 533; Vejsman, Mif, S. 120121; Beyme, Soviet Social Policy, S. 74.
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Schlussteil „Im Wesentlichen läuft diese Doktrin auf die Behauptung hinaus, dass der wichtigste Handlungsanreiz heutiger Monopole und des bürgerlichen Staates nicht in der Erzielung maximaler Gewinne und der Herstellung der Voraussetzungen für das Funktionieren der kapitalistischen Reproduktion besteht, sondern in ,humanen ދZielen des ökonomischen Fortschritts der gesamten Nation, in der Umsetzung ,grundlegender ދsozial-ökonomischer Reformen und in der ,gerechten ދVerteilung des Einkommens.“95
Die nicht nur dem offiziellen sowjetischen Standpunkt entsprechenden, sondern auch von maßgeblichen Vertretern der komparativen Sozialpolitikforschung mit dem Wohlfahrtsstaatsbegriff verbundenen Assoziationen verbieten seine leichtfertige Übertragung auf das Beispiel der UdSSR und anderer Staaten des Ostblocks. Manche Autoren sprechen sich deshalb gänzlich gegen die Verwendung des Terminus aus, da er „historisch und systemspezifisch in seinen Zielen und Funktionen, in seinen Institutionen und seiner Wirkungsweise zu sehr ,besetzt[ ދist], als dass man ihn für die Analyse sozialistischer Systeme [...] verwenden könnte“.96 Auch Franz-Xaver Kaufmann kommt zu dem Ergebnis, dass die UdSSR kein Wohlfahrtsstaat war: „Da das sowjetische System subjektive (bürgerliche, politische und soziale) Rechte für jedermann nicht gewährleistete und im Rahmen der herrschenden Strukturen wohl auch nicht gewährleisten könnte, kann es im Sinne unserer Begriffsbestimmung97 ebenso wenig als ,wohlfahrtsstaatlich ދbezeichnet werden wie das US-amerikanische. Trotz einer der wohlfahrtsstaatlichen ähnlichen Programmatik handelte es sich bei den real existierenden sozialistischen Systemen sowohl konzeptionell als auch praktisch um eine von den westeuropäischen Wohlfahrtsstaaten grundsätzlich verschiedene Struktur.“98
Andere Verfasser haben sich angesichts der beobachteten Parallelen zwischen kapitalistischer und sozialistischer Sozialpolitik für ein „weites“ Verständnis des Wohlfahrtsstaates ausgesprochen, das sich nicht allein auf westliche Staaten beschränkt. So konstatieren beispielsweise Peter Flora und Arnold J. Heidenheimer nicht zuletzt vor dem Hintergrund der sowjetischen Erfahrung, dass „nicht-demokratische und nicht-kapitalistische Gesellschaften sehr ähnliche Institutionen begründet haben. Dergestalt scheint der Wohlfahrtsstaat ein weit generelleres Phänomen der Modernisierung zu sein, das nicht allein mit ihrer ,demokratisch-kapitalistischen ދVersion verknüpft ist.“99 Und auch Stefan Plaggenborg hält angesichts der systemübergreifenden Ähnlichkeiten im technischen Instrumentarium der Sozialpolitik eine Begriffsbestimmung auf Grundlage der „Staatsaktivitäten in
95 96 97
98 99
Vasilތev, Buržuaznaja koncepcija, S. 83. Meyer Rohmeis, Kontrollierte Emanzipation, S. 113. Kaufmann, Varianten, S. 9, definiert den Wohlfahrtsstaatsbegriff als „Gewährleistung von Handlungsfreiheit und Privateigentum an zentralen Produktionsmitteln und damit der Unabhängigkeit wirtschaftlicher Unternehmerfunktionen einerseits; und als Anerkennung von sozialem Schutz und Teilhaberechten für alle Bürger und ihnen Gleichgestellte andererseits“. Ebd., S. 80. Zu den Argumenten, die gegen die Wohlfahrtsstaatlichkeit der USA sprechen siehe unten. Flora Heidenheimer, The Historical Core, S. 23.
Die Wohlfahrtsstaatlichkeit der UdSSR
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Form von Dienstleistungen und Geldzahlungen im Sozialbereich, unabhängig von den Systemkontexten“, für denkbar.100 Überhaupt bedeutet die häufige Verbindung des Wohlfahrtsstaatsgedankens mit der Marktwirtschaft und politischen wie bürgerlichen Freiheitsrechten nicht, dass die Ost-West-Parallelen im Bereich der Bemühungen um die Steigerung des allgemeinen Lebensstandards vollends unbeachtet geblieben wären. Tatsächlich identifizierte die politikwissenschaftliche Literatur zu den Staaten des Ostblocks nicht selten Anzeichen für das Wirken eines „kommunistischen Wohlfahrtsstaates“. Dabei wurde diese Begrifflichkeit in der Regel jedoch nicht hergeleitet, diskutierte man meist weder das Problem der terminologischen Unschärfe noch jenes der systemischen Unterschiede. Verwendet wurde der Terminus vornehmlich zur Hervorhebung des Ausmaßes, in dem der sozialistische Staat soziale Sicherung und Dienstleistungen finanzierte – und sich dadurch eine neue Legitimationsgrundlage zu geben bemühte. Oder man beschrieb nüchtern das Vorhandensein von Sektoren sozialer Staatstätigkeit.101 Besondere Beachtung hat zudem das bereits erwähnte Konzept des „wohlfahrtsstaatlichen Autoritarismus“ von George A. Breslauer gefunden. Zumindest Breslauer ist allerdings ein Bewusstsein für die Konnotationen des Wohlfahrtsstaatsbegriffs nicht abzusprechen, begründet er seinen Gedanken doch – implizit im Anschluss an Briggs und Wedderburn – mit dem Bestreben der sowjetischen Führung, für ein „minimales und steigendes Niveau der materiellen und sozialen Sicherheit“ zu sorgen.102 Innerhalb der empirisch-vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wurde den Unterschieden zwischen plan- und marktwirtschaftlichen Systemen größere Bedeutung beigemessen, als dies für die Verfasser sowjetologischer Arbeiten kennzeichnend war. Dementsprechend mag es vielleicht nicht überraschen, dass Ers100 Plaggenborg, Experiment, S. 226. 101 Ein frühes Beispiel für die Beschreibung des sowjetischen Regimes als „Wohlfahrtsstaat“ bietet das 1960 in der Zeitschrift Problems of Communism abgedruckte Editorial zu Nove, Social Welfare, und den anschließenden Diskussionsbeiträgen. Hier wird der Begriff allerdings lediglich mit dem Vorhandensein einer „relativ ,aufgeklärten ދverbraucherorientierten Ökonomie“ gleichgesetzt. Toward a “Communist Welfare State, S. 1. Nove selbst stellt die Frage nach der Wohlfahrtsstaatlichkeit der UdSSR in einem 1969 publizierten Artikel. Eine Antwort bleibt der Autor hier allerdings schuldig, da er hier lediglich eine Beschreibung der sowjetischen Bemühungen um eine Anhebung des Lebensstandards anbietet. Vgl. Nove, Is the Soviet Union. Auf das Vorhandensein eines entwickelten Sozialsektors rekurriert beispielsweise Hauslohner, Politics, S. 42, wenn er von der „Errichtung eines echten, jedoch kargen Wohlfahrtsstaates“ spricht. Den Begriff „Wohlfahrtsstaat“ benutzen für die UdSSR ebenfalls Vogel, Gesellschaftliche Konsumtionsfonds, S. 5; Bialer, Stalinތs Successors, S. 52; Beyme, Reformpolitik, S. 107; McAuley, The Welfare State. 102 Breslauer, On the Adaptability, S. 220. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch die Auffassung Manfred G. Schmidts und Tobias Ostheims, die – allerdings hier nur in Bezug auf die DDR – von einem „autoritären sozialistischen Wohlfahrts- und Arbeitsstaat“ sprechen. Die Wohlfahrtsstaatlichkeit wird dabei aus der Tatsache abgeleitet, dass das Regime „für [den] Schutz gegen Marktkräfte sorgte und eine Grundversorgung auf niedrigem Niveau für fast alle Staatsbürger garantierte“. Schmidt Ostheim, Sozialpolitik, S. 186. Das Problem der auch in der DDR fehlenden Freiheitsrechte und nicht vorhandenen Marktwirtschaft wird von den Autoren nicht diskutiert.
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Schlussteil
tere der hinter dem Eisernen Vorhang betriebenen Sozialpolitik in der Regel kaum Beachtung schenkte. Es gab jedoch Ausnahmen. Zu nennen sind hier vor allem einige Verfechter des in den 1960er und 1970er Jahren dominierenden funktionalistischen Ansatzes bei der Analyse wohlfahrtsstaatlicher Prozesse. Die funktionalistische Herangehensweise war von der Überzeugung geleitet, dass „die Bedeutung der Ökonomie – oder spezifischer: des kapitalistischen Produktionszusammenhangs und seiner Erfordernisse – für die Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen“103 von vorrangiger Bedeutung sei. Die sozialpolitischen Institutionen erschienen dementsprechend als Reaktion auf sozioökonomische Prozesse, die zu einem Wandel der Lebens- und Arbeitsumstände und – hierdurch bedingt – zu neuen Problemlagen geführt hatten. Charakterisiert wurden die den Ausbau des Wohlfahrtsstaates befördernden Entwicklungen von unterschiedlichen Autoren entweder als Industrialisierung, als Modernisierung oder als Verbreitung des Kapitalismus.104 Die erste dieser drei Spielarten, die hier von besonderem Interesse erscheint, kennzeichnete der Gedanke, dass die die Industrialisierung begleitenden gesellschaftlichen Veränderungen (Urbanisierung, Wandel der familiären Strukturen und der Arbeitsformen etc.) ein wohlfahrtsstaatliches Eingreifen zwingend erforderlich gemacht hatten, da die herkömmlichen Schutzvorrichtungen nicht mehr ausreichten. Gleichzeitig habe das volkswirtschaftliche Wachstum die notwendigen finanziellen Mittel bereitgestellt, die zur staatlichen Übernahme der Verantwortung für die existentielle Sicherheit der Bevölkerung notwendig waren. Vertreter eines derartigen Ansatzes sahen einen direkten Zusammenhang zwischen dem Maß, in dem die Industrialisierung eines Landes vorangeschritten war, und dem Umfang, in dem dessen politische Führung sich sozialpolitisch engagierte. Hieraus leitete sich auch die Vorstellung ab, dass sämtliche Staaten – jene des sozialistischen Ostblocks inbegriffen –, in denen ein solcher gesellschaftlicher Wandel zu beobachten war, letztendlich bei der Organisation der sozialen Sicherung „konvergieren“, d. h. zu einander gleichenden institutionellen Antworten gelangen mussten.105 Als Erster jener Autoren, die sich unter Annahme einer solchen Konvergenz der Frage nach den sozioökonomischen Determinanten wohlfahrtsstaatlicher Prozesse widmen, berücksichtigt Frederic L. Pryor auch die sozialistischen Länder. In seiner 1968 veröffentlichten komparativen Untersuchung der Ausgabenpolitik von sieben marktwirtschaftlich und sieben planwirtschaftlich organisierten Staaten verweist er auf die Ähnlichkeit der Problemlagen und der politischen Lösungsansätze.106 Für die variierende Qualität der sozialen Sicherung, die Pryor aus dem 103 Lessenich, Soziologische Erklärungsansätze, S. 43. 104 Vgl. ebd.; Alber, Vom Armenhaus, S. 119. 105 Angenommen wurde dabei nicht nur eine bloße in der Gegenwart bestehende Parallele, sondern eine „progressive Akkumulation gemeinsamer Merkmale“, die schließlich zu einer Verschmelzung der kapitalistischen und sozialistischen Systeme führen würde. Gaitonde, An Answer, S. 3839. Allgemein zur Konvergenz-These vgl. auch Mishra, Convergence Theory, S. 2829; Ludz, Art. Konvergenz, Sp. 889896. Zur sowjetischen Kritik an dieser Vorstellung vgl. Kelley, The Soviet Debate, S. 178184. 106 Vgl. Pryor, Public Expenditures, S. 285.
Die Wohlfahrtsstaatlichkeit der UdSSR
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Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt des jeweiligen Landes ableitet, zeichnen ihm zufolge in erster Linie der unterschiedliche Grad der ökonomischen Entwicklung und das Alter des Sozialversicherungssystems, das die Bürger mit Altersrenten versorgt, verantwortlich.107 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Mitte der 1970er Jahre auch Harold L. Wilensky. Auf der Basis eines Vergleichs der Sozialausgaben von insgesamt 64 westlichen, sozialistischen und sogenannten Dritte-Welt-Staaten befindet er ebenfalls, dass – ein ähnliches Niveau des wirtschaftlichen Fortschritts vorausgesetzt – keine grundlegenden Differenzen hinsichtlich der sozialpolitischen Ausgabenpraxis der Länder zu erkennen sind. Die Ideologie spiele hier keine Rolle.108 In Ergänzung zu Pryor nennt Wilensky allerdings mit der Altersstruktur der jeweiligen Bevölkerung noch einen dritten Faktor, der für Unterschiede in der Ausbildung staatlicher Institutionen der sozialen Sicherung von Bedeutung sei: „Wenn es einen Ursprung für die Wohlfahrtsausgaben gibt, der am wichtigsten ist – eine einzelne, naheliegende Ursache –, dann ist dies der Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung. Der Wohlfahrtsstaat ist das Symbol für die zweideutige Position der Alten in der modernen Gesellschaft; diese sind sowohl abhängig als auch unabhängig, eine Minderheit von strategischer Bedeutung für die öffentlichen Ausgaben.“109
Seine zentrale Rolle innerhalb der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung verlor der funktionalistische Ansatz – und mit ihr die Konvergenzvorstellungen – ab der Mitte der 1970er Jahre. Zwar ist ein allgemeiner Konnex zwischen der Industrialisierung bzw. dem wirtschaftlichen Wachstum auf der einen und dem staatlichen Ausbau von Maßnahmen zur sozialen Sicherung der Bevölkerung auf der anderen Seite kaum zu negieren. Die Programme stellen ja in vielerlei Hinsicht tatsächlich eine Antwort auf soziale Problemlagen dar, die in dieser Form und Reichweite in Agrargesellschaften noch nicht existierten. Eine Gesetzmäßigkeit, wie sie von den Vertretern der Konvergenz-These postuliert wurde, lässt sich hieraus allerdings nicht ableiten. Gerade im Bereich der Sozialpolitik sind durchaus Hinweise auf auseinanderlaufende Entwicklungen in Ost und West zu finden, die der These einer zunehmenden Ähnlichkeit der Systeme widersprechen.110
107 108 109 110
Vgl. ebd., S. 150. Vgl. Wilensky, The Welfare State, S. 48. Ebd., S. 4748. So identifiziert Beyme, Sozialismus, S. 108, divergierende Tendenzen in der für das sowjetische Beispiel kennzeichnenden „überwiegend repressive[n] Einstellung zum abweichenden Verhalten und [der] Unterentwicklung, von Sozialpädagogik, Sozialfürsorge und Einzelfallhilfe“. Und Castles, Whatever Happened, gelangt zu dem Ergebnis, dass sich Wilenskys und Pryors Erkenntnisse nicht vollends aufrechterhalten lassen. Zwar lasse sich für den Zeitraum 1965–1980 tatsächlich konstatieren, dass sich der Anteil der Sozialausgaben, den Castles hier auf Grundlage des Bruttoinlandsproduktes kalkuliert, systemübergreifend ähnlich gestaltet habe. Diese Erkenntnis verliere jedoch dann an Bedeutung, wenn man die Kosten auf die Bevölkerung umlege. Während die westlichen Pro-Kopf-Ausgaben 1965 24 % über jenen in sozialistischen Staaten gelegen hätten, habe sich diese Differenz 1980 auf 40 % belaufen. Vgl. ebd., S. 217218. Vgl. auch Schmidt, Sozialpolitik. Historische Entwicklung, S. 177; Götting, Transformation, S. 7780
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Schlussteil
Als fragwürdig, da vereinfachend, erscheint insbesondere die Herstellung eines direkten kausalen Zusammenhangs zwischen dem wohlfahrtsstaatlichen Engagement und der wirtschaftlichen Prosperität eines Landes. Zwar ist Wilensky sicherlich darin zuzustimmen, dass „Programme der sozialen Sicherung einfach nicht zum Vorschein kommen, ohne dass ein ausreichender nationaler Überschuss vorhanden wäre, der sie zu einer politischen Option macht“.111 Neben der ökonomischen Verfassung des Gemeinwesens existierte jedoch noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren, die die Sichtweise und die Agenda der für die Einleitung der betreffenden Maßnahmen verantwortlichen Akteure prägten.112 Zu hinterfragen ist zudem die hohe Bedeutung, die Indikatoren wie der Sozialleistungsquote113 oder dem Anteil der Sozialausgaben am Bruttosozialprodukt im Rahmen funktionalistischer – wie auch späterer – Herangehensweisen bei der Messung des Niveaus eines sozialen Sicherungssystems zugeschrieben wurde. Zwar vermitteln sie auf den ersten Blick tatsächlich einen Eindruck vom vergleichbaren Umfang der diesbezüglichen Staatstätigkeit in sozialistischen und westlichen Ländern (Tab. 8). Gerade im Falle der sowjetischen Bemühungen um die Steigerung bzw. Stabilisierung des allgemeinen Lebensstandards bilden die Quoten jedoch nur einen Teil dieses Engagements ab. Unberücksichtigt bleiben hier z. B. die staatlichen Mittel, die in die Stabilisierung des Preisniveaus von Waren des täglichen Bedarfs flossen. Keinen Ausdruck findet ferner die Subventionierung der Betriebe, mit deren Hilfe in den Planwirtschaften des Ostblocks Erfolge bei der Gewährleistung der Arbeitsplatzsicherheit erzielt wurden.114
111 Wilensky, The Welfare State, S. 24. 112 Vgl. Mitchell, Ideology, S. 196197. Zur Kritik an der Konvergenz-These siehe auch Brzezinski Huntingdon, Political Power: USA/USSR; Ludz, Art. Konvergenz, Sp. 896900; Goldthorpe, The End, 113 Die Sozialleistungsquote entspricht dem Anteil der Sozialausgaben (Kosten des Gesundheitswesens, Kranken- und Mutterschaftsgelder, Arbeitslosenhilfen, Alters-, Invaliden-, Hinterbliebenen- und Unfallrenten; vgl. The Cost of Social Security, S. 2.) am Bruttoinlandsprodukt eines Landes. In Ermangelung von Informationen, die eine Berechnung des BIP sozialistischer Staaten gestatteten, wurde hier in der Regel das so genannte Nettomaterialprodukt (Nettowert sämtlicher Waren und produktionsbezogener Dienstleistungen inkl. Umsatzsteuer; Dienstleistungen bleiben unberücksichtigt) verwendet. 114 Kohl, Der Wohlfahrtsstaat, S. 67, hält die Orientierung an der Sozialleistungsquote für „theoretisch naiv, wenn sie implizit und ohne nähere empirische Prüfung eine Kausalkette derart unterstellt, daß die Höhe der Sozialausgaben den Umfang der Einkommensumverteilung bestimme und diese generell zu einer Verringerung sozialer Ungleichheit führe. Sozialausgaben [...] sind kein Selbstzweck; es kommt entscheidend darauf an, für welche Zwecke, nach welchen Kriterien, für welche Gruppen sie erbracht werden und welche faktischen Wirkungen damit erzielt werden.“ Zur beschränkten Aussagekraft der Sozialleistungsquote vgl. auch Götting, Transformation, S. 80; Ritter, Der Sozialstaat, S. 197; Koblitz Ruban, Art. Soziale Sicherheit, Sp. 960.
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Die Wohlfahrtsstaatlichkeit der UdSSR
Tab. 8: Sozialleistungsquoten einiger ausgewählter Staaten im Vergleich (1965)
e
UdSSR Polene Ungarn BRD Finnland Großbritannien Italien Schweden Schweiz Türkei USA
1960a 10,2 8,9 8,8 15,4 8,8 10,8 11,7 10,9 7,5 1,4 6,8
Sozialleistungsquote (in %) 1965b 1970c 11,6 11,9 9,3 10,7 10,7 11,0 16,6 17,0 10,6 12,8 11,7 13,8 14,8 16,3 13,6 18,8 8,5 10,1 1,7 3,2 7,1 9,6
1975d 13,8 11,0 14,8 23,5 16,1 16,2 23,1 26,2 15,1 3,5 13,2
Quelle: The Cost of Social Security, S. 5759. a Für Großbritannien (GB) und die USA bezieht sich dieser Prozentsatz auf die Jahre 1959–1960, für Ungarn auf das Jahr 1961. b Für GB und die USA bezieht sich dieser Prozentsatz auf den Zeitraum 1964–1965. c Für GB und die USA bezieht sich dieser Prozentsatz auf den Zeitraum 1969–1970. d Für GB und die USA bezieht sich dieser Prozentsatz auf den Zeitraum 1974–1975. e Die Prozentwerte beziehen sich auf das Nettomaterialprodukt.
In den Fokus der komparativen Forschung rückten in der Folge weniger die Gemeinsamkeiten der Industrie- bzw. Wohlfahrtsstaaten als die Unterschiede ihrer Entwicklung. Zu einem führenden Erklärungsmuster für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates wurden interessen- und konflikttheoretische Ansätze, die nicht mehr Industrialisierung und Modernisierung, sondern anderen Faktoren eine primäre Bedeutung zuwiesen. Unter der Losung „Politics matter“ konzentrierte man sich nun auf verschiedene Gesichtspunkte der Demokratisierung und Politisierung westlicher Gesellschaften: auf die Massendemokratie im Allgemeinen, auf die Sozialdemokratie als organisierter Ausdruck der Arbeiterbewegung („Sozialdemokratie-These“), auf die Spezifika der Parteiendemokratie oder auf das Zusammengehen einzelner Risikogruppen.115 Der Wohlfahrtsstaat erschien hier „nicht primär als Erfordernis sozio-ökonomischer Veränderungen, sondern als Resultat wachsender sozialpolitischer Forderungen, die im Rahmen sozio-politischer Mobilisierungsprozesse entstehen“.116 Ein besonderer Stellenwert bei der Bestimmung des Umfangs und der Natur der institutionellen Lösungen in den jeweiligen Staaten wurde dabei der ideologischen Ausrichtung ihres Wahlvolkes zugeschrieben. Da die sozialistischen Staaten jedoch nach allgemeinem Verständnis keine echten demokratischen Strukturen oder öffentlich kommunizierte Abweichungen im Hinblick auf die Weltanschauung
115 Vgl. Lessenich, Soziologische Erklärungsansätze, S. 46. Als für eine solche Herangehensweise exemplarisch vgl. etwa Korpi, The Working Class; Schmidt, Wohlfahrtsstaatliche Politik; Castles, The Social Democratic Image; Esping-Andersen, Politics. 116 Alber, Vom Armenhaus, S. 74.
500
Schlussteil
kannten, erfuhren sie unter dem Einfluss der neuen Paradigmen keine Berücksichtigung mehr.117 Sowohl gegenüber dem funktionalistischen als auch den interessen- bzw. konflikttheoretischen Ansätzen lässt sich einwenden, dass sie die Komplexität und die Bedeutung des jeweiligen Kontextes für die Herausbildung von Wohlfahrtsstaaten ignorieren, indem sie diesen Prozess lediglich auf eine einzige oder einige wenige Ursachen zurückführen.118 Eine weitaus differenziertere Beurteilung wohlfahrtsstaatlicher Prozesse, die den unterschiedlichen Ausprägungen nationaler Wohlfahrtssysteme im höheren Maße Rechenschaft zollt, verbindet sich mit einer Betrachtungsweise, die seit den 1990er Jahren einen immer größeren Stellenwert innerhalb der komparativen Wohlfahrtsstaatsforschung gewonnen hat. Sie wurzelt in der bereits erwähnten Arbeit Gøsta Esping-Andersens über die „drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“. In diesem „Markstein der komparativen Wohlfahrtsstaatsanalyse“119 emanzipiert sich der dänische Soziologe von der bis dato besonders bei den Verfechtern der Sozialdemokratie-These verbreiteten Auffassung, dass die in den diversen westlichen Ländern vorliegenden Arrangements jeweils unterschiedlichen Stadien einer einheitlichen Entwicklung entsprachen, deren Endpunkt der „Idealfall“ des schwedischen Beispiels darstellte. Er entwirft dabei eine Typologie wohlfahrtsstaatlicher Regime, die die Bedingtheit nationaler Sozialpolitik durch jeweils spezifische kulturelle, soziale und historische Faktoren unterstreicht. So gelingt es ihm, den „bislang dominierenden, auf der Gegenüberstellung divergierender Ausgabenniveaus beruhenden, ,wilden Komparatismusދ (Bourdieu) zu überwinden“.120 Voneinander abgegrenzt werden die Wohlfahrtsstaatstypen dabei auf der Grundlage von drei Strukturmerkmalen, deren erste beiden Esping-Andersen als Konsequenz aus der Gewährleistung sozialer Rechte im Sinne T. H. Marshalls begreift: die Dekommodifizierung bzw. das Ausmaß, in dem sozialpolitische Instrumente den Warencharakter der Arbeitskraft reduzieren und ein arbeitsmarktunab117 Vgl. Castles, Whatever Happened, S. 214215, der diese Praxis in Frage stellt. Seiner Auffassung nach lassen sich durchaus für kommunistische und manche kapitalistische Gesellschaften gemeinsame Charakteristika bemerken, die in anderen marktwirtschaftlich organisierten Systemen fehlen. Castles erklärt das ausgebliebene Interesse an der sozialistischen Sozialpolitik zudem mit dem fehlenden Datenmaterial. Eine Rolle habe darüber hinaus auch die Konzentration gerade der neo-marxistischen Wohlfahrtsstaatsforscher auf die Funktion der Arbeiterbewegung gespielt. Da die Maßnahmen der sozialen Sicherung hier als Instrumente zur Integration der Arbeiterklasse in das kapitalistische System verstanden wurden, habe man auf die dieser These zuwiderlaufende Existenz ähnlicher Strukturen in den Ländern des Ostblocks nicht eingehen wollen. 118 Hier ist Baldwin, The Welfare State, S. 696, beizupflichten, der solche Vorstellungen für mit geschichtswissenschaftlichen Erkenntnisinteressen unvereinbar erachtet: „[...] die gemeinsamen methodologischen Voraussetzungen, die diese sozialwissenschaftlichen Ansätze von der Art, in der Historiker [...] den Wohlfahrtsstaat studiert hätten, unterscheiden, sind Unilinearität, die Vernachlässigung der Kontextualisierung sowie der Eifer, bei der Suche nach Regelmäßigkeit über Partikularität hinwegzugehen.“ 119 Lessenich, Soziologische Erklärungsansätze, S. 59. 120 Lessenich Ostner, Welten, S. 10. Zitiert wird hier Bourdieu, Die Besonderheiten, S. 153.
Die Wohlfahrtsstaatlichkeit der UdSSR
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hängiges Dasein gestatten; die Stratifizierung, d. h. die jedem Regime eigene Art, mittels wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen soziale Unterschiede auszugleichen oder zu wiederholen; der public-private welfare-mix, also die jeweils typische Relation, in der Wohlfahrt von staatlichen und privaten Instanzen (Familie und Markt) erzeugt wird.121 Anhand dieser Kriterien differenziert Esping-Andersen drei – als Idealtypen begriffene – „Welten des Wohlfahrtskapitalismus“, denen sich die westlichen Wohlfahrtsstaaten zuordnen lassen. Das liberale Regime, dem die USA, Kanada und Australien angehören, ist dabei von niedriger Dekommodifizierung sowie einer hohen Bedeutung privater und marktförmiger Sicherungsmechanismen gekennzeichnet. Da es an die Eigenverantwortung der Bürger appelliert, werden staatliche Fürsorgeleistungen – in beschränktem Umfang – nur für Personen bereitgestellt, deren materielle Notlage erwiesen ist. Den konservativen Typus (z. B. Deutschland, Österreich und Frankreich) charakterisiert hingegen eine bescheidene Dekommodifizierung, da die Sozialleistungen an die Erwerbsbeteiligung gekoppelt sind. Statusdifferenzen werden im Kontext der Rentenversorgung durch die Relevanz der früheren Arbeitsstellung für die individuelle Zurechnung zu einem von verschiedenen Versorgungssystemen reproduziert. Gleichzeitig spielen Privatversicherungen nur eine untergeordnete Rolle. Das sozialdemokratische Regime schließlich findet sich etwa in Norwegen und Schweden. Zu seinen Merkmalen zählen die gleichberechtigte und umfassende Absicherung aller Bürger unabhängig von deren früherer Arbeitsleistung sowie ein starker Schutz vor Marktabhängigkeiten. Der welfare-mix ist hier von einer nachrangigen Rolle familiärer und privatwirtschaftlicher Sicherungsformen gekennzeichnet.122 Die umfangreiche und kritische Auseinandersetzung, die Esping-Andersens „Three Worlds“ innerhalb der Wohlfahrtsstaatsforschung erfahren haben, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht in ausreichender Weise behandelt werden.123 Von Interesse ist hier lediglich, dass die tatsächliche Verortung der westlichen Wohlfahrtsstaaten innerhalb der Trias ebenso zu einem Gegenstand der Diskussion geworden ist wie die Hervorbringung neuer Regimetypen, die die Besonderheiten einzelner Staaten vermeintlich besser berücksichtigen als die Originale. In der Konsequenz hat man eine Vielzahl „vierter“ bzw. „fünfter Welten“ in die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung eingeführt.124 121 Vgl. Esping-Andersen, The Three Worlds, S. 21. 122 Vgl. ebd., S. 2629. 123 Erwähnt sei hier z. B. Kasza, The Illusion, S. 283284, der den mit dem Regime-Begriff verbundenen Gedanken für irreführend hält, dass die Sozialpolitik einzelner Staaten von einem „kohärenten praktischen und/oder normativen Verständnis öffentlicher Wohlfahrt“ zeuge. In Frage gestellt wird ebenfalls, dass die Typologie den komplexen Ursachen und Bedingungen der langfristigen Entstehung von unterschiedlichen wohlfahrtsstaatlichen Varianten gerecht wird. Schließlich operiere Esping-Andersen de facto mit Hilfe von „Querschnittsanalysen mit einem beschränkten Zeithorizont“. Schmid, Wohlfahrtsstaaten, S. 109. Vgl. auch Kohl, Der Wohlfahrtsstaat, S. 79; Tomka, Welfare, S. 1819. Allgemein zur Kritik an Esping-Andersens Drei-Welten-Typologie vgl. auch Offe, Zur Typologie; Toft, Jenseits der Dreiweltendiskussion. 124 So wurden die „drei Welten“ beispielsweise um das Modell des rudimentären Wohlfahrtsstaates ergänzt, das südeuropäische Länder wie Griechenland, Portugal und Spanien umfasst.
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Schlussteil
Die Klassifizierungsarbeit macht auch vor dem Beispiel der sozialistischen Staaten Osteuropas nicht halt. Mit den Esping-Andersenschen Strukturmerkmalen als Ausgangspunkt charakterisiert so etwa Zsuzsa Ferge die dort umgesetzten Maßnahmen zur sozialen Sicherung der Bürger. Sie bemerkt zwar eine Ähnlichkeit der institutionellen Lösungen mit dem sozialdemokratischen Regimetypus; diese seien jedoch nur formaler Natur: Dem Sozialsystem mangele es an Autonomie, und den Bürgern blieben – aufgrund des Fehlens bürgerlicher und politischer Freiheiten – soziale Rechte verwehrt.125 Auch Linda J. Cook stellt fest, dass sich die osteuropäischen Fälle keinem der drei Typen zuordnen lassen. Die „kommunistischen Wohlfahrtsstaaten“ würden aufgrund der von ihnen gewährleisteten universalistischen Versorgung der Bevölkerung mit Sozialleistungen dem sozialdemokratischen, aufgrund ihrer statuserhaltenden Wirkung jedoch auch dem konservativen Modell gleichen.126 In Anbetracht der fehlenden Vereinbarkeit sozialistischer Sozialpolitik mit einer der drei Idealformen unterbreitet Ulrike Götting ebenfalls einen Vorschlag zur Erweiterung der Trias, der dem osteuropäischen Phänomen gerecht werden soll. Diese „vierte Welt“ bezeichnet die Soziologin als staatspaternalistischen Regimetypus. Ihn kennzeichne, dass die erreichte Dekommodifizierung aufgrund der „Einlagerung sozialpolitischer Funktionen direkt in das Beschäftigungssystem [eine totale Qualität besitzt], was zu einer – idealiter: vollständigen – Suspendierung des Marktmechanismus führt“. Die für das Modell charakteristische Stratifizierung beschreibt Götting als „autoritäre Beschränkung der sozialen Sicherung auf die Gemeinschaft der ,Werktätigen“ދ. Und der welfare mix stelle de facto keine Mischform dar, da in den sozialistischen Ländern ein „allumfassende[r] Versorgungsanspruch des Staates [vorliege], der nur ,notgedrungen ދandere Strategien der Existenzsicherung toleriert“.127 Göttings Regimetypus besitzt selbst dann, wenn man sich tatsächlich um die Kennzeichnung einer „sozialistischen Welt“ bemüht, lediglich einen geringen Wert für eine Annäherung an das sowjetische Wohlfahrtssystem: Esping-Andersens Strukturmerkmale werden von der Autorin fehlerhaft übertragen. So lässt sich sicherlich feststellen, dass die in der UdSSR erreichte Überwindung – oder starke Verringerung der Arbeitslosigkeit – zu einer im Vergleich zu westlichen
Vgl. Leibfried, Sozialstaat; Ferrera, The Southern Model. Und für die ebenfalls als Sonderfall begriffenen Beispiele Australiens und Neuseelands führte man den Typus des radikalen Wohlfahrtsstaats ein. Vgl. Castles Mitchell, Worlds. Kwǂn, Beyond European Welfare Regimes, hat sich wiederum für die Berücksichtigung der Sicherungssysteme Japans und Koreas ausgesprochen und in Bezug auf diese Länder ein eigenes ostasiatisches Modell identifiziert. Vgl. hierzu auch Lee Ku, East Asian Welfare Regimes. Schließlich erstreckt sich die Konstruktion neuer Regimeformen nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme des Ostblocks auch auf deren Nachfolgestaaten, für die bis zu drei eigene „Welten“ konzipiert worden sind. Vgl. etwa Fenger, Welfare Regimes, S. 2425. 125 Vgl. Ferge, Social Policy Regimes, S. 206207, die sich dabei auf die Situation Ende der 1980er Jahre bezieht. 126 Vgl. Cook, Postcommunist Welfare States, S. 9. 127 Götting, Transformation, S. 83.
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Gesellschaften höheren Dekommodifizierung führte.128 Von einer absoluten Unabhängigkeit der Lebenssituation des Einzelnen von der „Vermarktung“ seiner Arbeitskraft kann deshalb jedoch nicht gesprochen werden. Auch wenn die Arbeitskraft gemäß der herrschenden Ideologie im Sozialismus keinen Warencharakter besaß, so wurde sie doch de facto gegen Lohn oder Gehalt eingetauscht. Der „Pflicht zur Arbeit“ konnte sich ein Bürger nur schwer vollständig entziehen, wenn er seine Existenz nicht gefährden wollte. Und gerade der Lebensstandard der älteren Menschen hing im hohen Maße von der früheren Erwerbstätigkeit ab. Sowohl die staatlichen als auch die Kolchosaltersrenten leiteten sich ja in ihrer Höhe aus der früheren Vergütung und der Lebensarbeitszeit ab.129 Wer wenig verdient hatte, erhielt niedrige, wer zu wenig gearbeitet hatte, sogar überhaupt keine Leistungen. Geringe Überzeugungskraft besitzt ebenfalls Göttings Beschreibung der Auswirkungen des Sozialsystems auf die Stratifizierung der Gesellschaft. Der Hinweis auf die „Inklusion der Werktätigen“130 sagt selbst nichts über die beträchtlichen Strukturierungseffekte beispielsweise der allgemeinen Altersrentenversorgung aus. Dass hier trotz der hervorgerufenen Nivellierung der Einkommen älterer Bürger nicht simplifizierend von einer Gleichschaltung der Leistungsbezieher gesprochen werden kann, ist bereits an der erwähnten Bildung von Anspruchsgemeinschaften und Versorgungsklassen zu erkennen. Gerade im Zusammenhang mit den Letztgenannten ist ferner auf die erwähnte, dem konservativen Regimetypus vergleichbare Konservierung von Statusdifferenzen infolge der Sonderbehandlung einzelner Berufs- und Bevölkerungsgruppen zu verweisen. Die Bewahrung spezieller Begünstigungen oder Benachteiligungen über die Zäsur der Verrentung hinweg erfolgte dabei nicht nur über die Vorzugsaltersrenten oder die Kolchosruhestandsgelder. Ihr dienten auch Instrumente wie die persönlichen Renten und Offiziersrenten, die nicht selten gerade solchen Personen erteilt wurden, die bereits während der Erwerbstätigkeit Privilegien genossen hatten. Zu widersprechen ist schließlich ebenfalls der Göttingschen Darstellung des staatspaternalistischen welfare mix. Orientierte man sich vorrangig an der Sozialpropaganda der politischen Führung, ließe sich für die UdSSR tatsächlich von einem Alleinvertretungsanspruch sprechen, den der Staat in Bezug auf die soziale Sicherheit seiner Bürger hegte. Auch könnte die 1961 einsetzende Kampagne gegen die Rentnerräte, die auf lokaler Ebene soziale Funktionen übernommen und dabei mitunter zu viel Eigen-Sinn gezeigt hatten, vielleicht sogar als ein Beleg für 128 Siehe hierzu auch Haggard Kaufman, Development, S. 6970: „Die Arbeit war in dem Sinne ,dekommodifiziertދ, als dass administrative Entscheidungen Stellenvermittlungen und Löhne bestimmten und Arbeiter primär als Instrumente im sozialistischen Planungsprozess wahrgenommen wurden.“ Vgl. auch De Deken, Social Policy, S. 138. 129 Vgl. Pfeifer, Neue Wege, S. 3536. In diesem Sinne äußert sich ebenfalls Kaufmann, Varianten, S. 79: „Auch wenn die Abhängigkeit von den marktgesteuerten kapitalistischen Verwertungsbedingungen aufgehoben wurde, so waren die Zwänge, denen die Bevölkerung sich um ihres Lebensunterhaltes willen unterwerfen musste, nicht geringer und nicht weniger selektiv.“ 130 Götting, Transformation, S. 84.
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eine solche Haltung dienen. In der Praxis wurde dieser Anspruch jedoch nicht verwirklicht, wies das Sicherungssystem in seiner Gesamtheit doch unzweifelhaft pluralistische Züge auf. Eine wichtige Aufgabe bei der Sicherung des Lebensstandards der arbeitsunfähigen Menschen übernahm dabei nicht nur die von Götting erwähnte – und in ihrem Umfang schwer zu greifende – informelle Ökonomie. Andere, die staatlichen Maßnahmen ergänzenden Unterstützungsmodi besaßen durchaus legalen Charakter. Zu verweisen ist dergestalt auf die trotz aller Defizite bedeutsame – und vor der Reform vom 15. Juli 1964 zentrale – Funktion der kolchosinternen Sozialversorgung im Bereich der Existenzsicherung älterer Artelmitglieder. Die Kassen für die gegenseitige Hilfe, denen in diesem Zusammenhang eine hohe Relevanz zukam, waren zudem ein Phänomen, von dem auch nach 1956 noch Rentner aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten profitieren konnten.131 Weitere nichtstaatliche Eckpfeiler des welfare mix stellten einerseits die Erträge aus der privaten Bewirtschaftung eines Hofgrundstücks oder Gartens dar, andererseits die Unterstützungen, die ein Hilfsbedürftiger günstigenfalls von Familienangehörigen erwarten konnte. Dass der Staat solche Zusatzeinkünfte nicht nur „notgedrungen“ tolerierte, sondern faktisch sogar mit ihnen kalkulierte, wird schon anhand der Tatsache deutlich, dass die Höhe der staatlichen Mindest- und Teilrenten sowie vor allem auch jene der Kolchosrenten deutlich unterhalb des Existenzminimums angesiedelt waren. Alternative Einkommensquellen, die diese Basisbeträge ergänzten und somit ein Auskommen erst ermöglichten, wurden hier regelrecht vorausgesetzt. Besonders offen tritt der Beitrag, den die Familien – und andere private Unterhaltsquellen – aus offizieller Perspektive zur sozialen Absicherung der Sowjetbürger leisten sollten, im Kontext der monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte zutage: Der Gesetzgeber war, wie gesehen, nur unter einer Bedingung bereit, sich an dem Fürsorgeprinzip zu orientieren und die überaus bescheidenen Leistungen zu erteilen: Die Bedürftigen mussten nachweisen können, dass sie weder von verwandtschaftlicher Seite noch auf anderem Wege existenzsichernde Mittel zu erhalten vermochten. Göttings Regimevorschlag soll an dieser Stelle keine eigene Version entgegengesetzt werden, die den Ländern des sozialistischen Ostblocks möglicherweise besser gerecht würde. Hierfür fehlt die nötige, über das Beispiel der UdSSR hinausreichende Materialbasis. Zudem ist noch einmal daran zu erinnern, dass sich Gøsta Esping-Andersens Wohlfahrtsstaatsverständnis explizit nicht auf die Planwirtschaften der sowjetischen Einflusszone bezieht. Eine Typeneinteilung, die die Vielfalt ausdrücklich wohlfahrtskapitalistischer Welten zu ordnen versucht, lässt sich demzufolge nicht um ein sozialistisches Regime ergänzen, wenn man der ursprünglichen Intention des Sozialwissenschaftlers nicht klar zuwiderhandeln möch-
131 Am 1. Januar 1968 registrierte die Zentralverwaltung für Statistik der UdSSR noch insgesamt 1.821 Kassen (sowohl KOVK als auch die speziell für Arbeiter und Angestellte eingerichteten kassy vzaimopomošþi pensionerov) mit immerhin 647.273 Mitgliedern. Vgl. RGAƠ, F. 1562, op. 45, d. 5961, l. 1 ob.
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te.132 Schließlich ist aber auch generell an der Zweckmäßigkeit einer abermaligen Erweiterung von Esping-Andersens Typologie zu zweifeln, die bereits durch die erwähnte Einführung einer Vielzahl von „vierten Welten“ relativiert worden ist. Auf den Punkt bringt diese Skepsis Peter M. Baldwin: „Die zunehmende Ausdifferenzierung von Wohlfahrtsstaatstypen läuft darauf hinaus, dass die Anzahl von Kategorien, die auf Europa bezogen werden, und die Anzahl europäischer Staaten sich tendenziell angleichen. [...] Der Trend der Sozialpolitikforschung ist in eine nominalistische Richtung gegangen, die jeden Fall partikularisiert, die alten übergreifenden Kategorien verhackstückt und die Existenz des einen Modells des Europäischen Wohlfahrtsstaats generell leugnet. Je mehr Nationen von der Wohlfahrtsstaatsforschung berücksichtigt wurden, desto stärker wurde der Druck, zusätzliche Typen zu unterscheiden – bis zu dem Punkt, an dem jegliche Typologie ihren Sinn verliert.“133
Eine Kategorisierung, die bereits in Bezug auf den engen Kreis europäischer Wohlfahrtsstaaten umstritten ist, besäße auch nach einer die sozialistischen Sozialsysteme Osteuropas berücksichtigenden Anpassung nur einen anfechtbaren Aussagewert. Baldwin selbst bietet eine Alternative zu „diesem anachronistischen Drang zum Typisieren, den damit verbundenen Vorstellungen von Idealtyp und Wesen, der Obsession für Rankings und Hierarchien und der reduktionistischen Monokausalität und Unilinearität“,134 die auch für eine komparative Berücksichtigung sowjetischer Sozialpolitik geeignet erscheint. Er plädiert für eine Ausrichtung an Überlegungen Ludwig Wittgensteins,135 der sich nicht vom „platonischen Verständnis der Kategorisierung nach Wesensbestimmungen“ habe leiten lassen,
132 Esping-Andersens Konzentration auf marktwirtschaftliche Verhältnisse verdeutlicht auch Alber, Soziale Dienstleistungen, S. 279, dem zufolge „im Vordergrund aller Analysen [Esping-Andersens und seiner Vorläufer; L. M.] nach wie vor [...] der Aufgriff des Klassenkonflikts in den beiden Verteilungssphären ,Markt ދund ,Staat “ދsteht. 133 Baldwin, Der europäische Wohlfahrtsstaat, S. 5859 [Hervorhebung i. Orig.]. Der Autor hegt generell wenig Respekt vor der Klassifizierungsarbeit, sei doch „die Bildung von Typologien, obzwar eine unabdingbare Vorbedingung höherer geistiger Anstrengungen, wohl die niedrigste Form intellektuellen Strebens und die Domäne von Erbsenzählern und Buchhaltern“. Ebd., S. 45. 134 Ebd., S. 59. 135 Baldwin bezieht sich hier auf Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, S. 5667, der seinen Gedanken am Beispiel der Spiele verdeutlicht: „66. Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir ,Spiele ދnennen. [...] wenn Du sie anschaust, wirst Du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber Du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. [...] Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfaltigen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. [...] Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen, Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. [...] Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. 67. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ,Familienähnlichkeiten ދGHQQ VR übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. – Und ich werde Sagen: die ,Spiele ދbilden eine Familie.“
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sondern stattdessen das Augenmerk auf familiäre Ähnlichkeiten zwischen den Gegenständen der Betrachtung gerichtet habe. „Er [Wittgenstein; L. M.] zog eine Analogie zu interfamiliären Beziehungen. Hier bringt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe Nähe im Sinne von Ähnlichkeit mit sich; Geschwister und Cousins haben mehr gemeinsam als Fremde. Und dennoch, so argumentiert er, gibt es kein geschichtsloses, zeitloses Wesen der Jensenheit, an dem alle Jensens teilhaben, das sie definiert und aufgrund dessen sie sich ein für alle Mal von den Olsens unterscheiden [...]. Der Rückgriff auf familiäre Ähnlichkeit anstelle essentialistischer Kategorisierung würde es uns erlauben, Muster von Abstammung und Zugehörigkeit, Ähnlichkeit und Divergenz zu verfolgen, ohne ahistorische, rein theoretische platonische Formen zu postulieren, die von der Wirklichkeit in der Höhle widergespiegelt werden.“136
Ein solcher Ansatz eignet sich nicht nur für die von Baldwin anvisierte Untersuchung westeuropäischer „Wohlfahrtsstaaten“, sondern auch für eine Integration der Sozialsysteme der Ostblockstaaten in die vergleichende Analyse. So ist zweifelsohne davon abzusehen, die in der UdSSR, der DDR, Polen etc. gefundenen institutionellen Lösungen mit einem eigenen Regimetypus zu identifizieren oder gar unter dem Etikett des „sozialistischen Wohlfahrtsstaates“ zusammenzufassen. Auf diesem Wege würden die strukturellen Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Mitgliedern der sowjetischen Einflusszone missachtet. Für die Differenzen in der Art und Weise, in der man in der UdSSR und den anderen osteuropäischen „Volksdemokratien“ Sozialpolitik betrieb, sind u. a. die sich aus den in vorsozialistischer Zeit gefundenen Lösungen ergebenden Pfadabhängigkeiten verantwortlich zu machen. Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass etwa in der DDR keine grundlegende Sowjetisierung der sozialpolitischen Institutionen stattgefunden habe. So habe z. B. die dortige Alterssicherung Züge der Bismarckschen Sozialgesetzgebung bewahrt, da sie zumindest partiell vom Versicherungsprinzip geleitet wurde: Zur Rentenfinanzierung wurde weiterhin auf – allerdings durch staatliche Subventionen aufgestockte – Versichertenbeiträge zurückgegriffen.137 Ähnliche Kontinuitätslinien zum Status quo ante kennzeichneten auch die Situation in anderen Ländern des Ostblocks. Das „Bismarcksche „Erbe“ prägte so z. B. ebenfalls die Sozialversicherungen Ungarns und der ýSSR.138 Und in Polen setzte die für die soziale Sicherung zuständige und bereits 1934 gegründete „Anstalt der Sozialversicherungsgemeinschaft“ unter den
136 Baldwin, Der europäische Wohlfahrtsstaat, S. 59. 137 Zu den die Bismarcksche Sozialgesetzgebung und die DDR-Sozialpolitik verbindenden Kontinuitätslinien vgl. Conrad, Alterssicherung, S. 105; Lohmann, Sozialistisches Sozialrecht, S. 281; Hockerts, Einführung, S. 9; Manow-Borgwardt, Die Sozialversicherung, S. 42 43. Auch für Boldorf, Die Sozialstaatlichkeit, S. 493, belegt der Umstand, dass man die Kosten der Rentenversorgung nicht vollständig auf die Betriebe umlegte, „dass es im Sozialrecht nicht zu einer Sowjetisierung kommen konnte, weil die Hegemonialmacht des Ostblocks keine auf die DDR übertragbaren Konzepte bereitstellte“. 138 Vgl. Offe, The Politics, S. 651; Cerami, The Politics, S. 237. Vgl. auch Therborn, Die Gesellschaften, S. 107. Zu den Unterschieden in der Form und dem Inhalt der Sozialpolitik sozialistischer Staaten siehe ebenfalls Minkoff Turgeon, Income Maintenance; Scharf, Correlates; Inglot, Welfare States, S. 307308.
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neuen kommunistischen Machthabern ihre Tätigkeit fort.139 Es sind Pfadabhängigkeiten dieser Art, die die auch zwischen plan- und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften zu beobachtenden Parallelen im Bereich der sozialen Sicherung erklären helfen. Von „familiären Ähnlichkeiten“ zwischen den sozialistischen Sozialsystemen mag allerdings auch im Bewusstsein um solche Heterogenität gesprochen werden. Zu den Gemeinsamkeiten, die die Sozialpolitik etwa der UdSSR und der DDR kennzeichneten, zählten sicherlich die Arbeitsplatzgarantie und ihre hohe Bedeutung für den Lebensstandard der Bürger sowie die wichtige Rolle, die den Betrieben und Gewerkschaften bei der Verwaltung und Gewährung von Sozial- und Dienstleistungen zukam. Ebenso zu erwähnen ist die für die sozialistischen Staaten typische enge Verzahnung von Sozial- und Wirtschaftspolitik. So lässt sich das für die DDR-Sozialpolitik geprägte Konzept der „produktiven Fürsorge“ mit seinen Konsequenzen, also etwa der Tatsache, dass arbeitsunfähige Bürger in geringerem Maße von staatlicher Unterstützung profitierten als Arbeitsfähige, ebenfalls auf den sowjetischen Fall übertragen.140 Und wenn Helga Ulbricht in ihrer 1965 veröffentlichten Habilitationsschrift betonte, dass sich das Niveau der sozialen Sicherheit aus „dem jeweiligen Stand der Produktivkräfte“ ableiten solle,141 dann handelte es sich de facto um wenig mehr als ein Echo auf Formulierungen, die auch den sowjetischen Rentendiskurs begleiteten.142 Offenkundige Gemeinsamkeiten liegen zudem bei der Politikpräsentation vor, die von der offiziellen Betonung der paternalistischen Reziprozität im Verhältnis von Regime und Bevölkerung gekennzeichnet war.143 139 Vgl. Müller, The Political Economy, S. 94. 140 So begründet beispielsweise Aþarkan, Gosudarstvennye pensii, S. 138, den Grundsatz, dass die Mindestrenten nicht an das Niveau der Mindestlöhne und -gehälter heranreichen sollten, folgendermaßen: „Die Resultate der Steigerung der Arbeitsproduktivität sollen sich vor allem auf den Lebensstandard der Arbeitenden auswirken.“ Als Beleg für die Zurückstellung der Arbeitsunfähigen ist auch der bereits erwähnte Umstand zu werten, dass sowjetische Rentner deutlich weniger von den vorhandenen Kur- und sanatorischen Angeboten oder den auf dem Gebiet des Wohnungsbaus erzielten Fortschritten profitierten als die noch arbeitende Bevölkerung. Zur Bedeutung des Konzepts der produktiven Fürsorge für die DDR-Sozialpolitik vgl. Boldorf, Sozialfürsorge, S. 188190; ders., Die Sozialstaatlichkeit, S. 493; Hoffmann Schwartz, Einleitung, S. 4; Willing, Sozialistische Wohlfahrt, S. 67. Geprägt wurde Begriff, mit dem im engeren Sinne die Priorität der Arbeitsvermittlung an alle arbeitsfähigen Menschen verbunden wurde, von Zumpe, Die Sozialfürsorge. 141 Ulbricht, Aufgaben, S. 17, zit. bei: Mitzscherling, Soziale Sicherung, S. 18. 142 Hier ist etwa an die Präambel des Kolchosrentengesetzes zu erinnern: „Die im vorliegenden Gesetz vorgesehenen Rentenhöhen werden in Zukunft, gemäß dem Wachstum des Nationaleinkommens und insbesondere der Kolchoseinkünfte [...], angehoben werden.“ 143 Zur Bedeutung, die der Betonung der „väterlichen Sorge“ des DDR-Regimes um das Wohl der Bevölkerung im Rahmen der sozialpolitischen Propaganda zukam vgl. etwa Boyer, Die Sozial- und Konsumpolitik, S. 4445; Meyer, Sozialistischer Paternalismus, S. 435437. Allgemein zu den Spezifika „sozialistischer Sozialpolitik“ vgl. Deacon, Social Policy and Socialism, S. 1442; Schönfelder, Sozialpolitik, S. 203204. Zum Merkmal der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik vgl. Vobruba, Legitimationsprobleme, S. 3840; Kolarska-Bobinska, Socialist Welfare State, S. 63; Meuschel, Legitimation, S. 225226.
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Gleichzeitig lässt sich jedoch mit Wittgenstein betonen, dass familiäre Ähnlichkeiten zwischen den sozialistischen und den westlichen Ländern auch unabhängig von den zuvor erwähnten Pfadabhängigkeiten bestanden. Hier ist etwa allgemein auf das reine Faktum der Absicherung großer Bevölkerungsteile gegen – sieht man von der im Ostblock „überwundenen“ Arbeitslosigkeit einmal ab – weitgehend identische soziale Risiken (Invalidität, Krankheit, Unfall und fortgeschrittenes Alter) hinzuweisen. Parallelen finden sich des Weiteren im Hinblick auf die Finanzierung der Alterssicherung, bei der man sich in den 1960er und 1970er Jahren sowohl in der UdSSR als auch in Staaten wie Neuseeland oder Australien144 fast ausschließlich vom Versorgungsprinzip leiten ließ: Die anfallenden Kosten wurden nicht über Versichertenbeiträge der Bevölkerung beglichen. Systemübergreifende Gemeinsamkeiten lassen sich ebenso bezüglich der Funktionen konstatieren, die der staatlichen Sozial- bzw. Rentenpolitik zukamen. Nicht wenige Wirkungsaspekte, die gemeinhin als Ergebnisse wohlfahrtsstaatlicher Intervention wahrgenommen werden, können auch am sowjetischen Beispiel nachvollzogen werden. Anzuführen ist dabei etwa der Umstand, dass die vom Staat zur Verfügung gestellten Sozialleistungen hier wie dort im Kern der Überwindung bzw. Vermeidung von Armut in der Bevölkerung dienen. Vor diesem Hintergrund scheint die Unterscheidung zwischen einer Sozialpolitik, die auf negative Folgewirkungen einer Wirtschaftsform reagiert, und einem System, das den Anspruch erhebt, eine solche gar nicht nötig zu haben, da es seinem ganzen Wesen gemäß „sozial“ ist, oberflächlich und inhaltsleer. Gleichzeitig dienten die Maßnahmen hier wie dort der Regeneration des für die Sicherung der Produktion notwendigen Humankapitals.145 Auch die ökonomische Funktion der Sozialpolitik, die die „Arbeitsbereitschaft [fördert] und [...] damit zur Steigerung der Arbeitsproduktivität bei[trägt]“,146 sollte nicht als ein Alleinstellungsmerkmal kapitalistischer Programme wahrgenommen werden: Wie gesehen, waren die Rentenreformen von 1956 und 1964 nicht zuletzt auf die Intention zurückzuführen, durch das Setzen von materiellen Anreizen eine Steigerung der volkswirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der UdSSR zu erreichen. Drittens schließlich ist der offensichtliche Wunsch der nachstalinschen Führung um N. S. Chrušþev, die eigene Herrschaft 144 Vgl. Holzmann, Internationaler Vergleich, S. 158. 145 Allgemein zu dieser Funktion wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung vgl. z. B. Geisen, Sozialstaat, S. 3234; Mau, Wohlfahrtsregimes, S. 346. Auf die Bedeutung, die dem Erhalt der Arbeitskraft im Kontext sowjetischer Sozialpolitik zukam, verweist u. a. Brežnev, Otþetnyj doklad XXIV s-ezdu, S. 51: „Die Partei geht ebenfalls davon aus, dass die Steigerung des Wohlstandes der Werktätigen zu einer immer dringenderen Notwendigkeit unserer wirtschaftlichen Entwicklung selbst, zu einer der wichtigen ökonomischen Voraussetzungen für ein schnelles Produktionswachstum wird. Ein solcher Standpunkt ergibt sich nicht nur aus unserer Linie, die eine weitere Stärkung der Rolle materieller und moralischer Arbeitsanreize vorsieht. Die Frage hat einen deutlich umfassenderen Charakter: Es geht um die Schaffung der Bedingungen für eine allseitige Entwicklung der Fähigkeiten und schöpferischen Tätigkeit der Sowjetmenschen, aller Werktätigen, d. h. um die Entwicklung der Hauptproduktivkraft der Gesellschaft.“ Vgl. hierzu auch Beyme, Soviet Social Policy, S. 78. 146 Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, S. 254. Zur Förderung wirtschaftlicher Effizienz durch sozialpolitisches Engagement vgl. auch Goodin u. a., The Real Worlds, S. 2426.
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mit Hilfe sozialer Reformtätigkeit zu legitimieren, als ein Bedürfnis zu bewerten, dem auch im Kontext westlicher Wohlfahrtsstaatlichkeit eine Relevanz zugeschrieben wird: Die Stabilisierung der politischen Verhältnisse und Sicherung des sozialen Friedens werden von nicht wenigen Autoren als wichtige Funktionen der staatlichen Sozialpolitik beschrieben. Für Gerhard A. Ritters Definition des Sozialstaates ist die Legitimationsfunktion sogar von zentraler Bedeutung. Er stellt fest, dass „in West- und Mitteleuropa [...] seit dem Zweiten Weltkrieg die ältere macht- und nationalstaatliche Legitimierung politischer Herrschaft weitgehend durch eine sozialstaatliche abgelöst worden“ ist.147 Ein solcher Befund lässt sich – mit gewissen Abstrichen – ebenfalls auf das Beispiel der nachstalinschen Sowjetunion übertragen. Nachzureichen ist nun eine Antwort auf die Frage, ob die UdSSR des Bearbeitungszeitraums als „Wohlfahrtsstaat“ betrachtet werden kann. Orientierte man sich an den beschriebenen normativen Voraussetzungen, die mit diesem Wort oft assoziiert werden, müsste seine Übertragung auf die Sowjetunion, wie erwähnt, ausgeschlossen werden. Sicherlich ist zu bemerken, dass das für die Beschreibung von Wohlfahrtsstaatlichkeit oft angeführte Merkmal einer „Modifizierung der Marktkräfte durch sozio-ökonomische Interventionen des Staates auch auf [...] die Wohlfahrtspolitik sozialistischer Staaten mit zentraler Planwirtschaft zutrifft“;148 die Unterschiede zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung sind deshalb freilich allerdings noch nicht aufgehoben. Ebenso existierten politische und bürgerliche Freiheitsrechte in der Sowjetunion nicht oder nur in überaus eingeschränktem Umfang. Da beide jedoch von T. H. Marshall als Voraussetzungen für die Existenz der dritten Rechtsform angenommen werden, kann dieser Logik gemäß auch der Anspruch sowjetischer Bürger auf staatliche Sozialleistungen nicht als ein „soziales Recht“ qualifiziert werden. Aber selbst dann, wenn man die Vorstellung einer linearen Abfolge der drei Rechtsformen ablehnt,149 muss der im Kontext der 147 Ritter, Der Sozialstaat, S. 4. Zur sozialpolitischen Legitimationsfunktion vgl. auch Kaufmann, Sozialpolitik und Sozialstaat, S. 254; Bäcker u. a., Sozialpolitik, S. 49; Lessenich, Soziologische Erklärungsansätze, S. 63; Narr Offe, Einleitung, S. 2737. Mit besonderer Deutlichkeit treten die diesbezüglichen Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West zutage, wenn man die Aufmerksamkeit auf die Entstehung der Sozialsysteme marktwirtschaftlich orientierter Gesellschaften richtet. Die in dieser Frühphase oft autoritär „von oben“ durchgesetzten Maßnahmen dienten im hohen Maße der Absicherung der Machtverhältnisse und der Schwächung der Arbeiterbewegung des jeweiligen Landes. Freilich handelte es sich bei dem Deutschen Reich unter Bismarck oder dem Italien unter Giovanni Giolotti nicht um Wohlfahrtsstaaten in einem Sinne, der diesen Begriff an das Vorhandensein weitreichender politischer und bürgerlicher Freiheitsrechte knüpft. Zu den günstigen Voraussetzungen, die gerade autoritäre Systeme für die sozialgesetzgeberische Tätigkeit bieten, vgl. Alber Schölkopf, Art. Sozialstaat/Wohlfahrtsstaat, S. 708; Beyme, Soviet Social Policy, S. 78. 148 Ritter, Der Sozialstaat, S. 10. 149 Dieser Gedanke ist wiederholt kritisiert worden. So bemerkt etwa Habermas, Faktizität, S. 104, dass sich das „Bild eines linearen Fortschritts [...] einer Beschreibung [verdankt], die gegenüber Zuwächsen und Verlusten an Autonomie neutral bleibt. Sie ist blind gegenüber der tatsächlichen Nutzung eines aktiven Staatsbürgerstatus, über den der Einzelne auf die demokratische Veränderung seines Status einwirken kann. Nur die politischen Teilnahme-
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sozialen Sicherung gewährleistete Rechtsstatus nur als unzureichend geschützt gelten. Am Beispiel der allgemeinen Altersrentenversorgung wird dieser Sachverhalt offensichtlich: Die nicht vorhandene Verwaltungsgerichtsbarkeit sorgte dafür, dass Personen, denen etwa eine zu niedrige Ruhestandsleistung zuerkannt worden war, über keine effektiven Rechtsmittel verfügten, um einen Einspruch gegen den ihren Rentenentscheid durchzusetzen.150 Staatliche Sozialpolitik erfüllte in den westlichen und Ostblockstaaten der Nachkriegszeit überaus ähnliche Funktionen; zudem wurde ihren Zielen – gemessen an dem Umfang der Sozialausgaben – in beiden Sphären seitens der politischen Führungen eine zentrale Priorität beigemessen. In Anbetracht dieser Tatsachen scheint die Ausklammerung der osteuropäischen Beispiele aus der komparativen Wohlfahrtsstaatsforschung ungerechtfertigt. Um die Staaten der sowjetischen Einflusszone jedoch in die vergleichende Betrachtung zu integrieren, ist es erforderlich, mit einem Wohlfahrtsstaatsbegriff zu arbeiten, der sich von den genannten Prämissen löst. Ein solches Vorgehen erscheint möglich, weil sich der Gebrauch des Ausdrucks erwähntermaßen durch eine beträchtliche Unschärfe auszeichnet und die mit ihm verknüpften Annahmen zwar von vielen Autoren geteilt werden, jedoch keineswegs auf einem allgemeinen Konsens beruhen. Die an dieser Stelle verwendete Definition betrifft – um Wincotts Unterscheidung noch einmal aufzugreifen – die Ontologie, das Wesen des Wohlfahrtsstaates. Dabei wird der Begriff hier in einem weit gefassten Sinne verwendet und beinhaltet im Wesentlichen zwei Voraussetzungen. Zum einen wird auf die in ihrer Qualität neuartige Haltung rekurriert, die die Regierungen industrialisierter oder sich industrialisierender Staaten ab dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und rechte begründen ja die reflexive, auf sich selbst bezügliche Rechtsstellung eines Staatsbürgers. Die negativen Freiheitsrechte und die sozialen Teilhaberechte können hingegen paternalistisch verliehen werden. Rechtsstaat und Sozialstaat sind im Prinzip auch ohne Demokratie möglich.“ Gegen die Vorstellung eines linearen Aufeinanderfolgens von politischen, bürgerlichen und sozialen Rechten spricht sich ebenfalls Reisman, Democracy, S. 198, aus, der auf gegenteilige Beispiele verweist: „Bismarck setzte auf soziale Rechte, um die Forderungen nach politischer Demokratie zu ersticken. Die Amerikaner verließen sich auf die Wohltätigkeit, um die Armut zu lindern, und sahen keine Notwendigkeit für eine klassenlose Gesellschaft. Die Sowjetunion garantierte einen Wohlfahrtsstaat, bot jedoch nur wenige bürgerliche oder politische Freiheiten.“ Zur Kritik an T. H. Marshalls citizenship-Konzept vgl. auch Ganßmann, Sind soziale Rechte. 150 Man mag deshalb mit Kaufmann, Varianten, S. 80, konstatieren, dass „das sowjetische System subjektive (bürgerliche, politische und soziale) Rechte für jedermann nicht gewährleistete“. Vgl. hierzu auch Offe, Der Tunnel, S. 115116. Für viele Sowjetbürger – und mit Sicherheit die Mitglieder der Anspruchsgemeinschaften – bedeutete das Fehlen von Rechtssicherheit jedoch nicht im Umkehrschluss, dass sie sich „als Empfänger von Wohltätigkeit oder altruistischer Hilfe, die Dankbarkeit oder Unterordnung nach sich zieht“ (So beschreiben Lessenich Mau, Reziprozität, S. 259, die Bezieher von Sozialleistungen, die nicht aus sozialen Rechten entspringen.) wahrnahmen. Qualifikatorische Reziprozitätserwartungen und eine offizielle Propaganda, die Leistungsansprüche als Ausdruck des konstitutionell verbrieften Rechtes auf materielle Versorgung kommunizierten, erzeugten ein Selbstbewusstsein, das den Überzeugungen der Nutznießer westlicher Sozialsysteme höchstwahrscheinlich vergleichbar war.
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insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber ihren Bevölkerungen an den Tag legten. Zum anderen impliziert das Konzept, dass den Einwohnern eines Landes ein bestimmtes Niveau der staatlichen Versorgung zuteilwird. Unter der für den Wohlfahrtsstaat kennzeichnenden „Haltung“ ist vor allem jene öffentliche Übernahme von Verantwortung für das Wohlbefinden der Bevölkerung zu verstehen, auf die bereits Girvetz hinweist. Wo früher Alte, Invaliden und andere Hilfsbedürftige sich selbst oder Wohltätigkeitseinrichtungen überlassen waren oder man sie im Kontext einer restriktiven Armengesetzgebung als Bürger zweiter Klasse marginalisierte, erteilt man nun staatliche Unterstützung als Resultat eines legitimen Rechtsanspruchs. Dieser mag sich aus individuellen Vorleistungen, dem Bürgerstatus oder anderen Umständen ableiten. In jedem Fall aber sind die Sozialleistungen auf eine veränderte Prioritätensetzung des Staates zurückzuführen. Seine Vertreter führen die Notlage der Bürger nicht mehr auf ein individuelles Eigenverschulden, sondern auf kollektive Ursachen zurück, die den Staat zum Handeln zwingen.151 Indem er aktiv den gesetzlichen Rahmen für die notwendigen Sicherungsmechanismen erzeugt und sich in vielen Fällen auch direkt mit umfangreichen Mitteln an ihrer Finanzierung beteiligt, wird er seiner Verpflichtung gerecht. Von Bedeutung erscheint dabei allerdings, dass sich die Verantwortung nicht nur auf die soziale Sicherheit einiger privilegierter Gruppen, sondern der Bevölkerung in ihrer gesamten Breite bezieht. In diesem Sinne ist Asa Briggs zu folgen, der, wie oben angeführt, die Gewährleistung eines universellen – also von der sozialen Stellung der betreffenden Person unabhängigen – Zugangs zu den Segnungen des Sozialsystems als Merkmal des Wohlfahrtsstaates beschreibt.152 Indem die Existenz eines Wohlfahrtsstaates vorrangig vom Erreichen einer bestimmten Güte der den Menschen zuteilwerdenden Versorgung abhängig gemacht wird, lässt sich die beschriebene Unschärfe des Konzepts vermeiden. Deutlich wird somit nicht nur, welche Staaten sich nicht für diese Bezeichnung eignen, sondern ebenfalls die Kriterien, auf denen ein derartiges Urteil gründet. Bei der Bestimmung des nicht zu unterschreitenden Standards bietet sich eine Orientierung an den Gedanken Briggs’ und Dorothy Wedderburns, vor allem aber den auf ihnen aufbauenden Überlegungen John Veit-Wilsons an. Die ersten beiden Autoren vertreten in der beschriebenen Weise die Auffassung, dass ein Wohlfahrtsstaat die Gesamtheit seiner Bürger mit einem „minimale[n] Realeinkommen“ (Wedderburn) oder einem „Mindesteinkommen unabhängig vom Marktwert ihrer Arbeit oder ihres Eigentums“ (Briggs) auszustatten habe. Ein solcher Anspruch mag manchem als zu bescheiden153 oder zu sehr auf die britischen Verhältnisse der 151 Vgl. Alber Schölkopf, Art. Sozialstaat/Wohlfahrtsstaat, S. 707. 152 Briggs, The Welfare State, S. 43. 153 So fragt Esping-Andersen, The Three Worlds, S. 19, ob „es nicht angemessener [sei], von einem Wohlfahrtsstaat mehr als die Befriedigung unserer basalen oder minimalen Wohlfahrtsbedürfnisse zu erwarten“. In diesem Kontext führt er etwa Kriterien wie die Unterstützung der Systemlegitimation durch sozialpolitische Programme oder deren emanzipatorische Qualität an.
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Nachkriegsjahre zugeschnitten154 erscheinen. Und tatsächlich nimmt sich dieses Kriterium oberflächlich aus, wenn man den Blick auf die Fülle staatlicher Programme und Institutionen richtet, die in den entwickelten Staaten des Westens und andernorts zur Förderung des Lebensstandards, zur persönlichen Entfaltung und zur Wahrung der Interessen der Bürger eingerichtet worden sind. Hier soll es jedoch nicht darum gehen, die Vielfalt des Wohlfahrtsstaates zu beschreiben, sondern die an ihn gestellte Minimalanforderung. Es erscheint deshalb sinnvoll, den Schutz der gesamten Bevölkerung eines Landes vor der Armut als seine zentrale Aufgabe zu begreifen. Das vom Staatswesen zu leistende Mindestmaß an übernommener Verantwortung für das Wohlergehen des Einzelnen hat in dessen Absicherung gegen den Hunger zu bestehen. Vertreten wird diese Perspektive speziell von Veit-Wilson, der der unmittelbaren Existenzsicherung eine höhere Priorität zuspricht als der Verleihung sozialer Rechte oder anderer mit der Vorstellung des Wohlfahrtsstaates verbundener Leistungen: „Wenn man vom apriorischen Wert der Menschlichkeit – und nicht von erworbenen Rechten, dem gemessenen Beitrag [des Leistungsempfängers] oder ökonomischer Funktionalität [...] – ausgeht und das Konzept [des Wohlfahrtsstaates] bis zu seiner logischen Konsequenz führen möchte, dann muss sein Gebrauch dem Ausmaß Rechnung tragen, in dem die sich in größter Not befindenden Menschen diesem kategorischen Imperativ gemäß als Selbstzweck behandelt werden. Dies ist eindeutig eine wertende Position, aber diese Wertung wohnt bereits dem Konzept der Dekommodifizierung [...] inne, und hier soll sie lediglich explizit ausgedrückt und vollständig zur Anwendung gebracht werden.“155
Richtet man sich dergestalt nach den Maßnahmen, die ein Gemeinwesen zur Vermeidung der Armut seiner Bewohner umsetzt, so leiten sich daraus Klassifizierungen ab, die den herkömmlichen Auffassungen darüber, welche Länder als Wohlfahrtsstaaten zu interpretieren sind, klar zuwiderlaufen. Fragen wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und kapitalistische Wirtschaftsordnung büßen ihre zentrale Bedeutung ein. Veit-Wilson fasst diesen Gedanken bei der Diskussion von Dorothy Wedderburns Ansatz zusammen: „Die Einbeziehung der Armen über das essentielle Kriterium des ,Wohlergehens für alle ދin die zu ihrer [Wedderburns; L. M.] Zeit akzeptierten Definitionen bedeutete, dass selbst ein auf niedrigstem Niveau effektives, residuales und [nur] für die Armen eingerichtetes Sozialsystem den Wohlfahrts[staats]titel für einen inegalitären Staat erringen könnte, der auf einem hierarchisch-integrativen Modell basiert. Im Kontrast dazu würde er selbst bei den generö154 Diesen Einwand erhebt z. B. Ritter, Der Sozialstaat, S. 9, gegen Briggs’ oben angeführte dreiteilige Definition des Wohlfahrtsstaates. Er erklärt sich aus den Kontinuitätslinien, die das britische Sozialsystem der Nachkriegszeit mit der Tradition der Armengesetzgebung verbinden und für die eine „minimale, residuale staatlich verwaltete Bereitstellung [von Leistungen] in Verbindung mit der Selbsthilfe“ (Thane, Histories, S. 59.) der Bürger charakteristisch ist. Als Alternative zur Orientierung an der Armutsvermeidung bietet Veit-Willson, States (2000), S. 1213, die Konzentration auf das Ausmaß der „sozialen Exklusion“ oder „Integration“ von Bevölkerungsteilen an. Allerdings weist der Autor darauf hin, dass in diesem Fall auch Kriterien wie die umfassende politische Teilhabe von Minderheiten berücksichtigt werden müssten und deshalb noch weniger Gesellschaften als Wohlfahrtsstaaten kategorisiert werden könnten. 155 Veit-Wilson, States (2000), S. 16.
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sesten, für große Bevölkerungsteile eingerichteten Vorkehrungen, die jedoch einige Gruppen ausschließen, in einem anderweitig egalitären Staat [...] verwirkt werden.“156
Ein solcher Standpunkt wendet sich gegen den innerhalb der komparativen Forschung verbreiteten Ansatz, das Vorhandensein von Sozialleistungen, die lediglich einem Teil der Bevölkerung zugutekommen, als bereits für die Qualifizierung eines Landes als Wohlfahrtsstaat ausreichend zu werten. Eine solche Herangehensweise blendet das kontinuierliche Vorhandensein von Unterversorgung in manchen dieser Staaten nicht selten aus.157 Verbindet man den Gedanken des Wohlfahrtsstaates aber mit dem Grundsatz der Menschlichkeit, lässt sich nur dann in sinnvoller Weise von einer effektiven Übernahme staatlicher Verantwortung sprechen, wenn von ihr ebenfalls die schwächsten Glieder einer Gesellschaft profitieren können. Die effektive Absicherung der Bevölkerung gegen das Fehlen der Existenzmittel ist eine hohe Anforderung, die auch von einigen westlichen Ländern nicht erfüllt wird, verfügen deren Fürsorge- oder Rentensysteme doch keineswegs immer über eine universale Reichweite. Zu verweisen ist hier etwa auf das Deutsche Reich vor dem Ersten Weltkrieg, den Bismarckschen „Sozialstaat“: Die von ihm erteilten Renten beliefen sich auf höchstens ein Siebtel des Existenzminimums und standen keineswegs für die Gesamtheit der Bevölkerung zur Verfügung.158 Ebenso wenig können die USA der Gegenwart, ein gern für das liberale wohlfahrtsstaatliche Regime angeführtes Beispiel, unter solchen Voraussetzungen als Wohlfahrtsstaat firmieren: Personen, die über viele Jahre hinweg arbeitslos waren oder häufig erkrankten, erhalten in diesem Land keine für den Lebensunterhalt ausreichende Rente.159 Lücken im System der Sozialfürsorge wiesen, zumindest in den 1990er Jahren, auch die Türkei und südeuropäische Länder wie etwa Griechenland auf, wo „die Leistungen [...] sehr niedrig [sind] oder in Bezug auf einige Bevölkerungsgruppen und geographische Gebiete – nicht existieren“.160 Selbst das gegenwärtige Sicherungssystem der Bundesrepublik Deutschland gewährt in letzter Konsequenz nur eine lückenhafte Versorgung: Macht sich etwa ein Bezieher des Arbeitslosengeldes II wiederholt bestimmter Versäumnisse (z. B. der Ab-
156 Ebd., S. 12. 157 So erkennt beispielsweise Room, Poverty, S. 104, eine „Trennung zwischen der armutsbezogenen Forschungsliteratur auf der einen Seite und auf der anderen den hitzigen Debatten, die über die Analyse der verschiedenen Arten von ,Wohlfahrtsregimen[ ދ...] geführt werden“. 158 Rentenversichert waren zudem im Jahr 1910 lediglich 53 % der Erwerbsbevölkerung. Vgl. Reinhard, Geschichte, S. 463. Personen, die zusätzlich auf Leistungen der Armenfürsorge angewiesen waren, sahen sich mit sozialer Diskriminierung in Gestalt des Wahlrechtsentzugs konfrontiert. Vgl. Hockerts, Sicherung, S. 302. 159 Die Qualität der zur Vermeidung der Armut bestimmten Fürsorgeleistungen variiert in den einzelnen Republiken. Insbesondere „im Süden [kann] von einem effektiven Sozialschutz der hier meist farbigen Unterschichten kaum die Rede sein“. Kaufmann, Varianten, S. 106. Auch Kaufmann versteht die USA nicht als einen Wohlfahrtsstaat. Vgl. ebd., S. 54, 80 u. 123124. Zweifel an dem Vorhandensein der für ihren welfare state-Begriff relevanten Voraussetzungen in den Vereinigten Staaten äußert bereits Wedderburn, Facts, S. 135. 160 Eardley u. a., Social Assistance, S. 169.
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lehnung der Annahme einer zumutbaren Arbeit)161 schuldig, so können die sich hieraus ergebenden Sanktionen bis zur vollständigen Streichung der Regelleistungen reichen. Ein Bedürftiger, der sich den an ihn gestellten Erwartungen verweigert, sieht sich folglich mit einer Situation konfrontiert, in der er überhaupt keine staatliche Unterstützung mehr erhält.162 Leitet man die Entscheidung darüber, ob ein Land als Wohlfahrtsstaat bezeichnet werden kann, von der Lösung des Problems der Bevölkerungsarmut ab, ist auch der diesbezügliche Status der UdSSR in den Jahren 1956–1972 klar zu bestimmen. Mit Hilfe der vorliegenden Ergebnisse lässt sich unzweifelhaft belegen, dass der Aktionsradius und die Qualität der staatlichen Maßnahmen keineswegs ausreichten, um einen flächendeckenden Schutz der Sowjetbürger vor dem Verlust der Existenzmittel zu bieten. Zur Feststellung dieser Tatsache reicht eine Beschäftigung mit den älteren Teilen der Sowjetbevölkerung aus: Die Stichprobenartigen Untersuchungen der Zentralverwaltung für Statistik belegen, dass nicht wenige Bürger im Rentenalter Leistungen unterhalb der Armutsgrenze bezogen. Zudem besaß ein beträchtlicher Teil von ihnen überhaupt gar keinen Anspruch auf eine Altersrente oder eine sonstige Rentenform. Darüber hinaus stellte der sowjetische Staat auch keine Instrumente zur Verfügung, die sämtliche durch das Netz der Rentenversorgung Gefallenen aufgefangen hätten. Die monatlichen Beihilfen für Nichtrentenberechtigte waren an überaus restriktive Voraussetzungen gebunden und in ihrer Höhe zu niedrig angelegt. Und die von den Ministerien für Sozialversorgung oder den Kolchosen verwalteten Heime verfügten über viel zu wenige Plätze, als dass sie – ihrer inoffiziellen Bestimmung entsprechend – sämtliche der unter schwerer Armut leidenden Alten und Invaliden hätten aufnehmen können. Das Beispiel der Rentnerräte zeigt darüber hinaus, dass auch die auf kommunaler Ebene vorgenommenen Maßnahmen zur Unterstützung Hilfsbedürftiger nicht genügten, um den vorhandenen Bedarf zu decken. Keine Realisierung erfuhr ebenfalls die Gewährleistung eines vom sozialen Status des Einzelnen unabhängigen Zugangs zum System der sozialen Sicherung. Zwischen 1956 und 1964 war die große Bevölkerungsgruppe der Kolchosbauern fast vollständig von der staatlichen Rentenversorgung ausgenommen. Und auch nach dem Inkrafttreten des Gesetzes vom 15. Juli 1964 waren die Mitglieder der Artele in ihren Ansprüchen auf einen versorgten Lebensabend noch deutlich gegenüber den Altersgenossen aus den Reihen der Arbeiter und Angestellten benachteiligt. Angesichts der offensichtlichen Grenzen, in denen der Sowjetstaat Verantwortung für seine Bevölkerung übernahm, lässt er sich folglich auch dann nicht als Wohlfahrtsstaat begreifen, wenn man den Begriff seiner normativen Assoziationen entledigt und auf das Wesentliche reduziert. Diese schlichte Feststellung 161 Vgl. § 31 Sozialgesetzbuch II. 162 Vgl. Bruhn Tripp Tripp, Sanktionen. Siehe hierzu ebenfalls Hauser, Altersarmut, S. 131, der darauf hinweist, dass die von alten Bundesbürgern bezogene Mindestsicherung auch „nach 45 Jahren Beitragszahlung [...] niedriger [ist] als die spezifische deutsche Armutsgrenze“. Allerdings gilt es zu bedenken, dass die „Armutsgrenze“ hier nicht das biologische Existenzminimum bezeichnet, sondern „relativ zum mittleren Einkommen (Median)“ definiert wird. Ebd., S. 126.
Die Wohlfahrtsstaatlichkeit der UdSSR
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wird allerdings den handfesten Erfolgen nicht gerecht, die speziell im Bereich der allgemeinen Altersrentenversorgung erzielt wurden. Dass der Umfang der staatlichen Verantwortungsübernahme für das Wohl der sowjetischen Bürger im Bearbeitungszeitraum erheblich zunahm, ist offensichtlich: So reduzierte sich der Abstand zwischen den von Staats- und Kolchosrentnern erhaltenen monatlichen Leistungen allmählich. Und, was noch bedeutsamer war, das Kontingent der Personen ohne jeglichen Leistungsbezug verringerte sich deutlich. Lag ihr Anteil an der Gesamtzahl sowjetischer Bürger im Rentenalter 1959 noch bei geschätzten 64,5 %, so hatte er sich bis 1970 auf vermutlich 22,3 % reduziert. Die überwiegende Mehrheit dieser Bürger wird kaum freiwillig auf eine regelmäßige Zahlung verzichtet und sich folglich in einer schwierigen materiellen Situation – oder der Abhängigkeit von dritter Seite – befunden haben. Eine Entwicklung in Richtung auf einen Zustand umfassender staatlicher Versorgung lässt sich dessen ungeachtet jedoch nicht bestreiten. Möchte man den Charakter des sowjetischen Sozialsystems begrifflich fassen, bietet sich eine Anlehnung an die entwicklungspolitische Kategorisierung des ökonomischen Entwicklungsgrades einzelner Staaten an. Insbesondere asiatische Länder wie China, Taiwan oder Singapur werden von Organisationen wie der OECD oder der Weltbank bekanntlich nicht mehr als Entwicklungsländer verstanden. Von diesen setzen sie sich aufgrund einer ganze Reihe von Indikatoren (z. B. Pro-Kopf-Einkommen, Anteil an der Weltindustrieproduktion, Wachstumsraten etc.) ab. Gleichzeitig sind der Industrie- und der Dienstleistungssektor hier noch nicht so weit entwickelt, als dass eine Zurechnung zur Gruppe der Industriestaaten berechtigt erscheinen würde. Allerdings wird in der Regel von den betreffenden Staaten erwartet, dass sie im Zuge ihrer weiteren volkswirtschaftlichen Entwicklung den Status der Industrienation erreichen. Für solche Staaten ist im Deutschen der Begriff des Schwellenlandes gebräuchlich geworden.163 Er eignet sich, wenn man ihn aus dem engen Kontext des Vergleichs industrieller Entwicklung löst, ebenfalls für die Charakterisierung der UdSSR, die dementsprechend als „wohlfahrtsstaatliches Schwellenland“ konzeptualisiert werden könnte. So würde einerseits der sich zwischen zwei Polen bewegenden Qualität der sowjetischen Wohlfahrtsproduktion Rechnung getragen: Diese hatte bis 1972 eben noch nicht jenes hohe Niveau einer die Armut wirkungsvoll eindämmenden Versorgung erreicht, das mit der Idee des Wohlfahrtsstaates zu assoziieren ist. Gleichzeitig hob sich das Ausmaß, in dem der Staat hier Verantwortung für das Wohl weiter Bevölkerungsteile übernahm – und ihre „Sorge um den morgigen Tag“ abmilderte –, nachdrücklich von den Verhältnissen in den Gesellschaften des 19. Jahrhunderts oder in vorindustriellen Ländern der Dritten Welt ab. In ihnen gab bzw. gibt es schlechterdings noch keine staatlichen Systeme der Rentenoder Gesundheitsversorgung von vergleichbarer Reichweite, die zudem auf eine Marginalisierung der Leistungsempfänger verzichtet hätten. Andererseits bildet die Vorstellung des „wohlfahrtsstaatlichen Schwellenlandes“ auch die Prozess163 Im Detail zum durchaus vielschichtigen Problem der Schwellenland-Definition vgl. z. B. Nuscheler, Lern- und Arbeitsbuch, S. 110113; Bergmann, Schwellenländer.
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haftigkeit der Situation ab: Mit seinem System der sozialen Sicherung bewegte sich auch die UdSSR des Untersuchungszeitraums auf einen Idealzustand zu, in dem die Gesamtheit ihrer Bevölkerung mit Leistungen versorgt würde, die das biologische Existenzminimum gewährleisteten. Die Tatsache, dass dieser Zustand in letzter Konsequenz nicht erreicht wurde, ändert nichts an dem Vorhandensein einer deutlichen Tendenz in Richtung des Wohlfahrtsstaates.
VERZEICHNIS DER ABKÜRZUNGEN Abs. AQ ARQ BRSVK d. F. Goskomtrud
Gosplan GVF HSSV KOV KOVK KPdSU KPR(B) krestkom KRSVK l./ll. NCh v SSSR ob. op. SDAPR SPU URSV VCSPS WQ ZUSVK ZVS
Abschnitt Altenquotient Altersrentnerquote Bezirksrat für die Sozialversorgung der Kolchosbauern; Rajonnyj sovet social’nogo obespeþenija kolchoznikov delo; Akte Fond; Fonds Gosudarstvennyj komitet Soveta Ministrov SSSR po voprosam truda i zarabotnoj platy; Staatskomitee des Ministerrats der UdSSR für Fragen der Arbeit und des Erwerbseinkommens Gosudarstvennyj planovyj komitet Soveta Ministrov SSSR; Staatskomitee des Ministerrats der UdSSR für die Wirtschaftsplanung Gesellschaftliche Verbrauchsfonds; Obšþestvennye fondy potreblenija Haushalt der staatlichen Sozialversicherung; Bjudžet gosudarstvennogo social’nogo strachovanija krestjan’skoe obšþestvo vzaimopomošþi; Bauerngesellschaft für die gegenseitige Hilfe kassa obšþestvennoj vzaimopomošþi kolchoznikov; Kasse für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe der Kolchosbauern Kommunistische Partei der Sowjetunion Kommunistische Partei Russlands (Bol’ševiki) krest’janskij komitet obšþestvennoj vzaimopomošþi; Bauernkomitee für die gegenseitige gesellschaftliche Hilfe Kolchosrat für die Sozialversorgung der Kolchosbauern; Kolchoznyj sovet social’nogo obespeþenija kolchoznikov list/listy; Blatt/Blätter Narodnoe chozjajstvo v SSSR oborot; Rückseite opis’; Verzeichnis Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands Stichprobenartige Untersuchung Unionsrat der Sozialversicherung Vsesojuznyj central’nyj covet professional’nych sojuzov; Allunions-Zentralrat der Gewerkschaften Weiterarbeitsquote Zentralisierter Unionsfonds für die Sozialversorgung der Kolchosbauern; Central’nyj sojuznyj fond social’nogo obespeþenija kolchoznikov Zentralverwaltung für Statistik; Central’noe statistiþeskoe upravlenie
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II. PERIODIKA OHNE VERFASSER- UND TITELANGABEN Frankfurter Allgemeine Zeitung Izvestija Pravda Sovetskaja justicija Trud
III. AMTLICHE PERIODIKA Bjulleten ތispolnitel’nogo komiteta Moskovskogo gorodskogo Soveta deputatov trudjašþichsja Bjulleten’ VCSPS Bjulleten’ Verchovnogo Suda SSSR Izvestija CK VKP(b) Izvestija Narodnogo komissariata truda SSSR (INKT SSSR) Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj Imperii (PSZ) Sbornik postanovlenij VCSPS Sobranie postanovlenij pravitel’stva RSFSR (SP RSFSR) Sobranie postanovlenij pravitel’stva SSSR (SP SSSR) Sobranie uzakonenij i rasporjaženij Raboþego i Krest’janskogo pravitel’stva RSFSR (SU RSFSR) Sobranie zakonov i rasporjaženij raboþe-krest’janskogo pravitel’stva SSSR (SZ SSSR) Vedomosti Prezidiuma Verchovnogo Soveta Latvijskoj SSR Vedomosti Verchovnogo Soveta SSSR (VVS SSSR)
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PERSONENREGISTER Aþarkan, Viktor A. 2541, 28, 66, 6661, 69, 116, 186, 264 f., 390, 390120, 391 391123, 391125, 392 f. Achmatov, L. 201 Achmedova 379 Aksenenok, Georgij A. 218 Alber, Jens 323, 355, 465, 487 Aleksanov, P. A. 199, 314 Andreev, A. 138 Andreev, Vitalij S. 62, 37152, 389 f., 392 f., 394134, 492 Anišþenkov, A. I. 161434 Antonov, Ivan A. 130 Aralov, Viktor A. 172, 4009, 428, 452 Artem’ev 444 Ashwin, Sarah 362 f. Astachova, I. D. 242 Astrachan, Evgenij I. 124, 392 f. Avdeev, I. F. 149 Azarova, E. G. 156, 287 Babkin, Vladimir A. 234723, 242, 352125 Baevskij, I. L. 37052 Baier, Horst 320 f. Baldwin, Peter M. 319 f., 32016, 505, 505135, 506 Ballestrem, Karl Graf 365, 36532 Baltagulov, Tjuregel’di B. 352124 Baranauskas, Boleslovas A. 136343 Barybin, V. P. 30992 Baškatov, N. I. 157 Beveridge, William H. 473, 486 Beyme, Klaus von 462 Beznin, M. A. 43 Bialer, Seweryn 463 Bismarck, Otto von 55, 6139, 372, 47017, 47733, 485, 487, 506, 506137, 509147, 510149, 513 Blinov, I. 212631 Bogdan, N. 455 Bogdanov 419, 422, 428 Borisov, V. 435 Bourdieu, Pierre 500 Bourlière, François 173474 Boyer, Christoph 379
Breslauer, George W. 358360, 476, 495 Brežnev, Leonid I. 19, 1915, 169, 203, 337, 340, 346, 348, 358360, 363, 365, 371, 376, 381, 384101, 395, 414, 463, 472 Briggs, Asa 489, 495, 511, 512154 Brjuškov, A. 85, 339 Brooks, Jeffrey 381 Broska, V. 171469 Brubaker, Rogers 327 f., 335 Brunnbauer, Ulf 386, 482 Buckley, Cynthia 480 Budanov 409 Bulganin, Nikolaj A. 83, 91 f., 97, 97187, 105, 105220, 105221, 110, 137, 143367, 374 f., 379, 393, 395, 472, 475 Burlakov, A. I. 147, 147376 Bychovskij, Naum B. 70 ýalidze, Valerij N. 388 Castles, Frank 497110, 500117 ýebotarev, D. R. 210624, 222 ýekalin, N. S. 337 ýerkasova, E. V. 137 ýernyševa, T. S. 415 ýervjakov 444 ýevtaev 405, 40526, 436147, 439 Chabibullina, Rabiga Ch. 148 Cholodnyj, V. D. 188 Chrušþev, Nikolaj S. 18 f., 2020, 32, 80123, 83, 8688, 90, 97, 97187, 105, 106227, 159, 172174, 190540, 191, 196570, 208, 210624, 211 f., 215217, 219222, 231 f., 235, 287, 28815, 300, 340, 348, 358 f., 3598, 360, 363, 365, 375, 377, 379, 381, 384101, 393, 395, 395137, 396139, 463, 467, 473, 508 Chudajberdyev, Narmachonmadi D. 195563 ýiþerin, Boris N. 55 ýichaþev 93 ýižikov 454 Connor, Walter D. 358, 3585, 36116, 366 Conrad, Christoph 71 Cook, Linda J. 359361, 476, 502 Cooper, Frederick 327 f., 335 Coser, Lewis A. 356
562
Namensregister
Crowley, Stephen 362 f. Cvetova, M. T. 437, 438153 D’jakov (Rentner) 430128 D’jakov, V. A. 342 Demidova, E. F. 344, 351 Denisov, M. 34193 Denotkin 432, 436 Dinkel, Reiner H. 36 Dmitraško, I. I. 223 Dokuþaeva, T. N. 401 Dolgov, K. M. 132, 151, 151391, 400, 435, 439, 447 Dolgunec 406, 454 Donahue, Dennis 480 Dostoevskij, Fedor M. 16 Dubynin, N. 186 Dworkin, Richard 364 Dzeržinskij, Feliks E. 40944 Edele, Mark 23, 31, 327331, 333, 338, 346108, 347, 466 Efimova 41359, 417 Efremov, D. P. 202 Ehmer, Josef 71, 486 Engels, Friedrich 5932 Engländer, Armin 364, 36635 Erachtin, P. A. 419 Eršov 353 Esping-Andersen, Gøsta 372, 488, 490, 49077, 500 f., 501123, 502, 504 f., 505132 Fedorþuk, I. 161434 Fedorov 452 Fehér, Ferenc 382 Ferge, Zsuzsa 397, 502 Filtzer, Donald 362 f. Firfarov, Georgij G. 130 Fitzpatrick, Sheila 475 Flora, Peter 494 Fogel’, Jakov, M. 113, 228, 243759 Friedgut, Theodore H. 429 Furceva, Ekaterina A. 87 Galkin 429, 445 Garbuzov, Vasilij F. 108233, 152, 154400, 215, 236 Gedvilas, Meþislovas A. 108 f., 122285 Gehlen, Arnold 383, 38397 Geletka, A. Ja. 350119 Georgadze, Michail P. 199 Gerasimenko, I. 377
Gerasimov, K. M. 41466 Gincburg, L. Ja. 392 Giolotti, Giovanni 509147 Girvetz, Harry K. 33, 489, 511 Gladkov, M. I. 308391, 395 Gljazer, L. S. 186 Glotz, Peter 40110 Goroškin, Ivan V. 2541, 86, 89, 93, 101103, 104233, 174, 41468 Goršenin, Konstantin P. 100199 Götting, Ulrike 502504 Gotynjan, V. S. 353 Graþev, V. V. 222672, 396 Grin’ko, F. 210624 Grišin, Viktor V. 108233, 138, 169, 199, 25713 Grušin, Boris A. 387 f. Gruzincev 93 Gurov 141 Gužov, I. 445 f. Hahn, Jeffrey 474 Heidenheimer, Arnold J. 494 Hobbes, Thomas 357, 36738 Hockerts, Hans G. 325 Hradil, Stefan 323 f., 326 Huf, Stefan 31 Hume, David 364 f. Isupov, A. 138 Ivanov (Gewerkschaftsfunktionär) 416, 420 Ivanov (Rentner) 444 Ivanov, N. Ja. 409 Ivanov, V. G. 85 Ivanova, Galina M. 11 Ivasenko, V. A. 96181 Jampol’skaja, C. A. 402 Januševskij 442165 Jarancev, V. I. 353 Jasnov, Michail A. 106, 108 f., 109235, 115260 Jenkins, Richard 317 Judina, A. I. 137 Kaganoviþ, Lazar’ M. 2541, 81125, 89, 93, 101, 104, 213, 374 Kalaþev, I. I. 409 Kalinin, Michail I. 6976 Kamenev, F. I. 202 Kampars, P. P. 132 Kant, Immanuel 364
Personenregister Kaplan, Fanny 409 Kapranov, G. M. 214, 41675, 426 Karavaev, Valentin V. 129, 129317, 150387, 172470, 452 Kas’janova 206609 Kaufmann, Franz-Xaver 490 f., 494, 513159 Kirov, Sergej M. 40944 Kligman, Gail 386106 Kljuev, P. 405, 421, 423, 432, 442167 Koþnov 310 Kogan, V. S. 69, 30169 Kohli, Martin 324, 326 Kokorina 415 Komarova, Domna P. 126301, 151 Konev, A. K. 401 Kornai, János 382 Korobko, Staatsanwalt 451 f. Korolev, Jurij A. 84 f., 204594, 204596 Kosjaþenko, Grigorij P. 93, 100199 Kosygin, Aleksej N. 100, 100199, 101, 103, 169 f., 244, 311, 337 Kotovskich, I. V. 202 Kozlov, Ju. M. 403, 443 Kravþenko, M. M. 151 Krivenko 151, 29447, 29550, 40738, 422, 453193 Kruglov, Sergej N. 87 Krupskaja, Nadežda K. 40944 Krupyšev, S. 445 f. Kungurov, M. 450 Kurbanov, Aman 110241 Kusber, Jan 11 Kuz’minych, G. 440 Kuznecova, Nina P. 262264, 26428, 26429, 266 f. Lakiza-Saþuk, N. N. 30891 Lancev, Michail S. 2541, 28, 80, 80123, 139351, 176486, 179, 219, 219659, 224683, 225689, 231, 233, 233719, 235, 238, 350, 370, 493 Lane, David 362 f. Lapidus, Gail W. 359 Leisner, Walter G. 391 Lenin, Vladimir I. 58 f., 60, 69, 74, 159, 159423, 284, 379, 381, 409, 40945, 467 Lepsius, M. Rainer 31, 321324, 326, 32639, 327, 330, 338, 464 f., 466 Lessenich, Stephan 31, 368 f., 468 Levkova, L. A. 26532 Levšin, Anatolij V. 428, 452 Loban’, V. N. 337
563
Locke, John 357, 364, 36532 Lojter, A. 455 Lomako, Petr. F. 215 Lovell, Stephen 23, 168, 332, 346 f. Löwenthal, Richard 84 Lykova, Lidija P. 129, 148, 150386, 157 f., 161, 172, 173474, 200, 211, 233 f., 236, 236731, 241, 310100, 34297, 374, 437, 439158, 449 f., 453 Mackeviþ, Vladimir V. 187 f., 199 f., 205, 214, 215643, 217, 344104 Madison, Bernice Q. 21 Maksimova, Ơ. 421, 424 Mal’cev 437151 Malenkov, Georgij M. 95177, 100 Manojlo, F. N. 236 Marshall, Thomas H. 397, 490 f., 500, 509, 510149 Marx, Karl 58, 5828, 59, 5932, 74, 49288 Maslov 415, 430 Matjunina, N. P. 442 Mau, Steffen 31, 368 f., 372, 468 Mauss, Marcel 367 Mazur, P. M. 142 McAuley, Alastair 21 f., 117267, 264, 296, 472 Mead, Lawrence M. 49080 Mel’þakov, O. I. 441 Merkušev, D. I. 342 Merl, Stephan 23, 83, 185521 Meyer, Alfred 385 Meyer, Gert 380 Mezina 437151 Mikojan, Anastas I. 97187, 243 Miljutin, Nikolaj A. 63, 181495, 181498 Millar, James R. 36012 Mommsen, Margareta 476 Moskoff, William 177 Moskovskij, V. P. 427117, 430, 434142 Murav’eva, Nonna M. 80123, 99 f., 100198, 100199, 102 f., 129, 131, 138,144371, 148, 148380, 151, 189533, 215643, 287, 295, 309, 426 Myles, John 16 Nazarov, N. 161434 Nedbajlo, Petr E. 128 Neronov 449 Noiriel, Gérard 319 Nove, Alec 495101
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Namensregister
O’Connor, James 490 Offe, Claus 490 Ordžonikidze, Grigorij K. 40944 Ostheim, Tobias 495102 Parchomovskij, Ơl’rad Ja. 450452 Pavlov, Dmitrij V. 34197 Pavlova, N. M. 91, 27452, 397 Piskotin, Michail I. 218 Plaggenborg, Stefan 11, 494 Podgornyj, Nikolaj V. 311 Poljanskij, Dmitrij S. 210622, 216, 216650, 309 Popkov, Vasilij D. 493 Poskrebyšev, Aleksandr N. 98 Prokof’ev, Vasilij A. 110241 Prokof’eva, V. 107 Pryor, Frederic L. 496 f., 497110 Pšenicyn 343 Puþinskij 431 Putin, Vladimir V. 19, 47836 Rawls, John 364 Ritter, Gerhard A. 48762, 509 Ritter, Martina 484 Rjazanova 454192 Ross, Jeffrey A. 387 Rousseau, Jean-Jacques 357, 36532, 36738 Rowntree, Benjamin S. 262 Rudnov, S. I. 239 Saþuk, Nina N. 284, 30891 Sahlin, Marshall D. 372 Salina, Valentina P. 235 Samarin, Vladimir G. 130 Samolegov, N. A. 385 Sanborn, Joshua 330 Šapiro, Vladimir D. 23, 318 f., 338, 3967, 425109, 429126, 457 Šarapov, Semen S. 131 Sarkisjan, Georgij S. 262264, 26428, 26429, 266 f., 392 Schmidt, Martin G. 324, 495102 Schölkopf, Martin 487 Schroeder, Gertrude E. 266, 26635, 272 Šelygov 150 Senjavskij, Spartak L. 23, 209, 318, 31811, 338 Šerstjuk 350 Severin, Barbara 266, 26635, 272 Simakova, A. P. 243 Širjaev, I. N. 251
Šiškova 453 Skljarov, M. P. 310, 311103 Soldatenkov, I. 302, 308, 30889, 311 Solov’ev, Leonid N. 10099 Sorokin, P. I. 163 Stachanov, Nikolaj P. 87 Stalin, Iosif V. 14, 18, 41, 74, 83, 95, 98, 106227, 190540, 33053, 357, 362 f., 380 f., 38188, 38199, 382, 38290, 384, 461, 4635, 4645, 471, 475, 485 Stepanov, A. P. 215643 Stiller, Pavel 21, 44, 27452 Stoljarov, Aleksej P. 219, 219657 Stolypin, Petr A. 55 Struev, Aleksandr I. 34299 Suchov, Aleksej N. 98, 98192 Suslov 420 Šutov 431 Švernik, Nikolaj M. 7597, 80123, 99, 100198, 102 Tairova, Taira A. 378 Temple, William 491, 49287 Tettenborn, Zinaida R. 6663 Thane, Pat 72 Tišþenko, V. I. 144371 Titmuss, Richard M. 488, 491 Titov, Aleksandr M. 132 Tomskij, Michail P. 74 Trapeznikov, Sergej P. 303, 308 Tret’jakov, T. K. 222672 Tukaljakova 33676 Tulin 140 Ulbricht, Helga 507 Ullrich, Carsten 371 Uvarov, A. U. 409 Varga-Harris, Christine 474 Vasil’ev, S. 438, 445 Vazjulin 421 Veit-Wilson, John H. 33, 488, 511 f. Vermišev, Konstantin Ch. 370, 37050 Veyret-Verner, Germaine 38, 40 Višneveckij, Arkadij I. 67 Vlasieviþ, M. V. 86 Vlasov, A. P. 194 Volkov, Aleksandr P. 2541, 108, 138, 169, 174, 174477, 176486, 199 f., 214 f., 217 Volodin, B. M. 222674 Vorob’ev (Rentnerratsvorsitzender) 41464, 441
Personenregister Vorob’ev, Georgij I. 219, 221670, 222 f., 229706, 231, 231713, 239 Voroncov, E. 423 Voronov 97 Vorošilov, Kliment E. 84, 86, 93165, 94174, 95, 96181, 97, 97187, 109, 131, 139, 143, 143365, 150, 203, 339, 385 Wagner, Adolph 49186 Weber, Max 202, 204594, 205604, 321 f., 32223, 323 f., 326, 33464, 383 f. Wedderburn, Dorothy 489, 495, 511 f. Wendt, Claus 325 White, Stephen 384 Wilensky Harold L. 497, 497110, 498
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Wincott, Daniel 488, 510 Wittgenstein, Ludwig 505 f., 508 Zabelin, L. V. 37052 Zacharov, Michail L. 28, 113251, 285, 288, 291, 295, 301, 37361, 391123 Zajka, N. Ja. 344 Zakoviþ, N. M. 132 Zakrevskij, Vladimir 340 Žarikov 437151 Zaripova, Nizoramo 219 f., 222 Zaslavsky, Viktor 362 f. Žirkova, A. S. 144 Zverev, Arsenij G. 95178, 98, 100199
q u e l l e n u n d s t u d i e n z u r g e s c h i c h t e d e s ö s t l i c h e n e u ro pa
Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann und Ludwig Steindorff. In Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e. V. herausgegeben von Jan Kusber.
Franz Steiner Verlag
ISSN 0170–3595
36. Wolfgang Neugebauer Politischer Wandel im Osten Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus 1992. VI, 552 S., kt. ISBN 978-3-515-06127-8 37. Dietmar Neutatz Die „deutsche Frage“ im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien Politik, Wirtschaft, Mentalitäten und Alltag im Spannungsfeld von Nationalismus und Modernisierung (1856–1914) 1993. 478 S., kt. ISBN 978-3-515-05899-5 38. Ludwig Steindorff Memoria in Altrußland Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge 1994. 294 S., kt. ISBN 978-3-515-06195-7 39. Frank Ortmann Revolutionäre im Exil Der „Auslandsbund russischer Sozialdemokraten“ zwischen autoritärem Führungsanspruch und politischer Ohnmacht (1888– 1903) 1994. 254 S., kt. ISBN 978-3-515-06340-1 40. Andreas Grenzer Adel und Landbesitz im ausgehenden Zarenreich Der russische Landadel zwischen Selbstbehauptung und Anpassung nach Aufhebung der Leibeigenschaft 1995. XII, 255 S., kt. ISBN 978-3-515-06568-9 41. Beate Fieseler Frauen auf dem Weg in die russische Sozialdemokratie, 1890–1917 1995. 331 S., kt. ISBN 978-3-515-06538-2 42. Christoph Mick Sowjetische Propaganda, Fünfjahrplan und deutsche
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Rußlandpolitik 1928–1932 1995. 490 S., kt. ISBN 978-3-515-06435-4 Ekkehard Kraft Moskaus griechisches Jahrhundert Russisch-griechische Beziehungen und metabyzantinischer Einfluß 1619–1694 1995. 223 S., kt. ISBN 978-3-515-06656-3 Christoph Schmidt Sozialkontrolle in Moskau Justiz, Kriminalität und Leibeigenschaft 1649–1785 1996. 500 S., geb. ISBN 978-3-515-06627-3 Angela Rustemeyer Dienstboten in Petersburg und Moskau 1861–1917 Hintergrund, Alltag, soziale Rolle 1996. 248 S., kt. ISBN 978-3-515-06762-1 Angela Rustemeyer / Diana Siebert Alltagsgeschichte der unteren Schichten im Russischen Reich (1861–1914) Kommentierte Bibliographie zeitgenössischer Titel und Bericht über die Forschung 1997. 280 S., kt. ISBN 978-3-515-06866-6 Jan Kusber Krieg und Revolution in Rußland 1904–1906 Das Militär im Verhältnis zu Wirtschaft, Autokratie und Gesellschaft 1997. 406 S., kt. ISBN 978-3-515-07044-7 Eva-Maria Stolberg Stalin und die chinesischen Kommunisten 1945–1953 Eine Studie zur Entstehungsgeschichte der sowjetisch-chinesischen Allianz vor dem Hintergrund des Kalten Krieges 1997. 328 S., kt.
ISBN 978-3-515-07080-5 49. Guido Hausmann Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1865–1917 Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie des Zarenreiches 1998. II, 699 S., kt. ISBN 978-3-515-07068-3 50. Joachim Hösler / Wolfgang Kessler (Hg.) Finis mundi Endzeiten und Weltenden im östlichen Europa. Festschrift für Hans Lemberg zum 65. Geburtstag 1998. 288 S., kt. ISBN 978-3-515-07100-0 51. Eckhard Hübner / Ekkehard Klug / Jan Kusber (Hg.) Zwischen Christianisierung und Europäisierung Beiträge zur Geschichte Osteuropas in Mittelalter und Früher Neuzeit. Festschrift für Peter Nitsche zum 65. Geburtstag 1998. 432 S., geb. ISBN 978-3-515-07266-3 52. Diana Siebert Bäuerliche Alltagsstrategien in der belarussischen SSR Die Zerstörung patriarchalischer Familienwirtschaft (1921–1941) 1998. 416 S., kt. ISBN 978-3-515-07263-2 53. Michael Hundt Beschreibung der dreijährigen Chinesischen Reise Die russische Gesandtschaft von Moskau nach Peking 1692 bis 1695 in den Darstellungen von Eberhard Isbrand Ides und Adam Brand. Hg., eingel. und komm. 1999. X, 364 S., kt. ISBN 978-3-515-07396-7 54. Hildegard Kochanek Die russisch-nationale Rechte von 1968 bis zum Ende der Sowjetunion Eine Diskursanalyse 1999. 314 S., kt. ISBN 978-3-515-07411-7 55. Pavlo Skoropads’kyj Erinnerungen 1917 bis 1918 Hg. und bearb. von Günter Rosenfeld 1999. 475 S. mit 8 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07467-4 56. Christian Noack Muslimischer Nationalismus im Russischen Reich Nationsbildung und Nationalbewegung
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bei Tataren und Baschkiren, 1861–1917 2000. 614 S., geb. ISBN 978-3-515-07690-6 James J. Reid Crisis of the Ottoman Empire Prelude to Collapse 1839–1878 2000. 517 S., geb. ISBN 978-3-515-07687-6 Susanne Conze Sowjetische Industriearbeiterinnen in den vierziger Jahren Die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die Erwerbstätigkeit von Frauen in der UdSSR, 1941–1950 2000. 270 S., kt. ISBN 978-3-515-07596-1 Ludmila Thomas / Viktor Knoll (Hg.) Zwischen Tradition und Revolution Determinanten und Strukturen sowjetischer Außenpolitik 1917–1941 2000. 443 S., geb. ISBN 978-3-515-07700-2 Kristina Küntzel Von Nižnij Novgorod zu Gor’kij Metamorphosen einer russischen Provinzstadt. Die Entwicklung der Stadt von den 1890er bis zu den 1930er Jahren 2001. VIII, 318 S. mit 36 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07726-2 Dittmar Schorkowitz Staat und Nationalitäten in Rußland Der Integrationsprozeß der Burjaten und Kalmücken, 1822–1925 2001. 616 S. mit 48 Tab. und 27 Abb., geb. ISBN 978-3-515-07713-2 Maike Sach Hochmeister und Großfürst Die Beziehungen zwischen dem Deutschen Orden in Preußen und dem Moskauer Staat um die Wende der Neuzeit 2002. 488 S., geb. ISBN 978-3-515-08047-7 Gudrun Bucher „Von Beschreibung der Sitten und Gebräuche der Völcker“ Die Instruktionen Gerhard Friedrich Müllers und ihre Bedeutung für die Geschichte der Ethnologie und der Geschichtswissenschaft 2002. 264 S. mit 1 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07890-0 Hans-Michael Miedlig Am Rande der Gesellschaft im Frühstalinismus Die Verfolgung der Personen ohne
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Wahlrecht in den Städten des Moskauer Gebiets 1928–1934 2004. XVII, 406 S. mit 2 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08572-4 Jan Kusber Eliten- und Volksbildung im Zarenreich während des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Studien zu Diskurs, Gesetzgebung und Umsetzung 2004. IX, 497 S. ISBN 978-3-515-08552-6 Volker Leppin / Ulrich A. Wien (Hg.) Konfessionsbildung und Konfessionskultur in Siebenbürgen in der Frühen Neuzeit 2005. 236 S., kt. ISBN 978-3-515-08617-2 Sabine Dumschat Ausländische Mediziner im Moskauer Rußland 2006. 750 S., geb. ISBN 978-3-515-08512-0 Dittmar Dahlmann (Hg.) Hundert Jahre Osteuropäische Geschichte Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 2005. 297 S., kt. ISBN 978-3-515-08528-1 Sebastian Balta Rumänien und die Großmächte in der Ära Antonescu (1940–1944) 2005. 540 S. mit 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-08744-5 Stefan Rohdewald „Vom Polocker Venedig“ Kollektives Handeln sozialer Gruppen einer Stadt zwischen Ost- und Mitteleuropa (Mittelalter, frühe Neuzeit, 19. Jahrhundert bis 1914) 2005. 588 S. und 11 Taf., geb. ISBN 978-3-515-08696-7 Stefan Karsch Die bolschewistische Machtergreifung im Gouvernement Voronež (1917–1919) 2006. 348 S. mit 1 Kte., geb. ISBN 978-3-515-08815-2 Ragna Boden Die Grenzen der Weltmacht Sowjetische Indonesienpolitik von Stalin bis Brežnev 2006. 444 S., kt. ISBN 978-3-515-08893-0
73. Andreas Frings Sowjetische Schriftpolitik zwischen 1917 und 1941 Eine handlungstheoretische Analyse 2007. 455 S. mit 14 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08887-9 74. Pascal Trees Wahlen im Weichselland Die Nationaldemokraten in Russisch-Polen und die Dumawahlen 1905–1912 2007. 448 S. mit 1 Kte. und 32 Tab., kt. ISBN 978-3-515-09097-1 75. Angelika Schmähling Hort der Frömmigkeit – Ort der Verwahrung Russische Frauenklöster im 16.–18. Jahrhundert 2009. 212 S. mit 12 Tab., 2 Graf. und 2 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-09178-7 76. Jörn Happel Nomadische Lebenswelten und zarische Politik Der Aufstand in Zentralasien 1916 2010. 378 S. mit 12 Abb. und 1 Karte., kt. ISBN 978-3-515-09771-0 77. Matthias Stadelmann / Lilia Antipow (Hg.) Schlüsseljahre Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag 2011. 520 S. mit 1 Abb., 4 Tab. und 4 farbigen Abb. auf Kunstdrucktafeln, geb. ISBN 978-3-515-09813-7 78. Alexander Friedman Deutschlandbilder in der weißrussischen sowjetischen Gesellschaft 1919–1941 Propaganda und Erfahrungen 2011. 428 S., kt. ISBN 978-3-515-09796-3 79. Dennis Hormuth Livonia est omnis divisa in partes tres Studien zum mental mapping der livländischen Chronistik in der Frühen Neuzeit (1558–1721) 2012. 428 S. mit 1 Abb. und 7 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10097-7 80. Julia Franziska Landau Wir bauen den großen Kuzbass! Bergarbeiteralltag im Stalinismus 1921–1941 2012. 384 S. mit 2 Abb. und 37 Tab., kt. ISBN 978-3-515-10159-2
Das sowjetische Regime führte 1956 und 1964 umfassende Reformen an der allgemeinen Alterssicherung des Landes durch, die den Lebensstandard und die Eigenwahrnehmung der älteren Bürger nachhaltig beeinflussten. In der zeitgeschichtlichen Forschung hat die Bedeutung dieser Maßnahmen für die Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft bislang kaum Aufmerksamkeit erfahren. Lukas Mücke nähert sich dem Thema aus mehreren Perspektiven und unter Berücksichtigung vielfältigen Archivmaterials. So beschreibt er die Entwicklung und Umsetzung der Gesetze und vermittelt einen differenzierten quellenge-
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sicherten Eindruck von der Qualität der Alterssicherung. Des Weiteren gilt sein Augenmerk der Anspruchsgemeinschaft der Altersrentner, einer neu konstituierten sozialen Einheit, die die lokal durchaus „eigen-sinnig“ agierenden Rentnerräte ausbildete. Auch die Funktionen und Konsequenzen der über die Rentenpolitik kommunizierten Wechselseitigkeit der Beziehung zwischen Regime und Bevölkerung werden thematisiert. Indem er zudem nach der „Wohlfahrtsstaatlichkeit“ der UdSSR dieser Jahre fragt, schließt der Autor eine seit Langem bestehende Lücke innerhalb der vergleichenden Sozialpolitik-Forschung.
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