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German Pages [441] Year 2021
Collegium Metaphysicum Herausgeber / E ditors
Thomas Buchheim (München) · Friedrich Hermanni (Tübingen) Axel Hutter (München) · Christoph Schwöbel (St Andrews) Beirat / A dvisory Board
Johannes Brachtendorf (Tübingen) · Jens Halfwassen † (Heidelberg) Douglas Hedley (Cambridge) · Johannes Hübner (Halle) Anton Friedrich Koch (Heidelberg) · Friedrike Schick (Tübingen) Rolf Schönberger (Regensburg) · Eleonore Stump (St. Louis)
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Thomas Oehl
Die Aktivität der Wahrnehmung und die Metaphysik des Geistes Eine aktualisierende Lektüre von Hegels Philosophie des Geistes
Mohr Siebeck
Thomas Oehl, geboren 1989; Studium der Philosophie, Evangelischen Theologie und Griechischen Philologie in München und Oxford; anschließend Promotionsstudium in München und Forschungsaufenthalt in Pittsburgh; 2020 Promotion in Philosophie; seit 2019 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Philosophie II der LMU München. orcid.org/0000-0002-2720-3540
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Agnes-Ament-Stiftung, München. ISBN 978-3-16-159902-6 / eISBN 978-3-16-159903-3 DOI 10.1628/978-3-16-159903-3 ISSN 2191-6683 / eISSN 2568-6615 (Collegium Metaphysicum) Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.
Vorwort Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2019/20 von der Fakultät für Philosophie, Wissenschaftstheorie und Religionswissenschaft der LudwigMaximilians-Universität München angenommen wurde. Mein erster Dank gilt Herrn Professor Dr. Axel Hutter, der mein philosophisches Denken in ganz besonderer Weise geprägt hat. Als Doktorvater brachte er mir zudem stets großes Zutrauen entgegen, sprach mir Mut zum eigenständigen, gegenüber Moden kritischen Denken zu und nahm sich freundlich Zeit für zahlreiche Gespräche, von welchen nie eines ohne Bedeutung für mich war. Herrn Professor em. Dr. Wilhelm Vossenkuhl danke ich sowohl für die Übernahme des Zweitgutachtens als auch dafür, dass er so immenses Interesse an meiner philosophischen Arbeit genommen hat. Daraus ist eine Reihe andauernder, wertvoller Gespräche erwachsen. Herrn Professor Dr. Georg Sans SJ danke ich für die Übernahme des Drittgutachtens und die damit verbundenen Gedankenanregungen. Ein besonderer Dank gilt John McDowell: Er hat sich während meines Forschungsaufenthalts in Pittsburgh im Jahr 2018 mit viel Zeit, Mühe und Interesse mit meiner Arbeit befasst. Die Akribie, mit der er meine Texte gelesen und kommentiert hat, hat mich beeindruckt. Die Gespräche mit ihm haben mir viel gegeben. Es war mir wichtig, ihn im Gespräch mit meiner Kritik an seiner Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung wie auch seiner Hegel-Interpretation konfrontieren zu dürfen – und prüfen zu können, ob ich sein philosophisches Werk angemessen begriffen habe. Wie bedeutsam seine Arbeit für meine eigene ist, sollte bei der Lektüre dieses Buches rasch deutlich werden. Bedeutsame Spuren in diesem Buch hinterlassen haben auch Andrea Kern und Pirmin Stekeler-Weithofer: Sowohl durch ihre philosophischen Arbeiten als auch dadurch, dass sie sich beide jeweils Zeit genommen haben, Vorstudien meiner Dissertation gründlich zu lesen und mit mir zu diskutieren. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Auf dem durch Brüche und Kontinuität zugleich geprägten Weg des Philosophierens trifft man – so es einem geschenkt ist – unterwegs doch einige Menschen, die für einen auf diesem Weg Bedeutung gewinnen – sei es durch ausführlichen, bisweilen sogar freundschaftlichen Austausch, sei es in Gestalt von Winken oder Worten der Ermutigung, die in einem nachhallen. Ohne An-
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Vorwort
spruch auf Vollständigkeit möchte ich namentlich die folgenden Personen erwähnen und ihnen meinen Dank sagen: Kurt Appel, Sabrina Bauer, Monika Betzler, Thomas Bonk, Christine Bratu, Thomas Buchheim, Paul Cobben, Kazimir Drilo, Stephen Engstrom, Franz-Alois Fischer, Graeme Forbes, Peter Hacker, Marco Hausmann, Edward Kanterian, Franz Knappik, Arthur Kok, Camillia Kong, Ansgar Lyssy, Christian Martin, Jörg Noller, Erzsébet Rózsa, Fabian Schäfer, Clemens Schmalhorst, Maximilian Tegtmeyer, Klaus Vieweg, Anna Wehofsits, Gunther Wenz, Matthias Wunsch, Günter Zöller. Im Jahr 2016 durfte ich im Rahmen einer Royal Institute of Philosophy Public Lecture an der University of Kent (Canterbury) einige analytische Grundlinien meiner Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung vortragen und zur Diskussion stellen. Dem dortigen Auditorium will ich für sein aufmerksames Mitdenken und seine Kommentare danken. Desweiteren danke ich allen Teilnehmer*innen des Kolloquiums des Lehrstuhls von Professor Hutter, in dem ich damals meine im Werden begriffene Arbeit zur Diskussion stellen durfte, für ihre engagierte Auseinandersetzung mit meinen Überlegungen. Damit verbinde ich meinen Dank an alle vormaligen und jetzigen Kolleg*innen am Lehrstuhl, mit welchen ich – vor allem während meiner Tätigkeit als Assistent – zusammenwirken durfte und darf. Meine Promotion wurde durch ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes gefördert, wofür ich zu großem Dank verpflichtet bin. Dankbar verbunden bin ich außerdem der Stiftung Maximilianeum, deren weitreichende Förderung und Begleitung bis hinein in meine Promotionszeit reichte und immer noch vielgestaltigen Nachhall hat. Stellvertretend wie auch persönlich möchte ich ihrem Vorstand, Herrn Hanspeter Beißer, meinen Dank aussprechen. Der Münchener Universitätsgesellschaft danke ich von Herzen dafür, dass sie mir für meine Dissertation im Juli 2020 einen Promotionsförderpreis verliehen hat. Dieser Preis bedeutet mir sehr viel und ist ein besonders schönes, bleibendes Zeichen für die Verbundenheit meiner Arbeit mit der Münchener Universität. Für den Weg von einem Dissertationsmanuskript zu einem Buch bedarf es schließlich weiterer Mitwirkender: Ich danke dem Verlag Mohr Siebeck für die ausgezeichnete, von außerordentlicher Gründlichkeit und Zuverlässigkeit geprägte Zusammenarbeit, namentlich Frau Dr. Katharina Gutekunst, Herrn Tobias Stäbler und Herrn Matthias Spitzner. Den Herausgebern der Reihe Collegium Metaphysicum, Herren Professoren Buchheim, Hermanni, Hutter und Schwöbel, danke ich für die Aufnahme meines Buches in diese Reihe. Der Agnes-Ament-Stiftung bin ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses zu Dank verpflichtet. Der größte Dank, zudem ganz anderer Art, gebührt gewiss denjenigen Menschen, mit denen zusammenzuleben mir geschenkt ist, die mich in geradezu unvordenklicher Weise geprägt haben und immer noch prägen – und die letztlich beurteilen können, wie die Philosophie ihrerseits mein Leben prägt. Jedenfalls
Vorwort
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ist in diesem Buch von Liebe und Dankbarkeit die Rede, in denen wir als geistige Wesen stehen dürfen und sollen. In Liebe und Dankbarkeit sei dieses Buch nun denjenigen vier Menschen gemeinsam gewidmet, die den Kern meiner Familie bilden: meinen Eltern, Edith und Günter Oehl, meiner verstorbenen Schwester Dr. Gabriela Oehl und meiner Frau Franziska Oehl. München, 31. Oktober 2020
Thomas Oehl
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
Einleitung: Zum inneren Zusammenhang von Philosophie der Wahrnehmung und Metaphysik des Geistes . . . . . . . . . . . . . 1 Teil I
Die Aktivität der Wahrnehmung und die Metaphysik des Geistes 1 Zum Weg von Hegels Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1.1 Verkehrte Standpunkte in der Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . 29 1.2 Der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2.1 Der erste Aspekt des Widerspruchs: Zwischen Allgemeinheit und (positiver) Einzelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Der Un-Gedanke der „positiven Allgemeinheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Zwei Begriffe des Begriffs: McDowells Abfall von Hegel . . . . . . . . . . 2.2 Der zweite Aspekt des Widerspruchs: Zwischen Einheit und (positiver) Einzelheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Problem der als-Struktur in kategorialer Ausprägung . . . . . . . . . 2.2.2 Das Problem der als-Struktur in konkreter Ausprägung . . . . . . . . . . . 2.3 Die Ewigkeit der Gedankendinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Zu Hegels Begriff „des Wahren“ (und des bloß „Richtigen“) . . . . . . . 2.4.2 Die Unverfügbarkeit der philosophischen Einsicht . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 „Erfahrung“ und „Korrektur“ – von Brandoms fundamentalem Missverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40 40 42 46 47 54 60 67 70 73 80
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Inhaltsverzeichnis
3 Das Kapitel „Krafft und Verstand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.1 Zur Rolle des Kapitels „Krafft und Verstand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.2 Zum Begriff der „Kraft“ – auf dem Weg von einer dinghaften zu einer dynamischen Auffassung begrifflicher Repräsentation . . . . . . . . . 93 3.3 Wahrnehmung und Verstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 4.1 Die apriorische Richtung der Aktivität der Aufmerksamkeit . . . . . . . . . . . . 115 4.2 Wahrnehmung qua sinnlicher Aufmerksamkeit – in gewohnheitsmäßiger und nicht-gewohnheitsmäßiger Form . . . . . . . . . 123 4.3 Zur Frage nach unserem Erlernen der sinnlichen Wahrnehmung . . . . . . . 139
5 Zusammenführung: Sinnliche Wahrnehmung als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 5.1 Hegels negativer Begriff des Begriffs als singularetantum . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes . . . . . . . . . . . 5.2.1 Erste Annäherung: Positive vs. negative Aktualisierung und Intersubjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Fortführung: Hegels starker Geistbegriff im Kontext . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Zusammenführung: Normativität qua Intersubjektivität als Setzung des (subjektiven) Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Wahrnehmung als „Spiel“ – und Hegel über „Selbstbewusstsein“ . . . 5.4 Hegels enzyklopädische Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung als „Anschauung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154 166 166 172 180 198 209
Teil II
Die Aktivität der Wahrnehmung und die Metaphysik des Geistes 6 Idealistische Metaphysik des Geistes vs. Materialistische Metaphysik der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 6.1 Die Aktivität der Anschauung und die nicht-Aktivität der Natur . . . . . . . . 6.2 Die Wirklichkeit des Geistes als Überwindung jeder Metaphysik der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Materialistische Metaphysik der Natur vs. Idealistische Metaphysik des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Rödl als Vertreter des Materialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Die materialistische Verwirrung um den Kausalitätsbegriff . . . . . . . .
223 227 230 230 233
Inhaltsverzeichnis
XI
6.4 Kompetenzen und Defizite der Wahrnehmung: Individualität und Offenheit des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.4.1 Die geistwidrige Geschlossenheit des Disjunktivismus und von Anscombes Idee eines spontanen, erstpersonalen Wissens von unseren Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 6.4.2 Interne (Defizienz‑)Faktoren als Faktoren des Geistes – und ihr nicht-disjunktivistischer Charakter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245
7 Die Wirklichkeit des Geistes als Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 7.1 Die erkenntnislogisch-semantische Struktur des Weges der Selbsterkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Hegels Begriff der „Offenbarung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Hegel über Gott – und Mensch. Zum Inbegriff des Geistes . . . . . . . . . . . . . 7.4 Ist die(se) Selbsterkenntnis des Geistes das (System‑)Ganze? . . . . . . . . . . .
268 287 290 314
8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 8.1 Die „Erfahrung“ des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Absoluter Geist: Drei Gestalten des „Angesprochenwerdens“ des Menschen durch Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325 328 333 341 364 378
Schluss-Szene: Der Kampf um Anerkennung als Ausdruck der Sehnsucht nach geistiger Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 403 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417 Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419
Einleitung: Zum inneren Zusammenhang von Philosophie der Wahrnehmung und Metaphysik des Geistes Die philosophische Frage nach der Wahrnehmung und ihr Bezug zur Metaphysik Philosophie ist Selbsterkenntnis. Philosophisch nach der Wahrnehmung zu fragen bedeutet, nach mir selbst, insofern ich Wahrnehmender bin, zu fragen. Von Interesse ist diese Frage nicht nur deshalb, weil die Wahrnehmung ein mir als endlichem Subjekt wesentlich zukommendes und zudem alltäglich präsentes Vermögen ist, sondern auch deshalb, weil mit dieser Frage andere wesentliche Fragen verbunden sind, etwa: Wie verhalten sich Wahrnehmung und Urteil zueinander? Liegt in der Wahrnehmung ein Wissen – und wenn ja, von welchem Status? Ist die Wahrnehmung ein rein theoretisches, oder wesentlich auch ein praktisches Vermögen, in dessen Ausübung ich in irgendeiner Weise willentlich aktiv bin? Schließlich: Ist die Wahrnehmung ein natürlicher Vorgang – und bin ich, insofern ich wahrnehmend bin, ein natürliches Wesen –, oder ist die Wahrnehmung selbst schon geistig – und ich, schon insofern ich wahrnehmend bin, entsprechend ein geistiges Wesen? Mit der letzten Frage ist schon angedeutet, worin der systematische Zielpunkt vorliegender Untersuchung besteht: in einer Metaphysik des Geistes. Dazu soll mit Hegel eine bestimmte Auffassung der Wahrnehmung entwickelt werden – und zwar als qua Aufmerksamkeit aktive Aktualisierung von Begriffen –, mit der eine bestimmte Metaphysik – eine Metaphysik des Geistes – wesentlich verbunden ist. Vorab bedarf es deshalb einer grundsätzlichen Erinnerung daran, dass jede Philosophie der Wahrnehmung irgendeine bestimmte Metaphysik zu ihrer Kehrseite hat; dass eine Philosophie der Wahrnehmung letztlich keine Auskunft darüber ist, wie ich als Wahrnehmender funktioniere, sondern Selbsterkenntnis, also Erkenntnis davon, wer oder was ich, auch als Wahrnehmender, wesentlich bin. Die Wurzel des Zusammenhangs von Philosophie der Wahrnehmung und Metaphysik ist recht offensichtlich: Fasst man die Wahrnehmung als einen natürlichen Prozess auf, bin ich zumindest qua Wahrnehmung ein natürliches Subjekt. Ich bin dann entweder im Ganzen ein solches, oder aber zumindest in einer „Vermögensschicht“. Stellt sich die Wahrnehmung hingegen als ein geistiger Prozess heraus, bin ich schon qua Wahrnehmung kein natürliches Subjekt – und sodann wohl auch im Ganzen nicht.
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Einleitung
Dass der Zusammenhang von Philosophie der Wahrnehmung und Metaphysik in der gegenwärtigen analytisch geprägten Philosophie kaum explizit bedacht wird, ist wohl dadurch zu erklären, dass sie in erdrückender Mehrheit dem Naturalismus – einer Metaphysik der Natur – anhängt; dass also die erstgenannte Auffassung dominiert. Genauer gesagt, ist ihr der Naturalismus – eine Metaphysik der Natur – derart selbstverständlich geworden, dass der Zusammenhang einer Philosophie der Wahrnehmung mit ihm keiner Erwähnung mehr wert ist: Der Naturalismus kann vorausgesetzt werden; er scheint faktisch nicht begründungspflichtig zu sein. Dass – umgekehrt – der Naturalismus aus einer bestimmten Auffassung der Wahrnehmung resultiert, ist nicht überraschend, nicht bemerkens-wert, sondern bloß der erwartete index veri in dem Sinne, dass diese Auffassung mit der breit anerkannten Metaphysik in Einklang steht. In diesem Vorurteilscharakter der Philosophie – dass über die Gestalt ihrer Metaphysik immer schon entschieden ist – liegt nun aber mehr als eine bloße Borniertheit bestimmter philosophischer Individuen einer bestimmten Zeit. Wie wir sehen werden, liegt es im Wesen der Metaphysik, dass man sie nicht von metaphysisch neutralem Grund aus betreten kann. Man kann auch sagen: Die Metaphysik geht ihrem Wesen nach aufs Ganze und ist deshalb auch immer nur als Ganzes zu haben. Wer sich philosophisch bewegt – z. B. in einer Philosophie der Wahrnehmung –, bewegt sich immer schon in ihr, auch wenn er davon vielleicht nichts wissen mag. Die analytische Hegelrezeption McDowells – eine metaphysische Wende? Schon weil vorliegende Untersuchung wesentlich eine Untersuchung mit und an Hegel ist, ist es naheliegend, in ihr die Auseinandersetzung mit derjenigen Linie der gegenwärtigen, analytisch geprägten Philosophie zu suchen, die sich ihrerseits auf Hegel beruft. Man müsste von ihr erwarten, dass sie Hegels unbedingtes Festhalten an einer Metaphysik des Geistes nachzuvollziehen sucht und dieser somit zumindest im Ansatz genügt. Vordergründig scheint dies auch der Fall zu sein: John McDowell, der neben Robert Brandom und Wilfrid Sellars einflussreichste Vertreter der analytischen Hegelrezeption in systematischer Absicht, trat mit seinen Locke Lectures unter dem Titel Mind and World hervor, die er selbst als Prolegomenon zu seiner Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes bezeichnet.1 Die zentrale These McDowells besteht darin, dass die Wahrnehmungen selbst – und nicht erst unsere (auf Wahrnehmung basierenden) Urteile – begrifflich sind. Das bedeutet, dass die für Urteile wesentliche Artikulationsform – die als-Struktur: die Form der Repräsentation von etwas als so-und-so – schon in der sinnlichen Wahrnehmung selbst am Werk ist. 1 McDowell 1996: ix: „I would like to conceive this work […] as a prolegomenon to a reading of the Phenomenology“. McDowell setzt sich an dieser Stelle auch explizit in ein Verhältnis zu den Hegel-Rezeptionen von Sellars (vgl. Sellars 1997) und Brandom (vgl. Brandom 1994).
Einleitung
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Der Eindruck, dass McDowell damit eine Abkehr vom zeitgenössischen Naturalismus verbindet, wird zunächst noch dadurch verstärkt, dass er sich mit dieser These gegen solche Philosophien der Wahrnehmung richtet, die behaupten, dass wir in der Wahrnehmung den Tieren gleich seien, anders als diese jedoch durch unsere Begriffe mit diesen Wahrnehmungen etwas anderes anfangen können, sie beispielsweise in Urteile zu transformieren vermögen. Anders als bei Tieren tritt beim Menschen solchen Auffassungen zufolge eine höhere „Schicht“ hinzu, die als solche aber die unter ihr liegende „Schicht“ unangetastet tierisch lässt. McDowells Philosophie lässt sich als eine Kritik eines solchen „Schicht(kuchen)modells“2 (J. Conant) lesen. Sie setzt ihm entgegen, dass die scheinbar bloß äußerlich über der Wahrnehmung liegende Schicht der Urteile (und damit Begriffe) die scheinbar bloß äußerlich unter ihr liegende Schicht der Sinnlichkeit nicht unberührt lasse. Vielmehr durchwirke sie diese immer schon so, dass bereits in der Sinnlichkeit Begriffe am Werk sind, ja dass Akte der Sinnlichkeit als begriffliche Akte – und nur als solche – zu begreifen sind. Die aus dieser Kritik resultierende Opposition ist also eine für die gegenwärtige analytische Debatte durchaus zentrale. Sie findet ihren konkreten Ausdruck im andauernden Streitgespräch McDowells und seiner Anhänger – wie etwa James Conant und Sebastian Rödl3 – mit offensiven Vertretern des „Schichtkuchenmodells“ – wie paradigmatisch etwa Charles Travis4. Doch der Schein, dass damit nun eine Opposition zwischen einer Philosophie der Wahrnehmung cum Metaphysik des Geistes und einer Philosophie der Wahrnehmung cum Naturalismus beschrieben wäre, trügt. Zeigen lässt sich dies an der McDowell’schen Antwort auf eine Frage, die sich unmittelbar aus seiner Grundthese ergibt: Wie unterscheidet sich die Wahrnehmung als eine Art von begrifflichem Akt von der (anderen) Art von begrifflichem Akt, welcher das Urteil ist? McDowell zufolge handelt es sich beim Urteil um eine aktive, bei der Wahrnehmung hingegen um eine passive Aktualisierung von Begriffen.5 Im Zuge der Kritik dieser Auffassung, wie sie in dieser Untersuchung mit Hegel unternommen werden wird, wird zunächst genauer zu klären sein, was diese Rede eigentlich besagen soll. Von McDowell selbst explizit gemacht ist jedoch, dass die „passive Aktualisierung von Begriffen“ einen kausalen Prozess bedeuten
2 Vgl. dazu Conant 2015 und 2017. Ein anderer Ausdruck hierfür findet sich bei Boyle 2016, der von „additive theories of rationality“ spricht. 3 V. a. Rödl 2011. 4 Travis 2004 und, in noch expliziterer Konfrontation mit McDowell, Travis 2008. Eng verwandt in der Opposition gegenüber McDowell argumentiert in seinem Beitrag zum selben Band Brewer 2008, der seine Position systematisch entwickelt hat in Brewer 2011. 5 Diese Grundthese zieht sich durch McDowells gesamtes Werk, unbeschadet aller Veränderungen in ihrer näheren Ausformulierung. In Mind and World etwa spricht McDowell von einer „passive operation of conceptual capacities in sensibility“ (McDowell 1996: 12).
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Einleitung
soll; ein sich-dem-Subjekt-als-so-und-so-Zeigen des Objekts, eine vom Objekt ausgehende (kausale) Aufnötigung.6 Hier nun zeigt sich, dass die dargestellte Opposition nur scheinbar diejenige einer Metaphysik des Geistes gegen den Naturalismus ist: McDowell ist sich nämlich mit seinen Gegnern immer noch darin einig, dass Wahrnehmung ein kausaler und ein natürlicher Prozess ist7; also ein Prozess, in dem die Welt – ihre Tatsachen oder Objekte – selbst wirksam ist, ja den sie selbst beginnt. Dissens gibt es lediglich bezüglich der näheren Bedeutung von „kausal“ und „natürlich“. McDowell spricht hier etwa von einer „zweiten Natur“ im Unterschied zu einer bloß „ersten“, derjenigen also, die die empirischen Wissenschaften als (Be‑)Reich der Naturgesetze thematisieren. Solange die große Differenz nicht im Blick ist, die in dieser Untersuchung mit Hegel vorgetragen werden soll, mag es den Anschein haben, als würde diese Differenz schon den Unterschied ums Ganze machen. Im Lichte von Hegels Philosophie aber entpuppt sie sich als kleine Differenz; ihr im Ganzen ist mit Hegel die Auffassung der Wahrnehmung als aktiv und geistig gegenüberzustellen. Schon die Wahrnehmung ist also ein durch und durch geistiger, kein natürlicher Prozess; ein Prozess, der aktiv vom Subjekt allein (und nicht von Objekten) begonnen wird, also kein kausaler Prozess. Schon auf der Ebene der Wahrnehmung kann und muss ich mich somit als geistiges Wesen begreifen. Geist ist, wie Hegel sagt, „absolut Erstes [der Natur]“8. Dies zeigt sich in der Wahrnehmung darin, dass der Geist selbst seine Wahrnehmungsakte beginnt – und nicht die darin erst repräsentierten Objekte oder die Natur dies tun. Genau darin aber besteht McDowells Auffassung im Kern: dass Wahrnehmungsakte Akte des Subjekts in dem Sinne sind, dass sie Akte des sich-Subjekten-Zeigens von Objekten sind. Hierin zeigt sich eine erste Kon6 In seiner Einführung zu Mind and World spricht McDowell zustimmend von „the world impressing itself on perceiving subjects“ als einem Minimalgedanken des Empirismus, dem er Rechnung tragen will (McDowell 1996: xvi). Diese Formulierung wird auch in den Woodbridge Lectures (McDowell 1998a–c) aufgegriffen: Wahrnehmungen enthalten, so McDowell, ihre „claims“ auf eine bestimmte Art, nämlich „as ostensibly required from or impressed on their subject by an ostensibly seen object“ (McDowell 1998b: 451). In einem Kolloquium aus dem Jahr 1999 (McDowell 2000a) stellt er fest: „The idea of receptivity is implicitly causal“ (McDowell 2000b: 91). Die Idee einer „kausalen Aufnötigung“ als Implikat von McDowells Grundthese ist deutlich herausgearbeitet bei Kern 2006: 153 ff. All das wirft freilich die Frage auf, was genau „Kausalität“ hier bedeuten soll (vgl. zu diesem Problem auch die Rückfragen von HeßbrüggenWalter 2000). Ein Implikat der mit Hegel vorzutragenden Kritik an McDowell wird darin liegen zu zeigen, dass McDowells Begriff von Kausalität nicht zufällig unklar ist. Es wird sich zeigen, dass es nach Hegel keinen Grund gibt, den Skopus des sinnvollen Gebrauchs des Kausalitätsbegriffs über den Bereich empirischer Naturzusammenhänge hinaus auszudehnen. 7 Vgl. auch McDowells eigene Bekenntnisse zum Naturalismus in McDowell 1996: xix ff. und McDowell 2004. Davidson 1999 weist McDowells Kritik an seiner Auffassung der kausalen Fundierung von Urteilen zurück. So undifferenziert dies sein mag, so wichtig ist, dass darin (unfreiwillig) beider gemeinsames Bekenntnis zur kausalen Fundierung geistiger Akte offenbar wird. 8 Enz. 1830, § 381.
Einleitung
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kretion der Opposition von Metaphysik der Natur und Metaphysik des Geistes: Erstere meint, die Natur sei von sich aus aktiv – selbst Tätigkeit9; zweitere vertritt, dass nur der Geist aktiv und Anfang sein kann, und die Natur nur als Anderes geistiger Aktivität überhaupt ist. Wie sich zeigen wird, hat diese These zur Konsequenz, dass Wahrnehmungsakte nicht nur nicht von Objekten begonnen werden, sondern dass es überhaupt kein Moment der Determination des Aktes durch ein voraus-gesetztes Objekt gibt, die nicht selbst schon als innergeistige Determination aufzufassen wäre. Erinnerung an einige Grundbegriffe, in therapeutischer Absicht McDowells Auffassung instanziiert einen Typ von Auffassung der Wahrnehmung, den wir hinfort „Passivitätsauffassung“ nennen wollen. Darunter ist, negativ formuliert, die Auffassung zu verstehen, dass Wahrnehmungsakte nicht intern von irgendeiner Aktivität oder Handlung des Subjekts abhängen. Diese Auffassung soll mit Hegel zurückgewiesen werden, indem gezeigt wird, dass Wahrnehmungsakte qua Aufmerksamkeit aktive Aktualisierungen begrifflicher Vermögen sind. Der Zusatz „nicht intern“ in der Definition der Passivitätsauffassung ist wichtig; denn dass es Handlungen unsererseits gibt, von denen unsere Wahrnehmungen extern (z. B. bloß kontrafaktisch) abhängen, ist unstrittig: beispielsweise, dass ich ohne Antritt meiner Fahrt nach Rom vorgestern heute das Kolosseum nicht hätte besichtigen können.10 Auch kann ein Vertreter der Passivitätsauffassung – wie McDowell es sogar explizit tut – zugeben, dass rationale Subjekte die Art von Wahrnehmung, die sie haben, nicht haben könnten, wenn sie die darin am Werk seienden Begriffe nicht auch aktiv – in Urteilen – gebrauchen könnten11; oder, noch allgemeiner, dass einem rationalen Subjekt kein theoretisches Vermögen zukommen könnte, wenn ihm nicht auch ein praktisches Vermögen zukäme. Doch all dies sind deutlich schwächere Thesen als diejenige, für die wir mit Hegel argumentieren werden: dass jedem Wahrnehmungsakt eine bestimmte Aktivität oder Handlung des Subjekts intern ist, nämlich diejenige der Aufmerksamkeit.
9 Klar ausgesprochen als konsequente Fortführung von McDowells Ansatz ist dies bei Rödl 2011: 11 f. Darauf wird in Kapitel 6 ausführlich zurückzukommen sein. 10 Auch bezüglich dieser Differenzierung gibt es eine instruktive Debatte in der zeitgenössischen Philosophie: Weil es Alva Noë in seinem Buch mit dem (vielver)sprechenden Titel Action in Perception (Noë 2004) nicht gelang, diejenige „action“, die er thematisierte, als der „perception“ intern aufzuweisen, gehen seine Erkenntnisse nicht wesentlich über den genannten, unstrittigen Punkt hinaus, wie Block 2005 gezeigt hat. In einer Replik auf Kritiker hat Noë bekannt, er habe dasjenige, was wir „Passivitätsauffassung“ nennen, gar nicht hinterfragen wollen (vgl. Noë 2008). 11 McDowell betont entsprechend „that the passive operation of conceptual capacities in sensibility is not intelligible independently of their active exercise in judgement, and in the thinking that issues in judgement“ (McDowell 1996: 12).
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In all derartigen schwächeren Thesen erschöpft sich unsere hegelsche These also keineswegs. Sie besteht vielmehr darin, dass wir als Subjekte in jedem Wahrnehmungsakt wesentlich aktiv, handelnd, sind – nicht bloß außerhalb seiner und nicht bloß in anderen Arten begrifflicher Akte. Qua begrifflich, so wird sich zeigen, muss ein begrifflicher Akt intern aktiv sein. Dieser Befund ist (exegetisch) nicht allzu überraschend, als „Begriff “ bei Hegel (wie schon bei Kant) intern mit „Aktivität“ verbunden ist. Doch was genau das bedeutet und wie sich dieser Zusammenhang in der Wahrnehmung ausprägt, ist nicht gleichermaßen offensichtlich, und nicht leicht darzutun. Das zentrale Hindernis dieser Einsicht, das es im Laufe der Untersuchung zu heben gilt, ist dieses: Wir meinen, die Tatsache, dass wir nicht wählen können, was wir wahrnehmen, schließe Aktivität in der Wahrnehmung aus und müsse das Objekt selbst zum determinierenden Anfang des Wahrnehmungsaktes machen. Doch diese Annahme ist – von einer hegelschen Warte aus – dogmatisch; denn sie schließt von vornherein aus, dass es eine innergeistige Determination individueller Akte geben kann, die eine Wahl des Inhalts dieser Akte durch das betreffende Individuum ausschließt. Ein wesentliches Problem bei McDowell wie auch bei seinen genannten Gegnern – mit teilweiser Ausnahme gewisser phänomenologisch inspirierter Köpfe12 – liegt nun aber schon darin, dass sie die begrifflichen Mittel, mit denen dieses Hindernis gehoben und eine Auffassung der Wahrnehmung als aktiv entwickelt werden könnte, gar nicht zur Verfügung haben, weil sie Wahrnehmung zu abstrakt behandeln – in dem Wortsinne von „abstrakt“, den auch Hegel immer wieder bemüht: abgezogen von einem wesentlichen Zusammenhang, in dem etwas erst konkret begreiflich wird. Im Rahmen dieser Einleitung ist es deshalb initial hilfreich, sich diese vergessenen Zusammenhänge gleichsam deskriptiv vor Augen zu führen. Als Deskription impliziert dies freilich noch nicht unmittelbar die Richtigkeit der hegelschen Auffassung, geschweige denn ihre vollständige Entwicklung; sehr wohl aber gibt es Gründe und Winke dafür an die Hand, indem es unseren Blick auf Züge des Geistes lenkt, die uns trotz aller naturalistischer Verwirrung durchaus gut vertraut sind – unabhängig davon, wie vertraut wir mit Hegel sind. Solche Deskription besteht also wesentlich in einer therapeutischen Erinnerung an in der gegenwärtigen Debatte vergessene Grundbegriffe – und in einem Vorgriff darauf, wie sich mit ihnen die Richtung einer Philosophie der Wahrnehmung als wirkliche Philosophie des Geistes einschlagen lässt. Zunächst ist der Unterschied zwischen einer Einzelwahrnehmung und unserem Wahrnehmungsfeld im Ganzen in Erinnerung zu rufen. Wir alle haben, so wir bei Bewusstsein sind, ein kontinuierlich gefülltes Wahrnehmungsfeld im Ganzen – genauer: ein Wahrnehmungsfeld im Ganzen, das aus den je ganzen 12 Zu nennen sind hier insbesondere Noë 2004 (auch im Anschluss an Merleau-Ponty) sowie, in expliziter Konfrontation mit McDowell, Dreyfus 2013.
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Wahrnehmungsfeldern unserer verschiedenen Einzelsinne immer schon ursprünglich synthetisiert ist. Ein solches Feld im Ganzen könnten wir nicht ohne Einzelwahrnehmungen haben, also nicht ohne Wahrnehmungen von bestimmten Objekten als so-und-so. So kann z. B. mein Wahrnehmungsfeld im Ganzen nicht einen Ausschnitt der toskanischen Landschaft sinnlich gegenwärtig machen, ohne dass ich dabei auch einige Objekte als solche sehe, etwa einzelne Bäume oder Hügel; doch das Wahrnehmungsfeld im Ganzen erschöpft sich nicht in einer diskreten Akkumulation solcher Einzelwahrnehmungen. Das Feld stellt sich vielmehr als ein kontinuierlich gefülltes dar, das als solches seiner Form nach nicht allein in diskreten Objekten bestehen kann; es ist ein Feld, in dem Objekte lokalisiert sind, und als solches weder selbst ein Objekt noch etwas, das aus Objekten zusammengesetzt wäre. Unsere Sprache ist für diese Differenzen sensibel: Sie zeigt uns klar an, dass das Wahrnehmungsfeld im Ganzen kein (Wahrnehmungs‑)Objekt ist; wir sagen nämlich, dass wir ein solches Wahrnehmungsfeld haben – und nicht wahrnehmen. Ein solches Feld haben wir also, einzelne Objekte – in ihm – nehmen wir wahr. Das Verhältnis zwischen einem Wahrnehmungsfeld im Ganzen, das wir haben, und der Einzelwahrnehmung von Objekten, die in ihm sind, kann weiter aufgehellt werden durch den Begriff der Aufmerksamkeit. Eine Form von Aufmerksamkeit nämlich ist die sinnliche Aufmerksamkeit, das sich-auf-ein-Wahrnehmungsobjekt-Richten. Zunächst: Dass wir uns auf ein Wahrnehmungsobjekt richten oder auch nicht richten können, setzt – rein logisch – voraus, dass wir uns nicht immer schon in dieser Weise auf alle Wahrnehmungsobjekte in unserem Feld gerichtet haben. Der Gedanke, dass wir unsere Aufmerksamkeit in dieser Weise zugleich auf alle Objekte unseres Wahrnehmungsfeldes richten, ist in sich widersinnig. Das liegt darin begründet, dass es Bedingung der Möglichkeit für das Haben eines Wahrnehmungsfeldes im Ganzen ist, dass dies nicht der Fall ist; dass unsere Aufmerksamkeit in ihm vielmehr ursprünglich gestreut ist. Erst auf dieser Basis können wir dann beispielsweise unsere volle Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes Objekt richten. Die kategoriale Differenz zwischen Wahrnehmungsfeld und Einzelwahrnehmung ist also Bedingung der Möglichkeit dafür, dass wir souverän unsere sinnliche Aufmerksamkeit richten und lenken können: Sie lenken – ihre Richtung zu verändern – bedeutet nämlich, sie statt nach A nach B zu lenken13, wobei „A“ und „B“ Positionen in unserem Wahrnehmungsfeld bezeichnen. Hätten wir – kontrafaktisch gesprochen – kein 13 Es ist in der Debatte vorgeschlagen worden, scharf zwischen einer Aktivität, die in der Aufmerksamkeit als sich-Richten als solchem liegt, und einer Aktivität ihres Richtungswechsels zu unterscheiden. Doch das ist verworren. Zwar lässt sich „die Aufmerksamkeit“ als sich-Richten begrifflich in der Tat vom Wechsel der konkreten Richtung unterscheiden. Doch es handelt sich hierbei nicht um zwei real getrennte Akte, deren einem Aktivität zukommen könnte, dem anderen hingegen nicht. Eine kritische Darstellung solcher mit Hegel zurückzuweisenden Abstraktionen in der gegenwärtigen Debatte findet sich bei Roessler 2011. Wir werden in Kapitel 5 darauf zu sprechen kommen.
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Wahrnehmungsfeld, wäre dieser Gedanke gar nicht formulierbar; ebenso könnte, trivialiter, nicht von einem Wechsel der Richtung der Aufmerksamkeit von einem Objekt am Ort A zu einem Objekt am Ort B die Rede sein, wenn uns keine Objekte in diesem konkreten Wahrnehmungsfeld sinnlich gegenwärtig wären. Bemerkenswert ist allerdings, dass wir uns „A“ und „B“ sehr wohl als formale Orte in einem ebenso formalen Wahrnehmungsfeld denken können, das als solches keiner konkreten Objekte innerhalb seiner bedarf. In diesem Sinne kann unsere Aufmerksamkeit also eine Richtung haben, die nur von der raumzeitlichen Struktur des Wahrnehmungsfeldes als solchem abhängt, nicht aber von irgendwelchen Objekten. Dieser Gedanke wird sich als wesentlich in Hegels Auffassung der Wahrnehmung erweisen14; an dieser Stelle ist er ein weiterer Wink, was es bedeuten wird, dass der Geist, auch in seinen Wahrnehmungsakten, nicht von voraus-gesetzten Objekten – und auch von sonst nichts außerhalb seiner – bestimmt wird, und dass es, wie Hegel sagt, Aufgabe der Philosophie des Geistes ist, unser Denken von dem Schein, es sei so, zu befreien.15 Damit zurück zum Wahrnehmungsfeld: Die souveräne sinnliche Navigation eines endlichen Subjekts besteht also mitunter darin, dass es durch Aufmerksamkeit seine Einzelwahrnehmungen vor dem Hintergrund eines Wahrnehmungsfeldes im Ganzen selbst moduliert. Das aber tut es immer geleitet durch seine theoretischen oder praktischen Zwecke. Ein einfaches, alltägliches Beispiel hierfür ist das Autofahren. Um Autofahren zu können, muss ich bestimmte Dinge im Blick behalten; das erfordert, meine Aufmerksamkeit etwa dorthin (und nicht anderswohin) zu richten. So muss ich z. B. an Kreuzungen auf die Ampel über der Straße achten, sollte meine Aufmerksamkeit aber gerade nicht ständig – also nicht auch dort, wo keine Ampeln sind – in Richtung von Raumstellen oberhalb der Straße richten. Allgemeiner gesprochen, bedarf es zur Realisierung des praktischen Zwecks des Autofahrens gewisser theoretischer Elemente, eben unter anderem bestimmter Einzelwahrnehmungen; zugleich jedoch bedarf es auch hier des Feldes im Ganzen, ohne welches der Autofahrer – wie wir zurecht sagen – „die Umgebung“ gar nicht als solche im Blick haben, gar nicht orientiert sein könnte. Auch dort, wohin er seine Aufmerksamkeit gerade nicht richtet, sieht er nicht nichts.16 Dies wird besonders deutlich an Fällen, in denen er seine Aufmerksamkeit nicht dorthin gerichtet hat, wohin er sie hätte richten sollen – etwa, wenn er sagt, er habe nicht wirklich gesehen, was auf dem Verkehrsschild stand, an dem er soeben vorbei gefahren ist. Das bedeutet: Er hat das Verkehrs14 Darauf
werden wir in Kapitel 4 ausführlich zu sprechen kommen. Enz. 1830, § 445. 16 Als eine Pointe von Hegels Auffassung wird sich in den Kapiteln 4 und 5 herausstellen, dass dies daran liegt, dass auch dorthin, wo wir unsere Aufmerksamkeit nicht zu richten scheinen, unsere Aufmerksamkeit gerichtet ist – und zwar in einer anderen, nämlich gewohnheitsmäßigen Form. Unsere These besteht ja darin, dass jedem (beliebig individuierten) Wahrnehmungsakt die Aktivität der Aufmerksamkeit intern ist. Doch all dies ist im vorliegenden deskriptiven Teil der Einleitung natürlich noch nicht vorauszusetzen. 15 Vgl.
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schild durchaus gesehen – und nicht einfach nichts –, wenngleich nicht so akkurat oder detailliert, wie er es hätte sehen können, wenn er seine Aufmerksamkeit richtig darauf gerichtet hätte. Entsprechend ist auch dieses Sehen des Verkehrsschildes eine (Einzel‑)Wahrnehmung, wenngleich eine weniger akkurate oder detaillierte im Vergleich zu einer solchen – möglichen oder realen –, in welcher die Aufmerksamkeit richtig auf das Verkehrsschild gerichtet wurde. Schon an diesem einfachen Beispiel zeigt sich, dass die Güte unserer Wahrnehmung nur relativ zu einem bestimmten Zweck sinnvoll zu beurteilen ist.17 So ist im Hinblick auf das gelingende Autofahren die vergröberte Wahrnehmung von Büschen jenseits des Straßenrandes als „gut“ zu beurteilen – denn ihre akkurate oder detaillierte Wahrnehmung als Forsythien diesen oder jenen Blütenstandes ist für das Autofahren irrelevant, wäre ablenkend und in diesem Sinne „schlecht“. Anders freilich verhält es sich damit, was genau auf den Verkehrsschildern zu lesen ist. Umgekehrt gilt: Für den Biologen, der den Einfluss von Autoabgasen auf die Vegetation der Umgebung erforscht, ist nur eine Wahrnehmung der Büsche, in der auch deren Art und Blütenstand repräsentiert wird, „gut“ zu nennen. Dieses Beispiel erinnert zudem daran, dass es nicht nur Fälle wie das Autofahren gibt, in denen eine bestimmte Handlung (oder Praxis) das eigentliche Ziel ist, um dessen willen gewisse theoretische Elemente in ihrer Güte erforderlich sind, sondern auch Fälle, in denen diese theoretischen Elemente selbst der letztliche Zweck sind – und somit keine Elemente mehr, sondern Erkenntnisse um ihrer selbst willen. Es wäre verkehrt zu meinen, die (empirischen) Wissenschaften seien die einzige Instanz hiervon. Vielmehr gibt es auch dazu Beispiele aus unserer alltäglichen Lebenswelt: Ein Kind etwa mag aus schlichter Neugier oder Wissbegierde wissen wollen, welchen Typs das über ihm am Himmel zu sehende Flugzeug ist, und betrachtet es deshalb so genau es kann; oder ein Wanderer mag – ebenso um des Wissens selbst willen – herausfinden wollen, welcher Art der über den Weg hüpfende Vogel zugehört. Interessanterweise ist es nun auch in diesen „reintheoretischen“ Fällen so, dass die Akkuratheit und Detailliertheit der betreffenden Einzelwahrnehmungen nur möglich ist, wenn andere (gleichzeitige) Einzelwahrnehmungen im Vergleich dazu vergröbert sind. Das gilt zum einen in dem schon erwähnten, ganz allgemeinen Sinne, dass jede Einzelwahrnehmung eben nur möglich ist, wenn der Wahrnehmende ein Wahrnehmungsfeld hat, dem es als solchem wesentlich ist, dass nicht alle für es konstitutiven Einzelwahrnehmungen maximal akkurat und detailliert im Sinne des „reintheoretischen“ Maßstabs sind. Zum anderen aber gilt es in einem damit intern verbundenen, aber noch spezifischeren Sinne: Schon innerhalb einer Einzelwahrnehmung – also der Wahrnehmung eines bestimmten Objekts als so-und-so – kann eine Vergröberung in diesem Sinne not Dieser Punkt wird in Kapitel 6 ausführlich zu erörtern sein.
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wendig sein, und ist es auch oft: Beispielsweise in der Wahrnehmung der Arme eines Kronleuchters als so-und-so geschwungen. Diese ist eine Wahrnehmung der Arme des Kronleuchters – im Unterschied zu einer Wahrnehmung des Kronleuchters als solchem – dadurch, dass das Subjekt seine Aufmerksamkeit nicht auf den Kronleuchter im Ganzen, sondern auf dessen Arme lenkt. Doch diese werden ja nur dann als Kronleuchterarme wahrgenommen, wenn der Kronleuchter im Ganzen in dieser Wahrnehmung nicht einfach ausgeblendet ist, sondern als dasjenige präsent, an dem die Kronleuchterarme sind – wodurch sie eben erst als Kronleuchterarme wahrgenommen werden. Das am Kronleuchter, was nicht seine Arme sind, muss also ebenso wahrgenommen werden, aber – und so erfahren wir es auch tatsächlich – als eine Art „Hintergrund“ oder „Rahmen“, auf dem der Fokus unserer Wahrnehmung momentan nicht liegt. Dieses Beispiel zeigt, dass es ein Missverständnis wäre zu denken, dass die beschriebene „Vergröberung“ etwas ist, das wir aus gewissen Sachzwängen (z. B. praktischer Art) in Kauf nehmen müssen, in einer idealen Welt jedoch nicht vorkäme. Zum einen würden wir ohne diese „Vergröberung“ überhaupt nicht wahrnehmen – da wir ohne sie kein Wahrnehmungsfeld im Ganzen haben könnten; zum anderen aber könnten wir – wie das Kronleuchterbeispiel zeigt – selbst in Fällen mit reintheoretischem Ziel ohne Vergröberung nicht akkurat wahrnehmen. Die Güte einer Wahrnehmung pauschal als direkt proportional zu ihrer epistemischen Detailliertheit und Akkuratheit zu fassen, ist also schon in reintheoretischer Hinsicht verkehrt – und erst recht, sobald wir praktische Kontexte und Zwecke wie im Falle des Autofahrens bedenken. Es hat sich also gezeigt, dass das Werk der Aufmerksamkeit darin besteht, ein größeres Maß an epistemischer Detailliertheit und Akkuratheit zu ermöglichen; dass dies aber zugleich nur möglich ist, sofern und da dieses Werk in einer prinzipiellen Weise auch eingeschränkt ist. Dieser interne Zusammenhang lässt sich präzise so fassen: Aufmerksamkeit bedarf es sowohl, wie man sagen könnte, positiv – indem wir unsere Aufmerksamkeit auf etwas zunehmend richten – als auch negativ – indem wir sie reduzieren (oder immer schon reduziert haben). Eine Reduktion von Aufmerksamkeit ist auch ein Werk der Aufmerksamkeit, nur modo negativo. Nimmt man den positiven und negativen Modus zusammen, lässt sich erst von einer Regulierung der Aufmerksamkeit durch das Subjekt sprechen, wodurch sich dessen geistige Souveränität in der Wahrnehmung zeigt: Es nimmt nicht wahr, indem es hinnimmt, was sich von sich aus zeigt, sondern es repräsentiert (s)eine Welt immer schon qua Aktivität der Aufmerksamkeit – so werden wir mit Hegel argumentieren. Die Welt stellt sich ihm nicht von sich aus vor; sie ist überhaupt kein solches An-sich, das sich von sich aus zeigen könnte; sondern das Subjekt selbst repräsentiert (s)eine Welt, leitet souverän an, dass sich ihm überhaupt etwas vor-stellt. Was sich ihm so vorstellt, ist die Welt.
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Der nicht‑ oder trans-epistemische Charakter unserer Wahrnehmung – und ihre Geistigkeit Im Ausgang unserer Beispiele ist ein weiterer, differenzierender Schritt vonnöten, den die zeitgenössische analytische Debatte weitgehend und McDowell vollständig übergeht. Wir sind auf den negativen Modus der Aufmerksamkeit gestoßen, indem wir ihn als notwendig für die Realisierung des positiven Modus und damit auch zunehmende theoretische (oder epistemische) Güte – Detailliertheit und Akkuratheit – erkannt haben. Doch darin erschöpft sich das Werk des negativen Modus der Aufmerksamkeit keineswegs. Das Wahrnehmungsfeld im Ganzen hat nicht nur die Funktion, Bedingung der Möglichkeit epistemisch mehr oder weniger guter Einzelwahrnehmungen zu sein. Es ist in einem weitaus grundlegenderen Sinne wesentlich für uns als endliche Subjekte. In ihm besteht, wie Hegel formuliert, eine Weise unseres „Selbstgefühls“.18 Was damit gemeint ist, lässt sich in vorgreifender Weise wie folgt klarmachen: Durch das Haben eines Wahrnehmungsfeldes im Ganzen haben wir partikulare Gefühle – so z. B. das Gefühl eines besonders leuchtenden New Yorker Frühjahrstages, wenn wir mit unseren wachen Sinnen durch den Central Park spazieren, oder das toskanische Lebensgefühl, wenn wir uns in Siena aufhalten und die Stadt sinnlich auf uns wirken lassen. Diese Gefühle sind bestimmte und partikulare Gefühle: eben das Gefühl eines New Yorker Frühjahrstages bzw. des toskanischen Lebens. Sie sind also nicht Selbstgefühl in dem Sinne, dass ich darin allein mein „nacktes“ Selbst fühle, also eine qua Gefühl unmittelbare Weise von reinem Selbstbewusstsein, meinem Wissen, dass ich ich bin. Vielmehr fühle ich mich darin oder dadurch, dass ich diese partikularen Gefühle habe. Das liegt darin begründet, dass diese Art von partikularen Gefühlen nur geistige Wesen oder Selbste haben können: denn wesentlich für diese Art von partikularen Gefühlen ist, dass sie in einer Ganzheit begründet ist. „Der“ Frühlingstag oder „die“ toskanische Landschaft ist uns nur als solche(r) zugänglich, weil wir ein Wahrnehmungsfeld im Ganzen und als Ganzes haben – und dieses haben wir, wie Hegel hervorhebt, qua geistigem Wesen und Selbstsein. Das aber bedeutet, dass die qua Wahrnehmungsfeld im Ganzen gegebenen partikularen Gefühle intern mit dem Selbst verbunden und damit von einer Art sind, die nur Selbsten möglich ist und in denen Selbste unmittelbar ihrer selbst gewahr sind. Das ist mit „Selbstgefühl“ gemeint. Deutlich wird daran nun, dass es qua Selbstgefühl nichts bloß Epistemisches ist. Das sich-Gegebensein des endlichen Subjekts in einem solchen Gefühl ist kein gehaltvolles (oder gar propositionales) Wissen über mich, geschweige denn über irgendetwas anderes. Das bedeutet wiederum nicht, dass mit derartigen Realisierungen des Selbstgefühls überhaupt kein Wissen 18 So spricht Hegel im Zusammenhang mit der „Gewohnheit“ (Enz. 1830, §§ 409–410), auf deren Zusammenhang zur Wahrnehmung wiederum in Kapitel 4 ausführlich einzugehen sein wird.
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über irgendetwas verbunden wäre, im Gegenteil: Über ein Wissen davon, was eigentlich ein Frühlingstag bzw. die Toskana ist, verfügt gerade ein endliches Subjekt wie das eben beschriebene. Ein Subjekt, das bloß Einzelwahrnehmungen über Zypressen und Backsteine akkumulieren könnte, würde zwar Richtiges darüber wissen können, nicht aber wissen, was „die“ Toskana „eigentlich“ ist. Aus diesen Zusammenhängen nun lässt sich ein zentraler Aspekt des Unterschieds der menschlichen – geistigen – Wahrnehmung von der tierischen – geistlosen – Wahrnehmung ableiten. Es erhellt nämlich aus den Beispielen, dass und warum wir vom Menschen – von geistigen Subjekten – sagen, sie würden einen Frühlingstag genießen, sich darin vielleicht sogar verlieren. Von einer Eidechse, die sich auf einem Felsen sonnt, würden wir nicht sagen, dass sie einen Frühlingstag genießt oder sich gar darin verliert. Noch deutlicher verhält es sich in „umgekehrter“ Richtung der Aufmerksamkeit, „nach innen“: Nur ein geistiges Subjekt kann sich vertiefen, in sich gehen – in der Weise, dass es „von außen“ abgekoppelt, von seiner Sinnlichkeit vorübergehend befreit ist. Darin zeigt sich die unendliche Differenz zum Tier besonders plastisch: Einem Tier kann sinnlich nicht deshalb etwas entgehen, weil es sich in seine Gedanken, in sich selbst vertieft hat; als Menschen hingegen kennen wir die Erfahrung, dass uns Hören und Sehen vergeht, wenn wir ganz in Gedanken versunken sind. Und wieder wäre es geradezu absurd, das Vergehen von Hören und Sehen in einem solchen Fall als „schlecht“ zu bewerten. Die Ganzheit, die das Wahrnehmungsfeld ist, ist als solche also schon ein – formales – Signum unserer Geistigkeit.19 Dies lässt sich in einer weiteren Hinsicht konkretisieren: Wir können uns sinnlich auch auf größere Zusammenhänge, auf einzelne Ganzheiten oder Einheiten innerhalb unseres Wahrnehmungsfeldes richten: Beispielsweise, wenn wir das Arrangement unseres Wohnzimmers im Ganzen betrachten wollen, ziehen wir die Aufmerksamkeit vom Stuhl ab und nehmen stattdessen Stuhl, Sofa und Tischchen als ein Ensemble vor dem Hintergrund des großen Fensters wahr. Darin liegt nun wiederum eine doppelte Beziehung auf das Epistemische: Zum einen liegt darin ein Wissen, das in bloßer Akkumulation von Einzelwahrnehmungen nicht liegen könnte: nämlich, wie „das Wohnzimmer“ (oder „die Sitzgruppe“) aussieht und ist. Zum anderen aber erschöpft sich der Blick auf „das Wohnzimmer“ bzw. „die Sitzgruppe“ im Ganzen nicht in solchem Wissen. Vielmehr ist er auch wesentlich für unseren alltäglichen Lebensfluss, unsere Orientierung und Vertrautheit darin. Darin liegt nun nach Hegel nicht in dem Sinne schon etwas Metaphysisches, dass dieser alltägliche Lebensfluss mitsamt unserer sinnlichen Orientierung und Vertrautheit existentiell überhöht werden sollte. Mit Hegel wäre – gegen 19 Hegel macht dies in seiner Darstellung der „Anschauung“ als eines geistigen Vermögens deutlich (vgl. Enz. 1830, §§ 448–450). Darauf – und auf den Begriff „Anschauung“ überhaupt – wird in Kapitel 5 einzugehen sein.
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einen gewissen, idyllischen Heideggerianismus – vielmehr davor zu warnen, in dieser Art des (vermeintlichen) Beisichseins des Menschen schon das existentiell Wesentliche oder das Metaphysicum zu sehen. Im Hinblick auf eine Metaphysik des Geistes relevant ist an den genannten Beispielen vielmehr etwas Formales: dass das Bilden von Ganzheiten oder Einheiten sich selbst im Alltäglichsten aufweisen lässt, und dieses Bilden von Ganzheiten oder Einheiten ein Signum des Geistes in seiner unbegrenzten Reichweite ist – und zwar nicht nur die Ganzheit, die das Wahrnehmungsfeld als solches ist, sondern auch die Ganzheiten oder Einheiten, die wir innerhalb seiner ausbilden können. Dies lässt sich wie folgt spezifizieren: Die Passivitätsauffassung der Wahrnehmung, wie sie von McDowell exemplifiziert wird, kann die Möglichkeit gar nicht begreiflich machen, dass wir durch unsere Begriffe die Sinnlichkeit immer grundsätzlich anders strukturieren können. Denn wenn wir uns in der Aktualisierung dieser Begriffe rein passiv verhielten, hätten wir eo ipso keinen Einfluss darauf, welche Begriffe aktualisiert werden. Dieser Auffassung muss es ein Rätsel bleiben, warum wir eine Sitzgruppe als Sitzgruppe sehen können – und nicht etwa notwendig bloß als Akkumulation hölzerner Gegenstände. McDowell „löst“ dieses Rätsel letztlich dadurch, dass er sich – wie mir scheint, entgegen seinen ursprünglichen Intentionen – in die Auffassung flüchtet, dass nur ein bestimmter Katalog an Begriffen, die er „Kategorien“ nennt, in der Wahrnehmung selbst aktualisiert wird.20 Dass wir also, im eben genannten Beispiel, nur braune Dinge tatsächlich sehen – und erst nachträglich zu dieser Wahrnehmung im eigentlichen Sinne durch ein anderes Vermögen Begriffe wie „hölzern“, „Tisch“ oder „Stuhl“ ins Werk gesetzt werden. Mit Hegel ist dies als konsequenter Ausdruck des schon diagnostizierten Scheiterns der vermeintlichen metaphysischen Wende durch McDowell zu beurteilen: Wenn es nur einige „arme“ Begriffe sind, die in der Wahrnehmung aktualisiert werden, der durchaus schöpferisch zu nennende Reichtum unserer differenzierteren Begriffe hingegen nicht, so ist nicht ernst gemacht mit der These, dass der Geist insgesamt immer schon unsere Sinnlichkeit durchgriffen hat, ja sie erst aufspannt. Diese These aber lässt sich eben nur einlösen, wenn die Wahrnehmung als wesentlich aktiv gedacht wird: denn nur so lässt sich begreifen, dass und wie wir unsere Wahrnehmung willentlich anders begrifflich strukturieren, gestalten können. Einfache Beispiele wie die alltägliche Wahrnehmung unserer häuslichen Umgebung sind mit Hegel also nicht deshalb zu diskutieren, weil unsere Häuslichkeit metaphysisch zu preisen wäre, sondern deshalb, weil mit der unbedingten Macht des Geistes im Ganzen erst dann ernst gemacht ist, wenn sich dessen Werk der Ganzheit bis hinein in die trivialsten Wahrnehmungen unseres alltäglichen Daseins hinein verfolgen, also formal nachweisen lässt. So sehr es in Hegels Augen eine Provinzialisierung des Geistes ist, irgendeine Art von mehr So die Modifikation seiner eigenen Auffassung, wie er sie in McDowell 2008a vornimmt.
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oder weniger aparter Alltäglichkeit metaphysisch zu verbrämen, so sehr wäre es eine Provinzialisierung des Geistes mit umgekehrten Vorzeichen, vom Geist nur dort zu sprechen, wo er – in Hegels Terminologie – absoluter Geist ist: in Kunst, Religion und Philosophie. Wäre der Geist nur dort am Werke, in unserer Sinnlichkeit aber nicht, würde ihn dies verendlichen. Damit aber würden die drei Gestalten des absoluten Geistes selbst nicht mehr ihrem Begriff entsprechen können. Eine Philosophie so missverstandenen „absoluten Geistes“ wäre eine bloße Regionalontologie des Geistes.21 Sie würde den Menschen nicht mehr als durch und durch geistiges Wesen, sondern gleichsam nur als „sonntäglich“ geistiges Wesen missverstehen. Hegel wirkt dieser Provinzialisierung des Geistes also dadurch entgegen, dass er Werk und Signum des Geistes bis in die tiefsten und elementarsten Vollzüge des subjektiven Geistes hinein verfolgt. Das freilich darf – und wird – nicht dazu führen, dass kategoriale Differenzen innerhalb des Geistes im Ganzen nivelliert würden; der Sonntag ist und bleibt kein Werktag. Wie sich zeigen wird, lässt sich gerade in einer solchen nicht-provinziellen Auffassung des Geistes die große, ihrerseits aufs Ganze gehende Differenz zwischen Akten des subjektiven und Akten des absoluten Geistes formulieren. Nur dann, wenn man den Akt der Wahrnehmung der Sitzgruppe im Wohnzimmer als geistig begreift, lässt sich auch begreifen, dass dieser Akt – gemessen an der vom absoluten Geist aufgespannten Skala des Geistigen – eigentlich nichts ist; denn wenn Geist, als das Metaphysicum, keine Grenze an der Natur hat, bedarf der absolute Geist einer Grenze innerhalb des Geistes, an der er sich real abscheiden und gegen die er sich in seiner unendlichen Würde plastisch zeigen kann.22 Auch diese Differenz will die Untersuchung herausarbeiten. Methodisch folgt aus all dem, dass sie dabei sowohl im Blick behalten und deutlich machen muss, dass sich das Geistige im Niedrigen zeigt, als auch, dass das Niedrige immer noch das Niedrige bleibt. Dies wird sich konkret etwa an der Wahl der Beispiele zeigen: Würde allein das Hören der Musik Johann Sebastian Bachs zum Beispiel gewählt, müsste dies den Verdacht nähren, die dargelegte Auffassung gelte „nur“ für ästhetische aparte Wahrnehmung und würde den Geist in diesem Sinne provinzialisieren. Würde die Untersuchung dem Mainstream der gegenwärtigen analytischen Philosophie folgen und ausschließlich die Einzelwahrnehmungen roter Krawatten und gelber Bananen als Beispiele wählen – überhaupt ihren quasi ausschließlichen Fokus auf das Sehen teilen –, würde dies den Verdacht nähren, dass die Untersuchung 21 Hutter 2017 hat in seiner „Narrativen Ontologie“ in sehr grundsätzlicher Weise herausgearbeitet, dass und warum derartige Regionalisierungen des Metaphysicums selbiges an sein Gegenteil – das Geist‑ oder Sinnlose – opfern, indem es zur „Insel“ in dessen dadurch immer noch anerkanntem Universum degradiert wird. 22 Das ist ein wichtiger Aspekt dessen, was Hegel mit seinem berühmten einleitenden Diktum zum absoluten Geist meint: „Der Begriff des Geistes hat seine Realität im Geiste. […] Der subjective und der objective Geist sind als der Weg anzusehen, auf welchem sich diese Seite der Realität oder der Existenz ausbildet.“ (Enz. 1830, § 553)
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in den Niedrigkeiten der Wahrnehmung verbleibt und den Geist in dieser Weise provinzialisiert – und seien diese Wahrnehmungsakte wie geistig auch immer. Wir haben die Ganzheit als ein (formales) Signum und Werk des Geistes benannt. Die interne Relation des Geistes zur logischen Form der Ganzheit in ihrer vielfältigen Ausprägung lässt erneut die unendliche Differenz zwischen Mensch und Tier hervortreten, dessen Leben durch Momenthaftigkeit und Punktualität definiert ist. Derartige Momenthaftigkeit und Punktualität, die in dieser Form geist-los ist, darf nun nicht verwechselt werden mit geist-reicher Einzelheit. Diese ist ebenfalls Signum und Werk des Geistes, steht nicht im Widerspruch zur Ganzheit als Signum und Werk des Geistes.23 Das zeigt bereits an, dass diese Ganzheit nichts mit Kollektivismus gemein hat, der das Einzelne zugunsten der allgemeinen Durchschnittlichkeit opfert. Dem Einzelnen, dem recht verstandenen Individuellen, wird die Untersuchung daher ebenfalls Genüge tun müssen. Es wird darauf zu achten sein, dass der Geist – auch der absolute – sich immer an und für Individuen ereignet. Der absolute Geist ist kein Geschehen, das sich an „den Menschen“ richtet und sich somit auf Relationen zwischen Abstrakta beschränkt, sondern an den je einzelnen Menschen – und mit welchem jeder Mensch in seiner Einzelheit sodann umzugehen berufen ist. Eine sinnvolle Ausprägung seiner Einzelheit ist ihm erst möglich vor dem Hintergrund dieses Geschehens, das als solches „aufs Ganze“ geht. Die Frage, was ich im Ausgang einer ästhetischen, religiösen oder philosophischen Erfahrung anfange, stellt sich ja gerade und nur deshalb, weil diese Erfahrungen mich in unendlicher Weise transzendiert und mich so auch meiner banalen Partikularität entledigt haben. Was das bedeuten kann, wird zu zeigen sein. Ganz im Sinne der dargelegten Methodik sei jedoch daran erinnert, dass sich ein elementarer Sinn „des Ganzen“ durchaus anschaulich aufweisen lässt: ein Musikstück habe ich nicht gehört, wenn ich nur die ersten drei Takte gehört habe; die religiöse Erfahrung der Versöhnung ist ohne Bewusstsein der Vorgeschichte – etwa meiner Sünde – weder sinnvoll noch möglich; und Philosophie ist erst eine, wenn sie eine Denkbewegung im Ganzen und keine fragmentarische Auflistung einiger Richtigkeiten ist. Daran aber lässt sich zugleich ersehen, dass dieses „Ganze“ immer auch selbst die Züge des „Einzelnen“ hat: das einzelne Kunstwerk vor meinen Augen, die konkrete religiöse Erfahrung in dieser Ostervigil – und das philosophische System in seinem so-und-nicht-anders. Damit ist gewiss noch nicht voll begriffen, was „das Ganze“ oder „das Absolute“ bei Hegel meint. Aber es sind doch Plausibilitäten benannt, die die Rede vom „Geist“ in den Kategorien des „Ganzen“ und des „Einzelnen“ weit weniger versponnen erscheinen lassen, als es zunächst scheinen mag. Seinem Begriff nach aber kann das „Ganze“ über23 Den internen Zusammenhang von „Ganzheit“ und „Einzelheit“ als Leitkategorien des Geistes hat Hutter 2008 klar herausgearbeitet. Einzelnes Geistiges ist kraft seines Stehens im Ganzen des Geistes als Einzelnes ausgezeichnet.
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haupt nur im Ganzen dargestellt werden – und nicht, abkürzend, auf ein paar Sätze gebracht. Denn sonst wäre es nicht das Ganze, sondern etwas, das sich von außen greifen ließe und somit an dem, der auf es zugreift, seine Grenze hätte. Die Züge des Geistes in seiner Form der Ganzheit sind also, so sagten wir, nicht gegen Einzelheit im Sinne recht verstandener Individualität auszuspielen. Das gilt nun notwendig auch wieder für den subjektiven Geist: Der Geist ist in endlichen Subjekten individuell unterschiedlich ausgeprägt. Das zeigt sich am deutlichsten an individuellen Kompetenzen in der sinnlichen Wahrnehmung, über die in der gegenwärtigen analytischen Debatte durch deren Fokus auf allzu banale Beispiele wie die Wahrnehmung gelber Bananen (die wir in der Tat nahezu alle gleichermaßen gut zustande bringen!) faktisch hinweggegangen wird. Unsere Beispiele haben schon angedeutet, worin eine individuelle Ausprägung von Kompetenzen in der Wahrnehmung besteht: – Zum einen darin, dass ein Individuum mehr oder weniger gut seine Aufmerksamkeit richten kann – wobei es wieder nicht nur einen einzigen Maßstab von „gut“ gibt: Es ist plausibel zu sagen, jemand sei ein schlechter Autofahrer, wenn er seine Aufmerksamkeit nicht angemessen durch das Wahrnehmungsfeld hindurch bewegt, während er fährt, sondern sich ständig von irgendetwas „ablenken“ lässt; ist dieses „irgendetwas“ allerdings ein wichtiger oder tiefer Gedanke, so mag man mit vollem Recht zugleich sagen, dass dieser Autofahrer darin zeigt, dass er ein sehr ernsthafter und in diesem Sinne „guter“ Denker ist. – Zum anderen darin, dass ein Individuum mehr oder weniger gut in der Lage sein kann, in einem bestimmten Bereich differenziert wahrzunehmen24: Offenkundig sieht ein medizinischer Laie geradezu nichts in einem Ultraschallbild; ein ungeschultes Ohr hört eine Bach’sche Fuge nicht in ihrer komplexen Struktur; und für viele Gaumen schmecken die verschiedensten Rotweine sehr ähnlich.25 Ebenso offenkundig ist ein gewisses Maß solcher Differenziertheit eben nur qua Aufmerksamkeit zu erreichen: Auch ein guter Arzt mag bei einem beiläufigen Blick auf das Ultraschallbild nicht hinreichend viel sehen; ein geschulter Hörer vernimmt die Struktur der Bach’schen Fuge womöglich nicht, wenn er nur „mit einem Ohr“ hinhört; und ein Weinsommelier, der in Wut sein Glas hinunterstürzt, mag weit weniger schmecken als er dies im Rahmen einer konzentrierten Probe tun würde.26 Solche Differenziertheit steht nun nicht im 24 Ein Sinn von „Bildung“ bei Hegel ist genau mit diesem Gedanken verbunden: „Gebildete, wahrhafte Empfindung ist die Empfindung eines gebildeten Geistes, der sich das Bewußtseyn von bestimmten Unterschieden, wesentlichen Verhältnissen, wahrhaften Bestimmungen u.s.f. erworben […].“ (Enz. 1830, § 447 A). Vgl. dazu auch Houlgate 2016. 25 Hierin liegt im Übrigen eine wesentliche Klammer zwischen Kant, Hegel und Wittgenstein: Alle drei fokussieren komplexe Beispiele, um damit bestimmten Zügen des Geistes auf die Spur zu kommen. 26 Hier zeigt sich bereits, dass Aufmerksamkeit und die konkrete Aktualisierung bestimmter Begriffe intern zusammenhängen. Denn in diesen Beispielen ist ja das mehr oder weniger differenzierte Wahrnehmen nicht im Sinne etwa eines schärferen bzw. unschärferen Sehens
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Konflikt zur Ganzheit, wie sie am Beispiel des Blicks in die toskanische Landschaft aufgewiesen wurde: Denn dieser Blick kann freilich gewinnen, wenn man Zypressen von Tannen zu unterscheiden vermag. Unbeschadet dessen aber ist mit Hegel zumindest mit der Möglichkeit zu rechnen, dass eine bestimmte – professionalistische – Manifestation differenzierter Wahrnehmung uns auch den Blick verstellen kann, und zwar gerade im Hinblick auf die ästhetische Wahrnehmung, bezüglich derer bezweifelt werden kann, ob „der Experte“ stets mehr als „das Kind“ zu vernehmen vermag.27 Die beiden Aspekte gehören darin zusammen, dass die Wahrnehmung mit Hegel als qua Aufmerksamkeit aktive Aktualisierung begrifflicher – also unterscheidender – Vermögen zu bestimmen sein wird. Vor dem Hintergrund dieses Zusammenhangs kann nun ein weiterer Begriff eingeführt werden: derjenige der Wahrnehmungshandlung. Das Richten der Aufmerksamkeit ist die aktive Aktualisierung von Begriffen – doch dieses allgemein so bezeichnete „Richten der Aufmerksamkeit“28 realisiert sich immer in konkreten, spezifischen Wahrnehmungshandlungen, z. B. das Hinsehen oder Hinhören. „Konkret“ und „spezifisch“ meint also zunächst die Ausdifferenzierung gemäß unserer einzelnen Sinne, weiter dann aber auch die beschriebene individuelle Ausprägung von Fähigkeiten relativ auf einen Bereich. So kann es Sinn machen und Grund geben, beispielsweise zwischen dem „Hören von Bach“ und dem „Hören auf den rauschenden Wasserfall“ zu unterscheiden, wenn damit angezeigt werden soll, dass es sich hierbei nicht bloß um zwei qua Objekt verschiedene Anwendungsfälle ein und derselben Fähigkeit handelt; oder zwischen dem „Im-Blick-Behalten des Straßenverkehrs als Autofahrer inmitten großer Unruhe“ und dem „Beobachten des Straßenverkehrs vom Balkon aus“, wenn damit angezeigt werden soll, dass das erste eine im starken Sinne andere Art des Richtens von Aufmerksamkeit erfordert als das zweite – auch wenn es sich jeweils um denselben Wahrnehmungssinn handelt. Wie diese Kategorisierung oder Individuierung von Wahrnehmungshandlungen im Einzelfall vorgenommen werden soll, ist nicht Sache der Philosophie; doch sie kann und muss den Begriff wie auch die Möglichkeit solcher Kategorisierung und Individuierung begrifflich dartun. Damit ist die einleitende Erinnerung an einige zentrale Begriffe, die in der zeitgenössischen analytischen Debatte unterbelichtet bis vergessen sind, abgeschlossen. Sie ging wesentlich einher mit der ebenso einleitenden Prägung mancher (hegelscher) Begriffe, die benötigt werden, um dieser Verengung ar(wie im Falle einer Linsentrübung) zu verstehen, sondern als ein (nicht‑)in-den-Blick-Kommen gewisser allgemeiner Bestimmungen qua Begriffe. Daran wird auch schon deutlich, warum alle reduktiven Versuche, die Aufmerksamkeit zu „verstehen“ – etwa als bloßen Mechanismus der Linsenanpassung –, scheitern müssen. 27 Im Abschnitt über die Kunst – in Kapitel 8 – werden wir sogar ein Argument dafür entwickeln, warum „die Expertise“ in ästhetischer Hinsicht trügerisch sein kann. 28 Hegel bestimmt „die Aufmerksamkeit“ im Allgemeinen als „identische Richtung des Geistes“ (Enz. 1830, § 448). Darauf wird in Kapitel 5 genauer einzugehen sein.
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tikuliert entgegenzutreten. Genauer gesagt sollte auf dem Stand dieser Einleitung noch nicht von „Begriffen“, sondern eher – mit Hegel – von „Vorbegriffen“ gesprochen werden. Denn voll zu entwickeln sind sie nicht in einleitenden Bemerkungen, sondern erst im konkreten (Nach‑)Vollzug des Weges philosophischer Selbsterkenntnis. Und doch ermöglicht es uns diese vorbegriffliche Diskussion, das Verhältnis der mit Hegel zu vertretenden Auffassung der Wahrnehmung zu einer Metaphysik des Geistes genauer in den Blick zu bekommen. Hegels Weg der philosophischen Selbsterkenntnis – ein Streit „ums Ganze“ (des Geistes) Die vorbegrifflichen Erinnerungen artikulieren dringende Zweifel an der Adäquatheit der Passivitätsauffassung der Wahrnehmung, wie sie paradigmatisch von John McDowell vertreten wird. Aber sie werfen auch Zweifel an der angedeuteten hegelschen Auffassung auf, dass die Wahrnehmung eine aktive Aktualisierung von Begriffen sei: Soll diese etwa bedeuten, dass wir aktiv wählen können, welche Begriffe wir aktualisieren und somit, was wir wahrnehmen? Das würde dem Begriff der Wahrnehmung unmittelbar widersprechen. Und: Ist die Aufmerksamkeit überhaupt eine Aktivität oder Handlung und nicht eher etwas auch wesentlich Passives – gerade in Anbetracht unserer Erfahrung, dass unsere Aufmerksamkeit oft von etwas „auf sich gezogen“ oder „gefangen genommen“ wird? Nicht zuletzt: Wenn die Wahrnehmung insgesamt aktiv qua Aufmerksamkeit sein soll, wie genau haben wir dies zu verstehen bei Wahrnehmungen, die wir schon zu haben scheinen, bevor wir uns aktiv auf das Objekt richten, das wir qua eben diesen Wahrnehmungen schon im Blick haben? Damit sind einige – wesentliche – Fragen benannt, die im Laufe der Untersuchung mit Hegel zu beantworten sein werden. Nur, wenn sie befriedigend beantwortet werden können, ist diese Auffassung der Wahrnehmung philosophisch voll dargelegt, kohärent und begründet. Umgekehrt gilt: Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, ist nachvollziehbar, dass Vertreter der Passivitätsauffassung letztlich überspannten Unsinn hinter dieser Auffassung vermuten müssen – und dadurch auf ihrer Auffassung zu beharren versuchen, dass sie die Wahrheitsmomente der artikulierten Zweifel in einer Weise aufzunehmen versuchen, die der Passivitätsauffassung nicht widerspricht; beispielsweise, indem sie die Aufmerksamkeit als „externen Faktor“ aus der Wahrnehmung heraushalten wollen. Doch angenommen, die hegelsche Auffassung lässt sich befriedigend darlegen und begründen, so wirft dies offenkundig folgende Frage auf: Woher rührt es eigentlich, dass sie vielen – vielleicht allen – initial unplausibel erscheint? Genauer gesagt: dass wir die Antworten auf die oben formulierten, nagenden Fragen nicht wenigstens in grober Form „natürlicherweise“ vor Augen haben? Im Lichte dieser Fragen lässt sich verstehen, warum Hegel von der Verkehrtheit des natürlichen oder gewöhnlichen Bewusstseins spricht, vom Ungesunden des sogenannten
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„gesunden“ Menschenverstandes.29 Denn es scheint – zumindest innerhalb der Philosophie – weit zu kurz gegriffen zu sein, dies durch individuelle intellektuelle Defizite von Philosophen, durch ihre gleichsam kontingenten „Denkfehler“, begründen zu wollen. Hegel diagnostiziert vielmehr, dass unser Hang, anders zu denken als im Sinne einer Metaphysik des Geistes, eben ein „Hang“ im Sinne einer Aversion gegen das Geistige, einer Neigung zu profunden Selbstmissverständnissen ist. Ist diese Diagnose richtig, steht zu erwarten, dass die kritische Überwindung der Passivitätsauffassung nicht darin bestehen kann, dieser einen simplen Denkfehler, einen simplen Widerspruch in ihrer Konzeption nachzuweisen. Diese Erwartung wird sich in einer Reflexion auf die semantisch-erkenntnislogische Struktur philosophischer Selbsterkenntnis als solcher bestätigen lassen30: Wenn im Rahmen philosophischer Selbsterkenntnis eine Auffassung kritisiert und durch eine andere Auffassung korrigiert wird, so bedeutet diese Korrektur eine Veränderung der Bedeutung derjenigen Begriffe, die in ihrer Artikulation jeweils gebraucht werden. Wenn also mit Hegel behauptet wird, die sinnliche Wahrnehmung sei keine passive, sondern eine aktive Aktualisierung von Begriffen, so bedeutet „Begriffe“ in beiden konkurrierenden Auffassungen nicht strikt dasselbe31; vielmehr verhält es sich so, dass die Passivitätsauffassung den Begriff des „Begriffs“ so versteht, dass ihr die Idee einer aktiven Aktualisierung von Begriffen in der Wahrnehmung unsinnig erscheinen muss – und umgekehrt, dass Hegels Philosophie ihn so versteht, dass ihr der Gedanke einer passiven Aktualisierung von Begriffen als Un-Gedanke erscheinen muss. Das impliziert, dass jedes Argument, mit dem eine dieser beiden Auffassungen begründet wird, schon eine Bedeutung von „Begriff “ (oder sonstigen Begriffen, mit denen der Begriff des Begriffs intern zusammenhängt) voraussetzt, die von der anderen nicht geteilt wird – und in diesem Sinne zirkulär ist. Daraus zu folgern, beide Auffassungen stünden gleichberechtigt oder als alternative, an sich gleichermaßen unverbindliche Vorschläge nebeneinander, wäre jedoch voreilig und irrig. Denn dies übersieht, dass eine Philosophie des Geistes notwendig zirkulär ist, weil sie in einem bestimmten Sinne nur im Ganzen und als Ganze einleuchten kann, ein Eintritt in sie „von außen“, durch einen argumentativen Kniff unsererseits, also nicht erzwungen werden kann. Ist dem so, so ist von diesem „Ganzen“, das der Geist selbst ist, zu erwarten, dass es dieses Einleuchten
29 Hegel identifiziert sogar den Standpunkt der „Wahrnehmung“, auf den die Passivitätsauffassung verpflichtet ist, als den Standpunkt des „gewöhnlichen Bewußtseyns“ (vgl. Enz. 1830, § 420 A). 30 Einer solchen ist Kapitel 7 dieser Arbeit gewidmet. 31 Darauf wird schon in Kapitel 2 einzugehen sein, in der Diskussion des Kapitels „Die Wahrnehmung“ aus der Phänomenologie des Geistes.
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selbst gewährt. Genau in diesem Sinne werden wir die hegelsche Philosophie des Geistes rekonstruieren: als ein umfassendes sich-Zeigen des Geistes im Ganzen.32 Wie Heidegger einmal betont hat, impliziert eine solche zirkuläre Form nicht, dass der Eintritt in den Zirkel – mit Hegel: in das Ganze des Geistes und der Geistphilosophie – an allen Stellen gleichartig sei.33 Nicht jeder Eintritt in den Zirkel liegt uns gleich nahe. Nahe liegt uns vielmehr derjenige, der von dem ausgeht, was uns zu denken naheliegt, und das ist nach Hegel das Verkehrte. Von daher lässt sich auch verstehen, warum Hegel explizit und mit einigem Aufwand auf die adäquate Systemkonzeption und insbesondere den rechten Anfang der Philosophie reflektiert hat. In der Phänomenologie des Geistes nun geht Hegel den Weg, auf dem wir ihm hier folgen wollen: Er hebt mit dem sinnlichen Bewusstsein und seinem Standpunkt an. Genauer bedeutet das34: mit der (verkehrten) Grundthese der Passivitätsauffassung – dass in der sinnlichen Wahrnehmung Objekte sich uns von sich aus in kausaler Weise als so-und-so zeigen – und, damit verbunden, mit der These, dass die Wahrnehmung aufgrund eben dieser Form – dass sich etwas als das, was es an sich ist, uns von sich aus zeigt – Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sei.35 Hegel operiert also von Beginn der Phänomenologie des Geistes an in einer doppelten Perspektive, die er schon in der Einleitung expliziert: auf einem bestimmten Standpunkt – z. B. dem der „Wahrnehmung“ – fassen wir uns als so und so auf – hier: unser Wahrnehmungsvermögen im Sinne der Passivitätsauffassung –, und aufgrund dieser Auffassung wird diese Gestalt des Bewusstseins als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins behauptet. Wie sich zeigen wird, versteht Hegel unter dem Begriff (oder der Form) des wahrhaft wissenden Bewusstseins eben dieses sich-einem-Anderen-Zeigen eines An-sich. Wenn nun gezeigt werden kann, dass die Passivitätsauffassung irrt und 32 Das sich-Zeigen, das die Vertreter der Passivitätsauffassung den Wahrnehmungsobjekten zuschreiben, ist in Wahrheit also nur dem Geiste zuzuerkennen. Es handelt sich bei diesem „sich-Zeigen“ jedoch nicht um eine statische Form, die in der Wahrnehmung (verstanden gemäß der Passivitätsauffassung) identisch am Werk wäre wie im Geiste (verstanden mit Hegel). Vielmehr ereignet sich auf dem Weg der Selbsterkenntnis eine Entwicklung der Bedeutung von „sich-Zeigen“ – ganz entsprechend den sonstigen Verschiebungen von Begriffsbedeutungen. 33 Vgl. Heidegger 2006: 153. Dort heißt es zunächst: „[I]n diesem Zirkel einen vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ‚empfinden‘, heißt das Verstehen von Grund auf mißverstehen.“ [Im Original kursiv.] Weiter: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen.“ [Hvh. T. O.] 34 Die nähere Diskussion wird in den Kapiteln 1 und 2 geleistet werden. 35 Hegel spricht in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes sowohl vom „wahrhaften Erkennen“ und „wahrhaften Wissen“ als auch vom „wahrhaften Bewusstsein“. Ich wähle zusammenfassend die Formulierung des „wahrhaft wissenden Bewusstseins“, weil sie sowohl den Aspekt des „Wissens/Erkennens“ als auch den des „Bewusstseins“ sprachlich anzeigt, welche beide für Hegel wesentlich sind. Dass dem so ist, wird sich gerade dann zeigen, wenn man die wahre Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins – den absoluten Geist – in den Blick nimmt. Er ist nur als Erkenntnis‑ und Bewusstseinsgestalt zugleich voll zu verstehen.
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sich sinnliche Wahrnehmung gar nicht als Instanz dieser Form begreifen lassen kann, so fällt damit auch die These, sie sei die Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins. Und genau darin besteht eine zentrale negative Einsicht Hegels: Wahrnehmung(swissen) ist kein wahrhaftes Wissen. Noch einmal: Selbsterkenntnis – als Metaphysik Damit ist eine Lücke gerissen. Das natürliche Bewusstsein verliert seinen natürlichen Halt. Sein Zustand auf dem Weg der Selbsterkenntnis wird von Hegel daher als „Verzweiflung“ beschrieben.36 Dieser „Negativismus“ (A. Hutter)37 ist keine existentielle Überzeichnung oder Dramatisierung; denn die Wahrnehmung im Sinne der Passivitätsauffassung versprach ja, eine Berührung mit der Wirklichkeit zu sein, eine Begegnung mit ihr durch deren Selbst-Vorstellung. Nun ist – insbesondere im Lichte der obigen Bemerkung zur semantisch-erkenntnislogischen Struktur der Selbsterkenntnis – folgende Frage dringlich: Wieso sollte das Bewusstsein bereit sein, seine bisher anerkannten Begriffsbedeutungen hinter sich zu lassen, wenn es dadurch derartigen Halt in den alten Gewissheiten verlieren würde? Und wie sollte ihm etwas anderes als diese alten Gewissheiten einleuchten, wenn es dafür eben diese Begriffsbedeutungen schon hinter sich gelassen haben müsste? Von daher ist auch zu verstehen, warum das natürliche Bewusstsein, soweit es in sich verharrt, Manöver erfindet, alle Einwände wider seine Auffassung abzuschmettern: konkret etwa, indem – wie bei McDowell tatsächlich der Fall – die Aufmerksamkeit dogmatisch als externer Faktor der Wahrnehmung behauptet und so aus dieser herausgehalten wird.38 Damit aber bleibt, wie von der Warte Hegels aus zu urteilen ist, für McDowell auch der Geist insgesamt aus ihr herausgehalten. In solchen Manövern spiegelt sich somit das Festhalten an letztlich naturalistischen Gewissheiten wider, die solange attraktiv sind, als sich das Ganze des Geistes einem natürlichen Bewusstsein noch nicht 36 PhG, 56: „Das natürliche Bewußtseyn wird sich erweisen, nur Begriff des Wissens, oder nicht reales Wissen zu seyn. Indem es aber unmittelbar sich vielmehr für das reale Wissen hält, so hat dieser Weg für es negative Bedeutung, und ihm gilt das vielmehr für Verlust seiner selbst was die Realisirung des Begriffs ist; denn es verliert auf diesem Wege seine Wahrheit. Er kann deßwegen als der Weg des Zweifels angesehen werden, oder eigentlicher als Weg der Verzweiflung“. 37 Hutter 2014 entwickelt den Begriff des „Negativismus“ konkret an Kant, Hegel und Kierkegaard. Er deckt so eine weitgehend unterbetonte bis vergessene Kerneinsicht Hegels wieder auf: dass das sich-Zeigen des Geistes, das die Phänomenologie des Geistes ist, ein nur in seiner Negativität überhaupt zu begreifendes Geschehen ist – und dass gerade darin ein Wesenszug solcher Metaphysik liegt, die nicht hinter die kantische „Revolution der Denkart“ zurückfällt. Hutter macht weiterhin deutlich, dass die „Negativität“ dessen, was er „Negativismus“ nennt, eben wesentlich in einem uns involvierenden Geschehen besteht – das Bewusstsein verliert tatsächlich etwas – und nicht lediglich einen Modus der Erkenntnis oder Darstellung betrifft, etwa im Sinne der vielbesagten „Unsagbarkeit“. 38 So McDowell in einer beiläufigen und dadurch fälschlich als nicht allzu wichtig präsentierten Randbemerkung zur Aufmerksamkeit in McDowell 2002: 278.
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eröffnet hat.39 Entsprechend stellt Hegel in einer unauffällig daherkommenden, in Wahrheit aber äußerst gehaltvollen Bemerkung fest, dass das natürliche Bewusstsein den Weg der Selbsterkenntnis notwendig ins für es zunächst Dunkle hinein antreten muss: „es weiß nicht von was angezogen“40. Denn das, wovon es angezogen wird – der Geist selbst –, lässt sich als Geist erst affirmativ bestimmen, wenn es diesen Weg schon gegangen ist. Wir hatten gesagt, dass der Geist als Ganzes nur dann einleuchten kann, wenn das Einleuchten (als selbst geistiger Vollzug) zu diesem Ganzen hinzugehört; wenn es also der Geist selbst ist, der dieses Einleuchten gewährt. Das, wovon das verkehrte Bewusstsein angezogen und über sich selbst hinausgeführt wird, ist das, zu dessen Einsicht es am Ende seines Weges der Selbsterkenntnis – also erst durch Verlust seiner initialen Gewissheiten, der in Wahrheit eine Überwindung seiner Verirrungen ist – gelangt: der Geist selbst. Diese These, so ist Hegel klar bewusst, ist erst dann voll zu begreifen und vor allem als wahr einzusehen, wenn man diesen Weg tatsächlich gegangen ist. Dem entspricht Hegels scharfe Polemik gegen alle Versuche vorläufiger und abkürzender Vergewisserungen des Geistes. Wie alle unserer einleitenden Überlegungen, ist auch die Rede vom Geist als dem, von dem wir angezogen werden müssen, an dieser Stelle nichts anderes als ein orientierender Vor(be)griff auf das Ganze der Untersuchung; dieses aber besteht in einem tatsächlichen Vollzug, der als solcher nicht durch zusammenfassende Mitteilung abzukürzen ist. Doch wenn es der Geist selbst ist, der sich als das, was er ist, zeigt – und sich dieses sich-Zeigen aufgrund der semantisch-erkenntnislogischen Struktur der Selbsterkenntnis zwingend nicht durch ein zwingendes Argument von neutralem Grund aus ersetzen lässt –, dann ist die philosophische Selbsterkenntnis schon in der Überwindung der verkehrten Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung ein Geschehen, dessen Subjekt nicht allein ich, als individueller subjektiver Geist, bin und auch nicht wir sind, als Kollektiv subjektiver Geister oder sogar als subjektiver Geist als solcher. Vielmehr ist es der Geist in seiner Absolutheit, der sich, im Wortsinne, geltend macht; durch den diese Selbsterkenntnis erst wirkliche Selbsterkenntnis, also Einsicht mit berechtigtem Anspruch auf unbedingte Gültigkeit, ist. Damit liegt aber auch das Gelingen dieses Wegs nicht in unserer Hand und ist – seiner Geltung wie seiner Realisierung nach – unverfügbar.41 39 Dieses Attribut „natürlich“ ist bei Hegel also klar pejorativ konnotiert, im Sinne der „natürlichen Sünde“. 40 PhG, 23. In der Einleitung schreibt Hegel außerdem, dass das Bewusstsein diesen Weg geht, „ohne zu wissen, wie ihm geschieht“ (PhG, 61). 41 Dieter Henrich hat diesen Zusammenhang einmal prägnant so zusammengefasst: „Hegel fand, wie auch Heidegger, daß der Mensch von seiner Selbstzentrierung [als dessen Niederschlag sich ex post auch das Festhalten am Standpunkt der ‚Wahrnehmung‘ erweisen wird, T. O.] nur aus einem Geschehen heraus freikommen könne, das ihn ergreift und über das er nicht verfügt.“ Henrich qualifiziert dieses Geschehen weiter als „ein solches, das sich ursprünglich in einem Denken erschließt, das zugleich Selbstverständigung ist“ (Henrich 2004: 222).
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Das nun impliziert, dass solche Reflexion auf den Weg der Selbsterkenntnis uns darauf führt, dass dieser sich nicht in einem formalen Geltungszusammenhang erschöpft, sondern in ihm der absolute Geist als ein reales Metaphysicum am Werke ist. „Real“ deshalb, weil sich dieses Metaphysicum qua seines sichZeigens als wirksame, mächtige, über uns hinausliegende Verbindlichkeit in unsere realen Erkenntnisakte einmischt – und damit also nicht bloß „formalen“ oder „abstrakten“ Charakter haben kann, sondern selbst real sein muss. In diesem Sinne wird unsere Untersuchung in einer Metaphysik des Geistes münden, die in einer Rekonstruktion von Hegels Philosophie des absoluten Geistes gipfelt. Aus der skizzierten Struktur des Weges der Selbsterkenntnis leuchtet ebenso ein, warum nicht „wie aus der Pistole“42 mit der Metaphysik des (absoluten) Geistes angehoben werden kann. Denn diese lässt sich erst einsehen und artikulieren in einer Reflexion auf den Weg der Selbsterkenntnis, der aber zunächst einmal gegangen sein muss. Gegangen aber muss er von dort aus werden, wo wir uns vorfinden, wenn wir noch diesseits dieses Weges stehen oder hängen. Dieser Ort aber ist der Standpunkt des „Bewusstseins“, bestehend aus der Passivitätsauffassung und der damit verbunden These, die sinnliche Wahrnehmung sei Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins. Das bedeutet, dass McDowell, der sich selbst als analytischer Rezipient Hegels versteht, sich als Vertreter desjenigen Standpunkts entpuppt, mit dessen Kritik der Weg der Selbsterkenntnis erst anhebt, den die Phänomenologie des Geistes vorführt. In unserer Untersuchung werden wir diesen Weg also unter anderem dadurch aktualisieren, dass wir ihn auf die gegenwärtige analytische Hegelrezeption beziehen, die sich zu Unrecht als Anwalt der hegelschen Philosophie des Geistes geriert. Diese Konstellation nun ist eine – wenn man so will – geschichtsphilosophische Bewahrheitung von Hegels These, dass der Standpunkt des „Bewusstseins“ derjenige des „gewöhnlichen“ oder „natürlichen“ Bewusstseins sei – „natürlich“ im Sinne der „natürlichen Sünde“. Er tritt nicht zufällig gegenwärtig erneut auf – und nunmehr sogar potenziert im Gewande einer scheinbaren Aneignung von Hegels Philosophie. Die „Wahl“ McDowells als eines „Gegners“ in der Auseinandersetzung ist damit alles andere als zufällig. Wenn Hegel mit seiner Diagnose des „natürlichen Bewusstseins“ Recht behält, muss es sich beim McDowell’schen Standpunkt im Kern um einen solchen handeln, der kein kontingenter, der Idiosynkrasie irgendwelcher vereinzelter Philosoph(i)en geschuldeter Irrtum ist. Vor diesem Hintergrund lässt sich diagnostizieren, dass die in dieser Einleitung aufgewiesenen Abstraktionen und Verkürzungen bei McDowell und seiner Schule – etwa: die Nichtbeachtung des Wahrnehmungsfeldes im Ganzen sowie der jeder Wahrnehmung internen Aktivität der Aufmerksamkeit – ebenso nicht zufälliger Natur sind. Denn all dies, so sagten wir, sind Signa des Geistes, die das natürliche Bewusstsein, solange es in sich verharrt, So Hegel explizit in PhG, 24.
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abzustreiten sucht – und denen nur in einer Philosophie des Geistes im Ganzen Rechnung zu tragen ist, die sich konsequent auch als Metaphysik des Geistes entwickelt und ausprägt. Dasselbe gilt für eine zentrale Differenz, die McDowell und seine Nachfolger – allen voran Sebastian Rödl – ebenfalls leugnen: zwischen Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Rödl meint, dass wir qua Selbstbewusstsein Selbsterkenntnis haben, diese in jenem gleichsam unmittelbar liege.43 Das kann er freilich nur meinen, da er den Standpunkt des „Bewusstseins“ nicht im hegelschen Sinne überwunden hat – denn erst in dieser Überwindung wird die Differenz zwischen Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis konkret sichtbar: nämlich darin, dass wir initial zwar alle immer schon ein Selbstbewusstsein haben – jeder kann „Ich“ sagen –, aber eben keine Selbsterkenntnis; vielmehr zeigt sich rückblickend, dass wir aus uns selbst in einem profunden Irrtum über uns selbst befangen waren. Dieser ist nicht nur ein Mangel an Selbsterkenntnis, sondern deren Verkehrung. Eine Bemerkung zum Aufbau unserer Untersuchung Unsere Untersuchung will also den metaphysischen Verkürzungen der gegenwärtigen analytischen Hegelrezeption entgegenwirken, die Verkehrungen ums Ganze sind. Methodisch wird dem dadurch Rechnung getragen, dass Hegels Anlage des Weges der Selbsterkenntnis gefolgt wird – zunächst, wie ihn die Phänomenologie des Geistes dartut. Das bedeutet, dass mit dem Standpunkt des „Bewusstseins“ begonnen wird – und durch dessen kritische Überwindung ein wesentlicher Schritt philosophischer Selbsterkenntnis so vollzogen wird, dass durch eine Reflexion darauf Wege in die Metaphysik des (absoluten) Geistes gefunden werden können. Der erste Teil unserer Untersuchung ist also im Wesentlichen der hegelschen Prüfung und Überwindung der Passivitätsauffassung der Wahrnehmung, wie sie paradigmatisch von McDowell vertreten wird, gewidmet, der zweite hin43 Das wird besonders deutlich in Rödl 2017. Dort behauptet Rödl, dass die von ihm behauptete „Beziehung“ jedes empirischen Urteils auf die absolute Erkenntnis qua Selbstbewusstsein mitgegeben sei, „was bedeutet, dass empirische Erkenntnis immer schon absolute Erkenntnis ist und sich immer schon als solche begreift.“ (Rödl 2017: 871). Hegel zufolge liegt darin, dass wir empirisch urteilen, keineswegs eine Selbsterkenntnis und ein Wissen um das Absolute – und schon gar nicht eine solche, die „sich immer schon als solche begreift“. Darin, dass wir Selbstbewusstsein haben – über das formale Wissen des „Ich bin Ich“ verfügen –, haben wir überhaupt noch keine ausgebildete Selbsterkenntnis, sondern vielmehr erst die Möglichkeit, uns in Frage zu stellen. – Markus Gabriel hat gegen diese Meinung Rödls sehr treffend und in, wie mir scheint, durchaus dem Geiste Hegels verwandter Weise eingewandt: „Gedanken über Gedanken […] sind der logische Ort, an dem wir uns als Denker selbst begegnen, was allerdings nicht bedeutet, dass wir in dieser Selbsterkundung infallibel sind. Selbsterkenntnis ist wie jede andere Form der Erkenntnis an Gelingensbedingungen verwiesen, die nicht dadurch eingelöst werden, dass ein Wissensanspruch erhoben wird. Wir sind der Selbsttäuschung fähig, die u. a. die Gestalt der falschen Meinung annehmen kann, in unserer Selbstbeziehung als Denkende seien wir infallibel.“ (Gabriel 2018: 65 f.)
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gegen der aus Reflexion auf solche Selbsterkenntnis erwachsenden Philosophie, ja Metaphysik des (absoluten) Geistes. Doch die einleitenden Überlegungen haben gezeigt, dass beides nicht im Sinne eines äußerlichen Nacheinanders oder aufeinander-Aufbauens möglich ist. Dem werden wir Rechnung tragen, weshalb sich bereits in den ersten Zügen der detaillierten Auseinandersetzung mit der Wahrnehmungsproblematik die ersten Anklänge einer Metaphysik des Geistes vernehmen lassen werden – und, umgekehrt, in deren Artikulation erst voll verstanden wird, was unsere Sinnlichkeit (nicht) ist. Genauer gesagt: was die Kritik von McDowells Auffassung der Wahrnehmung zeigt, sind schon Züge des Geistes; und die Züge des Geistes, so sie in der Metaphysik des (absoluten) Geistes zur Darstellung kommen, erhellen, worin die Abgründigkeit der verkehrten Auffassung der Wahrnehmung eigentlich liegt. Doch dieses Ineinander impliziert freilich nicht, dass alles auf einmal oder durcheinander ausgeführt werden müsste, sollte oder könnte. Wie Hegel selbst ja auch eine lineare Reihenfolge seines Weges der Selbsterkenntnis kennt, die sich aber ihrer Zirkularität bewusst sein und diese zunehmend besser verstehen muss, hat daher auch unsere Untersuchung einen linearen Aufbau in diesem vorbehaltlichen Sinne. Um schon in der Überschrift anzuzeigen, dass die Untersuchung im Ganzen eine ist und somit auch beide Teile am Ende eines sind, tragen sie dieselbe Überschrift, nämlich den Titel der ganzen Untersuchung – lediglich mit unterschiedlichen Akzentuierungen: der erste Hauptteil ist als „Die Aktivität der Wahrnehmung und die Metaphysik des Geistes“, der zweite als „Die Aktivität der Wahrnehmung und die Metaphysik des Geistes“ überschrieben. Um willen der „Hoheit“ der Metaphysik des Geistes ist also „unten“ zu beginnen – und zur Metaphysik des Geistes wird aber nur vorgedrungen, wenn dieses Unten der Beginn einer Entwicklung ist und nicht, wie in der analytischen Hegelrezeption, ein Stillstand auf einem Standpunkt natürlicher Gewissheiten. Schon in den allerersten Übergängen der Phänomenologie des Geistes ist, wie Hegel sagt, das Absolute immer schon „bey uns“44 und gibt sich somit in unserer Reflexion auf diese Übergänge auch zu erkennen.
44 Hegel schreibt, dass jeder Fortschritt der Selbsterkenntnis hin zum Absoluten unmöglich wäre, wenn dieses „nicht an und für sich schon bey uns wäre und seyn wollte“ (PhG, 53).
Teil I
Die Aktivität der Wahrnehmung und die Metaphysik des Geistes
1 Zum Weg von Hegels Phänomenologie des Geistes 1.1 Verkehrte Standpunkte in der Phänomenologie des Geistes Hegels Phänomenologie des Geistes ist – schon ihrem Wortlaut nach – die Darstellung des Geistes, wie er durch den Schein hindurch in Erscheinung tritt. Zu Beginn bedarf es einiger Bemerkungen dazu, wie diese Phänomenologie des Geistes zu lesen sei. Diese Bemerkungen legen nicht nur offen, dass und inwiefern der Weg der Phänomenologie des Geistes – als Weg der Selbsterkenntnis – leitend für die hier verfolgte Untersuchung ist, sondern auch, wie und mit welchem Recht dabei die von Hegel diskutierten Positionen in ein Verhältnis zu tatsächlich vertretenen Positionen der gegenwärtigen analytischen Erkenntnistheorie oder philosophy of mind gesetzt werden. Die folgenden Vorbemerkungen werden also den Aufriss unserer Untersuchung, wie er in der vorangegangenen Einleitung skizziert wurde, noch einmal genauer auf die Phänomenologie des Geistes beziehen. Unmittelbar bei der Lektüre der Phänomenologie des Geistes – und ganz besonders derjenigen drei (Unter‑)Kapitel, die unter der einen Denkart oder dem Standpunkt des „Bewusstseins“ zusammengefasst sind – sticht ins Auge, dass Hegel zunächst nicht (s)eine positive Auffassung zu den Themen präsentiert, die in den Überschriften dieser (Unter‑)Kapitel angezeigt sind: Sinnliche Gewissheit (oder Sinnlichkeit überhaupt), Wahrnehmung, Kraft und Verstand. Vielmehr und vor allem ist es dabei um die Zurückweisung verkehrter Auffassungen zu tun. Ebenso unmittelbar aber macht der Text deutlich, dass der Anspruch der Phänomenologie des Geistes sich nicht darauf beschränkt, im Stile eines in die zeitgenössische Debatte eingreifenden Aufsatzes irgendwelche Auffassungen zurückzuweisen, die von mehr oder weniger einflussreichen Figuren vor und um Hegel entwickelt und vertreten worden sind – und von welchen jedenfalls nicht unmittelbar klar ist, dass das Kritikwürdige an ihnen nicht bloß den gleichsam kontingenten Eigentümlichkeiten oder Defiziten individueller Figuren geschuldet und soweit von keinem prinzipiellen philosophischen Interesse ist. Vielmehr soll die Zurückweisung solcher Auffassungen zur Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins selbst – zur Phänomenologie des Geistes, zur Selbstentfaltung des Geistes – gehören, und zwar wesentlich und notwendig. Das macht Hegel zum einen daran deutlich, dass er sie als Auffassungen des „natürlichen Bewusstseins“ behauptet – also Auffassungen, denen jedes denkende Subjekt not-
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1 Zum Weg von Hegels Phänomenologie des Geistes
wendig ausgesetzt ist. Zum anderen zeigt er mit dem Aufbau seines Werkes an, dass die besagten Kapitel in ihrer primär negativen Form der Auseinandersetzung nicht etwa eine dem Weg der Phänomenologie des Geistes noch äußerlich bleibende Vorrede darstellen, sondern bereits im Vollsinne Teil der Gedankenbewegung sind, die vom Anfang zum Ende der Phänomenologie des Geistes führt und diese somit ist. Dass die Zurückweisung bestimmter verkehrter Auffassungen wesentlich und notwendig zur Phänomenologie des Geistes – zu unserer Selbsterkenntnis – gehört, ist eine These, die es im Laufe unserer Untersuchung genauer zu verstehen und freilich auch zu rechtfertigen gilt (vgl. dazu v. a. Kapitel 7). Es wird sich zum einen zeigen, dass gelingende Selbsterkenntnis aus semantisch-erkenntnislogischen Gründen abhängt vom begrifflichen Gehalt bestimmter verkehrter Auffassungen, gegen die sie sich so artikuliert. Zum anderen aber wird sich zeigen, dass sich Hegels Metaphysik des (absoluten) Geistes wesentlich von diesem Befund her verstehen und entwickeln lässt: der Geist erweist seine Wirklichkeit gerade in der machtvollen Überwindung verkehrter Auffassungen, die wir uns über uns selbst machen, zu denen wir einen Hang haben, und die im Kern darin bestehen, dass wir uns, als Geistwesen, selbst zu Naturwesen erniedrigen – konkret beispielsweise dadurch, dass wir uns, als Wahrnehmende, so begreifen, als ob die Welt sich uns in kausaler Weise selbst zeigen würde und somit unsere geistigen Akte selbst anfangen könnte.1 Dass Hegel solche verkehrten Auffassungen als „natürlich“ versteht, legt nun freilich nahe, ja erfordert gleichsam, dass sich einige Denkweisen und Philosophien in Geschichte und Gegenwart finden lassen müssten, in denen diese Auffassungen vertreten werden oder die sich um solche Auffassungen als ihren mehr oder weniger expliziten Kern organisieren. Dass sich solche Philosophien tatsächlich finden lassen, ist sodann ein geschichtsphilosophisches Indiz für die Richtigkeit von Hegels Behauptung, dass solche Auffassungen „natürlich“ sind. Wenn dem so ist, kann es sich bei diesen Auffassungen zudem nicht um etwas handeln, das gleichsam artifiziell konstruiert ist um des Ganges der angezielten Untersuchung willen, das etwa Resultat einer derart starken (und bewussten) Abstraktion ist, dass es gar nicht ernsthaft als endgültige Auffassung vertreten werden kann. Zu einer solchen Lesart mag man aus Eitelkeit geneigt sein, um sich nicht dort, wo Hegel vom Verkehrten spricht, selbst wiederfinden zu müssen.2 Und eine solche Lesart mag sich aufdrängen, wenn man den Fortgang
1 Wie sich in den Kapiteln 7 und 8 herausstellen wird, ist die dialektische Kehrseite solcher Selbsterniedrigung eine Selbstüberhöhung des endlichen Subjekts – nämlich in Gestalt eines dogmatischen Verharrens auf einem Standpunkt der Endlichkeit, dem gemäß nichts Höheres als das endliche Subjekt, also kein Absolutes, wirklich ist. 2 So ist auffällig, dass McDowells in Entwicklung begriffene Lesart der Phänomenologie des Geistes genau in diese Richtung geht. Vgl. dazu McDowell 2019 (Ms.).
1.1 Verkehrte Standpunkte in der Phänomenologie des Geistes
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der Phänomenologie des Geistes strikt parallel zu demjenigen der Wissenschaft der Logik denkt. Der Anfang der Phänomenologie des Geistes jedenfalls – ihre frühen Kapitel des Standpunktes des „Bewusstseins“ – sind gerade nicht etwas, zu dem man sich durch einen willentlich-philosophischen Akt der Abstraktion zu zwingen hätte (oder von dem man wüsste, dass man durch eine Abstraktion dorthin gelangt ist); vielmehr ist er ein solcher, in dem das scheinbar unbefangene und ebenso scheinbar unschuldige Bewusstsein tatsächlich ganz zwanglos beginnt – weil es darin befangen ist und nur ausspricht, was es von sich her meint. Dass dies in vorzüglicher Weise für den Standpunkt der „Wahrnehmung“ gilt, der im gleichnamigen Kapitel verhandelt wird, macht Hegel andernorts dadurch deutlich, dass er diesen Standpunkt als den „gewöhnlichen“ Standpunkt unseres Bewusstseins schlechthin charakterisiert.3 Von dieser Warte aus entpuppen sich zwei weitverbreitete Charakterisierungen des Standpunktes des „Bewusstseins“ als irreführend: Zum einen, dass dieser Standpunkt aufgrund seiner Anfänglichkeit „einfach“ („simple“4) sei. Er ist dies keineswegs in dem Sinne, dass dort von irgendwelchen „Details“ oder „Differenzierungen“ abstrahiert würde, der Standpunkt deshalb – methodisch vielleicht sogar hilfreich – vereinfacht sei. Vielmehr ist er verkehrt – und gerade deshalb kompliziert, aufgeladen. Zum anderen, dass dieser Standpunkt sich in einer – als solchen unschuldigen – Vergegenwärtigung unserer tatsächlichen Bewusstseinsvollzüge erschöpfen würde, in der oder durch die wir sodann zu einem zunehmend reicheren Bild derselben gelangen. Der Standpunkt des „Bewusstseins“ besteht nicht allein darin, dass wir uns in unserem faktischen Wahrnehmen beobachten, und schon gar nicht darin, dass wir aus einer solchen Beobachtung umstandslos Richtiges folgern – sondern darin, dass wir dem Wahrnehmen (und der Form des Bewusstseins überhaupt) schon immer eine bestimmte Auffassung davon unterlegen – und zwar die verkehrte.5 Plastisch ge-
Vgl. Enz. 1830, § 420 A. So z. B. Stern 2013: 30 ff. 5 Oder, wie wir später (in Kapitel 7) in genauerer Differenzierung einsehen werden, zumindest geneigt sind dazu. – Es reicht jedenfalls nicht, das Kapitel „Die Wahrnehmung“ als einen Streit um verschiedene Auffassungen zu lesen, von denen wir an sich keiner besonders zugeneigt sind. So klingt es bei Koch, wenn er schreibt, es sei dort „darüber [zu] verhandeln, wie das Mannigfaltige zu konzipieren und was sein ontologischer Status ist“ (Koch 2008: 145). Emundts 2012 hat in ihrer Studie hingegen genau im Blick, dass es jeweils um fixe „Positionen“ geht, die zur Prüfung stehen. Allerdings scheint sie mir die Radikalität der Verkehrtheit des Standpunktes des „Bewusstseins“ nicht radikal genug zu denken; tut man dies, muss man wohl ihre Charakterisierung von Hegels Vorgehen als „phänomenologisch“ (im Sinne der philosophiegeschichtlichen Strömung namens „Phänomenologie“) zurückweisen oder jedenfalls stark modifizieren (vgl. Emundts 2012: 25). Denn jede derartige Betrachtung der Phänomene geschieht ja schon im Lichte (oder eher: im Dunkel) der verkehrten Auffassung und führt dementsprechend zu Interpretationen dieser Phänomene, die eo ipso nicht ohne weiteres zur Überwindung dieser Auffassung beitragen können. 3 4
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1 Zum Weg von Hegels Phänomenologie des Geistes
sprochen bedeutet das: Hegel führt uns im Kapitel „Die Wahrnehmung“ nicht ein denkendes Subjekt vor Augen, das seine Wahrnehmungsakte bloß philosophisch neutral6 beschreibt – etwa: „Ich kann einen Baum sehen“ –, sondern ein denkendes Subjekt, das diese Wahrnehmungsakte immer schon zu begreifen meint – etwa: „Der Baum zeigt sich mir“, „Ich empfange Eindrücke von außen“ – und freilich nicht weiß, dass es darin profund irrt. Nun ist es zum Verständnis des Fortgangs der Phänomenologie des Geistes jedoch wichtig, zwei verschiedene (korrigierende) Gedankenlinien – mit je zwei verschiedenen Erkenntnisinteressen – zu unterscheiden, auch wenn diese in der Phänomenologie des Geistes wesentlich aufeinander bezogen sind: (A) die korrigierende Überführung einer falschen Auffassung über x (z. B. die Wahrnehmung) in eine wahre Auffassung über x und (B) die korrigierende Überführung einer falschen Auffassung darüber, was den Begriff des „wahrhaft wissenden Bewusstseins“ – nämlich ein sich-Zeigen zu sein –7 erfüllt, in eine wahre Auffassung darüber. Eine zur (B)-Linie gehörige Auffassung werden wir hinfort auch „Standpunkt“ nennen. Bezogen auf die (sinnliche) Wahrnehmung werden diese beiden Linien wie folgt erfüllt sein: (A*) Die falsche Auffassung, dass Wahrnehmung eine passive Aktualisierung begrifflicher Vermögen – ein sich als so-und-so Zeigen des Objekts – sei, wird kritisiert und korrigierend überführt in die wahre Auffassung, dass Wahrnehmung eine aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen ist. (B*) Die Auffassung – der Standpunkt –, dass Wahrnehmung den Begriff des „wahrhaft wissenden Bewusstseins“ – nämlich ein sich-Zeigen zu sein – erfüllt, erweist sich aufgrund von (A*) als falsch; denn dies setzte voraus, dass Wahrnehmung eine passive Aktualisierung begrifflicher Vermögen – ein sich als sound-so Zeigen des Objekts – wäre. Die wahre Auffassung der Wahrnehmung im Sinne von (A*) zeigt, dass Wahrnehmung nicht den Begriff des „wahrhaft wissenden Bewusstseins“ erfüllt. Jedoch zeigt sich zugleich, dass die in (A*) vollzogene Kritik – als Teil der Selbsterkenntnis des Geistes – diesen Begriff erfüllt. Selbsterkenntnis – und sie allein – ist wahrhaft wissendes Bewusstsein. Denn in ihr zeigt sich dem Subjekt etwas. Das wird sich zeigen. Beide Linien hängen also intern miteinander zusammen, sind aber zu unterscheiden. Denn allein die (B)-Linie definiert den Weg der Phänomenologie des Geistes, und die (A)-Linie wird nur insoweit thematisch sein (müssen), als dies für die Entwicklung der (B)-Linie notwendig ist. Ob und inwieweit die
Wenn es so etwas überhaupt geben sollte. Die Erläuterung dieses Begriffs folgt sogleich in Abschnitt 1.2.
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1.2 Der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins
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Verfolgung der (A*)-Linie für die (B*)-Linie notwendig ist, wird sich zeigen.8 Im Vorgriff auf das Ganze der hegelschen Geistphilosophie ist jedoch klar, dass sie auch soweit verfolgt werden muss, dass der absolute Geist als absoluter im Gegensatz zum subjektiven Geist als subjektivem negativ zur Abhebung kommen kann. Ein griffiges Beispiel hierfür liegt auf der Hand: Die durch und durch vergeistigte sinnliche Wahrnehmung der Kunst ist erst im Vollsinne begriffen, wenn sie im Kontrast zur richtig verstandenen „ordinären“ sinnlichen Wahrnehmung begriffen wird – und umgekehrt. Gerade diese qua Negation kontrastive philosophische Erkenntnisweise entspricht derjenigen Methode der Negativität, die Hegel selbst durch sein gesamtes Werk hindurch verlangt und vorführt. Schon deshalb – und nicht nur, um auch einen positiven Beitrag zur gegenwärtigen analytischen Debatte zu leisten – wird es in unserer Untersuchung also nicht damit getan sein, die verkehrte Auffassung der Wahrnehmung bloß negativ zurückzuweisen, ohne zugleich die wahre auch positiv darzustellen.
1.2 Der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins Es wurde soeben bereits der Begriff des „wahrhaft wissenden Bewusstseins“ erwähnt; nun bedarf er einer näheren Erläuterung. Zunächst: Das Attribut „wahrhaft“ verwendet Hegel im Sinne eines Kontrastes zu bloß „vermeintlichen“ Gestalten des wissenden Bewusstseins. Den Begriff des „wissenden Bewusstseins“ führt er in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes wie folgt ein: Im Wissen, so Hegel, „unterscheidet“ das Bewusstsein „etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; oder wie diß ausgedrückt wird, es ist etwas für dasselbe; und die bestimmte Seite dieses Beziehens, oder des Seyns von Etwas für ein Bewußtseyn ist das Wissen. Von diesem Seyn für ein anderes[.] unterscheiden wir aber[.] das an sich seyn; das auf das Wissen bezogene wird eben so von ihm unterschieden, und gesetzt als seyend auch ausser dieser Beziehung; die Seite dieses an sich heißt Wahrheit.“9
Hegel fährt unmittelbar fort: „Was eigentlich an diesen Bestimmungen sey, geht uns weiter hier nichts an, denn indem das erscheinende Wissen unser Gegenstand ist, so werden auch zunächst seine Bestimmungen aufgenommen, wie sie sich unmittelbar darbieten; und so wie sie gefaßt worden sind, ist es wohl, daß sie sich darbieten.“10 8 Sollte dies (faktisch) nur begrenzt der Fall sein, würde dies freilich nicht ausschließen, Hegels Auffassung der Wahrnehmung im Sinne der (A*)-Linie z. B. unter Rekurs auf bestimmte Passagen der Enzyklopädie weiter zu rekonstruieren. So werden wir auch verfahren. 9 PhG, 58. 10 PhG, 58.
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Hegel deutet hier an, dass etwas „eigentlich an diesen Bestimmungen sey“, was erst im Vollzug des Weges der Selbsterkenntnis, der die Phänomenologie des Geistes ist, klar und distinkt wird. Dass also nicht nur die Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins erst zu finden ist, sondern auch die vertiefende Klärung dieses Begriffes selbst noch aussteht. Gleichzeitig betont er, dass wir einen arbeitstauglichen Vorbegriff dieser Bestimmungen haben, indem wir sie aufnehmen, „wie sie sich unmittelbar darbieten“. Dies tun sie, da sie Bestimmungsmomente unseres auch sprachlich schlicht vorhandenen Vorbegriffs des Wissens sind – genauer, zwei Bedingungen für Wissen: („für uns“: Repräsentationsbedingung) Etwas wird in einem Akt als so-und-so begrifflich von Subjekten oder für Subjekte repräsentiert. („an sich“: Wahrheitsbedingung) Dieses etwas ist so-und-so auch unabhängig von diesem (oder jedem solchen11) Akt der begrifflichen Repräsentation. Die beiden Bedingungen entsprechen dem, was man in der traditionellen Analyse des Wissens als „wahre gerechtfertigte Meinung“ („justified true belief (JTB)“) als die Meinungs‑ oder Überzeugungsbedingung bezeichnet – jemand ist überzeugt, dass dies oder jenes der Fall ist – bzw. als die Wahrheitsbedingung – das, wovon diese Person überzeugt ist, ist tatsächlich der Fall. Dass wir – mit Hegel – von einer „Repräsentationsbedingung“ statt von einer „Meinungs‑ oder Überzeugungsbedingung“ sprechen, ist eine wichtige Modifikation: denn auf dem Weg der Phänomenologie des Geistes wird nicht allein das urteilende Bewusstsein betrachtet und gefragt, unter welchen Bedingungen es wissend ist, sondern auch das wahrnehmende Bewusstsein diskutiert. Die Wahrnehmung als Wahrnehmung aber ist an sich noch kein Urteil, sehr wohl aber begriffliche Repräsentation. Den Skopus dessen, was auf dem Weg der Phänomenologie des Geistes diskutiert wird, kann man also nur abdecken, wenn man die erste Bedingung – etwas weiter – als Repräsentationsbedingung fasst. Hegel zufolge müssen diese beiden Bestimmungsmomente nun in einer ursprünglichen Einheit stehen12, wenn sie Bestimmungsmomente des wahrhaft 11 Auf diese Differenz wird in den Kapiteln 7 und 8 zurückzukommen sein. Dort wird gezeigt werden, dass ein starker Begriff des „Absoluten“ als vom endlichen Subjekt unabhängig die Wahrheitsbedingung des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins also nicht nur im schwachen Sinne („diesem“), sondern sogar im starken Sinne („jedem solchen“) erfüllt. Damit einher wird gehen, dass das sich-Zeigen des Absoluten in unseren Begriffen die Repräsentationsbedingung erfüllt, ohne dass es durch dieses sein „für uns“ von uns abhängig würde. – Auffallend ist, dass McDowell das „jedem“ gar nicht erwägt. Das ist nicht überraschend, weil ihm die Wahrnehmung als wahrhaft wissendes Bewusstsein gilt – und deren „an sich“ muss er, wenn er an ihrer begrifflichen Form festhalten will, somit als abhängig von unseren repräsentationalen Akten, wenn auch nicht von diesem oder jenem einzelnen Akt, denken. 12 In oben zitierter Passage, in welcher Hegel die Bestimmungsmomente des wahrhaft wissenden Bewusstseins einführt, ist deren Einheit dadurch ausgedrückt, dass Hegel sie mit den Relationswörtern „zugleich“ und „eben so“ in Beziehung setzt. Dies kann – und sollte – so gelesen werden, dass jedes der Bestimmungsmomente nur zusammen mit dem je anderen ist –
1.2 Der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins
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wissenden Bewusstseins sein sollen: von wahrhaft wissendem Bewusstsein kann dann – und nur dann – gesprochen werden, wenn etwas sich selbst als das, was es an sich ist, geltend macht oder zeigt (– oder, wie Hegel es auch nennen kann, „offenbart“13). In diesem Begriff sind die beiden Bestimmungsmomente vereinigt: indem etwas sich selbst als das, was es an sich ist, zeigt, zeigt es sich als etwas, das an sich – d. h. auch ohne diesen (oder einen solchen) Akt des sich-Zeigens – ist und so ist, wie es ist und sich zeigt; zugleich aber zeigt es sich eben und ist darin für das Bewusstsein, dem es sich zeigt, präsentiert sich also selbst in dessen RePräsentation14, stellt sich ihm in dessen Vor-Stellung selbst vor. Der Sachgrund, warum Hegel diese Vereinigung der beiden Bestimmungsmomente für den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins denkt und für notwendig hält, lässt sich zunächst im Ausschluss von Gettier-Fällen erkennen: Gettier-Fälle15 lassen sich immer als möglich denken (und in Form von Beispielen konstruieren), wenn Wissen gemäß der traditionellen Analyse als wahre, gerechtfertigte Meinung aufgefasst wird. Hegel fügt seinen beiden – wie sich nun herausstellt, bloß abstrahierten – Bestimmungsmomenten nun kein drittes – die traditionelle Rechtfertigungsbedingung – hinzu, die als solche den beiden anderen äußerlich bliebe. Dann wäre seine Konzeption des wahrhaft wissenden Bewusstseins hierin nichts anderes als die traditionelle JTBAnalyse. Sie ist aber etwas anderes – zum einen in der schon angedeuteten Hinsicht, dass sie nicht nur auf propositionales Wissen, sondern auch auf andere Formen des Bewusstseins anwendbar sein soll und allein schon deshalb tiefer geht als die Analyse des Wissens als wahre gerechtfertigte Meinung; zum anderen in der Hinsicht, dass sie den defizitären Charakter der beiden Bestimmungsmomente, sofern sie in Abstraktion betrachtet werden, gerade in dem Sinne eben, dass beide nur in ursprünglicher Einheit sind, was sie sind: Bestimmungsmomente des wahrhaft wissenden Bewusstseins. 13 So definiert Hegel den „Geist“ insgesamt (vgl. Enz. 1830, § 383). Darauf wird in Kapitel 7 ausführlich zurückzukommen sein. – Es ist höchst treffend und glücklich, dass Andrea Kern jüngst das englische Wort für „offenbaren“, „reveal“, gebraucht hat, um ihre Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung, der gemäß sinnliche Wahrnehmung eben den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins instanziiert, präzise zu charakterisieren (vgl. Kern 2019). 14 Der Begriff des „repräsentationalen Akts“ wird in unserer Untersuchung in einem allgemeinen, weiten Sinn und einem spezifischeren Sinn gebraucht: Im allgemeinen Sinn soll er einfach einen „geistigen Akt (irgendwelchen Inhalts) überhaupt“ bedeuten; im spezifischeren Sinn hingegen einen „geistigen Akt, durch den (sich) ein Subjekt etwas Anderes vor-stellt“ im Gegensatz zu einem „geistigen Akt, durch den sich einem Subjekt etwas Anderes selbst zeigt“. Diesem Gegensatz entspricht also das Gegensatzpaar von „das Subjekt stellt sich etwas vor“ und „etwas stellt sich dem Subjekt vor“ sowie eben „das Subjekt repräsentiert etwas“ oder „etwas präsentiert sich dem Subjekt“. Anders gesagt: McDowell fasst einen Wahrnehmungsakt in diesem Sinne als einen präsentationalen Akt auf, wir ihn mit Hegel hingegen als einen repräsentationalen. 15 Das sind Beispiele desjenigen Typs, wie Gettier 1963 sie in seinem gegen die traditionelle JTB-Analyse des Wissens gerichteten Aufsatz in die philosophische Debatte eingebracht hat.
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durch den Gedanken ihrer ursprünglichen Einheit behebt. Der Gedanke ihrer ursprünglichen Einheit behebt diesen defizitären Charakter so, dass es unmöglich wird, zu denken, dass Rechtfertigung, aber dennoch kein Wissen vorliegt.16 Denn das, was in diesem Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins der Rechtfertigungsbedingung entspricht, liegt im Gedanken des sich als sound-so Zeigens oder Geltendmachens. Insofern ein solches vorliegt, liegt ein Selbsterweis oder eine Selbstpräsentation dessen, was darin gewusst wird, vor; es wird, wie Hegel auch sagt, „erfahren“. Es lässt sich dann nicht denken, dass dieses sich-Zeigen als tatsächlich rechtfertigende Begründung angeführt wird, es sich aber dennoch nicht in Wirklichkeit so verhält, wie es sich auf Basis dieses sich-Zeigens, ja in ihm, darstellt: denn das, was sich als das, was es an sich ist, zeigt, macht eo ipso das, was es an sich ist, zum Gegenstand des Bewusstseins, dem es sich zeigt – und nichts anderes. Die Gettier-Beispiele hingegen werden genau dadurch möglich, dass der Gegenstand des Wissens sich nicht selbst dem Subjekt der Überzeugung zeigt, sondern dass vermittels einer indirekten Rechtfertigungskette auf ihn geschlossen wird. Nur dadurch kann der Fall eintreten, dass die Rechtfertigungsbedingung als erfüllt gilt – und dennoch kein Wissen vorliegt, weil diese Rechtfertigung sozusagen „an der Sache vorbeigegangen“ ist. Dies ist im Falle des sich-Zeigens begrifflich unmöglich. Von daher schon empfiehlt sich Hegels Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins: es ist das sich-einem-Subjekt-Zeigen eines An-sich. Nun zeigt sich auch klar, warum die sinnliche Wahrnehmung gemäß McDowells Auffassung – wenn sie richtig wäre – tatsächlich eine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins wäre: denn diese Auffassung besteht genau in dem Gedanken, dass ein Objekt sich selbst als das, was und wie es an sich ist, zeigt, sich uns kausal aufnötigt. Es realisiert eine passive Aktualisierung unserer begrifflichen Vermögen in Form der Kausalität.17 Hegel macht nun ganz explizit, dass gerade diese Auffassung der Wahrnehmung – oder der Form von Akten 16 Kern 2006 hat dies im Allgemeinen in hervorragender Weise herausgearbeitet – verlässt den hegelschen Grund ihrer Überlegungen aber darin, dass sie wie McDowell meint, die Wahrnehmung würde diesen Begriff des wissenden Bewusstseins erfüllen. 17 Man mag hier fragen, wie sich die beiden Bestimmungen, die McDowell gibt, zueinander verhalten: „passive Aktualisierung der begrifflichen Vermögen des Subjekts“ und „(kausales) dem Subjekt sich-Aufnötigen eines Objekts“ (zu den Belegen vgl. Fn. 6). McDowell vertritt natürlich, dass beide denselben Prozess oder Akt beschreiben – und dass dieser nur durch die beiden Beschreibungen zusammen voll begriffen ist. Wichtig ist zu sehen, dass McDowell nicht denkt, dass die Kausalität darin liege, dass ein Objekt die begrifflichen Vermögen eines Subjekts kausal aktualisiert – wie eine Billardkugel eine andere anstößt, also im Sinne der mechanischen Kausalität. Denn McDowell will Wahrnehmung gerade so bestimmen, dass ein Szenario undenkbar wird, in dem wir die Welt grundsätzlich verfehlen: Das wäre nach dem Modell mechanischer Kausalität aber möglich, falls z. B. das Rote immer unseren Begriff des Blauen aktualisieren würde. Mit dem „(kausalen) dem Subjekt sich-Aufnötigen eines Objekts“ meint McDowell also, dass der Anfang der Aktualisierung begrifflicher Vermögen vonseiten der Objekte in dem Sinne gemacht wird, dass sie sich uns als das, was sie sind, zeigen.
1.2 Der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins
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des Bewusstseins überhaupt – den Standpunkt des „Bewusstseins“ definiert, wie er im Laufe der Phänomenologie des Geistes zu überwinden ist. Hegel charakterisiert ihn von der Warte seines Denkens aus auch so: „Es [sc. das Bewusstsein auf diesem verkehrten Standpunkt] denkt also[,] das Objekt und die Denkbestimmungen sind Bestimmungen des Objekts[;] oder die Denkbestimmungen erscheinen ihm nicht als seine Thätigkeit, Thun, sondern erscheinen dem Ich als Bestimmungen des Objekts, oder das Subjekt ist nur für uns denkend, dem Bewußtsein erscheinen die Denkbestimmungen als gegeben, vorgefunden, die Denkbestimmungen haben die Form von äusserlichen[;] und dieß ist die bewußtlose Seite die für uns vorhanden ist, nicht für den Begriff selbst, für ihn [sc. den Begriff des Bewusstseins auf diesem Standpunkt, T. O.] sind die Bestimmungen als vom Objekt gegeben.“18
Es muss also im Fortgang der Phänomenologie des Geistes gezeigt werden, dass „die Denkbestimmungen“ (also Begriffe) sehr wohl „Thätigkeit, Thun“ des Subjekts allein sind – und nicht, wie das Subjekt auf dem Standpunkt des „Bewusstseins“ irrigerweise meint, „als vom Objekt gegeben“. Diesen Weg werden wir nun, in Kapitel 2, sogleich antreten. Dieses Kapitel 1 ist jedoch mit einer vorgreifenden Bemerkung zu beschließen, mit der sich noch einmal andeuten lässt, warum sich am Ende die philosophische Selbsterkenntnis als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins erweisen wird – vorausgesetzt, in ihr wurde die Passivitätsauffassung der Wahrnehmung widerlegt. Denn dann ist ein Bewusstsein, das im Irrtum über sich befangen war, von diesem Irrtum befreit worden. Doch wie könnte es sich selbst dazu bringen, einzusehen, dass es im Irrtum über sich befangen ist, und den Irrtum hinter sich zu lassen? Das kann nur geschehen, wenn ihm etwas aufgeht, was ihm vorher nicht aufgegangen war. Dieses „Aufgehen“ wird sich aber erweisen als: dass sich etwas als so-und-so (und damit als nichtanders) zeigt, geltend macht; damit aber zeigt sich eo ipso dieses Zeigen selbst, als das, was es an sich ist: sich-Zeigen. Die philosophische Selbsterkenntnis – als Selbstaufklärung des Geistes – erfüllt somit den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins, indem sie sich-Zeigen ist und sich als solches erkennt; indem sie dieses also gerade dadurch vollkommen ist, dass sie sich auch als solches erkennt. Hegel drückt diesen Zielpunkt schon in der Einleitung so aus, dass darin „der Gegenstand“ – also die als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins erkannte Gestalt des Bewusstseins – dem „Begriff “ des wahrhaft wissenden Bewusstseins „entspricht“19; dass also das wahrhaft wissende Bewusstsein am Ende sich selbst zum Inhalt hat. Erst darin, so Hegel, kommt die Bewegung der Phänomenologie des Geistes zum Ziel und zur (vorläufigen) Ruhe. Das könnte im Fall der sinnlichen Wahrnehmung a fortiori nicht sein: denn das sinnlich Er will damit also eine andere Form von Kausalität denken – eben im Sinne des hegelschen sich-Zeigens. 18 VSG Griesheim, 430. 19 PhG, 59.
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wahrnehmende Bewusstsein – was auch immer es ist – kann jedenfalls nicht sich selbst sinnlich wahrnehmen. Darin liegt ein weiteres ausgezeichnetes Moment der Phänomenologie des Geistes: dass sie sich als die philosophische (Selbst‑)Erkenntnis, die sie ist, immer zugleich selbst mitdenkt.20
20 Deshalb betrachtet Hegel schon in der Einleitung immer „zwey Gegenstände“ (PhG, 60) des (vermeintlichen) Wissens: Der erste ist der Gegenstand der Gestalt des (vermeintlich) wissenden Bewusstseins, von dem geprüft wird, ob es Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist. Der zweite hingegen ist diese Gestalt des Bewusstseins selbst, die Gegenstand der philosophischen Prüfung und ihres Wissens ist. Beide Gegenstände sind aber dadurch gekoppelt, dass – sobald der erste Gegenstand als gar kein Gegenstand des wissenden Bewusstseins erkannt ist (also als kein sich-zeigender) – eben dies eine philosophische Erkenntnis ist. Die soeben geprüfte Gestalt des Bewusstseins ist sodann nicht mehr Gegenstand des Wissens in dem Sinne, dass sie als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins gewusst würde – denn sie ist ja als solche widerlegt –, sehr wohl aber in dem Sinne, dass sie nun eben gewusst wird als nicht-Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins.
2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“ Im Wahrnehmungskapitel der Phänomenologie des Geistes wird nun also die von McDowell gegenwärtig paradigmatisch vertretene Auffassung, dass die Wahrnehmung eine passive, in Form von Kausalität realisierte Aktualisierung begrifflicher Vermögen sei, geprüft und in nun darzulegender Weise als widersprüchlich zurückgewiesen.1 Sowohl aus dem Text der Phänomenologie des Geistes als auch aus der zur initialen Übersicht hilfreichen thetischen Zusammenfassung dieser Zurückweisung im entsprechenden Paragraphen der Enzyklopädie geht hervor, dass es sich um zwei Widersprüche handelt – genauer gesagt, um zwei Aspekte einer widersprüchlichen Verhältnisbestimmung des „Allgemeinen“ und „Einzelnen“, welche diese Auffassung impliziert: „Diese Verknüpfung des Einzelnen und Allgemeinen ist Vermischung, weil das Einzelne zum Grunde liegendes Seyn und fest gegen das Allgemeine bleibt, auf welches es zugleich bezogen ist. Sie ist daher der vielseitige Widerspruch, – überhaupt der einzelnen Dinge der sinnlichen Apperception, die den Grund der allgemeinen Erfahrung ausmachen sollen, und der Allgemeinheit, die vielmehr das Wesen und der Grund seyn soll, – der Einzelnheit, welche die Selbstständigkeit in ihrem concreten Inhalte genommen ausmacht, und der mannichfaltigen Eigenschaften, die vielmehr frei von diesem negativen Bande und von einander, selbstständige allgemeine Materien sind […].“2
Diese dichten, gerafften Ausführungen sind nicht nur schwierig zu verstehen, sondern – wie Hegel klar bewusst ist – überhaupt nicht, solange sie nicht schrittweise ent-wickelt werden und sich sodann als Resultat dieser Entwicklung ergeben. Als Gliederung dieses 2. Kapitels unserer Untersuchung dient die Zusammenfassung in § 421 allerdings. Aus ihr geht hervor, dass es zwei Aspekte der widersprüchlichen Verhältnisbestimmung des „Allgemeinen“ und „Einzelnen“ gibt, welche die Diskussion der Auffassung der Wahrnehmung als passive, in Form von Kausalität realisierte Aktualisierung begrifflicher Vermögen nacheinander aufweisen kann: 1 Das sieht man nur klar, wenn man den in Kapitel 1 dargelegten Aufbau der Phänomenologie des Geistes klar im Blick hat. Im Sinne des obigen Zitats aus der Griesheim-Nachschrift der Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes lässt sich dann erkennen, dass Hegels Rede von „Bestimmungen des Objekts“ u. ä. immer im Sinne des vermeintlichen sich-Zeigens dieses Objekts als so-und-so bestimmt zu lesen ist – und nicht als eine Überlegung zur Ontologie der Dinge. Diese Schlagseite hat vor allem die Lesart von Siep 2000, während Westphal 1998, Emundts 2012 und Stekeler 2014 sie dezidiert zu vermeiden wissen. 2 Enz. 1830, § 421.
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2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“
(i) einmal der Widerspruch zwischen den „einzelnen Dinge[n] der sinnlichen Apperception, die den Grund der allgemeinen Erfahrung ausmachen sollen, und der Allgemeinheit, die vielmehr das Wesen und der Grund seyn soll“; (ii) einmal der Widerspruch zwischen „der Einzelnheit“ und den „mannichfaltigen Eigenschaften, die vielmehr frei von diesem negativen Bande und von einander, selbstständige allgemeine Materien sind“. In dieser Reihenfolge sollen diese beiden Widersprüche nun am Text der Phänomenologie des Geistes entwickelt werden.
2.1 Der erste Aspekt des Widerspruchs: Zwischen Allgemeinheit und (positiver) Einzelheit 2.1.1 Der Un-Gedanke der „positiven Allgemeinheit“ Die zu prüfende Auffassung der Wahrnehmung besagt, dass das Objekt sich selbst als so-und-so zeigt. Dieses „sich-als-so-und-so-Zeigen“ soll ein Akt begrifflicher (Re‑)Präsentation sein. In der Einsicht, dass die Wahrnehmung begrifflich – also in Form allgemeiner Bestimmungen – verfasst sein muss, hat diese Auffassung ein Wahrheitsmoment, das Hegel teilt. Denn dies war das Resultat des vorhergehenden Kapitels – „Sinnliche Gewissheit“ – gewesen: dass von einem Objekt der Wahrnehmung überhaupt nur die Rede sein kann, wenn dieses bestimmt ist. Bestimmt ist es aber nur und genau dann, wenn es durch allgemeine Bestimmungen bestimmt ist. Denn der Versuch, das Objekt durch eine nicht-allgemeine Bestimmung zu bestimmen oder überhaupt in den Blick zu bekommen – als bloßes „dieses“ –, so hat Hegel dort gezeigt, muss notwendig scheitern. Denn „dieses“ ist nicht, was es war, als ich vor einem Augenblick in dieselbe Richtung blickte. Resultat des Kapitels „Sinnliche Gewissheit“ ist also, dass unsere Sinnlichkeit nicht in Akten nichtallgemeiner Bestimmungen bestehen kann – ja, dass die Phrase „nichtallgemeine Bestimmungen“, jedenfalls in diesem Kontext, unsinnig ist: „Dies“ ist keine nichtallgemeine Bestimmung, sondern überhaupt keine Bestimmung. Das Objekt der sinnlichen Gewissheit ist kein Objekt, sondern – nichts. Das „sich-als-so-und-so-Zeigen“, durch das die zu prüfende Auffassung der Wahrnehmung selbige als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins behauptet, soll also ein Akt der begrifflichen Repräsentation sein, also eine (Re‑)Präsentation eines Objekts durch allgemeine Bestimmungen. Etwas wird in Form des Allgemeinen als etwas bestimmt, als das prinzipiell auch ein anderes etwas bestimmt sein kann. Etwas ist ein Pilz, etwas ist ein roter Pilz – und es ist für die allgemeine Bestimmung des „Pilzes“ (oder „Pilzseins“) und des „Roten“ (oder „Rotseins“) konstitutiv, dass sie auch anderen (kategorial wie klassifikatorisch passenden) Objekten zukommen kann.
2.1 Der erste Aspekt des Widerspruchs
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Nun ist es aber nicht nur so, dass Objekte durch Allgemeines bestimmt sind. Sondern auch das Allgemeine selbst, als solches, muss bestimmt sein: Das Rote (oder das Rotsein) ist ja etwas Bestimmtes – und das ist es wesentlich dadurch, dass es etwas anderes als z. B. das Grüne ist. Das Rote ist wesentlich das nichtGrüne (sowie das nicht-Blaue etc.). Insofern etwas also durch einen Begriff bestimmt ist, ist in dieser Bestimmung um ihrer Bestimmtheit willen negativ dasjenige enthalten, als was dieses etwas nicht bestimmt ist. Der Begriff des Roten etwa enthält die Bestimmung des Grünen negativ in sich. Etwas als rot zu repräsentieren bedeutet entsprechend, es zugleich darin auch als nicht-grün zu repräsentieren. Die begriffs-logische Form eines Aktes der begrifflichen Repräsentation ist also explizit und übersichtlich so dargestellt: etwas wird als so und als nicht-anders repräsentiert. Nun soll der Akt der begrifflichen Repräsentation der zu prüfenden Auffassung der Wahrnehmung gemäß aber eine passive Aktualisierung begrifflicher Vermögen sein, realisiert in Form der Kausalität. Das soll bedeuten, dass das einzelne Objekt sich als das, was es ist, zeigt – und nicht als das, was es nicht ist, denn was nicht ist, kann sich nicht zeigen, auch nicht als das, was ein Objekt nicht ist. Die Röte des Pilzes, so die Auffassung, nötigt sich dem Subjekt kausal auf, aber keine Grüne, auch nicht im Modus des nicht-grün-Seins – denn es ist ja keine Grüne da. Dieser Gedanke des sich-in-allgemeinen-Bestimmungen-Zeigens des (positiv‑)einzelnen Objekts ist damit unmittelbar widersprüchlich. Denn die Positivität als Präsupposition der Kausalität – es kann nur die Bestimmung (re)präsentiert werden, in der das einzelne Objekt positiv bestimmt ist: rot (und nicht grün); denn nur rot ist da – widerspricht dem Gedanken der begrifflichen Bestimmung als allgemeiner Bestimmung. Begriffe sind allgemeine Bestimmungen, die in sich negativ enthalten, was sie bestimmt macht. Wenn der Pilz in der Wahrnehmung begrifflich als rot repräsentiert sein soll, muss er eo ipso darin auch als nicht-grün repräsentiert sein. Soll die begriffliche Repräsentation also in Form der Kausalität realisiert sein, ist sie unmöglich. Der wahre Begriff des Begriffs (und der begrifflichen Repräsentation) widerspricht dem Gedanken einer Repräsentation als Kausalität, eines sich-Zeigens allein dessen, was positiv da ist. Dass nur das kausal wirksam sein kann, was da ist, was positiv ist – das ist allerdings ein minimales, notwendiges Bestimmungsmoment des Begriffs der Kausalität. Sich zeigen, sich kausal aufnötigen, das kann nur das, was da ist. Hegel nennt den Gedanken der Repräsentation eines daseienden Einzelnen ausschließlich in seinen positiven Bestimmungen den Gedanken der „positiven Allgemeinheit“ – im Unterschied zur wahrhaft begrifflichen Allgemeinheit, welche sinnigerweise als „negative Allgemeinheit“ zu bezeichnen ist, da sie in ihren Bestimmungen das, was diese qua Ausschluss erst bestimmt macht, qua Negation in sich enthält. Die „positive Allgemeinheit“ hingegen denkt jede all-
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gemeine Bestimmung als intern frei von dieser Negation. Damit aber ist sie keine allgemeine Bestimmung. Der Gedanke der „positiven Allgemeinheit“ ist kein Gedanke, sondern ein Un-Gedanke. Hegel fasst diese Einsicht so zusammen: „In diesem Verhältnisse, das sich ergeben hat, ist nur erst der Charakter der positiven Allgemeinheit beobachtet und entwickelt; es bietet sich aber noch eine Seite dar, welche auch hereingenommen werden muß. Nemlich wenn die vielen bestimmten Eigenschafften schlechterdings gleichgültig wären, und sich durchaus nur auf sich selbst bezögen, so wären sie keine bestimmte; denn sie sind diß nur in sofern sie sich unterscheiden, und sich auf andere als entgegengesetzte beziehen.“3
Nun liegt aber folgender Einwand auf der Hand: Der skizzierte Begriff des Begriffs – oder der allgemeinen Bestimmung – ist von Hegel schlicht vorausgesetzt; und er erscheint Hegels Gegnern dazu noch als „typisch hegelsch“, reflektiert er doch die später prominent in der Wissenschaft der Logik explizierte Dialektik von „Etwas“ und „Anderem“ unter Rückgriff auf den spinozistischen Gedanken „omnis determinatio est negatio“. Da die vorliegende Untersuchung ja keine Auffassungen Hegels rekonstruieren will, sofern diese unter dem Verdacht stehen, Hegels Idiosynkrasien zu sein, muss sie sich der Frage stellen, mit welchem Recht Hegel „seinen“ Begriff in einer Untersuchung einführt, die er selbst als voraussetzungslose Gedankenentwicklung präsentiert. Hegel ist dieses „Problem“ natürlich nicht entgangen. Deshalb ist diese Fragestellung ganz in seinem Sinne – und sie wird uns auf dem Weg der Selbsterkenntnis voranbringen. 2.1.2 Zwei Begriffe des Begriffs: McDowells Abfall von Hegel Der erwähnten Rückfrage ist zunächst zuzugeben, dass der dargestellte Widerspruch sich nur unter Voraussetzung des – wie er fortan entsprechend dem Gedanken der „negativen Allgemeinheit“ genannt werden soll – negativen Begriffs des Begriffs aufweisen lässt. Sofern die in Prüfung begriffene Auffassung diesen verträte, wäre sie in sich selbst unmittelbar widersprüchlich. Doch so einfach stellt es sich nicht dar, wenn man exemplarisch McDowells Ausprägung dieser Auffassung ansieht. Er vertritt offensiv einen anderen – nämlich: den positiven – Begriff des Begriffs, und zwar in einer Fassung, die von Frege herrührt; und es steht zu vermuten, dass McDowell ihn auch vermittelt über den Oxforder Fregeaner Michael Dummett „geerbt“ hat.4 Genauer gesagt: Was McDowells Begriff des Begriffs mit demjenigen Freges gemein hat, ist, Begriffe als von3 PhG,
72 f. diese fregeanische Tradition, die die analytische Philosophie weitgehend dominiert und Hegels Begriff des Begriffs entgegensteht, hat kritisch immer wieder Pirmin StekelerWeithofer hingewiesen (vgl. u. a. Stekeler-Weithofer 2018: 421 ff.). – Kritisch gegen McDowell wäre zudem darauf hinzuweisen, dass Frege aufgrund der platonisch-idealistischen Verfassung seines Denkens den Begriff dem Gedanken in seiner Getrenntheit vorbehält – und nicht in die sinnliche Wahrnehmung eingehen lässt. 4 Auf
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einander getrennte Einheiten aufzufassen5 – also gerade so, wie es Hegel zufolge inadäquat ist. An dieser Stelle sei deshalb Freges Begriff des Begriffs kurz (und soweit für unseren Zweck nötig) dargestellt6: Frege fasst Begriffe als Funktionen auf, die Gegenstände auf Wahrheitswerte abbilden. So ist der Begriff des Roten eine solche Funktion – die Funktion „Rot(x)“ –, die allen (sinnlich wahrnehmbaren) Gegenständen einen Wahrheitswert zuordnet. Meiner Ausgabe von Hegels Phänomenologie des Geistes ordnet sie den Wahrheitswert „0“ (oder „F“) zu – was der Tatsache entspricht, dass der Satz „Meine Ausgabe von Hegels Phänomenologie des Geistes ist rot“ falsch ist, weil diese Ausgabe grün ist. Als eine solche Funktion steht „Rot(x)“ nicht in interner Relation zu anderen Funktionen. Gegenüber der Funktion „Grün(x)“ ist sie diskret, auch wenn diese meiner Ausgabe von Hegels Phänomenologie des Geistes den Wahrheitswert „1“ (oder „W“) zuordnet. Bestimmten Lesarten zufolge7 ist Frege sogar darauf verpflichtet, derartige Funktionen als abstrakte Gegenstände aufzufassen; denn sofern wir sie mit einem Ausdruck wie „Rot(x)“ bedeutungsvoll bezeichnen können, muss dieser nach Freges Maßgabe einen Gegenstand – eben die Funktion – zu seiner Bedeutung haben. Von einzelnen Gegenständen nun ist es besonders evident, dass sie qua Gegenstand einander äußerlich sind. Doch selbst wenn wir diese mögliche Implikation von Freges Auffassung einklammern – etwa, weil wir meinen, Frege dagegen verteidigen zu können: Es bleibt dabei, dass Freges Auffassung des Begriffs als Funktion eine einander-Äußerlichkeit von Begriffen impliziert und diese unmittelbar dem negativen Begriff des Begriffs, wie Hegel ihn verfolgt, widerspricht. In einem bestimmten Urteil (oder Satz, der dieses Urteil ausdrückt) – z. B. „Meine Ausgabe von Hegels Phänomenologie des Geistes ist rot“ – ist entsprechend nur eine Funktion am Werk. Der Begriff „Grün(x)“ ist in ihm nicht am Werk. McDowell nun denkt die Wahrnehmung als strukturanalog zum Urteil8: In der Wahrnehmung wird meine Ausgabe von Hegels Phänomenologie des Geistes als grün repräsentiert. D. h. – mit Frege gesprochen – dass nur eine Funktion – die Funktion „Grün(x)“ – darin am Werk ist, nicht die Funktion „Rot(x)“, also nur der Begriff des Grünen und nicht der des Roten. Von der Warte des negativen Begriffs des Begriffs aus lässt sich diese Auffassung als mögliches 5 Behauptet ist also nicht, dass auch Frege Begriffe als in Form des kausalen sich-Zeigens aktualisierbar auffasst. 6 Frege hat ihn im Wesentlichen in seiner Schrift Funktion und Begriff entwickelt (Frege 1891). Eine (kritische und klare) Darstellung findet sich bei Kanterian 2012: 202 ff. 7 Vgl. hierzu die Darstellung der Debatte bei Textor 2002. 8 Zunächst, in Mind and World (McDowell 1996), sogar strukturgleich, da er dort Tatsachen – bestehende Propositionen – als Inhalte der Wahrnehmung auffasst, später (besonders deutlich etwa in McDowell 2013) nur noch als strukturanalog, d. h. so, dass zwar nicht Tatsachen Inhalte der Wahrnehmung sein sollen, sondern Objekte, aber Objekte als so-und-so bestimmt.
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Resultat einer Irreführung durch die Positivität des Zeichens rekonstruieren: Es ist zwar ganz richtig, dass im Satz „Dieses Buch ist rot“ nur das Zeichen „rot“ – und nicht etwa das Zeichen „grün“ – vorkommt; doch der Begriff ist eben nicht einfach identisch mit dem Zeichen oder dem Wort, auch wenn es ihn ohne Zeichen und Wort nicht gäbe.9 Natürlich muss nun auch von der Warte des negativen Begriffs des Begriffs aus der Tatsache Rechnung getragen werden, dass das Urteil „Dieses Buch ist rot“ etwas anderes behauptet als das Urteil „Dieses Buch ist grün“; und entsprechend die Wahrnehmung dieses Buches als rot anderen Inhalts ist als diejenige dieses Buches als grün. Formulieren lässt sich dieser Unterschied vorläufig so: in der Wahrnehmung von etwas als rot ist der Begriff des Roten positiv, der Begriff des Grünen hingegen negativ aktualisiert – aber beide Begriffe sind aktualisiert. Was genau das bedeutet, wird in Kapitel 5 betrachtet werden. An jetziger Stelle sollen die Ausführungen nur zeigen, dass sich hinter der hegelschen Zurückweisung von McDowells Auffassung und dessen möglichem Verteidigungsversuch tatsächlich ein Streit um den richtigen Begriff des (zunächst: empirischen) Begriffs verbirgt. Das ist eine nicht-triviale Feststellung, aus der vieles folgen wird. Hegel selbst deutet dies schon im Wahrnehmungskapitel an – und wir werden auf die einschlägige Stelle gegen Ende dieses 2. Kapitels (in Abschnitt 2.4) zu sprechen kommen. Zunächst ist jedoch noch ein naheliegendes Manöver zurückzuweisen, mit dem die Passivitätsauffassung dem negativen Begriff des Begriffs ein Wahrheitsmoment zuzuerkennen versuchen, zugleich aber behaupten könnte, dass die Negativität des Begriffs im Wahrnehmungsakt selbst nicht am Werk sei. Dieses Manöver besteht im Vorschlag, dass das Rote zwar wesentlich das nicht-Grüne sei, dies aber nicht impliziere, dass ich etwas Rotes, das somit wesentlich nichtgrün ist, in der Wahrnehmung auch als nicht-grün wahrnehme.10 Dieses Manöver
9 Mit Hegel lässt sich also diagnostizieren: Eine tendenziell platonisierende Auffassung des Begriffs (wie bei Frege) fällt im Hinblick auf das Problem der Negativität des Begriffs in seiner Verkehrtheit zusammen mit einer tendenziell lingualistischen (wie bei Sellars) – weshalb es kein Widerspruch ist, McDowells Begriff diesbezüglich seinen Frege’schen wie auch seinen Sellars’schen Wurzeln nach zu betrachten. Beides führt auf eine diskrete, tendenziell gegenständliche Auffassung von Begriffen. In Kapitel 5 werden wir zeigen, in welchem Sinne Hegels Begriff des Begriffs eine gänzlich andere Form aufweist. 10 Es ist wichtig hervorzuheben, dass mit Hegel eben auch letzteres zu behaupten ist. Mit dieser Implikation aber wird sein negativer Begriff des Begriffs erst wahrhaft strittig. Dieser kann, zum einen, nicht einfach mit dem generellen Hinweis angemessen erläutert oder verteidigt werden, eine gewisse Kontrastivität sei für die Bestimmtheit von begrifflichen Bestimmungen offenkundigerweise wesentlich, wie Brandom 2019: 56 mit Recht betont. Zum anderen aber – und das sieht Brandom nicht –, reicht es nicht zu, diese Kontrastivität als Negativität begrifflich exakt zu bestimmen, sondern es ist auch zu explizieren, dass und wie sie sich im repräsentationalen Akt der Wahrnehmung, der als solcher kein Akt des Urteilens oder Wissens ist, niederschlägt.
2.1 Der erste Aspekt des Widerspruchs
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beruht jedoch auf einer Verwirrung, wie sich gleich in dreierlei Hinsicht zeigen lässt11: (i) Gerade von der Warte der sich explizit als „Realismus“ verstehenden Passivitätsauffassung McDowells aus muss das Objekt in der Wahrnehmung als das, was es ist, repräsentiert werden. Das aber schließt es gerade aus, dass eine ihm ontologisch zugehörige sinnliche Bestimmung in der Wahrnehmung seiner auch nicht am Werk sein könnte. (ii) Im Falle von sogenannten „sekundären Qualitäten“ wie Farben wäre es naiv, ihr Sein von ihrem Wahrgenommensein so zu unterscheiden, dass etwas als für ihr Sein wesentlich, in ihrem Wahrgenommenwerden aber nicht einmal vorkommend gedacht wird. Diese Überlegung führt zudem in die Affirmation eines wahrnehmungstranszendenten „an sich“, was gerade vor dem Hintergrund der Behauptung der Wahrnehmung als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ausgeschlossen werden müsste. (iii) Im Falle von evidenterweise arbiträren Klassifikationen tut sich ein weiteres Problem auf. Man denke sich eine Person, die nun über den Farbbegriff des „preußisch-Blauen“ verfügt, vor einigen Jahren aber noch nicht über diesen, sondern – was die Unterklassifikation des „Blauen“ betrifft – nur über die Begriffe des „Hellblauen“ und des „Dunkelblauen“ verfügt hat. Es ist offenkundig so, dass diese Person dasjenige numerisch und qualitativ identische Objekt, das sie nun als preußisch-blau wahrnimmt, vormals als dunkelblau wahrgenommen hätte (oder tatsächlich hat). Demgegenüber nimmt sie jetzt einiges dessen, was sie vormals als dunkelblau wahrgenommen hat, als preußisch-blau wahr, und alles, was sie vormals als dunkelblau wahrgenommen hat und jetzt nicht als preußisch-blau wahrnimmt, als dunkelblau wahr – wobei ein engerer Begriff des Dunkelblauen resultiert, den wir vom vormaligen als „dunkelblau*“ abheben können. Der Begriff des Dunkelblauen wurde also ausdifferenziert in denjenigen des preußisch-Blauen und des Dunkelblauen*. Das diskutierte Manöver würde nun implizieren, dass die Differenz zwischen dem preußisch-Blauen und dem Dunkelblauen* gar nicht für dieses Subjekt – in seiner Wahrnehmung – ist. Doch das ist unplausibel. In seiner Wahrnehmung des Objekts als preußisch-Blau hat es dessen Farbe in Abhebung vom Dunkelblauen* vor Augen. Dies zeigt sich auch in unserer phänomenologisch zu nennenden Rede über das Farbensehen: Diese Person mag sagen, dass das preußisch-Blaue „diese typische Tiefe“ zeigt, die (und wie sie) dem Dunkelblauen* fehlt und durch die sie sich sichtlich von ihm abhebt; damit expliziert es die Differenz, als in der Wahrnehmung am Werke. Das ist schon von daher wenig überraschend, als diese Differenz ja von ihm gemacht, 11 Ganz allgemein ließe sich freilich sagen, dass dieses Manöver unter Bedingungen der (nach‑)kritischen Philosophie schon allein deshalb inakzeptabel ist, weil es empirisch-begriffliche Bestimmungen unzulässigerweise ontologisiert, indem es diese als im Sein am Werk, in unserer begrifflichen Repräsentation des so-Seienden hingegen nicht am Werk denkt.
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die Farbbegriffe gerade in dieser Detailliertheit von uns zugeschnitten sind; es macht daher keinen Sinn, ihre negative Bestimmtheit auf der Ebene eines vermeintlichen Ansichseins zuzugeben, aber auf der Ebene unseres Umgangs mit ihnen – etwa in der Wahrnehmung – zu bestreiten. Der Versuch einer Entschärfung des Problems dadurch, dass man die Negativität der Bestimmtheit bezüglich des Seins anerkennt, aber bestreitet, dass diese in der Wahrnehmung in Form des als-nicht-… am Werk sei, scheitert also. Wer – wie McDowell – dieses als-nicht-… in der Wahrnehmung ablehnt, indem er einen positiven anstatt eines negativen Begriffs des Begriffs vertritt, steht also in scharfer Opposition zu Hegel. Es ist deshalb zunächst geboten, den Gang der hegelschen Phänomenologie des Geistes weiter zu verfolgen, um zu sehen, wie Hegel selbst mit dieser Opposition umgeht. An späterer Stelle (in Kapitel 7) werden wir in einer Position sein, erneut auf die Signifikanz des Dissenses zwischen den beiden Begriffen des Begriffs zu reflektieren. Darin wird ein entscheidender Wendepunkt der Untersuchung, gleichsam ein Scharnier von Hegels Geistphilosophie liegen, welches aber nur dann angemessen zu explizieren und zu verstehen ist, wenn der Weg der Phänomenologie des Geistes erst einmal weitergegangen ist. Zunächst ist also der zweite Aspekt des Widerspruchs aufzuweisen.
2.2 Der zweite Aspekt des Widerspruchs: Zwischen Einheit und (positiver) Einzelheit Am Widerspruch zwischen Allgemeinheit und (positiver) Einzelheit entspringt noch ein zweiter Aspekt. Mit dem (Un‑)Gedanken der „positiven Allgemeinheit“ ist wesentlich ein Widerspruch zwischen der (positiven) Einzelheit des Objekts und seiner Einheit als Wahrnehmungsobjekt verbunden: Wären die allgemeinen Bestimmungen so am Einzelnen vorhanden, dass sie sich dem wahrnehmenden Subjekt kausal zeigen, so wäre unklar, wie sich diese (vermeintlichen) allgemeinen Bestimmungen im Sinne der logischen als-Struktur gliedern können sollen, wie sie für die Wahrnehmung – auch in McDowells Auffassung derselben – definierend sein soll: etwas wird als so-und-so wahrgenommen. Es ergibt sich also ein Widerspruch zwischen der positiven Einzelheit dessen, was sich als solches kausal zeigen soll, und der (logischen) Einheit, als die sie sich zeigen soll: als so-und-so bestimmter Gegenstand. Genauer analysiert hat dieses Problem zwei Ausprägungen, wie auch die alsStruktur als solche. Diese kann im Allgemeinen – in ihrer kategorialen Ausprägung – und im Konkreten – in ihrer zum je tatsächlichen Zuschnitt unserer empirischen Begriffe relativen Ausprägung – betrachtet werden. Beides ist nacheinander zu diskutieren.
2.2 Der zweite Aspekt des Widerspruchs
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2.2.1 Das Problem der als-Struktur in kategorialer Ausprägung Hegel selbst erinnert ausdrücklich daran, dass auch gemäß dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ der Gegenstand der Wahrnehmung gedacht werden können soll als einer, der als diese oder jene Eigenschaften habend repräsentiert wird.12 Er sagt dazu Folgendes: „Der Gegenstand, den Ich aufnehme, bietet sich als rein Einer dar; auch werde ich die Eigenschafft an ihm gewahr, die allgemein ist, dadurch aber über die Einzelnheit hinausgeht. Das erste Seyn des gegenständlichen Wesens als eines Einen[.] war also nicht sein wahres Seyn; da er das Wahre ist, fällt die Unwahrheit in mich, und das Auffassen war nicht richtig.“13
Hier deutet Hegel einen drohenden Rückfall auf den Standpunkt der „Sinnlichen Gewissheit“ an („Das erste Seyn …“). Dieser Standpunkt war wesentlich dadurch gekennzeichnet, dass ihm gemäß der Gegenstand dem Bewusstsein unmittelbar präsent sein soll, ohne als so-und-so präsent – und damit begrifflich repräsentiert – zu sein. Der Gedanke eines „rein[en] Eine[n]“, ohne allgemeine Eigenschaft, würde also wieder in den Standpunkt der „Sinnlichen Gewissheit“ kollabieren. Doch der Standpunkt der „Wahrnehmung“ muss zugleich auch das andere Extrem ausschließen können: eine bloße Präsenz von Allgemeinem, das nicht als „Eigenschafft“ an einem Gegenstand auftritt. Denn das würde dem Gedanken des Allgemeinen als Eigenschaft eines Objekts (und potentiell anderer Objekte) ebenso unmittelbar widersprechen. Soll der Gegenstand als „das Wahre“ im Sinne der Passivitätsauffassung gegen den drohenden Rückfall auf den Standpunkt der „Sinnlichen Gewissheit“ verteidigt werden, müsste also in der Tat das „Auffassen“ geändert werden, wie Hegel sagt. Es war in der „Sinnlichen Gewissheit“ „nicht richtig“, weil der Gegenstand dort eben nur als „rein Einer“ aufgefasst, die logische als-Struktur mit ihrer wesentlichen Differenz von Objekt und „Eigenschafft“ also noch überhaupt nicht aufgespannt war, also weder der Gegenstand als Gegenstand noch die Eigenschaft als Eigenschaft gedacht werden konnte. Doch der (Un‑)Gedanke der „positiven Allgemeinheit“ hat nun zur Implikation, dass sich mit ihm die logische als-Struktur im Sinne einer Vermeidung der beiden Extreme auch auf dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ nicht verständlich machen lässt. Denn ihm gemäß gibt es zwei Möglichkeiten, die zusammen ein Dilemma konstituieren: 12 Es scheint mir wichtig, dies klar vor Augen zu behalten: Gemäß dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ ist das Wahre, das „An sich“, der Gegenstand in seinem so-und-so-Sein, der sich uns zeigt. Sein „so-und-so-Sein“ soll eine allgemeine, also begriffliche Bestimmung sein. Das bedeutet aber nicht, dass das Allgemeine als solches das „An sich“ gemäß dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ wäre. Dies scheint Anton Friedrich Koch zu behaupten, wenn er schreibt, dass „wir im zweiten Kapitel der Phänomenologie eine neue Bewußtseinsgestalt, deren An-sich Allgemeines ist“, betrachten (Koch 2006: 30 [Hvh. T. O.]). 13 PhG, 74.
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– entweder: Es wird behauptet, dass die allgemeinen Bestimmungen und – neben ihnen – der Gegenstand sinnlich wahrnehmbar sind. Das ist aber – zum einen – absurd, weil zur Wahrnehmung des Schwarzen, des Roten und des Goldenen offenbar nicht eine Wahrnehmung der Deutschlandflagge äußerlich und zusätzlich hinzutritt, in der etwas wahrgenommen wird – das Deutschlandflaggesein –, was in der Wahrnehmung des Schwarzen, des Roten und des Goldenen noch überhaupt nicht wahrgenommen wurde. Zum anderen aber würde dies, selbst wenn es so wäre, das Problem nicht lösen: denn dann wären vier Wahrnehmungen nebeneinander, von denen nicht ausgemacht – und in der Wahrnehmung auch nicht auszumachen – wäre, wie sie sich zueinander verhalten. – oder: Es wird behauptet, dass allein die allgemeinen Bestimmungen wahrnehmbar sind und der Gegenstand als solcher nicht. Er entzieht sich und wird als sich entziehendes, an sich unbestimmtes Eins gewusst. Das ist aber – zum einen – absurd, weil der Gegenstand ja nicht ein unbestimmtes Eins, sondern die Deutschlandflagge sein soll. Zum anderen wäre der Gegenstand der Wahrnehmung damit aber ein unbestimmtes Unmittelbares – also wiederum: nichts.14 Bei diesen Alternativen handelt es sich nun um Verwirrungen, die dialektisch ineinander umschlagen. In der ersten Alternative geht der Gegenstand verloren – und soll deshalb in der zweiten durch absolute Abhebung „gerettet“ werden, wodurch er – zu Ende gedacht – aber ebenso verlorengeht. Seine versuchsweise Rettung durch Einzeichnung in die Wahrnehmung im Sinne der ersten Möglichkeit aber löst ihn wiederum auf, zu einer positiv-allgemeinen Bestimmung unter – genauer: neben – anderen. Hegel drückt diesen zweifach-dialektischen Gegenstandsverlust und den damit logisch verbundenen Verlust der Eigenschaften als Eigenschaften in direktem Anschluss an das zuletzt angeführte Zitat so aus: „Ich muß um der Allgemeinheit der Eigenschafft willen das gegenständliche Wesen[.] vielmehr als eine Gemeinschafft überhaupt nehmen. Ich nehme nun ferner die Eigenschafft wahr als bestimmte, anderem entgegengesetzte, und es ausschließende. Ich faßte das gegenständliche Wesen also in der That nicht richtig auf, als Ich es als eine Gemeinschafft mit Andern oder als die Continuität bestimmte [= erste Alternative, T. O.], und muß, vielmehr um der Bestimmtheit der Eigenschaft willen, die Continuität trennen, und es als ausschließendes Eins setzen [= zweite Alternative, T. O.].“15
Bemerkenswert ist, dass Hegel hier wieder auf den ersten Aspekt des Widerspruchs, zwischen Allgemeinheit und (positiver) Einzelheit, zurückkommt 14 Er ließe sich allenfalls als raumzeitliche Stelle bestimmen. Doch dazu bedürfte es eines apriorischen Begriffs des Raumes (und der Zeit). Dieser ist auf dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ aber nicht verfügbar (primär wohl wegen seiner Ausklammerung des Wahrnehmungsfeldes im Ganzen); auch McDowell sagt auffällig wenig darüber (einiges in McDowell 1998a–c, aber eher indirekt über Kant und Sellars). Wie für Kant, ist dies aber auch für Hegel ein entscheidender Aspekt, wenn es um die philosophische Erkenntnis unserer Sinnlichkeit zu tun ist. In den Kapiteln 4 und 5 werden wir darauf im Zusammenhang mit dem auch von Hegel verwendeten Begriff der „Anschauung“ zu sprechen kommen. 15 PhG, 74.
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(„… es ausschließende.“): der dem Gedanken allgemeiner Bestimmung widersprechende (Un‑)Gedanke der positiven Allgemeinheit, demzufolge allgemeine Bestimmungen nicht wesentlich und intern als das Negative anderer aufzufassen sind. Wieso kommt Hegel darauf zurück? Nun, er zeigt auf, dass die aufgewiesene Aporie des Gegenstandsentzugs in diesem (Un‑)Gedanken wurzelt; dass deshalb der Widerspruch zwischen der (positiven) Einzelheit des Gegenstandes und seiner Einheit als Gegenstand nur ein zweiter Aspekt ist, entsprungen aus dem Widerspruch zwischen (positiver) Einzelheit und Allgemeinheit überhaupt. Hegels Gedanke ist näherhin folgender: Der (Un‑)Gedanke der „positiven Allgemeinheit“ kann nicht nur nicht verständlich machen, wie allgemeine empirische Bestimmungen überhaupt eine Bestimmtheit haben, also das Rote und das Grüne etwa. Sondern er kann auch nicht verständlich machen, wie Bestimmungen als solche (kategorial) als Bestimmungen (oder Eigenschaften) eines Gegenstandes bestimmt sind: dass das Rote und das Grüne als Farben und damit – kategorial – als Qualitäten bestimmt sind, während die Dicke des Baumstamms als Volumen und damit – kategorial – als Quantität bestimmt ist. Denn der (Un‑)Gedanke der positiven Allgemeinheit besagt ja, dass eine allgemeine Bestimmung nicht wesentlich durch das, was sie nicht ist, bestimmt ist; das schließt ein, dass sie auch nicht wesentlich durch einen anderen Begriff, der sie nicht ist, unter den sie aber wesentlich fällt und in Bezug auf den sie zuallererst intelligibel ist, bestimmt sein kann. Das bedeutet, dass das Rote in der Wahrnehmung nicht als Farbe wahrgenommen und auch nicht intern als Eigenschaft eines Objekts auftreten (oder gewusst werden) kann – denn dies setzt voraus, dass diese Bestimmung in der Wahrnehmung wesentlich als zur kategorial von ihr unterschiedenen Klasse der Farbe bzw. Kategorie der Qualität gehörig am Werk ist. Es dürfte aber offensichtlich sein, dass folgendes Verteidigungsmanöver des Standpunktes der „Wahrnehmung“ scheitern muss: die These, dass eben auch die Kategorie der Qualität ein positiver Begriff und so kausal aktualisierbar sei. Abgesehen davon, dass „die Qualität“ keine sinnlich-wahrnehmbare Bestimmung wie eine solche ist, die der Kategorie der Qualität zugehört – darin liegt ja gerade ihr Wesen als Kategorie oder reinem Begriff –, würde ihr Wahrgenommenwerden qua sich-Zeigen das Problem nicht lösen. Denn dann träte sie bloß als weitere (vermeintlich) allgemeine Bestimmung neben die anderen. Somit wäre durch sie erneut keine logische als-Struktur als qua Kategorien geleistete Einheit in ihrer internen Ausdifferenzierung realisiert. Wie weit ins Absurde man den (Un‑)Gedanken des kausalen sich-Zeigens vermeintlich allgemeiner Bestimmungen auch immer treibt – es läge in der Wahrnehmung immer höchstens eine bloße Juxtaposition von gleichsam trägerlosen Bestimmungen vor. Hegel weiter:
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„[S]ie [sc. die Eigenschaft] ist nun weder an einem Eins, noch in Beziehung auf andere. Eigenschafft ist sie aber nur am Eins, und bestimmt nur in Beziehung auf andere.“16
Die bloße Juxtaposition der Eigenschaften, die ein Implikat des (vermeintlichen) Gedankens der „positiven Allgemeinheit“ ist, verfehlt also notwendig die logische als-Struktur, die der Standpunkt der „Wahrnehmung“ erfüllt zu haben meint. Mit diesem (Un‑)Gedanken kann nicht gedacht werden, dass etwas in der Wahrnehmung Eigenschaft ist – weil eine „Eigenschafft“ „nur am Eins“ Eigenschaft ist, aber die logischen Bedingungen dieses „am“ und eine Konzeption des Gegenstands als „Eins“, die nicht in den beschriebenen Gegenstandsentzug mündet, auf diesem Standpunkt in der Wahrnehmung nicht gedacht werden können. Diese Auffassung, wenn sie sich bis zum Gedanken der bloßen Juxtaposition der (vermeintlichen) Eigenschaften denken ließe, würde somit eine Beliebigkeit der Wahrnehmung implizieren – also genau das Gegenteil dessen, was diese Auffassung beansprucht, wenn sie die so verstandene Wahrnehmung als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins behauptet. Beliebigkeit – subjektive Beliebigkeit – impliziert diese Auffassung deshalb, weil die in Juxtaposition auftretenden Eigenschaften nicht nur beliebig gebündelt werden können, sondern beliebig gebündelt werden müssen (oder gar nicht gebündelt werden können). Denn sie haben von sich her keine logische Gliederung. Es ist also festzuhalten, dass Hegel am Standpunkt des „Bewusstseins“ die klassischen Probleme des Empirismus diagnostiziert17 – und das, obwohl dieser Standpunkt bereits erkannt hat, dass allgemeine Bestimmungen in der Wahrnehmung enthalten sein müssen. McDowell, PhG, 74. Die entsprechende Ausnahmestellung Hegels gegenüber der weitgehend empiristisch gefassten analytischen Philosophie (des 20. Jahrhunderts) auch in diesem Punkt hebt Westphal 2003: 85 ff. hervor. Überhaupt hat Kenneth Westphal viel Licht auf das Wahrnehmungskapitel werfen können, indem er (traditionelle) Debatten und Probleme des Empirismus, wie sie dort von Hegel verhandelt werden, verfolgt hat. In seiner erhellenden Studie zum Wahrnehmungskapitel der Phänomenologie des Geistes (vgl. Westphal 1998) hat er insbesondere herausgearbeitet, dass Hegel dem dort kritisierten Standpunkt nachweist, die kategoriale Form des Wahrnehmungsinhalts nicht denken zu können. Westphal deutet auch an, dass der Grund dafür letztlich im Widerspruch zwischen Allgemeinheit und (positiver) Einzelheit überhaupt liegt: „Hegel bemerkt nämlich, daß ein Qualitätsvorkommnis als abgesondert auch nicht bestimmt ist, weil sich qualitative Bestimmtheit nur durch Beziehung auf andere Qualitäten ergibt […]. Hegel hat wohl sehr komplexe und kontroverse Ansichten darüber, wie sich Qualitäten nur durch ihre gegenseitigen Unterscheidungen ergeben. […] Aber es ist gar nicht nötig, die ganze Hegelsche Ontologie schon in den Anfang der Phänomenologie hineinzulesen – und dadurch den Hegelschen Beweisanspruch zu zerstören. […] Es genügt das Zugeständnis, daß das menschliche Wahrnehmungsdenken durch Unterscheidung von kontrastierenden Sachverhalten funktioniert, und daß Qualitäten nicht nur dadurch bestimmbar, sondern auch nur dadurch bestimmt sind, daß sie sich von anderen mindestens möglichen Qualitäten abgrenzen.“ (Westphal 1998: 87 f.). Westphal sieht also den Punkt des Widerspruchs zwischen Allgemeinheit und (positiver) Einzelheit. Er scheint mir aber darin zu irren, dass die Anerkennung von Hegels Begriff des Begriffs ein „Zugeständnis“ sei, das zur unmittelbaren Einlösung von Hegels „Beweisanspruch“ verfügbar ist und als solches nicht zu den „kontroverse[n] Ansichten“ zählt, die Hegel in seiner Philosophie expliziert. Wie in dieser Untersuchung argumentiert werden 16
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so scheint es, glaubt, dass die Probleme des Empirismus zu überwinden sind, wenn man ihn zu einem „minimal empiricism“18 abschwächt, indem man das Gegebene als begrifflich Gegebenes fasst. Doch dem ist nicht so; denn die (vermeintliche) Idee eines „begrifflich Gegebenen“ ist aus den mit Hegel dargelegten Gründen ein Un-Gedanke. Diese Überlegung wirft die Frage auf, wie McDowell eigentlich die Kategorien denkt, deren am-Werk-Sein die logische als-Struktur ist. Will er behaupten, dass auch sie passiv, in Form der Kausalität aktualisierte Begriffe sind? Hierzu äußert er sich in einem Vergleich von Wahrnehmung und Urteil dunkel, nämlich wie folgt: „An ostensible seeing that there is a red cube in front of one would be an actualization of the same conceptual capacities that would be exercised in judging that there is a red cube in front of one, with the same togetherness. This captures the fact that such an ostensible seeing would ‚contain‘ a claim whose content would be the same as that of the corresponding judgment.“19
Die logische Verbundenheit der allgemeinen Bestimmungen, die diese in einer als-Struktur vorkommen lässt, die in der Wahrnehmung und – zum propositionalen Inhalt entfaltet – identisch im Urteil am Werk ist, nennt McDowell „togetherness“. Durch dieses unanalysierte, zweideutige Wort verschleiert er die aufgewiesenen Probleme, die sich hinter der Frage nach der kategorialen alsStruktur der Wahrnehmung gerade für seine Auffassung verbergen. Darüber hinaus aber behauptet er eine Identität („same“) zwischen der „togetherness“ in der Wahrnehmung und derjenigen im Urteil. McDowell bestreitet zugleich aber nicht, dass die Aktualisierung begrifflicher Vermögen im Urteil – im Gegensatz zur Wahrnehmung – aktiv sei, was er im Zitat durch das Wort „exercised“ andeutet.20 Soll beides zusammen nicht unmittelbar widersprüchlich sein, muss er vertreten, dass besagte „togetherness“ nicht wesentlich aktiv ist – sondern an sich neutral in Bezug auf Aktivität und Passivität, und so entsprechend einmal – im Urteil – aktiv und einmal – in der Wahrnehmung – passiv ins Werk gesetzt sein kann. Das ist sicherlich keine kantische und keine hegelsche Position; vielmehr sind Kants und Hegels Auffassungen geistiger repräsentationaler Vermögen gerade um die Einsicht gruppiert, dass dasjenige, was McDowell „togetherness“ nennt, wesentlich aktiv ist: Synthesis und Spontaneität, wie Kant sagt – und Hegel als Einsicht Kants explizit anerkennt.21 Unabhängig davon aber ist es der Sache nach jedenfalls schlicht unklar, was exakt McDowell mit wird – in finaler Form in Kapitel 7 –, liegt in Hegels Beweisverfahren eine Unverfügbarkeit des Beweise(n)s, welche weitreichende Implikationen für eine Metaphysik des Geistes hat. 18 So sein bekannter Terminus in McDowell 1996: xi. 19 McDowell 1998b: 458. 20 In exakt diesem Sinne erklärt McDowell an anderer Stelle selbst die Bedeutung von „exercised“ in Bezug auf die Aktualisierung begrifflicher Vermögen (vgl. McDowell 2008b). 21 So ganz zu Beginn der Begriffslogik.
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„togetherness“ meint, wenn er damit nicht einmal die Aktivität als wesentliche Bestimmung verbindet. Er kann damit wohl nichts anderes meinen als: in der Wahrnehmung zeigt ein Objekt sich als so-und-so – und der logische Zusammenhang seiner Bestimmungen ist einfach als ihr „zusammen“ mit-gegeben. Doch „zusammen“ („together“) ist kein angemessener Ausdruck für die logische als-Struktur; denn diese ist nicht einfach ein „zusammen“, wie dies etwa für eine bloß äußerlich verbundene Anhäufung von intern nicht – und schon gar nicht logisch-kategorial – Verbundenem gilt. Wohl unbeabsichtigterweise nähert sich McDowell terminologisch selbst dem an, was wir mit Hegel als Juxtaposition, als nebeneinander-zusammen-Vorkommen von (vermeintlichen) allgemeinen Bestimmungen, aufgewiesen haben. Der Blick auf McDowell hat die Vermutung also bestätigt: Er kann keine klare Konzeption der kategorialen Synthesis haben, weil eine solche im Rahmen der Passivitätsauffassung unmöglich ist. In Kapitel 5 werden wir darauf zurückkommen, wie mit Hegel die Aktivität der Aktualisierung begrifflicher Vermögen mitsamt den Kategorien gedacht werden kann – einmal im Urteil, einmal in der Wahrnehmung. Damit kann die These, dass dieselbe Synthesis in beiden am Werk ist, im Vollsinne eingeholt werden: nämlich so, dass sie auch im Hinblick auf die ihr wesentliche Bestimmung der Aktivität in beiden dieselbe ist. Hegel denkt nun den aporetischen Charakter der positiven Allgemeinheit im Hinblick auf die als-Struktur konsequent zu Ende und zeigt, dass in einer weiteren Hinsicht ein Rückfall auf den Standpunkt der „Sinnlichen Gewissheit“ impliziert wäre. Die wahrgenommenen (vermeintlichen) Eigenschaften wären mangels einer kategorialen Struktur an ihnen selbst nur beliebig – d. h. entweder ohne Regel oder jedenfalls ohne normative, bewusste Regel, sondern etwa nur durch einen bloß psychologischen Mechanismus – zu verbinden. Hegel nennt die Allgemeinheit, die diese Eigenschaften aufweisen würden, nun auch „sinnliches Sein“ – ein deutlicher Anklang an die „sinnliche Gewissheit“ und die Unmittelbarkeit des dortigen Seins, worauf er gegen Ende des folgenden, ans obige anschließenden Zitats auch explizit zu sprechen kommt: „Sie [sc. die Eigenschaft] bleibt als diß reine sich auf sich selbst beziehen[.] nur sinnliches Seyn überhaupt, da sie den Charakter der Negativität nicht mehr an ihr hat; und das Bewußtseyn für welches itzt ein sinnliches Seyn ist, ist nur ein Meynen, das heißt, es ist aus dem Wahrnehmen ganz heraus und in sich zurückgegangen. Allein das sinnliche Seyn und Meynen geht selbst in das Wahrnehmen über; ich bin zu dem Anfang zurückgeworfen, und wieder in denselben, sich in jedem Momente und als Ganzes aufhebenden, Kreislauff hineingerissen.“22
Inwieweit nun handelt es sich hier um eine Wiederkehr der Aufhebung der sinnlichen Gewissheit – und inwieweit nicht? Ein neues Problem der Verflüchtigung ins Private – Unsagbare und Nichtige – ergibt sich hier nicht nur durch die PhG, 74 f.
22
2.2 Der zweite Aspekt des Widerspruchs
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normative Beliebigkeit der Kombination dieser Eigenschaften in ihrem „sinnlichen Seyn“, sondern auch, weil der Gegenstand, der aus einer solchen Kombination erzeugt werden soll, unsagbar ist: Indem man ein gewisses Bündel an vermeintlichen Eigenschaften auswählt, kann ja – entsprechend der oben ausgeführten Dialektik des Gegenstandsentzugs – nicht einfach gesagt werden, dies sei der Gegenstand – denn dann würde der Gegenstand mit dem, was als seine Eigenschaften fungieren soll, identifiziert und wäre somit kein Gegenstand. Deshalb muss etwas unterlegt werden, von welchem oder an welchem diese Eigenschaften Eigenschaften sind: sie werden von diesem hier ausgesagt. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: – Entweder, mit „diesem hier“ ist ein räumliches Areal gemeint; dann wäre seine Bestimmung durchaus nicht-privat, wenn man die subjektive und intersubjektive Konstitution des Raumes einmal voraussetzt.23 Doch dann wäre die Auffassung darauf verpflichtet, dass die wirklichen Gegenstände der Wahrnehmung Raumstellen (oder Raum-Zeit-Stellen) seien – also genau auf diejenige Auffassung, die Wittgenstein in seinem Tractatus vertreten und später aus allzu guten Gründen revidiert hat.24 Diese Auffassung muss hier gar nicht weiter auf ihre Plausibilität hin beurteilt werden. Fakt ist, dass zeitgenössische „realistische“ Vertreter des Standpunktes des „Bewusstseins“ – exemplarisch McDowell – eine solche Auffassung gerade nicht impliziert haben wollen. Sie wollen vielmehr eine Ontologie der Einzeldinge – oder, wie McDowell in einer jüngeren Entwicklung seines Denkens deutlich macht, der Lebewesen – vertreten.25 Ein Lebewesen ist aber keine Raum-(Zeit‑)Stelle, sondern ein Organismus, der sich durch solche hindurch bewegen kann. – Oder, mit „diesem hier“ ist etwas gemeint, das nicht einfach eine Raum(Zeit‑)Stelle ist, aber eben auch nicht durch allgemeine Bestimmungen bestimmt sein kann. Damit aber wäre es, wie Hegel sagt, ein „bloßes Eins“ – und damit nichts anderes als das gänzlich unbestimmte und in keiner Weise begrifflich oder sprachlich fixierbare „dies“ der sinnlichen Gewissheit. Hierin liegt dann der Rückfall auf diesen eigentlich schon überwunden geglaubten Standpunkt. Die Privatheit erweist sich also im folgenden Sinne als dialektisch zwischen einer subjektivistischen und einer objektivistischen Form. In ihrer subjektivistischen Form begegnete sie auf dem Standpunkt der „Sinnlichen Gewissheit“; ihm zufolge ist die unmittelbare Gewissheit des je mir im hic et nunc als diesem (scheinbar) Gegebenen die Instanz des wahrhaft wissenden Bewusst23 Diese wäre jedoch explikationsbedürftig – und ist im Rahmen einer Passivitätsauffassung, wie mir scheint, nicht zu haben. 24 Die diesbezügliche Darstellung von Proops 2004 zeigt auf, wie sich die Substanzontologie des Tractatus als eine Ontologisierung des kantischen Substanzbegriffs lesen lässt. Der Wittgenstein des Tractatus und McDowell sind in diesem Lichte beide als Kant-Leser, die mit ihrem Kant zurück in die vorkantische Ontologie fallen, zu lesen. 25 Vgl. McDowell 2008a.
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2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“
seins. Schon im bestimmten Bezeichnen dieses (scheinbar) Gegebenen hebt sich dieser Standpunkt auf; um dieses Bezeichnens willen bedarf es eines Allgemeinen, durch das eo ipso das radikal-Einzelne des „je mir im hic et nunc als dieses“ getilgt wird. Nun aber hat sich gezeigt, dass der folgende Standpunkt – „Die Wahrnehmung“ – diese Allgemeinheit in objektivistischer Form zu fixieren versucht: dass die Objekte selbst – ohne unsere Zu-Tat – zeigen, was und wie sie sind. Genau dieser Gedanke resultierte aber in einer Rückkehr des Privaten. Es ist somit eine dialektische Einsicht Hegels, dass nicht nur radikaler Subjektivismus Privatheit, sondern auch derjenige radikale Objektivismus, der den Standpunkt der „Wahrnehmung“ – zunächst in seinem Gegensatz zu demjenigen der „Sinnlichen Gewissheit“ – kennzeichnet, Privatheit impliziert. Auf dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ wird der repräsentationale Akt der Wahrnehmung initial dem Objekt zugeschrieben. Was somit zunächst wie ein vom Objekt unmittelbar ermöglichter Zugang des Subjekts zum Objekt an sich – durch bloß passive Rezeptivität des Subjekts – aussehen mag, impliziert bei näherer Analyse also ebenfalls Privatheit, eine Privatheit des Objektivismus. Sie offenbart negativ, was eine der Grundeinsichten Hegels (wie Kants) ist: dass jede Objektivität – und sei es bloß diejenige der Wahrnehmung – immer schon ein Werk der Subjektivität ist26; und dieses lässt sich nur begreifen, wenn man Akte der Subjektivität nicht in die Objektivität projiziert und die kategoriale Differenz beider somit annihiliert. 2.2.2 Das Problem der als-Struktur in konkreter Ausprägung McDowell zeigt kein Bewusstsein davon, dass der vermeintliche Gedanke einer „passiven Aktualisierung begrifflicher Vermögen“ die Unmöglichkeit derjenigen als-Struktur impliziert, die er mit Recht als der Wahrnehmung wesentlich behauptet. Allerdings holt ihn dieses Problem faktisch sehr wohl ein – und zwar auf der Ebene der konkreten Ausprägung dieser als-Struktur. Mit „konkreter Ausprägung der als-Struktur“ soll derjenige Zuschnitt des Wahrnehmungsobjekts und seiner Eigenschaften bezeichnet sein, der nicht durch die Subjektivität als solche – nicht durch die Kategorien –, sondern durch die je individuen-, kollektiv‑ und soziokulturell varianten empirischen Begriffe – durch die Art, wie man die Dinge jeweils wahrnimmt – bedingt ist. Vom Zuschnitt von Farbbegriffen als einem Beispiel dafür haben wir oben schon gehandelt. Weitere Beispiele liegen auf der Hand: Wir können ein Rotkehlchen als einen roten Vogel wahrnehmen oder eben – sobald wir ornithologisch einigermaßen gebildet sind – als ein Rotkehlchen; wir können einen Tisch als einen Tisch wahrnehmen oder – wenn 26 Westphal 1973: 103 fasst dieses Resultat des Wahrnehmungskapitels treffend zusammen, indem er sagt, Hegel habe dort die „theoretische Notwendigkeit des Verstandes, die in der kategorialen Struktur der Wahrnehmung selber gesetzt ist“, aufgewiesen.
2.2 Der zweite Aspekt des Widerspruchs
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wir von der kulturellen Errungenschaft eines Tisches nichts wüssten, aber sonst über alle „unsere“ Begriffe verfügten – als ein hölzernes Ding bestimmter Form und Größe. Es zeigt sich, dass der kritisierte Standpunkt der „Wahrnehmung“ – selbst, wenn man die Unmöglichkeit der kategorialen als-Struktur für den Moment ausblendet – keine Erklärung dafür geben und nicht verständlich machen kann, warum eine Ornithologin, deren begriffliche Vermögen sie das Rotkehlchen sowohl als bloß roten Vogel als auch als Rotkehlchen wahrnehmen lassen könnten, den Vogel als Rotkehlchen wahrnimmt – und dies, ohne dass sie dieses „alsRotkehlchen-Sehen“ in oder vor der betreffenden Wahrnehmungssituation gewählt hätte27; und warum wir alle den Tisch als Tisch wahrnehmen, und nicht als bloßes hölzernes Ding, und ebenfalls keiner Wahl ausgesetzt waren (– weshalb Wittgenstein darauf hinweist, dass wir gar nicht sinnvoll sagen können, wir nehmen den Tisch „als Tisch“ wahr, wenn dieses „als“ strikt dieselbe Bedeutung haben soll wie in Fällen, wo sich für uns eine Wahrnehmungsalternative auftut, wie z. B. im Aspektsehen.28) Die Passivitätsauffassung kann all dies nicht denken und verstehen; denn diese Beispiele erinnern daran, dass nicht (vermeintlich) sich als so-und-so zeigende Objekte in ihrem Ansichsein bestimmen können, durch welche Begriffe wir sie in der Wahrnehmung repräsentieren. Denn woher sollte das Rotkehlchen „wissen“, dass es sich als Rotkehlchen und nicht immer bloß als roter Vogel zeigen soll? McDowell versucht diesem Problem durch ein defensives Manöver zu entkommen. Er revidiert seine Auffassung aus Mind and World, der gemäß die Fülle unserer auch in sprachlich verfassten Urteilen gebrauchten (empirischen) Begriffe in der Wahrnehmung selbst am Werk sein können und sind; er behauptet nun nicht mehr, dass spezifische Begriffe (wie z. B. die arbiträren Begriffe „Tisch“ oder „Rotkehlchen“) in der Wahrnehmung selbst aktualisiert seien.29 Vielmehr sei es so, dass in der Wahrnehmung selbst nur bestimmte Begriffe am Werk seien, durch die „a distinctive form of propositional unity for thought and talk about the living as such“30 realisiert ist. Auf Basis der so verstandenen, auf eine Ontologie des Lebendigen festgelegten Wahrnehmung operiert sodann nachträglich eine „recognitional capacity“, die wir ebenfalls besitzen und mit der wir das in der Wahrnehmung selbst Gegebene unmittelbar als Tisch bzw. als Rotkehlchen zu identifizieren, zu erkennen vermögen. Hier ein längeres Zitat 27 Wie wir in Kapitel 5 genauer einsehen werden, kann sie – als Ornithologin – den Vogel gar nicht (mehr) anders sehen als als Rotkehlchen. 28 Vgl. Wittgenstein 1984a: 521 (PU II, xi): Es mache keinen „Sinn […,] beim Anblick von Messer und Gabel zu sagen: ‚Ich sehe das jetzt als Messer und Gabel.‘ Man würde diese Äußerung nicht verstehen.“ Das bedeutet freilich nicht, dass das „als“ nicht ein wesentliches philosophisches Analysewort auch in Bezug auf solche Wahrnehmungsfälle wie der alltäglichen Wahrnehmung von Messer und Gabel wäre. 29 Vgl. McDowell 2008a und 2008b. 30 So McDowell 2008a: 5 in zustimmendem Anschluss an Thompson 1995.
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dieser Revision McDowells, die er als Reaktion auf eine vorherige Kritik durch den Relationalisten Charles Travis31 präsentiert: „Suppose I have a bird in plain view, and that puts me in a position to know noninferentially that it is a cardinal. It is not that I infer that what I see is a cardinal from the way it looks, as when I identify a bird’s species by comparing what I see with a photograph in a field guide. I can immediately recognize cardinals if the viewing conditions are good enough. Charles Travis has forced me to think about such cases, and in abandoning my old assumption I am partly coming around to a view he has urged on me. On my old assumption, since my experience puts me in a position to know noninferentially that what I see is a cardinal, its content would have to include a proposition in which the concept of a cardinal figures: perhaps one expressible, on the occasion, by saying ‘That’s a cardinal’. But what seems right is this: my experience makes the bird visually present to me, and my recognitional capacity enables me to know noninferentially that what I see is a cardinal. Even if we go on assuming my experience has content, there is no need to suppose that the concept under which my recognitional capacity enables me to bring what I see figures in that content. Consider an experience had, in matching circumstances, by someone who cannot immediately identify what she sees as a cardinal. Perhaps she does not even have the concept of a cardinal. Her experience might be just like mine in how it makes the bird visually present to her. It is true that in an obvious sense things look different to me and to her. To me what I see looks like (looks to be) a cardinal, and to her it does not. But that is just to say that my experience inclines me, and her similar experience does not incline her, to say it is a cardinal. There is no ground here for insisting that the concept of a cardinal must figure in the content of my experience itself.“32
Dieses Manöver ist – vor dem Hintergrund der bisherigen hegelschen Argumentation – einer dreischrittigen Kritik zu unterziehen: (i) Im konkreten Debattenkontext stellt es sich keineswegs so dar, dass McDowell auf das soeben mit Hegel aufgewiesene Problem der konkreten Ausprägung der als-Struktur reagiert. Vielmehr begründet er die Revision seiner Auffassung gar nicht, sondern stellt lediglich fest, dass es (ihm) nicht (mehr) richtig erscheint zu denken, sämtliche Begriffe, durch die das auf einer (reichen) Einzelwahrnehmung basierende Urteil artikuliert wird, seien in dieser Wahrnehmung selbst schon aktualisiert: „But what seems right is this …“, so McDowell. Konkreter Anlass seiner Revision, so gibt McDowell weiter an, ist eine diesbezügliche Auseinandersetzung mit Charles Travis. Dies ist insofern aufschlussreich, als Travis ein prominenter Vertreter einer nichtkonzeptualistischen und relationalistischen 31 Zu dessen Position vgl. Travis 2004. Dieser Aufsatz trägt den – sprechenden – Titel „The Silence of the Senses“. So sehr Travis darin irrt, dass die Wahrnehmung in dem Sinne „silent“ sei, dass sie nicht begrifflich ist, so tiefsinnig ist sein Bild von der Warte Hegels aus, wenn man es auf McDowell bezieht: Dass die Sinne „sprechen“, muss in Anbetracht der Tatsache, dass McDowell zufolge die Objekte selbst sinnliche Akte beginnen, bedeuten, dass die Welt selbst in den Sinnen zu uns spricht. Genau dagegen ist mit Hegel Stellung zu beziehen. Nur der Geist spricht. Auf die Thematik des „Sprechens“ und des „Angesprochenwerdens“ wird v. a. in Kapitel 8 ausführlicher einzugehen sein. 32 McDowell 2008a: 3 [Hvh. T. O.].
2.2 Der zweite Aspekt des Widerspruchs
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Auffassung der Wahrnehmung ist. Dieser Auffassung zufolge ist Wahrnehmung nichts anderes als das unmittelbare im-Blick-Haben eines Gegenstandes – so die Beschreibung jedenfalls für die visuelle Wahrnehmung. Ein solches unmittelbares im-Blick-Haben eines Gegenstandes besteht in einer zweistelligen Relation, deren Relata der Wahrnehmende und der Gegenstand, wie er an sich ist, sind; diese Relation kann bestehen oder nicht bestehen, ist jedoch durch keine normativen Begriffe – wie „besser“ oder „schlechter“ – zu beschreiben.33 Diese Auffassung ist mit Hegel schon allein durch Verweis auf die in der Regulierung der Aufmerksamkeit begründete Gradualität der Akkuratheit und Detailliertheit der Wahrnehmung – dies alles sind normative Begriffe – abzulehnen. Der nicht-konzeptualistische Relationalismus steht also in Opposition zu einer konzeptualistischen und repräsentationalistischen Auffassung, derzufolge ein Objekt in normativ beschreibbarer Weise als so-und-so repräsentiert wird – wobei die normative Beschreibung, wie sich später genauer zeigen wird, wesentlich in der Subjektivität und ihrem jeweiligen Maßstab begründet liegt. Aus dieser Opposition folgt, dass eine konzeptualistische und repräsentationalistische Auffassung dann, wenn sie Elemente des Relationalismus in sich integriert, entweder offenbart, gar keine wahre konzeptualistische und repräsentationalistische Auffassung gewesen zu sein – oder gerade dabei ist, sich als solche aufzugeben.34 Der McDowell von Mind and World hatte in der Tat keine wahre konzeptualistische und repräsentationalistische Auffassung vertreten – weil schon in Mind and World eine Passivitätsauffassung vorliegt. Dennoch aber hat er dort ein Element einer wahren konzeptualistischen und repräsentationalistischen Auffassung im Blick gehabt, so z. B. das am-Werk-Sein auch arbiträrer Begriffe in der Wahrnehmung. Was also in der Auseinandersetzung mit Travis beobachtet werden kann, ist ein zunehmendes Offenbarwerden, dass er dieses Element aufgrund der fundamentalen Unwahrheit der Passivitätsauffassung nicht in selbige integrieren kann. McDowell schließt hieraus aber nicht auf diese Unwahrheit – und kann daher seine Auffassung auch nicht fundamental revidieren; da er zugleich an der konzeptualistischen Grundthese – dass die Wahrnehmung begrifflich sei – festhalten will, versucht er durch das beschriebene defensive Manöver eine gleichsam minimale Version davon zu bewahren. Doch dieses Manöver ist – im Lichte der hegelschen Kritik des Standpunktes der „Wahrnehmung“ – inkonsequent und inkohärent: denn es liegt im Wesen der Begriffe als allgemeiner Bestimmungen, 33 Vgl. Travis 2004: 64 f., im Anschluss an Austin: „Austin’s idea is that, rather than representing anything as so, our senses merely bring our surroundings into view; afford us some sort of awareness of them. It is then for us to make of what is in our view what we can, or do. […] I cannot be confronted correctly or incorrectly, veridically or deceptively. I simply confront what is there. Perception leads me astray only where I judge erroneously, failing to make out what I confront for what it is.“ 34 McDowell 2013 formuliert seine wiederum revidierte Position entsprechend als Hybrid aus Repräsentationalismus und Relationalismus. Ein solches Hybrid kann es, mit Hegel gedacht, nicht geben.
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2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“
nicht vom Objekt selbst in Form der Kausalität aktualisierbar zu sein. Dies gilt somit für alle Begriffe qua Begriff, nicht nur für bestimmte – etwa spezifische oder arbiträre – Begriffe; und es gilt, wie gezeigt wurde, auch für die Kategorien. Dass McDowell durch sein Manöver die These von der passiven Aktualisierung der Begriffe in der Wahrnehmung gerade auf – wenn auch: Thompson’sche – Kategorien beschränkt, hilft somit keineswegs. Von der hegelschen Warte ist dieses Manöver somit zusammenfassend als eine inkonsequente Assimilation an den Relationalismus zu bewerten. McDowell meint, der Unterschied zwischen seiner Auffassung und derjenigen von Travis sei und bleibe dadurch kategorial, dass Travis die Aktualisierung von Begriffen in der Wahrnehmung leugnet, er selbst sie hingegen vertritt. Gewiss, das wäre ein kategorialer Unterschied; doch dadurch, dass gemäß unserer Argumentation eine passive Aktualisierung begrifflicher Vermögen keine Aktualisierung begrifflicher Vermögen sein kann, verschwindet der Unterschied zwischen McDowell und Travis.35 Statt seiner tritt die tiefe Gemeinsamkeit beider nun in den Vordergrund: dass sie jeweils Vertreter einer Passivitätsauffassung der Wahrnehmung sind; bei Travis ist es offensichtlich und explizit bekannt, dass diese sich besonders glatt in naturalistische (oder gar reduktionistische) philosophische Programme einfügt. Wie in unserer Einleitung angedeutet, zeigt sich dasjenige, was der gegenwärtigen analytischen Debatte als großer, vielleicht gar maximaler, Unterschied erscheint – McDowell vs. Travis –, nun als zwei Varianten einer naturalistischen Grundüberzeugung, die im scheinbar unschuldigen Begriff der Passivität und, damit intern verbunden, der Kausalität der Wahrnehmung konzentriert zum Ausdruck kommt. In dieser Perspektive ist es weder überraschend noch Indiz einer argumentativen Unredlichkeit McDowells, dass er sein defensives Manöver nicht begründet: Er kann sich, als Naturalist, nur auf dasjenige berufen, „what seems right“ to a naturalist – aber nicht vom Standpunkt desjenigen Bewusstseins, das nicht (mehr) naturalistisch präjudiziert ist. 35 Diese Assimilation lässt sich in zweierlei Hinsicht konkretisieren: (i) McDowell 2008a verbindet sein Manöver mit der Unterscheidung von „discursive“ und „intuitional content“. Damit meint er, dass die Art der Aktualisierung besagter Kategorien in der Wahrnehmung eine andere sei als im expliziten, sprachlich artikulierten Urteil. Dieses „anders“ kann man auch als Aufgabe des Konzeptualismus für die Wahrnehmung werten: Denn wie, wenn nicht explizit, sollen Begriffe aktualisiert sein? (Vgl. zu diesem Punkt auch die exakten Analysen von El Kassar 2015: 156 ff.) (ii) Relationalisten wie Travis 2004 und – ganz explizit – Brewer 2011 lehnen den Konzeptualismus mit der Begründung ab, mit Begriffen als subjektiven Repräsentationsmodi würde der Blick auf physikalische Gegenstände, wie sie an sich sind, verstellt oder gleichsam verfälscht. Von der Warte Hegels aus ist diese Variante des Standpunktes der „Wahrnehmung“ schon als von einem profunden Missverständnis der Begriffe des Begriffs und der Subjektivität gezeichnet zurückzuweisen. Doch McDowells Verankerung seines vermeintlich begrifflichen Wahrnehmungsaktes in den Objekten steht, wie sich nun von hegelscher Warte aus zeigt, näher bei diesem Missverständnis, als die Opposition in der Debatte zwischen ihm und Travis glauben machen will.
2.2 Der zweite Aspekt des Widerspruchs
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(ii) Mit der im Laufe unserer Untersuchung weiter zu entwickelnden hegel schen Auffassung der Wahrnehmung kann daran festgehalten werden, dass grundsätzlich jeder (empirische) Begriff in der Wahrnehmung selbst aktualisiert sein kann; dass der Geist seine von vornherein bestehende Macht über die Natur, welche nur durch seine Repräsentation – als sein „Anderes“ – überhaupt ist, in der Wahrnehmung dadurch konkret beweist, dass er grundsätzlich jeden (empirischen) Begriff in der Wahrnehmung aktualisieren und die Natur ihr gemäß „schaffen“ und „bilden“ kann.36 Denn wir, als geistige Wesen, fangen diese Akte an und vollziehen sie. Hegel ist hierzu ganz explizit und betont, dass solche Bildung wirklich auch in der Sinnlichkeit selbst ist, sie durchgreift: „Erst durch die Bildung des Geistes bekommt die Aufmerksamkeit Stärke und Erfüllung. Der Botaniker, zum Beispiel, bemerkt an einer Pflanze in derselben Zeit unvergleichlich viel mehr, als ein in der Botanik unwissender Mensch. Dasselbe gilt natürlicherweise in Bezug auf alle übrigen Gegenstände des Wissens. Ein Mensch von großem Sinne und von großer Bildung hat sogleich eine vollständige Anschauung des Vorliegenden […].“37
Für die Auseinandersetzung mit McDowell besonders erhellend ist nun, dass dieser Gedanke folgende Dialektik in Gang bringt: Die Macht des Geistes zeigt sich gerade darin, dass die Wahrnehmung keine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist. Zugleich aber lässt sich sagen, dass die hegelsche Auffassung der Wahrnehmung das Wahrheitsmoment von McDowells „Realismus“ einholen kann, welches McDowell, wie eben gezeigt, nicht vertreten kann: die hegelsche Auffassung kann nämlich denken, dass wir einen Tisch als Tisch wahrnehmen – und damit als das, was er für uns, in unserer Sprachgemeinschaft, wesentlich ist. Dass er, wie wir mit Recht sagen, für uns „eigentlich“ ein Tisch und nicht bloß irgendein hölzernes Ding ist, ist seinerseits in der Tatsache begründet, dass es sich bei einem Tisch um ein durch unsere geistige Leistung transformiertes Stück Natur handelt, dem so auch wir „seinen Namen gegeben“ haben. Die Macht des Geistes über die Natur zeigt sich auch darin, dass das Tischsein keine akzidentelle Eigenschaft des „eigentlichen“, rein-biochemischen Holzseins ist, sondern die 36 Hegel macht das allgemein und thetisch ganz explizit, wenn er schreibt, dass in der Wahrnehmung „sinnliche[.] und […] erweiterte[.] Gedankenbestimmungen concreter Verhältnisse und Zusammenhänge“ am Werk sein müssen (Enz. 1830, § 420). 37 Enz. 1830, § 448 Z [VSG Zusätze, 1095]. Auf dieses Zitat wird in Kapitel 6 ausführlicher einzugehen sein. – An dieser Stelle sei allerdings bemerkt, dass und warum an einigen (wenigen) Stellen unserer Untersuchung auf die mündlichen Zusätze zurückgegriffen wird: Sie überliefern etwas vom plastischen Geist der hegelschen Philosophie. Auch die Editoren der GW stellen – bei allen editorischen Vorbehalten – fest: „Diese Zusätze können deshalb als eine – wenn auch nicht ursprüngliche – Quelle für die Vorlesungen Hegels angesehen werden, weil sie von Boumann aus nicht mehr erhaltenen Manuskripten Hegels und möglicherweise aus Vorlesungsnachschriften aus nicht überlieferten Kollegjahren zusammengestellt worden sind.“ (VSG Editorischer Anhang, 1133). Und, dass mit den „in GW 25,2 publizierten Zusätze[n] [.] für die Forschung nun die Möglichkeit besteht, die Disziplin einer Philosophie des subjektiven Geistes als Teil des enzyklopädischen Systems und seine Entwicklung – wenngleich auch nur in Annäherung – zu rekonstruieren.“ (VSG Editorischer Anhang, 1153).
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Betrachtung des Tisches als rein-biochemisches Holzsein eine Abstraktion von der Betrachtung des Tisches als das, was er für uns „eigentlich“ ist: ein Tisch. Es ist kein Zufall, dass sich diese Dimension der Macht des Geistes über die Natur in der Wahrnehmung nur abbilden lässt, wenn die Wahrnehmung ebenfalls als geistig und aktiv, von uns angefangen und vollzogen, aufgefasst wird; nur dann kann der Geist in der Wahrnehmung seine geistige Wirklichkeit – schon auf der bescheidenen Ebene der Wahrnehmung eines Tisches, nicht erst auf der absoluten Ebene der ästhetischen Wahrnehmung – repräsentieren. McDowells Auffassung verfehlt also gerade dieses „realistisch“ zu nennende Moment. (iii) Schließlich wirft McDowells Manöver die Frage auf, wie sich diejenigen Begriffe ein‑ und abgrenzen lassen, die in der Wahrnehmung selbst aktualisiert sein sollen. McDowells – eher skizzenhafte – Antwort auf diese Frage besteht, wie gesagt, in der Andeutung einer Kategorienlehre der lebendigen Natur, die sich auf die entsprechenden Arbeiten von Michael Thompson beruft.38 Diejenigen Begriffe, die in der Wahrnehmung selbst aktualisiert sein sollen, sind bestimmte Kategorien des Lebendigen – wobei McDowell, mit Thompson, in neoaristotelischer Manier den kantischen Sinn dieses Begriffs sprengt. Am Beispiel des Rotkehlchens illustriert: gesehen werden raumzeitliche Arrangements von Farben, deren Einheit durch den Begriff des Lebewesens konstituiert ist; in der Wahrnehmung sind also solche, wie McDowell sie nennt, „common sensibles“ gegeben, in deren kategorialer Einheit sich ein Lebewesen dieser und jener Farbigkeit und Gestalt zeigt. Dieses wird sodann durch eine der Wahrnehmung selbst äußerliche39 „recognitional capacity“ als Rotkehlchen erkannt und bestimmt. Auch hier zeigt sich, wie nahe McDowell durch diese Analyse dem Geist einer antiken Ontologie kommt und kommen will, von welcher sich die kritische Philosophie Kants und Hegels doch zuallererst abstoßen musste, um überhaupt kritische Philosophie werden und sein zu können.
2.3 Die Ewigkeit der Gedankendinge Die Diskussion im Wahrnehmungskapitel hat gezeigt, dass es gerade im Lichte des negativen Begriffs des Begriffs keinen Sinn macht, Kategorien als Moment des sich-Zeigens des Objekts zu bestimmen – und dass McDowell das strukturierende Werk der Kategorien nicht zufälligerweise in dem notorisch unklaren Wort „togetherness“ zu fassen versucht. Hegel nennt die Kategorien im Wahr38 Vgl.
Thompson 1995.
39 McDowell versucht, diese Äußerlichkeit dadurch wieder zu verschleiern, dass er im obigen
Zitat sagt, auf Basis der Operation der „recognitional capacity“ resultiere ein „look“. Doch wie soll etwas ein begrifflich strukturierter „look“ sein, wenn die ihn strukturierenden Begriffe gar nicht in der Wahrnehmung selbst am Werk sind? Vgl. dagegen das oben angeführte Hegel-Zitat aus Enz. 1830, § 448 Z. [VSG Zusätze, 1095].
2.3 Die Ewigkeit der Gedankendinge
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nehmungskapitel auch „Gedankendinge“. Er deutet damit an, dass wir den positiven (und tendenziell dinghaften) Begriff des Begriffs Freges und McDowells noch nicht überwunden und durch einen adäquaten Begriff des Begriffs ersetzt haben, auch wenn wir seinen Unsinn eingesehen haben. Die Unterscheidung zweier Ausprägungsebenen der als-Struktur hat aber schon angezeigt, worin (unter anderem) sich Kategorien von empirischen Begriffen unterscheiden. Durch erstere ist die als-Struktur überhaupt, als solche, als logische oder repräsentationale Form realisiert. Während sich empirische Begriffe wandeln können, können sich Kategorien nicht wandeln, solange solche begriffliche Repräsentation überhaupt gedacht werden können und möglich sein soll. Hegel hebt nun hervor, dass der Standpunkt des natürlichen Bewusstseins, wie er sich paradigmatisch im Standpunkt der „Wahrnehmung“ ausspricht, diese Hierarchisierung geradezu verkehrt. Vom sogenannten „gesunden Menschenverstand“, der nach Hegel profund ungesund ist dadurch, dass er standardmäßig auf diesem Standpunkt der „Wahrnehmung“ steht und zu beharren versucht, schreibt Hegel daher Folgendes: „[E]r, der sich für das gediegne reale Bewußtseyn nimmt, ist im Wahrnehmen nur das Spiel dieser Abstractionen; er ist überhaupt immer da am ärmsten, wo er am reichsten zu seyn meynt. Indem er von diesen nichtigen Wesen herumgetrieben, von dem einen dem andern in die Arme geworfen wird und durch seine Sophisterey abwechslungsweise itzt das eine, dann das geradentgegengesetzte festzuhalten und zu behaupten bemüht, sich der Wahrheit widersetzt, meynt er von der Philosophie, sie habe es nur mit Gedankendingen zu thun. Sie hat in der That auch damit zu thun, und erkennt sie für die reinen Wesen, für die absoluten Elemente und Mächte; aber damit erkennt sie dieselben zugleich in ihrer Bestimmtheit, und ist darum Meister über sie, während jener wahrnehmende Verstand sie für das Wahre nimmt, und von ihnen aus einer Irre in die andere geschickt wird. Er selbst kommt nicht zu dem Bewußtseyn, daß es solche einfache Wesenheiten sind, die in ihm walten, sondern er meynt es immer mit ganz gediegnem Stoffe und Inhalte zu thun zu haben, so wie die sinnliche Gewißheit nicht weiß, daß die leere Abstraction des reinen Seyns ihr Wesen ist; aber in der That sind sie es, an welchen er durch allen Stoff und Inhalt hindurch und hin und her läufft; sie sind der Zusammenhalt und die Herrschafft desselben, und allein dasjenige, was das sinnliche als Wesen für das Bewußtseyn ist, was seine Verhältnisse zu ihm bestimmt, und woran die Bewegung des Wahrnehmens und seines Wahren abläufft. Dieser Verlauff, ein beständig abwechselndes Bestimmen des Wahren und Aufheben dieses Bestimmens, macht eigentlich das tägliche und beständige Leben und Treiben des Wahrnehmenden und in der Wahrheit sich zu bewegen meynenden Bewußtseyns aus.“40
Hegel geht in dieser Passage von der bereits dargestellten Erkenntnis, dass die logische als-Struktur der Wahrnehmung nicht als das oder aus einem sichZeigen der wahrgenommenen Objekte zu begreifen ist, zu einer zweiten These über: Es zeige sich, dass die gegenüber den „Gedankendingen“ wandelbaren PhG, 80.
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2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“
empirischen Begriffe „ein beständig abwechselndes Bestimmen des [sc. ‚seines‘ 41, T. O.] Wahren und Aufheben dieses Bestimmens“ implizieren und auch dadurch den Standpunkt der „Wahrnehmung“ falsifizieren. Denn es zeigt sich eben nicht immer dasselbe, sondern wir nehmen so wahr, wie wir eben je konkret wahrnehmen. Im Zitat klingt es nun zunächst so, als würde Hegel diesem Standpunkt die Verpflichtung darauf zuschreiben, dass das, was er als „das Wahre“ ausgibt – also das, was sich vermeintlich von sich aus als so-und-so seiend zeigt –, ewig und unveränderlich sein müsse. Das, so könnte es weiter scheinen, ist eine metaphysische Großthese, die der metaphysisch „ambitionierte“ Hegel ohne Rechtfertigung in die metaphysisch vermeintlich „bescheidene“ Position des Standpunkts der „Wahrnehmung“ projiziert. Doch es ist gar nicht das eben Gesagte, was Hegel dem kritisierten Standpunkt exakt zuschreibt. Er schreibt ihm zunächst folgende Auffassung zu – als etwas, worauf dieser Standpunkt tatsächlich verpflichtet ist: (i) Wenn das Wahre sich als das, was es ist, von sich aus zeigt, muss es sich, solange es ceteris paribus existiert, allen wahrnehmungsfähigen Subjekten durch diese Zeit hindurch identisch zeigen. Und nicht diese: (ii) Wenn das Wahre sich als das, was es ist, von sich aus zeigt, muss es ewig und notwendig so existieren. Doch (i) ist, wie bereits gesehen, nicht der Fall. Nun ist allerdings – aufgrund der die Zeit betreffenden Bestimmung der „Ewigkeit“ – ein Beispiel mit Zeitindex am Platz: Dass dieses dreifarbige Stück Stoff als Staatsflagge der Bundesrepublik Deutschland wahrgenommen wird, das ist offenbar nur der Fall, insofern wir den entsprechenden historischen Kontext voraussetzen. Insofern wir uns anno 1789 bewegen, verhält es sich anders. Dieses „insofern“ gebraucht der Standpunkt der Wahrnehmung nun offensiv, um damit den Einwand, der sich am StaatsflaggenBeispiel aufzeigen lässt, zu entkräften zu versuchen. Hegel setzt wie folgt fort: „Es wittert wohl ihre Unwesenheit; sie gegen die drohende Gefahr zu retten, geht es zur Sophisterey über, das was es selbst so eben als das Nichtwahre behauptete, itzt als das Wahre zu behaupten. Wozu diesen Verstand eigentlich die Natur dieser unwahren Wesen treiben will, die Gedanken von jener Allgemeinheit und Einzelnheit, vom Auch und Eins, von jener Wesentlichkeit, die mit einer Unwesentlichkeit nothwendig verknüpft ist, und von einem Unwesentlichen, das doch nothwendig ist, – die Gedanken von diesen Unwesen zusammen zu bringen und sie dadurch aufzuheben, dagegen sträubt er sich durch die Stützen des Insofern und der verschiedenen Rücksichten, oder dadurch, den einen Gedanken auf sich zu nehmen, um den andern getrennt, und als den wahren zu erhalten.“42
41 So Hegel im unmittelbar vorhergehenden Satz, um deutlich zu machen, dass hier von „dem Wahren“ im folgenden Sinne die Rede ist: dasjenige, welches der verkehrte Standpunkt der „Wahrnehmung“ für „das Wahre“ hält. 42 PhG, 80 f.
2.3 Die Ewigkeit der Gedankendinge
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Das Manöver, mit dem der Standpunkt der „Wahrnehmung“ sich gegen seine Überwindung „sträubt“, besteht nach Hegel also darin, das „Wahre“ durch die Einführung von „Rücksichten“ – durch den Gebrauch von „insofern“ – zu erhalten. Am Staatsflaggen-Beispiel bedeutet das, dass die Staatsflagge das sich zeigende Wahre sein soll, insofern wir uns im entsprechenden historischen Kontext bewegen. Dieses Manöver ist somit ein anderer Versuch des Umgangs mit dem Einwand, der sich aus dem – individuen-, soziokulturell wie damit auch zeitvarianten – Wahrnehmen-als ergibt, als derjenige McDowells in seiner Auseinandersetzung mit Travis: Im nun diskutierten Manöver wird nicht behauptet, die allgemeine Bestimmung „Staatsflagge“ komme in der Wahrnehmung gar nicht vor, sondern behauptet, diese sei „das Wahre“ eben nur, insofern wir einen entsprechenden historischen Kontext voraussetzen. Dieses Manöver scheint unschuldig, ja gar philosophisch differenziert zu sein, da es Kontexte berücksichtigt. Tatsächlich – und das ist mit dem an Hegel gewonnenen Blick nun zu erkennen – handelt es sich um ein Manöver, mit dem ein der Wahrnehmung internes Moment des Subjektiven aus der Wahrnehmung herausgehalten werden soll. Es gleicht in dieser grundsätzlichen Struktur dem Versuch, die Aufmerksamkeit als „externen“, „kausalen“ Faktor aus dem Inneren der Wahrnehmung herauszuhalten – wie auch McDowells Versuch, mit und gegen Travis alle (in seinem Sinne) nicht-kategorialen Begriffe aus der Wahrnehmung selbst herauszuhalten. Von daher ist es verständlich, warum Hegel in der zitierten Passage sehr allgemein vom „insofern“ als Verteidigungsmittel des Standpunktes der „Wahrnehmung“ spricht. Dieser, so Hegel treffend, „wittert“ bisweilen seine Unwahrheit im Lichte der genannten Einwände – und differenziert sich, so er sich (noch) nicht aufgeben will oder kann, in scheinbar philosophischer Manier aus; von der Warte der Überwindung des Standpunkts jedoch entpuppt sich dies gerade als dogmatisches Insistieren auf diesem Standpunkt, das als solches sodann nicht zufällig dunkel (für uns) ist. Der Standpunkt der Wahrnehmung versucht also, das „Wahre“, von dem er spricht, durch Kontextabhängigkeit zu relativieren. Damit ergibt sich diese Auffassung: jedes Ding kann sich prinzipiell unter einem „insofern“ anders als unter einem anderen „insofern“ zeigen – und ohnehin kann jedes Ding vergehen; dasselbe bleibt das „Wahre“ nur innerhalb eines bestimmten „insofern“ (vgl. den obigen Satz (i)). Das bedeutet also nicht, dass ein Ding ewig und notwendig (so) existieren müsste (vgl. den obigen Satz (ii)); dennoch aber ist diesem Standpunkt zufolge etwas ewig und notwendig43: nämlich die Form des sich43 Man könnte meinen, hier dürfte nicht von „ewig und notwendig“, sondern nur von „notwendig solange, als es endliche Subjekte gibt“, die Rede sein. Doch das würde bedeuten, dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ von vornherein die vorkritische Auffassung zuzuschreiben, derzufolge sich ein Weltzustand ohne endliche Subjekte – und das heißt ihr zufolge, da sie das Absolute oder Gott nicht affirmativ denkt: ohne Subjektivität überhaupt – denken lässt. Doch es scheint mir gerade eine wichtige Einsicht McDowells zu sein, dass das vermeintliche sich-
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von-sich-aus-in-kausaler-Weise-als-so-und-so-seiend-Zeigens der Natur. So wird eine Metaphysik der Natur explizit, die diese Position impliziert. Ewig und notwendig ist die Natur als Ganze, im Sinne eben dieser Form – ewig und notwendig sind keine einzelnen Naturdinge. Auch hierbei scheint es sich zunächst um eine gediegene philosophische Unterscheidung zu handeln, die eine dem philosophischen Zeitgeist sympathische Metaphysik der Natur mit einer dem philosophischen Zeitgeist ebenso sympathischen anti-substantiellen Auffassung sämtlicher Naturdinge verbindet. Doch tatsächlich ist diese Unterscheidung inkohärent – und zwar aus folgendem Grund. Es sollen keine Dinge in der Natur als ewig und notwendig gedacht werden; aber das in Form der Kausalität realisierte sich-Zeigen der Dinge geht ja notwendig von daseienden Dingen aus – also Dingen in ihrer Positivität oder positiven Einzelnheit, wie Hegel sagt. Der Standpunkt muss also behaupten: (i) Es gibt nicht notwendig und ewig dieses oder jenes, aber notwendig und ewig gibt es irgendetwas, das sich zeigt – die „Natur“ in Gestalt irgendeines sichzeigenden Dings. Aber wie soll gewusst werden, dass es notwendig irgendetwas gibt, das sich zeigt – und dessen Inbegriff man, in seiner Unbestimmtheit, „Natur“ nennen kann? Empirisch kann es nicht gewusst werden – und, selbst wenn, wäre dieses Wissen kein philosophisches Wissen. Gäbe es aber ein philosophisches Argument dafür, dass konkret dieses oder jenes Naturding notwendig und ewig existiert, wäre eben doch zu sagen: (ii) Es existiert notwendig und ewig genau dieses oder jenes Naturding und dieses zeigt sich – sodass es notwendig die Natur gibt, zumindest als genau dieses oder jenes Naturding. Doch diese Auffassung war aufgrund der angeblichen metaphysischen Bescheidenheit des diskutierten Standpunkts ausgeschlossen worden. Sie würde aber nun dazu verhelfen, den Standpunkt kohärenter zu halten. Die Inkohärenz von Option (i) hingegen wird vollends deutlich, wenn man sie mit einer anderen Auffassung kontrastiert, die ihr vordergründig ähnlich sieht – und zwar der kantischen, von der sich zeigen wird, dass sie auch die hegelsche ist: (iii) Es gibt für uns44 notwendig Erscheinung; Erscheinung, als sinnliche Repräsentation, ist für uns als endliche Subjekte elementar-wesentlich. Der InZeigen und damit das Sein der Welt eben nur möglich ist, wenn es auch endliche Subjekte mit begrifflichen Vermögen gibt. – Dies aber wirft freilich ein logisches Problem auf: Entweder impliziert dieser Standpunkt das Paradox, dass endliche Subjektivität und/oder die Welt unendlich sind, oder aber er gibt zu, dass sich die Endlichkeit der endlichen Subjektivität wie auch der Welt denken lassen muss, denkt aber – ebenso paradox – (affirmativ) nichts, was darüber hinaus ist. Hiergegen richtet sich Hegels Diagnose, dass das Unendliche in kritischer Absicht affirmativ gedacht werden muss. Vgl. dazu die sehr präzise Darlegung von Hutter 2007. Wir werden diesem Gedanken im Laufe unserer Untersuchung Rechnung tragen, final in den Kapiteln 7 und 8. 44 Dieses „für uns“ rechnet also mit der Möglichkeit, dass endliche Subjektivität und damit auch die Natur als das durch deren repräsentationalen Akte erscheinende ein Ende hat. Dieser
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begriff solcher Erscheinung wird „Natur“ genannt, die damit für uns (relativ zu uns) notwendig ist und mit der wir, als endliche Subjekte, wesentlich konfrontiert sind. Hier wird die Natur ausgehend von einer Analyse des Bewusstseins – und damit kritisch-philosophisch – begriffen. Diese Analyse ergibt dann, wie die Natur zu verstehen ist – und sie ergibt, dass sie gerade nicht zu verstehen ist als Sphäre von Dingen, die sich in kausaler Weise als so-und-so zeigen. (iii) sagt aber auch diesseits dieser Analyse nicht, dass es notwendig und ewig irgendetwas gibt, für das wesentlich ist, dass es sich im Sinne des kritisierten Standpunktes zeigt. Sondern es sagt, dass es zu unserem Wesen gehört, Erscheinungen – sinnliche Repräsentationen – zu haben, die als solche nicht Erscheinungen im Sinne des sichZeigens von Objekten sind; und dass von daher auch „etwas“ für uns notwendig ist, das in dieser Erscheinung erscheint, uns aber eben nur als dieses in der Erscheinung Erscheinende philosophisch zugänglich ist. Der metaphysische Status der Natur ist daher als das für uns Erscheinende, als das von uns Repräsentierte, als das Andere des Begriffs bestimmt. Was genau dies bedeutet – im Lichte der Bestimmung der sinnlichen Wahrnehmung als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen –, wird in Kapitel 5 genauer aufzuzeigen sein. Es hat sich also zusammenfassend ergeben: – Der Gedanke einer immergleichen Form der Wahrnehmung ist auf ihren Grund hin nur einer Auffassung durchsichtig, die diese Form ganz im Subjekt verankert denkt – d. h. so, dass sie allein das Subjekt ins Werk setzen kann. Für „immergleich“ kann die Form der Wahrnehmung allerdings zunächst nur relativ zur Existenz endlicher Subjektivität gelten; sofern endliche Subjektivität ein Ende hat, hat auch sie ein Ende.45 Allerdings: In der Form des Erscheinens liegt die Form der als-Struktur, die auch für den Gedanken konstitutiv ist. Die als-Struktur, die Kategorien, sind also notwendig und ewig – denn ohne sie artikuliert sich auch das, was nicht endlich ist, das Absolute oder Gott, nicht.46 Damit aber zeigt sich: Es wäre zu kurz gegriffen, Hegel die Auffassung zuzuschreiben, die „Gedankendinge“ seien ewig, weil sie die Form unserer Wahr-
Gedanke lässt sich widerspruchsfrei denken, wenn es etwas gibt, das trotz dieses Endes bliebe: das Absolute oder Gott. Vgl. zu diesen Zusammenhängen auch die vorhergehende Fn. 43. Wir werden auf die Unabhängigkeit des Absoluten oder Gottes von endlicher Subjektivität in den Kapiteln 7 und 8 zu sprechen kommen. 45 Vgl. dazu die vorhergehenden Fn. 43 und 44. 46 Wir werden in den Kapiteln 7 und 8 zwar argumentieren, dass das Absolute oder Gott, insofern er sich selbst (und nicht uns) offenbar ist, ein internes Offenbarungsverhältnis der Anschauung ist – aber da diese Anschauung intellektuell ist, ist sie nicht ohne die Kategorien als Form des Intelligiblen überhaupt zu denken. Wenngleich die Kategorien, so Gott mit ihnen soll gedacht werden können, diejenige Form aufweisen müssen, in der Hegels Logik ihnen nachgedacht hat – und nicht mehr bloß diejenige, die Kant ihnen in seiner Transzendentalen Analytik zugedacht hat. Darauf werden wir in Kapitel 5 noch einmal zu sprechen kommen.
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nehmung konstituieren; ohne das Absolute oder Gott kann von einer Ewigkeit der „Gedankendinge“ nicht die Rede sein. Man könnte vor diesem Hintergrund urteilen, dass die beste Begründung für die Behandlung der „Logik“ als eines eigenen Systemteils – und damit Hegels Umstellung von der Ordnung der Phänomenologie des Geistes zum System der Enzyklopädie – genau dies ist: zu zeigen, dass die Kategorien als solche und im Denken ewig sind, nicht aber deren sinnliche Realisierung, die Form des sinnlichen Erscheinens. – Der Gedanke einer Verankerung im Objekt von der Art, wie sie McDowells Version der Passivitätsauffassung behauptet – dass ein Objekt sich uns von sich aus als so-und-so zeigt –, löst diesen Gedanken einer immergleichen Form der Wahrnehmung – abgesehen von den sonstigen Gegenargumenten gegen diese Position – nicht ein und bezieht seine initiale Plausibilität aus einer Verwechslung seiner Behauptung mit Behauptung (iii); diese Passivitätsauffassung ist nicht zu haben ohne die Voraussetzung der ewigen und notwendigen Existenz von irgendetwas Konkretem, das ein Naturding ist. Von daher können wir verstehen, warum die vorkritische, insbesondere die antike Philosophie die Ewigkeit der Natur in Gestalt ausgezeichneter Naturgegenstände – z. B. Planeten – behauptet hat; insofern die analytische Philosophie der Gegenwart mehr oder weniger bewusst an diese Tradition – vor allem in Gestalt des Aristotelismus – anschließt, müsste sie sich auf ein funktionales Äquivalent der Planeten47 verpflichten, oder aber sie setzt bloß dogmatisch die sich-zeigende Natur als das formale Metaphysicum voraus. Das Wahre – das „an sich“ des wahrhaft wissenden Bewusstseins – ist also nicht die Natur. Was aber wissen wir an dieser Stelle schon über „dasjenige“, was dieses „an sich“ in Wahrheit ist? Dieser Frage wollen wir uns nun zuwenden.
47 Gott (auch Aristoteles’ „Gott“) wird ihr nicht helfen – denn Gott lässt sich philosophisch nicht mehr denken, sobald man die Natur als dasjenige denkt, was von sich her aktiv ist. Genauer: Es ließe sich vielleicht noch der „Gott“ Spinozas denken. Aber was sollte er zur Aufklärung der Ewigkeit der Natur beitragen, wenn er mit dieser identisch ist? Es scheint Rödls (post-spinozistische) Metaphysik zu sein – wir werden darauf in Kapitel 6 zu sprechen kommen –, die sich-zeigende Natur als (post-spinozistische) Substanz zu fassen, die über mich insofern hinausgeht, als sie mich in notwendiger Weise und selbstbewusst die sinnlichen Akte des sich-Zeigens einzelner Dinge als solche vollziehen lässt. Das dürfte wohl der kohärenteste Versuch sein, einen Begriff „Gottes“ mit der Passivitätsauffassung zu verbinden. Doch, zum ersten, scheint mir auch dieser Versuch fehlzugehen, weil Rödl von einer „materielle[n] Substanz“ spricht (Rödl 2011: 12) und somit unklar ist, wie diese als materielle kategorial über materielle Einzeldinge hinausgehen und zugleich wirklich sein soll; zum zweiten ist dies gewiss nicht die hegelsche Auffassung, die Gott durch und durch geistig denkt; zum dritten berührt und löst dieser Versuch, selbst wenn er gelänge, zahlreiche andere Probleme der Passivitätsauffassung nicht, die wir in dieser Untersuchung vorführen.
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung 67
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung Vergegenwärtigen wir uns noch einmal kurz makroskopisch den Ort der Phänomenologie des Geistes, an dem wir uns befinden. Als Unterschied zwischen dem Übergang von der „Sinnlichen Gewissheit“ zur „Wahrnehmung“ und demjenigen von der „Wahrnehmung“ zu „Kraft und Verstand“, vor dem wir uns nun befinden, hat sich dies ergeben: Im ersten Übergang wurde erkannt, dass unser sinnliches Bewusstsein nicht ohne allgemeine Bestimmungen in ihm möglich ist; im zweiten Übergang wurde erkannt, dass allgemeine Bestimmungen in ihm nicht in Form des sich als so-und-so-Zeigens seitens des wahrzunehmenden Objekts am Werk sein können. Denn im Modus der Passivität des Subjekts – realisiert in Form der Kausalität vonseiten des Objekts – lässt sich keine negative Allgemeinheit denken; und nur sie ist Allgemeinheit. Positive Allgemeinheit ist Unsinn. Daraus aber folgt, tertium non datur, dass allgemeine Bestimmungen – als Begriffe – vom Subjekt selbst ins Werk zu setzen sind, damit sie als allgemeine Bestimmungen in der sinnlichen Wahrnehmung diese zuallererst möglich und wirklich machen – sodass die sinnliche Wahrnehmung nicht wieder in einen privaten oder unsagbaren Zustand zusammensackt und damit nicht nur keine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist – sondern: gar nicht(s) mehr wäre. Hegel formuliert diese negativ gewonnene Einsicht, dass das Subjekt die Begriffe in der Wahrnehmung ins Werk setzen muss, indem er sagt, dass es der „Einmischung“48 des Subjekts bedarf. Damit drückt er gleichsam bildlich die Transformation der bisherigen, verkehrten Passivitätsauffassung der Wahrnehmung in die wahre Aktivitätsauffassung aus; für die erstgenannte galt nämlich die gegensätzliche Bestimmung zu dem, was Hegel nun als „Einmischung“ beschreibt, striktes sich-Heraushalten des Subjekts, Abwesenheit jeder Aktivität: „[E]s [sc. das Bewusstsein] hat ihn [sc. den Gegenstand] nur zu nehmen, und sich als reines Auffassen zu verhalten; was sich ihm dadurch ergibt, ist das Wahre. Wenn es selbst bey diesem Nehmen etwas thäte, würde es durch solches hinzusetzen oder weglassen die Wahrheit verändern.“49
Hier entsprechend nun die sehr dichte, ausführlich zu diskutierende Passage, in der Hegel den Übergang von der Passivitäts‑ zur Aktivitätsauffassung durch die bildliche Charakterisierung der „Einmischung“ beschreibt: „Diese Rückkehr des Bewußtseyns in sich selbst, die sich in das reine Auffassen unmittelbar, – denn sie hat sich als dem Wahrnehmen wesentlich gezeigt, – einmischt, verändert das Wahre. Das Bewußtseyn erkennt diese Seite zugleich als die seinige, und nimmt sie auf sich, wodurch es also den wahren Gegenstand rein erhalten wird. – Es ist hiemit itzt, Vgl. PhG, 75. PhG, 73.
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wie es bey der sinnlichen Gewißheit geschah, an dem Wahrnehmen die Seite vorhanden, daß das Bewußtseyn in sich zurückgedrängt wird, aber zunächst nicht in dem Sinne, in welchem diß bey jener der Fall war; als ob in es die Wahrheit des Wahrnehmens fiele, sondern vielmehr erkennt es, daß die Unwahrheit, die darin vorkömmt, in es fällt.“50
Diese Passage ist auch deshalb eine interpretatorische Herausforderung, weil Hegel hier zugleich beide der in Kapitel 1 unterschiedenen Ebenen der Phänomenologie des Geistes in ihrem Verhältnis zueinander verhandelt: den Gegenstand der philosophischen Prüfung – er spricht hier über die sinnliche Wahrnehmung (und ihre Gegenstände) –, zum anderen eben die Ebene der philosophischen Prüfung und (Selbst‑)Erkenntnis selbst. Dass er beide zusammen verhandelt, ist freilich kein Zufall, geschweige denn eine Unsauberkeit: denn die Selbsterkenntnis ereignete sich soweit ja im Nachdenken über die sinnliche Wahrnehmung und deren Gegenstände; eine Aufklärung der philosophischen Selbsterkenntnis wird also nur durch Reflexion auf das, was über die sinnliche Wahrnehmung erkannt wurde – und wie es erkannt wurde – möglich sein. Um diese Zusammenhänge zu begreifen, muss die Differenz der Ebenen aber im Blick behalten werden und stets gefragt werden, welche Begriffe Hegel auf welcher Ebene verwendet. Sonst wird kein komplexes Ineinander bedacht, sondern ein chaotisches Durcheinander produziert. Und noch eine Schwierigkeit gibt es: Wenn Hegel vom „Wahren“ (des „wahrhaft wissenden Bewusstseins“) spricht, ist immer erst zu fragen, ob er damit dasjenige meint, was der überwundene Standpunkt als das „Wahre“ behauptet hat – oder dasjenige, was im (oder nach dem) Überwinden als „Wahres“ erkannt (oder bekannt) ist, sich qua Prüfung des vorherigen Standpunkts als solches gezeigt hat. Mit all diesen Differenzierungen im Blick kann nun mit der schrittweisen Interpretation dieser Passage begonnen werden. An dieser Passage wird sich außerdem paradigmatisch zeigen lassen, dass und warum Robert Brandoms Interpretation der Phänomenologie des Geistes in einem fundamentalen Sinne verkehrt ist: sie hat die genannten Differenzierungen nicht im Blick.51 PhG, 75. Das dahinter liegende Problem kritisiert auch McDowell 2019 (Ms.), auf seine Weise, an der Lesart von Brandom 2019. McDowell stellt fest: „In the Introduction to the Phenomenology, Hegel says his project is to describe a succession of shapes of consciousness, with one giving way to another until we reach Absolute Knowing. Brandom acknowledges that, but in his treatment of the Introduction he almost totally ignores the succession of shapes.“ (McDowell 2019 (Ms.): 1) Dass Brandom die „succession of shapes of consciousness“ nicht angemessen berücksichtigt, bedeutet, dass er das, was wir in Kapitel 1 als den Zusammenhang der (A)‑ und der (B)-Linie bestimmt haben, nicht in den Blick bekommt. Er versteht die Phänomenologie des Geistes daher nicht als Prozess der Prüfung, ob bestimmte Gestalten des Bewusstseins, die auf ihnen entsprechenden Standpunkten jeweils als Instanzen des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins behauptet werden, wahrhaft solche sind oder nicht – und damit eo ipso der Prüfung, ob diese (philosophische) Prüfung selbst Instanz des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist. Brandom meint, dass die philosophische Erkenntnis die Explikation derjenigen Begriffe sei, die das Bewusstsein in seinen tatsächlichen (primär empirischen) Vollzügen – z. B. tatsäch50 51
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung 69
Zum Auftakt: „das Wahre“, von dem Hegel am Eingang des Zitats spricht, meint „das Wahre“ nach Maßgabe des gerade in der Prüfung und Kritik begriffenen Standpunktes der „Wahrnehmung“ – und nicht nach Maßgabe derjenigen Einsicht, die aus dieser Prüfung und Kritik erst resultiert. Denn nur in jenes „Wahre“ hat sich das Bewusstsein in der beschriebenen Weise „einzumischen“. Mit diesem „Einmischen“ beschreibt Hegel natürlich weder eine tatsächliche Veränderung von einer wirklichen Form der Wahrnehmung in eine andere noch eine inhaltliche Veränderung eines bestimmten Wahrnehmungsaktes – auch wenn der narrative Stil dieser Passage so klingen mag. Dass die „Einmischung“ des Bewusstseins das Wahre „verändert“, wie Hegel sagt, meint entsprechend, dass die gewonnene Einsicht, welche die – aktive – „Einmischung“ des Bewusstseins als für die sinnliche Wahrnehmung wesentlich erkennt, „das Wahre“ im Sinne des verkehrten Standpunktes „verändert“ – also das, was dieser Standpunkt als „das Wahre“ ausgegeben hat, nämlich das sich selbst als so-undso zeigende Ding (der Natur); das Wahrnehmungsobjekt muss nun anders als so gedacht und der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins anders instanziiert sein als nach Maßgabe des „alten“ Standpunkts. Von dessen Warte wiederum muss die hegelsche Einsicht freilich als Unwahrheit erscheinen – und zwar nicht nur in dem Sinne, dass er die hegelsche Einsicht nicht für wahr hält, sondern auch in dem Sinne, dass diese impliziert, dass die sinnliche Wahrnehmung nicht mehr, wie es diesem Standpunkt selbstverständlich scheint, als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins zu behaupten ist, sondern als Unwahres. Von Hegels Warte wird also „erk[a]nnt, daß die Unwahrheit, die darin [sc. in der Wahrnehmung] vorkömmt, in es [sc. das Bewusstsein] fällt“, da es, das Bewusstsein, diese aktive Aktualisierung der begrifflichen Vermögen bewirkt und, insofern es dies tut, dasjenige Werk übernimmt – sich in dasjenige Werk wesentlich, ja ablösend „einmischt“ –, das der kritisierte Standpunkt den Oblichen Wahrnehmungsakten – immer schon in Anspruch nimmt und daher in entsprechenden Erfahrungssituationen selbstbewusst entwickeln kann (vgl. Brandom 2019: 4–8 und passim). Er sieht daher nicht, dass die philosophische Erkenntnis die Korrektur derjenigen Standpunkte ist, die darin bestehen, dass das Bewusstsein bestimmte (verkehrte) Auffassungen über seine tatsächlichen Vollzüge hat. Damit sieht er auch nicht das Problem, ob und wie ein Bewusstsein, das in einem solchen Standpunkt befangen ist, überhaupt über einen solchen Standpunkt hinausgelangen kann, welches wir in Kapitel 7 als ein dezidiert erkenntnislogisch-semantisches Problem herausstellen werden. Damit stellt Brandom auch nicht die – entscheidende – Frage, ob, in welchem Sinn und warum eine solche Korrektur, welche die philosophische Erkenntnis wesentlich ist, ihrerseits Instanz des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins sein kann und ist. Umgekehrt hält Brandom die – ebenso entscheidende – Frage, ob die empirisch-repräsentationalen Akte des Bewusstseins überhaupt Wissen sind, für von Anfang an positiv beantwortet. So liest er Hegels Einleitung so, als ob sie von vorausgesetzten, elementaren Bedingungen für (empirisches) Wissen ausgehen würde, denen eine philosophische Explikation sodann zu genügen hat (vgl. Brandom 2019: 44–50), welche sodann nicht mehr als bloß selbstbewusste Explikation des vom Bewusstsein (scheinbar oder tatsächlich) immer schon in Anspruch Genommenen sein kann – sich niemals aber radikal kritisch auf dieses Bewusstsein in dessen (verkehrten) Selbst-Behauptungen richten kann.
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jekten selbst zugedacht hat. Deshalb alleine konnte dieser ja meinen, die Objekte seien das Wahre und ihre Wahrnehmung entsprechend Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins. In den allgemeinen Bestimmungen, also der begrifflichen Form der Wahrnehmung, liegt also nicht, wie im Übergang von der „Sinnlichen Gewissheit“ zur „Wahrnehmung“ gemeint wurde, die Wahrheit der Wahrnehmung: als sich als so-und-so Zeigen des Objekts (im Gegensatz zur unmittelbar-instantanen Präsenz des bestimmungslosen „dies“ der „Sinnlichen Gewissheit“). Vielmehr liegt in ihnen – da sie wesentlich vom Subjekt aktiv aktualisierte Begriffe sind – der Grund, warum die Wahrnehmung keine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sein kann und daher unwahr ist. Noch einmal Hegels Schlusssatz der oben zitierten Passage: „Es ist hiemit itzt, wie es bey der sinnlichen Gewißheit geschah, an dem Wahrnehmen die Seite vorhanden, daß das Bewußtseyn in sich zurückgedrängt wird, aber zunächst nicht in dem Sinne, in welchem diß bey jener der Fall war; als ob in es die Wahrheit des Wahrnehmens fiele; sondern vielmehr erkennt es, daß die Unwahrheit, die darin vorkömmt, in es fällt.“
Hier ist also von der „Unwahrheit“ die Rede, die das Bewusstsein in der Prüfung, wie Hegel klar sagt, „erkennt“ – also von derjenigen „Unwahrheit“, die in der Überwindung des Standpunktes der „Wahrnehmung“ – nicht auf ihm – als solche durchschaut ist. 2.4.1 Zu Hegels Begriff „des Wahren“ (und des bloß „Richtigen“) Übersieht man nun, dass Hegel im ersten Satz des obigen Zitats vom „Wahren“ nach Maßgabe des gerade in Prüfung und Kritik begriffenen Standpunktes spricht (und liest man es stattdessen als Beschreibung der hegelschen Auffassung der Wahrnehmung); und übersieht man weiter, dass Hegel mit der „Einmischung“ nicht die Zusammenfügung zweier (zumindest als Momente) realer Wahrnehmungsakte meint (etwa: einen „objektiven“ und einen „subjektiven“), muss man folgern, dass Hegel eine Art semi-Konstruktivismus der Wahrnehmung vertritt – einen, in dem „das Wahre“ immer mit „der Unwahrheit“, die das Subjekt hinzufügt, vermischt ist. Es ist aufgrund der dargelegten Lesart klar, dass und warum Hegel dies nicht vertritt: weder macht der Gedanke eines „objektiven Teils“ Sinn – Hegel kann die Passivitätsauffassung aufgrund ihrer Unsinnigkeit auch nicht zu einem Teil eines Wahrnehmungsprozesses erklären –, noch macht der Begriff einer „subjektiven Zutat“ Sinn, wenn damit ein äußerlich oder nachträglich auf diesen vermeintlichen „objektiven Teil“ ausgeübter Einfluss des Subjekts gemeint sein soll. Entsprechend macht Hegel in den Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes52 ausdrücklich deutlich, dass seine Lehre Der Beleg folgt in Form des nächsten Zitats.
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2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung
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vom Bewusstsein keinen „subjektiven Idealismus“ (und erst recht keine inkonsequente Mischform aus der Passivitätsauffassung und subjektiv-äußerlichen Zutaten) darstellt. Diese Zurückweisung stößt uns auf eine wichtige Dialektik, die von vielen analytischen Rezipienten Hegels überlesen wird, die und da sie ihn als Gewährsmann des „direkten Realismus“ lesen53: Hegel lehnt den subjektiven Idealismus – bezogen auf die sinnliche Wahrnehmung – nicht deshalb ab, weil er einen objektiven Realismus im Sinne der Passivitätsauffassung vertritt, demgemäß die Welt sich uns von sich aus als „an sich“ zeigt. Vielmehr weist er den subjektiven Idealismus deshalb zurück, weil dieser die Wahrnehmung an der hartnäckigen Vorstellung bemisst, dass es eine sinnlich wahrnehmbare Welt gibt, verglichen mit deren sich-Zeigen der subjektive Idealismus bloß subjektiver Idealismus ist; dass uns die bloße Aufnahme dessen, was sich uns von sich aus als so-und-so zeigt, entweder – und sei es nur möglicherweise – prinzipiell versperrt ist oder jedenfalls durch unsere subjektiven Einfälle immer gleich verstellt wird. Für Hegel ist Fichte das Exempel solcher Verwirrungen: „[I]n der Fichteschen Darstellung sind die Gedankenbestimmungen der Fortbildung des Objekts nicht bloß objektiv ausgedrückt, sondern sie sind in der Form subjektiver Thätigkeit. Wir haben es nicht nöthig diese Thätigkeit als besondere auszuzeichnen, und der subjektiven Weise besondere Namen zu geben, es ist das Denken überhaupt, welches bestimmt und in seinen Bestimmungen fortgeht und die absolute Bestimmung des Objekts ist daß die Bestimmungen des Subjektiven und Objektiven identisch sind […].“54
Hegel lehnt den subjektiven Idealismus also deshalb ab, weil er an derselben verkehrten Grundannahme wie die Passivitätsauffassung laboriert; er suggeriert durch die Kennzeichnung „subjektiv“ ein „bloß subjektiv“, das ein „objektives An-sich“ verfehlen könnte – wohingegen „das Objektive“ der Wahrnehmung, so Hegel, nichts anderes ist als das Andere des Subjektiven. Es ist insofern mit ihm „identisch“ – und es macht daher keinen Sinn, es als „bloß“ subjektiv zu charakterisieren. (Wir werden in den Kapiteln 4 und 5 darauf zurückkommen und sehen, was genau dies – positiv – bedeutet.) Eine damit intern verbundene Dialektik betrifft Hegels Position zur Wahrnehmungsskepsis: Auch sie weist er entschieden zurück – aber nicht deshalb, weil er der Auffassung anhängt, dass die Welt sich uns nach dem notwendigen Mechanismus der Kausalität und damit im Regelfall mit unbedingter Zuverlässigkeit offenbart55, sondern deshalb, weil die Wahrnehmungsskepsis gerade diese falsche Auffassung voraussetzt, indem 53 Wie ich sie interpretiere – und noch ganz summarisch gesprochen –, lassen sich die berechtigten kritischen Anfragen an McDowell seitens Houlgate 2006 und 2016 ebenso wie diejenigen seitens Halbig 2008 eben so verstehen: als Geltendmachen der Tatsache, dass Hegels Kritik an derartigen Subjektivismen nicht diejenige Art des Objektivismus impliziert oder intendiert, in welcher der Kern von McDowells „Realismus“ besteht. 54 VSG Griesheim, 436. 55 So drückt sich – grob gesprochen – die antiskeptische Position bei Rödl 2011 und, ihm folgend, McDowell 2011 aus.
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sie denkt, dass es sein könnte, dass sich irgendetwas – z. B. ein vom Subjekt bewirkter „Einfall“ in das sich von sich aus Zeigende – in diesen Mechanismus einschaltet, das uns die Welt, wie sie an sich ist und sich von sich aus zeigt, in unserer faktisch resultierenden sinnlichen Wahrnehmung im Regelfall oder vielleicht gar immer verfehlen lässt. All das legt nun nahe, dass es einer Disambiguierung des Begriffs des „Wahren“ und – nach Hegel synonym – des „an sich“ bedarf. Nach Maßgabe der wahren Auffassung der Wahrnehmung gibt es in der Wahrnehmung keine Wahrheit, da die Wahrnehmung keine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist; sie realisiert nicht, wie vom Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins gefordert, die Form des sich-selbst-von-sich-aus-als-so-und-so-Zeigens, Offenbarens oder Geltendmachens. Hegel bemerkt deshalb: „[I]ch weiß z.b. daß es soviel Uhr ist, daß hier Lichter brennen, daß wir hier sind; in solcher Gewißheit befinden wir uns durch ganzes Leben [sic!]; aber ein solcher Inhalt verdient nicht den Namen Wahrheit; diese Dinge verdienen den Namen Wahrheit nicht.“56
Das schließt freilich nicht aus, dass in einem anderen – allerdings strikt zu unterscheidenden – Sinne auch gemäß der wahren Auffassung der Wahrnehmung vom „Wahren“ oder „an sich“ in der Wahrnehmung gesprochen werden kann. (Hegel spricht ja diesbezüglich auch ausdrücklich von „Ich weiß“.) Dieser andere Sinn kann herausgearbeitet werden, indem die jeweiligen Gegensatzbegriffe explizit gemacht werden. So kann von einer „wahren“ (oder „gelingenden“) Wahrnehmung im Unterschied zu einer von schlechten Lichtverhältnissen „verzerrten“ oder „täuschenden“ Wahrnehmung die Rede sein; und davon, dass das, was unter diesen Lichtverhältnissen als grün erscheint, „an sich“ (also in als „normal“ anerkannten Lichtverhältnissen57) weiß ist. Auch können wir sagen, dass ein „in Wahrheit“ komplexer – von geschulten Hörern als solcher gehörter – Übergang in einer Symphonie von schlechten Hörern nicht als das gehört wird, was er „an sich“ – also als Teil des großen Kunstwerks – ist. Gerade diese Dimension des Geistes, die sich in individuell ausgeprägten Wahrnehmungsfähigkeiten oder ‑kompetenzen zeigt, wird in unserer Untersuchung Bedeutung gewinnen und in Kapitel 6 genauer dargestellt werden. Die vorgetragene Unterscheidung des normalen „Wahren“ und „an sich“ vom wahrhaft „Wahren“ und „an sich“ (also Bestimmungsmomenten des wahrhaft wissenden Bewusstseins) ist auch insofern wichtig, als gerade McDowell die Zweideutigkeit dieser Ausdrücke zu übersehen scheint. Er setzt den eben genannten, bekannten und in der Tat auch im alltäglichen Sprech präsenten Sinn von „wahr“ oder „an sich“ voraus und meint, dieser müsse dem entsprechen, was Hegel in seiner Konzeption des wahrhaft wissenden Bewusstseins mit diesen Be VSG Stolzenberg, 758 [Hvh. T. O.]. Dass und warum die normative Belegung solcher Lichtverhältnisse nicht von sich her, sondern von uns festgesetzt ist, werden wir in Kapitel 6 näher sehen. 56 57
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung 73
griffen letztlich meint.58 Dies erklärt, weshalb McDowell zu meinen scheint, dass die sinnliche Wahrnehmung schon von daher auch in Hegels Augen eine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sein müsse. Es sollte nun klar vor Augen stehen, warum sie es nicht ist – und dass das keineswegs in Konflikt damit steht, dass die Begriffe des „Wahren“ oder des „An sich“ im zweitgenannten, deflationären Sinne durchaus auch in Bezug auf die Wahrnehmung gebraucht werden können. Und doch hat Hegel, der die Verhexungsfähigkeit der Sprache klar vor Augen hatte, eine dezidiert kritische Haltung zu diesem Gebrauch. Dieser führt, gerade wegen unseres offenbar vorhandenen Hanges zur verkehrten Auffassung der Wahrnehmung, eben nur allzu leicht dazu, diese falsche Auffassung zu affirmieren und als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins zu inthronisieren. Das gilt insbesondere initial, also dann, wenn die Begriffe noch nicht durch den gesamten Gang der Untersuchung hinreichende Klärung erfahren haben. Hegel empfiehlt daher, in derartigen Kontexten von „Richtigkeit“ anstatt von „Wahrheit“ zu sprechen59 – nicht, weil durch die Änderung der Zeichenkette schon die dahinter liegende Differenz der Sache erkannt wäre, sondern, weil zumindest eine weitere Falle auf dem Weg der Befreiung von der verkehrten Auffassung unserer selbst entschärft ist. 2.4.2 Die Unverfügbarkeit der philosophischen Einsicht Nun bleibt ein zentraler Satz des obigen Zitats zu diskutieren: „Das Bewußtseyn erkennt diese Seite zugleich als die seinige, und nimmt sie auf sich, wodurch es also den wahren Gegenstand rein erhalten wird.“
Zur Erinnerung: Dieser Satz bezieht sich auf das vorher Ausgeführte; dass das Bewusstsein erkennt, dass es in der Wahrnehmung immer schon aktiv am Werke ist, sich „einmischt“. Hegel spricht hier nun davon, dass es „diese Seite“ – also 58 Zwar ist zuzugeben, wie auch wir in Kapitel 1 festgestellt haben, dass Hegel in der Einleitung davon spricht, dass diese Begriffe aufgenommen werden müssen, „wie sie sich unmittelbar darbieten“ (PhG, 58), wie wir also aus dem alltäglichen Sprech mit ihnen bekannt sind. Doch aus Gründen, die wir in Kapitel 7 näher einsehen werden, verbindet er damit die Ankündigung, dass das, „[w]as eigentlich an diesen Bestimmungen sey“, auf dem Weg der Phänomenologie des Geistes zuallererst zu entwickeln ist (PhG, 58). Dies zeigt sich konkret auch an seiner – zunächst überraschenden – These, dass auch der Maßstab der Untersuchung einer Prüfung unterzogen werden wird (vgl. PhG, 60). – In diesem Zusammenhang kann zudem an Hegels allgemeinen Hinweis erinnert werden, dass „zufällige und willkührliche Vorstellungen geradezu verworfen, und der damit verbundne Gebrauch von Worten als dem Absoluten, dem Erkennen, auch dem Objectiven und Subjectiven, und unzähligen andern, deren Bedeutung als allgemein bekannt vorausgesetzt wird, sogar als Betrug angesehen werden“ muss (PhG, 55). 59 Hegel schreibt: „Es ist eines der wesentlichsten logischen Vorurtheile, daß solche qualitative Urtheile, wie: die Rose ist roth, oder ist nicht roth, Wahrheit enthalten können. Richtig können sie seyn, d. i. in dem beschränkten Kreise der Wahrnehmung, des endlichen Vorstellens und Denkens; diß hängt von dem Inhalte ab, der ebenso ein endlicher für sich unwahrer ist.“ (Enz. 1830, § 172 A)
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2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“
seine Einmischung, die „seinige“ – „auf sich“ „nimmt“. Das ist insofern eine bemerkenswerte Redeweise, als es doch – wenn gezeigt ist, dass es sich so verhält, wie es sich verhält – gar nichts auf sich zu nehmen zu geben scheint; vielmehr hat sich eine Wahrheit gezeigt – deren Einsicht es festzuhalten (oder allenfalls dankbar aufzunehmen) gilt. Was also ist der Grund, warum Hegel hier einen Akt des „auf-sich-Nehmens“ zur Abhebung bringt, der offenbar mehr als das schlichte Festhalten des Eingesehenen bedeuten soll – und doch wörtlich „rezeptiv“ formuliert ist, somit also nicht als Hinweis auf irgendeine Konstruktion oder einen Einfall zu verstehen ist, der von uns noch hinzuzufügen wäre? Diese Frage führt auf einen wesentlichen strukturellen Zug der philosophischen Selbsterkenntnis, die die Phänomenologie des Geistes ist. Er wird in Kapitel 7 genauer zu diskutieren sein und so die Überleitung zur Philosophie des absoluten Geistes darstellen, in der sich Hegels Philosophie und Metaphysik des Geistes im Ganzen vollendet. Doch wenn es sich um einen wesentlichen strukturellen Zug jeder Selbsterkenntnis – und das heißt: jedes Übergangs der Phänomenologie des Geistes, nicht-provinziell also – handeln soll, so muss er sich im Kern auch hier schon aufweisen lassen. Genau darauf deutet Hegel mit der bedachten Formulierung „auf sich nehmen“ hin. Was also ist dieser wesentliche strukturelle Zug der Selbsterkenntnis, soweit wir ihn hier schon auf den Begriff bringen können? Zunächst eine Vorbemerkung zur Formulierung „auf sich nehmen“. Es ist schon aufgrund von Hegels Integration religiöser – insbesondere christologischer – Sprache in seine philosophische Sprache naheliegend, beim „auf-sichNehmen“ die Konnotation des Leidens mitzuhören, das im auf-sich-Nehmen des Kreuzes in der Passion Jesu Christi liegt.60 Dieses – und unser aller Nachvollzug dessen – deutet Hegel philosophisch als Tod des Todes, als Ende der Endlichkeit, vor allem aber als Vernichtung unserer Verkehrung. Entsprechend müsste es sich hier um einen Schritt über die Endlichkeit und – vor allem – Verkehrtheit hinaus handeln, den zu gehen aber ein „auf-sich-Nehmen“ und kein bloß gleichgültiges, distanziertes zu-Protokoll-Nehmen einer erkannten Tatsache ist. Das Schmerz60 Auch in einer sachlich exakt parallelen Stelle aus der Einleitung in die Enzyklopädie gibt es einen explizit christologischen Bezug: „Das höhere Bedürfniß geht gegen diß Resultat des nur verständigen Denkens und ist darin begründet, daß das Denken nicht von sich läßt, sich auch in diesem bewußten Verluste seines Beisichseyns getreu bleibt, ‚auf daß es überwinde,‘ im Denken selbst die Auflösung seiner eigenen Widersprüche vollbringe.“ (Enz. 1830, § 11) Das von Hegel selbst als Zitat gekennzeichnete und durch Kursivierung hervorgehobene „auf daß es überwinde“ ist eine Anspielung auf den Gedanken der Überwindung der Welt durch Christus, als Grund der Überwindung existentieller Angst (vgl. etwa Joh 16,33b: „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“). Hegel macht in diesem Zitat eine für sein Verständnis philosophischer Selbsterkenntnis zentrale Unterscheidung deutlich: Das Denken muss in der Überwindung nicht von sich als Denken lassen, sehr wohl aber von sich als verkehrtem Denken; das aber kann das verkehrte Denken nicht aus sich selbst, sondern nur durch das Denken oder im Denken, das über je mein verkehrtes Denken hinaus ist, weshalb ich über jenes auch nicht verfügen kann.
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung 75
liche des hier verhandelten Selbsterkenntnisschritts besteht im Verlust der Gewissheit des – im Sinne der „natürlichen Sünde“ – „natürlich“ zu nennenden Bewusstseins: dass die Wahrnehmung Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sei; dass das Sinnliche um uns herum das Wahre, das „An sich“, sei; dass wir durch unsere Sinnlichkeit in Berührung mit wahrhafter Wirklichkeit stehen, genauer: in Begegnung, da sich diese uns ja selbst qua sich-Zeigen vor-stellt. Hegel charakterisiert die Überwindung dieser Verirrung, diesen Übergang – alle Übergänge der Phänomenologie des Geistes – ausdrücklich als „Verlust“, sogar als „Verzweiflung“, die im erfolgten Be-Zweifeln dieses Standpunkts und dem Verlust unserer Orientierung an ihm und in ihm liegt.61 Diesen „Verlust“ muss das natürliche Bewusstsein „auf sich nehmen“. Mit der Betonung auf „sich“ ist angezeigt, dass es darin sich selbst als verkehrt erkennt – und nicht irgendeine Auffassung, mit der es selbst nichts zu tun hätte. Und da es sich – verkehrt – soweit als natürliches und nicht als geistiges Wesen gedacht hat, ist es von diesem Übergang existentiell-metaphysisch betroffen. Es erfährt darin einen Schmerz, wie ihn ein natürliches Wesen niemals erleiden könnte, und erfährt und erkennt sich gerade auch so als geistiges Wesen. Doch ist diese Überwindung wirklich „Verlust“ und „Verzweiflung“ – nicht vielmehr Erkenntnis-„Gewinn“? Hegels Fokus auf „Verlust“ und „Verzweiflung“ wäre allzu leicht (und undialektisch) zu erklären, wenn der Weg der Phänomenologie des Geistes sich darin erschöpfen würde, sämtliche Standpunkte und ihre Gewissheiten zurückzuweisen, um anschließend in einem reinen Nichtwissen (oder allenfalls dem Wissen solchen Nichtwissens) zu münden. Doch das ist nicht der Weg der Phänomenologie des Geistes. Der Zweifel, der vermeintliches Wissen als verkehrtes Meinen entlarvt, ist, wie Hegel sagt, „sich vollbringender Skeptizismus“; also ein radikales Zweifeln, in dem und durch das sich das eigentlich Wahre zeigt; Selbsterkenntnis dieser Gestalt ist – wie Axel Hutter gezeigt hat – wesentlich Negativismus62: Das „Positive“ der Selbsterkenntnis gibt es nicht unmittelbar; es ist das Überwinden des Verkehrten, dessen „positiver“ Wert genau darin aufleuchtet, dass die Abgründigkeit dieser Verkehrung und damit die Tiefe der Befreiung, die in ihrer Überwindung liegt, erfahren und erfasst wird. Wer darin einen Mangel an Positivität beklagt, hat dieser Abgründigkeit nicht ins Auge gesehen – gleich wie ein Geheilter nicht ernsthaft krank gewesen sein, gelitten haben kann, der beklagt, er sei „nur“ in dem Sinne geheilt worden, dass seine Krankheit vollständig bekämpft wurde. Vom Negativismus hat man also nur dann einen Begriff, wenn man ihn weder mit dem undialektischen, auf bloßem Nichtwissen beharrenden Skeptizismus 61 PhG, 56. Es ist deshalb an die Erinnerung von Förster 2012: 304 f. zu erinnern: Hegel hat nach der Publikation der Phänomenologie des Geistes beklagt, dass die Rezipienten ihren Fokus zu sehr auf die Inhalte und zu wenig auf die Übergänge gerichtet haben – und ihnen, so darf hinzugefügt werden, dadurch das Wesentliche oft genug entgangen ist. 62 Vgl. Hutter 2014.
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verwechselt, noch mit einem ebenso undialektischen positiven Wissen, das man auch ohne den Zweifel und die Überwindung des Verkehrten haben und das wie „eine ausgeprägte Münze […] eingestrichen werden kann“63. Im Ausgang des Wahrnehmungskapitels – beim Überwinden des verkehrten Standpunktes der „Wahrnehmung“ – bricht dieser Negativismus nun konkret so hervor: Die verkehrte Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung wird als solche durchschaut und zurückgewiesen. Die richtige Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung impliziert bereits in ihrer bislang noch negativen und abstrakten Fassung – Wahrnehmung als vonseiten des (geistigen) Subjekts begonnener und vollzogener Akt –, dass Wahrnehmung nicht Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sein kann. Dem Bewusstsein ist somit nicht nur die verkehrte Auffassung der Wahrnehmung als solche aufgegangen; vielmehr verliert es dadurch zugleich sein vermeintliches Wissen von der Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins. Wo die immanente Weiterentwicklung der Prüfung hinführt, weiß es jedoch noch nicht. Und in diesem Sinne ist es „verloren“; es weiß – soweit – nicht, worin das wahrhaft wissende Bewusstsein realisiert ist, ob es überhaupt realisiert ist.64 Es mag fragen: Führt das alles vielleicht ins Nichts? Und spricht nicht schon die Möglichkeit, es könnte so sein, dagegen, dem betretenen Weg überhaupt zu folgen und sich der (ver‑)führenden Macht, die uns darauf irgendwie zu lenken scheint, anzuvertrauen? Die Tiefe des Verlustes liegt so nicht rein in einer genuin philosophischen Orientierungslosigkeit, sondern auch in einer existentiellen überhaupt: Denn das wahrhaft wissende Bewusstsein ist ja Bewusstsein von „Wahrem“, von einem „An sich“; es gewährt uns Zugang zu dem, was in sich selbst wirklich ist und uns als solches entgegentritt. Auf dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ meinte das Bewusstsein, sich in die Wirklichkeit seiner sinnlichen Umwelt eingebettet zu wissen. Mit dem Verlust dieses Standpunktes ist es sich nun keiner Berührung mit Wirklichem mehr gewiss. Es hat – in Ent PhG, 30. Hier stehe ich also im Widerspruch zu Vieweg 2007: 104, der – in erfrischendem Sprachduktus – über das individuelle Subjekt im besagten Verlust behauptet: „Scheinbar zielloses, beliebiges Vagabundieren hat eben auch ein bestimmtes Ziel. Vermeintlich kein Ziel zu haben, ist eben auch eine Bestimmtheit. Der Montaigne-Topos ‚daß ich wohl weiß was ich fliehe, aber nicht weiß was ich suche‘ ist fragwürdig. Aus der Kenntnis dessen, was ich fliehe, ergibt sich eine Bestimmtheit des Suchens. Es liegt mindestens eine einzige Bestimmung vor: das Vermeiden des zu Fliehenden.“ Mir scheint ein Aspekt der Abgründigkeit der von Hegel dargestellten Verzweiflung und Verlorenheit darin zu liegen, dass das individuelle Subjekt eben nicht weiß, ob es wirklich „fliehen“ soll; bereit, zu „fliehen“ – definitiv zu negieren – wäre es doch erst, wenn es wüsste, worin die „Alternative“ zu seiner bisherigen Gewissheit besteht. Das aber kann es hier noch nicht wissen. Wie wir in Kapitel 7 sehen werden, stellt sich die Sache sogar noch intrikater dar: Überzeugen kann das individuelle Subjekt sich von der „Alternative“ nur, wenn es etwas bejaht, das es eigentlich erst von dieser Alternative her bejahen kann. In dieser Zirkularität des Gelingens von Selbsterkenntnis liegt deren Unverfügbarkeit begründet. Selbsterkenntnis ist in ihrem Gelingen somit auf eine Leitung angewiesen, welche in das Bild vom Suchenden und Vagabundierenden erst einzuzeichnen wäre. (Sie wird sich als das herausstellen, wonach eigentlich gesucht wird!) 63 64
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung 77
fremdung eines sprechenden Wortes ausgedrückt – einen „unendlichen Mangel an Sein“65. Doch was es vernimmt oder ahndet, wenn es sich diesem Verlust wirklich stellt, wenn es ihn „auf sich nimmt“, ist dies: dieser Verlust selbst ist ein Akt des wahrhaft wissenden Bewusstseins gewesen, wenn die Prüfung tatsächlich war, wie sie sich uns darstellte – ein zwingender Gedankengang, der uns dazu gezwungen hat, den Standpunkt der „Wahrnehmung“ aufzugeben. Nur dadurch ist der Verlust ja unbedingt verbindlich und ernsthaft; nur so hat er die Kraft, das Bewusstsein zur „Verzweiflung“ zu bringen. Das bedeutet: In diesem zwingenden Gedankengang hat sich uns etwas gezeigt und aufgedrängt. Diese Redeweise deutet schon an, dass hier wahrhaft wissendes Bewusstsein – ein sich-uns-Zeigen dessen, was an sich ist und gilt, als solches – realisiert ist. Doch dass und in welchem Sinne dieser Selbsterkenntnisvollzug wirklich Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist – und was er sodann metaphysisch impliziert –, muss erst noch gezeigt werden, indem er auf seine innere Struktur hin näher untersucht und auf den Maßstab der Prüfung – den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins – bezogen wird (vgl. dazu Kapitel 7). Dazu ist vorher der Weg der Selbsterkenntnis erst noch weiter zu gehen, damit sich die Fülle dieses Bewusstseins entfalten und zeigen kann. Bislang ist das Wissen, das uns im Vollzug des Verlustes aufgegangen ist, eher eine Bekanntschaft mit dem, was erst noch erkannt werden muss; wir haben es vollzogen und grob beschrieben, was uns in diesem Vollzug aufgegangen ist; aber wir haben es noch nicht expliziert.66 Es ist wie bei einer Begegnung mit einem Menschen, dessen einzigartiger Charakter uns fesselt und dessen Einzigartigkeit sich in der Begegnung verspricht – auch wenn wir nach dieser Begegnung bekennen müssen, dass wir ihn eigentlich noch nicht kennen, aber aus dieser Begegnung den festen Willen haben, ihn nun kennenzulernen und sich dabei auch den Erschütterungen zu stellen, die ein einzigartiger Charakter ins eigene Leben tragen kann. Der Mangel an Erkenntnis zeigt sich nun etwa darin, dass wir an dieser Stelle noch – ganz mit Recht – folgende Fragen stellen können, ja müssen: War dieser Vollzug nicht allein mein Denkvollzug? Wie kann sich aber in einem Vollzug, in dem nichts anderes ist als ich und meine Gedanken, „etwas Anderes“ mir zeigen, wie es der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins verlangt? Macht der Gedanke, dass sich mir im Denken „etwas Anderes“ zeigt, überhaupt Sinn? Und wenn ja, was oder wer soll dieses „Andere“ sein? Diese Fragen bedürfen einer differenzierten Antwort, die im zweiten Teil unserer Untersuchung zu 65 So
der Titel von Frank 1992, mit dem Schellings Hegelkritik überschrieben sein soll. dem Bewusstsein ist durch diese Bekanntschaft schon die Richtung seiner weiteren Explikation vorgegeben. Michael Theunissen formuliert es äußerst treffend so: „Selbstverständlich darf man in der Tat nur von einer Ahnung wirklicher Wahrheit sprechen. Wohl wäre der Weg des Bewußtseins richtungslos, zeigte sich ihm am Horizont nicht auch wirkliche Wahrheit.“ (Theunissen 1978: 330) 66 Doch
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2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“
entwickeln ist; nur so lässt sich der durch sie angezeigte Verdacht zerstreuen, philosophische Selbsterkenntnis könne – was auch immer sie ist – jedenfalls nicht den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins erfüllen, wie wir ihn mit Hegel eingeführt haben. Einen ersten Wink, worin besagtes „Andere“ im Denken, das ich nicht schon „in mir“ oder „von mir aus“ bin oder habe, liegen könnte, haben wir allerdings schon bekommen: Es hat sich gezeigt, dass der Dissens zwischen der Passivitätsauffassung der Wahrnehmung und ihrer Zurückweisung soweit elementar auf einem Streit um den wahren Begriff des Begriffs beruht. Das Einleuchten eines anderen Begriffs des Begriffs als derjenige, mit dem man angehoben hat zu denken, wird sich bei genauerer Untersuchung als etwas erweisen, das ich nicht aus mir selbst erzwingen kann; ich kann vielleicht erzwingen, zu denken – nicht aber, klar zu denken. Doch die weitere Ausbuchstabierung dieses Gedankens setzt – unter anderem – voraus, dass wir zu einem Begriff des Selbstbewusstseins gelangen, der es uns erlaubt, die Frage zu behandeln, ob solches Einleuchten allein „aus mir selbst“ zu verstehen ist oder nicht. Erst gemeinsam mit einem Begriff des Selbstbewusstseins kann der Begriff der Selbsterkenntnis vollständig entfaltet werden. Zum Begriff des Selbstbewusstseins aber können wir nicht einfach springen; denn das würde bedeuten, einen unreflektierten und nicht geklärten Vor(be)griff in den Gang der Untersuchung, der weiter immanent verlaufen soll, hineinzutragen, in ihn „einzufallen“, wie Hegel formuliert. Vielmehr werden wir im Ausgang des Kapitels „Kraft und Verstand“ (vgl. unser Kapitel 3) zum Selbstbewusstsein gelangen, auf es stoßen. An der Stelle des Weges, an dem wir uns nun befinden, ist das Bewusstsein also noch ohne entwickelte Erkenntnis der Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins; es ist in diesem Übergang also ohne Erkenntnis der Wahrheit, wenn auch im Vollzug der Wahrheit stehend, der als solcher noch „hinter seinem Rücken“ vor sich geht – also ohne, dass er ihn „vor Augen“, ein entwickeltes Bewusstsein davon hat.67 In diesem Übergangszustand vertraut es sich diesem Vollzug an, wagt sich dadurch zugleich in den – wie Hegel an anderer Stelle sagt – „uferlosen“, noch unüberschaubaren „Ozean“ des Denkens68; es hat also seinen sicher geglaubten Grund verlassen – die feste Überzeugung oder Gewissheit, dass die Wahrnehmung Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sei –, ohne in diesem Verlassen schon auf einen anderen festen Grund gekommen zu sein, den es überblicken würde; und ohne ermessen zu können, wie andersartig dieser „Grund“ sein wird als es sein vermeintlicher und vormaliger war. Das ist, jedenfalls für das aufrichtig nach Wahrheit strebende Bewusstsein, ein Zustand höchster Spannung: es gibt auf, was es für unwahr erkannt hat; aber es will nicht ohne Wahrheit sein. Im Vertrauen auf das, womit es in der Erkenntnis der Unwahrheit allerdings schon bekannt wurde, „nimmt“ es also diesen Weg PhG, 61. Zu diesem Zitat und seinen hegelschen Variationen vgl. Knappik 2013: 495.
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„auf sich“, wie Hegel sagt; es „vertraut“ auf das, wovon es „angezogen“ wurde, lässt sich von ihm leiten, ohne dass es wüsste, „von was“ es eigentlich angezogen wurde.69 Aber es wurde angezogen; und das hat es bemerkt.70 Nun wird verständlich, warum Hegel diesen Akt des auf-sich-Nehmens weiter wie folgt qualifiziert: „… wodurch es also den wahren Gegenstand rein erhalten wird.“
Allein durch das erläuterte auf-sich-Nehmen kann das Bewusstsein überhaupt – nämlich durch die weitere Prüfung – dazu gelangen, „den wahren Gegenstand“ als solchen zu erkennen. Nur so kann es fortgehen, d. h. denken, ohne auf irgendwelchen alten Falschheiten dogmatisch zu insistieren, noch – um der Vermeidung der Verzweiflung willen – irgendwelche Surrogate oder Versicherungen anzuführen, Einfälle des verzweifelten Subjekts, das (sich) dadurch die Wahrheit verstellt und somit nicht „rein erhalten“ würde. Hegel formuliert ganz absichtlich im Futur: „erhalten wird“. Denn der „wahre Gegenstand“, der durch den konsequenten Fortgang erhalten wird, ist ja noch nicht als solcher im Bewusstsein – und zudem laufend in Gefahr, verfehlt zu werden durch Rückfall in alte Gewissheiten oder durch bequemen Abbruch des Weges der Selbsterkenntnis. Wie wir sehen werden, birgt der kommende Standpunkt des „Selbstbewusstseins“ wiederum einige Gefahren der Verstellung des Wahren in sich. Der „wahre Gegenstand“ ist also nicht schon erhalten, sondern wird hier – bis auf weiteres – erhalten und wird endgültig, wenn überhaupt, erst künftig erhalten werden können. Bereits an unserer jetzigen Stelle aber entscheidet sich, ob das Bewusstsein sich zumindest soweit die Möglichkeit erhält, dem Gegenstand einmal rein begegnen zu können. Doch nicht jedes Subjekt kann in seiner Verzweiflung diesen Fortgang konsequent gehen. Das ist keine psychologische oder dramatisierende These – sondern die philosophisch tiefe Erklärung dafür, warum es so viele intellektuell keineswegs mangelhaft ausgestattete Individuen gibt, die sich an den Standpunkt der „Wahrnehmung“ klammern – selbst dann, wenn sie dessen Unwahrheit „witter[n]“ sollten, wie Hegel formuliert.71 Durch das später von Kierkegaard prominent rezipierte und im Anschluss an Hegel noch weiter existentiell aufgeschlossene Vokabular der „Verzweiflung“ deutet Hegel an, dass die Erklärung dafür eine existentielle Abgründigkeit ist – eine Art Gefangensein in Aversion gegen den Aufschluss des Selbst, das bei Kierkegaard wie bei Hegel mit dem Ge69 PhG, 23: „Daß das natürliche Bewußtseyn sich der Wissenschaft unmittelbar anvertraut, ist ein Versuch, den es, es weiß nicht von was angezogen, macht, auch einmal auf dem Kopfe zu gehen; der Zwang diese ungewohnte Stellung anzunehmen und sich in ihr zu bewegen ist eine so unvorbereitete als unnöthig scheinende Gewalt, die ihm angemuthet wird, sich anzuthun.“ 70 Wir sahen: Die Be-Kanntschaft mit dem, wovon es angezogen wurde, ist eben noch keine Er-Kenntnis desselben. Das aber impliziert reflexiv, dass die philosophische Erkenntnis all dessen wiederum an dieser Stelle ebenso vorläufig-tastend bleiben muss. 71 PhG, 80.
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danken des Bösen (oder – in religiöser Terminologie – der „Sünde“) verbunden ist.72 Darauf wird in Kapitel 7 und 8 ausführlich zurückzukommen sein. Hier jedoch ist bereits sprachlich evident, dass es sich um ein Gefangensein dieser Art handeln muss: denn wir sagen ja ganz natürlichsprachlich, dass nicht jede und jeder „die Kraft“ oder „den Mut hat“, die Aufgabe von alten Standpunkten, auf die man sich festgelegt, an denen man sich bislang existentiell ausgerichtet hat und in denen man es sich eingerichtet hat, „auf sich zu nehmen“. 2.4.3 „Erfahrung“ und „Korrektur“ – von Brandoms fundamentalem Missverständnis Direkt an das eingehend diskutierte Zitat, in welchem Hegel in der dargelegten, differenzierten Weise mit den Begriffen der „Wahrheit“ und der „Unwahrheit“ operiert und diese auf die jeweiligen Standpunkte bezieht, schließt nun eine Passage an, die deshalb ebenso ausführlich zu diskutieren ist, weil sich an ihr das beschriebene Aufleuchten des „Wahren“ (der philosophischen Selbsterkenntnis) – unsere gemachte Bekanntschaft damit – weiter verdeutlichen lässt. (Im aktuellen Debattenkontext wichtig ist diese Passage außerdem, weil sie eine Schlüsselpassage für Robert Brandoms Lesart der Phänomenologie des Geistes ist.73) Damit der Anschluss an das vorher diskutierte Zitat deutlich wird, sei mit dessen abschließendem Satz begonnen: Das Bewusstsein erkennt, „daß die Unwahrheit, die darin [sc. in der Wahrnehmung gemäß der wahren Auffassung, T. O.] vorkömmt, in es fällt. Durch diese Erkenntniß aber ist es zugleich fähig, sie aufzuheben; es unterscheidet sein Auffassen des Wahren von der Unwahrheit seines Wahrnehmens, corrigirt diese, und insofern es diese Berichtigung selbst vornimmt, fällt allerdings die Wahrheit, als Wahrheit des Wahrnehmens[,] in dasselbe. Das Verhalten des Bewußtseyns, das nunmehr zu betrachten ist, ist also so beschaffen, daß es nicht mehr bloß wahrnimmt, sondern auch seiner Reflexion in sich bewußt ist, und diese von der einfachen Auffassung selbst abtrennt.“ 74
Brandom meint, dass Hegel hier diejenigen Begriffe entwickelt und expliziert, mit denen wir unseren rationalen Umgang mit Akten der Wahrnehmung und damit verbundenen Vollzügen – etwa der Entlarvung von Urteilen als auf visuellen Täuschungen basierend – ausdrücken.75 Diese Lesart setzt also voraus, dass 72 Zu dieser Anknüpfung Kierkegaards an Hegel unter der Klammer des „Negativismus“ vgl. erneut Hutter 2014. 73 Vgl. Brandom 2019: 75 ff. Brandom verweist in seiner Diskussion des Beispiels vom im Wasser gebrochen erscheinenden, aus dem Wasser herausgezogen aber nicht mehr gebrochen erscheinenden Stabs auf das „Perception chapter“ (76), wo er ein Beispiel dieser Art diskutiert zu finden meint, und meint damit wohl die eben zitierte Passage. 74 PhG, 75 [Hvh. T. O.]. 75 Zur Problematik, dass dieser Ansatz als solcher nicht auf das Programm der Phänomenologie des Geistes passt, vgl. auch die scharfe, textnahe Kritik von McDowell 2019 (Ms.).
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung
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Hegel in diesem Zitat über einen tatsächlichen Wahrnehmungsvorgang spricht, ihn in einer gewissen Form beschreibt und so die analytischen Voraussetzungen einer entsprechenden philosophischen Explikation bereitstellt. Brandoms eigenes Beispiel ist deshalb eine Erfahrung76, die wir alle kennen: die Wahrnehmung eines Stabes im Wasser als gekrümmt, die sich mit dem Herausziehen des Stabes aus dem Wasser verändert. Brandom verfehlt den hegelschen Text aber in fundamentaler Weise, da er die Reflexionsebene, auf der Hegel sich hier bewegt, vollkommen missversteht. Hegel beschreibt hier keinen tatsächlichen Wahrnehmungs‑ und Erkenntnisprozess, sondern – wie schon an der vorausgehenden Passage aufgezeigt – die erkennende Überwindung des (philosophischen) Standpunktes, dass die sinnliche Wahrnehmung die Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sei; und zwar, indem und nachdem die Inkohärenz der Passivitätsauffassung am Maßstab des negativen Begriffs des Begriffs aufgewiesen wurde. Mit „diese[r] Erkenntniß“ (zu Beginn des Zitats) meint Hegel also genau diese Erkenntnis(se).77 Wenn Hegel weiter sagt, dass diese Erkenntnis es möglich macht, „die Unwahrheit“ „aufzuheben“ und zu „corrigir[en]“, so meint er damit entsprechend nicht, wie Brandom meint, die Korrektur eines vormaligen Wahrnehmungsurteils auf Basis einer neuen, nun für veridisch gehaltenen Einzelwahrnehmung, wie im Falle des nun außerhalb des Wassers nicht mehr gekrümmt erscheinenden Stabes. Die Korrektur, von der Hegel spricht, bezieht sich auf das, was er unmittelbar vorher ausführt: „[E]s [sc. das Bewusstsein] unterscheidet sein Auffassen des Wahren von der Unwahrheit seines Wahrnehmens“. Die „Unwahrheit seines Wahrnehmens“ meint in diesem Kontext nicht eine täuschende Einzelwahrnehmung, sondern, wie schon gesagt, dass die Zurückweisung der Auffassung der Wahrnehmung als passive, in Form der Kausalität realisierte Aktualisierung begrifflicher Vermögen impliziert, die sinnliche Wahrnehmung als etwas zu erkennen, das nicht Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist – und in diesem Sinne als „unwahr“ zu gelten hat. Entsprechend spricht Hegel auch von der „Unwahrheit seines Wahrnehmens“ – nicht von der „Unwahrheit der Wahrnehmung“. Er macht so deutlich, dass im tatsächlichen Wahrnehmen – also dem, das es wirklich gibt: die qua Aufmerksamkeit aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen – die Unwahrheit liegt, und zwar in dem Sinne, dass recht verstandene Wahrnehmungsakte nicht Akte 76 Brandom betrachtet sein Beispiel daher auch als Instanz dessen, was Hegel in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes „Erfahrung“ des Bewusstseins nennt, indem er von „experience of error“ (76) spricht. Auch dies werden wir im Laufe der Untersuchung einer Kritik unterziehen. 77 McDowell 2019 (Ms.) weist in seiner Kritik an Brandoms Lesart mit Recht darauf hin, dass Brandom gar nicht auf die von Hegel in der Einleitung explizierten Ebenenunterscheidungen eingeht (vgl. dazu unser Kapitel 1), da er die Logik der Abfolge von Gestalten und Standpunkten des Bewusstseins nicht angemessen berücksichtigt. Schon von daher ist Brandoms Missverständnis an dieser Stelle nicht überraschend.
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des wahrhaft wissenden Bewusstseins sind. Diese Unwahrheit bestimmt Hegel außerdem als die „Unwahrheit seines Wahrnehmens“, wobei „seines“ sich auf das Bewusstsein bezieht, das bereits ein „Auffassen des Wahren“ – ebenfalls: „sein Auffassen des Wahren“ – hat: nämlich das Bewusstsein, insofern es die Verkehrtheit der Auffassung der Wahrnehmung als passive, in Form der Kausalität realisierte Aktualisierung begrifflicher Vermögen schon als solche erkannt hat. Damit hebt Hegel hervor, dass wir zwar alle das Wahrnehmen als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen vollziehen (denn ein anderes gibt es nicht); als solche begreifen und auch in diesem Sinne zur „seinen“ machen kann es aber nur das Bewusstsein, das den Weg der Prüfung schon so weit gegangen ist (und noch weiter geht). Indem das Bewusstsein nun auf diese Erkenntnis reflektiert, erkennt es diese als „sein Auffassen des Wahren“, das als solches offenkundig keine sinnliche Wahrnehmung ist und auch nicht sein kann. Mit der philosophischen Selbsterkenntnis wird hier bereits Bekanntschaft gemacht, indem sie vollzogen, d. h. in ihr etwas Wahres aufgefasst wird – obgleich die Ausbuchstabierung noch aussteht, was in diesem „Auffassen“ liegt, das Hegel hier schon explizit rezeptiv beschreibt. Doch dass sich solches Auffassen für das Bewusstsein ereignet hat, bringt dieses schon in die Lage, diese seine Auffassung des Wahren von der Unwahrheit seines Wahrnehmens zu „unterscheide[n]“: zunächst im trivialen Sinne, dass diese „Auffassung des Wahren“ offenbar keine sinnliche Wahrnehmung war und ist; dann aber in dem – keineswegs trivialen – Sinne, dass die Bekanntschaft mit der philosophischen Selbsterkenntnis, wie wir sie in ihrem Vollzug gemacht haben, diese schon als Auffassen von etwas, das sich uns aufdrängt, hat hervortreten und uns so in ihrer unbedingten Geltung erfahren lassen, durch die sie uns erst zur besagten „Verzweiflung“ bringt. Es ist ein sich-Aufdrängen von etwas, das wir (auf uns) genommen hatten, wie es sich uns aufgedrängt hat. Somit zeigt sich hier das Realisiertsein derjenigen elementaren Bestimmungsmomente, die die verkehrte Auffassung der Wahrnehmung der Wahrnehmung zugeschrieben hatte; sie hatte diese ja als bloßes „Auffassen“ bestimmt.78 So tritt der unendliche Kontrast beider hervor, beide lassen sich somit hier schon scharf „unterscheide[n]“, wie Hegel sagt. Was nun aber meint Hegel, wenn er sagt, dass das Bewusstsein „die Unwahrheit seines Wahrnehmens“ „corrigirt“? Dass Wahrnehmung unwahr ist – nicht Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins –, war doch gerade die Erkenntnis. An ihr gibt es eo ipso nichts zu korrigieren. Was meint Hegel dann? Nun, der kritisierte Standpunkt hat die Wahrnehmung soweit als einzige Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ausgegeben. Nicht unbedingt in dem starken Sinne, dass 78 Zur Erinnerung hier Hegels Beschreibung des verkehrten Standpunktes, dem gemäß gilt: „[E]s [sc. das Bewusstsein] hat ihn [sc. den vermeintlich ‚wahren‘ Gegenstand seiner Wahrnehmung] nur zu nehmen, und sich als reines Auffassen zu verhalten […].“ (PhG, 73).
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung 83
er offensiv allem, was nicht Wahrnehmung ist oder auf Wahrnehmung beruht, den Status des Wissens (oder der Verbindlichkeit) überhaupt und kategorisch abspricht; darauf wird er – um zumindest einem unmittelbaren Selbstwiderspruch zu entgehen – wohl verzichtet haben. Aber sehr wohl in dem Sinne, dass noch kein anderer Kandidat im Blick war (und sein konnte). Dadurch bedeutet die Zurückweisung dieses Standpunktes soweit: Die Erkenntnis der Unwahrheit der Wahrnehmung kommt soweit der Erkenntnis und Selbsterkenntnis gleich, dass wir nunmehr von keinem wahrhaft wissenden Bewusstsein wissen. Darin liegt aber, gleichsam sokratisch, dass es sich um eine Selbsterkenntnis dieses Nichtwissens handelt. So wird die globale Unwahrheit, die die Unwahrheit der Wahrnehmung soweit implizierte, in der Tat performativ „corrigirt“. Es wird erkannt, dass die Erkenntnis der Unwahrheit der Wahrnehmung nicht die Erkenntnis globaler Unwahrheit, d. h. der absoluten Nichtinstanziiertheit des wahrhaft wissenden Bewusstseins, sein kann, da die Erkenntnis der Unwahrheit der Wahrnehmung sich – wie man formulieren könnte – als wahrhaft wissendes Bewusstsein versprochen hat; demjenigen, der sie wirklich vollzieht, auf sich nimmt. „[C]orrigirt“ wird also in der Tat der Triumphschrei, den ein undialektischer, dogmatisch sich verfestigender Skeptizismus nach diesem Prüfungsschritt ausstoßen könnte: da gezeigt ist, dass die Wahrnehmung kein wahrhaft wissendes Bewusstsein sei, sei gezeigt, dass es kein wahrhaft wissendes Bewusstsein gebe. Ein solcher Skeptizismus entpuppt sich nun als ein enger Verwandter des Standpunktes der „Wahrnehmung“, da sein eben vorgetragener Schluss nur unter der folgenden falschen Prämisse gültig wäre: wenn es wahrhaft wissendes Bewusstsein gibt, so ist dieses wahrnehmendes Bewusstsein. Nur demjenigen, der den Verlust auch dieser trügerischen Gewissheit „auf sich zu nehmen“ bereit ist, kann der Gedanke einer weiteren Prüfung überhaupt sinnvoll – und erstrebenswert – erscheinen. Und diese weitere Prüfung und Entwicklung steht noch aus. Wie schon in der oben diskutierten Formulierung – „den wahren Gegenstand rein erhalten wird“ – spricht Hegel auch in diesem Zitat dezidiert futurisch: er spricht vom „Verhalten des Bewußtseyns, das nunmehr zu betrachten ist“ – und formuliert damit die Aufgabe der weiteren Phänomenologie des Geistes: das Bewusstsein, das und insofern es als Selbsterkenntnis wahrhaft wissendes Bewusstsein ist, zu begreifen. Soviel also zur Bedeutung des Wortes „corrigirt“. Im Anschluss daran fährt Hegel so fort: „[U]nd insofern es diese Berichtigung selbst vornimmt, fällt allerdings die Wahrheit, als Wahrheit des Wahrnehmens[,] in dasselbe“.
Mit der „Wahrheit des Wahrnehmens“ kann freilich nicht gemeint sein, dass die Wahrnehmung Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sei; das war ja zurückgewiesen worden, die „Unwahrheit der Wahrnehmung“ gezeigt worden. Was also meint Hegel mit der „Wahrheit des Wahrnehmens“? Zweierlei – wobei beides aufs engste zusammenhängt, sodass es als zwei Aspekte eines Einzigen
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zusammengefasst werden kann: Zum einen ist die Wahrheit über das Wahrnehmen gemeint, also die wahre Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung, die – negativ und noch abstrakt – als aktiv und damit im Gegensatz zur Passivitätsauffassung bestimmt wurde; es ist klar, warum diese Wahrheit „in dasselbe“ (also in das Bewusstsein) fällt, weil es seine Erkenntnis (oder Erkenntnis für es) war und ist. Zum anderen meint es die Nachfolgegestalt des Standpunktes der „Wahrnehmung“: was auch immer fortan als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins behauptet werden mag, es kann nicht sinnliches Bewusstsein sein. In diesem Sinne fallen alle weiteren möglichen Gestalten des Bewusstseins „in dasselbe“, also in das Bewusstsein. Dies wird sich auf dem späteren Standpunkt des „Selbstbewusstseins“ radikal darin zeigen, dass dort das Bewusstsein, wie Hegel sagt, „sich selbst das Wahre“ ist; dass also nicht nur etwas in ihm, sondern es selbst das „An sich“ des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist: dass es sich unmittelbar sich selbst als es selbst zeigt. Denn der Gedanke des Selbstbewusstseins ist der Gedanke, dass das sich-auf-sich-Richtende eo ipso das sich-sich-Zeigende ist. Denn: Indem ich mich auf mich selbst beziehe, beziehe ich mich auf mich, also auf das mich-auf-mich Beziehen; ich komme mir in dieser Beziehung als mich-auf-mich-Beziehender gleichsam unmittelbar entgegen, zeige mich mir selbst. Ich bin mir sozusagen immer schon begegnet und weiß immer schon von mir als Ich. Soweit zur zitierten Passage. Da Brandom die für deren Verständnis notwendige Ressource der Ebenenunterscheidung nicht zur Verfügung hat, überrascht es nicht, dass er die Rede von der „Korrektur“ nur auf tatsächliche Wahrnehmungssituationen beziehen kann. Doch es gibt zwei (weitere) scheinbare Ansatzpunkte für Brandoms Lesart, deren Diskussion zur abschließenden weiteren Erhellung der Makrostruktur des Kapitels „Die Wahrnehmung“ beiträgt: Ad (i). Hegel spricht an einer Stelle des Wahrnehmungskapitels in der Tat von der „Erfahrung“, die das Bewusstsein in seinem „wirklichen Wahrnehmen“ macht. Brandom scheint zu meinen, dass die oben zitierte Passage in den Skopus derjenigen Ausführungen fällt, mit welchen Hegel diese Erfahrung schildert. Doch das ist nicht der Fall, was sich exegetisch eindeutig zeigen lässt: Hegel kennzeichnet den Skopus besagter Ausführungen dadurch, dass er sie in der Ich-Form darstellt. Diese Ausführungen umfassen einen Absatz.79 Danach kehrt Hegel zur drittpersonalen Sprachform zurück, in der er eben nicht mehr die Erfahrung beschreibt, die das Bewusstsein in seinem „wirklichen Wahrnehmen“ macht, sondern darauf reflektiert, was das soweit Erkannte für die philosophische Frage nach dem wahrhaft wissenden Bewusstsein bedeutet. Er markiert diesen Ebenenwechsel auch explizit dadurch, dass er die zweitgenannten Abschnitte mit folgenden Worten eröffnet: „Das Bewußtseyn durchlaufft ihn [sc. den Kreislauf des Übergangs von der sinnlichen Gewissheit zur Wahrnehmung] also Vgl. PhG, 74 f.: Von „Sehen wir nun zu …“ bis „… Kreislauff hineingerissen“.
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nothwendig wieder […]“80. Klarer könnte Hegel kaum anzeigen, dass die sodann folgenden Ausführungen, zu denen auch das soeben diskutierte Zitat zählt, von der Entwicklung der philosophischen Auffassung, was eine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist, handelt, und nicht – wie Brandom meint – von unserem sprachlichen Umgang mit konkreten (miss‑ oder gelingenden) Wahrnehmungsfällen von der Art der Wahrnehmung des gebrochenen Stabs. Welche Funktion aber hat nun Hegels Beschreibung der „Erfahrung“, die das Bewusstsein in seinem „wirklichen Wahrnehmen“ macht? Sie ist jedenfalls keine alltägliche Erfahrung, die als solche schon in jeder beliebigen Einzelwahrnehmung liegen würde (und daher nur noch expliziert zu werden bräuchte). Das ist daraus ersichtlich, wie Hegel sie einleitend charakterisiert: „Sehen wir nun zu, welche Erfahrung das Bewußtseyn in seinem wirklichen Wahrnehmen macht. Sie ist für uns in der so eben gegebenen Entwicklung des Gegenstandes und des Verhaltens des Bewußtseyns zu ihm schon enthalten; und wird nur die Entwicklung der darin vorhandenen Widersprüche seyn.“81
Eine alltägliche Wahrnehmungssituation oder unsere (Selbst‑)Erfahrung in einer solchen – wie Brandom es im Sinn hat – kann von Hegel also nicht gemeint sein. Denn all dies enthält offenbar nicht „die Entwicklung der […] Widersprüche“ der verkehrten Auffassung der Wahrnehmung; sonst würde ja jedes wahrnehmungsfähige Subjekt eo ipso ein Wissen von diesen Widersprüchen haben, eine falsche Auffassung daher gar nicht wirklich existieren können.82 Was Hegel stattdessen meint, wird klar, wenn man sich vor Augen führt, dass er im Anschluss an dieses einleitende Zitat – nach einem kurzen, wiederholenden Referat des wesentlichen Widerspruchs zwischen (positiver) Einzelheit und (negativer) Allgemeinheit – auf die oben diskutierte Problematik der als-Struktur zu sprechen kommt. Wie gesagt, behauptet er damit nicht, dass man in einer tatsächlichen Wahrnehmung unmittelbar die Widersprüche dieser Problematik sehen oder beobachten könnte. Das ist schon deshalb unmöglich, weil sie sich ja – als Widersprüche – gar nicht unmittelbar ereignen können. Was Hegel meint, ist vielmehr, dass die Widersprüche durchaus sinnlich-anschaulich – oder sinnlich-anschaulich zu machen – sind und in diesem Sinne einen Niederschlag in der Wahrnehmung haben: nämlich darin, dass wir uns alle vor Augen führen können, wie z. B. das uns umgebende Arbeitszimmer ohne den uns vertrauten, konkreten Zuschnitt der als-Struktur aussehen würde: es kann uns gelingen, momenthaft den Stuhl nicht als Teil der Sitzgruppe und die Bücherreihe nicht als Bücherreihe zu sehen. In solchem Sehen macht man die Erfahrung, dass wir im Prinzip alles PhG, 75. PhG, 74. 82 Hier wird schon deutlich, dass Hegel die bei Rödl (v. a. Rödl 2017 und 2018) zu beobachtende Identifizierung von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis ablehnt. Selbstmissverständnisse sind kein Schein, sondern Wirklichkeit; in meinem Ichsein und dessen Vollzügen liegt nicht schon mein-mich-selbst-Erkennen oder ‑Verstehen. 80 81
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2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“
anders sehen können, als wir es normalerweise tun; und dass das Sehen-als also wesentlich von uns und unserem Willen abhängt.83 Dieser „Selbstversuch“ kann nun fortgeführt werden: man kann versuchen, das Buch einmal nicht als Buch, sondern als bloße Anhäufung von farbigen Kartonstücken und diese als „eigentliche“ Gegenstände zu sehen – deren Zuschnitt man dann wiederum als willkürlich verstehen und so versuchen kann, jedes beliebige Stückchen des farbigen Kartons als „Gegenstand“ zu sehen. Allerdings, so ergibt der Selbstversuch weiter, lässt sich nicht „weniger“ sehen als Farbflecken, die Raumstellen besetzen. Auf die Signifikanz dieses Befundes wird an anderer Stelle zurückzukommen sein (vgl. Kapitel 4). Hier ist festzuhalten, dass besagter „Selbstversuch“ diejenigen Fragen erneut – nun aber anschaulich fundiert – aufwirft, die sich aus der philosophischen Zurückweisung des Standpunktes der „Wahrnehmung“ schon ergeben haben – beispielsweise diese: Wie ist es möglich, dass wir etwas als sound-so sehen, obwohl wir es prinzipiell auch anders sehen könnten? Wie ist der Befund zu interpretieren, dass offenbar nicht die Dinge entscheiden, wie sie zu sehen sind? Diese Fragen resultieren in der Tat, wie Hegel sagt, aus der „Entwicklung der Widersprüche“ der Passivitätsauffassung: denn sie sind diejenigen Fragen, die sich gar nicht stellen dürften, wenn die Passivitätsauffassung Recht hätte. Die an der Passivitätsauffassung aufgewiesenen Widersprüche haben in diesem Sinne also einen Niederschlag im „wirklichen Wahrnehmen“: Man kann, wie Hegel sagt, eine „in der Erfahrung“ vor sich gehende „Entwicklung der […] Widersprüche“ vollziehen. Durch diese Ausdrücke unterscheidet Hegel solches klar von einem unmittelbaren Erfahren der Widersprüche als solchen; diese können, da das Widersprüchliche nicht als solches Gegenstand unserer Wahrnehmung ist, in ihrer logischen Form nicht anders erfahren werden als durch ihr erkenntnismäßiges Durchschautwerden – welches zu durchschauen wiederum die weitere Aufgabe der Phänomenologie des Geistes ist. Die anschauliche „Entwicklung“ der Widersprüche hat aber eines klar gezeigt: Wir alle leben anders (und nehmen anders wahr), als es unsere „natürliche“ Auffassung besagt. Und in diesem Sinne leben wir alle im Widerspruch.84 83 Man mag – mit Wittgenstein – den philosophischen Wert der Reflexion auf das anschauliche Aspektsehen darin sehen, dass es uns auf das uns anschaulich nicht unmittelbar zugängliche, aber dennoch immer schon von uns geleistete „Sehen-als“ hinstößt. 84 Emundts 2012: 77 ff. ist in dieser Hinsicht also zunächst zuzustimmen. Sie sieht klar, dass unsere Erfahrung im wirklichen Wahrnehmen Anlass für die Revision (verkehrter) philosophischer Auffassungen sein kann. Doch: Dies setzt, wie mir scheint, bereits eine bestimmte Akzeptanz und Bewertung dieser Erfahrung voraus, die man erst nach Überwindung dieser verkehrten philosophischen Auffassungen hat und haben kann. Deshalb scheint es mir unmöglich, den Selbsterkenntnisfortschritt in Hegels Phänomenologie des Geistes als durch diese Erfahrungen in einer nicht-zirkulären Weise für möglich zu halten. (Zur Zirkularität als Wesensmerkmal der Philosophie als Selbsterkenntnis und Metaphysik werden wir in Kapitel 7 einiges zu sagen haben.) Das aber impliziert, dass solche Erfahrung im wirklichen Wahrnehmen „nur“ bestätigende oder illustrative Funktion für die schon geleistete Selbsterkenntnis haben kann, wie es in unserer Darstellung auch der Fall ist. Emundts 2012: 86 reflektiert selbst auf diesen Punkt.
2.4 Das Hervortreten des Wahren der philosophischen Selbsterkenntnis in der Prüfung 87
Ad (ii). Hegel beschließt den Absatz, der auf denjenigen zur „Erfahrung“ im „wirklichen Wahrnehmen“ folgt und also wieder ganz der philosophischen Reflexion gewidmet ist, so: „Das Verhalten des Bewußtseyns, das nunmehr zu betrachten ist, ist also so beschaffen, daß es nicht mehr bloß wahrnimmt, sondern auch seiner Reflexion in sich bewußt ist, und diese von der einfachen Auffassung selbst abtrennt.“85
Brandom könnte hier für seine Lesart ins Feld führen, dass Hegel davon spricht, dass das Bewusstsein „nicht mehr bloß wahrnimmt“ – was nahezulegen scheint, dass er unmittelbar vorher beschrieben hat, dass und wie es „bloß wahrnimmt“ (im Sinne von „tatsächlich wahrnimmt“). Doch auch hier handelt es sich um ein Missverständnis des Textes – aus zwei Gründen: zum einen wurde soeben ja derjenige Ort, wo Hegel auf eine tatsächliche Wahrnehmung hinweist, markiert und eingegrenzt. Zum anderen – und das ist der hier entscheidende Punkt – spricht es gerade nicht gegen die hier vorgetragene Lesart, dass Hegel im Absatz, aus dem soeben zitiert wurde, einerseits auf der Ebene der philosophischen Reflexion über das wahrhaft wissende Bewusstsein spricht (und nicht einen wirklichen Wahrnehmungsakt beschreibt), andererseits davon spricht, dass das Bewusstsein „nicht mehr bloß wahrnimmt“. Denn auf dieser Ebene der philosophischen Reflexion ist es gerechtfertigt, den von Hegel kritisierten Standpunkt so zu beschreiben, dass auf ihm das Bewusstsein „bloß wahrnimmt“. Warum? Der Standpunkt besteht – als Standpunkt – doch gerade darin, dass nicht bloß wahrgenommen wird, sondern (zudem) etwas über die Wahrnehmung behauptet wird; nämlich, dass sie Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sei. Welchen Sinn macht es also, wenn Hegel hier sagt, dass auf ihm das Bewusstsein „bloß wahrnimmt“? Man muss diese Phrase mit Betonung auf „wahrnimmt“ lesen; dann besagt sie, dass das Bewusstsein auf ihr bloß wahrnehmen, also die Wahrnehmung vollziehen, kann (das kann ja jedes Bewusstsein, unabhängig von seiner Auffassung über die Wahrnehmung), aber nichts Wahres über die Wahrnehmung sagen kann. Nur das Wahrnehmen kann ihm gelingen, nicht aber das Philosophieren. Denn es kann ja weder wissen, dass seine Wahrnehmung das sich selbst als so-und-so Zeigen der Objekte (und damit Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins) ist – denn diese Auffassung ist ja falsch –, sondern dies bloß meinen; noch kann es dies konsequent zu Ende gedacht meinen: denn dies konsequent zu Ende gedacht zu meinen, würde zumindest bedeuten, einzusehen, dass dieses von ihm für Wissen gehaltene Meinen offenbar kein Wahrnehmungswissen sein kann. Würde es dies einsehen, würde es offensiv die These vertreten – bekennen – müssen, dass zumindest nicht nur die Wahrnehmung eine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist. Sofern der von Hegel kritisierte Standpunkt behauptet, dass Wahrnehmung PhG, 75.
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2 Das Kapitel „Die Wahrnehmung“
die einzige Form wahrhaft wissenden Bewusstseins sei, ist er als philosophischer Standpunkt in sich selbst widersprüchlich. Nun ist es dem Standpunkt aber nicht wesentlich eingeschrieben, dies zu behaupten. Der Standpunkt kann sich vielmehr so definieren, dass er keine Auffassung darüber hat, warum das Wissen, in dem er zu bestehen meint, Wissen sein soll. Prima facie stellt dies lediglich eine an sich kontingente Unvollständigkeit dieses Standpunktes dar, welche der scheinbaren Wahrheit der Auffassung, dass die Wahrnehmung eine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist, äußerlich bleibt. Doch dem ist nicht so: da es sich bei diesem vermeintlichen Wissen ja nicht um ein tatsächliches Wissen handelt – die Auffassung ist ja falsch –, folgt auch, dass es kein Wissen darüber geben kann, wie dieses Wissen möglich ist. Es kann nur ein Wissen darüber geben, wie es zu diesem scheinbaren Wissen kommt. Dieses Wissen aber ist Teil der philosophischen Selbsterkenntnis, wie sie von Hegel weiter vollzogen wird – also derjenigen philosophischen Selbsterkenntnis, die die Unwahrheit besagten Standpunktes schon durchschaut hat. Sie ist diesem Standpunkt somit prinzipiell nicht zugänglich. Auf ihm kann es wiederum lediglich ein Meinen darüber geben, wie es zu seinem (vermeintlichen) Wissen kommt.
3 Das Kapitel „Krafft und Verstand“ 3.1 Zur Rolle des Kapitels „Krafft und Verstand“1 Die dialektischen Erörterungen des Wahrnehmungskapitels ließen das Bewusstsein auf dasjenige stoßen, was Hegel „Gedankendinge“ nennt – seine Version der kantischen „Kategorien“. Es hat sich gezeigt, dass diese „Gedankendinge“ die logische als-Struktur jeder Wahrnehmung konstituieren – und dass sie, wie alle allgemeinen Bestimmungen (oder Begriffe), vonseiten des Subjekts ins Werk zu setzen sind. Nun könnte man meinen, damit sei bereits der Übergang zum Selbstbewusstsein gemacht: denn insofern in jeder Wahrnehmung – in der Form des Objekts als so-und-so – diese Kategorien am Werk sind, stößt das Bewusstsein in jeder Wahrnehmung insofern auf sich selbst, als diese Kategorien eben von ihm ins Werk gesetzt sind; damit ist in jedem Wahrnehmungsakt Selbstbewusstsein. Hegel schreibt entsprechend, „daß in der Existenz alles Bewußtseyn eines andern Gegenstandes Selbstbewußtseyn ist; Ich weiß von dem Gegenstande als dem Meinigen (er ist meine Vorstellung), Ich weiß daher darin von mir“2.
Nun liegen in dem so skizzierten Übergang zum Selbstbewusstsein jedoch noch zwei Unklarheiten – genauer: zwei Aspekte einer Unklarheit. Die Plausibilität des Übergangs lebt – auf dem jetzigen Stand der Untersuchung – von einem Bild, das bei näherer Betrachtung unangemessen ist: dass das Subjekt „im“ Inhalt seines Bewusstseins‑ oder, spezifischer, Wahrnehmungsaktes Gedankendinge „findet“ – analog wie man eine Figur auf einem Bild oder ein Ding in einem Raum findet. Nun lässt sich leicht entgegnen, dass es so nicht gemeint sei. Doch das beantwortet noch nicht die Frage, wie es dann gemeint ist. Dieses Bild hat seine Plausibilität deshalb, weil die Gedankendinge noch als Gedankendinge aufgefasst werden, als „etwas“, das man „irgendwo“ „finden“ kann. Dies führt uns zum zweiten Aspekt des Problems: Die Rede, dass Gedankendinge vom Subjekt ins Werk gesetzt werden, ist – genauer besehen – ebenfalls unscharf. Denn „Dinge“ können nicht ins Werk gesetzt werden. Gemeint sollen freilich Gedankendinge als Begriffe sein; und Begriffe können ins Werk gesetzt – ak Fortan wird die modernisierte Schreibweise „Kraft und Verstand“ verwendet. Enz. 1830, § 424.
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3 Das Kapitel „Krafft und Verstand“
tualisiert – werden. Doch dieses ins-Werk-gesetzt-Werden ist ihnen nicht äußerlich, wie es einem Ding etwa äußerlich ist, ob ich es emporhebe oder nicht. Es ist also der Begriff des Gedankendings in einen nicht-dinghaften Begriff des Begriffs zu transformieren, mit dem der Gedanke seiner (aktiven) Aktualisierung tatsächlich gedacht werden und durch den sodann auch Selbstbewusstsein ohne Rekurs auf das beschriebene, fragwürdige Bild verständlich werden kann.3 Thetisch gesagt, muss also der Begriff eines – statischen – Gedankendings dynamisiert werden zu einem Begriff des Begriffs. Schon von daher ist initial verständlich, warum Hegel zufolge der Kraftbegriff in diesem Übergang eine – ja die – Rolle spielt: denn er ist „weniger“ dinghaft als derjenige des Dings, aber noch „dinghafter“ als derjenige des Begriffs. Durch ebendiese Zwischenstellung wird er im Kapitel „Kraft und Verstand“ die Funktion des Übergangs vom bisher erreichten Stand der Untersuchung zum Standpunkt des „Selbstbewusstseins“ übernehmen.4 Hegel selbst fasst die Notwendigkeit dieses Zwischenschritts so zusammen: „Diß unbedingte Allgemeine, das nunmehr der wahre Gegenstand des Bewußtseyns ist, ist noch als Gegenstand desselben; es hat seinen Begriff als Begriff noch nicht erfaßt. Beydes ist wesentlich zu unterscheiden; dem Bewußtseyn ist der Gegenstand aus dem Verhältnisse zu einem andern in sich zurück gegangen, und hiemit an sich Begriff geworden; aber das Bewußtseyn ist noch nicht für sich selbst der Begriff, und deßwegen erkennt es in jenem reflectirten Gegenstande nicht sich.“5
Das „unbedingte Allgemeine“ ist, was Hegel im Wahrnehmungskapitel als „Gedankendinge“ angesprochen hat – es ist das wahre „Allgemeine“, d. h. der Begriff, der nicht mehr aufgefasst wird als eine vom Objekt in kausaler Weise ausgehen könnende (vermeintlich) allgemeine Bestimmung, zum anderen „unbedingt“, weil es sich bei den „Gedankendingen“ um Begriffe handelt, die für die Form der Wahrnehmung, für die als-Struktur als solche, notwendig und konstitutiv sind, nicht nur für Wahrnehmungen diesen oder jenen Inhalts.6 Von diesem 3 Emundts 2012: 219 ff. [v. a. 295] ist unbedingt darin zuzustimmen, dass die oft unterschätzte Bedeutung des Kapitels „Kraft und Verstand“ somit in nicht weniger besteht als darin, dass Hegel dort die (kantische) transzendentale Wende dynamisch (nach‑)vollzieht. Auch Emundts stellt heraus, dass in „Kraft und Verstand“ der Begriff allgemeiner, begrifflicher Bestimmung so entwickelt wird, dass er im Ausgang davon als „Tätigkeit“ des Subjekts verstanden werden und somit dessen Selbstbewusstsein qua dieser Tätigkeit begriffen werden kann. Ihre Lesart scheint mir also in diesen wesentlichen Zügen richtig zu sein. 4 Vor diesem Hintergrund zerstreut sich auch der prima facie vielleicht entstehende Eindruck, Hegel habe mit dem Kapitel „Kraft und Verstand“ ein an sich nicht notwendiges Kapitel in den Gang der Phänomenologie des Geistes „eingeschleust“, um gleichsam „nebenher“ noch (s)eine Kant-Kritik und bestimmte naturphilosophische Einlassungen „unterzubringen“. Zum Verhältnis von (vielleicht) zeitgebundenen und universalen Problemen in „Kraft und Verstand“ haben sich etwa Siep 2000 und Bowman 2008 geäußert. 5 PhG, 82. 6 Und sie sind, wie gesagt, nicht nur in der Wahrnehmung aktualisiert und für ihre Form des Erscheinens konstitutiv, sondern auch für alle (weiteren) Formen des Denkens.
3.1 Zur Rolle des Kapitels „Krafft und Verstand“
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unbedingten Allgemeinen stellt Hegel also fest, dass es „nunmehr der wahre Gegenstand des Bewußtseyns ist“. Das bedeutet zweierlei – entsprechend den in Kapitel 1 unterschiedenen zwei Ebenen der Phänomenologie des Geistes: (i) Zunächst meint es das, was in der obigen Andeutung des Übergangs zum „Selbstbewusstsein“ schon gesagt wurde: die reinen Verstandesbegriffe sind philosophisch erkannt als dasjenige, was die als-Struktur als solche wesentlich konstituiert; in diesem Sinne sind sie also auch Gegenstand des wahrhaft wissenden, nämlich des philosophisch erkennenden Bewusstseins. (ii) Sie sind erkannt als in jedem Akt der Wahrnehmung (und des Bewusstseins überhaupt) am Werk. Das impliziert: In solchen Akten ist das Ich selbst, in Form der Aktualisierung dieser Verstandesbegriffe, enthalten und weiß so von sich selbst; jeder Akt des Bewusstseins ist wesentlich selbstbewusst. Deshalb wird nach dem Übergang in „Kraft und Verstand“ Selbstbewusstsein der nächste Kandidat für die Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sein. Hegel macht im Zitat aber auch darauf aufmerksam, dass das Wort „erkannt“ noch nicht wirklich am Platze ist; bislang sind wir eher mit dem „unbedingte[n] Allgemeinen“ bekannt worden. Er drückt dies so aus: „Diß unbedingte Allgemeine, das nunmehr der wahre Gegenstand des Bewußtseyns ist, ist noch als Gegenstand desselben; es hat seinen Begriff als Begriff noch nicht erfaßt.“ Es ist also nicht – wie soeben in (i) und (ii) festgehalten – bloß „Gegenstand“ im unschuldigen Sinne des Wortes, als ein „Gegenstand der Erkenntnis“; sondern es ist noch Gegenstand im Sinne einer Vergegenständlichung von etwas, das in Wahrheit nicht Gegenstand ist. Hegel schreibt deshalb, dass das, was in der Tat „an sich“ (also in Wahrheit) ein Begriff ist – nämlich die „Gedankendinge“ – erfasst wurde, aber noch nicht als Begriff erkannt, sondern eben – und deshalb verwendet Hegel diesen betont gegenständlichen Ausdruck – als Gedankending. Nochmals Hegels Wortlaut: Der zu betrachtende Gegenstand sei „an sich Begriff geworden; aber das Bewußtseyn ist noch nicht für sich selbst der Begriff, und deßwegen erkennt es in jenem reflectirten Gegenstande nicht sich.“7 Deshalb, 7 PhG, 82 [Hvh. T. O.]. Von daher ist zu erklären, dass Hegel weder im Kapitel „Die Wahrnehmung“ noch im Kapitel „Kraft und Verstand“ affirmativ von „Begriffen“ spricht, also dem kritisierten Standpunkt einen Begriff des Begriffs zuerkennt. Denn die dinghafte (und positive) Auffassung des Begriffs ist eben keine Auffassung des Begriffs. Das ist insofern wichtig, als Hegels Verzicht auf den Gebrauch des Wortes „Begriffs“ von manchen Interpreten so missverstanden wird, als würde er in den besagten Kapiteln einen Standpunkt vorbegrifflicher Wahrnehmung diskutieren – in dem Sinne, dass dieser Standpunkt gar nicht beansprucht, dass in der Wahrnehmung Begriffe am Werk sind. Er tut dies sehr wohl – aber er kann es in seiner Fassung nicht fassen, nicht einlösen. McDowell 2018 scheint immerhin zuzugeben, dass Hegel den Standpunkt der „Wahrnehmung“ so fasst, dass dieser selbst die Aktualisierung von Begriffen für seine Bestimmung der Wahrnehmung in Anspruch nimmt. So beschreibt der den Übergang von der „sinnlichen Gewissheit“ zur „Wahrnehmung“ als Übergang „from a shape of consciousness conceiving itself as sense-certainty, so that the being for it of its objects is immediate presence to the senses, to perception, which knows that the presence of objects to it is mediated by concepts.“ (McDowell 2018: 39 [Hvh. T. O.])
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3 Das Kapitel „Krafft und Verstand“
weil es noch nicht „sich“ als wesentlich Nichtdinghaftes erkennt, ist es auch noch nicht zur Erkenntnis des Selbstbewusstseins vorgedrungen. Führen wir diesen Gedanken weiter: Ein Begriff ist erst dann als Begriff begriffen, wenn sein am-Werk-Sein und, sofern vom Bewusstsein und der Wahrnehmung die Rede ist, sein am-Werk-Sein in Akten des Bewusstseins – z. B. Wahrnehmungsakten – begriffen ist. Das ist deshalb so, weil Begriffe eben nicht Dinge sind, die gebraucht werden können, aber auch unter Abstraktion von ihrem Gebrauch sind, was sie sind; vielmehr sind es „Dinge“, für die es wesentlich ist, dass sie „gebraucht“ werden, also ins Werk gesetzt oder aktualisiert werden. Präziser gesagt – und darauf wird in Kapitel 5 genauer zurückzukommen sein –, handelt es sich bei Begriffen um Vermögen, und Vermögen sind erst dann begriffen, wenn die Art(en) ihrer Aktualisierung begriffen ist (bzw. sind). Nun ist aber die Art und Weise des am-Werk-Seins oder ins-Werk-Bringens – die Art der Aktualisierung von Begriffen – in der Wahrnehmung noch nicht begriffen, jedenfalls nicht positiv. Es wurde lediglich gezeigt, dass begriffliche Akte nicht von Objekten ausgehen können, da der Gedanke der (negativen) Allgemeinheit, der im Gedanken eines begrifflichen Aktes enthalten ist, im Widerspruch steht zur Positivität, die im Gedanken der Kausalität enthalten ist. Damit ist impliziert, dass die Aktualisierung des Begriffs durch das (geistige) Subjekt – allein von ihm aus – zu erfolgen hat. Doch es ist bislang nicht begriffen worden, wie dies im Subjekt – durch es, von ihm aus – möglich und realisiert ist. Genauer gesagt: Welche Art von Aktivität ist es, in der das Subjekt die Begriffe so aktualisiert, dass ein Wahrnehmungsakt resultiert? Hier zeigt sich, dass im Zentrum des Kapitels „Kraft und Verstand“ diese Frage steht: Wenn die Passivitätsauffassung der Wahrnehmung falsch ist, welche Art von Aktivität des Subjekts ist es, mittels der Begriffe in der Wahrnehmung aktualisiert werden? Die Antwort Hegels wird sein: die Aktivität der Aufmerksamkeit. In unserer Einleitung haben wir – auch anhand von Beispielen – angedeutet, was diese Antwort bedeuten könnte. Im Kapitel „Kraft und Verstand“ wird Hegel nun aber nicht einfach von der Aktivität der Aufmerksamkeit ausgehen und diese als eine dem bisherigen Gedankengang externe Voraussetzung einführen. Vielmehr wird das Resultat der Diskussion des Wahrnehmungskapitels in „Kraft und Verstand“ an einen Punkt geführt, wo wir – nach dem Scheitern der versuchsweisen Applikation des Kraftbegriffs auf die Wahrnehmung – auf die Aktivität der Aufmerksamkeit stoßen werden, im Sinne einer philosophischen Klärung dessen, was wir „Aufmerksamkeit“ nennen – und werden so auf sie als etwas stoßen, das kein der Wahrnehmung externer (seinerseits kausaler) Faktor ist. Genauer gesagt, wird Hegel letztlich also folgende Frage behandeln, entwickeln und einer Antwort zuführen: Wie ist die Wahrnehmung positiv als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen zu begreifen, wenn gezeigt werden kann, dass die Wahrnehmung nicht
3.2 Zum Begriff der „Kraft“
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eine vom Subjekt auf das Objekt ausgeübte Kraft ist, die ihrerseits eine vom Objekt auf das Subjekt wirkende Kraft ins Werk setzt? Der Verlauf dieses 3. Kapitels wird zeigen, worin der nähere Erkenntniswert besteht, die Frage nach der wahren Auffassung der Wahrnehmung in dieser Form – unter Rekurs auf den Kraftbegriff – anzugehen. Zunächst ist aber herauszuarbeiten, wie der Begriff der „Kraft“ überhaupt ins Spiel kommt und kommen darf, wenn auch er keine von außen in den Gedankengang eingeschleuste Voraussetzung sein soll.
3.2 Zum Begriff der „Kraft“ – auf dem Weg von einer dinghaften zu einer dynamischen Auffassung begrifflicher Repräsentation Wie also stößt das Bewusstsein – auf seinem Erkenntnisstand im Ausgang des Wahrnehmungskapitels – immanent auf den Begriff der „Kraft“? Das Gedankending, so hat sich gezeigt, kann keine allgemeine Bestimmung sein, die vom Objekt ausgeht, von ihm ins Werk gesetzt wird: ein Objekt kann sich nicht von sich aus in kausaler Weise als Eines zeigen. Das Gedankending, so hat sich weiter gezeigt, ist in jedem Wahrnehmungsinhalt – qua logischer als-Struktur – wesentlich enthalten; es ist aber nicht etwas, das selbst als eine Eigenschaft eines Dings wahrgenommen werden könnte oder von dem es Grund gibt oder Sinn macht, es als selbstständiges Ding zu denken (im Sinne eines Seins unter Absehung seines amWerk-Seins in repräsentationalen Akten). Damit haben sich zwei wesentliche Bestimmungsmomente des Gesuchten – des (reinen) Begriffs, als erkannter Nachfolgegestalt des „Gedankendings“ – ergeben: (i) dass es in allen (möglichen) Wahrnehmungsakten, als logische Form ihres Objekts, am Werk ist, aber über (dieses) am-Werk-Sein hinaus kein Sein hat und zudem nicht selbst ein Objekt ist. (ii) dass dieses am-Werk-Sein notwendig vom Subjekt ausgeht, da es unmöglich vom Objekt ausgehen kann. Beide Bestimmungsmomente (i) und (ii) zusammen führen, wie es nun scheint, auf den Kraftbegriff. Denn: – eine Kraft ist wesentlich etwas, das nur in seiner „Äußerung“ oder „Wirkung“ wirklich ist (= (i)), das unbeschadet dessen jedoch auf das, woran sie sich äußert, „von außen“ einwirkt (= (ii)). So scheint es auch mit den „Gedankendingen“ (und den Begriffen überhaupt8) zu sein: Das Subjekt setzt sie „am“ Objekt ins Werk, indem es auf das Objekt „einwirkt“; wobei die „Auswirkung“ dieses insWerk-Setzens eben der repräsentationale Wahrnehmungsakt ist, das Erscheinen
8 Anders als für die „Gedankendinge“ gilt für empirische Begriffe natürlich, dass sie nicht notwendig in jedem Wahrnehmungsakt qua Wahrnehmungsakt am Werk sind.
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des Objekts als so-und-so. Sollte dem so sein, wäre der Begriff gleich wie die Kraft definiert –– durch die Strukturmomente zweier Relata (hier: Subjekt und Objekt), die die Ansatzpunkte der Kraftwirkungen sind; –– in ihrer jeweiligen Richtung von einem Relatum zum anderen (hier: vom Subjekt zum Objekt und umgekehrt). – Schließlich: Die Einwirkung wäre – gleich wie bei der Kraft – eine Veränderung dessen, worauf sie wirkt oder an dem sie wirkt: das Subjekt repräsentiert das Objekt (macht es von einem nicht-Repräsentierten zu einem Repräsentierten); die Auswirkung ebenso: das Objekt erscheint dem Subjekt (macht es von einem Subjekt ohne Wahrnehmung dieses Objekts zu einem Subjekt mit Wahrnehmung dieses Objekts). Bevor wir die in diesen Parallelen ausgewiesene (scheinbare) Tauglichkeit des Kraftbegriffs zur Aufklärung des Begriffs – begrifflicher Akte der Repräsentation – genauer untersuchen, bedarf es zunächst einer Klärung der genannten Bestimmungsmomente des Kraftbegriffs anhand eines Beispiels aus dem Feld der bewegten Natur, wo der Kraftbegriff ursprünglich und unstrittig seinen Sinn hat: Das Sein der Schwerkraft etwa besteht in ihrer Wirkung, die Gegenstände zur Erde fallen zu lassen; zugleich aber wird diese Kraft als etwas vorgestellt, das von der Erde ausgehend – von außen – auf die Gegenstände wirkt und beispielsweise die Richtung ihrer Flugbahn verändert. Das klingt zunächst widersprüchlich: Die Kraft soll nur da wirklich sein, wo sie sich äußert – also am Gegenstand, insofern er fällt –, und gleichzeitig schon wirksam gewesen sein, indem sie auf ihn eingewirkt hat – gleichsam bevor er fällt –, sodass er erst fällt. In diesem scheinbaren Widerspruch liegt aber gerade das logische Wesen des Kraftbegriffs: Die Kraft ist immer nur zu verstehen als die Einheit zweier Momente, die nur beide sein können, von denen aber nicht nur eines (und das andere nicht) sein kann. Das bedeutet: Es lassen sich durchaus zwei Momente unterscheiden – Einwirkung und Auswirkung –, aber nicht so, dass die Einwirkung auch ohne Auswirkung sein könnte. Dies lässt sich unter Rekurs auf das Begriffspaar von Ursache und Wirkung weiter aufklären: Wir sagen, die Krafteinwirkung eines Gegenstands x (z. B. einer Billardkugel x) auf einen anderen (z. B. eine Billardkugel y) ist die Ursache von dessen Bewegung. Die Kraft ist nicht dieser Gegenstand x, sondern die Kraft ist die Wirkung dieses Gegenstands auf den anderen, in Richtung von x nach y; die Wirkung dieses Gegenstands x auf den Gegenstand y aber ist als solche zugleich das, was sie bewirkt, also die Bewegung des Gegenstands y. Wir verwenden den Begriff der „Wirkung“ deshalb in diesen beiden Bedeutungsaspekten: wir sagen, x hat auf y eine Wirkung – und identifizieren mit der Wirkung zugleich das, was bewirkt wird; hier: die Bewegung. Das führt uns zurück zu den schon erwähnten zwei Momenten der Kraft: Wir können unterscheiden das initiale Moment – etwas wirkt auf etwas anderes – und das resultative Moment – etwas hat am
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anderen diese Wirkung; kurz könnte man auch sagen, die Wirkung der Kraft ist immer sowohl eine Einwirkung als auch eine Auswirkung9. Das Verhältnis beider ist also logisch parallel zu dem von Ursache und Wirkung, die es auch immer nur als zusammen – in Einheit – gibt. Nun ist diese logische Struktur des Kraftbegriffs auf den Akt der begrifflichen Repräsentation zu beziehen, welcher die Wahrnehmung ist. Wählen wir als Beispiel zunächst wieder einen Farbbegriff: Das Erscheinen des Wahrnehmungsobjekts als rot ist, wie die Diskussion im Wahrnehmungskapitel gezeigt hat, nicht als Akt, der vom Objekt ausgeht, zu verstehen. Die zentrale Idee von „Kraft und Verstand“ besteht nun darin, dieses Erscheinen als Äußerung einer Kraft, die „von außen“ – nämlich vom Subjekt aus – auf das Objekt einwirkt, zu verstehen, also als ihre Wirkung, die diese Kraft auf das Objekt und an ihm hat. Dabei gilt, wie eben dargelegt, dass die Wirkung dieser Kraft auf das Objekt nicht wirklich ist ohne das, was sie im oder am Objekt bewirkt: dessen Erscheinen als rot für das Subjekt. Klären wir dieses Analysemodell der Kraftwirkung in drei Schritten noch etwas genauer auf, indem wir es zum Standpunkt des Wahrnehmungskapitels in ein Verhältnis setzen: (i) Der Kraftbegriff lässt sich auf den bloßen Begriff der (vom Subjekt ausgehenden) Repräsentation wie folgt beziehen: Indem ich aktiv Begriffe ins Werk setze, repräsentiere ich etwas als so-und-so; dadurch, dass ich es repräsentiere, stellt es – wie man bisweilen sagt – sich als so-und-so dar. Während die Passivitätsauffassung die Phrase „es stellt sich als so-und-so dar“ isoliert nimmt und sie nicht als eine Redeweise versteht, die nur in Bezug auf unsere repräsentationale Aktivität überhaupt Sinn macht, verhält sie sich analog zu jemandem, der behauptet, die Billardkugel aus unserem obigen Beispiel würde sich von selbst bewegen (– während bekannt ist, dass die in der Tat geläufige Redeweise „die Billardkugel bewegt sich“ nur dann unmissverständlich ist, wenn man hinzusetzt, dass sie sich nur deshalb bewegt – und bewegen kann –, weil eine Kraft auf sie eingewirkt hat). Mit dem Kraftbegriff ist also ein erster entscheidender Schritt über den Mythos der „Selbstbewegung“ von Objekten hinaus getan, der
9 Daran zeigt sich, dass der Begriff der Kraft nur mit dem Begriff der Kausalität zu begreifen ist. Beide unterscheiden sich aber darin, dass die Kraft als etwas Wirkliches gedacht wird, das mit den Begriffen der „Ursache“ und „Wirkung“ in seiner Wirklichkeit zu explizieren ist. Die Kraft ist also eine wirkliche Instanziierung des an sich abstrakten Kausalitätsverhältnisses. Insgesamt bedeutet das, dass die in „Kraft und Verstand“ verhandelten Begriffe durch und durch diejenigen der Wesenslogik sind. – Man kann einwenden, dass bestimmte Kraftbegriffe der modernen Physik durch diesen Kraftbegriff nicht abgedeckt sind – gleich wie ein bestimmtes Verständnis von Kausalität der modernen Physik nicht genügen mag. Doch das ist für die hiesige Untersuchung nicht weiter relevant; denn es ist ja gerade dieser mechanistisch-kausal verfasste Kraftbegriff, der scheinbar der inneren Notwendigkeit und Normativität von Akten begrifflicher Repräsentation entspricht – was er letztlich nicht tut, wie wir im Folgenden einsehen werden.
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sich in der Passivitätsauffassung der Wahrnehmung im (Un‑)Gedanken des sichvon-sich-aus-Zeigens niederschlägt. (ii) Mit dem Kraftbegriff kann aufgrund seiner dargestellten Bestimmungsmomente dem Begriff der negativen Allgemeinheit zumindest im Ansatz in einer Weise Rechnung getragen werden, wie dies mit den Begriffen der Passivitätsauffassung unmöglich war. Eine Kraft lässt sich nämlich beispielsweise definieren als „etwas, das alles, was rot ist, als rot erscheinen lässt und zugleich alles, was grün ist, als grün erscheinen lässt“10. So ist immerhin in einer einzigen Instanz – in einer einzigen Kraft – dasjenige zusammengefügt, was dem positiven Begriff des Begriffs gemäß als zwei getrennte, gegeneinander gleichgültige Begriffe zu gelten hat. (iii) Aus (i) und (ii) zusammen ergibt sich: Das Objekt O muss eine determinierende Wirkung haben. D. h. es legt fest (oder durch es ist festgelegt), ob die Auswirkung der eingewirkten Kraft im obigen Beispiel ein Erscheinen von O als rot oder ein Erscheinen von O als grün ist. Diese determinierende Wirkung nun scheint ihrerseits prima facie gut durch das logische Verhältnis der Kraftwirkung zu fassen zu sein: Sie entspricht beispielsweise der Masse der Billardkugel, durch die festgelegt ist, wie sich die eingewirkte Kraft auswirkt; offenkundig bewegt sich eine Billardkugel mit größerer Masse nicht gleich wie eine mit kleinerer Masse, trotz gleicher Krafteinwirkung in beiden Fällen. (Wenngleich es kein Zufall ist, dass es sich dabei um eine quantitative und nicht um eine qualitative Determination handelt. Wir werden sogleich sehen, dass in der Annahme einer solchen determinierenden Wirkung seitens des Wahrnehmungsobjekts tatsächlich eine tiefe Verwirrung liegt.) Nun können wir das Analysemodell der Kraftwirkung für den Akt der begrifflichen Repräsentation, welcher die Wahrnehmung ist, so zusammenfassen: Das Subjekt S wirkt mit einer Kraft – „etwas, das alles, was x ist, als x, und zugleich alles, was y ist, als y erscheinen lässt“ – auf das Objekt O ein, dessen x-Sein eine determinierende Wirkung auf die Kraft so hat, dass der Krafteinwirkung folgende Kraftauswirkung von O nach S entspricht: das Erscheinen von O als x für S.
Die vorangegangenen Überlegungen zeigen zwar, dass mit dem Kraftbegriff durchaus ein wesentlicher Schritt über den positiven Begriff des Begriffs (wie auch über ein dinghaftes Verständnis der reinen Begriffe als „Gedankendinge“) hinaus getan ist. Doch Hegel führt den Gedankengang sogleich weiter, indem er aufzeigt, warum dieser Schritt ungenügend ist: „Diese Bewegung ist aber dasjenige was Krafft genannt wird; das eine Moment derselben, nemlich sie als Ausbreitung der selbstständigen Materien in ihrem Seyn[,] ist ihre Aeußerung; sie aber als das Verschwundenseyn derselben ist die in sich aus ihrer 10 Zur Veranschaulichung dieses Gedankens: Ein Test, bei dem Falschgeld unter einem bestimmten Licht blau aufleuchtet. Hier ist dieses spezielle Licht offenbar fähig, Falschgeld als blau und zugleich nicht-Falschgeld als nicht-blau erscheinen zu lassen.
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Aeußerung zurückgedrängte, oder die eigentliche Krafft. Aber erstens die in sich zurückgedrängte Krafft muß sich äußern; und zweytens in der Aeußerung ist sie ebenso in sich selbst seyende Krafft, als sie in diesem in sich selbstseyn Aeußerung ist.“11
Dieses sehr dichte, gehaltvolle Zitat soll nun in mehreren Schritten entfaltet werden. Wir hatten schon gesagt, dass eine Kraft (als eine „Bewegung“, wie Hegel sagt) nur in der Einheit von Einwirkung und Auswirkung wirklich ist. Intern damit verbunden ist nun ein weiterer Gedanke, den Hegel hier zunächst explizit macht: dass eine Kraft nicht nur keine Einwirkung ohne Auswirkung haben kann, sondern überhaupt kein wirkliches „Seyn“ ohne irgendeine Wirkung. Hegel nennt die Wirkung der Kraft ihre „Aeußerung“ – also ihr Hervortreten (und damit ihr Vernehmbarwerden) in ihrer Wirkung. Es kann nicht von einer Kraft „an sich“ die Rede sein, die sich prinzipiell nirgends äußert. So wäre beispielsweise die Annahme einer physikalischen Kraft, von der es keine Äußerung gibt, nicht nur aus Gründen der ontologischen Sparsamkeit zu unterlassen; eine solche wäre vielmehr begrifflicher Unsinn. Unbeschadet dessen ist nun aber die Differenz von einem „in sich selbstseyn“ der Kraft und ihrer „Aeußerung“ nicht verzichtbar. Denn es muss ja gesagt werden können, dass es „die“ Gravitationskraft ist (und „gibt“), die sich an diesem fallenden Stein äußert; dass sie sich also – unbeschadet der Tatsache, dass sie nicht wirklich wäre ohne wirkliche Äußerungen – nicht in diesen (oder allen) wirklichen Äußerungen erschöpft. Darin liegt ihre Potentialität. Die Gravitationskraft ist nicht die Menge oder Summe ihrer einzelnen wirklichen Äußerungen, noch wird sie durch eine größere Menge an solchen Äußerungen als Kraft „weniger“ (− und auch das gilt ganz analog für unsere repräsentationalen Vermögen); ihr prinzipielles über-den-Wirkungen-Sein – als „zurückgedrängte“ Kraft in ihrem „in sich selbstseyn“, wie Hegel sagt – fassen wir, wie Hegel im Kapitel „Kraft und Verstand“ ebenfalls ausführt, durch ein „Gesetz“, durch das wir einen allgemeingültigen Zusammenhang formulieren, dem gemäß alle möglichen materiellen Objekte dieser Kraft unterworfen sind. Hier tritt nun eine wichtige Wendung des Gedankens ein. Dieser gesetzmäßige Zusammenhang hat – wie am Beispiel der physikalischen Gesetze offenkundig ist – zur Implikation, dass das Bestimmtsein durch eine solche Kraft wesentlich ist für das Sein der materiellen Objekte. Ein solches Objekt ist also kein „fertiger“ Gegenstand, auf den akzidentellerweise eine Kraft wirken würde; sondern was ein solches Objekt ist, ist erst begriffen, wenn – unter anderem – die Kräfte begriffen sind, die und insofern sie immer schon auf ihn wirken. Es ist daher zu unterscheiden zwischen zwei Ebenen: – Der für ein materielles Objekt qua materielles Objekt wesentlichen Krafteinwirkung, die sich in der Physik etwa in Theorien über das Gravitationsfeld dar PhG, 84.
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gestellt findet. Auf dieser Ebene ist die Vorstellung, dass es ein materielles Objekt gibt, das noch nicht im Gravitationsfeld ist, sondern in ein solches erst hineintritt, inkohärent. – Einer für ein bestimmtes materielles Objekt nicht wesentlichen Krafteinwirkung, im Rahmen eines Ausschnitts bestimmter Kräfteverhältnisse innerhalb des (bereits vorausgesetzten) Gravitationsfeldes, z. B. beobachtbar in der Betrachtung eines Billardspiels. Auf dieser Ebene kann in der Tat gesagt werden, dass es das materielle Objekt (hier: die Billardkugel) schon als dieses Objekt gibt, bevor es einer bestimmten Kraft (hier: dem Stoß durch den Queue) ausgesetzt wurde. Nun ist offenkundig, dass wir uns auf der zweitgenannten Ebene befinden, wenn wir Kindern im Physikunterricht anschaulich erklären, was eine Kraft ist. Sofern die Kinder jedoch in ihrer physikalischen Bildung fortschreiten und die Kraft als Kraft sowie das materielle Objekt als materielles Objekt physikalisch theoretisieren werden, bedeutet das, auf die erstgenannte Ebene zu gelangen, auf der die Kraft nicht auf ein schon ohne sie „fertiges“ Objekt wirkt, sondern auf welcher Kraft und Objekte nur als Momente einer komplexen, höheren Einheit – der des Kraftfeldes – zu begreifen sind. Ein solches Kraftfeld ist also etwas kategorial Verschiedenes von einem bestimmten Szenario von Kraftwirkungen, etwa einem Billardspiel. Hier zeigt sich nun schon das erste wesentliche Problem des Versuchs, den Wahrnehmungsakt als Kraftwirkung zwischen Subjekt und Objekt zu begreifen: Von „philosophischem Begreifen“ könnte hier nur dann die Rede sein, wenn sich dieses auf dem Analogon zur erstgenannten Ebene der Physik befände. Das aber bedeutet, dass wir gar nicht sinnvoll von einem Objekt reden können, das noch nicht in einer Krafteinwirkung steht. Das ist, näher besehen, keine Überraschung, denn: Wir können eben von keinem Wahrnehmungsobjekt reden, das noch außerhalb der Wahrnehmung stehen soll. Positiv gewendet: Die „Kraft“ müsste etwas sein, das konstitutiv ist für das Sein des Wahrnehmungsobjekts. Das bedeutet, dass wir uns auch nicht denken können, dass ein Wahrnehmungsobjekt in das ein individuelles Subjekt umgebendes (oder von ihm aufgespanntes) „Kraftfeld“ hineintritt. Denn dann wäre es vorher kein Wahrnehmungsobjekt gewesen – und kann somit auch nicht als dieses in das „Kraftfeld“ hineingetreten sein. Das aber bedeutet, dass wir die Kraftwirkung gerade nicht auf die Art zur Analyse des Aktes der begrifflichen Repräsentation, welcher die Wahrnehmung ist, verwenden können, wie wir es oben versuchsweise getan haben. Denn darin war ja bereits das Wahrnehmungsobjekt vorausgesetzt, als das, worauf das Subjekt seine Krafteinwirkung richtet. Wir müssen stattdessen nach einer Analyse suchen, durch die gedacht wird, dass das Wahrnehmungsobjekt durch den Akt des Subjekts zuallererst konstituiert wird. Darauf wird zurückzukommen sein. Nun könnte man jedoch fragen, ob wir die versuchsweise Analyse des Aktes der begrifflichen Repräsentation, welcher die Wahrnehmung ist, als Kraft-
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wirkung nicht zumindest auf dem Analogon zur zweitgenannten Ebene – „Kinderphysik“ – gebrauchen könnten. Das wäre zwar nicht die Ebene der philosophischen Theoretisierung, die es anzuzielen gilt, könnte uns auf dem Weg dorthin aber, so die Vermutung, gleichermaßen helfen wie die „Kinderphysik“ auf dem Weg zur wissenschaftlichen Physik. Nun, wenn wir analog zur zweitgenannten Ebene philosophisch verfahren wollten, müssten wir ein Analogon zur Unterscheidung zwischen dem „Kraftfeld“, das konstitutiv ist für das Objekt, und einem Ausschnitt bestimmter „Kraftwirkungen“ finden, für welche das nicht gilt. Nun enthält der Begriff des Wahrnehmungsobjekts aber analytisch, dass ein solches nur in der Wahrnehmung ist. Das bedeutet: Wir müssten einen bestimmten Wahrnehmungsakt als konstitutiv für das Wahrnehmungsobjekt annehmen, um basierend darauf einen anderen Wahrnehmungsakt als nicht konstitutiv fassen und die vorgeschlagene Analyse desselben als Kraftwirkung an ihm „retten“ zu können. Doch dieses Verfahren ist aus drei Gründen unmöglich: – Erstens würde dies besagte Analyse als ganze gerade nicht „retten“, da der Wahrnehmungsakt, welcher konstitutiv für das Wahrnehmungsobjekt sein soll, so gerade nicht aufzuklären ist, sondern ungeklärt und dogmatisch vorauszusetzen wäre. – Zweitens: Dieser Wahrnehmungsakt, welcher konstitutiv für das Wahrnehmungsobjekt sein soll, wäre also kategorial verschieden von dem Wahrnehmungsakt eines beliebigen Individuums, den wir basierend darauf betrachten. Das aber würde bedeuten, einen überindividuellen Wahrnehmungsakt – gleichsam: „den“ Wahrnehmungsakt schlechthin – zu denken. Doch das ist absurd, denn Wahrnehmungsakte sind immer individuelle Akte. Genauer: Sie sind Akte individueller geistiger Subjekte, und daher unbeschadet ihrer Individualität Akte mit einer Einheit und Verbundenheit untereinander qua Geistigkeit dieser Subjekte und ihrer Akte. Doch das bedeutet ja gerade nicht, dass „der Geist“ als Wahrnehmender neben die individuellen Subjekte treten würde, sondern dass in deren Akten eine Einheit und Verbundenheit liegt, die sich nur durch den Begriff „des Geistes“ begreifen lässt. – Drittens: Wenn wir im Analogon zur Kinderphysik denken, dann müssten wir also denken, dass ein schon als Wahrnehmungsobjekt konstituiertes Wahrnehmungsobjekt in den Bereich der konkreten Kraftwirkung „eintritt“, die vom individuellen Subjekt A ausgeht. Doch dieser Gedanke kann uns nur dann schlüssig erscheinen, wenn wir einer – fatalen – Vermischung unserer Perspektive der Selbsterkenntnis mit einer empirischen Perspektive aufsitzen: Denn dieser Gedanke des „Eintretens“ hat – wie dieses wesentlich räumliche Bedeutung tragende Wort schon anzeigt – nur in empirischer Perspektive einen Sinn: Etwa, wenn wir von der Seite auf eine rote Rose blicken, die wir schon wahrgenommen haben, und auf eine Dame dort drüben, die sie nun wahrzunehmen im Begriff ist und wahrnimmt, wenn sie näher an die Rose herantritt oder die Rose in ihr
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Gesichtsfeld bewegt wird. Doch diese empirische Perspektive darf keinen Eingang in unsere Perspektive, die wesentlich und ausschließlich die Perspektive der Selbsterkenntnis ist, finden. Wenn wir aber die Perspektive der Selbsterkenntnis aufrechterhalten, ist klar, dass das Wahrnehmungsobjekt ein Wahrnehmungsobjekt nur für das Subjekt ist. Doch das individuelle Subjekt A hat in unserem Beispiel das in einem vorhergehenden – wie oben gesagt: ohnehin vollends unaufgeklärten – Akt konstituierte Wahrnehmungsobjekt ja noch nicht als sein Wahrnehmungsobjekt. Das impliziert aber, dass es sich auch nicht auf dieses richten kann. Das könnte es allenfalls, wenn es schon für es im Blick wäre, sich ihm also schon vorher gezeigt hätte. Damit aber würden wir zurückfallen auf den schon kritisierten und eigentlich überwundenen Standpunkt des Wahrnehmungskapitels. Diese drei Gründe des Scheiterns des Analysemodells der Kraftwirkung selbst auf der bloß „kindischen“ Betrachtungsebene sind aber insofern lohnend zu betrachten, als sie modo negativo sichtbar machen, in welche Richtung zu gehen ist, um zu einer wahrhaften Analyse des Wahrnehmungsaktes zu gelangen. Es hat sich nämlich zweierlei gezeigt: (1) Die vom individuellen Subjekt ausgehende, vermeintliche „Kraft“ kann sich nicht in Richtung eines schon vorausgesetzten Objekts richten. Im Sinne einer immanenten Gedankenentwicklung, die nicht einfach abbricht und woandershin springt, wäre sodann zu fragen, ob sich eine Richtung des Subjekts „nach außen“ denken lässt, die nicht durch ein Objekt definiert ist. Die Antwort wird lauten: Ja, durch die dem Subjekt a priori verfügbare raumzeitliche Struktur des Wahrnehmungsfeldes als solche. Dies wird im folgenden Kapitel 4 genauer diskutiert werden. (2) Es macht zwar philosophisch keinen Sinn, empirisch von einem „Eintritt“ des Wahrnehmungsobjekts in eine Kraftwirkungssphäre eines individuellen Subjekts A zu sprechen; doch es hat sich angedeutet, dass unsere Bezugnahme auf ein Wahrnehmungsobjekt, insofern es von A noch nicht wahrgenommen wurde, nur möglich ist als Bezugnahme auf ein Wahrnehmungsobjekt, das und insofern es schon von einem anderen individuellen Subjekt B wahrgenommen worden wurde. Das bedeutet: Was im Analysemodell der Krafteinwirkung als determinierende Wirkung oder Leistung des Objekts dargestellt wird – durch es soll festgelegt sein, dass es auf Basis der Krafteinwirkung des Subjekts als so (und nicht anders) erscheint; das Subjekt nimmt es als rot wahr, weil es rot ist – ist in Wahrheit eine intersubjektive Determination, die dadurch möglich ist, dass individuelle Subjekte qua Geist in einem normativen Raum stehen, in welchem solche Determination (oder Verbindlichkeit) möglich ist. Dies wird in Kapitel 5 näher auseinandergesetzt werden. Diese beiden Punkte (1) und (2) werden in den Kapiteln 4 bzw. 5 unserer Untersuchung entwickelt und zum hegelschen Begriff des Wahrnehmungsaktes zusammengeführt werden. Schon jetzt sehen wir aber: Dieser Begriff wird ein
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ganz anderer sein als das Analysemodell der Kraftwirkung. Denn weder gibt es eine Richtung der Kraft durch ein vorausgesetztes Objekt (= Punkt (1)), noch ist das Erscheinen des Objekts qua normativer Determination eine von diesem Objekt ausgehende Kraft(aus)wirkung (= Punkt (2)). Genau so aber war das Analysemodell der Kraftwirkung oben eingeführt und spezifiziert worden: Die Kraft soll, zur Realisation allgemeiner Bestimmungen in der Wahrnehmung, definiert sein als – am Beispiel der Farbe illustriert – „etwas, das alles, was rot ist, als rot erscheinen lässt und zugleich alles, was grün ist, als grün erscheinen lässt“. Voraussetzung für diese Formulierung ist die Unterscheidung wie der Zusammenhang zwischen „was rot (bzw. grün) ist“ und „was als rot (bzw. grün) erscheint“, also die Annahme einer normativ determinierenden Wirkung des Objekts, auf Basis derer (sowie auf Basis der Krafteinwirkung des Subjekts) die Kraftauswirkung seitens des Objekts, sein als-rot-(bzw. grün)-Erscheinen, erfolgt. Doch nun haben wir klar die Frage identifiziert, die das Analysemodell der Kraftwirkung sprengt: Was bedeutet „was rot (bzw. grün) ist“? Eingedenk der obigen Kritik der Einmischung einer empirischen Perspektive ist klar, dass das so bezeichnete Objekt ein schon begrifflich repräsentiertes Objekt und mithin Wahrnehmungsobjekt im Wahrnehmungsakt eines (anderen) individuellen Subjekts sein muss. Nur so kann es überhaupt normativ (und nicht nur faktisch) determinierend sein. Bereits hier ist nun zu sehen, dass eine solche Auffassung den Rahmen dessen sprengt, was innerhalb des dargestellten Modells der Kraftwirkung formulierbar ist. Denn dieses soll ein Verhältnis zwischen „dem Subjekt“ und „dem Objekt“ sein; eine Vielheit von Subjekten und ihrer Akte – ein Verhältnis zwischen ihnen, also ein innergeistiges Verhältnis – kommt darin kategorisch nicht vor. Entsprechend ist ein anderer Akt oder ein anderes Subjekt auch nicht als Referenzpunkt der Erklärung der begrifflichen Bestimmung in ihrer determinierenden Leistung, wie sie in der Phrase „was rot (bzw. grün) ist“ ausgesprochen wird, anzuführen. Nun wird verständlich, warum Hegel im obigen Zitat die allgemeinen Bestimmungen, in denen das Objekt der Wahrnehmung repräsentiert wird, gemäß dem Analysemodell der Kraftwirkung „selbstständige Materien“ nennt. Sie sollen als etwas gefasst werden, das an sich schon gegeben und vorauszusetzen ist und dem die Repräsentation durch ein Subjekt qua Kraft äußerlich bleibt. Hegel beeilt sich nun hinzuzufügen, dass diese vermeintlich „selbstständige[n] Materien“ ohne Kraft aber in Wahrheit nicht(s) sind. Diese ist, als „eigentliche Krafft“ – also als recht verstandene Kraft – „das Verschwundenseyn derselben“, wie Hegel formuliert. Das bedeutet: Denkt man sich die Kraft weg, sind keine Objekte mehr gesetzt – ganz wie der Begriff des physikalischen Objekts (oder der Masse, der Materie) ohne Kraftbegriff in den entsprechenden Gesetzen der Physik nicht zu haben ist. Da das versuchsweise angenommene Modell der Wahrnehmung als Kraftwirkung in seiner Darstellung dieser Kraftwirkung entsprechende Objekte in ihrer determinierenden Wirkung aber voraus-setzte („… was (an sich)
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rot/grün ist …“), ist es inkonsistent. Die Inkonsistenz besteht letztlich darin, dass das Modell ein Bestimmungsmoment leugnen muss, aufgrund dessen es eigentlich überhaupt eingeführt wurde: nämlich die Nichtvorhandenheit begrifflich-normativer Akte seitens des Objekts. Allgemeiner gesagt, muss es also eine Selbstständigkeit des Wahrnehmungsobjekts voraussetzen, um den Gedanken seiner Abhängigkeit vom Subjekt im dargestellten Analysemodell der Kraftwirkung artikulieren zu können; gleichzeitig aber impliziert die logische Struktur der Kraftwirkung jedoch radikale Nichtselbstständigkeit des Objekts. Hegel schreibt deshalb, dass die so artikulierte „Bewegung des Wahrnehmens“ in sich widersprüchlich ist, da „dabey […] ebensowohl jede Seite [als] in sich reflectirt oder für sich“ aufgefasst ist, beide aber durch konsequente Analyse des Kraftbegriffs zugleich als „eins und ununterschieden“ behauptet werden müssen.12 Hegel weiter: „Die Bewegung [sc. der Kraftwirkung als Zusammenspiel von Ein‑ und Auswirkung], welche sich […] als das sich selbst Vernichten widersprechender Begriffe darstellt[.], hat also hier die gegenständliche Form, und ist Bewegung der Krafft, als deren Resultat das unbedingt allgemeine als ungegenständliches, oder als Innres der Dinge hervorgeht.“13
Das „Vernichten“ und „[H]ervorgeh[en]“, von dem Hegel hier spricht, bezieht sich nun wieder auf die Ebene der philosophischen Erkenntnis; es betrifft die eben genannten „widersprechende[n] Begriffe“ des Modells der Kraftwirkung. Dieses „[v]ernichte[t]“ sich aus den dargelegten Gründen. Diese liegen letztlich, wie Hegel treffend sagt, in der „gegenständliche[n] Form“ dieses Kraftmodells, das als solches – wie wir eben sahen – nicht ohne die Voraussetzung eines Gegenstandes in seiner von sich her wirksamen Determinationsleistung auskommt. Dem Modell haftet also noch ein falsches Restmoment der Passivitätsauffassung an, von der es dadurch gleichsam eingeholt wird. Wieder kennzeichnet Hegel das „Resultat“ dezidiert negativ: Das „unbedingt allgemeine“ ist nun ein letztes Mal in gegenständlicher Weise missverstanden worden – und im gescheiterten Modell liegt alles, was für die wahrhafte Überwindung dieser dinghaften Auffassung benötigt wird, sodass „das unbedingt allgemeine als ungegenständliches, oder als Innres der Dinge hervorgeh[en]“ kann. Hegel selbst beendet das Kapitel „Kraft und Verstand“ hier jedoch noch nicht. Stattdessen beleuchtet er noch genauer, worin die innere Verwandtschaft zwischen dem Modell der Krafteinwirkung und der Passivitätsauffassung besteht. Der Begriff der Kraft ist zwar zunächst ein Fortschritt gegenüber dem bloß einseitigen Kausalitätsbegriff der Passivitätsauffassung; denn dieser ist ja gerade darin kategorial anders als die Kraftauswirkung bestimmt, dass er nicht als von einer Einwirkung des Subjekts abhängig gedacht werden soll; dass also nicht – wie das Modell der Kraftwirkung es vorschlägt – das Erscheinen des Objekts als PhG, 84 f. PhG, 85.
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so-und-so erst eine Auswirkung einer einwirkenden Kraft des Subjekts ist, die das Objekt als so-und-so erscheinen lässt. Der Kausalitätsbegriff der Passivitätsauffassung ist demgegenüber eine von sich aus anfangende Kausalität – also der Form nach dasjenige, was Kant als „Kausalität aus Freiheit“ bestimmt hat. Unabhängig davon, wie man sich zu diesem Begriff als solchem stellt, muss es als Ironie der Philosophiegeschichte anmuten, dass er von McDowell – unter Berufung auf Kant und Hegel (!) – von den Naturobjekten prädiziert wird. Diese radikale Verkehrung ist nur durch eine ebenso radikale Umkehrung der Verkehrung zu beheben. Der Anfang und Vollzug jedes repräsentationalen Aktes – also auch jedes Wahrnehmungsaktes – muss als im Subjekt liegend, von ihm selbst angefangen und allein im Geiste vollzogen, gedacht werden: „Zur Vervollständigung der Einsicht in den Begriff dieser Bewegung [sc. der (vermeintlichen) Kraftwirkung in ihren zwei Momenten] kann noch darauf aufmerksam gemacht werden, daß sich die Unterschiede selbst in einem gedoppelten Unterschiede zeigen, einmal als Unterschiede des Inhalts, indem das eine Extrem in sich reflectirte Krafft, das andere aber Medium der Materien ist; das andremal als Unterschiede der Form, indem das eine sollicitirendes, das andre sollicitirtes, jenes thätig, diß passiv ist.“14
Hegel betrachtet die Verhältnisse im Analysemodell der Kraftwirkung also noch einmal auf die Begriffe der Aktivität und Passivität hin. Er erkennt an, dass dieses Modell „jenes [als] thätig, diß [als] passiv“ denken will. Von einer Aktivität des Objekts soll demgemäß nicht mehr in dem Sinne gesprochen werden, wie die Passivitätsauffassung dies tat: im Sinne eines sich-Zeigens des Objekts. Vielmehr soll das, was der Passivitätsauffassung als ein sich-Zeigen des Objekts gilt, wesentlich auch die Aktivität des Subjekts sein; ein Objekt „zeigt sich“ mir also als so-und-so nur, wenn ich es aktiv als solches repräsentiere: „Jenes hat nur durch das andere seine Bestimmtheit, und ist sollicitirend, nur insofern es vom andern dazu sollicitirt wird, sollicitirend zu seyn; und es verliert eben so unmittelbar diese ihm gegebene Bestimmtheit; denn diese geht an das andere über oder vielmehr ist schon an dasselbe übergegangen; das fremde die Kraft sollicitirende tritt als allgemeines Medium auf, aber nur dadurch, daß es von ihr dazu sollicitirt worden ist […].“15
Diese Überlegung nun offenbart die Verwandtschaft des Kraft‑ und des Kausalitätsbegriffs, an welcher erneut klar ersichtlich wird, warum der Kraftbegriff nicht zureicht, um diesen Denkerfordernissen der Aktivität und Passivität in ihrem Verhältnis gerecht zu werden und die benannte radikale Umkehrung zu vollziehen: Insofern wir die Kraftauswirkung des Objekts als etwas vom Subjekt selbst aus „[S]ollicitirt[es]“ zu begreifen suchten, suchten wir sie als etwas zu begreifen, das nicht seinerseits von einer anderen Kraft – und somit passiv – „sollicitirt“
PhG, 86. PhG, 86.
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wurde.16 Doch eine solche kategoriale Asymmetrie kann der (am Paradigma der physikalischen Kraft schematisierte) Kraftbegriff eben nicht wirklich denken. So zeigt sich dessen innere Verwandtschaft zum Kausalitätsbegriff der Passivitätsauffassung, die vor dem Hintergrund der logischen Abhängigkeit des Kraftbegriffs vom Kausalitätsbegriff als solchem nicht überraschend ist: Gleich wie es für Kausalität, sofern sie von Objekten prädiziert werden soll, konstitutiv ist, dass sich eine regressive Kette ergibt, so müsste auch die aktive „Kraft“ – wenn sie eine wäre – immer von einer anderen Kraft sollizitiert sein. Nun ist aber von keiner anderen Kraft als der einen die Rede gewesen, die sich in die Momente der Ein‑ und Auswirkung ausdifferenziert. Die Auswirkung ist eine Wirkung auf das Relatum, von dem die Einwirkung ausging. Damit aber liegt letztlich das logische Verhältnis der Wechselwirkung vor. Für dieses logische Verhältnis ist es allerdings wesentlich, dass die beiden Momente von derselben Art sind und dass sich kein Moment als gegenüber dem anderen erstes Moment bestimmen lässt. Das aber widerspricht unmittelbar dem, wie die vom Subjekt ausgehende (vermeintliche) Kraft(einwirkung) bestimmt wurde: nämlich als das, was dasjenige, was x ist, als x, und dasjenige, was y ist, als y repräsentiert – wohingegen die (vermeintlich) vom Objekt ausgehende Kraft(auswirkung) die auf Basis der von diesem Objekt ausgehenden Determination erfolgende Erscheinung dieses Objekts sein soll: also die Erscheinung von x als x (und nicht als y), weil das Objekt x (und nicht y) ist und die Krafteinwirkung entsprechend determiniert hat. Damit aber sind beide Momente kategorial verschieden: das eine ist das (angewandte) allgemeine Repräsentationsvermögen, das andere hingegen die Erscheinung des konkreten Objekts, basierend auf der Determination seitens dieses Objekts. Diese kategoriale Verschiedenheit widerspricht unmittelbar der logischen Form der (Kraft‑)Wechselwirkung. Und ein weiterer Widerspruch lässt sich zeigen: Läge das logische Verhältnis der (Kraft‑)Wechselwirkung vor, müsste, wie gesagt, die Ordnung in ein „erstes“ und ein „zweites“ Moment hinfällig sein. Das aber würde bedeuten, dass wir das zweite Moment ebenso als erstes auffassen können müssten, dass die Reihenfolge der Betrachtung also gleichgültig ist. Doch das ist nicht der Fall: Es macht schlicht keinen Sinn, das determinierende Moment als das Erste aufzufassen; denn als erstes hätte es ja gar nichts, in Bezug worauf es überhaupt erst determinierendes Moment sein könnte. Die Erscheinung des Objekts als Ganze kann ohnehin nicht als das Erste sein. Denn dies würde unmittelbar den Rückfall auf den Standpunkt des Wahrnehmungskapitels bedeuten. Das logische Verhältnis der (Kraft‑)Wechselwirkung widerspricht den Denkerfordernissen, die wir schon eingesehen haben, also darin, dass es dem asymmetrischen Charakter der beiden (vermeintlichen) Kraftmomente nicht entsprechen kann. 16 Das trifft insbesondere zu, wenn – wie wir sehen werden – dieses „vom Subjekt selbst aus“ sogar willentlichen Aktivitätscharakter hat.
3.2 Zum Begriff der „Kraft“
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Hier zeigt sich, dass das – negative – Resultat des beschriebenen Scheiterns des logischen Verhältnisses der Wechselwirkung auch so formuliert werden kann: Wenn der Gedanke der Wechselwirkung radikal gedacht wird, mündet er im Gedanken eines einzigen selbstbezüglichen Aktes.17 Wir waren vorhin schon auf den Gedanken eines selbstbezüglichen Aktes gestoßen, indem wir – vorgreifend – den Wahrnehmungsakt als innergeistigen bezeichnet haben.18 Dieser ist, im Rahmen der Wesenslogik, immer bloß symmetrische Zirkularität – weshalb es eines kategorialen Übergangs zur Begriffslogik bedarf, in der eine asymmetrische Zirkularität, wahre Selbstbeziehung, gedacht werden kann. Von daher verstehen wir, warum Hegel den Übergang zum Begriff in der Logik – das ist zugleich der Übergang von der Wesens‑ zur Begriffslogik – als Aufhebung des Wechselwirkungsverhältnisses darstellen kann. (Wir verfolgen den Gedanken hier nicht im Rahmen der Logik, sondern in der geistphilosophischen Anlage der Phänomenologie des Geistes – und gerade das mag den Übergang der Logik verständlich machen, nämlich als logische Abstraktion vom geistphilosophisch Auszuweisenden.) Von daher lässt sich verstehen, warum das logische Verhältnis der Wechselwirkung auch derjenige Punkt ist, an dem die Wesenslogik endet und enden muss – und an dem sie scheitert im Versuch, die Logik repräsentationaler (also begrifflicher) Verhältnisse – in ihrer Selbstbezüglichkeit qua Geist – nach ihrem im Kern naturalistischen Paradigma dynamischer Relationalität zu begreifen.19 17 Hier wird in kristalliner Form deutlich, dass und warum Hegel die Aktivität der Wahrnehmung nicht als zur Passivität der Rezeptivität hinzutretendes Moment auffassen kann. Interpretationen der Phänomenologie des Geistes, die das finale Erwachsen dieser Einsicht aus dem Scheitern des Modells der Kraftwirkung im Kapitel „Kraft und Verstand“ nicht klar sehen, tendieren deshalb besonders dazu, als Resultat des Bewusstseinskapitels bloß den Gedanken einer aktivisch angereicherten Passivität der Rezeptivität anzunehmen. Dies scheint mir – trotz seiner teils exzellenten Lesart des Wahrnehmungskapitels – auch bei Kenneth Westphal der Fall zu sein, der an einer Stelle seiner Untersuchung schreibt: „Das Wahrnehmen beruht nicht nur auf dem Gegenstand und der durch ihn veranlaßten Sinneserfahrung, sondern auch auf begrifflichen Verstandestätigkeiten.“ (Westphal 1998: 145). Das aber scheint – schon auf der Ebene des Wahrnehmungskapitels, erst recht aber auf derjenigen von „Kraft und Verstand“ – eine falsche, da zu schwache These zu sein: Hegel zufolge ist die Wahrnehmung ein einziger aktiver begrifflicher Akt, der keine vom Gegenstand veranlasste Erfahrung ist oder enthält. In einem späteren Artikel schreibt Westphal: „[W]e can perceive things only if we integrate the various sensations they cause in us; this is a cognitive activity on our part.“ (Westphal 2009: 14) Gerade der Gedanke kausaler Verursachung sinnlicher Akte (welcher Art auch immer) hat, wie in unserer Untersuchung zu zeigen versucht wird, keinen Platz in Hegels Philosophie des Geistes. 18 Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, ist außerdem jeder Wahrnehmungsakt wesentlich selbstbewusst, sodass auch in diesem Sinne von einem selbstbezüglichen Akt die Rede sein kann und muss. 19 Christian Martin hat den logischen Kerngedanken dieses Absatzes in seiner bemerkenswerten Untersuchung zu Hegels Wissenschaft der Logik präzise entfaltet und wie folgt zusammengefasst: „Der entscheidende Mangel wesenslogischer Bestimmungen besteht […] darin, dass sie den Beitrag des Subjekts zur Etablierung des Beziehungsgefüges der Dinge nicht angemessen berücksichtigen. Im Wesen erscheinen Verhältnisbestimmungen daher als Be-
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3 Das Kapitel „Krafft und Verstand“
Der Schatten der Passivitätsauffassung, der aufgrund der logischen Verwandtschaft von Kraft und Kausalität also auch noch auf dem Analysemodell der Kraftwirkung liegt, vergrößert sich sogar noch, wenn man zwei weitere, intern miteinander zusammenhängende Punkte zu Bewusstsein bringt: (i) Das Analysemodell der Kraftwirkung wäre – gleich wie die Passivitätsauffassung des Wahrnehmungskapitels – dem Problem der als-Struktur in ihrer konkreten Ausprägung ausgesetzt. Auch gemäß jenem Analysemodell könnte das vom Objekt ausgehende Kraftmoment ja nicht „wissen“, dass es auf Basis der auf es einwirkenden Kraft des Subjekts, welche beispielsweise die begriffliche Bestimmung des „preußisch Blauen“ enthält, sein Erscheinen als preußisch Blau (und nicht bloß als Dunkelblau) determinieren „soll“. (ii) Im Hinblick auf die negative Allgemeinheit ist entsprechend festzustellen, dass gemäß dem Analysemodell der Kraftwirkung etwas Grünes immer noch nicht als nicht-rot und etwas Rotes immer noch nicht als nicht-grün repräsentiert wird – auch wenn beide vermeintlich getrennten Begriffe hier immerhin schon in einem Begriff, welcher die „Kraft“ sein soll, zusammengefasst sind. Doch insofern das Objekt, wie das Analysemodell (fälschlich) denkt, die Determination „rot“ bewirkt und somit als rot erscheint, entfällt das begriffliche Bestimmungsmoment „grün“ im Erscheinen – also im Wahrnehmungsakt in seinem resultativen Moment – ebenso im Sinne bloßer Positivität (hier: des Roten) wie schon im Falle der Passivitätsauffassung auf dem Standpunkt des Wahrnehmungskapitels. Bevor wir den Gedankengang hin zur wahren Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung in den Kapiteln 4 und 5 weiter verfolgen, ist jedoch noch ein Zwischenschritt angebracht, den Hegel selbst einzieht. Hegel diskutiert das Verhältnis des Kraftbegriffs, wie er im Analysemodell der Kraftwirkung (irrigerweise) für die philosophische Aufklärung des repräsentationalen Verhältnisses in Anschlag gebracht wurde, zum Kraftbegriff, wie er empirisch (und ganz recht) gebraucht wird, eingehender. Durch diese Verhältnissetzung als solche erinnert er schon daran, dass die Versuchung, den Kraftbegriff für die philosophische Bestimmung der Wahrnehmung für zureichend zu halten, ihre Wurzeln in einer Absolutsetzung der Erklärungslogik der empirischen Wissenschaften hat. Den Hang zu einer solchen Absolutsetzung, so Hegel, hat das natürliche, gewöhnliche Bewusstsein in sich. Er ist auch ein Hang zur Vermischung normativ-geistiger und faktisch-natürlicher Verhältnisse – und es ist bezeichnend, dass McDowell stimmungen der Sachen selbst, ohne dass ihr transzendentaler Charakter auf den Begriff gebracht wäre. Da der Beitrag subjektseitigen Bestimmens noch nicht ausdrücklich gefasst ist, eignet dem Wesen ein widersprüchliches Schillern, da es zugleich die Selbständigkeit der Dinge wie ihre innere Relativität ausdrückt.“ (Martin 2012: 145 f.) Das bedeutet auch: Wo versucht wird, das Verhältnis des Subjekts zu den Dingen selbst wesenslogisch zu bestimmen, macht sich in eben dieser versuchsweisen Bestimmung das Fehlen des Begriffs, das die logische Form des Subjekts ist, bemerkbar und wirft die Frage nach dem Subjekt und seinem Verhältnis zu den Dingen, die dabei eigentlich hätte beantwortet werden sollen, notwendig wieder auf.
3.2 Zum Begriff der „Kraft“
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und seine Anhänger meinen, Hegels Programm bestünde in einer Vereinigung beider Verhältnisse in einem Begriff der Kausalität. Bedenken wir also abschließend noch einmal das Problem dieser Vermischung. Das Scheitern, den Akt der begrifflichen Repräsentation, welcher die sinnliche Wahrnehmung ist, als Kraftverhältnis aufzufassen, lässt sich seinem Grund nach insgesamt präzise fassen, indem wir uns vergegenwärtigen, dass sich in die Perspektive der Selbsterkenntnis keine empirische Betrachtung „einschleichen“ darf, doch genau aus unserem Hang, dies zuzulassen, die initiale Plausibilität der Auffassung begrifflicher Repräsentation als Kraftwirkung rührt. Denn: Allein in einer empirischen Betrachtung, die als solche gerade nicht Eingang in die philosophische Selbsterkenntnis finden kann, wäre die Bezugnahme auf den roten Gegenstand – „Wir nehmen als rot wahr, was rot ist“ und „Wir nehmen ihn als rot wahr, weil er rot ist“ – in der Tat unproblematisch. Es wäre eben eine empirische Bezugnahme auf etwas, das rot ist, und das „weil“ hätte den Sinn einer kausalen Wirkung. Kräfte – oder andere kausalförmige Einflüsse – lassen sich bezogen auf den Gegenstand, auf den man sich mittels empirischer Bezugnahme bezieht, ebenso aussagen. Dies konkret zu leisten, ist Aufgabe der empirischen Wissenschaften. Ein Beispiel hierfür wären die physikalisch-optische und die sehphysiologische Theoretisierung des Sehvorgangs. Doch, wie gesagt, kann diese Art der Bezugnahme auf einen roten Gegenstand nicht diejenige sein, nach der an dieser Stelle unseres Weges der Selbsterkenntnis gefragt ist. Das zeigt sich nun daran, dass dasjenige, was wir auf diesem Weg mit „was rot ist“ oder „weil es rot ist“ meinen, in einem normativen und nicht in einem bloß faktischen – z. B. kausalen – Verhältnis zur (vermeintlichen) Kraft stehen muss: Denn das, was rot ist, muss ja die (vermeintliche) Kraft, die dasjenige, was rot ist, als rot, und dasjenige, was grün ist, als grün erscheinen lässt, in ihrer Auswirkung normativ determinieren: Was rot ist, muss als rot erscheinen – und das „muss“ ist nicht das der naturgesetzlichen Notwendigkeit, sondern der normativen Richtigkeit. Hier wird nun noch einmal kristallisiert sichtbar, warum diese Auffassung der begrifflichen Repräsentation als Kraft scheitern muss: Der rote Gegenstand – oder das Rotsein des Gegenstands –, was wir mit „was rot ist“ bezeichnen, muss Teil eines normativen und begrifflichen Aktes sein. Die Kraft aber geht aufs bloß Faktische, im Modus der Notwendigkeit des Natürlichen. Von daher wird Hegels beschriebene Doppelanlage des Kapitels „Kraft und Verstand“ verständlich. Indem er auch den in den Naturwissenschaften anwendbaren Kraftbegriff diskutiert, führt er kontrastiv vor Augen, wie sich dieser empirisch anwendbare Begriff von den in der philosophischen Selbsterkenntnis – zur Analyse des Wahrnehmungsaktes – anwendbaren Begriffen unterscheidet. Wir werden Hegels diesbezügliche Diskussion entsprechend nur soweit weiter verfolgen, als sie im Erkenntnisinteresse unserer Untersuchung liegt. Dies tut sie, abgesehen von der eben genannten Kontrastierung, in zweierlei weiterer Hinsicht: Zum einen, indem sie daran erinnert, dass das gesetzesformulierende
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3 Das Kapitel „Krafft und Verstand“
Geschäft des Verstandes weit über das Geschäft unserer Wahrnehmung hinausgeht; zum anderen, indem sie zeigt, dass Resultate dieses Geschäftes des Verstandes wiederum in die Wahrnehmung integriert sein können.
3.3 Wahrnehmung und Verstand Wir hatten schon festgestellt, dass ein Wesenszug des Begriffs der (physikalischen) Kraft darin liegt, diese als wesentlich und konstitutiv für die (physikalischen) Objekte zu denken; darin unter anderem besteht ihr naturgesetzlich formulierbarer Zusammenhang. In diesem und für diesen aber werden die unmittelbar wahrzunehmenden Eigenschaften der Objekte – wie z. B. ihre Farbigkeit – irrelevant. In diesem Sinne ist Formulierung von Gesetzen, wie Hegel es nennt, Sache des „Verstandes“ – und nicht der bloßen Wahrnehmung20; und der Verstand treibt die Suche nach Gesetzen qua Integration (scheinbar) noch verschiedener Gesetze in ein Gesetz in zunehmend abstraktere Bereiche: „Diß Reich der Gesetze ist zwar die Wahrheit des Verstandes, welche an dem Unterschiede, der in dem Gesetze ist, den Inhalt hat; es ist aber zugleich nur seine erste Wahrheit, und füllt die Erscheinung nicht aus. Das Gesetz ist in ihr gegenwärtig, aber es ist nicht ihre ganze Gegenwart; es hat unter immer andern Umständen eine immer andere Wirklichkeit. Es bleibt dadurch der Erscheinung für sich eine Seite, welche nicht im Innern ist; oder sie ist in Wahrheit noch nicht als Erscheinung, als aufgehobenes für sich seyn gesetzt. Dieser Mangel des Gesetzes muß sich an ihm selbst ebenso hervorthun. Was ihm zu mangeln scheint, ist, daß es zwar den Unterschied selbst an ihm hat, aber als allgemeinen, unbestimmten. Insofern es aber nicht das Gesetz überhaupt, sondern ein Gesetz ist, hat es die Bestimmtheit an ihm; und es sind damit unbestimmt viele Gesetze vorhanden. Allein diese Vielheit ist vielmehr selbst ein Mangel; sie widerspricht nemlich dem Princip des Verstandes, welchem als Bewußtseyn des einfachen Innern, die an sich allgemeine Einheit das Wahre ist. Die vielen Gesetze muß er darum vielmehr in Ein Gesetz zusammenfallen lassen. Wie zum Beyspiel, das Gesetz, nach welchem der Stein fällt, und das Gesetz, nach welchem die himmlischen Sphären sich bewegen, als Ein Gesetz begriffen worden ist.“21
Hegel gebraucht hier den Begriff der „Erscheinung“ in einem noch spezifischeren Sinne, als wir ihn bislang gebraucht haben, nämlich in Kontrastierung zu dem, was er „übersinnliche Welt“ nennt: eben diejenige Welt, wie sie durch die gesetzesformulierende Tätigkeit des Verstandes repräsentiert wird und im Wortsinne über das „sinnliche“ – also das, was wir unmittelbar22 wahrnehmen kön20 Hegel kritisiert hier also die These, dass die Naturwissenschaften „empirisch“ in dem Sinne seien, dass sie (bloß) Wahrnehmungen verwalteten. Vgl. dazu die auf Hegel bezogenen, erhellenden Ausführungen von Stekeler-Weithofer 2018: 76 ff. und passim. 21 PhG, 91 f. 22 Mit „unmittelbar“ ist hier nur gemeint: Diesseits der Integration von Erkenntnissen des gesetzesformulierenden Verstandes in die Wahrnehmung, von der sogleich näher die Rede sein wird.
3.3 Wahrnehmung und Verstand
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nen – hinausgeht. Als „Erscheinungen“ dieser „übersinnlichen Welt“ bleiben jene auf diese wesentlich bezogen; ganz wie wir ja auch sagen, dass die Billardkugel ein physikalisches Objekt ist, auch wenn sie uns sinnlich (noch) nicht in Gestalt einer Punktmasse gegenwärtig sein mag. Diese ist vielmehr eine verstandesmäßige „Idealisierung“ aller physikalischen Objekte, durch welche wir wiederum erst von physikalischen Objekten im Sinne der modernen Wissenschaft reden können. In diesem Geschäft der Idealisierung und Abstraktion nun zeigt sich der Verstand als ein geistiges Vermögen, dessen Objektbezugnahme zunehmend unabhängig von der Objektwahrnehmung in dem Sinne ist, dass die wahrgenommenen Eigenschaften des Objekts in der Formulierung zunehmend allgemeingültiger Gesetze zunehmend weniger bis gar nicht relevant sind. Damit erinnert Hegel an etwas, das die gerade in der analytischen Erkenntnistheorie des 20. und 21. Jahrhunderts zu beobachtende Fixierung auf die sinnliche Wahrnehmung geradezu kindisch erscheinen lässt: Wenn man schon, in naturalistischer Manier, den Status des Wissens moderner Naturwissenschaft schätzen (und überschätzen) will, so ist es auch noch inkohärent, die Wahrnehmung in sich selbst als wahrhaft wissendes Bewusstsein auffassen zu wollen.23 Eine Integration der Erkenntnisse der Naturwissenschaften in die Wahrnehmung aber kann die naturalistische Passivitätsauffassung gar nicht denken, wie die Diskussion zur als-Struktur in ihrer konkreten Ausprägung gezeigt hat. Genau diese Integration kann Hegel aber denken. Und so impliziert diese Differenz von Wahrnehmung und Verstand nicht, wie es zunächst scheinen könnte, dass das Geschäft des Verstandes der Wahrnehmung äußerlich bleiben würde. Hegel opponiert auch in dieser Hinsicht gegen ein „Schichtkuchenmodell“24: Dieses ist nicht nur inadäquat bezüglich des Verhältnisses von Sinnlichkeit und Begriff überhaupt, sondern auch für dasjenige von schon begrifflicher Wahrnehmung und gesetzesformulierendem Verstand. Es gilt also nicht nur, wie bereits dargelegt, dass reine Verstandesbegriffe in der Wahrnehmung aktualisiert sein müssen, wenn diese eine als-Struktur haben soll; auch nicht nur, dass empirische Begriffe in ihr aktualisiert sein müssen, wenn es sich um eine bestimmte Wahrnehmung eines bestimmten Objekts handeln soll; sondern auch, dass in der Wahrnehmung spezifische gesetzmäßige Zusammenhänge repräsentiert werden (können), die der Verstand in seiner Arbeit am Begriff expliziert hat: Wenn wir wahrnehmen, dass ein Stein nach oben fällt, nehmen wir ihn als in irgendeiner Weise katapultiert wahr; denn wir wissen, dass das Gesetz der Schwerkraft ihn nach unten fallen lässt, und aktualisieren dieses Wissen in der Wahrnehmung, indem wir ihn als sich der Schwerkraft ent23 Darin zeigt sich wohl die Sehnsucht nach konkretem Gehalt, die in der abstraktiven Leere der Gesetze nicht gestillt werden kann. In der Tat: Auch Hegel denkt – nach der Leere des Selbstbewusstseins – eine Fülle des konkreten Gehalts; aber sie liegt ganz und gar nicht in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern im absoluten Geist. 24 So der Terminus von Conant 2015 und 2017.
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3 Das Kapitel „Krafft und Verstand“
gegengesetzt bewegend wahrnehmen. Hegel schreibt deshalb, dass die konkrete, entwickelte Wahrnehmung „Ein[..] einfache[r] Act“ sei, in welchem die „Bestimmungen“ auch „des Verstandes“ „vereint“ seien.25 Das bezieht sich nicht nur auf reine Verstandesbegriffe, sondern auch auf die gesetzesformulierende Arbeit des Verstandes und deren Begriffe. Dies ist für das Thema unserer Untersuchung deshalb von Bedeutung, da sich, erstens, die Wahrnehmung auch dahingehend als geistig erweist, dass gesetzmäßig formulierte Zusammenhänge des über sie hinausgehenden Verstandes in ihr repräsentiert werden können, und, zweitens, die Möglichkeit solcher Integration gesetzmäßig formulierter Zusammenhänge in die Wahrnehmung freilich nur zu begreifen ist, wenn man die Wahrnehmung als eine Aktivität oder Praxis begreift, die sich aus sich selbst – durch den Willen derjenigen, die sie vollziehen – verändern lässt. Solche Integration hat freilich einen historischen Index von der gleichen Art, wie wir es in Kapitel 2 anhand des Beispiels der Deutschlandflagge gesehen haben; denn auch die naturwissenschaftliche Forschung entwickelt(e) sich durch die Zeit. Allein schon deshalb haben antike Menschen „die Welt“ „anders“ wahrgenommen als moderne. Am Ende der Diskussion von „Kraft und Verstand“ zeigt sich also noch einmal, warum dieses Kapitel trotz des letztlichen Scheiterns des Versuches, die begriffliche Repräsentation, welche die sinnliche Wahrnehmung ist, als Kraftwirkung aufzufassen, alles andere als überflüssig ist auf dem weiteren Weg der Selbsterkenntnis: Denn es war ein beispielhaftes Lehrstück dafür, dass der Versuch, eine schon gewonnene Einsicht – dass der repräsentationale Akt, welcher die sinnliche Wahrnehmung ist, vom geistigen Subjekt allein ausgeht (und vollzogen wird) – so weiterzuführen, dass der naturalistische Rahmen trotz ihrer gerettet werden kann, scheitern muss; und dass, zugleich, die initiale Plausibilität des diskutierten Modells des Kraftverhältnisses nichts anderes ist als ein erneutes Aufbäumen des Naturalismus, dessen finale Überwindung also noch aussteht. Diese Überwindung besteht im nächsten Schritt also darin, die Resultate des Kapitels philosophisch so zu entwickeln, dass daraus eine Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung resultiert, die einer Metaphysik des Geistes genügt. Qua Überwindung bleibt der Ausgangspunkt des zu Überwindenden negativ gegenwärtig. Das ist ein weiterer Grund dafür, warum die Einsichten aus „Kraft und Verstand“ für die folgende Entwicklung wesentlich sind. Es ist ja gerade eine – auch methodische – Grundeinsicht Hegels, dass sich eine begrifflich scharf artikulierte Position überhaupt nur als solche darstellen lässt, wenn sie eine andere bestimmt negiert. Das bedeutet, dass die Artikuliertheit der zu entwickelnden Auffassung der Wahrnehmung wesentlich auch in der artikulierten Überwindung der in den Kapiteln „Die Wahrnehmung“ und „Kraft und Verstand“ diskutierten Auffassungen besteht. Wenn unsere folgenden Kapitel 4 und 5 also eine wahrhaft geistige Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung entwickeln, dann sind Enz. 1830, § 410 A.
25
3.3 Wahrnehmung und Verstand
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diese geistigen Verhältnisse wesentlich bestimmt durch Negation derjenigen Verhältnisse, die in „Die Wahrnehmung“ und „Kraft und Verstand“ kritisiert wurden. Konkreter gesprochen: Wenn Hegel den Geist als „absolut Erstes [der Natur]“26 bestimmt und eine geistphilosophische Einsicht als Befreiung vom Schein, der theoretische Geist finde sich (von außen) bestimmt vor27, so haben diese Bestimmungen des Geistigen gerade auch darin ihren scharfen Sinn, dass sie die in „Die Wahrnehmung“ und „Kraft und Verstand“ kritisierten Verhältnisse negieren, welche jeweils mit dem (Un‑)Gedanken einer Voraus-Setzung des Objekts und dessen den geistigen Akt von sich aus determinierender Wirkung operierten. Nun werden wir die oben aufgeworfenen Fragen, die sich im Ausgang von „Kraft und Verstand“ stellen, weiterverfolgen: In Kapitel 4 die Frage nach der Möglichkeit einer wahrnehmenden Richtung des Subjekts ohne Voraussetzung eines Objekts, das sie definieren würde; in Kapitel 5 die Frage nach der intersubjektiven Form der Normativität der Wahrnehmung. Dabei werden wir aber nicht nur das, was wir in Kapitel 1 die (A*)-Linie genannt haben, weiterverfolgen, sondern auch die (B*)-Linie: sobald wir zum Begriff des Selbstbewusstseins gelangt sind, werden wir dieses als nächsten Kandidaten für die Instanziierung des wahrhaft wissenden Bewusstseins untersuchen und dann ins Verhältnis zur letztlich wahrhaften Instanz setzen können: der philosophischen Selbsterkenntnis selbst.
Enz. 1830, § 381. Vgl. Enz. 1830, § 445.
26 27
4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung1 Die Erörterungen in „Kraft und Verstand“ haben gezeigt, dass dem (individuellen) Subjekt vor dem von ihm selbst anzufangenden Wahrnehmungsakt kein Wahrnehmungsobjekt gegeben ist; dass der von ihm angefangene Akt das Objekt vielmehr erst konstituiert. Das klingt paradox, weil dieser Akt soweit als ein gerichteter begriffen wurde; doch diese Richtung kann nicht durch das Objekt, das für dieses Subjekt ja noch gar nicht ist, definiert sein. Die Frage lautet also: Wie ist diese Richtung für es definiert, wenn nicht durch ein schon gegebenes Objekt? Hegel spricht in diesem Zusammenhang von einer „identische[n] Richtung des Geistes“ und nennt diese „Aufmerksamkeit“2. Die Beispiele aus unserer Einleitung machen vorgreifend verständlich, warum: Dort haben wir gesehen, dass uns die sinnliche Aufmerksamkeit, einerseits, etwas epistemisch akkurater und detaillierter in den Blick bekommen lässt, andererseits, dass es unserer Wahrnehmung aus mehreren Gründen wesentlich ist, immer auch eine Reduktion und ursprüngliche Streuung solcher Aufmerksamkeit vorzunehmen. Einer davon ist, dass wir ansonsten überhaupt kein Wahrnehmungsfeld im Ganzen (und damit überhaupt keine Wahrnehmung, wie wir sie kennen) hätten; denn dafür ist wesentlich, dass wir unsere Aufmerksamkeit nicht auf alles in gleicher Weise – geschweige denn maximal – gerichtet haben. Hegels Bestimmung der Aufmerksamkeit als „identische Richtung des Geistes“3 hat nun mehrere Bedeutungs1 Die positive Bestimmung der sinnlichen Wahrnehmung legt Hegel im Kapitel „Kraft und Verstand“ nicht mehr explizit vor. Der Grund dafür ist, dass dies für die weitere Verfolgung der (B)-Linie nicht notwendig scheint. Es wird sich aber zeigen, dass deren weitere Verfolgung leichter und konkreter zugänglich ist, wenn die wahre Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung positiv – und gleichsam anschaulich – entwickelt wurde. Eine solche Entwicklung ist möglich, ohne die hegelsche Philosophie verlassen zu müssen – nämlich anhand der bisher errungenen Erkenntnisse und auf Basis weiterer Ausführungen Hegels aus der enzyklopädischen und in den Vorlesungen angereicherten Philosophie des subjektiven Geistes. (Man kann jedoch durchaus argumentieren, dass dieses „leichter und konkreter zugänglich“ nicht bloß eine pragmatischhermeneutische Dimension hat, sondern das Wesen der Selbsterkenntnis des Weges der (B)-Linie selbst betrifft. Dann wäre zu urteilen, dass Hegels Phänomenologie des Geistes in diesem Punkt zu abstrakt bleibt und der enzyklopädischen Ergänzung durch positive Ausbuchstabierung der (A)-Linie in Bezug auf das Problem der sinnlichen Wahrnehmung bedarf.) 2 Enz. 1830, § 448. Auf den Titel der „Anschauung“, den Hegel hier verwendet, werden wir in Kapitel 5 genauer zu sprechen kommen. 3 Eine solche philosophische Bestimmung meint weder, dass alles, was landläufig „Aufmerksamkeit“ genannt wird, diesem Begriff entsprechen müsste, noch, dass hier ein ganz anderer,
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4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung
dimensionen, die es im Laufe der Kapitel 4 und 5 zu erschließen gilt. Wir haben bereits einen Grund dafür eingesehen, warum er von einer Richtung „des Geistes“ spricht; damit ist deutlich gemacht, dass der Anfang jedes Wahrnehmungsaktes vom Geist selbst, als subjektivem Geist, gemacht ist und dieser Akt allein vom Geist vollzogen wird. Was aber meint Hegel, wenn er diese Richtung als „identisch“ bestimmt? Dies hat eine recht einfache und eine schwierigere Bedeutung: Die einfache besteht darin, dass „die (sinnliche) Aufmerksamkeit“ ja der Begriff eines Allgemeinen ist, das als solches immer nur konkret realisiert ist: als Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes. Dem entspricht, dass die Aufmerksamkeit – gemäß dem Stand unserer Gedankenentwicklung – die Stelle der vom Subjekt getätigten Aktualisierung von Begriffen ausfüllen muss. „Aktualisierung von Begriffen“ ist gleichermaßen ein Allgemeinbegriff; realisiert ist sie immer konkret als Aktualisierung dieser oder jener begrifflichen Bestimmungen, also als Wahrnehmung diesen oder jenen Inhalts. Die schwierigere Bedeutung von „identisch“ aber besteht darin, dass das Subjekt in der Tat seine sinnliche Aufmerksamkeit immer in eine für es identische Richtung lenken kann und lenkt, ohne dafür eines Objektes zu bedürfen: Es verfügt nämlich über ein apriorisches Wissen von der Form seines Wahrnehmungsfeldes, die die Form des von ihm dadurch erschlossenen Raumes ist. Dies werden wir in Abschnitt 4.1 sogleich genauer untersuchen. Damit ist aber auch schon impliziert, was Thema des Abschnittes 4.2 zu sein hat. Es ergibt sich nämlich unmittelbar ein weiteres Problem, wenn jede Objektwahrnehmung – also auch die in unseren Beispielen scheinbar ohne Aufmerksamkeit gegebenen und im Richten unserer Aufmerksamkeit schon vorausgesetzten Einzelwahrnehmungen – durch die Aufmerksamkeit erst konstituiert werden soll. Dies scheint nämlich prima facie schlicht die Nivellierung eben dieser Differenz zwischen einer schon vorausgesetzten und einer durch Aufmerksamkeit konstituierten Wahrnehmung zu implizieren. Doch eine bloße Nivellierung wäre absurd; denn sie würde die Formulierung der Beispiele ebenso wie die in der Einleitung gebotene Formulierung der damit zusammenhängenden Sachprobleme unmöglich machen. Die Auflösung dieses Widerspruchs kann nur in der Einsicht bestehen, dass die Aufmerksamkeit in zwei verschiedenen Formen auftreten kann: in Form einer bewusst vollzogenen Handlung – wie in unseren Beispielen: das Kind will das Flugzeug genauer sehen und sieht deshalb nun genauer hin – und in Form einer immer schon vorausgesetzten Handlung – wie Hegel sagt: in Form der „Gewohnheit“, in Form einer „unbewusst“ realisierten, zugleich aber philosophisch artifizieller Begriff der „Aufmerksamkeit“ gleichsam erfunden würde. Vielmehr – und das entspricht Hegels realphilosophischer Methode – sind wir durch den immanenten Fortgang der Gedankenentwicklung auf einen Begriff gestoßen, der als philosophische Klärung dessen gelten kann, was alltäglich mehr oder weniger scharf als „Aufmerksamkeit“ angesprochen wird.
4.1 Die apriorische Richtung der Aktivität der Aufmerksamkeit
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unbewusst gewollten Handlung.4 Genau so argumentiert Hegel, wie wir in Abschnitt 4.2 sehen werden.
4.1 Die apriorische Richtung der Aktivität der Aufmerksamkeit Um die Möglichkeit der Richtung ohne vorausgesetztes, gegebenes Objekt – also einer apriorischen Richtung – einzusehen, ist eine Vorüberlegung zur nichtontologischen Logik der Repräsentation in der Wahrnehmung hilfreich. Damit ist gemeint, dass eine Zu‑ oder Abnahme an Aufmerksamkeit, die mit einer Zu‑ bzw. Abnahme an epistemischer Akkuratheit oder Detailliertheit einhergeht, auch ein Repräsentieren bzw. Nichtrepräsentieren eines bestimmten Objekts als dieses Objekt überhaupt bedeuten kann – ceteris paribus, d. h. nicht erklärbar durch einen anderen (z. B. kausalen) Einflussfaktor. Hier ein Beispiel dafür, das uns aus unserer tatsächlichen Wahrnehmung vertraut ist: Wir sehen im Augenwinkel einen schwarzen Fleck an der weißen Wand, der sich bei näherem Hinsehen als kleine schwarze Spinne herausstellt. Dieses Beispiel ist nun weder so analysierbar, dass sich der Fleck unter der Hand durch einen Naturprozess in eine Spinne verwandelt hätte; noch so, dass an der besagten raumzeitlichen Stelle ein Fleck und eine Spinne als zwei getrennte Naturobjekte koexistieren würden. Die Differenz liegt rein in der Repräsentation – und ist, in diesem Sinne, nicht „ontologisch“ zu fassen.5 Dieses Beispiel ist aber noch in einer weiteren Hinsicht instruktiv: An ihm lässt sich nämlich nachvollziehen, dass die Vergröberung der Wahrnehmung durch Reduzierung der Aufmerksamkeit ihre Grenze – oder ihr Minimum6 – an der Wahrnehmung von zweidimensionalen Farbflecken im Raum findet, am Beispiel der visuellen Wahrnehmung gesagt. (Das haben wir bereits in Kapitel 2 eingesehen.) Selbst in maximal möglicher Vergröberung des Wahrnehmungsfeldes und sämtlicher Einzelwahrnehmungen wird ein kontinuierliches Gefüge zweidimensionaler Farbflecken im Raum wahrgenommen. Wittgenstein bringt dies in seinem Tractatus auf den Punkt:
4 So bestimmt Hegel die Form der „Gewohnheit“, die er explizit auch auf die sinnliche Wahrnehmung bezieht, in Enz. 1830, § 410 (und § 410 A). Diese Bestimmungen werden wir im Laufe des Kapitels genauer untersuchen. 5 Das impliziert, dass man ganz mit Recht von zwei verschiedenen Objekten sprechen kann, wenn man nicht den Maßstab der Naturerkenntnis, sondern z. B. einen ästhetischen anlegt. Auf die Nichtfestgelegtheit der Wahrnehmung in sich auf bestimmte Maßstäbe werden wir in den Kapiteln 5 und 6 ausführlicher zu sprechen kommen. 6 Das Minimum impliziert hier das Ausblenden der Zeit für das visuelle Wahrnehmungsfeld. Diese kann dort freilich einen Niederschlag haben, etwa, wenn Veränderungen gesehen werden. Doch im Minimalfall handelt es sich beim visuellen Wahrnehmungsfeld um ein zeitlich „eingefrorenes“; für das Wahrnehmungsfeld des Hörens ist Zeitlichkeit hingegen konstitutiv.
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4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung
„Der Fleck im Gesichtsfeld muß zwar nicht rot sein, aber eine Farbe muß er haben: er hat sozusagen den Farbenraum um sich.“ 7
Dieser Befund ist kein Zufall, keine kontingente empirische Entdeckung, sondern nichts anderes als Resultat einer Betrachtung der Form des Wahrnehmungsfeldes als solchem. Dieses ist – qua Feld – kontinuierlich gefüllt. Das Bestimmungsmoment der Kontinuität ist realisiert durch die Struktur des Raumes, der als solcher und soweit nichts anderes ist als die bloße Form kontinuierlichen Neben‑ und Auseinanders; das Bestimmungsmoment des Gefülltseins hingegen ist realisiert dadurch, dass Raumstellen niemals leer, sondern für uns immer gleichsam „bedeckt“ mit Empfindbarem – also dem Licht oder der Farbe – sind, denn nur so sind sie wahrnehmbar und können damit das Wahrnehmungsfeld in seiner Form eines Kontinuums überhaupt erst real konstituieren. Hegel selbst diskutiert diese beiden Momente – Räumlichkeit (und Zeitlichkeit) der Anschauung und Empfindung des Lichtes – in der Enzyklopädie und hebt hervor, dass sie als solche Abstraktionen des einen geistigen Aktes der Wahrnehmung sind.8 (Er gibt zudem alles für eine Analyse des gefüllten Wahrnehmungsfeldes des Hörsinns zur Hand: Dort besteht die Form des Kontinuums in Zeit-räumen, ihr Gefülltsein im elementaren Klang – vom Rauschen der Stille bis zur Melodie der Symphonie.9) Dies ist nun auf das Problem der Definition der Richtung der Aufmerksamkeit des Subjekts zu beziehen. Es verhält sich so, dass jedes wahrnehmungsfähige Subjekt ein apriorisches Wissen von der Form seines Wahrnehmungsfeldes hat. Es weiß – bildlich gesprochen: bevor es die Augen öffnet – zwar nicht, welche bestimmten Objekte es wahrnehmen wird; aber es weiß, dass hier und dort irgendetwas (minimal: Farbflecken) zu sehen sein muss. Es kennt also a priori alle Richtungen, in die es – von sich aus, als Ursprung der Raumkoordinaten, gesehen – seine Aufmerksamkeit zu richten hat; ein Wissen, wie, das es Wittgenstein 1984a: 12 (TLP 2.0131). Vgl. dazu Enz. 1830, § 410 A: „Sehen […] ist die concrete Gewohnheit, welche unmittelbar die vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseyns, der Anschauung, des Verstandes u.s.f. in Einem einfachen Act vereint“. Die raumzeitliche Struktur ist eine Bestimmung der Anschauung (vgl. § 448), worauf in Kapitel 5 noch genauer einzugehen sein wird. Zum Zusammenhang von Empfindung und Licht vgl. auch § 401 A sowie §§ 317 ff. – McDowell sieht den hegelschen Punkt, dass es sich bei Wahrnehmungsakten um Akte mit einer Einheit handelt, die als solche nicht in zwei (oder mehr) getrennte Akte zu analysieren sind; er geht aber nicht wirklich auf die von Hegel genannten, qua Gewohnheit zu diesem einen geistigen Akt der Wahrnehmung integrierten – aber unterscheidbaren und zu unterscheidenden – Bestimmungsmomente ein. Die differenzierende Kritik von Houlgate 2006 und 2016 ist daher grundsätzlich berechtigt. Umgekehrt ist McDowell 2008b darin Recht zu geben, dass die Empfindung, als ein integriertes Moment des einen geistigen Aktes der Wahrnehmung, nicht – wie Houlgate 2006 meint – als Akt der Aufnahme von Ansichseiendem missverstanden werden darf. 9 Vgl. Enz. 1830, § 401 A mit Verweis auf §§ 300 ff. Hegel bestimmt entsprechend auch die weiteren Sinne. 7 8
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ausübt.10 Damit können wir die Aktivität der Aufmerksamkeit des Subjekts also wie folgt beschreiben: Es richtet seine Aufmerksamkeit in all diese möglichen, definierten Richtungen – also, wie man sagen kann, „nach außen“. Daran wird schon deutlich, dass das „Außen“ qua apriorischem Wissen um die Form des Wahrnehmungsfeldes nur ein Außen für das Subjekt ist – und dass es in nichtempirischer Einstellung überhaupt keinen Sinn macht, von einem „Außen“ unter Abstraktion seines Außenseins für das Subjekt zu sprechen (und dass es deshalb letztlich auch keinen Sinn macht, hier von „nur“ für das Subjekt zu reden). Indem das Subjekt nun seine Aufmerksamkeit „nach außen“ richtet, repräsentiert es also – zunächst minimal – die zweidimensionalen Areale im Raum als diese-oder-jene-Farbe-habend. Dies ist – trotz seines minimalen Charakters – bereits ein Wahrnehmungsakt im Vollsinne, d. h. ein Akt der (aktiven) Aktualisierung von Begriffen, da ja die Farbwahrnehmung nur durch Begriffe möglich und wirklich ist. Konstituiert werden so schon minimale Objekte (nämlich Farbflecken) in Gestalt von Grenzen zwischen dem, was verschiedener Farbe ist. Hegel beschreibt dies plastisch so: „Die Intelligenz bestimmt hiemit den Inhalt der Empfindung [sc. z. B. der Farbe im Falle des Sehens] als außer sich seyendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist.“11
Wenn wir soweit von einem „minimalen“ Wahrnehmungsakt sprachen, setzten wir dabei einen bestimmten Maßstab voraus, den nicht die Natur vorgibt, sondern den wir festgelegt haben: einen bestimmten Maßstab der epistemischen Akkuratheit oder Detailliertheit.12 Nur ihm gemäß – wenn wir etwa die möglichst akkurate und detaillierte Wahrnehmung einzelner Objekte als tendenzielles „Maximum“ definieren – kann gesagt werden, dass die Wahrnehmung zweidimensionaler Farbflecken im Raum weniger akkurat oder detailliert – und in diesem Sinne minimal – ist. Es wäre ein objektivistischer Irrtum – grundverwandt mit demjenigen der Passivitätsauffassung – zu glauben, dass dieser Maßstab von den Objekten selbst gegeben wäre, wie dies in der Tat Strawson mit seinen „individuals“ (und mit ihm auch McDowell) zu meinen scheint. An diesem prinzipiellen Fehler ändert sich freilich nichts, wenn man das diesem Maßstab gemäß als Minimum geltende Objekt – die Farbflecken – substantialisiert, wie dies der 10 Dass ihm ein solches zukommt, stellt es alltäglich durch seine in der Einleitung beschriebene sinnliche Navigationsfähigkeit durch „die Welt“ unter Beweis. 11 Enz. 1830, § 448. Zum Begriff der „Anschauung“ vgl. Kapitel 5. 12 Hier wird erneut deutlich, dass McDowell und Travis weit näher beieinanderliegen, als sie meinen: Zwar spricht Travis 2004 der Wahrnehmung jede innere Normativität ab und McDowell 2013 nicht; doch McDowell scheint nur einen einzigen Maßstab an Normativität anzunehmen, nämlich den epistemischen. So sehr einer Auffassung der Wahrnehmung als begrifflich zuzustimmen ist – und so sehr in der, gegen McDowell zu richtenden, wahren Auffassung dieser Auffassung die Geistigkeit der Wahrnehmung expliziert ist –, so objektivistisch und den Geist beschneidend ist ihre normative Monopolisierung durch das Epistemische, wie sie McDowell faktisch vertritt.
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frühe Wittgenstein vorgeschlagen und später gründlich, durchaus im Geiste der hegelschen Auffassung, revidiert hat.13 Erhellend dafür, was es bedeuten kann, einen ganz anderen Maßstab anzulegen, ist eine Stelle aus Hugo von Hofmannsthals Briefen des Zurückgekehrten, in der eine Ästhetik der Farbigkeit literarisch so beschrieben wird, dass sie sich gerade gegen einen Fokus auf epistemisch „höhere“ Objekte richtet: „Es war nichts als dies: Er ging über Land, zwischen Feldern hin, ein Knabe von sechzehn Jahren, und hob den Blick gegen den Himmel und sah einen Zug weißer Reiher in großer Höhe quer über den Himmel gehen: und nichts als dies, nichts als das Weiß der lebendigen Flügelschlagenden unter dem blauen Himmel, nichts als diese zwei Farben gegeneinander, dies ewig Unnennbare, drang in diesem Augenblick in seine Seele und löste, was verbunden war, und verband, was gelöst war, daß er zusammenfiel wie tot, und als er wieder aufstand, war er nicht mehr derselbe, der hingestürzt war.“14
Der Sinn einer Ablehnung eines von Objekten (oder überhaupt „objektiv“) vorgegebenen Maßstabs lässt sich somit auf zwei Ebenen plausibilisieren: Zum einen gibt es einen kategorial anderen Maßstab für die Wahrnehmung als denjenigen der epistemischen Akkuratheit, allen voran den ästhetischen. Darauf wird an späterer Stelle zurückzukommen sein. Doch zum anderen gibt es selbst innerhalb der Kategorie des epistemischen Maßstabs verschiedene, je nach Interesse berechtigte und sinnvolle Maßstäbe. Man denke etwa an einen „guten Gesamteindruck“ von einer Landschaft oder eine „gute Übersicht“ über ein bestimmtes Areal. So hat beispielsweise nicht dasjenige Subjekt den besten Gesamteindruck von der Toskana und eine wahrnehmungsmäßig adäquate Kenntnis ihrer typischen Landschaftszüge, das in erster Linie biologisch signifikante Detailwahrnehmungen einzelner Zypressen akkumuliert. Hinter dieser Aussage verbirgt sich nichts Mystifizierendes; sie setzt keine Mystifikation „der Landschaft“ voraus. Ein Beispiel zur „Übersicht“: Ihre Schulklasse im Blick hat gerade diejenige Lehrerin, deren Fokus sich nicht etwa auf der unordentlichen Frisur eines Jungen verfängt. In Anbetracht der Tatsache, dass also schon innerhalb der Kategorie epistemischer Maßstäbe eine gewisse Vielfalt anzutreffen ist – die allerdings nur vom subjektiven Werk des Geistes her verständlich gemacht werden kann –, ist es umso irritierender, dass die sich auf Epistemologie fokussierende zeitgenössische Philosophie der Wahrnehmung so gut wie kein Bewusstsein von dieser Vielfalt hat. Die Erklärung dafür ist wohl in einer bestimmten Spielart des Naturalismus, nämlich dem Szientismus zu suchen – also derjenigen Denkart, die ihre Paradigmen nicht nur mit Bezug auf die Natur überhaupt, sondern auf die Natur, wie sie von den empirischen Naturwissenschaften gesehen wird, gewinnt. Für die Naturwissenschaft ist die in den Mikrokosmos der Dinge eindringende 13 Eine solche „Substantialisierung“ vertritt der TLP, wenn man ihn so liest, dass Raumstellen, Zeitpunkte und Farbqualitäten die einfachen, unveränderlichen Gegenstände sind, welche zusammen die Substanz der Welt bilden. 14 Hofmannsthal 1975: 172 [Hvh. T. O.].
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Betrachtung konstitutiv; und an diesem Paradigma sind diejenigen Philosophien der Wahrnehmung geeicht, die die detaillierte Objektwahrnehmung als selbstverständlichen – und einzigen – Maßstab, der gleichsam von sich her besteht, betrachten. Dem naturalistisch oder eben szientistisch präjudizierten Denken aber kann dieser Maßstab auch deshalb gar nicht als fragwürdig zu Bewusstsein kommen, als dies nur möglich ist, sobald auf die für unsere Wahrnehmung konstitutive Differenz von Wahrnehmungsfeld und Einzelwahrnehmung reflektiert wird. Dies ist aber zumeist schon nicht der Fall. Umgekehrt gilt, dass sich im Erinnern an diese Differenzen Züge des Geistes sichtbar machen lassen. Einer dieser Züge besteht in dessen entpartikularisierender Dynamik. Diese ist wiederum besonders plastisch an der ästhetischen Wahrnehmung zu verdeutlichen: ein Betrachter von Rembrandts Nachtwache, der nur auf eine Lichtreflexion am Rande einer einzigen Hutkrempe fokussiert ist, wird ebenso wenig der ästhetischen Erfahrung teilhaftig werden wie der Hörer einer Bach’schen Passion, der kontextlos mitten in ein Rezitativ „hineinhört“. Doch wie schon gesagt, bedarf es gar nicht des Kategorienwechsels zur Ästhetik, um die entpartikularisierende Dynamik als Wesenszug des Geistes aufweisen zu können – der ja, insofern jede sinnliche Wahrnehmung geistig und nicht naturhaft sein soll, eo ipso auch an jeder solchen aufweisbar sein muss. Das Zurücktreten vor Rembrandts Nachtwache, um das ganze Gemälde in den Blick nehmen zu können, ist und garantiert ja noch keine ästhetische Erfahrung. Es ist aber kein Zufall, dass ein Blick auf „das Ganze“ eine notwendige Bedingung dafür ist. Hierin zeigt sich die Natur des Geistes als etwas, das wesentlich „aufs Ganze“ geht – und seine metaphysische Distinktheit gerade darin zeigt, dass in der sinnlichen Wahrnehmung diesseits der ästhetischen Erfahrung nie das Ganze des Geistes offenbar wird, wie dies in der ästhetischen Erfahrung der Fall ist. Dass der Mensch also durch die entpartikularisierende Dynamik des Geistes in der ästhetischen Erfahrung wie auch diesseits davon ausgezeichnet ist, ist ein Punkt, an dem sich die unendliche Differenz zwischen menschlicher (geistiger) Wahrnehmung und tierischer (naturhafter) Wahrnehmung zeigt. So schreiben wir keinem Tier zu, einen Gesamteindruck der toskanischen Landschaft zu haben oder in den Genuss eines typischen New Yorker Frühlingstages zu kommen – beides sogar in einem Sinne, der noch diesseits der ästhetischen Erfahrung liegt. Beschreiben lässt sich dies dadurch, dass dem Tier eben diejenige Weite fehlt, die der Geist in seiner entpartikularisierenden Dynamik gewährt. Dies entspricht der durchaus breit akzeptierten Redeweise vom Tier als einem Lebewesen, das „im Moment“ und damit „punktuell“ lebt, aber kein Verhältnis zu Ganzheiten – geschwiege denn dem Ganzen der Welt oder seiner selbst – hat. Es ist kein Zufall, dass wir den Charakter „der“ toskanischen Landschaft und „des“ typischen New Yorker Frühlingstags nicht als eine bloße Akkumulation von Einzeleindrücken beschreiben. Wir meinen damit zwar etwas, das das Vorkommen von Zypressen und Hügeln bzw. den Sonnenschein im Central Park
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beinhaltet, aber nicht durch eine solche Liste zu fassen ist – und sei sie noch so lang. Es handelt sich jeweils um eine ursprüngliche Einheit, deren Erfahrungsmöglichkeit für den Menschen wesentlich mit seiner Geistigkeit und der Geistigkeit seiner Wahrnehmung verbunden ist. Das Eichhörnchen auf dem Felsen im Central Park spürt die Wärme der Sonnenstrahlen. Aber es macht – diesseits von Fabeln – schlicht keinen Sinn zu sagen, es gebe sich der genussvollen Erfahrung eines typischen New Yorker Frühlingstages hin. Doch nun zurück zum repräsentationalen Akt der Wahrnehmung, der mit dem Richten der Aufmerksamkeit „nach außen“ – definiert durch das apriorische Wissen von der raumzeitlichen Form des Wahrnehmungsfeldes – anhebt. Er kann – nun wieder am epistemischen Maßstab bemessen – dadurch akkurater und detaillierter werden, dass die Aufmerksamkeit sodann auf ein bestimmtes minimales Objekt gerichtet wird: z. B. auf den schwarzen Farbfleck an der weißen Wand, der sich sodann – bei genauerem Hinsehen – als schwarze Spinne darstellt. Allerdings ist die Aufmerksamkeit – logisch gesprochen – diesseits davon noch in alle möglichen Richtungen gerichtet, da sich erst dadurch das Wahrnehmungsfeld als Ganzes konstituieren lässt.15 Wir müssen also kategorial unterscheiden zwischen: (i) der ursprünglich in alle Richtungen verteilten und gestreuten Aufmerksamkeit, durch die das Wahrnehmungsfeld als solches konstituiert ist; (ii) der in eine bestimmte Richtung bewusst gerichteten Aufmerksamkeit, durch die ein bestimmtes, dort (also irgendwo innerhalb des schon vorausgesetzten Wahrnehmungsfeldes) liegendes Objekt nach dem epistemischen Maßstab akkurater und detaillierter wahrgenommen werden kann. Während es prinzipiell möglich ist, (i) ohne (ii) zu haben, setzt (ii) (i) notwendig voraus. Denn ohne Wahrnehmungsfeld, in dem das Objekt der Einzelwahrnehmung (ii) eo ipso lokalisiert sein muss, kann es keine solche Einzelwahrnehmung (ii) geben. Diese Zweistufigkeit von (i) und (ii) wirft natürlich eine Frage auf: Wie soll es möglich sein, dass durch Aufmerksamkeit die Wahrnehmung eines zweidimensionalen schwarzen Fleckes wird und diese wiederum in die Wahrnehmung einer dreidimensionalen, komplex gestalteten schwarzen Spinne überführt wird? Bedarf es dazu nicht doch eines vom Objekt ausgehenden Aktes des sich-Zeigens? Dies ist nicht der Fall, wie im Kapitel 5 genauer zu zeigen sein wird. Warum, lässt sich hier erneut andeuten: Wir können mit Recht 15 Diesen Gedanken, in seiner Grundsätzlichkeit, hat auch Maurice Merleau-Ponty klar gesehen und präzise so zusammengefasst: „Die erste Leistung der Aufmerksamkeit ist also die Schaffung eines ‚überschaubaren‘ – perzeptiven oder geistigen – Feldes, innerhalb dessen Bewegungen des erkundenden Organs und gedankliche Entfaltungen möglich sind, ohne daß das Bewußtsein immer aufs neue seine Erwerbe einbüßte und sich in den von ihm selbst hervorgerufenen Wandlungen der Situation verlöre.“ (Merleau-Ponty 1966: 50) Eine Bestimmung des Verhältnisses von Merleau-Pontys Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung zu derjenigen Hegels wäre möglicherweise ein lohnendes Unterfangen, das im Rahmen dieser Untersuchung jedoch nicht geleistet werden kann.
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sagen, ich nehme diesen schwarzen Fleck nun als schwarze Spinne wahr, weil er tatsächlich eine schwarze Spinne ist. Doch dieser normative („weil“) (und nicht einen Kausalnexus ausdrückende!) Satz ist als solcher nicht als Verweis auf einen vom Objekt ausgehenden Akt des kausalen sich-Zeigens oder der Determination zu analysieren, der ein vermeintlich „blindes Suchen“ des Subjekts erst anreichert oder erfüllt. Wenn nun ein Vertreter der Passivitätsauffassung meint, der Gedanke einer Objektkonstitution qua Aufmerksamkeit der Wahrnehmung sei Unsinn, da aus nichts nichts werde, haben wir zu entgegnen: Doch, aus nichts wird hier sehr wohl etwas; darin zeigt der Geist, der im individuellen wahrnehmenden Subjekt als subjektiver Geist am Werk ist, den Ansatz seines schöpferisch-kreativen Wesens, das im Setzen besteht, im Freisein von VorausSetzungen und in der Befreiung vom Schein, ihm sei etwas vorausgesetzt. Ausdrücklich schreibt Hegel: „Der theoretische sowohl als praktische Geist sind […] in der Sphäre des subjectiven Geistes überhaupt. Sie sind nicht als passiv und activ zu unterscheiden. Der subjective Geist ist hervorbringend […].“16
Damit macht Hegel deutlich, dass auch die sinnliche Wahrnehmung, die zum „theoretischen Geist“ gezählt wird17, „hervorbringend“ ist. Die Neigung, dies nicht zu verstehen oder glauben zu wollen, kann man nur aus der Neigung des „natürlichen Bewusstseins“ zur Passivitätsauffassung erklären. In diesem Zitat hebt Hegel auch hervor, dass aufgrund dieses Hervorbringungscharakters nicht nur der „praktische“, sondern auch der „theoretische Geist“ als „aktiv“ aufzufassen ist – und damit eben auch die sinnliche Wahrnehmung.18 Das bedeutet, dass die vonseiten des Subjekts qua sinnlicher Aufmerksamkeit – qua „Richtung nach außen“ – realisierte Aktualisierung von Begriffen eine aktive sein muss. All diese Zusammenhänge sind im Zusatz zu § 448 ganz ausdrücklich. Dort wird festgestellt, dass der eben beschriebene „hervorbringende“ Charakter des (subjektiven) Geistes im Falle der sinnlichen Wahrnehmung in der Aufmerksamkeit liegt. Die (sinnliche) Aufmerksamkeit wird dort nämlich plastisch als „ein Sicherfüllen mit einem Inhalte“19 bestimmt – und von der Aufmerksamkeit wird klar ausgesagt, dass sie „etwas von meiner Willkür Abhangendes ist, – daß ich also nur dann aufmerksam bin, wenn ich es seyn will“20.
Enz. 1830, § 444 [Hvh. T. O.]. Dort wird sie aus Gründen, die wir in Kapitel 5 einsehen werden, sodann „Anschauung“ genannt. 18 Hierzu gibt es eine weitere Parallelstelle: „Die Unterscheidung der Intelligenz von dem Willen hat oft den unrichtigen Sinn, daß beide als eine fixe von einander getrennte Existenz genommen werden, so daß das Wollen ohne Intelligenz, oder die Thätigkeit der Intelligenz willenlos seyn könne.“ (Enz. 1830, § 445 A) 19 VSG Zusätze, 1095 [Hvh. T. O.]. 20 VSG Zusätze, 1095. 16 17
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Dies ist nun ein Punkt, den wir schon in der Einleitung als schwierig gekennzeichnet haben – wegen des Befundes, dass unsere Aufmerksamkeit „auf sich gezogen“ oder „gefangen genommen“ werden zu können scheint, wie wir sagen. Nun zeigt sich, wie der Gang der hegelschen Untersuchung in der Phänomenologie des Geistes dieses Problem schon aufgelöst hat. Denn: Das Richten der Aufmerksamkeit ist initial (also auf Stufe (i)) gar nicht auf ein Objekt gerichtet, sondern in eine vom Subjekt a priori definierte Raumrichtung. Das aber bedeutet, dass es unmöglich ist, dass ein Objekt unsere Aufmerksamkeit lenkt – anstatt wir selbst; denn es ist gar kein Objekt voraus-gesetzt.21 Es gibt entsprechend auch nicht – wie in der aktuellen analytischen Debatte von mancher Seite vertreten – eine aktive und eine passive Aufmerksamkeit.22 Wie aber verhält es sich auf Stufe (ii)? Ist es nicht so, dass ein Objekt, das ich auf Stufe (i) schon (zumindest minimal) wahrgenommen habe, meine Aufmerksamkeit sodann auf sich ziehen kann? Nun, da das Objekt ja schon (zumindest minimal) wahrgenommen ist, bedeutet dies, dass ich mich zu dieser Wahrnehmung schon verhalte. Es kann mich keine rote Rose anziehen, bevor ich mit dieser sinnlich konfrontiert war, sie also in meinem Bewusstsein habe. Das bedeutet, dass jede solche Objektwahrnehmung immer schon innerhalb des Skopus unseres Bewusstseins liegt und damit auch immer schon in einem Verhältnis zu unserem Willen steht.23 Deshalb ist es falsch, wenn wir sagen: „Ich kann mich nicht auf meine Gedanken konzentrieren, sondern lasse mich durch die rote Rose ablenken, obwohl ich eigentlich nachdenken will.“ Das ist eine Rationalisierung der unbequemen Tatsache, dass ich nicht (oder jedenfalls nicht hinreichend) meinen Gedanken folgen, sondern die rote Rose ansehen will.24 Hegel gibt zu, dass ich nicht einfach (punktuell) wollen oder gar wählen kann, was ich will; dass ich vielleicht auch nicht (oder jedenfalls nicht notwendig) weiß, was ich will. Doch all das bedeutet nicht, dass ich nicht will, was ich will25 – was sich darin zeigt, dass ich es aktiv tue, nachdem ich mich schon dazu verhalten habe. 21 Hier mag wieder die „sideways-on“-Perspektive verführen: Freilich mag es in empirischer Einstellung Kausalprozesse geben, die vom Objekt ausgehen. Doch diese sind philosophisch kein Thema. 22 Vgl. dazu die kritische Darstellung von Roessler 2011. 23 Freilich könnte man hier widersprechen und sagen: Dadurch, dass etwas im Bewusstsein ist, muss ich mich dazu noch nicht qua Wille verhalten. Doch selbst wenn wir diesem Einwand folgen, ändert dies nichts daran, dass es unmöglich ist zu denken, dass die rote Rose meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen habe. Es wäre dann zu sagen, dass ein Bewusstseinsmoment dies getan habe, dieses „von sich aus“ meinen Willen manipuliert habe. Eine solche Auffassung aber, scheint mir, läuft (nach ihrer Entmythologisierung) auf nichts anderes hinaus als auf eine Konzeption des Willens, derzufolge ich nicht einfach willkürlich wählen kann, was ich will. Genau diese aber ist die hegelsche. 24 Das lässt freilich zu, dass es extreme Reize der Sinnlichkeit – z. B. einen lauten Knall – gibt, auf die wir reflexartig reagieren. Doch das ist dann gerade ein durch das Extrem des Reizes ge‑ oder gar zerstörter Wahrnehmungsfall. Denn Reflexe sind eben keine willentlichen Aktivitäten. 25 Sehr umfassend dargestellt ist Hegels Kritik am Konzept der willentlichen Wahl bei Knappik 2013.
4.2 Wahrnehmung qua sinnlicher Aufmerksamkeit
123
Die für beide Stufen vorgetragenen (vermeintlichen) Einwände, denen zufolge unsere sinnliche Aufmerksamkeit keine willentliche Aktivität (keine Handlung) sein soll, entpuppen sich also als gegenstandslos; sie sind in Wahrheit genährt vom selben Grund, in dem die Passivitätsauffassung der Wahrnehmung wurzelt: Der Einwand auf Stufe (i) geht allgemein davon aus, dass ein Objekt unsere Aufmerksamkeit von sich aus „ansprechen“ kann – ganz analog wie es sich gemäß der Passivitätsauffassung in der Wahrnehmung ohnehin selbst zeigen soll. Der Einwand auf Stufe (ii) geht davon aus, dass Objekte, auch wenn sie schon in unserem Bewusstsein sind, eine Macht auf unsere Aufmerksamkeit ausüben können, auf welche unser Wille, wenn überhaupt, erst nachträglichen Zugriff erhält – ganz analog, wie die Wahrnehmung gemäß der Passivitätsauffassung in einem notwendigen, unserem Willen durch und durch entzogenen kausalen Geschehen des sich-Zeigens bestehen soll. Allerdings ist zuzugeben, dass der von Hegel im Wortsinne „ver-tiefte“ Begriff des Willens, wie er in der sinnlichen Aufmerksamkeit am Werk ist, einer genaueren Auseinandersetzung bedarf, die primär im folgenden Abschnitt 4.2 zu leisten ist. Schon jetzt aber zeigt sich, dass sich auch am Begriff des Willens die entpartikularisierende, weitende Dynamik des Geistes aufweisen lässt: Dem Skopus des Willens gehört nicht nur dasjenige zu, was wir als ein punktuelles Interesse an uns selbst feststellen; vielmehr handelt es sich beim Willen um etwas, das tiefer und länger gewachsen ist – und deshalb auch nicht grundsätzlich zur Disposition eines punktuellen, willkürlichen Entschlusses steht. Zudem wollen wir offenbar – auf Stufe (i) – „immer schon“ unsere Aufmerksamkeit „nach außen“ richten und wahrnehmen.
4.2 Wahrnehmung qua sinnlicher Aufmerksamkeit – in gewohnheitsmäßiger und nicht-gewohnheitsmäßiger Form Die nun zu beantwortende Frage ist daher diese: Wie können wir zusammendenken, dass wir – auf Stufe (i) – schon immer, d. h. bevor es uns zu Bewusstsein tritt, die Aufmerksamkeit „nach außen“ gerichtet haben, dieses Richten der Aufmerksamkeit aber dennoch eine von uns selbst ausgehende willentliche Aktivität oder Handlung ist? Das setzt voraus, dass es sich um eine schon immer oder unbewusst gewollte Aktivität handeln muss. Genau eine solche analysiert Hegel unter dem Begriff der „Gewohnheit“. Das ist schon sprachlich insofern instruktiv, als wir unter „Gewohnheiten“ genau dasjenige verstehen, was wir äußerst stabil und soweit dauerhaft tun können, ohne dafür einen punktuellen Aufwand des Wollens oder Reflektierens erbringen zu müssen. Damit einher geht, dass diese tiefe Verwurzelung dazu führt, dass wir uns Gewohnheiten eben auch, wenn überhaupt, nur durch einen sehr langwierigen Um-Gewöhnungs-Prozess ab-gewöhnen können.
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4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung
Allerdings ist der Begriff der „Gewohnheit“, wie wir ihn alltäglich verwenden, mehrdeutig. Er verdeckt im Regelfall eine kategoriale Differenz, die Hegel mit ihm unter anderem zu fassen versucht. Alltäglich sprechen wir zumeist von partikularen Gewohnheiten, von bestimmten Handlungsabläufen, die uns durch Übung „in Fleisch und Blut übergegangen“ sind und die wir in diesem Sinne habitualisiert haben. Beispiele hierfür sind das quasi-mechanische Schneiden von Gemüse oder – auf einer deutlich anspruchsvolleren Ebene – die flüssig ineinander übergehenden Handbewegungen beim versierten Spielen eines Musikinstruments. Solchen Instanzen der „Gewohnheit“ ist gemeinsam, dass sie zum einen nicht zu unserem elementaren Wesen als endliche Subjekte gehören26, zum anderen – und damit intern zusammenhängend – als gewohnheitsmäßige Vollzüge im Ganzen immer noch den Status einer Einzelhandlung in dem Sinne haben, dass wir ihren Anfang und ihr Ende im selben Sinne und Maße als einer punktuellen Willensentscheidung zugänglich betrachten wie den Anfang und das Ende einer Einzelhandlung, die kein gewohnheitsmäßig strukturierter Handlungsablauf ist. (Es ist hier nicht darum zu tun, ob, wann und warum diese punktuelle Willensentscheidung tatsächlich gelingt oder nicht, sondern nur darum, dass es kein Unsinn ist zu sagen: „Er beschloss, nun mit dem Gemüseschneiden anzufangen/ aufzuhören und fing an/hörte auf.“ Während es Unsinn ist, im selben Sinne zu sagen: „Er beschloss, nun mit dem Wahrnehmen anzufangen/aufzuhören und fing an/hörte auf.“) Die Analyse solcher Fälle ist für die Philosophie jedoch „nur“ insofern interessant, als sie ein Fall von Begriffsklärung – hier: des Begriffs der „Gewohnheit“ – ist. Die besagten exemplarischen Instanzen der „Gewohnheit“ im Einzelnen hingegen sind über die Illustration hinaus nicht weiter von philosophischem Interesse. Hegel zufolge nun gibt es allerdings Instanzen, die im Einzelnen sehr wohl von philosophischem Interesse sind – und zwar genau deshalb, weil ihnen die eben benannten Merkmale nicht zukommen: Bei ihnen handelt es sich um gewohnheitsmäßige Vollzüge, die zu unserem elementaren Wesen als (erwachsene) endliche Subjekte gehören, und damit um solche, die keinen Anfang und kein Ende im Sinne einer punktuellen Willensentscheidung haben können, bei denen es nicht einmal Sinn macht, sie als durch einen punktuellen Willensentschluss begonnen oder beendet zu denken. Hegels wohl eindrucksvollstes Beispiel hierfür ist die aufrechte Körperhaltung des Menschen: „Die Form der Gewohnheit umfaßt alle Arten und Stufen der Thätigkeit des Geistes; die äußerlichste, die räumliche Bestimmung[.] des Individuums, daß es aufrecht steht, ist durch seinen Willen zur Gewohnheit gemacht, eine unmittelbare, bewußtlose Stellung, die 26 Hier ist bewusst von einem „elementaren Wesen“ die Rede; denn das „Elementare“ ist nicht das axiologisch Höchste und in diesem Sinne „Wesentliche“. Das Spielen eines Musikinstruments kann mir weitaus wesentlicher sein als das Elementare.
4.2 Wahrnehmung qua sinnlicher Aufmerksamkeit
125
immer Sache seines fortdauernden Willens bleibt; der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur solang als er es bewußtlos will.“27
Bevor wir den Begriff der Gewohnheit auf die sinnliche Aufmerksamkeit beziehen und diskutieren, soll kurz erläutert werden, was es eigentlich rechtfertigt, beide soeben unterschiedenen Kategorien – elementar wesentliche und nicht elementar wesentliche Gewohnheitsvollzüge – unter einem Begriff der „Gewohnheit“ zusammenzufassen, wie Hegel es tut. Der Sachgrund dafür liegt darin, dass sie beide folgende Form erfüllen und aufweisen: Gewohnheiten sind durch ausübendes Lernen (Übung)28 einer Aktivität hergestellte Verbindungen von noch Vereinzeltem zu höherer Einheit, in denen noch Vereinzeltes erst wird, was es sein soll, nämlich konstitutives Moment dieser höheren Einheit. Dies ist eine sehr abstrakte Definition – und gerade in ihrer und aufgrund ihrer Abstraktheit ist sie auf alle „Arten und Stufen der Thätigkeit des Geistes“ anwendbar. In den Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes wendet Hegel sie etwa auf das Beispiel des Schreibens (und Schreibenlernens) sowie das Spielen (und Erlernen) eines Musikinstruments an: „So ists […] mit dem Schreiben, mit der Musik etc. Die verschiedenen Reihen von bestimmungen die dazu gehören werden in der Geschicklichkeit vereinfacht, und wenn diese Reihe von Vermittelungen angesehn werden von dem fertigen Musiker, so hat er sie schon executirt; dazu gehört aber eine lange Übung, d. h. eine große Aufmerksamkeit der einzelnen Vermittlungen.“29
Und: „Dieß Allgemeine ist ein dermaaßen zur Einfachheit in sich Zusammengefaßtes, daß ich mir in Demselben der besonderen Unterschiede meiner einzelnen Thätigkeiten nicht mehr bewußt bin. Daß Dem so sey, sehen wir, zum Beispiel, am Schreiben. Wenn wir schreiben lernen, müssen wir dabei unsere Aufmerksamkeit auf alles Einzelne, auf eine ungeheure Menge von Vermittlungen richten. Ist uns dagegen die Thätigkeit des Schreibens zur Gewohnheit geworden, dann hat unser Selbst sich aller betrefflichen Einzelnheiten so vollständig bemeistert, sie so sehr mit seiner Allgemeinheit angesteckt, daß dieselben uns als Einzelnheiten nicht mehr gegenwärtig sind, und wir nur deren Allgemeines im Auge behalten.“30
Wichtig ist hervorzuheben – wie in obiger Definition bereits enthalten – dass es sich bei der Gewohnheit nicht um die äußerliche Aggregation Einzelner handelt, die auch außerhalb des Aggregats sind, was sie innerhalb desselben sein werden, sondern um die Integration Vereinzelter in eine Ganzheit, in der sie erst werden, was sie (in diesem Ganzen) sein sollen und, im Falle des Gelingens, auch sein Enz. 1830, § 410 A. In Enz. 1830, § 410 spricht Hegel ausdrücklich von der „Wiederholung“, welche „die Erzeugung der Gewohnheit als eine Uebung“ ist. 29 VSG Stolzenberg, 734. 30 VSG Zusätze, 1058 [Hvh. T. O.]. 27 28
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4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung
werden. Dies lässt sich etwa am Beispiel des Aufstrichs beim Spiel der Violine gut illustrieren: sofern ein Lernender damit beginnt, noch eher ein Geräusch denn ein Ton erklingt und noch kein Fluss in die Bogenführung gekommen ist, handelt es sich beim versuchten Aufstrich auch noch nicht um einen Aufstrich – sondern eben erst um einen versuchten Aufstrich. Ein Aufstrich ist er erst, sobald er in ein elementar gelingendes Violinspiel (oder zumindest eine elementar gelingende Bogenführung) integriert ist. (Umgekehrt lässt sich mit diesem Gedanken gut illustrieren, warum beispielsweise die Abfolge des Aufstellens eines Notenständers und des anschließenden Violinspiels nicht eine Gewohnheit ist oder sein kann; denn einen Notenständer kann man auch dann vollständig aufstellen – und damit eine in sich vollkommene Handlung vollziehen –, wenn anschließend kein Violinspiel folgt. Wenn es folgt, ändert es außerdem nichts an der vorherigen Handlung des Aufstellens eines Notenständers.) Die obige Definition der Gewohnheit, so sagten wir, ist abstrakt und kann deshalb von Hegel auf alle „Arten und Stufen der Thätigkeit des Geistes“ angewendet werden. Hegels Methode entsprechend handelt es sich dabei aber freilich nicht um eine dem jeweiligen Gegenstand äußerliche Applikation, die in allen Anwendungsfällen identisch ist und gleichsam mechanisch verläuft. Dass dem so ist, zeigt sich an einem Anwendungsfall, dem wir in der Diskussion des Kapitels „Kraft und Verstand“ schon begegnet sind. Hegel bestimmt die sinnliche Wahrnehmung – am Beispiel des Sehens – als „die concrete Gewohnheit, welche unmittelbar die vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseyns, der Anschauung, des Verstandes u.s.f. in Einem einfachen Act vereint.“31 Wie wir im Abschnitt über das Lernen (4.3) genauer einsehen werden, kann es sich hier nicht um die Integration verschiedener getrennter Akte oder geistiger Zustände handeln, die es außerhalb ihres Integriertseins in das Ganze der Wahrnehmung für das Subjekt schon geben würde. In einer solchen Auffassung, so Hegel, würde nämlich „der Geist auf diese Weise zu einer verknöcherten, mechanischen Sammlung gemacht. Es macht dabei ganz und gar keinen Unterschied, ob statt der Vermögen und Kräfte der Ausdruck Thätigkeiten gebraucht wird. Das Isoliren der Thätigkeiten macht den Geist ebenso nur zu einem Aggregatwesen, und betrachtet das Verhältniß derselben als eine äußerliche, zufällige Beziehung.“32
Die von Hegel genannten, verschiedenartigen „Bestimmungen“ werden also nicht schichtartig und äußerlich aufeinander gefügt, sondern durch die integrierende Einheitsleistung des Geistigen so vereint, dass der resultierte „Eine[.] einfache[.] Act“ als Akt der qua Aufmerksamkeit aktiven Aktualisierung von Begriffen definiert werden kann; expliziert man diese Definition, stößt man dabei – wie in unserer Untersuchung der Fall – auf sämtliche genannten Bestimmungs Enz. 1830, § 410 A. Enz. 1830, § 445 A.
31 32
4.2 Wahrnehmung qua sinnlicher Aufmerksamkeit
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momente, die als Momente dieses Akts für ihn konstitutiv sind.33 Sie sind als solche also nur im Ganzen des Aktes und damit mit internem Bezug aufeinander zu verstehen. Also handelt es sich bei ihnen um bloß analytisch (unter)scheidbare Momente des Ganzen, der konkreten Gewohnheit, welche die sinnliche Wahrnehmung ist – und im Erlernen oder Erwerb der sinnlichen Wahrnehmung findet die Integration dieser Momente zu diesem Ganzen statt. Hieran wird deutlich, weshalb und in welchem Sinne die obige Definition der Gewohnheit überhaupt – entsprechend den verschiedenen „Arten und Stufen der Thätigkeit des Geistes“ – kategorial verschiedene Ausprägungen kennt. Die Definition wird erfüllt dadurch, dass die noch Vereinzelten auf dem Weg des tätigen Erlernens qua Übung zu einem Ganzen integriert werden, in dem sie erst sind, was sie sein sollen. Allerdings sind diese noch Vereinzelten im Beispiel des Sehens als „concrete[r] Gewohnheit“ verschiedene Bestimmungen des Geistes, nicht aber einzelne Handlungsmomente, wie dies für den (versuchten) Aufstrich des Violinspiels gilt. Das ist ein Grund, warum dieses Beispiel zunächst anschaulicher ist als dasjenige des Erlernens der Wahrnehmung: dieser (versuchte) Aufstrich ist als Handlungsmoment identifizierbar, sichtbar und greifbar, während dies für die Bestimmung der „Empfindung“, die ein Moment des Ganzen der Gewohnheit der Wahrnehmung, aber selbst kein Handlungsmoment ist, nicht – oder jedenfalls nicht in gleicher Weise – gilt. Ein anderer Grund liegt freilich darin, dass wir das Erlernen bestimmter nicht elementar wesentlicher Gewohnheiten als erwachsene Subjekte an uns selbst beobachten können – anders als das Erlernen der Wahrnehmung, das mit dem Beginn unseres Lebens begonnen hat. Diese innere Ausdifferenziertheit der Gewohnheit macht diesen Begriff – und das entsprechende Kapitel der Enzyklopädie – umso schwieriger; und Hegel bemerkt explizit, wie schwierig und zugleich wichtig der Begriff der Gewohnheit für die philosophische Selbsterkenntnis ist.34 Deshalb ist es erforderlich, dass wir den für unsere Untersuchung relevanten Fall einerseits eingedenk der allgemeingültigen Definition, andererseits eingedenk ihrer differenzierten Anwendung relativ zu eben jedem einzelnen Fall in seiner Besonderheit diskutieren. Der hier relevante Fall ist nämlich die qua Erlernen und Übung zur Gewohnheit werdende Aktivität der sinnlichen Aufmerksamkeit (und damit auch der Wahr33 Das einzige der genannten Bestimmungsmomente, auf das wir noch nicht explizit eingegangen sind, ist dasjenige des „Bewußtseyns“. Dieses lässt sich aber insofern kurz abhandeln, als Hegel in diesem Kontext – also jenseits des Standpunktes des „Bewusstseins“ – damit die Bestimmung des „Objekts“ (als solchem, im Unterschied zum Subjekt) meint, somit auch den Aspekt der Wahrnehmung, den wir „Einzelwahrnehmung“ im Unterschied zum „Wahrnehmungsfeld im Ganzen“ genannt haben. Hegel schreibt, das „Bewußtseyn überhaupt“ sei das, was „einen Gegenstand als solchen hat“ [Hvh. T. O.] (Enz. 1830, § 417). Dieser Gegenstand wird freilich erst zusammen mit den anderen genannten Bestimmungsmomenten als solcher konstituiert. 34 Hegel schreibt: „In wissenschaftlichen Betrachtungen der Seele und des Geistes pflegt die Gewohnheit entweder als etwas Verächtliches übergangen zu werden, oder vielmehr auch weil sie zu den schwersten Bestimmungen gehört.“ (Enz. 1830, § 410 A)
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nehmung) selbst. Sie ist analog dem Erlernen des Violinspiels darin, dass auch sie eine Handlung ist; disanalog aber darin, dass sie zum elementaren Wesen des endlichen-Subjekt-Seins gehört. Aus diesem Grund empfiehlt es sich, einem hegelschen Wink zu folgen und als illustrierenden Analogiebezugspunkt nicht primär das Violinspiel, sondern eine dem erwachsenen endliches-Subjekt-Sein ebenfalls elementar-wesentliche Handlung zu wählen. Hegel hebt in der Enzyklopädie hierzu das schon erwähnte Halten der Körperspannung zur aufrechten Körperhaltung als Beispiel hervor: „[D]ie räumliche Bestimmung[.] des Individuums, daß es aufrecht steht, ist durch seinen Willen zur Gewohnheit gemacht, eine unmittelbare, bewußtlose Stellung, die immer Sache seines fortdauernden Willens bleibt; der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur solang als er es bewußtlos will.“35
Etwas ausführlicher beschrieben wird dies in den Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes: „[D]ie Form der Gewohnheit umfaßt alle Thätigkeiten; z.b. das allgemeine Verhalten ist daß der Mensch steht; der Mensch will stehen; wenn er das nicht will, so fällt er um; aber dieser Wille ist eine Bestimmung des Selbstgefühls, welches sich so erhält, so fortdauert. Die Kinder wollen aber eigentlich stehen, und haben lange damit zu thun eh sies dahin bringen, und noch länger dauerts eh sie gehen, d. h. in der Stellung sich bewegen.“36
Folgende wesentliche Merkmale einer elementar-wesentlichen Tätigkeit in Form der Gewohnheit lassen sich an diesem Beispiel ablesen: (i) Die Tätigkeit des Stehens ist dem Menschen nicht von Natur aus zu eigen, sondern muss – mühsam – gelernt und geübt und dadurch angeeignet werden. Diese Aneignung ist eine willentliche Handlung; denn sonst würde es sich nicht um eine Aneignung qua Lernen und Üben durch ein immer schon geistiges Wesen handeln, sondern um Abspielen eines Programms oder, sofern externe Faktoren beteiligt sind, um ein „Abrichten“ eines Tieres, wie Hegel sagt37 – damit aber eben um einen rein von Natur aus gegebenen Mechanismus, der bloß „ablaufen“ müsste. (ii) Dass das erwachsene endliche Subjekt die Tätigkeit des Stehens in dieser Weise sich durch Lernen und Üben angeeignet hat – und zwar in einer Zeit, zu der seine Erinnerung nicht zurückreicht –, erklärt, warum es für es den Anschein hat, als würde es diese Tätigkeit gleichsam automatisch oder mechanisch – ohne eigenes Zutun – vollziehen.38 Tatsächlich aber handelt es sich um etwas – wie Enz. 1830, § 410. VSG Stolzenberg, 734. 37 Hegel macht diesen Kontrast ausdrücklich: „[W]ir sagen von den Thieren nicht, sie werden daran gewöhnt, sondern sie werden zu etwas abgerichtet, d. h. man knüpft an irgend eine Empfindung eine Thätigkeit; aber das Thier selbst macht diese Verbindung nicht; es wird dazu gezwungen, es wird seinem Sein angeeignet; es übt sich nicht aus sich.“ (VSG Stolzenberg, 736) 38 Es gibt Hegel-Interpreten, die diesem Irrtum aufsitzen und damit gerade die Pointe von Hegels Konzept der „Gewohnheit“ verkennen. Sie lesen Hegels „Gewohnheit“ (und seine „An35 36
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in (i) beschrieben –, das immer schon gewollt ist und dessen willentliche Form sich im gewohnheitsmäßigen Vollzug sodann fortsetzt. „[D]er Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur solang als er es bewußtlos will“, sagt Hegel. Uns ist im gewohnheitsförmigen aufrechten Stehen in der Tat nicht bewusst, dass wir es wollen; deshalb hat von einem „unbewussten“ oder – wie Hegel sagt – „bewußtlos[en]“ Wollen die Rede zu sein. (iii) Hegel bezeichnet diese tiefe Verankerung solcher elementar wesentlicher Gewohnheiten auch als Verleiblichung, als „Bildung“ der „Leiblichkeit“.39 Dies spiegelt sich in unserer Redeweise wider, eine Gewohnheit sei einem „in Fleisch und Blut“ übergegangen. Im Falle des aufrechten Stehens hat die Rede von Verleiblichung einen weiteren konkreten Sinn. Ohne hier die Differenz zwischen Leiblichkeit und Körperlichkeit als solche diskutieren zu können, sei ihr elementarer Sinn kurz angedeutet: Während man unter „Körperlichkeit“ die empirische Betrachtung unserer selbst – also diejenige, in der wir für uns nicht anders sind als etwas, das nicht wir selbst sind – zu verstehen hat, ist unter der „Leiblichkeit“ unsere Körperlichkeit, insofern sie wesentlich für uns unsere ist, zu verstehen. An einem Beispiel illustriert: Vom Zitratzyklus, der in uns stattfindet und zur notwendigen natürlichen Basis, von der unser Dasein kausal abhängt, gehört, wissen wir ohne empirische Beobachtung gar nicht(s); er gehört zu unserer Körperlichkeit. Vom Schmerz, den wir haben, aber auch von unserer Körperspannung und Körperhaltung, in der wir durchs Leben gehen, haben wir ein unmittelbares Wissen. All dies gehört, wie Hegel deshalb weiter sagt, zum „Selbstgefühl“ – ein Begriff, der nachher weiter aufzuklären ist. (iv) Aufgrund der in (i)–(iii) beschriebenen tiefen Verankerung des Gewohnten ist die gewohnheitsförmige Tätigkeit des aufrechten Stehens auch nicht durch einen punktuellen Entschluss zu beenden, sondern nur durch eine aufwändigere, artifizielle Gegen-Handlung: Man kann absichtlich die Körperspannung abfallen lassen – doch das ist nicht einfach, was sich darin zeigt, wie schwierig es ist, als Schauspieler einen „echt“ aussehenden Ohnmachtsanfall darzustellen. In diesen Kontext passt außerdem die richtige alltägliche Feststellung, wie mühsam es ist, sich einmal erworbener „schlechter Gewohnheiten“ zu entledigen, so sehr man sich das nun wünschen mag. thropologie“ insgesamt) als Theorie eines graduellen Übergangs vom Natürlichen in das Geistige oder als Theorie der natürlichen Grundlagen des Geistigen. Damit aber bleiben sie dezidiert im Rahmen des Naturalismus, so explizit etwa bei Pinkard 2012 („Hegel’s Naturalism“). In Bezug auf die sinnliche Wahrnehmung ist dieses Problem auch bei Forman 2010 zu konstatieren – wobei anzuerkennen ist, dass sein Aufsatz der m. W. soweit einzige ist, der Hegels „Gewohnheit“ überhaupt konkret auf die sinnliche Wahrnehmung zu beziehen versucht. Eine instruktive Übersicht zu Lesarttypen der hegelschen „Gewohnheit“ (auch im Verhältnis zur philosophischen Strömung namens „Phänomenologie“) findet sich bei Magrì 2016 und 2018. 39 Unter anderem in Enz. 1830, § 410 A spricht er von „Leiblichkeit“, ebenso in den einschlägigen Abschnitten der VSG zur „Gewohnheit“ passim.
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Wenden wir nun die oben abgelesenen Merkmale der Gewohnheit auf die Aktivität der sinnlichen Aufmerksamkeit, die immer durch konkrete Wahrnehmungshandlungen realisiert ist, an40: (i*) Offensichtlich – das zeigt der kindliche Geist dem erwachsenen Geist, wenn dieser nur die Augen auftut – üben und erlernen Kinder die Aktivität der Aufmerksamkeit, indem sie sich von Anbeginn an aktiv ihrer Um-Welt zuwenden, sie im Wortsinne be-greifen. Dieser Punkt wird im folgenden Abschnitt (4.3) ausführlich zu diskutieren sein. (ii*) Aufgrund dieses vor Einsetzen unserer Erinnerung bereits stattgefun denen Erwerbs hat es für den Erwachsenen den Anschein, als sei die sinnliche Aufmerksamkeit – und mit ihr die sinnliche Wahrnehmung – ein biologisches factum brutum, etwas, das wir automatisch und im Wachzustand mit der Notwendigkeit der Natur mechanistisch vollziehen. Doch tatsächlich ist dies Resultat einer tiefgehenden willentlichen Aneignung, in der dieser Wille – uns unbewusst – fortwirkt. Dieser Anschein aber ist es, der erklärt, warum gerade die Wahrnehmung dem über sich selbst nachzudenken versuchenden Menschen als ein natürlicher Prozess erscheint. (iii*) Tiefgehend ist diese willentliche Aneignung auch dahingehend, dass die sinnliche Aufmerksamkeit – und mit ihr die sinnliche Wahrnehmung – verleiblicht ist; auch hier ist die Analogie zum aufrechten Stehen instruktiv. Die Verleiblichung der sinnlichen Wahrnehmung zeigt sich darin, dass die natürlichen Bedingungen, von denen die sinnliche Wahrnehmung kausal abhängt, nicht nur etwas sind, von dem man philosophisches Wissen und – insofern man sie sodann empirisch untersucht – naturwissenschaftliches oder medizinisches Wissen haben kann; vielmehr sind diese natürlichen Bedingungen schon für das wahrnehmende Bewusstsein als solches, nicht erst in seiner philosophischen oder wissenschaftlichen Reflexion, zugänglich. Jedes wahrnehmungsfähige Individuum weiß, dass eine Veränderung der Lichtverhältnisse oder eine zunehmende Entfernung des Objekts die Wahrnehmung desselben beeinflussen können. Dabei hat es zugleich ein Wissen um sein natürliches Wahrnehmungsorgan: denn es weiß von sich als Ursprung des Wahrnehmungsfeldes und damit etwa auch von einem Zusammenhang der räumlichen Richtung seines Auges und der entsprechenden Veränderung seines Wahrnehmungsfeldes. Es ist instruktiv, dies mit etwaigen natürlichen Bedingungen, von denen unser Urteilen 40 Hegel sagt zwar klar, dass die Form der Gewohnheit auch die sinnliche Wahrnehmung wesentlich betrifft, führt ihre Anwendung auf die sinnliche Wahrnehmung aber nirgends explizit systematisch aus. Es ist deshalb wichtig hervorzuheben, dass hier eine „Lücke“ in Hegels Enzyklopädie klafft, die im Wesen ihrer Darstellungsweise begründet ist: dass nacheinander abgehandelt werden muss, was aber nur miteinander und aufeinander bezogen (voll) zu begreifen ist. Das ist ein allgemeingültiger Hinweis. Dass er ganz konkret auch für den in der „Anthropologie“ verhandelten Begriff der „Gewohnheit“ im Hinblick auf die in der „Psychologie“ verhandelten Vermögen gilt (und dass eine Nichtbeachtung dieses Zusammenhangs schwere Missverständnisse zur Folge haben muss), hat auch Merker 1990 klar herausgestellt.
4.2 Wahrnehmung qua sinnlicher Aufmerksamkeit
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kausal abhängen mag, zu kontrastieren: bestimmte neuronale Prozesse. Von ihnen haben wir weder ein Wissen diesseits der empirischen Wissenschaft, noch können wir es in irgendeine interne Beziehung zu dem, was im Urteilen geschieht, setzen. Während wir in der Wahrnehmung wissen, dass das Drehen des Auges ein bestimmtes Objekt aus unserem Blickfeld verschwinden lässt, wissen wir diesseits wissenschaftlicher Reflexion nicht, dass unser Urteilen gerade von diesem oder jenem neuronalen Prozess kausal beeinflusst wird – und schon gar nicht können wir sagen, dass wir aufgrund dieses Nervenimpulses nun weniger treffsicher als sonst geurteilt haben, also einen Zusammenhang zwischen der Qualität des Urteilsaktes und einem kausalen Faktor herstellen. Es ist nun wichtig zu sehen, dass die leibliche Dimension der sinnlichen Aufmerksamkeit (und damit der Wahrnehmung überhaupt) ebenso wenig wie das an sich triviale Phänomen der kausalen Abhängigkeit geistiger Vollzüge von gewissen natürlichen Prozessen irgendetwas an der Einsicht modifiziert, dass die Wahrnehmung ein durch und durch geistiger Akt – und kein natürlicher Prozess – ist. Vielmehr gilt, dass besagte kausale Abhängigkeit ein universales Phänomen ist – es betrifft alle geistigen Vollzüge, nicht etwa nur die Wahrnehmung –, und dass die leibliche Dimension nichts anderes ist als ein bestimmter, nicht-empirisch zu nennender Zugang zu den natürlichen Bedingungen, den wir gerade und nur aufgrund unserer Geistigkeit haben. Darauf wird in Kapitel 6 noch einmal einzugehen sein. An dieser Stelle verhilft es zur weiteren Ausräumung von Missverständnissen, auf den Aktivitätscharakter der Aufmerksamkeit, der der Wahrnehmung intern ist, zu verweisen; denn kausale Abhängigkeit und eine leibliche Dimension im beschriebenen Sinne sind nicht nur für diese Aktivität, sondern auch für ganz andere Aktivitäten – z. B. das Ausüben eines Sports – konstitutiv. Die Tatsache, dass das Skifahren von bestimmten körperlichen Prozessen und physikalischen Zuständen an der Schneeoberfläche kausal abhängt – und dass der Skifahrer qua Skifahrer von beidem auch ein Wissen hat, ihm etwa eine Muskelschwäche im Oberschenkel als Problem im Skifahren gegenwärtig ist –, impliziert ja gerade nicht, dass Skifahren ein Naturprozess sei – sondern vielmehr, dass besagtes Verhältnis des Skifahrers zur Natur nur deshalb möglich ist, weil sein Vollzug gerade kein natürlicher ist. (iv*) Man kann nicht einfach durch einen punktuellen Entschluss, nicht mehr die Aktivität der sinnlichen Aufmerksamkeit vollziehen – und damit nicht mehr wahrnehmen – zu wollen, aufhören wahrzunehmen. Unterbrechen kann man den Vollzug allenfalls durch eine aufwändigere, artifizielle Gegen-Handlung. Paradigmatisch hierfür sind – wie aus (iii*) einleuchten dürfte – solche Handlungen, die diejenigen natürlichen Bedingungen manipulieren, von denen die sinnliche Wahrnehmung kausal abhängt: z. B. das Abschalten des Lichtes oder das Schließen der Augenlider. Daran, dass dies jedem – und nicht nur dem philosophischen – Subjekt möglich ist, zeigt sich erneut das der Dimension der „Leiblichkeit“ zuzurechnende Wissen von diesen natürlichen Bedingungen.
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4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung
Somit sind es also drei zentrale Begriffe, mit denen Hegel die Gewohnheit aufklärt. Sie sollen noch einmal eigens hervorgehoben und in ihrer Eigentümlichkeit profiliert werden; denn in dieser Eigentümlichkeit spiegelt sich unser Wesen als geistig im Gegensatz zu natürlichem Sein wider: – „bewusstloser Wille“: Hegel argumentiert im Kontext der dargestellten Reflexionen auf die „Gewohnheit“ dafür, den Begriff des „bewusstlosen Wollens“ einzuführen. Damit erweitert er die schon geschilderte, aus dem Wesen des Geistes rührende Entpartikularisierung und Entmomentanisierung des Willens um eine weitere Dimension: Es ist nicht nur so, dass unser der-Musik-nichtfolgen-Können aufgrund unseres Versunkenseins in philosophische Gedanken nicht dagegen spricht, dass wir in letzterem handeln – tun, was wir wollen –, sondern vielmehr offenbart, dass die Tiefe dieses Wollens nicht durch den punktuellen Wunsch, dem Konzert zu lauschen, unterbrochen werden kann. Es ist weiter so, dass es ein Wollen gibt, das wir vollzogen haben weit vor den biographischen Zeiten, in welche unsere Erinnerung zurückreicht – sodass die gewollte Aktivität (hier: der sinnlichen Aufmerksamkeit) anschließend derart tief als gewollte Aktivität in uns verankert ist, dass wir sie im Wachzustand immer und ohne bewussten Willensentschluss, ohne bewussten Handlungsvollzug unsererseits vollziehen – aber eben doch willentlich vollziehen, „bewusstlos willentlich“. Daher ist zu sagen: Wir sind es nicht nur gewohnt, sinnlich wahrzunehmen; sondern wir sind auch gewohnt, sinnlich wahrnehmen zu wollen – denn nur so können wir es gewohnt sein, sinnlich wahrzunehmen, da die sinnliche Wahrnehmung wesentlich eine durch Wahrnehmungshandlungen realisierte willentliche Aktivität ist. In diesem Punkt zeigt sich die kategoriale Differenz zwischen dem Menschen als subjektivem Geist und dem Tier als Naturwesen: Der Mensch kann – und muss – sich das, was er sodann wesentlich ist, erst willentlich erstreiten. Darin liegt der philosophische Sinn der anthropologischen These, der Mensch sei ein „Mängelwesen“. Deren philosophische Pointe liegt nicht in der Feststellung, dass der neugeborene Mensch „weniger kann“ als ein Tier, sondern vielmehr darin, dass er sich das, was er später können wird, von vornherein willentlich aneignen, erstreiten muss. Und genau darin kann und ist er schon unendlich mehr als ein Tier. Das impliziert den Unterschied, dass es sich beim Menschen um eine Aneignung durch sich selbst handelt – während es sich bei den Tieren, sofern sie etwas „lernen“, um einen Prozess an ihnen handelt. Hegel dazu: „[W]ir sagen von den Thieren nicht, sie werden daran gewöhnt, sondern sie werden zu etwas abgerichtet, d. h. man knüpft an irgend eine Empfindung eine Thätigkeit; aber das Thier selbst macht diese Verbindung nicht; es wird dazu gezwungen, es wird seinem Sein angeeignet; es übt sich nicht aus sich.“41
VSG Stolzenberg, 736.
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Und: „Die Gewohnheit habe ich aber nicht von Hause aus, sondern ich habe sie mir erst durch mich angeeignet; sie ist durch mich gesetzt; eine Qualität meiner selbst; dadurch unterscheidet sie sich von den natürlichen Qualitäten […].“42
– „Verleiblichung“: Die Differenz zwischen der „Verleiblichung“, die eine Gewohnheit im Falle des Menschen sein kann, und der natürlich-körperlichen Prozessualität, die ein Tier entweder immer schon aufweist oder zu der es extern „abgerichtet“ wird, spricht sich deutlich auch darin aus, wie wir jeweils über die Privation sprechen: Es kann von einem Menschen wie von einem Tier gesagt werden, dass es krank ist oder einen natürlichen Defekt hat; es kann aber nur vom Menschen gesagt werden, dass er ungebildet ist. Hegel gebraucht den Begriff der „Bildung“ im Kontext der Gewohnheit so, dass deutlich wird, dass er zwei voneinander unterscheidbare, aber nicht trennbare Bedeutungsaspekte hat: zum einen kann mit „Bildung“ eben der Erwerb einer bestimmten Gewohnheit überhaupt gemeint sein – und damit, etwa im Falle der sinnlichen Aufmerksamkeit, die Bildung zur erwachsenen Form dessen, was wir oben als zum elementaren Wesen des Menschen gehörend bezeichnet haben. Zum anderen kann mit „Bildung“ aber auch der Erwerb bestimmter Wahrnehmungsfähigkeiten gemeint sein, die als solche natürlich auch in gewohnheitsmäßiger Form auftreten können. So sprechen wir etwa von „Gehörbildung“ – und meinen damit die Ausbildung eines feinen, differenzierten, zur Musikalität tauglichen Gehörs. Jemand, der ein solches Gehör hat, hat es nicht nur in seiner nicht-gewohnheitsmäßigen sinnlichen Aufmerksamkeit, sondern auch in seiner gewohnheitsmäßigen. Er hat es – wenngleich auch und gerade er einer Beethoven-Symphonie seine nicht-gewohnheitsmäßige Aufmerksamkeit schenken wird. Beim ersten Bedeutungsaspekt nun ist genau auf den Begriff des „Elementaren“ zu achten. Es wäre nämlich ein Missverständnis zu meinen, dass er „das Wesentliche“ im Sinne des „eigentlich Bedeutsamen“ meinen würde; vielmehr verhält es sich umgekehrt: das eigentlich Bedeutsame für das Menschsein ergibt sich erst durch Bildung im Sinne des zweitgenannten Bedeutungsaspektes – für die allerdings das Elementare notwendige Voraussetzung ist. Dieses Verhältnis – diese Umkehrung der, wenn man so will, Axiologie des Wesentlichen – führt vor Augen, warum Tiere nicht nur nicht im Sinne des zweiten, sondern auch schon nicht im Sinne des ersten Bedeutungsaspektes „gebildet“ sein können: denn der Prozess der Entwicklung ihrer Wahrnehmung impliziert nicht einmal das Potential für etwas wie ein musikalisches Gehör, das sie sodann selbst ausbilden könnten. – „Selbstgefühl“: Zunächst könnte man meinen, der schon erwähnte Begriff des „Selbstgefühls“ bezeichnet das reine Selbstbewusstsein – also mein Wissen, VSG Stolzenberg, 726 f.
42
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4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung
dass ich ich bin – in Form des Gefühls, also in verunmittelbarter Weise. Doch Hegel macht klar, dass er etwas darüber Hinausgehendes meint, indem er sagt, dass das Selbstgefühl immer in einem „besondern Gefühl“ realisiert sei.43 Dies lässt sich nun auf zwei Weisen verstehen: entweder, indem man bekräftigt, dass jedes beliebige Gefühl – bis hin zur elementaren Empfindung eines Schmerzes – für den Menschen kategorial anders sei als für das Tier. Dies mag richtig sein, greift aber als Erläuterung des Begriffs des „Selbstgefühls“ zu kurz: denn allein dadurch, dass ein Gefühl oder eine Empfindung des Menschen für ihn eine kategorial andere Form hat als für ein Tier, ist noch nicht gesagt, dass es sich bei diesem Gefühl selbst um ein Selbstgefühl handelt. Es könnte ja auch sein, dass es sich vielmehr um eine wesentlich vom Selbstbewusstsein begleitete oder durchdrungene Schmerzempfindung handelt, die die Empfindung selbstbewusst gegenwärtig, aber dadurch noch nicht an sich zu einem Selbstgefühl (oder einer Selbstempfindung) machen würde. Was Hegel stattdessen im Blick hat, lässt sich gut am Beispiel der gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung erläutern44: Diese besteht, wie wir gesehen haben, wesentlich darin, die sinnliche Aufmerksamkeit „nach außen“ – d. h. in alle möglichen Raumrichtungen gestreut und auf sie zunächst gleichmäßig verteilt („dosiert“) – zu richten und somit ein Wahrnehmungsfeld im Ganzen zu konstituieren. Diese Ganzheit ist dem wahrnehmenden Subjekt also in derselben Weise a priori bewusst, wie es ein apriorisches Wissen von Raum und Zeit als Formen des Wahrnehmungsfeldes im Ganzen hat. Das aber bedeutet, dass das Haben eines Wahrnehmungsfeldes im Ganzen auch ein Wissen um dieses Wahrnehmungsfeld als Ganzem ist. Mit „Wissen“ ist hier noch keine philosophische Erkenntnis gemeint; vielmehr ist es ein „Wissen davon“ im Sinne einer „Vertrautheit damit“, die sich darin zeigt, dass wir dieses Ganze in unserer sinnlichen Navigation praktisch und souverän immer schon in Anspruch nehmen. Anschaulich zeigt sich dies darin, dass mein wahrnehmender Bezug auf meine Umgebung eben immer ein wahrnehmender Bezug auf diese Umgebung als Umgebung – und nicht bloß auf einzelne Objekte in Juxtaposition ist, die dieser Umgebung zugehören. Einen sinnlichen Eindruck von „der Stadt“ oder eben „der toskanischen Landschaft“ haben wir nur so – und ein solcher schließt immer besondere Empfindungen oder Gefühle ein: „Die Stadt“, „die toskanische Landschaft“ oder „ein sonniger Frühjahrstag in NYC“ sind für mich nicht ohne „den Geruch der Stadtluft“, „das im Dunst Schimmern der am Horizont sich abzeichnenden Zypressen“ bzw. „das Leuchten der Blätter vor dem Hintergrund der Wolkenkratzer“. Zusammengenommen folgt daraus: Es gibt besondere Gefühle, die intern mit dem Haben eines Wahrnehmungsfeldes als Ganzem zusammenhängen und deshalb Gefühle sind, die nur ein Selbst hat Enz. 1830, § 407 [Hvh. T. O.]. Dies ist auch der Grund, warum Hegel „Selbstgefühl“ und „Gewohnheit“ in der Anthropologie verschränkt abhandelt. 43 44
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und in denen sich das Selbst vermittelst des ihnen internen Ganzen, das nur für es qua Selbst ist, unmittelbar mit gegeben ist. Dies ist, was Hegel „Selbstgefühl“ nennt. Es hat und kennt jeder – nicht nur das Subjekt der philosophischen Selbsterkenntnis: Das toskanische Lebensgefühl ist, wie Hegel sagt, einerseits ein „besonder[es] Gefühl“ – und damit seinem Gehalte nach stark unterschieden etwa vom sibirischen Lebensgefühl –, aber in beiden wird nicht nur dieser Gehalt erfahren, sondern in beiden ist sich das Selbst aufgrund der Form der Ganzheit seiner selbst gewärtig. Diese drei Leitbegriffe nun sind einem Vertreter der Passivitätsauffassung (wie McDowell) schon deshalb nicht zugänglich, weil er auf das grundlegende Phänomen des Wahrnehmungsfeldes im Ganzen nicht reflektiert45; tiefer gesprochen: weil sich in diesen drei Begriffen die entpartikularisierende, aufs Ganze gehende Dynamik des Geistes ausspricht, die der hinter der Passivitätsauffassung liegende Naturalismus nicht zu erkennen geben kann (und will). Die Differenz zu McDowell kommt in diesem Kontext auch dahingehend äußerst plastisch zum Ausdruck, dass Hegel in seinen enzyklopädischen Ausführungen zur Gewohnheit zwei weitere Begriffe einführt, die McDowell ebenfalls verwendet – und zwar, wie sich gleich zeigen wird, in einem Sinn, der demjenigen Hegels geradezu widerspricht und nicht, wie McDowell zu meinen scheint, sich von Hegel her begründen lässt: (i) „Zweite Natur“. Hegel schreibt: „Die Gewohnheit ist mit Recht eine zweite Natur genannt worden, − Natur, denn sie ist ein unmittelbares Seyn der Seele, − eine zweite, denn sie ist eine von der Seele gesetzte Unmittelbarkeit, eine Ein‑ und Durchbildung der Leiblichkeit, die den Gefühlsbestimmungen als solchen […] zukommt.“46
Die Gewohnheit hat insofern ein Moment der „Natur“, als sie im Modus der Verleiblichung den Rang des unserem bewussten Wollen Entzogenen und damit den Anschein eines natürlichen oder biologischen factum brutum hat; sie ist aber darin „zweite“ Natur, dass dies eben nur ein Anschein ist und der wahre Grund für diese tiefe Verankerung, die die Verleiblichung ist, vielmehr in einem willentlichen und somit schon geistigen Vollzug liegt. Eine gewohnheitsmäßige Form, eine zweite Natur, kann daher nur ein durch und durch geistiges Wesen ausbilden, und zwar in Bezug auf seine Vollzüge, die ebenfalls geistig sind – in unserem Fall: die willentliche Aktivität der Aufmerksamkeit. Keinen Sinn macht es von dieser Warte aus, den Begriff der „zweiten Natur“ zu gebrauchen, um eine metaphysische Kategorie zu bezeichnen, der ein Naturwesen nach einer Trans45 Wie wir nun klar sehen, ist dies nicht zufällig so: Wenn Wahrnehmung darin bestünde, dass Objekte sich selbst zeigen, wäre nicht zu klären, warum sie sich in der Einheit des Wahrnehmungsfeldes und zu deren Zwecke „vergröbert“ zeigen. Dies ist nur von der Ganzheits‑ und Einheitsleistung des Subjekts und seiner ursprünglichen Streuung der Aufmerksamkeit her, somit also nur durch die Aktivität der Wahrnehmung zu erklären. 46 Enz. 1830, § 410 A.
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formation zugehört – wie McDowell es in Mind and World vorgeschlagen und inzwischen, wohl auch angeregt durch wohlfundierte Kritik47, offenbar revoziert hat.48 Ebenso wenig macht der Gedanke einer „zweiten Natur“ Sinn, insofern er ausdrücken soll, dass Operationen des Geistes – im Falle der Wahrnehmung: Begriffe – in die Natur integriert sind, die dadurch statt erste (durch und durch „entzauberte“) eine zweite (teilweise „wiederverzauberte“) Natur sein soll, wie McDowell ebenfalls einst vorgeschlagen hat.49 Diesem Vorschlag kann man nur zugeneigt sein, sofern man die Wahrnehmung als ein natürliches, kausales Geschehen fasst und dann erklären will, wie diese begrifflich soll sein können („sprechen“ soll können); sieht man ein, dass es keinen Grund gibt, sie so zu fassen, entfällt auch jeder Anlass, den Geist in die Natur „integrieren“ zu wollen. Entsprechend der wahren Auffassung der Wahrnehmung ist die Natur das, als was Hegel sie auch explizit bezeichnet: das Begriffliche „in der Form des Andersseyns“50, und dasjenige, dem gegenüber der Geist „absolut Erstes“51 ist. Das meint soweit: Objekte der Natur (und der Welt) werden begrifflich repräsentiert als etwas, das eo ipso nicht selbst Begriff oder Geist ist, und als eine – in der Tat, ganz entzauberte – Sphäre, in der das Begriffliche als solches keinen Raum haben kann, das also nur insofern „begrifflich“ ist, als es ohne Begriff gar nicht wäre, sondern nur als Anderes des Begriffs ist; und diese Repräsentation ist vom Geist selbst angefangen und allein von ihm vollzogen, in der Wahrnehmung durch die willentliche Aktivität der Aufmerksamkeit in ihrer gewohnheitsmäßigen wie auch nicht-gewohnheitsmäßigen Form. (ii) „Offenheit“. Hegel gebraucht in seinen Ausführungen zur Gewohnheit auch den Begriff der „Offenheit“. Er schreibt, dass die „Seele“ in den gewohnheitsmäßigen „Formen“ „als ihrem Besitze existirt, − [so] ist sie zugleich für die weitere Thätigkeit und Beschäftigung, – der Empfindung sowie des Bewußtseyns des Geistes überhaupt, offen.“52
Der Verweis auf die „weitere Thätigkeit und Beschäftigung“ des Geistes bedeutet mindestens zweierlei: – Zum einen: Die Aufmerksamkeit in Form der Gewohnheit konstituiert, wie wir eingesehen haben, ein Wahrnehmungsfeld im Ganzen. Dieses ist die Voraussetzung für das Richten der Aufmerksamkeit in nicht-gewohnheits Jüngst etwa artikuliert von Rödl 2016 und Kern 2017 und 2018. McDowell 2017 etwa expliziert den hegelschen Geistbegriff durch den der (aristotelischen) „Seele“ als Lebensform, in der der Mensch immer schon steht. Das ist zwar aus hegelscher Warte ein gewisser Fortschritt gegenüber seiner früheren Fassung (McDowell 1996), bleibt durch seinen Aristotelismus jedoch immer noch in einem Naturalismus verfangen, der mir nicht mit Hegels Geistbegriff vereinbar scheint. Vgl. dazu meine Kritik in Oehl 2018b. 49 Vgl. McDowells 1996: 85 berühmte Rede von „partially enchanted [nature]“. 50 Enz. 1830, § 247. 51 Enz. 1830, § 381. 52 Enz. 1830, § 410. 47 48
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mäßiger Form. Durch dieses Richten aber können wir – z. B. zu epistemischen Zwecken, etwa in der medizinischen Diagnostik – bestimmte Objekte akkurater wahrnehmen und somit einen Zweck verfolgen, den wir allein im Haben eines Wahrnehmungsfeldes noch nicht verfolgen könnten. Gegen McDowell ist zu insistieren, dass gerade diese im guten Sinne „moderne“ und „epistemische“ Leistung des Menschen darauf beruht, dass die Natur „disenchanted“ – entzaubert – ist. – Zum anderen: Dadurch, dass wir vieles – darunter auch die Aufmerksamkeit der Wahrnehmung – in Form der Gewohnheit gleichsam „automatisieren“ können, können wir unsere Aufmerksamkeit in nicht-gewohnheitsmäßiger Form gerade denjenigen Dingen schenken, die sich nicht in Form der Gewohnheit automatisieren lassen, sich einer solchen vielmehr widerständig verwehren.53 Gerade dies sind die höheren Vollzüge des Geistes – am besten sichtbar an den höchsten, absoluten Vollzügen, die Hegel „absoluten Geist“ nennt: Kunst, Religion und Philosophie ist es wesentlich, dass sie in ihrem Gelingen nicht in Form der Gewohnheit realisierbar sind – dass sie aber, gerade im Gelingen, unsere volle Aufmerksamkeit verlangen. Zwar kann ich gewohnheitsmäßig Kunstwerke betrachten, in die Messe gehen, oder Kant lesen und über seine Werke reden. Doch ich kann nicht gewohnheitsmäßig ästhetische Erfahrungen machen, eine religiöse Erhebung der Seele erleben, oder eine philosophische Einsicht, ein Verstehen und Aufgehen dessen, worum es Kant zu tun ist, haben. Wie wir noch genauer einsehen werden, handelt es sich bei den Vollzügen des absoluten Geistes um aus prinzipiellen Gründen unverfügbare Vollzüge; sie sind, sofern sie sich ereignen, ausgezeichnet – und schon deshalb nicht einfach Teil der gewohnheitsmäßigen Basis unseres normalen Lebens, die uns auf Basis einer normalen Bildung immer schon gegeben ist. McDowell hingegen gebraucht den Begriff der Offenheit als „Offenheit für die Welt“ („openness to the world“54). Er meint, dass der Geist leer sei, solange er nicht offen ist für die Welt, die ihn mit empirischem Inhalt versorgt, der sich aus der Welt heraus selbst zeigt: „Thoughts without content – which would not really be thoughts at all – would be a play of concepts without any connection with intuitions, that is, bits of experiental intake. It is their connection with experiental intake that supplies the content, the substance, that thoughts would otherwise lack.“55 Hegel hat gute Gründe, den Begriff der Offenheit geradezu umgekehrt zu gebrauchen: Offen ist der Geist für sich selbst; und insofern wir es 53 Auch Novakovic 2019: 5 hebt hervor „that habits are liberating […] when they free up our cognitive resources for non‐habitual pursuits“. Dass sie diesen Punkt seinem Gewicht nach jedoch abschwächt, scheint mir einerseits daran zu liegen, dass sie die Tiefe der Gewohnheit, wie sie im Falle der Wahrnehmung deutlich wird, nicht voll in den Blick bekommt, und, andererseits, die absolute Hoheit dessen, wofür wir offen und befreit sind, nicht zureichend (an)erkennt: die Vollzüge des absoluten Geistes als absolute Maßstäbe auch in dieser Hinsicht. 54 McDowell 1996: 111. 55 McDowell 1996: 4.
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mit elementaren Vollzügen wie der gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung zu tun haben, ist er offen für Höheres als diese. Dass der Geist offen für sich selbst ist, klingt nur solange paradox, als man nicht im Blick hat, dass Geist – soweit er jetzt im Blick ist, als subjektiver Geist – noch nicht den Geist im Ganzen erschöpft. Mehr noch: Der Geist auf dieser Stufe hat in der Tat ein Defizit – aber nicht, wie McDowell meint, weil er an sich noch nicht mit Inhalt gesättigt wäre, sondern vielmehr, weil er auf der Stufe der Wahrnehmung bloß mit Inhalt gesättigt ist, der nicht das ist, was er als Geist eigentlich ist. Dieses werden wir mit Hegel im zweiten Teil der Untersuchung genauer verfolgen. Soweit zur Gewohnheit. Nun wollen wir zusammenfassen, wo wir damit im Gang der Entwicklung der wahren, positiv zu explizierenden Auffassung der Wahrnehmung als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen stehen. Wie sich gezeigt hat, lässt sich unter Rekurs auf Hegels Begriff der „Gewohnheit“ dasjenige Sachproblem lösen, das sich im Ausgang der Diskussion des Kapitels „Kraft und Verstand“ in präzise formulierter Form aufgetan hatte. Die Frage dort war gewesen, wie es möglich ist, dass wir unsere Aufmerksamkeit immer aktiv-willentlich richten und so den repräsentationalen Akt der Wahrnehmung beginnen, obwohl wir, sofern wir dies bewusst tun, ja immer schon solche Akte vorausgesetzt haben. Die Antwort darauf lautet: In dieser vorausgesetzten Form handelt es sich um Akte der bewusstlos willentlichen Aktivität der Aufmerksamkeit in Form der Gewohnheit, bei den auf dieser Voraussetzung operierenden Akten hingegen um Akte der bewusst willentlichen Aktivität der Aufmerksamkeit in nicht-gewohnheitsmäßiger Form. Während erstere im gleichverteilendstreuenden Richten der Aufmerksamkeit „nach außen“ das Wahrnehmungsfeld als Ganzes konstituieren, fokussieren zweitere auf einzelne Objekte oder Areale, die in diesem lokalisiert und als solche schon im Blick sind; sie können diese Objekte und Areale – an einem epistemischen Maßstab der Akkuratheit oder Detailliertheit bemessen – besser sinnlich repräsentieren. Die Diskussion der Gewohnheit hat dabei zwei für uns relevante Anwendungsfälle des hegelschen Gewohnheitsbegriffs ans Licht gebracht: Zum einen die bestimmungslogische Form des Wahrnehmungsaktes betreffend, von dem Hegel sagt, er sei „die concrete Gewohnheit, welche unmittelbar die vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseyns, der Anschauung, des Verstandes u.s.f. in Einem einfachen Act vereint“56. Zum anderen aber die gewohnheitsmäßige Formierung der Aktivität der Aufmerksamkeit, also einer bestimmten willentlichen Tätigkeit, betreffend. Wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, ist im durch Erlernen und Üben realisierten Erwerb der Wahrnehmung beides zugleich realisiert. Das ist freilich kein Zufall, sondern hat einen zwingenden Grund: die sinnliche Aufmerksamkeit ist ja die Aktualisierung begrifflicher Vermögen, als vom geistigen Subjekt selbst geleisteter Beginn und Vollzug des einen Enz. 1830, § 410 A.
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geistigen Aktes der Wahrnehmung. Nun ist zudem offenbar, dass ein Kind nicht von seiner Geburt an über begriffliche Vermögen in erwachsener Form verfügt. Aus all dem folgt, dass die Ausbildung begrifflicher Vermögen in der Wahrnehmung (und damit des Aktes der Wahrnehmung in Form seiner gewohnheitsmäßigen Einheit der genannten Bestimmungsmomente) nicht vom Erlernen der Aktivität der Aufmerksamkeit (auch in Form der Gewohnheit) zu trennen ist; vielmehr muss beides als zwei Aspekte desselben – im Zuge eines Erlernens – begriffen und dargestellt werden. Schon deshalb ist es unerlässlich, das Erlernen der sinnlichen Aufmerksamkeit und damit der Wahrnehmung zu thematisieren. Dabei werden erneut Wesenszüge des Geistes profiliert werden können, die uns auf Basis des bisher mit Hegel Argumentierten zur Verfügung stehen – einem im Geiste des Naturalismus Argumentierenden hingegen nicht.
4.3 Zur Frage nach unserem Erlernen der sinnlichen Wahrnehmung Im Widerspruch zu Hegels Auffassung steht McDowells Meinung aus Mind and World, dass der Mensch als reines Naturwesen – wenn auch mit dem Potential der Entwicklung zu einem Wesen, das begriffliche Akte vollziehen kann – geboren wird und durch einen Prozess der „Bildung“ erst zu einem Wesen der „zweiten Natur“ (in seinem Sinne) werden soll, dem dann das begriffliche Vermögen der Wahrnehmung zukommt.57 Der Grundgedanke hinter einem solchen Prozess besteht darin, dass Geistiges – hier: begriffliche Vermögen – in schon vorhandenes, rein Natürliches eingebildet werden soll. Demgegenüber ist mit Hegel zu vertreten, dass der Mensch immer schon Geist ist – und jeder Entwicklungs‑ und Reifeprozess einer ist, der sich schon innerhalb des Geistigen vollzieht. Im Sinne dieses hegelschen Grundgedankens wurde jüngst auch klar von Andrea Kern (und Sebastian Rödl) argumentiert58: Zwar sei es richtig, dass ein Kleinkind noch nicht in reifer, erwachsener Form wahrnehme, doch bedeute dies nicht, dass es noch überhaupt nicht begrifflich wahrnehme, also ein in der Art anderes Vermögen als das größere Kind oder der Erwachsene ausübe; vielmehr nehme es schlechter oder unreifer wahr denn als künftig erwachsenes Wesen – ganz analog wie ein Anfänger im Tennis ein noch schlechterer oder unreiferer Tennisspieler als ein Fortgeschrittener oder Profi ist, unbeschadet dessen aber doch bereits dieselbe Sportart, Tennis, ausübt, wenn auch eben schlecht(er) und unreif(er).59 Vgl. dazu v. a. McDowell 1996: 87 ff. Vgl. Kern 2017 und 2018, Rödl 2016. 59 Kern 2017: 300 f.: „Die Tatsache, dass das Neugeborene, dessen Sehvermögen zunächst für kaum mehr empfänglich ist als für die Veränderungen des Lichts, noch einen weiten Weg vor sich hat, um schließlich in der Lage zu sein, auf der Grundlage seiner Wahrnehmungen Ur57 58
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Doch weder Kern noch Rödl können vertreten, dass hier mehr als eine bloße Analogie zum Erlernen praktischer Fähigkeiten vorliegt, da sie nicht vertreten, dass die Wahrnehmung selbst qua Aktivität der Aufmerksamkeit wesentlich und intern praktisch ist. Dagegen bestimmen sie die Wahrnehmung, im Einklang mit McDowell, als „Erkenntnisvermögen“60, das nicht praktisch, sondern rein theoretisch ist; und wie McDowell halten Kern und Rödl am Kern der Passivitätsauffassung fest: dass Akte dieses Vermögens passiv, in Form der Kausalität, realisiert seien.61 Daher hilft die Analogie zum Tennisspiel, so illustrativ sie ist, für die exakte Bestimmung des Erwerbs dieses Vermögens bei Kern und Rödl nur begrenzt weiter. Die Frage, wie sich ein unreifes Erkenntnisvermögen von einem reifen denn eigentlich unterscheidet – in ihrer jeweiligen Ausübung –, wird von Kern daher durch einen Rekurs auf eine Differenz im „Bewusstsein der Allgemeinheit“ des Aktes bestimmt.62 Nun ist sicher richtig, dass die Wahrnehmung eines Kleinkindes nicht von einem Bewusstsein der Allgemeinheit dieses Wahrnehmungsaktes begleitet ist. Doch es ist unklar, ob und warum diese Feststellung zureichen sollte, die Differenz zwischen der Wahrnehmung des Kleinkindes und derjenigen des größeren Kindes oder des Erwachsenen zu bestimmen. Zum einen scheint mir nicht klar, wie ein solches Bewusstsein der Allgemeinheit der Wahrnehmung wirklich inhärent sein und selbige nicht nur äußerlich begleiten soll. Zum anderen scheint mir höchst fraglich, wie die Entwicklung der Wahrnehmung sodann noch als eine kontinuierliche und auch graduelle bestimmt werden können soll. Denn ein Bewusstsein der Allgemeinheit ist offenbar etwas, das vorhanden oder nicht vorhanden ist – und nicht etwas, von dem man sinnvoll sagen könnte, dass es mehr oder weniger vorhanden oder ausgebildet sei. Wie auch immer man sich zu diesen Konzeptionen letztlich verhalten mag: Klar wird aus dem Gesagten, dass es ein Vorzug sein könnte, wenn eine philosophische Auffassung der Wahrnehmung einen nicht-analogischen Sinn aus der Bezugnahme auf die Logik des (Er‑)Lernens einer Praxis machen könnte. Dies ist für die hegelsche Auffassung der Wahrnehmung als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen der Fall. Inwiefern genau, soll im Folgenden in wesentlichen Punkten entwickelt werden: (i. Die Gradualität begrifflicher Vermögen) Wie noch genauer zu erläutern sein wird (vgl. Kapitel 5), in der Diskussion des Wahrnehmungskapitels der teile darüber zu fällen, wie die Dinge sind, sollte uns folglich nicht dazu bringen zu sagen, dass das Neugeborene ein Vermögen ausübt, das unter einen anderen Begriff fällt als dasjenige, das der Vierjährige ausübt. Ebenso wenig wie es uns dazu bringt zu sagen, dass der Vierjährige, der gerade beginnt, Tennis zu spielen und nur kaum den Ball mit dem Schläger trifft, ein Vermögen ausübt, das unter einen anderen Begriff fällt als das Vermögen des Wimbledon-Gewinners, auch wenn es in der Tat noch ein sehr weiter Weg ist für den Vierjährigen, bis seine Fähigkeit, Tennis zu spielen, in der Weise entwickelt ist wie die Fähigkeit des Wimbledon-Gewinners.“ 60 Hier herrscht explizite Einigkeit zwischen Kern 2006, Rödl 2011 und McDowell 2011. 61 Vgl. dazu Kern 2006: 153 ff. und, im Anschluss daran, Rödl 2011: 178 ff. 62 Kern 2017: 299 ff.
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Phänomenologie des Geistes aber schon angesprochen wurde, sind begriffliche Vermögen mit Hegel als Unterscheidungsvermögen aufzufassen. Diese Auffassung ist zwingend für ein Denken, das den positiven Begriff des Begriffs überwunden hat. Sie ermöglicht es zudem, dem Denkerfordernis der Gradualität dieses Vermögens – und der jeweiligen Fähigkeit oder Kompetenz, die damit verbunden ist – unmittelbar Rechnung zu tragen, also einem Denkerfordernis, das im Gedanken des Lernens impliziert ist: und zwar dadurch, dass es offenbar sinnvoll ist zu sagen, dass ein Unterscheidungsvermögen mehr oder weniger gut ausgeprägt sein kann. Ein instruktives Beispiel ist das Vermögen eines Arztes, im Herzultraschall bestimmte Herzklappenfunktionsstörungen zu sehen: ein junger, noch unerfahrener Arzt mag das dafür nötige Unterscheidungsvermögen – etwa: signifikante Abweichungen des sichtbaren Blutflusses von der Norm von insignifikanten zu unterscheiden – in einem Maße haben, das es ihm erlaubt, einfache oder klare Fälle richtig zu diagnostizieren, nicht aber schwierige oder grenzwertige. (Auf diesen Gedanken der Gradualität von Kompetenzen wird im Kontext der Diskussion von (Defizienz‑)Faktoren der sinnlichen Wahrnehmung und der Kritik des Disjunktivismus in Kapitel 6 zurückzukommen sein.) (ii. Der Handlungs‑ oder Praxischarakter der Aufmerksamkeit) Aufmerksamkeit ist eine willentliche Aktivität (oder Handlung). Als sinnliche Aufmerksamkeit hat sie sich soweit als eine aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen dargestellt. Insofern wir die sinnliche Aufmerksamkeit als solche betrachten, betrachten wir also (die Fähigkeit zu) diese(r) aktive(n) Aktualisierung begrifflicher Vermögen überhaupt – d. h. unter Absehung der je konkreten empirisch-begrifflichen Vermögen, wie sie in dieser oder jener konkreten Wahrnehmung eines bestimmten individuellen Subjekts am Werke sind. Qua Aktivität ist die Aufmerksamkeit allerdings schon etwas, das ein Subjekt besser oder schlechter können oder tun kann.63 Es besteht nun aber ein Unterschied, ob diese soweit abstrakt gefasste Differenz auf ein schon erwachsenes Subjekt bezogen wird oder zur Beschreibung der Differenz zwischen einem unreifen und einem erwachsenen Subjekt gebraucht wird. Im ersten Fall zeigt sich die Differenz etwa darin, dass wir irgendetwas nicht so genau hören können, weil es uns aufgrund unserer Gedankenversunkenheit nicht gelingt, unsere Aufmerksamkeit darauf zu lenken – was offenkundig ein anderes Problem ist als dasjenige mangelhafter Ausstattung mit Begriffen. (Auch auf diesen Punkt wird daher im Zuge der Diskussion von Defizienzfaktoren und der Kritik des Disjunktivismus in Kapitel 6 genauer zu sprechen zu kommen sein.) Im zweiten Fall – und das ist der an hiesiger Stelle relevante – greift die besagte Differenz entsprechend tiefer. Einem Kleinkind wird keine voll ausgeprägte sinnliche Wahrnehmung zugesprochen. Das bedeutet, dass ihm weder ein Wahrnehmungsfeld noch Einzelwahrnehmungen jeweils 63 Korsgaard 2009: 38 etwa drückt dies prägnant und ganz allgemein so aus: „[T]he very idea of action is itself a normative idea“.
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in der reifen Form, wie wir sie von uns, als erwachsenen Subjekten, kennen, zuzuschreiben sind; somit aber auch kein apriorisches Wissen um die Form des Wahrnehmungsfeldes. Damit aber kann es die nicht-gewohnheitsmäßige Aktivität der Aufmerksamkeit nicht vollziehen, wie dies für erwachsene Subjekte wesentlich ist: als eine bewusst-willentlich gesteuerte Navigation durch das Wahrnehmungsfeld. Auch kann es a fortiori noch keine ausgeprägte gewohnheitsmäßige Aktivität der Wahrnehmung vollziehen; denn wäre dies der Fall, wäre dem Kind eben doch ein vollständig ausgeprägtes Wahrnehmungsfeld (und damit zumindest auch die für dieses Feld konstitutiven Einzelwahrnehmungen) zuzuschreiben. Das Erlernen der Aktivität der Aufmerksamkeit soll aber, wie wir sagten, nach der Logik des Erlernens einer Praxis rekonstruiert werden. Das bedeutet, als Verbesserung der Fähigkeit durch zunehmende Aus-übung eben dieser – noch nicht ausgeprägten – Fähigkeit. Diese Logik ist uns aus Lernprozessen bekannt, die wir an erwachsenen Subjekten beobachten können und die nicht eine zum elementaren Wesen des endlichen Subjekts gehörige Fähigkeit betreffen: etwa, dass ein Schwimmenlernender das Schwimmen nur lernt, indem er schwimmt. Die Logik eines solchen Lernprozesses besteht darin, dass eine noch nicht zureichend oder gar vollständig ausgeprägte Fähigkeit dadurch ausgeprägt wird, dass sie – auf ihrem vorläufigen Niveau – wiederholt (und zum Zwecke der Übung und Verbesserung) ausgeübt wird. Diese Ausübung ermöglicht einen Zuwachs an dieser Fähigkeit, sodass die erneute Ausübung zum Zwecke des Lernens auf höherem Niveau beginnen kann und sodann – wie eben beschrieben – einen erneuten Anstieg des Niveaus ermöglicht. Wie nun prägt sich diese Logik des Erlernens in Bezug auf den Erwerb der Wahrnehmungsfähigkeit – auf den Erwerb der Fähigkeit zur willentlichen Aktivität der sinnlichen Aufmerksamkeit – aus? Der eben beschriebene spiralförmige Niveauanstieg lässt sich auch darauf bezogen darstellen: Das Kleinkind richtet seine Aufmerksamkeit nach außen, wodurch es zusehends wahrnimmt; eine zusehends bessere Wahrnehmung bedeutet eo ipso sowohl eine zusehends bessere Ausprägung des Wahrnehmungsfeldes als auch der (dafür konstitutiven) Einzelwahrnehmungen; basierend darauf kann das Kleinkind zusehends besser die Aktivität der (nicht-gewohnheitsmäßigen) Aufmerksamkeit, welche eben dieses ja voraussetzt, ausüben – sie also sowohl in nicht-gewohnheitsmäßiger Form als auch in zusehends gewohnheitsmäßiger Form mehr und mehr erwerben. Dies wiederum macht die Wahrnehmung – in ihrer Ausprägung als Wahrnehmungsfeld wie als Einzelwahrnehmungen – ausgeprägter, usf. In dieser Aneignungsbewegung, die uns aus der Aneignung (anderer) praktischer Fähigkeiten vertraut ist, zeigt sich ein weiterer Sinn, in dem der (subjektive) Geist irreduzibel „hervorbringend“ ist, wie Hegel sagt64: Durch seinen Vollzug – hier: die willentliche Enz. 1830, § 444.
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Aktivität der Aufmerksamkeit – wird er in und aus sich selbst „mehr“, entwickelt sich, prägt sich individuell aus. Doch es scheint hier zwei miteinander zusammenhängende Probleme zu geben. Sie gilt es zu beleuchten und aufzulösen: (a) Zum einen drängt sich die Frage auf, wie man sich – pointiert gesagt – den allerersten Akt des Richtens der Aufmerksamkeit nach außen durch das Neugeborene denken soll, wenn diesem – wie gesagt – weder eine nicht-gewohnheitsmäßige Navigation aufgrund von Wahrnehmungsfeld und vorausgesetzten Einzelwahrnehmungen noch ein gewohnheitsmäßiges sich-„nach-außen“-Richten möglich sind. Aus dieser negativen Bestimmung aber lässt sich die Konzeption der in der Entwicklung allerersten Aktivität der Aufmerksamkeit ableiten: Das Kleinkind richtet sich dabei nicht „nach außen“ in dem Sinne, dass dieses „Außen“ dabei schon etwas für es wäre, sondern in dem Sinne, dass es sich dieses „Außen“ als solches zuallererst erschafft, dass ein solches dadurch erst für es wird. Anders als bei einem erwachsenen sich-„nach-außen“-Richten qua Aufmerksamkeit ist nicht nur das dadurch je zu konstituierende konkrete Wahrnehmungsfeld Neuland (während die Form des Wahrnehmungsfeldes hingegen a priori bekannt ist), sondern die Außenwelt als solche – die Form des Wahrnehmungsfeldes aber auch Wahrnehmungsobjekte als solche – sind überhaupt Neuland. Um das Spezifikum dieses auf solches Neuland gehende Richten der Aufmerksamkeit zu fassen, gibt es eine in unserem alltäglichen Reden über das Verhalten von Kleinkindern tatsächlich vorkommende, sehr treffende Metapher: dass Kleinkinder die Welt „erobern“. Sie drückt aus, dass das Kind selbst es aktiv dazu bringen muss, sich das, was für uns Erwachsene Um-Welt ist, zu erschließen, dass es eine Um-Welt für es wird. Hegel dazu: „Das Kind macht sich hier mit allen Specificationen des Sinnlichen allmählich vertraut. Die Außenwelt wird ihm hier ein Wirkliches. Es schreitet von der Empfindung zur Anschauung [sc. mit ihren Formen von Raum und Zeit] fort.“65
Die Tatsache, dass wir diese Zeit unseres Lebens nicht in Erinnerung haben (noch in dieser Zeit Philosophie treiben können), ist ein Teil der Erklärung, weshalb wir als erwachsene Philosophierende überhaupt darauf kommen können, dass die Welt selbst es sei, die sich uns (re)präsentiert, und nicht wir, als geistige Wesen, von Anfang an durch Aktivität auf dem Weg zu einer Repräsentation der Welt sind, die von vornherein nur für uns, als geistige Wesen, ist. (b) Zum anderen stellt sich die Frage, was mit einer „zunehmend besseren Ausprägung des Wahrnehmungsfeldes“ gemeint sein soll. Dies kann keinen quantitativen Sinn haben, denn ein vierteltes oder halbes Wahrnehmungsfeld ist unmöglich, da das Wahrnehmungsfeld eine ursprüngliche Einheit im Sinne eines unteilbaren Ganzen ist. „Mangelhaft“, „unausgeprägt“ oder „vorläufig“ Enz. 1830, § 396 Z [VSG Zusätze, 975].
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ist am Wahrnehmungsfeld des unreif Wahrnehmenden vielmehr etwas Qualitatives: dass das Wahrnehmungsfeld noch nicht vollständig jene Funktion erfüllen kann, die es bei einem erwachsenen geistigen Wesen – für es – erfüllt: es dient diesem als Grundlage der willentlich gesteuerten, nicht-gewohnheitsmäßigen Aufmerksamkeitsnavigation; diese wiederum ist eingebettet in komplexere geistige Vollzüge, die als solche immer schon Einheit des „theoretischen“ und des „praktischen Geistes“ sind, wie Hegel es nennt. Ein einfaches Beispiel hierfür ist das Autofahren, für dessen Gelingen es notwendig ist, die sinnliche Aufmerksamkeit entsprechend den Anforderungen sicheren und zielgerichteten Fahrens navigieren zu lassen, d. h. weder nirgendwo noch überall hin, und auch nicht in bloß zufällige Richtungen zu blicken. Beim Kleinkind nun lässt sich beobachten, dass genau diese von einem größeren Handlungszusammenhang – der beim Kleinkind eben so gar nicht besteht – geleitete kohärente Aufmerksamkeitsnavigation nicht vorliegt. Das „Erobern“ der Welt durch das Kleinkind besteht geradezu in einem spontanen, planlos erscheinenden Nacheinander an – allerdings auffällig vielen und ständigen – Ausgriffen seiner Aufmerksamkeit auf das, was wir als seine Umgebung identifizieren, sowie – ganz besonders – in seiner ersten Selbstbegegnung des Geistes in Form der Interaktion mit anderen geistigen Wesen, im Blick in menschliche Gesichter. Dass ihm dabei das Wahrnehmungsfeld und somit die Orientierung im Raum noch nicht verfügbar ist, zeigt sich daran, dass Kinder auch selbstverständlich danebengreifen. Dazu nochmals Hegel: „Das Kind macht sich hier mit allen Specificationen des Sinnlichen allmählich vertraut. Die Außenwelt wird ihm hier ein Wirkliches. Es schreitet von der Empfindung zur Anschauung fort. Zunächst hat das Kind nur eine Empfindung vom Lichte, durch welches ihm die Dinge manifestirt werden. Diese bloße Empfindung verleitet das Kind, nach dem Entfernten, als nach einem Nahen, zu greifen.“66
So sehr diese kindlichen „Ausgriffe“ der Aufmerksamkeit eines kohärenten partikularen Handlungsrahmens entbehren, so falsch wäre es zu sagen, sie seien im Ganzen plan‑ oder ziellos. Vielmehr realisiert sich durch sie das Ziel, ein erwachsenes Subjekt und damit ein geistiges Wesen in seiner vollen Ausprägung werden zu können. Es wäre allerdings falsch, eine ausgeprägte Form der Wahrnehmung selbst schon als letztes Ziel des Lernens und der Entwicklung des Kleinkinds auszugeben. Diese ist ihrerseits nur ein Zwischenziel, das seinerseits – wie Hegel sagt – „Offenheit“ des Geistes für seine höheren Vollzüge ermöglicht und bedeutet. Das haben wir im vorigen Abschnitt schon genauer betrachtet. Auch bezüglich des Erlernens der Wahrnehmung tritt die mit Hegel vertretene Auffassung der Wahrnehmung also in einen Gegensatz zu derjenigen 66 Enz. 1830, § 396 Z [VSG Zusätze, 975 f.]. Auf die Frage, in welchem Sinne das Kind „bloße Empfindung“ hat, werden wir sogleich zurückkommen.
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McDowells – wie letztlich auch zu deren verbesserter Fassung bei Kern und Rödl. Gleichsam als summa lässt sich dieser Gegensatz fassen, indem nach dem Erkenntnisgrund der mit Hegel entwickelten Auffassung des Erlernens der Wahrnehmung gefragt wird. Diese Frage ist für jede Auffassung des Erlernens insofern besonders wichtig, als die Perspektive der unmittelbaren Selbsterfahrung oder Reflexion des Bewusstseins für die kleinkindliche Phase des Erlernens der Wahrnehmung entfällt – und zwar in nicht-zufälliger Weise. Dies ist nicht etwa unserem schlechten Erinnerungsvermögen geschuldet, sondern vielmehr der Tatsache, dass in dieser Phase aus ihr inhärenten Gründen keine Reflexion möglich ist, in der eine Beobachtung oder gar ein Verständnis dessen, was im Erlernen passiert, stattfinden könnte – geschweige denn eines, von dem her sich die hier unternommene philosophische Aufklärung in Kontinuität begründen ließe. Die Aufklärung des Erkenntnisgrundes ist somit auch dahingehend dringend, dass Ausführungen über Kleinkinder – wie etwa zu deren auffälligem aktiven Betasten der Umgebung – vor dem Hintergrund des eben Gesagten im Verdacht stehen, in Wahrheit empirische Beobachtungen zu sein, die in ein entwicklungspsychologisches Traktat Eingang finden können, nicht jedoch zum Geschäft der Philosophie gehören und gehören dürfen – vor allem, wenn sich diese methodisch klar und ausschließlich als Selbsterkenntnis verstehen will. Die mit Hegel vertretene Auffassung kann jedoch eine klare Auskunft über den Erkenntnisgrund dieser Ausführungen und dessen Rechtmäßigkeit geben: Wir wissen von der Form, die das geistige Vermögen der Wahrnehmung bei Kleinkindern annimmt, durch eine Begegnung des Geistes mit sich selbst: indem ein erwachsenes, philosophierendes geistiges Wesen ein noch nicht erwachsenes, die Welt eroberndes geistiges Wesen beobachtet. Diese Beobachtung ist ein Fall von Selbsterkenntnis, weil jeder Fall von Selbsterkenntnis dadurch zustande kommt, dass ein Selbstbewusstsein, das von sich als sich selbst weiß und daher nach sich selbst fragen kann, etwas über sich selbst zu Bewusstsein bringt – etwas, das es nicht schon in und aus sich selbst hat, sondern von einem „Anderen“, aber ebenso Geistigen her. Es ist offenbar, was dies bezogen auf den hier diskutierten Fall bedeutet: etwas über sich selbst bringt das Selbstbewusstsein dadurch zu Bewusstsein, da es mit etwas „Anderem“ als sich selbst konfrontiert ist, also etwas Anderes als sich selbst zum Gegenstand seines Bewusstseins hat. Ein „Anderes“ sogar im zweifachen Sinne: zum einen handelt es sich bei dem beobachteten Kleinkind um ein anderes, einzelnes Subjekt als dasjenige, das beobachtet; zum anderen handelt es sich um ein Subjekt auf einem anderen Niveau, nämlich nicht auf der Stufe des Erwachsenseins und reifen Vollziehens, sondern auf dem Weg des Lernens – und damit eines Vollziehens, das zugleich Vollziehen des Lernens und daher nur vorläufiges Vollziehen desjenigen Vollziehens ist, das es zu lernen im Begriff ist. Dies nicht zur Selbsterkenntnis rechnen kann man nur, wenn man Selbsterkenntnis nicht – wie Hegel – als Selbsterkenntnis des Geistes versteht, in welcher interne Differenzen zwischen verschiedenen
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geistigen Wesen und Stufen geistiger Wesen eine wesentliche Rolle spielen67, sondern als isoliert-selbstbezogenes, intern nicht plural differenziertes Selbstbewusstsein.68 Die Diskussion der beiden Punkte (a) und (b) aber hat soweit noch von einer Grundschwierigkeit abstrahiert, die nun im dritten Schritt unserer Exposition der hegelschen Auffassung des Lernens zu konfrontieren ist. Diese Schwierigkeit betrifft die Frage, wie sich die – bislang beobachtend oder phänomenal – ausgewiesene und metaphorisch als „Eroberung“ bestimmte kleinkindliche Aktivität der Aufmerksamkeit zum erwachsenen Wesen dieser Aktivität als Aktualisierung begrifflicher Vermögen verhält. Denn für jede konzeptualistische Auffassung der Wahrnehmung gilt: will sie die Ausbildung der Wahrnehmungsfähigkeit nicht als metaphysischen Übergang von Nicht-Geist zu Geist denken, so muss sie, scheint es, vertreten, dass das Kleinkind auch schon begriffliche Vermögen aktualisiert. Das aber wäre absurd – und würde den Gedanken des Lernens unmittelbar zunichte machen, ja in der These münden, dass es gar nicht so etwas wie ein Lernen des Kleinkinds gibt, das als solches kategorial unterschieden ist von dem Verfeinern der Wahrnehmung, das es auch bei schon Erwachsenen gibt. Oft behilft man sich hier mit der – notorisch unklaren – These, das Kind würde Begriffe eben „anders“ – „implizit“ – gebrauchen. Doch was soll ein „impliziter“ Begriffsgebrauch sein? Hegel bietet eine klarere und kohärentere Auskunft. (iii. Die initiale Durcharbeitung des Reinsinnlichen durch die Geistigkeit) Wir hatten gesagt, dass bestimmte begriffliche Vermögen gradualisierbar sind; nicht gradualisierbar hingegen ist die Fähigkeit zu solcher Aktualisierung von begrifflichen Vermögen überhaupt. Es macht an sich keinen Sinn zu sagen, jemand würde „ein bisschen“, aber „noch nicht ganz“ Begriffe gebrauchen oder zum Begriffsgebrauch in der Lage sein; es gibt z. B. kein „unrundes“ Urteilen wie es einen „unrunden“ Bewegungsablauf beim Tennisaufschlag gibt. Zugleich aber hatten wir gesagt, dass das Kleinkind nicht als reine Natur gedacht werden kann, die erst in ein geistiges Wesen zu transformieren wäre. Also muss die Form der Aufmerksamkeit des Kleinkindes zwar als schon geistig, aber innerhalb des Geistigen dennoch als kategorial anders gegenüber der Form der Aufmerksamkeit des reifen oder erwachsenen Subjekts – als Aktivität der Aktualisierung von Begriffen – gedacht werden. Sie ist deshalb als eine Aufmerksamkeit zu bestimmen, die im Begriff ist, die Sinnlichkeit so durchzuarbeiten, dass sie zu einer Aktualisierung von Begriffen werden kann. Das bedeutet, dass das Kind keine natürliche Sinnlichkeit hat, sondern eine, die immer schon im Durchgearbeitetwerden durch den Geist begriffen ist, diese Durcharbeitung aber soweit 67 Auf die bedeutendste Instanz dieses Gedankens – nämlich das Verhältnis des endlichen, v. a. des subjektiven Geistes, zum absoluten Geist – werden wir in den Kapiteln 7 und 8 zu sprechen kommen. 68 Dies scheint mir bei Rödl 2011, 2017 und 2018 der Fall zu sein. Rödl lässt Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis überhaupt zusammenfallen.
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noch nicht zu einem Abschluss gekommen ist, der darin besteht, dass die Aktivität der Aufmerksamkeit in der Aktualisierung von Begriffen besteht. Wir haben in Hegels Bestimmung der Wahrnehmung als gewohnheitsmäßig vereintem Akt gesehen, dass eine von dessen integrierten Arten von Bestimmungen diejenige der „Empfindung“ ist. Das bedeutet, dass es sich im Falle der reifen Wahrnehmung bei der Empfindung nicht um einen Akt oder Prozess handelt, der einem geistigen (hier: begrifflichen) Akt äußerlich wäre und zu ihm hinzuträte, um gemeinsam mit ihm die Wahrnehmung (oder das Wahrnehmungsurteil) zu konstituieren – oder diese zu begleiten. Vielmehr ist unter „Empfindung“ ein wesentliches, unselbstständiges, bloß abstrahierbares Moment des Wahrnehmungsaktes zu verstehen, das diesen, als eine Art der Aktualisierung begrifflicher Vermögen, auch von anderen Arten, z. B. dem Urteilen, unterscheidet. In der Wahrnehmung eines farbigen Gegenstandes ist ein Eindruck dieser Farbe – ihre Empfindung – wesentlich enthalten, was für ein Urteil über diesen farbigen Gegenstand nicht gilt. Dennoch ist dieser Farbeindruck kein selbstständiger, nichtbegrifflicher Zustand, sondern etwas, das nur aufgrund des begrifflichen Unterscheidungsvermögens möglich ist und nur in dessen Ausübung für das Subjekt überhaupt ist; deshalb lässt er sich auch nur als Moment eines begrifflichen Aktes kohärent verstehen. Der Gedanke, dass die unreife Ausprägung der Aufmerksamkeit, die einem Kleinstkind zuzuschreiben ist, in einer Durcharbeitung der Sinnlichkeit besteht, besagt daher Folgendes: Auch für das Kleinkind ist die Empfindung nichts, das für es (etwas) wäre ohne Aufmerksamkeit; und doch ist die Empfindung noch nicht ein durch und durch von der Aktualisierung von Begriffen Bestimmtes. Damit ist das Kleinkind zwar noch nicht voll souverän gegenüber einer Welt, wie dies für einen Erwachsenen gilt, aber unbeschadet dessen schon kategorial vom Tier geschieden. Zur Klärung dieses kategorialen Unterschieds mag ein Vergleich helfen: jemand, der das Schwimmen lernt, mag in einem frühen Stadium, in dem er eben noch nicht wirklich, noch nicht sicher schwimmen kann, strampelnd und kämpfend durch das Wasser schlagen, ohne dass dieses Strampeln und Schlagen schon die Qualität eines vollgültigen Schwimmzuges hätte. Anders als eine gute Schwimmerin beherrscht der Schwimmenlernende also das Wasser noch nicht; er ist der natürlichen Kraft des Wassers gegenüber noch nicht voll souverän. Und doch ist das, was er im Lernen tut, bei aller Vorläufigkeit und Defizienz immer schon ein willentlich-aktiver Kampf dagegen, der Natur ausgeliefert zu sein; und gerade darin ist der Schwimmenlernende immer schon darüber hinaus, selbst bloß Naturwesen zu sein. Selbst wenn der Schwimmenlernende untergehen und ertrinken würde, wäre von ihm nicht einfach zu sagen, dass er der Natur zum Opfer gefallen ist, wie dies sinnvoll zu sagen wäre, wenn er plötzlich vom Blitz getroffen wird; noch ist sein Untergehen zu beschreiben wie das Untergehen eines Steines, der prinzipiell „ohne Gegenwehr“ untergeht. Sondern: Es wäre zumindest zu sagen, dass er gescheitert ist, sich über Wasser
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zu halten. Er würde also nicht als Naturobjekt, sondern als geistiges Wesen untergehen. Entsprechend ist ein Kleinkind, dessen geistiges Heranwachsen aus irgendwelchen Gründen scheitert, immer noch durch und durch ein geistiges Wesen, nämlich ein gescheitertes. Das könnte es nicht sein, wenn es bloß ein Naturwesen wäre; denn ein Naturwesen kann nicht scheitern. So ist das Kleinkind immer schon dabei, die reinsinnlichen Eindrücke – Empfindungen – durch Aufmerksamkeit durchzuarbeiten und damit zu vergeistigen. Das bedeutet somit nicht, dass hier zwei selbstständige, getrennte Akte – der reinnatürliche „Input“ der Empfindung, wie bei einem Naturwesen, und der geistige Akt der Aufmerksamkeit eines geistigen Wesens – aufeinander träfen, dabei aber einander noch äußerlich sind. Sondern es bedeutet, dass der Akt der Aufmerksamkeit die Empfindung immer schon durchgreift, wenngleich noch nicht so durchgriffen hat, dass die Empfindung in den gewohnheitsmäßig vereinten Akt der Wahrnehmung immer schon vollendet integriert ist. Gleich wie der Schwimmenlernende das Wasser immer schon durch seine Bewegungen zu beherrschen im Begriff ist; er ist ihm also keineswegs bloß passiv ausgesetzt so, wie das Wasser (rein kausal) auf einen Naturgegenstand wirkt, noch fügt er diesem Ausgesetztsein ergänzend ein paar Körperbewegungen äußerlich hinzu. Unbeschadet dessen, dass er das Wasser immer noch nicht beherrscht, zerfallen seine amateurhaften Schwimmzugversuche nicht in einen natürlichen und einen diesem äußerlichen geistig-aktiven Akt, sondern sind immer schon eine die Natur durchgreifende und in diesem Sinne durchwegs integrierende Aktivität. Hegel hebt dies im obigen Zitat sehr präzise hervor, indem er schreibt: „Zunächst hat das Kind nur eine Empfindung vom Lichte, durch welches ihm die Dinge manifestirt werden.“69
Mit der Phrase „nur eine Empfindung“ zeigt Hegel die Differenz zur vollständig erfolgten Integration der Empfindung an, die somit gegenüber der erwachsenen Form der Wahrnehmung besteht; mit dem definierenden Relativsatz „durch welches ihm die Dinge manifestirt werden“ zuerkennt er der Empfindung des Lichts aber schon eine Manifestation der „Dinge“, auch wenn diese noch keine Repräsentation der Dinge ist wie in der erwachsenen Form. Die Dinge sind also auch schon für das Kleinkind. Die Empfindung des Kleinkindes ist also keine tierische und auch keine, die die Form der Passivitätsauffassung hätte. Hegel formuliert entsprechend nicht, dass „die Dinge sich ihm manifestieren“, sondern, dass „durch [… das Licht] ihm die Dinge manifestirt werden“. Dies ist eine Sprachform zwischen Aktiv und Passiv – womit der eben beschriebene Zustand der in aktiv-geistiger Durcharbeitung begriffenen Empfindung gefasst werden soll. Hegel ist sich dabei klar bewusst, dass ein Zitat wie dieses also nur von einer Erkenntnis der reifen Wahrnehmung ausgehend überhaupt (unmiss [Hvh. T. O.].
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verständlich) verständlich ist. Deshalb fügt er als Zusatz, gleichsam als Warnung, den Hinweis bei, dass man nur angemessen „von dem Verlauf der Lebensalter des menschlichen Individuums auf eine bestimmte Weise sprechen […] könne[.]“, indem man „die Kenntniß des in der Anthropologie noch nicht zu betrachtenden concreten Geistes, – da derselbe in jenen Entwicklungsproceß eingeht, – anticipir[t], und von dieser Kenntniß für die Unterscheidung der verschiedenen Stufen jenes Processes Gebrauch mach[t]“ 70.
Führen wir uns also, eingedenk dieses Hinweises, noch einmal plastisch vor Augen, wie sich – in der Selbstbegegnung des Geistes – das „Erobern“ der Welt durch das Kleinkind darstellt. Wohlgemerkt, an ein schönes Wort Wittgensteins erinnernd: „[D]enk nicht, sondern schau!“71 Das Kind greift mit den Händen um sich, in alle möglichen Richtungen, gerne beispielsweise mitten ins Gesicht oder auf die Nase eines Erwachsenen. Dabei wird weder die Nase genau getroffen – noch haben wir Grund zu sagen, dass das Kind genau die Nase hätte gezielt treffen wollen; und doch ist das Tun des Kindes kein Verhalten, das uns als kausales, auf Augenhöhe mit der nicht-geistigen Natur befindliches Reflexgeschehen entgegentritt, sondern uns als eine aktive Aneignungsbegegnung präsent ist, die sich sichtlich aus sich selbst steigert hin zu einem souveränen geistigen Zueigenhaben der Um-Welt. Wenn von einem Kleinkind also gesagt wird, es könne „noch nicht richtig“ oder „nur so halbwegs“ wahrnehmen, so meint dies nicht, dass es irgendwo auf halbem Wege zwischen Natur und Geist stehe (dass also ein Tier allmählich in unsere menschliche Gemeinschaft hereinwachsen würde); noch meint es, dass es zum Teil natürliche Wahrnehmungsakte und zum anderen Teil schon geistige vollziehe. Vielmehr meint es, dass es sich an einer bestimmten Stelle des schrittweisen, kontinuierlichen Weges der Entwicklung der Wahrnehmung befindet, die eine zunehmende geistige Durchdringung der allerdings immer schon wesentlich in Bearbeitung durch die geistige Aufmerksamkeit begriffenen Empfindung ist. Die vorgetragenen Überlegungen werfen schließlich noch eine Frage auf, deren Beantwortung den letzten Schritt der Exposition unserer hegelschen Auffassung des Erlernens der Wahrnehmung darstellt: Wie ist es möglich, dass die Durcharbeitung der Empfindung durch die Aufmerksamkeit so verläuft, dass am Ende dieses Lernprozesses – nichtzufällig – eine Aufmerksamkeit steht, die (jedenfalls zunächst und weitenteils) die aktive Aktualisierung derselben begrifflichen Vermögen ist, die das sodann reife Subjekt mit anderen Mitgliedern seiner Sprachgemeinschaft teilt?
70 Enz. 1830, § 396 Z [VSG Zusätze, 982]. Vgl. dazu auch den Kommentar von Inwood 2010: 339 ff., der in diesem Zusammenhang auf die lateinische Wortbedeutung von „concret“ hinweist: stammend von „concrescere“, also „zusammen-wachsen“. 71 Wittgenstein 1984a: 277 (PU I, § 66).
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4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung
(iv. Die Rolle der Intersubjektivität im Lernen) Die Antwort auf die soeben aufgeworfene Frage scheint zunächst trivial: Der Weg der Durcharbeitung der Empfindung durch die geistige Aufmerksamkeit ist wesentlich begleitet durch ein anderes, schon erwachsenes Subjekt.72 Die Rolle dieses Subjektes ist es, als inhaltliche Richtung dieses an sich formalen Durcharbeitungsprozesses diejenigen Begriffe festzulegen, die in der Sprachgemeinschaft, zu der dieses Subjekt zählt, etabliert sind. Dass es also in der Tat kein Zufall ist, dass das Kind zu denselben Begriffen hinwächst und gelangt, liegt nicht daran, dass „das Rote“ oder „das Vogelsein“ sich dem Kind unvermeidlich von selbst aufdrängen würden und die Erwachsenen lediglich die Buchstaben festzulegen hätten, mit dem das Kind dasjenige, was es ohnehin wahrzunehmen genötigt ist, sodann auch sprachlich bezeichnen kann. Vielmehr bewirken erwachsene Subjekte – vermittels der sprachlichen Bezeichnung und der sprachlichen Beziehung –, dass das Kind die Welt sich so erschließt, wie die Erwachsenen sie sich schon erschlossen haben. Darin liegt, wie Augustinus sehr deutlich macht73 (und mit ihm wohl der späte Wittgenstein, der sich subtil auf diese Passagen bezieht74), eine gewisse Tragik des Geistigen: Denn wenn es nicht in der Zwangsläufigkeit des kausalen sich-Aufdrängens der Natur, sondern in der „Er-Ziehung“ hin zum schon Etablierten, Alten liegt, ist jedes Erwachsenwerden ein Scheitern am Ideal des Geistigen: dem Schöpferischen und damit Neuen. Im Er-schließen der Welt, wie sie für andere schon erschlossen ist, ist der Geist des Kindes also schon ver-schlossen. Gäbe es ein kausales sich-Aufdrängen der Natur, läge insofern kein solches Scheitern vor, weil gar nicht die Form der Geistigkeit und somit auch nicht der Maßstab des Geistigen gegeben wären, an dem man scheitern könnte. Dieser ist aber gegeben – und er ist nicht erfüllt, indem jedes Kind wahrzunehmen lernt, wie alle anderen schon wahrgenommen haben, sich ihm also in der Tat im Modus der Intersubjektivität nun etwas aufdrängt oder aufnötigt. Das ist freilich nicht so zu verstehen, als gäbe es eine andere reale Möglichkeit auf der Ebene des Wahrnehmungserwerbs – gerade darin liegt ja die Tragik. Andernfalls wäre es keine Tragik, sondern bloß ein vermeidbarer Verfahrensfehler. Erfährt das Kind besagte Er-Ziehung nicht, wird es nicht so „aus72 Kern 2006: 348 ff. erinnert in aller Klarheit an diese für das Verständnis des Lernens zentrale Tatsache. 73 Augustinus schreibt nach seiner Darstellung seines Spracherwerbs als Kind: „So lernte ich allmählich, dass die Wörter, die in verschiedenen Sätzen an ihrer Stelle vorkamen und die ich oft gehört hatte, die Zeichen für bestimmte Dinge waren. Dann gewöhnten sich meine Lippen daran, diese Zeichen hervorzubringen, und ich begann, meine Wünsche durch sie auszudrücken. So tauschte ich, um Willensbewegungen anzuzeigen, Zeichen aus mit den Menschen, mit denen ich zusammenlebte, und damit fuhr ich hinaus auf das stürmische Meer der menschlichen Gesellschaft, unterworfen der elterlichen Gewalt und dem Willen der Erwachsenen.“ (Confessiones I,IX.13–14) 74 Dies hat Axel Hutter in einer noch nicht publizierten Vorlesung zu Wittgenstein genau expliziert.
4.3 Zur Frage nach unserem Erlernen der sinnlichen Wahrnehmung
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gebildet“ sein, dass es irgendetwas weiteres Geistiges tun können wird – und wäre damit auch nicht in die Lage gebracht, sich durch Re-Aktivierung des in der Er-Ziehung abgestorbenen Schöpferischen wieder in Richtung des Geistes zu befreien (oder sich vom Geiste dazu befreien zu lassen). Die Tragik gipfelt schließlich darin, dass das Nichtfestgelegtsein des Geistes durch die Natur im Falle der konservativen Entwicklung endlicher Subjekte derart unkenntlich wird, dass der Eindruck des natürlichen Bewusstseins, die Natur dränge sich von selbst als so-und-so seiend auf, durch das Faktum der Gleichförmigkeit der menschlichen Entwicklung verstärkt und bestätigt – vielleicht sogar erst endgültig erzeugt – wird. Dieser Eindruck aber, solange er nicht als Irrtum durchschaut wird, geht Hand in Hand mit einem naturalistischen Selbst‑ und Weltbild. Vom kleinen Kinde ist also zu sagen: Wenn es, wie Hegel bemerkt, „nur eine Empfindung vom Lichte“ hat, so ist das weder so zu verstehen, dass es eine tierische Empfindung hat; noch, dass dieses „nur“ in jeder Hinsicht ein Defizit wäre. Es ist ein Defizit, wenn man das Kind mit dem Erwachsenen und seinen Geschäften vergleicht. Wenn man das Kleinkind jedoch, subversiv, mit dem Ideal des Geistes vergleicht, stellt sich die Sache ganz anders dar: Dadurch, dass es „nur“ das Licht sieht – sich nur das Licht repräsentiert –, sieht es nur sich selbst als Geist. Denn das Licht hatten wir ja erkannt als das, was als Empfindbares der geistigen Wahrnehmung wesentlich ist – anders als die Bestimmungen konkreter empirischer Begriffe. Somit nimmt das Kleinkind also „nur“ ein Wesensmoment seiner geistigen Wahrnehmung wahr, realisiert also etwas, das man präreflexives Selbstbewusstsein nennen könnte. Dieses ist – anders als das reflexive der Erwachsenen – nicht vermittelt durch die als-Struktur in der begrifflichen Repräsentation eines Objekts. Dementsprechend ist das Licht für das Kleinkind auch nicht Objekt, sondern unmittelbares bei-sich-Sein und (damit) beim-Geist-Sein. Die offenbare Seligkeit der Kleinkinder ist also nichts Psychologisches; sie ist ein philosophisch aufzuklärendes Rätsel: Die Kinder sind selig, weil sie vermittels der „bloßen“ Lichtempfindung bei sich selbst und beim Geiste sind – noch befreit von der Last der Objekte, der sinnlichen Objektivität. Doch noch einen dialektischen Umschlag gibt es: Da dem Kleinkind die erwachsene Möglichkeit begrifflicher Bestimmung und damit Unterscheidung noch fehlt, ist für es noch keine (artikulierte) Differenz zwischen „bei sich selbst Sein“ und „beim Geiste Sein“. Seine Lichtempfindung ist also, insofern sie unmittelbar „beim Geiste Sein“ enthält, nicht bloß selbstisch; aber, insofern sie dies nur unmittelbar enthält, doch selbstisch: Es ist ein präreflexives Selbstbewusstsein, in welchem die kindliche Unschuld des unmittelbaren-bei-Gott-Seins unmittelbar in die kindliche Schuld des sich-selbst-Gott-Seins umschlägt. Wie auch Augustinus, klammert Hegel das Kleinkind nicht aus dem Skopus des radikal Bösen aus – auch wenn uns an ihm etwas aufgehen kann, das in erwachsener Ausprägung des radikal Bösen endgültig verloren ist.
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4 Die Aktivität und Gewohnheit der Wahrnehmung
Fassen wir nun die Ergebnisse dieses Abschnitts zusammen, in Richtung einer Aufklärung besagter (Last der) Objektivität: Dass das Kleinkind später ein Objekt als grün wahrnehmen wird, ist weder Zufall noch vom ansichseienden Grünen her zu begründen. Vielmehr lernt das Kind, dasjenige was grün ist – und das heißt nichts anderes als: was „man“ als grün wahrnimmt – auch als grün wahrzunehmen, weil es mit und durch uns (das „man“) wahrzunehmen gelernt hat. Die Begründungsfigur ist also diejenige: Das in die intersubjektive Praxis der Wahrnehmung zu integrierende Kleinkind erlernt dieselbe Aktivität wie diejenigen, die sie schon beherrschen, weil es eben durch diese in sie eingeführt wird. Diese Begründungsfigur hat denselben Kern wie diejenige, mit der wir beantworten, warum wir etwas als rot (und, beispielsweise, nicht als blau) wahrnehmen: „weil es rot ist“. Das aber heißt nichts anderes als: dass es von jemandem, der wie wir wahrnimmt und den wir in dieser Fähigkeit als Maßstab anerkennen, schon als rot wahrgenommen wurde. Dies werden wir nun näher beleuchten und analysieren im zusammenführenden, abschließenden Kapitel des ersten Hauptteiles unserer Untersuchung.
5 Zusammenführung: Sinnliche Wahrnehmung als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen Schon in der Diskussion des Wahrnehmungskapitels hat sich gezeigt: Hegel vertritt einen negativen Begriff des Begriffs. Nur mit ihm lässt sich der Gedanke einer aktiven Aktualisierung der Begriffe in der Wahrnehmung überhaupt denken. Setzt man den Ungedanken eines positiven Begriffs des Begriffs voraus, liefe der Gedanke einer aktiven Aktualisierung der Begriffe auf den einer Wahl, welche Begriffe aktualisiert werden, hinaus. Dieser Gedanke widerspricht unmittelbar dem Begriff der Wahrnehmung: denn er würde voraussetzen, dass wir wissen, was im Einzelnen wir wahrnehmen, (logisch) bevor wir es wahrnehmen. Der negative Begriff des Begriffs ist diesem Problem nicht ausgesetzt. Denn er ist, wie wir sogleich sehen werden, in einem gewissen Sinne einer, ein Ganzer – und wird immer als solcher aktualisiert. Darin lässt sich einer der Gründe erkennen, warum Hegel von „dem Begriff “ als singularetantum spricht. Den kantischen Gedanken der Synthesis weiterführend1, entwickelt er die oft als „holistisch“ titulierte Auffassung, dass Synthesis erst radikal genug gedacht sei, wenn das begriffliche Netz der Repräsentation als eines aufgefasst wird.2 Einen ersten, anschaulichen Zugang zu diesem Gedanken haben wir im Wahrnehmungskapitel schon anhand des negativen Begriffs der Farbe gewonnen: Der Begriff des Roten und derjenige des Grünen sind in Wahrheit nicht zwei Begriffe, sondern ein Begriff, nämlich das Vermögen, das Rote vom Grünen oder – was dasselbe ist – das Grüne vom Roten zu unterscheiden und das Rote somit als nicht-Grün (und vice versa) zu repräsentieren. Insofern ein Subjekt, das dieses Vermögen besitzt, in der erläuterten Weise seine Aufmerksamkeit „nach außen“ richtet, macht es von diesem Vermögen aktiv Gebrauch. Es aktualisiert aktiv darin also sowohl den Begriff des „Roten“ als auch den Begriff des „Grünen“ – genauer: das, von dem die Passivitätsauffassung mit ihrem Verständnis des Begriffs als positivem fälschlicherweise meint, dass es zwei verschiedene Begriffe seien. Die Auffassung der aktiven, qua Aufmerksamkeit realisierten Aktualisierung von Begriffen impliziert also in diesem Beispiel keine Wahl von Be1 Ihn erkennt Hegel zu Beginn seiner Begriffslogik ausdrücklich als epochale Errungenschaft kantischen Denkens an. 2 Dieser „Holismus“, auch in seiner semantischen Dimension, war etwa dasjenige, was im 20. Jahrhundert eine Parallele zwischen Hegel und Davidson aufscheinen ließ.
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5 Zusammenführung
griffen, weil alle Begriffe – genauer: alles, was die Passivitätsauffassung fälschlicherweise als verschiedene Begriffe bestimmt – aktualisiert wird, weil – korrekt gesprochen – der eine Begriff aktualisiert wird. Doch dies wirft einige Fragen auf: zunächst natürlich, wie es sich mit Begriffen verhält, die keine empirischen Begriffe sind – also den Kategorien –, die aber wesentlich für die Wahrnehmung sind. Weiter stellt sich die Frage, wie gemäß der hegelschen Konzeption dann überhaupt die Differenz zwischen der Wahrnehmung von etwas als rot und als nicht-grün und der Wahrnehmung von etwas als grün und als nicht-rot zu fassen ist – eine Differenz, deren Nichtberücksichtigung ebenfalls unmittelbar dem Begriff der sinnlichen Wahrnehmung widersprechen würde. Zwei Fragen sind es also, denen jeweils einer der zwei folgenden Abschnitte gewidmet ist: (i) Wie genau ist die Einheit „des Begriffs“ zu verstehen – vor dem Hintergrund, dass sie keine intern differenzlose Einerleiheit ohne Pluralität sein kann, wie schon das einfache Beispiel der Farbbegriffe mit seinen internen Bestimmungsmomenten des „Roten“ und des „Grünen“ zeigt, und – vor allem – nicht alle Begriffe empirische Begriffe sind? (Abschnitt 5.1) (ii) Wie kann vor diesem Hintergrund die Differenz zwischen unserer Wahrnehmung von etwas als bestimmt durch das eine Bestimmungsmoment (z. B. als rot und als nicht-grün) und unserer Wahrnehmung von etwas als bestimmt durch ein anderes (z. B. als grün und nicht-rot) gefasst werden – ohne an dieser Stelle in die zurückgewiesene Auffassung eines kausalen sich-Zeigens vonseiten der Natur oder einer objektseitig bewirkten Determination zurückzufallen? Worin also liegt die normative Determination, von der wir sagen, dass sie uns die Dinge so wahrnehmen lässt, „wie sie sind“ und „weil sie so sind“? (Abschnitt 5.2)
5.1 Hegels negativer Begriff des Begriffs als singularetantum Zunächst ist also die logische Form des negativen Begriffs des Begriffs als eines Begriffs – seine Negativität oder, wie man auch sagen kann, Inferentialität – genauer zu untersuchen. Dabei wird sich erst der nähere Sinn der Auffassung des Begriffs als eines Begriffs (eines Ganzen) ergeben. Bis dahin ist deshalb noch von Begriffen im Plural zu reden. Hegel selbst formuliert es kurz so: Der „Gegenstand“ der Wahrnehmung stelle sich dar „als vermittelt[..], in sich reflectirt[..] und [a]llgemein[..]. Er ist somit eine Verbindung von sinnlichen und von erweiterten Gedankenbestimmungen concreter Verhältnisse und Zusammenhänge.“3
Enz. 1830, § 420.
3
5.1 Hegels negativer Begriff des Begriffs als singularetantum
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Für den Gegenstand der Wahrnehmung ist es also nicht nur wesentlich, durch „Gedankenbestimmungen“ (oder Begriffe) repräsentiert zu sein, sondern eine „Verbindung“ solcher „Gedankenbestimmungen“ zu sein. Im Gefolge Kants ist für Hegel selbstverständlich, dass hierzu wesentlich reine Begriffe („Kategorien“) gehören4, und wir haben diese schon längst als Konstitutionsmomente der logischen als-Struktur identifiziert. Im Zitat hebt Hegel jedoch insbesondere hervor, dass „erweiterte[.] Gedankenbestimmungen“ ebenso zur Wahrnehmung gehören, durch die „concrete[.] Verhältnisse und Zusammenhänge“ repräsentiert werden. Hier zeigt sich erneut, was wir mit Hegel – gegen McDowell – schon festgestellt haben: Dass die Fülle unserer begrifflichen Bestimmungen Eingang in die Wahrnehmung selbst findet und eine philosophische Auffassung der Wahrnehmung dem Rechnung zu tragen hat. Dialektischerweise kann sie das nur und genau dann tun, wenn sie die Wahrnehmung dabei depotenziert: nämlich erkennt, dass sie nicht wahrhaft wissendes Bewusstsein ist. Erst vor dem Hintergrund ihrer metaphysischen Leere lässt sich ihre repräsentationale Fülle verstehen; dass also das dichte – wie Hegel sagt: „concrete“ (d. h. im Wortsinne: „zusammengewachsene“) – Netz unserer begrifflichen Bestimmungen in die Wahrnehmung selbst eingeht. Die Verfassung dieses Netzes, die Hegel in diesem Zitat thetisch zusammenfasst, wollen wir im Folgenden etwas genauer untersuchen.5 Begriffe, soweit wir sie hier zu thematisieren haben, stehen in einem negativen oder inferentiellen Verhältnis zu anderen Begriffen in fünffacher Weise: (I1) Etwas als x (das zur Klasse k gehört) zu repräsentieren bedeutet, dieses etwas als nicht-y (das ebenfalls zur Klasse k gehört) zu repräsentieren. Z. B. ist der Begriff des Roten wesentlich auch der Begriff des nicht-Grünen (wobei beide, 4 So
explizit in Enz. 1830, § 420 A, aber auch in VSG Stolzenberg, 769 f. wird sich zeigen, dass Hegel engstens an Kants Begriff der „Kategorien“ anschließt. Darüber darf seine Kant-Kritik nicht hinwegtäuschen, die sich – was die Kategorien betrifft – in erster Linie an deren (vermeintlich) mangelhafter Ableitung bei Kant, die Hegel in seiner Logik beheben will, sowie an ihrer (vermeintlich) einseitig-subjektiven Deutung bei Kant festmacht. Damit ist gemeint, was in Kapitel 2 schon ausgeführt wurde: Gerade weil Hegel zufolge Wahrnehmung ein geistiger Akt ist, dem nichts „von außen“ entgegentritt, gibt es für ihn keinen Sinn, in welchem das sinnlich Repräsentierte „nur subjektiv“ ist. Vgl. dazu Hegels klare Ausführungen in VGPh III, 342 ff. Äußerst wichtig ist allerdings zu bemerken, dass Hegel die Kategorien, sofern sie nicht – wie in seiner Logik – „verflüssigt“ sind, für prinzipiell ungeeignet hält, um die prozessualen, geschehensförmigen (erkenntnis‑)logischen Verhältnisse der Metaphysik des absoluten Geistes zu explizieren. Rolf-Peter Horstmann hat dies in aller Klarheit herausgestellt und auf die bei Kant wie bei Hegel wichtige (entsprechende) Differenz zwischen Verstand und Vernunft bezogen: „Wird also in Hegels Terminologie die Vernunft zur allein ontologisch relevanten Wirklichkeit, so wird der Verstand zu einer spezifischen und defizienten Weise der Erfassung dieser Wirklichkeit. Fragt man nun danach, worin denn genauer die Defizienz des Verstandes besteht, so ist Hegels Antwort ebenso kurz wie letztlich komplex. Sie besteht eigentlich in nichts anderem als der Behauptung, daß mit dem kantisch-kategorial interpretierten Verstand das für seinen, den Hegelschen, Vernunft‑ und Wirklichkeitsbegriff essentielle Element der Prozessualität nicht eingeholt werden kann.“ (Horstmann 2004: 140). 5 Dabei
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5 Zusammenführung
Rot und Grün, zur Klasse der Farbe gehörig sind), und etwas als rot zu sehen bedeutet eo ipso es als nicht-grün zu sehen. (I2) Etwas als x (das zur Klasse k gehört) zu repräsentieren kann bedeuten, dieses etwas als y (das zur Klasse k* gehört) zu repräsentieren. Z. B. impliziert der Begriff des Rasens wesentlich auch den Begriff des Grashalms, und etwas als Rasen zu sehen bedeutet eo ipso es auch als (eine Menge von) Grashalme(n) beinhaltend zu sehen (wobei ein Rasen und ein Grashalm nicht zur selben Klasse gehörig sind). (I3) Etwas als x (das zur Klasse k gehört) zu repräsentieren bedeutet, dieses x als zur Klasse k gehörig zu repräsentieren. Z. B. ist der Begriff des Roten wesentlich der Begriff der roten Farbe, und etwas als rot zu sehen bedeutet eo ipso es auch als farbig zu sehen.6 (I3*) Etwas als x (das zur Klasse k gehört) zu repräsentieren kann bedeuten, dieses x als zur Klasse k und damit als nicht zur Klasse k* gehörig zu repräsentieren. (Das Beispiel ist hier bewusst ausgelassen, weil es erst in der folgenden Entwicklung plausibel gemacht werden kann.) (I4) Etwas als x (das zur Klasse k und zur Kategorie K gehört) zu repräsentieren bedeutet, dieses x als zur Klasse k und zur Kategorie K (und die Klasse k als zur Kategorie K) gehörig zu repräsentieren. Z. B. ist der Begriff des Roten wesentlich auch der Begriff der roten Farbe als zur Kategorie der Qualität gehörig, und etwas als rot zu sehen bedeutet eo ipso es darin als Qualitätsbestimmung zu wissen und zu repräsentieren. Dieses Wissen ist realisiert in der logischen Form der alsStruktur, in der und durch die die begriffliche Repräsentation der Wahrnehmung überhaupt erst ist. (I5) Etwas als x (das zur Klasse k und zur Kategorie K gehört) zu repräsentieren bedeutet, dieses x als zur Klasse k und zur Kategorie K und damit als nicht zur Kategorie K* gehörig (und damit K als nicht-K*) zu repräsentieren. Z. B. ist der Begriff des Roten wesentlich auch der Begriff der roten Farbe als zur Kategorie der Qualität und nicht der Quantität gehörig, und etwas als rot zu sehen bedeutet eo ipso es als Qualitäts‑ und als nicht-Quantitätsbestimmung zu wissen und zu repräsentieren. Dieses Wissen ist ebenfalls in der logischen Form der als-Struktur realisiert, in der und durch die die begriffliche Repräsentation der Wahrnehmung überhaupt erst ist. An diesen fünf Weisen der Inferentialität – wir klammern (I3*) vorerst noch ein –, die konstitutiv für die Art der Aktualisierung von Begriffen in der Wahrnehmung sind, ist zu ersehen, dass nur die ersten drei davon sich als Wahrnehmungsinhalt in der Wahrnehmung niederschlagen, die letzten beiden hingegen als Wissen in der Wahrnehmung oder als/in der Form der Wahrnehmung. Daran lässt sich der Unterschied zwischen einem Klassenbegriff und einer Ka6 Aufgrund ihres dargestellten Wesens als (materiale) Füllung des Wahrnehmungsfeldes kommt den Farben freilich eine ausgezeichnete Funktion zu.
5.1 Hegels negativer Begriff des Begriffs als singularetantum
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tegorie gut verdeutlichen: eine Kategorie wird niemals (wie eine empirische Bestimmung) wahrgenommen, auch wenn sie in der Wahrnehmung aktualisiert und das Wahrgenommene in der Wahrnehmung als zu ihr gehörig gewusst und repräsentiert wird. Eine Klasse hingegen wird wahrgenommen: es ist richtig zu sagen, dass wir etwas als farbig sehen – aber eben nicht, dass wir dieses etwas im selben Sinne als eine Qualität habend sehen (wenngleich wir es notwendig in dieser Form repräsentieren). Durch die Unterscheidung und Bestimmung dieser fünf Weisen der Inferentialität, die konstitutiv für die Art von Aktualisierung von Begriffen in der Wahrnehmung ist, ist die soweit abstrakte Bestimmung von Begriffen als Unterscheidungsvermögen spezifiziert. Alle Begriffe, die sich im Inhalt der Wahrnehmung niederschlagen, bestimmen ein Objekt, indem sie dessen Bestimmtheit von anderen Bestimmtheiten bestimmt unterscheiden und das Objekt auch als das als-nicht-anders bestimmte (= (I1)) oder in positiver Beziehung auf andere Bestimmtheiten bestimmt (= (I2) und (I3)) repräsentieren. Alle Begriffe, die sich in der Form der Wahrnehmung niederschlagen (= (I4) und (I5)), konstituieren die logische Form solcher bestimmten Unterscheidungen erst und unterscheiden sich genau darin von den erstgenannten Begriffen – was jedes Subjekt insofern weiß, als es in der Repräsentation davon Gebrauch macht, allerdings nicht in der Weise weiß, wie es (hier) die philosophische Selbsterkenntnis expliziert. Nun bestehen Abhängigkeiten zwischen den unterschiedenen Ebenen, zunächst in eine Richtung, nämlich von Ebene (I1) zu Ebene (I5): Der Begriff des Roten etwa ist ein innerklassifikatorisches Unterscheidungsvermögen, da er in der Fähigkeit eines Subjekts besteht, etwas als rot (und zugleich z. B. als nicht-grün) und vice versa zu repräsentieren; diese Fähigkeit setzt die Fähigkeit voraus, etwas überhaupt als farbig zu repräsentieren, welche der Begriff der Farbe als klassifikatorischer Begriff ist. Diese Fähigkeit wiederum setzt die Fähigkeit voraus, die Farbigkeit (und alle bestimmten Farben) als zur Kategorie der Qualität gehörig zu repräsentieren, und diese wiederum die Fähigkeit, die Kategorie der Qualität als (unter anderem) von derjenigen der Quantität unterschieden zu repräsentieren.7 Es liegt also eine strikte Abhängigkeit in dieser Richtung – von Ebene (I1) zu Ebene (I5) – vor: Die jeweils niedrigere Ebene setzt alle jeweils höheren notwendig voraus. Innerhalb der Ebenen (I1)–(I3) gilt auch eine umgekehrte Abhängigkeit: denn über einen Begriff der Farbe verfügt nur derjenige, der auch über bestimmte Farbbegriffe verfügt. Doch es gibt keine solche Abhängigkeit zwischen (I1)–(I3) auf der einen Seite und (I4)–(I5) auf der anderen: Über Kategorien zu verfügen impliziert nicht, über bestimmte klassifikatorische Begriffe zu verfügen, wenngleich es impliziert, über irgend-
7 Man kann Hegels Logik lesen als Darstellung dieser Zusammenhänge unter gleichzeitiger Selbstanwendung auf alle darin gebrauchten Begriffe.
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5 Zusammenführung
welche klassifikatorische Begriffe zu verfügen.8 Denn über einen Begriff der Qualität (in der Wahrnehmung) zu verfügen bedeutet auch, irgendetwas zu wissen, durch das konkret und bestimmt auf die Frage, wie ein Gegenstand ist, geantwortet werden kann. In der Wahrnehmung zeigt sich dies konkret daran, dass die als-Struktur nicht leer realisiert sein kann, sondern immer etwas Bestimmtes als zur Qualität gehörig repräsentiert wird. In diesen Abhängigkeitsverhältnissen zeigt sich noch einmal die kategoriale Scheidung zwischen Kategorien und allen klassifikatorischen Begriffen. Die Farbe (oder Farbigkeit) ist nicht eine Art von Qualität, wie das Rotkehlchen eine Art von Vogel ist. Nun können wir den Grund entwickeln, warum Hegel sowohl eine singularische Verwendung des Begriffs des Begriffs als auch eine pluralische kennt. Eine singularische Verwendung ist in dreierlei Sinn begründet: Man kann von „dem Begriff “ als „dem (rationalen oder normativen) Unterscheidungsvermögen überhaupt (in abstracto)“ sprechen; man kann von „dem Begriff “ als „der Form der Repräsentation qua Unterscheidung überhaupt (in abstracto)“ (also im Sinne der als-Struktur) sprechen; und schließlich von „dem Begriff “ als „konstitutiver Vernetzung der Ebenen (I1)–(I5)“, wie sie in der Aktualisierung von Begriffen in der Wahrnehmung von uns immer schon gemacht ist und soeben dargestellt wurde. Diese konstitutive Vernetzung der Ebenen (I1)–(I5), so sahen wir, besteht darin, dass das am-Werk-Sein der untersten Ebene immer schon das am-Werk-Sein aller anderen darüber liegenden Ebenen präsupponiert. Gerade diese Ebenendifferenzen (und die damit verbundenen Abhängigkeitsdifferenzen) aber erfordern auch einen pluralischen Sinn des Begriffs, der somit Implikat des singularischen (oder der singularischen) ist. Der pluralische Sinn des Begriffs ist also durch die verschiedenen Arten von Begriffen, die zwischen den Ebenen unterschieden wurden, begründet. Da der Begriff der „Farbe“ ein anderer Typ von Begriff ist als beispielsweise der Begriff der „Qualität“, ist bei diesen beiden Begriffen tatsächlich von zwei verschiedenen Begriffen zu sprechen – trotz ihres inferentiellen Zusammenhangs in der konstitutiven Vernetzung der Ebenen. Das wirft die Frage auf, ob das, was innerhalb jeweils einer Ebene als verschiedene Begriffe erscheint, tatsächlich verschiedene Begriffe sind, oder ob der zwischen ihnen bestehende inferentielle Zusammenhang immer von solcher Art ist, dass es sich nicht um einen inferentiellen Zusammenhang zwischen Begriffen, sondern in Wahrheit um einen intern in Bestimmungsmomente ausdifferenzierten Begriff handelt. Diese Frage stellt sich – aufgrund der Unterscheidung verschiedener Typen von Begriffen – nur in Bezug auf (i) verschiedene Begriffe innerhalb einer Klasse, (ii) verschiedene Klassenbegriffe innerhalb derselben Kategorie, (iii) die verschiedenen Kategorien in der durch sie konstituierten Einheit 8 Aus den in Kapitel 4 dargelegten Gründen sind die Farben tatsächlich eine Ausnahme; sie gibt es, verstanden als (materiale) Füllung des Wahrnehmungsfeldes, für uns in der Wahrnehmung notwendig. Sie realisieren das für die Wahrnehmung konstitutive Bestimmungsmoment der „Empfindung“.
5.1 Hegels negativer Begriff des Begriffs als singularetantum
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und Ganzheit der als-Struktur. Für (i) wurde schon unter Rekurs auf das Beispiel der Farben gezeigt, dass es sich um ein einziges Unterscheidungsvermögen und somit um einen Begriff handelt, intern in einzelne Bestimmungsmomente (z. B. des Roten und des Grünen) ausdifferenziert: Das Vermögen, Rotes von Grünem zu unterscheiden ist dasselbe wie das Vermögen, Grünes von Rotem zu unterscheiden – kurz gesagt. Nun zu (iii) und (ii). Ad (iii): Zu den Kategorien ist zu sagen, dass sie – auch in der Wahrnehmung – niemals einzeln, sondern nur zusammen im Ganzen aktualisiert sind. Das zeigt sich darin, dass ihr (empirischer) Gebrauch in der als-Struktur besteht, also in einer ursprünglichen Einheit, die als solche nicht teilbar ist. Sie sind also Momente oder Funktionen dieser höheren Einheit; diese ist ihrerseits aber weder eine Klasse noch eine Kategorie, sondern die Einheit, die über der Kategorie der Einheit steht – wie Kant es ausgedrückt hat.9 Kant hat sie deshalb auch die „ursprünglich-synthetische Einheit“ genannt. Trotz aller sonstigen Kritik und Polemik gegen Kant schließt Hegel explizit und anerkennend an diesen Gedanken der Einheit der Apperzeption an10; dies wird sich im Abschnitt über das Selbstbewusstsein (5.3) noch genauer zeigen. Diese Einheit ist von solcher Art, dass sie die Pluralität der Kategorien nicht in einer Weise tilgt, dass nur noch von einem Begriff die Rede sein könnte, wie dies in Bezug auf die vermeintlich verschiedenen Farbbegriffe in Bezug auf ihre Klasse gilt. Der inferentielle Zusammenhang von Kategorien untereinander kann entsprechend mit demjenigen von vermeintlich verschiedenen Begriffen einer Klasse (z. B. Farben) instruktiv kontrastiert werden: zwar ist die rote Farbe etwas anderes als die grüne Farbe; aber dort, wo wir etwas als rot sehen, sehen wir es eo ipso als nicht-grün – und nicht als auch grün. Im Falle der Farbbegriffe liegt also eine ausschließende (oder verdrängende) Negativität vor, während es sich beim inferentiellen Zusammenhang der Kategorien untereinander um eine integrative (oder zum Ganzen ergänzende) Negativität handelt: Qualität ist zwar nicht Quantität, aber beides ist in der begrifflichen Repräsentation überhaupt nur zusammen in der Ganzheit einer logischen als-Struktur. Ad (ii): Verschiedene Klassenbegriffe sind verschiedene Begriffe. Dies liegt im kategorialen Unterschied zwischen Klassenbegriffen und Kategorien selbst begründet: Weil Klassenbegriffe eben nicht Arten einer höheren Klasse namens „Kategorien“ sind, verhalten sie sich zu den Kategorien auch nicht wie z. B. bestimmte Farben zur Klasse der Farbe. Farbigkeit, Konsistenz oder Oberflächenbeschaffenheit sind allesamt Klassen, die zur Kategorie der „Qualität“ gehören – 9 Kant schreibt: „Diese Einheit, die a priori vor allen Begriffen der Verbindung vorhergeht, ist nicht etwa jene Kategorie der Einheit […]. Die Kategorie setzt […] schon Verbindung voraus. Also müssen wir diese Einheit […] noch höher suchen, nämlich in demjenigen, was selbst den Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urtheilen, mithin der Möglichkeit des Verstandes sogar in seinem logischen Gebrauche enthält.“ (KrV B 132 [AA III: 108]) 10 So ausdrücklich zu Beginn der Begriffslogik.
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5 Zusammenführung
und diese Kategorie ist nicht ihre Über-Klasse, sondern überhaupt keine Klasse. So sind und bleiben sie als Begriffe verschiedene Begriffe. Das bedeutet freilich nicht, dass zwischen diesen Begriffen keine inferentiellen Zusammenhänge bestehen würden; sehr wohl: etwa derjenige, dass die flüssige Konsistenz eines materiellen Gegenstandes eine raue Oberfläche ausschließt. Das ist ein Beispiel vom Typ (I2).11 Ein solcher (positiver) inferentieller Zusammenhang kann zwischen Arten oder Instanzen verschiedener Klassen bestehen und stellt dann natürlich auch einen Zusammenhang zwischen diesen Klassen her – allerdings bei bestehen bleibender Pluralität der Begriffe, hier der „Konsistenz (und des Aggregatzustands)“ und der „Oberflächenstruktur/-textur“. Diese abstrakten Zusammenhänge können nun sogar anschaulich gemacht werden. Die Pluralität zweier Begriffe, sofern sie nicht Kategorien sind, schlägt sich in der Wahrnehmung so nieder, dass etwas, das durch den einen Begriff wahrgenommen wird, nicht notwendig dadurch als nicht-unter-den-anderen-Begriff fallend wahrgenommen wird (während dies für verschiedene Bestimmungsmomente innerhalb eines Begriffs, wie z. B. dem der Farbe, sehr wohl gilt). Dennoch ist es möglich. Denn: Es ist grundsätzlich immer möglich – und das führt uns nun zu (I3*) –, dass sich verschiedene Klassenbegriffe als Arten einer höheren Klasse auffassen lassen. Hierin sind wir – vorbehaltlich eines etwaigen logischen Widerspruches – frei. Dann aber verhalten sich solche Begriffe analog wie die einzelnen Farbbestimmungen zueinander, also im Sinne von (I1), werden somit zu einem Begriff – relativ zu dieser Auffassung. Solche Klassenbildung ist das Geschäft der materialen Arbeit am (empirischen) Begriff, wie sie jedoch nicht nur die empirischen Wissenschaften, sondern auch die alltägliche Sprache verrichtet. Dieses Geschäft soll hier nicht an sich Thema sein, sondern nur, soweit es die Wahrnehmung betrifft. Die hegelsche Auffassung der Wahrnehmung als wesentlich aktiv macht es nämlich erst möglich zu verstehen, dass sogar eine punktuelle, individuelle und arbiträre Klassifikation Eingang in die Wahrnehmung finden kann – was die Passivitätsauffassung nicht denken kann, weil Objekte, die ihr gemäß den begrifflichen Akt initialisieren, kein „Wissen“ von ihrem anders-Klassifiziertwerden durch uns haben können. So ist es – wie anhand des Wahrnehmungskapitels bereits mit Hegel und gegen McDowell argumentiert wurde – richtig zu sagen, dass ein Ornithologe das Rotkehlchen als Rotkehlchen (und damit auch als im Unterschied zu sämtlichen anderen ihm bekannten Vogelarten stehend) sieht; ebenso richtig ist es allerdings zu sagen, dass ein Heraldiker das Rotkehlchen – beispielsweise als Wappentier eines bestimmten Königs – als Wappentier sieht und damit zugleich im Unterschied zu allen anderen gebräuchlichen Wappentieren, die er kennt, wie beispiels11 Stekeler-Weithofer 2018: passim hat diese – wie er sie nennt – „materialbegrifflichen“ Zusammenhänge als solche in Erinnerung gerufen und in ihrer Bedeutung für einen hegelschen Begriff des (empirischen) Begriffs herausgestellt.
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weise der Muschel. Das ist eine ganz andere Klassifikation als die biologische. Die Philosophie der Wahrnehmung verhält sich diesen Klassifikationen gegenüber neutral, muss jedoch der Tatsache Rechnung tragen können, dass beide Klassifikationen Eingang in die Wahrnehmung finden können. Dies kann die hegelsche Auffassung der Wahrnehmung als wesentlich aktiv in der Tat. Denn in der Aktivität liegt die Möglichkeit begründet, etwas – wie wir sagen – „mit einem bestimmten Blick“ oder „mit einem bestimmten Auge“ zu betrachten.12 Damit ist gemeint, dass verschieden strukturierte inferentielle Netze des Begriffs aktualisiert werden: – „Blick einer Ornithologin“: Sofern das Subjekt mit dem Blick einer Ornithologin sieht, repräsentiert es den Vogel als Rotkehlchen (und damit als im Unterschied zu allen anderen ihm bekannten Vogelarten stehend). – „Blick einer Heraldikerin“: Sofern das Subjekt mit dem Blick einer Heraldikerin sieht, repräsentiert es den Vogel als Wappentier (und damit als im Unterschied zu allen anderen ihm bekannten Wappentieren stehend). Beide sind zu ihrer Sicht der Dinge durch ihre Expertise „verdammt“; denn sie aktualisieren, wie wir sagten, jeweils notwendig alle Begriffe, über die sie verfügen. Nun ist es jedoch wichtig und instruktiv zu bemerken, dass es nicht nur verschiedene „Blicke“, die Ausdruck verschiedener tieferliegender Kompetenzen sind, gibt, sondern auch – wie vorhin mit dem Attribut „punktuell“ angedeutet – verschiedene situative Kontexte, die die Art, wie ein Subjekt in der Wahrnehmung klassifiziert, bestimmen (können): So kann jemand, der gerade sein verpacktes Geburtstagsgeschenk empfängt und im Begriff ist, nachzusehen, was darin ist, den auszupackenden Gegenstand als Instanz der Klasse „Geburtstagsgeschenk“ klassifizieren. Nun angenommen, er erhofft oder erwartet eine Schachtel seiner Lieblingspralinen, bekommt aber stattdessen ein Set von Perlen, so wird er diese Perlen als Perlen und als nicht-seine-Lieblingspralinen sehen. Dass Perlen nicht (seine Lieblings‑)Pralinen sind, ist zwar ein auch außerhalb des geschilderten Kontexts gültiger Satz. Allerdings sieht jemand, der beispielsweise seinen Schmuck sortiert, Perlen als Perlen im Unterschied zu anderen Formen von Schmuck, aber nicht Perlen als Perlen im Unterschied zu Pralinen. Der beschriebene Empfänger seines Geburtstagsgeschenks jedoch tut dies. Der Grund dafür ist, dass er eine andere Klassifikation anlegt als derjenige, der Schmuck sortiert. Während Pralinen nicht neben Perlen in der Klassifikation von 12 Wir können also sagen: Die Kategorie der „Einheit“ wird vom individuellen Subjekt material unterschiedlich appliziert. Wenn ich z. B. verschiedene Möbelstücke zusammen als „die Sitzecke“ sehe, stelle ich eine bestimmte Einheit her. Das haben wir schon in Kapitel 2 angesprochen. Am Beispiel des Blickes der Heraldikerin wäre zu sagen: Sie appliziert die Kategorie der „Qualität“ material anders als z. B. die Ornithologin, indem in das „wie beschaffen“ in ihrer Wahrnehmung die begriffliche Bestimmung des „Wappentier(sein)s“ eingeht. So wird der inferentielle Netzcharakter der verschiedenen Begriffe (und Begriffsebenen), die wir oben unterschieden haben, sehr konkret deutlich.
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Schmuck vorkommen, so kommen sie doch in dieser Weise in einer möglichen Klassifikation von Geburtstagsgeschenken vor. Der Verschiedenheit möglicher Klassifikationen in der Wahrnehmung kann nur eine philosophische Auffassung der Wahrnehmung Rechnung tragen, der gemäß das Subjekt in der Wahrnehmung aktiv ist. Nur so lässt sich sagen, das Subjekt lege diese Klassifikation in der Wahrnehmung an oder zugrunde, trage sie an den jeweiligen Anwendungsfall heran. So kann diese Auffassung der Wahrnehmung etwas, das wir phänomenal – aus der Selbsterfahrung als Wahrnehmende – kennen, abbilden: dass etwas an Stelle von etwas bestimmtem Anderem zu sehen tatsächlich einen Unterschied im Sehen macht – und nicht etwa nur in Form eines begleitenden psychologischen Zustands oder einer dem Sehen äußerlichen intellektuellen Reflexion auf das, was man sieht, z. B. gemessen an bestimmten Erinnerungen oder Erwartungen. Dies mag ein anderes Beispiel als dasjenige des Geburtstagsgeschenkempfängers noch deutlicher machen: Man stelle sich vor, jemand tauscht in der Weihnachtskrippe des Domes das Jesuskind durch ein Mainzelmännchen (oder ein Krümelmonster) aus. Die Besucher der Christmette werden nicht einfach nur ein Mainzelmännchen (oder ein Krümelmonster) sehen, sondern ein Mainzelmännchen (oder ein Krümelmonster) anstelle des Jesuskindes – und in seinem Unterschied zum Jesuskind, als nichtJesuskind. Dies ist dem Seherlebnis intern – und nicht extern; die Gläubigen werden nicht sagen, es sehe alles ganz normal aus, sei aber ihrem Urteil nach nicht normal. Sie würden auch sagen: Es sieht verkehrt – geradezu skurril – aus. Das ist auch der Grund, warum wir Dinge sagen wie: „Sieh mal, wie skurril das aussieht!“ Das müssten wir nicht sagen, wenn in der Wahrnehmung selbst das Mainzelmännchen (oder das Krümelmonster) in keiner Beziehung zum Jesuskind stünde – dann würde die Ebene des Urteils zureichen, um diesen Fall voll zu beschreiben. Diese Überlegungen zeigen erneut, wie weit unsere Wahrnehmung von einer sterilen, gleichsam mechanischen Determination durch fertige Naturobjekte entfernt ist. Mit diesen Überlegungen haben wir nun (I3*) – auch in seinem Zusammenhang zu (I2) – erklärt und plausibilisiert: Ein solcher Fall ist immer dort möglich, wo eine Überklasse über die Klassen gebildet wird – und nicht mehr schon die Kategorie die unmittelbar nächsthöhere Ebene ist. Es ist kein Gegenargument gegen das Bestehen von (I3*), dass es mehr oder weniger einleuchtende Beispiele dafür gibt. Denn: uns leuchten a fortiori nur Beispiele ein, bei denen wir eine Geschichte erzählen können, die das Anlegen der jeweiligen Klassifikation irgendwie plausibel macht. Die Vielfalt solcher möglichen Geschichten ist philosophisch nicht weiter zu begrenzen, als dass diese keinen logischen Widerspruch implizieren dürfen. Jeder kennt solche Geschichten: man denke nur an den Blick in das erstmals seit langem wieder aufgeräumte Kinderzimmer; in ihm sieht man förmlich die Abwesenheit der vormals unordentlich gestapelten Dinge.
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Mit diesem Beispiel tritt nun ein wichtiger Aspekt hervor, der die Abgrenzung von der Passivitätsauffassung der Wahrnehmung in gleichsam maximaler Schärfe – bezogen auf unsere phänomenale Selbsterfahrung in der Wahrnehmung – vor Augen führt. Ein ärztlicher Blick etwa kann auf Basis einer Klassifikation arbeiten, gemäß welcher ein im Ultraschall dargestelltes Gewebe entweder „verändert“ oder „unauffällig“ ist. Die Ärztin sieht das Gewebe dann z. B. als unauffällig – und das heißt gemäß dieser Klassifikation: als nicht (z. B. durch Wucherungen) verändert. Es ist deshalb richtig zu sagen, dass sie das Fehlen eines Tumors sieht. Die Passivitätsauffassung mit ihrem positiven Begriff des Begriffs kann dies nicht im Ansatz wörtlich nehmen. Sie muss sagen, dass die Ärztin „in Wahrheit“ nur sehen kann, was positiv da ist: also etwa ein so-und-so strukturiertes Gewebe – und daraus ableitet, dass kein Tumor vorliegt. Doch dieser Umweg ist keine wahre Analyse, sondern ein Umweg, der aus einer verkehrten Auffassung resultiert. Die Ärztin sieht nicht alles, was da ist, und erkennt durch Reflexion darauf, dass kein Tumor dabei war. Sie sieht die Tumorfreiheit – und nicht sonst noch alles Mögliche. Deshalb kann sie auch mit Recht sagen, sie habe das Gewebe daraufhin angesehen. Die z. B. in medizinischer Diagnostik so wichtige Wahrnehmung des nicht-Daseienden ist eben nur durch den negativen Begriff des Begriffs in seiner aktiven Aktualisierung – mit der Möglichkeit zweckrelativer Klassifikationen – denkbar. Umgekehrt tritt die Inadäquatheit der Passivitätsauffassung mit ihrem positiven Begriff des Begriffs schärfstens hervor: Ein Kind, das über den Begriff des „Tumors“ gar nicht verfügt, hat ihr gemäß dieselbe Wahrnehmung beim Blick auf ein Ultraschallbild eines gesunden Gewebes wie ein Arzt, der über ihn verfügt und auf dem Ultraschallbild des gesunden Gewebes ebenso keinen Tumor sieht. Natürlich könnte auch der Vertreter der Passivitätsauffassung begründen, warum wir nur der Diagnose des Arztes trauen: weil er eben kompetent ist, was sich daran zeigt, dass er – anders als das Kind – über besagten Begriff sowie die nötige Erfahrung verfügt und den Tumor gesehen hätte, wenn er dagewesen wäre. Doch er kann nicht denken, dass im Falle der Tumorfreiheit ein Unterschied im Akt der Wahrnehmung selbst liegt; doch für den Arzt ist die Tumorfreiheit in diesem Akt eben sichtbar – und für das Kind nicht.13 13 Georg Sans SJ hat mich darauf hingewiesen, dass Jean-Paul Sartre in Das Sein und das Nichts ebenfalls herausstellt, dass Sehen von Abwesendem nicht auf das Urteil, dass etwas/ jemand abwesend ist, zu reduzieren ist: „Ich bin um vier Uhr mit Pierre verabredet. Ich komme eine viertel Stunde zu spät: Pierre ist immer pünktlich; hat er auf mich gewartet? Ich sehe mich im Lokal um, sehe mir die Gäste an und sage: ‚Er ist nicht da.‘ Ist das eine Intuition der Abwesenheit Pierres, oder tritt die Negation erst mit dem Urteil auf ? Auf den ersten Blick erscheint es als absurd, hier von Intuition zu sprechen, weil es eben gerade keine Intuition von nichts geben kann und die Abwesenheit Pierres dieses nichts ist. Aber das populäre Bewußtsein bezeugt diese Intuition. Man sagt zum Beispiel: ‚Ich habe sofort gesehen, daß er nicht da war.‘“ (Sartre 2019: 59) Desweiteren hebt Sartre – wiederum einig mit unserer hegelschen Auffassung – hervor, dass dieses Ich seine Aufmerksamkeit auf verschiedene Personen oder Orte
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Die voranstehenden Überlegungen haben die Möglichkeit alternativer Klassifikationen gegenüber anderen, schon bestehenden oder in anderen Wahrnehmungsfällen oder ‑bereichen angewandten thematisiert. Nun gilt es abschließend denjenigen Fall zu bedenken, der als Beispiel für (I2) angeführt wurde: die – wie man es nennen kann – positive Verschränkung von Begriffen, sofern sie verschiedenen Klassenbegriffen zuzuordnen sind, wie z. B. von „Rasen“ und „Gras“. Im Unterschied zu dem voranstehend diskutierten Fall handelt es sich um eine „positive“ Verschränkung in dem Sinne, dass das Subjekt, das den Rasen sieht, in einem gewissen Sinne zugleich das Gras oder die Grashalme sieht, aus denen er besteht. Da diese beiden Begriffe – unbeschadet immer möglicher alternativer Klassifikationen – in ihrem bei uns alltäglich üblichen Gebrauch zwei verschiedenen Klassen angehören, handelt es sich hier also um einen inferentiellen Zusammenhang zwischen zwei verschiedenen Begriffen. In diesem Beispiel besteht zwischen den beiden Begriffen ein bloß einseitiges Implikationsverhältnis: wer über den Begriff des Rasens verfügt, verfügt eo ipso über den Begriff des Grases (oder der Grashalme), weil Rasen aus Gras besteht und man einen Rasen nicht sehen kann, ohne zugleich irgendwie Gras zu sehen. Doch die Umkehrung gilt nicht: man kann sich jedenfalls denken, dass jemand über den Begriff des Grases verfügt aber – mangels Vorhandenseins der kulturellen Errungenschaft des Rasens – nicht über den Begriff des Rasens. Dann würde er Gras, das wir als Rasen sehen, auch nicht als Rasen sehen (können). des Lokals gerichtet haben mag, aber notwendig nicht auf alle möglichen – und dennoch mit Recht sagen kann: „Pierre ist von dem ganzen Café abwesend“ (Sartre 2019: 60). Der Befund, dass Sartre hier auf denselben Punkten wie Hegel insistiert, scheint unter anderem dadurch zu erklären zu sein, dass auch er – wie Hegel – auf die für unsere Wahrnehmung wesentliche Differenz zwischen Einzelwahrnehmung und Wahrnehmungsfeld im Ganzen reflektiert und die dafür konstitutive „Richtung meiner Aufmerksamkeit“ (vgl. Sartre 2019: 59 f.). Soweit „Phänomenologie“, ein Vertreter welcher Sartre ist, die Verbindung philosophischer Theoriebildung mit derartig phänomensensibler Deskription meint, ist Hegel ihr im Geiste verwandt. Doch ist auch an dieser Stelle an zweierlei zu erinnern: (i) Erstens: Hegel zufolge gibt es keine „unschuldige“ Deskription, sondern jede Deskription ist durch das vorausgesetzte Verständnis der Bedeutung der Begriffe, die für sie gebraucht werden, normativ belegt. (ii) Zweitens: Sollte Sartre – wie ein nicht unwesentlicher Teil der „Phänomenologie“ – meinen, eine philosophisch adäquate Auffassung besagter „Intuition“ sei nur möglich, wenn diese „Intuition“ – die sinnliche Wahrnehmung – als nicht-begrifflicher Akt zu verstehen ist, steht Hegel hierzu in radikalem Widerspruch. – Beides – (ii) und (i) zusammen – ist nun metaphysisch folgenreich: Denn sofern auch und gerade durch eine Auffassung solcher Akte als begrifflich (und der damit verbundenen Philosophie, ja Metaphysik des Geistes im Ganzen) besagte Phänomene zu fassen sind, impliziert deren adäquate Erfassung eben nicht diejenige metaphysische Stoßrichtung, die der phänomenologische Existentialismus bei Sartre wohl hat und die ihn – von Hegels Warte aus – näher an den naturalistischen Zeitgeist heranrückt, als Sartre selbst vielleicht vermutet oder intendiert hat. Das Metaphysicum kann aber nicht nur, sondern muss als Geist-Subjekt aufgefasst werden (und nicht als „Sein“), sobald es – wie in (i) angedeutet und wie in Kapitel 7 näher zu entfalten ist – unsere begrifflichen Verkehrungen, die wir unseren Deskriptionen immer schon zugrundelegen, wirklich erkenntnisförmig zu überwinden in der Lage ist.
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Interessant ist nun an diesem konkreten Beispiel die Differenz zwischen der Wahrnehmung des Rasens als aus Grashalmen bestehend – und der Wahrnehmung eines oder mehrerer Grashalme als Teil eines Rasens. Sie besteht freilich nur für ein Subjekt, das über beide Begriffe verfügt. Beide Wahrnehmungsfälle sind dann aber nicht identisch. Wir können mit Hegels Auffassung der Wahrnehmung präzise beschreiben, worin die Differenz besteht und wie sie zustande kommt: Es sind zwei verschiedene Objekte, die jeweils als so-und-so wahrgenommen werden, wobei dieses „so-und-so“ in beiden Fällen dasselbe Verhältnis (jedoch in jeweils umgekehrter Richtung) ist – der Grashalm als Teil des Rasens bzw. der Rasen als aus (diesem) Grashalm bestehend. Einmal ist das Objekt unserer Aufmerksamkeit der Rasen, der als aus Grashalmen bestehend wahrgenommen wird; einmal der Grashalm (oder die Grashalme), als Teil des Rasens wahrgenommen. Diese Differenz – und damit das vorhin schon erwähnte „irgendwie“, in dem wir mit dem Rasen auch das Gras sehen – bleibt in der Passivitätsauffassung notwendig unklar, oder muss gar geleugnet werden. Denn ihr zufolge gibt es nur folgende zwei Möglichkeiten: entweder beide Begriffe sind aktualisiert – dann ist aufgrund ihrer inferentiellen Verhältnislosigkeit qua positivem Begriff des Begriffs aber nicht klar, wie beide genannten Fälle einen Unterschied in der Wahrnehmung machen sollen; oder nur ein Begriff ist aktualisiert, dann wäre aber nur der Rasen (ganz ohne Grashalm) oder nur der Grashalm (ganz ohne Rasen) im Blick. Beides ist – auch phänomenal – unplausibel. Es kann nicht abbilden, was Hegels Auffassung sehr wohl abbilden kann: dass wir bei Fokussierung auf den Rasen als Rasen das Gras sozusagen „im nebenbei“ oder „im Ganzen“ wahrnehmen (und entsprechend vice versa), also weder überhaupt nicht, noch genauso distinkt wie den Rasen. Der positive Begriff des Begriffs, der jedenfalls für die Wahrnehmung keine inferentiellen Verhältnisse zulässt, kann also überhaupt nicht die innere Struktur unserer Wahrnehmung von komplexeren Objekten begreiflich machen. Die Überlegungen haben gezeigt, dass unsere willentliche Aktivität der Aufmerksamkeit einen wesentlichen und der Wahrnehmung internen Einfluss darauf hat, was und wie wir wahrnehmen. Das bedeutet freilich nicht, dass wir durch willentliche Wahl oder individuellen Wunsch bestimmen könnten, was wir wahrnehmen. Wenn ich einen Ferrari zu sehen wünsche, mich umdrehe und tatsächlich einen sehe – so tue ich dies nicht dadurch, dass ich mir dies gewünscht oder dies gewählt habe. Nun ist die Frage zu klären, wie genau dies zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären ist; und wie dies mit derjenigen Kernthese von Hegels Auffassung der Wahrnehmung zusammengeht, dass ich das inferentielle Netz „des Begriffs“ im Ganzen willentlich-aktiv aktualisiere. Die Frage ist also: Wie kann Hegel die je unserem Willen entzogene normative Determination der Wahrnehmung begreifen?
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5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes Wir werden in diesem Abschnitt den hegelschen Gedanken erschließen, dass die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes in Form der Intersubjektivität zu verstehen ist. Dies soll in drei Unterabschnitten geschehen: Im ersten (5.2.1) werden wir uns diesem Gedanken gleichsam anschaulich annähern, ihn also vorbereiten; im zweiten (5.2.2) werden wir ihn fortführen, indem wir Hegels starken Geistbegriff im Kontext von Debatten der analytischen Philosophie profilieren und beleuchten; im dritten (5.2.3) schließlich werden wir all dies zusammenführen und vertiefen, um Hegels Begriff einer Setzung des Geistes in Bezug auf die Wahrnehmung präzise und abschließend explizieren zu können. 5.2.1 Erste Annäherung: Positive vs. negative Aktualisierung und Intersubjektivität Die Passivitätsauffassung mit ihrem positiven Begriff des Begriffs besagt, dass Begriffe passiv aktualisiert werden – schon weil eine aktive Aktualisierung so gefasster „Begriffe“ eine Wahl der „Begriffe“ vor der Wahrnehmung bedeuten würde. Die hegelsche Auffassung mit ihrem negativen Begriff des Begriffs hingegen besagt, dass Begriffe aktiv aktualisiert werden – und zwar notwendig alle, über die ein Subjekt verfügt und die in ihrer Gesamtheit somit das inferentielle Netz als „den Begriff “ bilden, welches aber, wie erläutert, prinzipiell situationsvariant ist. Den Unterschied zwischen einer Wahrnehmung von x als so (und nicht anders, und als nicht-anders) und einer Wahrnehmung von x als anders (und nicht so, und als nicht-so) wollen wir terminologisch so ausdrücken: im ersten Fall ist „so“ positiv, „anders“ hingegen negativ aktualisiert, im zweiten umgekehrt. Nun müssen wir zunächst zwei Typen der Differenz von positiver und negativer Aktualisierung in einem Wahrnehmungsakt unterscheiden: i. Ein Begriff mit mehreren internen Bestimmungsmomenten, von denen (mindestens) eines positiv aktualisiert ist Ein klassisches Beispiel hierfür ist unser Vermögen der Farbunterscheidung. Es ist ein einziges Vermögen und also ein einziger Begriff. Es ist als solches aktualisiert, wenn ich etwas als rot (und nicht als grün, sondern zugleich als nichtgrün) sehe, und wenn ich etwas als grün (und nicht als rot, sondern zugleich als nicht-rot) sehe. Im ersten Fall ist das – wie wir es nennen – dem Begriff interne Bestimmungsmoment des „Roten“ positiv, dasjenige des „Grünen“ negativ aktualisiert, im zweiten Fall umgekehrt. ii. Ein Begriff mit einem oder mehreren Bestimmungsmomenten, von denen keines positiv aktualisiert ist Ein Beispiel hierfür können wir uns mit einem bestimmten klassifikatorischen Begriff – sagen wir: dem der „Maus“ – vor Augen führen. Es gibt viele Wahr-
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nehmungssituationen, in denen überhaupt keine Maus wahrgenommen wird, daher auch keines der Bestimmungsmomente dieses klassifikatorischen Begriffs – etwa dasjenige der „Springmaus“ oder der „Haselmaus“ – positiv aktualisiert ist. Sie sind alle negativ aktualisiert.14 Das könnte den Einwand motivieren, dass es sodann schlüssiger sei zu sagen, der Begriff im Ganzen sei nicht aktualisiert – was unserer These widersprechen würde, dass ein Subjekt in der Wahrnehmung (notwendig) alle Begriffe aktualisiert, über die es (im je konkreten Zuschnitt ihres Netzes) verfügt, und deshalb in der Aktivität ihrer Aktualisierung qua Aufmerksamkeit keine (vorherige) Auswahl von Begriffen liegt. Doch dieser Einwand ist zurückzuweisen. Denn es macht sehr wohl einen Unterschied, ob ein Begriff gar nicht aktualisiert wird, oder ob er sehr wohl ins Werk gesetzt wird und eben dadurch, dass er ins Werk gesetzt wird, alle seine Bestimmungsmomente im negativen Modus aktualisiert sind – also gleichsam eine „Fehlanzeige“ für den gesamten Begriff geliefert wird. Damit ist erfasst, was wir so formulieren können: „Er weiß, wie eine Maus aussieht. Wenn eine dagewesen wäre, dann hätte er sie gesehen!“ Ein Vertreter der Passivitätsauffassung müsste dies so ausdeuten: Wäre eine Maus dagewesen, hätte sie den Begriff aktualisiert. Wir sagen: Ich habe den Begriff aktualisiert – und wäre eine Maus dagewesen, hätte er keine Fehlanzeige, sondern eine positive Aktualisierung eines seiner Bestimmungsmomente geliefert. Damit ist etwas gesagt, das ganz analog ist zu folgender Aussage: Wenn ein Fußballspieler mit der Fähigkeit, im richtigen Moment einen Pass zu spielen (und somit im nicht-richtigen Moment keinen), richtigerweise keinen Pass spielt, so übt er seine Fähigkeit in diesem Nichtspielen des Passes eben sehr wohl aus. Hegels Auffassung der Wahrnehmung besagt also in der Tat: Wahrnehmung ist die willentliche Aktivität der sinnlichen Aufmerksamkeit (in gewohnheitsmäßiger und nicht-gewohnheitsmäßiger Form), in der ein individuelles endliches Subjekt notwendig alle begrifflichen Vermögen, über die es verfügt (und wie es sie konkret zugeschnitten hat), aktualisiert. Manche Bestimmungsmomente der begrifflichen Vermögen jedoch sind positiv, manche negativ aktualisiert. Die entscheidende Frage ist daher nun: Wer oder was determiniert, welche Bestimmungsmomente der Begriffe im positiven (und welche im negativen) Modus aktualisiert werden? Auf den ersten Blick könnte es so scheinen, als würde die hegelsche Auffassung hier auf ein Moment geführt, das sie dazu drängen würde, ihrerseits ein Moment der kausalen Determination seitens der Welt anzuerkennen. Damit würde sie das, was ihr Gegenpol war und durch dessen Abstoßung sie sich zuallererst artikuliert und entwickelt hatte, auf höherer Ebene doch wieder einholen. Doch dem ist nicht so. Der Schlüssel zur Auflösung des Problems war in den Kapiteln 3 und 4 schon einige Male kurz aufgeleuchtet. Es 14 Allerdings – in diesem Beispieltyp – nicht durch eine bestimmte Klassifikation im Sinne von (I3*).
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ist in der Tat richtig zu sagen, dass „ein Subjekt S den Gegenstand x als grün wahrnimmt, weil er grün ist.“ Doch dieser Satz bezeichnet keinen in die Natur oder Welt reichenden kausalen Zusammenhang des Zustandekommens einer Wahrnehmung, sondern einen normativen, innerhalb des Geistigen verbleibenden Begründungszusammenhang. Ihn machen wir in Form des erwähnten Satzes geltend, wenn folgende zwei Bedingungen erfüllt sind: (i) dass ein Subjekt S*, das wir als Maßstab anerkennen (ihm jedenfalls eine bezogen auf die betreffende Wahrnehmung hinreichende Fähigkeit zuschreiben), das Objekt als grün wahrgenommen hat (und wir deshalb soweit sagen, es sei grün); (ii) dass wir dem Subjekt S die (jedenfalls bezogen auf die betreffende Wahrnehmung) selbe oder gleichwertige Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennen wie dem Subjekt S*. Wenn S nun wirklich dieselbe oder gleichwertige Wahrnehmungsfähigkeit wie S* hat – und in zumindest einigen (gerade den trivialen!) Fällen muss dies aufgrund des in Kapitel 4 beschriebenen Hineingewachsenseins in die geteilte Praxis der Wahrnehmung der Fall sein15 –, ist es nicht nur nicht überraschend, sondern sogar notwendig, dass S wahrnimmt wie S*. Das ist ganz analog zu folgenden Fällen der Ausübung einer praktischen Fähigkeit: Wenn wir – beispielsweise – über einen Tennisaufschlag sagen, dass es ein guter Aufschlag war, weil der Ball in diesem oder jenem Areal des Feldes aufgekommen ist, so bedeutet das, dass er so gespielt war wie bei anderen von uns als gut beurteilten Aufschlägen anderer anerkannter Spieler. Nun gibt es kein außerhalb des Spieles zu verstehendes Gesetz, wonach der Ball hier oder dort aufkommen muss. Innerhalb des Spieles – und nur innerhalb des Spieles – hingegen ist die Normativität der Begründung zu verstehen. Noch unmittelbarer ist die Analogie zum Sprachgebrauch: Wenn wir sagen, jemand gebrauche das Wort „auch“ richtig, weil er es z. B. vor Ergänzungen gebraucht, dann bedeutet das, dass er das Wort so gebraucht, wie wir, als einander als kompetente Sprecher Anerkennende, es an paradigmatischen Fällen als regelgerechten Gebrauch verdeutlichen. Nun scheint die Grenze solcher Analogien zu derartigen praktischen Fähigkeiten darin zu liegen, dass es sich bei diesen Beispielen um Handlungen handelt, die nicht intern mit einem repräsentationalen Akt verbunden sind, wie dies bei der Aktivität der Wahrnehmung der Fall ist. Daran ist insofern etwas Richtiges, als über die Wahrnehmung freilich einiges Spezifisches zu sagen ist, das (so) etwa für die Ausübung einer Sportart nicht gilt. Doch zugleich ist daran auch etwas Verworrenes, nämlich diese Annahme: Das repräsentationale – oder auch theoretische – Moment der Wahrnehmung scheint ein Moment zu sein, das 15 In Kapitel 6 werden wir auf die interessanten und wichtigen Fälle eingehen, in denen es sich anders verhält, in denen es also eine stark individuenvariante Ausprägung von Fähigkeiten gibt. Solche Fälle gehen einher mit einem Bewusstsein, dass S gerade nicht wahrnimmt wie S* − und wir dementsprechend zögerlich sind zu sagen, wie die Dinge „wirklich“ sind.
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gleichsam zusätzlich zum – praktischen – Aktivitätsmoment hinzutreten müsste (oder für welches zumindest irgendetwas zusätzlich zum Aktivitätsmoment hinzutreten müsste). Das ist ein verworrenes Bild, das sich immer noch von der Passivitätsauffassung leiten lässt. Genauer: Dahinter steckt der Gedanke, dass der in der obigen Analyse liegende intersubjektive Rahmen nicht zureicht für wahrhaftes Wissen, das (und dessen Gehalt) gleichsam „von außerhalb unserer selbst“ zu uns kommen zu müssen scheint. Nun, Hegel würde diesem Gedanken – so sehr er auch präzisierungsbedürftig ist – im Hinblick auf wahrhaftes Wissen zustimmen; dies ist damit eben ein Gedanke über wahrhaftes Wissen, wahrhaft wissendes Bewusstsein. Ein solches aber ist die Wahrnehmung nicht. In einem Wahrnehmungsakt, sofern wir ihn im Sinne der obigen Analyse auf seine normative Dimension hin beschreiben können, liegt prinzipiell nicht mehr als in anderen Wahrnehmungsakten. Wahrnehmung ist soweit niemals mehr als bloß „konform“, „richtig“. Das verworrene Bild, in dem der scheinbare Einwand gründet, ist uns schon in der Diskussion von „Kraft und Verstand“ begegnet. Dort hat es uns erschwert, (an) zu erkennen, dass und warum es keinen Sinn macht, die Aktivität der Wahrnehmung als Kraftwirkung auf ein Objekt, „das so-und-so ist“, zu beschreiben – weil „das so-und-so ist“ keinen Sinn haben kann im Rahmen einer objektseitigen Determination. Dass es uns dennoch plausibel erscheint, so zu sprechen, liegt eben in dem verworrenen Blick „von der Seite“16: Wenn wir uns „von außen“ einen Menschen und ein Objekt, das er wahrnimmt und dem er gegenübersteht, vorstellen, also selbst in schon wahrnehmender und somit empirischer Perspektive sprechen, können wir freilich sagen, das Objekt sei so-und-so – nämlich so, wie wir es wahrnehmen. Doch diese Perspektive ist ja gerade nicht die, die wir einnehmen können; denn sie ist gar nicht mehr die Perspektive der Selbsterkenntnis, sondern eine empirische, in deren Inhalt a fortiori keine begrifflichen Bestimmungen als begriffliche Bestimmungen vorkommen. Sodann hatten wir gesagt, dass wir den Sinn des „das so-und-so ist“ so verstehen können: es ist, wie ein anderes Subjekt es schon begrifflich repräsentiert hat. Diese Referenz auf ein anderes Subjekt war in der Anlage von „Kraft und Verstand“ weder verfügbar noch sinnvoll; nun aber sind wir an einem Punkt, wo wir sie einzeichnen können und müssen. Das haben wir getan in obiger Analyse des Satzes, „ein Subjekt S nimmt ein Objekt O als rot wahr, weil es rot ist“. Diese Analyse enthält die Referenz auf ein Subjekt S*, das hierin für und von uns als Maß der Dinge anerkannt ist. Wenn uns nun die genannte, verworrene Perspektive „von der Seite“ wieder einholt, motiviert sie folgenden Einwand: Wenn wir beobachten, wie S vor der roten Rose steht und sie wahrnimmt, müssen wir doch allein in dieser Relation zwischen S und der Rose das Sosein der Wahrnehmung von S erklären können – ein Subjekt S* ist hier gar nicht im Bild. Doch in einem solchen Bild dürfen wir So McDowells glückliche Metapher einer „sideways-on“-Perspektive.
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hier genauso wenig denken wie im Szenario von „Kraft und Verstand“. Die Referenz auf ein anderes Subjekt, die sich dort erstmals aufgetan hat, ist eben keine Referenz auf das beobachtete Rotsein der Rose, sondern auf das Rotsein der Rose für ein anderes Subjekt, also nicht auf einen Sachverhalt in der empirischen Welt, sondern auf einen geistigen Zustand im Raum des Geistigen und dessen Inhalt. Genauso verhält es sich nun bei unserer obigen Analyse des normativen Grundes: Sie erklärt die normative Determination der Wahrnehmung eines individuellen Subjekts S unter Rekurs auf die als Maß der Dinge anerkannte Wahrnehmung eines anderen individuellen Subjekts S*. Das bedeutet, dass darin die Sphäre meiner selbst, sofern ich ein Individuum bin, verlassen wird – nicht aber die Sphäre meiner selbst, sofern ich (subjektiver) Geist bin. Es ist also, in der ersten Hinsicht, richtig, diese normative Determination als „von außen“ kommend zu beschreiben, in der zweiten Hinsicht hingegen nicht. Er kommt von außerhalb meiner als Individuum (in dieser Wahrnehmungssituation), aber nicht von außerhalb meiner als Geist. Für dieses innergeistige Verhältnis – das Verhältnis zweier geistiger Akte – aber ist die Kategorie des (Außen‑)Raumes nicht einschlägig, mit dem das verworrene Bild operiert, das auf die Abwesenheit von S* in seiner Beobachtung von S verweist. (Genauer: Es ist nur soweit einschlägig, als das Objekt von beiden Subjekten räumlich verortet werden kann – nicht aber, dass auch die Subjekte und ihre Wahrnehmungen räumlich verortet werden könnten.) Nüchtern besehen macht unsere Analyse bloß explizit, wie wir alltäglich mit Wahrnehmungen verfahren; sie ist in diesem Sinne therapeutisch. Wenn der Vater sagt, das Kind, das soeben ins Zimmer ging, hat oder wird nun den dort als Überraschung platzierten Teddybär (ge)sehen, weil dort ein Teddybär ist – so bringt er in abgekürzter Rede die Voraussetzung zum Ausdruck, dass er ihn selbst gesehen hat und weiß, dass er dort ist, und dass jedes gleichermaßen wahrnehmungsfähige Individuum ihn ebenso sehen kann und wird wie er selbst. In der Philosophie neigen wir manchmal dazu, die Anwesenheit des Vaters als kontingent abzutun und sich das Szenario allein mit dem Kind vorzustellen. Das kann man in der Tat – darf aber nicht vergessen machen, dass man sich selbst dabei gleichermaßen in die Rolle Gottes als eines unsichtbaren Beobachters versetzt hat. Ich, als derjenige, der das Szenario beschreibt, komme darin eben sehr wohl noch vor. Ich übernehme dann gleichsam heimlich die Rolle des Vaters und weiß schon, dass dort der Teddybär ist. Damit ändert sich gegenüber dem Szenario mit Vater also philosophisch gar nichts. (Dass jedes Individuum dennoch die oder der erste sein kann, die bzw. der etwas Bestimmtes wahrnimmt, ist zwar richtig; doch – wie wir in Abschnitt 5.2.3 sehen werden – folgt daraus nicht, dass wir die Normativität dieser Wahrnehmung ohne Intersubjektivität erklären könnten.) Dass in unsere Analyse zurecht das Anerkanntsein eines bestimmten Subjekts als Maßstab sowie der Gleichwertigkeit der jeweiligen Wahrnehmungs-
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fähigkeiten (jedenfalls bezogen auf den einschlägigen Fall) eingegangen sind, lässt sich ebenso anschaulich plausibilisieren. Denken wir uns einen Arzt, der im Ultraschall keine tumorverdächtige Veränderung sieht, und seine erfahrenere Kollegin, die sehr wohl eine sieht. Dass beide im Prinzip irren können, ist in solchen Situationen ebenso klar wie dass wir uns den Ultraschall nicht „an sich“ – ohne Wahrnehmung – anschauen können, um festzustellen, wer von beiden Recht hat.17 Wir beschreiben das Verhältnis der beiden Wahrnehmungen nun tatsächlich ganz im Sinne unserer Analyse und zeichnen darin auch die Differenz zwischen den beiden Kollegen ein: Die erfahrene Kollegin nimmt, so nehmen wir an, genauer als der unerfahrene Kollege wahr, weil sie über dieselbe Fähigkeit, allerdings in ausgeprägterer Form, verfügt – und vice versa. Hierauf passt unsere Analyse exakt: Der Kollege nimmt nicht wie die erfahrenere Kollegin wahr, weil beider Fähigkeiten nicht gleichermaßen ausgeprägt sind. Angenommen nun, die Differenz ihrer Fähigkeiten ist nicht allzu groß und rechtfertigt es daher nicht, einfach der Wahrnehmung der für fähiger gehaltenen Ärztin zu vertrauen. Dann sprechen wir tatsächlich gar nicht in der Form des oben analysierten Satzes: „Die fähigere Ärztin nimmt eine tumorverdächtige Veränderung wahr, weil sie da ist.“ Vielmehr sagen wir: Wir wissen aufgrund der divergierenden Wahrnehmungen nicht, ob sie da ist – und: wir wissen nicht, wer in diesem Fall Recht hat, die „gültige“ Diagnose hat. Erst, wenn wir eine dieser individuellen Wahrnehmungen anerkannt haben (z. B. durch Hinzuziehen einer weiteren Kollegin oder durch Bestätigung mittels einer technischen Unterstützung, z. B. einem CT) und damit vielleicht auch die Differenz der Fähigkeiten der beiden ursprünglichen Akteure (oder zumindest ihrer Ausübungen in diesem Fall) bestätigt finden, würden und könnten wir diesen Satz wieder so gebrauchen. An der Darstellung dieser Verhältnisse wird erneut deutlich, dass die durch den analysierten Satz aufgespannten Verhältnisse normative und intersubjektive sind. Projiziert man in sie das Bild räumlicher Entfernung der relevanten Subjekte hinein und blickt „von der Seite“ auf eine bestimmte Wahrnehmungssituation, entstehen diejenigen Verwirrungen, die die Versuchung bestärken, doch einen vom Objekt selbst ausgehenden Akt der normativen Determination anzunehmen. Nochmals: Von einem bloß faktischen Prozess der Wahrnehmung spricht der analysierte Satz in seinem „weil“ gar nicht – genauso wenig, wie von irgendeinem Prozess die Rede ist, wenn gesagt wird: „München ist in Deutschland, weil München in Bayern und Bayern in Deutschland ist.“ Hier mag ein Blick auf die Sprache helfen, die der uns wohl vertrauteste Ort intersubjektiv ver17 Deshalb gibt es genauso wenig ein Maß der Dinge „an sich“, wie es das Rotsein der Rose „an sich“ gibt. Es handelt sich hier immer um ein „für uns“ und somit um Anerkennungsverhältnisse. Diese sind mehr oder weniger stabil, mehr oder weniger erfolgreich – und werden sodann immer wieder neu justiert. Auf diesen Gedanken werden wir auch in Kapitel 6 – im Zusammenhang mit dem Problem des „Disjunktivismus“ – noch einmal zu sprechen kommen.
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ankerter Normativität ist. Der normative Zwang, der darin liegt, dass wir soweit z. B. mit „Sokrates ist identisch“ keinen sinnvollen Satz formulieren können18, liegt in den „grammatischen Regeln“ der Sprache begründet. Will man diese – mit dem späten Wittgenstein – nicht als platonische Ideen auffassen, sondern als eine in unsere reale Sprachpraxis eingebettete Normativität, so ist sie so zu beschreiben: Ich, als Individuum dieser Sprachgemeinschaft, erfahre einen normativen Zwang „von außen“ – aber eben nicht von außerhalb der Sprache insgesamt. Diese Parallele zur Sprache ist in einem weiteren Punkt instruktiv: Die erwähnte Art von Konzeption steht bisweilen unter einem Psychologismus‑ oder Soziologismusverdacht: Handelt es sich bei besagter „Normativität“ nicht um bloße Regelmäßigkeiten, die allein empirisch zu erforschen sind? 5.2.2 Fortführung: Hegels starker Geistbegriff im Kontext Mit Hegel kann einem derartigen Verdacht durch (s)einen starken Geistbegriff entgegengetreten werden. Wenn wir unterscheiden zwischen mir als Wahr nehmendem, insofern ich Individuum bin, und mir als Wahrnehmendem, insofern ich (subjektiver) Geist bin, unterscheiden wir nicht zwischen Wirklichem (= Individuum) und irgendwelchen äußerlich auf dieses Wirkliche applizierten normativen Verhältnissen; vielmehr unterscheiden wir zwischen Wirklichem und dem, was seine Wirklichkeit ist: Geist. Der normative Zwang, der zwischen den Individuen bestehen kann, ist deshalb ein wirklicher, weil er ein wirklicher Zusammenhang, ein Zusammenhang des Geistes ist.19 Wir haben diesen Zusammenhang nun auf mehreren Stufen erkundet. Dabei haben wir auch nachvollzogen, dass wir notwendig und in philosophisch aufzuklärender Weise in die geistigen Vollzüge hineinwachsen, die (zumindest in Teilen) selben Fähigkeiten anerzogen bekommen (vgl. Abschnitt 4.3). So ist die Genese der starken intersubjektiven Verflechtung zu verstehen, die in ihrem Bestehen als Geist sodann die Geltung normativer Zusammenhänge verständlich macht. Daraus erhellt, dass es sich bei dieser innergeistigen normativen Determination nicht um einen (nachträglich) hergestellten Konsens zwischen den je eigenen Wahrnehmungen von Individuen handelt. Abgesehen davon, dass eine solche Auffassung insofern unmöglich erscheint, als die je eigenen Wahrnehmungen vorher eben gar nichts anderes als die je eigenen – privaten – Wahrnehmungen sein könnten, von denen nicht zu denken ist, dass sie überhaupt in 18 Zum Zweck des Beispiels wird hier von der Möglichkeit einer kreativen Sinngebung abgesehen. 19 Wir müssen hier offen lassen, wie genau sich die Philosophie des späten Wittgenstein dazu verhält. Klar scheint mir jedoch, dass sie zumindest eines Analogon zum hegelschen Geistbegriff bedarf. Die anti-metaphysische Lesart von Baker/Hacker 2009 scheint mir also nicht nur in genuin metaphysischem Interesse zu kurz zu greifen, sondern scheint mir die Normativität der Sprache nicht hinreichend gegründet zu denken.
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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Übereinstimmung gebracht werden oder dass von ihnen eine Übereinstimmung festgestellt werden kann; abgesehen davon also ist hervorzuheben, dass Hegels Geistbegriff ganz anders verfasst ist: qua Geist stehen die Akte aller individuellen Subjekte immer schon in einem geistigen Raum, sind also von vornherein in einer wirklichen Form, die diese Übereinstimmung (ebenso wie die Abweichung voneinander, die nicht bloß ein gleich-gültiges Nebeneinander ist) möglich macht. So wird deutlicher, was wir oben schon festgestellt haben: dass dieser geistige Raum kein formaler Zusammenhang ist, der der Wirklichkeit der individuellen Subjekte und ihrer Akte gleichsam äußerlich bliebe, sondern etwas, das vielmehr konstitutiv ist für deren Subjektsein und dessen Akte. Dies impliziert, dass wir einen weiteren Einwand zurückweisen können: Er besteht darin, zuzugeben, dass die in unserem oben analysierten Satz ausgedrückte normative Determination zwar tatsächlich bestehen mag, doch diese ein bloß abstrakter, formaler Geltungszusammenhang ist, der der Wirklichkeit des Wahrnehmungsaktes äußerlich bleibt. Wäre dem so, könnte Hegels Auffassung zwar die Normativität des Aktes (wenn man so will: die „epistemologische“ Dimension der Wahrnehmung), nicht aber seine Wirklichkeit (wenn man so will: die Dimension der „philosophy of mind“) erklären. Zwar ist richtig, dass zur internen – für das jeweilige Individuum selbst im Akt erfahrbaren – Verfasstheit eines Wahrnehmungsaktes noch einiges zu sagen ist; wir werden darauf sogleich in Abschnitt 5.2.3 zu sprechen kommen. Doch schon hier sehen wir grundsätzlich: Der eben genannte Einwand basiert auf einem Missverständnis des Geistes als „bloß normativ“ (und „nicht wirklich“), wie es philosophisch in der Tat wesentlich von Sellars’ nicht-reduktivem Naturalismus (neu) in die Welt gesetzt, zu einem Fluchtpunkt der analytischen Philosophie und, fatalerweise, auch ihrer Kant‑ und Hegelrezeption wurde. Die Kehrseite dieses „bloß normativ“ (und „nicht wirklich“) ist freilich die von Sellars wie von Quine geteilte These, dass das Wirkliche dasjenige sei, wovon die Naturwissenschaften uns berichten. Im Dunkel einer solchen Auffassung bäumt sich der Einwand gegen unsere hegelsche Auffassung dann so auf: Die Frage, wie eine Wahrnehmung wirklich zustandekommt, ist durch den Verweis auf den normativen Determinationszusammenhang noch gar nicht berührt. Die hegelsche Antwort darauf ist zweifaltig: Erstens, soweit unter „wirklich“ hier der Gegenstandsbereich der Naturwissenschaften gemeint ist, gibt es keine Berührung mit den Einsichten im Rahmen der philosophischen Selbsterkenntnis. Zweitens, bezogen auf denjenigen Begriff von „wirklich“, der in eben diesem Rahmen allein zu vertreten ist, ist der Einwand schlicht verkehrt: denn die Normativität, das für das betreffende Subjekt so-Sein(‑Müssen) des repräsentationalen Aktes, ist ein wesentliches Moment von dessen Wirklichkeit qua geistigem Akt, welcher nichts anderes als die Repräsentation des qua Geist so-Seienden für das betreffende Subjekt ist. Das, was der Passivitätsauffassung ein Entgegentreten der Naturobjekte selbst zu sein scheint, ist in Wahrheit ein Entgegentreten – allerdings ein innergeistiges, in welchem der Geist sich selbst
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entgegentritt. Dass der Geist es darin nur mit sich selbst zu tun hat, können wir an den beiden Punkten im Ausgang von „Kraft und Verstand“, wie wir sie nun in den Kapiteln 4 und 5 abgearbeitet haben und abarbeiten – „nach außen“Richten und Determination qua geistiger Intersubjektivität –, konkret fassen: Beides bezeichnet kein Verhältnis des (individuellen) endlichen Subjekts zur Natur oder ihren Objekten. Den Anschein, die normative Determination würde dies – anders als das „nach außen“-Richten – tun, haben wir durch die eben gegebenen Überlegungen zerstreut; ergänzend dazu ist daran zu erinnern, dass das „nach außen“-Richten genauso wenig Verlassen des Geistigen ist wie ein solches im Zusammenhang der normativen Determination liegt. Denn dieses „nach außen“-Richten ist das Richten gemäß der raumzeitlichen Struktur des Wahrnehmungsfeldes, die das (erwachsene) Subjekt a priori hat und in welcher nichts Gegebenes – kein Objekt der Natur – liegt. So können beide Momente als Momente (der Erklärung) des einen durch und durch geistigen Aktes der Wahrnehmung gefasst werden; so konnten sie wahrhaft zusammengeführt werden. Das werden wir im folgenden Abschnitt 5.2.3 leisten. Vorher wollen wir jedoch Hegels starken Geistbegriff noch genauer im Kontext gegenwärtiger philosophischer Debatten verorten. Axel Hutter hat in mit den unsrigen verwandten, allgemeinen Überlegungen einen Begriff der „Wirklichkeit des Geistes“ entwickelt und im Kontext prominenter Begriffsbildungen der analytischen Philosophie – vor allem in Auseinandersetzung mit Davidson – profiliert.20 Darin macht er deutlich, dass sich die Wirklichkeit einzelner Akte – so z. B. von Wahrnehmungsakten – der ihr vorausliegenden, umfassenden Wirklichkeit des Geistes verdankt21, wie auch wir argumentiert haben; und, dass sich somit auch die Natur dieser Wirklichkeit des Geistes verdankt, da sie für uns in unserer Selbsterkenntnis gar nicht anders ist denn als Inbegriff dessen, was in solchen Akten repräsentiert wird. Diese Gedanken aber hängen intern miteinander zusammen: Nur, wenn der Natur – von der Perspektive der Selbsterkenntnis aus – keine eigenständigen Akte zuerkannt werden, lassen sich sämtliche Akte – die sodann allesamt Akte des Geistes sind – als wahrhaft einzelne überhaupt in eine interne Beziehung setzen, die ihrerseits vom Geiste selbst durchgängig bestimmt ist und durch die er sich als Ganzer zeigt – mit sämtlichen seiner internen Unterscheidungen, als deren wichtigste sich zuletzt diejenige zwischen endlichem und unendlichem Geist herausstellen wird, auf welche unsere Untersuchung zuläuft. Mit Hegel ist vor diesem Hintergrund an dieser Stelle auch gegen eine weitere Differenzierung Widerspruch anzumelden, die in der gegenwärtigen philosophischen Debatte an Bedeutung gewonnen hat: die Unterscheidung 20 Vgl. Hutter 2008. Wir werden auf eine weitere zentrale Einsicht seines Aufsatzes in Kapitel 7 zurückkommen. 21 In diesem Zusammenhang betont Hutter auch Hegels epistemologischen Antifundamentalismus, dessen Wesen auch wir – im folgenden Abschnitt 5.2.3 – darstellen werden.
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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zwischen einem noch nicht rational oder geistig geformten, bloß phänomenalen Bewusstsein und einem Bewusstsein, das Repräsentiertes rational oder geistig zugänglich macht („rational access“). Um diese Differenzierung hat sich eine Debatte entwickelt, die ein Aufsatz von Tyler Burge22 darstellt – wobei Burge darin selbst eine differenzierte und einflussreiche Position formuliert. Hegel zufolge nun kann es jedoch prinzipiell keine zwei solche Arten von Bewusstsein geben; dies verbietet die Wirklichkeit des Geistes, die nichts außerhalb ihrer selbst lässt – und schon gar nicht etwas, was irgendwie für das Subjekt, in seinem Bewusstsein, sein soll. Bezogen auf das Bewusstsein insgesamt bedeutet das, dass es nicht eine Art von Bewusstsein geben kann, die geistig in-formiert ist, und eine, für die das nicht gilt. Sobald etwas für das Bewusstsein überhaupt ist, ist dies die repräsentationale Leistung des Geistes; und das bedeutet, dass das, was sodann für das Bewusstsein ist, als immer schon geistig repräsentiertes auch prinzipiell immer schon allen geistigen Funktionen und Operationen – theoretischen wie praktischen – offensteht. Es gibt keine Art von Bewusstsein, die wir mit nicht-geistigen Wesen teilen würden (– die Unendlichkeit des Geistes toleriert keine noch so kleine Ausnahme). Das gilt damit auch für Akte der Wahrnehmung, die ja Akte des Bewusstseins sind. In Bezug auf sie im Besonderen wiederum hat Fred Dretske vorgeschlagen, zwischen „simple seeing“ und „epistemic seeing“ zu unterscheiden.23 Auch dies ist mit Hegel dezidiert zurückzuweisen: Die Tatsache, dass es – wie wir sagten – vergröberte Wahrnehmungen qua Wahrnehmungsfeld gibt, impliziert gerade nicht, dass diese „simple“ und ohne geistige Leistung zu haben sind. Im Gegenteil: Die geistige Leistung der Konstitution von Einheit und Ganzheit des Wahrnehmungsfeldes bedingt den – gemessen an einem epistemischen Maßstab – „vergröberten“ Charakter dieser Wahrnehmungen, der gerade um der Realisierung der (geistigen) Einheit unseres Wahrnehmungsfeldes willen notwendig ist. Hegel selbst hat diesen Punkt in seiner „Anthropologie“ dargestellt; man versteht ihn freilich nur dann richtig, wenn man diesen gegenüber der „Phänomenologie“ früheren Systemteil im Lichte des späteren zu lesen weiß. Ansonsten entstehen grundverkehrte naturalistische Hegel-Lesarten, die Hegel eben die Annahme einer solchen naturhaften, „simplen“ Basis des Bewusstseins zuschreiben – so bei Terry Pinkard24 insgesamt und bei David Forman25 bezogen auf die Empfindung in der Wahrnehmung.26 McDowell ist zuzuerkennen, dass er dagegen mit Hegel Einspruch erhebt; doch seine immer noch naturalistische Burge 1997, in kritischer Auseinandersetzung mit Block 1995. Dretske 2000. 24 Vgl. Pinkard 2012. 25 Vgl. Forman 2010. 26 Einige (exegetisch fundierte) Einwände gegen derartige Lesarten hat auch Corti 2018 vorgetragen. 22
23 Vgl.
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Philosophie reicht nicht zu, um diesen Widerspruch wirkungsvoll zur Geltung zu bringen und in die einzig richtige Richtung – hin zu einer Philosophie des Geistes, die diesen Namen verdient – zu entwickeln. Im Lichte von Hegels Philosophie des Geistes kommt er daher metaphysisch auf der Seite seiner eigenen Gegner zum Stehen. Das gilt auch in Bezug auf den wohl prominentesten Gegner in der Keimzelle seines Denkens, der Vorlesungsreihe Mind and World: Donald Davidson. Davidson hat einst diese berühmt gewordene These in den Raum gestellt: „[N]othing can count as a reason for holding a belief except another belief.“27 McDowell bemängelt an ihr zunächst, dass sie das Folgende ausschließe, was zu denken ihm zufolge jedoch philosophische Aufgabe sei: dass die Welt sich uns in Wahrnehmungsakten selbst zeige, die sodann als unmittelbare Hereinnahme der Realität in das Denken (und damit der Welt („world“) in den Geist („mind“)28) gelten könnten und eo ipso eine unbedingt rechtfertigende Kraft hätten. So aber müsse es sich nach McDowell verhalten, wenn Sinn aus unserem Weltbezug überhaupt zu machen sein soll. Diese These – dass die Wahrnehmung selbst wahrhaft wissendes Bewusstsein sei, deren Akte von der Welt (oder Natur) selbst ausgehen und somit deren Selbst-Vorstellung sind – haben wir ausführlich kritisiert; sie ist ganz unhegelsch. Doch mit McDowell lässt sich auch ein durchaus hegelscher Aspekt der Kritik an Davidsons These festmachen: dass diese impliziert, dass die Wahrnehmung, die als solche ja nicht „belief “ ist, aus dem Reich des Geistes ausgegliedert und der Geist somit provinzialisiert wird. Mit Hegel ist in der Tat zu denken, dass auch die Wahrnehmung, obwohl sie kein „belief “ ist, durch und durch geistig ist und der Geist an ihr keine Grenze findet – doch das eben gerade nur dann, wenn die Wahrnehmung nicht Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist. McDowells Auffassung hingegen ist aus hegelscher Sicht so zu beurteilen: Er erkennt an, dass die Wahrnehmung geistig sein muss, fällt aber hinter diese Einsicht zurück, indem er sie zum wahrhaft wissenden Bewusstsein und damit die Natur zum eigentlichen Metaphysicum erklärt. Und: Ihm ist zuzugeben, dass Wahrnehmungen Wahrnehmungsurteile in ihrer Richtigkeit rechtfertigen können, weil beides im Raum und in Form des Geistigen ist – nicht aber darin, dass eines davon in einer sich-zeigenden Welt gründen würde oder dass eines davon wahrhaftes Wissen wäre. In Kapitel 6 werden wir zudem auf die individuelle Ausprägung von Wahrnehmungsfähigkeiten zu sprechen kommen und sehen, dass sie an die Grenzen solcher Rechtfertigung zu führen, diese im Ansatz zu sprengen vermag: So sehr durch die im Kindesalter erfolgte Abrichtung wirklich von einer intersubjektiven, sozusagen standardisierten Determination der Wahrnehmung die Rede sein muss, so sehr kann sich der subjektive Geist im gelingenden Einzelfall davon lösen: etwa, indem ein musikalisches Genie erst Davidson 1986: 126. Zum diesbezüglichen Übersetzungsproblem vgl. Hutter 2008.
27 28
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mals anders hört als alle vor ihm, und dieses Genie dem Standard nicht mehr vermittelbar ist. Das ist zwar – gemessen an der Skala des absoluten Geistes – „nur“ ein Auf-Bruch inmitten des subjektiven Geistes – auch dieser Hörer bleibt dem gewöhnlichen Hören noch in Teilen verfangen –, aber immerhin ein AnBruch der Wahrheit, dass das wahrhaft wissende Bewusstsein nicht im endlichIntersubjektiven liegt; und so ist dieser An-Bruch nicht zufällig am deutlichsten am ästhetisch relevanten Hören zu illustrieren. Damit können wir den Reigen an Kritik vorerst wieder schließen. Er hat uns scharf vor Augen geführt, dass die Wirklichkeit des Geistes dann mit einem „nur“ versehen zu werden droht, solange der Geist eben nur als das normativFormale innerhalb einer vermeintlichen Wirklichkeit der Natur aufgefasst wird. Es gibt aber, von hegelscher Warte aus, keinen Grund so zu denken; sofern solches Denken überwunden ist, gibt es auch kein „nur“ an der Wirklichkeit des Geistes mehr. Was die Wahrnehmung betrifft, ist Hegels Philosophie durchaus „therapeutisch“ zu nennen: Denn dass dem Wahrnehmungsakt nichts an Wirklichkeit fehlt dadurch, dass wir ihn vollziehen und nichts von all dem wissen, was die Naturwissenschaft uns berichtet, das würde ein szientistisch unbefangenes Bewusstsein bezeugen – wenn es ein solches gäbe: Ein solches würde sich erfahren als die-Welt-sinnlich-repräsentierend, und es würde überhaupt nichts wissen von irgendwelchen spezifischen kausalen Ereignissen beispielsweise sehphysiologischer oder neuronaler Art. Ihm wäre offenbar nicht abzusprechen, wahrnehmen zu können und auch verständig von seinen Wahrnehmungen reden zu können – es könnte aber nicht einmal den Gedanken erwägen, dass diese nicht wirklich seien, weil es „nur seine“ repräsentationalen Akte und nicht naturkausale Prozesse sind. An dieser Stelle nun – gegen Ende dieses Abschnitts 5.2.2 – ist auf Hegels Einsicht zurückzukommen, dass auch der „subjektive“ und somit auch der „theoretische Geist“, zu dem auch Wahrnehmungsakte gehören, „hervorbringend“ ist.29 Wir können nun genauer einsehen, was dies bedeutet und warum dies sehr präzise formuliert und begründet ist: Wir hatten in Kapitel 4 schon gesehen, dass jedes Individuum seine Wahrnehmungen in dem Sinne „hervorbringt“, dass es sich qua Aufmerksamkeit aktiv „nach außen“ – „wo“ für es noch kein Objekt ist – richtet und dadurch Objekte für sich repräsentiert. Das ist ein wirklicher Akt und somit wirkliche Hervorbringung – und gerade keine empirisch („von der Seite“) zu beobachtende. Qua Aufmerksamkeit nun ist die Wahrnehmung überhaupt eine Aktivität oder Handlung. Weil und nur dadurch dass wir wahrnehmen wollen, nehmen wir wahr. Auch ist richtig: Weil und nur dadurch dass wir wahrnehmen wollen, nehmen wir dies und das wahr. Nicht richtig hingegen wäre: Weil und nur dadurch dass wir x wahrnehmen wollen, nehmen wir x wahr. In dieser Hinsicht ist die Einzelwahrnehmung des Individuums keine Hand Enz. 1830, § 444.
29
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lung – und deshalb gehört die Wahrnehmung auch nicht zu dem, was Hegel „praktischen Geist“ nennt. Doch – und darin liegt nun Hegels Pointe – trifft dies eben nur auf das Individuum als Individuum zu, nicht auf das Individuum als (subjektiven) Geist. Denn der normative Zwang, der dem Individuum entgegentritt, sodass dieses nicht durch x-wahrnehmen-Wollen tatsächlich x wahrnehmen kann, kommt von außerhalb des Individuums, nicht aber von außerhalb des Geistes. Dem Geist als Geist tritt also in diesem normativen Zwang nichts entgegen außer er selbst.30 Der Geist als solcher ist deshalb auch in der Wahrnehmung durch und durch handelnd und „hervorbringend“, niemals leidend. Wie wir an späteren Stellen genauer einsehen werden, lässt sich an dieser Stelle gut eine elementare Differenz zum absoluten Geist verdeutlichen: Zum einen sind dessen Akte, anders als die des subjektiven Geistes, der Modifikation durch das individuelle endliche Subjekt (wie durch Kollektive solcher Subjekte) entzogen; wir können etwa das Schöne nicht „anders“ machen als es von sich her ist, während wir den Zuschnitt empirischer Begriffe sehr wohl individuell (wie kollektiv) verändern können. Zum anderen aber ist der Geist als absoluter Geist ein willentlich-handelnder Einzelner, der uns entgegentritt, während der subjektive Geist zwar „hervorbringend“ im erläuterten Sinne ist, dies aber nicht bedeutet, dass er „neben uns“ oder „als unser Gegenüber“ Akte vollziehen würde; seine Akte ziehen sich vielmehr – in Gestalt des normativen Zwangs – durch unsere Akte, Akte von Individuen des subjektiven Geistes, hindurch. So ist er wirklich, aber dennoch nicht ein von uns als Individuen getrennter Akt oder der Akt eines einzelnen Wesens namens „der subjektive Geist“.31 Nun haben wir Wahrnehmungsakte mit anderen (Arten von) Akten kontrastiert. Einen Akt haben wir dabei noch außen vor gelassen, der nun noch vergleichend in den Blick genommen werden soll: das Urteil. Ein – selbst ganz 30 Hierin kann man die Form des Selbstbewusstseins erblicken; doch es ist insofern kein Selbstbewusstsein, als „der subjektive Geist“ kein reales Einzelnes ist, wie wir sogleich genauer einsehen werden. 31 Diese Differenzierungen ermöglichen es Hegel also, Sellars 1968: 74 einflussreiche, aber eben nicht hinreichend differenzierende Kontrastierung von „acts“ und „actions“ in Bezug auf die Wahrnehmung zu unterlaufen. Umgekehrt lässt sich diagnostizieren: Sellars muss sie so fassen, da ihm ein robuster Begriff des „subjektiven Geistes“ nicht zur Verfügung steht, von dem eine „Hervorbringung“ so prädiziert werden kann, dass der normative Zwang, den das individuelle endliche Subjekt in seiner aktiven Wahrnehmung erfährt, eben nicht deren Aktivitätscharakter qua geistigem Akt widerspricht. – Eva Schürmann hat in einem bemerkenswerten, phänomenal reichen Buch mit Recht betont, dass (derartige) duale Differenzen nicht zureichen, um „die eigentümlich proteushafte Veranlagung des Sehvermögens zwischen Bewusstsein und Welt, Konstruktion und Repräsentation, zwischen Interpretativität und Responsivität sowie zwischen Zustand und Handeln begrifflich zu fassen […]. Vielmehr spricht einiges dafür, Sehen als eine kontextuell situierte und intersubjektiv adressierte Tätigkeit zu begreifen, mithin als einen Vollzug, der zugleich etwas stiftet.“ (Schürmann 2008: 11). Auch wenn von hegelscher Warte weder all diesen begrifflichen Prägungen noch den gesamten näheren Ausführungen Schürmanns uneingeschränkt zuzustimmen ist, so spricht sich im feinsinnigen Anmahnen besagter Differenzierungen doch eine hegelsche Grundeinsicht aus.
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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grob – vergleichender Blick auf das Urteil zeigt uns nun: auch Urteilen ist eine Aktivität der Aufmerksamkeit – allerdings nicht der sinnlichen Aufmerksamkeit. Im Urteilen wird die Aufmerksamkeit nicht „nach außen“ gelenkt, sondern sozusagen „nach innen“, womöglich auf alle (einschlägigen) Elemente des geistigen Raumes des normativ Einschlägigen, zu denen ich Zugang habe und zu denen ich mich in der Einstellung der (Nicht‑)Affirmation verhalten kann. Ein konkretes Beispiel: Eine Ärztin ist mit einem Patienten konfrontiert und hat überdies Kenntnis von seiner Akte, die den bisherigen Krankheitsverlauf dokumentiert. Sie verfügt also über eine gewisse Menge an Wahrnehmungen, Überzeugungen (oder Urteilen), Definitionen etc., die sie nun zusammennehmen muss, um daraus zu einer Be-Urteilung der Situation des Patienten – zu einer Diagnose – zu gelangen. Insofern sie sich auf all das, was sie hat, fokussiert und dadurch zum Urteil gelangt, dieser Patient leide an einer Meningitis, so ist es richtig zu sagen, dass sie von dem, was sie hatte, „gezwungen“ war, so zu urteilen. Darin gerade unterscheidet sich ihr – kompetentes – Urteil von einem zwang-losen laienhaften Raten oder Ahnen. Auch in diesem Falle ließe sich der Satz formulieren, „sie musste so urteilen, weil es eine Meningitis war“ – und auch in diesem Fall wäre er analog zu analysieren, als Verweis auf das als Maßstab anerkannte Urteil einer als (mindestens) ebenso kompetent anerkannten Ärztin. Doch anders als im Falle der Wahrnehmung dürfte hier kaum jemand versucht sein, diese im Vollzug des Urteilens liegenden normativen Zwänge als kausale Einwirkungen zu missdeuten. Es ist vielmehr ein Zwang der Normativität, wie er, erstens, von den für die Ärztin vorhandenen Elementen des geistigen Raumes der Gründe, auf die sie sich (gewohnheitsförmig oder nicht-gewohnheitsförmig) fokussiert, in ihrem logischen Verhältnis zueinander ausgeht; und, zweitens, wie er eben von einem anderen, aber gleichartigen oder gleichwertigen Urteilsakt (eines anderen individuellen Subjekts) in ebenso nicht-kausaler Weise ausgeht. Damit ist auch deutlich geworden, wie im Lichte der hegelschen Auffassung – zumindest thetisch, ganz grob für unsere Zwecke angedeutet – das Verhältnis von Wahrnehmung und Urteil zu bestimmen ist. Beide sind jeweils Aktualisierungen von Begriffen. Begriffe sind Unterscheidungsvermögen, genauer: Vermögen, etwas als so-und-so und nicht anders (und als nicht-anders) zu repräsentieren. Weiter sind beide, Wahrnehmung und Urteil, aktive Aktualisierungen von Begriffen32; besagte Aktivität besteht – so die These weiter – auch in beiden Fällen in Aufmerksamkeit. Doch die Art der Aufmerksamkeit, durch die sie aktualisiert werden – in denen ihre Aktualisierung besteht und die wesentlich diese Aktualisierung ist –, ist jeweils eine verschiedene: im Falle der Wahrnehmung ein sich-nach-außen-Richten, im Falle des Urteilens ein sich-nach-innen-Richten. 32 Kern 2015 und 2018 hat Wahrnehmung und Urteil unter Bezug auf Kant und Hegel als verschiedene „Potenzen“ des Begrifflichen entfaltet. Abgesehen davon, dass Kern dabei nicht die Passivitätsauffassung hinter sich lässt, scheint mir dies eine treffende Darstellung zu sein.
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Doch die Normativität kommt in beiden Fällen aus der Wirklichkeit des (subjektiven) Geistes – nicht „von außen“ im Sinne von „von der Welt her“ oder „von innen“ im Sinne von „von meiner (in sich genügsamen, privaten) Individualität (meinem ‚inwendige[n] Orakel‘33) her“. 5.2.3 Zusammenführung: Normativität qua Intersubjektivität als Setzung des (subjektiven) Geistes Nun aber bleibt eine schon angeklungene, nagende Frage zur Normativität qua Intersubjektivität, die wir bislang zwar thetisch, aber noch nicht wirklich begründet beantwortet haben – weshalb der vorletzte Abschnitt 5.2.1 „nur“ eine Annäherung an den eigentlichen Gedanken war, der vorhergehende Abschnitt 5.2.2 als Exposition des starken Geistbegriffs Hegels nur eine Überleitung zur nun erfolgenden finalen Beantwortung dieser nagenden Frage. Sie lautet, zu einem Einwand zugespitzt, wie folgt: Mit Referenz auf die Wahrnehmung eines anderen Subjekts haben wir zwar den Sinn des Satzes „S nimmt O als x wahr, weil O x ist“ erklärt, mit dem wir verschiedene Wahrnehmungen normativ „vergleichen“. Doch damit haben wir nicht erklärt, wie für S – in seiner Wahrnehmung von O – die normative Determination gegeben ist. Die Wahrnehmung von S* kann dies nicht erklären; denn sie tritt nicht hinein in die Sphäre des Wahrnehmungsaktes von S, wie er für S ist. S hat nicht die Wahrnehmung von S*. (Das ist nicht zuletzt deshalb so, weil wir uns durchaus denken können, dass S als erstes Subjekt überhaupt O wahrnimmt – etwa bei der Landung auf einem neuen Planeten.) Erst wenn wir diesen Einwand präzise begründet zurückgewiesen haben, haben wir den in den vorherigen Abschnitten thetisch antizipierten internen Zusammenhang von Wirklichkeit des Geistes und Normativität sowie das intersubjektive Wesen der normativen Determination voll begriffen. Dieser Einwand hat ein verkehrtes und ein wahres Moment, welche zu unterscheiden und zu diskutieren uns auf eine wichtige Vertiefung von Hegels Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung als geistiger Aktivität führt. Das verkehrte Moment ist, dass dieser Einwand nach einer Erklärung für das faktische Zustandekommen der Wahrnehmung verlangt. Sofern damit eine empirische Erklärung gemeint ist, kann, muss und – konsequenterweise – wird die Philosophie sie nicht geben. Sofern damit nach einer Erklärung dafür gefragt ist, wie es zur begrifflichen Unterscheidung kam, in der die Wahrnehmung von S besteht, haben wir diese schon gegeben: S kommt, als geistigem und elementar gebildeten Wesen, das dargestellte begriffliche Unterscheidungsvermögen sowie dessen Art der Aktualisierung, die die Wahrnehmung ist, zu. Dieses Vermögen hat es aktualisiert – so ist es zu (s)einer Unterscheidung gelangt. So Hegels treffendes Bild in PhG, 47.
33
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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Nun wird der Einwand entgegnen: So ist erklärt, warum das Subjekt S unterscheidet, aber nicht, warum es auch richtig unterscheidet (dass das begriffliche Bestimmungsmoment x zurecht positiv aktualisiert ist); warum es O wahrnimmt, wie es ist; warum es O als x wahrnimmt, weil es x ist. Das aber wollten wir ja eigentlich wissen. Hier, so könnte der Einwand weitergehen, muss doch eine normative Determination durch das Objekt O selbst vorliegen. Nun, das haben wir schon zurückgewiesen. Wie aber können wir mit Hegel dieser normativen Determination Rechnung tragen? Denn zuzugeben ist, dass eben gerade diese normative Determination (und nicht das bloß faktische Zustandekommen) der Wahrnehmung Gegenstand der philosophischen Selbsterkenntnis ist. An dieser Stelle ist es jedoch zunächst entscheidend, den Charakter dieser normativen Determination richtig zu fassen. Wir hatten ja gesagt, dass es sich um keine (scheinbar) bloß äußerliche oder nachträgliche Erklärung dieser normativen Determination handeln soll. Vielmehr soll die normative Determination eine sein, die dem Subjekt S in seiner Wahrnehmung intern ist, und soll also auch als solche erklärt werden. Was genau aber ist hier mit „dem Subjekt S in seiner Wahrnehmung intern“ gemeint? Folgendes: Wenn ich wahrnehme, so erscheint mir etwas; es erscheint mir aber nicht ohne normative Bestimmung, sondern es erscheint mir so, dass in diesem Erscheinen die „Behauptung“ enthalten ist, dass O so ist, wie es mir erscheint. (Das unterscheidet die sinnliche Wahrnehmung z. B. von sinnlicher Phantasievorstellung.) Wohlgemerkt: Nur in diesem Erscheinen und nicht darüber hinaus liegt solche „Behauptung“; das Subjekt kann jede solche „Behauptung“ unmittelbar suspendieren, wenn es Gründe dafür hat, und somit urteilen, überzeugt sein, dass O nicht so ist, wie es ihm sinnlich erscheint. Die Passivitätsauffassung – der Standpunkt der „Wahrnehmung“ – nun meint, das Wesen solcher „Behauptung“ im Erscheinen sei dadurch zu erklären, dass meine Wahrnehmung des Objekts O nichts anderes ist als ein sich-Zeigen dieses Objekts O, und dieses sich-Zeigen eo ipso sein sich-Geltendmachen. McDowell schreibt wörtlich: „Ostensible seeings are experiences that, as conceptual episodes, ‚contain‘ claims, but in a special way that differentiates them from conceptual episodes of other kinds. They ‚contain‘ their claims as ostensibly necessitated by an object ostensibly seen.“34
Wir haben das bereits zurückgewiesen. Die Passivitätsauffassung könnte nun meinen, wir könnten das Wesen solcher „Behauptung“ im Erscheinen mit Hegel überhaupt nicht erklären. Doch wir können es sehr wohl, nämlich indem wir die These der Passivitätsauffassung geradezu umkehren – durch eine Revolution der Denkart: Besagte „Behauptung“ ist die (Selbst‑)Behauptung des Geistes, dass „es“ so ist – dass die Welt so ist – wie er sie (re‑)präsentiert, wie er sie (sich) vor McDowell 1998a: 440 [Hvh. T. O.].
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stellt. Nicht: Diese „Behauptung“ ist die (Selbst‑)Behauptung der Natur/Welt, dass „es“ so ist – dass die Natur/Welt so ist – wie sie sich selbst präsentiert, wie sie selbst sich dem Subjekt vorstellt. Das ist nun genauer zu entfalten. Die Frage war: Wie ist die wahrnehmungsinterne „Behauptung“ zu verstehen? Sie lautet nun genauer: Wie ist sie zu verstehen, wenn nicht durch Referenz auf eine den repräsentationalen Akten des Subjekts vorausgesetzte Natur oder Welt? Nun, zunächst müssen wir uns daran erinnern, wie wir die Wahrnehmung soweit philosophisch bestimmt haben: als ein durch Aufmerksamkeit aktualisiertes begriffliches Vermögen, d. h. Unterscheidungsvermögen. Wenn ein Subjekt S nun eine rote Rose vor sich sieht oder eine Herzklappenstörung auf dem Ultraschall sieht, so hat es dieses Vermögen aktualisiert. Denn es hat ja etwas unterschieden: Dass eine Rose (bzw. eine Herzklappe) da ist und keine Tulpe (bzw. keine Niere); und dass sie rot ist (bzw. defekt) und nicht grün (bzw. unauffällig). So hat es unterschieden. Doch hat es auch richtig unterschieden? Genauer: Mit welchem Recht – aus welchem Grund – enthält seine Wahrnehmung die „Behauptung“, „es“ oder die Welt sei so, wie es wahrnimmt, also unterschieden hat? Hegels Antwort lautet: Durch den eben genannten Akt der Unterscheidung „setzt“ der Geist – wie Hegel sagt – die Welt35; was er darin unterscheidet und somit repräsentiert, sich vor-stellt, ist die Welt.36 Nun bemisst er zugleich diesen Akt an der Welt, die er soeben als diese gesetzt hat und nun in diesem Bemessen voraus-setzt, was logischerweise zwingend dazu führt, dass er (als) richtig wahrnimmt – eben so, wie „es“ (oder die Welt) ist. Hegel bestimmt den Geist in seinem Verhältnis zur Natur deshalb als 35 Auf das „Setzen“ als wesentliche Bestimmung von Hegels Auffassung der sinnlichen Wahr-
nehmung hat Houlgate 2018 – mit (in diesem Punkt) berechtigter Kritik an McDowell(s Hegel) – hingewiesen, wenngleich er diese Bestimmung nicht zu derjenigen Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung als qua Aufmerksamkeit aktive Aktualisierung von Begriffen weiterentwickelt, wie sie in unserer Untersuchung vertreten wird. Auch Houlgate stellt jedoch (als einer der wenigen Hegel-Interpreten) prominent den Aktivitätscharakter der Aufmerksamkeit und deren Rolle im Ganzen der sinnlichen Wahrnehmung, wie er sie sodann mit seinem Hegel versteht, heraus. So teilen seine Auffassung und die unsrige in der Tat eine gemeinsame Stoßrichtung. 36 Wir hatten schon in Kapitel 2 argumentiert, dass es aus einer Perspektive der Selbsterkenntnis gar keinen anderen Zugang zur Natur oder Welt gibt als durch deren Auffassung als Inbegriff dessen, was in sinnlicher Wahrnehmung erscheint, also vom Subjekt repräsentiert wird. – Mit dem Gedanken, dass die Natur oder Welt durch den Geist gesetzt ist, schließt Hegel aus, dass es so etwas wie Geist in der Natur geben könnte. Die Natur ist begrifflich repräsentiert; d. h. sie ist nur durch Begriffe, aber als das Andere des Geistes und des Begriffs; niemals aber sind Begriffe oder Geist in ihr. Darauf werden wir am Ende von Kapitel 5 noch einmal zurückkommen. DeVries 1988: 46 ff. hebt in seiner Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Natur zunächst vielversprechend an, indem er feststellt: „Spirit is self-explanatory, self-subsistent […]. In its contrast to spirit, nature is none of these.“ (47) Doch – inkonsequent, wie mir scheint – behauptet er wenige Zeilen später: „The distinction between nature and spirit […] is not an absolute cleft; nature itself has successively more spiritual stages.“ (48) Hier wird wohl versucht, Hegels Geistmetaphysik wieder naturalistisch zu zähmen.
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„Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbstständiger Natur ist.“37
Durch den Akt der begrifflichen Unterscheidung setzt das Subjekt also die Natur als seine Welt; die Welt ist, was (der Fall) ist – und, sofern „Richtigkeit“ des Aktes der begrifflichen Unterscheidung eine „Übereinstimmung“ mit der Welt meint, ist dieser Akt trivialiter richtig, weil als Welt das gesetzt worden ist, was in ihm repräsentiert ist. Dieses Zugleich von Setzen und Voraussetzen ist also die Selbstbehauptung des Geistes. Es ist, so Hegel weiter, „Erschaffen derselben [sc. der Natur/Welt] als seines Seyns, in welchem er die Affirmation und Wahrheit seiner Freiheit sich gibt.“38
Die in der Wahrnehmung enthaltene „Behauptung“ besteht also in der Gewissheit des Geistes, dass er wahrnimmt, wie es ist, weil „wie es ist“ festgelegt ist dadurch, wie er wahrnimmt. Dies ist der Gedanke der geistimmanenten normativen Determination der Wahrnehmung.39 Dieser Gedanke ist nun klärend weiter zu entfalten. Zunächst wirft er diese Frage auf: Verhält es sich also so, dass die Wahrnehmung damit in einer bloßen Faktizität – in einem Setzen – gründet? Denn wir hatten ja gesagt, dass der Geist fest-setzt, dass „es“ so ist, wie er „es“ in seiner Unterscheidung gesetzt hat; basierend darauf erst – also nachträglich, so scheint es – lässt sich eine normative Determination denken: wenn dem Subjekt der Akt seiner Unterscheidung daran bemessen wird, was vorher rein faktisch als Welt – als „wie es ist“ – gesetzt wurde. Gesucht aber hatten wir nach einer normativen Determination in einem Akt der Wahrnehmung – nicht dessen Zerlegung in einen bloß faktischen Akt, der sodann zur Norm erhoben wird, und einen anderen, auf Basis dessen sodann normativen Akt. Bei dieser Überlegung liegt ein Missverständnis vor. Denn die eben gegebene Rekonstruktion, die auf einem faktischen Akt der Unterscheidung beruhte, war nicht die Schilderung eines tatsächlichen Wahrnehmungsprozesses. Es „gibt“ nicht zunächst einen solchen faktischen Akt ohne innere Normativität oder „Behauptung“, der sodann nachträglich oder gar akzidentell durch einen (anderen) Enz. 1830, § 384. Enz. 1830, § 384. 39 Schon in seiner frühen Schrift „Glauben und Wissen“ kritisiert Hegel die Dualität von Begriff und Anschauung (vgl. dazu, mit Bezug auf die Enzyklopädie und Kant, auch Halbig 2002: 342 ff.). Wir sehen nun, wohin ihn diese Kritik führt, was sie letztlich bedeutet und wie sie sich kohärent und positiv ausgestaltet. Offen muss hingegen bleiben, ob Hegel recht damit behält, wenn er Kant eine derartige Dualität zuschreibt, die mit dem Erfordernis der Geistimmanenz im Widerspruch steht. – Halbig 2002 sieht und arbeitet heraus, dass Hegel die Subjekt-Objekt-Struktur nicht als Zusammenkunft zweier Gegebenheiten-von-sich-her auffasst. Doch er scheint mir nicht der Radikalität von Hegels Gedanken zu folgen, die sich im Gedanken der Setzung und Voraussetzung der Natur durch den Geist ausspricht. Dies führt ihn dazu, die Welt nicht als vom Geist vermittels seiner repräsentationalen Akte Gesetztes zu begreifen – und lässt ihn damit in die „realistische“ Rede von dem, „was in der Welt ist“ (344), zurückfallen. 37 38
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Akt mit „Behauptung“ ergänzt würde. Das würde schon der allgemeinen hegelschen Einsicht zuwider gehen, dass der Geist sich des Wahrnehmungsaktes immer schon in Gänze bemächtigt hat; genau dies aber hat er, da das in ihm Repräsentierte – die Natur, die Welt – durch die Setzung immer schon „sein[..] Seyn[.]“ ist und der Akt demgemäß diesem „seine[m] Seyn[.]“ immer schon entspricht; es gibt also nicht einen Akt – den scheinbar ersten, bloß faktischen –, der bloß ist und nicht selbst schon (als) gültig ist. Der Geist setzt nicht einfach, sondern setzt so, dass seine Akte durch dieses Setzen zugleich als gültig gesetzt sind. Wie also ist die Rekonstruktion mit Unterscheidung dieser „beiden Akte“ dann zu verstehen? Nun, sie war die schrittweise Rekonstruktion des einen Aktes der Wahrnehmung auf Basis von Momenten, die sich in einer philosophischen Rekonstruktion zum Zwecke der Erklärung abstrahieren lassen, die es aber nicht selbständig oder getrennt als zwei wirkliche, geistige Akte gibt. Das bedeutet, dass das Subjekt, wenn und sofern es durch sinnliche Aufmerksamkeit sein begriffliches Unterscheidungsvermögen aktualisiert, immer schon so wahrnimmt, dass darin die „Behauptung“, dass es wirklich so ist wie es wahrnimmt – dass es richtig wahrnimmt –, enthalten ist; ein geistiger Akt ist also immer schon intern als gültig gesetzt. Kurz gesagt: Erst mit dieser Behauptung liegt der geistige Akt der Wahrnehmung überhaupt vor. Deshalb kann nicht gesagt werden, dass die Wahrnehmung mitsamt ihrer Normativität auf einem bloß faktischen und in sich nicht normativen Akt beruhen würde; dass gleichsam ein normativer Fehlschluss vorläge. Das führt uns zu einer wichtigen Präzisierung von Hegels Auffassung: Das Subjekt S hat somit nicht einen nicht-normativen Akt A* und einen normativen Wahrnehmungsakt A, dessen Normativität sich durch die Bemessung an A* ergibt. Sondern es hat einen einzigen Wahrnehmungsakt A, der für es zugleich einmal als Maßstab gesetzt – A(Maß): „es ist so, wie in A repräsentiert“ – und einmal als sein daran zu bemessender und bemessener Wahrnehmungsakt – A(individuell): „A repräsentiert, wie es ist“ – gesetzt ist. Es ist ganz richtig – und ein Verweis auf die geistgemäße Pointe von Hegels Konzeption – festzustellen, dass es somit „nicht überraschend“, ja „trivial“ ist, dass diesem Subjekt seine Wahrnehmung wahrnehmungsintern als richtig, als bekräftigt, als gültig gesetzt, erscheint. Es ist jedoch ganz verkehrt zu meinen, dass dies gegen die Konzeption spräche.40 Das kann man nur sagen, wenn man (noch) der Passivitätsauffassung anhängt und urteilt, Hegels Konzeption würde „nur“ eine geistinterne Normativität kennen, also keine, die von der Welt selbst ausgeht. Dieses „nur“ 40 Man kann an dieser Stelle zugleich verstehen, warum ein Denker wie Rosenzweig sagen kann, dass das Epistemische oder Theoretische mit der „Vergangenheit“ zu assoziieren ist. Zwar ereignet sich qua Setzung des Geistes der Geist als Macht, aber in dieser Form der Setzung liegt – thetisch gesagt – zugleich immer schon die logische Doppelung von „ist (‚jetzt‘) so wie es (‚immer schon‘) war“.
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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hat, von unserer Warte aus, keinen Sinn, weil der Gedanke einer von der Welt ausgehenden Normativität in Wahrheit ein Un-Gedanke ist. Mit dem Verweis auf ein Implikat der Passivitätsauffassung die hegelsche Auffassung, die sich gerade wesentlich gegen diese artikuliert, widerlegen zu wollen, ist dogmatisch oder zirkulär. Zur weiteren Entfaltung von Hegels Auffassung ist nun folgende Frage instruktiv: Woran liegt es, dass die beschriebene Setzung des Wahrnehmungsaktes A eines individuellen endlichen Subjekts S als Maßstab und zu Bemessendes zugleich nicht in einer letztlich privaten Selbstbestätigung dieses Subjekts mündet? Die Antwort darauf ist, dass diese Setzung kein Akt dieses Individuums qua Individuum ist, auch wenn der Wahrnehmungsakt immer ein Akt eines Individuums ist. Diese Setzung ist kein Akt des Individuums – und zwar sowohl (i) in seiner Form wie auch (ii) in seiner materialen Konkretion: (i) Der Form nach ist dieser Akt der Akt des (subjektiven) Geistes. Dieser ereignet sich zwar nicht als selbstständiger Akt neben dem Wahrnehmungsakt des individuellen Subjekts, der als solcher auch nur durch dessen Aktivität der Aufmerksamkeit begonnen und vollzogen wird, sondern nur durch es – sonst wäre er ja auch nicht inhärent notwendig. Aber insofern er sich durch es ereignet, ist er kein Akt des individuellen Subjekts, sondern des (subjektiven) Geistes. Das zeigt sich daran, dass dieser Akt jedem Zugriff des individuellen Subjekts kategorisch entzogen ist: Das individuelle Subjekt kann diesen Akt nicht unterlassen; es kann nicht wahrnehmen ohne diese Setzung, da es sonst gar nicht wahrnehmen würde. Insofern es qua sinnliche Aufmerksamkeit Begriffe aktualisiert, ereignet sich an und durch es, in seinem Akt, diese Setzung notwendig.41 Also: Dieses individuelle Subjekt beginnt zwar, wie wir sahen, willentlich den Akt der Wahrnehmung, nicht aber den darin wesentlich liegenden Akt der normativen Setzung. Er ereignet sich darin notwendig. (ii) Der materialen Konkretion nach nehme ich nicht wahr, wie ich als Individuum wahrnehme, sondern so, wie „man“ wahrnimmt. Das aber bedeutet, dass die Bemessung meiner Wahrnehmung an dieser Wahrnehmung, als Maßstab gesetzt, eine Bemessung daran ist, wie „man“ wahrnimmt. Der Grund für dieses „man“ aber ist sehr plastisch realisiert, wie wir in Kapitel 4 schon gesehen 41 Hier ist ein instruktiver, wenngleich noch ganz abstrakter Vorgriff auf den Begriff des absoluten Geistes möglich: Was der Geist als subjektiver Geist in der Wahrnehmung vollzieht – Geltendmachen –, vollzieht auch der absolute Geist, wenngleich in zweierlei Hinsicht anders als der subjektive Geist: (i) als selbstständiger Akteur gegenüber dem endlichen Subjekt, (ii) so, dass das endliche Subjekt durch dieses Geltendmachen – in seinem Vollzug – dieses sein Geltendmachen erkennen kann, wodurch dieses eo ipso als Geltendmachen des Geltendmachens – Offenbaren des Offenbarens, wie Hegel sagt (vgl. Enz. 1830, § 383) – erkannt wird. (Vgl. zur rechten Herleitung und Entfaltung dieses Gedankens Kapitel 7 unserer Untersuchung.) Man kann es mit Hegel auch so formulieren: Die Setzung ist „Manifestation“ und als solche ein vorläufiger Vorgriff auf das, was der absolute Geist als „Offenbaren (des Offenbarens)“ realisiert (vgl. zum Begriff der „Manifestation“ ebenfalls Enz. 1830, § 383).
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haben: Wenn wir elementar zu wahrnehmungsfähigen Individuen gebildet wurden, bedeutet das, dass wir in die schon etablierte Praxis der Wahrnehmung hineingewachsen sind und damit notwendig so wahrnehmen wie andere an dieser Praxis Beteiligte. Denn genau das bedeutet es, an ein und derselben Praxis teilzuhaben. Damit ist das, was zunächst als Setzung bloß meines Wahrnehmungsaktes als Maßstab aussah, notwendig zugleich eine Bemessung am Maßstab des „man“ oder, sofern wir erstpersonal von dieser Praxisgemeinschaft reden, des „wir“. Das ist ein Aspekt dessen, was Hegel meint, wenn er (noch ganz allgemein) vom „Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist“42, spricht. Die an Heidegger gemahnende Rede vom „man“ ist hier nun durchaus auch am Platze. Denn die Praxis, in die wir hineinwachsen, ist eo ipso die geteilte; wir lernen wahrzunehmen, wie „man“ wahrnimmt. Wir können unsere Teilhabe an dieser Praxis allerdings individuell ausprägen hin zu einer Wahrnehmungsfähigkeit, die andere wahrnehmungsfähige Individuen (so) nicht besitzen. Darauf werden wir im folgenden Kapitel 6 eingehend zu sprechen kommen, da dies ein äußerst wichtiges Signum des Geistes in seiner Leitkategorie der Individualität oder des Einzelnen ist, die sich schon auf Ebene des subjektiven Geistes verfolgen und aufweisen lässt. Dort wird sich zweierlei genauer zeigen, was wir hier schon antizipierend bemerken können: Von Hegels Warte aus gibt es keinen Grund, irgendwelche Gütemaßstäbe für Wahrnehmung als absolut oder von sich her bestehend zu behaupten (– mit Ausnahme des ästhetischen, der von sich her absolut ist, qua absolutem Geist, und auch so erfahrbar ist); und es gibt unbeschadet der Möglichkeit der individuellen Ausprägung der Wahrnehmungsfähigkeit keinen absoluten Ausbruch aus dem „man“ der Wahrnehmung: über den exzellenten Diagnostiker sagen wir, er sehe im Ultraschall nicht nur – wie der Laie – farbige Areale, sondern eben Herzklappenfunktionsstörungen. Das bedeutet – so groß und bedeutend dieser Unterschied zum Laien ist – aber nicht, dass der Arzt überhaupt keine farbigen Areale mehr, sondern sozusagen „nackt“ oder „direkt“ die Herzklappenfunktionsstörungen sehen würde. Vielmehr sagen wir, er kann in oder an diesen farbigen Arealen Herzklappenfunktionsstörungen sehen. Vor dem Hintergrund dieses Vorgriffs lässt sich umso deutlicher erkennen, was aus dem bisher Dargelegten folgt: Keine Wahrnehmung kann intern (an sich) falsch sein, da der Geist sie immer schon als intern (an sich) gültig gesetzt hat; nicht bloß, dass er nichts Falsches als gültig setzen könnte, sondern, dass nichts, was er als gültig gesetzt hat, falsch sein kann. Von Sinn und Richtigkeit dieser – zunächst überraschend klingenden – These, von ihrer Kohärenz mit allem, was bisher ausgeführt wurde, können wir uns unter Rückgriff auf das eben Angedeutete plastisch überzeugen. Jede Wahrnehmung ist intern richtig oder gültig in dem Sinne, dass es für keine Wahrnehmung prinzipiell keinen Maßstab gibt, unter Anlegung dessen sie als „gut“ zu bezeichnen wäre. Auch dies können PhG, 108.
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5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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wir uns sehr anschaulich deutlich machen: Angenommen, jemand sieht in der Dämmerung nur, dass dorthin eine Person läuft – nicht aber beispielsweise, wie sie gekleidet ist. Diese Wahrnehmung ist offenkundig ziemlich schlecht, wenn als Maßstab eine im Kontext von Modenschauen für gut befundene Wahrnehmung angelegt wird. Wenn es aber eben nur darum geht – z. B. im Rahmen eines Gerichtsprozesses –, ob eine andere Person in sichtbarer Nähe war oder nicht, so ist diese Wahrnehmung absolut zureichend und in diesem Sinne auch „gut“ zu nennen. Und wer unter Einfluss von LSD ein intensives Farbenspiel seiner Umgebung wahrnimmt, dessen Wahrnehmung ist als schlecht zu bewerten, wenn als Maßstab die zum Autofahren notwendige Akkuratheit und Stabilität der Wahrnehmung festgesetzt ist. Wenn es hingegen um die ästhetische Güte einer Wahrnehmung geht, ist diese Wahrnehmung womöglich sehr gut. Darin liegt nun eine dialektische Pointe Hegels: Gerade, weil eine Wahrnehmung niemals intern schlecht oder unrichtig ist, kann sie in einem geistigen Sinne schlecht oder unrichtig werden und somit erst wahrhaft schlecht oder unrichtig sein. Genauer gesagt: Wenn gezeigt werden kann – und wir werden das gleich zeigen –, dass der Blick des medizinischen Laien auf den Ultraschall wirklich schlecht ist, wenn einmal der ärztlich erfahrene Blick auf den Ultraschall als Maßstab gesetzt ist, zeigt sich erneut der, wie Hegel sagt, „hervorbringend[e]“ Charakter des subjektiven Geistes qua Geist. Er zeigt sich – bezogen auf den eben genannten Fall – darin, dass er die in-sich-nicht-Schlechtigkeit des geistigen Aktes noch einmal wirklich in eine Schlechtigkeit verwandeln kann, wenn seinem Wesen der Individualität oder Einzelnheit – hier: durch individuelle Ausprägung von Kompetenzen in der Wahrnehmung – genüge getan ist. Das aber wäre gar nicht möglich, wenn eine Wahrnehmung schon von sich her schlecht wäre. Es kann also, so sahen wir, keine Wahrnehmung geben, die eine interne materiale Unrichtigkeit hat – also eine, die sie unter jedem möglichen Maßstab zu einer schlechten Wahrnehmung machen würde. Das ist, genau besehen, nicht überraschend: Denn es besagt ja, dass das vom Geist als gültig gesetzte für den Geist nicht an sich ungültig sein kann (wenngleich auf Basis einer nachträglichen Fest-Setzung eines bestimmten Maßstabs wirklich schlecht sein kann). Metaphysisch wichtiger als die Unmöglichkeit interner materialer Unrichtigkeit ist entsprechend ein anderer, wenngleich damit intern zusammenhängender Gedanke: Jede Wahrnehmung ist sogar unter einem Gesichtspunkt – nämlich der Form ihrer Setzung nach – notwendig gut: Durch die beschriebene Setzung ereignet sich (subjektiver) Geist in ihr; d. h. es ereignet sich in ihr die Setzung der Natur – und damit ihr, wie Hegel sagt, „Verschwundensein“ als das, was sie „für uns“ als natürliches Bewusstsein zu sein scheint, nämlich dem Geiste vorausgesetzte Natur. Doch es ereignet sich so nicht absoluter Geist in der Wahrnehmung: Das heißt, dass der Geist in der Wahrnehmung nicht zum selbstständigen Akteur neben dem individuellen endlichen Subjekt wird, und, damit
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intern zusammenhängend, wie wir in Kapitel 7 einsehen werden: dass das endliche Subjekt in der Wahrnehmung nichts von diesem Ereignis weiß, das sich da ereignet. Das Ereignis des subjektiven Geistes in der Wahrnehmung impliziert kein Wissen des Subjekts dieser Wahrnehmung um dieses Ereignis. Vielmehr stellt es sich so dar, dass das „natürliche Bewusstsein“ – auf seinem Standpunkt der „Wahrnehmung“ und ihrer Passivitätsauffassung – faktisch meint, die Natur sei dem Geist vorausgesetzt. Das sagt Hegel ganz ausdrücklich: „Der Geist hat für uns die Natur zu seiner Voraussetzung, deren Wahrheit, und damit deren absolut Erstes er ist. In dieser Wahrheit ist die Natur verschwunden […].“43
All das weiß das endliche Subjekt in seinem Wahrnehmungsakt nicht, obwohl der subjektive Geist sich in ihm notwendig als Setzender ereignet; da es das nicht weiß – also in seinen Akten trotz deren Geistigkeit keine Selbsterkenntnis liegt –, erscheint ihm das, was in Wahrheit eine Bemessung des Aktes an ihm selbst ist, als eine Determination dieses Aktes durch die Natur. Mit anderen Worten: Da es von der Setzung des subjektiven Geistes nichts weiß, weiß es auch von dessen Voraus-Setzung der Natur in Gestalt dieser Bemessung des Aktes an sich selbst nichts; das bedeutet, dass ihm die Natur nicht als vom Geist gesetzt und sodann vorausgesetzt, sondern als schlicht vorausgesetzt, als gegeben erscheint. So kann Hegel zeigen, dass ein Ausbleiben der Selbsterkenntnis nicht in irgendeiner Fehlauffassung mündet – sondern in einer ganz bestimmten, nämlich derjenigen der Passivitätsauffassung und mit ihr des Standpunktes der „Wahrnehmung“. Damit zurück zur besagten Setzung: Wir haben nun eingesehen, warum dieser Setzungsakt nicht die Selbstbekräftigung des individuellen endlichen Subjekts als eines individuellen ist. Denn der Akt ist ein Ereignis des subjektiven Geistes, das dem individuellen endlichen Subjekt als Individuum kategorial entzogen ist; und diese Setzung bedeutet nicht, dass das Individuum seine individuelle Wahrnehmung zum Maßstab dogmatisiert, sondern seine individuelle Wahrnehmung – ganz richtig – als dasjenige präsentiert bekommt, was sie ist: die Wahrnehmung des „man“ oder „wir“. Doch wie verhält sich dazu die beschriebene Abweichung vom „man“ oder „wir“ durch individuelle Ausprägung der Wahrnehmungsfähigkeit wie beispielsweise beim ärztlichen Blick auf den 43 Enz. 1830, § 381 [Hvh. T. O.]. Michael Quante sieht, dass Hegel mit dem „für uns“ den verkehrten Standpunkt des „Bewusstseins“ meint; da er Hegel aber als „Realisten“ lesen will, versucht er, eine andere Lesart zu finden. (Das ist ein gutes Beispiel für die Zirkularität der Metaphysik, wie wir sie in Kapitel 7 prinzipiell aufweisen und beleuchten werden.) Quante im Wortlaut: „Eine solche Position [sc. welche das ‚für uns‘ in unserem Sinne versteht, T. O.]“ hätte „neben aller sachlichen Unplausibilität [die Quante hier nicht benennt oder begründet, T. O.]“ zur Implikation, dass „die realistische Voraussetzung der Natur ein vollständiger Irrtum“ wäre. Ganz recht, so ist es auch. Quante meint, dass in diesem Fall „die Perspektive des ‚für uns‘ keinen konstitutiven Beitrag im Gang der Entwicklung zu leisten imstande wäre.“ (Quante 2011: 123 f.) Er irrt ums Ganze, denke ich. Wir werden in den Kapiteln 7 und 8 aufzeigen, worin dieser „Beitrag“ besteht – er ist die Verkehrung des individuellen endlichen Subjekts, in dessen Überwindung der Geist seine absolute Macht und Liebe erweist.
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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Ultraschall? Sie ist ja, wie wir sagten, eine Abweichung von, wenn auch kein kategorialer Ausbruch aus der „man“‑ oder „wir“-Wahrnehmung. Wie kann sie von uns zum wirklichen Maßstab erhoben werden, wenn jedem Subjekt intern qua Setzung seine Wahrnehmung als „man“‑ oder „wir“-Wahrnehmung zum Maßstab schon gesetzt ist? Genauer besehen führt uns diese Frage also zu folgender Frage: Wie verhält sich die beschriebene Setzung der Wahrnehmung als Bemessenes und Maßstab zugleich, die – wie wir sagen können – eine Intersubjektivität innerhalb des numerischen identischen Subjekts S bedeutet, zur Vergleichung einer Wahrnehmung dieses Subjekts S mit der als Maßstab anerkannten Wahrnehmung eines numerisch davon verschiedenen Subjekts S*, also einer Intersubjektivität zwischen numerisch verschiedenen Subjekten? Wir sehen nun, dass beides intern miteinander zusammenhängt. Das wollen wir in mehreren Schritten entfalten. Zunächst: Wir sehen nun, warum normative Determination überhaupt in Form der Intersubjektivität zwischen numerisch verschiedenen Subjekten auftreten kann; da Intersubjektivität – wenn auch nicht zwischen numerisch verschiedenen Subjekten – schon in ein und demselben Subjekt, in seiner Wahrnehmung, sich ereignet. Jene ist nur aufgrund von dieser wirklich. Man könnte nun einwenden: Wieso sollte das so sein? Ist es der zweitgenannten nicht wesentlich, dass sie sich notwendig ereignet und jedem willkürlichen Zugriff entzieht? Wenn dem so ist, dann kann die erstgenannte nicht einfachhin dieselbe sein bloß zwischen anderen Relata – denn sie wird ja erst durch kontingente Fest-Setzung eines Maßstabs. Und: Wenn es für die zweitgenannte wesentlich ist, sich im numerisch identischen Subjekt zu ereignen, so kann es nicht als dasselbe im erstgenannten enthalten sein, das sich ja zwischen zwei numerisch verschiedenen Subjekten aufspannt. Nun, an dieser Linie von Einwand ist ein wahres und ein falsches Moment: Das wahre ist, dass es offenkundig einen Unterschied macht, ob wir von einer Intersubjektivität innerhalb eines numerisch identischen oder zwischen zwei numerisch verschiedenen Subjekten reden. Das falsche ist, dass das Wesen dieser wesentlich normativen Intersubjektivität in numerischer Identität oder Verschiedenheit bestünde; sie besteht vielmehr darin, dass zwischen dem Akt eines Subjekts als Bemessenem und dem Akt eines Subjekts als Maßstab unterschieden wird. Dies haben beide Fälle identisch gemeinsam. Wie also kann man vor diesem Hintergrund den Zusammenhang beider bestimmen, sodass ihrer Identität und ihrer Differenz genüge getan ist? Nun, indem aufgezeigt wird, wie sich die Normativität der Intersubjektivität zwischen numerisch verschiedenen Subjekten durch diejenige innerhalb des numerisch identischen Subjekts erklären lässt: Wenn wir die Wahrnehmung des Arztes A – sagen wir: sein Sehen der Herzklappenstörung im Ultraschall – als Maßstab setzen, so ist die laienhafte Wahrnehmung von Person B, die im Ultraschall nur Farbgeflimmer sieht, ungenügend oder schlecht. Wir können dies
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nun so erklären: Würde Person B in die Praxis des ärztlichen Sehens lernend hineinwachsen, würde sie wahrnehmen wie A und diese seine Wahrnehmung wäre – qua subjektivem Geist – als Bemessenes und als Maßstab gesetzt. Das bedeutet, B würde wahrnehmen wie A und dieser Wahrnehmung wäre ihre „Behauptung“ – die in Wahrheit eine Selbst-Behauptung des die Natur setzenden Geistes ist – intern. Dieser Zusammenhang ist – kurz gesagt – ganz einfach und aus unserem tatsächlichen Umgang mit Kompetenzen wie derjenigen des ärztlichen diagnostischen Blicks durchaus unmittelbar plausibel: Würde ich zum Arzt heranreifen, würde ich wahrnehmen wie ein Arzt und mich in der Wahrnehmung selbst davon überzeugen können, dass „es“ so ist, wie es dem Arzt in seiner (mir soweit verwehrten) Wahrnehmung erscheint.44 Doch diesen Gedanken philosophisch klar einzuholen, wie wir dies mit Hegel tun konnten, ist alles andere als selbstverständlich: Will man nicht der Passivitätsauffassung und ihrer These von der empfänglichen Offenheit des Subjekts für die ihm vorausgesetzte Welt anhängen, so scheint man zunächst darauf verpflichtet zu sein, Wahrnehmung als einen „subjektiven mentalen Zustand“, in dem (noch) keine Welt ist, zu verstehen. Hegel unterläuft diese Alternative durch den Gedanken einer Setzung durch den Geist. Dadurch kann er eine Aporie lösen, in welche die nichthegelsche Auffassung von der Wahrnehmung als eines „subjektiven mentalen Zustands“ notwendig gerät: Dass sie die Normativität der Wahrnehmung überhaupt nicht verständlich machen kann. Im Sinne einer solchen Auffassung kann das, was wir soeben mit Hegel gesagt haben – nämlich: würde ich zum Arzt heranreifen, würde ich wahrnehmen wie ein Arzt und mich in der Wahrnehmung selbst davon überzeugen können, dass „es“ so ist, wie es dem Arzt in seiner (mir soweit verwehrten) Wahrnehmung erscheint –, gar nicht intelligibel sein. Denn wenn die Wahrnehmung des Arztes als mentaler Zustand für sich stünde, so wäre gar nicht intelligibel, was es bedeuten soll, dass ich wahrnehmen könnte wie er. Mit Hegel ist dies intelligibel, durch den Gedanken des prinzipiell immer möglichen Hineinwachsens in eine geteilte Praxis. Und es wäre auch nicht intelligibel, was es bedeuten soll, dass ich mich in der Wahrnehmung von etwas überzeugen könnte; denn sie wäre eben einfach ein faktischer mentaler Zustand, dem kategorial keinerlei Normativität inhäriert. Mit Hegel ist auch dies intelligibel, durch den Gedanken der inhärenten Normativität qua Setzung der Wahrnehmung durch den Geist als Bemessenes und Maßstab zugleich. Damit wären einer solchen nicht-hegelschen Auffassung gemäß beide Wahrnehmungen privat, jedenfalls getrennt. Nun können wir einen weiteren Aspekt der Alternative benennen, die Hegel durch seine Konzeption unterläuft: Wo 44 Damit ist freilich verbunden, dass vom Arzt – im Rahmen seiner Praxis – zu sagen ist, dass er wahrnimmt, wie „man“ in dieser Praxis wahrnimmt, unbeschadet der Tatsache, dass diese Praxis in vielerlei Hinsicht etwas „Besonderes“ ist. Doch das ist für den philosophischen Begriff des „man“ qua Teilhabe an einer Praxis überhaupt – egal welcher – irrelevant.
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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Getrenntheit – nicht aber Verbundenheit qua intersubjektive Normativität – gedacht werden kann, kann gedacht werden, dass A nicht wie B wahrnimmt; doch ein signifikanter (normativer) Vergleich ist unmöglich. Das war die eben diskutierte Position. Die andere gegnerische Position – McDowells Version der Passivitätsauffassung – hingegen denkt die Gleichheit aller Wahrnehmung (unter den elementar gebildeten Subjekten); denn sie denkt ja gar nicht, dass spezifischere empirische Begriffe Eingang in die Wahrnehmung finden, wie wir in Kapitel 2 gesehen haben. Sie kann also keine wirkliche Getrenntheit zwischen verschiedenen Subjekten in ihren Wahrnehmungen denken. Hegel hingegen kann beides vereinen: Eine wirkliche Getrenntheit – der Laie nimmt nicht wie der Arzt wahr und die Wahrnehmung des Arztes ist dem Laien auch nicht in seiner eigenen Wahrnehmung verfügbar – und eine wirkliche Verbundenheit – jeder Laie kann prinzipiell zum Arzt werden und so zur gleichen Wahrnehmung mit inhärenter Normativität wie derjenigen gelangen, die der Arzt jetzt schon hat.45 Fassen wir also zusammen: Wenn wir eine bestimmte Wahrnehmung eines bestimmten Subjekts als Maßstab festsetzen, so tun wir damit etwas, das nicht notwendig, sondern kontingent ist. Dennoch ist die Normativität, die von diesem Maßstab sodann ausgeht, eine wirkliche Normativität; denn sie hat ihrem Wesen nach Anteil an der notwendigen Normativität, die der Wahrnehmung eines Subjekts qua notwendiger Setzung des (subjektiven) Geistes inhärent ist; sie ist nur an einer anderen Wahrnehmung als Maßstab justiert. Es ist daher richtig zu sagen: „Wir haben festgelegt, dass die Wahrnehmung des Arztes der Maßstab ist.“ Doch daraus folgt nicht, dass es unter dieser Voraussetzung richtig wäre zu sagen: „Die Wahrnehmung des Laien ist nicht schlecht, sondern wir halten sie nur für schlecht.“ Sondern: „Die Wahrnehmung des Laien ist schlecht.“ Der Laie, der von sich als Laie weiß, hat gute Gründe, in seinem Urteil nicht der Behauptung zu folgen, die unmittelbar in seiner Wahrnehmung liegt, sondern derjenigen, die unmittelbar in der Wahrnehmung des Arztes liegt. Philosophisch exakter gesprochen: Dass der Laie sich als Laie weiß, bedeutet, dass er die Behauptung in seiner Wahrnehmung schon in ein normatives Verhältnis zur Behauptung in der Wahrnehmung des Arztes gesetzt hat. Das entfernt zwar nicht die Behauptung, die auch in der Wahrnehmung des Laien weiterhin notwendig liegt; daran zeigt sich, dass der Geist als subjektiver Geist indifferent ist gegenüber unserer Justierung normativer Maßstäbe, sie uns also nicht abnimmt. Doch dies impliziert gerade nicht, dass der Geist als subjektiver Geist dieser unserer Justierung widerspricht und alles für gleichermaßen gültig behauptet. Denn 45 In Kapitel 7 werden wir sehen, dass Hegel ganz analog in Bezug auf die Selbsterkenntnis argumentiert: Nur wenn es eine hinreichende Trennung der Wahrheit von ihrem faktischen Verfehltwerden durch das individuelle endliche Subjekt gibt, kann die Verpflichtung auf den (Un‑)Gedanken vermieden werden, dass dieses Subjekt „irgendwie“ immer schon die Wahrheit „in sich“ gehabt haben muss.
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seine Behauptung ist ja „nur“ allgemein: Die Welt ist, wie in der Repräsentation gesetzt, und die Repräsentation ist daher wie die Welt – und daher, soweit und allgemein, in sich gültig. Diese Behauptung zieht sich in dieser Allgemeinheit durch alle Wahrnehmungsakte. Sie betrifft, qua ihrer Allgemeinheit, überhaupt nicht die Frage, ob dieses konkrete Objekt so oder anders ist. Ob es so oder anders ist, ist entschieden auf Basis unserer Justierung des Maßstabs. Da aber auch nur uns, als Individuen oder Kollektiv(e), überhaupt interessiert, ob dieses konkrete Objekt so oder anders ist, kann die Behauptung des (subjektiven) Geistes, die auch in der Wahrnehmung des Laien notwendig liegt, dazu gar nicht in Widerspruch treten. Nur der Laie als Individuum könnte dies – und würde es auch, wenn er nicht wissen oder anerkennen würde, dass er ein Laie ist. Die Behauptung des (subjektiven) Geistes, die auch in der Wahrnehmung des Laien notwendig liegt, impliziert also nicht: „Es ist gar nicht so, wie der Arzt meint, sondern dies meinen nur einige.“ Sie impliziert aber sehr wohl: Es ist nicht qua (subjektivem) Geist, sondern nur qua Individuen oder Kollektiv(e) konkret so, wie der Arzt meint. Da aber nur Individuen oder Kollektiv(e) ein Interesse daran haben – einen Bezug auf die Frage haben –, ob hier nun eine Gewebeveränderung vorliegt oder nicht, ist es dann auch so, wie es die Wahrnehmung, die als Maßstab anerkannt ist, repräsentiert. Es ist nicht „nur für sie“ – „nur für die betreffenden Individuen oder Kollektiv(e)“ – so; denn „nur“ würde bedeuten, dass es von einer anderen Warte aus anders ist. Doch von der Warte des (subjektiven) Geistes aus ist es nicht anders; der (subjektive) Geist verhält sich dazu gar nicht. Andere Individuen oder Kollektive können sich dazu verhalten und auf Basis ihrer Justierung des Maßstabs zu einem anderen Urteil gelangen. Doch das bedeutet nicht, dass die jeweiligen Urteile der Kollektive keine Urteile, sondern bloßes Meinen wären. Dass die Urteile nur unter Voraussetzung der jeweiligen Justierung des Maßstabs so sind, wie sie sind, bedeutet nicht, dass sie aufgrund der Voraussetzung der jeweiligen Justierung des Maßstabs keine Urteile, sondern bloßes Meinen, eine unverbindliche Sicht der Dinge wären. Indem wir einen Maßstab justieren, justieren wir gleichsam seinen Ort und nicht, dass er ein wirklicher Maßstab ist; sein Maßstabsein liegt im normativen Wesen des (subjektiven) Geistes begründet, das sich in jedem Wahrnehmungsakt qua Setzung als Behauptung zeigt, und ist somit jedem individuellen oder kollektiven Zugriff notwendig entzogen. Solche normative Determination ist also eine wirkliche. Dem entspricht dies: Die Wahrnehmung des Arztes wäre dieselbe wie seine, wenn er sich entsprechend wirklich zum Arzt bilden würde. Die Wirklichkeit dieser normativen Determination zeigt sich also darin, dass ein am festgesetzten Maßstab bemessenes Subjekt, das noch nicht zureichend gut wahrnehmen kann, eine wirkliche Veränderung durchlaufen muss – wirklich besser werden muss –, um zureichend gut wahrnehmen zu können, und es dies – falls es diese Veränderung durchlaufen hat –auch wirklich kann und tut.
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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Nun sehen wir auch klar den Zusammenhang der folgenden beiden Fälle: (i) „Maria nimmt den Esel als grau wahr, weil er grau ist“: Wenn wir so reden, so erkennen wir nach unserer hegelschen Rekonstruktion nun klar, behaupten wir (ohne das dadurch zu wissen!), entweder – dass die intersubjektive Determination, wie sie innerhalb Marias realisiert ist, und die intersubjektive Determination, wie sie zwischen Maria und einem Individuum, dem wir (bezogen auf diesen Fall) dieselbe Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennen wie Maria und das diese auch ausgeübt hat, kongruieren. Maria nimmt wahr, wie „man“ wahrnimmt (und damit wie das andere Individuum); und das andere Individuum eben auch. Oder, – dass die intersubjektive Determination nur innerhalb Marias realisiert ist, weil sie die erste oder einzige ist, die in diesem Fall tatsächlich wahrgenommen hat – wir aber keinen Grund haben daran zu zweifeln, dass sie wahrnimmt, wie „man“ wahrnimmt; etwa, weil wir der Überzeugung sind, dass hinter der Türe46 nur Tiere zu sehen sind und Maria die Fähigkeit, Tiere wahrzunehmen, zuschreiben. Unsere Sprache ist hier durchaus sensibel: Angenommen, Maria wäre ein Individuum, das überhaupt keine Tiere unterscheiden kann, würden wir sagen: „Maria hat sicher keinen Esel gesehen“ – und in Klammern hinzufügen: „obwohl da womöglich einer ist“. (ii) „Elisabeth sieht Johannes’ Herzklappenstörung auf dem Ultraschall; Martha sieht sie nicht“: Wenn wir so reden, so erkennen wir nach unserer hegelschen Rekonstruktion nun ebenfalls klar, behaupten wir, dass ein wirkliches normatives Gefälle zwischen Elisabeth und Martha besteht. Dass die intersubjektive Determination, wie sie jeweils innerhalb von Elisabeth und Martha besteht, nicht kongruiert mit derjenigen, wie sie zwischen Elisabeth und Martha besteht. Auch hier ist die Sprache sehr sensibel: Denn basierend auf dem eben Gesagten würden wir auch folgenden Satz äußern: „Elisabeth sieht Johannes’ Herzklappenstörung, wie sie ist; Martha hingegen sieht sie nicht, obwohl sie da ist.“ Mit Hegel ist das so zu analysieren: Da Elisabeth und ihre Wahrnehmung der Maßstab ist, ist die intersubjektive Determination innerhalb ihrer demgemäß in Kraft gesetzt (anerkannt). Da Martha nicht der Maßstab ist, ist diejenige innerhalb ihrer demgemäß außer Kraft gesetzt (nicht anerkannt).47 46 Die raumzeitlichen Orte freilich sind auch intersubjektiv zugänglich, da die Formen von Raum und Zeit im subjektiven Geist selbst liegen. (Das hat Kant bereits klar gesehen und herausgestellt; mit Hegel haben wir diesen Gedanken in Kapitel 4 nachvollzogen.) 47 Halbig 2002: 372 ff. ist also darin Recht zu geben, dass Hegel durch seine Analyse bestimmten Formen unseres „unschuldigen“ Redens über unseren Weltbezug Sinn und Richtigkeit zuschreibt. Und doch ist Halbig darin zu widersprechen, dass wir deshalb nach Hegel „an unserem alltäglichen Verständnis unserer selbst und der Wirklichkeit festzuhalten“ legitimiert werden (373). Denn der Inhalt der Analyse, durch die besagter Sinn und besagte Richtigkeit festgestellt werden können, impliziert gerade eine radikale Revision unseres alltäglichen Selbst‑
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Wir sehen nun auch: Ganz analog zu (ii) lässt sich die Differenz zwischen Wahrnehmungsakten analysieren, die nicht in der Differenz der begrifflichen Vermögen zweier Individuen begründet ist, sondern in der Differenz des Grades an investierter Aufmerksamkeit. Auch hierzu ein kurzes Beispiel: „Eva sieht einen gräulichen Film auf dem Apfel; Adam sieht ihn nicht.“ Auch hier besteht ein wirklich normatives Gefälle, dessen Verankerung allerdings ebenfalls von uns und nicht von sich her festgelegt ist: Wenn wir etwa dafür halten, dass der gräuliche Film relevant ist, weil er anzeigt, dass der Apfel faul sein könnte; und wenn wir den Zweck der Wahrnehmung so festlegen, dass er zu dieser nützlichen Erkenntnis beiträgt, so müssen wir in der Tat sagen: „Eva sieht hier besser als Adam.“ Und: „Adam hätte aufmerksamer, genauer hinsehen sollen.“ Wenn wir allerdings keinen Grund haben, von einer Aufmerksamkeitsdifferenz beider auszugehen, werden wir eben fragen: „Ob da nun wirklich ein gräulicher Film auf dem Apfel ist?“ Diese Frage aber beantwortet uns nicht der Apfel. Ob das wirklich der Fall ist, sagt uns überhaupt keine ansichseiende Wirklichkeit, sondern eine von uns als Maß der Dinge anerkannte, andere Wahrnehmung, an der – wie bei jeder anderen auch! – intern die Setzung des Geistes die Welt festgesetzt hat, die wir aber nun als Maßstab in diesem konkreten Fall festsetzen. Hinzuzufügen bleibt, dass es Teil einer umfassenden Bildung ist, ein kontextuelles Wissen um die eigenen Grenzen zu entwickeln. Das tun wir in vielen Fällen auch, weshalb beispielsweise kaum ein Patient, sofern er ärztlicher Laie ist, meint, im Ultraschall mehr unterscheiden zu können als der Arzt. Doch – und auch darauf werden wir in Kapitel 6 zu sprechen kommen – verhält es sich nicht so, dass ein Wissen um die Güte der jeweiligen Wahrnehmung in der Wahrnehmung selbst mit-gegeben wäre. Das kann schon deshalb nicht sein, weil dieser ja nicht intern ist, welchen Maßstab wir anlegen – wie wir eingesehen haben. Eine kultivierte Selbsteinschätzung – ein kultivierter Umgang mit mehr oder weniger begründeten Zweifeln – ist Teil einer vernünftigen Bildung des Individuums, die weit über seine genuine Wahrnehmungsfähigkeit hinausreicht. Auch das kann die Passivitätsauffassung nicht sehen, wenn sie – in ihrem Theoriestück des „Disjunktivismus“ – meint, ein Wissen um die Güte einer Wahrnehmung liege, wenn sie gut ist, in ihr selbst. Wir fassen also abschließend zusammen: Es ist richtig, von „intersubjektiver normativer Determination“ zu reden. Wir haben nun eingesehen, was das bedeutet und dass diese Bedeutung nur zu fassen ist, wenn zwei verschiedene Realisationsweisen derselben in ihrem Zusammenhang zueinander betrachtet werden: innerhalb des numerisch identischen Subjekts und zwischen zwei numerisch verschiedenen Subjekten. Wir sehen nun auch ein, warum es sich bei und Wirklichkeitsverständnisses, eben eine Umkehrung des gewöhnlichen oder natürlichen Bewusstseins, wie Hegel sagt. Deren Implikationen werden wir im Verlauf unserer Untersuchung noch genauer einsehen.
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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Sätzen wie „ich nehme wahr wie Johannes“ nicht um empirische Sätze handelt, obwohl sie von verschiedenen Individuen reden und sich nicht lediglich auf mich selbst und meine Akte beziehen: Mein Wahrnehmungsakt ist intern intersubjektiv; und von daher ist es logisch möglich, sinnvoll (und vernünftig), dass meine bewertende Rede über meine Wahrnehmungsakte einen Bezug auf andere Subjekte nimmt, diese interne Intersubjektivität aufgrund des beschriebenen Zusammenhangs also auf die – wie wir sie auch nennen können – „externe“ ausdehnt. Der Schlussgedanke, mit dem zum nächsten Abschnitt überzuleiten ist, soll zusammenfassend um die Frage gehen, was an der beschriebenen „Setzung“ in der internen Intersubjektivität und an der Einbeziehung der externen Intersubjektivität durch Fest-Setzung eines Maßstabs nun jeweils notwendig und was jeweils kontingent ist: – Die Festsetzung eines bestimmten Maßstabes, d. h. eines bestimmten Individuums oder einer bestimmten Wahrnehmung eines bestimmten Individuums als Maßstab, erfolgt durch ein Individuum oder ein Kollektiv und ist kontingent. Das heißt nicht, dass sie beliebig ist; sie kann – wiederum auf Basis schon bestehender Voraus-Setzungen etwa einer Kultur oder Lebensform – durchaus wohlbegründet sein. Und: In unserem Fest-Setzen eifern wir im Modus der Kontingenz dem eo ipso notwendigen Setzen des Geistes gleichsam nach, zeigen uns also auch darin als geistige Wesen. Entsprechend: Wenn der bestimmte Maßstab festgesetzt ist, ist die daraus resultierende normative Determination – das normative Gefälle – wirklich. Plastisch im Bild gesprochen: Dadurch, dass wir die geistige Kraft der Normativität woanders befestigen, wird sie nicht weniger eine geistige Kraft. Konkret hatten wir das daran gesehen, dass ein wirklicher Weg des Besserwerdens zu durchlaufen ist von dem Individuum, zu dem hin das normative Gefälle verläuft. Deswegen kann dieses auch nicht wirkungsvoll sagen: „Ich definiere mich nun einfach als einen guten Arzt.“ Es kann höchstens (mehr oder weniger folgenreich und wirkmächtig) sagen, es erkennt den Maßstab des guten Arztes nicht an – womit es ihn allerdings insofern anerkennt, als es sich sonst nicht auf diese Weise von ihm lossagen, ihn aberkennen müsste. – Die Setzung durch den subjektiven Geist als solche ist notwendig. Sie ist kein willentlicher Akt des individuellen endlichen Subjekts, steht nicht zu seiner Disposition. Nicht notwendig aber ist, was – materialiter, im Inhalt des Wahrnehmungsaktes – gesetzt wird. Das „dass“ oder die Form, nicht aber das „was“ oder der Inhalt der Setzung ist somit notwendig. Der Geist, welcher setzt, ist an nichts gebunden – außer an das, was wiederum die logische Form der Wahrnehmung als solche verlangt (etwa die Kategorien, durch die die als-Struktur realisiert ist). Hegel spricht deshalb im oben zitierten § 384 von „seiner Freiheit“. Das bedeutet aber nicht, dass ich als Individuum an nichts gebunden bin: Ich muss freilich wahrnehmen, wie „man“ wahrnimmt, weil ich in diese Praxis des „man“ hineingewachsen bin. Genauer: Insofern ich (subjektiver) Geist bin, bin
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ich daran nicht gebunden; insofern ich konkretes Individuum in einer Praxis bin, bin ich daran sehr wohl gebunden. Überhaupt gebunden in meiner Wahrnehmung bin ich deshalb, weil es meinem Willen entzogen ist, dass der Geist setzt; und an den Inhalt meiner Wahrnehmung gebunden bin ich, weil ich ohne Teilhabe an dieser Praxis kein konkretes wahrnehmungsfähiges Individuum wäre. Diese hegelsche Auffassung aber impliziert: Ihrer Form nach ist jede Wahrnehmung durch die Setzung des Geistes selbst gültig; ihrem konkreten Inhalte nach aber ist sie letztlich auf Basis eines von uns festgesetzten Maßstabs zu bewerten, und dieser Maßstab ist seinerseits eine konkrete Wahrnehmung (mit ebenso konkretem Inhalt) eines (anderen) Individuums. Das aber bedeutet, dass die normative Determination der Wahrnehmung ihrem konkreten Inhalt nach immer nur unter Rekurs auf eine andere zu begreifen ist; sie ist also stets „das andere ihrer selbst“, in Hegels Formel. Es gibt keinen Referenzpunkt „außerhalb“ konkreter Wahrnehmungen dafür. Anders gesagt: Was „man“ wahrnimmt, ist philosophisch nicht ableitbar. Es ist rein kontingent. Die Tatsache, dass die Wahrnehmung der Ärztin – sie sieht die Herzklappenfunktionsstörung im Ultraschall – richtig ist, ist philosophisch nur auf ihre Form hin durchsichtig zu machen, nicht aber auf ihren Inhalt. Damit zeigt sich aber: Dieser Inhalt, als materiale Füllung des Aktes der Setzung, ist eben nur Material für die Form des Geistigen, nur Mittel zum Zweck der Setzung des Geistes, nur Mittel zum Zweck zur Selbstbehauptung des Geistes als eines somit qua Setzung Wirk-lichen48, die in dieser Form eben nicht ohne irgendein Material stattfinden könnte.49 An dieser Stelle lohnt schließlich noch eine Rückblende zum Hineinwachsen des Kleinkinds in die schon etablierte, von den Erwachsenen geteilte Praxis der Wahrnehmung. Denn die Tatsache, dass meine Wahrnehmungen ihrem konkreten Inhalt nach meinem Willen entzogen sind, erkennen wir nun als eine Entsprechung zur Tatsache, dass wir uns als Kleinkinder nicht konkret diejenigen Begriffe, durch die eben dieser konkrete Inhalt repräsentiert wird, aneignen wollten. Was ich als Kleinkind aus mir selbst wollte, war, mein ein-geistigesWesen-Sein überhaupt weiter zu entwickeln. Wir hatten schon eingesehen, dass eine Tragik darin liegt, dass dies faktisch nicht möglich ist ohne Hineinwachsen in das schon Etablierte, dass also – wie man sagen kann – meine geistige Zukunft nur durch Hineinwachsen in eine Vergangenheit real werden kann. Unbeschadet dessen erkennen wir in den ersten sinnlichen Repräsentationen des Kleinkindes 48 In Kapitel 7 werden wir sodann auf eine analoge „Umwertung der Werte“ stoßen: dass selbst alle inhaltlichen Elemente der philosophischen Selbsterkenntnis zum Zwecke der Realisierung der Offenbarung der Offenbarung – mithin Gottes – da sind. Somit ergibt sich „das Ganze des Geistes“ als System dessen, was da sein muss, damit sich Offenbarung der Offenbarung ereignen und sie (von uns) auch als solche erkannt werden kann. 49 Wie wir im Vorgriff auf Kapitel 7 sagen können, zeigt sich hier erneut in nuce die Differenz zum absoluten Geist: In ihm fällt seine formale mit seiner inhaltlichen Bestimmung und Selbstbehauptung zusammen, als „Offenbaren des Offenbarens“ (vgl. Enz. 1830, § 383).
5.2 Die Normativität der Wahrnehmung als Setzung des Geistes
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nun also Folgendes: Wir hatten schon gesagt, was es bedeutet, dass kleine Kinder „nur das Licht“ sehen; nämlich, dass sie nur sehen, was ihrer Wahrnehmung als solcher wesentlich ist; in diesem Sinne sehen sie also nur Geistiges – damit also nur, was sie wollen und wie sie wollen: nämlich geistig-Sein. Die erwachsenen Wahrnehmungen, die ihrem konkreten Inhalte nach unserem Willen je entzogen sind – das entspricht ihrem normativen Zwang –, sind als solche hingegen erst möglich durch Begriffe, wie sie das Kleinkind noch nicht hat. Was wir einen „normativen Zwang“ nennen, steht damit also in einem internen Zusammenhang zu dem „Zwang“, der im An-Erziehen dieser Begriffe liegt. Ein Kleinkind, bevor es diesem Zwang letztlich wirksam ausgesetzt ist, sieht also nur, was es und wie es will: Licht. Es hat, in diesem Sinne, ein freies und hervorbringendes Wahrnehmungsbewusstsein, ohne jeden „normativen Zwang“. Dass es sich dieses faktisch nicht erhalten kann, ist tragisch – aber faktisch alternativlos. Die Kontrastierung unserer erwachsenen Wahrnehmung damit ist spekulativ instruktiv: denn sie führt uns das (Un‑)Wesen unserer Wahrnehmung anhand eines Grenzbegriffes vor Augen. Im Lichte dessen erkennen wir, wie gesagt, dass die Wurzel der Tatsache, dass unsere Wahrnehmungen ihrem konkreten Inhalte nach unserem Willen entzogen sind, darin liegt, dass wir die Begriffe, durch die diese Inhalte (repräsentiert) sind, nicht aus uns selbst haben wollten. Das aber gilt für jedes Individuum des subjektiven Geistes (Erbsünde); und der subjektive Geist „als ganzer“ handelt, wie wir sagten, selbst nicht – außer, in einem anderen Sinne, durch die Setzung als solche, die sich aber durch alle möglichen Begriffe hindurch ereignen könnte und deshalb auch keine konkreten Begriffe „wollen“ oder „verlangen“ kann. Das aber bedeutet: Es kann nicht einmal gesagt werden, dass die Begriffe der Wahrnehmung kollektiv gewollt sind. Sie sind uns dunkel zugewachsen. Gerade so wird der Schein möglich, dass das, was sie repräsentieren, von sich her sei – der Irrglaube der Passivitätsauffassung. Nun können wir spekulativ noch einen Schritt weiter gehen: Insofern wir uns nicht je als Individuum, sondern als subjektiver Geist begreifen, ist die Rede davon, dass die Wahrnehmungen – auch ihrem konkreten Inhalte nach – unserem Willen entzogen sind, hinfällig. Denn dadurch, dass der Geist als subjektiver Geist alle unsere Wahrnehmungen intern als gültig setzt, macht es von ihm überhaupt keinen Sinn zu sagen, ihm geschehe etwas, das er nicht „will“. Das liegt zum einen daran, dass er an keinem empirischen Inhalt eine Grenze findet und finden kann; zum anderen aber daran, dass er überhaupt kein Individuum ist, das einen Willen hat, wie er von den Individuen (oder vom absoluten Geist!) zu prädizieren ist. Das können wir nun verbinden mit dem, was wir längst eingesehen haben: Intern damit verbunden, dass wir Wahrnehmungen von Objekten haben, ist, dass wir empirische Begriffe haben; diese aber haben wir nur, weil wir sie an-erzogen bekommen haben; an-erzogen kann einmal aber nur etwas werden, insofern eine Trennung von Individuen (unbeschadet ihrer bestehenden Verbundenheit durch den subjektiven Geist) real ist. Dazu ist das
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5 Zusammenführung
Gegenbild „der Mensch“ (Adam), wie er ursprünglich – vor seinem Fall – sein sollte: Er ist nicht Individuum gegen andere Individuen; seine Individualität und sein subjektiver-Geist-Sein fallen zusammen. Von ihm wäre – wie auch jetzt vom subjektiven Geist – zu prädizieren, dass seine Wahrnehmungen nicht seinem Willen entzogen sind; aber nicht, weil er nicht den Willen eines Individuums hat – wie der subjektive Geist jetzt –, sondern, weil die Trennung von Individuum und subjektiver Geist aufgehoben ist zum Inbegriff des Individuums, „des Menschen“. „Des Menschen“ Wille wie auch seine Sinnlichkeit wären real, aber je von einer anderen Form als die je unsrige im faktischen Jetzt: nicht die Form des wahrnehmenden Bewusstseins, sondern die Form einer objekt-freien Sinnlichkeit. Der anschaulichste Begriff, den wir davon haben – der Begriff, der einem Begriff von ihr am nächsten kommt –, ist eben der Begriff vom Kleinkind, das „nur eine Empfindung von dem Lichte“ hat. So nähern wir uns, insofern wir uns als subjektiven Geist erkennen, der Erkenntnis des Geistes im Ganzen weiter an. Sein Werk als subjektiver Geist, seine Setzung, haben wir nun erkundet. Diese ist jedoch, wie wir sahen, nicht Sache unseres individuellen Willens und, bemessen daran, gleichsam „anonym“. Das gilt nicht für ein anderes geistiges Wahrheitsmoment in unserem Wahrnehmungsbewusstsein, nämlich das Selbstbewusstsein; es liegt in unserer willentlichen Aktivität der sinnlichen Aufmerksamkeit. Dem Selbstbewusstsein wollen wir uns nun zuwenden. Zu ihm lässt sich durch den Gedanken einer Analogie überleiten, mit dem sich das hegelsche Konzept der normativen Determination qua Setzung und Intersubjektivität gut zusammenfassend beschreiben lässt: Die normative Determination der Wahrnehmung ist aufgrund ihres Praxischarakters analog zur normativen Determination der Sprache und (damit) des Spiels. Auch für das Spiel ist es wesentlich, dass die Regeln und das, was konkret gilt und nicht gilt, nur vom konkreten Inneren des Spiels her zu begreifen sind und in diesem Sinne dunkel bleiben („dieses Spiel wird gespielt!“50); das „dass“ des Spiels – sein Spielsein, die Form des Spiels als eines solchen – hingegen nicht. Es ist in ganz anderer Form zu begreifen; es ist aufzuklären und bleibt uns nicht dunkel.
5.3 Die Wahrnehmung als „Spiel“ – und Hegel über „Selbstbewusstsein“ Wir haben gesehen, dass die Wahrnehmung eine Praxis ist, deren Normativität im gemeinsamen normativen Rahmen („subjektiver Geist“) und zwischen einem Akt als Maßstab und einem Akt als daran Bemessenem („intersubjektiv“) zu erklären ist. Aufgrund dieses Praxischarakters – des Charakters einer intersubjektiv und im Geist geteilten Aktivität oder Handlung – konnten wir einige Wesens Vgl. Wittgenstein 1984a: 476 (PU I, § 654).
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5.3 Die Wahrnehmung als „Spiel“ – und Hegel über „Selbstbewusstsein“
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züge in Bezug auf andere Arten von Praktiken (z. B. sportliche) erläutern. Insbesondere teilt die Wahrnehmung mit solchen die Logik der nur von innerhalb der Praxis heraus zu verstehenden Normativität in ihrer konkreten inhaltlichen Bestimmtheit. Diese Logik aber, so hatten wir am Ende von Abschnitt 5.2. schon gesehen, ist zugleich die Logik des Spiels. Das hat Wittgenstein eindrucksvoll vorgeführt51; er bringt diesen Punkt prägnant zur Darstellung, indem er daran erinnert, dass die Schachfigur des Schachkönigs (in ihrer Funktion und damit ihrem „Wesen“ innerhalb des Schachspiels) nicht von dem Material her zu verstehen ist, aus dem die Figur hergestellt wurde.52 Daran wird einerseits die Würde des Spiels deutlich: Es ist, als Spiel, unabhängig von und souverän gegenüber der bloßen Materialität – gleich wie die Geistigkeit der Wahrnehmung darin deutlich wird, dass in ihr kein Akt des sich-Zeigens der Natur oder Welt liegt. Zum anderen aber wird so auch deutlich, dass das Spiel selbstreferentiell ist und einer Öffnung hin auf eine ihm vorausgesetzte Wirklichkeit entbehrt – wie auch die Wahrnehmung, die nun als nicht-Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins erkannt ist, einer Berührung mit ansichseiender, „anderer“ Wirklichkeit entbehrt, die über den Rahmen des subjektiven Geistes hinausgehen würde, der allerdings selbst eine Wirklichkeit des Geistes ist. Es überrascht vor diesem Hintergrund also nicht, dass Hegel selbst die Wahrnehmung als „Spiel“ charakterisiert. Schon gegen Ende des Wahrnehmungskapitels der Phänomenologie des Geistes schreibt er in einer bereits zitierten Passage: „[E]r [sc. der gesunde Menschenverstand], der sich für das gediegne reale Bewußtseyn nimmt, ist im Wahrnehmen nur das Spiel [… von] Abstractionen; er ist überhaupt immer da am ärmsten, wo er am reichsten zu seyn meynt. Indem er von diesen nichtigen Wesen herumgetrieben, von dem einen dem andern in die Arme geworfen wird und durch seine Sophisterey abwechslungsweise itzt das eine, dann das geradentgegengesetzte festzuhalten und zu behaupten bemüht, sich der Wahrheit widersetzt, meynt er von der Philosophie, sie habe es nur mit Gedankendingen zu tun.“53
Hegel zeigt hier folgende Dialektik auf: Die Wahrnehmung ist nur ein Spiel. Das bedeutet, dass das „Außen“, das in ihr repräsentiert wird, nicht das Wahre (oder „real[e]“) ist; also nicht etwas, das sich selbst als das, was und wie es an sich ist, von sich aus zeigt. Hegel illustriert dies, indem er an die in unserer Diskussion des Wahrnehmungskapitels aufgewiesenen, scheiternden Manöver er51 Vossenkuhl 2017 führt eine überzeugende Interpretation des Praxischarakters der Sprache nach Wittgenstein vor, die gegen McDowell gerichtet ist. Wir können diese Interpretation mit Hegel wiederum so interpretieren: McDowells Verfehlen eines hinreichend starken Geistbegriffs lässt ihn die Stärke der Praxis verkennen und so Theorieelemente postulieren, die das scheinbar Unzureichende an geistiger Praxis kompensieren sollen. 52 Vgl. Wittgenstein 1984a: 298 (PU I, § 108). 53 PhG, 80 [Hvh. T. O.].
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innert, „jetzt das eine, dann das geradentgegengesetzte festzuhalten“, also den Standpunkt der „Wahrnehmung“ durch Heraushalten unseres konstitutiven Zugriffs zu verteidigen – wie am Beispiel der Deutschlandflagge und den historisch varianten „insoferns“ gezeigt. Dadurch „widersetzt“ er „sich der Wahrheit“, wie Hegel sagt – d. h. zunächst der negativen Erkenntnis, dass die Wahrnehmung nicht wahrhaft wissendes Bewusstsein ist. In diesem Lichte also ist es verständlich, dass die Wahrnehmung eben nur ein Spiel ist: Sie ist eine in sich normative Praxis, nicht aber das sich-Zeigen eines von sich her Bestehenden und von außen herrührenden, „anderen“ „an sich“. Doch – und darin kommt nun die Dialektik in Gang – liegt im Spiel als Spiel etwas, das kein Spiel ist: das dass des Spiels oder Spielenkönnens, also die Form des Spiels. Ihr gegenüber verblassen alle Einzelheiten sämtlicher partikularer Spiele und Spielzüge als kontingent – aber die Form des Spiels als solche ist keine solche Einzelheit im Spiel. Dieser an sich schon plausible Gedanke wird bei Hegel nun wie folgt konkret gefüllt: Betrachtet man die Wahrnehmung einmal in diesem Sinne als Spiel, wird etwas offenbar, dessen philosophische Erkenntnis die Überwindung des Standpunktes des „Bewusstseins“ hin zu einem neuen Standpunkt ist. Während der Standpunkt des „Bewusstseins“ meint(e), das Wahre seien die sich selbst zeigenden Objekte – und das wahrhaft wissende Bewusstsein somit die Wahrnehmung, die dieses sich-Zeigen sein soll –, liegt zumindest die Form des wahrhaft wissenden Bewusstseins tatsächlich in der Wahrnehmung, wenn man sie wahr – als Aktivität – auffasst; aber eben in der Form der Wahrnehmung als solcher, nicht in Wahrnehmungsinhalten. Dieser Gedanke ist nun zu entwickeln; und er wird uns zum Begriff des Selbstbewusstseins führen. In jeder Wahrnehmung qua Wahrnehmung, ganz gleich welchen Inhalts, liegt – und das ist das, was sie dem Spiel als solchem analog macht – die alsStruktur als solche. Für sie ist, wie wir eingesehen haben, zweierlei wesentlich: (i) Sie ist die aktive Aktualisierung bestimmter Begriffe, nämlich der Kategorien – oder wie Hegel hier noch sagt54, der „Gedankendinge“. (ii) Sie ist die Form, in der überhaupt etwas in der Wahrnehmung erscheinen kann, in der Wahrnehmung also das sinnliche Repräsentieren („Erscheinen“) als solches. Zusammengenommen besagt dies: das Erscheinen als solches – also das, was gemäß dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ das sich-Zeigen der Objekte sein soll – ist nichts anderes als meine Aktivität der Aktualisierung der Kategorien. Das, was ein mir-von-außen-„Entgegenzukommen“ – ein sich-Zeigen – zu sein scheint, ist in Wahrheit mein eigener Akt der Aufmerksamkeit. Die Dynamik des Erscheinens ist die Dynamik meiner Aktivität der sinnlichen Aufmerksamkeit, 54 Hier zeigt sich erneut, dass diese Begriffsprägung (auch) eine Polemik gegen den Standpunkt des „Bewusstseins“ ist, der – wie bei Frege und McDowell diagnostiziert – Begriffe überhaupt tendenziell als „Dinge“ auffassen will.
5.3 Die Wahrnehmung als „Spiel“ – und Hegel über „Selbstbewusstsein“
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die begriffliches Repräsentieren qua als-Struktur ist. Jeder Wahrnehmungsakt ist daher wesentlich selbstbewusst: „Die Wahrheit des Bewußtseyns ist das Selbstbewußtseyn, und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtseyn eines andern Gegenstandes Selbstbewußtseyn ist; Ich weiß von dem Gegenstande als dem Meinigen (er ist meine Vorstellung), Ich weiß daher darin von mir.“55
Hegel (re)formuliert hier eine These, die auch Kant schon vertreten hat: jeder Akt des Bewusstseins ist inhärent und wesentlich selbstbewusst.56 Doch die Art und Weise, wie Hegel diese These konkret entwickelt, hat drei entscheidende Vorzüge: (i) Dass das Selbstbewusstsein „der Grund von“ Bewusstsein sei, erklärt Hegel näher so, dass „in der Existenz“ desselben Selbstbewusstsein „ist“. Wir können das nun genau verstehen: Der „Grund von“ Bewusstsein ist es deshalb, weil ohne das, worin das Selbstbewusstsein besteht, nämlich die aktive Aktualisierung der Kategorien, gar keine als-Struktur und mithin kein Akt des Bewusstseins überhaupt wäre; in seiner „Existenz“, also insofern er ist, „ist“ darin also notwendig immer schon Selbstbewusstsein. (ii) Die Rede, das Selbstbewusstsein jedes Aktes des Bewusstseins liege darin, dass ich mich im Gegenstand des Aktes („darin“) (wieder)erkenne, wird durch die Auffassung dieser Akte als Aktivität – im Falle der Wahrnehmung: qua Aufmerksamkeit – erst vollends aufgeklärt. Ohne diese Auffassung bleibt sie notorisch unklar, wenn nicht gar unplausibel: denn man ist dann geneigt, das Enz. 1830, § 424. Diese These wurde jüngst von Sebastian Rödl auf eine Weise interpretiert, die radikale Konsequenzen hat. Wir werden darauf im zweiten Teil unserer Untersuchung zurückkommen. Rödl ist bei aller Kritik, die wir von einer hegelschen Warte aus an ihn zu richten haben werden, zuzuerkennen, dass er die Bedeutung von „inhärent“ und „wesentlich“ – und deren Bedeutung für eine Philosophie der Wahrnehmung – klar im Blick hat, Selbstbewusstsein dadurch von psychologistischen Missverständnissen freihält. Damit verbunden ist die Einsicht, dass jeder Bewusstseinsakt qua Form dieses Aktes selbstbewusst ist; dass solche Akte also nicht auch ohne Selbstbewusstsein Akte des Bewusstseins sein könnten, die qua Selbstbewusstsein lediglich nachträglich als meine identifizierbar und ihrerseits zu Bewusstsein zu bringen wären. Bei Burge 2006: 395 ist gut und klar zu sehen, dass die Unterscheidung zwischen „phenomenal consciousness“ und „rational access consciousness“ (vgl. Burge 1997 im Anschluss an Block 1995) eben diese Auffassung impliziert: „The idea that those mental states or events that are occurrently conscious, or can be brought to occurrent consciousness, are the individual’s own goes back at least to Kant. The dispositional power to bring a state to occurrent consciousness is obviously constitutively explained in terms of occurrent consciousness itself. Kant was interested in the proprietary ownership that resides in a capacity for rational self-consciousness – the capacity to attach I think to one’s representations. I think that Kant’s higher-level notion of being a selfconscious psychological subject with powers of thought and intentional action is constitutively posterior to a more primitive notion.“ Burge sieht aber klar, dass Kants These darin besteht, dass Bewusstseinsakte immer schon die des Subjekts sind („are“); er expliziert seine Auffassung daher im Folgenden in Abweichung von Kant. Hegel hingegen bleibt in dieser Hinsicht ganz auf der Linie Kants. 55 56
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„darin“ (also „im Gegenstande“) im Sinne von „im konkreten Inhalt“ des Wahrnehmungsaktes zu verstehen. Das ist insofern falsch, als Kategorien – wie gezeigt – ja nicht zum Inhalt des Wahrnehmungsaktes gehören, wie dies für die Bestimmungen empirischer Begriffe gilt. Wir sehen gelbe Bananen – aber keine „Qualität“ in dem Sinne, wie wir gelbe Bananen sehen. Auch ist die Kategorie der „Qualität“ nicht in den Bananen versteckt. Kategorien sind keine Objekte (noch empirische Bestimmungen von Objekten), die als solche in der Wahrnehmung repräsentiert werden könnten. Hegel meint mit „darin“ hingegen „im Gegenstande“ im prinzipiell-formalen Sinne, also insofern er überhaupt in als-Struktur von mir repräsentierter Gegenstand ist. Darin „erkenne“ ich mich also deshalb wieder, weil er mir in dieser Form der Repräsentation erscheint; und in seinem Erscheinen „erkenne“ ich mich als den ihn-erscheinen-Machenden wieder, begegne meinem eigenen Akt.57 (iii) Schließlich enthält Hegels Konzeption die Erklärung dafür, warum wir qua Selbstbewusstsein noch kein Wissen vom Selbstbewusstsein haben – also noch kein Stück Selbsterkenntnis, das über das formale Wissen, dass ich ich bin, und die bloße Vertrautheit mit diesem Wissen hinausgehen würde; warum also ein wahrnehmungsfähiges Subjekt in der Tat ohne Erkenntnis von seinem Selbstbewusstsein in der Wahrnehmung sein kann, obwohl es dieses Selbstbewusstsein in der Wahrnehmung jedoch qua Wahrnehmung hat. Eine Erklärung hierfür ist philosophisch notwendig. Denn: Würde das betreffende Subjekt immer schon wissen, dass das vermeintliche sich-Zeigen des Objekts in der Wahrnehmung in Wahrheit sein repräsentationaler Akt ist und so jede Wahrnehmung selbstbewusst ist – wäre es also nicht nur selbstbewusst, sondern hätte es eo ipso eine solche Erkenntnis von diesem Selbstbewusstsein, wie es in der Wahrnehmung realisiert ist –, dann wäre es unmöglich, (ernsthaft) die Passivitätsauffassung zu vertreten. Hegels Konzeption der gewohnheitsmäßigen Wahrnehmung gibt eine solche Erklärung: In Form der Gewohnheit, so haben wir gesehen, vollziehe ich die Aktivität der Aufmerksamkeit „bewusstlos“ – und das heißt zunächst, dass ich kein unmittelbares Wissen davon habe, dass ich sie vollziehe.58 Somit weiß 57 Man mag an dieser Stelle fragen, weshalb für die Realisierung des Selbstbewusstseins von Hegel „nur“ die Aktualisierung der Kategorien angeführt wird – und nicht etwa (auch) eines der drei weiteren für jede Wahrnehmung qua Wahrnehmung als wesentlich erkannten Momente: Die Aktivität der Aufmerksamkeit, die (Anschauungs‑)Formen von Raum und Zeit, der Akt der Setzung des (subjektiven) Geistes. Nun, sofern wir das Versenktsein des Bewusstseins in das Objekt seiner Wahrnehmung betrachten, also seine (philosophisch durch und durch irreführende!) Abstraktion des Objekts aus seinem wesentlichen Kontext, so sind diese drei Momente eben qua Abstraktion ausgeblendet, die Kategorien hingegen nicht, da sie unmittelbar am Objekt qua dessen bloßen Objekt-Seins sind. 58 Hier tritt Hegel erstmals in expliziten Widerspruch zu einem – wie man zugespitzt sagen könnte – Dogma einer bestimmten Linie der nach-Wittgenstein’schen analytischen Philosophie: Anscombes 1957 These, wir hätten ein spontanes, erstpersonales Wissen von unseren (intentionalen) Handlungen. Daran schließt auch Rödl 2011 affirmativ an. Wir werden darauf in Kapitel 6 kritisch einzugehen haben.
5.3 Die Wahrnehmung als „Spiel“ – und Hegel über „Selbstbewusstsein“
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ich nicht, dass das, was diese Aktivität ist – nämlich die Repräsentation eines Objekts als so-und-so, sein als so-und-so-Erscheinen –, meine Aktivität ist. Deshalb scheint es, als würde das Objekt, das ja in der Tat erscheint, selbst dieses Erscheinen vollziehen – und nicht ich.59 Diese – im Wortsinne – Selbstvergessenheit in der Wahrnehmung ist ganz analog zu folgendem Fall: Ich rufe unmittelbar vor dem Aufwachen, noch im Traum, laut „Du!“; sodann erwache ich und höre das Echo meines Ausrufs. Nun denke ich, jemand anders hätte mich so gerufen.60 (Dieser Irrtum kann verhindert werden, wenn es mir möglich ist, meine Stimme im Echo als meine Stimme zu erkennen. Doch ein Analogon zu dieser meinen Stimme gibt es in der Wahrnehmung nicht; denn die Realisierung der logischen als-Struktur qua Aufmerksamkeit ist für alle endlichen Subjekte, für alle wahrnehmungsfähigen Individuen, dieselbe61.)62 Hegel arbeitet so heraus, dass und warum wir ohne philosophische Selbsterkenntnis nicht wissen, dass jeder Wahrnehmungsakt wesentlich und inhärent selbstbewusst ist – und vor allem, was das bedeutet. Gegen diese Auffassung mag sich der Einwand erheben, dass Selbstbewusstsein gar nichts ist, wenn es nicht vom selbstbewussten Wesen selbst gewusst wird, wenn es nichts für es ist. Dieser – richtige – Punkt ist aber nur solange ein Einwand gegen Hegel, als er folgende Differenzierung übersieht: Hegels Auffassung besagt nicht, dass nicht jedes endliche Subjekt – auch, wenn es außerhalb der philosophischen Selbsterkenntnis steht – selbstbewusst wäre und davon wiederum ein Wissen folgender Art hat: Jedes endliche Subjekt weiß davon zumindest in dem Sinne, dass es sein Wissen, „dass ich ich bin“, ganz selbstverständlich zur Anwendung bringt, wenn es sagt „Ich esse gerade, denn ich hatte Hunger“ – und dabei freilich weiß, An diesem Eindruck, wenn er einmal besteht, ändert dann auch unsere Vertrautheit mit nicht-gewohnheitsförmiger Aufmerksamkeit nichts mehr; denn diese kann unter diesem Eindruck nicht als der Wahrnehmung insgesamt, also als solcher, intern aufgefasst werden. 60 Wie diese qua Idee des „Ansprechens“ und „Angesprochenseins“ zu erläuternde Auffassung von Selbstbewusstsein sich für eine umfassende Theorie des Selbstbewusstseins – auch im Kontext der von Dieter Henrich aufgeworfenen Probleme – fruchtbar machen lässt, muss hier offen bleiben. Akzeptiert man Henrichs „Reflexionsproblem“, scheint Hegel ihm in (ii) ausgesetzt. Dies könnte im Licht von (iii) aber anders zu bewerten sein. Möglich wäre allerdings auch, dass Hegel hier nicht beansprucht, die logische Form des Selbstbewusstseins aufzuklären, sondern „nur“ seine Realisation in Akten des Bewusstseins. Zur logischen Form des Selbstbewusstseins bei Hegel vgl. meine Überlegungen in Oehl 2018a und 2018b. 61 Wir können also ergänzen: Dass diese Einsicht ein philosophisch unreflektierter Begriff von „Ich“ nicht enthält, ist ein weiterer Grund dafür, warum in Bewusstseinsakten, die ja auch philosophisch unreflektierte Subjekte haben, noch keine Erkenntnis vom ihnen wesentlich inhärierenden Selbstbewusstsein liegen kann. 62 Die dargelegten Überlegungen zeigen, dass Hegels Auffassung von Selbstbewusstsein an Klarheit und Distinktheit gewinnt, wenn man sie auf Basis seiner positiv entwickelten Auffassung von Akten des (wahrnehmenden) Bewusstseins formulieren kann. Da Selbstbewusstsein ja auch Thema des Weges der Phänomenologie des Geistes wird, zeigt sich hieran, dass Hegels dortiger partieller Verzicht auf die positive Entwicklung dieser Auffassung (also der (A*)Linie) zumindest einen gewissen darstellungstechnischen Nachteil mit sich bringt. 59
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von welchem (identisch bleibenden) „Ich“ jeweils die Rede ist: von mir eben. Auch ist klar, dass die Einheit und Identität des Ich in der Wahrnehmung faktisch von allen in Anspruch genommen wird: so zweifelt beispielsweise niemand daran, dass wir in der Wahrnehmung immer und notwendig zwischen Objekten und Eigenschaften unterscheiden. Hegels Auffassung besagt somit „nur“, dass ein außerhalb der philosophischen Selbsterkenntnis stehendes endliches Subjekt kein Wissen davon hat, dass jeder seiner Wahrnehmungsakte qua Wahrnehmungsakt wesentlich und inhärent selbstbewusst ist und was das konkret für unsere Selbsterkenntnis als Wahrnehmende bedeutet. Das bedeutet, dass dieses Selbstbewusstsein eines Wahrnehmungsaktes nicht in einer Selbsterkenntnis um das Wesen dieses Wahrnehmungsaktes besteht. Für eine solche Identifikation von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis – wie wir sie bei Sebastian Rödl exemplarisch in Bezug auf das empirische Urteil expliziert finden63 – besteht aus dem Gang der hegelschen Philosophie heraus überhaupt kein Grund. Denn: In der – wie man auch sagen könnte – Selbstbegegnung des Subjekts in jedem Wahrnehmungsakt liegt keine Selbsterkenntnis dieser Selbstbegegnung als solcher. Abschließend ist nun zu folgender Frage fortzugehen, bezogen auf den Weg der Selbsterkenntnis, der die Phänomenologie des Geistes ist: Welche neue Stufe ist mit dem Gedanken des Selbstbewusstseins eigentlich erreicht? Ist das Selbstbewusstsein Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins? Hegel leitet das Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie des Geistes wie folgt ein: „In den bisherigen Weisen der Gewißheit ist dem Bewußtseyn das Wahre[.] etwas anderes, als es selbst. Der Begriff dieses Wahren verschwindet aber in der Erfahrung von ihm; wie der Gegenstand unmittelbar an sich war, das Seyende der sinnlichen Gewißheit, das concrete Ding der Wahrnehmung, die Krafft des Verstandes, so erweist er sich vielmehr nicht in Wahrheit zu seyn, sondern diß Ansich ergibt sich als eine Weise, wie er nur für ein anderes ist; der Begriff von ihm hebt sich an dem wirklichen Gegenstande auf, oder die erste unmittelbare Vorstellung in der Erfahrung, und die Gewißheit ging in der Wahrheit verloren. Nunmehr aber ist diß entstanden, was in diesen frühern Verhältnissen nicht zu Stande kam, nemlich eine Gewißheit, welche ihrer Wahrheit gleich ist, denn die Gewißheit ist sich selbst ihr Gegenstand, und das Bewußtseyn ist sich selbst das Wahre.“64
Hegel blickt hier zunächst auf den Abschnitt „Bewusstsein“ zurück; in ihm fand die dargestellte Kritik des Standpunktes der „Wahrnehmung“ statt – genauer gesagt: im Kapitel „Die Wahrnehmung“, mit der „sinnlichen Gewißheit“ als seinem Vorläufer und „Kraft und Verstand“ als seinem Ausläufer. Hegel fasst nun noch einmal zusammen, warum die sinnliche Wahrnehmung nicht Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist: das von ihm behauptete „Wahre“, so Hegel, „erweist […] sich vielmehr nicht in Wahrheit zu seyn, sondern diß Ansich ergibt sich als eine Weise, wie er [sc. der Gegenstand] nur für ein anderes Vgl. exemplarisch Rödl 2018a. PhG, 103.
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5.3 Die Wahrnehmung als „Spiel“ – und Hegel über „Selbstbewusstsein“
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ist“. Wir haben gesehen, was dies bedeutet: in der sinnlichen Wahrnehmung, recht verstanden als qua Aufmerksamkeit aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen, wird etwas als das Andere des Begriffs (wie des Geistes) repräsentiert, das als solches eben kein wahres Ansich im Sinne von Hegels Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist – das heißt: kein sich von sich aus als das, was es an sich ist, Zeigendes. Im Selbstbewusstsein verhält es sich nun anders: denn darin wird kein Anderes des Begriffs repräsentiert, sondern das Repräsentieren stößt auf sich selbst, „das Bewußtseyn ist sich selbst das Wahre“. Darin liegt nun zum einen die „Wahrheit“ gemäß dem Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins: dass etwas sich selbst als das, was es an sich ist, von sich aus, zeigt. Denn meine aktive Aktualisierung von Begriffen – geistige Aktivität – zeigt sich in Akten der Wahrnehmung in der Tat als das, was sie ist, indem sie etwas repräsentiert und erscheinen lässt. Das uns scheinbar „von außen“ entgegentretende Erscheinen ist in Wahrheit die geistige Aktivität des Bewusstseins selbst. Darin liegt zum anderen, wie Hegel ebenfalls hervorhebt, eine „Gewissheit“: die nicht-sinnliche Gewissheit, dass ich ich bin, die jedes Bewusstsein sich als solche – auch abstrahiert von Wahrnehmungsakten – vergegenwärtigen, unmittelbar einsehen kann. Insofern ich mich dabei auf mich selbst als scheinbares Objekt richte, stelle ich fest, dass mir vonseiten dieses vermeintlichen Objekts dieses sich-Richten sozusagen „entgegentritt“; dass also die Differenz zwischen mir, insofern ich mich auf mich richte, und diesem „mich“ in eben diesem Vollzug unmittelbar aufgehoben ist: „Es ist darin zwar auch ein Andersseyn; das Bewußtseyn unterscheidet nemlich, aber ein solches, das für es zugleich ein nicht unterschiedenes ist.“65
Anders als im Falle des Bewusstseins hält also die These, dass Ich im Selbstbewusstsein das sich-als-das,-was-es-an-sich-ist,-Zeigende ist, der Prüfung stand – und zwar sowohl, insofern Selbstbewusstsein anhand von Akten des Bewusstseins begriffen wird, wie wir es mit Hegel vorgeführt haben, als auch im soeben erwähnten, unmittelbaren Selbstvollzug des jederzeit verfügbaren Gedankens meiner selbst als der diesen Gedanken Denkende. Deshalb stellt Hegel fest: „Mit dem Selbstbewußtseyn sind wir also nun in das einheimische Reich der Wahrheit eingetreten.“66 65 PhG,
103. 103. Da dies das Resultat des Weges der Selbsterkenntnis ist, soweit er im Abschnitt „Bewusstsein“ mit seinen drei Kapiteln gegangen wurde, kann man mit Gadamer 1973: 129 sagen: „So löst dieser erste Teil der Phänomenologie die Aufgabe, dem Bewußtsein den Standpunkt des Idealismus in ihm selbst aufzuzeigen. Was Hegel über diesen Standpunkt des Idealismus hinausführt, der Begriff der Vernunft, der die Subjektivität des Selbst überschreitet und der seine Realisation als Geist findet, hat in diesem ersten Teil seine Grundlegung gefunden. Seine Ausführung reicht auch noch über uns selbst hinaus.“ 66 PhG,
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5 Zusammenführung
Anders als im Falle des Bewusstseins erfüllt das Selbstbewusstsein also den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins – allerdings, so Hegel weiter, nur in einer Hinsicht, nämlich in formaler Hinsicht. Denn Selbstbewusstsein ist eine reine Form; es hat keinen Inhalt, wenn unter „Inhalt“ etwas verstanden werden soll, das begrifflich (re)präsentiert ist, das aber nicht einfachhin ich bin, sondern etwas anderes als ich. Fasst man den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins entsprechend wie in Kapitel 1 – dass sich etwas, wie es an sich ist, von sich aus einem Anderen zeigt –, so können wir sagen, dass das Selbstbewusstsein diesen Begriff deshalb nicht voll erfüllt, weil das „etwas“ und das „Andere“ nicht wahrhaft verschieden sind. Hegel deshalb weiter: „Es scheint also nur das Hauptmoment selbst verloren gegangen zu seyn, nemlich das einfache selbstständige Bestehen für das Bewußtseyn. Aber in der That ist das Selbstbewußtseyn die Reflexion aus dem Seyn der sinnlichen und wahrgenommenen Welt, und wesentlich die Rückkehr aus dem Andersseyn. Es ist als Selbstbewußtseyn Bewegung; aber indem es nur sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied, unmittelbar als ein Andersseyn aufgehoben; der Unterschied ist nicht, und es nur die bewegungslose Tavtologie des: Ich bin Ich […].“67
Hegel blickt hier noch einmal auf den Standpunkt des „Bewusstseins“ zurück: dieser behauptete „das einfache selbständige Bestehen für das Bewußtseyn“, nämlich das Bestehen der sinnlich wahrnehmbaren Dinge, die sich diesem Standpunkt zufolge selbst zeigen und darin ihre Selbstständigkeit unter Beweis stellen sollten. Ein Äquivalent zu solchen „Dingen“ ist im Selbstbewusstsein nicht mehr vorhanden; „so ist ihm der Unterschied, unmittelbar als ein Andersseyn aufgehoben“, da der Unterschied zwischen mir, insofern ich mich denke, und diesem „mich“ kein Unterschied mit „selbständige[m] Bestehen“ ist: „[D]er Unterschied ist nicht, und es [sc. das Selbstbewusstsein] nur die bewegungslose Tavtologie des: Ich bin Ich“. Dem Selbstbewusstsein fehlt also, was die Wahrnehmung hätte, wenn sie so wäre, wie der Standpunkt der „Wahrnehmung“ (oder des „Bewusstseins“ überhaupt) behauptet: ein (mir) Anderes als das „An sich“, das Wahre. Dieses gilt es nun für das Selbstbewusstsein – in seiner Form, die die Form des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist – zu erstreiten. Dies kündigt Hegel an, wenn er den weiteren Weg der Phänomenologie des Geistes auch als Vereinigung von Selbstbewusstsein und Bewusstsein bestimmt.68 Konkret wird diese Vereinigung damit beginnen, dass ein Selbstbewusstsein mit einem anderen Selbstbewusstsein konfrontiert ist – und somit, weil auch dieses ein Selbstbewusstsein ist, mit sich selbst, als auch, weil es ein anderes Selbstbewusstsein ist, mit einem Anderen. Diesen Gedankengang werden wir hier nicht weiterverfolgen; doch derjenige, den wir verfolgen werden, hat die im Kern gleiche Form. Es PhG, 104. Vgl. PhG, 102: „Das Selbstbewußtseyn aber ist erst für sich geworden, noch nicht als Einheit mit dem Bewußtseyn überhaupt.“ 67 68
5.3 Die Wahrnehmung als „Spiel“ – und Hegel über „Selbstbewusstsein“
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handelt sich um die Reflexion auf die philosophische Selbsterkenntnis, die wir auf dem Weg vom Standpunkt des „Bewusstseins“ zur Erkenntnis des Selbstbewusstseins vollzogen haben. Auch philosophische Selbsterkenntnis ist Einheit von Selbstbewusstsein und Bewusstsein, da ich darin mit Geist, insofern er absolut und somit ein anderes Selbstverhältnis als ich selbst ist, konfrontiert bin, von ihm als sich-Geltendmachenden zu ihm hin geführt werde. Dies werden wir in den Kapiteln 7 und 8 explizieren. Dafür ist nun folgende Überlegung wichtig: Hegel zeigt in der Phänomenologie des Geistes auf, dass man auch die philosophische Erkenntnis des Selbstbewusstseins zu einem falschen Standpunkt des „Selbstbewusstseins“ verkehren kann. Nämlich dann, wenn man dogmatisch insistiert, dass mit dem Selbstbewusstsein der Weg der Selbsterkenntnis sehr wohl an sein Ende gelangt sei; indem man behauptet, in der Gewissheit des „Ich bin Ich“ müsse eben der höchste und letzte Punkt der Philosophie liegen – und das ausstehende „Andere“ sei nicht(s), oder jedenfalls nichts, das nicht letztlich doch ich bin. Wer den Weg der Selbsterkenntnis so weit gegangen ist, kann diesen Gedanken eigentlich nicht affirmieren; denn sonst muss es ihm ein Rätsel bleiben, aus welchem Grund ein selbstbewusstes Wesen überhaupt verkehrt über sich selbst denken kann. Doch so einfach ist es faktisch nicht – aus drei Gründen: – Zum einen ist es dem Bewusstsein, das seinen Weg gegangen ist, zwar einsichtig, dass es vorher irrte. Doch da es auf dem jetzigen Stand seiner Erkenntnis noch nicht begriffen hat, was die ihm zuteil gewordene Selbsterkenntnis impliziert oder ist – nämlich das Werk des absoluten Geistes –, ist es immer noch geneigt zu sagen, diese müsse in ihm selbst liegen oder von ihm selbst vollzogen worden sein. Das ist, sozusagen als „halbe Wahrheit“, auch richtig: Ich habe die Selbsterkenntnis vollzogen. Doch das bedeutet nicht, dass ich sie aus mir selbst allein vollzogen habe. Da der absolute Geist als „anderer Beteiligter“ aber noch nicht distinkt im Blick – noch nicht als solcher erkannt – ist, ist das Bewusstsein geneigt, diesen Vorbehalt nicht zu erwägen. – Zum zweiten: Wie wir in Kapitel 7 genauer sehen werden, ist die Verkehrung des Bewusstseins, die es zu seinem initial verkehrten Standpunkt verleitet hat, eine, die auch auf höheren Standpunkten wieder auftreten kann. Es ist das von Hegel als solches identifizierte radikale „Böse“ der Eitelkeit, das nur sich selbst – und überhaupt nur Endliches – gelten lassen will. Vor dessen Ver-Führung ist das Bewusstsein auch dann nicht gefeit, wenn es schon erste Schritte über seine Verkehrung hinaus getan hat. Diese kann höherstufig wiederkehren. Das Selbstbewusstsein ist sogar ein idealer Partner für sie: Dort kann sich die Eitelkeit philosophisch reflektiert zum Ausdruck bringen: Als Standpunkt des „Selbstbewusstseins“, der in der offensiven Behauptung besteht, dass alles Wahre das Ich ist oder im Ich ist. – Zum dritten: Um sich das Selbstbewusstsein in abstracto vor Augen zu führen bedarf es, wie wir schon gesagt haben, nicht des Weges der Phänomenologie des
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5 Zusammenführung
Geistes. Jedem Bewusstsein ist es unmittelbar einsichtig zu machen. Die Gewissheit, die darin liegt, wird von ihm – mit Recht – als ausgezeichnet erfahren. Doch ohne philosophische Selbsterkenntnis im Sinne des Weges der Phänomenologie des Geistes fehlt ihm damit die Möglichkeit, die Begrenztheit dieser Gewissheit – ihre Leere – als Defizit überhaupt kontrastiv einzusehen. Aus all diesen Gründen – allein schon aus dem dritten – ist es wenig überraschend, dass es dort, wo von Selbstbewusstsein die Rede ist, eine Tendenz zur Verabsolutierung desselben gibt. Gerade auch im Lichte des dritten Grundes lässt sich Hegels Ablehnung, die Philosophie mit dem Selbstbewusstsein beginnen zu lassen, verstehen.69 Denn so der Weg zum Selbstbewusstsein nicht vorher gegangen ist, muss dieses dem philosophierenden Bewusstsein so ausgezeichnetrein erscheinen, dass es seine unmittelbare Einsicht in das Selbstbewusstsein zum besagten Standpunkt des „Selbstbewusstseins“ verkehren muss. Das sieht Hegel bei Fichte geschehen. Und er sieht darin keine Idiosynkrasie Fichtes. Das erhellt aus den genannten Gründen. Entsprechend überrascht es nicht, dass auch die Gegenwartsphilosophie dort, wo sie noch von Selbstbewusstsein spricht, einen Hang zur Verwischung der Differenz von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis hat.70 Umgekehrt muss es ein wesentlicher Zug hegelscher Selbsterkenntnis sein, als einen ihr wesentlichen Teil die Artikulation der Differenz von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis vorzuführen. Jüngst hat dies Axel Hutter zu Beginn seiner Narrativen Ontologie in aller Klarheit zur Darstellung gebracht71, indem er aufgezeigt hat, dass jede Selbsterkenntnis zwar nur für selbstbewusste Wesen überhaupt beginnen kann – denn nur solche können sich fragen, wer oder was sie eigentlich sind –, der erste wesentliche Schritt der Selbsterkenntnis aber ist, die Leere des Selbstbewusstseins zu begreifen und durchaus auch zu erfahren. Erst daraus ergibt sich, wie Hutter zeigt, eine Richtung des Weges der Selbsterkenntnis – denn erst daraus lässt sich ersehen, was dem Selbstbewusstsein als solchem fehlt, und damit – modo negativo – ein nichtarbiträrer Wegweiser über die Leere des „Ich bin Ich“ hinaus finden. Worin dieser besteht, darüber hat es von Sokrates bis auf den heutigen Tag freilich Streit gegeben. Hegel zufolge liegt dieser Wegweiser im Verfolgen der Selbsterkenntnis, wie wir sie schon in wesentlichen Schritten vollzogen haben – und einer anschließenden Reflexion darauf. Doch bevor dazu – zum zweiten Teil und Zielpunkt unserer Untersuchung – fortgegangen werden kann, ist noch einmal bei einer Zusammenfassung des ersten Teils zu verweilen. Als dessen letzter Schritt ist abschließend auf Hegels Begriff der „Anschauung“ einzugehen, in dem sich seine nun auch auf das Selbstbewusstsein hin durchsichtig gemachte positive Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung zusammenfasst. 69 Prominent ausgeführt etwa in seinem Traktat Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden? zu (oder vor) Beginn der Wissenschaft der Logik. 70 Das ist etwa der Fall bei Rödl 2018a und 2018b. 71 Vgl. Hutter 2017.
5.4 Hegels enzyklopädische Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung als „ Anschauung“ 209
5.4 Hegels enzyklopädische Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung als „Anschauung“ In der Enzyklopädie bildet Hegel die Gedankenführung der Phänomenologie des Geistes, soweit wir sie hier nachvollzogen haben, ebenfalls ab: In der dortigen Philosophie des subjektiven Geistes findet sich ebenfalls eine „Phänomenologie“, also eine Lehre vom Er-Scheinen des Geistes durch seinen Schein hindurch, d. h. durch seine (Selbst‑)Missverständnisse hindurch. Entsprechend thematisiert diese „Phänomenologie“ auch nicht Hegels (positive) Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung, sondern kritisiert dort – wie schon im Werk von 1807 – (unter anderem) dasjenige, was wir den Standpunkt der „Wahrnehmung“ (oder des „Bewusstseins“ überhaupt) genannt haben. Während Hegel in seinem Werk von 1807 das Er-Scheinen des Geistes durch seinen Schein hindurch ausschließlich entlang der (B)-Linie72 weiterverfolgt, bietet er in der Enzyklopädie – wie der Name schon anzeigt – unter dem Titel des „subjektiven Geistes“ zusätzlich eine (positive) Lehre von allen Vermögen, die (elementar) wesentlich für das endliche Subjekt sind. Er lässt sie unter dem Titel „Psychologie“ – der Terminus für die Lehre von den geistigen Vermögen – der „Phänomenologie“ folgen. Damit ist angezeigt, dass eine positive Selbstthematisierung des subjektiven Geistes im Hinblick auf seine Vermögen erst auf Basis der im Abschnitt „Phänomenologie“ geleisteten Zurückweisung von Missverständnissen möglich ist – also durch sie hindurch und aus ihnen heraus, wie wir es in dieser Untersuchung vorgeführt haben; und freilich integriert die positive Lehre der „Psychologie“ auch die Einsichten der sogenannten „Anthropologie“ in sich, deren zentrales Lehrstück von der „Gewohnheit“ wir ebenfalls bereits einer eingehenden Betrachtung unterzogen haben.73 In der enzyklopädischen „Psychologie“ haben wir also nach Hegels positiver Auffassung der Wahrnehmung zu suchen, genauer gesagt: nach deren (thetischer) Zusammenfassung, denn entwickelt ist sie dort nicht.74 Das ist auch der Grund, warum wir erst an dieser Stelle darauf zurückgreifen – nun, da die Entwicklung hinter uns liegt und wir uns ebenfalls am Punkt der Zusammenfassung befinden. Eine terminologische Pointe von Hegels Zusammenfassung ist, dass er in der „Psychologie“ nicht (mehr) von „(sinnlicher) Wahrnehmung“ spricht, sondern von „Anschauung“.75 Darin sind wir ihm soweit bewusst nicht gefolgt, um nicht Vgl. dazu Kapitel 1. Kapitel 4. 74 Und zwar sowohl deshalb nicht, weil die Entwicklung in wesentlichen Zügen eben in der „Phänomenologie“ stattfindet, als auch deshalb nicht, weil die Enzyklopädie, wie sie uns vorliegt, thetisch verfasst ist. Sie ist weniger ein Buch denn eine Vorlesungsunterlage. Eine gewisse Abhilfe schaffen deshalb die erst in jüngerer Zeit edierten Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes (VSG), von denen wir ja auch in der Diskussion der „Gewohnheit“ schon regen Gebrauch gemacht haben. 75 Im Übrigen stellt es keinen Widerspruch dar, wenn Hegel die Anschauung einmal als ein 72
73 Vgl.
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5 Zusammenführung
den missverständlichen Eindruck zu erwecken, Hegel rede gar nicht mehr von dem, was die auf dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ stehenden Philosophen eben „Wahrnehmung“ nennen – wie es auch die zeitgenössische analytische Debatte weitgehend tut („perception“ oder „perceptual experience“). Es wäre somit gegen den Sinn des hegelschen Vorgehens gewesen, von Beginn an von „Anschauung“ zu sprechen – was sich schon daran zeigt, dass Hegel dies auch nicht tut, bis zur Zusammenfassung eben, die sich freilich erst dann in ihrem Sinn erschließt, wenn man das darin Zusammengefasste schon phänomenologisch (im Sinne von Hegels „Phänomenologie“) entwickelt hat.76 Im Lichte dieser phänomenologischen Entwicklung aber zeigt sich, dass es sich bei dieser terminologischen Umstellung um mehr als um eine verzichtbare Umetikettierung handelt.77 Es gibt gute Gründe – über den impliziten Bezug auf Kant hinaus –, warum Hegel letztlich von „Anschauung“ statt von „Wahrnehmung“ spricht, von „An-Schauung“ statt von „Wahr-Nehmung“: Wie sich gezeigt hat, findet in dem in Frage stehenden geistigen Akt keine „Nehmung“ statt; kein Aufnehmen dessen, was die Objekte uns von sich aus offenbaren – wie es die Kernthese des Standpunktes der „Wahrnehmung“ und ihrer Passivitätsauffassung ist. Außerdem ist das, was in diesem Akt repräsentiert wird, nicht „wahr“ in dem Sinne, wie es der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins fordert: dass sich etwas als das, was es an sich ist, einem Anderen zeigt. Im Terminus der „AnSchauung“ hingegen zeigt das Präfix „An“ die in Form der Gewohnheit immer schon vollzogene, aktive Hinwendung – Richtung – „nach außen“ an, durch die der repräsentationale Akt begonnen wird und, in ihm, das repräsentierte Objekt erst konstituiert. Im Wort „Schau(ung)“ ist der konstitutive Charakter der Aktivität dieses Aktes angedeutet: Dieser geistige Akt besteht gerade nicht in einem passiven, rezeptiven, bloßen „Nehmen“, dessen vermeintliche Güte und Reinheit es verlangt, seitens des Subjekts überhaupt nichts (dazu) zu tun, sondern: für ihn ist es wesentlich, dass wir etwas tun und wie wir etwas tun; dass, wie und als was wir (etwas) anschauen. Es ist bemerkenswert, dass das Wort „Anschauung“ sich diese Bedeutung zumindest als Konnotation auch in seiner alltäglichen Verwendung bewahrt hat: Das darin wohl häufigste Vorkommen des Substantivs „Anschauung“ dürfte im zusammengesetzten Wort „Weltanschauung“ sein. Wenn heute von „Weltanschauungen“ gesprochen wird, ist damit – unbeMoment des qua Gewohnheit ursprünglich zu einem einzigen Akt vereinten Aktes der Sinnlichkeit bestimmt (vgl. dazu Kapitel 4) und nun die Anschauung als diesen Akt im Ganzen. Jedes seiner Momente kann als Bestimmung des Aktes der Sinnlichkeit im Ganzen angegeben werden, wenn das Moment jeweils in seiner inneren Abhängigkeit von allen anderen für diesen Akt konstitutiven Momenten aufgefasst und dargestellt wird. 76 Fortan sprechen wir dort, wo wir Hegels Auffassung ausdrücklich mit Theorien der „Wahrnehmung“ kontrastieren, bisweilen ebenfalls weiterhin von „Wahrnehmung“, um den Streit als Streit um dasselbe zu markieren. 77 Auch Stekeler-Weithofer 2012: 74 empfiehlt der Debatte daher mit Recht die Rede von „apperzeptiver Anschauung“ – gerade aus hegelschen Motiven heraus.
5.4 Hegels enzyklopädische Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung als „ Anschauung“
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schadet des inflationären Gebrauchs und der oft unklaren näheren Bedeutung – ja gerade gemeint, dass unsere Sicht auf die Welt einen wesentlichen Unterschied macht; dass es also an der konstitutiven Funktion unserer „Sicht“ der Dinge liegt, welche „Weltanschauung“ mitsamt all ihrer Implikationen resultiert. Die kritische Pointe von Hegels Anschauungsbegriff – gegen den (Un‑)Gedanken der Wahr-Nehmung – zeigt sich gar noch in diesem Fall: Die fortschrittsgläubige Hoffnung auf eine universale Sicht auf die Welt „frei“ von „Welt-Anschauungen“ ist von einem Analogon zum (Un‑)Gedanken der Wahr-Nehmung genährt. Sie denkt, es gäbe dies‑ oder jenseits unserer Anschauung eine faktische Welt, die man bloß aufnehmen könnte und müsste. Direkter auf die Anschauung als sinnliche Anschauung bezogen ist folgender, ebenfalls instruktiver Befund aus unserem alltäglichen Sprachgebrauch: unsere Verwendung von „sich etwas anschauen“, also mit Reflexivpronomen. So sagen wir von uns, wir würden uns eine Ausstellung anschauen oder – trivialer – einen Reisekatalog. Bemerkenswert ist, dass wir die Zuschreibung des „sich etwas Anschauens“ zu Tieren als unnatürlichen Sprachgebrauch werten – und entsprechend auch im Regelfall nicht so sprechen: „Mein Hamster schaut sich seinen Käfig an.“ „Die Haselmaus schaut sich ihre Höhle an.“ Wohlgemerkt, gerade das erstere kann man gut und gerne sagen, wenn man damit zum Ausdruck bringen will, dass man den Hamster sozusagen „auf seine Augenhöhe heben“ will, sich vorstellen will, er verhalte sich gegenüber seinem Käfig wie wir gegenüber einer zu besichtigenden Wohnung – wie es Kinder mit ihren Haustieren bisweilen tun. Doch die Tatsache, dass ein solcher Satz genau das bezwecken kann, setzt ja voraus und zeigt damit an, dass er diesseits dieses Zwecks keinen (solchen) Sinn hat, nüchtern-deskriptiv Tieren also nicht der Akt des „sich etwas Anschauens“ zuzuschreiben ist. Entsprechend interessant ist, dass wir keinerlei sprachliche Irritationen darin sehen, Tieren Wahrnehmungen zuzuschreiben – sogar explizit unter Rekurs auf genuin tierische Fähigkeiten. Etwa, wenn wir sagen, mit seinem echolotartigen System nimmt die Fledermaus jeden Baum in ihrer potentiellen Flugbahn rechtzeitig wahr. Was ist daraus zu folgern? Nun, Tiere nehmen in der Tat wahr. Sie nehmen, was auf sie einströmt; sie sind wahrhaft rezeptiv. „Wahrnehmung“ kann – hat man einmal den Ungedanken einer „passiven Aktualisierung begrifflicher Vermögen“ durchschaut – gar nichts anderes meinen als die naturhafte Rezeptivität, also die Empfänglichkeit für Reize und Eindrücke. Wenn gesagt wird, auch Tiere hätten „enaktive Perzeptionen“, so ist dies wie folgt zu präzisieren: Nur sie haben enaktive Perzeptionen, wenn damit durch tierisches Verhalten beeinflusste Wahrnehmungen gemeint sind.78 Menschliche Subjekte hingegen haben keine enaktiven Perzeptionen in diesem Sinne: denn die Aktivität der Aufmerksamkeit ist kein Verhalten, das Wahrnehmungen beeinflusst, 78 Vgl. in diesem Sinne Stekeler-Weithofer 2012: 60, in kritischer Auseinandersetzung mit Noë 2004.
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5 Zusammenführung
sondern die aktive Aktualisierung von Begriffen, welche die Anschauung ist. Sie ist kein externer, kausaler Faktor, der einen Einfluss auf Wahrnehmungen haben würde. Letzteres ist nur beim Tier der Fall – und freilich ist es Aufgabe der Biologie, verschiedene Arten und Grade solcher Verhaltensweisen zu erforschen und differenziert darzustellen. Doch diese Verschiedenheit von Arten und Graden ist innerhalb der Kategorie tierischen Verhaltens anzusiedeln – und diese ist als Ganze kategorial verschieden von der nur in Perspektive der Selbsterkenntnis des Menschen überhaupt zugänglichen Aktivität der Aufmerksamkeit, die Hegel deshalb auch treffend die „identische Richtung des Geistes“ nennt.79 Nun also können wir zu Hegels Ausführungen zur „Anschauung“ in der Enzyklopädie übergehen. In den zusammenfassenden, thetischen, ohne die vorhergehende ausführliche Entwicklung gar nicht verständlichen Paragraphen zur „Anschauung“ macht Hegel noch einmal in besonderer Deutlichkeit ausdrücklich, dass die Anschauung als aktiv – und zwar als aktiv qua Aufmerksamkeit – bestimmt ist. Näherhin fasst er sie hier als Einheit zweier Momente, die er so charakterisiert: „[D]as eine Moment [ist] die abstracte identische Richtung des Geistes im Gefühle wie in allen andern seiner weitern Bestimmungen, die Aufmerksamkeit, ohne welche nichts für ihn ist; – die thätige Erinnerung, das Moment des Seinigen, aber als die noch formelle Selbstbestimmung der Intelligenz. Das andere Moment ist, daß sie gegen diese ihre Innerlichkeit die Gefühlsbestimmtheit als ein seyendes, aber als ein Negatives, als das abstracte Andersseyn seiner selbst setzt. Die Intelligenz bestimmt hiemit den Inhalt der Empfindung als außer sich seyendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist. Nach dem Bewußtseyn ist der Stoff nur Gegenstand desselben, relatives Anderes; von dem Geiste aber erhält er die vernünftige Bestimmung, das Andre seiner selbst zu seyn […].“80
In unserem Kommentar nun wollen wir diese Zusammenfassung auf das vorher mit Hegel Ausgeführte instruktiv beziehen: (i) Zum ersten Moment: Hegel bestimmt „die Aufmerksamkeit“ als „identische Richtung des Geistes“ – und zwar „in allen […] seiner […] Bestimmungen“. Damit wird deutlich, was wir in unserem Seitenblick auf das Urteil exemplarisch dargestellt haben: dass die Aktivität der Aufmerksamkeit nicht nur für den geistigen Akt der Anschauung konstitutiv und nicht nur diesem wesentlich intern ist. Die Bestimmung der Aufmerksamkeit als „Richtung“ ist im Falle der sinnlichen Aufmerksamkeit durch die qua apriorische Form des Wahrnehmungsfeldes und damit von Raum und Zeit determinierte Richtung „nach außen“ diesseits des schon-Habens eines konkreten (gefüllten) Wahrnehmungsfelds und seiner konkreten Wahrnehmungsobjekte realisiert. Dass die Aufmerksamkeit die Aktivität der Aktualisierung von Begriffen – und somit die Aktivität der Repräsentation überhaupt – ist, drückt Hegel hier dadurch aus, dass er feststellt, Enz. 1830, § 448 [Hvh. T. O.]. Enz. 1830, § 448.
79 80
5.4 Hegels enzyklopädische Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung als „ Anschauung“ 213
dass „ohne“ sie „nichts für ihn [sc. den Geist] ist“, er also ohne sie überhaupt keine Gegenstände der Repräsentation hätte.81 Daran wird noch einmal explizit, dass Hegel sich auf einen Begriff der Aufmerksamkeit verpflichtet, dessen Richtung nicht durch Objekte definiert sein kann: Wenn ohne die Aufmerksamkeit „nichts für ihn ist“, bedeutet das, dass ohne sie auch noch keine Objekte für ihn sind, die Aufmerksamkeit somit nicht erst ins Spiel kommen kann, wenn schon Wahrnehmungen ohne Aufmerksamkeit voraus-gesetzt sind. Was es bedeutet, dass es sich um eine „identische“ Richtung handelt, haben wir bezüglich der sinnlichen Aufmerksamkeit schon erklärt: Die Richtung ist darin identisch, dass sie zunächst und wesentlich die Richtung „nach außen“ im Sinne der allein durch das Subjekt – aufgrund der Form seines Wahrnehmungsfeldes – definierten Raum-Zeit-Richtungen ist. Damit verbunden ist eine zweite Bedeutung von „identisch“: als sinnliche Aufmerksamkeit ist die sinnliche Aufmerksamkeit immer dieselbe, nämlich eine bestimmte Art von aktiver Aktualisierung von Begriffen. Ein konkreter Fall des Richtens dieser Aufmerksamkeit hingegen ist eo ipso eine aktive Aktualisierung von Begriffen mit je verschiedener positiver/negativer Aktualisierung ihrer Bestimmungsmomente, die jeweils in einer konkreten Anschauung – mit Anschauungsfeld und Einzelanschauung – resultiert. Nur in solchen konkreten Fällen ist die sinnliche Aufmerksamkeit auch realisiert oder aktualisiert – auch wenn man sie „als solche“, außerhalb solcher Fälle, abstraktiv betrachten kann. (Hegel verwendet deshalb auch selbst das Attribut „abstrakt“ zur Kennzeichnung dieses abstraktiven Moments). Entsprechend ist mit Hegel ein Manöver der gegenwärtigen analytischen Debatte um die Aufmerksamkeit zurückzuweisen: das Richten der Aufmerksamkeit (von A nach B), also den Richtungswechsel, von der Aufmerksamkeit als solcher, also als identische Richtung, so zu unterscheiden, dass letzterer der Aktivitätscharakter zugesprochen, ersterem hingegen abgesprochen werden kann.82 Die Frage, ob eine Aktivität vorliegt, lässt sich jedoch nur auf reale Vollzüge beziehen; und real ist der Vollzug erst in der Einheit von Aufmerksamkeit als solcher und ihrer konkreten Richtung nach B (und damit von A/anstatt A auf B).83 Somit kann dieser Akt nur im Ganzen aktiv oder passiv sein. Mit Hegel konnte gezeigt werden, dass und warum dieser Akt – der reale Vollzug des 81 Auch im Zusatz zu § 448 heißt es ausdrücklich: „Ohne dieselbe [sc. die Aufmerksamkeit] ist daher kein Auffassen des Objectes möglich; erst durch sie wird der Geist in der Sache gegenwärtig“ (VSG Zusätze, 1094). 82 Vgl. dazu die kritische Darstellung und Diskussion in Roessler 2011. 83 So jedenfalls für die nicht-gewohnheitsförmige Aufmerksamkeit; und diese allein betrachtet die von Roessler 2011 dargestellte Debatte ja. Aber selbst für die gewohnheitsförmige Aufmerksamkeit in ihrem sich-„nach außen“-Richten gilt die beschriebene Nicht-Trennbarkeit, da auch sie ein realer Akt ist – wenngleich dabei natürlich nicht in identischer Weise von „nach B anstatt nach A“ die Rede sein kann, da die Richtung das „nach außen“ insgesamt ist, die gewohnheitsförmige, das Anschauungsfeld als solche konstituierende Aufmerksamkeit ja die in alle Richtungen gehende, ursprünglich gestreute Aufmerksamkeit ist.
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5 Zusammenführung
Richtens der Aufmerksamkeit – durch und durch willentlich-aktiv ist84: zu seinem Beginn, im gewohnheitsförmigen Richten der Aufmerksamkeit, sind gar keine Objekte für das Subjekt vorhanden, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnten; sodann, im nicht-gewohnheitsförmigen Richten der Aufmerksamkeit, navigiert das Subjekt schon auf Basis der durch das erstgenannte Richten ausgebildeten Anschauungen, die als solche schon im Skopus seines Geistes liegen. Dass es ihm nicht gelingen mag, seine Aufmerksamkeit dorthin zu richten, wohin es sie gerade (scheinbar?) richten will, ist – so sagten wir – kein Argument dagegen, dass dieses Richten eine willentliche Aktivität ist. Es zeigt nur auf, dass wir nicht unbedingt durch punktuelle Wahl oder plötzlichen Entschluss unseres Willens mächtig sind. Die bis in die Gewohnheit hinreichende Tiefe des Willens, die mit Hegel aufgewiesen wurde, macht diesen Gedanken weiter plausibel. Ebenfalls begriffen haben wir, warum Hegel hier die Aufmerksamkeit als solche als „Moment des Seinigen [sc. des Geistes]“ und „als die noch formelle Selbstbestimmung der Intelligenz“ auffasst. Dies hat zwei zusammenhängende Bedeutungsaspekte: – Erstens: Die sinnliche Aufmerksamkeit als solche hat sich uns als die Form der Repräsentation in der Anschauung dargestellt, in welcher das Selbstbewusstsein liegt; und diese ist insofern „Selbstbestimmung“, als ich dadurch eben als Ich (also in Form der Selbstbezüglichkeit) bestimmt bin – aber eben nur „formelle“, weil sie des Inhalts in Form eines „Anderen“ (noch) entbehrt. Warum Hegel hier zudem vom „Gefühl“ handelt, haben wir ebenfalls bereits besprochen: Durch die Anschauung – da sie die Ganzheit meines Anschauungsfeldes ermöglicht85 – wird eine Art von Gefühl möglich und realisiert, welche „Selbstgefühl“ ist.86 Dass Hegel es hier noch einmal eigens erwähnt, hat zum einen den Grund, dass gerade das Gefühl – schon zu Hegels Zeit – als Gegenbeispiel für die Auffassung angeführt wurde, dass ohne geistige Aufmerksamkeit nichts für den Geist ist. Was wir fühlen, so scheint es, ist diesseits jeder geistigen Formung und eine Art vorgeistiger Gewärtigkeit. Mit Hegel ist dem – jedenfalls für das qua sinnliche 84 Schon deshalb ist Hegels Begriff der „Aufmerksamkeit“ auch weit spezifischer als derjenige der „Intentionalität“; dieser ist, jedenfalls in seiner klassischen, aus der phänomenologischen Schule herstammenden Fassung, in Bezug auf die Bestimmungen der Aktivität und der Passivität neutral. 85 Diese Leistung der „Ganzheit“ kehrt Hegel in den VSG explizit als Leistung der Anschauung hervor: „Das ist eine Hauptbestimmung, daß in der Anschauung die Totalität des Inhalts gesetzt ist, so daß der Inhalt selbst die Totalität [… ist]. Darum ist die[..] Vernünftigkeit, die ihr [sc. der Anschauung] zukommt, nur noch ein Abstractes und das ist die Räumlichkeit und Zeitlichkeit, abstract, formelle Totalität, womit freilich auch das Sinnliche in Gegenständen (der eigentliche Inhalt) da ist […].“ (VSG Stolzenberg, 816) Hegel kann nun durchaus von diesem als dem „Gegebene[n]“ reden – meint damit aber gerade nicht etwas, das von außerhalb des Geistes gegeben ist, sondern das wir uns selbst gegeben haben in Gestalt empirischer Begriffe, die für uns nicht notwendig sind wie dies für die „Kategorien“ gilt, mit denen Hegel das „Gegebene“ deshalb explizit kontrastiert (vgl. VSG Stolzenberg, 816). 86 Auch diesen Zusammenhang gibt Hegel in den VSG explizit an: „Der Geist ist allerdings fühlend, Selbstgefühl […].“ (VSG Stolzenberg, 810)
5.4 Hegels enzyklopädische Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung als „ Anschauung“ 215
Anschauung vermittelte (Selbst‑)Gefühl – dezidiert zu widersprechen.87 Zum anderen liegt die Nennung des Gefühls in der Anlage des Abschnittes zum „theoretischen Geist“ begründet: In ihm führt Hegel die Diskussion von unmittelbar scheinenden geistigen Vollzügen zu den vermittelten – von der Anschauung über die Vorstellung zum begrifflichen Denken. Eine Pointe seiner Ausführungen zu Anschauung und Gefühl liegt nun eben darin zu zeigen, dass auch die unmittelbar scheinenden geistigen Vollzüge schon vermittelt und durch und durch geistig sind; dass die Aufmerksamkeit als repräsentationale Aktivität nicht erst auf der Ebene der Vorstellung oder des begrifflichen Denkens hinzutritt. – Zweitens: Wir haben gesehen, dass der normative Zwang in der sinnlichen Anschauung durch die Setzung des (subjektiven) Geistes zu begreifen ist. So ist die Anschauung also eine „Selbstbestimmung“ – allerdings eine bloß „formelle“, denn: Der subjektive Geist als solcher ist zwar, wie wir einsahen, eine Wirklichkeit, nämlich die Wirklichkeit der Setzung in Akten und durch Akte individueller endlicher Subjekte, welche wesentlich geistig sind – aber er ist eine Wirklichkeit, die sich nur durch deren individuelle, reale Vollzüge hindurch ausprägen kann. Der subjektive Geist ist kein einzelner Akteur neben, über oder gegen die individuellen endlichen Subjekte – auch wenn diese ohne ihn überhaupt keine Akteure wären und in diesem Sinne für sie alles von ihm abhängt. Prädiziert man vom subjektiven Geist als solchem „Selbstbestimmung“, ist dies unbeschadet des Letztgenannten also ein „formeller“ Gedanke – nicht der Gedanke eines realen Aktes der Selbstbestimmung, wie er von einzelnen Wirklichen prädizierbar ist, wie er also vom „absoluten Geist“ prädizierbar sein wird, und zwar in ausgezeichneter Weise.88 (ii) Zum zweiten Moment: Während das erste Moment also die Anschauung nach der Art ihrer aktiven Aktualisierung von Begriffen – qua Aufmerksamkeit – betrachtet hat, thematisiert das zweite Moment nun das, was in ihr repräsentiert wird. Auch hier steht eine (zu der im ersten Moment getroffenen Unterscheidung analoge) Unterscheidung zwischen „konkret“ und „abstrakt“ im Hintergrund: Konkret oder real hat das Subjekt immer ein gemäß dem Zuschnitt seiner empirischen Begriffe mit konkreten Dingen gefülltes Anschauungsfeld. Abstrakt oder formal gesehen – d. h. unter Ausblendung konkreter Wahrnehmungsfälle und konkreter empirischer Begriffe – handelt es sich bei dem, was repräsentiert wird, um das Andere des Geistes oder Begriffs. Das Anschauungsfeld hat eine raumzeitliche Form – und alle repräsentierten Gegenstände die logische Form der als-Struktur, wie sie durch die Kategorien ermöglicht wird. In dieser Hinsicht 87 Hieran ließe sich wohl eine instruktive Diskussion der Kritik Hegels an Schleiermachers Konzeption des „Gefühls“ und der „Anschauung“, wie dieser sie in seinem Religionsbegriff entfaltet, anschließen. Darauf muss hier jedoch verzichtet werden. 88 So steht zu vermuten, dass Adaptionen des hegelschen subjektiven Geistes, die den absoluten Geist ausblenden, den subjektiven Geist zu einem ihm formanalogen Akteur vergöttlichen (und damit faktisch dämonisieren) – so der Fall in Niklas Luhmanns Systemtheorie, wie mir scheint.
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5 Zusammenführung
also betrachtet Hegel hier das in der Anschauung Repräsentierte – und nennt es deshalb das „abstracte Andersseyn“. „Abstrakt“ ist es im eben genannten Sinne, ein „Anderssein“ ist es deshalb, weil in der Anschauung eben etwas Anderes als ich selbst (als meine begrifflichen Vermögen, als Geist) repräsentiert wird: Natur oder Welt. Diese sind zwar nur durch Begriffe repräsentierbar – sie sind überhaupt nur durch Begriffe89 –, aber dieser Gedanke setzt ja gerade voraus, dass sie nicht an sich selbst Begriffe sind, sondern das Andere ihrer. Hier lässt sich nun präzise angeben, worin eine weitere entscheidende Differenz zwischen Hegel, wie wir ihn interpretieren, und Hegel, wie Robert Brandom ihn interpretiert90, liegt: Brandom meint, Hegel würde die Differenz zwischen „representings (how things are for consciousness)“ und „representeds (how things are in themselves)“ überwinden wollen. Das ist richtig – wenn man es so auffasst, dass ein „thing“ gar nicht anders als in einem solchen „representing“ und durch es ist. Doch das ist es nicht, was Brandom meint. Er meint vielmehr, Hegel würde die in unserer Sprache unterschiedene Sphäre des „ich weiß, dass … / ich denke, dass … / mir scheint, dass …“ und diejenige des „es ist so-und-so / dieses und jenes ist der Fall“ so zusammendenken, dass beide an sich selbst begrifflich strukturiert sind; dass also auch „things […] conceptually articulated“ sind und von daher keinerlei Überraschung oder Fraglichkeit darin liegt, dass wir sie begrifflich repräsentieren können. Das kehrt nun das Verhältnis, wie es sich bei Hegel darstellt, geradezu um: Brandom meint, Hegel „weite“ den Begriff des Begriffs in dem Sinne aus, dass auch die Dinge an sich selbst begrifflich seien.91 Mir scheint klar, wie Brandom zu dieser verkehrten Auffassung kommt. Brandom nimmt – wie McDowell überzeugend gezeigt hat92 – keinen hinreichenden Bezug darauf, dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes verschiedene Instanzen als zu prüfende Kandidaten für die Erfüllung des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins diskutiert. Deshalb meint er, dass die wahrnehmbaren „Dinge“, von denen die ersten Kapitel sprechen, schon Instanzen von „how things are in themselves“ sein müssen; er sieht nicht, dass das eine von Hegel kritisierte Position behauptet, Hegel jedoch eben gerade nicht. Nimmt man diese – verkehrte – Auffassung nun aber, wie Brandom es tut, zusammen Diese metaphysische Implikation werden wir in Kapitel 6 genauer betrachten.
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90 Vgl. Brandom 2019: 35 ff. Eine interessante Fortbildung und Wendung dieses Gedankens in
Richtung einer materialistischen Metaphysik findet sich bei Rödl 2011. Darauf wird in Kapitel 6 einzugehen sein. 91 Brandom spricht daher von „the two sides of conceptual content“ und bestimmt „conceptual content“ als „conceptual content shared by representing and represented“ (Brandom 2019: 80 [Hvh. T. O.]). 92 Vgl. McDowell 2019 (Ms.). McDowell zieht daraus aber nicht den Schluss, dass auch seine eigene Konzeption unhegelsch ist und bloß eine gegenüber Brandom leicht andere Variante des „Begriffsrealismus“: nämlich, dass es eine außerhalb von „mind“ existierende „world“ gebe, die aufgrund ihrer konstitutiven begrifflichen Form sich jedoch dem begrifflich gebildeten „mind“ zeigt.
5.4 Hegels enzyklopädische Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung als „ Anschauung“ 217
mit Hegels Bemerkung aus der Einleitung, „das Absolute“ – Brandom meint, dies seien diese wahrnehmbaren Dinge, „how [… they] are in themselves“ (!) – sei unbeschadet seines Ansichseins nichts Außergeistiges, das bloß jenseits unseres Bewusstseins liege und, wenn überhaupt, nur durch unseren begrifflichen Zugriff manipuliert auch für uns sein könne, so liegt Brandoms eingangs dieses Abschnitts genannte These in der Tat nahe. Doch „das Absolute“ sind nicht die sinnlich wahrnehmbaren Dinge; und die Einheit seines „an sich“ und seines „für uns“ ist realisiert in einem sich-Zeigen oder Offenbaren, das durch den Weg der Phänomenologie des Geistes sich ereignet – und zwar genau in der Überwindung verkehrter Auffassungen von der Art, wie auch Brandom sie exemplifiziert. Das werden wir in den Kapiteln 7 und 8 genauer aufzeigen. Liest man Hegel nun nicht wie Brandom, folgt, ihm keinen „Begriffsrealismus (conceptual realism)“ in Bezug auf die Natur oder Welt zuzuschreiben. Natur und Welt sind nur als das Andere des Begriffs – in diesem Sinne sind sie begrifflich, aber nicht in dem, dass sie unmittelbar an sich selbst begrifflich wären. Auch hier ist Hegel ganz eins mit Kant – allen „enchantments“ der Natur oder Welt avers: sinnliche Dinge bestehen nicht aus Begriffen, sondern aus Holz und roter Farbe – auch wenn wir nicht begreifen könnten, dass es so ist und was dies bedeutet, ohne dabei von Begriffen zu reden. Das führt uns zurück zum obigen Zitat: Mit Hegel ist weiter zu sagen, dass solcher Begriffsrealismus gerade nicht einholen kann, was am geistigen Akt der Anschauung tatsächlich „vernünftig“ zu nennen ist: „Nach dem Bewußtseyn ist der Stoff nur Gegenstand desselben, relatives Anderes; von dem Geiste aber erhält er die vernünftige Bestimmung, das Andere seiner selbst zu seyn“. Der Standpunkt des „Bewusstseins“ fasst den Inhalt seiner Wahrnehmung „nur“ als „Gegenstand desselben, relatives Anderes“ auf. Also als Gegen-Stand, etwas, das von außen kommt – und in diesem Sinne „relativ“ ist, d. h. in externer Relation zum Bewusstsein steht; so, dass der Begriff und der Geist dadurch selbst zu einem Relativen werden. Dem entgegen zeigt die wahre Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung – besser „Anschauung“ genannt –, dass die Anschauung die aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen ist, durch die Anderes des Begriffs repräsentiert wird und überhaupt erst ist. Durch diese Selbsterkenntnis – also „von dem Geiste“, wie Hegel sagt – „erhält“ der Inhalt des geistigen Aktes der Anschauung „die vernünftige Bestimmung, das Andere seiner selbst zu seyn“, hat also erst Anteil an der wahren logischen Form – allerdings „um den Preis“, nicht ansichseiende Natur oder Welt, sondern wesentlich „nur“ das Andere des Geistes zu sein. Vor dieser abschließenden Überlegung jedoch fügt Hegel noch diesen Satz ein, auf den wir in Kapitel 4 schon eingegangen sind: „Die Intelligenz bestimmt hiemit den Inhalt der Empfindung als außer sich seyendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus, welches die Formen sind, worin sie anschauend ist.“ Die Analyse des Anschauungsfeldes im Ausgang von „Kraft und Verstand“ hat gezeigt, dass dessen kontinuierliche Form durch die von Hegel hier entsprechend ge-
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5 Zusammenführung
nannten „Formen“ von „Raum und Zeit“ definiert ist; ein konkretes Anschauungsfeld ist es aber erst, wenn es auch gefüllt ist, also einen „Inhalt“ hat, der eo ipso etwas ist, von dem wir einen sinnlichen Eindruck haben. Hegel nennt dies „Empfindung“ – was wir für das visuelle Anschauungsfeld näher als das „Bedecktsein“ des Raumes mit Farbe bestimmt haben, wobei die elementare (oder minimale) Wahrnehmung von farbigen Raum-(Zeit‑)Arealen schon ein vollständiger Akt der Anschauung, also eine aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen ist. Die „Empfindung“ ist – analog wie die Form von „Raum und Zeit“ – also nur ein abstrahiertes Moment von einem solchen Akt – und diese Akte sind qua Gewohnheit zu einem einzigen Akt integriert, wie wir gesehen haben. Deshalb sagt Hegel hier, dass die Intelligenz, also das Subjekt begrifflicher Akte – hier: der Anschauung –, „den Inhalt der Empfindung als außer sich seyendes“ „bestimmt“. Denn erst durch seine begrifflichen Akte ist die Empfindung für das anschauende Subjekt; eine Empfindung außerhalb eines begrifflichen Aktes ist nicht(s) für das endliche Subjekt, also auch nicht(s), das ihm sinnlich präsent sein könnte. Entsprechend ist Empfindung nichts an sich selbst Bestimmtes, das das Subjekt bloß aufzuraffen – wahrzunehmen, zu erleiden – hätte, sondern ist in seiner Bestimmtheit erst im geistigen Akt der Anschauung und somit von der „Intelligenz“ selbst bestimmt, weil diese qua Aktivität der Aufmerksamkeit diesen Akt realisiert. Hegel nun bestimmt diesen Akt der Bestimmung weiter: die „Intelligenz“, so Hegel, „bestimmt hiemit den Inhalt der Empfindung als außer sich seyendes, wirft ihn in Raum und Zeit hinaus“. In dieser metaphorischen Sprache des „Hinauswerfens“ verdeutlicht Hegel den zentralen Punkt, den wir im Ausgang von „Kraft und Verstand“ eingesehen haben: dem anschauenden Subjekt ist, wenn es den geistigen Akt der Anschauung beginnt, noch gar kein Objekt sinnlich gegenwärtig, auf das es sich richten könnte. Allerdings sind ihm „Raum und Zeit“ a priori bekannt – als „Formen“, „worin sie anschauend ist“. Doch diese werden erst durch den geistigen Akt der Anschauung, den das Subjekt selbst beginnt, mit Inhalt gefüllt; der Inhalt tritt erst durch diesen Akt in Erscheinung und ist nicht an sich oder von sich her außerhalb des Subjekts da und müsste nur in es eindringen, von ihm aufgenommen werden. Um die Falschheit dieser Auffassung zu verdeutlichen, fasst Hegel die wahre Auffassung in eben diese Worte: „wirft ihn [sc. den Inhalt] in Raum und Zeit hinaus“, konstituiert also ein inhaltsvolles Außen erst in seinem geistigen Akt der Anschauung und durch ihn. Die normative Determination dieses Inhalts – die Determination derjenigen Bestimmungsmomente des Begriffs, die positiv aktualisiert werden –, der normative Zwang, stammt im Falle eines kontingent fest-gesetzten Maßstabs zwar von außerhalb eines individuellen endlichen Subjekts, nicht aber von außerhalb des endlichen Subjekts als solchem oder, wie Hegel hier sagt, „der Intelligenz“ als solcher. Denn es ist ja ein als Maßstab anerkanntes geistiges Individuum und sein Akt, in dem der normative Zwang wurzelt. Er liegt also – unbeschadet des „außerhalb“ relativ auf das Individuum – sehr wohl im Geiste.
5.4 Hegels enzyklopädische Konzeption der sinnlichen Wahrnehmung als „ Anschauung“ 219
Deshalb noch einmal der letzte Satz: „von dem Geiste aber erhält er [sc. der Stoff, sodann als Inhalt] die vernünftige Bestimmung, das Andere seiner selbst zu seyn“, also auch ein bestimmtes Anderes seiner selbst. Abschließend bleibt auf ein Begriffspaar einzugehen, das wir bislang noch ausgeblendet haben: Die „thätige Erinnerung“ und die „Innerlichkeit [der] Gefühlsbestimmtheit“. Wieso flicht Hegel sie im Zitat in die soeben interpretierten, zusammenfassenden Analysemomente der „Anschauung“ ein? Nun, zunächst ist festzustellen, dass Hegel sie – entsprechend ihrer Zuordnung zu den beiden Momenten – als ihrer Form nach gegenläufig präsentiert: – Die „thätige Erinnerung“ – zu lesen als: Er-Innerung – besteht darin, dass die Anschauung immer schon in sich integriert, was von dem verkehrten Standpunkt des „Bewusstseins“ aus als außerhalb ihrer und außerhalb des Geistes liegend erscheint; die Verkehrtheit eines solchen Standpunkts zeigt sich auch darin, dass er nicht nur meint, die geistigen Akte würden nicht vom Geist begonnen, sondern zudem meint, die Aufmerksamkeit, in der wir „thätig[.]“ sind und die in Wahrheit „identische Richtung des Geistes“ ist, sei als externer (kausaler) Faktor aus solchen Akten herauszuhalten. – Die „Innerlichkeit [der] Gefühlsbestimmtheit“ umgekehrt wird als dasjenige vorgeführt, das in der Anschauung gleichsam „nach außen“ katapultiert wird. Denn: Auf dem verkehrten Standpunkt des „Bewusstseins“ erscheint das Gefühl mitsamt seiner Bestimmtheit als etwas, das allein im Subjekt ist und von ihm allein ausgeht – im Gegensatz zu den Objekten, die sich ihm vermeintlich von außen zeigen. Hegel hat nun auch aufgezeigt, dass dies verkehrt ist: denn das Gefühl, das zugleich Selbstgefühl ist und das uns daher zurecht für unser Selbstsein wesentlich erscheint, ist seinerseits vermittelt durch besondere Gefühle, die wir in Akten der Anschauung haben. Eingedenk der „thätigen Erinnerung“, die die Anschauung ist, bedeutet das freilich nicht, dass sie uns von den Objekten aufgenötigt werden. Aber es bedeutet, dass wir unsere „Innerlichkeit“ des Gefühls den konkreten Bestimmungen nach nicht ohne Bezugnahme auf das „Andere“ unserer selbst begreifen können. Da das Selbstgefühl aber, wie Hegel sagt, immer in besonderen Gefühlen realisiert ist, ist das vermeintlich unter reiner Bezugnahme auf Innerlichkeit zu beschreibende „Selbstgefühl“ – unser unserer-Selbst-inne-Sein – gar nicht ohne und außerhalb der Repräsentation dieses „Anderen“ denkbar. Kurzum: Mit den beiden Formulierungen, die um das Motiv des „Inneren“ kreisen, führt Hegel zusammenfassend vor Augen, dass die auf dem bisherigen Weg der Selbsterkenntnis errungene Einsicht gewiss nicht weniger ist als eine durchaus wörtlich zu nehmende „Umkehrung des Bewußtseyns“93. Deren noch viel weiter reichenden metaphysischen Implikationen – unserer eigentlichen Umkehr – werden wir nun im zweiten Teil unserer Untersuchung nachgehen. PhG, 61.
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Teil II
Die Aktivität der Wahrnehmung und die Metaphysik des Geistes
6 Idealistische1 Metaphysik des Geistes vs. Materialistische Metaphysik der Natur 6.1 Die Aktivität der Anschauung und die nicht-Aktivität der Natur Das wesentlich(st)e Ergebnis des ersten Hauptteils ist, auf eine pointierte und metaphorisch scheinende2 These gebracht: die Natur spricht nicht zu uns; sie zeigt sich uns nicht von sich aus. Der Geist spricht – und eine Art seines Sprechens ist, die Natur in der Anschauung zum Sprechen zu bringen (und sie damit erst zu konstituieren). Diesen Gedanken hat Kant in einem auch für Hegel durchaus treffenden Vergleich auf den Punkt gebracht, welcher unser Einstieg in den zweiten Teil unserer Untersuchung sein soll – nämlich: in die Exposition der hegelschen Metaphysik des Geistes, die in der Philosophie des absoluten Geistes und seines Sprechens münden wird. Kant schreibt, ein Subjekt verhalte sich im Modus der sinnlichen Anschauung zur Natur3 „nicht in der Qualität eines Schülers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nöthigt auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.“4
Legen wir diesen Vergleich schrittweise im Sinne Hegels aus – mit Bezug auf das, was der erste Teil unserer Untersuchung ergeben hat: (i) Vor Gericht interessiert nicht der Zeuge, sondern die Zeugenaussage. Der Zeuge erschöpft sich vor Gericht in seiner Aussage. Dasselbe gilt – wenn wir die Anschauung philosophisch analysieren – für die Natur: die Philosophie kann nicht – in empirischer Einstellung – von der Natur, als Gegebenheit, ausgehen und sodann ihr Wahrgenommenwerden thematisieren; sondern sie hat vom 1 Wir gebrauchen den Begriff des „Idealismus“ an dieser Stelle schon, um Hegels Metaphysik des Geistes damit zu kennzeichnen. Seine nähere Bedeutung werden wir aber erst in Kapitel 7 fassen können. 2 Zu Beginn von Kapitel 8 werden wir zeigen, dass es sich nicht um eine Metapher handelt, sondern um eine analoge Redeweise. 3 Mit Hegel ist die Natur hier zur Welt zu erweitern, da – wie wir im ersten Teil unserer Untersuchung gesehen haben – entsprechend unserem begrifflichen Zuschnitt auch nicht(bloß‑)Natürliches in der Anschauung repräsentiert werden kann und wird. 4 KrV B XIII [AA III: 10].
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6 Idealistische Metaphysik des Geistes vs. Materialistische Metaphysik der Natur
Bewusstsein des Subjekts auszugehen, in dem es und für das es Objekte der Anschauung gibt, welche die Sphäre der Natur (oder der Welt) konstituieren. Das bedeutet, dass von „der Natur“ philosophisch nur die Rede sein kann als Inbegriff dessen, was in der Anschauung erscheint – ganz wie der Zeuge vor Gericht nur als Zeugenaussage ist, in der er vor Gericht erscheint oder auftritt. (ii) Um die Anschauung sodann näher begreifen zu können, bedarf es eines Begriffs des Geistes. Erst im Rahmen des subjektiven Geistes ist die Anschauung – auch in ihrer inneren Normativität – begreiflich zu machen. Ganz analog vor Gericht: Was eine Zeugenaussage ist – und worin ihre Verbindlichkeit liegt und nicht liegt –, ist nicht isoliert an ihr selbst, sondern nur im Rahmen der Form des Gerichtsprozesses zu begreifen. (iii) Vor Gericht darf der Zeuge nur sprechen, wenn der Richter ihn aufruft. Genauer: Er spricht im Modus der Zeugenaussage nur, wenn der Richter ihn aufruft. Zwar mag es sein, dass er spricht, auch wenn der Richter ihn nicht aufruft; aber das wäre nicht Teil der Zeugenaussage, also der einzigen vor Gericht relevanten Äußerung des Zeugen. Der Richter – und nur er – „nöthigt“ den Zeugen zu reden; während ein Schüler vom Lehrer etwas hört, der selbst etwas (sagen) „will“, wie Kant sagt. Dasselbe gilt für das Erscheinen der Objekte in der Anschauung: diese erscheinen nur, indem und insofern sie vom Subjekt repräsentiert werden. Ein Erscheinen ohne diese Repräsentation ist „genauso viel“ wie eine Äußerung des Zeugen außerhalb des Zeugenstandes vor Gericht: nichts. Der Geist setzt; er allein „nöthigt“; die Natur oder Welt hingegen „will“ und tut (deshalb) nicht(s). (iv) Der Richter muss und will als Richter zwar hören, was der Zeuge sagt – aber er muss nicht glauben, was er sagt, und ebenfalls nicht urteilen gemäß dem – angemaßten oder zumindest suggerierten – „Urteil“ des Zeugen.5 Genauso muss das Subjekt nicht urteilen, wie es anschaut und wie in der Anschauung intern qua Setzung des Geistes „behauptet“ wird; noch muss es als Wesen der Welt das, was es anschaut, nehmen: So haben sich beispielsweise Gesetze als „übersinnliche Welt“ der Erscheinung formulieren lassen, jenseits der von uns einfachhin wahrnehmbaren Eigenschaften einzelner Naturobjekte; oder artifizielle, vom Menschen gemachte Gegenstände können als eigentliche Anschauungsobjekte genommen werden – und nicht die physikalischen Gegenstände, als die sie auch gesehen werden könn(t)en. (v) Der Zeuge vor Gericht hat eine wohldefinierte Rolle im Ganzen des Prozesses. In gewissen Prozessen ist er nicht verzichtbar. Das aber bedeutet 5 In dieser Hinsicht offenbart sich eine tiefe Spannung in McDowells Terminologie (und Denken): Er spricht, Quine folgend, vom „tribunal of experience“, in welchem es ein „verdict from the empirical world“ geben soll (McDowell 1996: xii). Gleichzeitig erkennt er aber an, dass wir nicht urteilen müssen, wie wir wahrnehmen: „How one’s experience represents things to be is not under one’s control, but it is up to one whether one accepts the appearance or rejects it.“ (McDowell 1996: 11).
6.1 Die Aktivität der Anschauung und die nicht-Aktivität der Natur
225
nicht, dass das hoheitliche Moment des Prozesses – das richterliche Urteil, oder auch die Idee eines rechtsstaatlichen Prozesses – reduzierbar wäre auf die Zeugenaussagen. Gleichermaßen ist für das endliche Subjekt wesentlich, anschauend zu sein, aber was es letztlich bedeutet, ein endliches Subjekt zu sein – geistiges Wesen zu sein – ist nicht hinreichend durch Verweis auf das Vermögen der Anschauung beantwortet. Weder kann das endliche Subjekt anschauen, was es selbst ist, noch ist das, was es selbst in Wahrheit ist, sein Vermögen der Anschauung. (vi) Der Richter weiß nicht vor der Zeugenaussage, was der Zeuge sagen wird. Doch das liegt nicht daran, dass der Zeuge – wenn er funktioniert – sagt, was er will, sondern was der Fall ist. Was der Fall ist, lässt sich aber für den Richter – jedenfalls in einem Prozess, in dem Zeugen notwendig und wesentlich sind – nicht dadurch entscheiden, dass er vergleichend zur Zeugenaussage noch einmal direkt ansieht, was der Fall ist, sondern nur, indem er andere Zeugenaussagen berücksichtigt und bewertet. Das direkte Ansehen dessen, was der Fall ist, ist für den Richter: nichts. Ganz so in der Anschauung: Wir können eine Anschauung nur dann für „richtig“ erklären, wenn wir auf eine andere Anschauung, die wir für den Maßstab halten, Bezug nehmen und sie an ihr bemessen. In der Intersubjektivität der Praxis liegt ihr normativer Zwang, also innerhalb des Geistes. Genauso bemisst der Richter die Falschheit einer Aussage an einer für wahr gehaltenen Aussage eines anderen, für verlässlicher gehaltenen Zeugen; der normative Zwang ist nur innerhalb des Prozesses zu denken. Die Dynamik des Gerichtsprozesses – der genauso wenig ohne Tätigkeit ist wie die Anschauung – ist also diese: Die Aktivität der Zeugen ist nur eine Aktivität von Gnaden des Gerichts; sie sprechen nur, insofern der Richter sie sprechen lässt, zum Sprechen bringt. In der Anschauung gilt: Das Erscheinen von Naturobjekten, das uns zunächst ein sich-Zeigen oder uns-Ansprechen derselben zu sein scheint, ist in Wahrheit die Aktivität des endlichen Subjekts qua setzendem Geist, wodurch allein etwas zum Erscheinen gebracht wird. Die geistige Aktivität der Anschauung impliziert die nicht-Aktivität der Natur. Wie jeder Vergleich, so hat auch dieser kantische Vergleich Grenzen, deren Nichtbeachtung in Verwirrungen führt. (Die offenkundigste Grenze liegt darin, dass Zeugen außerhalb des Prozesses ja auch Menschen sind; wohingegen die sinnliche Anschauung mitsamt ihren Objekten außerhalb des endlichen Subjekts nicht(s) ist.) Nicht zuletzt deshalb haben wir diesen Vergleich auch nicht als Teil der eigentlichen Argumentation verwendet, sondern als überleitend-illustrativen Auftakt von Kapitel 6 und damit des zweiten Teiles unserer Untersuchung vorgeführt. Es lohnt sich jedoch, nun noch (i) eine scheinbare Grenze dieses Vergleichs zu benennen und zu zeigen, dass sie in Wahrheit keine ist, – und (ii) noch eine tatsächliche Grenze dieses Vergleichs zu identifizieren und zu zeigen, was am Gerichtsprozess anders sein müsste, damit der Vergleich auch in diesem Punkt passend wäre:
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6 Idealistische Metaphysik des Geistes vs. Materialistische Metaphysik der Natur
Ad (i). Es scheint so, als liege eine Grenze des Vergleichs darin, dass wir bei der Beobachtung eines Gerichtsverfahrens ja unterscheiden können zwischen dem, was die Zeugen sagen, und dem, „wie es wirklich war“. Die Pointe von Hegels Auffassung der sinnlichen Anschauung in der Perspektive der Selbsterkenntnis war jedoch genau, dass dies nicht möglich ist; dass es keinen von der sinnlichen Anschauung separaten Blick auf die Dinge gibt, mit denen wir unsere sinnlichen Anschauungen sodann vergleichen könnten. Nun: Im Gerichtsprozess ist es genauso, wenn wir ihn aus der Perspektive des Richters im Prozess – und nicht „von der Seite“, als Beobachter des Gerichtsprozesses, der vielleicht zufällig zugleich vorgestern am Ort des verhandelten Tatgeschehens gewesen ist und deshalb „vergleichen“ kann, betrachten. Aus der Perspektive des Richters gilt dann ganz Entsprechendes wie für das Subjekt der sinnlichen Anschauung: Wie dieses nicht im Urteil behaupten muss, was in der Anschauung qua intern-notwendiger Form der Setzung „behauptet“ ist, so muss der Richter nicht urteilen gemäß dem, was ein Zeuge behauptet. Allerdings: Was er behauptet, ist nie intern falsch. (Wir sehen hier vom Problem etwa eines logischen Widerspruchs in der Aussage ab, zu dem es in der Tat keine Entsprechung auf Seiten der sinnlichen Anschauung gibt.) Falsch wird es erst, wenn ein Richter – aus welchen Gründen auch immer – eine andere Aussage zum Maßstab nimmt. Soweit lässt sich der Vergleich also durchaus führen. Ad (ii). Der Vergleich setzt allerdings an folgender Stelle endgültig aus: Die Beweisaufnahme in Gestalt von Zeugenanhörung dient der Wahrheitsfindung. Die sinnliche Anschauung dient nicht von sich her der Richtigkeitsfindung6 (der Wahrheitsfindung ohnehin nicht!), sondern erst, wenn wir epistemische Zwecke als Maßstäbe festsetzen. Der einzige Maßstab, der für die sinnliche Anschauung von sich her und absolut besteht, ist der des absoluten Geistes; unmittelbar bezogen auf die sinnliche Anschauung heißt das: der ästhetische. Jede Anschauung, in der sich keine ästhetische Erfahrung ereignet, ist eben deshalb schon kategorisch geistwidrig und schlecht; und jede Anschauung, in der sie sich ereignet oder welche Bedingung der Möglichkeit einer ästhetischen Erfahrung ist, ist deshalb geistgemäß und gut. Es ist – im Sinne des Geistes – witzig, dies in unserem Vergleich auf den Gerichtsprozess zu übertragen: Er müsste sodann einer sein, der nicht am Gängelband einer Strafprozessordnung erfolgt, sondern in dessen maßstäblicher Gestaltung der Richter frei ist – mit einer Ausnahme: Wo das selbstzwecklich-Geistreiche im Vollzug sich einstellt, dort ist dem Folge zu leisten, und dann ist es ein wahrhaft guter Prozess – das ist Kafkas Prozess. (Ein ganz und gar unbürgerlicher Prozess, in dem man sich mit bürgerlichen Augen nicht zurecht findet, an dem man sich mit bürgerlichen Maßstäben stoßen muss.) 6 Kant behauptet das auch nicht; denn er führt seinen Vergleich nicht für die sinnliche Anschauung überhaupt, sondern für die empirische Wissenschaft ein, die als solche trivialiter sehr wohl durch „Wahrheitsfindung“ – genauer: in rein epistemischen Zwecken – definiert ist.
6.2 Die Wirklichkeit des Geistes als Überwindung jeder Metaphysik der Natur
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6.2 Die Wirklichkeit des Geistes als Überwindung jeder Metaphysik der Natur Spätestens durch den in Abschnitt 6.1 noch einmal zusammengefassten Gedanken – die Aktivität der Anschauung impliziert die nicht-Aktivität der Natur – wird offenbar, dass der mit Hegel verfolgte Gedankengang kein bloß epistemologischer ohne metaphysische Konsequenzen ist. Er hat nicht nur dargetan, dass die Natur sich nicht von sich aus zeigt und sich somit nicht zu erkennen gibt, sondern auch, dass die Natur nicht von sich aus ist; denn: ihr Sein, soweit es für die Philosophie – für uns als wahrhaftes Selbst – ist, ist nichts anderes als die Weise ihres Erscheinens für das selbstbewusste Bewusstsein. Dass die Natur nur erscheint in rein vom Geist vollzogener Anschauung und nicht von sich selbst her – als eigene Bewegung oder Tätigkeit –, bedeutet also, dass sie nichts ist außer das Andere des Begriffs oder des Geistes; dass der Geist das „absolut Erste[.]“ der Natur ist.7 Die Position, dass die Natur an sich ist – d. h. als sich-Zeigendes – ist entsprechend eine Metaphysik der Natur. Das ist ein paradoxer Ausdruck: Er besagt wörtlich, dass das, was über die Natur hinaus („meta“) liegt, die Natur selbst ist: physis ist die Meta-physis. Die dargestellte Zurückweisung solcher Metaphysik der Natur, des Naturalismus, impliziert – und, wie wir in Kapitel 7 sehen werden, ist letztlich sogar – die Metaphysik des Geistes. Deren erster Zug ist eine Darstellung der Wirklichkeit des Geistes als Darstellung seiner eigenen Akte, auch der Anschauungsakte, als seiner eigenen. (Diese Darstellung haben wir im ersten Teil der Untersuchung gegeben.) Die Wirklichkeit des Richters, so zeigt der kantische Vergleich, besteht in seiner Prozessführung, die nur in der beschriebenen Souveränität eine solche ist. Entsprechend besteht die Wirklichkeit des Geistes in seinen – gegenüber der Natur absolut souveränen – Vollzügen. Das aber bedeutet: Die Wirklichkeit des Geistes ist nicht dinghaft oder dinganalog zu verstehen, sondern als Wirklichkeit des Vollzugs. Diesen Gedanken müssen wir zunächst noch in einer Hinsicht konkretisieren: Schon die Akte des subjektiven Geistes haben ihre Souveränität darin, dass sie aus sich selbst – nicht durch Natur – veränderbar sind; sie können so individuelle Ausprägung erfahren. Die Souveränität des Geistes (in „seiner“ Kategorie der „Einzelheit“) zeigt sich also auch darin, dass unser Sehen und Hören anders und besser werden kann – dass immer ein Individuum kommen kann, das (etwas Bestimmtes) anders und besser sehen oder hören kann als wir. So, dass nicht mehr mit Recht gesagt werden kann, „A hört wie B“, „A hört dies als x, weil es x ist“. Der Fokus auf die Souveränität des Geistes schon in seinen Akten sinnlicher Anschauung ist also entscheidend, um die nicht-dinghafte Wirklichkeit des Geistes darzutun, insofern sie das „niedrige“ Vermögen der Anschauung immer Enz. 1830, § 381.
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schon einschließt. Es wäre einer Metaphysik des Geistes nicht förderlich – nicht gemäß –, umgehend von dieser Ebene abzuspringen und den Geist unmittelbar in seinen höchsten Vollzugsformen – als absoluten Geist – zu thematisieren. Und doch wird und muss dies der Zielpunkt sein. Die Betrachtung der individuellen Ausprägung von Kompetenzen in der Anschauung wird uns von selbst auf die Ästhetik führen; der Geist drängt also von selbst hin auf seine Metaphysik des absoluten Geistes. Dahinter aber verbergen sich zwei tiefere Gründe. Einer davon ist im ersten Teil bereits aufgeleuchtet. Er besteht darin, dass von einer Wirklichkeit des Geistes im Vollsinne erst die Rede sein kann, wenn der Geist selbst wirkt, als Einzelner tätig ist. Das aber bedeutet: wenn die Aktivität „des Geistes“ nicht mehr nur – wie im Falle des subjektiven Geistes – zwar eine Wirklichkeit ist, aber nur durch individuelle Akte endlicher Subjekte hindurch, sondern wenn „der Geist“ sich selbst als absoluter Geist, als Einzelner in einem bestimmten Sinne, herausstellt und dem individuellen endlichen Subjekt aktiv entgegentritt. Intern damit verbunden ist der zweite Grund: Zwar ist der erste – und notwendige – Schritt der Selbsterkenntnis des Geistes die Explikation der nichtdinghaften Wirklichkeit des Geistes in seinen Vollzügen – wie sie in der formalen Leere des Selbstbewusstseins im Extrem zur Darstellung kommt. Und doch steht ein ebenso notwendiger zweiter Schritt aus, in dem dargetan wird, dass der Geist im Sinne des erstgenannten Grundes doch eine „positive“ Wirklichkeit hat, da er sich negativ wirksam zeigt, im Überwinden des Verkehrten; dass er also Subjekt, aber – wie Hegel in seinem bekannten Diktum sagt – Subjekt und auch immer noch Substanz ist.8 Darin scheidet er sich von „seiner“ Wirklichkeit in Akten sinnlicher Repräsentation noch einmal kategorial ab; er ist als absoluter Geist auch seinem „Inhalt“ nach souverän und nicht – wie als subjektiver Geist – verfangen in den Akten individueller Subjekte und damit in deren jeweiligem Zuschnitt der empirischen Begriffe, die immer in die normative Wirklichkeit des subjektiven Geistes Eingang finden können, für die (und deren Inhalt) der subjektive Geist somit durchlässig ist. Von daher ergibt sich die weitere Gliederung des zweiten Teils unserer Untersuchung näherhin wie folgt: Zunächst sind die Wesenszüge des Geistes aufzuweisen, soweit sie schon an Akten der Anschauung individueller Subjekte vernehmbar sind. Das wurde im ersten Teil der Untersuchung schon geleistet – aber noch nicht hinreichend bezogen auf eine bestimmte Hinsicht, nämlich diejenige der individuellen Kompetenz und, damit verbunden, der philosophischen Position des Disjunktivismus (weiteres Kapitel 6). Sodann ist der ausgezeichnete Akt der (philosophischen) Selbsterkenntnis zu untersuchen, welcher in der Untersuchung ja stattgefunden hat und stattfindet. Aus diesem Akt, so wird die Re8 Vgl. PhG, 18: „Es kömmt nach meiner Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken.“
6.2 Die Wirklichkeit des Geistes als Überwindung jeder Metaphysik der Natur
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flexion darauf zeigen, tritt „das Absolute“ (oder „das unendliche Subjekt“) als Wirkliches hervor (Kapitel 7); seine – eo ipso einzelne, ganz und gar einzigartige – Wirklichkeit ist sodann als diejenige des absoluten Geistes in drei Gestalten zu explizieren (Kapitel 8). Mit dieser Gliederung tragen wir also dem beschriebenen Erfordernis Rechnung: dass der Geist nur durch seine Akte, in denen er seine Wirklichkeit hat, zu begreifen ist; so beugen wir der Gefahr einer unmittelbaren Substantialisierung des Geistes vor. Einer metaphysischen Depotenzierung des Geistes aber beugen wir ebenso vor: Indem wir zwar einsehen, dass es einerseits notwendig ist, mit seinen „niedrigeren“ Akten – den Akten der Anschauung – anzuheben, es andererseits aber kategorial zu kurz gegriffen wäre, die Wirklichkeit des Geistes insgesamt als sich in solchen Akten sinnlicher Repräsentation zureichend aussprechend oder gar erschöpfend zu betrachten. Seine Wirklichkeit als „der Geist“ im Singular, als „der Geist“ im Sinne eines Einzelnen, ist nur vollständig aufzuweisen, sofern wir auf seinen eminenten Akt reflektieren: die Selbsterkenntnis des Geistes, welche die einzige Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist.9 Was den ersten Schritt betrifft: Aus unserer Verhältnisbestimmung von Philosophie der Wahrnehmung und Metaphysik folgt, dass die Wesenszüge des Geistes in der Wahrnehmung (die sodann als „Anschauung“ zu bezeichnen ist) dann aufzuweisen sind, wenn man sie schon im Sinne einer Metaphysik des Geistes gefasst hat und ihr dadurch schon auf der Spur ist. Umgekehrt gilt, dass das Fehlen solcher Wesenszüge in einer Philosophie der Wahrnehmung aufzuweisen ist, die im Naturalismus verankert ist. Das Profil einer Philosophie der Wahrnehmung, deren Kehrseite eine Metaphysik des Geistes ist, lässt sich also modo negativo – ganz im hegelschen Sinne – umso schärfer entwickeln, wenn man die Implikationen naturalistischer Metaphysik für die Philosophie der Wahrnehmung konkret aufweist. Das wollen wir nun tun anhand derjenigen – materialistischen – Metaphysik der Natur, die Sebastian Rödl im kritischen Anschluss an John McDowell vorgetragen hat.
9 Den somit vorgreifend explizierten internen Zusammenhang des Ganzen des Geistes zu seiner Leitkategorie des Einzelnen hat Axel Hutter wie folgt in aller Klarheit auf den Punkt gebracht: „Die Aufmerksamkeit auf das Ganze des Geistes bedeutet nun gerade nicht – wie häufig befürchtet wird – eine Geringschätzung oder Vernachlässigung des Einzelnen. Sie bedeutet vielmehr seine Rettung vor einem allzu engen und abstrakten Verständnis. Denn jedes einzelne Wirkliche ist das, was es ist, durch seine Beziehungen zu anderem Wirklichen und zum Ganzen der Wirklichkeit. Diese Beziehungen machen die konkreten Eigenschaften des Wirklichen aus. Je mehr sich das Erkennen also auf den umfassenden Horizont des Geistes zu beziehen weiß, desto mehr vermag es über das Einzelne in seiner konkreten Vermittlung zu sagen. Erst indem das Einzelne dergestalt in einen übergreifenden Zusammenhang gestellt ist, wird es als es selbst sichtbar und unverwechselbar.“ (Hutter 2008: 382 f.)
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6 Idealistische Metaphysik des Geistes vs. Materialistische Metaphysik der Natur
6.3 Materialistische Metaphysik der Natur vs. Idealistische Metaphysik des Geistes 6.3.1 Rödl als Vertreter des Materialismus Rödl vereinigt das, was wir als „Standpunkt der ‚Wahrnehmung‘“ gefasst haben, mit dem, was wir als „Standpunkt des ‚Selbstbewusstseins‘“ erkannt haben. Auf die gemeinsame Wurzel beider Standpunkte, von der Warte einer hegelschen Metaphysik des Geistes aus gesehen, wird noch zurückzukommen sein. Die Vereinigung beider Standpunkte kulminiert bei Rödl in der These, dass die Notwendigkeit der Kausalität, die dem Akt der Wahrnehmung gemäß dieser Auffassung wesentlich ist, wesentlich auch ein spontanes, selbstbewusstes Wissen eben davon – vom veridischen, weltoffenbarenden Charakter dieser Wahrnehmung – enthält: „Mein Vermögen, spontan zu erkennen, daß ich etwas sinnlich erkenne, ist so fallibel wie mein Vermögen, etwas sinnlich zu erkennen, denn es ist dasselbe Vermögen. Wenn ich in einer rezeptiven Beziehung zu einem Gegenstand stehe, vermittels derer ich erkennen kann, wie es um diesen Gegenstand steht, dann weiß ich das und weiß also, daß ich etwas weiß.“10
Diese Auffassung transformiert die auch von McDowell vertretene Auffassung eines Disjunktivismus der Wahrnehmung11 also selbstbewusstseinstheoretisch: ein nicht-veridischer Akt der Wahrnehmung ist gar kein Wahrnehmungsakt, sondern nur ein scheinbarer; diese Asymmetrie ist in Form des selbstbewussten Wissens dadurch realisiert, dass ich im Falle des Eintretens eines solchen Aktes weiß, dass er eintritt, im Falle des nicht-Eintretens hingegen nicht (so) weiß, dass er nicht eintritt, da das Selbstbewusstsein nur einem solchen Akt (und nicht auch einem bloß scheinbar solchen Akt) wesentlich intern ist. Darin liegt, wie Rödl sagt, die Möglichkeit der Täuschung: „Wenn ich weiß, daß ich weiß, daß p, dann weiß ich, daß p. Und wenn ich etwas weiß, kann sich nicht herausstellen, daß ich fälschlich dachte, ich wüßte es. Daß sich nicht herausstellen kann, daß ich fälschlich denke, daß ich etwas weiß, wenn ich etwas weiß, läßt jedoch die Möglichkeit offen, daß ich, wenn ich nicht weiß (weil ungünstige Umstände die Ausübung meines Erkenntnisvermögens behindern), fälschlich denke, daß ich etwas weiß und sich das herausstellt. Umstände, die mich hindern, vermittels der Sinne Erkenntnis zu erlangen, hindern mich zu erkennen, daß sie mich daran hindern.“12
Ob und inwieweit es von der Warte unserer hegelschen Auffassung der Anschauung ein spontanes, selbstbewusstes Wissen um die Güte unserer Anschauungen Rödl 2011: 207 [Hvh. T. O.]. Für eine übersichtliche Darstellung der Bandbreite disjunktivistischer Positionen in der analytischen Philosophie – auch über McDowell hinaus – vgl. Haddock/Macpherson 2008a und 2008b. 12 Rödl 2011: 207 f. [Hvh. T. O.]. 10 11
6.3 Materialistische Metaphysik der Natur vs. Idealistische Metaphysik des Geistes
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gibt, wird sogleich zu fragen sein. Die in metaphysischer Hinsicht fundamentale Frage ist aber zunächst, wie sich die Notwendigkeit der Kausalität und das selbstbewusste Wissen des Wissens nach Rödl zueinander verhalten. Rödl meint – wie ich ihn verstehe –, dass der Notwendigkeit des kausalen Wahrnehmungsaktes das selbstbewusste und in diesem Sinne ebenfalls notwendige Wissen um das Wissen, das dieser Akt sein soll, entspricht. Doch diese Entsprechung ist Rödl zufolge keine Entsprechung auf gleicher Ebene – geschweige denn, dass das Selbstbewusstsein als Geist metaphysische Priorität hätte –, sondern: Weil er mit seinem Gedanken der „rezeptiven Beziehung“ der Passivitätsauffassung folgt – also meint, dass die Natur selbst die Akte unserer Wahrnehmung anfängt –, muss er der Notwendigkeit des kausalen Wahrnehmungsaktes als eines Naturgeschehens die metaphysische Priorität einräumen und das Selbstbewusstsein zur Eigenschaft (zum „Charakter“) des Metaphysicums deklarieren, für das er somit die Natur, als eigentlich Tätiges oder Bewegendes, hält. Rödl stellt sich damit explizit in die Tradition des Materialismus – von dem wir erkannt haben, dass er Hegels Philosophie auf den Kopf gestellt hat –, bedenkt also, in aller Konsequenz, die Metaphysik seiner Philosophie der Wahrnehmung: „Die[..] Beschreibung des Verständnisses von Selbstbewußtsein, das wir in diesem Buch entwickeln […], macht deutlich, daß wir den Prinzipien von Kants und Hegels Philosophie folgen. Gleichwohl ist unser Verständnis materialistisch: Es stellt Spontaneität und Selbstbewußtsein als Charakter einer materiellen Wirklichkeit dar.“13
Es sei also, so Rödl weiter, „eine selbstbewußte materielle Wirklichkeit zu denken: eine Bewegung, die Denken ist, eine rezeptive Beziehung, die wesentlich selbstbewußt ist, und eine materielle Substanz, die man durch eine Ordnung der Vernunft erkennt.“14
Rödls dezidierte Selbst-Positionierung verhilft uns, die schon gebrauchte Gegenüberstellung von „Metaphysik der Natur“ und „Metaphysik des Geistes“ nun wie folgt zu präzisieren: Als „Metaphysik der Natur“ ist mit Hegel eine Metaphysik zu bezeichnen, die die Natur selbst als tätig, als unsere geistigen Akte beginnend auffasst, die ihrem Sein nach also Bewegung einer „materielle[n] Substanz“ sind.15 Eine Metaphysik des Geistes hingegen ist eine solche, der gemäß nur Geist (seine) geistige(n) Akte beginnen kann, der gemäß die Natur nur als von ihm Repräsentiertes überhaupt ist16, der gemäß die Aktivität des Geistes die nicht Rödl 2011: 11 [Hvh. T. O.]; vgl. außerdem die Parallelstelle bei Rödl 2011: 163 ff. 2011: 11 f. 15 Hieran zeigt sich, dass Rödl kein wirklicher Spinozist ist; denn bei Spinoza ist die Substanz allenfalls in einem ihrer Attribute materiell. Doch dann fragt sich, was eigentlich „materiell“ sein soll an Rödls Substanz, wenn diese mehr als ein Naturobjekt unter anderen sein soll? Wenn das Substantielle der Natur die Form des sich-Zeigens ist – was ist an dieser „materiell“? Dass sich nur Materielles zeigt? Aber ist „das Materielle als solches, als sich-zeigend“ materiell? 16 Entsprechend ist es konsequent, dass Rödl seinen Materialismus genau gegen diese Auffassung profiliert. Dem Materialismus stehe, so Rödl im Anschluss an Marx’ Thesen über 13
14 Rödl
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Aktivität der Natur impliziert – und der gemäß der Geist eben dies (und sich selbst) zu erkennen gibt in der Überwindung des Selbstmissverständnisses, das sich gerade in einer Metaphysik der Natur ausspricht. Die Metaphysik der Natur, wie Rödl sie vertritt, ist nun weder reduktiv noch gar szientistisch; d. h. sie behauptet nicht, dass auf die Rede von „Selbstbewusstsein“ zu verzichten wäre oder das Geschäft einer Metaphysik der Natur von den empirischen Naturwissenschaften zu übernehmen wäre. Sie ist entsprechend auch kein Naturalismus derjenigen „Natur“, von der die Naturwissenschaft spricht; d. h. sie behauptet nicht, dass die Natur auch dann als „materielle Substanz“ begriffen sei, wenn das Selbstbewusstsein (und alle damit zusammenhängenden Dinge) als ihr (wesentlicher) „Charakter“ nicht in den Blick kommt. Sehr wohl aber ist sie Materialismus, wie Rödl auch explizit sagt. Die „Substanz“, das wahrhafte Sein, ist „materiell[.]“.17 Solche Philosophie verzichtet darauf, dem Geist eine Wirklichkeit oder ein Sein zuzuschreiben, das nicht in oder an der Natur – als ihr „Charakter“ – ist. Sie stellt sich also einem Dualismus von Geist und Materie ebenso wie einer Philosophie des Geistes als „absolut Erste[m]“ der Natur, wie Hegel sie vertritt, entgegen – und damit Hegels Auffassung, dass nur der Geist wahrhaft wirklich ist und nur reingeistige Akte Akte des wahrhaft wissenden Bewusstseins sind. Es ist somit kein Zufall, dass die Diskussion der Wahrnehmung auch bei Rödl – wie bei McDowell – eine zentrale Rolle in der Entwicklung seiner materialistischen Metaphysik der Natur spielt. In der Gedankenentwicklung der Phänomenologie des Geistes hat sich gezeigt, dass sich die Weichen der Metaphysik in der Tat schon in der Auffassung der Wahrnehmung (oder Anschauung) stellen – schon gestellt haben. Einher mit einer materialistischen Metaphysik der Natur geht, wie sich gezeigt hat, ein Begriff der Kausalität oder Tätigkeit der Natur, der von der hegelschen Warte zunächst deshalb als verworren gelten muss, weil er den Ungedanken der „positiven Allgemeinheit“ ausdrücken oder konkretisieren soll. Es gibt jedoch damit noch ein weiteres Problem: Bei McDowell wie bei Rödl wird ganz selbstverständlich davon gesprochen, dass es kausale Faktoren gibt, die die Wahrnehmung misslingen lassen können, z. B. Lichtverhältnisse meiner Umgebung – allgemeiner gesprochen, wie Rödl es für sich formuliert: „ungünstige Umstände“, die „die Ausübung meines Erkenntnisvermögens behindern“. Doch wieso sollte die Philosophie als Disziplin der Selbsterkenntnis – oder, wie Rödl zustimmen würde: des Selbstbewusstseins – eigentlich ein Wissen um solche kausalen Faktoren haben? Wäre Feuerbach, entgegen, dass „die materielle Wirklichkeit […] nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung […], nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit“ begriffen wurde (Rödl 2011: 11). Rödl bedenkt jedoch nicht, dass die von ihm kritisierte Betrachtungsweise nicht die des „Empirismus“ ist, wie er behauptet, sondern – konsequent und zuende gedacht – gerade diejenige des hegelschen absoluten Idealismus. Dieser aber läuft nicht, wie Rödl denkt, auf einen Materialismus hinaus. 17 Was genau das bedeutet, scheint (mir) nicht ganz klar. Vgl. dazu Fn. 15.
6.3 Materialistische Metaphysik der Natur vs. Idealistische Metaphysik des Geistes
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es empirisches Wissen, wäre es kein philosophisches Wissen – und es im Zusammenhang philosophischen Wissens zu gebrauchen, wäre eine Verwirrung der Ebenen. Oder handelt es sich bei Lichtverhältnissen nicht um natürliche Umstände? Offenbar doch. Wir wollen nun zeigen, dass es ein philosophisches Wissen um bestimmte kausale Faktoren der Anschauung gibt. Es wird sich herausstellen, dass diese Ableitung nur dann verfügbar ist, wenn man den Gedanken des Anschauungsfeldes im Blick hat. Diesen aber haben weder McDowell noch Rödl im Blick. Daher gibt es bei ihnen keine solche Ableitung. Da es diese nicht gibt, gibt es bei ihnen ebenso keinen wohldefinierten Skopus des Gebrauchs des Kausalitätsbegriffs in der Philosophie. Und von daher scheint es ihnen wohl unverfänglich, den Begriff der „Kausalität“ philosophisch sehr plural zu gebrauchen.18 Besagte Ableitung aber wird nicht nur als diese Ableitung von Bedeutung sein, sondern auch im Hinblick auf das Verständnis der Geistigkeit individueller Wahrnehmungsakte. Es wird sich nämlich zeigen, dass es an uns als geistigen Wesen liegt, den Maßstab ihrer „Güte“ und damit auch der „Güte“ von Faktoren, die sie beeinflussen (können), festzulegen. Genauso wenig wie Wahrnehmungsakte von der Welt her sind, ist der Maßstab ihrer Güte von der Welt her; er ist uns nicht gegeben, sondern von uns gemacht. 6.3.2 Die materialistische Verwirrung um den Kausalitätsbegriff Mit der Kritik, dass sein Begriff der Kausalität unklar sei, ist McDowell bereits in einem Kolloquium im Jahr 1999 konfrontiert worden.19 Er hat darauf durchaus evasiv geantwortet: 18 Darin
liegt, wie man sagen könnte, ein begriffliches Problem für sich: Selbst wenn die Passivitätsauffassung recht hätte, wäre alles andere als klar, was genau es eigentlich rechtfertigen sollte, den vermeintlichen Akt des sich-Zeigens der Natur oder Welt als kausales Geschehen aufzufassen – und damit einerseits in die Nähe zu innernatürlichen kausalen Prozessen (solchen der „ersten Natur“) zu rücken, sie aber andererseits dadurch davon kategorial abgrenzen zu wollen, dass die Kausalität der Wahrnehmung ja eine begriffliche, normative sein soll. Zur Idee einer Auflösung der „Dichotomie“ von Kausalität und Normativität vgl. Kern 2006: 159 ff. Aus hegelscher Sicht wäre – abgesehen von seiner Kritik an der Passivitätsauffassung – darauf hinzuweisen, dass die selbstbewusste Erfahrung eines „normativen Zwangs“ (vgl. Kapitel 5) nicht kausal aufzufassen ist. Dazu neigt man, aus Hegels Sicht, genau dann, wenn man noch teilweise in einer „sideways-on“-Perspektive befangen ist, von der sich McDowell und seine „Schule“ gerade loszumachen gemeint hat. Dann stellt man sich diesen normativen Zwang vor als Ausstrahlung des Objekts auf ein Subjekt. In diesem Sinne hat jüngst Stekeler-Weithofer 2018: 453 scharf und, wie mir scheint, ganz mit Recht diagnostiziert: „Daher kollabiert dieser Empirismus sofort wieder in die metaphysische Vorstellung, dass unser Sinnesempfinden durch eine physikalische Objektivität der Dinge und ihrer Wirkungen verursacht sei, ohne weiter über die schwierigen Begriffe ‚Ursache‘ und ‚Wirkungen‘ und die sich hinter ihnen verbergenden gedanklichen Vorstellungen von auf die Sinne wirkenden Kräften, Energien, Partikelbewegungen oder Lichtwellen nachzudenken.“ 19 Dokumentiert in Willaschek 2000. Zur kritischen Anfrage bezüglich des Kausalitätsbegriffs vgl. Heßbrüggen-Walter 2000.
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„To this I respond, no doubt frustratingly, that I see no need to embrace any particular theory of causality. The concept of something’s being caused to happen is perfectly intuitive. We acquire it at our mothers’ knees, when we acquire concepts such as those of dropping, breaking, denting, wetting, … (the list could go on and on). Why should we suppose we need a theory of what this utterly familiar concept is a concept of ? What is supposed to be conceptually problematic about the idea, in particular, of actualizations of cognitive capacities that occur as effects of environmental circumstances?“20
McDowell selbst sagt, dass diese – an Elizabeth Anscombe angelehnte21 – Auskunft enttäuschend ist. Das Argument gegen eine solche Auskunft scheint mir entsprechend nicht (nur) zu sein, dass Anscombe – und mit ihr McDowell – den Begriff der Kausalität falsch bestimmen; sondern, dass sie ihn so weit und vage bestimmen, dass er kein Begriff mehr ist, mit dem sich philosophisch hinreichend klar arbeiten ließe. Doch diese Verwirrung um den Kausalitätsbegriff ist kein Zufall. Anscombe und McDowell scheinen der Auffassung zu sein, dass dieser Begriff eben so weit und vage ist, weil sich philosophisch keine verbindliche Eingrenzung seiner Bedeutung angeben lässt. Insbesondere scheint McDowell zu meinen, dass der kantische Begriff der Naturkausalität zwar geistesgeschichtlich einflussreich sei, aber gerade von einer hegelschen Warte aus als verengt zu gelten habe und daher nicht zu akzeptieren sei. Doch auch in diesem Punkt scheinen mir Kant und Hegel weit näher zusammenzuliegen, als McDowell meint. Mit Hegel ist es nämlich möglich, den kantischen Begriff der kausalen Abhängigkeit – und zwar im Sinne der (unverzauberten) Naturkausalität – in der Philosophie der Wahrnehmung an einer ausgewiesenen Stelle gerechtfertigt zu gebrauchen. Es kann mit Hegel nämlich gezeigt werden, dass wir ein philosophisches Wissen der naturkausalen Abhängigkeit des geistigen Aktes der Anschauung von bestimmten natürlichen Umständen haben. Wohlgemerkt: Diese Einsicht ändert nichts daran, dass die Anschauung ein durch und durch geistiger Akt ist – im Gegenteil: Gerade aufgrund seiner Geistigkeit haben wir bezüglich seiner ein apriorisches Wissen um seine Abhängigkeit von bestimmten Arten von Naturprozessen.22 Diese kausale Abhängigkeit als solche aber ist nichts anderes als diejenige Trivialität, die sich z. B. im Faktum ausspricht, dass ich faktisch nicht mehr urteilen kann, wenn mein Gehirn aufhört zu funktionieren.23 Das bedeutet: Wir reden von kausalen Prozessen, die das faktische Zustandekommen der Anschauung betreffen – nicht von kausalen Prozessen, die uns die Anschauung als geistigen Akt verständlich machen. McDowell ist dieser Zugang, wie gesagt, faktisch verschlossen. Denn er setzt erneut eine Reflexion auf die Struktur des Anschauungsfeldes voraus. Wir haben McDowell 2000b: 92. Vgl. Anscombe 1993. 22 Auf diesen Punkt sind wir in Kapitel 4, im Rahmen der Diskussion der Gewohnheit – unter der Überschrift der „Leiblichkeit“ – schon gestoßen. 23 Wenngleich sich im Folgenden eine instruktive Differenz zwischen Urteil und Anschauung auftun wird. 20 21
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schon gesehen, dass und warum Hegel – ganz kantisch (!) – von Raum und Zeit als „Formen“, in denen wir anschauen, sprechen kann und muss24: Unser Anschauungsfeld ist kontinuierlich gefüllt; die Form dieser Kontinuität besteht in Raum und Zeit – und so, was eine gemeinsame Einsicht Kants, Hegels und Heideggers zu sein scheint, sind uns Raum und Zeit zunächst überhaupt zugänglich. Sie könnten dieses gefüllte Feld aber nicht als bloße Formen sein; denn als bloße oder leere Formen würden sie gar kein konkretes Anschauungsfeld konstituieren, da dieses ja erst gefüllt ein solches ist. Der Gedanke der Füllung bedeutet, dass im Anschauungsfeld also immer schon ein elementares etwas, von dem wir in der Anschauung einen Eindruck haben, repräsentiert ist. Dieses „etwas“ als solches (in Abstraktion betrachtet) ist das, was Hegel „Empfindung“ nennt – es besteht, wie Hegel sagt, im „Licht“, in dessen Niederschlag in Farben. Raum und Zeit, als Formen der Anschauung, wie auch Empfindung, als deren elementar-materiale Füllung, sind abstraktive Momente eines einzigen Aktes der Anschauung – wie in Kapitel 4 und 5 ausführlich gezeigt. Nun hat sich gezeigt, dass mit „Natur“ aus philosophischer Sicht der Inbegriff dessen gemeint ist, was in solchen begrifflichen Akten repräsentiert und gesetzt wird und dadurch, wie man kantisch sagen kann, „erscheint“, uns also auch entgegenzutreten scheint. Das aber bedeutet, dass die Objekte der Natur als in Raum und Zeit seiend repräsentiert werden – und, in diesem Sinne, sodann auch so „sind“; und dass die Farben als zu den Objekten der Natur gehörig repräsentiert werden – und, in diesem Sinne, sodann auch so „sind“. Das bedeutet, dass raumzeitliche Veränderungen – also etwa die Wegbewegung eines visuell gegenwärtigen Objekts oder das Verklingen eines Tons – in der Tat natürliche Prozesse sind; und ebenso, dass Veränderungen der Farbeindrücke, etwa durch veränderte Lichtverhältnisse, ein natürliches Phänomen sind. Damit aber haben wir die Begriffe der „raumzeitlichen Veränderung“ und der „Veränderung der Lichtverhältnisse“ philosophisch aus der Struktur des Anschauungsfeldes abgeleitet. Das bedeutet, dass es ein philosophisches Wissen darum gibt. Dieses reicht jedoch nicht weiter als zur allgemeinen Form – „raumzeitliche Veränderung“ und „Veränderung der Lichtverhältnisse“; ihre empirischkonkrete Realisation kann entsprechend nur empirisch untersucht werden. Reflexions‑ oder Brechungsgesetze beispielsweise sind nicht von der Philosophie abzuleiten; aber die Philosophie bestimmt den Ort, der in der physikalischen Thematisierung dieser Art von Gesetzen immer schon vorausgesetzt ist. Doch dieser Ort ist nun nicht nur bestimmt für diejenigen, die über die (hegelsche) philosophische Erkenntnis verfügen. Wir haben im ersten Teil der Untersuchung schon eingesehen, dass einem anschauungsfähigen und in diesem Sinne erwachsenen endlichen Subjekt ein apriorisches Wissen um sein Anschauungsfeld eignet. Jedes solche Subjekt weiß beispielsweise, dass hier und dort Enz. 1830, § 448.
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irgendetwas zu sehen sein muss. Es weiß darin auch, dass dieses Anschauungsfeld begrenzt ist. Das spricht sich im Wissen aus, dass jemand etwas gesehen oder gehört haben kann, was ich noch nicht gesehen oder gehört habe – etwa, weil es „hinter mir“ oder „zu weit entfernt“ ist. Es gehört also wesentlich zur Anschauung hinzu, dass jedes Anschauungsfeld begrenzt ist – und zwar sowohl im Hinblick auf seine raumzeitliche Form als auch im Hinblick auf seine materiale Füllung qua Licht und Farbigkeit: (i) Insofern ich etwas sehen oder hören will, was ein anderes individuelles Subjekt – aber nicht ich – schon gesehen bzw. gehört hat, so bewege oder verändere ich gegebenenfalls mein Anschauungsfeld entsprechend. Dieses kann ich aufgrund seiner kontinuierlichen Form auch nur kontinuierlich verändern. Das bedeutet, dass ein Objekt im Feld oder außerhalb des Feldes sein kann. Insofern das Objekt, als wesentlich durch Begriffe Repräsentiertes, als im Naturzusammenhang stehend gesetzt ist, kann es sich – denn das meint der „Naturzusammenhang“ – auch ohne Bewegung oder Veränderung meines Anschauungsfeldes aus diesem heraus bewegen oder – allgemeiner – an einen entfernten Ort, sodass ich es faktisch nicht mehr anschauen kann. (ii) Insofern ich ein Anschauungsfeld habe, bin ich mit Farben vertraut; das aber bedeutet, mit der graduellen Skala von „heller“ und „dunkler“ vertraut zu sein. Daran wird erneut deutlich, warum Hegel die materiale Füllung des Feldes, der das Moment der „Empfindung“ entspricht, mit dem Begriff des „Lichts“ intern verbindet. Eine Vertrautheit mit der Skala von „heller“ und „dunkler“ impliziert entsprechend ein Wissen um Grenzfälle: grelle Helligkeit und tiefe Dunkelheit. Diese Grenzfälle koinzidieren darin, dass in ihnen in der Anschauung nichts mehr unterschieden werden kann; dass die Anschauung, die aber wesentlich ein Akt der Unterscheidung ist, somit faktisch kollabiert. (Der interne Zusammenhang der Empfindung als elementar-materialer Füllung des Raumkontinuums zu seiner Form, dem Raum, zeigt sich darin, dass der konkrete Raum des Anschauungsfeldes bei absoluter Dunkelheit faktisch verloren geht. Das Subjekt behält zwar auch in diesem Fall sein apriorisches Wissen um die Form des Raumes; aber das Schwinden des konkreten Anschauungsfeldes durch Reduzierung des Lichts zur absoluten Dunkelheit wird eo ipso als faktisches Schwinden des konkreten Raumes erfahren.) Wir haben (i) und (ii) soweit – absichtlich – auch in einer durchaus phänomenologisch zu nennenden Perspektive der Selbsterfahrung des anschauenden Subjekts formuliert. Es ist nun instruktiv und wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass eine rein begriffliche, „streng“ philosophische Ableitung nur (i) voll erschließen kann, (ii) hingegen nicht. Denn: Es liegt kein Widerspruch im Gedanken, dass es nur der Anschauung „günstige“ Lichtverhältnisse gibt.25 Der Grund dafür, dass 25 Wenngleich – wie wir im Folgenden sehen werden – nicht an sich festgelegt ist, worin der Maßstab für „günstig“ besteht.
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„ungünstige“ Umstände im Sinne von (ii) – anders als diejenigen aus (i) – nicht in reinbegrifflicher Weise abzuleiten sind, liegt darin, dass die Begriffe von Raum und Zeit und der Begriff unserer selbst als endlich (mitsamt der Begrenztheit unseres Anschauungsfelds) implizieren, dass uns als Individuen in jeweiligen Situationen immer auch Objekte in Raum und Zeit faktisch unzugänglich sein müssen. Aus dem Begriff des Gefülltseins des Feldes durch Empfindbares – Farbe – folgt hingegen nicht, dass es notwendig Lichtverhältnisse gibt, durch die die Wahrnehmung faktisch kollabiert. Diese Differenz zwischen (i) und (ii) kommt nicht von ungefähr: in ihr spricht sich die Differenz zwischen Form und Materie – mit explanatorischer Priorität der Form – aus. Schon Kant hat klar gesehen, dass von der Materie der Anschauung, die auch er „Empfindung“ nennt, näherhin – also über ihr Wesen als diese Materie hinaus – nur „empirisch“ die Rede sein kann. Für beide – (i) und (ii) – haben wir also in rein begrifflicher, „streng“ philosophischer Ableitung die Möglichkeit eines natürlichen – und deshalb kausal auf die Wahrnehmung bezogenen – Umstands dargetan, der als solcher die Wahrnehmung faktisch beeinflussen kann. Die entscheidende Frage ist nun: In welchem Sinne ist diese faktische Beeinflussung normativ – also als „günstig“ oder „ungünstig“ zu bezeichnen? Die Antwort ist: nur auf Basis unserer Festsetzungen. Wenn wir sagen, die Lichtverhältnisse (z. B. Schwarzlicht) seien „ungünstig“, weil der weiße Pullover in ihnen blau erscheint, so haben wir das mit der hegelschen Analyse aus Kapitel 5 so aufzufassen: Wir haben – sagen wir: des Vaters – Anschauung des Pullovers als weiß als Standard gesetzt; demgegenüber, wenn diese als „richtig“ gesetzt ist, ist meine Anschauung als blau trivialiter als „unrichtig“ und der (ceteris paribus) allein dafür verantwortliche Einfluss des Lichts mittelbar entsprechend als „ungünstig“ zu klassifizieren. (Eine solche Bewertung in concreto setzt freilich ein empirisches Wissen vom Schwarzlicht voraus.) Nun aber zu sagen, meine Anschauung des Pullovers als blau sei an sich unwahr – also ohne Bezug auf einen (inter)subjektiv gesetzten Standard –, ist aus hegelscher Warte Unsinn. Er beruht letztlich auf dem verkehrten Bild der Passivitätsauffassung: Dass das an sich Weiße sich als solches zeigen „will“ und daran durch das Schwarzlicht gehindert wird; dass, wie Rödl bezüglich des Subjekts formuliert, „ungünstige Umstände“ „die Ausübung meines Erkenntnisvermögens behindern“. Hegels Auffassung hält dieser Behauptung folgenden Spiegel vor: Was, wenn ich mir anschauen will, wie die Dinge unter Schwarzlicht aussehen? Ist es dann „schlecht“, wenn ich den in anderen Lichtverhältnissen als weiß erscheinenden Pullover als blau sehe? Ganz und gar nicht – das ist dann genau „richtig“, und wir wären mit Recht irritiert, wenn unser Gegenüber den Pullover unter Schwarzlicht nicht als blau sehen würde. Eine kontextlose Theorie des „an sich“, wie sie auch der Materialismus Rödls enthält, kann dem – wenn überhaupt – nur dadurch Rechnung tragen, dass sie die Zusatzbedingung „unter Schwarzlicht“ vom sogenannten „Normalfall“ eben dadurch unterscheidet, dass
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dieser und nicht jener der „Normalfall“ ist. Aber auch das ist eine Festlegung. Wir haben gesehen, dass wir philosophisch nichts darüber sagen können, welche Lichtverhältnisse faktisch bestehen oder nicht; nur, dass welche bestehen, dass sie die Anschauung faktisch beeinflussen – und dass, wie wir erfahren, die Extreme von grellem Licht und absoluter Dunkelheit sie faktisch kollabieren lassen. Auch letzteres aber ist nicht „schlecht“ von einer absoluten Warte aus, sondern nur an einem bestimmten Maßstab bemessen, z. B. dem epistemischen, auf Akkuratheit in der Anschauung von Einzelobjekten bezogenen. Von der Freude am Grusel, dem angenehm-irritierenden Gefühl der Orientierungslosigkeit bis hin zur ästhetischen Erhebung können Extremerfahrungen des Lichts alles mögliche „Gute“ enthalten. Von der Warte dieser hegelschen Einsicht aus muss Rödls Auffassung als Absolutsetzung unserer lebensweltlichen Normalität und Durchschnittlichkeit kritisiert werden, also als eine Auffassung, welche die alltäglich vielleicht zumeist von uns faktisch als „normal“ festgesetzten und anerkannten Umstände zu den „an sich“ oder „absolut“ normalen erhebt, indem und wobei sie vergessen hat, dass sie in ihrem „zumeist“ immer noch festgesetzt (und nicht von sich her) sind. Im Geiste kritischer Theorie lässt sich mit Hegel an einer solchen Auffassung also eine Apotheose des alltäglich-bürgerlichen Lebens diagnostizieren. Damit aber haben wir auch die Antwort auf die Frage, ob und in welchem Sinne diese kausalen Faktoren an sich selbst „normativ“ seien: Überhaupt nicht. Sie können von uns im Zusammenhang mit Anschauungen mittelbar mit einer normativen Bewertung versehen werden – analog wie wir im Prinzip alles in einem bestimmten Kontext bewerten können: etwa, den Blumenstrauß als schlecht für die Hochzeitsnacht, weil der Bräutigam sich an den Rosen gestochen hat – ohne, dass es irgendeinen Sinn machen würde, den Blumenstrauß als an sich selbst normativ aufzufassen. Dass wir die kausalen Faktoren der Anschauung normativ – und zwar normativ verschieden – belegen können, schließt also gerade aus, dass diese kausalen Faktoren an sich selbst normativ seien; und damit erst recht, dass der rein empirisch-faktisch zu gebrauchende Kausalitätsbegriff dadurch verändert würde. Es bedeutet nur, dass sich einem kausalen Zusammenhang eine normative Bewertung zuordnen lässt – nicht, dass der Zusammenhang an sich selbst, und schon gar nicht, dass er als kausaler normativ sei.26 Es ist mit Hegel also nicht nur gelungen, zwei in der analytischen Debatte ganz selbstverständlich herbeizitierte Arten kausaler Faktoren der Anschauung – Raum-Zeit‑ und Lichtverhältnisse – abzuleiten, sondern dabei zugleich den (kantischen) 26 Die von McDowell, Kern und Rödl (mit latenter Berufung auf Hegel) vorgeschlagene Umformung des Kausalitätsbegriffs – zum Begriff einer an sich normativen Kausalität – ist mit Hegel also nicht zu begründen. Hegel selbst hat, wie mir scheint, durch seine Thematisierung der Kausalität in der Wesenslogik gerade nicht eine Vereinigung von Kausalität und Normativität vorgenommen, sondern gezeigt, dass es eines kategorialen Sprungs – in die Begriffslogik – bedarf, um normative Zusammenhänge auffassen zu können: als Zusammenhänge, die den Begriff betreffen, dessen Form eben nicht die Form der Kausalität oder der Kraft ist. Klar dargelegt hat das Martin 2012: 145 ff.
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Kausalitätsbegriff rein in seinem empirisch-faktischen Gebrauch zu halten und frei von jeglichen Vermengungen mit Normativität. Schließlich ist noch auf den dritten kausalen Faktor einzugehen, von dem die Anschauung ebenso faktisch abhängt – und den die analytische Debatte ebenfalls selbstverständlich anzuführen pflegt: das betreffende Sinnesorgan (oder die physiologischen Bedingungen der Anschauung überhaupt). Hier ist zunächst an eine wichtige Unterscheidung zu erinnern, auf die wir in der Diskussion der „Verleiblichung“ (im Kontext der Gewohnheit) schon eingegangen sind: diejenige zwischen Körperlichkeit und Leiblichkeit. Dass es beides gibt und dass beides zu unterscheiden ist, davon kann die Philosophie wissen; doch nur das Leibliche – hier: leibliche Bedingungen der Anschauung – kann sie näher erkunden, weil es in unserem Selbstwissen als Anschauende liegt und nicht erst, wie die körperlichen Bedingungen, im empirischen Zugang überhaupt erst konstituiert und thematisiert wird. So hatten wir die Unterscheidung ja auch eingeführt; das Leibliche ist das Natürliche, das und insofern es nicht-empirisch, sondern im Selbstwissen gewusst wird. Nun gibt es eine leibliche Dimension der Sinnesorgane, etwa des Auges oder des Ohres. Diese besteht aufgrund eines internen Zusammenhangs mit der raumzeitlichen Form der Anschauung sowie ihrer materialen Füllung qua Farbigkeit (oder Licht). Oben haben wir – in (i) und (ii) – unser diesseits philosophischer Reflexion verfügbares Wissen, unsere Vertrautheit mit diesen beiden Momenten des Anschauungsaktes beschrieben. Sie hängen mit dem Sinnesorgan – etwa am Beispiel des Auges illustriert – wie folgt intern zusammen: Wir wissen um die Relativität des visuellen Anschauungsfeldes zum Auge und seiner raumzeitlichen Position; wir wissen, dass sich unser visuelles Anschauungsfeld als konkret gefülltes Ganzes in seiner Position nicht verändert – sondern nur, möglicherweise, etwas in ihm –, solange wir unseren Leib nicht bewegen, genauer: unser Auge oder seine Richtung. Und wir wissen, dass eine bloße Bewegung des Auges (oder seiner Richtung) das visuelle Anschauungsfeld als Ganzes in seiner Position so verschiebt, dass andere Teile des Raumes in den Blick genommen werden können. Da wir aber leiblich – also nicht-empirisch – wissen, wo das Auge ist, hat es zugleich selbst eine Position im Raum. D. h. auch das Auge wissen wir – qua Leiblichkeit zwar nicht-empirisch – als etwas, das sehr wohl zur Natur und ihren kausalen Zusammenhängen gehört, und zugleich als etwas, das unsere Anschauung faktisch beeinflusst. Es gilt nun auch hier, dass dieser kausale Einfluss nicht an sich normativ oder normativ bewertet ist. Dafür seien zwei Beispiele gegeben: – Wenn unsere Augen aufgrund eines Kreislauf‑ oder sonstigen gesundheitlichen Problems zu zittern beginnen, so mag die resultierende Anschauung von einer Eigenart sein, die ein ästhetisch inspirierter Kopf als „großartig“ erfahren und bezeichnen mag. Dass diese Anschauung hingegen als „schlecht“ zu bewerten ist, wenn als Maßstab die Fähigkeit, mit solcher Anschauung weiter am Schreibtisch zu arbeiten und Meetings besuchen zu können, zugrundegelegt ist, ist klar.
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– Wenn die Wirkung von LSD auf unsere physiologischen Prozesse von der Art ist, dass sie uns die Ganzheit des farbigen Anschauungsfeldes besonders intensiv erleben lässt, so wären diese Prozesse als „günstig“ zu bewerten – wenn man als Maßstab anlegt, dass durch ihren Einfluss etwas philosophisch und ästhetisch Einschlägiges clare et distincte erfahren werden kann. Legt man hingegen die Gesundheit des betreffenden Individuums als Maßstab an sowie seine Fähigkeit, im Arbeitsumfeld oder beim Autofahren „kontrolliert“ sinnlich zu navigieren, so fällt die Bewertung freilich anders aus. Nun haben wir alles bei der Hand, um in einer Hinsicht noch expliziter auf die metaphysische Dimension der Anschauung zurückkommen zu können. Wir können an dieser Stelle nämlich die weitverbreitete, meist unhinterfragt repetierte Meinung, die Wahrnehmung sei – gerade im Vergleich zum Urteil – „natürlich“ (und nicht geistig), noch einmal aus einer neuen Perspektive als Mythos durchschauen: – Der Akt der Wahrnehmung (oder besser: Anschauung) ist, wie wir längst eingesehen haben, eine Aktualisierung von Begriffen – wie auch das Urteil; näherhin, eine aktive Aktualisierung von Begriffen – wie auch das Urteil. – In Akten der Anschauung werden Objekte der Natur repräsentiert – aber nicht nur Objekte der Natur, sondern auch der Welt, die mehr ist als bloße Natur, da sie z. B. geistige Produkte – Artefakte – einschließt; auch das gilt für das Urteil entsprechend. – Akte der Anschauung sind faktisch kausal abhängig von physiologischen oder biochemischen Bedingungen; auch dies gilt für das Urteil entsprechend. Soweit gibt es also keinen Grund, die Anschauung als „natürlich“ zu bezeichnen. Es gibt nicht einmal einen Grund dafür, sie als „natürlich(er)“ im Vergleich zum Urteil zu bezeichnen. Lediglich zwei scheinbar größere Nähen zum „Natürlichen“ im Vergleich zum Urteil gibt es tatsächlich: – Akte der Anschauung sind kausal abhängig von bestimmten Bedingungen der natürlichen Umgebung. (Die Lichtverhältnisse in der Umgebung beispielsweise haben keinen kausalen Einfluss auf das Urteil – jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir das für die Lichtverhältnisse in Bezug auf die Anschauung nichtempirisch wissen.) – Drei Arten natürlicher Bedingungen, von denen die Anschauung kausal abhängt, sind uns von vornherein zugänglich und vertraut; sie sind nicht bloß körperliche, sondern leibliche Bedingungen, also nicht-empirisch und in diesem Sinne apriorisch von uns gewusste.27 (Während es beispielsweise kein „Urteils27 Wir können die Zusammenhänge zwischen leiblichem Wissen, philosophischer Selbsterkenntnis und Natur also wie folgt zusammenfassen: Es gibt ein leibliches, apriorisches Wissen von der Natur; man kann dieses – in diesem Sinne – auch als naturphilosophisches Wissen bezeichnen. Es ist ein Wissen von der Form der Natur, nicht von ihrer Materie, die erst in unseren empirischen Vollzügen konstituiert und, zusammen damit, im Geschäft des Verstandes weiter theoretisiert wird. Die Form der Natur aber wird nur durch unsere Selbsterkenntnis als
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organ“ (analog zum „Sinnesorgan“) gibt, auf das ich a priori weisen könnte und das ich von selbst mit der Form des Urteils in einen analogen Zusammenhang bringen könnte wie das Auge zu einer Form der (visuellen) Anschauung, dem Raum.) Doch diese beiden Differenzen, die in der Tat wesentlich die Differenz zwischen Anschauung und Urteil bestimmen, sind keine Differenzen, die sich mit Recht so beschreiben ließen, als wäre die Anschauung „weniger geistig“ (oder gar „natürlich“) im Vergleich zum Urteil. Das dürfte – nüchtern besehen – unmittelbar einleuchten: Dass es bezüglich der Anschauung andere „Dinge“ gibt, von denen sie kausal abhängt, begründet keinen metaphysischen Unterschied zum Urteil (sondern liegt darin, dass Wahrnehmung und Urteil eben trivialiter nicht dasselbe sind); und dass bezüglich der Anschauung ein leiblicher Zugang zu dreien von ihnen gegeben ist, bringt die Anschauung nicht „näher“ an die Natur heran – im Gegenteil: Es zeigt ein apriorisches (Selbst‑)Wissen im Sinne der Leiblichkeit in der Anschauung (und um sie) an, das überhaupt nur in Form der Geistigkeit verständlich zu machen ist. Ein apriorisches Wissen um natürliche Bedingungen, das sich in unserer Aktivität der Anschauung auch als Wissen-wie niederschlägt – und nicht nur in philosophischen Traktaten, die es als solches beschreiben und integrieren –, das also der Anschauung intern ist, zeigt gerade ihre Geistigkeit an. Zudem: Das Wissen im Sinne der Leiblichkeit in der Anschauung ist nur begreiflich zu machen und zu begründen unter Rekurs auf die Konstitution des Anschauungsfeldes als Ganzem. Dieses aber kann nur kohärent begriffen werden, wenn es von der Aktivität der Aufmerksamkeit her und zusammen mit ihr begriffen wird. Das aber bedeutet: nur dann, wenn die Anschauung schon längst als kategorial geistig und nicht-natürlich gefasst wird. Eine solche Kategorisierung aber schließt jeden metaphysischen Sinn von „größerer Nähe zur Natur“ aus – Geist und Natur gibt es überhaupt nicht graduell. Solange mit dieser Phrase hingegen gemeint sein soll, was in den beiden soeben genannten Differenzen zwischen Anschauung und Urteil gesagt ist, ist sie unproblematisch – aber auch unglücklich und ohnehin metphysisch insignifikant. Sofern sie metaphysisch gemeint ist, ist sie unbegründet oder verworren. Wie wir in Kapitel 8 sehen werden, kennt Hegel allerdings eine Hierarchisierung der geistigen Vermögen – das sinnliche Anschauen steht „niedriger“ als das (rein begriffliche) Denken. Doch diese Hierarchisierung geht in keiner Weise einher mit einer Gradualität von „mehr oder weniger natürlich“. Sie hat einen anderen Grund: Das philosophische Denken zeigt, dass nur es selbst – und nicht die sinnliche Anschauung – Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist. sinnlich anschauende Wesen gewusst, nämlich durch Analyse von Form und Materie des Anschauungsfeldes als solchem. Qua Form ist unsere philosophische Erkenntnis dieser Form weitreichender als diejenige der Materie; und solche philosophische Erkenntnis koinzidiert mit dem als Wissen-wie sich aussprechenden Wissen in unserem auch diesseits philosophischer Reflexion stattfindenden anschaulichen Navigieren.
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Daran wird sich allerdings die Volte anschließen, dass das darin erkannte „Absolute“ sich auch durch Anschauung und Vorstellung in einem bestimmten Sinne „zu erkennen“ geben kann, aber nicht in ordinärer Anschauung und Vorstellung. Bevor wir uns diesen Gedanken annähern, müssen wir noch den Schritt über die individuelle Ausprägung von Kompetenzen in der sinnlichen Anschauung gehen und auch darin die Signa des Geistes erkennen.
6.4 Kompetenzen und Defizite der Wahrnehmung: Individualität und Offenheit des Geistes Die Aufgabe dieses Abschnitts ist es nun, auf Basis des vorher Dargelegten die Wesenszüge des Geistes, soweit sie schon in Akten der Anschauung aufzuweisen sind, in einer weiteren Hinsicht zu explizieren: nämlich derjenigen der Einzelheit oder Individualität. Schon in der sinnlichen Anschauung sind individuelle Kompetenzen am Werk, und diese machen die Anschauung in einem menschlichen Leben eigentlich erst anspruchsvoll, interessant und wertvoll; damit aber wesentlich verbunden ist, wie wir sehen werden, der Gedanke der freien Offenheit des (endlichen) Geistes für den Anderen und das Künftige: im Gegensatz zu einem natürlichen Geschehen ist die Anschauung immer offen für eine Veränderung, für ein künftig anderes oder „besseres“ Anschauen. 6.4.1 Die geistwidrige Geschlossenheit des Disjunktivismus und von Anscombes Idee eines spontanen, erstpersonalen Wissens von unseren Handlungen Ein geeigneter Abstoßungspunkt für unsere Überlegungen ist Rödls schon erwähnte selbstbewusstseinstheoretische Version des Disjunktivismus, demzufolge eine fundamentale Asymmetrie zwischen veridischen und nicht-veridischen sinnlichen Akten besteht. Daraus haben wir schon zitiert. Es sei, so Rödl, zwar richtig, dass wir nicht wüssten, dass wir getäuscht werden, wenn wir getäuscht werden – sonst gäbe es auch gar keine Täuschung; doch daraus würde nicht folgen, dass wir nicht wüssten, dass wir nicht getäuscht werden, wenn wir nicht getäuscht werden. Wir wissen vielmehr in solchen Akten, dass wir durch sie wissen. Es gibt eine Menge möglicher kritischer Anfragen an diese Auffassung, die sich unmittelbar und damit auch diesseits der hier vorgeführten Konfrontation aufdrängen – etwa Rödls hier verwendeten Wissensbegriff als solchen betreffend.28 28 In hegelscher Manier kritisch beleuchtet hat die dem Disjunktivismus inhärente Idee eines „wahrheitsgarantierenden Grundes“ auch Gabriel 2012. Zu seiner Kritik an Rödl vgl. auch Gabriel 2018: 65 f.
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Doch diese Anfragen können wir hier übergehen. Mit Hegel ist Rödls Auffassung allein schon dadurch zurückgewiesen, da sie wesentlich auf der Passivitätsauffassung der Wahrnehmung aufruht und diese mit Hegel überwunden wurde; das selbstbewusste Wissen soll ja nach Rödl die Entsprechung zur Notwendigkeit des kausalen Wahrnehmungsprozesses sein29, der als solcher Bewegung des eigentlich Seienden – der „materiellen Substanz“ – ist. Schon hier lässt sich zeigen, wie geschlossen (und in diesem Sinne sodann geist-widrig) eine so aufgefasste Wahrnehmung wäre: in ihr gäbe es keinen Frei-Raum dafür, von mir aus etwas in der Wahrnehmung „anders“ zu machen, adäquater oder weniger adäquat zu hören etwa. Ich als Selbstbewusstsein wäre in dieser Auffassung zusammengeschrumpft zu einer Zwangs-Vollstreckung des sich-Zeigens der Natur, die in diesem sich-Zeigen ihre eigene Normativität zur Geltung bringt. Auf den ersten Blick könnte es nun aber so scheinen, als hätte uns die hegelsche Auffassung der Wahrnehmung als aktive Anschauung aus anderen Gründen auf eine Art von Disjunktivismus verpflichtet. Nämlich dann, wenn wir der – von Rödl ebenfalls positiv rezipierten30 – Auffassung Elizabeth Anscombes folgen, dass wir im (intentionalen) Handeln eo ipso über ein spontanes, erstpersonales Wissen von diesen unseren (intentionalen) Handlungen verfügen.31 Das würde bedeuten, dass ich notwendig weiß, was ich vollziehe, wenn ich die Aktivität der Anschauung – in Gestalt einer konkreten Wahrnehmungshandlung (nun besser: Anschauungshandlung) – vollziehe. Die Auffassung Anscombes ist nun aber von demselben Problem gezeichnet, das wir mit Hegel schon als Vermengung von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis identifiziert haben. Grundsätzlicher gesagt: Es ist alles andere als klar, was „Wissen, dass ich eine Anschauungshandlung vollziehe – und welche“ eigentlich bedeuten und umfassen soll und was nicht. Die hier nötige Differenzierung ist erhellend und weiterführend, weshalb wir sie nun kurz vornehmen wollen. Anscombes These hat ihre Richtigkeit freilich soweit, als wir in der Tat ein spontanes, erstpersonales Wissen von unseren Anschauungshandlungen in 29 Entsprechend impliziert Rödls Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung, dass es überhaupt keine misslingende, nicht-veridische sinnliche Wahrnehmung neben gelingender, veridischer sinnlicher Wahrnehmung geben kann, sondern nur sinnliche Wahrnehmung und etwas, das nur scheinbar überhaupt sinnliche Wahrnehmung ist. Mit anderen Worten: Es gibt prinzipiell keine Täuschung in der Wahrnehmung. Nun sehen wir, warum Hegel die „Täuschung“ im Untertitel des Wahrnehmungskapitels der Phänomenologie des Geistes eigens hervorhebt: Er hat klar gesehen, dass es eine kritische Leistung ist, die sinnliche Wahrnehmung überhaupt erst so zu denken, dass auch eine Täuschung in ihr gedacht werden kann; dies wird erst möglich, wo die Passivitätsauffassung überwunden wird. In ihrer Überwindung – im Wahrnehmungskapitel – wird also eo ipso die Täuschung thematisch; sie kann nun als das begriffen werden, was sie wahrhaft ist und als was sie uns auch vertraut ist: als Täuschung in der Wahrnehmung, durch die die Wahrnehmung nicht als Wahrnehmung aufgehoben und zu etwas, das bloß scheinbar überhaupt Wahrnehmung ist, wird. 30 Vgl. Rödl 2011: 164 ff. 31 Vgl. – im Kontext – Anscombe 1957.
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dem minimalen Sinne haben, dass wir, wenn wir z. B. etwas ansehen, wissen, dass wir etwas ansehen und unser Tun beispielsweise nicht ein Bespucken ist. Möglicherweise kann man dies sogar ausdehnen darauf, dass wir ein spontanes, erstpersonales Wissen davon haben, dass wir mit Anschauungshandlungen nicht-körperliche Handlungen (etwa im Unterschied zum Heben unseres Armes) vollziehen.32 Doch all das ist ein noch sehr vordergründiges, oberflächliches „Wissen“ um diese Handlungen. Beim ersten Falltyp – Ansehen vs. Bespucken – kommen diejenigen Begriffe, die zum wahrhaften Verständnis einer Anschauungshandlung nötig sind – etwa „Aufmerksamkeit“ oder „Aktualisierung von Begriffen“ –, noch gar nicht in den Blick, wodurch es notwendig so aussieht, als wären alle Handlungen, als Handlungen, auf derselben Ebene und zur selben uniformen Kategorie – „Handlung“ – gehörig. Im zweiten Falltyp – Ansehen vs. körperliche Handlungen – sind bereits philosophisch einschlägige Begriffe im Spiel, aber nicht verstanden, sondern allenfalls im Modus eines Vorbegriffs, wie Hegel sagen würde. Denn was soll hier etwa „körperlich“ und „nicht-körperlich“ bedeuten? Die unverstandene Unterscheidung von Körperlichem und Nichtkörperlichem (oder „Geistigem“) verführt – analog wie beim ersten Falltyp – dazu, beides notwendig als auf derselben Ebene liegend oder zur selben Kategorie gehörig zu fassen. Mit Wittgenstein ist deshalb – gegen den Geist seiner Schülerin Anscombe – anzumerken, dass auf dieser Stufe eines bloßen Vorbegriffs große Differenzen (zu) klein erscheinen: „Denken ist kein unkörperlicher Vorgang, der dem Reden Leben und Sinn leiht, und den man vom Reden ablösen könnte, gleichsam wie der Böse den Schatten Schlemihls vom Boden abnimmt. – Aber wie: ‚kein unkörperlicher Vorgang‘? Kenne ich also unkörperliche Vorgänge, das Denken aber ist nicht einer von ihnen? Nein; das Wort ‚unkörperlicher Vorgang‘ nahm ich mir zur Hilfe, in meiner Verlegenheit, da ich die Bedeutung des Wortes ‚denken‘ auf primitive Weise erklären wollte.“33
Wittgenstein sagt nun weiter dies: „Man könnte aber sagen ‚Denken ist ein unkörperlicher Vorgang‘, wenn man dadurch die Grammatik des Wortes ‚denken‘ von der des Wortes ‚essen‘, z. B., unterscheiden will. Nur erscheint dadurch der Unterschied der Bedeutung zu gering.“34
Das und solches entspricht derjenigen Rolle, die auch Hegel einem Vorbegriff zuerkennen kann, wie im Kapitel 7 (über die Selbsterkenntnis) noch genauer einsichtig werden wird: Es ist dasjenige elementare sprachliche Reden, das wir zunächst einmal haben müssen, um darauf aufbauend – aber zugleich: uns davon 32 Peter Hacker hat in einer Diskussion einmal darauf hingewiesen, dass Anscombes These sogar auch im Hinblick auf immer noch alltägliche, aber etwas komplexere Handlungen unplausibel ist: z. B. mein Unterschreiben eines Vertrags. Wie soll ich nicht-empirisch – also ohne Hinsehen – wissen, ob ich unterschieben habe? Der Füller könnte leer gewesen sein. 33 Wittgenstein 1984a: 387 (PU I, § 339). 34 Wittgenstein 1984a: 387 (PU I, § 339). Zum Kontext dieser Überlegung bei Wittgenstein selbst vgl. Vossenkuhl 2003: 240 ff.
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abstoßend, darüber hinausgeführt werdend – zum wahren Verstehen gelangen zu können. Da es dasjenige ist, was wir zunächst einmal gleichsam von selbst – auf der Ebene unseres intersubjektiv geteilten (unreflektierten) Sprechens, in das wir „natürlich“ (im Sinne der „natürlichen Sünde“) hineingewachsen sind – haben können, ist es zugleich dasjenige, was wir auch einander lehren und lernen können. So ist wohl auch Wittgensteins Bemerkung zu verstehen. Was eine Anschauungshandlung ist – so hat der Gang unserer Untersuchung gezeigt –, verstehen wir jedoch erst durch die philosophische Selbsterkenntnis – und nicht schon dadurch und darin, dass wir sie vollziehen. In diesem – entscheidenden – Sinne ist Anscombes Auffassung mit Hegel schon einmal zurückzuweisen. Was eine Anschauungshandlung wirklich und wesentlich ist, davon habe ich eben kein erstpersonales, spontanes Wissen in der Ausführung einer solchen. Sonst könnten wir gar nicht zur verkehrten Passivitätsauffassung gelangen; denn wir wüssten dann alle immer schon, dass wir in der Anschauung aktiv sind. Doch nicht „nur“ davon haben wir kein spontanes, erstpersonales Wissen: Ich habe auch kein erstpersonales, spontanes Wissen von der Güte meiner Anschauungshandlungen – schon deshalb nicht, weil an sich eben gar nicht definiert ist, worin diese eigentlich bestehen soll. Die Frage nach der Güte einer Wahrnehmung nimmt Rödl etwa nur unter dem Gesichtspunkt der „(un)günstigen“ kausalen Faktoren in den Blick. Die Annahme einer ihnen an sich zukommenden Normativität haben wir oben bereits kritisiert. Da Rödl – wie auch McDowell – nicht über den Begriff der Anschauungshandlung verfügt, stellt er sich die Frage nach zwei entscheidenden Dimensionen der „Güte“ unserer Sinnlichkeit gar nicht: Dass die – gemessen an einem epistemischen Maßstab – vergröberte Anschauung wesentlich ist für das Haben eines Anschauungsfeldes im Ganzen mitsamt aller aufgewiesenen Implikate desselben; und dass eine Güte in unserer Aktivität der Anschauung liegt – ausgeprägt in der Güte der Aufmerksamkeit wie auch der Kompetenzen des mehr oder weniger differenzierten Anschauens, die wir mitbringen oder eben nicht mitbringen. Die folgende Auseinanderlegung wird aufzeigen, was es mit diesen Arten von „Güte“ auf sich hat – und auch zeigen, dass wir kein spontanes, erstpersonales Wissen von solcher Güte haben; dass unsere hegelsche Auffassung nicht nur keinen Disjunktivismus impliziert, sondern mit einem solchen inkompatibel ist. 6.4.2 Interne (Defizienz‑)Faktoren als Faktoren des Geistes – und ihr nicht-disjunktivistischer Charakter Im Zusatz zu § 448 der Enzyklopädie ist zu lesen: „Erst durch die Bildung des Geistes bekommt die Aufmerksamkeit Stärke und Erfüllung. Der Botaniker, zum Beispiel, bemerkt an einer Pflanze in derselben Zeit unvergleichlich viel mehr, als ein in der Botanik unwissender Mensch. Dasselbe gilt natürlicherweise in
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Bezug auf alle übrigen Gegenstände des Wissens. Ein Mensch von großem Sinne und von großer Bildung hat sogleich eine vollständige Anschauung des Vorliegenden […].“35
Hegel hebt hervor, welche Bedeutung die Bildung – auch und gerade als die Kunst des Unterscheidens – in der Anschauung spielt; wie also unsere mehr oder weniger differenzierten Begriffe in die Anschauung eingehen. Wir wollen das im Folgenden genauer auseinandersetzen. Hegels Auffassung der Anschauung impliziert, wie sich gezeigt hat, einen negativen Begriff des Begriffs. Begriffe in diesem Sinne sind als Vermögen zu begreifen, etwas als so-und-so und nicht-anders (und eo ipso als nicht-anders) zu repräsentieren. Diese Bestimmung ermöglicht es uns, den Begriff einer „(Anschauungs‑)Kompetenz“ umstandslos und zugleich philosophisch präzise zu bestimmen: Zum einen ist ein (solches) Vermögen etwas, das man haben oder nicht haben kann. (Das kann freilich auch McDowell von seinen „Begriffen“ sagen: man kann sie haben oder nicht haben.) Zum anderen aber ist ein solches Vermögen etwas, das man in höherem oder geringerem Maße, „mehr oder weniger (ausgeprägt)“ haben kann. (Das kann McDowell von seinen „Begriffen“ allerdings nicht umstandslos sagen.) Dies ist aber umgehend in zwei Dimensionen zu differenzieren: in die, wie man sagen könnte, (i) „genuin begriffliche“ und die (ii) „urteilskräftige“. Ad (i). Man kann mehr oder weniger fähig sein, Instrumente in ihren Klängen voneinander unterscheiden zu können. So mag Maria im Hören eine Violine von einer Viola unterscheiden können, Josef hingegen eine Violine zwar von einem Cello, nicht aber von einer Viola. Das entsprechende begriffliche Vermögen kommt ihm also in geringerem Maße oder in geringerer Ausprägung zu als ihr. Mit unserer Terminologie aus Kapitel 5 lässt sich sagen: Marias Begriff des „(Klanges eines) Musikinstruments“ enthält mehr positiv aktualisierbare interne Bestimmungsmomente als Josefs. Ad (ii). Man kann mehr oder weniger fähig sein, im Ultraschall auffällige Gewebeveränderungen zu erkennen. So mag Dr. X. nur die einfachen und klaren Fälle von Veränderungen sehen können, die erfahrenere Dr. Y. hingegen auch die schwierigeren Grenzfälle. Die Differenz zwischen beiden ist nicht eine, die sich anhand fehlender interner Bestimmungsmomente des Begriffs bestimmen lässt – beide, so nehmen wir an, verfügen über dieselben, etwa „tumorartiges Gewebe“, „verändertes Gewebe“, „unauffälliges Gewebe“. Die Differenz ist vielmehr diejenige einer irreduzibel erfahrungsmäßig geringeren bzw. größeren Ausprägung desselben begrifflichen Vermögens; hier stoßen wir also auf die hegelsche Stelle für die kantische „Urteilskraft“. Dies – das Begriffliche in diesen zwei Dimensionen – ist also die erste Art von internem (Defizienz‑)Faktor der Anschauung. Die zweite Art lässt sich nun ableiten unter Rekurs auf die Art der Aktualisierung des begrifflichen Vermögens, Enz. 1830, § 448 Z [VSG Zusätze, 1095].
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das das Netz unserer Begriffe im Ganzen ist, in der Anschauung. Diese ist, wie wir wissen, aktiv und besteht in der Aufmerksamkeit, jeweils realisiert in konkreten, einzelnen Anschauungshandlungen. Mangelnde Aufmerksamkeit ist also ein zweiter möglicher Defizienzfaktor. Mangelnde Aufmerksamkeit auf x resultiert, wie wir schon gesehen haben, daraus, dass ich in der (mir womöglich selbst zumindest momentan verborgenen) Tiefe meines Willens meine Aufmerksamkeit mehr oder ausschließlich auf etwas anderes als x richten will. Wir kennen aus unserer Selbsterfahrung Fälle, in denen es uns beispielsweise nicht gelingt, unsere Aufmerksamkeit auf das Konzert zu richten, das wir gerade besuchen, weil unsere Gedanken und – mit ihnen – unsere Aufmerksamkeit überhaupt ganz oder zumindest zu stark von einem philosophischen Problem absorbiert sind, über das wir weiter nachdenken zu „müssen“ scheinen. Dann hören wir nicht so differenziert wie wir hören könnten, wenn wir „bei der Sache“ wären. Wir haben in den Kapiteln 4 und 5 schon den Grund genannt, warum Beispiele dieser Art nach Hegel nicht gegen das Wesen der Aufmerksamkeit als willentliche Aktivität sprechen. Vielmehr besteht in ihnen ein dem Willen interner Konflikt zwischen verschiedenen Willensbestimmungen, in welchem eine der beiden so dominant ist, dass die andere dadurch soweit unterdrückt wird, dass sie nicht (oder nicht über ein bestimmtes Maß hinaus) handlungsleitend wird. Das kann, aber muss nicht daran liegen, dass beide Willensbestimmungen zusammen ein Maß an Aufmerksamkeit erfordern würden, das die insgesamt verfügbare – qua meiner Begrenztheit ebenso begrenzte – Kapazität an Aufmerksamkeit überhaupt übersteigen würde. Im Falle des Konzertes ist es wohl so, dass die Aufmerksamkeit immer im Ganzen, ausschließlich beansprucht wird – was ein Signum der Kunst als Gestalt des absoluten Geistes ist. In trivialen Fällen aber – man denke etwa an das im-Blick-Behalten-Wollen des zu beaufsichtigenden Hundes meines Nachbarn bei gleichzeitigem Radiohören-Wollen – mag es gut sein, dass das insgesamt verfügbare Maß an Aufmerksamkeit für beides zugleich ausreichen würde, mein Desinteresse am Hund aber doch so groß ist, dass ich noch lieber die Radionachrichten höre und lieber ihnen als dem Nachbarshund meine volle Aufmerksamkeit schenke. Damit also haben wir folgende zwei Arten interner (möglicher) (Defizienz‑)Faktoren der Anschauung unterschieden: (1) ein nicht vorhandenes oder (für den betreffenden Fall) nicht zureichendes begriffliches Vermögen, mangelnde Kompetenz (in den beiden unterschiedenen Dimensionen); (2) ein nicht vorhandener oder nicht zureichender Wille, die Aufmerksamkeit auf etwas zu lenken – mit oder ohne Erschöpfung der insgesamt verfügbaren Aufmerksamkeitskapazität. Diese beiden Faktoren wollen wir nun auf die Frage, ob durch unsere hegelsche Position ein Disjunktivismus impliziert ist, beziehen. Unter „Disjunktivismus“ soll hier eine etwas erweiterte Variante der Rödl’schen Version verstanden
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werden: dass wir im Falle einer gelingenden Anschauung auch wissen, dass sie gelingend ist.36 Bevor wir die beiden Arten von Faktoren der Reihe nach auf die Frage nach solchem Disjunktivismus beziehen, ist noch einmal folgende allgemeine Bemerkung vorauszuschicken: Das normative Prädikat „gelingend“ ist, abstrakt genommen, nicht (hinreichend) bestimmt. Das liegt nicht daran, dass es eine unpräzise Vokabel wäre, die in philosophischer Absicht durch eine präzisere ersetzt werden sollte. Vielmehr liegt es daran, dass es in der Natur von Einzelanschauungen liegt, dass ihre Güte – und entsprechend eben das „Gelingen“ der zugehörigen Anschauungshandlung – nur relativ zu einem gesetzten Zweck zu bemessen und zu beurteilen ist. Wie wir in Kapitel 4 bereits eingesehen haben, gilt für diejenigen Einzelanschauungen, die wir qua Anschauungsfeld – also qua gewohnheitsförmiger Aktivität der sinnlichen Aufmerksamkeit – haben, dass sie ihren Zweck, dieses Anschauungsfeld zu konstituieren und dadurch wesentliche Dinge wie alltägliche Orientierung und Selbstgefühl zu ermöglichen, gerade und nur dadurch erfüllen, dass sie epistemisch weniger detailliert oder akkurat sind als Einzelanschauungen, wie sie durch die nicht-gewohnheitsförmige Aktivität der Aufmerksamkeit zustande kommen können. Für diese gilt, dass sie nur relativ zu einem partikularen, erst festzulegenden Zweck ihrer Güte nach beurteilt werden können. So reicht der flüchtige Blick des gedankenversunkenen Supermarkteinkäufers auf die Bananen aus, um sie als gelbe Bananen wahrzunehmen – also epistemisch akkurat in Bezug auf die Farbe –, wenn auch vielleicht nicht dazu, die reifsten und bestaussehenden Bananen optisch herauszufiltern – also epistemisch akkurat in Bezug auf ihre Essqualität. Diskutieren wir eingedenk dessen nun die beiden Arten von (Defizienz‑)Faktoren im Hinblick auf den Disjunktivismus einzeln nacheinander: Ad (1): Ein Disjunktivismus im Hinblick auf meine Kompetenz würde in der Auffassung bestehen, dass ich weiß, dass meine Kompetenz – zunächst betrachtet in ihrer „genuin begrifflichen“ Dimension – ausreicht, um gelingend anzuschauen, wenn sie ausreicht, um gelingend anzuschauen. Betrachten wir als Beispiel das Vermögen, eine Oboe als Oboe zu hören. Wenn es mir soweit zukommt, dass ich einen Unterschied zwischen einer Oboe und einer Klarinette hören kann, bedeutet dies noch nicht, dass ich auch den Unterschied zwischen einer Oboe d’amore und einer Oboe da caccia hören kann. Oder dass ich bei einer Symphonie in großer Besetzung die Oboe „heraushören“ kann, also die Oboe als Oboe gegen den Hintergrund der sonstigen Instrumente hören kann, sodass ich begründet urteilen könnte, dass eine Oboe mitspielt oder gar an dieser oder jener Stelle einsetzt. Ich habe also selbst dann, wenn ich besagtes Vermögen bis zu einem gewissen Grad besitze und mir dessen auch bewusst bin, Grund zum Zweifel, ob ich in den schwierigeren Fällen gelingend höre – selbst dann, 36 Wir müssen hier eine derartige Variante wählen, da die exakt Rödl’sche ja mit Hegel schon zurückgewiesen ist.
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wenn kein weiterer Defizienzfaktor im Spiel ist. Davon haben wir, so wir besonnen sind, auch ein klares Bewusstsein: Wir sagen etwa, dass wir uns „nicht sicher“ sind; dass wir Grund zum Zweifel haben, d. h. weder wissen, dass die betreffende Anschauung zureichend gut ist, noch wissen, dass sie es nicht ist. Ein großer Maestro hingegen mag sich sicher sein, dass seine Anschauung mehr als zureichend ist; er mag wirklich keinen Grund zum Zweifel haben, dass er die Oboe selbstverständlich in allen diesen Fällen richtig (heraus)hören kann. Doch selbst eine solche (begründete) Abwesenheit von (unbegründetem) Zweifel ist, wie Wittgenstein in Über Gewissheit deutlich herausstellt, kein Wissen eines Wissens, keine Gewissheit. Mindestens genauso deutlich wird dieser Punkt im Hinblick auf die „urteilskräftige“ Dimension von (1): Wir mögen sagen, dass ein guter Arzt sich im Hinblick auf seine Erfahrung soweit muss einschätzen können, dass er nur an seinem diagnostischen Blick zweifelt, wenn er einigermaßen gute Gründe für diesen Zweifel hat. Aber wiederum: die Abwesenheit solcher Gründe – und gute Gründe für diese Abwesenheit – sind keine Fälle eines der Anschauung internen Wissens um ihre Güte. Ein Grund, warum der Disjunktivismus in der zeitgenössischen analytischen Debatte um die Wahrnehmung so große Akzeptanz finden konnte, besteht in den übereinfachen Beispielen, mit denen dort gearbeitet wird und an denen die Debatte somit laboriert. Besonders gerne werden Beispiele homogener Farbwahrnehmung verwendet – vielleicht noch verbunden mit der Wahrnehmung einer Form des farbigen Gegenstands, so der rote Würfel aus McDowells Woodbridge Lectures im Anschluss an Sellars.37 Desweiteren betont die analytische Debatte – unter Berufung auf (ihren) Aristoteles und Davidson – immer wieder, dass wir Fähigkeiten „im Regel‑ oder Normalfall“ gelingend ausüben. Doch diese Phrase ist höchst differenzierungsbedürftig. Soll sie philosophisch signifikant sein, kann sie nicht das Resultat einer empirischen, quantitativen, statistischen Betrachtung sein – noch eine bloß quantitative Bedeutung haben. Auch wenn eine solche Bedeutung oft offensiv verneint wird, bleibt in vielen Fällen unklar, welche Bedeutung die Phrase anstatt dessen haben soll. Eine Möglichkeit wäre, unter dem „Regel‑ oder Normalfall“ das Nichtvorliegen ungünstiger externer, kausaler Faktoren zu verstehen. Doch dies haben wir oben schon zurückgewiesen; die in diesem Gedanken vorausgesetzte ansichseiende Normativität solcher Faktoren ist mit Hegel nicht zu denken. An die internen Faktoren, deren Normativität qua Geist Hegel im obigen Zitat betont, hingegen denkt die Debatte kaum bis gar nicht. Nimmt man sie nun in den Blick – hier zunächst: den ersten der beiden unterschiedenen internen Faktoren, der die begrifflichen Vermögen betrifft – tritt ein eigentlich selbstverständlicher Gedanke inmitten philosophischer Verstellung deutlich hervor: dass besonders ausgeprägte Fähigkeiten gerade nicht der „Regel‑ oder Normalfall“ sind, sondern eine Seltenheit sind – allerdings Vgl. McDowell 1998b.
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eine, die Individuen mit weit geringer ausgeprägter Fähigkeit gerade nicht als irrelevant für ihr Selbstverständnis als Individuen mit dieser beschränkten Fähigkeit (und auf dem Weg zu ihrer besseren Ausprägung) betrachten. Das hingebungsvolle Erlernen einer Fähigkeit ist in nicht akzidenteller Weise an Vorbildern orientiert, die eine seltene Ausprägung dieser Fähigkeit besitzen; diese stellen als Ausnahmefall also den Maßstab dar. Kinder haben dies – mit ihrem noch unverstellten und vom Diktat des Mittelmaßes noch weitgehend freien Bewusstsein – besonders klar im Sinn, was sich in ihrem begeisterten Nacheifern ihrer Vorbilder zeigt. Dass ein kleines Kind „einmal so gut“ Fußballspielen will „wie dieser oder jener Profi“ bringt diese Wahrheit ans Licht. Und auch unser sonstiger alltäglicher Sprachgebrauch verrät bisweilen, dass wir eine recht begrenzte Ausprägung einer Fähigkeit nicht als in sich genügende „Basis“ auffassen, der gegenüber die seltenen Ausprägungen dieser Fähigkeit als bloß äußerlich hinzutretende, gleichsam luxuriöse Schicht erscheinen: So sagen wir eben nicht, dass im Falle der Abfahrt-Olympiasiegerin zu ihrer mit uns Hobby-Skifahrern voll geteilten Fähigkeit des Skifahrens noch die Fähigkeit, Olympiarennen zu gewinnen, äußerlich hinzugetreten sei.38 Vielmehr sagen wir: „Ich würde es auch gerne so gut können wie sie!“ Oder auch nur: „Ich würde das auch gerne können!“ Unwillkürlich werden uns hier vor allem Beispiele aus der ästhetischen Praxis einfallen, an denen dieser Punkt noch unmittelbarer deutlich wird: Ein Geigenvirtuose ist nicht ein Individuum, das zur „allgemeinen“, mit Dilettanten voll geteilten basalen Fähigkeit noch die Zusatzfähigkeit namens „Virtuosität“ hinzuerworben hätte; er ist vielmehr Ideal und Maßstab des Violinspiels für diejenigen, die sich dieser Fähigkeit und ihrer normativen Kraft wahrhaft stellen, sich ihr aussetzen. Der Gedanke der normativen Kraft, die von einem Vorbild in Bezug auf eine Fähigkeit ausgeht, führt uns zu einer wichtigen Differenzierung: Es ist richtig, dass wir uns mit einem beschränkten Maß an Fähigkeit begnügen können – etwa, wenn man sagt, dass man eben „nur zum eigenen Vergnügen“ Skifahren möchte und es dafür „unwichtig“ sei, wie gut die Fähigkeit dann „im Vergleich zu anderen“ sein mag. Es wäre allerdings falsch zu sagen – und das tut derjenige, der so spricht, interessanterweise auch nicht –, dass dies die normative Skala, die durch verschiedene individuelle Vertreter dieser Fähigkeit schon aufgespannt ist, in irgendeiner Weise relativieren oder gar annihilieren würde oder auch nur wollte. Vielmehr sagt der Hobbyskifahrer ja gerade, dass er sich nicht gemäß dieser Skala betrachtet – was bedeutet, dass es einen guten Sinn hat, dies zu tun; womit er zugibt, dass die Skala von ihm also als solche anerkannt ist. Genau von daher rührt ja der Druck, der ihn erst zur Erklärung zwingt, sich selbst nicht am Maßstab der Skala zu messen oder messen zu wollen. 38 Kern 2006 und 2017 hat einen ausgeprägten Sinn für Beispiele dieser Art – kann sie aber aufgrund ihrer Version der Passivitätsauffassung nicht hinreichend für ein hegelsches Verständnis der Wahrnehmung (oder Anschauung) fruchtbar machen.
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Es muss im Lichte dessen als abwegig erscheinen, als Maßstab oder Eichung der Beurteilung einer Fähigkeit entweder ein sehr beschränktes Maß ihrer Ausprägung oder aber die trivialsten Fälle ihrer Ausübung zu wählen. Genau dies aber wäre es, was man gerechtfertigt und mit einem klaren Sinn des Wortes den „Normalfall“ nennen könnte. Der Gedanke einer exzeptionellen Ausprägung einer Fähigkeit impliziert ja gerade, dass es nicht-exzeptionell und in diesem Sinne „normal“ ist, die Fähigkeit nicht oder jedenfalls nur in deutlich minderer Ausprägung zu besitzen. Und auch die trivial(st)en Fälle der Ausübung einer Fähigkeit sind durchaus der „Normalfall“ in dem Sinne, dass das durchschnittliche und alltägliche Leben als solches gerade dadurch definiert ist, dass es entlang solcher Fälle verläuft. Der „Normalfall“ in diesen Bedeutungen ist nun aber gerade nicht das, womit der Geist als Geist zufrieden sein kann; und die Auskunft, wir würden etwas dann gut können, wenn wir den „Normalfall“ beherrschen können, beruhigt ihn ganz und gar nicht. Mit Hegel39 ist also zu sagen, dass das Geistige letztlich nicht nach der Logik der Durchschnittlichkeit funktioniert – so sehr das darin Vorkommende die erlernte Voraussetzung für die Vollzüge des subjektiven Geistes noch in dessen Abstoßungswillen davon ist. Reflektiert man auf die internen Faktoren der Anschauung, ist dies schon für das „niedrige“ geistige Vermögen der „Anschauung“ einsichtig – und nicht erst für die „höheren“, etwa die Vollzüge des absoluten Geistes. Das hat wesentlich damit zu tun, dass das Drängen auf echte individuelle Ausprägung im Geist qua Geist liegt – und ja auch die sinnliche Anschauung als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen schon durch und durch geistig ist. Der Geist, so drückt Hegel dies auch aus, artikuliert sich letztlich weder nach der Logik von „Allgemeinheit“, die alle individuelle Ausprägung planiert, da ihr gegenüber jedes Moment der „Besonderheit“ nur als vom Regel‑ und Normalfall abweichende Ausnahme – die die Regel bekanntlich bestätigt – oder gar Abirrung erscheint; noch artikuliert er sich nach der Logik von „Besonderheit“, welche sich – umgekehrt – jedweder „allgemeinen“ und damit verbindlichen normativen Skala entziehen würde. Die zweitgenannte Logik ist die Logik des Privaten, die dann vorliegt, wenn etwa die Berufung auf das Skifahren als mein Vergnügen totalisiert und gegen die Gültigkeit und Zumutung einer normativen Skala als solcher ausgespielt wird; die erstgenannte Logik hingegen ist deren Rückseite: die Logik der Öffentlichkeit im Sinne einer Logik des geteilten Durchschnittlichen.40 Sie ist verwandt mit den Mechanismen der Natur. Dieser Befund ist kein Zufall: Die epistemologischen 39 Und wohl, wie zuzugeben ist, zugleich auch gegen ihn: Denn es gibt Stellen, wo Hegel seine – berechtigte – Kritik an einer Aufspreizung des Individuellen zum Absoluten mit einer Kritik am Individuellen überhaupt zu vermengen scheint. Etwa, wenn er die bürgerliche Gewohnheit als protestantische Tugend preist, die die – wie mir scheint: in gutem Sinne aufs Individuelle gehenden – Tugenden des Katholizismus überwunden und abgelöst hätte. Vgl. dazu das Kapitel zur „Reformation“ in den VPhG. 40 Axel Hutter hat im Anschluss an Hannah Arendt einmal den treffenden Ausdruck der „Bosheit des Banalen“ geprägt.
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Vertreter dieser Logik sind ja gerade diejenigen, die unsere geistigen Fähigkeiten als natürliche Fähigkeiten – und sei es im Sinne einer „zweiten“ Natur – auffassen wollen. Für die Natur gilt in der Tat, dass nur dasjenige existieren und gesund sein kann, was gewisse Extreme vermeidet. Die Grenzen dafür mögen unscharf sein – weshalb es immer wieder überraschte Berichte darüber gibt, dass ein bestimmtes Lebewesen trotz dieser oder jener Umweltfaktoren überleben konnte. Diese werden – mit Recht – als Ausnahme‑ oder Grenzfälle aufgefasst. Eine an dieser Logik orientierte Auffassung geistiger Fähigkeiten stellt diejenigen herausragenden Individuen, die über eine besondere Ausprägung einer bestimmten Fähigkeit verfügen, als aus dem Normbereich herausgefallene Extreme dar; dies zeigt sich an der Rhetorik, man dachte, „eine solche Virtuosität am Flügel könne es gar nicht geben“. Eine solche Rhetorik ist höchst zweideutig: ihre Bedeutung schillert zwischen der – verkehrten – Voraussetzung, dass das Normale der Maßstab sei, ganz wie im Falle der Natur, und der – richtigen – Einsicht, dass der Geist uns staunen lässt, weil seine exzeptionellen Hervorbringungen einen offenbarenden Charakter haben, den die Natur (oder etwas Natürliches) prinzipiell nicht haben kann. Fassen wir zusammen: In Bezug auf den internen Faktor der begrifflichen Kompetenz hat die Phrase vom „Gelingen im Regel‑ und Normalfall“ also keine sinnvolle Anwendung, sofern sie die individuenvariante Ausprägung von Kompetenz und die Differenz zwischen trivialen und schwierigen Einzelfällen ihrer Ausübung betreffen soll. Von dieser Phrase bleibt sodann nicht mehr übrig als die so richtige wie triviale Feststellung, dass die Zuschreibung einer Fähigkeit zu einem bestimmten Individuum die Erwartung ihrer gelegentlich gelingenden Ausübung durch dieses Individuum impliziert und rechtfertigt. Es wäre in der Tat schlicht Unsinn – oder ein Scherz – zu sagen, jemand könne gut Tennisspielen, aber er könne diese Fähigkeit prinzipiell nicht ausüben oder sichtbar unter Beweis stellen. Von jemandem, dem wir eine gute Fähigkeit zuschreiben, können wir zudem gerechtfertigt erwarten, dass er schwierigere Fälle ihrer Ausübung eher beherrscht als jemand, dem wir eine schlechtere zuschreiben. Was wir aber nicht erwarten können – und, wie schon im Falle des Tennisspielens deutlich wird, auch tatsächlich nicht erwarten –, ist, dass er jeden möglichen Fall der Ausübung beherrscht. Darin besteht ja gerade der Reiz von Duellen auf „höchstem Niveau“ – dass darin selbst die besten Tennisspieler „untergehen“ können. Das gilt nun gleichermaßen für die Anschauungsfähigkeit. Auch sie hat keine absolute Grenze, deren Erreichen ein Gelingen in jedem Fall garantieren könnte. Der Eindruck, es könnte anders sein, kann sich für die Philosophie nur dadurch ergeben, dass sie ihre Auffassung am Trivialen eicht. Dass wir selten bis nie eine Schwierigkeit haben, ein Buch als blau zu sehen, ist im Lichte der hegelschen Auffassung genauso wenig überraschend wie die Tatsache, dass ein Tennisprofi selten bis nie Schwierigkeiten hat, seinen Schläger richtig in der Hand zu
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halten. Nun sehen wir aber klar, dass eine Fokussierung auf das Triviale und sein „Gelingen“ den Schein erhärtet, dessen Theoretisierung die Passivitätsauffassung ist: Es scheint dann nämlich so, als ob die Welt sich uns vollends zuverlässig und beständig als so-und-so zeigen würde, dass damit ihr die – ewige – Fähigkeit zuzuschreiben ist, den Wahrnehmungsprozess zu beginnen, genauer: als ihre – qua „materielle[r] Substanz“ ewige – Tätigkeit. Dass es keinen Grund für eine Skepsis bezüglich der Wahrnehmung des blauen Buches gibt, liegt nach Hegel nicht in der Zuverlässigkeit des sich-Zeigens dieses Buches als blau begründet, sondern in unserer Zuverlässigkeit: dass wir als erwachsene, wahrnehmungsfähige Subjekte zumindest derart triviale Fälle zuverlässig beherrschen. Der Gedanke der Möglichkeit, niemand könne einen Tennisschläger halten, ist der Gedanke der Möglichkeit, dass es das Tennisspiel nicht gibt – nicht, dass man eine ewige, von sich her bestehende Aufgabe, den Tennisschläger zu halten, auch verfehlen könnte. Ganz genauso mit der Wahrnehmung derart trivialer Fälle: Der (vermeintlich) radikal skeptische Gedanke der Möglichkeit, niemand könne das blaue Buch als blau wahrnehmen, ist sinnvoll nur als der Gedanke der Möglichkeit, dass es uns als wahrnehmende Subjekte, wie wir faktisch sind, nicht gibt – nicht aber als der Gedanke, dass wir als wahrnehmende Subjekte vom ewigen Akt des sich-Zeigens der Natur abgekoppelt sein könnten. Diese am hegelschen Geistbegriff entwickelten Gedanken können wir nun in einem weiteren Schritt vertiefen und auf die Frage nach dem Disjunktivismus beziehen. Mit Hegels Begriff des Geistes kann eine metaphysische Begründung dafür gegeben werden, warum es so ist, dass wir nicht im Anschauungsakt spontan wissen, ob unsere Kompetenzen für diesen Akt und sein „Gelingen“ ausreichen: Der subjektive Geist mitsamt seiner normativen Wirklichkeit ist wirklich durch die Akte individueller endlicher Subjekte (vgl. Kapitel 5). Das bedeutet einerseits, dass diese individuellen Subjekte (oder gar ein bestimmtes von ihnen) nicht die Wirklichkeit des subjektiven Geistes im Ganzen erschöpfen oder sich ihrer gar bemächtigen können, andererseits, dass „der subjektive Geist“ nicht als (vollkommener) Akteur neben ihnen auftreten kann. Daraus ergeben sich näherhin folgende Zusammenhänge, wieder am Beispiel des Heraushörens einer Oboe aus dem Gesamtklang eines Orchesters verdeutlicht: Wenn ich keine Oboe gehört habe, so kann ich nicht wissen, dass dieses Hören gelingend, adäquat war. Denn ich weiß nicht, wie ein anderes Individuum hören würde, das über eine stärker ausgeprägte Hörfähigkeit verfügt. Die Begrenzung, die der subjektive Geist, insofern er in mir realisiert ist, hat, zeigt sich damit erneut als keine dem Geist als Geist externe, sondern lediglich eine mir als Individuum externe. Diese Begrenzung erstreckt sich nun aber nicht nur synchron, sondern auch diachron über die Menschheits‑ und Geistesgeschichte. Der subjektive Geist im Ganzen ist auf seine Zukunft hin offen, entsprechend der Möglichkeit des künftigen Auftretens neu befähigter Individuen, die seine innere Normativität neu eichen. Damit zu rechnen, dass ein kompetenteres Individuum kommen und „besser“ hören könn-
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te, ist nicht bloß Ausdruck der Tugend der Bescheidenheit, sondern Ausdruck von Selbsterkenntnis. Ein ausgezeichneter Dirigent mag ein hervorragender Hörer Bachs sein – und doch kann er und hat er damit zu rechnen, dass ein noch adäquaterer Bach-Hörer kommen wird. Dieses Beispiel hat erneut – und nicht zufällig – eine ästhetische Dimension. Doch bereits in seiner epistemischen – und an sich noch nicht ästhetischen – Dimension gilt dieses Beispiel: Die Weise, wie ich das komplexe Verhältnis gewisser Harmonien oder Melodiebewegungen zueinander höre und darauf basierend musikalisch arbeiten kann, ist grundsätzlich überbietbar. Damit einher geht, dass die Skala einer solchen Kompetenz nach oben hin nicht definit begrenzt ist, wir gewiss kein apriorisches Wissen von einer solchen Begrenzung haben können. Dies trifft in grundsätzlicher Weise auf Kompetenzen zu, nicht nur auf ästhetisch aparte Anschauungshandlungen, ja nicht einmal bloß auf Anschauungshandlungen. Dass wir kein apriorisches Wissen von einer solchen Begrenzung haben, führt dazu, dass wir geneigt sind, die obere Grenze dieser Skala durch das bisher beste Individuum – gerade, wenn es seit langem das beste war und ist – definiert zu denken. Darin ist der Zeitindex schon explizit gemacht. Entsprechend reagieren wir überrascht, wenn die Kompetenz oder Fähigkeit dieses Individuums plötzlich durch die eines anderen Individuums überboten wird. Beispiele hierfür gibt es zahlreiche – aus dem Sport wie aus der musikalischen Praxis. Sie gehen – manchmal – einher mit dem oben beschriebenen Staunen, das sich in dem Satz ausdrücken mag, man hätte „nie gedacht, dass so etwas möglich sein würde“, dass „so etwas kommen könnte“. Man stellt dann fest, nun sei ein „neuer Fußball“ oder eine „neue Bachinterpretation“ entstanden. Sie können aber aufgrund ihrer Diskontinuität zum Bisherigen auch eine ganz andere Reaktion der Zurückgebliebenen provozieren: Dass diese trotzig die „Güte“ ihrer Anschauungen behaupten und „den Neuen“ als „Spinner“ abtun. Das ist nicht nur böser Wille, sondern notwendig so: Sie können ja nicht hören wie „der Neue“ und das, was er darüber sagt, nicht „einordnen“. Das kann damit einhergehen, dass sich seine exzeptionelle Güte nicht in die Normativität „des subjektiven Geistes“ einflechten kann; sodass weder ein anderer hören kann wie er, noch, dass er jemals von diesen anderen anerkannt wird. Doch der wahrhaft große Geist ist nicht von solcher Anerkennung anderer endlicher Subjekte abhängig; er weiß sich qua großer Geist in der Anerkennung des absoluten Geistes. Die Erweiterung der Güte des subjektiven Geistes ist also nach oben hin offen in dem Sinne, dass es gewiss kein von uns apriorisch gewusstes, definiertes und definierendes Maximum gibt. Sie ist aber nicht nach oben hin offen in dem Sinne, dass der Geist seinen Begriff – Einzelnes jenseits aller Durchschnittlichkeit zu sein – auf der Ebene des subjektiven Geistes schon voll erfüllen könnte. Auch das lässt sich durchaus anschaulich klarmachen: Nur solange der „neue, ganz andere“ Bach-Hörer sein Hören auf das „alte“ Hören beziehen kann, lässt es sich demgegenüber überhaupt als „neues“ Hören verstehen. Es kann nur
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„besser“ oder „feiner“, nie „von ganz anderer Art“ sein; aber wenn er diese oder jene Akkorde „feiner“ hört, hört er doch die Akkorde, die auch andere hören und die er vorher selbst „weniger fein“ gehört hat; er könnte also ohne sein vormaliges Hören das Neue auch nicht als demgegenüber neu dartun. Man stelle sich vor, er würde plötzlich ein Flüstern Gottes hören anstatt eines musikalischen Klanges; das wäre wahrhaft neu, aber nicht als neues Hören dieses oder jenes Akkords beschreibbar. Es mag nun gut sein, dass durch die Akkorde hindurch die Stimme Gottes vernehmbar wird: Das sind die unendlich befreienden Ausbruchsmomente aus dem subjektiven Geist – etwa, wo vom gelehrten Hören zum ästhetischen Hören übergegangen wird. Diese sind als solche aber gerade nicht als Erweiterung des subjektiven Geistes zu beschreiben. Vielmehr handelt es sich um das Aufleuchten des absoluten Geistes; an einem weiteren konkreten Beispiel: dass nun – etwa in der jungen Biographie eines musikalischen Kindes – Schönberg erstmals ästhetisch und nicht nur technisch gehört und eingeordnet wird, dass der absolute Geist das Kind (jedenfalls bezogen auf diese Musik) also erstmals angesprochen hat. Von einem „ganz Neuen“ können wir aber auch beim Auftreten von Schönberg in der Musikgeschichte reden; von einem Kategoriensprung innerhalb des absoluten Geistes in seiner historischen Entfaltung. In der Tat: Es ist ein Sprung von der Architektur zur klassischen Musik, von Bach zu Schönberg, oder vom Animismus zur Trinitätslehre – welchen jeweiligen Werts auch immer. All das aber ist nicht mehr auf der Ebene des subjektiven Geistes beschreibbar und verhandelbar. Damit vorerst zurück zum subjektiven Geist. Dass es auch dort vernünftig ist, damit zu rechnen, dass ein noch kompetenteres Individuum folgen wird – dass so frei selbst der subjektive Geist ist –, ist also wesentlich verbunden mit der recht verstandenen Idee der Kompetenz selbst. Mit Hegel können wir diesen Gedanken in seiner metaphysischen Tiefe durchdringen: Die logische Kategorie des Geistes ist die Einzelheit oder Individualität – nicht die Allgemeinheit oder Besonderheit, welche nur Momente der Einzelheit sind und, von ihr abstrahiert, Verkehrungen; eine unversöhnte und unversöhnliche Abhängigkeit von der Allgemeinheit aber wohnt dem subjektiven Geist inne, wie wir eben gesehen haben; weshalb er am Maßstab des Geistes insgesamt gemessen ein bleibendes verkehrtes Moment hat gegenüber dem absoluten Geist. Der Einzelheit genügt der subjektive Geist jedoch insofern, als er in Individuen realisiert ist, die – als geistige Wesen – intern miteinander dadurch verbunden sind, dass sie geistige Wesen sind. Insofern sie geistige Wesen sind, ist eine Überbietung des einen Individuums durch ein anderes eine interne Selbstüberbietung des Geistes selbst; zugleich aber, insofern sie Individuen sind, handelt es sich um die Überbietung des einen Individuums durch ein anderes Individuum: eine externe Überbietung qua Individuen. Eine Konzeption des Geistes nach der logischen Kategorie der Besonderheit wäre eine, die solche Überbietung nur als extern und in keinem Sinne als intern begreifen könnte – sie wäre damit keine Konzeption des Geistes
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mehr, weil die Kompetenzen dem Individuum als Individuum anhaften würden so, dass von „Geist“ nicht mehr qualifiziert die Rede sein könnte. Eine Konzeption des Geistes nach der logischen Kategorie der Allgemeinheit hingegen wäre eine, die solche Überbietung nur als intern – und in keinem qualifizierten Sinne – als extern begreifen könnte; auch sie wäre keine Konzeption des Geistes mehr, weil sie ein individuelles Kompetenzdefizit gleichsam als bloßen Schein auffassen und somit die Negativität, ein Fehlen des Geistes als unwirklich behaupten müsste. Nun haben wir die geistigen Wurzeln der Logik von Kompetenzen tief genug verfolgt, um zu begreifen, wie sich (Defizienz‑)Faktor (1) zur Frage nach dem Disjunktivismus verhält: Da es kein vorheriges Wissen von einer möglichen künftigen, höheren Ausprägung der betreffenden Kompetenz geben kann und ebenso nicht davon, welches Maß an Ausprägung einer betreffenden Kompetenz für eine bestimmte Anschauung zu einem bestimmten Zweck nötig ist, kann es kein spontanes, erstpersonales, mit dieser Anschauung intern verbundenes Wissen von deren qua Maßstab erst festgelegtem Gelingen – kein solches Wissen des Wissens – geben. Ein solches würde den Geist punktualisieren, wie dies bei Rödl in der Tat der Fall ist. Das bedeutet, wie gesagt, nicht, dass es nicht viele Anschauungsfälle geben kann und gibt – sei es durch das niedrige Maß erforderlicher Kompetenz (z. B. für unsere Anschauung von Bananen als reif ) oder durch das hohe Maß vorhandener Kompetenz (z. B. für die Anschauung einer Lungenentzündung im Thorax-Röntgen durch eine gute Ärztin) bedingt –, in denen es vernünftig und gerechtfertigt ist, nicht am Gelingen der jeweiligen Anschauung zu zweifeln. Doch dass es vernünftig ist, nicht am Gelingen der jeweiligen Anschauung zu zweifeln, bedeutet eben nicht, dass ein in sich geschlossenes Wissen des Gelingens – ein solches Wissen des Wissens – vorliegen würde. Das lässt sich besonders deutlich daran zeigen, unter welchen Bedingungen wir ein nicht-Zweifeln als unvernünftig beurteilen: nämlich dann, wenn ein Individuum selbst Zweifel an seiner Kompetenz hat und sich in Bezug auf eine in Frage stehende Einzelanschauung dennoch darauf verlässt; oder dann, wenn die Person namhaft zu machende Gründe zum Zweifel an ihrer Kompetenz hätte – etwa aufgrund einer schon evident gewordenen Begrenztheit –, aber aufgrund ihrer Eitelkeit keine Zweifel zugeben oder zulassen will; oder dann, wenn sehr Wichtiges von der in Frage stehenden Anschauung abhängt (z. B. das Überleben eines Patienten von der ärztlichen Beurteilung eines bestimmten Röntgenbildes). Sind derartige Bedingungen nicht gegeben, bezeichnen wir das nicht-Zweifeln als vernünftig – selbst dann, wenn sich später herausstellen sollte, dass ein anderes Individuum (z. B. ein noch besserer Arzt) besser sinnlich angeschaut und damit anders diagnostiziert hätte. Daran wird die Differenz zwischen dem Gedanken eines „Wissens des Wissens (oder Gelingens)“, worin der Disjunktivismus im Kern besteht, und dem Gedanken der „Vernünftigkeit des nicht-Zweifelns“ deutlich. Erstere meint die geschlossene und atomare
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Gewissheit des individuellen endlichen Subjekts, die ihrer Form nach der von Hegel als Verabsolutierung des Gedankens des formalen Selbstbewusstseins begriffenen „Gewissheit seiner selbst“ gleicht und gerade aufgrund dieses geschlossen-atomaren Charakters un-vernünftig ist. (Die „Vernunft“ ist genau deshalb eine Stufe, die in der Phänomenologie des Geistes erst nach kritischer Überwindung dieser geschlossen-atomaren „Gewissheit seiner selbst“ auftritt.) Zweitere hingegen impliziert die Berücksichtigung des – intersubjektiven wie auch institutionellen – Kontexts für die Beurteilung eines Zweifels. Zur Verdeutlichung der institutionellen Dimension dient erneut das Beispiel der ärztlichen Diagnose: Die konkrete Situation des Patienten, aber auch der bestehende Zeitdruck und die verfügbaren personellen Ressourcen etwa können Eingang in die Bewertung des Zweifels als vernünftig oder unvernünftig finden. So mag es vernünftig sein, einen ärztlichen Kollegen, der gerade neben einem sitzt, zur Sicherheit einen raschen Blick auf das Thorax-Röntgen eines etwas rätselhaften Patienten werfen zu lassen, nicht aber, aus Prinzip jedes Thorax-Röntgen der gesamten Ärzteschaft einer Abteilung vorzulegen. Das wäre ein – wie wir mit Recht sagen – unvernünftiger Umgang mit Ressourcen. Während wir im ersten Fall den Verzicht auf den leicht verfügbaren raschen Blick des Kollegen mit einigem Recht als unvernünftig, leichtfertig oder fahrlässig kritisieren mögen – gerade, wenn sich herausstellen könnte, dass sich hinter der Rätselhaftigkeit des Patienten ein komplexeres medizinisches Problem verbarg –, wäre einem Arzt des zweiten Falls selbst bei im Nachhinein als falsch beurteilter Diagnose nicht vorzuwerfen, er habe unvernünftig gehandelt, weil er das Röntgenbild nicht allen Ärzten seiner Abteilung gezeigt hatte.41 Nun könnte man meinen, wir hätten in dieser Betrachtung soeben unter der Hand das Thema gewechselt: von der Vernünftigkeit des Zweifelns zur Vernünftigkeit eines Handelns. Doch das ist nicht der Fall. Sobald wir uns eine reale und einigermaßen komplexe Handlungssituation ansehen, ist die Instanz der Feststellung des (Nicht‑)Zweifelns nicht – allein und wiederum atomar – die Selbsteinschätzung des Individuums; sondern es zeigt sich in dessen (nicht)-so-oder-so-Handeln, ob es gezweifelt hat oder nicht. Der Kollege aus dem ersten Fall, dem das Röntgenbild nicht gezeigt wurde, kann mit Recht zu seinem Kollegen sagen, es sei unvernünftig gewesen, nicht zu zweifeln, und als Begründung für sein Urteil, er habe nicht gezweifelt, das Ausbleiben der Konsultierung angeben. Entgegnet der Kollege dann, er habe sehr wohl gezweifelt, aber dennoch darauf verzichtet, ihm das Röntgenbild zu zeigen, wäre zu sagen: Hat er damit recht, hat er schlicht irrational qua inkonsistent gehandelt. Wenn wir solches in derartigen Situationen nicht grundsätzlich annehmen wollen, müssen wir Auskünfte dieser Art anders lesen: Das Individuum 41 Durch seine ganzen Arbeiten hindurch hat Pirmin Stekeler-Weithofer auf derartige Zusammenhänge hingewiesen. Stanley 2005 hat einige dieser Zusammenhänge unter dem Begriff des „epistemischen Kontextualismus“ in die zeitgenössische Debatte neu eingebracht.
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verschleiert, gibt nicht zu, dass es eben in Wahrheit doch nicht so gezweifelt hat, wie es in diesem Fall vernünftig gewesen wäre. Ad (2): Kommen wir nun zur Diskussion von (Defizienz‑)Faktor (2), dem Grad oder Maß an (sinnlicher) Aufmerksamkeit, das – willentlich – in eine bestimmte Einzelanschauung „investiert“ ist. Im Zusatz zu § 448 ist eindrücklich dargestellt, wie klar Hegel diesen Faktor als eine genuine geistige Leistung erkannt und hervorgehoben hat: Es ist nicht so, „daß die Aufmerksamkeit etwas Leichtes sey. Sie erfordert vielmehr eine Anstrengung, da der Mensch, wenn er den Einen Gegenstand erfassen will, von allem Anderen, von allen den tausend in seinem Kopfe sich bewegenden Dingen, von seinen sonstigen Interessen, sogar von seiner eigenen Person abstrahiren [muss.]“42
In Bezug auf das Problem des Disjunktivismus lautet die Frage nun: Gibt es von der Angemessenheit des Maßes oder Grades der Aufmerksamkeit ein erstpersonales, spontanes Wissen? Weiß ich, dass eine Einzelanschauung gelingt, weil ich weiß, dass ich meine Aufmerksamkeit hinreichend darauf richte (eine hinreichende begriffliche Kompetenz einmal vorausgesetzt)? Auch die Antwort darauf ist ein klares Nein. Denn welcher Grad für die in Frage stehende Anschauung erforderlich ist, kann das Subjekt ja gar nicht vor oder im Akt der Anschauung selbst wissen; zum Urteil, dass zum Erreichen eines bestimmten Zieles ein höherer Grad erforderlich gewesen wäre, kann es nur kommen, wenn es seine Anschauung (logisch nachträglich) mit einer anderen vergleicht. Denn im Akt selbst stellt es sich so dar: das Subjekt hört dieses oder jenes nicht – und kann im Akt nun entsprechend nicht wissen, ob es dieses oder jenes aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit nicht hört. Denn es könnte ja auch sein, dass es selbiges deshalb nicht hört, weil es dies – einem gewissen Maßstab entsprechend – gar nicht zu hören gibt. Auch dies lässt sich an anschaulichen, aus unserer Selbsterfahrung bekannten Beispielen konkret entwickeln: Wenn wir etwa absorbiert sind von Gedanken an einen Streit mit Freunden, so ist es offen, ob die Kapazität an Aufmerksamkeit, die wir unter den geschilderten Umständen für eine Unterhaltung mit Kollegen aufbringen können, ausreicht, um ihr wirklich zu folgen. Das hängt zum einen davon ab, was wir mit „der Unterhaltung folgen“ genau meinen: für bloßes hörendes Aufschnappen von Stichworten, um das grobe Thema der Unterhaltung mitzubekommen, reicht ein weitaus geringerer Grad an Aufmerksamkeit als zum genauen Mithören von der Art, dass man sich vernünftig an der Unterhaltung beteiligen könnte. Zum anderen hängt es aber auch davon ab, wie komplex und aufmerksamkeitsfordernd die Unterhaltung ist. Wenn sie in der Erzählung, was es heute für jeden zum Mittagessen gab, besteht, erfordert das Verfolgen dieser Unterhaltung einen weitaus geringeren Grad an Aufmerksamkeit, als dies für eine Unterhaltung zur Signifikanz der Spätphilosophie Wittgensteins gilt. Nun zeigen wir in solchen VSG Zusätze, 1095.
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Situationen tatsächlich ein Bewusstsein des mit (Defizienz‑)Faktor (2) verbundenen Problems. Wir sagen auf Nachfrage, wovon in der Unterhaltung die Rede war, dass wir nicht sicher sind, ob wir alles hinreichend „mitbekommen“ haben, da wir „nicht recht aufmerksam“ waren. Es ist richtig, dass wir nicht überzeugt sagen, dieses oder jenes wurde besprochen, wenn wir glauben, dass wir nicht so aufmerksam waren, wie wir es gewöhnlich für das Verfolgen einer Unterhaltung für angemessen erachten; denn es kann – und darin ist (Defizienz‑)Faktor (2) tatsächlich ein Defizienzfaktor – sein, dass uns durch den geringeren Grad an Aufmerksamkeit etwas entgangen ist, etwa ein ironischer Unterton oder auch ein Gesprächsstück. Es ist aber ebenso richtig, dass wir nicht ausschließen, mitbekommen zu haben, worum es in der Unterhaltung gegangen ist: denn es könnte ja sein, dass es in der Unterhaltung gar nicht mehr mitzubekommen gab, als wir mitbekommen haben. Das Beispiel offenbart auch, dass die Überlegungen zur „Vernünftigkeit des (nicht‑)Zweifelns“ aus der Diskussion von Faktor (1) hier ganz analog gelten. Es ist beispielsweise vernünftig, nicht daran zu zweifeln, dass ich neben dem Anziehen meiner Schuhe mitbekommen habe, was meine Frau angemerkt hat – jedenfalls, wenn ich annehmen darf, gerade halbwegs alltagstauglich zu sein; es ist beispielsweise unvernünftig, nicht daran zu zweifeln, ob ich im – sehr wichtigen – Krisengespräch mit meiner Tochter alle Untertöne mitbekommen habe, wenn ich mich dabei ertappt habe, nebenher an ein offenes Sachproblem meines jüngsten Aufsatzprojekts gedacht zu haben.43 An Beispielen dieser Art können wir uns begrifflich klarmachen, was es bedeutet, in etwas so „vertieft“ zu sein – und damit in sich selbst so vertieft zu sein –, dass dies die Anschauung der Umgebung zu einem gewissen Grad ausschaltet. Und gerade in diesem „Vertieftsein“ lässt sich wie in einem Brennglas die Differenz zu allem Natürlichen und Tierischem – zum tierischen Verhalten – erblicken. Die menschliche Anschauung kann auf eine ausgezeichnete Weise scheitern – darin, dass die willentlich geleitete Aufmerksamkeit an etwas gebunden ist, das nur dem Menschen, als geistigem Wesen, zugänglich ist, da seine Welt sich nicht im Sinnlichen erschöpft, da er sich nach innen richtet, „in sich geht“, wie wir sagen; dadurch also, dass er sich der Sinnlichkeit verschließen kann. So wird die Geistigkeit des Menschen also modo negativo sichtbar: indem er nicht immer beim und im Sinnlichen ist, wie dies für ein Tier gilt, das nicht 43 Wir können nun auch klar sagen, warum derartige Fälle nicht der in Abschnitt 5.1 dargestellten Einsicht widersprechen, dass ein Subjekt in seiner Anschauung notwendig alle Begriffe aktualisiert, über die es verfügt. Zunächst könnte es so aussehen, als würde ein geringerer Grad an Aufmerksamkeit die Aktualisierung einiger Begriffe sozusagen unterdrücken. Wenn Adam – um ein Beispiel aus Abschnitt 5.2 aufzugreifen – den grauen Film auf dem Apfel nicht sieht, so scheint bei ihm der Begriff (oder die begrifflichen Bestimmungsmomente) des „grauen Films“ nicht aktualisiert zu sein, während es sich bei Eva anders verhält. Doch der Schein trügt: Natürlich ist auch in Adams Fall dieser Begriff (oder die begrifflichen Bestimmungsmomente) aktualisiert; nur liefert er in seiner Wahrnehmung aufgrund des geringeren internen Grades an Aufmerksamkeit die in Kapitel 5 dargestellte „Fehlanzeige“.
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anders kann als auf die sinnlichen Umweltreize auch zu reagieren, das sich gleichsam im Sinnlichen verliert. Ein Tier ist in der Tat offen für die Welt – aber es ist niemals vertieft, bei sich und von der Welt weg; und genau deshalb ist es verschlossen, wie wir mit Hegel hinzuzufügen haben; es ist niemals offen für sich selbst und für den Geist. (Da wir aber, als endliche Subjekte, unsere Aufmerksamkeit gewohnheitsmäßig nach außen richten, können wir nur schwer wirklich ganz in uns gehen; daran leiden wir.) Damit ist die Diskussion des Disjunktivismus abgeschlossen. Das Wesen interner (Defizienz‑)Faktoren schließt ihn kategorisch aus.44 Die Diskussion des Disjunktivismus war auf die Bedeutung von „Gelingen“ gemäß einer epistemischen Skala fokussiert. Das war geboten, weil der Disjunktivismus in der auf Epistemologie verengten analytischen Debatte genau so definiert ist. Doch diese Verengung haben wir mit Hegel längst überwunden. Wir haben eingesehen: Eine in epistemischer Hinsicht vergröberte Anschauung ist als solche für das Haben eines Anschauungsfeldes als eines Ganzen notwendig und in diesem Sinne auch normativ „gut“. Diese normative Skala – „im Hinblick auf das Haben eines Anschauungsfeldes im Ganzen“ – nun ist eine an sich notwendige; denn sie betrifft das elementare Selbstsein der Subjekte als sinnliche Subjekte. Hegel zufolge liegt in der Anschauung, insofern sie (diese) Ganzheit realisiert, ein wesentlicher Zug des Geistes. Es ist wichtig, diesen Punkt an dieser Stelle noch einmal hervorzukehren. Er hat nämlich hinzuzutreten zu dem, was vorher in Bezug auf die individuell ausgeprägten Kompetenzen ausgeführt wurde: dass der Geist seinen auf Individualität und Einzelheit – auf Nicht-Durchschnittlichkeit – fokussierten Charakter darin (zumindest in begrenzter Weise) ausspricht. Das ist wahr, darf aber nicht gegen die ebenso wahre Einsicht ausgespielt werden, dass in der Anschauung qua Anschauung – unabhängig von ihrem etwaigen aparten, spezialistischen Inhalt – schon die Form der Geistigkeit liegt. Durch das Hinzutreten dieses Punktes entgeht Hegel einem Elitarismus, dessen Anschein in der Betonung der individuellen Ausprägung von Kompetenzen liegen könnte.45 Bei aller mit Recht behaupteten „hohen“ Geistigkeit des distinguierten Hörens einer Bach’schen Fuge; es liegt die Geistigkeit in Form der Ganzheit als solcher schon in jeder Anschauung, im schlichten Haben eines Anschauungsfeldes als Ganzem. Das mag besonders deutlich daran werden, dass wir uns – wenngleich schmerzlich – im Modus des Selbstgefühls auch im anderen, negativen Extrem gegenüber derjenigen „Erfüllung“ spüren, die im Gewahrsein der toskanischen 44 Externe (Defizienz‑)Faktoren müssen daher hier nicht mehr eigens diskutiert werden; ein Wissen des Wissens könnte nur vorliegen, wenn ein Wissen bezüglich interner und externer (Defizienz‑)Faktoren vorläge. Schon ersteres aber ist, wie gezeigt, nicht der Fall. Bezüglich der externen Faktoren dürfte jedoch klargeworden sein: Aus Hegels Begriff der kausalen Faktoren der Anschauung folgt, dass es davon in concreto nur empirisches Wissen, kein erstpersonalspontanes, geben kann. 45 Hegel zufolge ist also auch die Annahme, „mehr Differenzierung“ sei eo ipso ein Gut, nichts anderes als ein Dogma des Alltäglichen.
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Landschaft im Ganzen liegen mag: nämlich in der Langweile, die wir in der Öde der alltäglichen Umgebung fühlen mögen und deren Leere immer noch die Leere unserer selbst ist.46 Mit der Einsicht, dass ein Wesenszug der Geistigkeit also schon in der Anschauung als solcher liegt, ist somit die Einsicht in eine gewisse Ubiquität des Geistes verbunden. Damit trivialisiert Hegel das Wesen des Geistes in keiner Weise – und zwar auch deshalb nicht, weil es sich bei den qua Anschauung realisierten Ganzheiten nicht um etwas handelt, dessen philosophische Erkenntnis uns unmittelbar mitgegeben wäre. Genauer – in Anlehnung an ein Wort Wittgensteins gesprochen: Es ist dasjenige, was vor aller Augen ist und was in jedem Schritt unseres bewussten Lebens mit-vollzogen wird – und gerade das bleibt unseren Augen verborgen.47 Weil dem so ist – weil es den Augen unseres „natürlichen Bewusstseins“ verborgen ist –, ist die philosophische Selbsterkenntnis eine ausgezeichnete Realisierung des Geistes. Ihr wollen wir uns nun zuwenden. Dazu müssen wir nicht abspringen vom bisher Gesagten. Der Anschluss lässt sich vielmehr unmittelbar aus den diskutierten Beispielen herstellen: Ein philosophischer Gedanke, eine Symphonie oder ein mystisches Erlebnis packen uns, ziehen unsere volle und ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich – sodass wir, im Extremfall, alles andere ausblenden, jedenfalls nicht mehr dem Gerede um uns herum folgen können und wollen. Nun hatten wir aber eingesehen: Unsere Aufmerksamkeit kann nicht von Objekten auf sich gezogen werden. Ist diese Beschreibung unserer ästhetischen, religiösen oder philosophischen Erfahrung also zutreffend, ist die Folgerung: Was uns dort packt, ist kein Objekt. In der Tat. Es ist Geist. Ist es subjektiver Geist oder bin es gar je ich? Warum sollte das sein, wenn ich mich nicht einmal im Akt meiner Anschauung als allein Handelnder unmittelbar erkenne? Wenn es nun Geist ist, der nicht ich und auch nicht subjektiver Geist ist – dann muss es, wenn die Beschreibung zutrifft, aber ein selbst handelnder „anderer“ Geist sein, der in seinem Handeln sich in mein Handeln so einmischen kann, dass er meine Aufmerksamkeit auf sich zieht, mich aus mir selbst löst. So ist die entscheidende Frage: Ist diese Beschreibung zutreffend? Spricht sich darin wirklich nicht bloß eine eminente Redeweise aus, deren Wörtlichnehmen sodann zu einer Projektion von etwas „in uns“ in einen Geist „außer uns“ führt? Hegels Antwort ist: Philosophisch ausweisen lässt sich dieses über uns hinausliegende Ereignis des Geistes dadurch, dass man zeigt, dass es im vollzogenen Philosophieren schon geschehen ist – und zwar in der philosophischen Selbst46 All dies bedeutet, dass Hegel unter Geistigkeit nicht einen von allen Individuen gleichermaßen zu erfüllenden Leistungskatalog, ein „Bildungsprogramm“ in diesem Sinne, versteht; und dass wir auch Hegel zufolge zu denken haben, dass Individuen, die aufgrund von Krankheit oder Behinderung gewisse Akte nicht (mehr) vollziehen können, aufgrund ihrer metaphysischen Geistigkeit ihre Geistigkeit realisieren. 47 Vgl. Wittgenstein 1984a: 291 (PU I, § 89): „Wir wollen etwas verstehen, was schon offen vor unsern Augen liegt. Denn das scheinen wir, in irgendeinem Sinne, nicht zu verstehen.“
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6 Idealistische Metaphysik des Geistes vs. Materialistische Metaphysik der Natur
erkenntnis, von der wir ein wesentliches Stück gegangen sind, vom Standpunkt des „Bewusstseins“ hinein in das „einheimische Reich der Wahrheit“. In der Reflexion darauf wird sich das Ereignis des Geistes philosophisch aufweisen lassen – und von dort aus wird sich auch begreifen lassen, warum dieses Ereignis nicht nur in der Philosophie wirklich ist, sondern auch in Kunst und Religion. Daher ergibt sich diese Reihenfolge der zwei folgenden Ziel-Kapitel: zuerst die Thematisierung der Wirklichkeit des Geistes durch Reflexion auf den faktisch schon gegangenen Weg der philosophischen Selbsterkenntnis (Kapitel 7), dann die Weitung des philosophischen Blicks auf den absoluten Geist gerade in seiner Dreigestalt von Kunst, Religion und Philosophie (Kapitel 8).
7 Die Wirklichkeit des Geistes als Selbsterkenntnis Hegel unterscheidet, wie wir gesehen haben, klar und scharf zwischen Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis.1 Diese Unterscheidung ist auch für den folgenden Gedankengang von größter Wichtigkeit, von entscheidender Bedeutung. Ohne sie ist der Weg der Phänomenologie des Geistes hin zum absoluten Geist nicht zu verstehen. In noch vorbereitender Absicht lässt sich diese Unterscheidung motivieren, indem man aufzeigt, welche Implikation die Ineinssetzung von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis hat – also die Behauptung, die Selbsterkenntnis sei in irgendeinem Sinne immer schon „in mir“. Die Tatsache gegeben, dass wir nicht alle immer schon über diese Selbsterkenntnis verfügen, gibt es drei von Hegels Warte aus gleichermaßen unattraktive Spielarten dieser Behauptung: – Es wird die – notorisch unklare – Unterscheidung von „implizit“ und „explizit“ bemüht: „Implizit“ habe jedes Subjekt die Selbsterkenntnis, wenngleich es diese noch nicht „explizit“ gemacht haben muss. Doch was soll es bedeuten, sie „implizit“ zu haben? Hier verführen einen verworrene Bilder: etwa, das Deponiertsein der Selbsterkenntnis in einem dunklen Schacht meines Selbstbewusstseins. – Es wird behauptet, dass die Selbstmissverständnisse nicht wirklich, sondern nur Schein sind. Doch worin sollte dann die Ernsthaftigkeit dieser Selbstmissverständnisse wie auch diejenige ihres „Gegners“, der Selbsterkenntnis, liegen? – Es wird behauptet, dass jedes Subjekt, das einem Selbstmissverständnis aufsitzt, zugleich über die Selbsterkenntnis verfügt – sich damit also in einem elementaren logischen Widerspruch verfangen hat, den es bloß noch nicht bemerkt hat. Wie aber können so viele Subjekte in Geschichte und Gegenwart einen so einfachen Fehler begangen haben? Ist eine „Verkehrung“ wirklich bloß ein Fehler von der Kategorie, wie ihn auch Schulkinder machen? Hegel lehnt alle drei Spielarten ab. Von seiner Warte aus – im Lichte der Selbsterkenntnis – ist ein Selbstmissverständnis, das Ver-Fehlen der Selbsterkenntnis, ein expliziter, realer und in sich konsistenter geistiger Zustand. (Das individuelle 1 Schon rein äußerlich fällt auf, dass Hegel in der Enzyklopädie die Philosophie des Geistes als Ganze als Selbsterkenntnis bestimmt (vgl. Enz. 1830, § 377), Selbstbewusstsein hingegen als ein Moment der „Phänomenologie“ diskutiert (vgl. Enz. 1830, §§ 424 ff.). Allein dies zeigt schon an, dass es nach Hegel diesen kategorialen Unterschied zwischen Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein gibt.
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endliche Subjekt ist wirklich verkehrt.2) Diese Verkehrung in ihrem Verhältnis zur Selbsterkenntnis, die ihre Überwindung ist, zu begreifen – das ist wesentlicher Teil dieser Selbsterkenntnis. Den Weg der Selbsterkenntnis kann freilich überhaupt nur ein Subjekt antreten, das selbstbewusst ist. Dass wir davon ein Wissen in dem Sinne haben, dass wir in allen Vollzügen immer schon voraussetzen, dass ich ich bin, haben wir bereits festgestellt. Zu Beginn der Philosophie ist der Gebrauch dieses Wissens jedoch ein ganz bestimmter, nämlich zum Zwecke der Frage, welche die Frage der Selbsterkenntnis ist: „Wer oder was bin ich eigentlich?“ Sie richtet sich gerade auf dieses Ich, von dem ich weiß, dass ich „es“ bin; und das „eigentlich“ ist ein Verlegenheitsausdruck für das, was uns fehlt, wenn sich jemand diese Frage so wahr wie leer mit „Ich!“ – oder ein anderer sie ihm, provokativ, mit „Du!“ – beantworten würde. Diese Frage kann sich in der Tat nur ein endliches Subjekt, das sich selbst als solches gegeben ist, überhaupt stellen – denn sonst wüsste es nicht, wonach es fragen sollte –, aber auch nur ein solches, das sich nicht so gegeben ist, dass es sich in diesem Gegebensein schon voll durchsichtig ist – sonst würde es nicht fragen (müssen). Axel Hutter hat diesen Punkt als „ursprüngliche Einsicht“ Kants artikuliert, klar entwickelt und als Wesen der philosophischen Bewegung der Selbsterkenntnis ausgearbeitet. Das Ich, so Hutter, ist in diesem Ansatz der Selbsterkenntnis wesentlich ein Wesen mit „Inter-Esse“; es ist zwischen der tierischen Selbstlosigkeit, die sich selbst fraglos bleiben muss, und der göttlichen Selbsttransparenz, die keiner noch nicht beantworteten Frage über sich selbst ausgesetzt ist und sein kann.3 In dieser Zwischenstellung ist es dadurch, dass es „ich“ sagen kann, immer schon kategorial über das Tier hinaus – und, weil es aber nicht weiß, wer oder was es eigentlich ist, wenn es „ich“ sagt, in einer Weise leer, wie das Tier es niemals sein könnte. Das Herausarbeiten der Differenz zwischen Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis ist somit alles andere als eine Trivialität, sondern – wie wir schon sagten – selbst wesentlicher Teil der Selbsterkenntnis. In diesem Teil vergegenwärtige ich mir somit auch, dass ich nicht schon weiß, wer ich bin, der ich mir – und auch wenn ich mir – immer schon qua „ich“ gegeben bin. Hegel orchestriert die Differenz zwischen Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis daher auch so, dass er das Selbstbewusstsein als Wissen, aber nicht als Erkenntnis bezeichnet: sie ist ein Wissen im Sinne einer Ge-Wiss-Heit (in der das „Wissen“ buchstäblich steckt), aber mangels eines artikulierten Gehalts keine Erkenntnis. Umgekehrt ist die Kenntnis von (ohne „Er-“) und die Be-Kannt-Schaft (in der die „Kennt2 Aus diesem Grund ist auch der Vorschlag von Peperzak 1987: 37, den Weg der geistigen Selbsterkenntnis mit „‚Werde, was du bist (nämlich Geist)!‘“ zu überschreiben, strikt zurückzuweisen. Denn was das natürliche Bewusstsein vor einem Gelingen dieses Wegs ist, ist verkehrter Geist. Dieser wird er nicht auf diesem Weg – und soll er nicht werden. Die Verkehrung soll vielmehr verkehrt werden. 3 Vgl. Hutter 2003.
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nis“ buchstäblich steckt) mit philosophisch relevanten Gehalten oder Begriffen noch keine Selbsterkenntnis: Denn es ist erst zu zeigen, wie und mit welchem Recht diese auf die im Denken gestellte Frage zu beziehen sind, wer oder was ich eigentlich und wesentlich bin. Hegel formuliert die Aufgabe, diesen Bezug herzustellen, auch als Aufgabe, das Selbstbewusstsein mit dem Bewusstsein zu versöhnen. Doch wie soll überhaupt ein Gehalt in die Philosophie als Selbsterkenntnis kommen, wenn man von der Leere des „Ich bin Ich“ ausgeht? Die meisten Auskünfte über uns selbst unterbieten schon formal das Niveau dieser Frage, indem sie diese in ihrer Abgründigkeit nicht sehen oder ernst nehmen. Dem entgegen hat wiederum Axel Hutter in seinem jüngsten Buch Narrative Ontologie ein Exerzitium dieser Abgründigkeit vorgeführt4 – und sodann gezeigt, dass ein Inhalt überhaupt nur dann zustandekommen kann, wenn das Ich weder bloß in sich selbst verharrt – denn da ist soweit nur Leere –, noch einfach von sich abspringt und sich mit Aufgerafftem füllt und sättigt, gleichsam Positives konsumiert. Ein gangbarer Weg der Selbsterkenntnis besteht nach Hutter dadurch, dass das Ich ent-deckt, worin sein aus‑ und in-sich-Gewordensein besteht: zunächst – ganz anschaulich – seine biographische Lebensgeschichte und deren Form, sodann aber – weniger unmittelbar zugänglich, da tiefer liegend, deshalb aber umso wesentlicher und umso mehr einer philosophischen Erschließung bedürftig – die Geistes-Geschichte, im nicht verblasenen Sinne des Wortes, vielmehr im mehrfachen Sinne des signifikant mehrdeutigen Wortes „Geschichte“, vorzüglich sogar im Sinne der Narrativität. Dies ist nicht schlicht identisch mit dem dagegen (jedenfalls zunächst) a-geschichtlichen Weg der Phänomenologie des Geistes, den Hegel vorführt. Und doch gibt es grundlegende Gemeinsamkeit5, die zu explizieren einiges ans Licht bringt: Auch der Weg der Phänomenologie des Geistes ist in mindestens einem Sinne eine „Geschichte“: Er ist wesentlich Entwicklung; und er ist – wie sich in diesem Kapitel genauer zeigen wird – ganz wesentlich eine Ent-wicklung „des Geistes“ in seine Dimensionen des endlichen und des unendlichen (oder absoluten) Geistes; er teilt mit der Struktur des Geschichtlichen zudem, sich in Übergängen zu ereignen. Selbsterkenntnis ist er also nicht allein deshalb, weil – und in dem Sinne, dass – er einzelne positive Einsichten über uns selbst ans Licht bringt. Sondern er ist es ganz wesentlich dadurch, dass er das Überwinden verkehrter Standpunkte ist und dann zudem die Einsicht, dass ich diese nicht allein aus mir selbst hätte überwinden können. Doch freilich sind diesem Weg gewisse einzelne (positive) Einsichten über uns selbst dennoch wesentlich – und zwar zum einen deshalb, weil das, was wir über uns im Einzelnen erkennen, im Einklang zu stehen hat mit besagter Bewegung im Vgl. Hutter 2017: 3–42. Auf sie weist auch Hutter 2015 selbst hin.
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Ganzen; wenn der Geist absolut ist, so muss Einzelnes an und über uns ebenfalls geistig und geist-gemäß sein. Zum anderen aber deshalb, weil ein Übergang von x zu y offenkundig nur dann möglich ist, wenn es sich bei „x“ und „y“ um gehaltvolle, artikulierte Positionen handelt – und eine Überwindung von x hin zu y erst dann vorliegt, wenn x als verkehrt ausgewiesen werden und zugunsten von y überwunden werden konnte. Und noch eine fundamentale Gemeinsamkeit zwischen dem von Hutter aufgezeigten Weg der Selbsterkenntnis und dem mit Hegel hier gegangenen Weg der Selbsterkenntnis gibt es: Sie nehmen beide ihren konkreten Ausgang davon, dass das qua reinem Selbstbewusstsein in sich noch leere Ich faktisch bereits angefüllt ist mit vielem, was es gleichsam selbstverständlich mit sich herumträgt. Es ist sowohl angefüllt mit verkehrten Auffassungen über sich selbst – der Passivitätsauffassung und ihrem Naturalismus6 – als auch mit einer Vertrautheit mit sich selbst – z. B., im Kontext unserer Untersuchung: darin, dass es immer schon ein Anschauungsfeld als Ganzheit hat und gekonnten Umgang damit pflegt. Doch aus dieser Vertrautheit folgt nicht unmittelbar gelingende Selbsterkenntnis. Dafür sehen wir nun einen weiteren, spezifischen Grund ein: Mit den verkehrten Auffassungen, die wir mit uns herumtragen, geht eine Eichung unseres Erkenntnisbegriffs an der „Erkenntnis“ von Objekten einher, die der Selbsterkenntnis bereits ihrer Form nach widerspricht. Darin schon lag die unendliche Wichtigkeit der Überwindung des Standpunktes des „Bewusstseins“ hin zum Selbstbewusstsein. Da uns alltäglich aber nicht das Selbstbewusstsein vor Augen ist, sondern primär die in seiner Form repräsentierten Objekte, ergibt sich eine Dialektik von Vertrautheit und Fremdheit des Selbst, die Axel Hutter so entwickelt: „Das Ich, unser je eigenes Selbst, ist uns deshalb nicht das Nächste und Vertrauteste, sondern das Entfernteste und Fremdeste. So zutreffend es also […] war, die Objekterkenntnis eine ‚Fremderkenntnis‘ zu nennen, weil sie nicht uns selbst betrifft, so zutreffend ist es jetzt, die Selbsterkenntnis in einem ganz anderen Sinne als ‚fremde Erkenntnis‘ zu bezeichnen, weil sie von uns eine Erkenntnisweise fordert, die uns gänzlich fern liegt und fremd ist, da uns im Alltag allein die objektive Erkenntnis von Gegenständen vertraut ist und nahe liegt.“ 7
Der gesuchte „Inhalt“ der Selbsterkenntnis, der nicht einfach aufgerafft werden soll und darf, findet sich somit nicht in dem, was uns „nahe liegt“, sondern allein bei und in einer kritischen Überwindung dessen, was wir schon längst mit uns herumtragen. Diese Überwindung aber öffnet uns die Augen für das, was in einem gewissen Sinne immer schon vor ihnen war, von uns aber nicht (oder nicht richtig) gesehen wurde. 6 Hier liegt auch eine inhaltlich strenge Koinzidenz: Hutter spricht von der faktisch akzeptierten Annahme einer „Ontologie des sinnlosen Seins“ (Hutter 2017: 16). 7 Hutter 2017: 8.
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Damit deutet sich schon an, was wir sogleich noch genauer einsehen werden: Hegels These, dass das „gewöhnliche“ oder „natürliche“ Bewusstsein notwendig mit bestimmten (verkehrten) Auffassungen über sich selbst konfrontiert ist, ist also weniger eine Konstatierung dessen, was „man“ philosophisch gerne denkt, sondern der Hinweis auf eine Bedingung der Möglichkeit von Selbsterkenntnis. Denn nur in dieser Konfrontation kann sie überhaupt in Gang kommen und Gehalt gewinnen; und nur, wenn sie in Gang gekommen ist, kann man auf sie als dieses in-Gang-gekommene Ereignis des Geistes reflektieren. Diese Konfrontation – insofern von verkehrten Auffassungen ausgegangen wird – verschärft den Ausgangspunkt der Selbsterkenntnis: Es ist nicht nur so, dass das Subjekt vor Antritt des Weges der Selbsterkenntnis noch nicht weiß, wer oder was es eigentlich ist, sondern vielmehr so, dass das Subjekt vor Antritt dieses Weges im Hang zu einem fundamentalen Irrtum über sich selbst verstrickt ist. Wiederum Axel Hutter hat diese Logik der Selbsterkenntnis – dass sie wesentlich (als) Überwindung des Verkehrten ist – als gemeinsamen Grundzug der Philosophien Kants, Hegels und Kierkegaards herausgearbeitet, unter dem Namen des „Negativismus“.8 Er war uns in Kapitel 2 unserer Untersuchung schon aufgeleuchtet. Bei Hegel gewinnt der Geist durch die Überwindung seine Wirklichkeit: denn in der Überwindung verkehrter Auffassungen über uns selbst ereignet und zeigt er sich; und wir können einsehen – wenn wir diese Verkehrung ernst und konsequent durchdenken –, dass wir, die wir tief in dieser Verkehrung verstrickt sind, diese Überwindung nicht allein aus uns selbst haben bewirken können. Es muss sich uns vielmehr etwas erschlossen haben. Damit sind wir auf dem Weg der Selbsterkenntnis be-kannt geworden, haben es aber noch nicht als das, was es ist, er-kannt. Damit können wir das vorliegende Kapitel skizzenhaft projektieren: Das endliche Subjekt, das als gewöhnliches oder natürliches Bewusstsein aus sich selbst mit dem Hang zur falschen Meinung über sich selbst anhebt – nämlich: dass die Natur und nicht es selbst, insofern es Geist ist, der Anfang seiner repräsentationalen Akte sei –, kann nicht aus diesem Falschen das Wahre schöpfen. Es hat sich aber, wie wir gesehen haben, die wahre Auffassung aus einer kritisch-argumentativen Überwindung des Falschen ergeben. Es hat sich ergeben, es hat sich gezeigt – hierin liegt schon die Form des wahrhaft wissenden Bewusstseins. Damit aber – da dieser Akt sich wirklich ereignet hat – hat sich eo ipso gezeigt, dass etwas am Werk war, das nicht einfach in uns selbst liegt; dieses Andere hat sich uns also gezeigt – darin sind wir wahrhaft wissendes Bewusstsein. Im Begreifen der Selbsterkenntnis stoßen wir also auf „etwas“, das über uns hinaus ist und wodurch wir über uns hinaus geführt werden. Genau diese Einsicht wird die summa der Selbsterkenntnis sein, ihr Inbegriff und Zielpunkt. Doch das gilt es nun schrittweise und in nüchterner Argumentation zu entwickeln. Hutter 2014.
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7.1 Die erkenntnislogisch-semantische Struktur des Weges der Selbsterkenntnis Der erste Schritt auf dem Weg der Selbsterkenntnis weg vom Standpunkt der „Wahrnehmung“ bestand in der Einsicht, dass allgemeine Bestimmungen nicht als vom Objekt der Wahrnehmung selbst ausgehend, als in Form der Kausalität realisiertes sich-Zeigen des Objekts, gedacht werden können. Der wesentliche Widerspruch in dieser Auffassung besteht zwischen der Positivität oder positiven Einzelheit, die im Begriff der Kausalität vorausgesetzt ist – (nur) etwas, das da ist, zeigt sich als das, was es ist und als was es da ist –, und der Negativität (oder auch Inferentialität), die durch den wahren, negativen Begriff des Begriffs impliziert ist – etwas ist nur als so-und-so repräsentierbar, wenn es darin zugleich als nicht-anders repräsentiert wird. Dieser Widerspruch liegt also dann – und nur dann – vor, wenn dieser negative Begriff des Begriffs in Anschlag gebracht ist. Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, bestreiten dessen Sinn und Gültigkeit aber genau diejenigen, die die Passivitätsauffassung der Wahrnehmung vertreten – und vertreten sie dadurch zumindest soweit in sich konsistent. Damit stellt sich heraus, dass es sich bei der Zurückweisung des Standpunktes der „Wahrnehmung“ nicht um die Zurückweisung einer Behauptung bei gleichbleibender Begriffsbedeutung handelt – wie wenn Person A Person B widerspricht, indem sie sagt „Das Buch ist nicht rot, sondern braun“, wobei beide Personen dieselbe Bedeutung der Begriffe zugrundlegen und anerkennen –, sondern um die Zurückweisung einer bestimmten Begriffsbedeutung. Das ist insofern nicht überraschend, als grundsätzliche philosophische Erkenntnisansprüche immer die Bedeutung von Begriffen betreffen: Wenn beispielsweise behauptet wird, der Mensch sei wesentlich moralisches Wesen, ist die Behauptung, der Mensch sei wesentlich oder bloß Materie und könne gar nicht verantwortlich handeln, nicht ein Dissens darüber, welches Prädikat dem identisch verstandenen Menschen zukomme, sondern darüber, was der Begriff „Mensch“ letztlich bedeutet. Das wirft nun aber drei intern miteinander zusammenhängende Fragen auf 9: 9 Diese Fragen sind – zumindest vordergründig – meta-philosophische Fragen. Ich stimme mit Brendan Theunissen 2014 darin überein, dass sie sich als wesentliche Implikation (einer kohärenten Lesart) von Hegels Philosophie ergeben; und es ist in der Tat ein Defizit vieler Hegel-Lesarten, dies nicht bemerkt oder jedenfalls nicht angemessen berücksichtigt zu haben. Gegen Brendan Theunissen ist allerdings einzuwenden, dass diese Fragen letztlich keine metaphilosophischen sind – keine solchen bleiben –, sondern, sobald sie durchdacht sind, zur Herzkammer der hegelschen Philosophie, zur Philosophie des absoluten Geistes, führen. Damit zusammenhängend sind zwei weitere Widersprüche, die gegen Theunissen ins Feld zu führen und von der Warte unserer Lesart aus als Aspekte einer zu wenig radikalen Lesart anzusehen sind: Erstens, Hegel weist nicht, wie Theunissen meint, die „Inkonsistenz“ (10) der von ihm kritisierten Theorien auf, sondern überbietet sie trotz ihrer Konsistenz kategorial durch das Einleuchten des Geistes, dessen Macht gerade darin offenbar wird, nicht bloß Inkonsistenzen als solche erkennen, sondern überhaupt auf einer höheren Ebene denken zu können. Dieser Punkt wird im Verlauf des Kapitels 7 deutlich werden. Zweitens, Theunissen denkt den –
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1.) Wie ist bei einem Dissens dieser Art gesichert, dass der Dissens über dasselbe geht, wenn doch keine Einigkeit über die Bedeutung des Begriffs, durch den der Gegenstand des Dissenses markiert sein soll, vorausgesetzt werden kann? 2.) Wie kann ein solcher Dissens sinnvoll in Form eines offenen Streits mit Geltungsanspruch ausgetragen werden, wenn die dissentierenden, in sich jeweils konsistenten Auffassungen mit Begriffen operieren, die nicht dasselbe bedeuten, und die – für den Dissens entscheidenden – jeweiligen Bedeutungen in ihrer jeweiligen Argumentation schon voraussetzen? 3.) Wie kann Hegels Behauptung, der Weg der Phänomenologie des Geistes sei eine notwendige Entwicklung philosophischer Selbsterkenntnis, vor diesem Hintergrund gegen die Vermutung verteidigt werden, Hegel schleuse im Wahrnehmungskapitel seinen Begriff des Begriffs ein und zeige somit „nur“ auf, welche Implikationen mit selbigem verbunden sind – tue also nichts anderes als einen alternativen (wenngleich vielleicht sehr vielversprechenden) Vorschlag zu unterbreiten, welchen mit dem Weg „des Geistes selbst“ zu identifizieren jedoch nichts anderes als Hybris ist? Die ersten beiden Fragen betreffen die Form philosophischer Selbsterkenntnis überhaupt. Das macht die folgenden Überlegungen für das Verständnis von Selbsterkenntnis überhaupt – damit auch über den hier konkret mit Hegel vorgeführten Weg der Selbsterkenntnis hinaus – relevant und virulent. Die dritte Frage reflektiert zudem eine Irritation, die viele Hegelrezipienten verbindet: dass Hegel das, was aus „seinen“ Begriffen durchaus folgen mag, als eine „Selbstbewegung des Begriffs“ oder eine „Offenbarung des Geistes“ tituliert – anstatt, was vielen richtig scheint, als einen zu diskutierenden philosophischen Vorschlag unter anderen. Die folgende Argumentation wird alle drei Fragen in einem zu beantworten suchen. Beginnen wir mit folgender, entscheidender Frage: Wie kann ein Vertreter des von Hegel als inadäquat abgelehnten positiven Begriffs des Begriffs – wie Frege oder eben McDowell – davon überzeugt werden, dass dieser Begriff des Begriffs inadäquat ist? Die naheliegende Antwort ist: durch ein – im Idealfall – schlagendes Argument. Doch es dürfte unmittelbar klar sein, dass es ein solches nicht geben kann. Denn ein solches Argument muss sich offenbar um den Begriff des Begriffs drehen – und damit schon eine Bedeutung desselben voraussetzen. Genauer gesagt, kann diese Zirkularität zweierlei Ausprägung haben: entweder, in einem solchen vermeintlich schlagenden, voraussetzungslosen sogleich in unserer Untersuchung ebenfalls aufzuweisenden – Selbstvoraussetzungscharakter jeder Philosophie (als Metaphysik) nicht konsequent genug, wenn er meint, dass es einen metaphilosophischen Standpunkt geben könne, der als solcher philosophisch neutral und doch philosophisch relevant sein könnte („Unter einer metaphilosophischen Theorie wird eine Theorie über Philosophie verstanden, die ihrem Selbstverständnis nach von philosophischer Theoriebildung argumentativ unabhängig ist, zugleich aber für diese begründungsrelevant sein will.“ (10)).
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rgument käme der Begriff des Begriffs schon zur Anwendung, dann liegt die A Zirkularität unmittelbar vor. Sie kann aber auch in mittelbarer Form auftreten: Man beginnt dann das vermeintlich schlagende, voraussetzungslose Argument von einer anderen Prämisse her, in der der Begriff des Begriffs noch nicht vorkommt, z. B. derjenigen, dass das endliche Subjekt selbst als Anfang seines Aktes der Anschauung muss gedacht werden können. Aus ihr lässt sich in der Tat zwingend folgern, dass ein negativer Begriff des Begriffs zu vertreten ist. Doch von dieser Prämisse wird sich freilich niemand überzeugt zeigen, der nicht schon diese Bedeutung von „Begriff “ als gültig eingesehen hat und anerkennt – denn nur mit diesem Begriff des Begriffs lässt sich überhaupt verstehen, welchen Sinn es haben soll, dass das endliche Subjekt selbst Anfang seines Aktes der Anschauung ist, und diese Auffassung konsistent für wahr halten. Ein anderes Beispiel für die Zirkularität in mittelbarer Form ist uns in Kapitel 2 schon begegnet: Wir können gegen McDowell zwingend argumentieren, dass unsere arbiträren Begriffszuschnitte nur dann Eingang in die Wahrnehmung (oder Anschauung) finden können, wenn wir diese als aktive Aktualisierung von Begriffen verstehen – und damit einen negativen Begriff des Begriffs vertreten. McDowell „wittert“ – so der treffende Ausdruck Hegels – diese Implikation, die er vermeiden will, und nimmt deshalb die These zurück, dass unsere arbiträren Begriffe Eingang in die Wahrnehmung selbst finden; stattdessen vertritt er nun, sie kämen erst nachträglich durch eine „recognitional capacity“ ins Spiel. Freilich können wir dagegen einwenden, dass dies den Geist in seiner Macht beschränkt und provinzialisiert – doch das wird einen Naturalisten wie McDowell gewiss nicht überzeugen und zur Revision dieses Manövers zwingen können. Das ist nun aber nicht deshalb der Fall, weil McDowell persönlich oder psychologisch – also rein kontingenterweise – beschränkt oder blockiert wäre; sondern das liegt in der logischen Struktur der Selbsterkenntnis, die als solche aufs Ganze geht, begründet. Sie schließt es, wie wir gleich genauer sehen werden, aus, dass man sie von einem neutralen Grund aus betreten kann. Soweit also die Beispiele – und noch einige andere dieser Art haben wir auf dem Weg der Selbsterkenntnis gesehen. Aufgrund der Unmöglichkeit eines voraussetzungslosen, von neutralem Grund aus schlagenden Arguments bleibt, wie es scheint, als Art und Weise der Überzeugung des „Gegners“ nur dasjenige Verfahren übrig, was sich vorhin schon angedeutet hat: Unter Voraus-Setzung von Hegels Begriff des Begriffs wird kohärent weitergedacht und aufgezeigt, was durch ihn impliziert ist. Der so entwickelte Gedankengang im Ganzen wird, als Ganzer, mit demjenigen verglichen, der unter Voraus-Setzung des alternativen – hier: positiven – Begriffs des Begriffs entwickelt werden kann. In diesem Vergleich wird sich zeigen, welcher der beiden Begriffe des Begriffs der „bessere“ ist: derjenige, unter dessen Voraussetzung die attraktivsten, phänomenal adäquatesten, erklärungskräftigsten etc. Theorien gewonnen werden können. Doch dieser Weg ist für eine phi-
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losophische Selbsterkenntnis inakzeptabel; denn er vernichtet den Gedanken des Gegensatzes zwischen wahrer Selbsterkenntnis und irrigen Meinungen über uns selbst zugunsten – entweder: eines rein dezisionistischen sich-eher-so-oder-anders-verstehenWollens, wenn man das endliche Subjekt als eine tabula rasa versteht, das spontan aus sich diese oder jene Auffassung über sich selbst annehmen kann; – oder: einer verkappten Prolongierung besagter Zirkularität. Denn insofern die erste Alternative verkehrt ist, ist klar, dass jedes Subjekt entweder die Passivitätsauffassung der Wahrnehmung und ihren Naturalismus oder die Aktivitätsauffassung der Anschauung und deren Metaphysik des Geistes vertritt oder zumindest von einer der beiden (vielleicht auch unbewusst) attrahiert ist – aber niemals keines von beiden vertritt bzw. neutral zwischen ihnen ist. Anders gesagt: Was ein individuelles Subjekt für die, wie wir formulierten, „attraktivsten, phänomenal adäquatesten, erklärungskräftigsten“ Auffassungen hält, hängt von einem schon vorausgesetzten Maßstab ab – und dieser wird beim Naturalisten nicht derselbe sein wie beim Hegelianer. Damit aber ist das beschriebene „Verfahren“ keine „Lösung“ für das exponierte Problem. Doch in dieser inakzeptablen Implikation hat das vorgeschlagene „Verfahren“ etwas Erhellendes. Es deutet darauf hin, dass der als gültig anzuerkennende Begriff sich am Ganzen seiner Implikationen zu bemessen hat; und es deutet darauf hin, dass dessen Anerkennung durch diejenigen erfolgt, die von diesen Implikationen attrahiert sind und zumindest in diesem minimalen Sinne schon dieses Ganze vertreten. So ist beschrieben, wie viele philosophische Diskussionen faktisch verlaufen: dass man am Ende des Aufdröselns eines Arguments an einen Punkt kommt, wo nichts anders übrig bleibt als zu bekennen, dass „mir das (nicht) einleuchtet“ – und es, genauer besehen, in solchen Beispielen „das Ganze“, das in Frage steht, ist, das da einleuchtet bzw. nicht einleuchtet.10 Von daher lässt sich Hegels berühmter Satz – oder ein wesentlicher Aspekt davon – verstehen: „Das Wahre ist das Ganze.“11 Wir wollen diesen Gedanken „des Ganzen“ nun vertiefen, indem wir zunächst noch präziser exemplarisch beschreiben, wie eine Konfrontation eines Vertreters 10 Emundts 2012 ist von daher zuzustimmen, dass die Überwindung verkehrter Positionen in Hegels Phänomenologie des Geistes nicht im Modus eines verfügbaren, intersubjektiv aufzunötigenden Arguments verläuft. „Es zeigt sich, dass eine Position unhaltbar ist.“ (80) Ganz recht. Auf dieses sich-Zeigen oder Einleuchten gehen wir in diesem Kapitel 7 genauer ein. Das Problem an Emundts Lesart scheint mir zu sein, dass sie meint, unser Umgang mit alltäglicher Welterfahrung würde dieses sich-Zeigen schon ermöglichen. Tatsächlich aber setzt dieser Umgang eine bestimmte Deutung jeder Erfahrung voraus, die von einem verkehrten Standpunkt aus notwendig immer schon eine ebenso verkehrte ist. Das aber trägt der Selbsterkenntnis nach Hegel ein notwendig zirkuläres und unverfügbares Moment ein, welches zu erkennen und zu explizieren dann aber gerade zur Vollendung von Hegels Philosophie führt: zum (An‑)Erkennen des Absoluten oder Gottes als das schlechthin Unverfügbare, die Offenbarung. Dies werden wir in den Kapiteln 7 und 8 genauer auseinandersetzen. 11 PhG, 19.
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der Passivitätsauffassung mit der hier vorgetragenen Auffassung aussehen muss: Dieser nimmt – vorerst hypothetisch – an, der hegelsche Begriff des Begriffs sei der wahre, und erkennt im Verfolgen unserer Argumentation, dass dies impliziert, dass die sinnliche Wahrnehmung keine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sei. Bevor er diese Implikation (und vielleicht andere) eingesehen hat, hat er keinen Grund, den hegelschen Begriff des Begriffs als wahr anzuerkennen – denn er hat ja einen Begriff des Begriffs, von dem er überzeugt ist. Wenn er sie eingesehen hat, hat er aber einen Grund, den hegelschen Begriff des Begriffs nicht als gültig anzuerkennen – weil dieser einer Grundüberzeugung, die er hat, widerspricht: nämlich dass die sinnliche Wahrnehmung eine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins sei und sein müsse. Diese Grundüberzeugung könnte er auf Basis unseres Arguments verwerfen – aber dieses Argument ist für ihn nur zwingend unter Anerkennung des hegelschen Begriffs des Begriffs, für welche es – dies war der Ausgangspunkt – für den Vertreter der Passivitätsauffassung keinen Grund gibt. Derselbe Punkt lässt sich bezüglich der Frage nach der Passivität oder Aktivität der Wahrnehmung (bzw. Anschauung) explizieren: Wenn wir – mit Verweis auf Beispiele wie das aktive Hinhören in einem Konzert – sagen, es sei von daher begründet, die Wahrnehmung als qua Aufmerksamkeit wesentlich und intern aktiv zu begreifen, so würde der Gegner entweder bestreiten, dass die Aufmerksamkeit eine Aktivität sei (Hegels Argument, warum sie es ist, kann ihm erst verpflichtend erscheinen, wenn er den positiven Begriff des Begriffs schon hinter sich gelassen hat!), oder aber sagen, dass die Aufmerksamkeit zwar eine Aktivität sei, aber der Wahrnehmung als Wahrnehmung extern bleibe, etwa ein kausaler Faktor sei. Unser Einwand etwa, dass der Begriff der Kausalität so nicht rechtmäßig gebraucht werden könne, wird ihm ebenfalls nicht einleuchten – denn dies sieht man nur ein, wenn man den Kausalitätsbegriff auf Basis der hegelschen Auffassung der Anschauung disambiguiert hat. Diese aber setzt den negativen Begriff des Begriffs voraus. Doch davon sollte das vermeintlich „neutrale“ Argument ja erst überzeugen. Ein in diesem Sinne schlagendes, da voraussetzungsloses Argument kann es also nicht geben. Die dargelegten Gründe, warum es so ist, sind erkenntnislogische, nicht psychologische. Die aufgewiesene Zirkularität entspricht dem aufs Ganze gehenden Wesen der Metaphysik (des Geistes). Das aber bedeutet nichts anders als dies: Die argumentative Befreiung vom Naturalismus, der Metaphysik der Natur, setzt diese Befreiung schon voraus. Konkret kann dies auf zwei Weisen gefasst werden: entweder, einem individuellen Subjekt leuchtet, anders als anderen, der hegelsche Begriff des Begriffs an sich ein – ohne, dass es dessen Implikationen schon überschauen würde, die es aber, sobald es sie einsieht, schon deshalb akzeptiert, weil sie auf dem ihm einleuchtenden Begriff des Begriffs basiert sind. Oder aber ihm leuchten diese Implikationen, die es unter zunächst bloß hypothetischer Annahme, unter bloßer Ahnung des hegelschen
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Begriffs des Begriffs – oder ganz unabhängig davon – eingesehen hat, ein, wodurch ihm dieser Begriff des Begriffs sodann aber ebenfalls zwingend erscheinen muss. Beide Varianten bedeuten somit, dass der Übergang von der Passivitätsauffassung der Wahrnehmung mit seiner naturalistischen These – Natur als Erstes des Geistes – zur Aktivitätsauffassung der Wahrnehmung mit seiner geistmetaphysischen These – Geist als Erstes der Natur – samt jeweiliger Implikate immer ein Übergang ums Ganze ist. Er hat selbstvoraussetzenden Charakter.12 Das klingt nun so, als wäre der Übergang von der Passivitätsauffassung mit ihren naturalistischen Implikaten zur Aktivitätsauffassung mit ihren geistmetaphysischen Implikaten nur durch einen „Sprung“ möglich (– und würde damit an die berühmte These von Habermas erinnern, Hegels Philosophie des absoluten Geistes verlange eine gleichsam irrationale „Konversion“13). Doch eine solche Rede vom „Sprung“ – auch diesseits von Habermas – ist höchst irreführend; denn sie suggeriert, als wäre es irgendeine Aktivität von uns – ein Sprung eben –, durch welchen wir diesen Übergang erzwingen könnten. Tatsächlich aber handelt es sich um ein unverfügbares Einleuchten. Im Übergang leuchtet uns ein, dass der wahre Begriff des Begriffs dieser und nicht jener sei; dass Wahrnehmung eine Form aktiver Repräsentation unsererseits und nicht eine Form des bloßen Aufnehmens sei; dass auch unsere arbiträren Begriffszuschnitte der Anschauung intern sind und ihr nicht äußerlich bleiben; dass die Aufmerksamkeit immer eine Aktivität und nicht teils etwas Passives ist; etc. (Dieses) „Einleuchten“ hat folgende Wesensmerkmale, die wir zunächst in vorläufig-deskriptiver Form festhalten, um sie später genauer auf den Begriff zu bringen: 1.) Was uns (hier) einleuchtet, ist nichts Unsagbares oder Geheimnisvolles, sondern etwas, das wir klar aussagen können: z. B.: der Begriff des Begriffs ist so-und-so und nicht anders – oder eben etwas dadurch Impliziertes: beispiels12 Rödl 2017: 215 ist darin zuzustimmen, dass aufgrund einer solchen – wir wie sie nennen – Form der Selbstvoraussetzung eine argumentative Rechtfertigung der Position im gewöhnlichen Sinne (also im Sinne eines voraussetzungslosen Arguments von neutralem Grund aus, wie wir sagten) unmöglich ist. Wir werden mit Hegel aber dafür plädieren, dass der Begriff der „Argumentation“ oder des „Beweises“ nicht derart verengt werden darf, dass nur dieser „gewöhnliche Sinn“ darunter fällt. Das wird an der Bezeichnung von Hegels Philosophie als „Gottesbeweis“ besonders deutlich zu machen sein (vgl. dazu Kapitel 8). – Der Selbstvoraussetzungs‑ oder Zirkelcharakter der Metaphysik ist auch auf Seiten von McDowells naturalistischer Metaphysik sehr gut am Text nachzuweisen. So schließt McDowell aus seiner (richtigen) These, dass Wahrnehmungen begriffliche Akte seien, dass solche Akte einer anderen – nämlich „zweiten“ – Natur angehören müssen, weil sie nicht der „ersten“ Natur angehören können, aber – und das ist nun die falsche und von ihm ungerechtfertigt angenommene Prämisse – doch zur Natur gehören müssen, da „sensibility is natural in a sense that belongs with its being something we share with non-rational animals“ (McDowell 2008: 220). Er hätte aus seiner (richtigen) These, dass Wahrnehmungen begriffliche Akte seien, auch schließen können (aus Hegels Warte: müssen), dass sie daher nicht-natürlich sind und somit die These, dass die „Sinnlichkeit“ des Menschen (in irgendeinem Sinne) zur Natur gehöre, zu verwerfen ist. 13 Zu ihrer Darstellung und Kritik vgl. Fulda 2018.
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weise, dass ich in der Wahrnehmung wesentlich aktiv und nicht passiv bin; dass unsere arbiträren Begriffszuschnitte in die Wahrnehmung selbst eingehen, etc. 2.) „Es leuchtet uns (hier) ein“ besagt, dass das, was uns einleuchtet, sich geltend macht: der Begriff des Begriffs ist dieser – und nicht jener. Insofern uns etwas einleuchtet, werden wir nicht mit einer weiteren, gleich-gültigen Alternative ausgestattet, sondern etwas drängt sich uns als geltend und anzuerkennend auf. 3.) Einleuchten ist unverfügbar. Das zeigt schon die Sprache an: Ich kann mir etwas nicht „selbst einleuchten“, sondern etwas leuchtet mir ein, gleichsam „von außen“. Aber da es Einleuchten ist – also eben nicht ein irrationaler Sprung, sondern das Einleuchten, dass etwas so und nicht anders ist –, ist es im Denken, also auch nicht „von außen“, und ist darin von mir eingesehen, gedacht.14 Hegel formuliert dies so: „Der Begriff aber produziert zwar die Wahrheit – das ist die subjektive Freiheit −, aber er erkennt diese Wahrheit als ein zugleich nicht Produziertes, als an und für sich seiendes Wahres an.“15
Nun scheinen diese Überlegungen nicht über das hinauszuführen, über das sie hinausführen sollten: nämlich dass es eben zwei alternative „Vorschläge“ zum Begriff des Begriffs mitsamt ihrer Implikationen gibt, die als solche gleich-gültig nebeneinander stehen. Denn beide Positionen können – und werden – je für sich reklamieren, ihnen habe eingeleuchtet, dass Ihres und nicht das Andere gelte; ihnen habe „ihr“ jeweiliges Ganzes eingeleuchtet. Doch dem ist nicht so: Der Vertreter der Passivitätsauffassung kann kein Einleuchten denken, wie wir es mit Hegel denken können und müssen – und zwar aus zwei Gründen: (i) Er hätte, wenn er es denken wollte, keine Instanz, der er es als wahrhaftes Wissen zuschreiben könnte; denn er vertritt ja, dass die Wahrnehmung die Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist. Vertritt er die Auffassung so, dass die Wahrnehmung die einzige Form des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist, kann er ein solches Einleuchten nicht konsistent als wahrhaftes Wissen be14 Diese Erkenntnislogik scheint mir im Wesentlichen derjenigen zu entsprechen, die Eckart Förster an Hegel herausgearbeitet hat und wunderbar so zusammenfasst: „Worauf es vor allem ankommt, ist die […] gemachte Erfahrung, dass etwas im Bewusstsein vorkommt, welches dadurch, wie es auftritt, über das Bewusstsein hinausweist. Wir werden auf ein objektives Geschehen aufmerksam, das sich in unserem Bewusstsein abspielt, aber unabhängig ist von unserem Willen und unseren Überzeugungen. Die Bewegung, die wir im Bewusstsein beobachten, ist nicht von uns hervorgebracht, sondern tritt in uns nur auf. Die Inhalte, die sich derart entwickeln, haben ein Eigenleben – kein eingebildetes, sondern ein erfahrbares – und verweisen auf eine übersinnliche objektive Realität.“ (Förster 2013: 352) Die Bestimmung des Verhältnisses der in unserer Untersuchung entwickelten Auffassung zu derjenigen Försters im Ganzen würde eine eingehende Diskussion verlangen und verdienen, die hier leider nicht geleistet werden kann. Ich denke aber, dass eine geistige Grundverwandtschaft beider Auffassungen – einleuchtet. 15 VPhR III Jaeschke, 268.
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haupten. Vertritt er sie – gleichsam in abgeschwächter Form – so, dass die Wahrnehmung eine Form des wahrhaft wissenden Bewusstseins unter (möglichen) anderen sei, begibt er sich mit der Behauptung, sein Einleuchten sei wahrhaftes Wissen, zwar nicht unmittelbar in einen Widerspruch, müsste jedoch zeigen, dass es eine zweite Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins geben kann und gibt – und welche dies sein soll. (ii) Noch wichtiger – und für sich entscheidend und hinreichend – ist jedoch der zweite Grund. Wie wir sogleich noch genauer betrachten werden, ist eine philosophische Erkenntnis nur dann semantisch definit – hat also nur dann überhaupt einen bestimmten Gehalt –, wenn eine gegenteilige, widersprechende Meinung durch sie zurückgewiesen wird. Das bedeutet, dass die Negation solcher Meinung, die sich ja in Form einer verkehrten Begriffsbedeutung artikuliert, nicht die Negation von blankem Unsinn sein darf; denn sonst wäre die Signifikanz ihrer Zurückweisung nichts anderes als die Signifikanz der Zurückweisung von „12§xsABxC“ oder „goggledidoo“ – also selbst gar nicht(s). Das impliziert, dass wir den Unsinn, der die Passivitätsauffassung von hegelscher Warte aus letztlich ist, verstehen können müssen, um ihn erkennend überwinden zu können; er ist somit als „dialektischer Unsinn“ vom „blanken Unsinn“ abzuheben. Dieser Gedanke legt eine Asymmetrie zwischen der Passivitätsauffassung und der hegelschen Auffassung offen: Während letztere also aus semantischen Gründen vom Unsinn der ersteren abhängt – also von einer anderen, verkehrten Bedeutung des Begriffs des Begriffs –, gilt dies für erstere nicht. Denn der Unsinn, den sie bestimmt zu negieren hat, besteht in der These, dass die Wahrnehmung eine aktive Aktualisierung von Begriffen (in der Bedeutung des positiven Begriffs des Begriffs) sei. Sie dependiert semantisch also nicht vom Unsinn, der – aus ihrer Sicht – unsere hegelsche Auffassung ist, sondern vom Unsinn, der – aus ihrer Sicht – nicht darin liegt, dass ein verkehrter Begriff des Begriffs am Werk ist, sondern dass der aus ihrer Sicht richtige – der positive – mit dem Gedanken einer aktiven Aktualisierung verbunden wird. Das würde, wie wir gesehen haben, in der Tat implizieren, dass das Subjekt die in der Wahrnehmung zu aktualisierenden Begriffe wählen würde. Das widerspricht aber unmittelbar dem von allen Streitparteien soweit geteilten Vorbegriff der Wahrnehmung. Damit aber liegt nichts anderes als eine elementare materialbegriffliche Inkohärenz vor. Das bedeutet: Wer den Vorbegriff der Wahrnehmung hat, sieht unmittelbar ein, dass Wahrnehmung keine aktive Aktualisierung von Begriffen (in der Bedeutung des positiven Begriffs des Begriffs) sein kann.16 Das 16 Hieran wird vollends deutlich, warum mit Hegel die im Kern gemeinsame philosophische Methode von Strawson 1964, Hacker 2007 und 2013, Brandom 1994 und McDowell 1996 (und passim) für ungenügend zu gelten hat: Die Zurückweisung materialbegrifflicher Widersprüche – positiv: „deskriptive Metaphysik“ – garantiert noch keine philosophische Selbsterkenntnis. Das schließt freilich nicht aus, dass sie Widersprüche zutage fördern kann, durch die Züge des Geistigen (mehr oder weniger direkt) sichtbar werden. Hacker beispielsweise weist
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aber bedeutet, dass es für den Vertreter der Passivitätsauffassung keines „Einleuchtens“ bedarf, um den durch Zurückweisung dieses Unsinns definierten – von unserer hegelschen Warte: vermeintlichen – Sinn der Passivitätsauffassung zur Verfügung zu haben und diese dadurch für wahr zu halten, solange ihm eben nichts einleuchtet. Der Vertreter der Passivitätsauffassung muss also, aus seiner Sicht, zugeben: Wären der hegelsche Begriff des Begriffs und die hegelsche Auffassung der Wahrnehmung gültig, dann müsste es „Einleuchten“ in dem erläuterten Sinne geben. Da sie aber das Antezedens nicht akzeptiert, wird ihr die hegelsche Auffassung des „Einleuchtens“ entsprechend notwendig als etwas erscheinen, das sie genauso wenig akzeptiert wie den hegelschen Begriff des Begriffs. Das impliziert aber, dass von diesem Einleuchten nur diejenigen überzeugt sein können, für die es sich ereignet hat – möglicherweise, ohne dass sie davon ein klares Bewusstsein haben. Das Bekanntwerden mit diesem Einleuchten hatten wir in Kapitel 2 schon erstmals thematisiert. Nun sehen wir ein: Ein nicht-hypothetisches Erkanntwerden des Einleuchtens gibt es also nur für diejenigen, die mit ihm bereits bekannt geworden sind. Damit aber sehen wir nun ebenso ein: Diese Auffassung des „Einleuchtens“ wiederholt nicht den Gedanken, dass es keine wahrhafte philosophische Selbsterkenntnis, sondern nur gleich-gültige Vorschläge geben kann. Sondern sie besagt, dass einem etwas eingeleuchtet haben muss, damit man philosophische Selbsterkenntnis hat, die aber dann wahrhafte Erkenntnis ist und zu welcher dann der Begriff dieses Einleuchtens wesentlich hinzugehört. Sie kann überdies zeigen, warum die Gegenposition eben all dies nicht für sich reklamieren kann, wenn man aus ihrer Warte denkt. Wenn sich Einleuchten ereignet hat, gibt es dadurch also philosophische Selbsterkenntnis, zu der wesentlich die Erkenntnis gehört, dass sie nur durch dieses Einleuchten möglich und wirklich ist. Hegel nun macht die aufgewiesene, aus nüchtern erkenntnislogisch-semantischen Gründen notwendige Abhängigkeit explizit und mit Recht auf den zumeist übersehenen Handlungscharakter der Wahrnehmung hin (vgl. Hacker 2010: 109; Hacker 2013: 296 ff.), ebenso wie auf die begriffliche Inkohärenz einer kausalen Wahrnehmungstheorie (vgl. Hacker 2013: 301 ff.). Doch wie ist zu erklären, dass eine Mehrheit (philosophischer) Sprecher verworren denkt? Und woraus bezieht eine philosophische Kritik daran und dagegen ihre (unbedingte) Geltung? Von innerhalb der verworrenen Sprachgemeinschaft? Von einem erhabenen Standpunkt darin oder gar darüber? Das hegelsche „Einleuchten“ verhält sich, sozusagen, vertikal zu unserer Verwirrung; es impliziert, dass Philosophie sich niemals in verfügbarer „Methode“ erschöpfen kann – und nur deshalb das Alte, Verkehrte überhaupt und revolutionär durchbrechen kann. Es scheint mir somit richtig, wenn Adrian Moore an der Oxforder Sprachanalyse mit ihrem Rückgriff auf ihren Wittgenstein kritisiert, dieser Ansatz sei in einem aus philosophischer Sicht problematischen Konservatismus verstrickt (vgl. Moore 2012: 275). Der Ausbruch daraus ist, wie Axel Hutter es treffend und plastisch formuliert, nur durch die dialektische „Anstrengung […], mit der Sprache gegen die Sprache“ zu denken, möglich (Hutter 2017: 11).
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dieser philosophischen Selbsterkenntnis vom Einleuchten an einer bemerkenswerten Stelle17 ganz explizit: „Wie keiner dem andern den Glauben geben kann, sondern er muß von Gott gelehrt werden, so hat auch die Philosophie ihren Punkt, der nicht erlernt, nicht äußerlich aufgenöthigt, von einem Menschen nicht in den andern übergetragen werden kann; und ist dieß nicht gerade der Lebenspunkt? Auch der Philosoph feiert seine Pfingsten; ohne Wiedergeburt kommt Niemand aus der Sphäre des natürlichen Verstandes in die speculativen Höhen des lebendigen Begriffs. Aber die Wahrheit besteht nach ihrem eigenen Wesen in ihrer Nothwendigkeit, sie hat ihre Nöthigung in sich selbst; sie müßte sich also, meinten wir, auch erzwingen und aufnöthigen lassen, so daß wir nicht widerstehen, sie müßte sich doch so gründlich nachweisen lassen, daß wir ihr nicht ausweichen könnten. Der Mensch kann aber überhaupt der Wahrheit, der allmächtigen Wahrheit allerdings widerstehen. Und was verstehen wir unter jenem gründlichen, und allgemeingültigen Nachweise, den wir am Glauben vermissen? suchten wir ihn nicht in unserem eigenen Innern, statt im Innern der Sache – im Subjecte statt in der Wahrheit? Ist es nicht das Selbstgemachte, in unsern eigenen Gedanken Zusammengesuchte, was wir gründlich nennen, und was gleichwohl, wenn es gemacht ist, nichts wirkt und nichts beweiset, weil es nichts ist?“18
Wir werden darauf zurückkommen, was es bedeutet, dass der Mensch „der allmächtigen Wahrheit allerdings widerstehen“ kann. Dann werden wir auch genauer verstehen, warum Hegel die vorhin auch von uns geschilderte Suche nach einem „gründlichen und allgemeingültigen Nachweise“ als Ausdruck der Eitelkeit des Menschen begreift, als eine Suche „im Subjecte statt in der Wahrheit“. In diesem Zitat führt Hegel uns aber zunächst auf einen anderen wichtigen Gedanken, den wir zu unserem Begriff des „Einleuchtens“ präzisierend hinzuzufügen haben: Er spricht vom „Innern der Sache“, die uns einleuchtet. Wir haben dieses vorhin als „das Ganze“ erkannt. Das impliziert, dass das „Einleuchten“, wie es realiter stattfindet, nicht ein punktuelles Einleuchten der Bedeutung des Begriffs des „Begriffs“ sein muss. Es faltet sich gleich in dreierlei Hinsicht auf: (i) „Einleuchten“ muss nicht nur mit dem Bild des einschlagenden Blitzes gefasst werden; es sollte zusammen mit dem Bild des langsamen Morgengrauens gefasst werden. Das bedeutet: Realiter ist der Prozess des „Einleuchtens“ ein geistiger Wachstumsprozess. Es ist zwar möglich, dass einem das Ganze des Geistes wie ein Blitz aufleuchtet – vielleicht in einer Stunde vertiefter HegelLektüre –19, doch das ist nicht notwendig. Es kann auch ein allmähliches Ver17 Diese Stelle ist in der Hegel-Forschung noch weitaus zu wenig in ihrer Sprengkraft für gewisse Hegel-Lesarten und ihrer systematischen Relevanz bedacht worden. Einen bemerkenswerten Aufsatz, der diese Stelle (und die Göschel-Rezension überhaupt) einer genauen Interpretation zuführt und dadurch einen originellen Zugang zu Hegels Geistphilosophie (insbesondere zu deren Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie) gewinnt, hat Kazimir Drilo vorgelegt (vgl. Drilo 2015). 18 GR, 213 f. 19 Diese Blitzartigkeit oder Plötzlichkeit des Einleuchtens, wie sie als ein „Wandel in meinen grundlegenden metaphysischen Behauptungen“ stattfinden kann, wird von Dina Emundts sehr treffend beschrieben und mit Recht an der kopernikanischen Wende exemplifiziert: „Für diese
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trautwerden mit dem Ganzen des Geistes sein, das sich irgendwann sammelnd beschließt. Die Fülle an Spuren des Geistes, denen wir in unserer Untersuchung mit Hegel nachgegangen sind, können uns im realen Nachdenken über sie allmählich, nach und nach, dazu bringen, den Standpunkt des natürlichen Bewusstseins zu überwinden. (ii) Wir haben das „Einleuchten“ am Begriff des Begriffs festgemacht. Das ist semantisch-erkenntnislogisch korrekt. Doch genauso korrekt ist, wenn das Einleuchten anderswo beginnt und der wahre Begriff des Begriffs sodann als Implikat zwingend einleuchtet. Das Ganze des Geistes kann einem so beispielsweise auch allein am Problem der konkreten Ausprägung der als-Struktur oder der Selbsterfahrung des aufmerksamen Zuhörens bei einem Symphoniekonzert aufgehen. Es ist ja das Ganze des Geistes – also seine Fülle. In diesem Sinne ließen sich beliebig viele individuelle Erfahrungen des Bewusstseins (be)schreiben – nicht nur eine einzige Phänomenologie des Geistes. Hier hat die Individualität oder Einzelheit des Geistes einen irreduzibel offenen Raum. (iii) Unbeschadet (ii) ist der wahre Begriff des Begriffs aber weit weniger eine punktuelle Einzelheit im Ganzen des Geistes, als es zunächst den Anschein haben könnte. In ihm kristallisiert sich, wenn man so will, die logische Form des Ganzen des Geistes. Daher rührt auch Hegels emphatische Rede von „dem Begriff “. Denn: Der negative Begriff des Begriffs ist nicht nur wesentlich für die Auffassung der Anschauung als intern aktiv; sondern auch für den Begriff des Geistes als solchem. Anders als der Naturalismus ist eine Geistmetaphysik darauf verpflichtet, einen Begriff des Geistes gegen den Begriff der Natur zu entwickeln. Das aber setzt voraus, dass er Geist ist, insofern er nicht-Natur ist; und als Geist begriffen ist er nicht, wenn er nicht darin auch als nicht-Natur begriffen ist. Darin liegt ein wesentlicher Grund der kontrastiv-negativen Anlage unserer Untersuchung. Das bedeutet: Wenn vom Ganzen des Geistes die Rede ist, ist die Rede davon, dass nicht alles von gleicher Art ist, nämlich natürlich. Damit baut eine Philosophie des Geistes einen für ihren Zentralbegriff zentralen Gegensatz auf. Damit vom Ganzen des Geistes überhaupt semantisch definit die Rede sein kann, muss der Geistbegriff von einem Begriff der Natur abgegrenzt sein – und zwar so, dass der Geist gerade und nur dann begriffen ist, wenn er als nicht-Natur begriffen ist. Damit aber kann der Geistbegriff selbst nur in Form des negativen Begriffs des Begriffs überhaupt philosophisch expliziert werden. Art von Umkehrung [sc. des Bewusstseins] ist das, was Hegel über Erfahrung sagt, durchaus unmittelbar einleuchtend: Dieser Wandel mag dadurch zustandekommen, dass wir plötzlich etwas anders sehen und uns daher zu diesem Wandel genötigt sehen. Aber einem derartigen Wandel würden wir auch gerne zusprechen, Resultat eines vernünftig nachzuvollziehenden Prozesses zu sein.“ (Emundts 2012: 62 Fn. 28). Aus dem, was wir an dieser Stelle – und im Folgenden – ausführen, kann einleuchten, warum wir einem derartigen Wandel in eminenter Weise zusprechen können, „Resultat eines vernünftig nachzuvollziehenden Prozesses zu sein“. Insbesondere auf den plastischen Begriff des „Nach-Vollzugs“ werden wir noch eingehend zu sprechen kommen.
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Diese drei Bemerkungen sollten das „Einleuchten“ – wie es sich real für uns darstellen kann – als weitaus pluraler und dynamischer ausweisen, als es zunächst den Anschein gehabt haben mag, als wir das „Einleuchten“ aus semantisch-erkenntnislogischen Gründen – festgemacht am Begriff des Begriffs – einführten. Diese waren als solche nüchtern und nicht erbaulich, ganz im Sinne Hegels. Das Einleuchten, wie es sich real ereignet, jedoch ist ein lebendiges Vertrautwerden mit dem Geist – eine Erfahrung, die niemandem abzunehmen ist. Sie kann nicht „übergetragen“ werden, wie Hegel sagt. Das aber ist dem Geist gemäß und kein Malum; es ist der „Lebenspunkt“ der Philosophie. Das darin liegende Erkennen ist, wie Hegel auch sagt, „der Strahl selbst, wodurch die Wahrheit uns berührt“20 – und wir können das Bild hier so weiterführen: Die Wahrheit kennt verschiedene Strahlen, „durch“ die sie dies bewirken kann. Und doch ist sie ein Licht, also auch in einem Erkenntnisgang realisiert, in den diese Strahlen kohärent und argumentativ zu integrieren sind. Nun aber müssen wir genauer auf eine wesentliche Bestimmung des Einleuchtens eingehen, die auch im Zentrum des voranstehenden Hegel-Zitats steht: seine Unverfügbarkeit für uns als endliche Subjekte. Zunächst ein weiterer Textbeleg – diesmal aus der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes. Dort spricht Hegel davon, dass das Bewusstsein selbst die Prüfung auf dem Weg der Selbsterkenntnis vollziehe, uns hingegen „nur das reine Zusehen bleibt“.21 Das Wort „Zusehen“ ist von Hegel mit Bedacht gewählt: – Denn es bringt, erstens, zum Ausdruck, dass die einzig mögliche Haltung zum Einleuchten das Einsehen – und zwar mit offenen (staunenden) Augen des Geistes – ist. – Zum zweiten: Das „Zusehen“, wie Hegel es hier versteht, schließt das aufmerksame Hinsehen, sich-der-Sache-selbst-Hingeben ein. Das Einleuchten, durch das der Übergang von der verkehrten zur wahren Auffassung möglich wird, kann, wie Hegel sagt, dadurch geschehen, dass das Subjekt „dem Negativen ins Angesicht schaut, bey ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Seyn umkehrt.“22 Wir können nun eine Bedeutung dieser rätselhaften Passage angeben: Wie wir soeben eingesehen haben, kann sich das Einleuchten ereignen, indem sich uns irgendeine Spur des Geistes so aufdrängt, dass wir nicht mehr am Geist vorbei denken können – konkret etwa: dass wir die Passivitätsauffassung hinter uns lassen. Das aber bedeutet, dass wir – im Wortsinne – vor Augen geführt bekommen, was eine Spur des Geistes ist, und daneben sehen, wie dem Geist gegenüber inadäquat wir bislang philosophisch dachten. Daran wird deutlich, dass das Einleuchten – z. B. des „neuen“, negativen Begriffs des Begriffs – ganz und gar nicht ein Einleuchten „von außen“ ist, wie es zu Beginn PhG, 54. PhG, 59. 22 PhG, 27. 20 21
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des Weges der Selbsterkenntnis scheinen mag. Es ist nicht so, dass irgendwoher pragmatisch ein „neuer“ Begriff des Begriffs herbeigezogen wird, um fortan mit ihm weiter zu denken; vielmehr ist es so, dass unser bisheriger Begriff des Begriffs durch das Verweilen bei der Sache gesprengt wird – und diese Sprengung alles enthält, um den „neuen“ Begriff des Begriffs einzusehen; ja, diese Sprengung ist seine Offenlegung. Diese Sprengung geschieht für ein konkretes Subjekt aber nur, wenn die Spuren des Geistes ihren unbedingten Geltungsanspruch tatsächlich auf es ausüben – und das Subjekt sie nicht in seinem alten Denken erstickt.23 Zugleich aber geschieht es nur, wenn das Subjekt im Denken bleibt, bei der Sache verweilt. Im Denken zu bleiben bedeutet aber letztlich nicht, im alten Denken zu bleiben; denn dem Denken ist es wesentlich, etwas zu sein, was anders werden kann als es bisher gewesen ist. – Drittens macht es deutlich, dass wir – wenn sich das Einleuchten an uns und für uns ereignet – eben dieses Einleuchten als wirklich erst (an)erkennen, wenn und weil es sich an uns schon ereignet hat; wir also dem schon Geschehenen nur noch zu‑ oder nachsehen können – und ihm nach-denken, wie wir es hier tun. Dass dieses Einleuchten schon geschehen sein muss, bevor es als solches in seiner Wirklichkeit (an)erkannt wird, drückt Hegel mit der Metapher aus, es sei „hinter seinem [sc. des Bewusstseins] Rücken“ vor sich gegangen.24 – Viertens schließlich fängt die Rede vom „Zusehen“ auch die Perspektive derer ein, für die das Einleuchten sich (noch) nicht ereignet hat: Sie sehen – in einem anderen Sinne des Wortes – „nur zu“; wie wir sagen, jemandem bleibe bei einem Festessen leider nur die Rolle des Zusehers. Das kennen wir aus der Philosophie: Wir haben den lebendigen Eindruck, in einem vorgetragenen Gedankengang ist wirklich eine Tiefe und eine geistige Bewegung – aber wir bekommen sie nicht zu fassen, kommen nicht hinein, bleiben bezogen darauf also nur Zusehende (und ‑hörende). Es sagt uns nichts. Die vielgestaltigen Redeweisen Hegels, die zum Ausdruck bringen, dass nicht das endliche Subjekt allein das Geschäft der philosophischen Selbsterkenntnis vollziehen kann und vollzieht, sondern „das Innere der Sache“ sich zeigen und darstellen muss, sind also von der Logik des „Einleuchtens“ in seiner Unverfügbarkeit her zu verstehen. Und von eben diesem Gedanken her ist es auch bloß konsistent – und keine Hybris –, dass Hegel die Gedanken, die ihm selbst einleuchteten, nicht als „seine“ präsentiert, nicht als „seinen Vorschlag“ gegen andere Vorschläge. Denn aus dem Gesagten folgt: Wenn er überzeugt war von dem, was er vertreten hatte, so musste er auch überzeugt sein, dass es ihm unverfügbar „von außerhalb seiner“ eingeleuchtet hat. Diese Auffassung folgt zwingend, wenn er – wie jeder andere Philosoph auch – schlicht überzeugt ist 23 Ebenfalls in der Vorrede spricht Hegel deshalb auch von „Enthaltsamkeit“ seitens des Subjekts, die „wesentliches Moment der Aufmerksamkeit auf den Begriff “ sei (PhG, 42). 24 PhG, 61.
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von dem, was er eben vertritt, und ausspricht, wovon er überzeugt ist; denn in seinem Fall impliziert dies die Wirklichkeit des Einleuchtens. Darauf ist er verpflichtet – und ein Verschweigen dessen wäre keine Bescheidenheit, sondern Inkohärenz. Doch nicht nur die Einschätzung Hegels kehrt sich in diesem Lichte um, sondern auch eine unkritische Hochschätzung – Verabsolutierung – intersubjektiven Gründegebens und ‑nehmens. Hegel macht das philosophische Denken darauf aufmerksam, dass „die Philosophie ihren Punkt [hat], der nicht erlernt, nicht äußerlich aufgenöthigt, von einem Menschen nicht in den andern übergetragen werden kann“. Wer aber diesen Punkt nicht anerkennt und – dogmatisch – insistiert, es müsse sich an seiner statt doch ein intersubjektiv aufnötigbares Argument geben lassen, steht im Lichte Hegels als ein endliches Subjekt da, das die Wirklichkeit des Absoluten offensiv leugnet, um sich – als endliches Subjekt – selbst absolut zu setzen, und um sich – als Individuum – eines anderen Individuums zu bemächtigen, indem es sich als in einer Position stehend begreift, von welcher aus es alles, was Geltung beanspruchen kann, diesem anderen Individuum in Form von Gründen oder Argumenten aufnötigen kann. Hinter dem zwanglosen Zwang des intersubjektiven Gründegebens und ‑nehmens steht also sehr wohl ein Zwang, der bemächtigende und gewaltvolle Züge annimmt, wo er aufs Ganze geht. Gewiss, dort, wo nicht das Ganze auf dem Spiel steht, ist das intersubjektive Gründegeben und ‑nehmen am Platze und von unverhandelbarem Wert, Signum der Vernunft; doch die letzten Fragen, um die nicht nur die Philosophie, sondern auch das lebensweltliche Denken immer wieder ringt, entziehen sich dem intersubjektiven Gründegeben und ‑nehmen prinzipiell. Denn das Ganze kann sich nur selbst erschließen; es wäre nicht das Ganze, wenn es nicht sein sich-Erschließen einschließen würde. Deshalb aber kann es eo ipso nicht durch Gründe oder Argumente, die nicht seine, sondern unsere Akte sind, vermittelt werden; das Zwingende, das in Gründen oder Argumenten liegt, die intersubjektiv aufnötigbar sind, ist nie das Zwingende des Ganzen, sondern bloß das Zwingende eines bestimmten Zusammenhangs von Endlichem. Freilich lassen sich auch Gründe und Argumente geben, die für das Ganze sprechen; doch sie überzeugen nur ein Individuum, das schon davon überzeugt ist, wovon diese Gründe oder Argumente überzeugen sollen – und sind damit gerade nicht die Art von Gründen und Argumenten, um die es im intersubjektiven Gründegeben und ‑nehmen zu tun sein soll. Dieses schon-überzeugt-Sein ist somit prinzipiell nicht durch solche Gründe und Argumente gegeben, sondern durch ein ihrem Zugriff entzogenes Einleuchten. Philosophische Selbsterkenntnis weiß also dadurch, dass sie von sich selbst als nur durch das Einleuchten möglich und wirklich weiß, davon, dass Erkenntnis prinzipiell nicht ganz im intersubjektiven Gründegeben und ‑nehmen aufgehen kann. Nun ergibt sich als weitere Aufgabe der philosophischen Selbsterkenntnis, sich selbst dadurch zu explizieren, dass dieses Einleuchten weiter expliziert wird.
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Eine solche Explikation wurde schon in drei Punkten begonnen. Sie ist nun fortzusetzen. Dazu bedarf es zunächst einer Differenzierung. In den Punkten 1.) und 2.) war deutlich geworden, dass etwas als so und (als) nicht anders einleuchtet. Man könnte meinen, dies würde besagen, dass jedes individuelle Subjekt vor dem Einleuchten schon einmal die verkehrte Auffassung vertreten haben muss – so wie ja auch die verkehrte Auffassung früher auf dem Weg der Phänomenologie des Geistes ist als die wahre. Diese Überlegung hat ein Wahrheitsmoment, ist aber noch zu undifferenziert. Das Wahrheitsmoment entspricht Hegels Rede vom „natürlichen“ Bewusstsein, durch die angezeigt ist, dass es sich bei dieser verkehrten Auffassung nicht um eine kontingente, bloß von seltsamen Individuen der Philosophiegeschichte erwogene oder vertretene Auffassung handelt, sondern um eine, der wir alle in irgendeinem Sinne anhängen – letztlich aus erkenntnislogisch-semantischen Gründen, um der Artikuliertheit der Selbsterkenntnis willen, wie sich schon gezeigt hat und wie noch genauer zu zeigen sein wird. Doch zunächst die Frage: In welchem Sinne „anhängen“? Hegels These ist nicht diejenige, dass jedes Individuum in der Zeit einmal diese falsche Auffassung tatsächlich vertreten haben muss. Wir können uns durchaus ein Individuum denken, das immer schon die wahre Auffassung vertreten, dem immer schon das Ganze des Geistes eingeleuchtet hat. Aber auch dieses Individuum erkennt in der Reflexion notwendig die Unmöglichkeit eines argumentativen Übergangs von der verkehrten Auffassung zur wahren; es erkennt somit, dass diese ihm zwar immer schon – aber eben auch nur durch ein immer schon sich ereignet habendes Einleuchten – gegeben ist. Hegels Auffassung ist also, dass die einleuchtende – und das heißt: als wahr einleuchtende – Auffassung nur dann eine solche ist, wenn sie eo ipso eine falsche als falsch zurückweist – selbst wenn dies in einem Individuum immer schon geschehen sein mag. Entsprechend wurde oben formuliert, dass das Einleuchten immer ein bestimmtes und negierendes Einleuchten sei – ein Einleuchten von etwas als so und (als) nicht anders. Doch von einer Zurückweisung dieses „anders“ – der verkehrten Auffassung – kann nur die Rede sein, wenn selbige auch verständlich, semantisch artikuliert und gehaltvoll ist. Das ist sie faktisch auch, sonst hätte sich auf Basis des Einleuchtens gar keine Denkbewegung gegen diese verkehrte Auffassung, ausgehend und sich abstoßend von ihr, entwickeln lassen, wie es auf dem gegangenen Weg der Phänomenologie des Geistes faktisch geschehen ist. Und doch dürfte uns die verkehrte Auffassung auf Basis des Einleuchtens gar nicht mehr verständlich, nicht semantisch transparent sein: Denn wenn uns eine bestimmte Bedeutung eines Begriffs – z. B.: des Begriffs des Begriffs – zwingend einleuchtet, so können wir nicht zugleich eine andere, verkehrte verstehen. Wenn wir begriffen haben, dass der positive Begriff des Begriffs und der Gedanke der „positiven Allgemeinheit“ in Wahrheit unsinnig – Ungedanken – sind, können wir sie nicht mehr verstehen. Aber wir haben doch verstanden: Ein Vertreter der Passivitätsauffassung versteht unter dem „Begriff “
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eben etwas anderes als wir: nämlich, dass Objekte kausal ihre Eigenschaften zeigen und wir sie so als solche wahrnehmen. Wir scheinen zu verstehen, obwohl wir wissen, dass das, was wir zu verstehen meinen, Unsinn und daher nicht zu Verstehendes ist.25 Eine Differenzierung löst diesen scheinbaren Widerspruch auf: Diese eben gegebene Beschreibung der Passivitätsauffassung ist nicht das Verstehen (oder Verstehenmachen) eines anderen Begriffs des Begriffs. Es ist vielmehr eine Erklärung, von welchem irreführenden Bild die falsche Auffassung ausgeht, mit welcher (irrigen und irreführenden) Vorstellung des Begriffs sie operiert. In dieser Differenzierung liegt die Erklärung, warum wir auch auf Basis besagten Einleuchtens die Passivitätsauffassung noch verstehen können: Wir können zwar in der Tat nicht zwei verschiedene Begriffe des Begriffs auf derselben Ebene der semantischen Klarheit für sinnvoll erachten und verstehen; sehr wohl aber können wir zugleich einem davon – dem uns einleuchtenden – anhängen und zugleich noch nachvollziehen, welches irreführende Bild man sich – auf einer niedrigeren Ebene semantischer Klarheit – von einem Begriff machen kann. Worin dieses irreführende Bild, das eo ipso auf einer niedrigeren Ebene semantischer Klarheit ist, in Bezug auf die Wahrnehmung besteht, beschreibt Pirmin Stekeler-Weithofer treffend als die „Vorstellung, dass unser Sinnesempfinden durch eine physikalische Objektivität der Dinge und ihrer Wirkungen verursacht sei, ohne weiter über die schwierigen Begriffe ‚Ursache‘ und ‚Wirkungen‘ und die sich hinter ihnen verbergenden gedanklichen Vorstellungen von auf die Sinne wirkenden Kräften, Energien, Partikelbewegungen oder Lichtwellen nachzudenken.“26
Dass wir dieses irreführende Bild nachvollziehen können – auch wenn wir ihm auf Basis des Einleuchtens nicht mehr affirmativ anhängen –, kann man nüchtern einen Hang zur Verwirrung nennen. Es ist nicht nur ein Hang zum Irrtum, weil es ja zugleich ein Hang zu einer unklaren, vorstellungshaften, unreflektiert bildgeleiteten Redeweise ist. Ein Hang – und kein Fall – ist es deshalb, weil wir ihm nicht notwendig ver-fallen sind, ja auf Basis des Einleuchtens sogar gewiss nicht mehr; aber doch ein Hang – und keine Neutralität oder Souveränität unsererseits – ist es deshalb, weil das Einleuchten nicht so weit führt, dass uns dieses irreführende Bild als blanker Unsinn erscheint, der uns gar nichts mehr sagt; und vor allem, weil wir – wenn uns das Einleuchten entzogen ist – zurück-fallen in die Fänge der Passivitätsauffassung. Dieser Hang – dass uns das irreführende Bild immer noch etwas sagt – ist aber notwendig; denn nur so ist die Auffassung, die uns eingeleuchtet hat, überhaupt semantisch artikuliert. Nur so kann sie etwas – und sich selbst – als so und (als) nicht anders geltend machen. Ohne ein „nicht 25 Ist die bisherige (selbst‑)erkenntnislogisch-semantische Analyse richtig, stellt sich dieses Problem nicht nur für Hegel, sondern für jedes ernsthafte philosophische Projekt. In diesem Lichte muss der „plain nonsense“ der sogenannten „New Wittgensteinians“ mehr als problematisch erscheinen. 26 Stekeler-Weithofer 2018: 453 [Hvh. T. O.].
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7 Die Wirklichkeit des Geistes als Selbsterkenntnis
anders“, das uns etwas sagt, könnte sie das nicht.27 Wir werden auf das Verhältnis des durch Einleuchten sich-geltend-gemacht-Habenden zu dem darin als unwahr und verkehrt Zurückgewiesenen noch genauer zurückkommen. Wir hatten gesagt, dass auch ein Vertreter der Passivitätsauffassung die Begriffe der hegelschen Auffassung verstehen kann – wenngleich, ohne Einleuchten, nicht akzeptieren. Wie aber erscheinen sie ihm dann? Sie müssen ihm als „abgehoben“, „verstiegen“ und „versponnen“ erscheinen; als in sich kohärent, aber aus einer natur‑ und wahrnehmungsfeindlichen Phantasie geboren. Er hält dem die scheinbar aufgeklärte „Nüchternheit“ und „Klarheit“ seiner Begriffe entgegen. Von hegelscher Warte aus aber sind diese in Wahrheit verworren – und diese Verwirrung bewirkt, worin sie sich gleichsam maximal potenziert, dass von ihrer Warte aus die Klarheit verworren aussieht (und das Verstehen auf dem verkehrten Standpunkt somit doch im Ganzen verdunkelt ist): „Jeder von diesen beyden Theilen scheint für den andern das Verkehrte der Wahrheit zu seyn.“28
Hegel charakterisiert die Verwirrung des verkehrten Standpunkts deshalb näherhin als „sinnliche Verstandesweise, welche einen abstracten unlebendigen, sinnlichen, maschinenmäßigen Begriff an die Stelle des speculativen Begriffs unterschiebt, die Sünde, welche alle Begriffe verkehrt, und sie verunreinigt.“29
Der so profilierte Begriff der „Klarheit“ macht den Begriff des Einleuchtens – und der Unverfügbarkeit des Einleuchtens – noch klarer: Wir alle wissen, dass wir nicht erzwingen können, klar zu denken; wir können prinzipiell immer willentlich beginnen, nachzudenken, aber nicht, klar nachzudenken – so sehr wir uns dies auch wünschen mögen. Der Mangel an Einleuchten ist also in einem Sinne ein epistemischer (oder theoretischer) Mangel – es fehlt eine Einsicht, es fehlt eine Ebene der Klarheit –, aber kein epistemischer (oder theoretischer) Mangel in dem Sinne, dass er durch beschränkte intellektuelle Fähigkeiten des betreffenden Individuums zu erklären wäre. Solange das unverfügbare Einleuchten für es nicht stattgefunden hat, verhilft keine belehrende Erläuterung dazu, die „Begriffe“ nicht „verkehrt“ und „verunreinigt“ (als „hegelsche Spinnerei“) aufzufassen. Entsprechend ist die 27 In diesem Sinne ist nach Hegel also der Unsinn notwendige Bedingung von philosophischer Selbsterkenntnis in ihrer diskursiv-begrifflichen Form – und damit alles andere als kontingent. Damit einher geht, dass er klassische (verkehrte) Positionen in der Geschichte der Philosophie in diesem Sinne würdigen kann. Rödl 2017 und 2018b hingegen schweigt sich zum Status des „Unsinns“, den er seinen Gegnern unterstellt, aus – was aus den dargelegten Gründen nicht nur in hegelscher Perspektive als problematisch zu gelten hat. Eine Kritik in diesem Geiste hat dazu auch Koch 2018: 327 gegenüber Rödl vorgetragen. 28 PhG, 23. 29 GR, 204.
7.1 Die erkenntnislogisch-semantische Struktur des Weges der Selbsterkenntnis
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hegelsche philosophische Reflexion auf diesen Mangel auch keine psychologische, keine Erklärung eines kontingenten Nichtverstehens oder Nichterkennens30; vielmehr haben wir eingesehen, dass das Einleuchten notwendig und kategorisch unverfügbar ist – wie immer auch die Fähigkeiten des betreffenden Individuums ausgeprägt sein mögen. Es ist damit auch dem unverfügbar, der den wahren Begriff des Begriffs zwar epistemisch-theoretisch versteht, ihm aber unbeschadet dessen eben nicht aus sich selbst anhängen und ihm nicht aus sich selbst Klarheit zuerkennen kann. Wir hatten gesagt: In einem Sinne ist das Fehlen des Einleuchtens ein epistemischer – oder theoretischer – Mangel. Doch wie ist der Sinn, in dem es kein solcher ist, genauer zu fassen? Da das Einleuchten ein Ereignis ist – mir geht etwas auf –, ist es auch ein wesentlich praktischer Zusammenhang. Doch was genau bedeutet das? Da das Einleuchten für das individuelle endliche Subjekt unverfügbar ist, kann das Ausbleiben des Einleuchtens nicht in dem Sinne von ihm verschuldet sein, dass es diesen Entzug des Einleuchtens gewählt hätte; denn das würde ja voraussetzen, dass es auch die Wahlmöglichkeit des Nichtentzugs dieses Einleuchtens gäbe – wodurch es verfügbar würde und kein Einleuchten mehr wäre. Gleich wie aber das Einleuchten von der zweiseitigen Art ist, dass sich mir etwas zeigt und ich uno eodem actu einsehe, was sich zeigt, gilt auch für den Entzug des Einleuchtens, dass sich mir etwas nicht zeigt und ich daher nicht einsehe, was sich nicht zeigt. In diesem Sinne ist zu sagen, dass ich verfestigt oder gefangen bin in meinem verkehrten Standpunkt – und, sofern der Wille nicht als Wahl missverstanden wird, damit auch, dass ich aus mir selbst nichts anderes will und wollen kann als das Verharren auf dem verkehrten Standpunkt. Deshalb schreibt Hegel: „Der Mensch kann aber überhaupt der Wahrheit, der allmächtigen Wahrheit allerdings widerstehen.“31
Entsprechend muss mit Hegel von diesem „Widerstand“ – der Verfestigung auf dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ etwa – auch in theoretischen und praktischen Kategorien gesprochen werden. Würde nur in theoretischen Kategorien davon gesprochen, wäre der Charakter der unbedingten Verfestigung des verkehrten Standpunktes unterbestimmt. Würde nur in praktischen Kategorien davon gesprochen, wäre verkannt, dass diese Verfestigung wesentlich im Fehlen einer Einsicht in ihrer Klarheit besteht. Der Ausdruck des „verkehrten“ oder „verfestigten Denkens“ macht diese praktisch-theoretische Doppelnatur des Ereignisses des Einleuchtens wie seines Entzugs sprachlich deutlich. Insofern mir etwas einleuchtet, geht mir eine Einsicht auf, wächst mir eine Überzeugung zu – von der Wahrheit des Geistigen im Ganzen, wie wir gesehen haben. Uno eodem 30 Sie ist darin dem kantischen Programm der Aufdeckung einer „Logik des Scheins“ eng verwandt. 31 GR, 214.
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actu löst dieses Aufgehen mein Verfestigtsein in meinem soweit immergleichen, verkehrten Standpunkt, auf dem ich nicht von der Wahrheit des Geistigen überzeugt sein kann. Hegel betont an einigen Stellen seines Werks vor allem den praktischen Aspekt dieser Doppelnatur, da dieser aufgrund der (damals) an sich nicht weiter kontroversen Feststellung, Philosophie sei Erkenntnis und damit Theorie, in der Tat besonders betont werden muss, um die eigentümliche Doppelnatur des Einleuchtens richtig in den Blick zu bekommen.32 Hegel spricht zum einen schon in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes davon, dass das Absolute – als das wir nachher dieses Einleuchten bestimmen werden – immer schon bei uns ist und sein will. Genauer formuliert er kontrafaktisch, das Absolute würde unserer „List“ des „Erkennen[s]“ „spotten“, „wenn es nicht an und für sich schon bey uns wäre und seyn wollte“33.
Die andere – bei Hegel noch prominentere – Redeweise, deren Sinn und Gehalt wir später genauer bestimmen werden, besteht in der Charakterisierung des verfestigten Standpunktes als des „Bösen“. Auch dies ist eine genuin praktische Kategorie, die Hegel aufgrund der beschriebenen Doppelnatur des Einleuchtens für unverzichtbar hält, um die philosophische Selbsterkenntnis – genauer: ihr Ausbleiben – auf den Begriff zu bringen. Worin genau dieses „Böse“ besteht und ob es gänzlich „außerhalb“ allen Einleuchtens steht oder nicht, wird noch zu fragen sein. Selbsterkenntnis ist also möglich und wirklich, indem unsere Auffassung über uns selbst hinausgeführt wird über das, was sie aus sich, von sich her schon ist: nämlich diesseits von Klarheit und Wahrheit. Deshalb ist Selbsterkenntnis auch die – einzige – Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins: Ihr Wesen ist die 32 Kurt Appel sieht diesen Punkt im umfassenden Zusammenhang des Ganzen der hegelschen Philosophie klar, wenn er die Religion – wohl auch im hegelschen Sinne von: den absoluten Geist insgesamt bezeichnend (vgl. Enz. 1830, § 554) – mit einer Spitze gegen Feuerbach als das „Ende aller Projektionen“ bezeichnet (Appel 2018: 63). In der Tat: Das selbst-machen-Wollen (und damit das Verfügbarmachenwollen des Unverfügbaren) wird in der Religion suspendiert. Wir können diese These sogar noch spezifizieren: Aufgrund des geistigen Setzungscharakters der sinnlichen Anschauung (vgl. Abschnitt 5.2) ist unser Bewusstsein eo ipso projektiv; dies wird erst überwunden, indem etwas Reales „von außen“ in es dringt, das sich jeder Projektion versperrt und niemals als Gegenstand einer Projektion ist, da und indem es nur und genau dann ist, wenn es sich selbst absolut geltend macht: der absolute Geist. – Auch Houlgate 2005: 48 ff. sieht besagte praktische Dimension der philosophischen Selbsterkenntnis, wenn er mit Recht feststellt, „that not everybody will in fact be willing“ (50), dass also nicht jedermann tatsächlich willens ist, sich der Wahrheit der philosophischen Selbsterkenntnis zu öffnen. Er denkt dies aber nicht radikal genug zuende, sodass seine Interpretation den Weg der Selbsterkenntnis (in Gestalt der Phänomenologie des Geistes) letztlich doch zu sehr als reintheoretisches Geschehen darstellt. Entsprechend hat er eine metaphysisch zu schwache Lesart des absoluten Geistes (vgl. v. a. 242 ff.); denn er kann so auch nicht sehen, dass dessen distinkte Wirklichkeit gerade in der willentlich-wirksamen Umkehr unseres verkehrten Willens besteht. Das werden wir im Folgenden sowie im Kapitel 8 genauer nachvollziehen. 33 PhG, 53 [Hvh. T. O.].
7.2 Hegels Begriff der „Offenbarung“
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Überwindung des Verkehrten durch Einleuchten. In diesem Einleuchten zeigt sich mir etwas – es leuchtet mir etwas ein –, worauf reflektierend ich erfasse, dass dies ein sich-(mir‑)Zeigen – ein (mir) Einleuchten – war. Was sich also letztlich zeigt, ist dieses sich-Zeigen selbst; was also letztlich einleuchtet, ist das Einleuchten selbst. Hegel nennt dieses Einleuchten auch „Offenbarung“ – und wir werden ihm darin folgen, zumal sich zeigen wird, dass der dadurch angezeigte Bezug zur Religion einen tiefen, wohlbegründeten Sinn hat. Hegel definiert den „Geist“, der im Ganzen wesentlich auf Selbsterkenntnis aus ist, als Offenbaren – und, der eben vorgetragenen Überlegung entsprechend, nicht nur als Offenbaren von etwas, sondern als Offenbaren des Offenbarens; „so daß er [sc. der Geist] nicht Etwas offenbart, sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst.“34
7.2 Hegels Begriff der „Offenbarung“ Es muss einen wundern – oder eben gerade nicht –, dass die analytischen Hegelrezeptionen der Gegenwart sich vollends über Hegels soeben zitierte, definitorische Bestimmung des Geistes als solchen ausschweigen – obwohl diese keineswegs randständig ist, ja nicht einmal „nur“ im Kontext der Philosophie des absoluten Geistes oder gar der Religionsphilosophie verortet ist, sondern im einleitenden Abschnitt der Philosophie des Geistes als solcher steht, als den Geist in seinem Wesen und im Ganzen betreffend. Wir können nun verstehen, warum Hegel diese definitorische Bestimmung schon an dieser Stelle verorten kann, ja muss. Der subjektive Geist, insofern er über sich selbst nachdenkt, steht bereits, sofern dieses Nachdenken gelingt, in oder unter dem Geschehen, das als Einleuchten oder – wie wir nun mit Hegel sagen – Offenbaren zu bestimmen ist. Das haben wir schon eingesehen. Hegel kündigt den Weg der Philosophie des Geistes insgesamt, der mit der Philosophie des subjektiven Geistes beginnt, deshalb wie folgt an: „Die verschiedenen Stufen […,] auf welchen als dem Scheine zu verweilen und welche zu durchlaufen die Bestimmung des endlichen Geistes ist, sind Stufen seiner Befreiung, in deren absoluten Wahrheit das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten, das Erzeugen derselben als eines von ihm gesetzten, und die Befreiung von ihr und in ihr eins und dasselbe sind, − einer Wahrheit, zu deren unendlichen Form der Schein als zum Wissen derselben sich reinigt.“35
Ausgangspunkt des Weges ist „das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten“ – der Standpunkt des „Bewusstseins“ und seiner Passivitätsauffassung; überwunden wurde dieser hin zur Auffassung unserer Sinnlichkeit als einer Enz. 1830, § 383. Enz. 1830, § 386.
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7 Die Wirklichkeit des Geistes als Selbsterkenntnis
Aktivität, in der die Welt als Anderes des Begriffs (und Geistes) repräsentiert und gesetzt wird, wodurch allein sie ist. Hegel nennt diese Stufe hier entsprechend „das Erzeugen derselben [sc. der Welt] als eines von ihm [sc. des endlichen Geistes] gesetzten“. In dieser Überwindung aber hat sich, wie wir eingesehen haben, Selbsterkenntnis ereignet – als Einleuchten oder Offenbaren. Hegel nennt diese Überwindung – vom verkehrten Standpunkt hin zur wahren Erkenntnis – daher die „absolute[.] Wahrheit“, in der (oder qua welcher) die einzelnen Schritte und Stufen auf dem Weg dieser Überwindung „eins und dasselbe sind“, nämlich eben dieses Einleuchten oder Offenbaren, das sich im Übergang zwischen den Schritten oder Stufen ereignet (hat). So ist diese Wahrheit „eine[.] Wahrheit“, die am Ende des Weges auch reflexiv als solche erkannt wird, weshalb dieser Weg „zum Wissen derselben“ führt. Was es bedeutet, dass das Offenbaren letztlich als eine Wahrheit und als „unendlich[..]“ zu bestimmen ist, und warum es so zu bestimmen ist, wird später noch zu entwickeln sein. Hegel greift in dieser Ankündigung darauf vor, dass es eben nicht nur den „endlichen Geist“, sondern auch den „unendlichen Geist“ gibt. Als dieser wird sich das Offenbaren erweisen. Aber: Es wäre vorschnell, dieses unmittelbar in einen „anderen“ Geist als den subjektiven, in einen „Gott“, zu hypostasieren – und zwar, wie Hegel immer wieder deutlich macht, gerade deshalb, weil dadurch der tatsächlich zu entwickelnde Grund dafür, philosophisch von „Gott“ zu reden, und der Sinn wie die Würde dieser Gottesrede verundeutlicht würden.36 Es bedarf also klärender, entwickelnder Zwischenschritte, durch die aufgewiesen werden kann, dass der Weg der Selbsterkenntnis nicht nur zu einem gleichsam abstrakten, metaphysisch neutral oder wesenslos bleibenden Begriff der „Offenbarung“ führt, sondern zu einem metaphysisch starken Gottesbegriff. Soll die Offenbarung selbst als ein wirkliches, selbstständiges Wesen – Offenbarung als Gott und Gott als Offenbarung – gedacht werden können, muss zweierlei gezeigt werden: (i) dass Offenbarung mehr ist als nur ein bloß formaler Geltungszusammenhang – eben ein wirkliches Wesen; (ii) dass es in seinem Wesen nicht von uns (individuellen) endlichen Subjekten abhängt – eben ein wirkliches, selbstständiges Wesen, Gott, ist. Dem wollen wir uns widmen. Die Linkshegelianer, deren Geist auch in vielen zeitgenössischen Hegellesarten – oft unbewusst – waltet, haben bestritten, dass Hegel ein solches wirkliches, selbstständiges Wesen philosophisch aufgewiesen hätte – oder, genauer, dass sich ein solches Wesen in seiner Philosophie unter Beweis stellt. Sofern sie sich damit gegen eine – rechtshegelianische – Hegellektüre richten, die ohne Vor36 So schreibt Hegel schon in seinem Traktat unter der Titelfrage Womit muss der Anfang der Wissenschaft gemacht werden?, das der Wissenschaft der Logik vorangestellt ist: „[D]as unbestrittenste Recht hätte Gott, daß mit ihm der Anfang gemacht werde […].“ (WL I, TWA, 79; vgl. auch WL I 1832, 68). Aber: „Was somit über das Seyn ausgesprochen oder enthalten seyn soll, in den reichern Formen von Absolutem oder Gott, diß ist im Anfange nur leeres Wort […]“ (WL I, GW, 40).
7.2 Hegels Begriff der „Offenbarung“
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lauf direkt bei den religionsphilosophischen Überlegungen Hegels anhebt (oder meint, dass Hegel dort die dogmatische Rede von Gott philosophisch schlicht akzeptiert37), haben sie einen Punkt. Die religionsphilosophischen Texte Hegels stellen nicht aus sich selbst unter Beweis (noch setzen sie voraus), dass der „Gott“ von dem sie reden, wirklich Gott ist – und welcher „Gott“ es sein soll oder gar schon, dass es derjenige ist, von dem die traditionelle christliche Dogmatik spricht. Andererseits wurde und wird der Streit um diese Frage traditionell in einer Weise geführt, die zunächst orthogonal zu dem hegelschen Gedankengang steht, wie wir ihn in dieser Untersuchung rekonstruiert haben: nämlich entweder als Frage nach dem Verhältnis von Begriff, Natur und Geist, oder als Frage nach dem Verhältnis des Unendlichen zum Endlichen – d. h. entweder entlang der Makrostruktur des enzyklopädischen Systems oder entlang bestimmter Leitkategorien aus der Wissenschaft der Logik. Diese Zusammenhänge sind – um dies vorauszuschicken – unserer Untersuchung keineswegs äußerlich. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Natur wurde, wie eben anhand von § 386 der Enzyklopädie noch einmal verdeutlicht, im Zusammenhang der Frage nach der richtigen Auffassung der sinnlichen Wahrnehmung mitbeantwortet38; und die für die Logik zentrale Dialektik des Endlichen und Unendlichen ist freilich zwingend – wenngleich erst noch zu zeigen sein wird, wie wir im hier verfolgten Gedankengang auf sie stoßen werden. Die traditionellen Weisen, in der die Frage nach „Gott“ bei Hegel gestellt wird, sind also im Gang unserer Hegellektüre enthalten. Gleichzeitig jedoch geht dieser über eine gewisse Einseitigkeit der traditionellen Lektüren im Debattenfeld von Rechts‑ und Linkshegelianismus hinaus: Denn der Gang der Phänomenologie des Geistes, wie wir ihn verfolgt und rekonstruiert haben, ist ein Gang der Auffassungen über uns selbst, ein Gang des zunehmenden Gelingens von Selbsterkenntnis, in deren Lichte sodann deren initiales Misslingen thematisch und begreiflich wird. Das zeigte sich daran, dass wir sehr viel über die falsche, verkehrte Auffassung und ihr (erkenntnislogisch-semantisches) Verhältnis zur wahren gesagt haben – und sagen mussten. Dass eine falsche Auffassung – eine geistige Verkehrung – thematisch wird, ist das Signum derjenigen Sphäre, die Hegel „Geist“ nennt: Dort gibt es, im Unterschied zur internen Bewegung der Logik mitsamt deren Übergang zur Natur, Widrigkeit und Verkehrung – kurzum den Ernst desjenigen, was Hegel „Negativität“ nennt. Deshalb schreibt Hegel im schon zitierten § 386, im Vorgriff auf die gesamte Geistphilosophie, dass diese eine „absolute[.] Wahrheit“ zur Darstellung bringe, „zu deren unendlichen Form der Schein als zum Wissen derselben sich reinigt.“
Vgl. hierzu auch die kritischen Ausführungen von Wagner 1976 und Jaeschke 1995. Darauf wird gegen Ende des vorliegenden Kapitels noch genauer einzugehen sein.
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7 Die Wirklichkeit des Geistes als Selbsterkenntnis
In einem Vollsinne kann von „Offenbarung“ also erst die Rede sein, wenn wir uns schon innerhalb der Sphäre des Geistes – im Geschäft der Selbsterkenntnis, mitsamt dessen Misslingen – bewegen, und nicht mehr bloß zwischen Logik und Natur. Hat man dies klar vor Augen, wird einem ebenso klar, dass und wie „absoluter Geist“ weit über dasjenige hinausgeht, was Hegel mit „absoluter Idee“ meint: nämlich dadurch, dass es nicht um die innerlogische Darstellung der vollkommenen logischen Form zu tun ist, sondern um ein wirkliches, absolutes Geschehen des Einleuchtens, das als solches nicht auf endliche Subjekte – nicht auf endlichen Geist – reduzierbar ist, wie wir sogleich näher sehen werden. Dieses Geschehen mag zwar logischen Formen entsprechen – aber diese logischen Formen, in Abstraktion betrachtet, sagen nichts über die Faktizität des Misslingens und die Wirklichkeit, insofern sie im Überwinden solchen Misslingens liegt und sich zeigt, aus. Eine logische Form kann eo ipso nicht „der Wahrheit widerstehen“, wie Hegel es für den Menschen explizit sagt.39 Sie kann sich nicht „wehren“, sich zu „realisieren“ oder in eine andere logische Form überzugehen40; aber ein individuelles endliches Subjekt kann sich sehr wohl „wehren“, gemäß der rechten logischen Form zu denken – es kann in sich verkehrt sein und deshalb nur durch den eine Wirklichkeit bedeutenden Akt des Offenbarens von dieser Verkehrung befreit werden.
7.3 Hegel über Gott – und Mensch. Zum Inbegriff des Geistes Was also folgt in der Anlage unserer Hegellektüre für die Frage nach Gott? Zur Erinnerung: (i) Die erste Frage ist, ob es sich beim Einleuchten – Offenbaren – um ein wirkliches Wesen und nicht bloß um einen wesenslosen Geltungszusammenhang handelt; (ii) die zweite, ob es sich, wenn es sich um ein wirkliches Wesen handelt, um ein selbstständiges, d. h. nicht von einem (individuellen) endlichen Subjekt wie mir abhängiges Wesen handelt. Beide Punkte sind nun zu diskutieren – und aus ihnen wird der Kern dessen, was Hegel „absoluter Geist“ nennt, zu gewinnen sein. Ad (i). Das Einleuchten zeigte sich uns als eine – grundlegende – Umkehrung der begrifflichen Denkart eines realen, je individuellen endlichen Subjekts, und damit seiner Überzeugung(en) in Bezug auf Gehalte, die zum Skopus der Selbsterkenntnis eines solchen Subjekts gehören. Eine solche Überzeugung ist ein realer geistiger Akt – und nicht eine Abstraktion von einem solchen, wie es 39 Im
obigen Zitat aus der GR. scheint mir, dass Hegels Rede von „Realisierung“ oder „Entäußerung“ des Begriffs zur Natur und Objektivität recht verstanden nichts anderes bedeutet als die geistige Repräsentation von Natur und Welt durch sinnliche oder sinnlich vermittelte Akte endlicher Subjekte und das darin liegende Abhängigkeitsverhältnis. Damit aber wäre es irrig zu glauben, hierin liege an sich schon ein unmittelbar göttlicher Schöpfungsakt – oder ein Analogon dazu. 40 Überhaupt
7.3 Hegel über Gott – und Mensch. Zum Inbegriff des Geistes
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propositionale Gehalte oder Begriffe sind, sofern sie unter Abstraktion ihres realen Gedacht-, Geglaubt‑ bzw. Verstandenwerdens betrachtet werden. Da und insofern Einleuchten eine solche Umkehrung solcher realen geistigen Akte ist, ist dieses Einleuchten ebenso real wie diese. Es ist kein formaler Geltungszusammenhang, sondern sich-geltend-Machen; also reales geistiges Ereignis, und zwar ein solches, das qua Einleuchten nicht in den geistigen Akten des endlichen Subjekts aufgeht, nicht auf solche zu reduzieren ist. Sonst wäre es nicht, was es ist: Einleuchten, das dem endlichen Subjekt qua endlichem Subjekt prinzipiell unverfügbar ist.41 Deshalb ist dieses Einleuchten als unendliches Subjekt – oder Werk des unendlichen Subjekts – aufzufassen. Betrachten wir die beiden Bestimmungen im Begriff des „unendlichen Subjekts“: – Ein Subjekt ist es deshalb, weil es Selbstbeziehung in folgendem Sinne ist: es zeigt sich selbst, durch sein Einleuchten stellt es sich selbst als dieses Einleuchten heraus, es ist – wie Hegel in § 383 sagt – letztlich nicht Offenbaren von etwas, sondern Offenbaren des Offenbarens. – Ein unendliches Subjekt ist es deshalb, weil es eine kategorial andere Selbstbeziehung als die des endlichen Subjekts realisiert: es führt nämlich das endliche Subjekt dadurch, dass es für dieses endliche Subjekt (als) Einleuchten ist, zur Erkenntnis seiner selbst, setzt also Anderes in Beziehung zu sich selbst; weil es also nicht selbst endliches Subjekt ist, sondern dieses dadurch umschließt, dass es sich ihm offenbart und so zur Erkenntnis seiner selbst – des unendlichen wie des endlichen Subjekts – führt. Das unendliche Subjekt ist also kein Subjekt, das als sub-iectum, als hypokeimenon, seinem Werk zugrundeliegen würde. Es geht voll in seinem Werk auf 42, es ist – in der Tradition gesprochen – actus purus. (Vom „Werk des unendlichen Subjekts“ kann dennoch sinnvoll gesprochen werden: Der Genitiv „des unendlichen Subjekts“ ist dann als Identifikation zu verstehen: das Werk, das das unendliche Subjekt ist – wie in „das Glück der Liebe“, verstanden als „das Glück, das die Liebe ist“.) Die Rede vom actus purus, bezogen auf ein Subjekt, hat immer wieder folgenden Unsinnsverdacht provoziert: Wie soll ein Akt gedacht werden können, der von keinem Wesen auszusagen ist, das sich – als Akteur dieses Aktes – eben nicht in diesem Akt erschöpft, nicht dieser Akt ist, sondern von ihm qua kategorialer Akteur-Akt-Differenz unterschieden? Dieser Verdacht ist solange berechtigt, als ein Akt von einem Wesen prädiziert wird und die Form 41 Dass diese „Unverfügbarkeit“ der Philosophie (wie auch den anderen Gestalten des absoluten Geistes) wesentlich ist, hat Theunissen 1970: 302 f. klar herausgearbeitet und ‑gestellt: „Offenbarung [ist] doch ein Tun des absoluten Geistes selber und somit für das menschliche Subjekt ein unverfügbares Geschehen.“ Treffend und pointiert schreibt auch Vossenkuhl 2015: 366: „Über den absoluten Inhalt kann das Denken nicht verfügen, es sei denn, es will sich dabei lächerlich machen.“ Drilo 2015 schließlich arbeitet anhand der GR sehr klar heraus, dass Religion und Philosophie – als Gestalten von Offenbarung – solche Unverfügbarkeit wesentlich ist. 42 Wenngleich, wie wir nachher sehen werden, dieses Werk in ein internes und ein externes zu differenzieren ist.
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7 Die Wirklichkeit des Geistes als Selbsterkenntnis
dieser Prädikation – jedenfalls zunächst und rein sprachlich – unauflösbar erscheint: etwa in fichteanischer Rede davon, dass das Ich sich selbst setzt.43 Doch in Hegels Rede vom unendlichen Subjekt als actus purus gibt es kein solches Problem: Es ist – schon sprachlich – unproblematisch vom „Offenbaren des Offenbarens“ zu reden und dies zu konkretisieren, indem man die Denkbewegung, in der sich dieses Offenbaren des Offenbarens ereignet, aufzeigt. Dies war der Fall in unserer Reflexion auf den Weg der Selbsterkenntnis: Wir haben eingesehen, dass unsere Überzeugung von einem bestimmten Begriff des Begriffs nur möglich war als Einleuchten, nicht aus uns selbst. Damit haben wir, da wir überzeugt sind von diesem Begriff, erkannt, dass dieses Einleuchten sich wirklich ereignet haben muss; und dass es dadurch letztlich auch möglich wurde, dass wir dieses Einleuchten als Einleuchten erkennen, mit Hegels Worten: eben als Offenbaren des Offenbarens. Dieses aber nicht nur als Möglichkeit, sondern als Wirklichkeit, als dasjenige, was sich auf dem Weg der Selbsterkenntnis schon ereignet hat, in unseren Überzeugungen wirk-sam war und deshalb nun auch als wirk-lich anzuerkennen ist. Ad (ii). Es wurde soeben gesagt, dass die Selbstbeziehung des unendlichen Subjekts wesentlich darin besteht, Anderes auf sich selbst zu beziehen, indem es durch sein Werk – das Einleuchten oder Offenbaren – zur Erkenntnis seiner selbst als dieses Einleuchten oder Offenbaren führt, also Offenbaren des Offenbarens ist. Damit aber scheint das unendliche Subjekt von diesem Anderen, dem es sich offenbart, in seinem Wesen und seiner Wirklichkeit abhängig zu sein: denn es könnte weder seinem Begriffe nach sein, was es ist – Offenbaren –, ohne ein Anderes, dem es sich offenbart, noch wirklich Offenbarung sein, wenn nicht auch ein Anderes wirklich wäre, dem es sich tatsächlich offenbaren kann. Affirmiert man diesen Gedanken unkritisch, mündet die Reflexion auf den Weg der Selbsterkenntnis im (neo‑)linkshegelianischen Fahrwasser: dass dasjenige, was Hegel zunächst als unendliches Subjekt oder „Gott“ fasst, zu Ende gedacht nichts anderes ist als etwas, das sich durch Vollzüge endlicher Subjekte hindurch erst realisiert. Es ist selten bemerkt – ja: vom Streit zwischen den Links‑ und Rechtshegelianern sogar verdeckt – worden, dass eine solche Auffassung nicht nur in der orthodoxen (christlichen) Theologie eine Gegnerschaft finden muss. Vielmehr bedeutet diese Auffassung, im Lichte unserer Rekonstruktion, nichts anderes als die Aufgabe oder die Leugnung von Philosophie als Selbsterkenntnis. Denn wenn das unendliche Subjekt als wesentlich abhängig von (uns) endlichen Subjekten gedacht wird, bedeutet dies im Lichte unserer Überlegungen nichts anderes als, dass das Einleuchten etwas ist, das sich im Zuge dieses Einleuchtens erst als das, 43 Das Aporetische dieser Debatte ist bis in deren analytisch geprägte Verständnisversuche hinein zu verfolgen, ganz explizit etwa bei Rosefeldt 2006 (in kritischer Auseinandersetzung mit Horstmann 1993).
7.3 Hegel über Gott – und Mensch. Zum Inbegriff des Geistes
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was es ist, ausbildet. Es ist gar nicht recht klar, was das bedeuten sollte. Klar ist aber: Es ginge als solches zwar immer noch über das einzelne Individuum hinaus – aber nicht in einer anderen Weise als dies für „die Kultur“ oder „die Gesellschaft“, also endliche Kollektive, gilt, und auch nicht kategorial anders als wir es für den normativen Zwang der Anschauung qua subjektivem Geist eingesehen haben. In Hegels Worten wäre so also die Reduzierung des absoluten Geistes auf den endlichen Geist behauptet – und damit der Geist ohne seine unendliche Dimension gedacht.44 Das unendliche Subjekt wäre dann nichts anderes als der kulturelle Stand, auf dem das Denken der Menschheit gerade steht und den sich ein auf diesem Stand denkendes Individuum notwendig aneignen muss, wenn es auf der Höhe der Zeit denken will – wobei die Wechselwirkung dieses Standes mit den so-oder-so denkenden individuellen Subjekten eine Art dialektische kulturelle Entwicklung darstellen soll, durch die sich dieser Stand vermittels individueller Leistung historisch sukzessive verändert – wobei gänzlich unklar ist, wie diese Veränderung von einer fixen Idee „der Menschheit“ oder „der Freiheit“ angeleitet und orientiert werden soll, wie der Linkshegelianismus gerne behauptet; eine solche Idee kann ja nichts tun.45 Eine Hegel-Lesart solchen „Geistes“ mündet also in das Fahrwasser eines (mehr oder weniger konsequenten) Historismus und Kulturrelativismus. Es wäre daher konsequent, wenn sie das Projekt der Philosophie als Selbsterkenntnis abschriebe und die Philosophie in die sogenannten „Kultur‑ und Geisteswissenschaften“ überführte46, wie in den Hegel-Lesarten gewisser „Hermeneutiker“ ja auch faktisch geschehen. Solcher Art ist also die Implikation der Behauptung der wesentlichen Abhängigkeit des unendlichen Subjekts vom endlichen Subjekt, wenn man diese als Abhängigkeit von individuellen endlichen Subjekten auffasst. Nun könnte man einwenden, dass die Abhängigkeit doch auch „nur“ als eine Abhängigkeit vom endlichen Subjekt als solchem gedacht werden könnte. Das würde bedeuten – damit wäre (scheinbar) „nur“ behauptet –, dass das Werk des unendlichen Subjekts weder gedacht werden noch wirklich sein könnte ohne den Begriff „des“ endlichen Subjekts bzw. die Wirklichkeit „des“ endlichen Subjekts. Verfolgen wir diesen Gedanken weiter. Dass das unendliche Subjekt nicht ohne den Begriff des endlichen Subjekts gedacht werden kann, folgt aus der in der Wissenschaft der Logik explizierten Dialektik des Unendlichen und Endlichen in der Tat, da das 44 Dies widerspräche unmittelbar Hegels dezidierter Unterscheidung des „endlichen“ und des „unendlichen Geistes“ in Enz. 1830, §§ 385–386. 45 Mir scheint die Diagnose von Joseph Ratzinger ganz richtig, dass so verstandener Hegelianismus letztlich in einen neuen „Mythos“ – den Mythos von der Menschheit in ihrer Selbsterlösung ohne Gott – führt. Allerdings scheint mir Ratzinger darin zu irren, dass er diesen Mythos als zwingende Konsequenz aus Hegel anstatt als Abfall von Hegel wertet (vgl. Ratzinger 1968: 162 ff.). 46 Menke 2008 betrachtet – im Anschluss an Adorno – die Unverfügbarkeit gelingender Vollzüge, schränkt sie aber im eben kritisierten Sinne auf den endlichen Geist ein. Eine interessante, da darüber (theologisch) hinausführende Auffassung findet sich bei Rosenhauer 2018.
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Unendliche seinem unmittelbaren Begriff nach die Negation des Endlichen ist. Durch diese Negation ist das Endliche im Unendlichen immer schon mitgedacht. Doch dies ist nur der erste – und einfache – Schritt des Gedankens; dialektisch wird er durch den zweiten – schwierigen – Schritt: die Einsicht, dass das Unendliche nur dann das Unendliche ist, wenn es nicht am Endlichen seine Grenze findet, durch die es selbst ein Endliches neben dem (anderen) Endlichen würde; dass es somit das Endliche zugleich in sich begreifen oder umfassen (können) muss. Worin genau dieses Verhältnis besteht – zudem nicht nur als Begriffliches, sondern sodann realisiert im Geist – ist eine notorisch schwierige Frage der Hegelrezeption.47 Zusammengedacht sind die beiden Gedankenschritte der Dialektik des Unendlichen und Endlichen nur, wenn sie einander nicht mehr äußerlich und gegenläufig sind (und damit noch den Anschein inkompatibler Denkerfordernisse haben). Wenn also die Unterscheidung des Endlichen vom Unendlichen nur durch sein vom-Unendlichen-Umfasstsein begriffen werden kann – und umgekehrt. Verwirklicht sind die beiden zusammengedachten Schritte nur, wenn wir uns unter „dem Endlichen“ etwas Wirkliches im Unendlichen denken können. Doch „das endliche Subjekt“ oder „die Endlichkeit“ sind zunächst eben nur Begriffe; es gibt nicht neben dem einzelnen Wirklichen – dem je individuellen endlichen Subjekt wie mir – noch ein einzelnes Wirkliches namens „das endliche Subjekt“. Es hat zwar – wie wir gesehen haben – einen philosophisch durchaus wichtigen Sinn, von „dem endlichen Subjekt“ oder von „dem subjektiven Geist“ und seiner Wirklichkeit zu sprechen; doch ist dieser Sinn gerade dann versperrt, wenn man „das endliche Subjekt“ an sich selbst zum wirklichen Einzelnen neben uns, auf Augenhöhe mit uns, erklärt. Damit ist also bestimmt, wonach zu suchen ist: nach einem wirklichen Einzelnen, das sich in seiner Unterscheidung vom Unendlichen – als Endliches – zugleich als vom Unendlichen umfasst begreifen lässt so, dass dieses Endliche wesentlich zum Unendlichen hinzugehört. Hier zeigt sich erneut plastisch, warum dieses gesuchte wirkliche Einzelne nicht ein individuelles endliches Subjekt wie wir sein kann. Ein solches ist nämlich, wie wir gesehen haben, an und aus sich selbst – im Wortsinne – avers gegen das unendliche Subjekt, indem ihm ohne dessen Werk nichts oder das Verkehrte einleuchtend erscheint. Das aber bedeutet, dass es jedenfalls nicht in seiner Unterscheidung vom unendlichen Subjekt von selbigem umfasst ist – sondern trotz ihrer und in ihrer Überwindung. Das gesuchte wirkliche Einzelne muss daher etwas sein, das keinen Hang zum Verkehrten oder Wahrheitswidrigen hat. Wir hatten aber eingesehen, dass ein solcher Hang aus erkenntnislogisch-semantischen Gründen notwendig 47 An ihr hängt, wie Hutter 2007 dargelegt hat, die hegelsche Geistphilosophie im Ganzen – auch deshalb, weil Hegel darin die gemeinsame logische Form vieler der Philosophie wesentlicher Sachprobleme (so z. B. das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit) namhaft gemacht hat.
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ist für die diskursive – also begrifflich und sprachlich artikulierte – Selbsterkenntnis; dass mit diesem Diskursiven selbst also der Hang wesentlich verbunden ist.48 Somit muss das gesuchte wirkliche Einzelne ein Subjekt sein, das zum unendlichen Subjekt in einem nicht-diskursiven Erkenntnisverhältnis steht: das das unendliche Subjekt unmittelbar schaut. Nun sehen wir die Einlösung dessen ein, worauf der Gedanke uns im Übrigen schon vor der Betrachtung der Dialektik des Endlichen und des Unendlichen verpflichtet hatte: Wenn wir an Philosophie als Selbsterkenntnis (auch des Menschen) festhalten wollen, die sich nicht historistisch-kulturrelativ auflöst49, müssen wir die im Offenbarungsverhältnis liegende Abhängigkeit des unendlichen Subjekts von einem Endlichen so denken, dass dieses Endliche nicht unmittelbar selbst ein Mensch (wie wir) ist. Dass das unendliche Subjekt wesentlich von einem solchen „Endlichen“ abhängt, bedeutet sodann, dass sein Werk – das sich-diesem-Subjekt-Offenbaren – auch wesentlich dessen Schau ist; Offenbaren und Schau, Anschauen und Angeschautwerden sind hier also zwei reziproke, ursprünglich verschränkte Momente ein und desselben Offenbarungsaktes. Darin schaut das Andere den Einen unmittelbar als sich-Offenbarenden; und der Eine Offenbarende offenbart sich dem Anderen, der für ihn immer schon als der ihn so Schauende ist, und ist erst dadurch, was er ist, der Eine. Während wir die Offenbarung nur erkennen durch Reflexion auf das diskursive sich-Zeigen, ist besagtes sich-Zeigen unmittel48 Die Verwandtschaft der Form der Diskursivität zum „Bösen“ (der Sünde) ist nicht nur von Hegel (zweideutig) angedeutet worden, sondern auch und gerade von einigen seiner originellen Leser – etwa von Benjamin – klar herausgestellt worden. – Zu betonen ist hier außerdem, dass wir im Überwinden der verkehrten philosophischen Standpunkte „nur“ das Wesen ihrer Verkehrtheit aufgewiesen haben. Wir haben aber – und das ist kein Zufall – nicht deduziert, dass der Mensch verkehrt ist oder denkt; es gibt keine Notwendigkeit, sondern nur die Faktizität solcher Verkehrtheit (vgl. zu diesem Problem – gerade auch im Kontext der (nach‑)idealistischen Philosophie – die Studie von Wenz 2013; zu Hegels Sündenlehre im Besonderen vgl. die klassische und exzellente Studie von Ringleben 1977). In der philosophischen Selbsterkenntnis haben wir eingesehen, dass der Hang notwendig ist, wenn wir diskursiv-begriffliche Selbsterkenntnis haben können sollen; aber dass wir notgedrungen nur (noch) diese anstreben können und müssen – und nicht (mehr) einfach Gott schauen können, das haben wir festgestellt, nicht abgeleitet. (Ebenso wenig lässt sich der Ausstand der Offenbarung ableiten; sehr wohl aber lässt er sich feststellen.) – Diese Auffassung scheint mir parallel zu und kompatibel mit derjenigen Joachim Ringlebens zu sein, der die verbreitete These, Hegel habe die Notwendigkeit der Sünde gelehrt, ebenfalls differenziert und korrigiert, zentriert um den Grundgedanken, dass die Notwendigkeit der Freiheit von der Zufälligkeit ihres Missbrauchs in der Sünde zu unterscheiden sei (vgl. Ringleben 1977: 130). Eine entsprechende Unterscheidung findet sich in unserer Auffassung auf zwei Ebenen: – (i) Wir unterscheiden die Notwendigkeit des Hanges für die diskursive Selbsterkenntnis von der Zufälligkeit des tatsächlichen Vertretens einer verkehrten Auffassung. – (ii) Wir müssen Hegel nicht die Auffassung zuschreiben, dass der Übergang vom nicht-diskursiven Gott-Erkennen zur diskursiven Selbsterkenntnis mitsamt ihrem notwendigen Hang seinerseits notwendig gewesen ist, sondern können ihn als zufällig denken – unabhängig davon, was Hegel hierzu an gewissen Textstellen Missverständliches behauptet haben mag. 49 Und anders als so können wir aus unserem Einleuchten heraus nicht denken. Doch es ist ja keineswegs ungewöhnlich, mit der Philosophie einen ernst gemeinten „Erkenntnis“-Anspruch zu verbinden.
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bar für das Andere. Das „Eine“ und das „Andere“ sind zwei Momente des einen Akts des Offenbarens des Offenbarens. Hegel nennt die logische Form dieses Akts „die Idee“, deren Verwirklichung Gott als (absoluter) Geist ist: „Die Idee ist dies Unterscheiden, das ebenso kein Unterschied ist, das nicht beharrt bei diesem Unterschied. Gott schaut in dem Unterschiedenen sich an, ist in seinem Anderen nur mit sich selbst verbunden, ist darin nur bei sich selbst, nur mit sich zusammengeschlossen, er schaut sich in seinem Anderen an.“50
Da uns nichts anderes als das diskursive Denken gegeben ist, ist dieser nichtdiskursive Erkenntniszusammenhang besonders schwierig zu fassen für uns, in diesem diskursiven Denken. Erhellend und instruktiv vor dem Hintergrund der Anlage unserer Untersuchung ist jedoch, dass Hegel den eben vorgetragenen Gedanken genau als dasjenige präsentiert, was dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ prinzipiell unzugänglich ist – ganz wie sich schon gezeigt hat, dass ohne Offenbarung keine Einsicht in die Wirklichkeit dieser Offenbarung möglich ist. Hegel vertieft diese Überlegung und fährt im Anschluss an den eben zitierten Satz nahtlos fort: „Das ist dem Sinnlichen ganz zuwider; im Sinnlichen ist eines hier und das andere da. Jedes gilt als ein Selbständiges; es gilt dafür, nicht so zu sein, daß es ist, indem es sich selbst in einem Anderen hat. Im Sinnlichen können nicht zwei Dinge an einem und demselben Orte sein; sie schließen sich aus.“51
In der sinnlichen Anschauung sind sowohl die Wahrnehmungsobjekte einander – schon qua räumlicher Relation – äußerlich, als auch weiß ich mich a priori als woanders als alle potentiellen Wahrnehmungsobjekte. Der irrige Standpunkt der „Wahrnehmung“ meint nun zudem, dass im Verhältnis meiner selbst zu diesen Objekten der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins realisiert sei: indem diese sich mir als das, was sie sind, von sich aus zeigen. Sofern dies als die einzige (bekannte) Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins behauptet wird, ist soweit nicht einmal die Möglichkeit – geschweige denn die Wirklichkeit – derjenigen Schau im Blick, von der hier die Rede ist und sein muss. Hegel fasst daher wie folgt zusammen: „Das Wahre ist, daß das Endliche und das Unendliche, das dem Endlichen gegenübersteht, keine Wahrheit haben, sondern selbst nur Vorübergehende sind. Insofern ist dies ein Geheimnis für die sinnliche Vorstellung und für den Verstand, und sie sträuben sich gegen das Vernünftige der Idee. Die Gegner der Dreieinigkeitslehre sind nur die sinnlichen und die Verstandesmenschen.“52
50 VPhR II, 228. Es ist richtig und wichtig, auch aus dieser Edition zu zitieren, da sie trotz gewisser editorischer Bedenken vom gegenwärtigen Standpunkt aus in der Rezeption der Religionsphilosophie Hegels äußerst wirkmächtig war und ist. 51 VPhR II, 228. 52 VPhR II, 228 f.
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Sogleich wird genauer auf diese philosophische „Dreieinigkeitslehre“ einzugehen sein. Zunächst aber ist noch eine wichtige Implikation hervorzuheben, die Hegels keineswegs bloß illustrative, sondern zur Selbsterkenntnis wesentlich hinzugehörige Kontrastierung mit dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ mit sich bringt. Hegel macht in diesen Zitaten deutlich, dass der Gedanke eines in zwei Moment-Subjekte gegliederten Selbstoffenbarungsvollzugs dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ seiner logischen Form nach gar nicht zur Verfügung steht. Auf ihm ist der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins immer schon schematisiert als das sich-Zeigen eines Anderen, das dem, dem es sich zeigt, der Wirklichkeit nach (wenn auch nicht der Erkenntnis nach) äußerlich ist und bleibt – und umgekehrt. Der Gedanke eines Anderen, das zu dem, wovon es Anderes ist, wesentlich hinzugehört, muss an dieser Interpretation des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins bemessen also nicht als falsch, sondern soweit als schlicht unsinnig erscheinen. Auf dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ wird also zum einen – irrtümlich – behauptet, die Wahrnehmung sei eine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins, zum anderen aber der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins an sich selbst schon verengt und verfälscht. So lässt sich nun Hegels rätselhafte Bemerkung aufklären, der Weg der Phänomenologie des Geistes sei nicht nur eine Prüfung der Behauptungen dazu, was den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins erfülle, sondern auch eine Prüfung des „Maßstabs“, an dem diese bemessen werden – also eine Prüfung des Begriffs des „wahrhaft wissenden Bewusstseins“ im Hinblick auf seine geeignete Schematisierung oder Interpretation, durch die er erst in solcher Prüfung konkret anwendbar wird: „[D]er Maßstab der Prüffung ändert sich, wenn dasjenige, dessen Maßstab er seyn sollte, in der Prüffung nicht besteht; und die Prüffung ist nicht nur eine Prüffung des Wissens, sondern auch ihres Maßstabes.“53
Initial muss diese Bemerkung verwirren, ja auf Zurückweisung stoßen. Denn es scheint doch klar, dass eine Veränderung des Maßstabs auf dem Weg der Prüfung ebendiese Prüfung ad absurdum führt: Wenn ich z. B. der Reihe nach verschiedene Fahrzeuge auf ihre Normlänge überprüfen soll und die Längeneinheit in jeder Messung etwas anderes bedeutet, wird diese Messung im Ganzen inkohärent, ein sinnvoller Vergleich zwischen den einzelnen Messungen (und damit Überprüfungen) unmöglich. Wie sich nun gezeigt hat, meint Hegel etwas, das sich im Vergleich mit einem solch ordinären Beispiel des Messens eben nicht zeigen lässt: nämlich dass, gleich wie uns Begriffe durch Einleuchten aufgehen, auch – sozusagen „direkt proportional“ dazu – der Begriff, der die Untersuchung anleitet, näher aufgeht. Wie das möglich sein soll, zeigt sich freilich im Gang der Untersuchung – und es hat sich bei uns daran gezeigt, dass das beschriebene PhG, 60.
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Offenbarungsverhältnis als sinnvoll und wirklich ausgewiesen werden konnte und musste; mitsamt der Einsicht, dass schon dessen Möglichkeit dem anfänglichen Verständnis des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins nicht zugänglich war. Bereits der Übergang vom Standpunkt des „Bewusstseins“ zur Einsicht in das „Selbstbewusstsein“ war ein Fortschritt in der Prüfung des Maßstabs. Das Selbstbewusstsein ist, wie wir sahen, zwar nicht schon an sich selbst die Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins, teilt mit dessen wahrhafter Instanz – der philosophischen Selbsterkenntnis, der Offenbarung – aber die grundlegende Form der Selbstbeziehung. Sie ist im Selbstbewusstsein noch nicht von der Art realisiert, wie die Offenbarung sie erfüllt – nämlich als Selbstbeziehung im Sinne des Zurückholens von Anderem zu sich selbst –, doch immerhin als Selbstbeziehung und nicht mehr Fremdbeziehung, wie sie für den Standpunkt des „Bewusstseins“ ausschließlich gegolten hat. Wir verstehen nun noch genauer, warum Hegel sagen kann, dass wir mit der Einsicht in das „Selbstbewusstsein“ in das „einheimische Reich der Wahrheit“ eingetreten sind: Denn dort wird erstmals der Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins so schematisiert oder interpretiert, dass das sich-Zeigen in Form eines Selbstverhältnisses gedacht wird. In dieser Form ist die Wahrheit „(ein)heimisch“. Nun zurück zur philosophischen „Dreieinigkeitslehre“, wie Hegel sie explizit nennt. Auf die Frage, wie eine „Dreieinigkeitslehre“ der positiven Religion in den Blick der Philosophie kommt und wie diese sich dazu in ein Verhältnis setzt, wird in Kapitel 8 zurückzukommen sein. Die zitierte Passage – und, ihr entsprechend, das eben gegebene Argument – lassen jedoch keinen Zweifel daran, dass Hegel aus reinphilosophischen Gründen die Unterscheidung eines unendlichen und eines endlichen Subjekt-Moments denkt, die beide nur in Abhängigkeit voneinander und unmittelbarer Verschränkung ineinander wirklich sind und durch deren Einheit – als Einheit zweier Moment-Subjekte – erst konsequent gedacht und realisiert ist, was das unendliche Subjekt – als Offenbaren und Offenbaren des Offenbarens – ist. „Das“ unendliche Subjekt ist also das unendliche Subjekt in Unterscheidung von einem endlichen Subjekt, dem es sich zeigt und von dem es dadurch, dass es sich ihm zeigt, wesentlich abhängig ist, weil es ohne es nicht sein könnte, was es ist: sich-Zeigen, Offenbaren. Das endliche Subjekt wird ihm dadurch intern. Es gibt also zwei momenthafte Subjekte, die zusammen den Gedanken des unendlichen Subjekts als wirklichem Einzelnen begreiflich machen; und das unendliche Subjekt im Ganzen, als Eines, ist der durch diese beiden Momente realisierte reine und eine Akt des Offenbarens, den Hegel – in seiner Einheit – „Geist“ nennt; „Geist“ als die nur in soeben referierter logischer Prozessualität zu denkende, an und in sich aber immer schon hergestellte Einheit von Unterschiedensein und Einssein der beiden Momente: „Gott ist der Geist, die Tätigkeit des reinen Wissens, die bei sich selbst seiende Tätigkeit. Aristoteles vornehmlich hat Gott in der abstrakten Bestimmung der Tätigkeit aufgefaßt. Die reine Tätigkeit ist Wissen (in der scholastischen Zeit: actus purus); um aber als Tätig
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keit gesetzt zu sein, muß sie in ihren Momenten gesetzt sein: zum Wissen gehört ein Anderes, das gewußt wird, und indem das Wissen es weiß, so ist es ihm angeeignet. Hierin liegt, daß Gott, das ewig an und für sich Seiende, sich ewig erzeugt als seinen Sohn, sich von sich unterscheidet, − das absolute Urteil. Was er aber so von sich unterscheidet, hat nicht die Gestalt eines Andersseins, sondern das Unterschiedene ist unmittelbar nur das, von dem es geschieden worden. Gott ist Geist; keine Dunkelheit, keine Färbung oder Mischung tritt in dies reine Licht.“54
Hegel macht hier einen Punkt deutlich, auf den wir oben bereits gestoßen sind: dass der Gedanke eines actus purus in abstracto genommen problematisch ist und erst dann voll intelligibel wird, wenn er sich im Gedanken eines unendlichen Subjekts, das Offenbaren des Offenbarens ist, konkretisiert; dann steht der Gedanke eines reinen Aktes nicht dem eines wirklichen Wesens entgegen, weil dieser Akt ein wirkliches Wesen ist – ein unendliches Subjekt in seiner internen Selbstdifferenzierung in zwei Moment-Subjekte, deren Einheit es als Geist ist und die aufgrund ihrer Geistigkeit auch so gedacht werden kann. Erst so ist der Gedanke des unendlichen Subjekts als Offenbaren – als Implikat der philosophischen Selbsterkenntnis – konsequent gedacht. (Dieser genuin auf den Gottesbegriff abzielende Aristoteles-Bezug Hegels muss allen zeitgenössischen Hegel-Rezipienten um McDowell herum, die Hegel und Aristoteles zusammendenken wollen und offenbar meinen, gerade so ohne einen Gottesbegriff auskommen zu können, zumindest eine exegetische Irritation sein.55) Wie Hegel im Anschluss an das Zitat hinzufügt, ist die Unterscheidung zweier Moment-Subjekte parallel zur Unterscheidung von Vater und Sohn in der trinitarischen Gottesvorstellung des Christentums. „Parallel“ bedeutet aber nicht, dass beides schlechthin identisch wäre. Auf die Frage, welche Signifikanz diese Parallele sodann hat und welcher Stellenwert der Religion von der Warte der Philosophie als Selbsterkenntnis zuzumessen ist, wird im 8. Kapitel (zum absoluten Geist) zurückzukommen sein. Das bislang Ausgeführte ist ein reinphilosophischer Gedankengang, der seiner Geltung nach unabhängig von einem religiösen Bewusstsein oder tradierten Gehalten einer positiven Religion ist.56
VPhR II, 223. Vgl. meine diesbezügliche Kritik an McDowell in Oehl 2018b. Eine ausführliche Studie zum Verhältnis von Hegel und Aristoteles hat Dangel 2013 vorgelegt. Er weist auch darauf hin, dass Hegel sich durch (wohl) absichtlich modifizierte Wiedergabe eines zentralen AristotelesZitats subtil von Aristoteles abgrenzt (vgl. 233 ff.) – um, wie mir scheint, mit Aristoteles gegen Aristoteles die Distinktheit des Geistes weit konsequenter zu fassen als Aristoteles. 56 Damit steht nicht im Widerspruch, dass aus den religionsphilosophischen Vorlesungen Hegels zitiert wurde. Die zitierten Passagen in ihrem Kontext werden von Hegel klar als Explikation einer philosophischen Einsicht präsentiert. Selbst wenn sie Anklänge an die religiöse Vorstellung enthalten sollten, ist durch ihre Einbettung in die dargestellte Argumentation sichergestellt, dass diese hier keinen Eingang in den vorgetragenen Gedankengang und den Ausweis seiner Geltung finden. 54 55
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Der Zusammenhang von Offenbarung und interner Ausdifferenzierung des unendlichen Subjekts in zwei Moment-Subjekte hat ein weiteres wichtiges Implikat: Dass diejenigen Linien der Hegelrezeption, die vom „Selbstbewusstsein“ dieses unendlichen Subjekts (oder des Absoluten, Gottes) sprechen, eine wichtige Einsicht Hegels von vornherein zu verfehlen drohen. Hegels philosophischer Gottesbegriff ist vom Begriff der „Offenbarung“ her zu verstehen und zu entwickeln, der seinerseits nicht aufgerafft ist, sondern nichts anderes als Resultat einer Explikation des Einleuchtens, das sich auf dem Weg der Selbsterkenntnis ereignet hat und welches uns daher qua Reflexion auf diesen Weg zugänglich ist. Was Hegel im Hinblick auf seinen Gottesbegriff ausführt – vor allem die Unterscheidung in Gott und ein Anderes, das als solches wesentlich zu ihm und seiner Wirklichkeit intern hinzugehört –, ist nur verständlich von diesem Offenbarungsbegriff her, der eo ipso den Gedanken der Unterscheidung eines sich-Offenbarenden und eines Anderen, dem es sich offenbart, enthält. Dieses Offenbarungsverhältnis ist, wie schon gesagt, nicht schlicht dasselbe wie derjenige Selbstbezug, der Selbstbewusstsein ist. Zwar liegt in der Explikation von Selbstbewusstsein als ein Wissen meiner selbst von mir – worin das soeben sprachlich unterschiedene „meiner selbst“ und „mir“ identisch ist – ebenfalls die denkprozessuale Inanspruchnahme einer aufzuhebenden und schon aufgehobenen Differenz vor; und Hegel nennt dieses logische Verhältnis „den Begriff im allgemeinen“57, der als wirkliche Existenz im endlichen Subjekt „Ich“ ist.58 Doch gleich wie in der Wissenschaft der Logik der „Begriff im allgemeinen“ eben an sich noch nicht die entwickelte „absolute Idee“ ist, ist das endliche Subjekt als Selbstbewusstsein (auch „nur“ seiner logischen Form nach59) nicht schlicht dasselbe wie das unendliche Subjekt als Selbstoffenbarung. Das zeigt sich exakt daran, dass das endliche Subjekt als Selbstbewusstsein nicht mit unbedingter Geltung alle anderen endlichen Subjekte zu sich führen kann, wie dies für das unendliche Subjekt im Werk seiner Offenbarung gilt.60 Kurz und einfach gesagt, implizieren 57 WL
II, 11 ff. Vgl. WL II, 17. 59 An dieser Stelle zeigt sich exemplarisch, dass ein klares und finales Verständnis der logischen Formen zuallererst durch die Explikation der geistphilosophischen Verhältnisse möglich wird. Wenn Hegel also die „(absolute) Idee“ der Logik als absolute Wahrheit des Geistes bezeichnen kann, so meint dies, dass die absolute Idee diejenige logische Form ist, auf die der Geist notwendig stößt, wenn er sich selbst als Offenbarung – und damit als (absolute) Wahrheit – expliziert. Damit ist eo ipso ausgeschlossen, dass die Geistphilosophie bloße Anwendung der Logik sein kann. Vgl. zu diesem Punkt die wichtigen, konzisen Differenzierungen bei Nonnenmacher 2013: 87 f. Auf den internen Zusammenhang von Gott (als Offenbarung) und Wahrheit werden wir sogleich noch zu sprechen kommen. 60 Sans 2010 hat aufgewiesen, dass Hegels Offenbarungsbegriff eine – wie ich es zusammenfassen will – (logische) Doppelnatur zu eigen ist aus dem, was mit Hegel „Urteilsförmigkeit“ (Ur-Teilen, Trennen, Unterscheiden), und dem, was mit ihm „Schlussförmigkeit“ (ZusammenSchließen) zu nennen ist. Das ist vor dem Hintergrund unserer Ausführungen zwingend, da die Unterscheidung innerhalb der Offenbarung sozusagen „ernsthafter“ ist als diejenige innerhalb des Selbstbewusstseins. Innerhalb des Offenbarungsverhältnisses ist das andere Moment58
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diese Differenzierungen nichts anderes als die nur unter den Vorzeichen der Verkehrtheit des endlichen Subjekts strittig scheinende Feststellung, dass Gott nichts hat, an dem er eine unüberwindliche Grenze findet, wohingegen der Mensch diese an jedem Menschen – und erst recht an Gott selbst – hat. Diese Überlegung leitet über zum nächsten Schritt, den wir zu gehen haben. Es hat sich gezeigt, dass das unendliche Subjekt, als Offenbaren des Offenbarens, wesentlich von einem Anderen abhängt – seinem Begriff wie seiner Wirklichkeit nach. Allerdings „nur“ von einem Anderen, das eo ipso wesentlich zu ihm selbst gehört und damit das schon aufgehobene Endliche, ein Moment des Unendlichen, ist.61 Diese interne Selbstausdifferenzierung des unendlichen Subjekts ist eine nicht-diskursive Erkenntnisbeziehung, in welcher das Offenbaren des Offenbarens als unmittelbares einander-sich-Zeigen-und-Schauen realisiert ist. Dies wirft nun die Frage auf, wie sich diese „intern“ zu nennende Selbstoffenbarung des unendlichen Subjekts zu dessen „extern“ zu nennender Offenbarung verhält, deren Adressat wir, als diskursive individuelle endliche Subjekte mitsamt unserem Hang zum Verkehrten, sind. Über einen Begriff dieser Offenbarung sind wir ja erst zu dem der internen Offenbarung gelangt62, im Vergleich zu welchem erstere erst als externe zu unterscheiden ist. Das interne Offenbarungsverhältnis ist, so können wir instruktiv schematisieren, die immer-schon-vollzogene Rückkehr des an sich nie entfernt gewesenen Anderen zum Unendlichen. Eine Rückkehr zu Subjekt das Andere, das im Einen ist, wodurch dieses erst ist, was es ist; innerhalb des Selbstbewusstseins ist das Andere nicht im Einen, sondern unmittelbar das Eine. 61 Die Adäquatheit einer solchen Auffassung, gemäß welcher „der Andere“ „nur“ ein zweites Subjekt-Moment ist, ist in der christlichen Theologie durchaus umstritten. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, stößt die Trinitätslehre Wolfhart Pannenbergs sich gerade in diesem Punkt von Hegel ab (vgl. Oehl 2020). Pannenberg zufolge ist der Sohn als Person, als Aktzentrum, zu denken, dem eine Selbstständigkeit zuzuerkennen ist, die diejenige eines bloßen SubjektMoments kategorial übersteigt. – Hermanni 2017 erinnert daran, dass Eberhard Jüngel Hegels Trinitätslehre theologisch zurückweist, indem er es als ein von Hegel verfehltes Denkerfordernis derselben begreift, den Menschen (und wohl überhaupt: die Endlichkeit als Endlichkeit) definitiv – ewig – von Gott zu unterscheiden. Es hat aber wohl auch in theologischer Hinsicht als offene Frage zu gelten, ob und inwieweit eine derartige hegelkritische Konzeption zurecht Wahrheit und Orthodoxie beanspruchen darf. Besonders scharf bestritten hat dies der Theologe Friedrich Hermanni, wenn er – gegen Eberhard Jüngel gerichtet – dies vertritt: „Gerade durch die ewige Unterscheidung zwischen Gott und dem Endlichen wird […] der transitorische Charakter des Endlichen verkannt und das Endliche deshalb zum Absoluten erhoben […]. Die Demut, die das Endliche auf ewig von Gott unterscheiden will und die Jüngel bei Hegel vermisst, ist keine wahre Demut, sondern nur der Hochmut im Schafspelz der Demut.“ (Hermanni 2017: 420 Fn. 198) – Unsere Untersuchung, so sie sich theologisch weiter entwickeln will, weiß sich jedenfalls mit der Theologie Wolfhart Pannenbergs darin verbunden, dass das zweite Subjekt-Moment letztlich auch als historisch-leibliche Wirklichkeit darzustellen wäre. Vgl. hierzu Kapitel 8 Fn. 69, die kritisch über Hegel hinausführt. 62 Deshalb ist in der Tat zu sagen, dass das Andere des unendlichen Subjekts, das wesentlich zu ihm hinzugehört, ausgehend von uns selbst begriffen wurde; in diesem Sinne trägt es – analog zum Sinn der Christologie – einen menschlichen Zug in sich. Deutlicher wird dies im Folgenden daran werden, dass unser Weg der Nachvollzug Seines (immer schon gegangenen) Weges ist.
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diesem realisierte sich auf dem diskursiv-begrifflich artikulierten Weg der Selbsterkenntnis, wie wir ihn gegangen sind, hingegen als (s)ein zu-sich-zurück-Holen unserer selbst durch das Werk des unendlichen Subjekts – unserer selbst, die wir an sich, aus uns selbst, sehr wohl entfernt (gewesen) sind vom unendlichen Subjekt. Das unendliche Subjekt realisiert durch sein externes Offenbarungswerk also die Zurückholung des Anderen, die in ihm schon immer realisiert ist und deshalb ewig gilt – und realisiert damit, was es selbst immer schon ist, an uns, für die und an denen dies nicht immer schon geschehen ist und als gültig einzusehen ist. Das bedeutet also, dass sich das interne und das externe Offenbarungswerk (oder Offenbarungsverhältnis) des unendlichen Subjekts in der beschriebenen Weise zueinander in Beziehung setzen und differenziert identifizieren lassen. Alles, was im externen Offenbarungsverhältnis anders ist als im internen, ist der Tatsache der Diskursivität und unseres Hangs geschuldet. Das beim-Unendlichen-Sein-des-Anderen ist also der unbedingte, definierende Zielpunkt. Das bedeutet, dass die diskursiv-begrifflich artikulierten einzelnen Gehalte des Einleuchtens und damit verbundenen philosophischen Argumentierens „nur“ Funktionen der Zurückholung des endlichen Subjekts durch das unendliche Subjekt – zu seinem Zwecke – sind. Sie beziehen ihre unbedingte Geltung daraus, dass mit ihnen extern und diskursiv vollzogen werden kann, was im unendlichen Subjekt schon immer (und in nicht-diskursiver Weise) vollzogen ist und damit ewig gilt. Damit einher geht nun, was sich existentiell schon gezeigt hat: dass das, worum es im Philosophieren eigentlich geht, nicht die Akkumulation von Einzelerkenntnissen, sondern die Realisation meiner Begegnung mit dem und meiner Rückkehr zum Absoluten ist. Dies als das, worum es „eigentlich“ geht, zu bezeichnen, ist also keine arbiträre Umwertung der Werte – sondern eine solche, die notwendig folgt aus den metaphysischen und zwecklogischen Verhältnissen, die wir soeben aus dem philosophischen Vollzug heraus aufgewiesen haben. Die Artikulation dieser Verhältnisse ist ja die Explikation – das Er-Kennen – dessen, was uns auf dem Weg schon be-kannt wurde: die Macht des unendlichen Subjekts. Das unendliche Subjekt stellt seine unbedingte Macht also dadurch – im Wortsinne – unter Beweis, dass es diese Mittel und Wege der Zurückholung gibt, durch die allein es diejenigen erreichen kann, denen die unmittelbare Anschauung des unendlichen Subjekts verwehrt ist. Hier hat nun die Rede von „der Menschheit“ im Ganzen ihren Platz: denn das zweite Moment-Subjekt ist „der wahre Mensch“ insofern, als der Mensch ein Gegenüber des unendlichen Subjekts sein soll und das zweite Moment-Subjekt dies immer schon vollkommen ist, und auch insofern, als sein immer schon gegangener Weg nun in Form eines diskursiv vermittelten Weges der Rückkehr und Umkehr für uns alle ist und gilt. Wir verlieren in dieser Rückkehr nicht einfach unseren Hang, sehr wohl aber sind wir davon befreit, ihm aufzusitzen.63 (Hegel sieht darin die Parallele Das ist Hegels philosophische Version von Luthers „simul iustus et peccator“.
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zur christlichen Vorstellung von der Menschwerdung Gottes in seinem Sohn Jesus Christus, durch dessen Erlösungswerk in unserem Fleisch und Blut auf Erden wir alle zu Gott, unserem himmlischen Vater, zurückgeholt, mit ihm versöhnt werden: indem wir Anteil an diesem Werk bekommen, am externen Werk dessen, der intern von Ewigkeit zu Ewigkeit beim Vater ist. Die philosophische Entsprechung dazu ist also, dass wir den Weg des zweiten Moment-Subjekts nachgehen können, indem dieser Weg für uns alle gangbar wird, in Form unseres gemeinsamen diskursiven Denkens und Sprechens.) Damit teilen das innere und das äußere Offenbarungsverhältnis des unendlichen Subjekts den Wesenskern des Zurückholens-des-Anderen-zum-unendlichen-Subjekt. Diesen keineswegs bloß formalen Wesenskern, in dem die Identität zwischen dem inneren und äußeren Offenbarungsverhältnis qua Offenbarungsverhältnis besteht, bestimmt Hegel seinem durchaus material zu nennenden Gehalt nach als „Liebe“.64 Im externen Offenbarungsverhältnis, so Hegel, macht die Liebe in einem Sinne „ernst“, wie dies für das interne Offenbarungsverhältnis nicht gilt, nicht gelten muss und nicht gelten kann65; denn im externen muss sie die am und im individuellen endlichen Subjekt verfestigte Trennung vom unendlichen Subjekt überwinden, das im Hang Abgewendete umwenden. Daraus nun zu folgern, dass das unendliche Subjekt zu seiner maximalen, „ernsthaften“ Realisation also doch von uns und unserem Hang abhänge, ist ein kruder Irrtum, der in einer Unkenntnis des erfahrungsmäßig vermittelten Bedeutungsgehalts des Begriffs der „Liebe“ wurzelt. Dies kann schon an einem Beispiel der zwischenmenschlichen Liebe deutlich gemacht werden: Wer in wahrer Liebe zu seiner Partnerin oder zu seinem Partner steht, findet sich gezwungen – und will sich gezwungen wissen –, auf eine Notsituation so zu reagieren, dass ihr bzw. ihm geholfen und, sofern es sich um eine Notsituation der Beziehung selbst handelt, die Liebe dadurch gerettet und erhalten wird. In diesem Sinne hat das Eintreten einer Notsituation den Liebenden zu seiner Handlung „gezwungen“ – und sofern diese Handlung als höchster Ausdruck seiner Liebe aufgefasst wird, ist diese Handlung in der Tat erst durch diese Notsituation entstanden, da erst durch sie notwendig geworden. Es wäre aber offenkundig Unsinn, daraus zu folgern, dass diese Liebe erst wirklich geworden ist durch die Notsituation und ohne sie gar nicht hätte vollkommen sein können – und gleichermaßen Unsinn wäre es zu meinen, deshalb wiederum diesen höchsten Ausdruck der Liebe nicht mehr als höchsten Ausdruck der Liebe titulieren zu können. Hegel bedient sich also 64 Dass „Liebe“ als Begriff mit materialem Gehalt zugleich zentraler formaler Begriff der spekulativ-logischen Verhältnisse ist, hat Theunissen 1980: 42 ff. klar herausgearbeitet. 65 Vgl. dazu PhG, 18: „Das Leben Gottes und das göttliche Erkennen mag also wohl als ein Spielen der Liebe mit sich selbst ausgesprochen werden; diese Idee sinkt zur Erbaulichkeit und selbst zur Fadheit herab, wenn der Ernst, der Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen darin fehlt. An sich ist jenes Leben wohl die ungetrübte Gleichheit und Einheit mit sich selbst, der es kein Ernst mit dem Andersseyn und der Entfremdung, so wie mit dem Ueberwinden dieser Entfremdung ist.“
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zur Klärung des höchsten und zentralen Verhältnisses seiner Geistphilosophie eines Begriffs, dessen lebendiger und erfahrungsgesättigter Gehalt philosophisch unverzichtbar ist und welcher somit nicht auf Begriffe diesseits solchen Gehalts zu reduzieren ist, also vor allem nicht auf formale Begriffe im gewöhnlichen Sinne des Wortes „formal“. Die in einem berühmten Wort Adornos gebündelte Debatte darum, ob Hegels Absolutes nur in theologischen Kategorien zu artikulieren ist66, scheint mir – jedenfalls auf diesen Punkt bezogen – höchst irreführend, da sie eine grundsätzlichere Einsicht verdeckt: dass Hegel – entgegen seinem logizistischen Ruf – das höchste und zentrale Verhältnis seiner Geistphilosophie jedenfalls nicht für in formalen Kategorien explizierbar hält. Doch „Liebe“ als nicht-formaler Begriff ist kein bloß theologischer Begriff.67 Hegel nennt, so sahen wir, das Offenbarungsverhältnis oder ‑geschehen in beiden Ausprägungen „Geist“. Sofern es in seiner internen Form ausgeprägt ist, ist Geist also ein reines Selbstverhältnis in der unmittelbaren Verschränkung zweier Moment-Subjekte, in seiner externen Form hingegen ein Verhältnis zwischen sich selbst und einem Anderen, dem es sich als solches offenbart und worin es bei gewahrt bleibender Differenz zwischen sich selbst und dem Anderen dieses zu sich zurück führt. Aus dieser Überlegung geht hervor, warum der „Geist“ als Verhältnis zwischen zwei Moment-Subjekten ein Drittes und nicht „bloß“ das Verhältnis dieser beiden ist: denn er geht über dieses interne Verhältnis dadurch hinaus, dass er auch ein externes Verhältnis ist. Es wäre geist-widrig zu denken, dass beide Verhältnisse schlicht ineinander fallen – denn dann gäbe es kein internes Offenbarungsverhältnis im Unterschied zum externen, und somit auch kein unendliches Subjekt, das wesentlich unabhängig von uns ist. Ebenso geistwidrig aber wäre es zu denken, dass dieses Verhältnis sich in einem internen Offenbarungsverhältnis erschöpft; denn dann wäre es gegenüber dem, was nicht schon wesentlich zu ihm gehört, gleich-gültig und mithin, wie Hegel auch sagt, „neidisch“68, verschlossen, also gerade nicht offenbar. Denn: Wir hätten es in 66 Vgl. Adorno 1970: 201: „Vielleicht ist es die tiefste Unstimmigkeit des Idealismus, daß er einerseits Säkularisation zum Äußersten vollziehen muß, um nicht seinen Totalitätsanspruch zu opfern, andererseits jedoch sein Phantom vom Absoluten, die Totalität, allein in theologischen Kategorien aussprechen kann.“ Auch Theunissen 1980: 42 ff. spricht von „christlichtheologische[n], ja christologische[n] Züge[n] speziell der Begriffslogik“. Auch das scheint mir zweideutig: Wenn damit gemeint ist, dass es die auch von uns aufgewiesene Parallele zur dogmatischen Christologie gibt, so ist dies richtig – allerdings wäre erst zu fragen, was aus dieser Parallele folgt. Wenn damit gemeint ist, dass die mit dem Begriff der „Liebe“ explizierten Offenbarungsverhältnisse nur unter der Voraussetzung der dogmatischen Christologie begreiflich zu machen sind, so scheint mir dies unrichtig zu sein. Die Offenbarungsverhältnisse lassen sich rein aus der Reflexion auf den gegangenen Weg der Selbsterkenntnis ableiten und begreifen. 67 Der theologischen Tradition, sofern sie für die Einsicht in die Notwendigkeit nicht-formaler Begriffe empfänglich ist, ist allerdings bezogen auf das verhandelte Verhältnis der Offenbarung als Liebe eine Überlegenheit gegenüber demjenigen Typ von Philosophie zu attestieren, der die Anerkennung eines Begriffs wie desjenigen der „Liebe“ von vornherein ausschließt und darin nichts anderes als formalistischer Dogmatismus ist. 68 Enz. 1830, § 564 A.
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diesem Fall gar nicht ableiten können. Es würde also etwas Geistiges außerhalb seiner selbst belassen müssen und damit seinem Begriff, alles Endliche umschließen und zu sich zurück führen zu können, nicht entsprechen; es müsste also als etwas erscheinen, das sich gegen dieses Endliche erhalten muss – und gerade so kann ein wahrhaft unendliches Subjekt nicht gedacht werden. Somit ist also eine philosophische Trinitätslehre begründet: Erst durch die Unterscheidung zweier Moment-Subjekte lässt sich das unendliche Subjekt als Offenbaren des Offenbarens denken. Sie hat sich als notwendig erwiesen. Erst durch die Unterscheidung eines dritten Moments aber lässt sich die differenzierte Identität von internem und externem Offenbarungsverhältnis denken; es ist das Verhältnis zwischen den beiden ersten Moment-Subjekten, das nun über das bloß interne Verhältnis – allerdings bei Wahrung desselben – hinausgeht und insofern mehr als „nur“ dieses Verhältnis ist. So erst ist das interne Offenbarungsverhältnis in seinem Verhältnis zum externen voll begriffen.69 Ein Zentralbegriff der Verhältnisbestimmung von externem und internem Offenbarungsverhältnis – oder, aufgrund dessen prozessualen Charakters besser: Offenbarungsgeschehen – ist nun aber der ganz alltägliche Begriff des Nachvollzugs. Analysiert man diesen Begriff exakt, so ist mit ihm gedacht, dass dem NachVollzug qua seines Nach-Seins ein Vollzug vorausgesetzt ist; dieser ist das interne Offenbarungsgeschehen. Insofern der Nach-Vollzug ein Nach-Vollzug ist, ist er als Geschehen einerseits von diesem vorausgesetzten Vollzug zu unterscheiden, andererseits aber doch mit ihm insofern identisch, als er dasselbe Geschehen – nämlich hier: der Vollzug einer Rückkehr zum unendlichen Subjekt – insofern ist, als es den Wesenskern mit dem vorausgesetzten Vollzug teilt: die Liebe. Im Begriff des Nachvollzugs ist außerdem der Gedanke enthalten, dass das, was nachzuvollziehen ist, nicht erst dadurch wird, dass ich (es) nachvollziehe – also in Wesen und Gültigkeit eben nicht von mir und meinem (oder sonst jemandes) Nachvollzug abhängt. Entsprechend hat es als ein im tiefen Sinne wahrer – und selbst schon Selbsterkenntnis enthaltender – Satz der Philosophie zu gelten, wenn jemand sagt: „Ich kann das nicht nachvollziehen!“ – oder, ebenso ge69 Für das externe Offenbarungsverhältnis ist es wesentlich, dass das Offenbaren, das uns offenbar wird, immer schon als das Ganze, also auch als das Offenbaren im Sinne des internen Offenbarungsverhältnisses, offenbar ist. Weiter, dass dieses zudem extern ganz durch jedes seiner drei konstitutiven Momente repräsentierbar ist: Es ist ganz richtig gesagt, dass wir zurück zum unendlichen Subjekt – erstes Moment – geführt werden; es ist ebenso richtig gesagt, dass dieses Führen das Werk des Anderen des unendlichen Subjekts – zweites Moment – ist, sofern wir Anteil daran bekommen; und es ist schließlich richtig zu sagen, dass das innere Verhältnis der Offenbarung als solches – drittes Moment – sich dabei in (s)einer externen Form ereignet. (Mit diesem philosophischen Gedanken entspricht Hegel also der christlich-theologischen Auffassung von der Unterscheidung der immanenten und der ökonomischen Trinität mitsamt ihrem Grundsatz „opera sanctae trinitatis ad extra sunt indivisa“ und der These, dass alle drei „Personen“ der Trinität die Gottheit im Ganzen nach außen repräsentieren. Wie schon gesagt, wird später nach der geistphilosophischen Signifikanz dieser an sich durchaus schon erstaunlichen Parallele(n) zu fragen sein.)
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läufig: „Mir leuchtet das nicht ein!“ Beides ist die exakt richtige Beschreibung seiner Situation – und somit, dialektischerweise, faktisch schon Teil der Selbsterkenntnis. Wenn ein Vertreter des Standpunktes des „Bewusstseins“ so spricht, erkennt er darin – freilich ohne zureichendes Bewusstsein – das unverfügbare Einleuchten an. Das so geäußerte Bekenntnis ist ein Stück wahrer Philosophie in ihrem Misslingen. Wir haben also gesehen, dass und in welchem Sinne Hegel Gott als ein wirkliches, selbstständiges Wesen denkt; dass und wie seine Philosophie ihn als solchen unter Beweis stellt, ja wie Gott selbst sich darin unter Beweis stellt. Nun beziehen wir dieses Implikat unserer Reflexion auf den Weg der Selbsterkenntnis noch einmal zusammenfassend auf diesen zurück; denn die Bestimmung des internen wie des externen Offenbarungsverhältnisses in ihrem Unterschied zueinander hat sich ja als notwendiges Implikat des Gedankens der philosophischen Selbsterkenntnis herausgestellt. Hegels zunächst nach bloßer Emphase klingende Rede von Gott als „die Wahrheit“ im ersten Paragraphen seiner Enzyklopädie70 hat also einen ganz nüchternen Sachgehalt71: Sie besagt, dass erst durch den Gottesgedanken die höchste und eigentliche Wahrheit, nämlich die Wahrheit der Selbsterkenntnis als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins, ihrer Möglichkeit wie Wirklichkeit nach konsequent zu Ende gedacht und begriffen ist. Und gleich wie wir es – unbefangen – als wesentliches Bestimmungsmoment eines starken Wahrheitsbegriffs anerkennen, dass wahr dasjenige ist, was, mit Hegel gesprochen, „an sich“ – und nicht erst „durch uns“ – ist, ist durch die Unterscheidung eines internen von einem externen Offenbarungsverhältnis der Wahrheitsbegriff der Selbsterkenntnis eingeholt72; wobei der Offenbarungsbegriff als solcher sich als notwendig erwiesen hat aus der Reflexion auf den voll70 Dort heißt es, die Philosophie hat „die Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne, − in dem, daß Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist.“ (Enz. 1830, § 1) 71 Auf diesen hat auch jüngst Melichar hingewiesen, der pointiert feststellt: „[D]ie Letztbegründung und Gott stellen ein und dasselbe Thema dar“ (Melichar 2020: 550). 72 Hat man diesen internen Bezug zur Wahrheit der Selbsterkenntnis im Blick, verpflichtet man sich – wie schon gesagt – mit der philosophischen Leugnung Gottes als eines wirklichen, selbstständigen Wesens auf einen philosophischen Relativismus. Ein Grund, warum viele Leser die Selbstständigkeit Gottes bei Hegel leugnen und keineswegs die Aufgabe des philosophischen Erkenntnisanspruches damit verbunden wissen wollen, liegt also darin, dass sie diesen Bezug nicht klar im Blick haben. Ein anderer Grund für diese Leugnung ist, dass sie Passagen, in denen Hegel ausschließlich über das externe Offenbarungsverhältnis spricht, für Darstellungen des Offenbarungsverhältnisses insgesamt nehmen. Auf eine solche Stelle beruft sich z. B. Martin 2012: 649 mit seiner Behauptung, dass „Gott“ nach Hegel nicht „je schon realisiert ist“. Das ist bezogen auf die noch ausstehende Realisierung des externen Offenbarungsverhältnisses an vielen individuellen Subjekten richtig, nicht aber für das interne. Theunissen hingegen hat klar gesehen, dass Hegel in der Enzyklopädie das interne Offenbarungsverhältnis als wesentliches Moment Gottes und seiner Offenbarung, in dem und durch das er unabhängig von uns ist, ganz explizit macht, nämlich in § 554: „Der absolute Geist ist ebenso ewig in sich seiende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität“ [Hvh. T. O.]. Vgl. – auch für weitere Ausführungen und weitere Textbelege – Theunissen 1970: 118 ff. sowie Theunissen 1964: 135 ff.
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zogenen Weg der Selbsterkenntnis in seiner eigentümlichen erkenntnislogischsemantischen Form. Wir sehen nun auch ein, warum und in welchem Sinne die philosophische Selbsterkenntnis den Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins erfüllt: Ein Anderes, das nicht von mir abhängt, Gott, zeigt sich mir (offenbart sich mir) als das, was es wesentlich ist. Darin ist also wieder ein wahrhaft „Anderes“, das im Übergang vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein verloren gegangen war; zugleich aber ist die Beziehung zu ihm die qua Selbsterkenntnis realisierte Verbindung meines Selbstbewusstseins mit der Selbstbeziehung Gottes: Ich erkenne, wer ich eigentlich bin, da Gott sich mir als das, was er wesentlich ist, zeigt und mich dadurch zu sich zurückholt. Selbsterkenntnis gibt es für Hegel also nur als Erkenntnis meiner selbst und Gottes, meiner Verkehrtheit und deren Überwindung durch Gott in einem. Hegel schreibt deshalb, dass ohne „Anerkennung“ dieser Verkehrtheit, der „Sünde“, „keine Selbsterkenntniß, ohne deren Aufhebung keine Gotteserkenntniß möglich ist“ 73.
Es ist also durch und durch philosophisch sinnvoll wie gerechtfertigt, vom Offenbaren (des Offenbarens) als „Gott“ zu sprechen. Freilich kann ein philosophisches Bewusstsein diesseits der Offenbarung – also der verkehrte Standpunkt des „Bewusstseins“ – diese Überlegung als eine bloß hypothetische abtun (– wenngleich sie selbst in ihrem hypothetischen Charakter noch interessant genug ist): wenn wahrhafte Selbsterkenntnis dieser Gestalt, dann auch dieser Gott. Aber ist das, was wir vollziehen, wahrhafte Selbsterkenntnis? Was macht uns gewiss, dass es sich in Wahrheit nicht doch bloß um den kulturrelativen oder historischen Selbstverständigungsprozess der Menschheit handelt? Demjenigen, für den sich die Offenbarung ereignet hat, kann aufgrund dieser Erfahrung des Einleuchtens mitsamt seiner in der Reflexion offenzulegenden Implikate, durch die ihm eine neue Welt – der Sinn des Ganzen – aufgeht, nicht anders als gewiss sein, dass es sich um wahrhafte Selbsterkenntnis handelt. Wir haben schon eingesehen, dass dieses Einleuchten immer das Einleuchten des Geistes als Ganzem ist – und dieses kann sich an ganz unterschiedlichen Punkten realisieren. Diesen Gedanken können wir nun so weiterführen und vertiefen: Dieses Einleuchten ist deshalb kein punktueller Blitzschlag, sondern ein zunehmendes Hineingenommenwerden in die Welt des Geistes, weil es letztlich nichts anderes ist als eine Gottesbeziehung des endlichen Subjekts. Da sie Gottesbeziehung ist, ist sie Beziehung zu einem Unbedingten und unbedingt Geltenden und wird auch so erfahren; da sie Gottesbeziehung ist, ist sie – wie zwischenmenschliche Beziehungen auch – eine Entwicklung des mit-dem-Anderen-Vertrautwerdens. Es würde einen Rückfall hinter die Einsicht der Unverfügbarkeit der Offenbarung bedeuten, wenn wir nun ein zwingendes Argument außerhalb derselben angeben könnten dafür, dass Selbsterkenntnis wahrhafte Selbsterkenntnis und GR, 206.
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nicht bloßer Schein ist. Das ist nur zu erfahren und zu erschließen – von jedem Einzelnen; es ist prinzipiell nicht durch bequeme Vorverständigung und Vorabvergewisserung abzukürzen oder gar zu ersetzen. Allein so denkt man den Begriff der Offenbarung konsequent; demgemäß ist also nicht nur zuzugeben, sondern sogar zu unterstreichen, dass die Gewissheit um die Wahrhaftigkeit der Selbsterkenntnis nicht außerhalb des Teilhaftigwerdens an ihr zwingend vermittelbar ist. Hegel hat ein klares Bewusstsein von dieser Tatsache, weshalb er es als nichtzufälliges Signum des gleichsam „am weitesten“ außerhalb der Offenbarung stehenden Denkens auffasst, die Wahrheit als solche abzuerkennen – und sich selbst, als höchste Instanz inmitten absoluter Geltungslosigkeit, im Modus der Ironie über jede mögliche jenseits seiner eigenen Subjektivität liegende Geltung hinwegzusetzen. Hegel macht deutlich, dass ein solches Individuum nicht durch endlichen Zwang welcher Gestalt auch immer – sondern allein durch die Offenbarung – zum Geiste und zu sich kommen kann: „Eben weil die Wahrheit ihre Nöthigung in sich selbst hat, eben darum kann sie nicht in dem Beweise, als einem von der Wahrheit selbst verschiedenen Beweise liegen, – weil sie Geist ist, ist sie dem isolirten Verstande und dessen Beweisen unzugänglich, kann sie nicht dem isolirten, verfallenen Verstande des Menschen zukommen […]. So ist […] alles speculative Wissen durch Verstandesbeweis positiv nicht zu erzwingen; auch die Philosophie muß erfahren, daß ihre Gegner Ohren haben zu hören, und nicht hören, und Augen haben zu sehen, und nicht sehen.“ 74
Daraus folgt freilich nicht, dass es keinen Sinn machen würde, philosophische Texte zu schreiben – genauso wenig, wie aus der Unverfügbarkeit ästhetischer Erfahrung folgt, man müsse aufhören, große Werke der Musik aufzuführen. Sehr wohl aber folgt daraus, dass jeder Zwang(sversuch) zwischen endlichen Subjekten aus der Philosophie nicht nur aus moralischen Gründen, sondern aus dem Wesen der philosophischen Erkenntnis selbst begründet, unbedingt herauszuhalten ist; nicht, weil es in ihr nichts Zwingendes geben würde, sondern – im Gegenteil –, weil das Zwingende Gott selbst ist und ich „es“ somit prinzipiell nicht sein kann.75 Hegel schreibt über den oben genannten Standpunkt, welcher derart „außerhalb“ der Erfahrung des Einleuchtens des Geistes steht, dass er die Wahrheit als solche aberkennt, entsprechend Folgendes:
74 GR,
214. ist daher sehr treffend, wenn Sans 2018 bezüglich der „Alternative“ zwischen einer metaphysischen und einer nicht-metaphysischen Hegel-Lesart – also bezüglich der Alternative ums Ganze – im letzten Satz seiner Untersuchung sagt: „Soll der absolute Geist, von dem die Religion spricht, mehr sein als Individuum (subjektiver Geist) und Gesellschaft (objektiver Geist), ist die Festlegung auf eine reichhaltigere Ontologie und damit Metaphysik unausweichlich. Doch dazu kann niemand gezwungen werden – auch nicht mit dem Hinweis auf den religiösen Glauben.“ (Sans 2018: 547 [Hvh. T. O.]) 75 Es
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„[D]iese Eitelkeit, welche sich jede Wahrheit zu vereiteln, daraus in sich zurückzukehren versteht, und an diesem eignen Verstande sich weidet, der alle Gedanken immer aufzulösen und statt alles Inhalts nur das trockne Ich zu finden weiß, ist eine Befriedigung, welche sich selbst überlassen werden muß, denn sie flieht das Allgemeine, und sucht nur das Fürsichseyn.“ 76
Schlicht inkonsequent ist es aus Hegels Warte jedoch, wenn ein solches Individuum am Programm der Philosophie als Selbsterkenntnis festzuhalten vorgibt, ohne jedoch Gottes Wirklichkeit an-zu-erkennen. Dem radikal Bösen der Bezweiflung der Wahrheit schreibt Hegel deshalb – und auch das ist dialektisch – den wahrheitstreuen Charakter der Konsequenz zu, die im Aberkennen philosophischer Geltungsansprüche als solchen liegt. Zwar ist der Standpunkt dadurch inkohärent, dass er sich selbst nicht einmal affirmieren dürfte (was ein radikal-gewitzter Ironiker vielleicht auch lebendig zu vermeiden weiß?); aber er hat ein Wahrheitsmoment darin, dass er nicht mehr von Gott und (deshalb) auch nicht mehr von der philosophischen Selbsterkenntnis redet. Zum Schluss dieses Abschnitts wollen wir noch eine „Frucht“ (wohl: den Apfel) des zurückgewiesenen Mythos, Hegels Gott sei von uns Menschen abhängig, ebenso zurückweisen: die Meinung, es sei Hegel zufolge der Wahrheit wesentlich, dass es den profunden Irrtum gibt. Das ist falsch, da die Wahrheit – als internes Offenbarungsverhältnis – sich selbst genug ist. Richtig aber ist, dass die Wahrheit in Form der diskursiv-begrifflichen Argumentation aus den dargelegten erkenntnislogisch-semantischen Gründen nur möglich ist, sofern sie gegen etwas gerichtet ist, das als Unsinn und Verwirrung zu gelten hat, in eben dieser Zurückweisung aber auch für denjenigen, der die Wahrheit erkannt hat, verständlich – und in diesem Sinne sinnvoller Unsinn und nicht blanke Verwirrung – sein muss und ist. Mit dieser Differenzierung verbunden war die Einsicht, dass Hegel nicht die Auffassung vertritt, dass das Vertreten des Irrtums notwendig sei, sondern „lediglich“ der Hang dazu. Dass es tatsächliche Vertreter des Standpunkts der „Wahrnehmung“ gibt, ist nach Hegel also nicht apriorisch abzuleiten. Das bedeutet aber nicht, dass ihr Auftreten rein kontingent wäre. Denn die Vertreter affirmieren einen Gedanken, von dem wir einsehen können, dass sein Gehalt eine notwendige Funktion hat für die diskursiv-begriffliche Realisation von Selbsterkenntnis. Dass aufgrund der Unverfügbarkeit der Offenbarung Individuen (noch77) außerhalb ihrer stehen, ist ebenso weder ein notwendiges Faktum noch ein rein kontingenter Befund.78 Notwendig ist aber, dass solche Individuen, wenn sie nicht nichts vertreten wollen oder können, das ver PhG, 58. Hinter diesem „noch“ verbirgt sich das, was mit Hegel eine „philosophische Eschatologie“ zu nennen wäre. 78 Hegel prägt hierfür den Begriff der „realen“ oder „relativen Notwendigkeit“, den wir im Rahmen unserer Diskussion des § 573 der Enzyklopädie besprechen werden (vgl. dazu Abschnitt 8.6). 76 77
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treten, was sie aus sich selbst vertreten können; nämlich, indem sie ihrem Hang tatsächlich aufsitzen. Von der Rolle des Falschen für die Selbsterkenntnis hat Hegel daher eine sehr differenzierte Auffassung. Sie impliziert gerade nicht, dass das Falsche dadurch, dass sein Verstandenwerden wesentlich für die diskursiv-begriffliche Artikulation von Selbsterkenntnis ist, nicht mehr „ohne Wenn und Aber“ das Falsche, Verworrene, Verkehrte wäre – sondern irgendwie auch selbst das Wahre oder ein Teil des Wahren wäre. Hegel verneint eine derartige Vermischung ganz explizit, indem er in metaphorischer Sprache schreibt: „Das Wahre und Falsche gehört zu den bestimmten Gedanken, die bewegungslos für eigne Wesen gelten, deren eines drüben, das andre hüben ohne Gemeinschaft mit dem andern isolirt und fest steht. Dagegen muß behauptet werden, daß die Wahrheit nicht eine ausgeprägte Münze ist, die fertig gegeben, und so eingestrichen werden kann. […] [S]ie ist nicht so Wahrheit, als ob die Ungleichheit [sc. mit dem Falschen, jede Beziehung darauf, T. O.] weggeworfen worden wäre, wie die Schlacke vom reinen Metall, auch nicht einmal so, wie das Werkzeug von dem fertigen Gefässe wegbleibt, sondern die Ungleichheit ist als das Negative, als das Selbst im Wahren als solchem selbst noch unmittelbar vorhanden. Es kann jedoch darum nicht gesagt werden, daß das Falsche ein Moment oder gar einen Bestandtheil des Wahren ausmache. Daß an jedem Falschen etwas Wahres sey, – in diesem Ausdrucke gelten beyde, wie Oel und Wasser, die unmischbar nur äusserlich verbunden sind. […] [Doch] ist das Falsche nicht mehr als Falsches ein Moment der Wahrheit.“ 79
Nun bleibt eine Frage im Zusammenhang mit dem Falschen (oder Verkehrten) zu klären: Stehen diejenigen, die es affirmieren und vertreten, schlicht außerhalb der Offenbarung? Findet die Offenbarung – als unendliches Subjekt – also doch, zumindest noch, eine Grenze an solchen Individuen? Dazu hatte sich soeben schon angedeutet, dass der ironische Leugner der Wahrheit sich dieser im Leugnen eben nicht entziehen kann, sie im Leugnen noch anerkennen muss. Das deutet darauf hin, dass es zwar einen präzisen und gerechtfertigten Sinn hat, ein solches Individuum als außerhalb der Offenbarung stehend zu bezeichnen – eben weil es nicht den vorgeführten Weg der Selbsterkenntnis nach-vollzogen hat –, in einem anderen Sinne aber zu insistieren ist, dass es unbeschadet dessen nicht bloß außerhalb der Offenbarung ist. Dass Hegel so denkt, zeigt er in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes mit seiner Rede davon an, das Absolute sei „schon bey uns“80. „Schon bey uns“ – also wohl auch dort, wo das Denken am Fernsten vom (An‑)Erkennen des Absoluten ist. Verfolgen wir diese Spur genauer weiter. In (und ab) der Überwindung des Standpunktes des „Bewusstseins“ zeigt sich die Wirksamkeit des Absoluten als Offenbarung konkret am Werk des Einleuchtens des Ganzen des Geistes, das eine Überwindung der verkehrten Auffassung der Wahrnehmung und so auch der damit zusammenhängenden, ebenso verkehrten Meinung, die Wahr PhG, 30 f. PhG, 53.
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nehmung sei Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins, bedeutet. Vorher – auf dem verkehrten Standpunkt der „Wahrnehmung“ – zeigt sich das Werk der Offenbarung daran, dass selbst der Vertreter des Standpunktes der „Wahrnehmung“, solange er ernsthaft Philosoph ist und bleiben will, den Gedanken unbedingt-verbindlicher Selbsterkenntnis in Anspruch nimmt, ohne diese als das, was sie ist, irgendwie begreiflich machen zu können, da er faktisch außer der Wahrnehmung keine andere Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins an-erkennt. Stellt ein solcher Vertreter dies faktisch als „bloße Lücke“ dar, ist seine Auffassung unmittelbar mangelhaft und der Aufgabe ausgesetzt, sich diesbezüglich zu entwickeln und zu erklären. Das kann sie, solange sie nicht überwunden wird, aber prinzipiell nicht – denn schon ihre Schematisierung des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins lässt keine andere Instanz als die des sinnlichen Bewusstseins zu.81 Behauptet die Auffassung hingegen offensiv, es gebe keine andere Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins als nur die Wahrnehmung, so ist die Auffassung zum einen notwendig dogmatisch – denn 81 Freilich könnten Vertreter des Standpunktes der „Wahrnehmung“ sich zunächst auf das berufen, womit verbunden wir sie auch beschrieben haben: Die Geltung ihrer Argumentation speist sich – gleichsam eine Ebene unter Hegels Begriff des wahrhaft wissenden Bewusstseins, „quietistisch“ – aus dem bloßen Aufweis materialbegrifflicher Kohärenz (und dem Ausschluss materialbegrifflicher Inkohärenz). Dies reicht, wie wir sahen, in der Tat zu für die semantische Definitheit ihrer Auffassung; doch es ist – wenn überhaupt – nur solange eine mögliche überzeugende Darlegung des Grundes ihres (unbedingten) Geltungsanspruches, als sie ignorieren, dass es andere Begriffsbedeutungen geben kann und gibt, so z. B. unsere hegelschen, die eo ipso andere materialbegriffliche Kohärenzen und Inkohärenzen implizieren. Auf der Ebene so verstandener „Sprachanalyse“ kann sich der Standpunkt der „Wahrnehmung“ also geltungstheoretisch prinzipiell nicht rechtfertigen; er kann konkurrierende Semantiken wie die hegelsche prinzipiell nicht in seine Geltungslogik integrieren (vgl. dazu auch Fn. 16), ist damit also entweder dogmatisch oder zumindest mit einem nicht zu behebenden blinden Fleck ausgestattet, den er irgendwie verbrämen muss. Umgekehrt gilt dies nicht; unsere hegelsche Theoriebildung hat einen konstitutiven Platz für die Gegenposition. Von der hegelschen Warte aus ist freilich nicht überraschend, dass die Gegenposition auch geltungslogisch inkohärent ist und sich so indirekt (oder negativ) das Werk der Offenbarung an ihr zeigt: das Verkehrte kann nicht wissen, warum es wahr ist – weil es ist ja nicht wahr –, aber auch nicht wissen, warum es verkehrt ist – sonst wäre es nicht verkehrt. Es kann nur meinen, warum es wahr ist; wie es auch nur meinen kann, dass es wahr ist. – Eine besondere Bemerkung ist an dieser Stelle noch zu Sebastian Rödls Konzeption zu machen: Rödl würde wohl zustimmen, dass „bloße“ sinnliche Wahrnehmung nicht die philosophische Erkenntnis, dass sinnliche Wahrnehmung wahrhaftes Wissen sei, ermögliche, aber vertreten, dass sinnliche Wahrnehmung eben nicht „bloß“ sinnliche Wahrnehmung ist, sondern immer schon selbstbewusste sinnliche Wahrnehmung, in der das Wissen um sie – Selbsterkenntnis – immer schon unmittelbar liegt. Doch diese Konzeption impliziert, dass jedes Subjekt qua Vollzug der sinnlichen Wahrnehmung über Selbsterkenntnis verfügt. Philosophischer Irrtum wäre nicht mehr möglich. Rödl scheint daher vertreten zu müssen (und zu wollen), dass es solchen Irrtum auch nicht wirklich gibt; dass Irrtum nur Schein oder blanker Unsinn ist. Das scheint mir die konsequenteste Ausarbeitung des Standpunktes der „Wahrnehmung“ zu sein – die aber, von unserer Warte, ihre Verkehrtheit nicht zuletzt darin offenbart, dass sie keinen wirklichen Irrtum in Bezug auf die Selbsterkenntnis denken kann. Sie leugnet die Wirklichkeit des Bösen und verharmlost dieses genau dadurch. Diese (und jede) Verharmlosung des Bösen aber ist ein Werk des – Bösen.
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es kann kein rechtfertigender Grund für sie gefunden werden –, zum anderen aber evident inkonsistent, performativ widersprüchlich. Sie führt sich als Philosophie ad absurdum. Sie gleicht sich dadurch der äußersten Offenbarungsferne an, die Hegel auch als die maximale Zuspitzung des Bösen charakterisiert: die Leugnung jeder Gültigkeit, insbesondere jeder unbedingten Gültigkeit von philosophischer Erkenntnis, also Selbsterkenntnis. Selbst in dieser zugespitzten Ausprägung des Bösen ist die Offenbarung aber noch dahingehend an-wesend, dass sie dieses Böse in die Form des unmittelbaren Selbstwiderspruches zwingt: denn nur unter der stillschweigenden Anerkennung dessen, was sie leugnet, kann sie eine Position sein, die sich in den Raum der Verbindlichkeit hinein äußert, also eine Geltung beanspruchende Position. (Daran ändert die Versicherung, das würde sie gar nicht tun (wollen), im Übrigen nichts. Konsequent wird diese Position nicht durch diese Versicherung, sondern durch Selbstannihilierung im radikalen Schweigen.) Ausgehend von dieser Maximalform des Bösen und Verkehrten lässt sich nun deren Fortwirken in allen philosophischen Verkehrungen aufweisen, das Hegel im obigen Zitat plastisch als „Verunreinigung“ der Begriffe beschreibt: Für den Standpunkt der „Wahrnehmung“ haben wir das soeben schon beschrieben. Doch auch im Übergang zum ebenfalls verkehrten Standpunkt des „Selbstbewusstseins“ – durchaus sogar auf Basis der Erkenntnis, dass die Wahrnehmung keine Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins ist – kann sich das Böse fortschreiben und tut es: nämlich, indem eine Identifikation von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis behauptet wird. Auch eine solche ist, von unserer hegelschen Warte, notwendig dogmatisch oder blind82; es kann keinen zureichenden Sachgrund für sie geben. Selbstbewusstsein ist das Wissen, dass ich ich bin, realisiert (auch) in der Anschauung – wovon das endliche Subjekt diesseits der vollen philosophischen Selbsterkenntnis allerdings nichts weiß. Aus diesem Wissen des „Ich bin Ich“ folgt keine Auskunft darüber, wer oder was ich eigentlich oder wesentlich bin, also keine Antwort auf diejenigen Frage(n), durch die das Projekt der philosophischen Selbsterkenntnis angeleitet und definiert ist. Dass wir selbstbewusst sind, schließt nicht einmal die im Vergleich zum Standpunkt der „Wahrnehmung“ fortgeschrittene, wenngleich immer noch falsche Meinung ein, das Selbstbewusstsein sei die Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins; denn sonst müsste jeder Mensch, qua Selbstbewusstsein, schon über den bloßen Standpunkt der „Wahrnehmung“ hinaus sein. Die Identifikation von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis hat, so sagten wir, notwendig keinen rechtfertigenden Sachgrund. Sehr wohl aber gibt es nach Hegel eine nicht-psychologische Erklärung für ihre Behauptung: In ihr spinnt sich das Böse fort, das sich möglichst von der Wahrheit, die Gott und seine Offenbarung selbst ist, fernhalten, sich gegen sie und Ihn behaupten will. Vgl. dazu Fn. 81, die sich hier analog anwenden lässt.
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7.3 Hegel über Gott – und Mensch. Zum Inbegriff des Geistes
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In diesem Lichte können wir das Böse noch präziser und plastischer – und: traditioneller – bestimmen: Es besteht im Kern darin, Gott und seine Offenbarung möglichst nicht anzuerkennen, nicht wahrhaben zu wollen. Auf dem Standpunkt des „Selbstbewusstseins“, sofern das Selbstbewusstsein mit Selbsterkenntnis identifiziert wird, wird der Offenbarungscharakter der Selbsterkenntnis faktisch aberkannt und stattdessen behauptet, irgendwie müsse das Ganze der Selbsterkenntnis doch immer schon „in mir“ sein und gewesen sein. Wo auch sonst? So die berechtigte Frage auf diesem Standpunkt. Vertretern desselben ist freilich nicht entgangen, dass die unmittelbare Absurdität der Behauptung, dass das Wahre schon immer „in mir“ war – also auch, als ich noch irrte –, nur dann umgangen werden kann, wenn man einem der drei eingangs dieses Kapitels mit Hegel zurückgewiesenen Manövern folgt: (i) Das Wahre werde von mir immerhin „implizit“ gewusst; (ii) mein Irrtum sei nur Schein (oder blanker Unsinn); (iii) ich hätte nur inkohärent gedacht. Ein viertes Manöver, gleichsam als Inbegriff dieser drei, können wir nun in seiner Wurzel begreifen: Man gibt dem „ich“ in dem Satz, die Wahrheit sei immer schon „in mir“, eine sogenannte „höhere Bedeutung“. „Das Ich“ – groß geschrieben! –, so ist zu hören, sei freilich nicht ich, sondern „das absolute Subjekt“, das aber explizit nicht Gott sein soll. Fichtes (frühe) Philosophie ist von Hegel so verstanden worden: als diese Verwirrung des radikal Bösen. Da Gott nun das unendliche Subjekt ist – trivialiter das einzige –, ist das Böse als Nichtanerkennenwollen Gottes eo ipso der Dogmatismus der Endlichkeit: dass das Endliche – verunendlicht werden soll. Der von Hegels Warte aus schlicht widerlogische Charakter des Bösen zeigt sich auch schon in dieser Formulierung.83 Nun wird verständlich, warum Hegel im § 386 der Enzyklopädie, der die Einteilung der Philosophie des Geistes im Ganzen ankündigt, aufs engste seinen Begriff des „Bösen“ oder „Eitlen“ mit dem dogmatischen Insistieren auf dem Endlichen als vermeintlich einzig Wirklichem verbindet.84 Dabei hebt er hervor, dass die Dreiteilung der Philosophie des Geistes – in den subjektiven, den objektiven und absoluten Geist – sich notwendig mit einer Zweiteilung – in den endlichen und den unendlichen, den absoluten, Geist – verbindet. Denn der unendliche Geist besteht als externes Offenbarungsverhältnis wesentlich, so Hegels wunderbare Formulierung, im „Vernichtigen des Nichtigen“, im „Vereiteln des Eiteln“85. Wir haben nun gesehen, dass seine externe Offenbarung die Überwindung des Insistierens auf der Endlichkeit als einzig Wirklichem ist, als welches sich das Böse in seinem (Fort‑)Wirken auf allen dargestellten Stufen manifestiert. Erst an dieser Stelle können wir auch voll begreifen, warum Hegel 83 Vgl. dazu erneut Hutter 2007, der die Paradoxie des verunendlichten Endlichen primär am Beispiel der Zeit klar herausarbeitet. 84 Fulda 2018 spricht hier treffend von einem „Finitismus des Geistes“. 85 Enz. 1830, § 386 A. Eine Variation auf diesen hegelschen Grundgedanken habe ich – wenn auch in noch gröberer Form und bloß mit Fokus auf die Moralität – in Oehl 2017 vorgetragen.
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seine Metaphysik des „Idealismus“ – in ihrem Gegensatz zum „Materialismus“, wie wir ihn bei Rödl entwickelt sahen – nicht nur als Zurückweisung der Auffassung darstellt, die Natur selbst sei tätig (und damit nicht der Geist ihr Erstes) und „wahr“ im Sinne des wahrhaft wissenden Bewusstseins seien sich-zeigende Dinge der Natur. Hegel fasst seine idealistische Metaphysik bewusst weiter, um mit ihr die Einsicht einzuschließen, dass auch auf keiner sonstigen endlichen Stufe – vom Selbstbewusstsein bis zum Staat und der Weltgeschichte – das wahrhaft wissende Bewusstsein realisiert und somit von einem wahren, sichzeigenden Ansich die Rede sein könne: „Der Satz, daß das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus. Der Idealismus der Philosophie besteht in nichts anderem als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen.“86
Hegels diesem Gedanken entsprechende Rede vom „Vernichtigen des Nichtigen“ und „Vereiteln des Eiteln“ ist mit dem § 386 der Enzyklopädie nun an einem Ort lokalisiert, wo Hegel das Ganze seiner Geistphilosophie in den Blick nimmt. Deshalb ist es angemessen, dies nun mit ihm zu tun – und vor dem Übergang zum absoluten Geist (Kapitel 8) makroskopisch zu fragen, inwieweit unsere Untersuchung dieses „Ganze“ rekonstruiert hat, obwohl sie offenbar nicht vom objektiven Geist gehandelt hat.
7.4 Ist die(se) Selbsterkenntnis des Geistes das (System‑)Ganze? Es ist klargeworden, warum Hegel immer dort, wo er den Begriff der Offenbarung erläutert, auch vom „Bösen“ oder „Eiteln“ spricht. Beide sind – im erläuterten Sinne – Gegenmächte, wenngleich freilich asymmetrische, was sich im Niederschlag der Offenbarung selbst im radikal Bösen zeigt. Dieser Zusammenhang gliedert sowohl den schon erwähnten, zentralen § 386 – die Einteilung der Philosophie des Geistes im Ganzen – als auch den § 571 (jeweils mit Anmerkungen), wo Hegel die geoffenbarte Religion und die spekulative Philosophie gemeinsam qua Offenbarung auf eine Seite stellt und gegen die Selbstermächtigung des Bösen und Eitlen kontrastiert. Auf die innere Auffächerung des absoluten Geistes wird im folgenden, letzten Kapitel 8 einzugehen sein. Der letzte Abschnitt des vorliegenden Kapitels 7 hingegen soll einem makroskopischen Blick auf besagten § 386 gewidmet sein, der den Paragraphen zum Begriff des Geistes – in welchem der Offenbarungsbegriff als dessen Definiens auftritt (§§ 383 und 384) – folgt. Er ist zugleich der Beleg, dass der mit der Phänomenologie des Geistes begonnene Gedankengang unserer Untersuchung in keiner Weise demjenigen der Enzyklopädie widerspricht, sondern ihm vielmehr WL I, TWA, 172 (vgl. auch WL I 1832, 156 f.). Vgl. außerdem WL I, GW, 82 ff.
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7.4 Ist die(se) Selbsterkenntnis des Geistes das (System‑)Ganze?
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durch und durch entspricht (– was freilich nicht heißt, dass in der Enzyklopädie nichts Weiteres verhandelt würde). Der Haupttext des – oben bereits partiell zitierten – § 386 lautet: „Die zwei ersten Theile der Geisteslehre befassen den endlichen Geist. Der Geist ist die unendliche Idee, und die Endlichkeit hat hier ihre Bedeutung der Unangemessenheit des Begriffs und der Realität mit der Bestimmung, daß sie das Scheinen innerhalb seiner ist, − ein Schein, den an sich der Geist sich als eine Schranke setzt, um durch Aufheben derselben für sich die Freiheit als sein Wesen zu haben und zu wissen, d.i. schlechthin manifestirt zu sein. Die verschiedenen Stufen dieser Thätigkeit, auf welchen als dem Scheine zu verweilen und welche zu durchlaufen die Bestimmung des endlichen Geistes ist, sind Stufen seiner Befreiung, in deren absoluten Wahrheit das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten, das Erzeugen derselben als eines von ihm gesetzten, und die Befreiung von ihr und in ihr eins und dasselbe sind, − einer Wahrheit, zu deren unendlichen Form der Schein als zum Wissen derselben sich reinigt.“
Über dasjenige, was in Abschnitt 7.2 bereits ausgeführt wurde, hinaus enthält dieser Paragraph noch zwei weitere wichtige Einsichten: (i) Er macht weiter klar, weshalb es möglich ist, den Weg der Philosophie des Geistes zu gehen, ohne vorher separat Logik und Naturphilosophie betrieben zu haben – warum als der Weg der „Geisteslehre“ im Ganzen, dessen Inbegriff das „Vernichtigen des Nichtigen, das Vereiteln des Eiteln“ ist, auch der Weg der Selbsterkenntnis in derjenigen Form gegangen werden kann, wie ihn die Phänomenologie des Geistes (vor‑)zeichnet. Der Grund dafür ist nicht, dass die Logik (oder der Begriff ) und die Naturphilosophie (oder die Natur) – ihr Verhältnis zueinander sowie jeweils zur Geistphilosophie (oder zum Geist) – dafür irrelevant wären, sondern vielmehr, dass sie – soweit sie für besagten Weg relevant sind – in ihm enthalten und traktiert sind. Der Weg, wie wir ihn gegangen sind, besteht zunächst in der Überwindung des Standpunktes der „Wahrnehmung“; d. h. in der Einsicht, dass die Natur nicht von sich selbst her ist, indem sie sich zeigt, sondern nur das Andere des Begriffs und als Anderes des Begriffs ist, als in der Anschauung begrifflich Repräsentiertes und Gesetztes. Nichts anderes ist im Übergang von der Logik zur Naturphilosophie als solchem, freilich auf Basis der einzelnen Bestimmungen der Logik, artikuliert – und nichts Weiteres als dieses Verhältnis von Begriff und Natur muss gewusst werden auf dem Weg der Selbsterkenntnis und für ihn. Hegel drückt eben diesen Punkt im § 386 so aus: in der „absoluten Wahrheit [sc. des Weges der Selbsterkenntnis]“ sei „das Vorfinden einer Welt als einer vorausgesetzten [sc. der Ausgangspunkt, der Standpunkt der ‚Wahrnehmung‘], das Erzeugen derselben als eines von ihm gesetzten [sc. die Einsicht über das Verhältnis von Begriff und Natur/Welt in der Überwindung dieses Standpunktes], und die Befreiung von ihr [sc. vom Schein des dem Geist Vorausgesetztseins der Natur/Welt, und zwar durch diese Einsicht und durch Reflexion auf sie] und in ihr eins und dasselbe [sc. ein Weg der Selbsterkenntnis als Ganzer]“.
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Es ist, wie mir scheint, darüber hinaus sogar zu sagen, dass der Gedanke der Entäußerung des Begriffs zur Natur (im Übergang von der Logik zur Naturphilosophie) erst in der Philosophie der Wahrnehmung bzw. Anschauung zu voller Klarheit gelangt; denn mit „Entäußerung des Begriffs“ kann ja keine „Tätigkeit des Begriffs“ gemeint sein, die sich unabhängig von dem Einzigen, das wahrhaft tätig sein kann, nämlich Geist, verstehen ließe. Wie gesagt, ist nun der Übergang von der Logik zur Naturphilosophie – wenn man ihn in der Anordnung des enzyklopädischen Systems vollziehen würde – nur auf Basis der einzelnen Bestimmungen der Logik – vor allem ihrer Zentralbestimmung, „dem Begriff “ in seiner unendlichen Form, der absoluten Idee – möglich. Das bedeutet, dass wir auf ihn gestoßen sein müssen, wenn wir diesen Übergang auf dem Weg der Selbsterkenntnis – die immer schon Philosophie des Geistes ist – faktisch mitvollzogen haben. Und in der Tat ist das der Fall – gleich in zweierlei Hinsicht: – Wir haben die logischen Verhältnisse der internen und externen Offenbarung Gottes ebenso wie das Selbstbewusstsein des endlichen Subjekts differenziert aufgeklärt – und nichts anderes als diese Verhältnisse thematisieren die Zentralbestimmungen der Wissenschaft der Logik, wie sie in der Begriffslogik entwickelt sind. – Der Dreischritt von Seins-, Wesens‑ und Begriffslogik war in seiner Grundstruktur auf unserem Weg ebenfalls nachvollzogen worden: es wurde gezeigt, dass die Dialektik von Etwas und Anderem in der Wahrnehmung nicht gedacht werden kann als schlicht gegeben – nach dem Modell der Seinslogik – noch unter den wesenslogischen Verhältnisbegriffen der Kausalität und der Kraft, sondern allein durch die Logik begrifflicher Repräsentation, wie sie in Kapitel 5 zusammenfassend erläutert wurde. All dies soll, um es unmissverständlich hervorzuheben, nicht besagen, – dass der Weg in derjenigen Form oder Reihenfolge, wie ihn die Enzyklopädie vorführt – Logik, Naturphilosophie, Philosophie des Geistes – nicht ebenfalls gangbar ist. Sehr wohl allerdings will ich Zweifel daran äußern, ob – jedenfalls für den dargestellten Inbegriff der Philosophie des Geistes – durch diese Form etwas gewonnen sein kann gegenüber der initialen Anlage der Phänomenologie des Geistes. Insbesondere birgt diese Form die Gefahr, das Systemganze und damit ebenso den Inbegriff der Geistphilosophie als bloße Vollstreckung dessen, was in der Logik „eigentlich“ schon erkannt wurde, zu lesen. Dies ist der logizistische Eindruck, den die hegelsche Philosophie etwa auf den späten Schelling und andere gemacht hat. Bezogen auf den Inbegriff der Geistphilosophie ist vor allem ein Aspekt dieser Gefahr hervorzukehren, vor der Hegel selbst bemerkenswerterweise an einigen Stellen seines Werks warnt: die kategoriale Differenz zwischen begrifflich-abstraktiven und geistig-realen Zusammenhängen zu übersehen und unterzubetonen, die sich wesentlich darin zeigt, dass eine geistwidrige Verkehrung des endlichen Subjekts – das Böse – nur als geistiger Zusammenhang – und niemals als innerlogischer – auftreten kann. Hegel drückt dies da-
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durch aus, dass Negativität im Vollsinne nur vom Geiste auszusagen sei. Eine Lesart der Logik, die diesen Gefahren entgehen will, hat also des Abstraktionscharakters des Begriffs gegenüber dem Geiste strengstens eingedenk zu sein – und sich daher wohl von der Fülle des Geistes her in die Logik hineinzulesen, wie dies beispielsweise in Michael Theunissens Monographie Sein und Schein geschieht.87 Damit aber wird die Logik faktisch eher der letzte denn der erste Systemteil. – dass die Erörterungen der Logik nicht erhellend wären – zunächst auf der rein exegetischen Ebene, wenn Hegel in Passagen der Geistphilosophie Begriffe verwendet, die er als solche in der Logik erörtert hat und die dort zu studieren unter exegetischen und hermeneutischen Gesichtspunkten sinnvoll und geboten sein kann. Davon haben auch wir in unserer Untersuchung Gebrauch gemacht – und zwar gerade bei dialektischen Begriffsentwicklungen, deren Überzeugungskraft gleichsam unmittelbar nachzuvollziehen ist und die somit nicht einmal den Eindruck erwecken können, eine bloße hegelsche Idiosynkrasie zu sein. Allen voran ist hier die Dialektik des Endlichen und Unendlichen zu nennen.88 – dass nicht mehr in der Logik oder der Naturphilosophie stünde als das, was auf dem vorgetragenen Weg der Selbsterkenntnis mitverhandelt wurde. Freilich ist die Logik reich an detaillierten Begriffserörterungen im Einzelnen, und ebenso stellt die Naturphilosophie nicht eine bloße Feststellung des Naturbegriffs als solchen dar, sondern sämtlicher Aspekte der (Form der) Natur, die aus philosophischer Sicht möglicherweise namhaft zu machen sind. Auf die Bestimmungen von Raum und Zeit sowie des Lichts sind wir auch in unserer Untersuchung gestoßen. Somit gilt allerdings, dass auf unserem Weg alle für den Inbegriff der Geistphilosophie – als „Vernichtigen des Nichtigen, das Vereiteln des Eiteln“ – notwendigen Grundzüge von Logik (oder Begriff ) und Naturphilosophie (oder Natur) mitverhandelt wurden. Hegel von diesem Inbegriff her zu lesen, ist nicht nur exegetisch zu begründen – etwa anhand dieses Zitats und seiner Kontexte –, sondern auch und vor allem durch die argumentative Schärfe, die in diesem Inbegriff liegt. In diesem Sinne kann – angelehnt an ein bekanntes Wort Dieter Henrichs – durchaus gesagt werden, dass dieser Inbegriff eine – ja die – ursprüngliche Einsicht Hegels ist, auf deren bestmögliche Entfaltung sein Werk insgesamt hindrängt.89 Vgl. Theunissen 1980. Ein gutes Beispiel für eine direkte Plausibilisierung derselben ist die Auseinandersetzung der Dialektik des Endlichen und Unendlichen mit Fokus auf die Zeit bei Hutter 2007. 89 Dieter Henrich hat dieses Wort zwar bekanntlich primär im Hinblick auf Fichte geprägt, aber auch über Hegels Philosophie des Absoluten etwas gesagt, woran unsere Untersuchung konkret anzuschließen sucht: Nämlich dass der Gedanke des Absoluten philosophisch – mit und nach Hegel – gerade „nicht zwingend in der Gestalt [des Systems, T. O.] expliziert werden muß, die Hegel ihm gegeben hat.“ Er bleibe, so Henrich, „immer der Explikation bedürftig. Die gesamte Entwicklung des Denkens, die in Hegels System kulminierte, hat viele Ressourcen zu einer solchen Explikation erschlossen. Man kann sich ihrer erinnern und sie zusammen mit 87 88
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Es ist solchen ursprünglichen Einsichten zwar wesentlich – in hegelscher Form der Philosophie allemal – nicht einfach geradezu dahingesagt und in wenigen Sätzen zusammengefasst werden zu können. Hegel betont auffälligerweise gerade im Hinblick auf den Gottesbegriff, dass mit ihm nicht angefangen werden könne, weil „Gott“ zu Beginn der Philosophie ein bloßes Wort und der unvorbereitete Gebrauch desselben daher bloßes Geschwätz sein könne.90 Dem hat die vorliegende Untersuchung dadurch Rechnung getragen, dass die Wirklichkeit Gottes als Offenbarung aufgewiesen wurde in nachträglicher Reflexion auf den tatsächlich-vorausliegenden Gang des Weges der Selbsterkenntnis, der nicht anhebt mit einem „hohen“ metaphysischen Begriff, sondern mit dem „niedrigen“ Sachproblem der sinnlichen Wahrnehmung. Unbeschadet dessen aber ist es eine Gefahr für ursprüngliche Einsichten, dass sie durch eine katalogartige Ausdehnung scheinbar gleich(ge)wichtigen philosophischen Materials faktisch verdeckt zu werden drohen. Man kann Fichte dafür bewundern, der Versuchung einer solchen Ausdehnung um der fokussierten Entfaltung seiner ursprünglichen „Einsicht“ willen widerstanden zu haben. Hegel sollte man aus der Warte seiner ursprünglichen Einsicht aber nicht schon deshalb für die Idee (s)einer Enzyklopädie kritisieren – denn, wie gesagt, widerspricht deren Anlage ihr nicht. Sie kann – von der Einsicht her gelesen – sogar erhellend sein. Allerdings lädt die Enzyklopädie zumindest vordergründig dazu ein, philosophische Informationen über dies und das zu rezipieren und zu meinen, diese in Akkumulation seien ihr Wesen oder gar das Wesen des Geistes. Dass sie diesen Anschein haben kann, mag wiederum den Erfordernissen des Lehrens geschuldet sein, denen Hegel in Berlin ausgesetzt war und von denen her auch die faktische Gestalt der Enzyklopädie als „Grundriss“ rührt. In dieser Gestalt ist die Enzyklopädie kein Buch, sondern eine Unterlage zum Verfolgen von Vorlesungen, in denen diejenige Bewegung als Bewegung (nach)vollzogen werden – ihr zugesehen werden – kann, als die wir den Inbegriff der Geistphilosophie vorgeführt und erkannt haben. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang nun, dass Hegel selbst davor warnt, die Enzyklopädie als eine Darstellung von Informationen über den Geist zu lesen – und zwar just im eröffnenden Paragraphen der Philosophie des subjektiven Geistes, in deren Sphäre ja der Inbegriff der Geistphilosophie, wie wir ihn rekonstruiert haben, seinen Ansatz hat und seinen Ausgang nimmt: Hegels spekulativer Begriffsform durchdenken, ohne aber auf irgendeine uns überkommene Explikation festgelegt zu sein. Die Tradition spekulativen Denkens, in die vor erst zweihundert Jahren durch Hegel und seine Freunde ein ganz neuer Impuls gebracht wurde, muß uns nicht für abgeschlossen, und seine Potentiale müssen nicht für erschöpft […] gelten.“ (Henrich 2007: 30) 90 Vgl. PhG, 20: „Das Bedürfniß, das Absolute als Subject vorzustellen, bediente sich der Sätze: Gott ist das Ewige, oder die moralische Weltordnung oder die Liebe u.s.f. In solchen Sätzen ist das Wahre nur geradezu als Subject gesetzt, nicht aber als die Bewegung des sich in sich selbst Reflectirens dargestellt. Es wird in einem Satze der Art mit dem Worte: Gott, angefangen. Diß für sich ist ein sinnloser Laut, ein blosser Nahme […].“
7.4 Ist die(se) Selbsterkenntnis des Geistes das (System‑)Ganze?
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„Wie im Begriffe überhaupt die Bestimmtheit, die an ihm vorkommt, Fortgang der Entwicklung ist, so ist auch an dem Geiste jede Bestimmtheit, in der er sich zeigt, Moment der Entwicklung und in der Fortbestimmung[.] Vorwärtsgehen seinem Ziele zu, sich zu dem zu machen und für sich zu werden das was er an sich ist. Jede Stuffe ist innerhalb ihrer dieser Proceß, und das Product derselben [ist], daß für den Geist (d. i. die Form desselben, die er in ihr hat) das ist, was er im Beginn derselben an sich oder damit nur für uns war. – Die psychologische sonst gewöhnliche Betrachtungsweise gibt an, erzählungsweise, was der Geist oder die Seele ist, was ihr geschieht, was sie thut; so daß die Seele als fertiges Subject vorausgesetzt ist, an dem dergleichen Bestimmungen nur als Aeußerungen zum Vorschein kommen, aus denen soll erkannt werden, was sie ist […].“91
Hegel erinnert also daran, dass – wie schon im Falle der Phänomenologie des Geistes – auch die Enzyklopädie keine katalogartige Aufzählung dessen ist, was dem (subjektiven) Geist zukomme, wie er funktioniere und sich äußere, sondern eine Entwicklung des subjektiven Geistes als Geist selbst, als solchem, hin zum absoluten Geist; dadurch wird jedoch nicht etwas an einem schon identisch zugrundeliegenden und so vorausgesetzten Geist aufgezeigt, sondern, was Geist in Wahrheit ist, selbst erst entwickelt und nach-vollzogen – und von Hegel zu diesem Zweck für den Leser nachvollziehbar dargestellt. Entsprechend, so Hegel weiter, „bezieht sich“ der Gang der Geistphilosophie „auf die einzelnen Subjecte als solche, daß der allgemeine Geist in ihnen zur Existenz gebracht werde“92,
− also: dass das externe Offenbarungsgeschehen sich an ihnen realisiere.93 Es wäre nun jedoch verkehrt, das angedeutete mögliche Verständnisproblem allein an der Gestalt der Enzyklopädie festmachen zu wollen. Zwar mag die Phänomenologie des Geistes weniger dazu verlocken; doch Hegel hat in Reaktion auf ihre Rezeption deutlich gemacht, dass auch sie zu sehr als ein Katalog von materialen Inhalten gelesen und dadurch zu wenig Wert auf die „Übergänge“ gelegt wurde, in denen das Wesen der Bewegung liegt, die die Phänomenologie des Geistes ist.94 Unsere Lesart hat deutlich gemacht, worin die Bedeutung dieser Übergänge liegt: sie sind die Orte, an denen sich Offenbarung ereignet und re Enz. 1830, § 387 A [Hvh. T. O.]. Enz. 1830, § 387 A. 93 Zum eben dargestellten Punkt gibt es eine weitere einschlägige Belegstelle, nämlich Enz. 1830, § 442. Dort fasst Hegel seine Kritik an einer Vermögenslehre, in der der (subjektive) Geist als Geist nicht entwickelt wird, sondern als identisch zugrundeliegender liegen gelassen, auf eine Weise zusammen, die nichts anderes als die Rechtfertigung der Anlage unserer vorliegenden Untersuchung ist: „Vornehmlich ist [sc. in solchen verkehrten Vermögenslehren] die beherrschende Bestimmung, daß das Sinnliche zwar mit Recht als das Erste, als anfangende Grundlage genommen wird, aber daß von diesem Ausgangspunkte die weitern Bestimmungen nur auf affirmative Weise hervorgehend erscheinen, und das Negative der Thätigkeit des Geistes, wodurch jener Stoff vergeistigt und als Sinnliches aufgehoben wird, verkannt und übersehen ist.“ [Hvh. T. O.] 94 Vgl. dazu die Darstellung bei Förster 2012: 304 f. 91 92
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flexiv aufweisen lässt. Ist man nicht aufmerksam auf sie, verfehlt man notwendig den Inbegriff der hegelschen Geistphilosophie. (ii) Der zweite wesentliche Aspekt nun, der sich im Ausgang von § 386 und den daran anschließenden Überlegungen gewinnen lässt, betrifft die drängende Frage, ob die hier vorgetragene Lesart nicht darin eine entscheidende Schwäche habe, dass sie den objektiven Geist nicht näher thematisiert – geschweige denn tatsächlich durchläuft, wie dies für weite Teile des subjektiven Geistes der Fall war und für den absoluten Geist der Fall sein wird. Hierzu ist zunächst hervorzuheben, dass dem enzyklopädischen Übergang vom objektiven zum absoluten Geist vermittels der Weltgeschichte in zweierlei Hinsicht keine besondere Stellung zukommen kann: (i) Erstens: Da der absolute Geist die Selbsterkenntnis thematisiert – in einem gewissen Sinne Erkenntnistheorie der Selbsterkenntnis ist –, muss ein reflexiver Rückblick auf den (Erkenntnis‑)Vollzug zum bloßen (Erkenntnis‑)Vollzug des Übergangs in den absoluten Geist – gleich, welchen Inhalts dieser nun ist – hinzutreten. Was wir in Kapitel 7 als Reflexion auf die philosophische Selbsterkenntnis vorgeführt haben, müsste also auch jede andere mögliche Untersuchung leisten, deren Kapitel 1–6 entsprechend anderen Inhalts wären (z. B. um den objektiven Geist kreisten). Darin zeigt sich, dass der Übergang vom Ende des objektiven Geistes zum Anfang des absoluten in jedem Fall ein kategorial-reflexiver Aufstieg ist und bleibt. (ii) Zweitens: Wie wir eben gesehen haben, betont Hegel die unbedingte geistphilosophische Signifikanz jedes Übergangs. Er sagt, dass „[j]ede Stuffe“ des Geistes „dieser Proceß“ sei: „Vorwärtsgehen seinem Ziele zu, sich zu dem zu machen und für sich werden das was er an sich ist“, also Offenbaren des Offenbarens im Sinne des dargestellten Inbegriffs des Geistes.95 Beides – (i) und (ii) – können wir nun wie folgt zusammen‑ und weiterführen: Unter dem „Ganzen“ der Selbsterkenntnis versteht Hegel eben nicht die bloße Ansammlung sämtlicher Übergänge. Genauer gesagt, lässt sich dieses Ganze – verstanden als besagter Inbegriff des Geistes – prinzipiell an jedem Übergang darstellen.96 Unter Beweis zu stellen ist es dann aber immer konkret, in der jeweiligen Durchführung. Es mag der individuellen und historischen Relativität des jeweiligen Rezipienten geschuldet sein, wie genau er das tut. In Zeiten, in denen der Standpunkt der „Wahrnehmung“ als hegelscher ausgegeben wird – wie bei McDowell – scheint, mit hegelschem Pathos gesprochen, der (Welt‑)Geist die spezifische Anlage unserer Untersuchung förmlich zu verlangen. Eine in diesem Sinne „neue“ Rekonstruktion entledigt Hegels (System‑)Ganzes zudem des Eindrucks alter Starrheit, ohne es dadurch der Idee eines (qualitativ und nicht quantitativ zu verstehenden!) „Ganzen“ zu berauben, welche in besagtem „Inbegriff “ ja gerade leitend ist. 95 Alle
Zitate Enz. 1830, § 387 A [Hvh. T. O.]. Vgl. dazu auch die verschiedenen Zugänge in Oehl/Kok 2018.
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Das aber impliziert, dass die in vorliegender Untersuchung vorgetragene Lesart durchaus in Kauf nehmen kann, den objektiven Geist nicht zu thematisieren. Das schließt freilich nicht die These ein, dass die Untersuchung prinzipiell nicht bereichert werden könnte, wenn er thematisiert würde. Der Inbegriff des Geistes wäre, so diese Thematisierung gelänge, dann dadurch angereichert, dass der Geist seine offenbarende Macht auch durch die Sphäre gesellschaftlich-politischer Institutionen sowie der (Welt‑)Geschichte zur Darstellung gebracht hätte. Zur Bestimmung der Signifikanz einer solchen „zusätzlichen Anreicherung“ hilft Axel Hutters Vorschlag weiter, die Logik der hegelschen Entwicklung des Ganzen analog der Logik einer Geschichte im Sinne eines Narrativs zu verstehen.97 Wir können sagen: Wenn die Kindheit einer Figur in einem Roman anders erzählt würde als sie es faktisch wird, muss das nicht heißen, dass daraus ein ganz anderer Roman resultieren würde. Und doch würde die Figur – und mit ihr das ganze Narrativ – andere (Gesichts‑)Züge bekommen. Daran anschließend kann für die Signifikanz des objektiven Geistes im (System‑)Ganzen jedoch auch folgende, gleichsam umgekehrte Überlegung angestellt werden: Eine Geschichte kann einen besonderen Sinn haben, wenn sie noch einmal anders erzählt wird. „Anders“ kann freilich nicht heißen, dass Buchseiten herausgeschnitten werden; vielmehr bedeutet es, was wir aus der Literaturgeschichte kennen: dass eben auch Hofmannsthals Elektra eine – oder die? – Elektra ist. Sogar durch die geschickte, kunstvolle Auslassung eines Motivs oder einer Figur kann die neue, originelle Aneignung eines tradierten Stoffs gerade möglich werden. In diesem Sinne versteht sich die Anlage dieser Untersuchung. Warum der objektive Geist in ihr derart in den Hintergrund tritt, muss dann freilich mehr als Zufall oder Willkür sein. Und in der Tat: In Bezug auf den objektiven Geist sind sogar zwei spezifische Probleme namhaft zu machen, die abschließend kurz erwähnt werden sollen, um die weitere Rechtfertigung für die Anlage dieser Untersuchung zu geben – und kontrastiv die absolute Dignität des absoluten Geistes zu verdeutlichen: – Es scheint mir, dass der unter anderem von Adorno herrührende Totalitätsverdacht gegenüber dem hegelschen System nicht berechtigt ist im Hinblick auf den absoluten Geist, sehr wohl aber im Hinblick auf den objektiven Geist. Der Grund dafür scheint mir prinzipiellerer Natur zu sein, als dass er in der vielleicht durchaus richtigen Tatsache bestünde, dass Hegel in einer zu devot-messianischen Haltung gegenüber dem preußischen Staatstum befangen gewesen sei. Mit Hegel gegen Hegel ist nämlich zu sagen, dass der objektive Geist als immer noch endlicher Geist dem subjektiven Geist mitsamt seinen realen, individuellen endlichen Subjekten gar nicht in einer Weise vorgeordnet sein kann, die den individuellen endlichen Subjekten legitimerweise als Unbedingtes, Vgl. Hutter 2015.
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ihrem kritischen Horizont prinzipiell Entzogenes entgegentreten könnte.98 In der Phänomenologie des Geistes hat Hegel den von Antigone herrührenden, recht verstandenen Heroismus der Moralität noch bejahen können, der zunächst nichts anderes bedeutet als das Bekenntnis, dass der subjektive und der objektive Geist gleichermaßen endlich sind – und ersterer zumindest auf kritischer Augenhöhe zum zweiteren stehen können muss. Das enzyklopädische System stellt die Reihenfolge und Wertigkeiten um; es ist voll von Polemiken gegen die Selbstüberhöhung des individuellen endlichen Subjekts gegen die Sittlichkeit. Wir haben gesehen, dass die Kritik an einer Selbstüberhöhung des (individuellen) endlichen Subjekts gegen Gott und seine Offenbarung wohlbegründet ist. Genau deshalb aber ist es gefährlich, in gleicher oder ähnlicher Weise die Selbstüberhöhung des individuellen endlichen Subjekts gegenüber der Sittlichkeit zu geißeln. Dafür mag es im Einzelfall zwar gute Gründe geben. Doch das Problem liegt in der Prinzipialisierung dieser Geißelung. Denn: Die Brandmarkung einer Nichtanerkennung Gottes durch das individuelle endliche Subjekt ist erst von einer Philosophie des Geistes her möglich, die Explikation der Offenbarung Gottes ist. Von daher ist es wiederum möglich, in der Auflehnung des Individuums gegen die Sittlichkeit einen Ausdruck desselben Bösen zu erkennen. Doch dies bedeutet weder, dass die Nichtanerkennung Gottes und die Nichtanerkennung der Sittlichkeit auf dasselbe hinauslaufen würden – Gott und die Sittlichkeit daher als ein und dieselbe Substanz assimiliert werden dürften – , noch, dass nicht gerade aus der Perspektive des Absoluten ein Widerstand gegen die Auswüchse der Institutionen des objektiven Geistes begründet erwachsen könnte. Sofern Hegels Philosophie des objektiven Geistes dies nicht mehr zulassen kann, ist sie abzulehnen – und neu zu schreiben. – Schon angeklungen ist somit der zweite Punkt: Hegel hat – in einem äußerst fragwürdigen Anschluss an Luther – eine Tendenz, den säkularen Niederschlag der Reformation als Überbietung ihrer genuin religiös-theologischen Dimension darzustellen. Das droht darauf hinauszulaufen, eine Verwirklichung des absoluten Geistes im objektiven Geist zu denken99 – was Hegel wiederum nicht denken kann, wenn er den dargelegten Inbegriff seiner Geistphilosophie nicht unmittelbar ad absurdum führen will. Wohlgemerkt, eine solche nachträgliche Umkehrung der Hierarchie zwischen dem objektiven und dem absoluten Geist ist keine konsequent-dialektische Fortentwicklung von Hegels Philosophie, sondern eine Vergleichgültigung von Differenzen, ohne die jede Spannung verloren geht, durch welche allein irgendeine wahrhafte Dialektik in Gang kommen kann. (Die Vermutung, eine solche Umkehrung sei die wahrhaft konsequente Dialektik, kommt der Vermutung gleich, der Klang der Violine werde besser, 98 Genauso oder ähnlich wenig, wie dies für die materiale Ausgestaltung der ja bloß formal notwendigen Normativität des subjektiven Geistes gilt. 99 Vgl. dazu die Erörterungen von Arndt 2018.
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wenn die Saiten nicht festgemacht wären und die Saiten daher „freier“ schwingen könnten.) Eine solche Vergleichgültigung aber banalisiert nicht nur den absoluten Geist, sondern auch den objektiven: Denn dessen Nichtbanalität – so es sie gibt – liegt gerade darin, dass seine Institutionen nicht den Anstrich des Sakralen haben müssen, sollten und dürfen, um ihre Funktion gut erfüllen zu können. Aus den hier nur skizzenhaft angedeuteten Gründen scheint es mir konsequent, den objektiven und den absoluten Geist scharf zu scheiden, um den Sinn des „Ganzen“ im Sinne des absoluten Geistes umso klarer herauszuarbeiten und von seiner möglichen – und, in unserer Zeit, wiederum tatsächlichen – Verdeckung durch den objektiven Geist zu befreien.100 Dann kehrt sich die Ideologiediagnose geradezu um: Diejenige Philosophie, die keine Metaphysik des absoluten Geistes vertritt, entpuppt sich als dogmatisches Beharren auf dem Endlichen, das als solches ideologischen Charakter hat. Hegels Philosophie des absoluten Geistes, zu der nun endlich übergegangen werden kann, wird sich entgegen dieser Ideologie als eine rationale Verteidigung der Auffassung darstellen, dass der gemeinsame unbedingte Wert von Philosophie, Religion und Kunst in einer Begegnung mit Gott im Geiste besteht. Die drei Gestalten des absoluten Geistes werden sich jeweils als Realisationen besagten Inbegriffs des Geistes – des Geschehens der Zurückholung des endlichen Subjekts zu Gott durch Gott – in je unterschiedlicher Form und Gestalt erweisen. Dass die Rede von „Gott“ keine Rede von etwas ist, über dessen Begriff und Wirklichkeit noch nicht entschieden wäre, ist durch den bisher gegangenen, rein philosophischen Weg der Selbsterkenntnis gezeigt. Erst mit diesem Vorlauf kann die Philosophie des absoluten Geistes substantiell anheben – und erst so ist sie der Zweideutigkeit, ob Hegel dort wirklich von einem „echten Gott“ spricht, enthoben. Umgekehrt ist es keine Überraschung, dass alle Lesarten, die direkt in der Philosophie des absoluten Geistes anheben – gegen Hegels Warnung, das Resultat sei nur „zusammen mit seinem Werden“ Resultat101 – diese berühmte „Zweideutigkeit“ feststellen und den Text gemäß ihren (privaten) Präferenzen, die als solche der hegelschen Philosophie äußerlich bleiben müssen, entweder ungerechtfertigt theologisch oder ungerechtfertigt säkular auslegen.102
100 Vgl. dazu programmatisch Oehl/Kok 2018, mit kritischem Bezug auf den problematischen Einfluss Habermas’ außerdem Fulda 2018. 101 Vgl. PhG, 10. 102 Ganz mit Recht hat Plevrakis daher festgestellt, dass eine Beantwortung der Frage nach dem theologischen Gehalt von Hegels Philosophie „zunächst Rechenschaft über die gesamte hegelsche Geistphilosophie ablegen soll“ (Plevrakis 2017: 386).
8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes 8.1 Die „Erfahrung“ des Geistes Als Inbegriff der Philosophie des Geistes haben wir ein Ereignis oder ein Geschehen erkannt: das von Gott selbst bewirkte Zurückholen des in sich verkehrten Menschen zu sich selbst. Hegel selbst drückt es auch mit diesen Worten aus1: „[I]m Erkennen liegt dann ebensosehr das göttliche Princip der Wendung, Rückkehr zu sich selbst – es schlägt die Wunde und heilt sie – das Princip Geist.“2
Wir haben begriffen, warum das „Erkennen“ zunächst „die Wunde“ „schlägt“: im diskursiv-begrifflichen Denken als solchem liegt der Hang zum Verkehrten. Auch haben wir begriffen, warum „im Erkennen“, insofern es über das verwundende Denken hinaus ist, aber „dann ebensosehr das göttliche Princip der Wendung“ liegt – die Offenbarung, die eben nur deshalb eine „Wendung“ des Verkehrten sein kann, weil sie nicht aus dem Verkehrten stammt, sondern „göttlich[.]“ ist.3 Hegel gebraucht neben dem Wort „Wendung“ in diesem Zusammenhang auch das Wort „Zurückführung“4, das sich uns schon aufgedrängt hatte und mit welchem wir den Inbegriff des Geistes beschrieben hatten; es bringt zum Ausdruck, dass der Mensch qua Offenbarung dorthin gelangt, wo er sein soll und wo er ohne seinen Fall schon wäre. Ein anderer, zentraler Ausdruck Hegels hierfür ist das Wort der „Versöhnung“, mit dem er bewusst auf den von uns nachher sogleich zu untersuchenden Bezug auf die „Religion“ anspielt, auch wenn er 1 Hier sind die von Jens Halfwassen (v. a. Halfwassen 2005) ausführlich verfolgten neuplatonischen Spuren bei Hegel geradezu im Brennglas sichtbar. Auch Plotin thematisiert zentral, was Hegel das „Princip der Wendung“ nennt; vgl. dazu auch die Darstellung von Ringleben 2018: 6 und passim. 2 VLMs I (1816–1831), 246. 3 Für Hegel ist also klar: Das Denken ist durch und durch autonom – und auch ich, insofern ich Denken bin. Aber ich, insofern ich ich und mein Denken bin, bin nicht autonom, sondern notwendig auf die Offenbarung, die das Denken ist, das mein Denken klar werden lässt, angewiesen. 4 In Enz. 1830, ed. 1845, § 24 Z heißt es: „[D]er Geist soll durch sich zur Einigkeit zurückkehren. Diese Einigkeit ist dann eine geistige, und das Prinzip jener Zurückführung liegt im Denken selbst. Dieses ist es, welches die Wunde schlägt und dieselbe auch heilt.“
326 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes es – wie schon „Wendung“ oder „Zurückholung“ – auch zur Beschreibung des besagten Ereignisses oder Geschehens gebraucht, wie es die Philosophie als Inbegriff des Geistes auf den Begriff gebracht hat.5 Im Lichte dessen können wir nun einen besonders rätselhaften Begriff verstehen, von dem wir bislang trotz seiner zentralen Rolle in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes wenig gehandelt haben: „Erfahrung“. Es ist nunmehr klar, dass und warum Hegel mit diesem Begriff bereits auf das Wortfeld der „Widerfahrnis“ oder der „Wendung“ anspielt – und nicht nur anspielt.6 Er prägt im selben Kontext auch die berühmte Rede von der „Umkehrung des Bewußtseyns“7. Wir verstehen nun, warum: Die „Erfahrung“, die auf dem Weg der Phänomenologie des Geistes gemacht wird, ist ja genau das Involviertsein in das besagte Ereignis oder Geschehen der „Wendung“, die Bekanntschaft mit der Offenbarung und ihrem unbedingten-sich-geltend-Machen. Das kann freilich in der Einleitung noch nicht begriffen werden. Daher rühren Hegels – prinzipielle – Vorbehalte gegen Einleitungen; und von daher ist zu verstehen, warum er explizit markiert, dass sein Gebrauch des Wortes „Erfahrung“ von dem uns geläufigen abweicht8, sich der Grund dafür jedoch auf dem Wege aufklären wird. Es ist aber unbeschadet dessen hinzuzusetzen, dass es einen guten Grund gibt, dem Bewusstsein diesseits des Weges der Phänomenologie des Geistes das, was da kommen wird, als eine „Erfahrung“ anzukündigen: Denn ein Aspekt dessen, was da kommen und sich ereignen wird, entspricht durchaus dem, was wir auch landläufig als „Erfahrung“ bezeichnen können. Wir sagen, jemand habe „keine Erfahrung im Umgang mit alternden Menschen“. Damit ist gemeint, er sei ihnen nicht in einer Weise begegnet, die ihn mit ihnen vertraut gemacht hätte. Genau das meint Hegels Erfahrung als Erfahrung des erscheinenden Geistes der Phänomenologie – als Erfahrung mit ihm – auch. Wer diese Erfahrung macht, begegnet dem Geist und weiß, was und wer er ist. In seiner letztlichen Form ist das „Einleuchten“, wie gesagt, diese umfassende Begegnung im Ganzen. Von daher ist zu verstehen, warum Hegel die „Phänomenologie des Geistes“ – also 5 Als Zentralbegriff (des hegelschen Systems) thematisiert ist „Versöhnung“ in einer weit ausgreifenden Studie von Rózsa 2005, die auch dessen internen Zusammenhang zum Zentralbegriff der „Liebe“ bei Hegel dargestellt hat (vgl. Rózsa 2018). 6 Robert Pippin hat diesen Aspekt von Hegels Erfahrungsbegriff mit Recht klar hervorgehoben, indem er von „einer völligen Umkehrung des Bewußtseins oder einer Konversion“ spricht, „einer Veränderung, bei der wir an religiöse Erfahrungen oder eine tiefgreifende politische Sinnesänderung denken“. Allerdings konstatiert Pippin dann: „[U]nd darin liegt das Problem. Denn diese Form ist genau die Form, von der wir annehmen, daß sie mit ziemlicher Sicherheit keinen logos, keine Rechtfertigung besitzt.“ (Pippin 2008: 17) Wir haben in Kapitel 7 gezeigt, dass und in welchem Sinne sie Rechtfertigung besitzt: sie ist das sich-selbst-geltendMachen des Absoluten. Pippin hat Recht, dass wir – als Sünder – von ihr (initial) „annehmen, daß sie mit ziemlicher Sicherheit keinen logos, keine Rechtfertigung besitzt“. Aber gerade gegen diese (Art von) Annahme denkt Hegels Philosophie des Geistes an. 7 PhG, 61. 8 Vgl. PhG, 60.
8.1 Die „Erfahrung“ des Geistes
327
dieses Erscheinen des Geistes für das Bewusstsein – eben auch als „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ bestimmen und titulieren kann. Beides meint letztlich dasselbe: „Phänomenologie des Geistes“ meint das Auftreten und damit Erscheinen des Geistes durch Schein (durch Verkehrung) hindurch; „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ ist die Erkenntnis der Begegnung des Bewusstseins mit dem, was es über sich selbst hinausführt, was seine Verkehrung umkehrt. Doch es gibt noch ein besonderes Rätsel an Hegels Bestimmung dieses Erfahrungsbegriffs. Hegel schreibt und hebt nämlich Folgendes hervor: „Dieser neue Gegenstand [sc. das Resultat einer Prüfung und damit eines Übergangs, T. O.] enthält die Nichtigkeit des ersten, er ist die über ihn gemachte Erfahrung.“9
Direkt an diese Charakterisierung schließt Hegel die berechtigte Bemerkung an, dass dieser Begriff der „Erfahrung“ nicht unserem gewöhnlichen entspreche.10 Es ist aus diesem Zitat deutlich, warum nicht: Es scheint zunächst kategorial keinen Sinn zu machen, einen Gegenstand selbst als eine gemachte Erfahrung zu bestimmen. Doch Hegel sagt ausdrücklich, der neue Gegenstand sei die über den vorigen Gegenstand gemachte Erfahrung. Anders als in der Einleitung sind wir nun in einer Position, diese Definition an die auf dem Weg gewonnene Erkenntnis der Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins – die philosophische Selbsterkenntnis als Offenbarung – anzulegen. Daran – gerade daran, an der end-gültigen Instanz – müsste sich ihr Sinn ja voll und transparent dartun lassen. Und in der Tat: Der letztgültige „Gegenstand“ ist ja die philosophische Selbsterkenntnis selbst, die wir in dieser philosophischen Selbsterkenntnis abschließend als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins begreifen; nicht nur, dass sie es ist, sondern auch, wie und warum sie das ist und sein kann. Von diesem Gegenstand aber lässt sich nun klar und präzise verstehen, warum er die über alle vorherigen Gegenstände gemachte Erfahrung ist: eben weil er, als philosophische Selbsterkenntnis, diese Erfahrung, die Offenbarung, selbst ist11; er ist der finale, nicht-dinghafte Gegenstand der Selbsterkenntnis. Ein Geschehen ist am Ende der Gegenstand der Erkenntnis geworden; daran zerstreut sich die anfängliche Irritation, ein „Gegenstand“ könne kategorial nicht mit „der Erfahrung“ identifiziert werden.12 PhG, 60 [Hvh. T. O.]. bemerkt McDowell 2018 und 2019 (Ms.) klar, ohne allerdings die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. 11 So ist er wesentlich Erfahrung des (eigenen) Irrtums, da sich im Einleuchten zeigt, dass es sich in Wahrheit anders verhält als ich bislang (aus mir selbst) irrtümlich meinte. Darauf weist Brandom 2019: 75 ff. mit Recht hin – verfälscht und verliert diese Einsicht aber unmittelbar, indem er Fälle von Irrtum über empirische Sachverhalte als (vermeintliche) Instanzen des hegelschen Begriffs der Erfahrung (des Irrtums) anführt. 12 Heidegger 2009: 114 ff. hat die Geschehensstruktur dieses Erfahrungs‑ und seines Gegenstandsbegriffs gesehen und herausgearbeitet, verweigert sich aber, wie mir scheint, aufgrund der 9
10 Das
328 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Durch die Reflexion auf diesen Erfahrungsbegriff haben wir die These, das mit ihm bezeichnete Geschehen oder Ereignis der Umwendung sei der Inbegriff des Geistes – und diese Einsicht Hegels ursprüngliche Einsicht –, noch einmal vertieft. Diese Einsicht bildet auch die Klammer seiner Philosophie, werkchronologisch betrachtet: Sie ist eingekapselt in einem der zentralen Begriffe der Einleitung zu seinem ersten Hauptwerk – und mit dieser Einsicht und ihrer Entfaltung, zurückblickend auf den gegangenen Weg, schließt auch sein enzyklopädisches System: in Form der Philosophie des absoluten Geistes.
8.2 Absoluter Geist: Drei Gestalten des „Angesprochenwerdens“ des Menschen durch Gott Die Philosophie des absoluten Geistes besteht unserer Interpretation gemäß darin, Kunst, Religion und Philosophie als drei Gestalten auszuweisen, in denen dasselbe besagte Geschehen – die von Gott selbst bewirkte Zurückholung des in sich verkehrten Menschen zu sich selbst – in je verschiedener Form realisiert ist und stattfindet.13 Daran ist zunächst erklärungsbedürftig und begründungspflichtig, warum überhaupt von einem identischen Geschehen in drei verschiedenen Formen gesprochen werden kann, soll und darf. Bislang wurde das Geschehen nur in einer einzigen Form – als philosophische Selbsterkenntnis – nachvollzogen und dargestellt. Was rechtfertigt es, dieses Geschehen – abstraktiv – als Inhalt von (s)einer Form zu unterscheiden und zu behaupten, es könne (oder gar müsse) noch in zwei weiteren Formen (und damit in den Gestalten von Kunst und Religion) realisiert sein und stattfinden? Dies kann in zwei Schritten begründet und entwickelt werden: (i) Es ist – schon aus rein begrifflichen Gründen – zu unterscheiden zwischen einem intersubjektiven Geschehen und der Art und Weise, wie es sich realisiert. Diese Unterscheidung ist uns aus durchaus alltäglichen und lebensweltlichen Beispielen vertraut: Person A kann ihre Wertschätzung gegenüber Person B ausdrücken, indem sie sich vor ihr verneigt. So richtig es ist zu sagen, dass hier aus seiner „Ontologie“ stammenden Vorurteile der Einsicht, dass es sich bei diesem Geschehen gerade nicht um eine „Selbstumkehrung des Bewußtseins“ (118) handeln kann. Hegel spricht ja auch nicht so, sondern von einer „Umkehrung des Bewußtseyns“, in welcher das Bewusstsein eben nicht nur aktiv Denkendes, sondern zugleich passiv-Einsehendes, von einem Anderen – eben von Gott, der nicht recht in Heideggers „Ontologie“ passen mag – Umgewendetwerdendes ist. 13 Wie wir vor allem in Bezug auf die Rezeption von Hegels Religionsphilosophie genauer sehen werden, ist oft übersehen worden, dass der in allen drei Gestalten identische Inhalt des absoluten Geistes ein Geschehen der Zurückholung ist. Das sagt Hegel aber explizit – und zwar im Abschnitt zum absoluten Geist, der der Entfaltung seiner drei Gestalten im Einzelnen vorausgeht: „Der absolute Geist ist eben so ewig in sich seyende als in sich zurückkehrende und zurückgekehrte Identität“ (Enz. 1830, § 554 [Hvh. T. O.]).
8.2 Absoluter Geist
329
nicht zwei selbstständige Handlungen stattfinden – der Ausdruck der Wertschätzung und „daneben“ noch die Verneigung –, so falsch wäre es zu sagen, dass die Verneigung mit dem Ausdruck der Wertschätzung identisch sei oder derart intern verbunden, dass allein eine Verneigung Ausdruck der Wertschätzung sein könnte. Vielmehr hätte A B auch einen Orden umhängen oder eine Rede über ihn halten können – wenngleich er freilich nicht alles Mögliche sinnvoll tun könnte, sondern eben nur das, was Ausdruck von Wertschätzung sein kann. Wir müssen also unterscheiden zwischen einem intersubjektiven Geschehen – Ausdruck der Wertschätzung – und dem Wie oder Wodurch, in dem es realisiert ist – hier: der Verneigung. Man kann, anders gesagt, einen Inhalt oder Gehalt – das, worum es eigentlich geht – von der Form, in der er realisiert ist – das wie, durch das der Inhalt zur Darstellung kommt – unterscheiden. Diese traditionelle Unterscheidung von Inhalt und Form ist auch deshalb passend, weil sie zudem anzeigt, dass der Inhalt nicht ohne irgendeine Form realisiert sein kann: A kann seine Wertschätzung gegenüber B nicht „nackt“ zum Ausdruck bringen, d. h. ohne dass dieser Ausdruck (irgend‑)eine konkrete Form annimmt. Voraussetzung dieser Überlegung und ihrer Veranschaulichung an besagtem Beispiel war freilich, dass auf dem soweit schon gegangenen Weg der philosophischen Selbsterkenntnis tatsächlich ein intersubjektives Verhältnis aufgewiesen wurde: nämlich zwischen dem endlichen und dem unendlichen Subjekt, zwischen dem je konkreten individuellen Menschen und Gott.14 Dabei hat sich gezeigt, dass dieses Verhältnis kein statisches ist, sondern ein ereignishaftes, ein Geschehen oder Ereignis der Zurückholung. Auf Basis dessen lässt sich nun unmittelbar zeigen, warum ein insbesondere in den traditionellen Debatten um Hegels Religionsphilosophie immer wieder geäußerter Verdacht gegenstandslos ist: eine derartige Unterscheidung von Form und Inhalt sei unmöglich, weil als Inhalt etwas bestimmt wurde, was wesentlich und intern von dieser seiner einen und einzigen Form abhängt, nämlich dem (rein)begrifflichen Denken.15 Dies gilt gewiss für den Vollzug der Kategorienentwicklung in der Wissenschaft der Logik. Doch diese Feststellung läuft auf die Trivialität hinaus, dass die Form des Denkens nur in Form des Denkens darzustellen ist. Doch die Form des Denkens ist nicht der Inhalt oder Gegenstand der Philosophie – schon gar nicht der, wie er Vgl. dazu Fulda 2018, dort mit polemischer Spitze gegen Habermas. So optiert letztlich Falk Wagner (initial Wagner 1976), der deshalb Hegels These von der „Identität“ von Religion und Philosophie nur im Sinne einer Selbstexplikation der Philosophie auch in der Religion und durch sie ausdeuten kann. Warum das von der Warte unserer Interpretation aus falsch ist, wird im Laufe des vorliegenden Kapitels zu zeigen sein. – Mooren 2018: 89 ff. und 140 ff. hat – allerdings ohne Bezugnahme auf die Debatten um Wagner – differenzierte Ausführungen zum Form-Inhalt-Problem im Kontext von Hegels Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie vorgelegt. Sie macht zudem deutlich, dass Hegels Redeweise von „Gegenstand“ und „Inhalt“ in der Philosophie des absoluten Geistes nicht eine derartige Einheitlichkeit hat, dass etwaige vorher geprägte Bedeutungen dieser Begriffe gleichsam mechanisch anzulegen wären (vgl. v. a. 89). 14 15
330 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes in der Philosophie des absoluten Geistes realphilosophisch-final zur Entfaltung gebracht wird. Dieser Gegenstand ist vielmehr Gott selbst in seiner Einheit von internem und externem Offenbarungsverhältnis.16 Er aber geht, wie wir einsahen, nicht in der Form des (rein)begrifflichen Denkens auf – aus zwei intern miteinander zusammenhängenden Gründen: (i) Er ist selbstständig und nicht abhängig von unseren endlichen Vollzügen, auch nicht von unserem Denken; (ii) er ist in seinem internen Offenbarungsverhältnis nicht begriffliches Denken, sondern unmittelbares sich-Offenbaren qua Schau. Aus diesen Gründen macht es überhaupt erst Sinn, von einem intersubjektiven Verhältnis zu sprechen; denn dieses besteht nur, wenn wir zwei Subjekte – sozusagen als „Relata“ – von diesem ihrem Verhältnis zueinander unterscheiden können; auch wenn Gott das Offenbarungsverhältnis ist, so ist er dies eben als externes und in sich genügendes internes. So wird der Sinn der Unterscheidung von drei Gestalten des absoluten Geistes, in denen sich in drei je verschiedenen Formen derselbe Inhalt realisiert, elementar verständlich – wobei natürlich für diese drei Gestalten je einzeln erst aufzuzeigen ist, worin ihre Form und damit die Eigentümlichkeit ihrer Gestalt besteht. Doch diesseits davon hat sich – abstrakt – gezeigt, dass im intersubjektiven Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie wir es bislang rein philosophisch aufgewiesen haben, der Möglichkeitsgrund liegt, dieses als Inhalt einerseits so aufzufassen, dass er nicht – bislang haben wir nur gezeigt: nicht notwendig – in seiner bisher einzig diskutierten Form (dem Denken) aufgeht, andererseits aber auch nicht ohne eine Form zugänglich oder real sein könnte. Wir sind ihm ja bislang nicht formlos, sondern eben in Form des Denkens, in Gestalt der (Geist‑)Philosophie, begegnet. Diese Überlegung – (i) – hat also den begrifflichen Rahmen aufgewiesen, in welchem die Unterscheidung von Form und Inhalt – und somit von verschiedenen Gestalten des absoluten Geistes als qua Form verschiedene Realisationen desselben Inhalts – sinnvoll getroffen werden kann; dass diese Unterscheidung also möglich ist und einen elementaren Sinn hat. Sie hat noch nicht gezeigt, dass und warum sie auch getroffen werden muss. Das wird nun in Punkt (ii) zu begründen sein. (ii) Warum nun muss es auch andere Gestalten neben der Philosophie geben – und warum wird die Philosophie als Selbsterkenntnis sodann „nur“ eine Gestalt des absoluten Geistes unter mehreren – wie sich zeigen wird: dreien? Der Grund dafür liegt darin, dass das unendliche Subjekt seinem Begriff – unendlich zu sein – nur dann und dadurch vollends gerecht wird, dass es sich nicht nur durch eines unserer repräsentationalen geistigen Vermögen zeigen kann, sondern 16 Hegel sagt ausdrücklich: „Beide [sc. Religion und Philosophie] haben die Wahrheit zu ihrem Gegenstande, und zwar im höchsten Sinne, − in dem, daß Gott die Wahrheit und er allein die Wahrheit ist.“ (Enz. 1830, § 1)
8.2 Absoluter Geist
331
besagtes Geschehen sich durch alle repräsentationalen geistigen Vermögen – in ihnen allen – ereignen kann. Derer aber sind drei: (sinnliche) Anschauung, Vorstellung und (begriffliches) Denken, wie Hegel sie unterscheidet.17 Hegels Auffassung der Anschauung wurde in unserer Untersuchung im Detail rekonstruiert, das (begriffliche) Denken haben wir dadurch kennengelernt, dass wir uns in ihm auf dem Weg der philosophischen Selbsterkenntnis bewegt haben. Die Vorstellung schließlich lässt sich als die „Mitte“ dieser beiden bestimmen, wie Hegel sagt.18 Es ist hier nicht nötig, Hegels Begriff der Vorstellung um seiner selbst willen im Detail zu diskutieren. Soweit wir ihn benötigen, werden wir ihn dort, wo wir ihn benötigen – bei der Religion – hinreichend klären können. Nun aber ist, bevor wir uns den drei Gestalten des absoluten Geistes nacheinander zuwenden, noch eine letzte vertiefende Vorüberlegung anzustellen. Wie unter (i) dargelegt, ist die Unterscheidung eines Geschehens von der Form, in der es realisiert ist, eine abstraktiv-begriffliche, keine reale in dem Sinne, dass dieses Geschehen auch „nackt“, ohne eine Form oder außerhalb ihrer, vorkommen würde oder könnte. Eine solche abstraktiv-begriffliche Unterscheidung ist aber Voraussetzung dafür, dasselbe Geschehen – als denselben oder identischen Inhalt – als in verschiedenen Formen realisiert und somit in verschiedenen Gestalten ausgeprägt philosophisch begreifen zu können. Damit eine Beschreibung dieses Geschehens diesen Zweck erfüllen kann, muss sie eine Beschreibung dieses Geschehens sein, die nicht schon eine Beschreibung in einer ihrer drei Formen und damit in einer von drei Gestalten ist. Es stellt sich also die Frage, ob die bisher verwendete Beschreibung – „Zurückgeholtwerden des in sich verkehrten Menschen zu Gott“ – dieses Kriterium der Allgemeinheit erfüllt, oder ob sie schon eine Beschreibung ist, die allein auf die Philosophie zutrifft.19 Was das „Zurückgeholtwerden“ angeht, so hat die Beschreibung sich dadurch als allgemeingültig zu bewähren, dass sich konkret zeigen lässt, wie es sich in den drei Formen und Gestalten jeweils um verschiedene Arten und Weisen dieses „Zurückgeholtwerdens“ handelt. Dies wird erst im Durchgang durch diese drei Gestalten zu zeigen sein. Benannt aber können diese drei Arten und Weisen vorgreifend schon jetzt werden: Zurückgeholtwerden durch begriffliches Denken, also Argumentation mitsamt Einleuchten, in Reflexion auf welche dieses Einleuchten mit seiner metaphysischen Implikation – Gott – begriffen wird (Philosophie); Zurückgeholtwerden als kultische Erhebung des Menschen zu Gott und durch Gott, die darin als diese befreiend-versöhnende Begegnung mit Gott auch erfahren wird (Religion); Zurückgeholtwerden als Überwältigung des Menschen durch die im Sinnlichen erscheinende Fülle des Geistes und wider die Leere des ordinär-Sinnlichen (Kunst). „Zurückgeholtwerden“ ist an sich Vgl. Enz. 1830, §§ 445 ff. Enz. 1830, § 451. 19 Dass eine solche Beschreibung als solche nur von der Warte der Philosophie aus zu geben ist, ist klar. Denn nur sie verhält sich erkennend zu sich selbst, zur Kunst und zur Religion. 17 18
332 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes schon ein Wort, das unmittelbar die Frage des „Wie?“ aufwirft. Auch daher ist es ein passendes Wort in der abstraktiven Beschreibung des identischen Inhalts. Wie aber steht es um die Ausdrücke (i) „in sich verkehrter Mensch“ und (ii) „Gott“? Ad (i). Nun, wie wir gesehen haben, handelt es sich bei Gott um eine Wirklichkeit, die nicht im begrifflich-diskursiven Denken aufgeht, sich in seinem internen Offenbarungsverhältnis selbst genügt und nicht vom Menschen abhängig ist. Entsprechend ist Gott eine Wirklichkeit, die in der Philosophie zwar in einer bestimmten Form erfahren wird, womit der Philosoph aber keine andere Wirklichkeit (keinen anderen „Gegenstand“) bezeichnen kann als der Religiöse oder der im ästhetischen Vollzug Begriffene. Sofern in der Beschreibung des Inhalts also nur von „Gott“ und nicht etwa von „Gott als sich im Denken offenbarender“ gesprochen wird, ist sie nicht nur für die Philosophie gültig und tauglich. Ad (ii). Wie aber steht es um den „in sich verkehrten Menschen“? Ganz analog: Der „Mensch“ wurde in der Philosophie soweit als denkender Mensch thematisiert. Es macht aber gerade keinen Sinn zu sagen, der Mensch erschöpfe sich in einem seiner Vermögen. Deshalb spricht die Philosophie vom selben Menschen wie die Religion oder die Kunst; die Dreiheit der Gestalten ergibt sich aus der Dreiheit der Vermögen desselben Menschen. Ein analoger Punkt lässt sich schließlich für das „in sich Verkehrtsein des Menschen“ machen. In der philosophischen Selbsterkenntnis haben wir bislang nur erfasst, worin dieses besteht, insofern es im Denken ausgeprägt ist. Doch das in sich Verkehrtsein – der Hang – wird nicht vom Denken, sondern vom Menschen im Ganzen prädiziert: Er ist in seinem Denken verkehrt – nicht: Er ist nicht-verkehrt, aber sein Denken ist es. Es lässt sich auch nicht denken, dass der Mensch nur in seinem Denken, nicht aber in seinen anderen Vermögen verkehrt ist; denn dann müsste er in den beiden anderen Gestalten des absoluten Geistes – Kunst und Religion – Gott zum unmittelbar-selbstverständlichen Gegenüber haben, analog wie im Falle der Philosophie ohne Hang die unmittelbare Schau Gottes gegeben wäre. Sehr wohl allerdings rechnet Hegel mit Fällen, in denen sich Offenbarung an einem vom Hang gezeichneten Menschen durch ein bestimmtes seiner Vermögen ereignet hat, durch ein anderes oder zwei andere hingegen (noch) nicht; nur so ist ja auch der Fall möglich, dass der religiös Gläubige in seinem Denken an Gott zu zweifeln beginnt. Die Möglichkeit solch partiellen Entzugs der Offenbarung liegt schon in deren Wesen als eines unverfügbaren Geschehens begründet. Damit ist also gezeigt: Die verwendete Phrase ist geeignet zur abstraktiven Beschreibung des Inhalts; sie ist neutral in Bezug auf die Verschiedenheit der drei Vermögen und damit der drei Formen und Gestalten des absoluten Geistes. Das schließt aber nicht aus, dass es hilfreich und der Klarheit dienlich ist, ihr eine zweite Phrase an die Seite zu stellen – und zwar deshalb, weil sie alleine stehend suggerieren könnte, als würde es sich bei diesem Inhalt um ein Geschehen handeln, das bloß eine drittpersonale, nicht aber auch eine erst‑ und
8.3 Philosophie
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zweitpersonale Dimension hat. Worin genau diese bestehen soll, wird sich erst zeigen. Zunächst ist es – rein heuristisch, um sich den offenen Blick nicht zu verstellen – sinnvoll, der ersten Phrase folgende zweite an die Seite zu stellen: die des „Angesprochenwerdens des Menschen von Gott“. Mit dieser Phrase wird keine ungerechtfertigte Voraussetzung an Hegels Philosophie des absoluten Geistes herangetragen; denn sie wird zunächst nur hypothetisch veranschlagt, um zu sehen, was sich mit ihr adäquat begreifen lässt. Diese Formulierung ist – absichtlich – an Rosenzweig geschult; sie macht bezogen auf Hegels Philosophie allerdings nur zusammen mit der erstgenannten Phrase Sinn. Sie verhilft dazu, Hegels Philosophie so weit als möglich (und berechtigt) vom Eindruck des „Stummen“ zu befreien, sensibel für die sprachförmige Dimension seiner Philosophie des (absoluten) Geistes zu sein. Das empfiehlt sich im Kontext unserer Untersuchung schon deshalb, weil wir die Einsicht ihres ersten Teiles thetisch so zusammenfassen konnten: Nicht die Dinge der Welt sprechen, nur der Geist spricht. Was nun mit „Angesprochenwerden“ im Folgenden gemeint sein soll, soll nicht vorab strikt definiert werden. Paradigma dafür ist jedoch – wie bei Rosenzweig – die dialogische, zwischenmenschliche Anrede mit dem Eigennamen: „Georg!“, „Maria!“. Eine Komplikation liegt freilich darin, dass solches „Angesprochenwerden“ auf das Geschehen der Zurückholung – den Inhalt des absoluten Geistes – nur zu beziehen ist, wenn dessen kategoriale Differenz zu endlich-intersubjektiven Sprechakten berücksichtigt wird. Das ist im Durchgang konkret zu leisten; dafür kann es keinen vorherigen Algorithmus geben. Gefordert ist also, was die Figur des „Angesprochenwerdens“ betrifft, das traditionelle Verfahren der Analogie.20 Über sein Gelingen und seinen Wert ist nur in (und nach) der Durchführung zu befinden. Die Aufgabe ist somit nun, zu zeigen, was es bedeutet, dass Kunst, Religion und Philosophie der Form nach verschiedene Realisationen desselben Geschehens der „Zurückholung des in sich verkehrten Menschen zu Gott durch Gott (– und damit auch zu sich selbst)“ sind; und wie sie darin auch Realisationen besagten „Angesprochen-Werdens“ sind. Zu beginnen ist mit der Philosophie – und zwar deshalb, weil allein sie in vorliegender Untersuchung betrieben wurde und wird.
8.3 Philosophie Der philosophische Weg der Selbsterkenntnis wurde schon gegangen. Im vorherigen Kapitel 7 wurde er auf den Begriff gebracht. Das ist hier vorauszusetzen und soll nicht wiederholt werden. Die Philosophie ist „nur“ noch in zweierlei Hinsicht zu thematisieren: Erstens, was sich an ihrem Begriff ändert, 20 Es scheint mir daher sehr treffend, wenn Claudia Melica von einer „specific dialogical cognitive characteristic of the absolute spirit“ spricht (Melica 2015: 85).
334 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes wenn wir sie „nur“ als eine unter drei Gestalten des absoluten Geistes begreifen. Das werden wir aus offensichtlichen Gründen erst nach dem Durchgang durch die beiden anderen Gestalten einsehen können. Zweitens, inwiefern auf sie die Figur des „Angesprochenwerdens“ passt. Das ist nun zu diskutieren. Für die Philosophie gilt, dass sie das „Angesprochenwerden“ indirekt – oder, mit einem Ausdruck Hegels gesprochen: mittelbar, vermittelt – realisiert. Was „indirekt“ meint, lässt sich im Kontrast zum erwähnten Paradigma des alltäglichen, zwischenmenschlichen dialogischen Anredens deutlich machen: Indem der Vater „Georg!“ ruft, wird Georg gleichsam unmittelbar angesprochen. Dies gibt es in der Philosophie nicht. Der Geist ruft nicht plötzlich „du!“, wodurch wir ihn philosophisch unmittelbar erkennen könnten. Hegels Kritik der Unmittelbarkeitsphilosophie seiner Zeit kann pointiert so verstanden werden, dass er ihr eine derartige Behauptung zuschreibt; dass sie aus Hegels Sicht damit zwar etwas Richtiges – nämlich die Figur des Angesprochenseins – sieht, diese aber in unmittelbarer – und falscher – Weise behauptet, den eigentümlichen Sinn des „Angesprochenwerdens“ für die Philosophie dadurch gerade verschleiert. Denn sie meint, um des Angesprochenseins willen die Form der Philosophie – argumentatives und begriffsklärendes Vorgehen – aufgeben zu müssen. Doch das ist weder nötig noch möglich – genauso wenig wie das „Einleuchten“ etwas ist, das neben solchem Vorgehen stehen würde. Es ereignet sich vielmehr in ihm und durch es. Der Weg der Selbsterkenntnis, wie wir ihn mit Hegel gegangen sind, bestand nun in der Tat in einem solchen argumentativen und begriffsklärenden Vorgehen. Er bestand zunächst darin, dass ich etwas über mich erkannt und erfahren habe: wie meine Wahrnehmung (oder Anschauung) zu denken und zu verstehen ist – und wie nicht; vor allem aber, dass und wie ich demgemäß als geistiges Wesen aufzufassen bin. Im Zuge dieser Überlegungen – durch Reflexion auf sie – hat sich gezeigt, dass ich all dieses „etwas“ nicht (an)erkennen könnte aus mir selbst, sondern nur, wenn und dadurch dass es mir aufgeht, sich mir aufdrängt, sich mir zeigt. So aber zeigt sich zugleich dieses Zeigen. Erst an diesem Punkt also wird erkannt, dass der Weg der Selbsterkenntnis ein Angesprochenwerden durch das unendliche Subjekt war. Dass dies erst am Ende erkannt wird, bedeutet nicht, dass der Weg vorher kein Angesprochenwerden gewesen wäre – sondern „nur“, dass ich vorher nicht erkannt hatte, dass er das war. In diesem Sinne ereignet es sich indirekt: Das Bekanntsein mit dem Angesprochenwerden und sein Erkanntwerden liegen auseinander, während im zwischenmenschlichen Anruf „Maria!“ beides unmittelbar ineinander liegt. Solange es diese Stufe der Erkenntnis des Angesprochenseins noch nicht erreicht hat, hat das endliche Subjekt keine oder eine verkehrte Auffassung von diesem Angesprochenwerden: Auf dem Standpunkt des „Bewusstseins“ meint das Bewusstsein, die Dinge selbst würden (allein) sprechen.
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Auf dem Standpunkt des „Selbstbewusstseins“ meint das Bewusstsein, es selbst allein würde sprechen. Das bedeutet: Dort, wo nichts anderes als es selbst spricht, meint das Bewusstsein, etwas anderes würde sprechen. Dort, wo schon „etwas“ anderes gesprochen hat – qua Selbsterkenntnis –, meint das Bewusstsein, es allein hätte gesprochen und es allein würde sprechen. Hegels These, dass Selbstbewusstsein und Bewusstsein in Einheit gebracht werden müssen, besagt in diesem Lichte also, dass der Zielpunkt des Weges der Selbsterkenntnis eine philosophische Auffassung davon ist, wie Geist Geist ansprechen kann, ohne dass dies ein leeres Selbstgespräch ist; dass also Sinn aus dem Gedanken gemacht werden kann, dass „Geist“ mit sich selbst in einem realen Gespräch ist. Nun wirft (spätestens) diese Formulierung zwei instruktive Problemfragen auf: (i) Besteht der Weg der Selbsterkenntnis nicht wesentlich im Zwang des Arguments, der in seinem Nötigungscharakter eben nicht sinnvoll als „Angesprochenwerden“ zu bestimmen ist? Worin liegt hier, wenn man so will, das Freiheitsmoment des Angesprochenwerdens – auf Seiten des Sprechenden wie des Angesprochenen? (ii) Ist „Angesprochenwerden“ nicht nur das, was es ist, wenn es auch die Möglichkeit gibt, als Angesprochener sodann den Ansprechenden selbst anzusprechen? In welchem Sinne aber soll das endliche Subjekt das unendliche Subjekt ansprechen, also antwortend reagieren, können? Diskutieren wir beides nacheinander. Ad (i): Wir hatten schon eingesehen, dass das „Angesprochenwerden“ als Einleuchten uns in der Tat dazu bringt und dazu führt, von dem, was uns einleuchtet, qua Einleuchten, überzeugt zu sein, es als gültig anzuerkennen, ihm fortan anzuhängen – und, sofern wir konsequent und kohärent verfahren, auch allen Implikationen dessen, was uns da einleuchtet. Das bedeutet aber nicht, dass das Einleuchten als solches die Form des Arguments hätte. Im Gegenteil, wir hatten das Einleuchten ja gerade als etwas eingeführt, was dort ist, wo kein zwingendes Argument (im Sinne des intersubjektiv-Verfügbaren) gegeben werden kann – aus elementaren erkenntnislogisch-semantischen Gründen. Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass es qua Einleuchten nichts a‑ oder gar irrationales ist, sondern gerade etwas, das uns etwas in seiner Klarheit und Gültigkeit vor Augen führt. Es hilft, sich hier noch einmal den plastischen Charakter, den dieses soeben noch einmal abstrakt erläuterte „Einleuchten“ für uns gewinnen kann, vor Augen zu führen: Ich kann nicht erzwingen, dass ich etwas verstehe; dass ich nicht nur denke, sondern klar und gut denke. Klarheit und Güte des Denkens sind unverfügbar; sie kommen mir, wenn überhaupt, im Laufe meines Denkens entgegen, wachsen mir zu. Konkret zeigt sich das etwa daran, dass ich nach der Lektüre eines für andere Menschen tiefen philosophischen Textes bekennen muss: „Das
336 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes sagt mir nichts!“ – „Das spricht mich nicht an!“. Hier gebrauchen wir also selbst – und ganz mit Recht – die Begrifflichkeit des „Angesprochenwerdens“. Die Erfahrung für denjenigen, dem der Text verschlossen bleibt, ist in der Tat die Erfahrung eines beklemmenden Schweigens vonseiten des Textes – durchaus analog der Erfahrung eines beklemmenden Schweigens dort, wo man von einem anderen Menschen ein „klärendes, offenes Wort“ erwartet oder erhofft. Entsprechend befreiend ist die Erfahrung, wenn einem ein Text „aufgeht“; die Erfahrung, dass er „zu sprechen beginnt“ und dass ich dann, in weiterer Auseinandersetzung mit ihm, den Text weiter „zum Sprechen bringe“ – womit schon ein Vorgriff auf die Antwort auf Problemfrage (ii) gegeben ist. Wie ist es also nun um den „Nötigungscharakter“ bestellt? Nun, vonseiten Gottes gibt es keinen Zwang, sich zu Offenbaren. Das zeigt sich darin, dass er sich in seiner internen Offenbarung selbst genug ist und sein (externes) Offenbaren für mich wesentlich unverfügbar ist – und nur als unverfügbares offenbar. Plastisch gefasst haben wir dies auch im erfahrungsgesättigten Ausdruck der „Liebe“: Diese hat durchaus einen „Nötigungscharakter“ – aber einen solchen, der in keiner Weise mit dem Begriff des „Zwangs“ in Verbindung zu bringen ist, in keiner Weise der Freiheit widerstrebt, sondern diese vielmehr erst voll realisiert. Dass es vonseiten Gottes keinen Zwang zur Offenbarung gibt, heißt entsprechend nicht, dass er willkürlich wählen würde, wem er sich offenbart. Es ist kein Zufall, dass wir keinen positiven Begriff „seiner Freiheit“ haben können, der über das bisher Gesagte hinausgeht; denn gäbe es einen solchen, würde dies Gott in einer Weise berechenbar machen, die dem Wesen der Unverfügbarkeit wie dem der Liebe widersprechen würde. Damit also zu mir, als „Angesprochenem“: Bin ich im Akt des „Angesprochenwerdens“ genötigt? Nun, wir hatten schon gesagt, dass das Einleuchten mich qua Einleuchten „dazu bringt oder führt“, durchaus zwingend, anders zu denken als bisher – allerdings, und auch das liegt im Wesen des Einleuchtens, in keiner Weise, die als der Freiheit zuwider gehender „Zwang“ zu fassen wäre oder so erfahren werden würde. Im Gegenteil befreit uns das Einleuchten von den Verkehrtheiten, die im Mangel dieses Einleuchtens, im Denken bloß in und aus uns selbst, liegen. Zudem haben wir gesehen, dass das erkenntnislogisch-semantische Argument uns in der Tat zwingt, das, wovon wir nunmehr überzeugt sind, als Resultat des Einleuchtens anzuerkennen. Das bedeutet, dass wir darin eo ipso unsere Aufmerksamkeit auf dieses Einleuchten, also das uns Ansprechende, richten; hier wird unsere Aufmerksamkeit wahrhaft von einem Anderen angezogen. Dann ist – und dies wird für alle drei Gestalten des absoluten Geistes gelten – die Aufmerksamkeit gerade keine Aktivität, die sich als alleiniger Akteur begreifen darf, sondern das aktive sich-Hingeben an ein Geschehen, welches sich mir, zum sich-Hingeben, vorher selbst aktiv erschlossen haben muss. Darum wiederum weiß das aktive sich-Hingeben in seinem aktiven sich-Hingeben, da es antwortend ist. Es weiß seine Aktivität als aktives von-sich-
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Absehen. Im Zusatz zu § 448 der Enzyklopädie heißt es in diesem Sinne von der Aufmerksamkeit, sie enthalte „also die Negation des eigenen Sichgeltendmachens und das Sich-Hingeben an die Sache; – zwei Momente, die zur Tüchtigkeit des Geistes ebenso nothwendig sind“21.
Das ist – elementar – analog zur zwischenmenschlichen Anrede: Wenn jemand „Georg!“ ruft, werde ich mich zumindest in dem minimalen Sinne dem Anrufenden zuwenden (und damit von mir selbst absehen), als er mir als michAnrufender in eben diesem Akt unmittelbar zu Bewusstsein tritt. Im Vergleich dazu „frei“ bin ich aber darin, ob ich ihm antworte und mit ihm ein Gespräch beginne – oder nicht. Auch hier aber zeigt sich, dass „frei“ nicht die Schein-Freiheit der willentlichen Wahl meinen kann – und wieder verdeutlicht das der Begriff der „Liebe“: Wo auch immer sie – in partnerschaftlicher oder auch in Form der Nächstenliebe – gegeben ist, wird man sich in einer nicht-mechanistischen Weise „genötigt“ fühlen, auf die Anrede des anderen Menschen zu reagieren. Vor allem dann, wenn sie dringlich klingt. Das philosophische Einleuchten aber ist allemal dringlich. Das führt uns zu Punkt (ii). Ad (ii): „Denken ist Danken“ – so hat Heidegger einmal formuliert22, und so hätte auch Hegel formulieren können. Mit Hegel lässt sich die tiefe Wahrheit dieses Satzes verstehen: Selbsterkenntnis schließt wesentlich die Erkenntnis ein, dass ich sie nicht aus mir selbst hätte vollziehen können. Man mag es zunächst irritierend finden, daraus abzuleiten, dass dem unendlichen Subjekt dafür zu danken sei. Doch es ist sprachlich natürlich und richtig zu sagen, als individuelles endliches Subjekt kann ich nur dank des Werkes des unendlichen Subjekts klar denken und mich selbst erkennen. In diesem – elementaren – Sinne folgt aus dem Denken ein Dank(en), liegt im Denken ein Dank(en) begründet. Die Selbsterkenntnis schließt die Erkenntnis ein, dass das Werk des unendlichen Subjekts unverfügbar ist; das bedeutet, dass es mir auch hätte entzogen bleiben können. Es liegt nun im Wesen des Dankes als solchem begründet, dass eine wesentliche Voraussetzung des Dankens ist, dass der Schenkende „aus freien Stücken“ geschenkt hat, und nicht seinerseits (quasi‑)kausal dazu genötigt war. Das erkennen wir auch an Gott, aufgrund der eingesehenen Unverfügbarkeit; und somit können wir ihm danken. Ein zweiter Wesenszug des Dankens aber ist dieser: Danken ist frei in dem Sinne, dass es keinen Zwang gibt, zu danken, dass etwa die Gabe eines Geschenks – selbst, wenn es wunderbar ist – kein (quasi‑)kausaler Auslöser für einen Dank meinerseits ist oder auch nur sein kann. Wir müssen Gott also nicht in einem kausalen Sinne danken. Aber in einem anderen Sinne müssen wir ihm doch danken, da das Verhältnis zu ihm – anders als etwa zu einem mich beschenkenden Kollegen –, sofern es besteht, immer schon ein Liebesverhältnis ist, in dem das nicht-freiheitswidrige VSG Zusätze, 1095. Vgl. Heidegger 2002: 149 ff.
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338 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes „müssen“ wesentlich liegt. Dieses „müssen“ schreiben wir uns in Fällen des Dankens problemlos selbst zu: „Ich muss ihm unbedingt noch danken!“ – das kann, begeistert ausgesprochen, ein Äquivalent sein zu: „Ich will ihm unbedingt noch danken!“ Wie aber dem unendlichen Subjekt danken? Dazu noch einmal: „Denken ist Danken“ – das hat noch einen weiteren Sinn. Die Selbsterkenntnis, dass meine Selbsterkenntnis nur durch das Werk des unendlichen Subjekts ist, impliziert unmittelbar, dass ich nach dieser Einsicht mit eben diesem Bewusstsein denke – und das bedeutet, dass ich anders denke als vorher. Der Unterschied zum Denken vor dieser Einsicht ist analog zu demjenigen Unterschied, der zwischen einem nicht-demütigen und einem demütigen Vollzug einer bestimmten Handlung besteht. Wenn ein Untertan demütig vor seine Königin tritt, so macht die Art, wie er das tut – eben demütig – den Unterschied ums Ganze verglichen mit dem Fall, er würde es nicht-demütig tun. Auch von daher ist zu verstehen, warum Hegel immer wieder darauf hinweist, der Weg der Selbsterkenntnis sei (mindestens) noch ein zweites Mal – und dann eben anders – zu durchlaufen. Dafür mag es freilich viele – prinzipielle wie pragmatische – Gründe geben. Ein prinzipieller Grund ist jedenfalls, dass in mindestens einer Hinsicht im ersten Durchlauf des Weges nicht recht gedacht wurde, ja nicht recht gedacht werden konnte: nämlich nicht demütig und dankbar gegenüber dem unendlichen Subjekt als eigentlichem Weg-Bereiter – das ja bis zum Ende des Weges noch gar nicht als das, was es wirklich ist, d. h. auch als das, was meine Selbsterkenntnis wesentlich leitet, erkannt wurde. Die Antwort, die das individuelle Subjekt also auf das Angesprochenwerden durch das unendliche Subjekt gibt – und damit die Art, wie es dieses anspricht –, ist also die Haltung des Dankens oder der Demut. Hegel macht ganz klar, dass er eine solche Haltung als für das wahrhaft philosophische Denken wesentlich erachtet – und zwar in seinem berühmten Diktum: „Die Philosophie ist in der Tat selbst Gottesdienst […]“23.
Dieses Diktum wurde oft nur im Hinblick darauf, ob es die Philosophie nun wirklich mit „Gott“ zu tun habe, diskutiert. Weit weniger konzentriert man sich auf den zweiten Teil des Wortes: dass Philosophieren ein Dienst sei. Diese Charakterisierung ist für sich genommen interessant genug. Dass Philosophieren ein „Dienst“ ist, besagt offenbar, dass Philosophieren „Dienen“ ist. Für das „Dienen“ gilt dasselbe, was vorhin von der „Demut“ gesagt wurde: ob jemand etwas dienend oder nicht-dienend tut, macht einen Unterschied ums Ganze. Im philosophischen Denken nun zeigt sich dieser Unterschied nicht nur „im Bewusstsein des Philosophierenden“ – sondern er drückt sich auch in dessen Äußerungen aus. Elementar zunächst darin, dass er das unendliche Subjekt thematisch macht RPh EL 1827, 63 f.
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und anerkennt; subtiler, wenn etwa der philosophische Eifer der Autorin oder des Autors als aus der Be-Geisterung für dieses unendliche Subjekt rührend offenbar wird. Am anderen Ende einer solchen Skala steht die Nivellierung der Differenz von Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Sie und ihr Typ von Philosophieren besteht genau darin, als das einzige und damit – trivialiter – auch höchste Subjekt des Philosophierens mich („Ich“) selbst darzustellen. Im „Dienst“ liegt nicht die Logik der knechtischen Abhängigkeit – in zweierlei Sinn nicht: Das unendliche Subjekt zeigt sich mir nicht erst, nachdem oder weil ich mich bewusst in seinen Dienst gestellt habe. Es macht die Gewähr seiner Offenbarung zunächst nicht von einem ausgeprägten Bekenntnis zu ihm abhängig. Das zeigt sich schon darin, dass das unendliche Subjekt sein Werk des Ansprechens ja bereits vollzogen hat (und haben muss), bevor das individuelle endliche Subjekt es als solches erkennen und ihm daher durch seinen Dienst „antworten“ kann. Vorher – diesseits der Gewähr der Offenbarung – kann das endliche Subjekt schlicht nicht bewusst in seinen Dienst treten. Wenn es jedoch im Sinne des Dienstes antwortet, antwortet es auf Basis der Erkenntnis des unendlichen Subjekts, damit aber auch der Erkenntnis des unendlichen Subjekts als von ihm unabhängiges. Entsprechend ist dieser Dienst sodann einer, den das individuelle endliche Subjekt als etwas weiß, von dem das unendliche Subjekt wiederum nicht abhängt. Anders gesagt handelt es sich bei diesem Dienst nicht um den Dienst eines Knechtes, der die Dialektik von Herr und Knecht in Gang bringen würde. (Gleich wie ein Kniefall im Gebet ja auch nichts ist, dessen Gott bedürfte oder wodurch ich mich zum Gotte aufschwingen würde – er wird „um seiner Ehre willen“ vollzogen.)24 Die Ausprägung des „Dienstes“ nun besteht neben der Haltung noch in etwas zweitem: In einer Hingabe und einer Bindung. Derjenige, der einmal philosophiert hat, dem darin einmal etwas eingeleuchtet hat, „kann es nicht mehr lassen“, wie wir sagen. Auch dieses „kann nicht“ ist im schon mehrfach explizierten Sinne der „Nötigung“ eines Liebesverhältnisses zu verstehen. Dass Philosophie(ren) Liebe ist, ist ein alter Gedanke – und ihr Wortsinn. Hegel zufolge ist sie aber nicht die Liebe zu einem Abstraktum, sondern zu Gott selbst. Wer einmal darin ist, wird darin bleiben. Doch dies wirft eine Frage auf: Kann ich eigentlich aus mir selbst darin bleiben, wenn – gelingendes – Philosophieren wesentlich unverfügbar ist und bleibt? Diese Frage ist durch zwei Differenzierungen zu beantworten:
24 Es steht zu vermuten, dass Wittgenstein im Philosophieren ebenfalls derartigen „Dienst“ erkannte, wenn er im „Vorwort“ zu den sogenannten „Philosophischen Bemerkungen“ schreibt: „Ich möchte sagen ›dieses Buch sei zur Ehre Gottes geschrieben‹, aber das wäre heute eine Schurkerei, d. h. es würde nicht richtig verstanden werden. Es heißt, es ist in gutem Willen geschrieben und soweit es nicht mit gutem Willen, also aus Eitelkeit etc., geschrieben, soweit möchte der Verfasser es verurteilt wissen. Er kann es nicht weiter von diesen Ingredienzen reinigen, als er selbst davon rein ist.“ (Wittgenstein 1984b: 7)
340 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes – Erstens, es liegt im Wesen der Erkenntnis, dass sie er-innert im Sinne von ver-inner-licht werden kann. Das bedeutet nicht, dass sie sich nicht wieder entziehen kann; ihre Unverfügbarkeit ist ihr wesentlich und deshalb niemals getilgt, die Möglichkeit meines auch plötzlichen Abgleitens in (alte) Verwirrungen immer eine akute Möglichkeit und Gefahr. Erkenntnis kann also nicht fest-gestellt, verwaltet werden; und doch liegt in ihr eine Grund-Lage, die sich durchhalten kann. Alle einzelnen philosophischen Bestrebungen können durch die Erkenntnis des unendlichen Subjekts als des unendlichen Subjekts „grundiert“ sein; gleich wie ein ganzes Leben geprägt sein kann von der Begegnung mit einer bestimmten Person, auch wenn diese einem nicht immer gleich nahe sein mag. Gelingende Selbsterkenntnis ist Begegnung mit dem unendlichen Subjekt; dessen Wesen ist es nicht, meine einzelnen folgenden Denkakte gleichsam mechanistisch-autoritär zu steuern, aber doch, mein Denken an dieser zentralen Erfahrung geeicht zu haben. – Zweitens, was ein Mensch in der Tat prinzipiell kann (und soll), ist, den Vollzug des Denkens zu beginnen und (weiter) zu pflegen. Doch insofern er dies tut, denkt oder philosophiert er noch nicht gelingend. Diesseits des (unverfügbaren) Gelingens ist das Denken – so kann man sagen – eine initiale Aktivität. Durch sie lässt sich nicht erzwingen, dass Selbsterkenntnis gelingt; aber sie ist die notwendige Bedingung dafür, dass sie überhaupt eintreten kann. Eines der profundesten Missverständnisse des Gedankens der Unverfügbarkeit besteht somit darin zu meinen, er würde bedeuten, ich könne und müsse nichts tun. Dass ich aus mir selbst nicht klar denken kann, bedeutet nicht, dass ich nicht wenigstens unklar zu denken beginnen kann und muss, damit mein Denken im Denken zur Klarheit geführt werden kann. Wenn und insofern ich dann tatsächlich einmal im Denken zur Klarheit geführt werde, denke ich immer noch, überzeuge ich mich immer noch von etwas: Ich über-zeuge mich in diesem Gedankengang davon, dass Gott die(se) Überzeugung mir er-zeugt hat. Die Idee des „Angesprochenwerdens“ und „Antwortens“ wirft schließlich noch die Frage auf, ob ihre Realisation in Gestalt der Philosophie eine erst‑ und zweitpersonale Rede – ein „Ich“ und „Du“ – erfordert oder zumindest zulässt. Nun, vorweg ist daran zu erinnern, dass niemand – auch das unendliche Subjekt nicht – für mich „ich“ sagen kann; damit kann auch niemand für mich meine Haltung des Dienstes übernehmen. So prägt sich die Irreduzibilität der notwendig erstpersonal realisierten Individualität im Philosophieren als einer Gestalt des absoluten Geistes aus. Doch dies darf nicht verwechselt werden mit der Form erst‑ und zweitpersonaler Rede – dem Ich‑ und Dusagen. Diese geht der Philosophie kategorisch ab; darin besteht ihr Wesen als begriffliches Erkennen. Im Begriff liegt – wenn man so will – die Neutralität der Drittpersonalität. Es ist kein Zufall, dass wir nicht geneigt sind, im Philosophieren Gott mit „Du!“ anzurufen; das ist nicht die Form des Philosophierens. Diese ist wesentlich nichterst‑ und nicht-zweitpersonal.
8.4 Religion
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Hegel nun würde der These, ein Gott sei kein Gott, wenn man zu ihm nicht „Du“ sagen kann – nicht zu ihm beten kann –, vehement zustimmen.25 Er würde aber widersprechen, dass daraus, dass dies in der Philosophie blanker Unsinn wäre, folgt, dass sie keine Begegnung mit Gott sei. Vielmehr folgert er, dass die Philosophie noch nicht alle Begegnung mit Gott sein kann, wenn Gott Gott sein soll. Die erst‑ und zweitpersonale Rede ist der Religion vorbehalten. Sofern wir ein Bedürfnis zu ihr haben, haben wir ein wahrhaft geistiges Bedürfnis; nach Religion als einer Gestalt des absoluten Geistes. Eine Stärke der Philosophie liegt darin, ihre Schwäche zu vermeiden, die darin bestehen würde, die Religion nicht anzuerkennen – und damit die Stärke der Religion, eine Begegnung mit Gott in anderer Form zu sein, die durch Philosophie kategorisch nicht substituierbar ist.
8.4 Religion Zunächst einige elementare Vorbemerkungen: Alles bisher Gesagte ist Philosophie und nicht Religion, auch nicht Theologie, sofern Theologie etwas anderes als Philosophie sein soll26; wenn im Folgenden die Religion thematisiert wird, wird Religionsphilosophie betrieben. Das aber bedeutet, es wird immer noch Philosophie betrieben. Allerdings Philosophie, sofern sie Religion zum Gegenstand (oder Thema) hat: zunächst Religion – und nicht Religionsphilosophie oder Theologie. Dabei hat sie wesentlich aufzuklären, wie Religion eine Gestalt des absoluten Geistes ist und wie sie sich zu den anderen – vor allem zur Philosophie selbst – verhält. Hegel behauptet, dass Philosophie und Religion denselben „Inhalt“ haben, aber in verschiedener „Form“ – die Philosophie in Form des „(begrifflichen) Denkens“, die Religion in Form der „Vorstellung“. Die Möglichkeit und Notwendigkeit dieser Unterscheidungen haben wir oben bereits dargetan. Bezüglich der Religion besagt sie: Der „Inhalt“ – das Geschehen der Zurückholung – ist in ihr realisiert in Form der „Vorstellung“. Es ist rätselhaft, was das bedeutet: Denn „Vorstellung“ ist ja zunächst nicht die Form eines (oder dieses) Geschehens, sondern ein repräsentationales Vermögen des endlichen Subjekts. Die entscheidende Frage ist also: Was bedeutet es, dass dieses Vermögen so auf dieses Ge25 Ganz unangemessen ist Heideggers religiös taubes und durchaus stereotypes Urteil über Hegel in seinem Aufsatz „Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik“: „Causa sui [.,] so lautet der sachgerechte Name für den Gott in der Philosophie. Zu diesem Gott kann der Mensch weder beten, noch kann er ihm opfern. Vor der Causa sui kann der Mensch weder aus Scheu ins Knie fallen, noch kann er vor diesem Gott musizieren. Demgemäß ist das gott-lose Denken, das den Gott der Philosophie, den Gott als Causa sui preisgeben muß, dem göttlichen Gott vielleicht näher.“ (Heidegger 2008: 64 f.) 26 Was Hegel bestreitet, indem er ausdrücklich sagt: „Die Philosophie ist […] Theologie […].“ (RPh EL (Ms), 4, auch VPhR III Jaeschke, 269)
342 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes schehen bezogen wird, dass dieses Geschehen in einer bestimmten Form realisiert, also vollzogen wird, sich darin also ereignet? Allein diese Frage zeigt, dass eine in weiten Teilen der Debatte um Hegels Religionsphilosophie27 für selbstverständlich genommene Annahme falsch sein muss. Dort wird Hegels These von der Identität des Inhalts so verstanden: Sätze der Religion sollen dasselbe wie Sätze der Philosophie repräsentieren, allerdings eben in anderer repräsentationaler Form. Während in Sätzen der Philosophie interne und nicht-raumzeitlich, nicht-narrativ strukturierte Zusammenhänge zwischen Gott und Mensch ausgesagt werden, werden in Sätzen der Religion externe und raumzeitlich, narrativ strukturierte Zusammenhänge ausgesagt. Ein Beispiel: Ein Satz der Philosophie: „In seinem externen Offenbarungsverhältnis realisiert Gott im Modus der philosophischen Selbsterkenntnis das Zurückholen-des-Anderen-zu-sich in begrifflich-diskursiver Erkenntnis.“ Entsprechender Satz der (christlichen) Religion: „Gott sandte seinen Sohn Jesus Christus herab zu uns, damit wir durch ihn gerettet würden und eine Wohnstatt bei Gott haben.“
Die Idee, beide Sätze hätten als Sätze denselben Inhalt, muss schon aus folgendem Grund zurückgewiesen werden: Solche Sätze sagen an sich gar nichts; sie „haben“ keinen Inhalt. Das betont Hegel immer wieder; und wir haben im Vollzug des Weges der Selbsterkenntnis gesehen, warum. Was der beispielhaft aufgeführte Satz der Philosophie aussagt, sagt er nur aus, sofern er im Vollzug der Selbsterkenntnis entwickelt ist. Natürlich kann ihn derjenige, der diese Entwicklung vollzogen hat, auf Papier notieren und immer noch verstehen – doch eben nur, weil der Vollzug darin er-innert ist. Doch ohne diesen internen Bezug zum Vollzug ist der Satz nichts; er enthält keine transportierbare „Information“. Hierin liegt also der Wink, dem wir sogleich nachgehen werden: dass die Identität des Inhalts sich nicht in der Parallele zwischen Sätzen erschöpft, sondern erst dadurch besteht, dass sie je in einem für ihre Bedeutung konstitutiven Vollzug stehen. Doch diesen Punkt müssen wir schrittweise entwickeln. Zunächst ist zu fragen, was wir eigentlich meinen, wenn wir sagen, dass eine Parallele zwischen diesen Sätzen besteht. Das kann keine Substituierbarkeit meinen; also, dass wir statt des philosophischen Satzes auch denjenigen der Religion hätten gebrauchen können auf dem Weg der Selbsterkenntnis. Nein, in diesem Weg kam dieser Satz ja gar nicht vor – und könnte auch nicht vorkommen, denn ein „Jesus Christus“ kam dort gar nicht vor. Eine „Parallele“ oder „Entsprechung“28 liegt vielmehr in dem Sinne vor, dass jedem Moment der Sätze der philosophischen Erkenntnis ein Moment der Sätze der (christlichen) Religion zuzuordnen ist. Diese Zu Vor allem diejenigen in Ausgang von Wagner 1976 und Jaeschke 1986. So formuliert und erläutert es auch Sans 2016: 393 ff.
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ordnung kann freilich nicht nach einem Algorithmus geschehen, sondern muss vorgenommen und eingesehen werden. Das setzt eine gewisse Kenntnis des Stoffs der (christlichen) Religion voraus. Eine „Parallele“ oder „Entsprechung“ in diesem Sinne meint Hegel; und nimmt darin in der Tat Bezug auf eine positive Religion, wie sie historisch vorzufinden ist. (Zur Rechtmäßigkeit solchen Bezugs wird später noch einiges zu sagen sein.) Doch was ist die Signifikanz dieser „Parallele“ oder „Entsprechung“ zwischen diesen Sätzen soweit? Nahe liegt, die Religion als Allegorie der Philosophie zu verstehen. Religionsphilosophie wäre dann Allegorese: Sie zeigt, dass die Geschichte, die die Sätze der positiven Religion erzählen, als Veranschaulichung oder Allegorie für das ausgelegt werden kann, was in der philosophischen Selbsterkenntnis begriffen wurde. Gewiss, eine solche Allegorese wäre möglich. Doch das kann Hegel nicht meinen, wenn er von der Identität des Inhalts zwischen Philosophie und Religion redet.29 Denn das, was „Inhalt der Religion“ im Falle der Allegorese allein meinen könnte, ist eben die Geschichte, die sie erzählt, und ihr Inhalt. Aber nochmals: Dieser kann schon deshalb nicht identisch mit dem Inhalt der Philosophie sein, weil Jesus Christus in letzterer nicht vorkommt. Das Problem verschärft sich nun dadurch, dass freilich nicht zu leugnen ist, dass Hegel das Vermögen der „Vorstellung“ mit der Form von Sätzen in einen internen Zusammenhang bringt. Was dieses repräsentationale Vermögen ist, erläutert er anhand der Form von Repräsentationen, z. B. von Sätzen. Sätze, deren Inhalt besagte narrative Struktur haben – etwa von einem vom Himmel herabkommenden Gottessohn erzählen –, sind Sätze unseres Vermögens der Vorstellung. Das muss also in der Tat berücksichtigt werden; es muss ein wesentliches Moment des philosophischen Begriffs der Religion und ihres Verhältnisses zur Philosophie sein. Allerdings nur ein Moment, denn allein reicht es eben nicht zu. Das können wir nun präzise daran festmachen, dass wir den Stand unserer Überlegungen auf die eingangs entwickelte Ausgangsfrage beziehen. Diese lautete: Was bedeutet es, dass das Vermögen der Vorstellung so auf das Geschehen der „Zurückholung“ bezogen wird, dass dieses Geschehen in einer bestimmten Form realisiert, also vollzogen wird, sich darin also ereignet? Wir haben bislang nur gesehen, dass das Vermögen der Vorstellung eine bestimmte Form von Sätzen impliziert; aber nicht, wie sie eine Form des besagten Geschehens darstellen kann. Die nunmehr entscheidende Frage lässt sich daher so formulieren: Was hat zum Vorliegen der Parallele zwischen Sätzen verschiedener Form hinzuzutreten, damit Hegels These von der Inhaltsidentität zwischen Philosophie und Religion – als Realisation desselben Geschehens – verständlich wird und eingeholt ist? Erinnern wir uns zurück an den oben gegebenen Wink: Die beiden nebeneinandergestellten Sätze sagen an sich gar nichts. Sie tun es nur als Sätze, für 29 Zur Kritik an einer Interpretation der hegelschen Religionsphilosophie als Allegorese vgl. auch Gabriel 2015.
344 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes welche konstitutiv ist, in einem bestimmten Vollzug eine Rolle zu spielen, durch den die Sätze also erst in einem sinnkonstitutiven Zusammenhang stehen. Im Falle der Philosophie war dies der Vollzug der Selbsterkenntnis qua begrifflichem Denken. Nun lautet die Frage: Welcher Vollzug kann es in der Religion sein? Die Antwort kann nicht lauten: ebenso der Vollzug der Selbsterkenntnis qua begrifflichem Denken. Das haben wir schon eingesehen.30 Die Frage ist auch insofern schwierig, als wir nicht einfach irgendetwas aufraffen oder konstruieren dürfen, mit dem sie beantwortet werden könnte. Vielmehr müssen wir den gesuchten Vollzug – jedenfalls in seiner grundsätzlichen Form – ableiten. Ableiten können wir ihn nur aus dem, was wir schon erkannt haben: nämlich, wie Sätze und Vollzug in der Philosophie zusammenhängen. Wir haben zwar eingesehen, dass sie in der Religion nicht in gleicher Weise zusammenhängen können. Doch das schließt nicht aus, dass es wiederum Parallelen der Art und Weise des Zusammenhangs gibt – nämlich folgende: (i) Ich muss initial irgendetwas tun (– entsprechend zum Nachdenken in der Philosophie –), wobei letztlich entscheidend ist, dass Gott selbst sich als darin eigentlich Handelnder herausstellt, was unverfügbar ist und auch so erfahren wird (– entsprechend zum Einleuchten in der Philosophie, das darin auch als solches in seiner Unverfügbarkeit erkannt wird). (ii) Das, wovon die Sätze handeln, muss das sein, was ich (im Umgang mit diesen Sätzen) tue und worin Gott selbst sich als Handelnder herausstellt (– entsprechend wie in der Philosophie das Einleuchten geschieht und als solches auch in ihren Sätzen thematisch ist). (iii) Der gesuchte Vollzug – in welchem sich die Zurückholung des Menschen zu Gott ereignet – muss als universal qua Gründung in Gott selbst aufgefasst sein (– entsprechend wie in der Philosophie die universale begrifflich-diskursive Selbsterkenntnis als Nach-Vollzug der in und durch Gott selbst immer schon vollzogenen Zurückholung des Anderen zu fassen ist, das externe Offenbarungsverhältnis als Nachvollzug des internen Offenbarungsverhältnisses). Am zweiten und dritten Punkt wird deutlich, warum das bloße Erzählen von Geschichten an sich noch nicht der religiöse Vollzug sein kann. Vielmehr muss dasjenige geschehen und vollzogen werden, wovon die Geschichten selbst erzählen (= Punkt (ii)). Das heißt, diejenigen Begegnungen des Menschen mit Gott – Erhebungen des Menschen durch Gott –, von denen die Geschichten erzählen; genauer: diejenige Begegnung – Erhebung –, die vermittelt ist durch den Anderen, der zur Gottheit Gottes hinzugehört, nämlich – in der religiösen 30 Das steht ganz und gar nicht im Widerspruch zur Tatsache, dass Hegels religionsphilosophische Vorlesungen an manchen Stellen darin bestehen, eine Theologie zu kritisieren, die so tut, als würden diese Sätze in einer bestimmten Reihenfolge oder Anordnung einen Erkenntniszusammenhang darstellen. Sofern er dies kritisiert, kritisiert er aber nicht die Religion, sondern eine Theologie, die die Sätze der Religion aus ihrem genuin religiösen Vollzugskontext gelöst und zu Momenten einer vermeintlichen philosophischen Erkenntnis verfälscht hat.
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Vorstellung – durch den Gottmenschen Jesus Christus selbst, durch nach-vollziehenden Anteil an seinem Weg zum Vater (= Punkt (iii)). Damit aber wird offenbar, worin der gesuchte Vollzug nach Hegel in seinem Wesenskern besteht: im Abendmahl oder der Eucharistie. Hegel spricht hierbei vom „Bewußtsein, Bürger im Reiche Gottes zu sein – das, was mystische Union genannt ist, das Sakrament des Abendmahls, wo auf sinnliche, anschauliche Weise dem Menschen gegeben wird das Bewußtsein seiner Versöhnung mit Gott, das Inwohnen und Einkehren des Geistes in ihm. Der Inhalt der sakramentalischen Handlungen ist auch das Entwickeln des Geistes.“31
Hegel bestimmt also als Vollzugsform der Religion – allgemeiner gesprochen – den „Kultus“32; der Inhalt des absoluten Geistes in Bezug auf die Religion „verflicht sich durch sich in den Kultus“, wie Hegel plastisch sagt.33 Wie und warum er sich so „verflicht“, haben wir eben nachvollzogen: Die bloßen Sätze müssen mit und in einem Vollzug so verflochten werden, dass – analog zur Philosophie – ein Ineinander von Sätzen und Vollzug vorliegt. Konkret und positiv ist diese Verflechtung im Abendmahl (oder der Eucharistie) realisiert; dort sind die Punkte (i)–(iii) konkret und positiv erfüllt: (i) Im Empfang des Abendmahls oder der Eucharistie wird etwas getan, das darin von den Gläubigen als unverfügbares Heilshandeln Gottes erfahren wird; (ii) was getan wird, ist einerseits zentraler Inhalt der Texte des Neuen Testaments – vom Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern wird dort erzählt –, andererseits eben wieder-holendes Tun der Kirche zu allen Zeiten und an allen Orten; (iii) was getan wird, ist Anteilbekommen an Christus selbst und damit an seinem – an sich immer schon vollzogenen – Weg zur Schau des Vaters. Dies wiederum wird – gemäß (i) – von den Gläubigen im Vollzug auch so erfahren; andererseits wird es – gemäß (ii) – im Kontext der VL PhR III Jaeschke, 166. Dass die Religion erst durch den Kultus eine Gestalt des absoluten Geistes ist, da sie erst dadurch eine Vollzugsform hat, in der sich ein Geschehen überhaupt ereignen kann – und damit der Inhalt des absoluten Geistes, der ein Geschehen ist –, wurde in den an Wagner 1976 anschließenden Debatten weitestgehend verkannt. Dort wird „Religion“ unversehens als System von Sätzen – und damit als schon zur Theologie umgemünzte, geronnene Religion – (miss)verstanden. Eine solche Theologie ist mit Hegel freilich zu negieren (nicht bloß aufzuheben) – denn sie kann überhaupt kein Vollzug – schon gar nicht des absoluten Geistes – sein. Als einer der ganz wenigen im beschriebenen Debattenkontext hat Jörg Dierken die Bedeutung des Kultus klarer und kritischer in den Blick gerückt (vgl. Dierken 1989; für eine erhellende Einordnung in den (theologischen) Debattenkontext vgl. Korsch 1996: 241 ff.). Damit einher geht notwendig eine kritische Fortentwicklung von Falk Wagners Ansatz. Jedoch folgt Dierken immer noch Wagners Aufhebungsthese und bestimmt, als Kehrseite dessen, den Kultus nicht, wie hier vorgetragen, so, dass der wahren Religion im dargestellten Sinne zuzuerkennen ist, eben qua dieser (Vollzugs‑)Form selbstständige Realisierung der Begegnung mit Gott sein zu können – von welcher es sodann keinen Sinn mehr macht, eine „Aufhebung“ in die Philosophie zu prädizieren. – Einige, die nicht derart eng im Debattenkontext um Wagner verortet sind, haben mit einem unbefangenen Blick auf die hegelschen Texte die Bedeutung des Kultus weitaus klarer feststellen können: Zu nennen sind hier Vossenkuhl 2015 sowie – im Ansatz – Rentsch 2011: 70 f. 33 VL PhR III Jaeschke, 12. 31 32
346 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Texte (vom Leiden und Sterben Jesu Christi) schon so erzählt und gedeutet.34 Inbegriff des Zusammenhangs von (i)–(iii) ist die Rede davon, Jesus Christus selbst habe das Abendmahl zur Vermittlung des Heils an die Sünder eingesetzt.35 Nun aber scheinen zwei Formbegriffe im Spiel zu sein: einmal die Form der Vorstellung als Form der Sätze oder Repräsentationen der religiösen Geschichten und Texte; einmal die Vollzugsform des Kultus, im Falle der wahren, vollendeten Religion konkret: des Abendmahls oder der Eucharistie. Die initiale Unterscheidung dieser zwei Formbegriffe ist wichtig. Denn sie ermöglicht, sie sodann in ihrem internen Verhältnis zu bestimmen, an dem sich zeigt, warum sie letztlich ein Formbegriff sind: Vorstellung ist zunächst ein Vermögen des Menschen – und keine Form von irgendetwas. Form ist sie erst, wenn sie Form bezogen auf einen Inhalt ist. Als Inhalt, dessen Form sie werden soll, hatten wir aber schon vorher das Geschehen der Zurückholung des Menschen zu Gott durch Gott eingesehen; und wir hatten eingesehen, dass und warum dieser Inhalt auch die Form der Vorstellung annehmen (können) muss, d. h. sich für uns in unserem Vermögen der Vorstellung und durch es ereignen (können) muss. Der erste Schritt musste daher sein, Repräsentationen unseres Vorstellungsvermögens – paradigmatisch und greifbar gefasst in Sätzen von Geschichten und Texten – zu betrachten, in denen dieselben wirklichen Wesen – Gott und Mensch – vorkommen wie in den Sätzen der philosophischen Selbsterkenntnis, in welcher sich uns dieser Inhalt zunächst erschlossen hatte. Das Verhältnis dieser Wesen zueinander aber muss darin – wie es Repräsentationen der Vorstellung erfordern – raumzeitlich-narrativ strukturiert sein. Das aber hat die Frage aufgeworfen, wie sodann der Vollzugscharakter, den das Geschehen als Geschehen eben auch in dieser Form haben muss, in welchem die Sätze erst „zu sprechen beginnen“ und somit ihren Inhalt und ihre Form haben, realisiert ist. Anders als im Falle der Philosophie kann es sich nicht um den Vollzug des begrifflichen Denkens handeln – sehr wohl aber kann es sich und muss es sich analog wie bei diesem um einen Vollzug handeln, der die genannten Punkte (i)–(iii) erfüllt. Damit aber ist erst durch diese Vollzugsform das Denkerfordernis erfüllt, besagtes Geschehen als in Form der Vorstellung realisiert denken zu können. 34 Diese Zusammenhänge implizieren, dass das religiöse Bewusstsein in einem Gott und die Religion zum Gegenstand hat – da unter Religion (hier) Gott als das externe Offenbarungsverhältnis (und dessen konkrete, individuelle Realisierung) zu verstehen ist. Dass es eine Pointe von Hegels Philosophie ist, Gott und die Religion gerade nicht als alternative Gegenstände des religiösen Bewusstseins gegeneinander auszuspielen, hat Hermanni 2017 klar expliziert und ins Zentrum seiner Interpretation von Hegels Philosophie der (vollendeten) Religion gerückt. 35 Hierzu wäre sowohl auf Ebene der neutestamentlichen Texte als auch im Hinblick auf die liturgisch-gottesdienstliche Praxis noch einiges zu entdecken, dessen Notwendigkeit aus den Gründen (i)–(iii) verständlich gemacht werden kann und das zugleich – im Unterschied zum Vollzug, der die Philosophie ist – das Proprium der Religion zur Darstellung brächte. Wiederum Dierken hat klar gesehen und herausgearbeitet, dass sich mit (oder – wie er meint – nach) Hegel die Möglichkeit und Aufgabe solcher genaueren Darstellung der religiösen Vollzugs‑ und Sprachkultur ergibt (vgl. Dierken 1989).
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347
Erst durch Hinzutreten des scheinbar getrennten, zweiten Formbegriffs ist der erste also überhaupt in seinem Wesen, als die Form von durch ihr konstitutives Eingebettetsein in den Vollzug erst in eben diesem Sinne inhaltsvollen Sätzen, begriffen. In der Vollzugsform stehend ist die repräsentationale Form der Sätze also nicht mehr dieselbe wie außerhalb ihrer; sie ist nicht mehr die Form bloßer Erzählung, sondern die Form von Erzählung im Kultus. Somit sind die beiden Formbegriffe zwei notwendige und integrierte Momente der Entwicklung des einen Begriffs der Vorstellung als einer Form besagten Inhalts.36 Es stellt sich also heraus, dass die mit unserem Vermögen der Vorstellung produzierten Sätze in ihrem narrativen Kontext an sich noch gar keine Gestalt des absoluten Geistes sind. Sie sind daher auch nicht als eine Gestalt des absoluten Geistes „aufzuheben“. Vielmehr ist ihr Defizit, nur Sätze ohne ihren eigentlich-letztlich sinnkonstitutiven Vollzug – und damit noch nicht eigentlich in ihrem Inhalt und ihrer Form stehend – zu sein, in einem Vollzug aufzuheben; ihr bloßes-Erzählung-Sein ist in den kultischen Vollzug hinein aufzuheben.37 Dieser Vollzug ist der eigentümliche Vollzug der Religion selbst, der Kultus.38 Mit ihm intern verflochten, verlieren die Sätze ihren defizitären Charakter, Sätze noch ohne einem dem Inhalt des absoluten Geistes entsprechenden Vollzug zu sein und soweit keinen ihnen eigentümlichen Vollzug gehabt zu haben, dem sie intern sind und der ihrer repräsentationalen Form entspricht – und stellen also eine eigene Vollzugsform dar, diejenige der Religion. Hegel fasst dies so zusammen: „Diese [sc. die Form der Vorstellung als Form von Sätzen, T. O.] giebt den Momenten seines Inhalts [sc. des absoluten Geistes, T. O.] einerseits Selbstständigkeit und macht sie gegen einander zu Voraussetzungen, und aufeinander folgenden Erscheinungen und zu einem Zusammenhang des Geschehens nach endlichen Reflexionsbestimmungen [= raumzeitlich-narrative Struktur der Sätze und Geschichten, T. O.]; andererseits wird solche Form endlicher Vorstellungsweise in dem Glauben an den Einen Geist und in der Andacht des Cultus auch aufgehoben.“39
Aus diesen prinzipiell-formalen Gründen ist nun auch verständlich zu machen, warum von Hegels Warte aus jede „Religion“, die sich ohne Bezugnahme auf Sätze mitsamt ihren Inhalten – also ohne Texte und Geschichten – „rein kultisch“ 36 Die Beiträge in Drilo/Hutter 2015 verfolgen je auf verschiedene Art diese Verschiebung oder ihre Spuren. 37 Womit, wie wir noch sehen werden, zugleich jeder Grund für die These von der Aufhebung der Religion in die Philosophie verschwindet. Hegel hat sie nicht vertreten. 38 In ihm handelt Gott; eine reine Erzählung (außerhalb des Kultus) hingegen handelt von „Gott“. – Die konstitutive Bedeutung des Kultus für die Religion nach Hegel – und damit die entscheidende Bedeutung des Begriffs des Kultus für ein adäquates Verständnis von Hegels Religionsphilosophie überhaupt – habe ich in Oehl 2014 selbst noch nicht gesehen, auch wenn sich in diesem Aufsatz schon ein Misstrauen aussprach gegen die These, Hegel habe aufgrund des (vermeintlich) defizitären Charakters der Religion eine Aufhebung der Religion in die Philosophie gelehrt. Die Kritik an dieser These kann ich in vorliegender Untersuchung nun auf weitaus besserem Fundament vortragen. 39 Enz. 1830, § 565.
348 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes vollzieht, notwendig eine Schwundform von Religion ist – ebenso aber eine „Religion“, die sich im Hantieren mit Sätzen oder auch im Erzählen erschöpft, ohne kultischen Vollzug, in den die Sätze oder Texte – das Erzählte – konstitutiv eingeflochten sind. Ein wahrhaft religiöser Vollzug liegt nur vor, wenn die ihn Vollziehenden eine Vorstellung von dem haben, was sie tun; sonst wüssten sie gar nicht, dass sie tun, was Jesus Christus getan und eingesetzt hat, und könnten es gar nicht als eben dieses tun. Erst so aber wird das Tun besagter Vollzug. Umgekehrt können sie trivialiter nur eine Vorstellung davon haben, was sie tun, wenn sie überhaupt etwas tun und sich in ein Geschehen involviert wissen. Und damit sie das tun können, was in den Geschichten selbst getan wird, und sich so in ihnen finden, reicht das Erzählen und Hören der Geschichten nicht; denn Jesus Christus hat nicht die Geschichte vom Abendmahl erzählt, sondern es gefeiert und eingesetzt. Es bedarf also der Lesung und Wortverkündigung unbedingt und notwendig, da der eigentliche kultische Vollzug ohne sie nicht sein könnte. Aber: Er bleibt der eigentliche religiöse Vollzug.40 Hegel ist in diesem Punkt also weitaus „katholischer“ als viele seiner (protestantischen) Rezipienten meinen.41 Es wäre nun ein Missverständnis, die dargestellten Überlegungen als eine Art „Rezept“ aufzufassen, durch dessen Befolgung jedes individuelle Subjekt eine Begegnung mit Gott erzwingen könnte. Das ist genauso wenig der Fall, wie der Entschluss philosophisch konsequent und klar zu denken – oder die Sätze, Die Verkehrtheit der frühen Rezeption der hegelschen Religionsphilosophie kristallisiert sich bei David Friedrich Strauß, der meint, es ergebe sich aus ihr gerade eine Auf‑ und Ablösung des Kultus. Im Gestus der überlegenen Minderheit, als deren Wortführer er sich installiert, schreibt er: „Sieht aber so diese Minderheit den geschlossenen Kreis des kirchlichen Cultus sich lösen, so bekennt sie, nicht zu wissen, wozu überhaupt ein Cultus vorerst noch dienen soll […].“ (Strauß 1872: 7) In der Tat: Er weiß es nicht – doch nicht deshalb, weil es, wie er suggeriert, hier nichts zu wissen gäbe, da der Kultus zu nichts dienen würde. Sondern: Weil er an Hegel wie an der Religion absolut vorbeidenkt. Bedenkt man, dass David Friedrich Strauß eine Leitfigur sowohl der Linkshegelianer überhaupt als auch insbesondere einer vermeintlich aufgeklärten Strömung der theologischen Hegel-Rezeption darstellt, ist das Urteil darüber gesprochen: „Denn so wie Strauß von seinem neuen Glauben redet, redet gewiß kein böser Geist: aber überhaupt kein Geist, am wenigsten ein wirklicher Genius. Sondern so reden allein jene Menschen, welche Strauß als seine ‚Wir‘ uns vorstellt, und die uns, wenn sie uns ihren Glauben erzählen, noch mehr langweilen, als wenn sie uns ihre Träume erzählen, mögen sie nun ‚Gelehrte oder Künstler, Beamte oder Militärs, Gewerbetreibende oder Gutsbesitzer sein und zu Tausenden, und nicht als die Schlechtesten im Lande leben‘. Wenn sie nicht die Stillen von der Stadt und vom Lande bleiben wollen, sondern mit Bekenntnissen laut werden, so vermöchte auch der Lärm ihres Unisono nicht über die Armut und Gemeinheit der Melodie, die sie absingen, zu täuschen. Wie kann es uns günstiger stimmen, zu hören, daß ein Bekenntnis von vielen geteilt wird, wenn es der Art ist, daß wir jeden einzelnen dieser vielen, der sich anschickte, uns dasselbe zu erzählen, nicht ausreden lassen, sondern gähnend unterbrechen würden. Hast du einen solchen Glauben, müßten wir ihn bescheiden, so verrate um Gottes willen nichts davon.“ (Nietzsche 1954: 149 f.) 41 Wenngleich Hegels religionsphilosophischer Begriff des Abendmahls ihn natürlich auf ein lutherisches Verständnis der Realpräsenz im Glaubens-Vollzug verpflichtet. Das hebt er an zahlreichen Stellen hervor, so z. B. in VL PhR III Jaeschke, 166 f. 40
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die bei Hegel stehen, zu lesen –, garantiert, philosophisch konsequent und klar zu denken, sodass Selbsterkenntnis gelingt. Was an der Philosophie als Unverfügbarkeit herausgearbeitet wurde, stellt sich identisch auch in der Religion als Unverfügbarkeit dar. Denn beides ist das inhaltlich identische Offenbarungsgeschehen.42 Die vorstehenden Ausführungen sind also kein Rezept zur Beherrschung dieser Gottesbegegnung – ein Gedanke, der aus dem bislang Gesagten als in sich widersprüchlich zu gelten hat. Sehr wohl aber sind sie die (religions‑)philosophische Erklärung, dass und warum in diesen Vollzügen – in einer gemäß diesen Ausführungen organisierten Kirche – tatsächlich eine Gottesbegegnung statthaben kann; und somit eine Rechtfertigung des Bekenntnisses ihrer Mitglieder, dass dies der Fall ist. Während dies über Jahrhunderte das mitunter Selbstverständlichste der Welt war, erscheint es in unserer Zeit – noch dazu in einer philosophischen Abhandlung – als eine geradezu unerhörte These. Nicht nur denen, die eine prinzipielle Aversion gegen den Gottesbegriff haben, sondern auch denen, die meinen, ihn verteidigen zu müssen – etwa so: Warum sollte sich ein Gott an diese aufgewiesenen Formen binden und damit an die Kirche, die sich gemäß diesen Formen definiert? Nun, er gibt sich in der Philosophie so zu erkennen, wie wir eben nachvollzogen haben. Im Lichte unserer Überlegungen sehen wir zudem ein, dass die eben genannte Frage im Kern dieselbe ist wie diese: Warum sollte sich Gott – als Wahrheit – an diesen oder jenen philosophischen Gedanken gebunden haben – oder gar an Sätze, die Hegel geschrieben hat? Hegel sah den Zustand schon zu seiner Zeit aufkommen, in welchem sich Religion und Philosophie in dieser Weise grundlos gegenseitig in Abrede stellen, dasjenige realisieren zu können, was man für sich – mit Recht und bisweilen (zu) selbstverständlich – in Anspruch nimmt. Die Inhaltsidentität der Religion mit der Philosophie zeigt sich auch darin, dass sich der Inhalt – das Geschehen der Zurückholung und Umkehr(ung) – in beiden Fällen als „geistige Erhebung“ beschreiben lässt. In der Philosophie bestand sie wesentlich darin, dass unsere Selbsterniedrigung zur Natur überwunden wird, wie sie paradigmatisch auf dem Standpunkt der „Wahrnehmung“ vorliegt und die darin – qua Leugnung der Wirklichkeit Gottes – zugleich eine Selbstüberhöhung des endlichen Subjekts ist. So hat sich gezeigt, dass es dem philosophischen Weg der Selbsterkenntnis wesentlich ist, dass das Befreitwerden von der Selbsterniedrigung zur Natur inhaltlich intern zusammenhängt mit dem Offenbaren des Offenbarens. Es könnte nicht vom Geist offenbar werden, dass ich bloß Natur bin. Sondern der Geist zeigt sich darin, sich als absolut Erstes der Natur zu erweisen, und darin, sich als absolut Erstes der Natur zu erweisen. Auch 42 Diese tiefe Gemeinsamkeit von Religion und Philosophie bei Hegel, die im Begriff der Offenbarung selbst begründet liegt, findet sich klarsichtig dargestellt bei Theunissen 1970: 291 ff. und passim.
350 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes dies stellt sich im religiösen Vollzug ganz parallel dar: Was im religiösen Vollzug über mich gesagt und erfahren wird, hängt wesentlich damit, wie es über mich gesagt und erfahren wird – wie es sich zeigt –, zusammen: nämlich mit dem Angesprochensein durch Gott. Darin aber, dass er sich als durch die Offenbarung angesprochen versteht, denkt der Mensch von sich als Geist – und damit groß von sich. Hegel macht dies explizit, indem er aus dem Evangelium zitiert – und sich polemisch gegen die auch heute verbreitete falsche und vermeintliche Bescheidenheit von Religion und Philosophie richtet: „Was die christliche Religion, wie alle Religionen, für das Höchste, das absolute Gebot erklärt – Ihr sollt Gott erkennen –, dies gilt jetzt für eine Torheit. Christus sagt: Ihr sollt vollkommen sein, wie Euer Vater im Himmel vollkommen ist.“43
Der Gedanke des „Angesprochenwerdens“ kann nun in Bezug auf die Religion genauer gefasst werden. Die Religion ist diejenige Gestalt des absoluten Geistes, in der am unmittelbarsten augenfällig ist, dass und in welchem Sinne das Geschehen der Zurückholung ein solches Angesprochenwerden ist – und was eine sprechende Antwort der oder des Angesprochenen ist.44 Nicht nur, dass zahlreiche zentrale Texte des Alten und Neuen Testaments von einer dialogischen Rede zwischen Gott und Mensch handeln; vielmehr gehört eine solche Rede – als Nach-Vollzug und Wieder-Holung solcher Inhalte der Texte – ebenso unveräußerlich zum kultischen Vollzug hinzu, der sich ja nicht in einer isolierten Feier des Abendmahls oder der Eucharistie erschöpft. Dies lässt sich in zweierlei Hinsicht näher begreifen: – Es lässt sich zum einen aus dem zentralen kultischen Vollzug – der Eucharistie oder dem Abendmahl – selbst verstehen und ableiten. Dieser ist, wie wir sahen, der Nach-Vollzug dessen, was in den einschlägigen Geschichten der Evangelien erzählt wird. Diese berichten von der Feier des letzten Abendmahls Jesu mit seinen Jüngern und von den Worten, die er an diese richtet. Diese werden – als Einsetzungsworte – in jeder Eucharistie‑ oder Abendmahlsfeier zu den Menschen gesprochen. Dabei wird Jesus Christus als Gottmensch vorgestellt. Zusammengenommen bedeutet das, dass diese Worte gesprochene Worte Gottes an die Menschen sind. – Zum anderen liegt darin, dass Jesus Christus als der Gottmensch vorgestellt wird, dass er selbst als Betender vorgestellt wird – und, ganz analog wie beim Abendmahl, wesentlich auch so, dass er (s)ein Gebet weitergibt, lehrt: das Vaterunser. Auch bei diesem Gebet handelt es sich also um einen Nach-Vollzug eines Vollzuges Jesu Christi selbst, der kohärenterweise einen unveräußerlichen Platz 43 RPh
EL (Ms), 6. Das Bibelzitat stammt aus Mt 5,48. Hegel sagt, die Sphäre des absoluten Geistes sei auch insgesamt die der „Religion“ zu nennen, so bedeutet das im Lichte der Denkfigur des „Angesprochenwerdens“: In und an der Religion – als einer der drei Gestalten des absoluten Geistes – ist am deutlichsten und unmittelbarsten vernehmbar, was der absolute Geist (für uns) insgesamt ist: Angesprochenwerden durch Gott. (Vgl. dazu Enz. 1830, § 554.) 44 Wenn
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in der gottesdienstlichen Liturgie, besonders in der eucharistischen oder Abendmahlsliturgie hat. Im Gebet ereignet sich sodann gesprächsweise der auch zur momenthaften Erfahrung verdichtet oder verunmittelbart sein könnende, im Kultus artikulierte religiöse Vollzug. Im Gebet nimmt die oder der Betende zudem die Haltung an, die schon in der Philosophie als angemessene Haltung gegenüber dem unendlichen Subjekt aufgewiesen wurde: die Haltung einer demütigen Dankbarkeit – im Bewusstsein, dass die Nähe zu Gott unverfügbar ist und gerade diese Haltung damit ein angemessenes ihm-Gegenübertreten und ihm-Antworten sein kann. Verbunden damit ist die Hoffnung und, genährt aus der Erfahrung, auch das Vertrauen, dass Gott sich mir nicht entziehen wird. All dies vollzieht sich im Gebet nun ganz recht in Form der erst‑ und zweitpersonalen Rede. Liegt im Beten die Erfahrung der Gottnähe, so ist darin mein und sein Handeln so verbunden, dass das Gebet – die Bitte um Gottes Nähe – gesprochen wird in der Erfahrung, schon erhört worden zu sein. Das Gebet ist daher, so Hegel, „eine Erhebung des Herzens zu dem Absoluten, das an und für sich die Liebe ist und nichts für sich hat; die Andacht selber wird die Gewährung, die Bitte selber die Seligkeit. Denn obschon das Gebet auch eine Bitte um irgend etwas Besonderes enthalten kann, so ist doch nicht dieses Besondere das, was sich eigentlich ausdrücken soll, sondern das Wesentliche ist die Gewißheit der Erhörung überhaupt, nicht der Erhörung in Betreff dieses Besondern, aber das absolute Zutrauen, daß Gott mir zutheilen werde, was zu meinem Besten gereicht.“45
Hegel nennt deshalb als zweites Wesensmerkmal der (wahren) Religion zusammen mit dem „Kultus“ – in vollendeter Form realisiert in Eucharistie oder Abendmahl mitsamt deren liturgisch-gottesdienstlicher Einbettung (Wortverkündigung und Gebet) – auch die je individuelle „Andacht“ oder „Gefühlsandacht“ im Gebet, das sich bis zur mystischen unio steigern kann.46 Durch das Beten über den gottesdienstlichen Kontext hinaus ist realisiert, dass sich Religion nicht auf den Sonntag beschränkt. Mit dem Wort „Gefühlsandacht“ zeigt Hegel an, dass hier Raum für individuelle und eben auch unmittelbare Frömmigkeitsvollzüge ist – die solange in ihrer Individualität Vollzüge des absoluten Geistes bleiben, als sie ihren internen Bezug auf den gemeinschaftlich vollzogenen Kultus der Kirche nicht verlieren. Analog wie wir für das philosophische Einleuchten sagten, dass es sich realiter an jeder Spur des Geistes ereignen kann, gilt freilich 45 VÄsth
III, 47. Vgl. dazu auch Sturm 2004. fasst die Andacht also als verunmittelbarte Form des artikulierten Kultus und damit als intern von diesem abhängig auf: Er sagt, es nehme sich das „Zusammenschließen des Geistes mit sich selbst […] zur Einfachheit des Glaubens und der Gefühlsandacht zusammen“. (Enz. 1830, § 571; vgl. auch § 555, wo Hegel von der „Andacht“ als „dem impliciten oder explicirtern Cultus“ spricht.) Für Hegel ist der Glaubensvollzug des Einzelnen also wesentlich an den kultisch-kirchlichen und damit auch gemeinschaftlichen zurückgebunden, Privatglaube also eo ipso ausgeschlossen. 46 Hegel
352 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes auch für die religiöse Offenbarung, dass sie im Prinzip ubiquitär ist. Doch damit sie nicht ephemer und unartikuliert bleibt, bedarf es ihrer Verbindung mit dem gemeinschaftlichen, kultischen Kontext. Ihn erfährt das religiöse Bewusstsein als Vertiefung, nicht als Löschung des Offenbarungscharakters seiner individuellen Erfahrung – ganz analog dazu, dass ein philosophischer Geistesblitz dadurch seine volle Leuchtkraft entfaltet und erhält, dass er in die Fülle philosophischer Begriffe „einschlägt“ und ein Ganzes des Geistes zur Darstellung bringt. Nun ist alles bereit, um systematisch zu entwickeln, worin das Verhältnis der Philosophie zur (wahren) Religion besteht und worin es nicht besteht – und damit dezidiert Stellung in einem der umkämpftesten Felder der Hegelinterpretation zu beziehen: (i) Die initial zurückgewiesene Lesart von Hegels Verhältnisbestimmung besagt: Religion und Philosophie sagen in zwei verschiedenen Formen von Sätzen parallele Inhalte aus, wobei nur die Philosophie die letztlich korrekte, gültige und wahre Aussage dieser Inhalte ist und sein kann. Die hier vertretene Lesart sagt: Vollzugslos spricht sich in „Sätzen der Religion“ nicht das Geschehen des absoluten Geistes aus. Sie können aber als solche auch nicht im Vollzug des begreifenden Denkens stehen. Sind sie also entweder ohne (dem absoluten Geist gemäßen) Vollzug oder müssten sie dafür genau in demjenigen Vollzug stehen, in dem sie nicht stehen können, folgt in der Tat: Allein die Philosophie kann die korrekte, gültige und wahre Aussage (und damit Darstellung) besagter Inhalte sein. Doch Religion und Philosophie sind eben nicht richtig bestimmt als bloße Text-Fassungen von parallelen Inhalten in verschiedenen Formen von Sätzen. Dagegen sagt die hier vertretene Lesart: Religion und Philosophie realisieren in zwei verschiedenen (Vollzugs‑)Formen das identische Geschehen der Zurückholung des Menschen zu Gott durch Gott, das als solches ihrer beider gemeinsamer Inhalt ist. Der so zusammengefasste Kontrast zwischen den beiden Lesarten hat dies zur unmittelbaren Implikation: Es ist falsch zu sagen, dass das, was Christen etwa als „Erlösung durch Christi Kreuz“ ausdrücken (und wir als Parallele oder Entsprechung zum philosophischen Relationsbegriff des „externen Offenbarungsverhältnisses“ aufgewiesen haben), „in Wahrheit“ oder „eigentlich“ dieser philosophische Relationsbegriff ist. Es ist vielmehr richtig zu sagen, dass die lebendige Erfahrung dieser Erlösung etwa beim Abendmahl im Karfreitagsgottesdienst und die Erfahrung des Bewusstseins auf dem Weg der philosophischen Selbsterkenntnis dasselbe Geschehen sind: die Befreiung des Menschen durch Gott von seiner Selbsterniedrigung und ‑überhöhung, hin zu Gott. Die Inhaltsidentität von Religion und Philosophie ist zwar nur von der Philosophie her, in ihr, aufzuweisen; der Inhalt besteht aber nicht nur für die Philosophie in dem Sinne, dass erst und nur für das philosophische Denken, in ihm und durch es, der Inhalt – das Geschehen – als wirklicher wäre, die Religion hingegen einen wirk-
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lichen Inhalt – das Geschehen – erst dadurch gewinnen würde, dass sich das philosophische Denken in ihr findet und durch sie expliziert.47 Sondern: Was der religiös Glaubende bewusst erfährt – eine Begegnung mit Gott – erfährt er für sich und als wirklich, also so, wie es an und für sich ist; und er erfährt darin dasselbe – wenn er es auch nicht als dasselbe erkennt –, was der Philosoph in seinem Vollzug erfährt: Zurückgeholtwerden zu Gott durch Gott. (ii) Die Identität dieses Geschehens als eines solchen begründet, warum Religion und Philosophie auch ineinander vorkommen können; warum eine philosophische Reflexion in einer gottesdienstlichen Wortverkündigung vorkommen kann, und warum ein philosophisches Traktat die Form eines religiösen Vollzugs annehmen kann – am prominentesten etwa bei Anselm von Canterbury oder Nikolaus Cusanus, zwei Philosophen, die Hegel nicht von ungefähr hoch schätzte. Religion und Philosophie haben Recht, wenn sie behaupten – oder, diesseits einer entwickelten Philosophie des absoluten Geistes, ahnen –, dass sie vom selben reden. Hegel nennt es in der Göschel-Rezension daher „einen interessanten Gesichtspunkt“, dass es „das Herübergehen überhaupt von der Vorstellung zum Begriffe und von dem Begriffe zur Vorstellung“ gebe, „ein Herüber‑ und Hinübergehen, das in der wissenschaftlichen Meditation vorhanden ist“.48
Zwischen zwei Sphären hinüber‑ und herübergehen kann man jedoch nur, wenn diese nicht an sich schon dasselbe und somit eine sind. Deshalb legt Hegel begründeterweise höchsten Wert darauf, dass die Philosophie – wie er sagt – nicht erbaulich ist und nicht prätendiert, Religion zu sein; umgekehrt ist der Religion wesentlich, dass sie kultischer Vollzug bleibt – also, pointiert gesagt, am Altar bleibt und sich nicht in den Hörsaal oder in Theorie überhaupt projiziert. Unter Voraussetzung strikter Differenz ist ein Hinüber‑ und Herübergehen möglich – für ein Individuum, das in Personalunion religiös und philosophisch ist. Dieses Hinüber‑ und Herübergehen ist eine Art des Antwortens auf das Angesprochenwerden durch zwei verschiedene Gestalten des absoluten Geistes, in der sich Raum für individuelle Kreativität auftut; etwa für ein individuell ausgeprägtes Genre der „wissenschaftlichen Meditation“, wie Hegel es nennt. (iii) Die Frage ist nun, was in Anbetracht all dessen aus den zahlreichen Stellen wird, an denen Hegel klar eine wie auch immer geartete Überlegenheit der Philosophie gegenüber der Religion zu betonen scheint. Noch einmal: Es besteht Hegel zufolge keine Überlegenheit in dem Sinne, dass nur in der Philosophie der 47 Exakt das ist die Folgerung, die Wagner 1976 aus der ab ovo verkehrten, initial von uns zurückgewiesenen Lesart zieht. Sie ist exemplarisch (und in ihrer Grundgemeinsamkeit mit der Lesart von Walter Jaeschke) zusammengefasst und weitergeführt bei Danz 2017. Für ein sehr klares Gesamtbild der Problemlage im Hinblick auf die realen materialdogmatischen Probleme vgl. auch Rohls 2015. 48 GR, 206 f.
354 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Inhalt – nämlich der Vollzug – des absoluten Geistes wirklich realisiert und für das Bewusstsein erfahrbar wäre. Dennoch besteht auch gemäß unserer Lesart eine Überlegenheit der Philosophie in folgenden vier Hinsichten: – Das (begreifende) Denken ist unser höchstes repräsentationales Vermögen. Diese innere Hierarchisierung des Geistes spielte schon eine wesentliche Rolle in der Diskussion der Wahrnehmung (oder Anschauung) im ersten Teil unserer Untersuchung. Entsprechend ist es nur schlüssig, wenn Hegel eine Überlegenheit der Philosophie genau dadurch begründet oder, besser noch, in genau dieser Hinsicht behauptet und damit eo ipso darauf einschränkt: „[D]ie Philosophie hat mit Kunst und Religion denselben Inhalt und denselben Zweck; aber sie ist die höchste Weise, die absolute Idee zu erfassen, weil ihre Weise die höchste, der Begriff, ist.“49
– Das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie, ihre Identität und Differenz, lässt sich allein philosophisch bestimmen und begründen; denn nur die Philosophie – nicht die Religion – kann sich in Form der begrifflich-denkenden Erkenntnis auf beide, sich selbst und die Religion, richten. – Das Aufweisen der Parallelen zwischen den jeweiligen Satzinhalten ist zwar als solches nicht schon das vollendete Geschäft der Religionsphilosophie; schon es aber schließt, als ersten Schritt, dasjenige als der Religion unwesentlich aus, was in keiner solchen Parallele darstellbar ist. Analoges gilt für die (konkrete Ausprägung der) Form der kultischen Vollzugsform, wie sie die Philosophie von ihrer eigenen Vollzugsform her entwickelt und begründet. Deshalb bewertet Philosophie verschiedene positive Religionen oder Religionsformen normativ und hierarchisiert sie somit. – Die Religion ist an sich – ihrer Form nach – wehrlos gegen den Geltungsanspruch des Denkens. Für Hegel ist klar, dass niemand sich an etwas halten kann, von dem er meint, dass es nicht zu denken ist oder gar vom Denken zurückgewiesen ist. Sofern nun das Verstandesdenken (oder eine andere defizitäre Form des Denkens) die Religion für unsinnig hält, kann, darf und wird das reine religiöse Bewusstsein davon zwar unbeeindruckt sein; aber es kann als solches diese – falsche, verkehrte – Behauptung nicht als solche entlarven und denkend-argumentativ zurückweisen. Dies kann nur die innere Korrektur des Denkens, seine eigene Entwicklung hin zur spekulativen Philosophie. Im Kontext einer Zeit, in der das Verstandesdenken die wahre, spekulative Philosophie wie auch die wahre Religion unter Druck setzt, spricht Hegel davon, dass „Religion in die Philosophie sich flüchten“ müsse50 − und meint damit natürlich die wahre, spekulative Philosophie. Allein sie kann die denkend-argumentative Ver WL II, 236 [Hvh. T. O.]. VPhR III Jaeschke, 96. Vgl. dazu auch die dokumentierte Debatte in Graf/Wagner 1982, auf deren subtile Beiträge hier leider nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. 49 50
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teidigung der Religion gegen das Verstandesdenken leisten, das in seiner Verkehrtheit jedoch auch immer noch Denken mit Geltungsanspruch ist.51 Diese Weisen oder Dimensionen der Überlegenheit von Philosophie gegenüber Religion sind von einigen Hegelinterpreten – allen voran von Walter Jaeschke52 – mit Recht herausgearbeitet und betont worden. Sie sind auch aus dem Gang unserer Untersuchung heraus zwingend. (iv) Einen anderen wesentlichen Punkt aber hat Jaeschke nicht klar gesehen: dass, wie gezeigt, auch die philosophische Selbsterkenntnis wesentlich Offenbarung ist.53 Das bedeutet – den letzten Unterpunkt von (iii) aufgreifend –, dass die Korrektur des Verstandesdenkens nur möglich ist, wenn Offenbarung statthat; diese Korrektur ist damit genauso unverfügbar wie das Zustandekommen einer religiösen Erfahrung. Bereits seit seiner frühen Schrift Glauben und Wissen arbeitet Hegel heraus, dass Glauben und Wissen einander nicht gegenüberstehen als „mit Offenbarung“ vs. „ohne Offenbarung“ und, komplementär dazu, als „ohne Erkenntnis“ vs. „mit Erkenntnis“. Das konnte nur behauptet werden, solange weder der Glaube noch das Wissen begriffen war – und, damit, der Begriff der Offenbarung ebenso nicht. Nun lässt sich auch verstehen, warum Hegel sagt, dass Philosophie und Religion „Wissen“ seien54: Sie sind verschiedene Formen des bewussten Angesprochenseins von Gott und damit eine Begegnung mit ihm im Modus der Erfahrung. Wer jemandem begegnet ist, weiß eo ipso von ihm. In der Philosophie nimmt die Begegnung die Form einer begriffsklärenden und argumentativen Entwicklung an, die ihren „Lebenspunkt“ dem Einleuchten verdankt. Das bedeutet, dass die Philosophie ein Gottesbeweis ist; in ihr hat sich Gott unter Beweis gestellt.55 Dieser Beweis ist dem religiösen Bewusstsein nicht nötig; ihm fehlt als solchem in seiner Reinheit und Erfülltheit nichts, wenn es ihn nicht hat: „Die unbefangene Frömmigkeit bedarf de[ss]en nicht; das Herz gibt das Zeugnis des Geistes und nimmt die Wahrheit auf, die durch Autorität zu ihm kommt, und empfindet die Befriedigung, Versöhnung vermittels dieser Wahrheit.“56 51 Diese Art der Gemeinschaftlichkeit von (wahrer) Religion und (wahrer) Philosophie – gegen gemeinsame Gegner – thematisiert Hegel auch in Enz. 1830, § 573 A. Darauf werden wir am Ende von Kapitel 8 noch zurückkommen. 52 Vgl. zur Zusammenfassung u. a. Jaeschke 1995. 53 Besonders deutlich wird dieses Missverständnis in der Interpretation des § 573 von Jaeschke 2000. Darauf wird am Ende von Kapitel 8 noch ausführlicher einzugehen sein. 54 Das sagt Hegel ausdrücklich von allen drei Gestalten des absoluten Geistes, hebt es aber als Gemeinsamkeit von Philosophie und Religion besonders hervor (vgl. Enz. 1830, § 554 mit A). 55 Sie ist nur dann kein Beweis, wenn man unter einem Beweis – sehr verengend – etwas versteht, das uns (zur intersubjektiven Aufnötigung) verfügbar ist. Vgl. dazu die in Kapitel 7 zitierten und diskutierten Passagen aus GR, 213 f. Zur Vollzugsform des Gottes-Beweises bei Hegel und seinem damit verbundenen transformativen Anschluss an die Tradition der Gottesbeweise vgl. Dierken 1990 sowie die weitreichenden, systematischen Erörterungen von Hindrichs 2011: 138 und passim sowie von Melichar 2020: 549 ff. 56 VPhR III Jaeschke, 268.
356 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Desweiteren ist der Beweis keine Kompensation für jemanden, dem die Offenbarung gänzlich entzogen ist; denn er ist ja seinerseits nicht möglich ohne Offenbarung. Der hegelsche Offenbarungsbegriff geht also wesentlich einher mit einer Kritik an demjenigen Offenbarungsbegriff, der der Religion exklusiv zugedacht ist und der suggeriert, dass gründliches – spekulatives – Denken ohne Offenbarung, aus dem endlichen Subjekt und „(s)einer“ Vernunft heraus allein, möglich wäre. Wir haben das erkenntnislogisch-semantische Argument dafür rekonstruiert, warum dies nicht möglich ist. Walter Jaeschke nun sitzt genau dieser alten, von Hegel scharf kritisierten und überwundenen Opposition von Offenbarung und vernünftigem Denken auf, wenn er suggeriert, der Geist erscheine nur in Gestalt der Religion als Offenbarung: „Was vorgestellt – und als geoffenbart vorgestellt – wird, ist an sich Moment [… der] einen Vernunft. Dies erlaubt eine ambivalente Akzentuierung: Was – in der Sprache der religiösen Vorstellung – als Offenbarung an uns zu kommen scheint, ist an sich vernünftig. Für den Philosophen ist es eine Manifestation des einen Geistes – obschon es ursprünglich als etwas anderes gewußt wird, eben als positive Offenbarung.“57
Dass dem wahrhaft Religiösen der philosophische Beweis nicht nötig ist und ihm ohne selbigen nichts fehlt, und dass der Beweis nicht ohne Offenbarung auskommt, bedeutet freilich nicht, dass er kein Beweis wäre. Wir hatten gesehen, dass das Einleuchten, das Hegel als den „Lebenspunkt“ der philosophischen Selbsterkenntnis bezeichnet, ein begriffsklärendes Einleuchten mit weitreichenden argumentativen Implikationen ist – nicht trotz, sondern gerade weil es nicht aus mir selbst kam. Nun mögen sich Jaeschke und viele, die dem Geist seiner Lesart folgen, darauf berufen, dass Hegel an einer prominenten Stelle – nämlich in seinen Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes – dieses schreibt: Der göttliche „Inhalt ist in seinem Wesen keine sinnliche Anschauung oder sinnliche Vorstellung, nicht für die Einbildungskraft, sondern allein für den Gedanken. Gott ist Geist, nur für den Geist, und nur für den reinen Geist, d. i. für den Gedanken; dieser ist die Wurzel solchen Inhalts […].“58
Diese Passage scheint nun in unmittelbarem Widerspruch zu Hegels an zahlreichen anderen Stellen formulierter und auch unserer Argumentation zugrundegelegter Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion zu stehen. Denn wenn die Form des reinen (begreifenden) Denkens dem Inhalt wesentlich wäre, dann würde es überhaupt keinen Sinn machen davon zu sprechen, dass dieser Inhalt auch in anderer Form Gestalt annehmen könne. Dies deutet bereits darauf hin, dass Hegel an der zitierten Passage etwas anderes im Sinn haben muss. In der Tat: Hegel spricht dort nämlich davon, dass der Inhalt der Re Jaeschke 1995: XXIII. VPhR II, 356 [Hvh. T. O.].
57 58
8.4 Religion
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ligion, sobald er als wahrheitsfähiger Inhalt des begrjfflichen Denkens aufgefasst ist, wesentlich philosophischer Inhalt wird, ist und sein muss – und damit philosophisch zu prüfen ist. Das ist eigentlich eine Tautologie: sobald ein Inhalt in die Form des Denkens tritt, ist er in der Form des Denkens und ihr gemäß zu behandeln.59 Anders gesagt: Sobald ich mit ihm einen Geltungsanspruch erhebe, bin ich im Modus des Denkens, der Erkenntnis, für ihn begründungspflichtig. Es ist bei näherem Hinsehen klar, warum Hegel das an besagter Stelle sagt: Denn die Gottesbeweise – vor allem der Gottesbeweis in der für Hegel maßgeblichen Gestalt, nämlich des ontologischen Arguments bei oder nach Anselm – haben bekanntlich die konkrete Form der „fides quaerens intellectum“, die sich in Anselms Text auch konkret-performativ so darbietet, dass im Ausgang vom religiösen Vollzug – dem Gebet – ein Denkvollzug angestellt wird. Sobald nun dieser Übergang getan ist – von der zweitpersonalen Anrede „Du, mein Gott!“ zur drittpersonalen Frage „Kann Gott als nicht-existierend gedacht werden?“ –, sind die vorkommenden Sätze nicht mehr Sätze der Religion in ihrer Vollzugsform, sondern wesentlich Teil einer Bewegung in die und in der Philosophie. Missversteht man nun das Credo so, als wäre es das Erheben eines derartigen Geltungsanspruches, dann verpflichtet man sich dadurch auf die Auffassung, dass diese Sätze Sätze des Denkens – und somit letztlich der Philosophie – seien. Sie hätten sich dann und daher auf dem Weg der philosophischen Prüfung zu bewähren. Das werden sie, als diese Sätze, nicht unbeschadet tun. Die Korrektur, die diese Sätze dann erfahren, ist aber keine Korrektur der Religion, sondern eine Korrektur des Missverständnisses, dass die Sätze der Religion Sätze der Philosophie (oder überhaupt Teil einer Theorie) seien. Hegels in dieser Hinsicht scharfe Kritik ist also wohlbegründet – wird aber, sofern sie als Kritik an der Religion als Religion gelesen wird, vollkommen missverstanden. Sie ist Kritik an Religion, die sich als Theorie missversteht, oder an Theologie, die unwissenschaftlich vorgeht, aber Wissenschaftlichkeit prätendiert60, indem sie religiöse Sätze „systematisiert“, in Wahrheit aber dadurch konstitutiv dekontextualisiert. Die Betrachtung dieser äußerst wichtigen Differenz führt uns auf eine weitere wichtige Implikation unserer Lesart, die bislang noch im Hintergrund geblieben ist. Wo Religion etwas mit Geltungsanspruch – in Form wahrheitsfähiger Sätze – behauptet, ist sie nicht mehr Religion; und wo Religion ist, ist ihr Vollzug nicht dieser. Dass beides in den uns empirisch und faktisch zugänglichen Institutionen, die wir „Religionen“ (oder „Konfessionen“ und „Kirchen“) nennen, bisweilen durcheinandergeht, ist soweit kein Argument dagegen. Wohl aber ist es Anlass zu 59 Mit vollem Recht auf eine präzise, hegelsche Differenzierung zwischen Religion, spekulativer Philosophie und dem, was man ansonsten „Theologie“ nennen mag, insistiert Mooren 2018. 60 Wenngleich man mit einigem Recht monieren kann, dass Hegel sich allzu viel mit solchen verkehrten Erscheinungen beschäftigt hat – anstatt ausführlicher und nachdrücklicher die Eigenständigkeit der Religion in ihren ungetrübten Vollzügen hervorzukehren und philosophisch konkret zu beschreiben.
358 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes folgender Klarstellung: Das philosophische Denken erkennt – und kann die Religion darauf aufmerksam machen –, dass ein kategorialer Unterschied zwischen „religiösen Behauptungen“ und „philosophischen Behauptungen“ besteht. Philosophische Behauptungen bestehen im Erheben eines Geltungsanspruches, der als solcher begründungs‑ oder beweispflichtig ist; religiöse Behauptungen hingegen wenden sich an diejenigen, die am religiösen Vollzug teilhaben – und sind so selbst wesentlich Teil des religiösen Vollzugs. Das Credo im Gottesdienst ist das Bekenntnis des Einzelnen vor Gott und der Gemeinde. Es erfüllt eine Funktion im liturgisch-gottesdienstlichen Kontext, der als solcher ein Offenbarungsgeschehen ist; das bedeutet, dass es eingegliedert ist in die Selbst-behauptung Gottes in der Religion und damit auch die Selbst-behauptung der Religion. In diesem Sinne ist das Credo sehr wohl eine „Behauptung“ zu nennen. Es wäre also falsch zu sagen, dass die Religion nichts behaupte, dass sie ausschließlich zweitpersonale Gebetsformen (das Vaterunser) kenne und enthalten könne – und nicht auch drittpersonale (das Credo). Sie enthält auch letztere – und deren Funktion im Vollzug wird durch das Wortfeld „Bekenntnis“, „Zeugnis“ oder „Verkündigung“ beschrieben.61 Diese Wörter zeigen an, dass sie etwas darstellend weitergeben von der Begegnung mit Gott, in der die oder der Bekennende gemeinsam mit anderen steht. Doch diese Weitergabe im religiösen Vollzugskontext ist etwas kategorial anderes als eine Bewegung im Raum der Gründe, als das Erheben eines begründungs‑ oder beweispflichtigen Geltungsanspruches. Genau diesen Punkt macht Hegel im für die Verhältnisbestimmung von Philosophie und Religion zentralen (und vieldiskutierten) § 573 der Enzyklopädie explizit: „[D]ie Religion ist die Wahrheit für alle Menschen, der Glaube beruht auf dem Zeugniß des Geistes, der als zeugend der Geist im Menschen ist.“62
Hegel sieht klar, dass der Modus der „Behauptung“ in der Religion derjenige des „Zeugnisses“ ist, wobei das religiöse Bewusstsein schon erfahren hat, dass dieses Zeugnis das Bezeugen dessen ist, der sich ihm selbst bezeugt hat: Gott als Geist. Das Credo tritt im liturgischen Vollzugskontext daher auf als Antwort auf die Verkündigung des Evangeliums, in welcher sich der religiöse Mensch erinnernd vor Augen führt, worin seine erfahrene Begegnung mit Gott besteht. So genügt dem religiösen Bewusstsein, was es in diesem Vollzug erfährt. Hegel weiter: „Diß Zeugniß an sich substantiell, faßt sich in sofern es sich zu expliciren getrieben ist, zunächst in diejenige Bildung, welche die sonstige seines weltlichen Bewußtseyns und Verstandes ist; hiedurch verfällt die Wahrheit in die Bestimmungen und Verhältnisse der Endlichkeit überhaupt.“63 61 Hegel selbst spricht ausdrücklich vom „Zeugniß des Geistes“ (schon in Enz. 1830, § 555). Wir können explizieren: Insofern er sich selbst bezeugt, kann er auch von dem, dem er sich bezeugt hat, antwortend bezeugt werden. 62 Enz. 1830, § 573 A. 63 Enz. 1830, § 573 A [Hvh. T. O.].
8.4 Religion
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Hegel beschreibt hier – wie am kursivierten Nebensatz deutlich wird –, was passiert, wenn das religiöse Bewusstsein sich dadurch verlässt, dass es nicht mehr in seiner Heimat, dem religiösen Vollzug, verbleibt, sondern sich „expliciren“ will, also in den Modus der begründungspflichtigen Behauptung übertreten. Dann muss es dem Gang des Denkens und seinem Maßstab folgen – und dieser ist, wie wir gesehen haben, immer nur mit dem Hang zum verkehrten Denken zu haben. Entsprechend schreibt Hegel, dass das Bewusstsein zumindest „zunächst“ in ein Denken zu geraten droht, das die Inhalte der Religion als Unsinn abtun muss. Genauer gesagt: Wenn das endliche Denken sich darin auf sich selbst allein verlässt – sich nur in denjenigen Formen bewegen will und wird, die ihm aus sich selbst verfügbar sind – geht es notwendig fehl. Da Hegel jedenfalls hier das Verlassen der religiösen Sphäre so versteht, dass es aus einem sündhaften Nichtgenügen heraus passiert („getrieben“), ist es naheliegend – wenn nicht zwingend –, dass das Subjekt in diesem Verlassen sodann auch sündhaft denkt: Eben so, dass es diejenigen Formen des Denkens „wählt“, die ihm verfügbar sind, in denen es sich auf sich selbst verlassen kann. Dies sind die Formen des Verstandes. Freilich kann sich dieses Denken immer – auch plötzlich – durch die Gnade der Offenbarung weiterentwickeln zum spekulativen Denken; dann würde es erkennen, dass es selbst zu einer Erkenntnis Gottes geführt wird – und dass der religiöse Vollzug, von dem es ausgegangen war, durch seine philosophische Selbsterkenntnis ins Recht gesetzt ist. Doch das kann eo ipso nicht in exakt dem Moment bestehen, in dem es und insofern es – im Entzug der Offenbarung – getrieben war, von der Religion in die Philosophie überzutreten. Wo das Denken aber schon in der Gnade der Offenbarung steht – und wo es nicht begonnen und betrieben wurde aus einem noch nicht durch Versöhnung geheilten sündhaften Antrieb –, dort wird es nie in Konkurrenz zur Religion treten: Denn seine Erkenntnis, dass „Jesus Christus“ nicht in der philosophischen Selbsterkenntnis vorkommt, impliziert dann die Erkenntnis, dass dies seine Wirklichkeit im religiösen Vollzug nicht betrifft und nicht schmälert. Sondern: Dass die Erwartung, es müsse anders sein, durch und durch verworren war. Das wirft ein Licht auf die Frage, ob das religiöse Bewusstsein sich im philosophischen Denken finden und wiedererkennen könne oder nicht. Zunächst: In sich selbst hat es nicht einmal einen Anlass, sich mit dem philosophischen Denken zu konfrontieren oder in einer sonstigen Form zu beschäftigen. Es kann dies zudem nicht als religiöses Bewusstsein tun. Wenn es dies tut, wird es in diesem Tun philosophisches Bewusstsein. Dann müssen wir unterscheiden zwischen einer misslingenden und einer gelingenden philosophischen Selbsterkenntnis. Im Falle einer gelingenden findet sich besagtes Bewusstsein, wenn es sich seiner selbst dann als religiöses erinnert, durch und durch im philosophischen Denken: Denn es realisiert, dass alles, was es wesentlich geglaubt hat, dort als Wahrheit unter Beweis gestellt ist. Wir haben also in Widerspruch zu treten zu dem, was
360 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Falk Wagner in seinem einflussreichen Aufsatz Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff schreibt: „Die Veränderung des religiösen Inhalts durch seine Aufhebung in den philosophischen Begriff wird vom religiösen Bewußtsein als Veränderung wahrgenommen; denn dieses ist es, das aufgrund seiner durch Differenzen geprägten Verfaßtheit den der Form adäquaten Inhalt als einen der Religion fremden Inhalt betrachten muß.“64
Wir sehen nun klar, dass diese These wesentlich in der eingangs zurückgewiesenen These gründet, die Form der Vorstellung, in der der Inhalt des absoluten Geistes in der Religion realisiert ist, sei einfach die repräsentationale Form von Sätzen. In Bezug auf diese Sätze ist in der Tat von einer „durch Differenzen geprägten Verfaßtheit“ zu sprechen; doch diese Differenzen sind selbst aufgehoben durch die konstitutive Einflechtung dieser Sätze in den kultischen Vollzug65, in welchem sich dasselbe Geschehen ereignet wie in der Philosophie. Den Kultus fasst Wagner nicht richtig, nicht als die (Vollzugs‑)Form der Religion auf; das liegt schon darin begründet, dass er den Inhalt des absoluten Geistes nicht als das beschriebene Geschehen der Zurückholung auffasst, weil er den Inbegriff der Philosophie – auch und gerade als Theologie – in der Selbstexplikation des Begriffs der Wissenschaft der Logik zu erkennen meint.66 Nach unserer Lesart nun muss und wird ein religiöses Bewusstsein, das auch gelingend philosophisches Bewusstsein wird oder ist, also Folgendes erkennen: Was es als religiöses Bewusstsein als wirklich glaubte – den fleischgewordenen Sohn Gottes, Jesus Christus –, ist auch philosophisch als wirklich gerechtfertigt, auch wenn der fleischgewordene Sohn Gottes, Jesus Christus, nicht in Sätzen der Philosophie67 vorkommen kann. Das impliziert, dass „als wirklich“ einen anderen Sinn als den haben muss, der durch „philosophisch wahr“ gegeben ist. Welchen aber? Die Antwort darauf lautet: Diesen Sinn hat das religiöse Bewusstsein selbst expliziert. Denn es spricht davon und nach-vollzieht in der Eucharistie, dass es „durch den fleischgewordenen Sohn Gottes“ versöhnt und erlöst sei. Genau so ist es68; denn nur durch ihn, wie er im religiösen Vollzug vor Wagner 1976, 67 f. So Hegel im schon vorher zitierten Enz. 1830, § 565. 66 In der Kritik daran ist die vorliegende Untersuchung verbunden mit Wolfhart Pannenbergs Kritik, die sich soweit eher gegen eine gewisse Hegel-Lesart (wie diejenige Wagners) denn gegen Hegel selbst richtet (vgl. Pannenberg 1996: 273 ff.). 67 Gemeint ist natürlich: diesseits solcher Sätze der Religionsphilosophie, in denen er offenbar und sehr wohl vorkommt. 68 Und es ist deshalb ganz und gar nicht so, wie Walter Jaeschke meint: „[U]m die Hieroglyphen der Vernunft in den Religionen, auch in der christlichen, zu entziffern, muß man den Begriff schon haben.“ (Jaeschke 1995: XXIII) Die (wahre, vollendete) Religion enthält keine Hieroglyphen der Vernunft; sie spricht die klare Sprache des absoluten Geistes in ihrer genuinen Form, die im Prinzip jede und jeder (mit‑)sprechen kann. Dass sie bzw. er es tatsächlich kann, ist unverfügbar – genauso wie das Gelingen der philosophischen Selbsterkenntnis und das damit verbundene „Haben“ des Begriffs, von dem Jaeschke spricht. 64 65
8.4 Religion
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kommt, ist der religiöse Vollzug wirklich. Das depotenziert seine Wirklichkeit in keiner Weise. Klar können wir uns dies durch einen Blick auf die Kunst machen: Wenn ich im Hören von Bachs Weihnachtsoratorium eine ästhetische Erfahrung mache, so weiß ich als Philosoph, dass dies eine Selbstoffenbarung Gottes war. Offenkundig wäre es aber Unsinn zu sagen, dass dann der schöne Klang der Pauken und Trompeten „nicht wirklich“ war – denn „wirklich“ sei das Ganze ja eine Selbstoffenbarung Gottes gewesen. Nein, die Vollzugsform der Selbstoffenbarung Gottes, die die(se) Kunst ist, ist in dieser ihrer Wirklichkeit wesentlich der Klang von Pauken und Trompeten. In gleicher Weise ist der fleischgewordene Sohn Gottes wirklich, als wesentlicher Teil derjenigen Form der Selbstoffenbarung Gottes, die die Religion ist; er ist, wie er von den Gläubigen erfahren wird: derjenige, durch den sie ihre Begegnung mit Gott haben.69 (v) Die vorgetragenen Überlegungen haben nun auch eine wichtige Implikation für die ebenfalls vieldiskutierte Frage, wie sich die Positivität der Religion – auch der christlichen Religion, wie Hegel sie traktiert – zur Philosophie, dem Geschäft und Vollzug des historisch voraussetzungslosen Denkens, verhält. Walter Jaeschke schreibt dazu Folgendes: „Diese konkrete Vorstellung [sc. der Religion und der Formen des Kultus, T. O.] selbst ‚deduziert‘ Hegel nirgends ‚aus dem Begriff ‘, auch nicht aus dem vorausgestellten ‚metaphysischen Begriff ‘. Er nimmt sie aus den ihm jeweils zugänglichen Nachrichten 69 Hier nun liegt der theologische Sprengstoff: Die mit Geltungsanspruch vorgetragene These (die als solche keine Äußerung der Religion ist), dass Jesus Christus historisch sei und wirkte, ist mit Hegels Philosophie soweit nicht zu rechtfertigen. Doch – das nur als Andeutung: Müsste es nicht so sein, dass das Geschehen der Zurückholung, das der Inhalt des absoluten Geistes ist, auch leiblich erfahrbar wird? Dann aber müsste es als leiblich erfahrbar werden, durch eine bewusst werdende leibliche Berührung, wie in den Wundergeschichten des Neuen Testaments berichtet. Nähme man diesen Faden auf, könnte eine Theologie nach Hegel resultieren, die dessen Philosophie in Adornos Sinne noch einmal „materialistisch“ sprengt (vgl. Adorno 1970: 207): Die historische Fleischwerdung des zweiten Moments des unendlichen Subjekts wäre die Bedingung der auch leiblichen Realisierung des Geschehens, das der Inhalt des absoluten Geistes ist. Zu bemerken ist immerhin, dass Hegel eine – gerade für seine rhetorischen Verhältnisse – auffallend unentschlossene, wankende Haltung zu den Wundergeschichten hat (vgl. insbesondere VPhR III Jaeschke, 81 ff.). Es ist also wahr und falsch zugleich, wenn Adorno sagt: „Seine [sc. des Materialismus] Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, ist sie ganz fremd.“ (Adorno 1970: 207 [Hvh. T. O.]); „ganz fremd“ ist sie ihm soweit in der Tat. Aber ist Hegels Philosophie des absoluten Geistes konsequent, solange sie dessen Geschehen nicht auch noch der Leiblichkeit zudenkt? – Gunnar Hindrichs hat jüngst eine höchst bemerkenswerte Auslegung Adornos geboten, an die sich mit Hegel im eben angedeuteten Sinne kritisch anschließen ließe: „Diese kritische Artikulation des Leibhaft-Materiellen ist die Sache des Geistes. Seine Identifikationen gehen auf die Artikulation des Nichtidentischen und bilden dadurch den Ort der doppelten materiellen Transzendenz. Somit zielt der Geist auf die Erfüllung der leibhaft-materiellen Sucht nach Darstellung, die zugleich die Sucht nach Aufhebung des leibhaft-materiellen Leidens ist. Geist stellt gar nicht anderes dar als die Erfüllungsbewegung des Materiellen. Er ist das Pleroma der Materie durch Aufhebung ihres Leidens. Adornos kritischer Materialismus mündet daher in eine Philosophie des Geistes, die diesen allein aus der materiellen Sucht versteht. Das bedeutet: Geist ist die ‚Auferstehung des Fleisches‘.“ (Hindrichs 2019: 144)
362 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes als etwas Gegebenes auf – und so auch den Lehrgehalt und die kultischen Formen der christlichen Religion. Ein zweiter Schritt ist hiervon logisch getrennt, wenn auch material oft mit dem ersten verbunden: Hegel interpretiert diese aufgenommene Vorstellung in der Perspektive seines geistesphilosophischen Religionsbegriffs.“ 70
Aus der hier entwickelten Lesart der Philosophie des absoluten Geistes folgt eine andere Verhältnisbestimmung von Philosophie und positiver Religion, ein anderer Begriff des Zugriffs jener auf diese. Die – wie wir sagen können – Form der Vollzugsform der Religion haben wir rein philosophisch begriffen, abgeleitet – und keineswegs „als etwas Gegebenes auf[genommen]“, wie Jaeschke meint. Das Wahrheitsmoment von Jaeschkes Aussage liegt jedoch darin, dass Hegel in der Tat nicht die christliche Abendmahlsliturgie in concreto philosophisch deduziert hat, also – wie wir sagen können – die materiale Konkretion (der Form) dieser Vollzugsform. Wohl aber zeigt sich unmittelbar, dass diese den abgeleiteten begrifflichen Bestimmungen der Form der Vollzugsform voll entspricht, auch wenn sie in ihrem positiven Charakter qua positivem Charakter über diese bloße Form hinausgeht und in dieser Hinsicht, sofern sie auch so philosophisch thematisiert wird, von der Philosophie in der Tat „aufgenommen“ wird.71 Darin liegt aber keinerlei normatives Problem, wie es zunächst scheinen könnte. Denn diese Aufnahme ist nicht das ungerechtfertigte Übernehmen von etwas der Philosophie Äußerlichem. Die Philosophie hat ja schon begriffen, dass das unendliche Subjekt sich auch durch die Religion offenbaren muss; insofern sie nun findet, dass die in ihr abgeleitete, entsprechende Vollzugsform schon positiv realisiert ist – und das tut sie, da die spekulative Philosophie nun einmal historisch später kommt, wie Hegel betont72 –, findet sie bloß die konkrete Gestalt dessen, was sie formal aus sich selbst begriffen hat und über dessen Geltung daher schon in ihr selbst entschieden war. Entsprechend begreift die Philosophie, nach diesem Finden, die christliche Religion in ihrer Positivität als Realisation des von ihr begriffenen Begriffs der Religion und damit als wahre Religion. Sie begreift zugleich, dass der faktisch schon etablierte konkrete Kultus selbst um der Offenbarung willen sein muss, hätte diese Offenbarung in Gestalt der Religion doch nicht geschehen können wenn nicht durch eine reale – und das heißt immer auch: konkrete – Form des Kultus. Wenn die Philosophie die christliche Religion so findet und unter den Begriff der wahren Religion subsumiert, ist sie darin keine „Interpretation“ von Religion in dem Sinne, wie Jaeschke dies zu meinen scheint, sondern die Feststellung, dass ihr rein philosophisch aufgewiesener Begriff realisiert ist; „Interpretation“ ist sie allenfalls in dem Sinne, dass dabei auch aufgezeigt werden muss, Jaeschke 1995: XXI. Das gilt, wie wir nun sehen, natürlich auch schon analog für die je konkreten Inhalte der religiösen Sätze und Geschichten. 72 Vgl. z. B. Enz. 1830, § 384 A. 70 71
8.4 Religion
363
wie konkret er realisiert ist.73 Die Lücke zwischen dem Begriff der (wahren) Religion und der Aufnahme ihrer konkreten Gegebenheit ist also weitaus kleiner als Jaeschke meint – so viel kleiner, dass diese Aufnahme kein normatives Problem mehr birgt. (vi) Durch die beschriebene, scharfe Unterscheidung von Religion und Philosophie anhand ihrer jeweiligen Vollzugsformen kann Hegel nun auch philosophisch etwas rechtfertigen, was dem unbefangenen Bewusstsein als eine Trivialität erscheint – nämlich diese Feststellungen: Das Credo ist keine Reihe philosophischer Aussagen. Umgekehrt ist eine Reihe philosophischer Aussagen kein Gebet. Wie das (mögliche) Bedürfnis des Religiösen, von Gott in Form des Beweises zu wissen und ihm somit in einem weiteren seiner Vermögen zu dienen, nur in der Philosophie gestillt werden kann, kann das (mögliche) Bedürfnis des Philosophen, zu Gott, von dem er in Form des Beweises angesprochen wurde, zu beten, nur in der Religion gestillt werden. Das ist nun ein wesentliches Implikat von Hegels Aussage, dass die Religion die Wahrheit „für alle Menschen“ sei.74 Diese ist oft so missverstanden worden, als hätte Hegel geschrieben, die Religion sei ein Wahrheitsersatz für die vielen, die zu dumm seien, die eigentliche Wahrheit – die Philosophie – zu begreifen. Doch das hat Hegel nicht geschrieben; und solches wäre überdies schon allein deshalb lächerlich, weil eine derartige Aussage auf der empirischen Feststellung begrenzter kognitiver Fähigkeiten eines bestimmten Prozentsatzes der Bevölkerung beruhen würde – und damit alles andere als eine philosophische Aussage wäre. Hegel macht klar, dass die Religion die Wahrheit ist. Punkt. Ebenso macht er klar, dass sie für alle die Wahrheit ist – nicht nur für die „hoi polloi“, von denen sich die Philosophen gerne selbst abgrenzen. Dass eine philosophische Abweisung der Religion keinen Sachgrund hat, sondern eine zutiefst unvernünftige, oft elitäre Zeitgeist‑ und Modeerscheinung ist, zeigt sich vor dem Hintergrund unserer Untersuchung klar. Als besonders plastisch inkohärent zeigt sich diese Zeitgeisterscheinung darin, dass sich wohl kaum ein Philosoph „zu schade“ ist für die Kunst – und zurecht so, denn auch sie ist eine Gestalt des absoluten Geistes. Aber sie steht in keinem Sinne höher als die Religion. (vii) Hegel hat entsprechend einen klaren Sinn dafür, dass und warum bei demjenigen Menschen von einer Fülle und Freude gesprochen werden kann, der (bewusst) in christlicher Religion und spekulativer Philosophie lebt, ja leben darf. Denn das bedeutet, dass er nicht nur von der Identität dessen, was sich in ihnen jeweils ereignet, weiß, sondern beides Geschehen auch als identisch erfährt. Diese Erfahrung kann sehr konkret sein: Sie oder er mag etwa erfahren und daher mit Recht sagen, dass etwas, was an dieser oder jener Stelle seines 73 Das entspricht der Deutungsaufgabe, die Dierken 1989 der Religionsphilosophie zudenkt; sie kann und muss in deren ausführender Entwicklung durchaus ins Detail gehen. 74 So von Hegel z. B. in Enz. 1830, § 573 A festgestellt [Hvh. T. O.].
364 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Denkens stattfand, genau dasjenige ist, was ihm jüngst am Osterfeuer des Ostermorgens neu aufgegangen ist. Hegel selbst bringt dafür ein Beispiel – in einem Zitat, auf das wir in Kapitel 7 unter einem anderen Gesichtspunkt schon eingegangen sind: „Wie keiner dem andern den Glauben geben kann, sondern er muß von Gott gelehrt werden, so hat auch die Philosophie ihren Punkt, der nicht erlernt, nicht äußerlich aufgenöthigt, von einem Menschen nicht in den andern übergetragen werden kann; und ist dieß nicht gerade der Lebenspunkt? Auch der Philosoph feiert seine Pfingsten; ohne Wiedergeburt kommt Niemand aus der Sphäre des natürlichen Verstandes in die speculativen Höhen des lebendigen Begriffs.“ 75
Nur ein Individuum, das in der Offenbarung sowohl in Gestalt der Religion als auch der Philosophie steht, wird den vollen Sinn – den über alle bloße „Sachinformation“ hinausgehenden „Mehrwert“ an Bedeutung – verstehen können, der in der Charakterisierung dieses Lebenspunktes der Philosophie als „Pfingsten“ liegt. Dies aber wirft schließlich die allgemeinere Frage auf, ob einem Individuum, das der Philosophie, aber nicht der Religion teilhaftig ist, etwas Wesentliches fehlt. Zunächst mag man geneigt sein zu antworten, dass ihm zwar etwas Wesentliches fehlt – nämlich Anteil an einer Gestalt des absoluten Geistes –, ihm aber immerhin an und in der Gestalt, an der es Anteil hat – der Philosophie –, nichts fehlt, es in diesem Sinne der vollen Offenbarung teilhaftig ist. Doch mindestens zweierlei Bedenken sind hierzu – in Form von Fragen – anzumelden: – Fehlt diesem Individuum nicht genau das, was allein im „als dasselbe“ liegt und liegen kann, von dem wir soeben gehandelt haben? Fehlt ihm nicht gerade etwas, das es wirklich nur in seinem individuellen als-dasselbe-Sehen realisieren kann? – Könnte diese Auskunft, ihm fehle nichts, wirklich eine Beruhigung in existentieller Hinsicht sein? Wieder mit einem Blick auf die Kunst gefragt: Angenommen uns drohte, ab morgen nur noch Philosophie betreiben zu können, weil alle Kunst für uns dahin wäre – weil Bach fortan für uns klänge wie bloßer Krach –, würde uns das existentiell ruhig lassen? Nun ist die Überleitung zur Kunst schon – im Wortsinne – angeklungen.
8.5 Kunst Die Diskussion der Kunst (und der Philosophie der Kunst) wird kürzer ausfallen als diejenige der Religion (und der Philosophie der Religion). Denn in Bezug auf die Religion wurde ja schon paradigmatisch vorgeführt, wie eine Gestalt des absoluten Geistes unter anderen als solche zu bestimmen, und wie ent GR, 213 [Hvh. T. O.].
75
8.5 Kunst
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sprechend das Verhältnis zweier Gestalten des absoluten Geistes zueinander zu fassen ist. Im Folgenden werden wir primär die von Religion und Philosophie abzuhebenden wesentlichen Spezifika der Kunst als einer bestimmten Gestalt des absoluten Geistes beleuchten – genauer diese beiden: (i) Ein wesentliches Defizit, das Hegel der Kunst attestiert, nämlich einen Mangel an Bewusstsein und Darstellung unserer Verkehrtheit76; diese aber ist konstitutives Moment des Inhalts des absoluten Geistes, welchen wir ja als Erfahrung der Zurückholung des in sich verkehrten Menschen zu Gott durch Gott erkannt haben. (ii) Die Vergeistigung der sinnlichen Anschauung in der Kunst, die im Lichte der Anlage unserer Untersuchung sowohl im Hinblick auf die Wahrnehmungs-/Anschauungsthematik an sich als auch für die Metaphysik des absoluten Geistes von besonderem Interesse ist. Beide Spezifika – (i) und (ii) – hängen intern zusammen und lassen sich so in einem zusammenhängenden Gedankengang entwickeln. Zunächst aber sind einige Erinnerungen thetisch vorauszuschicken. Auch die Philosophie der Kunst ist Philosophie der Kunst – und nicht Philosophie der Kunsttheorie oder Kunstphilosophie. Hegel zeigt dies schon in seinen Vorlesungstiteln klar an: Er liest über „Philosophie der Kunst“ und über „Ästhetik“, nicht aber über „Philosophie der Ästhetik“. Als Gestalt des absoluten Geistes nach unserer Lesart ist die Kunst Zurückgeholtwerden des (in sich verkehrten) Menschen zu Gott durch Gott, allerdings in einer anderen Vollzugsform als in Religion und Philosophie; nämlich in einer, die dem an sich „niedrigsten“ unserer repräsentationalen Vermögen entspricht: der (sinnlichen) Anschauung. Leiten wir diese Vollzugsform nun von diesem Vermögen der Anschauung her ab, analog wie wir dies vom Vermögen der Vorstellung her für die Vollzugsform der Religion getan haben. Wie schon die Vollzugsform der Religion nicht einfach in Sätzen bestimmten Inhalts bestand, die ich mehr oder weniger verständig nachsprechen oder in einer an sich unverbindlichen Erzählung fassen kann, so ist auch die Vollzugsform der Kunst nicht als bloß sinnliche Anschauung eines Gegenstandes bestimmter Art – eines anerkannten Kunstwerks – zu verstehen. Gleich wie derjenige, der den Satz „Gott hat die Welt durch seinen menschgewordenen Sohn erlöst“ durchaus verständig nachspricht, dadurch noch nicht in einem religiösen Vollzug steht, steht derjenige, der sich vor eine griechische Plastik stellt, die Augen öffnet und diese griechische Plastik durchaus als solche sieht, noch nicht in einem ästhetischen Vollzug. Das ist offenkundig. Und gleichwie jener nicht dadurch in einen religiösen Vollzug gerät, dass wir ihm sagen, dass dieser Satz im Kontext eines religiösen (kultischen) Vollzugs so zu sprechen beginnen kann, dass er Moment einer Begegnung mit Gott ist, 76 Hegel fasst das konkreter, indem er sagt, dass der Kunst – im Gegensatz zur Religion – die Prüfung des eigenen Gewissens mitsamt Bewusstsein der eigenen Verkehrtheit notwendig äußerlich bleibe. So sei die Kunst in genau dieser Hinsicht „nicht der absolute Geist“, da sie „ohne die unendliche Reflexion in sich, ohne die subjective Innerlichkeit des Gewissens“ ist (Enz. 1830, § 557).
366 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes gerät dieser nicht in einen ästhetischen Vollzug dadurch, dass wir ihm sagen, dass das Ding, das er vor sich sieht, als schön erfahren werden kann und soll. Auch im Falle der ästhetischen Erfahrung liegt diejenige – uns daraus wohl sogar besonders vertraute – Unverfügbarkeit vor, die im Wesen der Kunst als Gestalt des absoluten Geistes und damit als Realisation von Offenbarung begründet liegt. Uns ist erfahrungsmäßig vertraut, dass selbst dasjenige Kunstwerk, das uns „am meisten bedeutete“, auf einmal stumm werden kann – und uns nun gänzlich entzogen ist, bei allem Willen, diejenige Erfahrung zu wieder-holen, wieder zu holen, die wir einst an ihm gemacht haben. Im Falle der Religion stellte es sich so dar, dass wir die Form der Vollzugsform – wenn auch nicht in ihrer positiven Konkretion – philosophisch ableiten konnten und die historisch positive Konkretion sodann als materiale Realisation eben dieser Form begreifen. Für die Kunst müsste es nun eine entsprechende Ableitung der Form ihrer Vollzugsform geben. Sie gibt es auch – allerdings stoßen wir durch sie auf keine prozessual artikulierte Vollzugsform, wie dies für den Kultus gegolten hat. Das hat einen präzisen Grund: Auf die Form des Kultus sind wir ausgehend vom Inhalt der religiösen Sätze (oder Geschichten) – zunächst noch außerhalb ihres sodann für sie konstitutiven religiösen Vollzugskontextes betrachtet, rein auf Ebene der Sätze in ihrem narrativen Zusammenhang – gestoßen; also ausgehend vom Inhalt, den solche Sätze in Form unseres repräsentationalen Vermögens der Vorstellung haben, und den wir mit dem Inhalt, den philosophische Sätze – in ihrer Form des Denkens – haben, parallelisieren konnten. Im Falle von Akten unseres repräsentationalen Vermögens der Anschauung nun gibt es keinen Inhalt in einer Form, die der Form der Sätze der Vorstellung struktur-analog wäre. Ihr Inhalt – qua Anschauung – ist nämlich nicht narrativ-prozessual artikuliert, sondern besteht in einem Objekt als so-und-so repräsentiert. Ein Objekt aber ist kein Geschehen, Prozess oder Verlauf – es hat, rein logisch gesehen, keine narrative oder dazu analoge Struktur; ein Objekt ist einfach, wenn auch als so-und-so bestimmt.77 Genauso wie sein Inhalt in diesem Sinne unmittelbar (nicht narrativ-prozessual artikuliert) ist, hat also der Vollzugskontext unmittelbar zu sein: Es kann nicht mehr getan werden als bloßes, reines Anschauen, das als solches in ein Angeschautwerden durch den Geist konvertieren oder kippen muss, damit die sinnliche Anschauung eine ästhetische Erfahrung wird. (Zu bemerken ist, dass all dies – jedenfalls ohne weitere Differenzierung – nur für die Skulptur gilt, als paradigmatischer Realisation des Kunstschönen nach Hegel. Auf Kunstwerke der von Hegel so genannten „romantischen Kunst“ wird eigens zurückzukommen sein.)
77 In diesem „als so-und-so bestimmt“ liegt aber etwas, auf dessen Signifikanz wir in der weiteren Entwicklung noch stoßen werden: nämlich, dass die griechische Götterstatue ihrer objektiv-sinnlichen Bestimmtheit gemäß ein Mensch ist.
8.5 Kunst
367
Auch der religiöse und der philosophische Vollzug werden in der Tat notwendig vom endlichen Subjekt aus begonnen. Wir nannten dies eine „initiale Aktivität“: Es geht in den Gottesdienst (und zur Kommunion) und nimmt daran teil bzw. es beginnt über sich selbst nachzudenken. Analog wird also auch der ästhetische Vollzug von ihm aus begonnen – es stellt sich hinsehend vor die Statue oder geht ins Konzert und hört aufmerksam zu. Im Falle des Gelingens wird sich die Richtung der Aktivität umkehren: Im religiösen Vollzug stelle nicht ich mir mehr Gott vermittels bestimmter Sätze und Handlungen vor, sondern Gott selbst beginnt durch diese Sätze in ihrem kultischen oder andächtigen Kontext zu sprechen, stellt sich selbst durch sie vor; im philosophischen Vollzug wird sich mir etwas zeigen, was mir als klar und gültig einleuchtet. Im ästhetischen Vollzug schließlich schaue nicht mehr ich das Kunstwerk an, sondern das Kunstwerk mich: Es tut sein Auge auf. Nun aber ist die Feststellung, dass die initiale Aktivität des ästhetischen Vollzugs – genauer: vor ihm – darin besteht, dass das endliche Subjekt etwas tut und tun muss, nämlich das Kunstwerk anschauen, weit weniger trivial, als es zunächst scheint. Zunächst: Hätte die Passivitätsauffassung der Wahrnehmung recht, gäbe es eine solche Aktivität gar nicht, und mithin auch keine Umkehrung der Aktivitätsrichtung – ich werde angeschaut –, die als solche ja nur in Differenz zur initialen Aktivitätsrichtung – ich schaue an – begreifbar und erfahrbar ist. Weiter aber liegt im Falle der Kunst eine besonders prekäre Form der initialen Aktivität vor. Dies lässt sich wiederum gut im Kontrast zur Religion deutlich machen: In der Religion hat ein Individuum diesseits des Angesprochenwerdens von Gott, sofern es sich auf die Teilnahme am gottesdienstlichen Vollzug einlässt, keinen nach seiner Maßgabe schon „wirklichen“, sondern allenfalls einen „vorgestellten“ Gegenstand vor sich – nämlich „Gott“, insofern von ihm geredet wird; eben, in einem ganz alltäglichen Sinne des Worts, insofern „man sich ihn vorstellt“. Im Falle der Kunst hingegen hat es, wie es meint, sehr wohl schon einen „wirklichen“ Gegenstand vor sich, nämlich das sinnlich anschaubare Objekt. Gemäß dem Standpunkt des „Bewusstseins“, auf dem es vor der Erfahrung des absoluten Geistes steht78, ist es sogar ein „wahrhaftes“ Objekt – im Sinne des Begriffs des wahrhaft wissenden Bewusstseins. Dessen Wirklichkeit wiederum besteht, so meint es, wesentlich darin, dass sich dieses Objekt (ihm) von sich aus zeigt. Dementsprechend muss dieses Individuum meinen, jetzt selbst „etwas Besonderes“ tun zu müssen, um überhaupt etwas zu tun; es richtet also seine nicht-gewohnheitsförmige Aufmerksamkeit – krampfhaft – auf das Objekt und meint, damit etwas zu tun, was es vorher überhaupt nicht getan hat. Doch das ist gar nicht der Fall, wie wir längst eingesehen haben. Der höhere Grad an (nichtgewohnheitsmäßiger) Aufmerksamkeit, den das beschriebene Subjekt nun aufwendet, gewährt ihm ein höheres Maß an epistemischer Detailliertheit und Wenn es kein dogmatischer Skeptiker ist, der auf „keinem Standpunkt steht“.
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368 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Akkuratheit. Damit sieht es, auf einer epistemischen Skala, mehr. Es denkt nun, dass das Objekt durch seine – wie es auf seinem Standpunkt meinen muss: der Wahrnehmung externe – Aktivität der Aufmerksamkeit, durch sein Hinsehen, weiterhin das Objekt bleibt, das sich selbst als das, was es ist, zeigt; dass dieses ihm also auch besagtes „mehr“ offenbart habe. Da es erwartet, dass das Objekt sich in einer Weise zeigt, wie es sich vorher nicht gezeigt hat – dass also seine Aktivität durch eine Gegen-Aktivität seitens des Objekts gleichsam „beantwortet“ wird –, sieht es sich so ans Ziel gekommen. Es meint, wie diese Formel des „Beantwortetwerdens“ zeigt, dass das, was wir als ästhetische Erfahrung beschreiben – Umkehrung der Aktivitätsrichtung –, auf diese Weise erfüllt ist. Doch was in Wahrheit passiert ist, ist nichts als der Übergang von einer epistemisch weniger detaillierten oder akkuraten Repräsentation zu einer epistemisch detaillierteren oder akkurateren, in welchem an keiner Stelle eine andere Aktivität im Spiel war als allein diejenige des endlichen Subjekts qua sinnlicher Anschauung. Die Idee, dass der höhere Grad an (epistemischer) Detailliertheit und Akkuratheit die ästhetische Erfahrung sei und dass diese in der Tat erzwingbar ist – denn jeder, der die Praxis solchen Hinsehens beherrscht, kann sie erzwingen –, ist also ein gefährliches Surrogat der Idee der ästhetischen Erfahrung, das – solange diese nicht für es eingetreten ist – vom Subjekt nicht als solches durchschaut wird. Der Kunstmarkt lebt von dieser Möglichkeit. „Der Experte“ ersetzt die notwendige initiale Aktivität des schlichten, reinen Hinsehens durch eine andere: nämlich diejenige des kundigen Hinsehens, als (mehr oder weniger verkappte) Suche nach empirischem Wissen. Das ist ein – im Lichte des absoluten Geistes – verdorbenes Sehen. Analoges gibt es in Religion und Philosophie; wer etwa als kritischer Beobachter der „einfachen Gläubigen“ in den Gottesdienst geht, nimmt gar nicht am Gottesdienst teil, vollzieht nicht einmal die initiale Aktivität; und wer in Publikationen der „Philosophie“ seine Thesen verwaltet, um sie – und damit sich selbst – vor einem möglichst großen Publikum auszubreiten, denkt, insofern er das tut, nicht einmal initial nach. Dies sind Ausdrucksformen des radikal Bösen, das uns schon begegnet ist – im Falle der Philosophie deshalb nicht-zufällig grundverwandt mit der Gestalt des ironisierend-dogmatischen Skeptikers, der jeden Geltungsanspruch mit der Auskunft zu zerschlagen sucht, das Gesagte könne gar nicht mehr als eben das von diesem Individuum Gesagte sein. Wir hatten dies schon als eine Haltung identifiziert, für die wesentlich ist, dass sie nichts tut; die diesseits des eigenen Nachdenkens steht und deshalb auch tatsächlich nicht die Erfahrung machen kann, dass es so etwas wie ein Nachdenken gibt, das in seinem Vollzug zur verbindlichen Klarheit geführt wird, dem also etwas „entgegen kommt“. Hegel betont deshalb – schon in der Einleitung zur Enzyklopädie79 –, wie essentiell die schlichte Entschließung zum Nachdenken ist. Isoliert gesehen wirkt das wie eine hausbackene, gleichsam triviale Bemerkung: Vgl. Enz. 1830, § 7.
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wer denken will, muss eben denken. Hat man das radikal Böse vor Augen, erscheint diese Bemerkung jedoch keineswegs mehr trivial: Sie erinnert uns daran, dass ich nur Erfahrungen machen kann, wenn ich überhaupt etwas tue; und sie erinnert uns daran, dass wir aufgrund unseres Hangs zur Selbsterniedrigung und ‑erhöhung in einem leicht verzichten, etwas zu tun. Als ein Aspekt eines hegelschen Bildungs‑ und Erziehungsbegriffs hat, pointiert gesagt, also zu gelten: Lasst die Kinder machen! Denn an der Differenz zwischen „Machen“ und „nicht(s) Machen“ entscheidet sich ihre Bildung zum Geiste. Und bleibt Kinder! Denn Kinder machen nicht nicht(s) – und sie schauen nicht „gelehrt“.80 Es hat sich gezeigt, dass die initiale Aktivität des bloßen Hinsehens in der Kunst insofern besonders schwierig zu realisieren ist, als eben auch „der Experte“ mit seinem verdorbenen Blick noch meint, hinzusehen – was er dadurch bezeugen zu können scheint, dass er „das Werk des großen Meisters“ ja vor Augen habe. Das Problem der richtigen – reinen – initialen Aktivität verschärft sich zu ihrer Unmöglichkeit, wenn man auf den ursprünglichen Vollzugskontext der Kunst der griechischen Klassik blickt. Dort ist die Kunst wesentlich (auch) Kultus; Kunst und Religion sind Momente der Kunst-Religion. Der Fortschritt hin zur geoffenbarten Religion des Christentums ist für Hegel wesentlich eine Trennung von Kunst und Religion; das bedeutet aber auch, dass derjenige Kunstvollzug, diejenige ästhetische Erfahrung, die in der griechischen Klassik möglich und wirklich war, uns ein für allemal entzogen ist. Die vorhin aufgewiesene Tendenz zum „gelehrten Expertentum“ in der Kunst ist durchaus auch eine Verlegenheitsreaktion darauf; schon zu Hegels Zeiten blühte sie in Form der klassizistischen Antikeverehrung. Dass diese Kunst (uns) ein für allemal entzogen ist, macht es schwierig bis unmöglich, sie „anschaulich“ oder „plastisch“ zu verstehen oder nachzuvollziehen; wir können sie nur noch begreifen, aber diesen Begriff nicht mehr mit der eigenen ästhetischen Erfahrung dieser Kunst abgleichen. Daher rührt die Tendenz, dass wir die klassische Kunst – die Schönheit der Götterstatue, wie sie uns zugänglich ist – mit Kategorien beschreiben, die eigentlich nur auf die von Hegel so genannten „romantischen Künste“ anwendbar sind, also die Künste unserer Gegenwart: Malerei, Musik, Poesie. Für sie ist zwar auch wesentlich, in der Vollzugsform der einfachen, reinen Anschauung zu sein, aber – und das haben sie formaliter mit der Religion gemein – so, dass ihre Objekte der Anschauung wesentlich eine innere Artikuliertheit oder Prozessualität aufweisen, wenngleich – anders als in der Religion – keine, die sich (zumindest vorläufig) in Form von Sätzen ausdrücken, beschreiben und so als parallel zu etwas anderem erweisen ließe. Am Beispiel der Musik lässt sich dies gut deutlich machen: Sie ist nur als Prozess, in dem zudem nicht ein Moment auf das andere in äußerlicher Weise folgt, sondern es so in sich selbst integriert, dass dadurch erst Klang ent Was sie an „gelehrtem Blick“ benötigen, erringen sie dann wohl von selbst.
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370 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes steht, den wir „Musik“ nennen. Entsprechend kann in der Musik nur in einem weitaus indirekteren Sinne von einem „Objekt der Anschauung“ die Rede sein als dies für die Götterstatue der klassischen Kunst gilt. Anders gesagt, ist die Musik – sind die romantischen Künste insgesamt – schon ansatzweise eine Verinnerlichung von der Art, dass sie die der Religion wesentliche Form antizipieren. Es ist daher problematisch, die Kunst in ihrer vollendeten Form – als klassische Kunst, im Werk der Götterstatue – von den Künsten unserer Gegenwart her verstehen zu wollen. Um dies zu vermeiden, müssen wir uns noch einmal strikt die dem Objekt als Inhalt der Anschauung entsprechende Unmittelbarkeit der Vollzugsform der klassischen Kunst vor Augen führen. Da ein solches Objekt nicht prozessual artikuliert ist, kann auch die zugehörige Vollzugsform nicht in einer dazu parallelen Form strukturiert sein. Doch dies wirft eine noch abgründigere Frage auf: Wie überhaupt kann der Inhalt des absoluten Geistes – ein nichtsinnliches Geschehen – in diesem sinnlichen Objekt oder an ihm, durch es, gegenwärtig sein und sich ereignen? Wie soll die Zurückholung des in sich verkehrten Menschen zu Gott durch Gott im Objekt der Anschauung dargestellt sein können, sodass sich dieses Geschehen bei geeigneter Vollzugsform – etwa: dem gelingenden schlichten, reinen Hinsehen – ereignen kann? Hegel selbst bedenkt dieses Problem in diesen Worten: „Die sinnliche Aeußerlichkeit an dem Schönen, die Form der Unmittelbarkeit als solcher ist zugleich Inhaltsbestimmtheit und der Gott hat bei seiner geistigen zugleich in ihm noch die Bestimmung eines natürlichen Elements oder Daseyns.“81
Nicht nur die „Unmittelbarkeit“ der Objektförmigkeit und damit auch der Vollzugsform, sondern auch die Sinnlichkeit des Objekts scheint es unmöglich zu machen, den Inhalt des absoluten Geistes in der Anschauung oder durch sie zu realisieren. Wohlgemerkt, die sinnliche Anschauung hat in der Tat einen Inhalt, eine „Inhaltsbestimmtheit“: ein Objekt anzuschauen bedeutet immer, es als so-und-so zu repräsentieren. In Form dieses „als so-und-so“, innerhalb der als-Struktur der Anschauung, kann nun aber eo ipso keine nicht-sinnliche Bestimmung stehen. Dies unterscheidet die Anschauung kategorial von Vorstellung und begrifflichem Denken: zwar ist die Vorstellung nicht gänzlich unabhängig von anschaulichen Gehalten (und das begriffliche Denken womöglich nicht von Vorstellungsgehalten), aber doch lässt sich eben vorstellen – zunächst: schlicht erzählen –, dass Gott mich durch das Kommen seines Sohnes in die Welt zu sich holt. Nicht aber lässt sich die Götterstatue unmittelbar auch als Gott, der mich zu sich zurückholt, anschauen. Hegel hält explizit fest, es sei darin „somit nicht die geistige Einheit, in welcher das Natürliche nur als Ideelles, Aufgehobenes gesetzt und der geistige Inhalt nur in Beziehung auf sich selbst wäre“82. Enz. 1830, § 557. Enz. 1830, § 557.
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Hegel führt diesen Gedanken wie folgt fort: Dass der „geistige Inhalt“ im Sinnlichen nicht „in Beziehung auf sich selbst“ dargestellt werden kann, bedeutet auch, dass an der Stelle, wo in nicht-ästhetischen sinnlichen Anschauungen sinnliche Bestimmungen (oder Gehalte) stehen („x als so-und-so“), nun nicht einfach der Gehalt „Gott, der mich Verkehrten zu sich zurückholt“ stehen kann. Das schließt aber nicht aus, dass die Götterstatue so angeschaut werden kann, dass sie darin unmittelbar dieses Geschehen bedeutet. Was aber bedeutet das? Nun, auch hier ist zunächst eine Differenzierung notwendig. Der – ohnehin schwierige – Begriff der „Bedeutung“ eines Kunstwerks darf hier nicht so gebraucht werden, wie es uns aus unserem gewöhnlichen Umgang mit diesem Begriff naheliegt: Dass das, was das Kunstwerk bedeutet, dem Kunstwerk äußerlich ist. Dadurch gliche es sich einem sprachlichen Zeichen oder einem Symbol überhaupt an. So verstanden wäre die Bedeutung eines Kunstwerks nur eingeschränkt die Bedeutung eines Kunstwerks; genauer: diese Ausprägung von Kunst ist diejenige nicht-vollendete Kunst, die Hegel entsprechend „symbolische Kunst“ nennt. Ein Kunstwerk, das auf Gott und sein Handeln extern verweist, ist ein symbolisches Kunstwerk, „worin die der Idee angemessene Gestaltung noch nicht gefunden ist, vielmehr der Gedanke als hinausgehend und ringend mit der Gestalt als ein negatives Verhalten zu derselben, der er zugleich sich einzubilden bemüht ist, dargestellt wird.“83
Würden wir die griechische Plastik – das klassische Kunstwerk – so auffassen, würden wir es somit verfehlen. Wie aber kommen wir zu einem positiven Verständnis der „Bedeutung“ des Kunstwerks, die nicht außerhalb seiner, sondern unmittelbar in oder an ihm – der Plastik – selbst liegt? Instruktiv ist hier die Analogie zu einer Erfahrung, die wir alle kennen: das in-die-Augen-Sehen eines Gegenübers; das ihn-Ansehen und das von-ihm-angesehen-Werden sind zwei Aspekte eines ursprünglich einen Aktes, in welchem das Gegenüber somit immer schon als mich-Anschauendes angeschaut wird, worin eben das unmittelbare Wissen liegt, dass es sich um ein Gegenüber und nicht um ein bloßes Objekt handelt. Dies ist eine philosophische Kurzanalyse des Aktes, die als solche aber nicht sein Inhalt ist: wenn wir unserem Gegenüber in die Augen sehen, sehen wir ihn unmittelbar als Gegenüber. Die philosophische Analyse erklärt, warum der Akt in seiner Unmittelbarkeit – und unbeschadet dessen – nicht leer, sondern gehaltvoll ist; aber sie enthält zugleich die Erkenntnis, dass diese Momente im Akt selbst nicht als diese Momente, sondern in verunmittelbarter Einheit präsent sind. Diese Analogie ist für die Kunst nun nicht nur bezüglich des ursprünglich verschränkten, unmittelbaren Anschauungsverhältnisses instruktiv, sondern auch dahingehend, dass es sich bei der griechischen Plastik tatsächlich um die Gestalt eines menschlichen Gegenübers handelt. Damit stoßen wir auf diejenige Weise, Enz. 1830, § 561.
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372 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes in welcher vom Kunstwerk – noch als Objekt der Anschauung gefasst – ein Inhalt prädiziert werden kann, der parallel ist zu demjenigen der Sätze der Philosophie bzw. der Religion. Doch in diesen kommt ja gerade nicht allein der Mensch vor, sondern der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott. Dieser Inhalt kann im Objekt der Kunst nicht so realisiert sein, dass es neben der menschlichen Gestalt noch die göttliche Gestalt gibt; denn das würde beide – Gott und Mensch – auf eine Ebene ziehen. Das Verhältnis als geistige Bewegung ist, wie wir gesehen haben, sinnlich ohnehin nicht darstellbar. Das Verhältnis zu Gott ist daher nur in unmittelbarer(er) Weise darzustellen, nämlich in der Verklärung der menschlichen Gestalt; dass „der Mensch“ nicht nur ist wie wir. So ist der Inhalt der Sätze der Religion oder Philosophie im Objekt der Kunst unmittelbar ineinander geschoben84; so ist in ihm die Versöhnung von Gott und Mensch – positiv – dargestellt. Darin liegt, dass auf dieser Ebene des Inhalts keine Negativität vorliegen kann: denn in ihrem unmittelbaren Ineinandergeschobensein erscheint der Mensch an sich selbst göttlich verklärt – und Gott an ihm selbst in menschlicher Gestalt. Nicht Teil dieses Inhalts kann die Verkehrtheit des Menschen – als Aversion gegenüber Gott – sein; entsprechend kann der Gottmensch nicht so dargestellt sein, wie er in der Religion vorgestellt wird: als aufgrund der Sünde gemartert.85 Damit nun zurück zur Frage nach der „Bedeutung“. Hegel führt den dargelegten Gedanken so weiter, dass die Plastik als Kunstwerk zwar eine Bedeutung habe, diese aber unmittelbar in ihr selbst liege und sich als solche in der ästhetischen Erfahrung unmittelbar mit-teile: „Die sinnliche Gestalt des Menschen ist allein die, in welcher der Geist zu erscheinen vermag. Sie ist an ihr selbst bedeutsam; was sie bedeutet, ist der Geist, der in ihr heraustritt.“86
Der Begriff der Bedeutung darf also nicht so verstanden werden, als seien das Objekt und das, was es bedeutet, in diesem Vollzug der Kunst nicht immer schon unauflöslich beieinander. Im philosophischen Begriff der Kunst zeigt sich, dass dennoch eine begriffliche Unterscheidung zwischen „Objekt“ und „Bedeutung“ notwendig ist: das Objekt weist über sich selbst hinaus auf etwas, das es bedeutet – aber dieses liegt zugleich in oder an ihm selbst und wird in der ästhetischen Erfahrung auch dort und so erfahren. Unter Rekurs auf den Begriff der Bedeutung lässt sich zugleich fassen, worin der unendliche Unterschied zwischen der ästhetischen Erfahrung im Anschauen der Götterstatue und dem vorhin skizzierten einem-Gegenüber-in-die-Augen-Sehen liegt: Während die Götterstatue den Menschen und den Geist als Göttlichen über84 Das impliziert, dass das, was wir als „Offenbaren des Offenbarens“ erkannt haben, hier zu einem unmittelbaren „Offenbaren“ ohne artikulierte Selbstbezüglichkeit zusammengefasst ist. 85 Mit dieser Feststellung verbindet Hegel anschaulich einen Aspekt der Notwendigkeit des Übergangs von der Kunst zur Religion. Von diesem spricht er in Enz. 1830, § 563: „Die schöne Kunst (wie deren eigenthümliche Religion) hat ihre Zukunft in der wahrhaften Religion.“ Vgl. dazu auch die klare Darstellung von Wenz 2018. 86 VPhK Gethmann-Siefert, 157. Zur Kontextualisierung vgl. auch Jaeschke 2010: 431 ff.
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haupt bedeutet – „der Geist, der in ihr heraustritt“ –, bedeutet unser Gegenüber nicht den Menschen und den Geist, sondern ist bloß ein Mensch und in diesem Sinne Geist. Entsprechend ist er auch nicht der Geist im Ganzen – denn im Akt des ihm-in-die-Augen-Sehens liegt ja schon wesentlich, dass das Gegenüber symmetrisch zu mir Geist ist, wohingegen an oder aus der Götterstatue „der Geist“ als Ganzer, absoluter, „in ihr heraustritt“. Diese Rede scheint paradox – von der Verstandeslogik räumlicher Relationen aus gesehen. Wie Hegel die spekulative Logik seines trinitarischen Gottesbegriffs mit derjenigen des Verstandesdenkens und empirischen Denkens explizit kontrastiert87, so liegt mit dieser Rede eine analoge Kontrastierung vor. Diese ist jedoch insofern unmittelbarer und anschaulicher, weil das, was durch diese Rede beschrieben wird, sich an einem sinnlich anschaulichen Objekt ereignet: Der ordinäre Raum wird aufgebrochen. Damit ist der ästhetische Vollzug beschrieben. Auf Basis der initialen Aktivität des schlichten, reinen Hinsehens – in der griechischen Antike kultisch realisiert – tritt in ihr und ihrem menschlichen Antlitz der Geist als Ganzer, als absoluter Geist, heraus, mir entgegen. Nun zeigt sich in neuem Licht, inwiefern der Inhalt – auf der Ebene der sinnlichen Anschauung des Objekts – dasjenige ist, was sich vollzieht (analog wie in der Religion der Inhalt der Geschichte – Jesu letztes Abendmahl – dasjenige ist, was im Kultus vollzogen wird): Ich bin ein wahrer Mensch, insofern ich bloß und rein hinsehe. Was ich so ästhetisch sehe – einen vergeistigten Menschen – bin ich in diesem Sehen: ein geistig erhobener Mensch; hier liegt die Entsprechung des Inhalts der Anschauung und der ästhetischen Vollzugsform. Was mich ansieht, ist dieser wahre Mensch als geistig und auch göttlich verklärter, und so der Geist im Ganzen. Doch als solcher ist es nicht wahrhaft wahr; denn in Wahrheit ist der Mensch ja in sich verkehrt, welche Bestimmung wesentlicher Teil des Inhalts des absoluten Geistes ist. Diese Bestimmung ist nicht darstellbar und nicht (nach‑)vollziehbar in der ästhetischen Erfahrung (– sehr wohl aber etwa in der Reflexion auf ihr Misslingen, wie wir dies anhand des verdorbenen, professionalistischen Betrachtens gesehen haben). Der Geist tritt „in“ der Plastik „heraus“, sagt Hegel; heraus zu mir oder mir entgegen, ohne sich in oder bei mir zu verlieren. Solches „Entgegentreten“ ist nun im Lichte besagten Nichtvorkommens der Verkehrtheit des Menschen genauer zu betrachten. Es hat sich gezeigt, dass der Geist im ästhetischen Vollzug in der Form der Unmittelbarkeit der sinnlichen Anschauung – also: ohne prozessuale Artikuliertheit – erscheinen muss. Das kann er sodann nur als reinpositive Fülle. Der unmittelbare Gedanke der reinpositiven Fülle – Sein – kollabiert unmittelbar zu demjenigen der Leere – Nichts, wie Hegel am Anfang der Logik vorführt; und auch die unmittelbare Sinnlichkeit – „sinnliche Gewissheit“ – kollabiert unmittelbar, wenn sie nicht durch die Vermittlung allgemeiner Bestimmungen repräsentational fixiert wird. Anders als in diesen – nicht-absoluten – Akten, Vgl. dazu Kapitel 7.
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374 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes kollabiert die reinpositive Fülle im Vollzug der Kunst nicht ins Nichts. Dem Geist in seiner Absolutheit gelingt es darin, in ihr das Nichts aus sich herauszuhalten – aber so eben auch die Aversion des in sich verkehrten Menschen gegenüber Gott: „In jenem Erfülltseyn erscheint die Versöhnung so als Anfang, daß sie unmittelbar in dem subjectiven Selbstbewußtseyn vollbracht sey, welches so in sich sicher und heiter, ohne die Tiefe und ohne Bewußtseyn seines Gegensatzes gegen das an und für sich seyende Wesen ist.“88
Darin liegt, dass die Kunst nicht nur auf der Ebene des Inhalts des Werks – in ihrem Objekt der sinnlichen Anschauung –, sondern auch in ihrem gelingenden Vollzug – aufgrund dessen Form – keine Negativität in oder an sich hat. Dieser Vollzug kann daher nicht einmal die Anschauung als ein unmittelbares Wissen des immer-schon-überwunden-Habens des Bruches zwischen mir, als (individuellem) endlichen Subjekt, und dem unendlichen Subjekt sein. Der Grund dafür ist, dass ein solcher Gehalt zwar in der Anschauung zur Unmittelbarkeit zusammengefasst sein kann – aber nur in intellektueller Anschauung. Nun ist die Anschauung in der Kunst aber nicht eine intellektuelle Anschauung in dem Sinne, dass die initiale Aktivität der sinnlichen Anschauung durch das endliche Subjekt beiseite gelegt und durch eine intellektuelle Anschauung vonseiten des unendlichen Subjekts ersetzt würde. Vielmehr ist die ästhetische Erfahrung als sinnliche Anschauung geistige Anschauung. Sie ist nicht die Ersetzung von Sinnlichkeit durch Geist, sondern die Vergeistigung der Sinnlichkeit. Hegel: „Die sinnliche Aeußerlichkeit an dem Schönen, die Form der Unmittelbarkeit als solcher ist zugleich Inhaltsbestimmtheit und der Gott hat bei seiner geistigen zugleich in ihm noch die Bestimmung eines natürlichen Elements oder Daseyns. – Er enthält die sogenannte Einheit der Natur und des Geistes“89.
Hegel macht hier deutlich, dass die „Inhaltsbestimmtheit“ des Werks, die es schon als Objekt der sinnlichen Anschauung hat, nicht einfach getilgt ist. Das ist auch zwingend – ganz analog wie in der Religion, deren Kultus über das bloße Haben von Sätzen mit ihren Inhalten zwar hinausgeht, diese Sätze und ihr Inhalt im Kultus aber nicht einfach getilgt sind, sondern in einen neuen, sodann konstitutiven Sinnzusammenhang eingebettet und darin aufgehoben. Sonst wäre kein Abendmahl im Bewusstsein seines narrativ erinnerten Grundes zu feiern. Damit, dass solcher Inhalt auch in der Kunst nicht einfach getilgt sein kann, wenn diese nicht zur unbestimmten Unmittelbarkeit kollabieren soll, hängt nun zusammen, dass in ihrem Vollzug die Geistigkeit die Sinnlichkeit durchdringt. Das bedeutet, dass sie die sinnliche Anschauung mitsamt ihrem bestimmten repräsentationalen Inhalt weder tilgt noch schlicht unangetastet lässt (− und in ihr etwa bloß als weiterer Inhalt der sinnlichen Anschauung fungieren würde). Das Enz. 1830, § 561 [Hvh. T. O.]. Enz. 1830, § 557 [Hvh. T. O.].
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sehen wir plastisch daran, dass diejenige als-Bestimmung, mit der wir die ästhetische Erfahrung aussagen – dass etwas als schön erfahren wird –, ja gerade nicht bedeutet, dass eine Eigenschaft dieses „etwas“ unter anderen repräsentiert wird. Das „Schöne“, als Realisation des Geistes im Ganzen, kann nicht etwas sein, das als Eigenschaft oder Qualität eines Objekts sinnlich repräsentiert wird; es ist nicht etwas, das im Lichte des Geistes zu sehen ist, sondern es ist das Licht des Geistes selbst, in das ich vom Werk selbst her getaucht werde. Während ich im Lichte des (subjektiven) Geistes etwas als so-und-so sehe – setze –90, sehe ich in der Kunst das Licht des Geistes als solches – und das bedeutet eo ipso, nicht bloß etwas zu sehen, aber sehr wohl zu sehen. Anders gesagt, das Sehen selbst ist vergeistigt und damit so, wie es vollkommen ist. Das Schöne ist Gegenstand und sein Verhältnis zu mir in unmittelbarer Einheit. In der Kunst tritt der Geist mir somit nicht gegenüber, sondern „im Kunstwerk heraus“ – wie Hegel treffend und nach Maßgabe der Logik nicht-ästhetischer sinnlicher Anschauung paradox formuliert. Damit ist deutlich geworden, dass die Philosophie der Kunst die ästhetische Erfahrung zwar als Realisation des Zurückgeholtwerdens des in sich verkehrten Menschen zu Gott begreifen kann und muss; dass es der Kunst aber zugleich wesentlich ist, dass unmittelbar in ihr selbst das Moment des in-sich-Verkehrten nicht vorkommt und nicht erfahren wird. Das liegt am aufgewiesenen Charakter ihrer unmittelbar-überwältigenden Positivität, die sich auch in unserer üblichen phänomenalen Beschreibung von ästhetischen Erfahrungen zeigt („Erhebung“, „Seligkeit“, „sicher“, „heiter“91 …). Hier mag noch einmal eine gerade in ihrer Banalität illustrierende Analogie helfen: Jemand, der plötzlich von einem riesigen Schwall Wasser überrollt wird, mag – von außen betrachtet – einen Widerstand dagegen in Form eines Schutzanzuges gehabt haben, und er mag dies selbst auch wissen. Doch in der Erfahrung seines unmittelbaren Überrolltwerdens, das diesen Schutzanzug instantan bricht, ist dieser Schutzanzug für ihn nicht mehr, nicht mehr als wirksam spürbar. Dieses kategoriale Fehlen der Negativität in der ästhetischen Erfahrung ist kompatibel mit der These, dass Negativität im Inhalt des Kunstwerks vorkommen kann: nämlich dann, wenn sich dieser von einem Objekt im Raum zu einem bereits die Struktur der Vorstellung antizipierenden zeitlich-prozessualen Gegenstand transformiert. Diese Transformation entspricht dem Übergang von der vergangenen klassischen Kunst zur romantischen Kunst unserer Gegenwart, die aufgrund besagter Antizipation der Vorstellung in Richtung der Religion sich 90 Im Lichte dessen leuchtet ein, warum Hegel die Verhältnisse in Akten des Bewusstseins, in denen sich solches Setzen ereignet, selbst mit dem Begriff des Lichtes erläutert: „Ich als diese absolute Negativität ist an sich, die Identität in dem Andersseyn; Ich ist es selbst und greift über das Object als ein an sich aufgehobenes über, ist Eine Seite des Verhältnisses und das ganze Verhältniß; – das Licht, das sich und noch Anderes manifestirt.“ (Enz. 1830, § 413 [Hvh. T. O.]) 91 Die letzten beiden stammen wörtlich aus Enz. 1830, § 561.
376 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes bewegt, aber immer noch Kunst ist und bleibt. Paradigmatisch dafür steht die Musik, die mit der Religion zunächst die Dimension der Ver-Innerlichung teilt, der Innerlichkeit als Wegbewegung vom Verlorensein im „Außen“ der ordinären sinnlichen Wahrnehmung: „Was in der Musik in Anspruch genommen ist, ist die letzte Innerlichkeit. […] Das Ich ist nicht mehr von dem Sinnlichen selbst unterschieden, die Töne gehen in meinem tiefsten Innern fort. Die innerste Subjektivität selbst ist in Anspruch genommen und in Bewegung gesetzt. Dies ist dann dasjenige, was die Macht der Töne überhaupt ausmacht.“92
Diese Innerlichkeit ist also Voraussetzung für die Erfahrung der Negativität, die im Vergehen der Töne liegt, und ist deshalb das, was „die Macht der Töne überhaupt ausmacht“. Diese Negativität bedeutet also, dass jede Note, jede Harmonie, jeder Klang vergehen und Raum geben muss, damit wirkliche Melodie erst erstehen kann: „Der Ton, indem er ist, ist nicht; seine physikalische Erfüllung, wie sie ist, verschwindet. Diese macht beim Ton die Seite des Negativen aus, von welcher die Hauptbestimmtheit in den Ton kommt.“93
Diese Negativität auf Ebene des Inhalts des Kunstwerks darf jedoch nicht mit der (auch in diesem Falle) im Vollzug der Kunst abwesenden Negativität zwischen Subjekt und Kunstwerk – genauer: zwischen Subjekt und dem im Kunstwerk heraustretenden Geist – verwechselt werden. Auch in der ästhetischen Erfahrung der Musik liegt keine Brucherfahrung zwischen dem Werk des Geistes und mir selbst. Die Negativität ist und bleibt ganz im Werk selbst, das als Ganzes den Charakter der reinen Fülle behält – auch wenn mich diese in der Musik nicht mehr von außen, sondern von innen her er-füllt. Die ästhetische Erfahrung – die Vollzugsform der Kunst, in der sie den Inhalt des absoluten Geistes realisiert – enthält keinen Schmerz und keine Pein. Darin ist sie – innerhalb des absoluten Geistes – kategorial verschieden von Religion und Philosophie und, gemessen an der Skala der vollkommenen Darstellung des Inhalts des absoluten Geistes, ihnen gegenüber somit defizitär, „ohne die Tiefe und ohne Bewußtseyn [m]eines Gegensatzes gegen das an und für sich seyende Wesen“94.
Dieser Gegensatz ist im gelingenden Vollzug von Religion und Philosophie präsent, als mein eigenes Verkehrtsein. Die Kunst blamiert uns also unendlich weniger; sie ist nicht anklagend und überhaupt stiller. Ist sie deshalb weit eher als die Religion die Wahlverwandte der gegenwärtigen Philosophie?
VPhK Gethmann-Siefert, 262 f. VPhK Gethmann-Siefert, 265. 94 Enz. 1830, § 561. 92 93
8.5 Kunst
377
„So kam es, daß der Idealismus in dem Augenblick, wo er die Sprache verwarf, die Kunst vergötterte.“95
Beschlossen werden soll die Erörterung der Kunst nun mit einem Blick auf etwas, das in der Anlage unserer Untersuchung besonders bedeutsam erscheint: dass die sinnliche Wahrnehmung – oder Anschauung –, die der verkehrten Philosophie als Instanz des wahrhaft wissenden Bewusstseins gilt, vom Geiste so gebraucht werden kann, dass dieser sein die-Wahrheit-Sein in ihr erfahrbar macht. Er tut dies nicht, indem er sie tilgt – sonst wäre er darin keine Vergeistigung der sinnlichen Anschauung, sondern ihr bloßes Beiseitesetzen, was sie somit in ihrer Macht belassen und aufwerten würde; sondern so, dass er sie durch sie selbst blamiert, indem die ästhetische Erfahrung, die sich durch sie vollzieht, sie darin kontrastiv, in ihr gegen sie gerichtet, als geist-los erscheinen lässt. Wer einmal das Schöne gesehen hat, muss das Gewöhnliche anders sehen – als dasjenige, was nicht das Schöne, sondern das Geist-lose ist, eben das Andere des Geistes. Was wir oben vom Reichtum des Lebens desjenigen gesagt haben, der von Gott in Religion und Philosophie angesprochen ist, ist analog vom Leben desjenigen zu sagen, der von Gott in Kunst und Philosophie angesprochen ist: Da er begrifflich erkannt hat, worin seine ästhetische Erfahrung besteht, kann er das eben beschriebene, kontrastive oder negative Sehen-Als durch diese begriffliche Erkenntnis vertiefen – und, umgekehrt, diese in jener lebendig werden lassen, sich vor Augen führen. Doch das Wissen um den Geist – die Begegnung mit ihm – liegt in der Kunst selbst und bedarf als solches nicht der Philosophie: „Die schöne Kunst […] hat das Selbstbewußtseyn des freien Geistes, damit das Bewußtseyn der Unselbständigkeit des Sinnlichen und blos Natürlichen gegen denselben zur Bedingung, sie macht dieses ganz nur zum Ausdruck desselben“96.
Dieses Bewusstsein können wir im Sehen-Als dauerhaft, alltäglich exerzieren, solange wir ästhetische Erfahrung machen oder er-innert haben. Das in Kunst gegenwärtig Gewordene lässt sich – auch ohne Philosophie – hineintragen in das alltägliche Sehen und kann durch die andauernde Blamage jeder ordinären sinnlichen Anschauung, deren absoluter Maßstab die ästhetische Erfahrung ist, lebendige Präsenz behalten. Man kann dies einen negativen Ästhetizismus nennen, eine Anschauung der Welt in ihrem unendlichen Mangel an Schönheit und Geist. 95 So Rosenzweig, der zu Beginn von Kapitel 8 schon Erwähnung fand (Rosenzweig 1976: 162 f. (Stern, 162 f.)). Das Angesprochensein in der Religion wird, wo der Wert des Angesprochenseins vergessen ist, unterhalb des Stummen der Kunst, die eben weit indirekter Angesprochensein realisiert als die Religion, hierarchisiert. Hegel hat sich dessen aber, wie mir scheint, nicht schuldig gemacht, wenn er – wohl aus diesem Grund – die gesamte Sphäre des absoluten Geistes als „Religion“ zu bezeichnen bereit ist und dies sogar in den einleitenden Paragraphen zum absoluten Geist explizit hervorhebt (vgl. Enz. 1830, § 554). 96 Enz. 1830, § 562 A [Hvh. T. O.].
378 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie Das gesamte Verständnis des absoluten Geistes in seinen drei Gestalten – und damit das Selbstverständnis der Philosophie als Philosophie des absoluten Geistes, die sich so expliziert – findet sich von Hegel summarisch im § 573 der Enzyklopädie zusammengefasst. Schon aufgrund seines summarischen Charakters ist dieser Paragraph nicht aus sich selbst zu verstehen; sehr wohl aber ist er eine Art nachträglicher „Lackmustest“ jeder Interpretation von Hegels Philosophie des absoluten Geistes. Sie muss sich in einer plausiblen und kohärenten Interpretation dieses Paragraphen bewähren lassen. Das wollen wir im Folgenden mit der Interpretation, die die vorliegende Untersuchung gegeben hat, tun und dabei zeigen, dass sogar gewisse Verständnisprobleme des § 573 im Lichte unserer Untersuchung aufgelöst werden können. Dazu einige Vorbemerkungen. Zunächst ist zu explizieren, warum Hegel die Philosophie als letzte Gestalt des absoluten Geistes thematisiert: Erst, nachdem wir nun im Philosophieren auch Kunst und Religion begriffen haben, haben wir auch die Philosophie voll begriffen; denn erst nun haben wir Philosophie als eine Gestalt des absoluten Geistes neben zwei anderen begriffen97 und damit zugleich als eine Disziplin, die eben dies begreift. Philosophie begreift sich erst voll, indem sie – wie Hegel sagt – darauf „zurücksieht“, was sie vor Philosophie der Kunst und der Religion und als Philosophie der Kunst und Philosophie der Religion jeweils war – und was sie damit überhaupt war und ist, da sie all dies ja aus dem Weg der Philosophie überhaupt, vom Anfang des Weges der Selbsterkenntnis her und allein daraus, geworden ist.98 Diese Verhältnisse müssen im Blick sein, um die summarische Zusammenfassung der Philosophie des absoluten Geistes in §§ 572 und 573 in ihrer retrospektiven Terminologie richtig verstehen zu können. Andernfalls halten diese Paragraphen zahlreiche Fallstricke bereit; Formulierungen, die in Missverständnisse führen können. Das liegt nicht allgemein daran, dass sie von Hegel unklar geschrieben wären, sondern zum einen an der elementaren semantischen Tatsache, dass solche Paragraphen – gerade im Kontext der hegelschen Philosophie – nicht isoliert zu verstehen sind, zum anderen daran, dass sie eben gar keinen neuen Schritt gehen oder vorführen, sondern nur die Beschließung sind, 97 Sie hat damit eine Zweideutigkeit am Begriff der „Erkenntnis“ aufgelöst: Sie hat erkannt, dass nicht nur sie Erkennen (jemanden, nämlich Gott als Gegenüber Erkennen!) oder wahrhaft wissendes Bewusstsein – im Sinne einer erfahrenden Begegnung mit Gott – ist, sehr wohl aber nur sie begrifflich-denkendes, d. h. im Modus von Begriffsklärung und Argumentation verfahrendes, beweisendes, Erkennen ist. 98 Damit steht also gerade nicht im Widerspruch, dass wir die Philosophie auch schon einmal vor der Religion und der Kunst thematisiert haben. Denn zunächst muss sie sich selbst als ein bestimmtes Geschehen begreifen, um begreifen zu können, dass dieses Geschehen auch in andern Vollzugsformen als der ihrigen realisiert sein kann und muss.
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie
379
in der die Philosophie auf ihre schon gegangenen Schritte bloß „zurücksieht“, sich also schon „vollbracht“ findet, wie Hegel schreibt. Der entscheidende Fallstrick nun ist einer, auf den wir schon im Abschnitt zur Religion gestoßen sind: dass es für viele Leser dort, wo Hegel von „Offenbarung“ redet, den Anschein haben muss, als rede er ausschließlich von Religion und gerade nicht von Philosophie. Diesen Interpretationsfehler begeht man nicht mehr, sobald man eingesehen hat, dass Philosophie – schon bevor sie auf den Begriff der Religion gestoßen ist, nämlich seit ihrer ersten konsequenten Reflexion auf den Weg der Selbsterkenntnis – sich selbst als Offenbarungsgeschehen erkannt hat, basierend auf elementaren erkenntnislogisch-semantischen Gründen. Diese thematisieren die meisten Interpreten nicht – und dennoch nimmt es Wunder, dass sie meinen, Hegel würde unter dem Titel der „Offenbarung“ ausschließlich die Religion, als gerade dadurch von der Philosophie unterschieden, verhandeln; es nimmt Wunder vor dem Hintergrund des exegetischen Befundes, dass Hegel den Geist als solchen als Offenbaren – als Offenbaren des Offenbarens – definiert hat99, zum anderen nicht müde wird, die traditionelle Unterscheidung der Religion als offenbarungsabhängiges Glauben von der Philosophie als rein vernunft‑ im Sinne von nichtoffenbarungsabhängigem Wissen zu kritisieren.100 Vor allem vor dem Hintergrund dieser Tatsache, dass das Wort „Offenbarung“ als gleichsam abkürzender Marker für „hier nur Religion und nicht Philosophie“ genommen wurde, ist zu erklären, warum der § 573 zumeist so verstanden wurde, als würde Hegel dort eine „Aufhebung“ der Religion in die Philosophie lehren101 – wobei an sich schon auffällig genug ist, dass er dieses von ihm selbst (!) geprägte Wort an dieser Stelle gerade nicht gebraucht, sondern zunächst von „Anerkennung“ und erst dann und basierend darauf von einer „Erhebung“ spricht.102 Vgl. Enz. 1830, § 383. Wie wir sogleich sehen werden, ist auch § 573 A um diesen Punkt zentriert. – Rohls 2015: 232 ff. hat sehr klar an Hegels differenzierte Verhältnisbestimmung von Glauben und Wissen sowie an einige ihrer Implikationen insbesondere für die hegelsche Religionsphilosophie erinnert. 101 Diese These ist aufgrund ihrer Selbstverständlichkeit in ihrer Bedeutung zunehmend unklar geworden. Eine prägnante Darstellung findet sich bei Dierken 2005: 269 ff. 102 Darin liegt eine – wichtige – Differenz zur, ein Fortschritt gegenüber der Phänomenologie des Geistes, in der das Verhältnis von Religion und Philosophie noch weitaus mehrdeutiger ist. Dort findet sich auch der Terminus des „Aufheben[s]“ (so direkt zu Beginn des Kapitels „Das absolute Wissen“). Eine nähere Darstellung seiner Bedeutung und einen Vergleich zur enzyklopädischen Fassung überhaupt nehmen wir hier nicht vor. Bemerkt sei allerdings, dass sich in der Phänomenologie des Geistes eine Unterbelichtung des Kultus feststellen lässt – und damit desjenigen Begriffs, mit dem sich die These von der Inhaltsidentität von Religion und Philosophie und somit beiderlei Selbstständigkeit gemäß unserer Lesart wesentlich verbindet. – Noch allgemeiner lässt sich freilich feststellen, dass die Abscheidung des absoluten Geistes vom objektiven Geist in der Phänomenologie des Geistes unklarer gefasst oder dargestellt ist als in der Enzyklopädie. Vgl. dazu, gerade in Bezug auf die Religion, auch Sans 2018. 99 100
380 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Nach diesen Vorbemerkungen können wir nun zur (Halb‑)Satz-für(Halb‑)Satz-Interpretation des § 573 übergehen: (1) „Die Philosophie bestimmt sich hienach zu einem Erkennen von der Nothwendigkeit des Inhalts der absoluten Vorstellung, […]“
Walter Jaeschke hat mit Recht darauf hingewiesen, dass der Terminus „absolute Vorstellung“ zunächst rätselhaft ist, weil er weder im unmittelbaren Umkreis dieses Paragraphen von Hegel eingeführt oder definiert wird, noch andernorts ein prominenter Terminus seiner Philosophie ist. Jaeschke identifiziert eine (die wohl einzige) weitere Belegstelle, eine religionsphilosophische Bemerkung Hegels, allerdings nicht über die christliche Religion, sondern über die Göttervorstellung der alten Griechen.103 Es macht offensichtlich keinen Sinn anzunehmen, dass dieser Terminus für etwas an der Religion der alten Griechen Spezifisches stehen soll, insofern er hier – im § 573 – Verwendung finden können soll, wo Religion immer schon die „wahre Religion“ meint. Deshalb ist anzunehmen, dass es sich tatsächlich um eine neue Begriffsprägung Hegels an eben dieser Stelle handelt. Was der Begriff bedeuten könnte, ist vor dem Hintergrund unserer Interpretation klar auszumachen: die „absolute Vorstellung“ ist dasjenige, was in allen drei Gestalten des absoluten Geistes stattfindet, nämlich das Zurückgeholtwerden des sich selbst erniedrigenden und überhöhenden Menschen zu Gott durch Gott; die Selbst-Vorstellung Gottes in eben diesem Sinne. Von einem „Inhalt der absoluten Vorstellung“ kann und muss sodann in dem Sinne die Rede sein, dass der (identische) Inhalt von Kunst, Religion und Philosophie eben diese „absolute Vorstellung“ ist. Der Genitiv „der absoluten Vorstellung“ ist also ein epexegetischer Genitiv (wie in „Mir ist das Geschenk der Liebe gegeben“, was bedeutet: „die Liebe ist ein Geschenk, das mir gegeben ist“). Die Philosophie ist „Erkennen von der Nothwendigkeit des Inhalts der absoluten Vorstellung“. Auch das können wir genau verstehen: „Erkennen“ meint nichts anderes als den Vollzug, in dem wir uns durchwegs befanden und immer noch befinden, nämlich das begreifende Denken der philosophischen Selbsterkenntnis. Dass nicht nur der Inhalt, sondern auch die „Nothwendigkeit des Inhalts“ der absoluten Vorstellung erkannt wird, liegt in der Natur dieses begreifenden Denkens als solchem: Auf dem philosophischen Weg der Selbsterkenntnis wurde dieses Geschehen nicht nur vollzogen – Gott wurde nicht „nur“ „gewusst“, wie er als Ansprechender in allen drei Gestalten qua Bekanntschaft und erfahrener Begegnung gewusst wird –, sondern eben auch im Modus des Beweisens erkannt, damit aber im Modus der „Nothwendigkeit“, die der phi Vgl. Jaeschke 2000: 469 f.
103
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie
381
losophischen Erkenntnis als beweisender Erkenntnis eignet104. Darauf basierend hat sich auch gezeigt, warum dieser Inhalt notwendig ein Inhalt ist, der als „absolute Vorstellung“ anzusprechen ist, d. h. als Inhalt, der als dem endlichen Subjekt unverfügbarer allen drei Gestalten des absoluten Geistes gemein ist, der also auch als eben derartiger Inhalt notwendig ist. Denn nur so ist der Begriff des unendlichen Subjekts wirklich realisiert: dass es uns durch alle drei Vermögen, nicht nur durch eines, ansprechen kann und auch wirklich anspricht. Kurzum: Erst, wenn man begriffen hat, dass alle drei Gestalten des absoluten Geistes dasselbe Geschehen realisieren – und Hegel dies mit der Rede von der „Identität des Inhalts“ meint –, ist zu verstehen, warum er den Begriff des „Inhalts der absoluten Vorstellung“ prägt: es ist das Wort für diesen Inhalt, insofern er derselbe in allen drei Gestalten ist. Dies drückt die Verwendung des Adjektivs „absolut[..]“ gut aus, denn das Gemeinsame der drei Gestalten ist ja, dass sie Gestalten des absoluten Geistes sind. „Vorstellung“ ist zum einen passend, weil das unendliche Subjekt – Gott – sich selbst tatsächlich in allen drei Gestalten „vorstellt“, also Präsenz verschafft und ereignet, zum anderen deshalb, weil „Vorstellung“ das der Religion zugeordnete Vermögen ist und Hegel an dieser Stelle einmal mehr hervorkehrt, was er bereits in § 554 explizit gemacht hat: dass der Religion die fokale Stellung im absoluten Geist zukommt, sodass auch dessen Sphäre im Ganzen „Religion“ genannt werden kann. Auch deshalb ist es adäquater, das in allen drei Gestalten Identische als „absolute Vorstellung“ – und nicht als „absolute Anschauung“ oder „absolutes Denken“ – zu charakterisieren.105 (2) „[…] so wie von der Nothwendigkeit der beiden Formen, einerseits der unmittelbaren Anschauung und ihrer Poesie, und der voraussetzenden Vorstellung, der objectiven und äußerlichen Offenbarung, andererseits zuerst des subjectiven Insichgehens, dann der subjectiven Hinbewegung und des Identificirens des Glaubens mit der Voraussetzung.“
Durch die Nennung „der beiden Formen“ weckt Hegel beim Leser zunächst die Erwartung, er würde nun von den beiden je definierenden Vollzugsformen der Kunst und der Religion sprechen.106 Doch der folgende Satz, der diese beiden Formen in „einerseits …“ und „andererseits …“ genauer unterteilt und somit er104 Wir haben bereits mehrmals ausgeführt, dass diese Notwendigkeit mit dem Freiheitscharakter des Einleuchtens oder Offenbarens vereinbar ist – nämlich dann, wenn man sie im Sinne einer Nötigung der Liebe und nicht im Sinne eines (quasi‑)mechanischen Zwangsgeschehens versteht. 105 Dem entspricht schließlich auch die Tatsache – sofern man ihr überhaupt Gewicht geben will –, dass die von Jaeschke aufgezeigte einzige sonstige Belegstelle des Wortes „absolute Vorstellung“ ebenfalls im religionsphilosophischen Kontext lokalisiert ist. 106 Untersuchungen dieser und verwandter Passagen, sofern sie nicht vorab den Weg der Selbsterkenntnis (in unserer Lesart) gegangen sind, machen überhaupt leicht diese (aus unserer Warte) völlig verkehrte Voraussetzung. So fügt z. B. Mooren 2018: 25 in ihrem Zitat dieses Ab-
382 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes läutert, enttäuscht diese Erwartung eindeutig, wie Jaeschke107 und Theunissen108 in ihren jeweiligen Interpretationen mit Recht herausstellen. Was Jaeschke allerdings nicht reflektiert – und Theunissen auch nur eher zwischen den Zeilen –, ist: Es gibt soweit also gar keinen Grund anzunehmen, dass Hegel im betreffenden Abschnitt nur über Kunst und Religion spricht, nicht aber auch schon über die Philosophie – die ja, als Philosophie auf dem Weg zum absoluten Geist sowie, darauf basierend, als Philosophie des absoluten Geistes mitsamt Philosophie der Kunst und der Religion, schon vollzogen ist. Ja, wir müssen sogar annehmen, dass Hegel hier schon über Kunst, Religion und Philosophie spricht. Denn auch diese besteht ja wesentlich im „Inhalt der absoluten Vorstellung“, wie wir ihn verstanden haben. Nun meint Jaeschke – und, wie es scheint, selbst Theunissen (zumindest vordergründig) –, dass die Unterscheidung der „beiden Formen“ zwar nicht die Unterscheidung von Kunst und Religion (bzw. Anschauung und Vorstellung) ist, aber dennoch nur diese beiden Gestalten des absoluten Geistes thematisiert. Der vermeintlich rechtfertigende Grund für ihre Annahme besteht darin, dass Hegel von „Anschauung und […] Poesie“ spricht (und damit von der Kunst) sowie von „der objectiven und äußerlichen Offenbarung“, dem „subjectiven Insichgehen[.]“ sowie „der subjectiven Hinbewegung und de[m] Identificiren[.] des Glaubens mit der Voraussetzung“ (und damit von der Religion). Doch – und hier kommen wir auf unsere obige Vorbemerkung zurück – gibt es keinen Grund anzunehmen, dass Hegel dort, wo er von „Offenbarung“ spricht, nur von Religion spricht. Um weiter zu prüfen, ob es wirklich sinnvoll ist anzunehmen, dass er auch von Philosophie spricht, muss geprüft werden, was Hegel eigentlich in „einerseits …“ und „andererseits …“ als „zwei Formen“ unterscheidet. Diese Frage muss als von der Hegelforschung bislang nicht annähernd hinreichend beantwortet gelten – was wesentlich daran liegt, dass Hegels Unterscheidung tatsächlich dunkel ist. Jaeschke meint, Hegel würde in diesen zwei Formen das Auseinanderliegen von Subjektivität und Objektivität thematisieren, welches als Moment der Trennung zum Wesen des Geistes gehöre und im absoluten Geist überwunden werde.109 Man muss sich fragen, wie dies mit seiner weiteren Behauptung, dass in diesen Formen nur von Kunst und Religion – nicht aber von Philosophie – die Rede sei, zusammengehen soll. Denn sofern dieses Auseinanderliegen (jedenfalls momenthaft) zum Geist als Geist gehört und der absolute Geist als solcher es überwindet, wäre die Philosophie von der so beschriebenen Bewegung genauso betroffen wie die Kunst und die Religion. Doch Jaeschkes Interpretation scheint aus einem weiteren Grund nicht stichhaltig zu schnitts aus § 573 in erläuternden Klammern ohne Begründung hinzu: „Befreiung von der Einseitigkeit der Formen [von Kunst und Religion; N. M.]“. 107 Vgl. Jaeschke 2000. 108 Vgl. Theunissen 1970: 301 ff. 109 Vgl. Jaeschke 2000: 471.
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie
383
sein: Würde Hegel in diesen „zwei Formen“ das Auseinanderliegen von Subjektivität und Objektivität thematisieren wollen, ist nicht einsichtig zu machen, wieso sich zwei Formen ergeben sollten. Denn dieses Auseinanderliegen ist eines; das Auseinanderliegen von Subjektivität und Objektivität ist ja nichts anderes als das Auseinanderliegen von Objektivität und Subjektivität. Sicherlich kann man dieses Auseinanderliegen von beiden Seiten her schildern – doch diese gedoppelte Perspektive begründet als solche noch nicht die Rede von zwei verschiedenen Formen. Tiefer geht der Kommentar von Michael Theunissen, der auf einen wichtigen Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Form hinweist110: Während in der ersten tatsächlich von einem gleichsam statischen Auseinanderliegen die Rede ist, wird in der zweiten eine Bewegung des Subjekts hin zu dem objektiv Vorausgesetzten thematisiert, als „Insichgehen[.]“, „Hinbewegung“ und schließlich „Identificiren[.]“. In ihr, so Theunissen, „entdeckt der Mensch sich in der Unwahrheit“111; das entspricht unserer Lesart, der gemäß ausgehend von der initialen Aktivität des Subjekts diesem Subjekt, gegen seinen Hang, etwas aufgehen kann, in dessen Licht es sich selbst – auch als in sich Verkehrtes – erkennt. Man kann nun in der Abfolge der ersten und der zweiten Form tatsächlich den Übergang von dem statischen noch-nicht-von-der-Offenbarung-angesprochenSein über das aktive sich-Hinwenden – was wir als initiale Aktivität des endlichen Subjekts bestimmt haben – hin zu dem anschließend möglichen, aber – wie auch Theunissen klar hervorhebt – unverfügbaren Offenbarungsgeschehen erkennen, in dem sich sodann Offenbarung ereignet und auch als solche gewusst wird. Das Subjekt erkennt, dass sein aktiver Vollzug – etwa der kultische in der Religion – wesentlich ein Offenbarungsgeschehen ist, also von Gott selbst bewirkt; so begegnet es Gott. Diese Abfolge entspricht daher nicht zufällig der Abfolge, wie Hegel sie für den religiösen Vollzug in § 570 schildert. Doch es wäre wiederum falsch zu glauben – wie Jaeschke es tut –, dies würde zeigen, dass in den beiden Formen nur vom religiösen Vollzug – und nicht auch schon vom philosophischen – die Rede sei; denn das Wort „Glauben“, das Hegel in § 570 und § 573 verwendet, ist genauso wenig ein exklusiver Indikator für Religion wie dies für das Wort „Offenbarung“ gilt. Dies lässt sich auch daran zeigen, dass Hegel das Wort „Glauben“ schon in den allgemeinen Eingangsbemerkungen zum absoluten Geist als solchem verwendet (vgl. § 555) – und nicht erst und ausschließlich in der Diskussion der Religion als zweiter Gestalt des absoluten Geistes. Was aber – im Vergleich zum § 570 – bei der Charakterisierung der zweiten „Form“ in § 573 auffällt, ist die Verwendung des Begriffs des „Identificirens“. Er fehlt in § 570. Dort ist nicht von einem „Identificiren[.] des Glaubens mit der Voraussetzung“ die Rede, sondern davon, dass das endliche Subjekt „als vereint mit dem Wesen sich“ erkennt, „welches [..] durch diese Vermittlung sich als in Vgl. Theunissen 1970: 302 f. Theunissen 1970: 303.
110 111
384 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes wohnend im Selbstbewußtseyn bewirkt, und die wirkliche Gegenwärtigkeit des an und für sich seyenden Geistes als des allgemeinen ist.“112 Die prozessuale Relation ist hier also Vereinigung mit im Unterschied zu Identifizieren mit. Zur Erinnerung: Was Hegel mit dem Relationsbegriff der „Vereinigung mit“ kennzeichnet, ist das, was wir oben – am Beispiel der Religion – so beschrieben haben: dass es wesentlich zum Offenbarungsgeschehen hinzugehört, dass sich nicht nur Offenbarung ereignet, sondern diese auch als solche gewusst wird, als Offenbarung offenbar wird – wie Hegel ja den Geist definiert (§ 383). Gott wird – schon in der Religion – als Offenbarender offenbar, er wird vom Gläubigen etwa als Grund seines Glaubens erfahren und gewusst. Das Subjekt erkennt, dass sein aktiver Vollzug – z. B. der religiöse Glaube oder die Begegnung mit Gott – wesentlich ein Offenbarungsgeschehen ist, also von Gott selbst bewirkt. Ganz entsprechend gilt dies für den Weg der philosophischen Selbsterkenntnis: Auf diesem haben wir eingesehen, dass das, was wir eingesehen haben, uns nur einleuchten konnte, nicht aus uns selbst zu gewinnen war – dass also unser Einsehen wesentlich ein sich-Zeigen war, das sich somit als sich-Zeigen gezeigt hat. Es ist plausibel, diesen Erkenntnisschritt als „Vereinigung mit“ zu charakterisieren: Ich erkenne mich – im weiteren Vollzug der Aktivität – als vereinigt mit dem unendlichen Subjekt, dessen Aktivität in der meinigen unmittelbar am Werke war und ist – und das mich dadurch auch in dem Sinne mit sich „vereinigt“, dass es mich zu sich zurückholt. Die Frage ist nun, ob Hegel mit „Identifizieren mit“ dieselbe Relation meinen kann. Offenkundig nicht. Zwar könnte man die eben beschriebene Relation durchaus unter Verwendung des Wortes „identifizieren“ charakterisieren: dass ich nämlich als Grund meiner Einsicht das unendliche Subjekt „identifiziere“ – aber dass ich das tue, bedeutet ja gerade nicht, dass ich mich mit dem unendlichen Subjekt identifiziere, sondern vielmehr erkenne, dass ich in meiner Aktivität nicht das unendliche Subjekt bin. Doch Hegel verwendet hier die Phrase „mich mit der Voraussetzung (also der Offenbarung) identifizieren“ – und nicht, „die Voraussetzung als das, was sie ist, identifizieren“. Genau das dürfte auch der Grund sein, warum er hier erstmals das Wort „Identificiren“ überhaupt ins Spiel bringt – in auffälligem Unterschied zu § 570. Das aber bedeutet, dass Hegel als „zweite Form“ dasjenige charakterisiert, was wir – wiederum einig mit Theunissen – schon in der Reflexion auf die innere Struktur des Weges der Selbsterkenntnis zurückgewiesen haben: dass das unendliche Subjekt wesentlich von mir, als (individuellem) endlichen Subjekt, abhängt; dass es letztlich nichts anderes ist als endliche Subjektivität im Ganzen – dass es vollkommen ausgeschüttet ist in endliche Subjektivität. Dass es also „gleichsam nichts mehr für sich behalte“, wie Theunissen formuliert.113 Enz. 1830, § 570 [Hvh. T. O.]. Theunissen 1970: 119.
112 113
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie
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Mit anderen Worten, Hegel beschreibt hier als „Form“ denjenigen Pantheismus, der sein System nicht ist. Das erklärt, warum hier von einer „Form“ die Rede sein kann: denn der Pantheismus ist tatsächlich eine philosophische „Form“, nämlich diejenige, gemäß der das Unendliche nichts anderes ist als das sichimmer-schon-ins-Endliche-ausgeschüttet-Haben(de). Diese Form ist freilich auf alle drei Gestalten des absoluten Geistes – zu ihrer Verkehrung – anwendbar, weshalb sie eine – verkehrte und daher auszuschließende – Form des absoluten Geistes als solchem ist: dass die Geistigkeit der Kunst nichts anderes sei als der Inbegriff emphatischer Reaktion endlicher Subjekte; dass Gottes Offenbarung nichts anderes sei als der Inbegriff subjektiver Glaubensvollzüge einzelner Subjekte; dass die philosophische Selbsterkenntnis nichts anderes als der Inbegriff fortlaufender Selbstverständigung endlicher Subjekte – im Einzelnen wie im Kollektiv – sei. Doch warum thematisiert Hegel diese Form hier? Nun, ihr Ausschluss ist der Sache nach von großer Bedeutung. Die Richtigkeit unserer Interpretation lässt sich weiter auch daran belegen, dass Hegel in der Anmerkung zu § 573 ausführlich den Pantheismus diskutiert – und zwar als diejenige Form, die in seiner Gegenwart gerade vonseiten „der Religiösen“ als die der Philosophie unvermeidlich wesentliche Form behauptet wird. Diese Behauptung, so Hegel, gleicht einer bloßen „Versicherung, gleichsam als nur der Erwähnung einer bekannten Sache, daß die Philosophie die All-Eins-Lehre oder Pantheismus sei.“114
Von daher überrascht es nicht, dass er im Haupttext des § 573 in Erinnerung ruft, warum die schon vollzogene Philosophie des (absoluten) Geistes diese „Form“ nicht nur nicht impliziert, sondern sogar offensiv ausschließt – als Form des absoluten Geistes im Ganzen, also für Kunst, Religion und Philosophie. Dass Hegel in der Anmerkung gerade die Philosophie gegen den Pantheismusvorwurf verteidigt, ist somit erneuter Beleg dafür, dass im Haupttext auch (und gerade) die Philosophie kritisch verhandelt wird – als prinzipiell anfällig für diese „Form“; und dass Hegel auch die spekulative Philosophie (nicht nur die Kunst und Religion, wie sie von selbiger begriffen wird) als frei von dieser Form expliziert. Die Betrachtung dieses Kontextes des „Pantheismus“ verhilft nun auch zum Verständnis der ersten „Form“, die Hegel in § 573 verhandelt: Sie ist die der zweiten entgegengesetzte Form, der gemäß „Offenbarung“ nur als etwas in Frage kommt, das absolut außerhalb des endlichen Subjekts und seiner Vollzüge liegt – also auch außerhalb von dessen Geistigkeit, nicht nur von dessen Endlichkeit. Deshalb gebraucht Hegel zu ihrer Charakterisierung auch die phänomenologischen Anklänge an die Kunst: Denn diese kann, aufgrund ihres unmittelbaren Charakters missverstanden, besonders plastisch den Eindruck er Enz. 1830, § 573 A.
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386 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes wecken, als würden wir in der ästhetischen Erfahrung von einer absolut außerhalb unserer selbst liegenden, a‑ oder gar irrationalen Macht überwältigt, die sich uns dadurch „offenbart“.115 Nun folgt aus unserem Verständnis des absoluten Geistes, dass Offenbarung als etwas, das sich mit meiner geistigen und rationalen Aktivität im Vollzug verbinden kann, von mir nur dann als (nicht-hypothetisch) wirklich anerkannt werden kann, wenn ich die Erfahrung derselben gemacht habe: etwa, wenn ich auf dem Weg der philosophischen Selbsterkenntnis die Erfahrung des Einleuchtens gemacht habe. Dieses aber ist nur deshalb Einleuchten, weil mir etwas, das ich nicht schon in und aus mir selbst habe, einleuchtet – in diesem Sinne also durchaus „von außen“ kommend –, das ich aber, wenn ich es wirklich erfahre, auch als klarheitsstiftend und vernünftig (an)erkenne – und damit als keineswegs versponnen, a-geistig oder a-/irrational: als Einleuchten, Aufklärung, Erhellung, Aufgang der Selbsterkenntnis, Lebenspunkt. Darin besteht also die Erklärung, warum einem Subjekt diesseits einer solchen Erfahrung die Offenbarung als etwas bloß „[Ä]ußerliche[s]“ erscheinen muss – und dass dies wiederum eine eigene „Form“ des Denkens konstituiert, der gemäß es überhaupt keine Offenbarung geben kann, solange sie meiner Geistigkeit und Rationalität nicht zuwider gehen soll. Letzteres könnte die Philosophie freilich nicht in Kauf nehmen – womit einmal mehr deutlich wird, dass Hegel auch bei der Diskussion dieser ersten „Form“ (vielleicht vor allem) die Philosophie im Blick hat. Wie schon bei der Form des Pantheismus, lautet auch hier die Antwort auf die Frage, wieso Hegel diese „Form“ in § 573 diskutiert: Es macht Sinn, dass er in systematischer und sachlicher Absicht noch einmal feststellt, was Offenbarung nicht ist – und dass es eine Denkform gibt, für die es wesentlich ist, Offenbarung so missverstehen zu müssen, wie sie in Wirklichkeit nicht ist. Diese Denkform ist das Verstandesdenken, das – anders als die spekulative Philosophie – nicht selbst voll Offenbarung ist, sondern die von der Offenbarung noch nicht zureichend erreichte initiale Aktivität des endlichen Denkens. Dies führt uns nun noch zu einem kompositionstechnischen Grund dafür, warum Hegel diese „Form“ diskutiert: Die scharfe Zurückweisung des Verstandesdenkens war Gegenstand der Anmerkung zu § 571; die Wahl dieses Ortes – am Ende des Religionskapitels – ist zunächst rätselhaft genug, kritisiert er doch eine Form des begrifflichen Denkens, nicht eine Form der Religion. Im § 572 wird dieser Punkt nicht aufgegriffen oder fortgeführt – sehr wohl aber, wie wir nun sehen, in § 573; dort wird das Verstandesdenken final als eine verkehrte „Form“ durchschaut und beleuchtet, die sich der absolute Geist – wiederum im Ganzen – nicht nur nicht anzieht, 115 Weiter ist nun auch klar, warum Hegel die Anklänge an die Kunst bei derjenigen „Form“ gebraucht, in der nicht vom „Insichgehen“ die Rede ist. Wir hatten die Kunst ja erkannt als frei vom Bewusstsein der Verkehrtheit des endlichen Subjekts. Hegel hebt das Fehlen der damit verbundenen Gewissenserfahrung in der Kunst explizit hervor. Vgl. dazu auch Fn. 76.
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie
387
sondern die er von sich weist als etwas, das er hier schon längst überwunden hat. Doch nicht nur in der Anmerkung zu § 571, sondern auch in derjenigen zu § 573 selbst, greift Hegel diese verkehrte Form auf: Dort nun als diejenige Form, die der gemeinsame Gegner von Philosophie und Religion ist. Dass beide Formen – Pantheismus und Verstandesdenken – von Hegel diskutiert werden, stellt sich also als keine zufällige Wahl zweier verkehrter Formen heraus; vielmehr sind sie zwei Formen desselben Problems: nämlich eines Missverständnisses von Offenbarung – des Begriffs der Offenbarung – und damit des Geistes überhaupt, der ja als Offenbarung (als Offenbaren des Offenbarens) bestimmt ist. Wo solches Offenbaren fehlt – so hatten wir gesehen – herrscht die natürliche Selbstüberhöhung und ‑erniedrigung des endlichen Subjekts; und so sind diese beiden Formen auch Ausdruck davon. In der Form des Pantheismus erkennt das endliche Subjekt Gott nicht als etwas von ihm wesentlich Unterschiedenes und Unabhängiges an, erhöht sich dadurch selbst zu „Gott“ und erniedrigt sich somit, weil es sich sein Höchstes – z. B. wirkliche Selbsterkenntnis – wegdenkt; in der Form des Verstandesdenkens spricht die endliche Subjektivität der Offenbarung gar ihre Möglichkeit ab, solange sie geistig und rational sein soll, überhöht und erniedrigt sich selbst also in der analogen Weise wie im Pantheismus. Nun bleibt abschließend die Frage zu klären, warum den beiden Formen, wie Hegel sagt, „Nothwendigkeit“ zukommen soll. Für die erste Form lässt sich dies so beantworten: Sie ist diejenige Form, die das Denken annehmen muss, wenn sich in und an ihm die Offenbarung nicht zureichend ereignet hat. Die zweite Form – die pantheistische – ist ebenso notwendig: denn sie resultiert, wenn das Böse sich als dogmatisches Insistieren auf dem Endlichen manifestiert und deshalb Einleuchten nur als etwas deuten kann, das vielleicht über mich als Individuum, nicht aber über mich als Endliches, über die endliche Subjektivität als solche, hinausgeht, seinem Wesen nach also mit meiner endlichen Denkbewegung – ihrer initialen Aktivität des Denkens – zu identifizieren ist. Es handelt sich also bei beiden Formen um relative oder „reale Nothwendigkeit[en]“, wie Hegel sie nennt – hier also: Notwendigkeiten unter der Bedingung der faktisch nicht vollendeten Offenbarung.116 116 In der Wissenschaft der Logik behandelt Hegel genau diesen Begriff der „realen Notwendigkeit“, die als solche „relativ“ ist: „Die Relativität der realen Nothwendigkeit stellt sich an dem Inhalte so dar, daß er nur erst die gegen die Form gleichgültige Identität, daher von ihr unterschieden und ein bestimmter Inhalt überhaupt ist. Das real Nothwendige ist deßwegen irgend eine beschränkte Wirklichkeit, die um dieser Beschränktheit willen in anderer Rüksicht auch nur ein Zufälliges ist.“ (WL I, GW, 389) Bezogen auf die beiden in § 573 diskutierten „Formen“ bedeutet das: Sie haben einen bestimmten Inhalt genau deshalb, weil sie notwendig relativ zu einem bestimmten Faktum – nämlich einer bestimmten Verkehrtheit – sind. Dieses Faktum ist nicht rein zufällig, sondern wesentlich mit unserem relativ zur Diskursivität seinerseits relativ notwendigen Hang verbunden – und aus diesem sind die „Formen“ als solche verständlich zu machen. Deshalb ist von einer relativen Notwendigkeit zu sprechen. Diese ist
388 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes Nun zum entscheidenden Satz, was die Frage nach der vermeintlichen „Aufhebung“ der Religion in Philosophie betrifft. (3) „Diß Erkennen ist so das Anerkennen dieses Inhalts und seiner Form und Befreiung von der Einseitigkeit der Formen und Erhebung derselben in die absolute Form, die sich selbst zum Inhalte bestimmt und identisch mit ihm bleibt und darin das Erkennen jener an und für sich seyenden Nothwendigkeit ist.“
Der Inhalt, auf den sich Hegel mit „dieses Inhalts“ bezieht, ist offenkundig der „Inhalt[.] der absoluten Vorstellung“, von der schon im ersten Satz die Rede war. Dieser Inhalt ist schon als notwendig erkannter bestimmt worden. Warum spricht Hegel also nun vom „Anerkennen dieses Inhalts“? Hegel identifiziert dieses Anerkennen mit dem schon dargestellten „Erkennen“ (oder denkt es in ihm enthalten), indem er sagt, es „ist so das Anerkennen dieses Inhalts“. Er macht also nur einen – offenbar wichtigen – Punkt explizit, der im bisher Gesagten schon enthalten war. Es ist nun klar, welchen: Die Philosophie, die ja besagtes „Erkennen“ ist, muss den Inhalt schon deshalb anerkennen – und kann sich nicht noch einmal kritisch zu ihm verhalten –, weil sie selbst nichts anderes ist als dieser Inhalt, als das Geschehen, das allen drei Gestalten des absoluten Geistes gemeinsam ist.117 Aber es ist eben nicht selbstverständlich, dass dieser Inhalt im Denken auch faktisch anerkannt wird; denn die real-notwendigen beiden „Formen“ in ihrer Verkehrtheit sind ja gerade von der Art, dass sie ihm diese Anerkennung versagen. Was aber ist nun „seine[.] Form“ – und was ist damit gesagt, dass die Philosophie auch sie anerkennt? Nun, von einer Form im Singular war bislang noch nicht die Rede. Die plausibelste Lesart118 dürfte sein, dass Hegel damit die beiden vorher genannten Formen zusammen meint. Das aber muss nach unserer Lesart bedeuten: die beiden verkehrten Formen zusammen im Sinne derjenigen ursprünglichen und wahren Einheit, aus der heraus sie in ihrer Einseitigkeit und damit Verkehrtheit gerissen wurden und in der allein sie wahr sind, nämlich qua Tilgung ihrer gegensätzlichen Verkehrtheit. Kurz und vereinfacht gesagt: als dritter Weg „zwischen“ Identifikation von Endlichem und Offenbarung auf der einen und bloßer Äußerlichkeit der Offenbarung auf der anderen Seite; also als Offenbarung des unendlichen Subjekts, die sich aber für mich, in meinem endlichen Denken, ereignet. Darin besteht der von uns aufgewiesene Gedanke des externen Offenbarungsverhältnisses. Dass „seine[.] Form“, so begriffen, als aber „in anderer Rüksicht“ in der Tat „nur ein Zufälliges“ – weil es diese Formen eben nicht mit absoluter Notwendigkeit gibt, d. h. wir nicht philosophisch deduzieren können, dass wir dem Hang tatsächlich aufsitzen – noch dazu in philosophiehistorisch konkret so ausgeprägten „Formen“. 117 Alle drei Gestalten sind somit anerkannt – keine ist durch die Philosophie „aufgehoben“. 118 So auch nahegelegt von Jaeschke 2000.
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie
389
solche anerkannt wird, folgt somit schon aus dem vorher Gesagten, ist also – wie „das Anerkennen dieses Inhalts“ – nichts Neues, sondern nur die explizite Bekräftigung dessen, was schon dargelegt wurde: nämlich dass alle drei Gestalten des absoluten Geistes realisiert sind in dieser einen wahren Form, die auch genau darin wahre Form ist, dass sie weder die Form des Pantheismus noch die Form des Verstandesdenkens ist. Entsprechend fährt Hegel fort, indem er das schon dargestellte „Erkennen“ weiter als „Befreiung von der Einseitigkeit der Formen und Erhebung derselben in die absolute Form“ bestimmt. Aus dem bisher Gesagten leuchtet nun unmittelbar ein, warum dies nicht bedeuten kann, dass die Religion (vielleicht gemeinsam mit der Kunst) in die Philosophie aufgehoben wird: denn das, was Hegel hier beschreibt, betrifft ja gemäß unserer Lesart nicht nur Kunst und Religion, sondern ebenso die Philosophie. Was aber bedeutet „Befreiung“ und „Erhebung“ dann? Zunächst ist noch einmal herauszustellen, dass Hegel auch damit nichts Neues meinen kann, was erst hier geschieht, sondern nur auf etwas hinweist, das schon vollzogen ist. Das ist einerseits durch das „so“ – ein erläuterndes „also“ oder „somit“ – angezeigt, andererseits überdeutlich gemacht durch den Schlusssatz, dass „diese Bewegung […] schon vollbracht“ sei. Welches schon Vollbrachte wird von Hegel hier also als „Befreiung von der Einseitigkeit der Formen und Erhebung derselben in die absolute Form“ beschrieben? Das haben wir eben schon im Ansatz beantwortet, können es hier aber an Hegels Wortlaut noch deutlicher machen. Was ist „einseitig“ an den beiden Formen? Einseitig sind sie deshalb, weil sie das Geschehen der Offenbarung, das der absolute Geist wesentlich ist, verkehrt auffassen – jeweils in Form einer Einseitigkeit, d. h. nicht in ursprünglicher Einheit zweier abstraktiv unterscheidbarer Momente – „getrennt von mir“ (qua Endlichkeit) und „eins mit mir“ (qua Geist) –, sondern beide Momente als voneinander getrennt und jeweils verabsolutiert. Die Form des Verstandesdenkens missversteht die Offenbarung so: wenn mir etwas offenbart werden soll, muss es sich mir „von außen“ zeigen und damit a‑ oder irrationales Geschehen sein; die Form des Pantheismus hingegen so: wenn mir etwas offenbart werden soll, muss ich diese Offenbarung mit meiner Aktivität identifizieren können, muss sie letztlich in (m)einem endlichen Vollzug aufgehen. Von daher ist klar, was Hegel mit „Befreiung von der Einseitigkeit der Formen“ meint: Sie sind, je für sich, einseitig und verkehrt. Das haben wir schon eingesehen. Ihre gemeinsame Grundverkehrtheit können wir nun aber noch einmal deutlicher fassen. Beide Formen sind im Wesentlichen nichts anderes als die Verabsolutierung der Endlichkeit – und die „Befreiung von der Einseitigkeit der Formen“ nichts anderes als das, was wir in der Diskussion des einleitenden Paragraphen zur Philosophie des subjektiven Geistes als Inbegriff der Geistphilosophie bezeichnet haben: das von Hegel so genannte „Vernichtigen des Nichtigen“, das „Vereiteln des Eiteln“. Eine „Befreiung“ ist dies nicht nur in
390 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes dem Sinne, in dem jede Korrektur von Irrigem als „Befreiung“ charakterisiert werden kann – nämlich eben als Befreiung von Irrigem –, sondern auch in zwei spezifischeren Sinnen: zum einen wird das Angesprochensein durch die Offenbarung von einem endlichen Subjekt als Befreiung und Ausbruch aus dem Gewöhnlichen erfahren, zum anderen – ganz nüchtern – hatten wir gesehen, dass eben diese Offenbarung die einzige Möglichkeit ist, durch die das in sich gefangene endliche Subjekt aus seiner Verfestigung herausfinden kann, also überhaupt einen streng-verbindlichen Fortschritt in der Selbsterkenntnis machen kann. Hegel beschreibt diese Befreiung daher auch als eine „Erhebung derselben [sc. der beiden Formen] in die absolute Form“. Was „Erhebung“ bedeutet, ist soeben schon beantwortet worden; sie wird von der Philosophie geleistet, insofern damit gemeint ist, dass die beiden Formen im begrifflichen Denken als einseitig und verkehrt ausgewiesen werden, also aus der Tiefe ihrer Verkehrtheit herausgeholt, erhoben – zum Begriff der recht verstandenen Offenbarung als der sodann „absolute[n] Form“. Auch dieser Ausdruck, „absolute Form“, gibt im Kontext unserer Interpretation keine größeren Rätsel mehr auf: Sie ist die Offenbarung selbst – recht verstanden, d. h. nicht mehr im Sinne einer der beiden überwundenen Formen.119 „Absolut“ ist sie deshalb, weil sie das Absolute selbst ist und damit das Geschehen, das sich als absoluter Geist auch extern ereignet – und das die Philosophie des absoluten Geistes in drei Gestalten erkennt und beschreibt; eine „Form“ ist sie deshalb, weil nicht nur dasjenige, was im absoluten Geist geschieht – also sein Inhalt –, als Offenbarung zu identifizieren ist, sondern auch die Art, wie es geschieht – also seine Form. (Letzteres gilt auch schon für das bestimmte Etwas, das uns auf dem Weg der Selbsterkenntnis eingeleuchtet hat. Es ist als solches, inhaltlich gesehen, nicht einfach die Form der Offenbarung, sondern etwa die wahre Bedeutung des Begriffs des Begriffs. Die Form seines Einleuchtens allerdings ist ebenfalls Offenbarung.) Jede Gestalt des absoluten Geistes ist eine Begegnung mit Offenbarung durch Offenbarung. Das gilt, wie wir gesehen haben, keineswegs bloß für die Philosophie. Was allerdings nur für die Philosophie gilt, ist, dass sie im begrifflichen Denken diese zwei Formen als falsche, verkehrte aufweist und überwindet; und deshalb in der Lage ist, die „absolute Form“ und den „Inhalt[.] der absoluten Vorstellung“ als in drei Gestalten des absoluten Geistes realisiert anzuerkennen, wie Hegel sagt.120 119 Zum rechten Grundverständnis der „Offenbarung“ als Form, wie sie Religion und Philosophie gemeinsam ist (und mit befreiender Kritik an allen irreführenden Assoziationen, die sich um diesen Begriff ranken), vgl. die Ausführungen von Drilo 2015: 222 ff. 120 Hegel spricht also mitnichten von einer „Aufhebung“ der Religion in die Philosophie. Das bestätigt auch ein unbefangener Blick in den ersten Satz der Anmerkung: „Es könnte hier der Ort zu seyn scheinen, das Verhältniß der Philosophie zur Religion in einer bestimmten Auseinandersetzung abzuhandeln.“ Das hätte Hegel wohl kaum geschrieben, wenn er unmittelbar vorher im Besonderen dieses Verhältnis – etwa in Gestalt der Aufhebungsthese – tatsächlich abgehandelt hätte.
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie
391
Da Hegel in § 573 auch die Philosophie als Philosophie bestimmt – genauer: die Philosophie sich selbst bestimmt –, spricht er im folgenden Nebensatz von der absoluten Form in derjenigen Form, in der sie in der Philosophie realisiert ist, in Form des begrifflichen Denkens: „… absolute Form, die sich selbst zum Inhalte bestimmt und identisch mit ihm bleibt und darin das Erkennen jener an und für sich seyenden Nothwendigkeit ist“. Hegel formuliert hier einmal mehr äußerst präzise. Während nämlich, wie eben gesagt, für alle drei Gestalten des absoluten Geistes gilt, dass sie die Offenbarung zum Inhalt und zur Form haben, gilt nur für die Philosophie, dass die Offenbarung als Form „sich selbst zum Inhalte bestimmt“. Mit „Bestimmung“ meint Hegel natürlich begriffliche Bestimmung. Und nur in der Philosophie führt der Vollzug der Offenbarung – der absoluten Form – zur begrifflichen Erkenntnis derselben, sodass sie als diese Form in der Form des begrifflichen Denkens der Inhalt der Philosophie ist, also „identisch mit ihm bleibt“, wie Hegel sagt. Hegel drückt dies als Selbstbestimmung der Form aus, weil Offenbaren eben das Offenbaren des Offenbarens ist – also sich selbst offenbart und, im Vollzug der philosophischen Selbsterkenntnis, sich begrifflich „bestimmt“.121 Denn was Offenbarung ist, können wir ja gerade nicht erkennen – ja ist uns nicht begrifflich bestimmt –, bevor Offenbarung sich für das Denken ereignet und gegen dessen Verkehrung, die auch die begriffliche Bestimmung der Offenbarung betrifft, durchgesetzt hat – und wir sie sodann durch Reflexion darauf als das, was sie wahrhaft ist, bestimmen können. Darin lag ja ein entscheidender Punkt im Aufweis der beiden einseitigen und verkehrten Formen: dass für sie Offenbarung ein Unding ist, mit dem sie – im Wortsinne – nichts anfangen können und das sie entsprechend begrifflich verkehrt bestimmen müssen. Nun hatten wir in Kapitel 7 gesagt, vom Standpunkt der „Wahrnehmung“ aus sei durchaus die begriffliche Bestimmung unserer Auffassung – ihr elementarsemantisches Verständnis – möglich, „nur“ nicht ihre Anerkennung, ein Überzeugtsein von ihr und ihrer Klarheit. Das scheint nun im Widerspruch zu stehen zur eben dargelegten These, dass nur durch das Ereignis der Offenbarung eine begriffliche Bestimmung derselben möglich wird. Der Widerspruch löst sich durch folgende, wichtige Differenzierung auf: zwar können wir jemandem, für den das Offenbaren (noch) nicht(s) ist, den Begriff erklären – aber darin, dass wir ihm selbigen erklären, liegt keine begriffliche Selbstbestimmung der Offenbarung durch und für sein Denken selbst vor. Diese ist nur gegeben, wenn die Offenbarung sich für das betreffende Subjekt ereignet hat und sich ihm damit sowohl als semantisch bestimmt als auch uno eodem actu als wirklich offenbart.122 121 Während Kunst und Religion sich nicht selbst begrifflich bestimmen, sondern „von außen“, von der Philosophie, begrifflich bestimmt werden. 122 Hier ist noch einmal an die schon zitierte Passage aus der Göschel-Rezension zu erinnern, in der Hegel sagt, dass das wirkliche Offenbaren „von einem Menschen nicht in den andern übergetragen werden kann“ (GR, 213). Wir können hier ergänzen: Versponnen scheint dem
392 8 Die Philosophie des absoluten Geistes als Vollendung der Metaphysik des Geistes (4) „Diese Bewegung, welche die Philosophie ist, findet sich schon vollbracht, indem sie am Schluß ihren eigenen Begriff erfaßt, d. i. nur auf ihr Wissen zurücksieht.“
Hegel fasst mit diesem Satz noch einmal alles zusammen, was im § 573 seinerseits zusammengefasst wurde. „Diese Bewegung“ meint also sowohl den Weg der Selbsterkenntnis vor der (Selbst‑)Entfaltung des absoluten Geistes in drei Gestalten als auch diese Entfaltung, mit der die philosophische Selbsterkenntnis vollendet wird. Nur, wenn beides nacheinander erfolgt ist, ist „die Philosophie“ im Ganzen bestimmt. Was im § 573 über diese Bewegung gesagt wird, ist nun nichts, was hier durch eine weitere Zutat realisiert würde, sondern was in „[d]iese[r] Bewegung“ eben „schon vollbracht“ ist. So begreift Philosophie, was sie ist – „erfaßt“ also „ihren eigenen Begriff “ wesentlich als etwas, das erkennt, dass das, was ihr Inhalt ist, nicht nur in ihr, sondern in zwei weiteren Gestalten des absoluten Geistes realisiert ist. All dies wurde in dieser Untersuchung rekonstruiert – und Hegel sagt zum Schluss, dass die Philosophie nun nunmehr darauf „zurücksieht“. Warum verwendet Hegel hier das Vokabular des „Sehens“? Erneut erweist sich Axel Hutters Vergleich der Logik des hegelschen „Ganzen“, das hier als solches in den Blick kommt, mit derjenigen des (Sinn‑)Ganzen eines Narrativs123 als sehr fruchtbar: Am Ende der ästhetisch gelungenen Lektüre eines Romans etwa befinden wir uns weder in einer Situation, in der wir nur das Ende – im Sinne der letzten Szene oder der letzten Seiten des Romans – vor Augen haben; noch aber haben wir das Ganze in dem Sinne präsent, dass wir alles in Form des „eines nach und neben dem anderen“ präsent haben. Passend ist stattdessen der Begriff der „Sammlung“ des Ganzen – oder, wie wir eben auch sagen, einer „Zusammenschau“. Dies meint auch Hegel hier. Der Begriff der „Schau“ bezeichnet dieses zusammen-präsent-Haben, das weder eine Akkumulation von allem neben‑ und nacheinander noch eine Reduktion auf eines – etwa das abschließende Moment – ist. Sehen wir uns das Beispiel des Romans an: Wenn in der letzten Szene ein Protagonist Suizid begeht, so „sehen“ wir diesen freilich anders vor dem Hintergrund der gesamten Erzählung, in der sich sein Charakter darstellte, z. B. seine Eitelkeit und seine Leidenschaftlichkeit. Ohne dies wäre dieser Suizid für uns nicht das, was er ist; noch ist er, was er ist, nur äußerlich mit seiner VorGeschichte verbunden. Diese ist ihm vielmehr intern. Dies „sehen“ wir im immer auch rückblickenden Gesamtblick auf das Ganze der Erzählung. Ganz so zeigt der Geist im Ganzen sein Gesicht im Ganzen des Weges der Selbsterkenntnis, der die Philosophie ist. Auch ihrer „Schlussszene“ ist die „Vorgeschichte“ intern – je konkret so, wie sie dargestellt wurde. Im Falle unserer Verkehrten der Begriff der Offenbarung gerade auch deshalb, weil wir ihn ihm darstellen und er sich ihm nicht selbst dargestellt hat. 123 Vgl. Hutter 2015.
8.6 § 573 und der Mythos von Hegels Aufhebung der Religion in die Philosophie
393
Untersuchung bedeutet das auch: Was es bedeutet, dass der absolute Geist „Angesprochensein“ ist, ist auch zu sehen in negativer Kontrastierung zum vermeintlichen Sprechen der Dinge, also zu dem Mythos, den uns der Standpunkt der „Wahrnehmung“ erzählt. Hier zeigt sich die Spitze von Hegels negativem Begriff des Begriffs, in Selbstanwendung auf seinen Geist‑ und Philosophiebegriff selbst: Geist ist wesentlich sprechend in dem Sinne, wie das Andere des Geistes nicht sprechend ist. Vorliegende Untersuchung war, so wollen wir ganz mit Recht sagen, „nicht nur“ eine Exegese Hegels. Ihre Anlage versuchte, auf den heutigen Zeit-Geist einzugehen, etwas zu artikulieren, das nicht Hegels Sache ist, sondern diejenige Sache, die auch Hegel zu artikulieren suchte. Gerade darin wollte und musste die Untersuchung aber nun voll eine Exegese Hegels sein: eben eine „aktualisierende Lektüre“ im Sinne einer nicht-starren, nicht-verwaltenden Wieder-Holung und An-Eignung der hegelschen Philosophie, wie sie gerade in den analytischen Rezeptionen vergessen ist. Entsprechend aber darf auch das „Zurücksehen“ am Ende unserer Untersuchung kein starres, tätigkeitsloses Ausruhen sein, das als solches leicht in die Verkehrung der Einsicht, dass der Geist unverfügbar ist und bleibt, kippen kann und dem aus der Philosophie selbst hervorgehenden Gebot, ihr weiter aktiv zu dienen und sie nicht eitel zu verwalten, nicht genügt. Eine Weise, dies zu realisieren, kann darin bestehen, sich der Aufgabe des individuellen sich-Bewegens in und zwischen den drei Gestalten des absoluten Geistes zu stellen; also in dem Sinne zu philosophieren, dass man dieses versteht und lebendig zum Ausdruck bringt als eine Art von Vollzug in Anerkennung unter zwei anderen. Besser noch, dass man auch in den beiden anderen Vollzügen sich bewegt, sich ihnen ohne das teuflische Gefühl der philosophischen Überlegenheit hingibt. In diesem Sinne ist das Ende auch der Anfang der Philosophie und dessen, was nicht Philosophie ist, von ihr nun aber auf ihrer Augenhöhe gewusst wird: Kunst und, vor allem, Religion. Was mit und nach diesem Anfang kommt aber gehört in kein Buch – sondern in das je eigene geistige Leben.
Schluss-Szene: Der Kampf um Anerkennung als Ausdruck der Sehnsucht nach geistiger Wirklichkeit Die beschließenden Bemerkungen soeben verbieten es, an den Schluss unserer Untersuchung eine repetitive Zusammenfassung von „allem“ zu stellen. Eher wird es dem Sinn, den ein „Schluss“ einer solchen Untersuchung haben kann, gerecht, eine Schluss-Szene aufzuführen, in der sich die aufgeführte Argumentation einerseits wie im Brennglas bündelt, die aber andererseits nur als deren SchlussSzene überhaupt Sinn macht. Zudem ist und bleibt sie bloß ein Epi-Logos, der den Logos nicht erst macht. Diese Schluss-Szene ist der (Kampf um den) Kampf um Anerkennung – der Fokus derjenigen einflussreichen Hegelrezeptionen der Gegenwart, die um den objektiven Geist zentriert sind. Sie verklären diesen Kampf zu einem gelingenden Prozess des Fortschritts im gesellschaftlichen Miteinander.1 Axel Honneth etwa schreibt thetisch: „‚Anerkennung‘ − die wechselseitige Beschränkung der eigenen, egozentrischen Begierde zugunsten des jeweils Anderen.“2
So stellt es sich bei Hegel wahrhaft nicht dar. Hegel hat gute Gründe, von einem Kampf um Anerkennung zu sprechen. Er bereitet seine Überlegungen dazu in der Tat mit Reflexionen zur „Begierde“ vor. Doch diese hat tiefe HinterGründe3: Das Selbstbewusstsein als solches ist, wie wir gesehen haben, formal oder leer. Das kann das Selbstbewusstsein qua Selbsterkenntnis erkennen – es kann aber auch diesseits dieser Erkenntnis stehen4, und dennoch schlägt sich die Tatsache seiner Leere für es nieder: nämlich in der „Begierde“.5 Diese ist 1 Pippin 2005 und Pippin 2011: 78 ff. moniert mit Recht an Brandom, dass er den Kampfcharakter des Kampfes ausblendet. 2 Honneth 2008, 204. 3 Zum – im Wortsinne – Tief-Gang der „Begierde“ und deren Ausblendung durch Honneth vgl. die Kritik von Cobben 2012: 92 ff. 4 Davon geht Hegel in Enz. 1830, § 426 aus, wenn er vom „Selbstbewußtseyn in seiner Unmittelbarkeit“ spricht. Und genau diese Anlage macht die Pointe des Fortgangs möglich, auf die dieser Epilog hindeuten will. 5 Mit diesem Terminus zeigt Hegel an, dass der Niederschlag dieser Tatsache nicht aus einer Selbsterkenntnis hervorgegangen ist, sondern auf einer gleichsam triebhaften Ebene lokalisiert. Das bedeutet mitnichten, dass diese triebhafte Ebene eine naturhafte, außergeistige Schicht wäre. Unsere Untersuchung hat ja gerade dafür argumentiert, dass der Geist keine solche Schicht zulässt. Auch diese triebhafte Ebene ist also geistig. Wir können, im Rückgriff auf
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Schluss-Szene
Begierde nach Berührung mit Realität oder Wirklichkeit – also mit anderem Geist, und nicht bloß mit Anderem des Geistes. Denn für einen „Gegenstand“, der bloß Anderes des Geistes ist, gilt, wie Hegel formuliert: „Der Gegenstand kann dieser Thätigkeit keinen Widerstand leisten, als an sich und für das Selbstbewußtseyn das Selbstlose […]“6. Ein Anhänger der Passivitätsauffassung kann gar nicht verstehen, wovon hier die Rede ist; ihm zufolge leisten die Dinge sehr wohl „Widerstand“: indem sie sich zeigen.7 Wir hingegen verstehen nun, wovon Hegel spricht: In jeder einzelnen sinnlichen Anschauung ist zwar das Selbstbewusstsein realisiert; es perpetuiert sich also im Übergang von der einen zur anderen Anschauung. Niemals aber ereignet sich darin eine Berührung mit Wirklichem, mit Geist, insofern er nicht Ich, als (einzelnes) Selbstbewusstsein, ist. Dieses Selbstbewusstsein ist somit also „als Einzelnes bestimmt und hat sich als solches erhalten, weil es sich auf das selbstlose Object nur negativ bezieht, dieses in sofern nur aufgezehrt wird.“8 „[A]ufgezehrt“ wird das „selbstlose Objekt“ freilich nicht nur in dem prinzipiellen und formalen Sinne, dass es nie etwas anderes als das Andere des Begriffs oder Geistes war und sein kann, sondern auch in dem konkreten und praktischen Sinne, dass das Selbstbewusstsein gerade deshalb prinzipiell voll über es verfügen, es beherrschen, es konsumieren oder vernichten kann. So es dies tut, bedarf es des nächsten Objekts, um in gleicher Weise seine Begierde zu stillen. Dies setzt sich im Sinne einer schlechten Unendlichkeit fort: „Die Begierde ist so in ihrer Befriedigung überhaupt zerstörend wie ihrem Inhalte nach selbstsüchtig, und da die Befriedigung nur im Einzelnen geschehen, dieses aber vorübergehend ist, so erzeugt sich in der Befriedigung wieder die Begierde.“9 Das Selbstbewusstsein findet im Umgang mit dem, was wesentlich nur für es ist – als das Andere des Geistes –, also prinzipiell keine Befriedigung. Diese würde ihm nur ein Umgang mit Wirklichem, eine Berührung mit Geist, gewisse Einsichten unserer Untersuchung, konkretisieren, was das bedeutet: Wir können von einem „Wissen“ dieser Begierde sprechen, das ein unbewusstes Wissen ist – analog, wie es in der Gewohnheit einen unbewussten Willen gibt. Und wir können dieses Wissen als Wissen um ein Defizit – um ein Nichtwissen – begreifen; als ein negatives Wissen, ein Wissen um das Nichterfülltsein der Berührung mit geistiger Wirklichkeit, auf die der Mensch als geistiges Wesen (somit selbstbewusst) hingeordnet ist. Damit behaupten wir also nicht, dass im Selbstbewusstsein (und seiner Begierde) als solchem schon eine positive Selbsterkenntnis liege, also kein – Rödl’sches – Wissen des Wissens, sondern ein – tief sokratisches – Wissen des Nichtwissens. 6 Enz. 1830, § 427 [Hvh. T. O.]. Emundts 2012: 70 sagt ganz zurecht: „‚Widerständigkeit‘ kann bei Hegel als ein grundlegender Begriff zur Bestimmung realer Gegenstände aufgefasst werden.“ Doch Emundts meint offenbar, raumzeitlich-materielle Gegenstände seien reale Gegenstände im Sinne Hegels. Das ist, wie wir argumentiert haben, gerade nicht der Fall. Es gibt nur einen wahrhaft widerständigen Gegenstand, nämlich den Gegenstand, der einziger Inhalt des einzig wahrhaft wissenden Bewusstseins ist: Gott als Offenbarung. 7 McDowell 1996 selbst gebraucht genau solche Begriffe: Er spricht – in seiner Verhältnissetzung von „Geist“ und „Welt“ – von „friction“ (18) und von „touch with […] reality“ (xiii). 8 Enz. 1830, § 428 [Hvh. T. O.]. 9 Enz. 1830, § 428.
Schluss-Szene
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der nicht Ich als einzelnes Selbstbewusstsein bin, gewähren – ein „Dasein der Freiheit“, wie Hegel auch sagt. Soweit zum Hintergrund des Kampfes um Anerkennung. Dessen Ausgangspunkt – die scheinbare Möglichkeit einer Begegnung mit Geist in meinem Gegenüber – fasst Hegel so zusammen: „Es ist ein Selbstbewußtseyn für ein Selbstbewußtseyn, zunächst unmittelbar als ein Anderes für ein Anderes. Ich schaue in ihm als Ich unmittelbar mich selbst an, aber auch darin ein unmittelbar daseyendes, als Ich absolut gegen mich selbständiges anderes Object“10.
Dass das „Andere[.]“, mein Gegenüber, ein Selbstbewusstsein ist, wird also initial gewusst: „Ich schaue in ihm als Ich mich selbst an“, so Hegel. Nimmt man diese Bemerkung isoliert und denkt an das einander-in-die-Augen-Sehen zweier Gegenüber, so könnte man meinen, dass in diesem einander-Anschauen (als unmittelbarem Wissen voneinander als Iche) schon die Befriedigung liegt, nach der das einzelne Selbstbewusstsein begierig strebt. Denn in diesem einander-Anschauen, so scheint es, tritt ihm ja das Andere als Geist entgegen, wie dies für ein Objekt, das bloß Anderes des Geistes ist, nicht gilt. Doch nach Hegel reicht dies nicht für die Befriedigung zu, nach der das einzelne Selbstbewusstsein in seiner Begierde strebt. Nicht nur, dass das Andere zunächst auch nur dasselbe ist wie ich: (ein oder das) Ich. Sondern: Das besagte einander-Anschauen als Iche bestimmt das Verhältnis der beiden Iche zueinander gar nicht vollständig; vielmehr ist auch zu sagen, dass das Andere „auch darin ein unmittelbar daseiendes, als Ich absolut gegen mich selbständiges anderes Object“ ist. Damit – durch das Wort „Objekt“ – zeigt Hegel an, dass das unmittelbare Wissen vom Anderen als Ich im einander-Anschauen nicht die Objektivierung suspendiert, die wesentlich in unserer sinnlichen Anschauung liegt: dass alles, was wir anschauen (können), wesentlich gesetztes Objekt, Anderes des Geistes und somit nur für uns ist. Konkret deutlich machen lässt sich dies am einander-in-die-Augen-Sehen: Ich repräsentiere den Anderen dabei auch als so-und-so-Schauenden; sein Schauen ist niemals rein und unmittelbar so für mich, wie es von sich aus ist.11 Darin liegt eine kategoriale Differenz zum Angeschautwerden durch ein Kunstwerk: darin schaut mich der absolute Geist an, der sich als absoluter unbedingt Bahn bricht, der also meine Tätigkeit des sinnlichen Anschauens voll zum Gefäß für sein Anschauen oder sich-Zeigen macht. Ihm strebt das Selbstbewusstsein faktisch nach in seinem „Trieb, sich als freies Selbst zu zeigen und für den Anderen als solches da zu sein“, im, wie Hegel diese Bewegung nun nennt, „Proceß des Anerkennens“12. Enz. 1830, § 430. Nimmt man das an, liest man den Kampf um Anerkennung verkitscht. 12 Enz. 1830, § 430. 10 11
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Das eine Selbstbewusstsein muss darin, um mit einem anderen Selbstbewusstsein als Subjekt (und also als nicht-Objekt) in Berührung zu kommen und dadurch seine Befriedigung zu finden, diese Objektivation also suspendieren. Das kann geschehen, indem das andere Selbstbewusstsein mich zu (s)einem Objekt macht und also als (objektivierendes) Subjekt annihiliert. Doch das hat freilich zufolge, dass ich nicht mehr als Subjekt meine Befriedigung finden kann. Das kann ich nur, insofern ich auch als Subjekt erhalten bleibe. Doch ist es überhaupt möglich, dass ich als Subjekt annihiliert werde? Nach Hegel lässt sich das, was dadurch erreicht werden soll, tatsächlich nur so erreichen: Die Objektivation lässt sich dadurch suspendieren, dass die Sinnlichkeit des je Anderen, durch die er überhaupt erst Objekt der sinnlichen Anschauung sein kann, getilgt wird. Im Falle eines Selbstbewusstseins ist die Sinnlichkeit, wie Hegel sagt, dessen „Leiblichkeit“: Wir sehen den Leib des Anderen. Der Ausbruch dieser Tilgung, so Hegel, ist „ein Kampf; denn ich kann mich im Andern nicht als mich selbst wissen, in sofern das Andere ein unmittelbares anderes Daseyn für mich ist; Ich bin daher auf die Aufhebung dieser seiner Unmittelbarkeit gerichtet. Eben so sehr kann Ich nicht als unmittelbares anerkannt werden, sondern nur in sofern Ich an mir selbst die Unmittelbarkeit aufhebe und dadurch meiner Freiheit Daseyn gebe. Aber diese Unmittelbarkeit ist zugleich die Leiblichkeit des Selbstbewußtseyns, in welcher es als in seinem Zeichen und Werkzeug, sein eignes Selbstgefühl und sein Seyn für Andere, und seine es mit ihnen vermittelnde Beziehung hat.“13
Konkret würde die Suspendierung der Objektivation also in der Annihilation der Leiblichkeit, also im Tod bestehen. Damit aber gilt für das nach Befriedigung strebende Selbstbewusstsein: insofern es selbst stirbt, kann es trivialiter keine Befriedigung im anderen Selbstbewusstsein mehr finden; insofern das andere Selbstbewusstsein stirbt, kann dieses nicht mehr dasjenige sein, an dem es seine Befriedigung findet. Deshalb ist der beschriebene Prozess, den Hegel den „Kampf um Anerkennung“ nennt, widersprüchlich – er ist auf Leben und Tod aus: „Der Kampf des Anerkennens geht also auf Leben und Tod; jedes der beiden Selbstbewußtseyn bringt das Leben des Andern in Gefahr und begiebt sich selbst darein, aber nur als in Gefahr, denn ebenso ist jedes auf die Erhaltung seines Lebens, als des Daseyns seiner Freiheit gerichtet.“14
Dieser Kampf um Anerkennung – der Drang nach absoluter Suspendierung der objektivierenden Anschauung zur Begegnung mit wahrhaft wirklichem Geist15 – ist in sich ein „Widerspruch“, wie Hegel ausdrücklich sagt.16 In ihm gründet dieses Dilemma: Wird die Objektivation nicht suspendiert, lässt sich die Be13 Enz.
1830, § 431. Enz. 1830, § 432. 15 Wir sahen: Es gibt dies so nur in der Kunst, also nicht unterhalb des absoluten Geistes. 16 Enz. 1830, § 432. 14
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friedigung in der Begegnung mit (anderem) Geist im Sinne eines „Daseyns seiner Freiheit“ nicht realisieren; wird sie durch den Tod suspendiert, lässt sie sich ebenso nicht im Sinne eines „Daseyns seiner Freiheit“ realisieren. Der Ausweg aus diesem Dilemma besteht nun darin, dass die Objektivation nicht suspendiert wird, sondern realisiert wird als Selbst-Objektivation eines Subjekts. In dieser Selbst-Objektivation, die nur ein Subjekt als Subjekt vollziehen kann, ist und bleibt es also durch und durch Subjekt, aber so, dass es als dieses Subjekt zugleich wesentlich für ein anderes Subjekt ist – ohne dass dieses es, wie im Falle der sinnlichen Anschauung, von sich aus zum Objekt machen würde oder könnte. Besagte Selbst-Objektivation eines Subjekts ist die knechtische Unterwerfung unter ein anderes Subjekt, das daraus als Herr hervorgeht: „Indem das Leben so wesentlich als die Freiheit ist, so endigt sich der Kampf zunächst als einseitige Negation mit der Ungleichheit, daß das eine der Kämpfenden das Leben vorzieht, sich als einzelnes Selbstbewußtseyn erhält, sein Anerkanntseyn aber aufgibt, das Andere aber an seiner Beziehung auf sich selbst hält und vom Ersten als dem Unterworfenen anerkannt wird: – das Verhältniß der Herrschaft und Knechtschaft.“17
Damit ist die Befriedigung „erfüllt“: Das eine Selbstbewusstsein erfährt die Wirklichkeit des Geistes als Ausübung von Macht über es, das andere hingegen als Unterwerfung unter es – also als absolut grundlos asymmetrische „Anerkennung“. Diese Macht aber ist nur durch die aktive Unterwerfung – anders als im Falle der sinnlichen Anschauung, in der die Macht des Geistes ohne Widerstand und ohne aktive Unterwerfung des Objekts ist. Doch „erfüllt“ muss hier somit in markante Anführungszeichen gesetzt werden: denn erfüllt sollte ja auch das „Daseyn der Freiheit“ werden, also wahrhaft geistiges Dasein. Wie nun die besagte Befriedigung – die Begegnung mit Wirklichkeit, mit Geist – faktisch erfüllt ist, ist dieses Dasein der Freiheit unter der Hand zum Etabliertsein eines herrschaftlichen Machtgefüges geworden, in das die Leiblichkeit qua Gewaltausübung integriert ist. Diese Rekonstruktion des Kampfes um Anerkennung ist offenbar nur dann verfügbar, wenn man eingesehen hat, dass schon in der bloßen Form unserer Akte des Bewusstseins die aktive Objektivation liegt. Wir haben dies eingesehen, indem wir den Akt der Anschauung als aktive Aktualisierung begrifflicher Vermögen begriffen haben, durch welche das repräsentierte Objekt als ein Objekt im Sinne des Anderen des Geistes gesetzt ist – und damit nicht selbst Geist, nicht selbst Subjekt, nicht selbst aktiv, nicht selbst sich-Zeigendes ist. Auffassungen und Hegel-Lesarten, die die sinnliche Wahrnehmung als sich-Zeigen des Objekts bestimmen, können also gar nicht begreifen, worin der Kampf um Anerkennung gründet – und diesen weder exegetisch noch systematisch angemessen verstehen. Sie haben dann zwei Manöver zur Verfügung, mit der Objektivation umzugehen: entweder, sie ignorieren sie – exegetisch wie systematisch – und Enz. 1830, § 433.
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verkitschen damit das unmittelbare Wissen voneinander in Form des einanderAnschauens zu einer Erfüllungsszene – wobei zudem offen bleiben muss, warum dann überhaupt eine ungestillte Begierde aufbricht. Oder aber, sie tragen der Objektivation Rechnung, müssen sie aber – da sie sie nicht als Form unserer Akte des Bewusstseins überhaupt begreifen – gleichermaßen von außen an den Kampf um Anerkennung herantragen – etwa, indem behauptet wird, es lägen bestimmte herrschaftliche Machtverhältnisse zugrunde, in denen das Individuum zum Objekt (z. B. zur Ware) degradiert sei. Damit aber sind die Begründungsverhältnisse pervertiert: während Hegel aus der qua Form des Bewusstseins gegebenen Objektivation die Entstehung herrschaftlicher Machtverhältnisse begründet, verfährt diese Lesart umgekehrt. Es ist kein Zufall, dass solche Lesarten zumeist (neo‑)marxistisch sind. Denn der (Neo‑)Marxismus ist wesentlich materialistisch; und wie unsere Diskussion dieser metaphysischen Position gezeigt hat, besteht der Wesenskern des Materialismus in der Auffassung, dass die Natur sich uns tätig zeige und daher das eigentliche Metaphysicum, das eigentlich Tätige und Bewegende, sei. Unter Voraussetzung dieser Verkehrung ist der adäquate Blick auf die Gründung herrschaftlicher Machtverhältnisse in der qua Form des Bewusstseins gegebenen Objektivation notwendig versperrt. Die Umkehrung des Begründungsverhältnisses läuft aber so zudem auf eine Verharmlosung der geistigen Abgründigkeit bestehender herrschaftlicher Machtverhältnisse hinaus. Denn sie verdeckt die Tatsache, dass deren Wurzel in der Form des Bewusstseins – und damit des Menschseins, wie wir es von uns kennen – liegt, und suggeriert stattdessen, das Menschsein müsste schon in die Zwangslage extern aufoktroyierter Machtverhältnisse gebracht sein, wenn Objektivation einmal statthat. Das wirft freilich die Frage auf: Wie wäre nun ein „Kampf um Anerkennung“ zu denken, wenn der Materialismus recht hätte? Nun, er würde nicht in Gang kommen. Nicht nur deshalb, weil die beschriebene Objektivation als Problemgrund fehlte, sondern auch, weil in jedem Akt der sinnlichen Wahrnehmung ja schon eine Begegnung mit dem Realen, mit dem Metaphysicum – der Natur – realisiert wäre. Daraus ergibt sich eine zutiefst ins Abgründige weisende Diagnose: Konsequent gedacht müsste einem solchen Standpunkt die wahre Abgründigkeit herrschaftlicher Machtverhältnisse ein Rätsel bleiben – das, weil er den Menschen gar nie abgehoben hat von der Natur, Geist im Ganzen nicht abgehoben hat von der Natur. Er muss daher, einerseits, das einander-Anschauen der Menschen verkitschen, es zum anderen aber als eine Form natürlicher Harmonie fassen. Doch kehren wir zurück zu unserer Lesart des Kampfes um Anerkennung. Es steht zu erwarten, dass sie der gesamten hegelschen „Lehre“ der Vernunft und des objektiven Geistes einen entscheidenden Eintrag tun müsste. Dieser wäre konkret erst aufzuweisen in einer Relektüre der einschlägigen Texte, die wir hier nicht mehr leisten können. Eine entscheidende Frage dabei würde sein, ob
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von den Institutionen des objektiven Geistes zu erwarten ist, dass sie die in der Form des Bewusstseins qua Objektivation wurzelnden herrschaftlichen Machtverhältnisse in bessere transformieren können. Das könnten sie auf zwei sehr unterschiedliche Weisen tun: durch eine symptomatische Behandlung, indem sie also das Leben unter diesen Bedingungen erträglich oder möglichst gut machen. Das wäre die bescheidene, pragmatische Sicht auf den Staat. Oder durch eine ursächliche Behandlung, indem sie das Bedürfnis nach Berührung mit Wirklichkeit – also Geist – selbst stillen und so den Kampf um Anerkennung radikal befrieden. Das können sie freilich nur, wenn sie selbst Geist sind. Das ist wohl Hegels These gewesen. Abgesehen von der Frage, wie sich diese These näher auffassen lassen soll, birgt ihr Inhalt eine unmittelbare Gefahr: dass die Begegnung mit solchem Geist faktisch nichts anderes wäre als das einer-Macht-Ausgesetztsein, also eine profunde Objektivation des Individuums durch den Staat. Doch dann stünde dieses geistige Verhältnis gar nicht auf einer höheren Stufe als das Resultat des Kampfes um Anerkennung selbst. Unsere Lesart nährt damit das Misstrauen, das Hegels Staatsphilosophie immer wieder erweckt hat. Ist dieses Misstrauen berechtigt, so empfiehlt sich die bescheidene, pragmatische Sicht auf den Staat. Das Wort vom Staat als „irdischem Gott“ müsste dann mit einer unendlichen Betonung auf „irdisch“ gelesen werden, die „Gott“ – als „Versöhner“ – zu einem bloß pragmatischen Konfliktmanager macht. Dieser mag der Staat – vielleicht der ideale – sein; er wäre also wesentlich kein Gott, sondern ein Gebilde, das den Eindruck eines solchen Anspruchs sogar aktiv zu vermeiden hätte. Die „Versöhnung“, von der Hegel so viel spricht, wäre dann dem eigentlichen und einzigen Gott vorbehalten – und damit dem Geist, insofern er absoluter Geist ist. Die Gestalten des absoluten Geistes gewähren dem einzelnen und besonderen Selbstbewusstsein – als Individuum – eine reale Begegnung mit dem Geist in seiner Fülle. Für Individuen, die in einer solchen Begegnung stehen, ist das Bedürfnis nach Begegnung mit der Wirklichkeit des Geistes also in unüberbietbarer Weise gestillt. Die Begierde des Kampfes um Anerkennung käme in ihnen gar nicht mehr auf. Von daher ist es auch zu verstehen, dass Hegel die Formen der Gemeinschaftlichkeit preist, die in den Gestalten des absoluten Geistes – vor allem in der Religion – liegen: Das Individuum, das die Eucharistie oder das Abendmahl empfängt, reicht dem Anderen die Hände, ohne darin und dadurch die Begegnung mit Wirklichkeit oder Geist erzwingen zu wollen oder zu müssen. Denn es hat sie bereits in unüberbietbarer Form gehabt, aus deren Fülle sodann die Begegnung mit dem Anderen zwanglos, ohne Begierde eine geistige werden kann. Wenn Hegel nun vom „Geist in seiner Gemeinde“18 spricht, so ist dies keineswegs als eine Auflösung der Religion in einer säkularen Gesellschaft zu verstehen, sondern vielmehr als Verweis auf diejenige Erfüllung von Intersubjektivität, die in deren Entlastung vom Herstellenmüssen einer erstmaligen Enz. 1830, § 554 A.
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Begegnung mit der Wirklichkeit des Geistes liegt.19 Ein Individuum, das vollkommen in der Begegnung des absoluten Geistes stünde, wäre prinzipiell nicht zur Macht verführbar, da es den Ausgangspunkt der Bewegung zur Macht – die unerfüllte Begierde nach Begegnung und Berührung mit geistiger Wirklichkeit, mit ihrem Widerstand – schon immer überwunden hätte, weil ihm diese Begierde schon in unüberbietbarer Weise gestillt ist. Der Kampf um Anerkennung ist im Lichte all dessen also nicht, wie Honneth meint, „die wechselseitige Beschränkung der eigenen, egozentrischen Begierde zugunsten des jeweils Anderen“, sondern eine Tragödie der reziproken Inhumanität. Ihre Tragik liegt darin, einen notwendigen und durchwegs hehren Grund zu haben – die Sehnsucht nach Berührung mit geistiger Wirklichkeit –, im Falle des Ausbleibens ihrer metaphysischen Erfüllung aber ebenso notwendig in die Inhumanität zu führen. Der Ausgangspunkt dieser Tragödie findet seinen für uns alle plastischen Ausdruck darin, dass wir einander niemals wirklich in die Augen sehen können. Die erfüllte Schau ist das, was uns qua Bewusstsein und dessen Form der Objektivation verloren ist. Wir hatten schon gesehen, dass der Hang zum Verkehrten intern mit der Form der Diskursivität verbunden ist – und sehen ihn nun eben auch unter dem Aspekt, dass er intern mit der Form des Bewusstseins verbunden ist.20 Während die Diskursivität der Selbsterkenntnis – sofern sie gelingt, was jedoch unverfügbar ist – die Begegnung mit Gott wiederherstellen und die ewige Schau zumindest nach-vollziehen kann, ermöglicht der Kampf um Anerkennung eine geistige Be-Gegnung nur in Gestalt herrschaftlicher Machtverhältnisse und um den Preis der Freiheit, dessen Dasein diese Begegnung eigentlich sein sollte. Doch im Bedürfnis, das dem Kampf um Anerkennung zugrundeliegt, zeigt sich unbeschadet dessen, dass das Absolute immer schon „bei uns“ ist: dass das Selbstbewusstsein, qua Geist, auch dann noch eine Sehnsucht nach Geist hat, wenn es in sich verkehrt ist. Von dieser weiß es selbst sodann nichts – aber die Philosophie kann Symptome dieser Sehnsucht als solche dechiffrieren. In diesem Sinne ließe sich mit Hegel – und vielleicht auch gegen ihn – auf intersubjektive, gesellschaftliche und staatliche Prozesse blicken und eine neue, negative Philosophie des objektiven Geistes schreiben. Sie muss herausstellen, dass menschliche Gemeinschaft nur dort gelingen kann, wo die Sehnsucht nach Geist sich nicht am anderen Menschen stillen muss; denn so führt sie zu Tod oder zu ungleichen Herrschaftsverhältnissen. Und sie muss herausstellen, dass das nachmetaphysische Zeitalter diese beiden Möglichkeiten in der Tat ideologisch beschwört.
19 Und somit als Bekräftigung der alten Einsicht, dass die (unsichtbare) Kirche der ideale Staat wäre, weil sie ihn überflüssig machen würde. 20 So präsentiert Hegel den Sündenfall.
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III. Hinweise zur Zitation der Werke G. W. F. Hegels Die Werke G. W. F. Hegels werden mit den unter I. angegebenen Siglen und aus den unter II. aufgeführten Ausgaben, denen die Siglen zugeordnet sind, sowie unter Angabe der jeweiligen Seitenzahl in der jeweiligen Ausgabe zitiert, z. B. „PhG, 10“. (Eine Ausnahme stellt die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830) dar, bei der nur die Nummer des zitierten Paragraphen (ggf. mit „A“ für „Anmerkung“ und „Z“ für „Zusatz“), nicht aber zusätzlich die Seitenzahl angegeben wird.) Hegels Hauptwerke, die Phänomenologie des Geistes sowie der Haupttext (samt Anmerkungen) der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), werden durchwegs nach der Kritischen Edition der Gesammelten Werke (GW) zitiert. Auch alle sonstigen Werke Hegels werden – soweit dem Stand der Edition nach möglich und der Traditionsgeschichte nach sinnvoll – nach den Gesammelten Werken (GW) zitiert. Sperrungen im Originaltext werden als Kursivierungen wiedergegeben; vom Verfasser (T. O.) vorgenommene Änderungen der Hervorhebungen werden als solche markiert, durch den Zusatz „[Hvh. T. O.]“ nach dem Zitatbeleg. Bei Wiederholungen von bereits belegten Zitaten oder Zitatausschnitten im weiteren Text werden Änderungen der Hervorhebungen nicht mehr als solche markiert. Auslassungen und Änderungen in Zitaten werden durch eckige Klammern markiert und entsprechend kenntlich gemacht, z. B. „[.]“ für ein ausgelassenes Zeichen, „[…]“ für eine längere Auslassung, „Gott[es]“ für eine im Zitatkontext grammatisch notwendige Anpassung, „[sc. Gott]“ zum Explizitmachen von Bezügen, „[sc. der Geist, T. O.]“ für eingefügte kommentarische Erläuterungen vom Verfasser (T. O.). (Hinweis: Die Einfügung „[.]“ steht immer für ein ausgelassenes Zeichen, niemals für einen eingefügten Punkt.)
IV. Weitere Literatur Weitere Literatur wird unter Angabe des Autor/innen-Nachnamens, der Jahreszahl der Publikation sowie der jeweiligen Seitenzahl zitiert, z. B. „Wittgenstein 1985c: 25“. Die Kleinbuchstaben „a“, „b“, „c“ … dienen zur Unterscheidung von Werken derselben/ desselben Autorin/s mit demselben Publikationsjahr.
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Literaturverzeichnis
Bei Werken, für deren Zitation Siglen verwendet werden, finden sich diese unter I. angegeben und in unten stehender Auflistung dem betreffenden Werk und seiner Ausgabe zugeordnet. Bei einigen wenigen Werken werden im Zitat zusätzlich zur Seitenzahl werk-/autorenübliche Arten von Stellenangaben verwendet, so z. B. die Angabe der B-Paginierung von Kants Kritik der reinen Vernunft oder der Paragraphen in Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen. Auslassungen und Änderungen in Zitaten werden durch eckige Klammern markiert und entsprechend kenntlich gemacht, z. B. „[.]“ für ein ausgelassenes Zeichen, „[…]“ für eine längere Auslassung, „sündhaft[en]“ für eine im Zitatkontext grammatisch notwendige Anpassung, „[sc. die Wahrnehmung]“ zum Explizitmachen von Bezügen, „[sc. der verkehrte Standpunkt, T. O.]“ für eingefügte kommentarische Erläuterungen vom Verfasser (T. O.). Adorno, Theodor W. 1970, Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (Frankfurt a. M.: Suhrkamp). Anscombe, Gertrude E. M. 1957, Intention (Cambridge [MA]: Harvard University Press). – 1993, „Causality and Determination“, in: E. Sosa / M. Tooley (Hgg.), Causation (Oxford: Oxford University Press), 88–104. Appel, Kurt 2018, „Das Dieses ist ein Baum ist ein Baum. Der absolute Geist als freies Dasein der Wirklichkeit in Hegels Phänomenologie des Geistes“, in: T. Oehl / A. Kok (Hgg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte (Leiden/Boston: Brill), 57–80. Arndt, Andreas 2018, „Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist“, in: T. Oehl / A. Kok (Hgg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte (Leiden/ Boston: Brill), 709–719. Augustinus, Aurelius 2009, Confessiones (Stuttgart: Reclam) [= Confessiones]. Baker, Gordon P. / Hacker, Peter M. S. 2009, Wittgenstein: Rules, Grammar and Necessity − Volume 2 of an Analytical Commentary on the Philosophical Investigations – Essays and Exegesis of §§ 185–242, second edition, extensively revised by P. M. S. Hacker (Oxford: Wiley-Blackwell). Block, Ned 1995, „On a Confusion about a Function of Consciousness“, in Behavioral and Brain Sciences 18:2, 227–247. – 2005, Review of Action in Perception by Alva Noë, in Journal of Philosophy 102:5, 259– 272. Bowman, Brady 2008, „Kraft und Verstand. Hegels Übergang zum Selbstbewußtsein in der Phänomenologie des Geistes“, in: K. Vieweg / W. Welsch (Hgg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne (Frankfurt a. M.: Suhrkamp), 153–168. Boyle, Matthew 2016, „Additive Theories of Rationality: A Critique“, in European Journal of Philosophy 24:3, 527–555. Brandom, Robert B. 1994, Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment (Cambridge [MA]: Harvard University Press). – 2019, A Spirit of Trust. A Reading of Hegel’s Phenomenology (Cambridge [MA]: Harvard University Press). Brewer, Bill 2008, „Perception and Content“, in: J. Lindgaard (Hg.), John McDowell. Experience, Norm, and Nature (Malden [MA]/Oxford: Blackwell Publishing), 15–31.
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Namensregister Die Kursivierung von Seitenzahlen zeigt an, dass die Textstelle sich in einer Fußnote findet.
Adam 198 Adorno, Theodor 293, 304, 321, 361 Anscombe, Elizabeth 234, 243, 244 Anselm von Canterbury 353, 357 Appel, Kurt 286 Aristoteles 66, 249, 298 f. Arndt, Andreas 322 Augustinus 150 f. Austin, John 57 Baker, Gordon 172 Benjamin, Walter 295 Block, Ned 5, 175, 201 Bowman, Brady 90 Boyle, Matthew 3 Brandom, Robert 2, 44, 68 f., 80 f., 84 f., 87, 216 f., 275, 327, 395 Brewer, Bill 3, 58 Burge, Tyler 175, 201 Cobben, Paul 395 Conant, James 3, 109 Corti, Luca 175 Cusanus, Nikolaus 353 Dangel, Tobias 299 Danz, Christian 353 Davidson, Donald 4, 153, 174, 176, 249 DeVries, Willem 182 Dierken, Jörg 345, 346, 355, 363, 379 Dretske, Fred 175 Dreyfus, Hubert 6 Drilo, Kazimir 277, 291, 347, 390 Dummett, Michael 42 El Kassar, Nadja 58 Emundts, Dina 31, 39, 86, 90, 271, 277 f., 396 Fichte, Johann Gottlieb 71, 208, 317, 318 Förster, Eckart 75, 274, 319
Forman, David 129, 175 Frank, Manfred 77 Frege, Gottlob 42–44, 200, 269 Fulda, Hans Friedrich 273, 313, 323, 329 Gabriel, Markus 24, 242, 343 Gadamer, Hans-Georg 205 Gethmann-Siefert, Annemarie 372, 376 Gettier, Edmund 35 f. Göschel, Carl Friedrich 277, 353, 391 Graf, Friedrich Wilhelm 354 Habermas, Jürgen 273, 323, 329 Hacker, Peter 172, 244, 275 f. Haddock, Adrian 230 Halbig, Christoph 71, 183, 193 Halfwassen, Jens 325 Heidegger, Martin 13, 20, 22, 186, 327, 337, 341 Henrich, Dieter 22, 203, 317 f. Hermanni, Friedrich 301, 346 Heßbrüggen-Walter, Stefan 4, 233 Hindrichs, Gunnar 355, 361 von Hofmannsthal, Hugo 118 Honneth, Axel 395, 402 Horstmann, Rolf-Peter 155, 292 Houlgate, Stephen 16, 71, 116, 182, 286 Hutter, Axel 14, 15, 21, 63 f., 75, 80, 150, 174, 176, 208, 229, 251, 264–267, 275 f., 294, 313, 317, 321, 347, 392 Inwood, Michael 149 Jaeschke, Walter 274, 289, 341, 342, 345, 348, 353, 354, 355 f., 360, 361–363, 372, 380, 381, 382 f., 388 Jesus von Nazareth 303, 342 f., 345 f., 348, 350, 359–361 Johannes (Evangelist) 74 Jüngel, Eberhard 301
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Namensregister
Kafka, Franz 226 Kant, Immanuel 6, 16, 21, 48, 51, 53, 60, 64, 65, 89, 90, 103, 137, 153, 155, 159, 173, 179, 183, 193, 201, 210, 217, 223–227, 234 f., 237 f., 246, 285 Kanterian, Edward 43 Kern, Andrea 4, 35, 36, 136, 139 f., 145, 150, 179, 233, 238, 250 Kierkegaard, Sören 21, 79 Knappik, Franz 78, 122 Koch, Anton Friedrich 31, 47, 284 Kok, Arthur 320, 323 Korsch, Dietrich 345 Korsgaard, Christine 141 Luhmann, Niklas 215 Macpherson, Fiona 230 Magrì, Elisa 129 Martin, Christian 105 f., 238, 306 Marx, Karl 231 f., 400 McDowell, John 2–262 Melica, Claudia 333 Melichar, Hannes Gustav 306, 355 Menke, Christoph 293 Merker, Barbara 130 Merleau-Ponty, Maurice 6, 120 Moore, Adrian 275 f. Mooren, Nadine 329, 357, 381 f. Nietzsche, Friedrich 348 Noë, Alva 5, 6, 211 Nonnenmacher, Burkhard 300 Novakovic, Andreja 137 Oehl, Thomas 136, 203, 299, 301, 313, 320, 323, 347 Pannenberg, Wolfhart 301, 360 Peperzak, Adriaan 264 Pinkard, Terry 129, 175 Pippin, Robert 326, 395 Platon 42, 44, 172, 325 Plevrakis, Ermylos 323 Proops, Ian 53 Quante, Michael 188 Ratzinger, Joseph 293 Rentsch, Thomas 345
Ringleben, Joachim 295, 325 Rödl, Sebastian 3, 5, 24, 66, 71, 85, 136, 139 f., 145, 146, 201, 202, 204, 208, 216, 229–233, 237, 238, 242 f., 245, 256, 273, 284, 311, 314 Roessler, Johannes 7, 122, 213 Rohls, Jan 353, 379 Rosefeldt, Tobias 292 Rosenhauer, Sarah 293 Rosenzweig, Franz 184, 333, 377 Rózsa, Erzsébet 326 Sans, Georg 163, 300, 308, 342, 379 Sartre, Jean-Paul 163 f. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 77, 316 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 215 Schürmann, Eva 178 Sellars, Wilfrid 2, 44, 48, 173, 178, 249 Siep, Ludwig 39, 90 Sokrates 83, 172, 208, 396 Spinoza 66, 231 Stanley, Jason 257 Stekeler-Weithofer, Pirmin 39, 42, 108, 160, 210, 211, 233, 257, 283 Stern, Robert 31 Strauß, David Friedrich 348 Strawson, Peter 117, 275 Sturm, Erdmann 351 Textor, Mark 43 Theunissen, Brendan 268 f. Theunissen, Michael 77, 291, 303, 304, 306, 317, 349, 382–384 Thompson, Michael 55, 58, 60 Travis, Charles 3, 56–58, 63, 117 Vieweg, Klaus 76 Vossenkuhl, Wilhelm 199, 244, 291, 345 Wagner, Falk 289, 329, 342, 345, 353, 354, 360 Wenz, Gunther 295, 372 Westphal, Kenneth 39, 50 f., 105 Westphal, Merold 54 Willaschek, Marcus 233 Wittgenstein, Ludwig 16, 53, 55, 86, 115 f., 118, 149, 150, 172, 198, 199, 202, 244 f., 249, 258, 261, 276, 283, 339
Begriffsregister Die Kursivierung von Seitenzahlen zeigt an, dass die Textstelle sich in einer Fußnote findet. Die Fettsetzung von Seitenzahlen zeigt an, welche Textstellen für das entsprechende Stichwort besonders einschlägig sind. a priori 48, 100, 115–122, 134, 142 f., 159, 234– 236, 238, 240 f., 254, 296 Abendmahl 345–352, 362, 373 f., 401 – siehe auch Eucharistie Abrichtung 128, 176 Absolute, das 15, 24, 25, 34, 63, 65 f., 73, 217, 229, 271, 281, 286, 300, 310, 317, 318, 322, 326, 390, 402 – siehe auch Geist, Geist, absoluter – siehe auch Gott Act/act/action 5, 110, 126, 138, 141, 178, 201 actus purus 291 f., 298 f. Analytische Philosophie 3, 11, 14, 29, 33, 42, 50, 58, 109, 122, 172–177, 202, 210, 213, 238 f., 249 – Hegelrezeption durch die 2, 23–25, 71, 287, 393 Ästhetik 118 f., 228, 364 f. Ästhetizismus, negativer 377 Affirmation 179, 183 Akt 126, 202 – siehe auch Act/act/action – repräsentationaler 35 – selbstbezüglicher 105 Aktivität – der Aufmerksamkeit 10, 92, 115–123, 136, 138–147, 165, 179, 185, 211 f., 218, 241, 368 – initiale 340, 367–369, 374, 383, 386 – der Wahrnehmung 25, 105, 168 f., 272 – willentliche 123, 132, 135 f., 141, 165–167, 214, 247 Aktualisierung von Begriffen 1, 3, 17–19, 58, 91, 114, 117, 153, 156, 157 f., 213, 240 – aktive vs. passive 1, 3, 17–19, 92, 121, 126, 146 f., 182, 205, 212 – positive vs. negative 166–172 Allgemeinheit 39–46, 125, 192, 251–256, 331 – Bewusstsein der 140
– positive vs. negative 39–46, 67, 92, 96, 106 als-Struktur 2, 46–54, 54–60, 60–66, 90, 93, 155–159, 200–203, 370 – siehe auch Kategorien an sich 10, 20, 33–38, 66, 72 f., 199 f., 301 f., 306 – siehe auch Wahrheit/Wahres Analogie 140, 168, 198, 333, 371 Andacht 347–351, 367 Andere, das 65, 71, 103, 196, 217–219, 295 f., 300 f., 396–399 – des Geistes 182, 205, 215 f., 217–219, 227, 377, 393, 396–399 Aneignung 23, 128–132, 142, 149, 321 Anerkennen, siehe Anerkennung Anerkennung 171, 254, 271 f., 307, 322, 379, 388–391, 395–397 Anfänger 139 Angesprochenwerden 332–338, 350–353 – von Gott 333, 355, 367, 377 Anrede 333–337, 357 Anschauung 12, 48, 113, 116 f., 143 f., 183, 209–219, 223–226, 234–242, 245–248, 364–366 – siehe auch Kunst – Form der, siehe Kunst – ~shandlung, siehe Wahrnehmung, Wahrnehmungshandlung – intellektuelle 65, 374 – vergeistigte 33, 375 Anschauungsformen, siehe Formen der Anschauung Anthropologie 130, 134, 149, 175, 209 Antwort 223–225, 264, 335–340, 350–353, 358, 368 Apperzeption 159, 210 Aspektwahrnehmung 55, 86 Aufhebung 52, 345, 347, 360, 378, 390
420
Begriffsregister
– der Religion in die Philosophie 345, 347, 360, 378, 388–393, 390 Aufmerksamkeit 1, 5, 7–10, 16–18, 21 – aktive vs. passive 7, 122, 213 – Aktivität der 92, 115–117, 130–139, 139– 147, 165, 179, 185, 202, 211 f., 241, 368 – Modulierung der 8 – nichtsinnliche 179 f. – sinnliche 7, 113 f., 121–123, 134, 138, 141, 213 f. – Streuung der 7, 113, 120, 134, 135, 213 Aufnötigung 4, 219, 355, 364 – der Wahrheit 355, 364 – kausale 4 Auge 239–241, 261, 279, 308, 365–367, 371– 373, 397, 402 Außen 32, 93, 100, 117, 121–123, 134, 138, 143 f., 155, 169, 170, 174, 179–180, 199 f., 213, 219, 274, 279, 376 Bedeutung 20, 21, 311 – von Begriffen 20, 21, 268–276, 311 – ~sverschiebung 20, 268–276, 311 Befreiung 73–75, 111, 121, 272, 287, 315, 352, 382, 388–390 Befriedigung 309, 355, 396–399 Begegnung 21, 75, 77, 144–149, 204, 302, 323, 326 f., 331, 340 f., 344–349, 353–365, 377, 390, 397–402 Begierde 395–402 Begriff – Bedeutung von ~en, siehe Bedeutung – Begriff des ~s 19, 41–44, 61, 78, 90 f., 96, 141, 153, 154–165, 166, 216, 246, 268–276, 278–282, 393 – Bestimmungsmomente des ~s 154, 158– 160, 166 f., 213, 218, 246 – ~liches Denken 215, 330 f., 341, 346, 386, 391 – klassifikatorischer 40, 157 f., 116 f. – positiver vs. negativer 42–44, 154, 270 – als singularetantum 153–160 Begriffsbedeutung, siehe Bedeutung Begriffslogik 51, 105, 153, 159, 238, 304, 316 Bekanntschaft 68, 73, 77 f., 80–82, 91, 276, 326, 334, 380 belief 34, 176 Besonderheit 127, 251, 255 Bestimmungsmomente des Begriffs, siehe Begriff Bewegung 37, 94–97, 120, 124, 146–148, 206, 227, 231, 235 f., 239, 243, 310, 376, 381–383, 392, 397, 402
– Gedanken~ 15, 30, 37, 264 f., 274, 280–282, 292, 318 f., 357 f., 372, 392 – Selbst~ des Begriffs 269, 289 – des Wahrnehmens 61, 102 f. Bewusstsein – der Allgemeinheit, siehe Allgemeinheit – gewöhnliches 18, 19, 23, 31, 194, 267, 327 – natürliches 18, 21–23, 29, 61, 75, 121, 151, 187, 194, 261, 267, 278, 282 – religiöses 299, 346, 355, 358–360 – sinnliches 20, 67, 84, 311 – wahrnehmendes 34, 38, 83, 130, 198, 203 – Standpunkt des ~s 23 f., 29–37, 50, 188, 200, 206 f., 217, 219, 262, 287, 298, 307, 334 f., 367 – wahrhaft wissendes 20 f., 23, 32–38, 40, 45, 50, 53, 59, 66–73, 77–84, 91, 111, 200, 204–206, 210, 216, 232, 286, 296–298, 307, 367, 396 Bildung 16, 59, 71, 129, 133–139, 146, 194, 245 f., 261, 358, 369 Bindung 339 Böses 80, 151, 207, 286, 295, 309, 311–316, 322, 368 f., 387 – siehe auch Sünde – radikales 80, 151, 207, 286, 295, 309, 311– 316, 322, 368 f., 387 Bürgerlichkeit 226, 238, 251 – siehe auch Durchschnittlichkeit capacity 55 f., 60, 201, 270 – perception as capacity for knowledge, siehe Erkenntnisvermögen – recognitional 55 f., 60, 270 Christentum 289, 292, 299, 301, 303–305, 342 f., 350, 360–363, 369, 380 – siehe auch Religion Christus 74, 303, 342–350, 359–361 – siehe auch Jesus conceptual realism 217 consciousness 216 – phenomenal 201 – rational access 175, 201 – shape of 68, 91 Credo 357 f., 363 Dank, siehe Danken Danken 337 f. Dasein der Freiheit 397, 399 Defizienzfaktoren der Wahrnehmung 245– 249 Defizite der Wahrnehmung 151, 242, 256
Begriffsregister Demut 301, 338, 351 Denken – siehe auch Philosophie – begriffliches 215, 330 f., 341, 346, 386, 391 – Form des ~s, siehe Philosophie – klares 337, 340, 348 f., 356, 367 f., 386, 391 – reines 356 – verkehrtes 20, 29–33, 37, 69, 263–267, 275, 282–290, 294 f., 307, 310 f., 332, 383, 385– 392 Determination, normative 5 f., 96, 100–106, 121, 154, 162–169, 172–180, 180–198, 218 Dialektik 42, 53, 59, 71, 199 f., 266, 316, 322, 339 – des Endlichen und Unendlichen 289, 293–295, 317 Dialog 333 f., 350 Dienst 338–340 – siehe auch Gott, Gottesdienst Ding 8, 13, 39 f., 53, 54 f., 60–66, 69, 72, 86, 89–93, 96, 102, 105 f., 118, 140, 144, 148, 161, 200, 204, 206, 215–217, 233, 258, 283, 296, 314, 327, 333, 334, 366, 393, 396 – Gedanken~ 60–66, 89–93, 96, 199 f. – nicht-~haftes 227 f. Disjunktivismus 141, 171, 194, 228, 230, 242– 245, 247–249, 253, 256, 258, 260 Diskursivität, Form der 295, 302, 387, 402 Doppelnatur, theoretisch-praktische 285 f. Dreieinigkeitslehre 296–298 – siehe auch Trinitätslehre Durchschnittlichkeit 15, 238, 251, 254, 260 – siehe auch Bürgerlichkeit Dynamik 90, 93, 105, 119, 123, 135, 200 Einheit 12 f., 34–36, 43, 46, 49, 60, 94 f., 97– 99, 108, 116, 120, 125 f., 135, 139, 143 f., 154, 158 f., 161, 175, 204, 206 f., 212 f., 217, 298 f., 303, 330, 335, 370 f., 374 f., 388 f. – Kategorie der 60, 159 – als Signum des Geistes 13 – ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption 159 Einleitung in die Phänomenologie des Geistes, siehe Phänomenologie des Geistes Einleuchten 19, 21 f., 78, 268, 271, 272–287, 290–292, 294 f., 300, 302, 307–310, 326 f., 331, 334–337, 344, 351, 355 f., 381–388, 390 Einseitigkeit der Formen 382, 388 f. Einzelnheit 15 f., 39 f., 47, 62, 64, 178, 187, 227, 242, 254 f., 266, 278, 396 – positive 64, 85, 268
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– als Signum des Geistes 15 f., 187, 227, 242, 254 f., 278 Eitelkeit 207, 277, 309 Empfindung 16, 116 f., 126–128, 132, 134, 136, 138, 143 f., 147–152, 158, 175, 198, 212, 217 f., 235–237 Empirismus 4, 50 f., 232, 233 Endliches, siehe Endlichkeit Endlichkeit 30, 64, 74, 294, 301, 313–315, 358, 385, 389 – siehe auch Dialektik Entzauberung der Natur 136 Entzug – Gegenstands~ 49 f., 53 – der Offenbarung 285, 332, 359 Erfahrung 39 f., 355, 363 – ästhetische 366–377 – des Bewusstseins 29, 80–87, 274 – des Einleuchtens 307 f., 336, 386 – geistige 15, 278 f., 325–328, 336 – religiöse 15, 326 Erhebung 344, 349, 379, 388–390 – ästhetische 238, 375 – geistige 344, 349 – religiöse 137, 331, 344, 351 Erinnerung 128–132, 143–145 – tätige 212, 219 Erkennen, siehe Erkenntnis Erkenntnis 1, 24, 38, 68 f., 75–84, 91 f., 102, 134, 155, 198–207, 230, 240 f., 263–267, 281, 286, 307, 327, 340, 357, 377, 378 – begrifflich-diskursive 332, 342, 344, 354 – philosophische 240 f., 261 f., 275 f., 281, 286, 308, 311, 312, 337, 343, 381, 391 – Selbst~ 1, 38, 68, 102, 198–207, 261 f., 263– 267, 291 f., 307, 312, 337, 344, 359 Erkenntnistheorie 29, 109, 320 Erkenntnisvermögen 140, 230–232, 237 Erlernen 125–130, 138–152, 250 Erschaffen 183 Erscheinung 29, 64 f., 104, 108 f., 218, 224, 347 – Form der 64 f. Erstpersonales Wissen 202, 243–245, 256, 258 Erzählung 265, 319, 321, 342 f., 346 f., 365 f., 374, 392 Eucharistie 345 f., 350 f., 360, 401 – siehe auch Abendmahl Ewigkeit 60, 62, 66, 294, 303 experience, siehe perceptual experience experiental intake 137 Faktizität 183, 290, 295 Falsches 186, 267, 282 f., 310, 390
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Begriffsregister
Farbe 45, 49, 60, 101, 116–118, 147, 153, 156– 160, 187, 217 f., 235–237, 248 – ~nraum 116 Farbfleck 86, 115–120 Festsetzung des Maßstabs 195 Form – absolute 388–391 – der als-Struktur 65, 156, 215 – raumzeitliche 8, 60, 100, 116, 120, 174, 215, 236, 239, 342, 346 f. – der Wahrnehmung 65–70, 90, 144, 148, 156 f., 195, 200 – der Wahrnehmung, gewohnheitsmäßige 123, 142 f., 167, 179 – der Wahrnehmung, nicht-gewohnheitsmäßige 123, 143 f., 167, 179 Formen der Anschauung 235 Freiheit 274, 293, 295, 315, 335–337, 381, 402 – Dasein der 397–399, 402 Frömmigkeit 351, 355 Fülle 55, 77, 109, 121, 155, 278, 317, 331, 352, 363, 373 f., 376, 401 für Anderes 33, 150, 170, 204, 397–399 für das Bewusstsein 35, 82, 175, 327, 354 Ganze, das 15 f., 20–22, 33, 119, 196, 229, 271, 277–282, 305, 313 f., 321, 361, 392 – Ganzheit 11–17, 119, 125, 134 f., 159, 175, 214, 240, 260 f., 266 – Ganzheit als Signum des Geistes 15–17, 260 f., 266 Gebet 339, 350 f., 357 f., 363 Gedankendinge 60–66, 89–93, 96, 199 f. – siehe auch Ewigkeit – siehe auch Kategorien Gefühl 11, 133–135, 212, 214 f., 219, 351 – Innerlichkeit der ~sbestimmtheit 212, 219 – partikulares 134, 219 – Selbst~ 11, 128 f., 133–135, 214 f., 219, 248, 260, 398 Gefülltsein des Wahrnehmungsfeldes 116, 237 Gegebene, das 51, 53–55, 113, 115, 118, 174, 214, 362 Gegebensein 11, 264 Gegenstand 33, 36 f., 38, 43, 46–49, 53, 67 f., 73, 79, 80, 83, 86, 90 f., 94, 107, 127, 145, 154 f., 168, 201–204, 217, 230, 258, 327–332, 367, 375, 396 – ~sverlust 48 Gegenüber 178, 302, 332, 351, 371–373, 397 Geist – absoluter 14, 178, 187, 228, 290, 296, 328– 333, 341, 364, 373, 378, 381, 388, 390, 401
– ~es, das Andere des 182, 205, 215, 217, 227, 377, 393, 396 – endlicher 242, 287, 293, 315, 321 – erscheinender 29, 327 – freier 377 – Heiliger 304 f. – objektiver 308, 313 f., 320–323, 379, 395, 400–402 – ~philosophie 20, 33, 46, 277, 289, 294, 300, 304, 314–323, 389 – praktischer 121, 144, 178 – Provinzialisierung des ~es 13–15, 176, 270 – subjektiver 22, 39, 59, 70, 113, 121, 125, 128, 138, 170, 172, 177 f., 180–198, 199, 202, 209, 224, 227 f., 251–255, 261, 287, 308, 318–320, 375, 389 – theoretischer 111, 121, 144, 177, 215 – unendlicher 288, 293 – Mensch als ~wesen 1, 4, 14, 30, 75, 128, 132, 135, 144–148, 196, 225, 334, 396 – ~widrigkeit 226, 242, 304, 316 – Wirklichkeit des ~es 174 f., 177, 180, 199, 227–229, 262, 263, 399, 401 f. – ~eswissenschaften 293 Geltendmachen 36, 71, 72, 181, 185, 207, 337 – siehe auch sich-Zeigen Geltung 22 f., 82, 172 f., 176, 243, 269, 276, 280 f., 288, 290 f., 299 f., 302, 308–312, 354–358, 361, 362, 368 Genie 176 f. Gericht 223–226 Gerichtsprozess, siehe Gericht Geschichte 31, 162, 234, 255, 263, 265, 284, 293, 301, 307, 320 f., 343–350, 361 f., 366, 373, 392 Geschlossenheit 242 Gesetz 97, 101, 108 f., 168, 224, 235 Gestalten des absoluten Geistes 14, 229, 291, 323, 328–336, 350, 353, 355, 365, 378, 380– 382, 385, 388–393, 401 Gettier-Fälle 35 f. Gewohnheit 11, 113–116, 123–139, 209, 214, 218, 234, 239, 395 f. – Form der 124, 128, 130, 136–139, 202, 210 Glauben 183, 277, 308, 347, 348, 351, 353, 355, 358, 364, 379, 381–385 – ~sbekenntnis, siehe Credo Gott 63, 65 f., 151, 170, 196, 255, 271, 273, 277, 288 f., 290–323, 325, 328–333, 338, 340– 345, 350 f., 365–367, 370, 401 f. – siehe auch Absolute, das – siehe auch Subjekt, Subjekt, unendliches – ~esdienst 338, 358, 367 f.
Begriffsregister – ~mensch 345, 350, 372 Gradualität der begrifflichen Vermögen 140 f. Grammatik 172, 244 Gründe 179, 242, 249, 275–282, 309, 311 – ~geben und ‑nehmen 281 f. – Raum der 179, 358 Güte der Wahrnehmung 9–11, 118, 186 f., 194 f., 230, 233, 238, 245–256 Haltung 279, 338–340, 351, 368 Hang 19, 30, 106 f., 208, 267, 283, 294 f., 301– 303, 309 f., 325, 332, 359, 383, 387 f., 402 Hegelianer/Hegelianismus 293 – Links~ 288 f., 292 f., 348 – Rechts~ 288 f., 292 Hegelrezeption – in der Analytischen Philosophie, siehe Analytische Philosophie – theologische 293, 294, 300, 301, 304, 323, 345, 348, 361 Heiliger Geist, siehe Geist Hermeneutik 293 Herr und Knecht 339, 399 Herrschaftsverhältnisse 402 Hingabe 339 Hinsehen – aufmerksames 17, 115, 120, 194, 279, 367 – reines 17, 279, 367–370, 373 Holismus 153 Ich – Ich bin Ich, Tautologie des 24, 206–208, 265 – Ich bin Ich, Wissen des 24, 312 – denke 159, 206, 216, 230, 325 – Identität des 204 Idealismus 205, 223, 304, 314, 361, 377 – absoluter 232, 314, 361 – subjektiver 71 Idee 172, 293, 296, 314 f., 370 f. – absolute 290, 296, 300, 315 f., 354, 371 Identität – des absoluten Geistes 303, 305 f., 328 – des Ich, siehe Ich – des Inhalts von Philosophie und Religion 329, 342 f., 349–354, 363, 379, 381 Inbegriff des Geistes 267, 290, 315–328, 389 Individualität, siehe Einzelnheit individuals 117 Individuum 16, 149, 170–178, 185, 188, 193– 198, 218, 227, 250, 254–257, 281 f., 284 f., 293, 308, 322, 353, 364, 367, 387, 400–402 – siehe auch Einzelnheit
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Inferentialität 154–166, 268 Inhalt – des absoluten Geistes 328, 333, 345, 347, 360 f., 370, 376 – identischer, siehe Identität Inhumanität 402 Innerlichkeit 212, 219, 365, 376 – der Gefühlsbestimmtheit 212, 219 Insichgehen 381–386 insofern 62 f., 199 f. Institutionen 321–323, 357, 401 intake, experiental, siehe experiental intake Intelligenz 117, 121, 212–218 Intentionalität 214 Intersubjektivität 150, 166, 170, 174, 180–198, 225, 401 Irrtum 23 f., 37, 151, 188, 267, 283, 309–313, 327 Jesus 303, 342–350, 359–361 – siehe auch Christus Kampf um Anerkennung, siehe Anerkennung Kategorien 13, 15, 49–54, 58–66, 89, 154–162, 195, 200–202, 214, 215, 227, 229, 255 f., 285 f., 289, 304, 329, 369 Katholizismus/katholisch 251, 348 Kausalität 4, 36 f., 39, 41, 51, 58, 64, 67, 71, 81 f., 92, 140, 230 f., 268 – ~sbegriff 4, 92, 95, 102–104, 106 f., 232–239, 272, 316 – aus Freiheit 103 Kenntnis 79, 264, 343 Kind 9, 17, 114, 128, 130, 139–152, 163, 196 f., 250, 369 Kirche 345, 349, 351, 357, 402 – unsichtbare 402 – und Staat 402 Kitsch 397, 400 Klarheit, siehe Denken Klasse 49, 155–161 – Klassifikation 45, 155–161 – Klassifikation, arbiträre 45, 160–164 Kleinkind, siehe Kind Knecht, siehe Herr und Knecht Körper 124, 128 f., 148 – siehe auch Leib, Leiblichkeit – ~lichkeit 129, 239, 244 Kollektiv/Kollektivismus 15, 22, 178, 192, 195, 293, 385 Kompetenzen 141, 161, 190, 228, 242–260 – in der Wahrnehmung 16, 141, 161, 187, 190, 228, 242–260
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Begriffsregister
Konstruktivismus 70 Kontextabhängigkeit 63 Kontingenz 19, 23, 29, 88, 116, 189–196, 200, 218, 270, 282, 284, 285, 295, 309 Kontinuum 6 f., 116, 235 f. Konzeptualismus 40 f., 56 f., 58, 146 – Non- 56 f. Kraft – siehe auch Kausalität – ~begriff 90–96, 101–108 – Modell der ~wirkung 102 Kraft und Verstand 29, 67, 78, 89–93, 95, 97, 102, 105, 107, 110 f., 113, 126, 138, 169 f., 174, 204, 217 f. Kreuz 74, 352 Kultur‑ und Geisteswissenschaften 293 Kultus 345–351, 360–362, 366, 369, 373 f., 379 – siehe auch Abendmahl – siehe auch Eucharistie Kunst 14 f., 17, 33, 72, 137, 247, 262, 323, 328, 331–333, 354, 361, 363, 364–377, 378, 380– 382, 385 f., 389, 391, 393, 397, 398 – klassische 369–371, 375 – romantische 366, 369 f., 375 – symbolische 371 – Vergötterung der 377 Leben – bürgerliches 226, 238, 251 – ~sform 136, 195 – ~spunkt 277–279, 355 f., 364, 386 Lebewesen 53, 60, 119, 252 Leere 109, 155, 208, 228, 261, 265, 331, 373, 395 Leib 239, 398 – Christi, siehe Abendmahl – Leiblichkeit 129, 131, 135, 234, 239, 241, 361, 398 f. Lernen, siehe Erlernen Licht 72, 96, 116, 131, 139 f., 144, 148, 151, 197 f., 235–240, 299, 317, 375 – siehe auch Empfindung – siehe auch Farbe – ~verhältnisse 72, 130 f., 232 f., 235–240 Liebe 188, 303–305, 318, 326, 336–339, 351, 381 Linkshegelianer, siehe Hegelianer/Hegelianismus Liturgie 346, 351, 358, 362 – siehe auch Kultus Logik 115, 140–142, 199, 251 f., 256, 267, 280, 285, 321, 339, 373, 375, 392 – siehe auch Wissenschaft der Logik
Macht 76, 123, 376 f., 386, 399–402 – des Geistes 13, 59–61, 76, 184, 188, 268, 270, 302, 321, 376 f. – ~verhältnisse 399–402 Malerei 369 Man 188 f. Manifestation 144, 148, 185, 315, 356, 375 – siehe auch Offenbarung Marxismus 400 Maßstab 16, 150–152, 168, 170, 175, 179–198, 218, 225 f., 233, 238–258, 271, 359, 377 – der Prüfung 73, 77, 297 – der Wahrnehmung 16, 57, 117–120, 138, 168, 170, 175, 179–198, 218, 225 f., 233, 238– 258, 377 – Prüfung des ~s 73, 297 Materialismus 230–232, 237, 314, 361, 400 Materien 39 f., 96, 101, 103 Mensch 15, 22, 119, 132, 139, 198, 258, 268, 277, 290–314, 332, 340–342, 346, 350, 358, 366, 372 f., 383, 395 f. – siehe auch Subjekt, Subjekt, endliches – Menschheit 293, 302, 307 Metaphysicum 13 f., 23, 66, 164, 176, 400 Metaphysik 1 f. – des Geistes 1–5, 13, 18–25, 74, 110, 164, 223, 227–232, 271, 325 – idealistische, siehe Metaphysik, Metaphysik des Geistes – materialistische, siehe Metaphysik, Metaphysik der Natur – der Natur 2, 5, 64, 223, 227–232, 272 Methode, realphilosophische 113 f. Missverständnis, siehe Selbstmissverständnis Mittelmaß 248–252 – siehe auch Durchschnittlichkeit Modeerscheinung 363 Moment-Subjekt, siehe Trinitätslehre Musik 14 f., 124 f., 132 f., 246, 255, 308, 369 f., 376 Nachmetaphysisches Zeitalter 402 Narrativität – siehe auch Erzählung – Narrative Ontologie 14, 208, 265 Natur – siehe auch Geist – ~dinge 64 – erste, siehe Natur, Natur, zweite – ~gesetz 4, 107 f. – ~philosophie 240, 315–317 – Mensch als ~wesen 30, 132, 135, 139, 147 f. – ~wissenschaften 107–110, 118, 130, 173, 232
Begriffsregister – zweite 4, 135 Naturalismus 2–4, 6, 21, 58, 105, 109 f., 118 f., 129, 135 f., 139, 151, 164, 173, 175, 182, 227– 232, 266, 270–273, 278 Negativismus 21, 75 f., 80, 267 Negativität 21, 33, 44–46, 52, 154, 159, 256, 268, 289, 317, 372–376 Nötigung, siehe Aufnötigung Non-Konzeptualismus, siehe Konzeptualismus Normalfall 237 f., 249–252 Normativität 95, 111, 117, 166–198, 224, 233, 238 f., 243, 245, 249, 253 f., 322 Notwendigkeit 54, 95, 107, 130, 230 f., 243, 295, 304, 309, 372, 381, 387 f. – reale 309, 387 f. – relative 309, 387 f. Objekt 4–8, 36 f., 40 f., 47, 52–54, 90, 93– 109, 113, 115, 120–123, 127, 157, 168–171, 177, 181, 183, 202, 236, 261, 366–375, 396–400 – Natur~ 103, 115, 148, 162, 173, 224 f., 231 – Wahrnehmungs~ 7, 20, 46, 54, 69, 95–102, 113, 143, 212, 296 Objektivation/Objektivierung 398–402 – Suspendierung der 398 Objektivismus 54, 71 Öffentlichkeit 251 Offenbaren, siehe Offenbarung Offenbarung 196, 269, 271, 287–290, 291, 292, 295–314, 316–322, 325–339, 349–366, 379, 381–392, 396 Offenheit – des Geistes 136 f., 144, 242 – der Wahrnehmung 242 – zur Welt 136 f., 190 Ontologie 14, 39, 50, 53, 55, 208, 265, 266, 308, 327 f. – antike 60, 66, 110 – Narrative, siehe Narrativität, Narrative Ontologie openness to the world, siehe Offenheit Pantheismus 385–389 Passion 74 Passivitätsauffassung der Wahrnehmung 13, 18, 24, 37, 58, 67, 78, 92, 96, 106, 123, 163, 243, 268, 271, 273, 367 perception 5, 57, 80, 91, 210 perceptual experience 210 Perspektive der Selbsterkenntnis, siehe Selbsterkenntnis Perspektive, empirische 99–101, 169
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Pfingsten 277, 364 Phänomenologie 29, 31, 128 f., 163 f. Phänomenologie 175, 209 f., 263 Phänomenologie des Geistes – Einleitung in die 33–38, 68 f., 73, 81, 217, 279, 286, 310, 326–328 Philosophie – Analytische, siehe Analytische Philosophie – des absoluten Geistes, siehe Geist – des Geistes 6, 8, 19 f., 23 f., 105, 176, 232, 263, 278, 287, 313, 314–316, 322, 325 f., 361 – des objektiven Geistes, siehe Geist, Geist, objektiver – des subjektiven Geistes, siehe Geist, Geist, subjektiver philosophy of mind 29, 173 Physik 93–102 Planeten 66 Plastik, griechische 365, 371–373 Platonismus 42, 44, 172, 325 Poesie 369, 381 f. Positivität 41, 44, 64, 75, 92, 106, 268, 361 f., 375 praktisch 1, 5, 8, 10, 121, 134, 140–144, 168 f., 175, 178, 285 f., 396 Praxis 9, 110, 140–142, 152, 168, 186, 190, 195 f., 198–200, 225, 250, 346, 368 Protestantismus/protestantisch 251, 348 Prozessualität 133, 155, 298, 300, 305, 366, 369 f., 373, 375, 384 Psychologie 52, 79, 145, 151, 162, 270–272, 285, 312, 319 Psychologie 130, 209 Psychologismus 172 Qualität 49, 131, 133, 147, 156–161, 202, 375 – siehe auch Kategorien Quantität 49, 156–159 – siehe auch Kategorien Radikales Böses, siehe Sünde Raum 53, 100, 115–117, 134, 136, 144, 170, 173, 193, 202, 212 f., 217 f., 235–241, 278, 312, 317, 373, 375 f. – siehe auch Formen der Anschauung – siehe auch Raum und Zeit – geistiger/normativer 100, 170, 173, 176 – der Gründe 281, 312, 358 Raum und Zeit 134, 143, 193, 202, 212 f., 217 f., 235–241, 317 realism 217 – conceptual 217 Realismus 45, 59, 71, 216, 217
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Begriffsregister
– Begriffs~ 216, 217 – direkter 71 – objektiver 71 Realphilosophie 114, 330 reason 176 Rechtfertigung 35 f., 176, 273, 281, 326, 349 – ~sbedingung 35 f. Rechtshegelianer, siehe Hegelianer/Hegelianismus Reflexion 80, 87, 130 f., 145, 162 f., 183, 206, 239, 240, 353, 365, 373 – auf den Weg der Selbsterkenntnis 19, 23–25, 207 f., 262, 282, 292, 295, 300, 304, 306 f., 315, 318, 320, 331, 379, 384, 391 Regel 52, 251 – ~fall, siehe Normalfall – ~folgen, sprachliches 172, 199 Regelfall, siehe Normalfall Relativismus 293, 295, 306, 307 Relativität, historische 293, 295, 307 Relationalismus 57 f. Religion 14, 137, 262, 277, 286, 287, 291, 308, 323, 328–333, 341–364, 364 f., 369, 372, 376 f., 378 f., 380–393, 401 – siehe auch Geist, Geist, absoluter – positive 298 f., 343, 362 – wahre 314, 345, 351 f., 354, 355, 362 f., 380 Repräsentation 2, 34, 35, 40 f., 45, 59, 61, 64, 93–101, 107, 110, 115, 136, 143, 148, 151, 153, 156–159, 173, 178, 192, 202 f., 212–214, 219, 224, 228 f., 273, 290, 316, 368 – ~sbedingung 34 Repräsentationalismus 56–58 Richter 224–226 Richtiges 70–73 Richtung – apriorische 115–123 – der Aufmerksamkeit 7, 8, 12, 116, 122, 213 f. – des Geistes 17, 113, 212, 219 Schau 295 f., 330, 332, 345, 392, 402 Schichtkuchenmodell 3, 109 Schweigen, radikales 312 second nature, siehe Natur Sehnsucht 109, 361, 395, 402 Selbst 11, 21, 79, 125, 134 f., 151, 176, 205, 215, 219, 227, 241, 266, 310, 380, 392, 397, 399 Selbstbehauptung der Religion 358 Selbstbewusstsein 11, 24, 78, 85, 89–91, 133 f., 145 f., 151, 159, 178, 198–208, 214, 230–232, 243, 263–266, 298, 300, 307, 312–314, 316, 335, 339, 395–402
Selbstbeziehung 24, 105, 291 f., 298, 307 Selbstbezüglichkeit 105, 214, 372 Selbsterkenntnis 1, 18 f., 21 f., 24 f., 29 f., 32, 34, 37, 67–70, 73–80, 83, 85, 107, 111, 145 f., 202, 203 f., 207 f., 217, 229, 232, 240, 243, 263–267, 290–295, 298 f., 306–314, 320, 327, 328–333, 338, 342, 352, 378, 391 f., 395 f., 402 – gelingende vs. misslingende 30, 188, 289 f., 340 – Perspektive der 99 f., 107, 169, 174, 212, 226 – erkenntnislogisch-semantische Struktur des Weges der 268–287 – Weg der 18, 20, 22 f., 24 f., 29, 34, 42, 107, 113, 204, 219, 302, 315–318, 323, 334 f., 379 – Wirklichkeit des Geistes als, siehe Geist Selbstgefühl 11, 129, 133–135, 214, 219, 248, 398 Selbstmissverständnis 263 Selbstoffenbarung, siehe Offenbarung Selbstständigkeit Gottes 288, 306 Selbstsüchtigkeit 396 Setzung 111, 166, 180–198, 202, 215, 224, 226, 270 – Voraus~ 111, 183, 188, 270 sich-Geltendmachen 22, 35–37, 72, 181, 185, 207, 274, 283 f., 286, 291, 307, 326, 337 sich-Zeigen 20–22, 32–37, 49, 61, 64, 71, 75, 103, 181, 200, 202, 217, 225, 243, 268, 271, 287, 295–301, 384, 397, 399 Signum des Geistes 12–15, 23, 186, 242, 289, 308 Sinnliche Gewissheit 29, 40, 47, 52–54, 67, 70, 84, 91, 205, 373 Sinnlichkeit 3, 12–14, 25, 29, 40, 48, 59, 75, 109, 122, 146 f., 198, 210, 245, 259, 273, 287, 370, 373 f., 398 Skepsis 253 Skeptizismus 75, 83 – sich vollbringender 75 Skulptur, siehe Plastik, griechische Sohn Gottes 299, 301, 303, 342, 360 f., 365 – siehe auch Christus Spezifikationen des Sinnlichen 143 f. Spiel 61, 198–200 Sprache 7, 73 f., 160, 171 f., 193, 198 f., 216, 218, 274, 276, 310, 356, 360, 377 Sprechen des Geistes 56, 223, 328–333 Staat 314, 401 f. Standpunkt – des Bewusstseins 19, 23 f., 29, 31, 37, 50, 61, 188, 200, 206 f., 217, 219, 262, 278, 287, 298, 307, 334 f., 367
Begriffsregister – des Selbstbewusstseins 79, 84, 90, 207 f., 230, 312 f., 334 f. – der Wahrnehmung/des Wahrnehmungskapitels 19, 95, 100, 104, 106 Struktur, raumzeitlich-narrative 342 f., 346 f., 366 Subjekt – endliche ~ivität 64 f., 384, 387 – individuelles 76, 98, 100, 185, 236, 271, 282, 338, 348 – Moment-, siehe Trinitätslehre – ‑Moment, siehe Trinitätslehre – unendliches 291–295, 298–305, 310, 337–340, 361, 374, 381, 388 Subjektivismus 53 f. Substanz 62–66 – materielle 66, 231 f. – ~ontologie 53 Sünde 15, 22, 23, 75, 80, 245, 284, 295, 307, 372 – siehe auch Böses – natürliche 22, 23, 75, 245 Suspendierung der Objektivation/Objektivierung, siehe Objektivation/Objektivierung Synthesis 51 f., 153 Tätigkeit – des Geistes 90, 108, 128 f., 138, 178, 225, 227, 298, 316, 397 – der Natur 232, 253 Täuschung 230, 242, 243 Tautologie 206, 357 theoretisch 1, 5, 8–11, 54, 111, 121, 140, 144, 168, 175–177, 215, 230, 242, 284–286, 311 Tier 3, 12, 15, 119, 132–134, 147–149, 151, 211 f., 259 f., 264 Tod 74, 398–402 transzendentale Wende, siehe Wende, transzendentale Trieb/triebhaft 61, 199, 358 f., 395, 397 Trinitätslehre 255, 301, 305 – philosophische 305 Übergänge 25, 67, 70, 75, 78, 89–91, 105, 266, 273, 279, 288 f., 298, 307, 312, 315 f., 319 f., 357, 383 Übung 124 f., 127, 128, 132, 142 Umwelt 76, 130, 143, 149 Unendliches, siehe Unendlichkeit Unendlichkeit 175, 289, 293–295, 301 f., 317, 396 Unio mystica 345, 351
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Unklarheit 4, 46, 60, 89, 146, 165, 201, 211, 233, 249, 263, 283–286, 335, 340, 368, 391 – siehe auch Klarheit Unmittelbarkeit 52, 135, 334, 370–374, 395, 398 Unsinn – blanker 275, 283, 309, 311, 313, 341 – dialektischer 275 Unterwerfung 399 Unverfügbarkeit 51, 73, 76, 279 f., 284, 291, 293, 307–309, 336 f., 339 f., 344, 349, 366 – siehe auch Offenbarung Ursache, siehe Kausalität Ursache und Wirkung, siehe Kausalität Urteil 1, 3, 34, 43 f., 51 f., 56, 58, 147, 162, 163, 178 f., 191 f., 204, 212, 224–226, 234, 240 f., 257 f., 299 Urteilskraft 246, 249 Vater – Gott- 299, 303, 345, 350 Vaterunser 350, 358 Verbindung 125, 128, 132, 154 f., 159, 307 Vergangenheit 184, 196 Verkehrtes/Verkehrtheit 18, 31, 44, 74, 82, 219, 295, 301, 307, 311, 355, 365, 372 f., 386, 387, 388, 390 – siehe auch Sünde Verkitschung 397, 400 Verklärung 372 f. Verleiblichung, siehe Leib, Leiblichkeit Vermittlung 151, 154, 215, 219, 229, 281, 290, 302 f., 334, 344, 346, 373, 383 Vernunft 155, 205, 231, 257, 281, 356, 360, 400 Verstand 61 f., 108–111, 155, 295, 354 f., 386 f. – siehe auch Kategorien – siehe auch Kraft und Verstand – ~esbegriffe, siehe Kategorien – ~esdenken 295, 354 f., 386 f. – gesetzesformulierender 108–111 Verwirrung 6, 45, 96, 233 f., 276, 283 f., 309, 313 Verzweiflung 21, 75–82 – siehe auch Negativismus Vollzugsform – ästhetische 361, 365 f., 369 f., 373, 376 – philosophische 367, 391 – religiöse 345–347, 354 f., 357, 361 f. Voraussetzung, siehe Setzung Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes 39, 70, 125, 128, 209
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Begriffsregister
Vorstellung 21, 71, 89, 98, 176, 201, 204, 215, 233, 242, 283, 296, 331, 353, 360, 380–382 – siehe auch Religion – absolute 353, 380–382, 388, 390 – Form der 331, 341–348, 353, 356, 360, 365–370, 375 – religiöse 299, 303, 353, 360, 361 f. Wahrheit/Wahres 21, 33, 61, 66–73, 74, 77, 78–84, 91, 108, 177, 183, 188, 191, 199–205, 262, 274, 277–279, 284–290, 296, 298, 300, 301, 306–313, 315, 319, 330, 349, 352, 355, 358 f., 363, 377 – siehe auch an sich – ~sbedingung 34 Wahrnehmung – Einzel~ 6–14, 56, 81, 85, 114 f., 119 f., 127, 141–143, 163 f., 177 – ~sfeld 6–16, 23, 48, 100, 113–120, 127, 130, 134 f., 136 f., 138, 141–144, 156, 158, 164, 174 f., 212 f. – ~shandlung 17, 130, 132, 243 – ~sskepsis, siehe Skepsis – Standpunkt der, siehe Standpunkt – und Metaphysik, siehe Metaphysik Wechselwirkung 104 f., 293 – siehe auch Kausalität – siehe auch Kraft und Verstand Weg der Selbsterkenntnis, siehe Selbsterkenntnis Welt 4, 10, 30, 36, 56, 63 f., 71–74, 110, 117, 118, 119, 130, 136 f., 143–145, 147, 149 f., 151, 167 f., 170, 173, 176–180, 181, 182–185, 190, 192, 193, 194, 199, 206, 210 f., 216 f., 223 f., 233, 240, 253, 259 f., 287 f., 290, 307, 315, 333, 365, 370, 377, 396 – übersinnliche 108 f. – ~geschichte 314, 320 f. Wende, transzendentale 90, 277 f. Wesen des Menschen, elementares 64, 124–129, 133, 142, 180, 186, 191, 209, 260 Wesenslogik 95, 105 f., 238, 316 Widerspruch 19, 39 f., 42, 46, 49, 50, 86, 94, 104, 162, 263, 268, 398 Widerstand/Widerständigkeit 137, 277, 285, 290, 322, 375, 396, 399, 402 Wiederholung 125 Wiederverzauberung der Natur 136 Wille 1, 13, 121–123, 123–139, 141–144, 147, 165, 167, 178, 185, 198, 214, 247, 258 f., 284, 286, 337
– bewusstloser 123–139 – gewohnheitsförmiger 123–139 Wirklichkeit 21, 30, 60, 75 f., 85, 108, 155, 172–180, 194, 199, 215, 253, 290, 292–297, 300, 311, 323, 332, 359, 361, 395–402 – des Geistes, siehe Geist – geistige 172–180, 280 f., 395–402 – materielle 66, 231 f., 243, 253, 361, 395–402 Wirkung, siehe Kausalität Wissen 1, 11 f., 20, 21, 33–36, 64, 69, 75–77, 85, 87 f., 109, 114, 116 f., 120, 129–134, 142, 156, 160, 169, 176, 183, 188, 194, 202–204, 230–242, 249, 256, 260, 264, 274 f., 287– 289, 298 f., 308, 311, 312, 315, 355, 368, 371, 374, 377, 379, 392, 395 f., 397, 400 – siehe auch Erkenntnis – JTB-Analyse des ~s 34 f. – spontanes und erstpersonales 230, 242– 245, 249, 256 Wissenschaft der Logik 31, 42, 65 f., 105, 155, 157, 208, 288–290, 293, 300, 315–317, 329, 360, 373, 387 Wunde des Erkennens 325 Zeigen, siehe sich-Zeigen Zeit 48, 53, 62, 115, 116 f., 128, 134, 143, 193, 202, 212 f., 217 f., 235–237, 282, 293, 294, 313, 317 – siehe auch Formen der Anschauung – siehe auch Raum Zeitalter, nachmetaphysisches, siehe Nachmetaphysisches Zeitalter Zeitgeist 64, 164, 363, 393 Zufall/Zufälligkeit, siehe Kontingenz Zukunft 196, 253, 372 Zurückholung des Menschen zu Gott 302, 323, 326, 328–333, 341, 343 f., 346, 349 f., 352, 360 f., 365, 370 Zurücksehen 378 f., 392 Zusätze, mündliche 59 Zusehen, reines 279 f. Zwang 172, 178 f., 197, 215, 218, 225, 233, 281, 293, 308, 335–337 – siehe auch Aufnötigung – siehe auch Normativität Zweifel 75 f., 248 f., 256 – siehe auch Skepsis Zweite Natur, siehe Natur