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German Pages [318] Year 2021
Friedrich Schweitzer Fahimah Ulfat
Dialogisch kooperativ elementarisiert
Interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik aus christlicher und islamischer Sicht
in Zusammenarbeit mit Reinhold Boschki
Friedrich Schweitzer Fahimah Ulfat
Dialogisch – kooperativ – elementarisiert
Interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik aus christlicher und islamischer Sicht
in Zusammenarbeit mit Reinhold Boschki und mit einem Beitrag von Ascher J. Mattern
Mit 2 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © M.studio/Adobe Stock Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-71760-4
Inhalt
Warum dieses Buch? – Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Teil 1 Grundfragen der Religionsdidaktik
1 Die religiöse Situation der Gegenwart: Herausforderungen für den Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.1 Religion und Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 1.2 Übergreifende gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Entwicklungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3 Deutungsmacht in gesellschaftlichen Diskursen . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 1.4 Verhältnis der Religionen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2 Was bedeutet religiöse Bildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.1 Religion und Bildung – Bildung und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.2 Dialogische Offenheit und der Umgang mit konfligierenden Wahrheitsansprüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.3 Religiöse Bildung, Schule, Religionsunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3 Religionsdidaktik als Fachdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.1 Grundbegriffe der Didaktik und ihre religionsdidaktische Bedeutung 39 3.2 Aufgaben der Religionsdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.3 Religionsdidaktische Ansätze im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 3.4 Bestimmung der Unterrichtsinhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 3.5 Gibt es eine gemeinsame Religionsdidaktik für den christlichen und den islamischen Religionsunterricht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52
Inhalt
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4 Zur Geschichte der christlichen und islamischen Religionsdidaktik . 53 4.1 Warum der Blick in die Geschichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 4.2 Religionsdidaktik im Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 4.3 Religionsdidaktik im Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 4.4 Religionsdidaktik im wiedervereinten Deutschland: Gemeinsame Geschichte christlicher und islamischer Religionsdidaktik? . . . . . . . 73 5 Der rechtliche Rahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 5.1 Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5.2 Der Religionsunterricht im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5.3 Besondere Fragen zum islamischen Religionsunterricht . . . . . . . . . . 85 5.4 Der Religionsunterricht und seine Alternativen in rechtlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 6 Begründung des Religionsunterrichts: Der konfessionelle Religionsunterricht und seine Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6.1 Warum muss der Religionsunterricht eigens begründet werden? . . 92 6.2 Verschiedene Begründungsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6.3 Zur Weiterentwicklung des konfessionellen Religionsunterrichts . . 98 6.4 Beurteilung und Zukunftsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 7 Worauf es für die SchülerInnen ankommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 7.1 Religiöse Sozialisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 7.2 Religiöse Einstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 7.3 Religiöse Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 7.4 Erwartungen der SchülerInnen an den Religionsunterricht . . . . . . . 127 8 Worauf es für die Religionslehrkräfte ankommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 8.1 Professionalität als Kriterium? Wissenschaftliche Perspektiven auf Religionslehrkräfte . . . . . . . . . . . 130 8.2 Der eigene Glaube und der Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 8.3 Reflexion und Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts . . . . . . . . . 137 8.4 Gender und Migrationshintergrund bei Religionslehrkräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
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Inhalt
9 Religionsunterricht gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 9.1 Vorbereitung und Planung von Unterricht: eine Kurzanleitung . . . . 140 9.2 »Guter Religionsunterricht«: Unterrichtsqualität normativ und empirisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 9.3 Ziele und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 9.4 Unterrichtsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 9.5 Unterrichtsmethoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 9.6 Unterrichtsforschung als Grundlage der Unterrichtsplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 9.7 Religionsbücher und Unterrichtsmaterialien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 9.8 Selbstreflexion, Feedback und Evaluation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 9.9 Unterrichtsentwicklung als weiterer Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 10 Empirische Unterrichtsforschung als Voraussetzung für »guten Religionsunterricht«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 10.1 Religionsdidaktik als angewandte Fachwissenschaft und als forschende Disziplin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 10.2 Zur Bedeutung empirisch-religionsdidaktischer Forschung für den Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 10.3 Schwerpunkte empirisch-religionsdidaktischer Forschung: Lernvoraussetzungen – Deutungsweisen – Kompetenzerwerb . . . . . 165 10.4 Empirische Befunde bei der Unterrichtsgestaltung aufnehmen: Gottesbild und Gottesbeziehung als exemplarische Konkretion . . . . 167
Teil 2 Zentrale Unterrichtsthemen dialogisch elementarisiert
1 Der eine Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Jesus Christus und Muhammad – Bibel und Koran . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Sexualität und Gender – weiblich, männlich, queer . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Religionen, Konfessionen und religiöse Gruppierungen . . . . . . . . . . . 5 Judentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Krieg und Frieden – Terror und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Weihnachten und Ostern – Ramadan- und Opferfest . . . . . . . . . . . . . .
174 184 196 207 219 235 246
Inhalt
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Teil 3 Interreligiös-kooperatives Lernen: Zusammenarbeit im Religionsunterricht
1 Chancen der Kooperation im Religionsunterricht: Konzeptionelle Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 1.1 Interreligiöse Bildung als Ziel und als Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . 260 1.2 Kooperatives Modell oder »Religionsunterricht für alle«? . . . . . . . . . 261 2 Formen der Kooperation in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2.1 Erfahrungen mit interreligiöser Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 2.2 Entwürfe zur Weiterentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 2.3 Voraussetzungen für die Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272
Teil 4 Interreligiöse Kooperation in der Ausbildung: Erfahrungen – Aufgaben – Perspektiven
1 Welche Kompetenzen brauchen Religionslehrkräfte für interreligiös-kooperatives Unterrichten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 1.1 Interreligiöse Bildung als Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 1.2 Aufgaben und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1.3 Kompetenzen für interreligiös-kooperatives Unterrichten . . . . . . . . 281 2 Interreligiöse Kooperation im Studium als Weg des Kompetenzerwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2.1 Erfahrungen aus der Praxis des Studiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 2.2 Leitlinien für interreligiöse Kooperation im Studium . . . . . . . . . . . . 293 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Die Autorin und die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317
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Inhalt
Warum dieses Buch? – Zur Einleitung
Dieses Buch ist an der Zeit! Sein Erscheinen bringt zum Ausdruck, dass die Kooperation in Religionsunterricht und Religionspädagogik inzwischen nicht nur verschiedene Konfessionen miteinander verbindet, sondern auch in interreligiöser Hinsicht weiter voranschreitet. Dem Anliegen, dass diese Kooperation in Zukunft noch weiter vorangetrieben werden soll, folgt auch diese interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik selbst. Ähnlich wie vor einigen Jahrzehnten erste religionspädagogische Lehrbücher nicht mehr allein aus evangelischer oder katholischer Perspektive vorgelegt werden konnten, sondern aus einer ökumenischen Zusammenarbeit erwuchsen, so erscheint es jetzt dringlich und zeitgemäß, mit einem interreligiösen Lehrbuch einen weiteren Schritt zu wagen. Leitend ist dabei nicht die Vorstellung eines einfach gemeinsamen, sog. allgemeinen Religionsunterrichts, bei dem die verschiedenen religiösen Traditionen und Identitäten mehr und mehr verschwinden (sog. Fusion). Vielmehr geht es um eine Kooperation, die von eigenständig bleibenden Formen von Religionsunterricht getragen wird und bei der beides, Gemeinsamkeiten und Unterschiede beständig im Blick sind. Denn gerade darauf kommt es an: andere auch dann anzuerkennen und wertzuschätzen, wenn sie anders bleiben und anders bleiben wollen. Dabei kommt es nicht nur auf die Wahrnehmung der anderen an, sondern muss das Ziel immer mehr darin bestehen, die Stimme der anderen zu hören – sie also selbst zu Wort kommen zu lassen. Dies entspricht auch dem Verständnis von Dialog, das hier zugrunde liegt. Dialoge im Bereich von Religion und Religionen dienen nicht dem in anderen Zusammenhängen sinnvollen Ziel, Unterschiede aufzulösen. Dialoge sind vielmehr gerade deshalb sinnvoll, weil es zumindest in vieler Hinsicht um Unterschiede – bis hin zu einander widersprechenden Glaubensüberzeugungen – geht, die sich nicht auflösen lassen. Doch muss immer wieder neu ausgelotet werden, wo es wirklich bei Unterschieden bleiben muss und wo sich neue Gemeinsamkeiten erkennen oder auch gewinnen lassen. Interreligiöskooperative Religionsdidaktik ist kein statisches Unternehmen, sondern lässt
Warum dieses Buch? – Zur Einleitung
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sich auf lebendige Begegnungen, auf überraschende Wahrnehmungen und neue Einsichten ein. Ziel des Bandes ist eine Einführung in die Religionsdidaktik, die schon in der Form der Darstellung den beiden Leitprinzipien der Elementarisierung und des dialogischen Lernens folgt. Durchweg werden Fragen und Themen in elementarisierender Zuspitzung auf die Fragen und Orientierungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen sowie in der Verknüpfung christlicher und muslimischer Perspektiven bearbeitet. Alle Teile des Buches sollen diesem zweifachen Prinzip gerecht werden. Jedes Thema wird aus beiden Perspektiven aufgenommen – zum Teil in aufeinander folgenden Arbeitsschritten, zum Teil aber auch in gemeinsamer Darstellung. Dabei stehen die christlichen und muslimischen Perspektiven nicht einfach nebeneinander. Vielmehr sind alle Kapitel immer schon mit einem Blick auf LeserInnen mit einer anderen Religionszugehörigkeit geschrieben. Zusätzlich soll deutlich werden, was dabei vielleicht für die jeweils anderen zu lernen wäre – beispielsweise also was am Koran so wichtig erscheint, dass es auch ChristInnen wissen und möglicherweise für sich selbst aufnehmen oder sogar übernehmen könnten, oder welche Überzeugungen in der Bibel auch für MuslimInnen bedeutsam werden könnten. In dieser Hinsicht zielt der Band aber ebenfalls nicht auf bloße Übernahmen aus der jeweils anderen Religion. Vielmehr soll durchweg Raum für kritische Wahrnehmungen sein. Denn Dialoge leben davon, dass die Beteiligten auch wechselseitig kritische Anfragen formulieren. Es soll kein Buch sein, in dem Konflikte einfach unter den berühmten Teppich angeblicher Friedfertigkeit gekehrt werden. Bei der konfessionellen (evangelisch-katholischen) Kooperation im Religionsunterricht hat sich die Zielformel Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden bewährt. Deshalb soll nun geprüft werden, ob sich auch die christlich-islamische Zusammenarbeit im Religionsunterricht sinnvoll aus dieser Perspektive begreifen und ausgestalten lässt. Deshalb muss immer wieder geklärt werden, was von der christlichen und der islamischen Religionspädagogik gemeinsam ausgesagt werden kann und was nicht. Alle Texte wurden daher im Dialog entwickelt und zum Teil ausdrücklich als Dialoge geschrieben – in der Absicht, die interreligiöse Kooperation weiter zu stärken. Der Anspruch einer interreligiösen Einführung in die Religionsdidaktik wird in diesem Band exemplarisch im Blick auf die Kooperation zwischen der islamischen und der christlichen Religionspädagogik aufgenommen. Diese exemplarische Konkretion ist aber ausdrücklich nicht exklusiv gemeint. Sie versteht sich als ein Anfang, auf den weitere Schritte folgen können und folgen sollen. Das gilt insbesondere im Blick auf den jüdischen Religionsunterricht, wie er im deutschsprachigen Bereich zumindest in manchen Regionen als ordentliches
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Warum dieses Buch? – Zur Einleitung
Lehrfach der Schule eingerichtet ist. Für diese Perspektive steht in diesem Band symbolisch ein Kommentar von Ascher J. Mattern, der als jüdischer Theologe dazu Stellung nimmt, wie das Thema Judentum im christlichen und im islamischen Religionsunterricht behandelt werden kann. Das Buch ist selbst aus der interreligiösen Kooperation zwischen der Autorin und dem Autor entstanden, unter anderem in kooperativen religionspädagogischen Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekten, an denen als katholischer Partner zumeist auch Reinhold Boschki beteiligt war und beteiligt ist. Dass er in diesem Band nur bei einzelnen Teilen als Mitautor erscheint, ist zeitlichen Gründen geschuldet. Eine vollständige Synchronisierung der Arbeitspläne von gleich drei Personen war nicht zu erreichen. Umso erfreulicher ist es, dass dieser Band gleichwohl auch in der Autorschaft auf die Zusammenarbeit mit ihm verweist. Die Kooperation zwischen der evangelischen, islamischen und katholischen Religionspädagogik besitzt an der Universität Tübingen, in der die Autorin und der Autor forschen und lehren, auch einen institutionellen Hintergrund: In Tübingen gibt es nicht nur seit 200 Jahren nebeneinander eine Evangelisch-theologische und eine Katholisch-theologische Fakultät, sondern seit mehr als zehn Jahren auch das Zentrum für Islamische Theologie. Zwischen den drei Einrichtungen entwickelt sich eine zunehmend lebendige Zusammenarbeit, u. a. in Gestalt kooperativer Lehrveranstaltungen und Studiengänge, gemeinsamer Forschungsprojekte sowie der Institutionalisierung eines Campus der Theologien. Besonders zu erwähnen ist darüber hinaus der im Jahr 2020 offiziell durch die Universität – mit besonderer, sehr dankenswerter Unterstützung durch Rektor Bernd Engler – eingerichtete religionspädagogische Forschungsverbund als bislang national und international einmalige Form der evangelischen, islamischen und katholischen Kooperation, in die – wo immer möglich – auch KollegInnen aus dem Bereich des Judentums einbezogen werden sollen. Dieser Band wendet sich an Religionslehrkräfte und Studierende, die Einblick in die jeweils andere Religionspädagogik sowie in Kooperationsmöglichkeiten im Religionsunterricht gewinnen möchten. Damit bereitet er auf eine schulische Wirklichkeit vor, die in Zukunft wohl immer alltäglicher sein wird, je weiter die Einführung des islamischen Religionsunterrichts vorankommt. Der Band stellt sich von Inhalt und Aufbau her den Anforderungen, die an Einführungen dieser Art heute gestellt werden. Unterscheidendes Merkmal ist jedoch die interreligiöse Perspektive, die in anderen Einführungen in aller Regel eher am Rande bleibt. Über die bislang aus nur einer konfessionellen oder religiösen Perspektive verfassten Darstellungen hinaus bietet der Band damit Einblicke in die jeweilige Nachbardisziplin und ermöglicht Vergleiche, die auch neue Einsichten zur jeweils eigenen religionsdidaktischen Tradition erlauben.
Warum dieses Buch? – Zur Einleitung
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Von Anfang an wollen wir klar zum Ausdruck bringen, dass wir nicht für das Christentum oder den Islam sprechen, sondern unsere wissenschaftlichen, aber immer auch persönlichen theologischen und pädagogischen Sichtweisen darlegen, die wir dialogisch aufeinander beziehen. Mit Blick auf das Verständnis des Islam in diesem Buch ist darauf hinzuweisen, dass die Autorin Islam als eine Haltung versteht, also als einen stets neu zu vollziehenden, persönlichen Akt der Hingabe gegenüber Gott. In diesem Sinne ist Islam ein Akt der Subjekte und kein System, das unabhängig von ihnen existiert und agiert. Deshalb werden die dargestellten theologischen Positionen nicht als »islamisch« bezeichnet, sondern als »muslimisch« im Sinne von diskursiven Positionen, die menschliche Subjekte aus ihrer Haltung der Hingabe gegenüber Gott heraus vertreten. Wir würden uns freuen, wenn das Unternehmen einer interreligiöskooperativen Didaktik durch diesen Band weiter vorangetrieben werden kann. Eine solche Didaktik soll den Kindern und Jugendlichen dienen, dem Religionsunterricht und der Schule, aber auch dem Frieden in einer globalen Welt. Hinweis: Für die Wiedergabe der Koranverse wurde die neue Übertragung von Hartmut Bobzin (2017) verwendet. Der Koran ist in 114 Suren aufgeteilt. Wenn auf Verse in Klammern verwiesen wird, dann deutet die Zahl links neben dem Doppelpunkt auf die Surenzahl und die Zahl rechts neben dem Doppelpunkt auf die Verszahl. Die Bibel wird nach der Luther-Übersetzung der heute geläufigen modernisierten Form (Revison 2017) zitiert. Alle Zeitangaben, die Entwicklungen auf muslimischer Seite betreffen, werden nach der in Deutschland üblichen Zeitrechnung angegeben. Nicht zuletzt ist das Erscheinen dieses Buches ein Anlass zum Dank. Elisabeth Schreiber-Quanz hat als Lektorin das Vorhaben von Anfang an mit Engagement und hilfreichen Hinweisen begleitet. Als studentische Mitarbeiterinnen haben sich Raffaela Ehrenfeuchter und Antonia Valesca Lehmann bei den Korrekturen sowie als erste Leserinnen sehr verdient gemacht. Für ihre Mitwirkung als Autoren sind wir Reinhold Boschki und Ascher J. Mattern sehr verbunden. Tübingen, im Frühjahr 2021 Friedrich Schweitzer & Fahimah Ulfat
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Warum dieses Buch? – Zur Einleitung
Teil 1
Grundfragen der Religionsdidaktik
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Die religiöse Situation der Gegenwart: Herausforderungen für den Religionsunterricht
In einer Einführung in die Religionsdidaktik kann kein umfassender Überblick zur religiösen Gegenwartssituation gegeben werden. Dennoch ist es wichtig, sich von Anfang an bewusst zu sein, dass Religionsunterricht immer in einer konkreten gesellschaftlichen Situation stattfindet, die bestimmte Herausforderungen in sich schließt. Darauf zielt die Darstellung im Folgenden. Die Religionsdidaktik befasst sich vor allem mit übergreifenden Tendenzen wie Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung von Religion. Darüber hinaus muss heute gefragt werden, welche Rolle die Globalisierung etwa in Gestalt von Migration und Flucht sowie die zunehmende Heterogenität der Lerngruppen für religiöse und interreligiöse Bildung spielen. Dazu gehören auch Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse sowie die soziale Ungleichheit, die ebenfalls religionsdidaktisch reflektiert werden müssen. Weiterreichend muss auch die Deutungsmacht gesellschaftlicher Diskurse bezüglich religiöser Themen – beispielsweise in der Integrationsdebatte – wahrgenommen werden.
1.1 Religion und Religionen Zunächst ist es hilfreich, sich die quantitativen Verhältnisse vor Augen zu führen. Dabei muss bewusst bleiben, dass nicht alle Religionen klare Mitgliedschaftsverhältnisse aufweisen. Darüber hinaus unterliegen die religiösen Zugehörigkeitsverhältnisse einem starken Wandel. Über die bloße Zugehörigkeit hinaus kommt es immer auch auf die religiöse Praxis der einzelnen Menschen an. Religionszugehörigkeit und Religionslosigkeit Wenn man die religiöse und konfessionelle Verteilung der Bevölkerung in Deutschland zwischen 1950 und heute vergleicht, wird deutlich, dass Deutschland ein multireligiöses Land geworden ist. Vor 50 oder 60 Jahren gehörten noch
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Die religiöse Situation der Gegenwart: Herausforderungen für den Religionsunterricht
etwa 95 % der Gesamtbevölkerung der katholischen bzw. der evangelischen Kirche an (46 % katholisch, 50 % evangelisch). Ende 2019 lag der Anteil beider Kirchen zusammen bei ca. 52 % (27 % katholisch, 25 % evangelisch). Veränderungen wie die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990, die Arbeitsmigration ab 1961, die Zuwanderung von AussiedlerInnen und Geflüchteten, die sinkende Zahl an Taufen, Kirchenaustritte sowie andere gesellschaftliche Entwicklungen haben zu diesem Rückgang geführt (vgl. Eicken & Schmitz-Veltin, 2010; Evangelische Kirche in Deutschland, 2020, S. 5; Hintergründe s. Grethlein, 2014). Wie sich der Teil der Bevölkerung, der nicht zu einer der beiden großen Kirchen gehört, genau zusammensetzt – aus Konfessionslosen, Angehörigen weiterer christlicher Kirchen, MuslimInnen, Juden/Jüdinnen usw. – ist nicht leicht zu sagen. Zum Teil fehlen statistische Angaben, zum Teil gibt es – vor allem im Blick auf den Islam – keine formale Mitgliedschaft. Deshalb kann die Zahl der MuslimInnen nicht einfach über die Mitgliedschaft in einer Moscheegemeinde erfasst werden. Die Zahl der MuslimInnen wurde bis 2006 anhand von Schätzungen und Hochrechnungen dargestellt, die darauf basieren, wie viele Menschen aus »28 mehrheitlich muslimischen Ländern« nach Deutschland eingewandert sind (Spielhaus, 2013, S. 6). Ihre Zahl wurde auf 3,1–3,4 Millionen geschätzt. In diese Schätzungen gingen einerseits auch diejenigen ein, die aus mehrheitlich muslimischen Ländern stammten, aber keine MuslimInnen waren, andererseits fehlten die MuslimInnen, die aus mehrheitlich nicht-muslimischen Ländern stammten. Zudem fehlten beispielsweise diejenigen, die in Deutschland zum Islam konvertiert sind, sowie ihre Nachkommen. Um ein verlässlicheres Bild zu gewinnen, wurde die Studie »Muslimisches Leben in Deutschland« in Auftrag gegeben (Haug et al., 2009). In diesem Falle wurden Menschen aus 49 Ländern mit »relevantem Anteil muslimischer Bevölkerung« befragt. Zudem wurde der Anteil der Menschen aus der Türkei oder aus dem Iran ermittelt, die sich selbst als MuslimInnen bezeichnen. Dabei wurde festgestellt, dass ein nicht zu unterschätzender Anteil von Menschen, die aus mehrheitlich muslimischen Ländern stammten, angab, keine MuslimInnen zu sein. Die Zahl der MuslimInnen wurde in Deutschland dann auf 3,8–4,3 Millionen geschätzt (vgl. Haug et al., 2009, S. 11). Schon die Unterschiede zwischen den Resultaten machen deutlich, dass die Angaben wenig verlässlich sind. Das gilt auch für den »Zensus« (zuletzt von 2011). Hier konnten sich MuslimInnen nur als »Sunnit«, »Schiit« oder »Alevit« einordnen. Weitere Strömungen waren nicht vorgegeben. Zudem konnten die Befragten die Angabe der Religionszugehörigkeit verweigern, was 17 % in Anspruch genommen haben. Im Ergebnis gaben nur knapp 2 % – also ca. 1,5 Millionen – an, MuslimInnen zu sein (vgl. Spielhaus, 2013, S. 8). Nach der Hochrechnung von 2016 (vgl. Stichs, 2016), bei der Konvertierte sowie MuslimInnen, die aus nicht muslimisch geprägten Herkunftsländern stammen, wiederum nicht berücksichtigt wurden (vgl. S. 11), lebten 2015 zwischen 4,4 und 4,7 Millionen MuslimInnen in Deutschland (ca. 5,5 % der Gesamtbevölkerung). Durch die Fluchtbewegung der Jahre 2014 und 2015 sind die Herkunftsregionen der MuslimInnen vielfältiger geworden. Die aktuellste Hochrechnung von 2020 gibt an, dass »in Deutschland im Jahr 2019 zwischen 5,3 Millionen und 5,6 Millionen muslimische Religionsangehörige (einschließlich alevitischer Religionsangehöriger) mit einem Migrationshintergrund aus […] 23 berücksichtigten muslimisch geprägten Herkunftsländern leben«, das macht 6,4–6,7 % der Gesamtbevölkerung aus (Pfündel et al., 2021, S. 37). Die Länderauswahl hat
Religion und Religionen
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sich im Vergleich zur Studie von 2016 verändert, Konvertierte sowie MuslimInnen, die aus nicht muslimisch geprägten Herkunftsländern stammen, sind auch hier nicht berücksichtigt. 45 % der MuslimInnen haben Wurzeln in der Türkei, 19,2 % in Südosteuropa, 7,6 % in Nordafrika, 19,2 % im Nahen Osten und 8,8 % im Mittleren Osten mit Iran. 74 % sind sunnitisch, 4 % schiitisch, 8 % alevitisch (wobei sich nicht alle AlevitInnen dem Islam zurechnen). 11 % geben keine Glaubensrichtung an (vgl. S. 46).
Zum Vergleich: Laut relativ aktuellen Studien leben schätzungsweise rund 500.000 MuslimInnen in Österreich, was einen Bevölkerungsanteil von 6–7 % ausmacht, und 338.000 in der Schweiz (ca. 5 % der Bevölkerung) (vgl. Halm & Sauer, 2017, S. 35). Es gibt in Deutschland noch eine ganze Reihe anderer religiöser Gruppen, deren Mitgliedschaft aber im niedrigen einprozentigen Bereich liegt: Juden/ Jüdinnen, BuddhistInnen, Hindus, Sikhs. Lediglich die Orthodoxen Kirchen erreichen in Deutschland zwischen 1 und 2 % (knapp 2 Millionen). Die Zahl der Konfessionslosen in Deutschland kann ebenfalls nicht genau ermittelt werden. Ihre Zahl wird lediglich als Rest nach Abzug der Kirchenmitglieder und Andersgläubigen ausgewiesen. Dabei muss auch bewusst bleiben, dass Konfessionslosigkeit nicht mit fehlender Gläubigkeit oder Religionslosigkeit gleichzusetzen ist. Austritte aus Kirchen können beispielsweise auf eine religiös motivierte Kritik an den Institutionen zurückgehen oder zum Zweck der Umgehung der Kirchensteuer erfolgen. Religiosität und religiöse Praxis von ChristInnen und MuslimInnen Zu beiden Religionsgruppen liegen empirische Befunde vor, die ein zunächst gegenläufiges Bild ergeben: Im Bereich des Christentums verstehen sich viele zwar als ChristInnen und halten auch ihre Kirchenmitgliedschaft aufrecht, zeigen aber sowohl im Blick auf die Kirche als auch die kirchlichen Lehren deutliche Distanz. Im Bereich des Islam scheint ein vergleichbar distanzierter Anteil sehr viel kleiner. Dies drückt sich auch in der jeweiligen Religionspraxis aus. Allerdings wird dieser Gesamteindruck vor allem durch qualitative Untersuchungen teilweise modifiziert, indem hier religiös distanzierte MuslimInnen einerseits und religiös nicht einfach desinteressierte ChristInnen andererseits stärker in den Blick kommen als bei quantitativen Umfragen. Religiosität von ChristInnen: Viele ChristInnen besuchen nur selten einen Gottesdienst. Von den etwa 20 Millionen ProtestantInnen beispielsweise finden sich an einem normalen Sonntag nur etwa 2 % im Gottesdienst. An hohen Feiertagen wie etwa Heiligabend sind es etwa 40 % (vgl. EKD, 2020, S. 14). Die Zahlen für die katholische Kirche liegen insgesamt etwas höher (vgl. Katho
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lische Kirche in Deutschland, 2020, S. 77). Folglich gibt es viele Menschen, die sich einer der beiden großen Kirchen zugehörig fühlen und die regelmäßig Kirchensteuer bezahlen, die sich aber zumindest nicht an den gottesdienstlichen Angeboten beteiligen. Besonders ausgeprägt ist die geringe Beteiligung am Gottesdienst bei älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die allerdings im Kindes- und früheren Jugendalter noch fast zu 100 % an der (katho lischen) Erstkommunion und zum Teil auch an der (katholischen) Firmung oder der (evangelischen) Konfirmation teilnehmen. In vieler Hinsicht ist von einer individuellen oder privaten religiösen Praxis zu sprechen. Dazu gehört ganz allgemein der Glaube an Gott, den beispielsweise etwa 75 % der evangelischen Jugendlichen bejahen. Sehr hoch ist mit ebenfalls etwa 75 % auch der Anteil junger evangelischer und katholischer Menschen, die zumindest gelegentlich beten. Ähnliche Tendenzen werden auch bei den in Deutschland regelmäßig durchgeführten Shell-Jugendstudien deutlich (s. zuletzt Shell Deutschland Holding, 2019). Der Gottesdienstbesuch ist kein verlässlicher Indikator für die Religiosität im Christentum. Religiosität von MuslimInnen: Im Rahmen verschiedener Studien wird auch die Religiosität und Religionspraxis von MuslimInnen erhoben. Dabei werden MuslimInnen insbesondere in quantitativen Studien als relativ homogene Gruppe religiöser bzw. hochreligiöser Menschen dargestellt. Beispielsweise konstatiert die Studie »Muslime in Deutschland«, dass »die Hälfte der muslimischen Allgemeinbevölkerung als religiös (39,4 %) oder sehr religiös (16,6 %) zu kennzeichnen [ist]. Bei den Schülern fallen fast zwei Drittel in diese Kategorie, bei den muslimischen Studierenden 54,6 %« (Brettfeld & Wetzels, 2007, S. 14). Der im Jahre 2008 veröffentlichte Religionsmonitor ergab ein ähnliches Bild (vgl. Bertelsmann Stiftung, 2008, S. 6), ähnlich auch die Studie »Muslimisches Leben in Deutschland« (vgl. Haug et al., 2009). Ebenso führen Jugendstudien zu dem Befund, dass Religion für muslimische Jugendliche eine größere Bedeutung zu haben scheint (vgl. Shell Deutschland Holding, 2019; ähnlich die SINUS-Studie: Calmbach et al., 2016; oder auch Schweitzer et al., 2018). Ähnlich stellen sich die Verhältnisse auch in anderen europäischen Ländern dar. Die Zustimmung zum Gottesglauben ist am höchsten, aber auch die Beteiligung am Freitagsgebet wird als sehr hoch beschrieben, auch wenn keineswegs alle MuslimInnen daran teilnehmen (vgl. Halm & Sauer, 2017, S. 34). Nicht übergangen werden sollte, dass es einen Anteil von MuslimInnen gibt, die sich nicht ohne Weiteres als »gläubig« bezeichnen. 2009 waren dies 14 % der befragten MuslimInnen (vgl. Haug et al., 2009, S. 141). Diese Gruppe von Menschen, die sich zwar als MuslimInnen verstehen, aber als »nicht gläubig«, wird in den meisten quantitativen Studien tendenziell vernachlässigt.
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In qualitativen Studien, in denen die Subjekte selbst zu Wort kommen, tritt dieser Typ deutlicher zutage. Es könnte also sein, dass die quantitativen Befunde gerade bei den MuslimInnen zu wenig Tiefenschärfe aufweisen und dass sich hinter einem allgemeinen Zustimmungsverhalten eine andere Realität verbirgt. Eine Korrelation zwischen der Selbstzuordnung als MuslimIn und der Stärke der Religiosität sollte jedenfalls nicht einfach vorausgesetzt werden. Gerade bei jungen Menschen machen qualitative Studien eine Verschiebung im Verständnis von Religion, Glaube und Religiosität sichtbar. Das betrifft vor allem die Abwendung von dem »traditionellen« Islam, der stark kulturell konnotiert wird, und eine Hinwendung zu einem »konstruierten, wahren Islam«, »der kulturell ungebunden und universalistisch« sein will (Karakaşoğlu & Öztürk, 2007, S. 167). Darin ist nicht zuletzt ein Ausdruck der Herausforderungen der modernen Rahmenbedingungen in Zentraleuropa zu sehen, aber auch eine Antwort auf diese.
1.2 Übergreifende gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Entwicklungen Säkularisierung Die in Zentraleuropa sinkenden Mitgliederzahlen der Kirchen werden unterschiedlich erklärt. Die Säkularisierungsthese geht davon aus, »dass Prozesse der Modernisierung einen letztlich negativen Einfluss auf die Bedeutung der Religion in der Gesellschaft ausüben und deren Akzeptanz vermindern« (Pollack, 2018, S. 395). Ursprünglich bedeutete die Säkularisierungsthese, dass Religion in der Moderne immer mehr verschwinde. Heute wird diese These nur noch in einer modifizierten Form vertreten – eben dass die Bedeutung von Religion stark rückläufig sei. Säkularisierungstheoretische Ansätze versuchen, zu erklären, wie und wodurch sich der Stellenwert des Religiösen in der Gesellschaft verändert hat. Kritisiert werden diese Ansätze u. a. wegen der Konstruktion eines negativen Zusammenhangs zwischen Religion und Moderne sowie der Annahme, dass Entwicklungen wie Rationalisierung, Technisierung, Bildungsanstieg, Wohlstand usw. durchweg einen negativen Effekt auf Religion haben. Die im Folgenden aufgenommenen Begriffe von Individualisierung, Privatisierung und Subjektivierung werden zum Teil als Alternativen zur Säkularisierungsthese verstanden.
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Individualisierung, Privatisierung und Subjektivierung Ein spezifischer Aspekt der westlichen Moderne ist die Individualisierung. Sie bezeichnet »den Prozess, in dem sich die Lebensführung der Einzelnen aus den vorgegebenen gesellschaftlichen Fixierungen herauslöst« (Knoblauch, 2018, S. 333). Das bedeutet eine »hochgradig vereinzelte Ausprägung der Religiosität, die sich nur noch auf einzelne bezieht« (S. 334). Die religiöse Lebensführung ist nicht mehr abhängig von traditionellen religiösen Organisations- und Bedeutungsstrukturen oder Autoritäten, sondern von den Individuen selbst, die nun ihre eigenen Entscheidungen treffen. Da das Individuum selbst wählen und entscheiden kann, entsteht eine »Nachfrage« auf einem »religiösen Markt«, die von »Anbietern« abgedeckt werden muss (S. 334–335). Privatisierung bezeichnet im religionssoziologischen Diskurs eine Verschiebung von Religion aus der öffentlichen in die private Sphäre, wodurch sich diese von formalen Organisationen wie Kirchen ablöst. Dabei erfüllen religiöse Institutionen weiterhin religiöse Funktionen. Sie werden aber im Zuge der Privatisierung vielfältiger, entwickeln mehr Angebote, treten in Wettbewerb untereinander und gehören damit selbst zum »religiösen Markt«. Subjektivierung im religionssoziologischen Sinne bedeutet, dass Religion als ein in erster Linie subjektives Phänomen wahrgenommen wird, das an die inneren Erfahrungen gebunden ist. Was als Glaube akzeptiert wird, wird dann ganz von den individuellen Erfahrungen abhängig gemacht. Bei dem Versuch, die Deutungsmodelle von Säkularisierung, Individualisierung, Subjektivierung und Privatisierung auch auf MuslimInnen in Zentraleuropa zu übertragen, bleibt grundsätzlich zu beachten, dass diese hierzulande eine Minderheit darstellen. Außerdem kennen MuslimInnen keine mit den Kirchen vergleichbaren religiösen Institutionen. Zur Frage individueller Orientierungen und Formen muslimischer Religiosität bei muslimischen jungen Erwachsenen haben etwa Tietze (2001) oder Tressat (2011) qualitative Untersuchungen durchgeführt, die belegen, dass bei den Jugendlichen eine Privatisierung des Religiösen erkennbar ist. In der Auseinandersetzung der jungen MuslimInnen mit der Fremd- und Selbstwahrnehmung muslimischer Religiosität entstehen auch individuelle religiöse Formen. Dies führt zu einer doppelten Verhältnisbestimmung der Jugendlichen sowohl gegenüber den Vorstellungen der Eltern als auch gegenüber den Vorstellungen der Gesellschaft, die zu einer doppelten Abgrenzung führen kann. In diesem Spannungsfeld dient Religiosität ihrer Identitätskonstruktion. Diese funktionale Art der Identifikation bedarf aber nur des Bekenntnisses zum Islam und muss nicht mit religiöser Praxis verbunden sein (vgl. Tressat 2011, S. 133).
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Tietze (2001) bezeichnet die muslimische Religiosität in der Moderne als eine Religiosität im »Subjektivierungsmodus«. Bei jungen muslimischen Männern in schwierigen Lebenslagen findet eine Identifikation mit der islamischen Tradition statt. Diese muss aber neu entdeckt, um nicht zu sagen »neu erfunden« werden, damit sie in der konkreten biografischen und sozialen Situation des Individuums ihr Potenzial entfalten kann. So entstehe ein subjektives Verhältnis zur islamischen Tradition (vgl. S. 8). Trotz solcher Befunde darf nicht außer Acht gelassen werden, dass in vielen Bereichen dennoch Unterschiede zu nichtmuslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sichtbar werden. Das gilt etwa für Familienorientierung, Beziehungs- und Lebensformen, Körperlichkeit, Sexualmoral, Geschlechterverhältnisse und Heiratsverhalten (vgl. Wensierski, 2012; Wensierski et al., 2008; Wensierski & Lübcke, 2012). Die Jugendlichen befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen konträren (Rollen-)Erwartungen des sozialen Umfeldes. Offenbar verlieren religiös legitimierte Normen und Werte trotz der Individualisierung und Subjektivierung nicht einfach jede Bedeutung. So bewegen sich muslimische Jugendliche zwischen verschiedenen vorherrschenden Diskursen, von denen sie sich unter Umständen emanzipieren oder an denen sie sich orientieren wollen. Dadurch kommt es zu biografischen und spirituellen Konfliktpotenzialen. Pluralisierung In der Gegenwart nimmt die religiös-weltanschauliche Pluralität immer mehr zu. Diese Vielfalt ist nicht nur auf der Ebene religiöser Gemeinschaften fassbar, sondern auch auf der individuellen Ebene. Religiöse Pluralisierungsprozesse setzen in Europa bereits in der Zeit der Reformation ein, als sich die Einheit des mittelalterlichen Christentums auflöste und die sog. Konfessionen entstanden. Muslimische Religiosität wurde in Deutschland durch die Anwerbung von Arbeitskräften aus der Türkei in den 1960er Jahren heimisch. Seit etwa den 1970er Jahren haben auch fernöstliche Religionen an Einfluss gewonnen. Eine notwendige Voraussetzung für die zunehmende Freiheit zur individuellen Aneignung auch »fremder« religiöser Orientierungen war dabei eine Säkularisierung, die nicht nur im rechtlichen Bereich verblieb, sondern die Hand in Hand ging mit einer gesellschaftlichen Liberalisierung. Flucht und Migration sind weitere Faktoren, die zur religiösen Pluralisierung in Deutschland beitragen, u. a. im Blick auf orthodoxe und orientalische Kirchen. Schattenseiten der religiösen Pluralisierung liegen im Erstarken fundamentalistischer und extremistischer Bewegungen bis hin zu religiösem
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Terrorismus etwa von gewaltbereiten islamistischen Bewegungen. Grundsätzlich wird religiöse Vielfalt heute aber als »integraler Bestandteil jenes freiheitlichen Gesellschaftsmodells demokratischer Staaten [angesehen], in dem der Einzelne sich mit seinen je eigenen Anlagen, Wünschen und kreativen Kräften auf der Basis der rechtlichen und staatsbürgerlichen Gleichheit frei entfalten kann und soll. Rechtlich drückt sich dies in der Absicherung der Religions-, Bekenntnisund Gewissensfreiheit« aus (Liedhegener, 2018, S. 350). Religiöse Pluralisierung führt aber auch zu Prozessen der »Selbstvergewisserung und Neuorientierung« in den etablierten Religionen sowie auch zur »theologischen Reflexion auf die eigene Glaubenstradition« und zum interreligiösen Dialog (S. 370). Religiöse Pluralisierung ist nicht nur eine gesellschaftliche und politische, sondern auch bildungspolitische Gestaltungsaufgabe. Da die hinzugekommenen religiösen Gemeinschaften in Deutschland zunehmend Forderungen nach rechtlicher Anerkennung und gesellschaftlicher Akzeptanz stellen, werden Fragen des friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens virulent. Gerade im Schulalltag zeigen sich religiöse Unterschiede, die zu vehementen Auseinandersetzungen führen können, wie Fragen der Ernährung, Kleidung, des Schwimm- und Sportunterrichts, der Sexualkunde u. a.
Globalisierung Globalisierung meint »das erfahrbare Grenzenloswerden alltäglichen Handelns in den verschiedenen Dimensionen der Wirtschaft, der Information, der Ökologie, der Technik, der transkulturellen Konflikte und Zivilgesellschaft, und damit im Grunde genommen etwas zugleich Vertrautes und Unbegriffenes, schwer Begreifbares, das aber mit erfahrbarer Gewalt den Alltag elementar verändert und alle zu Anpassungen und Antworten zwingt« (Beck, 2015, S. 44). Entfernungen werden irrelevant und die Welt schrumpft zusammen. »Die Gleichzeitigkeit von ungleichzeitigen Ereignissen« wird durch die modernen Medien »virtuell« hergestellt (S. 45). Wesentliches Kennzeichen der Globalisierung ist die wechselseitige Durchdringung des Globalen und Lokalen, als sog. »Glokalisierung« (vgl. Robertson, 1998). Religiöse Ereignisse, Bilder und Vorstellungen aus der Ferne werden als das Globale lokal im Alltag sichtbar, aber nicht eins zu eins, sondern in neuen Formen (vgl. Simojoki, 2014, S. 171). Auch Religionen und religiöse Traditionen globalisieren sich. Die katholische Kirche versteht sich selbst als weltweite Kirche, und auch im Protestantismus wächst das Bewusstsein einer weltweiten Ökumene sowie der unterschiedlichen Ausdrucksformen des Christentums auf verschiedenen Kontinenten. Globalisierungsprozesse sind auch innerhalb des Islam nachweisbar. Bereits das Aufkommen säkularer, liberaler oder radikaler Auffassungen des Islam stellt »nur unterschiedliche Antworten auf seine umfassende Globalisierung und weit-
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gehende Verwestlichung« dar (Roy, 2006, S. 7). Für MuslimInnen im Westen ist dies besonders erfahrbar, da ihre Religion nicht länger gewachsener Bestandteil der Kultur ist, in der sie leben, und sie somit ihre Selbstverständlichkeit verliert. Die transnationale Migration hat also ebenfalls Anteil an der Globalisierung der Religionen, trägt aber auch zur weiteren Pluralisierung von Religionen bei. Die »ursprünglichen Versionen« dieser Religionen verändern sich im Migrationskontext. Die »neuen Versionen« nehmen aber auch auf die »ursprünglichen Versionen« in den Heimatländern Einfluss (vgl. Beyer, 2007, S. 449). Auch die Entstehung von fundamentalistischen Bewegungen ist als eine typische Reaktion auf die Globalisierung zu werten, wie beispielsweise die islamische Revolution im Iran und die neue christliche Rechte in den Vereinigten Staaten zeigen (vgl. S. 452). Digitalisierung Globalisierung resultiert nicht zuletzt auch aus den heute weltweiten Kommu nikationsmöglichkeiten, wie sie sich durch die immer weitere Verbreitung digitaler Medien ergeben. Was dies für Religion und Religionen bedeutet, ist allerdings noch wenig erforscht. In welchem Maße nutzen (junge) Menschen die Möglichkeit, beispielsweise an religiösen Angeboten in anderen Ländern zu partizipieren? Auch bei den inzwischen zahlreichen religiösen Internet angeboten, wie sie auch von den großen Kirchen in Deutschland sowie von religiösen Gruppen im Bereich des Islam unterhalten werden, wird von hohen Zahlen von Klicks berichtet, aber es ist wenig darüber bekannt, wer sich dieser Möglichkeiten bedient. Soziale Ungleichheit Die religiös-weltanschauliche Vielfalt ist kein Phänomen im gleichsam luftleeren Raum. Vielfach gehen religiöse Unterschiede auch mit sozialer Ungleichheit einher (vgl. Unser, 2019). Dies darf gerade auch bei scheinbar rein theologischen Fragen wie dem sog. interreligiösen Dialog nicht übergangen werden. Junge MuslimInnen erfahren in Zentraleuropa in der Regel eine Lebenssituation, die ihnen in Bildung und Beruf keine Gleichberechtigung ermöglicht, sodass hier kaum von Bildungsgerechtigkeit gesprochen werden kann. Phänomene wie Fundamentalismus und Extremismus sind immer auch sozial bedingt. Wer für sein Leben in der Gesellschaft keine attraktiven Perspektiven finden kann, wird eher dazu bereit sein, gesellschaftlich gesehen deviante Orientierungen zu übernehmen.
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1.3 Deutungsmacht in gesellschaftlichen Diskursen Die Veränderungen der religiösen Gegenwartssituation, die in Deutschland und in anderen Ländern zu einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft geführt haben, wurden und werden von ausgeprägten kontroversen Debatten begleitet. Ein aufschlussreiches Beispiel ist die immer wieder aufflammende Diskussion um die sog. »deutsche Leitkultur«, an die sich vor allem MigrantInnen anpassen sollen (vgl. Schweitzer, 2014a, S. 21–28). Die Leitkultur wird dabei vor allem im Sinne bestimmter Werte verstanden, die – angeblich – der christlich-abendländischen Tradition entstammen. Worin genau sie bestehen, wird allerdings nicht gesagt. Insofern erweist sich die Debatte um die deutsche Leitkultur als Ausdruck einer konservativen politischen Position, die nicht von allen Menschen geteilt wird. Zu einer freiheitlichen Demokratie gehört zwingend, dass Menschen ihr Leben in Freiheit gestalten und dabei auch eigene wertebezogene Prioritäten setzen dürfen. Dass es gleichwohl – auch in der Sicht einer theologischen Ethik – sinnvoll und notwendig ist, nach Wegen zu suchen, wie unter pluralen Voraussetzungen ein gesellschaftlicher Zusammenhalt möglich ist, steht freilich außer Frage. Mit anderer Begrifflichkeit wird das Verhältnis zwischen Freiheit und Anpassung u. a. mit dem Schlagwort Integration verbunden. Lange Zeit war damit die Bereitschaft gemeint, sich an die bestehende deutsche Gesellschaft anzupassen. Dieser Vorstellung wurde vor allem mit dem Leitbild einer multikulturellen Gesellschaft ein Modell entgegengestellt, das auch Veränderungen der gesellschaftlichen Situation in Deutschland wertschätzen soll. Dass genau dieses Modell gleichzeitig immer wieder in die Kritik geriet (»Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert!«, sagte Kanzlerin Angela Merkel 2010), ist insofern kein Zufall. Um Deutungsmacht geht es aber nicht nur in der deutschen Politik. Beispielsweise kann auch der Begriff Islamophobie, soweit er von der türkischen Regierung als Kampfbegriff eingesetzt wird, als Beispiel für das Ringen um Deutungsmacht verstanden werden. In diesem Falle geht es dann darum, dass bestimmte, etwa gegen die türkische (Expansions-)Politik gerichtete Stimmen dadurch disqualifiziert werden sollen, dass sie als Ausdruck der Islamphobie gebrandmarkt werden. Eine Grenze finden die individuellen Optionen und Wertepräferenzen sowie auch politische Positionen allerdings im Recht, insbesondere im Grundgesetz sowie den Grund- und Menschenrechten.
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1.4 Verhältnis der Religionen zueinander Wie an anderer Stelle in diesem Buch genauer entfaltet, kann zunächst von positiven Entwicklungen in der Theologie und auch im Mainstream der Religionsgemeinschaften berichtet werden. Eine früher weit verbreitete generelle Abwertung der jeweils anderen Glaubensweisen als häretisch oder falsche und gar zu bekämpfende Religion ist hier weithin einer offenen Dialogbereitschaft gewichen, die von der notwendigen Koexistenz bleibend verschiedener und zum Teil kontroverser Glaubensüberzeugungen ausgeht. Weiterreichend finden sich auch Versuche, besonders die drei monotheistischen Religionen von Judentum, Christentum und Islam als Formen eines gemeinsamen Glaubens an den einen Gott zu würdigen. In diesen Zusammenhang gehören Entwicklungen wie die Einrichtung von Instituten und Zentren für islamische Theologie und Religionspädagogik, wie sie insbesondere in Deutschland, aber auch in anderen Ländern wie etwa Österreich in Gang gekommen ist. Positive Ausstrahlungskraft können auch zivilgesellschaftliche Initiativen wie die in Nürnberg schon seit den 1980er Jahren unter maßgeblicher Beteiligung von Johannes Lähnemann regelmäßig durchgeführten interkulturellen und interreligiösen Foren oder die internationalen Versammlungen »Religionen für den Frieden« gewinnen (vgl. Lähnemann, 2017 und 2021). Doch dürfen die negativen Entwicklungen im Blick auf Multikulturalität und Multireligiosität gerade pädagogisch nicht übergangen werden. Dazu gehören wechselseitige Vorbehalte von Angehörigen der verschiedenen Religionen. Insbesondere ist hier der in Zentraleuropa in den letzten Jahren erstarkte Antisemitismus zu nennen (vgl. Bernstein, 2020). Islamfeindlichkeit oder zumindest eine Ablehnung von MuslimInnen werden in Deutschland regelmäßig durch entsprechende Untersuchungen belegt. In der Studie »Jugend – Glaube – Religion« (Schweitzer et al., 2018) beispielsweise waren 22 % der Befragten der Auffassung, es gebe in Deutschland zu viele MuslimInnen. Diese Studie macht auch deutlich, dass Jugendliche heute bei Religion und besonders beim Islam häufig an Gewalt, Extremismus und Terrorismus denken und deshalb eine ablehnende Haltung entwickeln. Andere empirische Untersuchungen zeigen, dass fundamentalistische Haltungen, die auch mit Gewaltbereitschaft einhergehen, vor allem bei muslimischen Jugendlichen eine Rolle spielen.
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Die religiöse Situation der Gegenwart: Herausforderungen für den Religionsunterricht
Zum Weiterlesen Klöcker, Michael & Tworuschka, Udo (2019). Handbuch der Religionen. Kirchen und andere Glaubensgemeinschaften in Deutschland und im deutschsprachigen Raum. Hohenwarsleben: Westarp. Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Für Deutschland und für viele andere Länder in Zentraleuropa ist ein Wandel zu kon statieren, durch den die traditionelle christliche Prägung der Bevölkerungsmehrheit immer mehr einer religiösen und weltanschaulichen Vielfalt weicht. Dennoch bleibt es bislang bei ausgeprägten Mehrheits- und Minderheitsverhältnissen (in Deutschland gehören etwas mehr als 50 % der Bevölkerung zum Christentum, ca. 5 % zum Islam). Ȥ Die multikulturelle und multireligiöse Situation erzeugt bei jungen Menschen einen erhöhten Orientierungsbedarf, der durch den Religionsunterricht aufge nommen werden muss. Ȥ Der Religionsunterricht gewinnt in dieser Situation neu an Bedeutung für ein Zusammenleben in Frieden und Toleranz, Respekt und wechselseitiger Anerkennung. Ȥ Aus theologisch-religionspädagogischer Perspektive kommt es immer mehr auf eine Vertrautheit mit anderen Religionen an, die sich auf ein theologisch reflektiertes Verständnis stützen kann. Ȥ Eine nicht zu übergehende Herausforderung liegt in fundamentalistischen Haltungen, die auch schon bei Jugendlichen anzutreffen sind (Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, negative Einstellungen zum Christentum usw.).
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Was bedeutet religiöse Bildung?
Es ist heute selbstverständlich, dass die Religionsdidaktik ihren Ausgangspunkt in Bezug auf religiöse Bildung finden muss. Religionsdidaktik bezieht sich auf ein Schulfach, und die Schule versteht Bildung als ihre Grundaufgabe, auch wenn weitere Aufgaben wie vor allem die Erziehung nicht einfach ihre Bedeutung verloren haben. Zugleich stellt das Verhältnis zwischen Bildung und Religion vor besondere Fragen, schon weil Religion nicht einfach wie Schreiben oder Rechnen gelehrt oder gelernt werden kann. Daher ist genauer zu klären, was an Religion überhaupt zu lehren und zu lernen ist und welche Aufgaben in der Schule wahrgenommen werden sollen. Damit sind theologische Bestimmungen zur Lehrbarkeit von Religion angesprochen. Zugleich bringt es der schulische Rahmen mit sich, dass immer auch erziehungswissenschaftliche Kriterien zu beachten sind. Die interreligiöse Zugangsweise spielt im Folgenden gleich mehrfach eine Rolle. Sie macht bewusst, dass Bildung heute vorbei an den multireligiösen Verhältnissen in der Gesellschaft nicht mehr plausibel sein kann. Darüber hinaus macht der interreligiöse Zugang deutlich, dass das Verhältnis zwischen Religion und Bildung nicht mehr einfach aus der Perspektive nur einer Religion wahrgenommen werden kann, so wie dies in Deutschland im Blick auf das Christentum lange Zeit ausreichend erschien. Nicht zuletzt folgt dieses Kapitel wie der gesamte Band einem dialogischen Interesse, das in diesem Falle hinsichtlich konfligierender Wahrheitsansprüche konkretisiert werden soll. Angesichts der Kompetenzdiskussion der letzten 20 Jahre könnte gefragt werden, ob es nicht angemessener wäre, wenn die Religionsdidaktik nunmehr ihre Grundlegung in einem Kompetenzverständnis statt im Bildungsbegriff finden würde. Eine solche Erwartung übersieht allerdings, dass Kompetenzbeschreibungen ihre Begründung gerade in einem darüber hinausgehenden Bildungsverständnis finden sollen, die durch diese Beschreibungen dann konkretisiert oder, mit dem Fachbegriff gesprochen, operationalisiert werden (vgl. Klieme et al., 2007). Im Folgenden wird daher auch nach Kompetenzen gefragt, aber eben im Horizont religiöser Bildung.
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Dass Religion zur Bildung gehört, ist weit weniger umstritten als die Notwendigkeit eines eigenen Schulfachs Religion ( S. 92 ff.). Zu prüfen bleibt aber, welche Aufgaben der religiösen Bildung sich in der Schule stellen und welche außerhalb der Schule besser wahrgenommen werden können. Religiöse Bildung geht nicht in der formalen Bildung auf, sondern schließt notwendig auch informelle und non-formale Bildungsprozesse ein.
2.1 Religion und Bildung – Bildung und Religion Die Überschrift – Religion und Bildung, Bildung und Religion – soll deutlich machen, dass es hier um ein Wechselverhältnis geht, das sich von beiden Seiten her erschließen lässt. In beiden Fällen zeigt sich, wie Bildung und Religion zusammengehören, aber je nach Ausgangspunkt kann sich ein anderes Bild ergeben (vgl. Schweitzer, 2014b). Religion und Bildung Einen wichtigen Ausgangspunkt für das Interesse an Bildung stellt sowohl im Christentum als auch im Islam die Tatsache dar, dass es sich um Religionen handelt, in deren Zentrum mit Bibel und Koran ein Buch steht, dem jeweils eine maßgebliche Bedeutung beigemessen wird. Der Prozess der Überlieferung, der sich als Aufgabe mit jeder Generation neu stellt, ist durch die Schriftlichkeit der religiösen Tradition in grundlegender Weise an Lesen und Schreiben sowie das Verstehen und die Auslegung von Texten gebunden. Weiterreichend begründet die Zentralstellung des Buches in beiden Traditionen eine ausgesprochene Liebe zu textlichen Ausdrucksformen, wie sie etwa in der Kalligrafie auch äußerlich sichtbar wird. Zu den eindrücklichen Erkenntnissen, die aus der Geschichte von Christentum und Islam zu gewinnen sind, gehört darüber hinaus die Beobachtung, dass für beide Religionen zumindest zu bestimmten Zeiten ein überaus enges Verhältnis zu Bildung im Sinne von Philosophie oder Wissenschaft prägend war. In der Geschichte des Christentums wird dies in der sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten vollziehenden Hinwendung zur Philosophie greifbar. Es erschien offenbar sinnvoll, den neuen Glauben im Horizont der damals vorherrschenden Philosophie plausibel zu machen. Das war nur möglich, indem dieser Glaube philosophisch durchdrungen und umgekehrt die Philosophie in einen christlichen Horizont gerückt wurde. Ergebnis war die wissenschaftliche Theologie, die bis heute, wenn auch in veränderter Form das Christentum in wesentlicher Weise mitbestimmt.
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In der muslimischen Geistesgeschichte finden sich dazu vor allem im Mittelalter deutliche Parallelen. Schon früh wurden die maßgeblichen philosophischen Traditionen der Zeit, vor allem die antike Philosophie als Horizont für die Entwicklung von Falsafa (Philosophie), Kalām (rational-metaphysische Theologie) und später von Fiqh (Normenlehre) genutzt. Die damalige Nähe zwischen muslimischen Lehren bzw. theologischen Disziplinen und der Philosophie erklärt auch, warum die antike Philosophie – nach einer langen Zeit des Vergessens im christlichen Bereich – über die Brücke der Übersetzungsbewegung des antiken geistigen Erbes – ihren Weg nach Europa fand. Im Bereich des Christentums wird besonders dem Protestantismus eine ausgeprägte Bildungsorientierung nachgesagt. Dies geht auf die Reformationszeit zurück, in der Theologen wie Luther und Melanchthon sich auch für eine allgemeine Schulpflicht und für die Einrichtung von Schulen einsetzten (vgl. Schweitzer, 2016b), wobei die Schulpflicht in Deutschland erst Jahrhunderte später eingeführt wurde. Hinter diesem Engagement für Bildung standen theologische Motive, insbesondere die Vision einer Kirche, die mit dem Priestertum aller Gläubigen nicht mehr einfach durch das Amtspriestertum bestimmt sein sollte – eine Sicht, die sich heute auch in der katholischen Kirche findet. Alle ChristInnen sollen in der Lage sein, sich selbst aus der Bibel zu belehren und selbst urteilsfähig zu werden. Nicht der Glaube der Kirche, sondern der Glaube des einzelnen Christenmenschen entscheidet in evangelischer Sicht über das Heil. Das Bewusstsein der Grenzen, die bei allem Religionsunterricht zu wahren sind, verbindet sich ebenfalls besonders mit dem Protestantismus. Der Glaube selbst ist nicht lehrbar. Er kann nicht einfach durch Unterricht erzielt werden, zumindest nicht im Sinne eines Lernziels, das auch tatsächlich erreichbar sein muss. Theologisch gesehen geht es beim Glauben um eine menschlich nicht verfügbare Größe (im Kleinen Katechismus beschreibt es Martin Luther so, dass der Mensch »nicht aus eigener Vernunft oder Kraft zum Glauben kommen« kann, Luther, 1976, S. 511 ff.). Der Glaube bleibt ein Geschenk Gottes. Dem entspricht aufseiten der Pädagogik die Warnung vor jedem Versuch, Kinder und Jugendliche bis in ihr Innerstes hinein prägen zu wollen. In diesem Falle würde aus Bildung oder Erziehung eine Form der Indoktrination. Bei klassischen muslimischen Gelehrten und Denkern finden sich zahllose Überlegungen zu Lehren, Lernen und Erziehung. Ihre Ideen basierten zum einen auf der theologischen Anthropologie des Koran, zum anderen aber auch auf zoroastrischen und antiken griechischen Vorstellungen, es lassen sich sogar Einflüsse aus der mystischen Tradition des Judentums rekonstruieren (vgl. Günther, 2013, S. 363).
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Der Mensch wird laut Koran als frei und verantwortlich geschaffen (2:30), zugleich aber auch als von Gott getragen beschrieben (2:22, 17:70). Er ist mit einer fiṭra (30:30) ausgestattet. Im Allgemeinen wird mit diesem Begriff das Wissen um die Existenz Gottes als der menschlichen Natur angeboren vorausgesetzt. Die Fähigkeit, Gott zu suchen und zu finden, ist demnach eine anthropologische Grundkonstante. Der Mensch hat damit das Potenzial zur Gotteserkenntnis.1 Er ist mit Vernunft und einem erkenntnisbereiten Verstand ausgestattet, sodass er in der Lage ist, die Welt zu begreifen, um so zu Gott finden zu können und sich ihm willentlich hinzugeben. Bildung und Erziehung haben die Funktion, den Menschen zu unterstützen, sein Potenzial zu entwickeln. Der Mensch wird also intellektuell und spirituell grundsätzlich als fähig angesehen, Religion auszuprobieren und sich dabei seinen eigenen Weg zu suchen. Er ist aber auch in der Lage, sich willentlich gegen das Angebot Gottes zu entscheiden (vgl. Ulfat, 2019c). Insgesamt misst der Koran dem Lernen sowohl religiöser als auch profaner Inhalte und dem rationalen Begreifen einen wesentlichen Stellenwert zu. Der Koran fordert dazu auf, sich mit seiner Botschaft kritisch auseinanderzusetzen. Auch die Aussagen und die Lebensweise des Propheten Muhammad machen deutlich, dass das Studium und die Suche nach Wissen eine theologische Verpflichtung für jedes Geschlecht gleichermaßen darstellen. Die Erfindung des Papiers im 8. Jahrhundert verlieh Bildung und Studium in der arabisch-muslimischen Gesellschaft einen revolutionären Schub. Pädagogisch orientierte Schriften muslimischer Denker der klassischen Periode des Islam (9.–13. Jahrhundert) reflektieren, was religiöses Lernen für die Entfaltung des Menschen bedeutet, wie Wissen für das Lehren aufbereitet werden muss, um die individuellen Fähigkeiten der SchülerInnen zu berücksichtigen, wie das kreative Denken und die rationale Schlussfolgerung angeregt und Lernprozesse unterstützt werden können (vgl. Günther, 2013). Bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Bildung geht es aber keineswegs nur um historische Zusammenhänge, auch wenn diese instruk tiv bleiben. In religionspädagogischer Hinsicht entscheidend ist vielmehr, ob sich der Prozess der religiösen Tradierung im Sinne der im Generationenverhältnis erforderlichen Weitergabe der Glaubensinhalte als ein Bildungsprozess verstehen lässt (vgl. Schweitzer, 2019c, S. 60–68). Die Brisanz dieser Frage tritt erst vor Augen, wenn der Bildungsbegriff dabei nicht – wie heute weithin 1
Auf dieser anthropologischen Vorstellung basiert beispielsweise auch der Bildungsroman des arabisch-andalusischen Philosophen Ibn Ṭufail, der beschreibt, dass ein Junge, der auf einer einsamen Insel aufwächst und nur von der Natur und von Tieren umgeben ist, zur Gotteserkenntnis in der Lage ist. Dieser Roman soll die Vorlage für Daniel Defoes »Robinson Crusoe« geliefert haben.
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üblich – inflationär, sondern in anspruchsvoller Weise verwendet wird. Die religiöse Tradierung muss dann in einem auf Mündigkeit zielenden Prozess so ausgelegt werden, dass Kinder und Jugendliche dabei zunehmend zu sich selbst bestimmenden Subjekten werden können. Diesem Anspruch wurden die jeweils realisierten Formen von Erziehung und Unterweisung sowohl im christlichen Bereich als auch im muslimischen Bereich lange Zeit kaum gerecht. Stattdessen herrschten Methoden einer direkten Instruktion vor, wie sie mit dem Begriff des Katechisierens verbunden werden. Grund dafür waren sowohl die in der Vergangenheit nicht nur im Blick auf Religion, sondern beispielsweise auch in der Schule üblichen Vorstellungen, die weit stärker von Auswendiglernen als von Verstehen bestimmt waren. Eine Rolle spielten aber auch die besonderen Inhalte: Da es sich hier zumindest teilweise um offenbarungsbezogene Inhalte handelt, stand die möglichst wortgetreue Überlieferung im Vordergrund. Demgegenüber hat sich in der Religionspädagogik die Einsicht durchgesetzt, dass wirksame Formen der Aneignung nur dort erreichbar sind, wo der Kreativität der Kinder und Jugendlichen Raum gegeben wird. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die reale Praxis im Religionsunterricht dieses Ziel tatsächlich realisiert. Mit der Religionsdidaktik kommen immer auch kritische Maßstäbe ins Spiel, die gegebenenfalls gegenüber der Praxis zur Geltung gebracht werden müssen. Für die Gegenwart gewinnt Bildung noch in einem weiteren Sinne eine geradezu unerlässliche Bedeutung, die sich aus den veränderten Plausibilitätsbedingungen von Glaubensüberzeugungen in der Moderne ergibt. Wenn Menschen in einer durch wissenschaftliche Erkenntnisse geprägten Situation an religiösen Überzeugungen festhalten wollen, müssen sie dazu befähigt werden, deren Sinn für sich selbst, aber auch gegenüber anderen begründen zu können. Ein Beispiel aus den letzten Jahren stellt der Welt-Bestseller »Der Gotteswahn« von Richard Dawkins (2007) dar. Diesem Autor zufolge hat die Naturwissenschaft den Schöpfungsglauben definitiv widerlegt und damit jedem religiösen Glauben den Boden entzogen. Dawkins’ Argumentation ist dabei nicht nur theologisch, sondern auch philosophisch und naturwissenschaftlich problematisch (er will den Schöpfungsglauben als eine Art wissenschaftliche Hypothese verstehen, was diesem Glauben nicht gerecht wird), aber für viele Menschen ist dies kaum durchschaubar. Es bedarf einer besonderen Urteilsfähigkeit, die nur durch Bildung erworben werden kann.
Letztlich verbinden sich mit dem Verhältnis zwischen Religion und Bildung auch bestimmte Menschenbilder, im Sinne der pädagogischen Anthropologie, die darüber Auskunft gibt, wie Kinder und Jugendliche zu sehen sind. Im Falle der Religionsdidaktik geht es dabei um pädagogisch-theologisch-anthropologische Voraussetzungen, da die Theologien nicht zuletzt Aussagen über den Men-
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schen machen (vgl. Schlag & Simojoki, 2014; Behr 2014; zum Folgenden auch Schweitzer, 1992). Am wichtigsten ist dabei, was in der christlichen Religionspädagogik als Eigenrecht des Kindes und der Kindheit oder des Jugendalters thematisiert wird. Für die Pädagogik grundlegend ist die Anerkennung von Kindern als Wesen mit eigener Würde und eigenen Rechten. Deshalb müssen ihre Entwicklungs- und Orientierungsbedürfnisse auch beim Religionsunterricht genau beachtet werden. Nicht weniger wichtig ist es, ob Kinder als bildsame Wesen wahrgenommen werden oder als gleichsam widerständige Objekte, denen Wissen und Werte allererst eingebläut werden müssen. In der christlichen Tradition war in dieser Hinsicht lange Zeit die Lehre von der Erbsünde im negativen Sinne einflussreich: Man befürchtete, dass diese Sünde gerade bei Kindern und Jugendlichen zum Ausbruch kommen könne, weshalb beständige Aufsicht, Bedrohung und Strafe nahelagen. Erst in der Neuzeit wurden solche Negativbilder in der Religionspädagogik überwunden. In manchen muslimisch geprägten Bildungskontexten wird auch heute noch mit dem arabischen Begriff tarbiyya operiert, was vom Begriff yurabbi (aufziehen, ernähren, beibringen) abgeleitet wird. Der Begriff umfasst die materielle und institutionelle Voraussetzung für das Aufwachsen von Kindern, wurde aber zur Grundlegung einer Erziehungsideologie hochstilisiert. Kinder werden dann als leere Gefäße angesehen, die mit Wissen gefüllt und mit gutem Benehmen ausgestattet werden müssen. Aus einer wissenschaftlich orientierten islamisch-religionspädagogischen Perspektive ist dieser Begriff nicht mehr haltbar, da sich eine zeitgemäße Religionspädagogik an den Erkenntnissen der modernen Pädagogik ausrichten und somit Kinder als »produktiv realitätsverarbeitend« (Hurrelmann & Quenzel, 2016, S. 94), als handlungsfähig und als aktive Ko-Konstrukteure ihrer Wirklichkeit wahrnehmen muss. Wie dargelegt, ist der Begriff tarbiyya auch aus einer islamisch-anthropologischen Perspektive nicht haltbar. Daher rückt bildungstheoretisch der Begriff tazkiyya in den Vordergrund, was vom Begriff zakāh (im Innern gut sein, wachsen, sich läutern) abgeleitet wird. Pädagogisch wie theologisch wird der Begriff tazkiyya als Kultivierung des Selbst verstanden. In diesem Sinne werden Kinder als Subjekte angesehen, die das Recht auf Anregung zur Selbstentwicklung ihrer intellektuellen, sozialen und spirituellen Potenziale haben und zu eigenständigen Entscheidungen fähig sind. Dieses Bild vom Kind, das heute in der islamischen Religionspädagogik in Deutschland Konsens ist, orientiert sich in erster Linie an den Erkenntnissen der pädagogisch-psychologischen Anthropologie, da es sich in der muslimischen Tradition nicht eins zu eins wiederfindet. Freilich lässt es sich, wie dargestellt, im Einklang mit dem Menschenbild des Koran fundieren (vgl. Behr, 2014; Ulfat, 2019c).
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Bildung und Religion Nimmt man nun die umgekehrte Perspektive ein und wählt das Bildungsverständnis als Ausgangspunkt, so ist zu fragen, welches Interesse an Religion sich so gesehen ergibt. Dabei steht die Bildungsbedeutung von Religion – im Unterschied zum Religionsunterricht – in der bildungstheoretischen Diskussion im Prinzip außer Zweifel. Ausnahmen finden sich, wo ein von Atheismus, Rationalismus oder Ökonomismus geleitetes Bildungsverständnis vertreten wird. Atheistische Bildungsauffassungen wurden besonders im Horizont eines marxistischen Materialismus vertreten, wie er dann im Staatssozialismus etwa in der DDR auch politische Bedeutung gewann. Heute sind solche Auffassungen eher selten, während allein auf Rationalität und ökonomischen Nutzen gerichtete Bildungsziele weite Verbreitung besitzen: Ȥ Ein Bildungsrationalismus begegnet etwa in der Gestalt eines populär-naturwissenschaftlichen Denkens (vgl. Dawkins, 2007). In anderer Form findet es sich in populären Darstellungen zur Perfektion des Menschen durch neue Technologien im Bereich der Humangenetik (vgl. Harari, 2018). Vielleicht am weitesten auch in der Erziehungswissenschaft verbreitet ist jedoch ein Rationalismus, der Bildung allein im Horizont – angeblich – objektiver Erkenntnis im Sinne der Wissenschaft verstehen will (vgl. Hirst, 1994). Eine Verbindung von Bildung mit Religion erscheint dann als Selbstwiderspruch, weil eine solche Verbindung diese Objektivität bedrohen würde. Solche Objektivitätsansprüche haben inzwischen stark an Plausibilität eingebüßt. Die wissenschaftstheoretische Diskussion hat – etwa im Anschluss an Thomas S. Kuhn (1973) – eindrücklich gezeigt, dass sich auch die Wissenschaft immer in sich geschichtlich wandelbaren Horizonten (sog. Paradigmen) bewegt und eine davon unabhängige Objektivität nicht erreichbar ist. Alle Erkenntnis bleibt subjektgebunden. Wenn gleichwohl nach wie vor die Auffassung vertreten wird, dass Religion ihre Bildungsbedeutung eingebüßt habe, geht dies in vielen Fällen auf die Annahme zurück, dass die Säkularisierung unaufhaltsam voranschreite. Dabei wird freilich nicht beachtet, dass eine solche Sicht beispielsweise in der Religionssoziologie längst nicht mehr vertreten wird (vgl. bspw. Luhmann, 2000). Religion hat nicht einfach ihren Einfluss auf das Leben von Menschen verloren, sondern dieser Einfluss hat sich im Zuge etwa der religiösen Individualisierung und Pluralisierung verändert ( S. 18 ff.). Ȥ Die folgenreichste Abwertung religiöser Bildung geht heute wohl von ökonomischen Prioritäten im Bildungsdenken aus. Entsprechende Überzeugungen finden sich weniger in der Erziehungswissenschaft als vielmehr
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in einer Bildungspolitik, die den maßgeblichen Horizont für Bildung im globalen Wettbewerb und in der Sicherung des eigenen Wirtschaftsstandortes sehen will. Entsprechend sind Verlautbarungen zu Bildung aus dem Bereich der Europäischen Union vor allem auf die Fähigkeit zum unternehmerischen Handeln sowie von Technologie bezogen (vgl. Schreiner, 2012). Auch die OECD hebt etwa im Blick auf die von ihr initiierten PISA-Studien ökonomische Maßstäbe (»better jobs« – »higher salaries«) als Kriterien für Bildung hervor (vgl. OECD, 2001, S. 19). Auch wenn solche Bestrebungen, den menschlichen Lebenslauf als Wirtschaftskarriere auszulegen, leicht als unhaltbar zu durchschauen sind, verlieren sie ihren Einfluss dadurch nicht. In der Erziehungswissenschaft wird die anthropologische und kulturelle Bedeutung religiöser Bildung gerade in solchen Darstellungen bejaht, die für die weitere Diskussion besonderen Einfluss gewonnen haben. Im 20. Jahrhundert gilt dies exemplarisch für das Bildungsverständnis von Wilhelm Flitner (1967), das durch den Grundgedanken kultureller »Initiationen« bestimmt ist. Bildung setzt in seiner Sicht voraus, dass solche Einführungen in die Kultur stattfinden, und dazu gehört angesichts der abendländischen Geschichte auch unverzichtbar Religion. Flitner denkt dabei allerdings vor allem an das Christentum und dessen für Europa prägende Kraft, weshalb sein Bildungsverständnis unter den Voraussetzungen der Multireligiosität erweitert werden muss. Hilfreich sind dazu die stärker anthropologisch sowie erkenntnistheoretisch ansetzenden Darstellungen vor allem von Dietrich Benner (2014) und Jürgen Baumert (2002). Bei Benner gehört Religion zu den grundlegenden Formen menschlicher Praxis. Bildung müsse sich gleichursprünglich auf alle Praxisformen richten, und keine Form dürfe die anderen dominieren. Bei Baumert wird das Bildungsverständnis durch verschiedene Weltzugänge gegliedert, die sich als Fortschreibung der von Flitner beschriebenen Initiationen begreifen lassen. In diesem Falle steht Religion dann für einen bestimmten Weltzugang, der sich nicht auf Einzelerkenntnisse bezieht, sondern auf die Grundlegung von Erkenntnis und Wissen überhaupt (»konstitutive Rationalität«).
Auf weitere bildungstheoretische Sichtweisen soll im Zusammenhang der Begründungen für den Religionsunterricht genauer eingegangen werden ( S. 92 ff.). An dieser Stelle muss aber noch die Frage nach Bildung und Kompetenz aufgenommen werden, sowohl im Blick auf religiöse Kompetenz allgemein als auch speziell hinsichtlich interreligiöser Kompetenz. Bei der religiösen Kompetenz ist zuerst auf eine Berliner Forschungsgruppe um Benner zu verweisen, die dazu ein weithin beachtetes Kompetenzmodell entwickelt hat (vgl. Benner et al., 2011). Dieses Modell umfasst drei Komponenten: Kenntnisse, Deutungsfähigkeit sowie Partizipationsfähigkeit jeweils in Bezug auf Religion. Im Blick auf den Religionsunterricht bedeutet dies, dass dieser Unterricht der Vermittlung von Wissen über Religion(en) dienen soll, weiterreichend einer verstehenden Auseinandersetzung sowie der Befähigung dazu, an der Gesellschaft auch dort teilzuhaben, wo es um religiöse Zusammenhänge geht. Dabei wird nicht an religiöse Praxis im Sinne religiöser Vollzüge gedacht,
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sondern an ein reflektiertes Handeln im Blick auf religionsbezogene Fragen in der Öffentlichkeit, beispielsweise hinsichtlich der Frage, ob es in Deutschland auch gesetzlich geschützte islamische Feiertage geben soll. Schon solche Beispiele machen bewusst, dass zur religiösen Kompetenz insbesondere auch eine interreligiöse Kompetenz gehören muss. Im Anschluss an die Arbeitsgruppe um Benner wurden dazu in der Religionspädagogik weiterreichende Darstellungen vorgelegt (vgl. Schweitzer et al., 2017). Über die von Benner genannten Komponenten hinaus zeigt sich dabei die grundlegende Bedeutung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, da es bei interreligiösen Themen und Begegnungen fast immer darauf ankommt, die Perspektive des anderen oder der jeweils anderen Religion einnehmen zu können.
2.2 Dialogische Offenheit und der Umgang mit konfligierenden Wahrheitsansprüchen Unterschiedliche Glaubensüberzeugungen stehen nicht einfach nebeneinander, sondern können einander widersprechen. Dies ist gemeint, wenn von konfligierenden Wahrheitsansprüchen die Rede ist. Im Blick auf Christentum und Islam lässt sich dies besonders klar in Bezug auf das Verständnis von Jesus Christus verdeutlichen. Für den christlichen Glauben steht Jesus Christus als Sohn Gottes im Zentrum. Theologisch gesehen geht es dabei nicht um einen einzelnen Glaubensinhalt, sondern um das Fundament, von dem dieser Glaube insgesamt abhängig ist. Der Koran widerspricht einer solchen Sichtweise Jesu Christi ausdrücklich. Schon gleich nach seiner Geburt sagt Jesus im Koran: »Es steht Gott nicht an, einen Sohn anzunehmen« (19:35). Insofern ist hier von einem bleibenden Gegensatz auszugehen und stellt sich für den Religionsunterricht die Aufgabe, Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen, mit einander widersprechenden Glaubensüberzeugungen umzugehen ( S. 184 ff.).
Dabei ist zunächst auf die pädagogische und theologische Bedeutung der Wahrheitsfrage hinzuweisen. Glaubensüberzeugungen können etwa im Unterricht zwar auch einfach beschrieben werden, aber Bildungsprozesse, in denen Kinder und Jugendliche grundlegende Orientierungen für ihr Leben gewinnen können, werden erst möglich, wo es auch Raum für die Wahrheitsfrage gibt. In der Praxis wird freilich nur selten ausdrücklich nach »Wahrheit« gefragt, aber in anderer Gestalt ist diese Frage durchaus präsent. Für die SchülerInnen geht es beispielsweise darum, was sie als wirklich tragfähig und überzeugend ansehen können und was ihnen für ihr Leben wirklich »etwas bringt«. Wie gehen Kinder und Jugendliche mit einander widersprechenden Glaubensüberzeugungen um, und wie können sie von einer Klärung profitieren? Die
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möglichen Umgangsweisen lassen sich in das Spektrum zwischen Relativismus und Fundamentalismus einzeichnen. Auf der einen Seite steht die Auffassung, dass die Unterschiede doch »gar nicht so wichtig« seien, dass sie bei genauerer Betrachtung »gar nicht so groß« sind und dass man über Glaubensfragen »ohnehin nicht streiten« könne. Auf der anderen Seite können Überzeugungen, die dem eigenen Glauben widersprechen, auch als Bedrohung wahrgenommen werden. In diesem Falle wird eine weitreichende Infragestellung des eigenen Glaubens und damit auch des eigenen Selbst empfunden, die zu Abwehrreaktionen führt. In einer fundamentalistischen Sichtweise steht von vornherein fest, dass nur der eigene Glaube wahr und richtig sein kann.
Wie es um die Verbreitung relativistischer und fundamentalistischer Einstellungen bei Kindern und Jugendlichen steht, lässt sich derzeit nicht mit Sicherheit sagen, weder für die christlichen noch für die muslimischen Kinder und Jugendlichen. Hier fehlen noch empirische Untersuchungen. Beispielsweise ist aber bekannt, dass keineswegs alle christlichen Jugendlichen Jesus als den Sohn Gottes ansehen. Viele halten ihn einfach für einen besonderen Menschen (vgl. Ziegler, 2006). Ist hier von einer Annäherung zwischen christlichen und muslimischen Sichtweisen zu sprechen? Und was bedeutet es für den christlichen Glauben, wenn seine grundlegende Dimension christlichen Jugendlichen nicht mehr plausibel ist? Worin aber soll das Ziel des Religionsunterrichts hier genau bestehen? Manchmal wird die Forderung nach einem Dialog so verstanden, dass es darum gehe, die Gegensätze kommunikativ aufzulösen. Im Falle eines Streits beispielsweise in Erbschaftsangelegenheiten leuchtet dies ein: Die betroffenen Parteien sollen den Konflikt aus der Welt schaffen. Wie das Beispiel der unterschiedlichen Sichtweisen von Jesus in Bibel und Koran deutlich macht, ist diese Vorstellung im interreligiösen Bereich jedoch nicht plausibel. Sofern die entsprechenden Überzeugungen eine grundlegende Bedeutung für Christentum und Islam haben, lassen sie sich auch dialogisch nicht einfach auflösen. Insofern erweist sich die Bereitschaft, mit Unterschieden oder auch Gegensätzen zu leben, ohne dass dies zu Aggression oder gar Feindschaft führen muss, als ein wesentliches Ziel auch für den Unterricht. Anzustreben ist ein geprüftes, prinzipienorientiertes Urteil. Welche Prinzipien sind dabei gemeint? Ein solches Prinzip könnte beispielsweise als Toleranz bezeichnet werden – als reflektierte oder starke Toleranz, die im Sinne wechselseitiger Anerkennung nicht mit einem bloßen Hinnehmen von Unterschieden gleichzusetzen ist (vgl. Krimmer, 2013). Dabei spielt auch die Begründung der Toleranz eine wichtige Rolle. Mitunter wird davon ausgegangen, dass die Bereitschaft zur Toleranz durch ein demokratisches Rechtssystem erzwungen wer-
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den muss. Bleibendes Problem dabei ist, dass eine bloß aufgezwungene Toleranz kaum tragfähig sein kann. Bei Toleranz geht es um eine innere Haltung, die sich rechtlich nicht erzwingen lässt, sondern die in persönlichen, also auch religiösen Überzeugungen verankert sein muss. Der Frage nach »religiösen Wurzeln der Toleranz« – nach in den Glaubenstraditionen selbst verankerten Toleranzbegründungen – kommt daher päda gogisch erhebliche Bedeutung zu. Sowohl für die biblische als auch für die koranische Überlieferung (aber auch für die prophetische Tradition) lassen sich solche Wurzeln namhaft machen (vgl. Schwöbel, 2003). Dabei ist beispielsweise an Jesu Umgang mit religiösen Außenseitern zu denken oder im Koran an die Forderung eines friedlichen Zusammenlebens von MuslimInnen mit anderen »Buchbesitzern«, also Juden/Jüdinnen und ChristInnen (Koran 3:64).
2.3 Religiöse Bildung, Schule, Religionsunterricht Sowohl für das Christentum als auch für den Islam ist bei der religiösen Tradierung nicht nur an die Schule zu denken. Eine wichtige Rolle hat in der ganzen Geschichte schon die Familie gespielt. Daneben ist an pädagogische Angebote im Umkreis von Kirche und Moschee zu denken. Im christlichen Bereich spielen die Kinder- und Jugendarbeit sowie Angebote im Umkreis von Erstkommunion, Firmung und Konfirmation eine hervorgehobene Rolle. Auch im muslimischen Bereich ist auf die Kinder- und Jugendarbeit zu verweisen, die vor allem von muslimischen Gemeinden oder Verbänden unter anderem in Form von Hausaufgabenbetreuung, Freizeitgestaltung, Koranunterricht, Gesprächskreise und sportliche Aktivitäten angeboten wird. Auf interreligiöser Ebene sind ebenfalls Entwicklungen im Bereich der Jugendarbeit zu verzeichnen, wie die Projekte »Ibrahim trifft Abraham«, »Dialogbereit« und »Christlich-islamischer Jugendkreis« oder das »Evangelisch-Muslimische Frauen- und Mädchenprojekt« zeigen. Eine noch kaum zureichend erforschte Wirkung mit Blick auf die Religion geht bei alldem aber auch von den Medien aus. In den letzten Jahren hat sich zu Recht das Bewusstsein durchgesetzt, dass religiöse Bildung sich nicht nur in Schule und Unterricht mit ihrer für alle Kinder und Jugendlichen verpflichtenden Teilnahme erschöpft (formale religiöse Bildung), sondern dass auch das informelle Lernen in der Familie oder im Alltag (informelle religiöse Bildung) sowie die freiwillige Teilnahme an Bildungsangeboten im außerschulischen Bereich (non-formale religiöse Bildung) von großer Bedeutung sind (vgl. Schweitzer, Ilg & Schreiner, 2019). Das Prinzip der Freiwilligkeit und der partizipatorisch-demokratischen Strukturen sowie die
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Beteiligung von Ehrenamtlichen gelten dabei als ein großer Vorzug der nonformalen Bildung. Für den schulischen Religionsunterricht ist es wichtig, auch die in religiöser Hinsicht bedeutsamen vor- und außerschulischen Erfahrungen der SchülerInnen im Blick zu haben. Sie stellen eine wesentliche Lernvoraussetzung dar. Zugleich bringt es die Unterscheidung zwischen informeller, non-formaler und formaler religiöser Bildung mit sich, dass genauer gesagt werden muss, welche Aufgabe dem schulischen Religionsunterricht zukommen soll. Schon an dieser Stelle kann festgehalten werden, dass die besondere Chance des schulischen Religionsunterrichts mit dem Anspruch religiöser Bildung in der reflexiven Durchdringung religiöser Traditionen im Horizont der Selbstwerdung und der Entwicklung von Orientierungen im eigenen Leben sowie in der Gesellschaft gesehen werden kann. Dies gilt auch dann, wenn die herkömmliche Voraussetzung, dass sich der Religionsunterricht dabei auf eine vorauslaufende, etwa in der Familie angesiedelte religiöse Sozialisation beziehen könne, in der Gegenwart weder im christlichen noch im muslimischen Bereich ohne Weiteres gegeben ist. Zumindest im christlichen Religionsunterricht finden sich auch zahlreiche konfessionslose Kinder und Jugendliche. In vielen Fällen ist damit zu rechnen, dass Kinder in der Schule erstmals in expliziter Form religiösen Themen begegnen, auch wenn bei solchen Einschätzungen, wie sie heute aus der Praxis zu hören sind, immer mit zu bedenken bleibt, dass die großen religiösen Feste und Vollzüge wie Weihnachten oder Ramadanfest allen Kindern bekannt sind. Im islamischen Religionsunterricht finden sich ebenfalls Kinder und Jugendliche, die zwar formell als MuslimInnen bezeichnet werden, die aber keine religiöse Sozialisation in der Familie erfahren haben, oder auch Kinder und Jugendliche, die eher einen unreflektierten Bezug zu einer kulturell-nationalistisch gefärbten Religiosität haben und erst in der Schule erkennen, dass ihre individuelle Religionsausübung nur eine von vielen möglichen ist und dass es weder den Islam noch die Muslime gibt. Nicht zu übergehen sind schließlich auch Formen der religiösen Bildung in der Schule jenseits des Unterrichts. Dabei ist an Feiern und Feste zu denken, an Projekte und Arbeitsgemeinschaften, die mit der vermehrten Einführung der Ganztagsschule erheblich an Bedeutung gewonnen haben und mitunter auch in Kooperation mit außerschulischen PartnerInnen durchgeführt werden. Dabei nähern sich die formale religiöse Bildung und die non-formale religiöse Bildung einander an, etwa wenn es zu einem kooperativen Angebot in gemeinsamer Trägerschaft von Schule und außerschulischer Jugendarbeit in christlicher oder muslimischer Trägerschaft kommt. Das sog. Schulleben, zu dem alles in der Schule außerhalb des Unterrichts zählt, ist für interreligiöse
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Bildungsprozesse ebenfalls von besonderer Bedeutung. Schulgottesdienste beispielsweise werden heute vielfach unter Beteiligung verschiedener Religionen durchgeführt ( S. 246 ff.). Zum Weiterlesen Behr, Harry H. (2008). Bildungstheoretisches Nachdenken als Grundlage für eine islamische Religionsdidaktik. In Lamya Kaddor (Hrsg.). Islamische Erziehungsund Bildungslehre (S. 49–65). Berlin: LIT. Benner, Dietrich (2014). Bildung und Religion. Nur einem bildsamen Wesen kann ein Gott sich offenbaren. Paderborn: Schöningh. Schweitzer, Friedrich (2014). Bildung. Neukirchen-Vluyn: Neukirchner. Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Interreligiös-kooperativer Religionsunterricht muss dem Ziel einer Bildung die nen, durch die junge Menschen mündig und urteilsfähig werden. Ȥ Interreligiöse Bildung konkretisiert sich im Erwerb von Wissen sowie der Fähigkeit des Verstehens und der Perspektivenübernahme. Ebenfalls grund legend ist die Offenheit für andere und anderes, auch in religiöser Hinsicht. Ȥ Der Religionsunterricht sollte sich nicht auf religionskundliche Beschreibungen beschränken, sondern auch Raum für die Auseinandersetzung mit einander widersprechenden Überzeugungen bieten – mit dem Ziel, Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen, in friedlicher Weise mit solchen Widersprüchen umzugehen.
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Religionsdidaktik als Fachdidaktik
Fachdidaktik gewinnt in der LehrerInnenbildung immer mehr an Gewicht. Sie steht für eine pädagogisch qualitätsvolle Gestaltung von Unterricht, wobei zugleich der Bezug auf das jeweilige Fach als entscheidend angesehen wird. Lehr- und Lernprozesse müssen immer auch im Horizont einer bestimmten Fachlichkeit wahrgenommen werden. Damit ist bereits der Gewinn angesprochen, den eine interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik hier verspricht. Über das jeweils eigene Fach – evangelischer, katholischer, jüdischer, islamischer Religionsunterricht – hinaus kommt der Vergleich zwischen den Fächern in den Blick, was besondere Aufschlüsse zum Fachbezug der Religionsdidaktik erlaubt.
3.1 Grundbegriffe der Didaktik und ihre religionsdidaktische Bedeutung Als Fachdidaktik steht die Religionsdidaktik in der Reihe der Didaktiken für die Schulfächer. Entsprechend liegt ihre Aufgabe vor allem darin, wissenschaftlich ausgewiesene Bestimmungen dazu zu treffen, was und wie im Religionsunterricht gelehrt und gelernt werden soll. Dabei sind diverse Konkurrenzverhältnisse zu bedenken. Beispielsweise gerät der Anspruch der Fachdidaktik einerseits vielfach in Konkurrenz zur jeweiligen Fachwissenschaft und andererseits zu bildungspolitischen Entscheidungen etwa im Blick auf Bildungspläne. Was und wie in einem Fach gelehrt und gelernt werden soll, lässt sich dabei – wie gesagt – nicht unabhängig von der jeweiligen Fachlichkeit sagen. Dies begründet auch die Notwendigkeit unterschiedlicher Religionsdidaktiken, da sich die Inhalte beispielsweise zwischen dem islamischen und dem christlichen Religionsunterricht unterscheiden. In der Erziehungswissenschaft gibt es eine eigene Subdisziplin, die die Bezeichnung Allgemeine Didaktik trägt (klassisches Beispiel: Klafki, 1963). Diese
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Disziplin beschreibt das Lehren und Lernen in übergreifender Weise. Sie zielt auf eine für alle Fächer verbindliche Ausrichtung des Unterrichts. Dabei geht sie von normativen bildungstheoretischen Perspektiven aus. Da diese Disziplin in der Erziehungswissenschaft angesiedelt ist, steht sie allerdings vor der ungelösten Frage, wie sie sich zu den verschiedenen Fachdidaktiken verhalten soll. Da die Allgemeine Didaktik die Fachlichkeit von Unterricht nicht berücksichtigt, kann Fachdidaktik nicht einfach eine Konkretion allgemeindidaktischer Vorgaben sein. Während die Allgemeine Didaktik in früherer Zeit eine wichtige Funktion als bildungstheoretischer Impulsgeber für die Fachdidaktiken ausgeübt hat, wird derzeit kritisch gefragt, ob die Allgemeine Didaktik eine solche Funktion wirklich übernehmen kann, eben weil sie nicht auf die Fachlichkeit von Unterricht eingestellt ist. Deshalb wird nun nach Möglichkeiten einer Allgemeinen Fachdidaktik gefragt, die aus der Verständigung und dem Vergleich der verschiedenen Fachdidaktiken hervorgeht (vgl. Rothgangel et al., 2020). Dieser Versuch erbringt interessante Ergebnisse, aber es sollte nicht vergessen werden, dass auch ein normativer bildungstheoretischer Rahmen für alle Fächer unerlässlich bleibt. Gerade im Blick auf verschiedene Formen von Religionsunterricht könnte auch der Begriff der Bereichsdidaktik abgewogen werden. Dabei sollen fächerübergreifende didaktische Strukturen identifiziert werden, wobei die Nähe der entsprechenden Fächer im Vordergrund steht. Beispielsweise kann an Fremdsprachen gedacht werden oder auch an naturwissenschaftliche Fächer, die dann als Bereiche verstanden werden, für die es eine gemeinsame Didaktik geben kann. In dieser Perspektive kann gefragt werden, ob die Fachdidaktiken für verschiedene Formen von Religionsunterricht in einer Bereichsdidaktik zusammengefasst werden könnten. Bislang gibt es dazu noch keine weiterreichenden Klärungen, auch weil der Begriff der Bereichsdidaktik nur wenig Profilierung erfahren hat.
Schließlich ist noch auf ein verbreitetes Missverständnis hinzuweisen, demzufolge die Fachdidaktik vor allem eine Methodenlehre bieten soll. In der Didaktik wird ein solches Verständnis entschieden abgelehnt. Methoden dürfen didaktisch gesehen nicht isoliert betrachtet werden, sondern ihre Bedeutung ergibt sich erst aus den jeweils didaktisch zu bestimmenden Lehr- und Lernaufgaben. Auch wenn Methoden demnach eine dienende Funktion haben, wirken sie sich faktisch stark auf den Unterricht aus. Dazu liegen hilfreiche religionsdidaktische Darstellungen vor (vgl. Riegger, 2019).
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Religionsdidaktik als Fachdidaktik
3.2 Aufgaben der Religionsdidaktik Bestimmung der Ziele für den Unterricht als Bildungsziele Insbesondere die sog. bildungstheoretische Didaktik, der sich die Religionsdidaktik zunächst im Bereich des Christentums, später dann auch des Islam angeschlossen hat, vertritt den Anspruch, dass die Ziele für den Unterricht didaktisch bestimmt sein müssen, nämlich als ausdrückliche Bildungsziele. Demnach ist nicht einfach die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten entscheidend, sondern die Bildung der Person. Letztlich muss es immer um Mündigkeit oder Selbstbestimmung gehen, um gesellschaftliche Teilhabe und Mitbestimmung sowie um die Verantwortung für das Gemeinwesen (vgl. Klafki, 1985). Welche Herausforderungen darin liegen, lässt sich am Beispiel der Behandlung von Texten aus Bibel und Koran verdeutlichen. Im Horizont bildungstheoretischer Bestimmungen kann sich der Unterricht nicht darin erschöpfen, dass Kinder und Jugendliche bestimmte Texte aufnehmen und vielleicht, wie in der Tradition üblich, auswendig lernen. Stattdessen besteht das Ziel darin, dass die Begegnung mit Bibel oder Koran Kinder und Jugendliche in ihrer Selbstwerdung voranbringt. Bei der Auswahl von Texten kann deshalb auch nicht einfach deren Bedeutung für die jeweilige religiöse Tradition oder im gottesdienstlichen Gebrauch maßgeblich sein.
Beim Religionsunterricht wäre es allerdings wenig sinnvoll, davon auszugehen, dass zwischen dem Interesse an Bildung auf der einen und der Theologie als Wissenschaft auf der anderen Seite ein Verhältnis der Ausschließlichkeit bestünde. Sowohl die christliche als auch die islamische Theologie steht dem Bildungsziel der Selbstwerdung nicht einfach äußerlich gegenüber, sondern bietet bereits als Fachwissenschaft Vorstellungen dazu, wie dieses Ziel verstanden werden kann. Allerdings hat auch das Verhältnis zwischen Theologie und Bildung immer wieder problematische Vorstellungen bedingt. Das gilt etwa für Versuche, die Ziele für den Religionsunterricht direkt aus einer theologischen Dogmatik abzuleiten. Bildungspläne werden dann gleichsam zum Abbild dogmatischer Lehrbücher, ohne konstitutive Berücksichtigung der Kinder und Jugendlichen. Im christlichen Bereich stehen dafür Forderungen, dass der Unterricht einfach ein Katechismuswissen vermitteln soll. Im islamischen Bereich ist es vonseiten der religiösen Gemeinschaften zwar ebenfalls gewünscht, dass katechetisches Wissen im Sinne des sog. Ilmihal (islamisches Grundwissen) vermittelt wird. Allerdings konnten sich solche Wünsche kaum durchsetzen, da der neu eingeführte islamische Religionsunterricht an den Standards anknüpfen musste, die heute für einen zeitgemäßen Religionsunterricht gelten. Dennoch sind die Bildungspläne mitunter wie dogmatische Lehrbücher aufgebaut.
Aufgaben der Religionsdidaktik
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Wichtig bleibt der Bildungsanspruch auch gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen. In der Politik wird häufig die Auffassung vertreten, dass der Religionsunterricht vor allem der Wertevermittlung dienen soll. Heute sind es, besonders im Blick auf den islamischen Religionsunterricht, Anforderungen der Integration, die erfüllt werden sollen. Es soll hier weder der Auffassung widersprochen werden, dass der Religionsunterricht zur Wertebildung beitragen kann, noch der berechtigten Hoffnung auf einen Beitrag zur gesellschaftlichen Integration (auch wenn dieser Begriff nur in reflektierter Form akzeptabel ist). Abzulehnen sind aber rein funktionale Aufgabenbestimmungen, bei denen der Eigenanspruch des Unterrichts auf religiöse Bildung auf der Strecke bleibt. Transformation von fachwissenschaftlichen Inhalten für den Unterricht Aus dem Ziel einer bildungs- und lebensbedeutsamen Begegnung zwischen Inhalten und Lernenden folgt als weitere Grundaufgabe die sog. Transformation fachwissenschaftlicher Inhalte für den Unterricht. Dabei geht es um den Unterschied zwischen Inhalt und Thema: Inhalte müssen als Themen für bestimmte Personen erschlossen werden, damit sie für diese tatsächlich Bedeutung gewinnen. In evangelischer Sicht ist beispielsweise die Rechtfertigung aus Glauben ein zentrales Thema der Theologie. Kinder und Jugendliche werden mit dieser Formulierung zunächst kaum etwas anzufangen wissen, weil es in ihrem Leben dafür keine Anschlüsse gibt. Religionsdidaktisch besteht die Aufgabe deshalb darin, solche Anschlüsse beispielsweise im Verhältnis zur Identitätsbildung im Jugendalter erkennbar zu machen. Ein Beispiel dafür im Bereich des Islam wäre etwa die unmittelbare Beziehung des Menschen zu dem einzigen Gott, die von der »Hingabe« (islam) und der Entfaltung der natürlichen Disposition (fiṭra) gekennzeichnet ist, die laut dem Koran jedem Menschen zur Erkenntnis Gottes verhelfen kann. Ein Gedankenkonstrukt, das mit hoher Wahrscheinlichkeit vielen muslimischen Kindern und Jugendlichen vertraut ist, ist die naive Annahme, dass alle Menschen als MuslimInnen geboren werden. Diese Vorstellung bildet einen potenziellen Anknüpfungspunkt dafür, die Kinder und Jugendlichen mit der Vorstellung der »Hingabe« und der Entfaltung der natürlichen Disposition vertraut zu machen und ihnen einen reflektierten Zugang dazu zu ermöglichen. Denn im Koran wird in der Regel mit islam eine Haltung ausgedrückt, ein Akt der Hingabe gegenüber Gott und keine abgeschlossene Kategorie im Sinne einer »Religion« Islam (vgl. Murata & Chittik, 2006, S. 30 ff.; Ulfat, 2019b). Damit wird die Idee, jeder Mensch sei als MuslimIn geboren, die von den Kindern und Jugendlichen in der Regel als eine muslimisch-identitäre gedeutet wird, durch ein theologisch-anthropologisches Menschenbild korrigiert.
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Wissenschaftliche Forschung zum Religionsunterricht Die Fachdidaktiken verstehen sich zunehmend als selbst forschende Disziplinen. Die traditionelle Auffassung, dass sie vor allem dem Transport fachwissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis dienen sollen, gilt weithin als überholt. Forschungsaufgaben der Religionsdidaktik beziehen sich naturgemäß auf den Unterricht, wobei empirische Zugangsweisen eine hervorgehobene Rolle spielen. Auch die Religionsdidaktik steht vor der Aufgabe, (bildungs-)theoretische Perspektiven und empirische Erkenntnisse miteinander zu verbinden ( S. 163 ff.).
3.3 Religionsdidaktische Ansätze im Überblick Zur Form der Darstellung Faktisch gibt es die Religionsdidaktik nur in Gestalt unterschiedlicher Ansätze, die sich jeweils mit bestimmten Schwerpunktsetzungen verbinden. In der älteren Literatur wurde vor allem im evangelischen Bereich von sog. religionsdidaktischen Konzeptionen gesprochen (etwa die hermeneutische, problemorientierte, ideologiekritische, therapeutische, symboldidaktische, semiotische, performative Religionsdidaktik usw.). Diese Darstellungsweise ist nicht unproblematisch, weil sie die Gesamtaufgabe einer Religionsdidaktik, die sich nicht in einer bestimmten Ausrichtung erschöpfen kann, aus den Augen zu verlieren droht. Neuere Darstellungen sprechen daher eher von Ansätzen oder fragen nach Grundstrukturen der Religionsdidaktik, die nicht von einer bestimmten Akzentuierung abhängig sind. Bislang werden religionsdidaktische Ansätze in der Literatur vor allem im Blick auf den christlichen Religionsunterricht dargestellt. Deshalb muss geprüft werden, ob sich solche Darstellungen auch auf den islamischen Religionsunterricht übertragen lassen. Darüber hinaus ist zu klären, wie eine Auswahl aus der Fülle der möglichen Ansätze begründet vollzogen werden kann. Ȥ Der Stand der Diskussion lässt noch keine abschließende Antwort auf die Frage zu, ob sich die religionsdidaktischen Ansätze im christlichen und im islamischen Religionsunterricht so stark voneinander unterscheiden, dass sie nur jeweils für sich dargestellt werden können. Im Folgenden soll so verfahren werden, dass jeweils ausdrücklich auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede reflektiert wird. Es muss jeweils mitbedacht werden, wie sich die unterschiedlichen Inhalte – etwa Hadithe und neutestamentliche Briefe – auf die religionsdidaktischen Ansätze auswirken.
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Ȥ Im Blick auf die Auswahl der darzustellenden Ansätze erscheint vor allem die Identifikation von Grundstrukturen der Religionsdidaktik (vgl. besonders Biehl, 1996) sinnvoll. In dieser Perspektive treten zwei konstitutive Pole in den Vordergrund: die religiöse Überlieferung (Tradition) und deren Bezug auf die Gegenwart (Situation). Diese beiden Pole werden beispielsweise auch in der (katholischen) Korrelationsdidaktik als grundlegend angesehen, wobei hier zugleich eine theologische Entscheidung sichtbar wird: Der eigenen Gegenwart wird im Verhältnis zur Tradition eine ebenfalls maßgebliche Bedeutung beigemessen, was im Blick auf die SchülerInnen unmittelbar einleuchtet. Über die Bezüge auf Tradition und Situation hinaus kann sodann genauer auf die Form des Unterrichts reflektiert werden. Damit kommen Ansätze zur konkreten Ausgestaltung des Unterrichts stärker in den Blick. Die übergreifende Aufgabe der Elementarisierung, die sich bei allen Ansätzen gleichermaßen stellt, ist von den verschiedenen religionsdidaktischen Ansätzen noch einmal zu unterscheiden ( S. 50 f. und S. 140 ff.). Bibeldidaktik und Korandidaktik Christlicher und islamischer Religionsunterricht stehen beide vor der grundlegenden Herausforderung, wie die jeweils grundlegende Heilige Schrift, die vor vielen hundert Jahren entstanden ist, heute erschlossen werden kann. Diese allgemeine Herausforderung spitzt sich im Religionsunterricht noch einmal besonders zu. Didaktisch gesehen geht es aber nicht nur um das Verstehen der Heiligen Schrift, sondern um deren Bildungs- und Lebensbedeutsamkeit. Die Überlieferung kann nur dann als bedeutsam wahrgenommen werden, wenn eine Verknüpfung mit der Erfahrungs- und Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen gelingt. Es muss ihnen deutlich werden, dass ihre eigenen Erfahrungen – ihre Sinn- und Orientierungsfragen – in diesen Texten angesprochen sind. Im Christentum stellt sich dabei in der Moderne das zusätzliche Problem, dass der religiösen Überlieferung als solcher keine besondere, nicht zu hinterfragende Autorität mehr zukommt. Die Berufung auf den Offenbarungscharakter der Bibel schützt die biblischen Texte nicht vor Kritik. Soweit dies keine grundlegende Infragestellung der biblischen Überlieferung bedeutet, ist dies auch theologisch zu bejahen. Es muss sorgfältig unterschieden werden zwischen solchen biblischen Sinngehalten, denen eine bleibende Bedeutung zukommt, und solchen, die als zeitbedingt oder aus heutiger Sicht als problematisch gelten müssen. Dazu zählen beispielsweise abwertende Sichtweisen der Frau (vgl. bspw. 1. Kor 11).
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In dieser Hinsicht tritt ein wichtiger Unterschied zwischen Bibel und Koran vor Augen: Da sich die Bibel als ein von Menschen verfasstes Dokument versteht und nicht wie der Koran als unmittelbare göttliche Offenbarung ( S. 184 ff.), fällt es leichter, bestimmte biblische Aussagen kritisch zu bewerten. Gleichwohl weist auch der Koran sowohl überzeitliche als auch zeitgebundene Sinngehalte auf, was in der Koranexegese und vor allem der muslimischen Normenlehre Berücksichtigung finden muss. Dabei unterscheiden muslimische TheologInnen, die die Historizität des koranischen Textes berücksichtigen, zwischen universellen Aussagen, die als zeitlos gültig verstanden werden, und partikularen und situativen Aussagen, die als temporär gültig verstanden werden (vgl. z. B. Barlas, 2002; Rahman, 2009; Wadud, 1999; Zaid, 2008). Zusätzlich hat sich im Bereich der Koranexegese mit der Forderung, die Kontextualität der jeweiligen Offenbarungsanlässe beim Verständnis koranischer Aussagen konsequent zu beachten, eine wichtige Möglichkeit für eine reflektierte, also beispielsweise nicht auf isolierte Einzelverse beschränkte Auslegung, eröffnet. Die historische Kontextualisierung beinhaltet auch die Unterscheidung zwischen Versen, die die Praktiken der Menschen der arabischen Halbinsel des 7. Jahrhunderts beschreiben, an die sie direkt adressiert waren, Versen, die allgemein menschliche Praktiken beschreiben, Versen, die nur für bestimmte Situationen gelten, und solchen, die im Allgemeinen gelten. Das wird am Beispiel von Sure 4:34 deutlich, wo es sinngemäß heißt, dass Männer für die Frauen einstehen (qawwāmūn), weil Gott den einen von ihnen den Vorzug vor den anderen gewährte und weil sie etwas von ihrem Vermögen aufwenden. Zeitgenössische ExegetInnen weisen darauf hin, dass solche Stellen zu den historisch und kulturell spezifischen Versen gehören und nicht zu den universellen. Diese ExegetInnen beziehen die Versorgungsfunktion von Männern in diesem Vers aufgrund seines historischen Kontextes auf bestimmte Situationen, wie die Geburt von Kindern und die Kindererziehung, was aber keineswegs aussagen will, dass Frauen selbst unter diesen Umständen nicht für sich selbst sorgen könnten. Der Begriff qawwāmūn bedeutet demnach nicht, dass alle Männer für alle Zeit bedingungslos für alle Frauen verantwortlich sind oder Autorität über sie haben, wie manche traditionellen männlichen Exegeten behaupten (vgl. Badran, 2002, S. 203).
Auch dem schulischen Bildungsauftrag entsprechend muss sich der Religionsunterricht auf kritische und reflektierte Formen der Auslegung beziehen. Dem Prinzip der Wissenschaftsorientierung folgend muss er sich dabei an der wissenschaftlichen Exegese orientieren und nicht einfach an einer Bibel- oder Koranfrömmigkeit. Im Bereich der christlichen Religionsdidaktik hat sich in neuerer Zeit mit den inzwischen als modernen Klassikern angesehenen Modellen von Ingo Baldermann (1996) und Horst Klaus Berg (1993) eine kind- und erfahrungsorientierte Bibeldidaktik herausgebildet. Hier werden Texte nicht nur gelesen und
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interpretiert, sondern sie werden spielerisch und mithilfe expressiver Zugänge aus Kunst, Literatur und Musik angeeignet. Die Deutungsweisen von Kindern und Jugendlichen finden dabei große Beachtung. Eine kind- und erfahrungsorientierte Korandidaktik steckt noch in den Kinderschuhen. Erste Ansätze sind zurzeit in Entwicklung (vgl. Cavis, 2021; Mohammed, 2020; Özsoy et al., 2020). Problemorientierung im Religionsunterricht Der problemorientierte Ansatz geht auf eine bestimmte Zeit zurück (vgl. Knauth, 2003). In den 1950er und 1960er Jahren war der christliche Religionsunterricht vor allem Bibelunterricht. Mit großer Konsequenz wurde damals versucht, die in der wissenschaftlichen Exegese gewonnenen Erkenntnisse im Unterricht zugänglich zu machen, einschließlich der historisch-kritischen Bibelauslegung. Eher ungewollt führte dies zu einer stark geschichtlichen Ausrichtung des Unterrichts, die angesichts der gesellschaftlichen Neuaufbrüche in den 1960er Jahren immer weniger einzuleuchten vermochte. Alle Fächer der Schule waren nun mit der Frage konfrontiert, wie es um ihren Beitrag zur Bewältigung von Gegenwart und Zukunft stehe. Solche Herausforderungen meint der Begriff Problem im vorliegenden Zusammenhang. Konkret wurde dabei an gesellschaftliche Auseinandersetzungen beispielsweise bei der Erweiterung des Flughafens in Frankfurt gedacht oder auch an die weltweite Ungerechtigkeit bei der Verteilung von Ressourcen. Zunehmend wurden auch ökologische Probleme bewusst. Der Religionsunterricht sollte zeigen, was die biblische Überlieferung zur Lösung solcher Probleme beizutragen vermag. Grundsätzlich leuchtet diese Forderung auch heute noch ein. Doch ist inzwischen bewusst geworden, dass allzu kurzschlüssige Verknüpfungen mit aktuellen Problemkonstellationen der Bibel nicht gerecht werden. Eine direkte Anwendung biblischer Aussagen auf die Frage nach der Erweiterung von Startbahnen ist nicht möglich. Gleichwohl ist es zu begrüßen, dass problemorientierte Anteile in den Bildungsplänen heute nicht mehr wegzudenken sind. Auch im islamischen Religionsunterricht spielt die Problemorientierung eine wesentliche Rolle, denn gerade gegenwärtige Fragen der Bioethik, der Medizinethik (etwa aktive und passive Sterbehilfe), der Umweltethik usw. werden laut den Bildungsplänen im islamischen Religionsunterricht behandelt. Auch auf dieser Ebene grenzt sich der islamische Religionsunterricht damit von einer bloßen Katechese ab. Eine zunehmende Rolle innerhalb der muslimischen Diskurse spielen umstrittene Themenkomplexe – wie beispielsweise Sexualität, die Frage der Frauenrechte und die Infragestellung zweigeschlechtlicher und heterosexueller Normen ( S. 196 ff.).
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Symboldidaktik War der problemorientierte Religionsunterricht vor allem in den 1960er und 1970er Jahren stark politisch ausgerichtet, so kann der in den 1980er Jahren entwickelte symboldidaktische Ansatz eher im Horizont der damaligen ästhetischen Wende gesehen werden (vgl. Halbfas, 1982; Biehl, 1989). In Anlehnung an die Postmodernediskussion in Kunst und Architektur wurde neu bewusst, wie wichtig ästhetische Ausdrucksformen im religiösen Bereich sind. Religiöse Sprache ist immer auch im Blick auf ihre Ästhetik wahrzunehmen, so wie dies in der Bibel bei den Psalmen und beim Koran in seiner auf Rezitation und Gehörtwerden angelegten Gestalt unmittelbar einleuchtet. Ihre religionsdidaktische Zuspitzung fand die ästhetische Neuausrichtung in der Hinwendung zu Symbolen, die als Sprache der Religion verstanden werden. In der Bibel spielen Symbole wie Licht, Wasser, Weg, Weinstock usw. eine wichtige Rolle. Zudem wurde in der Symboldidaktik auf die für das christliche Verständnis zentralen Ich-bin-Worte Jesu (Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; ich bin der Weinstock, Joh 14,8; 15,5) verwiesen, in denen das (Selbst-)Verständnis Jesu zum Ausdruck kommt. Ein symboldidaktischer Ansatz hat sich im Bereich der islamischen Religionsdidaktik noch nicht explizit herausgebildet. Symbole spielen aber auch im Koran eine wesentliche Rolle. Beispielsweise machen sie Gott zugänglich, wie im sog. Lichtvers (24:35): »Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Sein Licht ist einer Nische gleich, in welcher eine Leuchte steht […]«. Licht ist ein Name Gottes. Die bekannteste Abhandlung dazu ist die von Abū Ḥāmid al-Ġhazzālī (gest. 1111), die eine Meditation über die Bedeutung der Symbolik dieses Verses sowie eine metaphysische Behandlung des Begriffs und der Realität des Lichts im Allgemeinen enthält (vgl. Ghazālī, 1987). Der Vers ist oft auf Lampen eingraviert, die in vielen Moscheen hängen, auch die Gestaltung einiger Moscheen basiert auf dieser Symbolik. Die Ästhetik und die Symbole des Koran und der muslimischen Überlie ferungen sind aber kein Selbstzweck. Sie besitzen eine didaktisch hoch relevante Funktion, und zwar in ihrem Potenzial, den Kindern und Jugendlichen das Schwer- und Unsagbare des Glaubens an den jenseits ihrer Wahrnehmungsmöglichkeiten liegenden Gott zugänglich zu machen. Performative Religionsdidaktik Dieser Ansatz lässt sich als Weiterentwicklung der Symboldidaktik verstehen. Im Zentrum steht der Begriff der Performanz, der hier im Sinne von »praktischem
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Vollzug« verstanden wird. Religion wird als eine Praxis angesehen, in der Texte oder Zeichen vor allem liturgisch in Gebrauch genommen werden (vgl. Leonhard & Klie, 2003; Dressler, 2006). Ein weiteres Beispiel sind Gebete. Da es um schulischen Religionsunterricht geht, sei die geforderte Ingebrauchnahme allerdings nur »probeweise« möglich, d. h. es wird nicht vorausgesetzt, dass die SchülerInnen sich mit einer bestimmten Glaubensweise identifizieren. Für die Bildungsqualität eines solchen Unterrichts ist darüber hinaus die Unterscheidung zwischen »religiös reden« und »über Religion reden« entscheidend. Religionsunterricht könne sich nicht darin erschöpfen, religiöse Vollzüge nachzuvollziehen, sondern müsse auch die (kritische) Reflexion solcher Vollzüge einschließen. Im christlichen Bereich wird dieser Ansatz auch damit begründet, dass die heutigen Kinder und Jugendlichen vielfach keine ausgeprägte religiöse oder gar kirchliche Sozialisation mehr mitbringen. Sie müssen deshalb Gelegenheit bekommen, solche Vollzüge zuerst kennenzulernen. Die Rezeption dieses Ansatzes ist allerdings kontrovers. Immer wieder wird die Befürchtung geäußert, dass mit diesem Ansatz ein Rückfall in die Zeiten eines katechetischen Religionsunterrichts befördert werde. Dann stünde das Einüben religiöser Vollzüge ganz im Vordergrund und ein Bildungsanspruch wäre kaum mehr zu erkennen. Im Blick auf interreligiöses Lernen kommt dieser Ansatz auch an spezifische Grenzen. Denn es scheint kaum sinnvoll, wenn SchülerInnen religiöse Vollzüge aus anderen Religionen nachspielen. Im christlichen Bereich wurde dies – leider – im Blick auf die jüdische Pessach-Feier immer wieder so praktiziert. Dass dies wenig respektvoll ist, wird ChristInnen vermutlich am ehesten am Beispiel des Abendmahls deutlich: Wie wäre es, wenn jüdische oder muslimische SchülerInnen im Religionsunterricht Abendmahl spielten? Darüber hinaus stellt sich auch sonst die Frage, ob existenziell bedeutsame Vollzüge ohne eine entsprechende Glaubensüberzeugung wirklich ausprobiert werden können. Ist es möglich, »probeweise« zu beten? Ist es möglich, den Ramadan zu begehen, wenn der Koran für mich keine Autorität darstellt? Ist die Teilnahme an einem Weihnachtsgottesdienst sinnvoll, wenn ich Jesus nicht als Sohn Gottes wahrnehme? Kinder- und Jugendtheologie Dieser Ansatz baut auf entwicklungspsychologischen Untersuchungen auf, wie sie seit den 1980er Jahren im Anschluss an Jean Piaget von James Fowler und Fritz Oser in der Religionsdidaktik rezipiert wurden ( S. 120 ff.). Dabei liegt
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der Akzent auf kindlichen Deutungsweisen und Weltzugängen, die sich von denen der Erwachsenen unterscheiden. Kinder verstehen nicht einfach schlechter, worum es beim Glauben geht, sondern sie verstehen anders. Ihre Deutungsweisen sollen in ihrer Eigenart sorgfältig wahrgenommen und beim Religionsunterricht konstitutiv berücksichtigt werden ( S. 140 ff.). In Weiterführung dieser Forderung hat sich zunächst die Kindertheologie, später auch eine Jugendtheologie herausgebildet, die die Deutungs- und Verstehensweisen von Kindern und Jugendlichen dialogisch ernst nehmen und achten will. In dieser Sicht besitzen nicht nur Erwachsene die Fähigkeit, über religiöse Fragen zu reflektieren, auch Kinder denken schon über religiöse Themen nach und entwickeln ihre eigenen – kindlichen – Theorien. Solche Theorien lassen sich als Reflexion über Religion und als Theologie bezeichnen (vgl. Zimmermann, 2010; Schweitzer, 2011). Weitere Unterstützung für diesen Ansatz kam aus der konstruktivistischen Didaktik, für die Kinder und Jugendliche als KonstrukteurInnen von Welt und Wirklichkeit ganz im Zentrum stehen. Für die Praxis der Kinder- und Jugendtheologie hat sich eine dreifache Unterscheidung weithin durchgesetzt: Ȥ Theologie von Kindern und Jugendlichen: die von den Kindern und Jugendlichen selbst hervorgebrachten Deutungsweisen. Ȥ Theologie mit Kindern und Jugendlichen: theologische Gespräche mit Kindern und Jugendlichen (auch Theologisieren genannt), sofern sie sich an dem theologisch-dialogischen Interesse ausrichten. Ȥ Theologie für Kinder und Jugendliche: Auch Kinder und Jugendliche brauchen Anstöße, damit sich ihr eigenes Denken über Religion entwickeln kann. Deshalb gehört zur Kinder- und Jugendtheologie auch die Frage danach, welche Inhalte – Erzählungen, aber auch Bilder oder spielerische Formen, mediale Präsentationen usw. – dafür geeignet sind. Im christlichen Bereich hat die Kinder- und Jugendtheologie breites Interesse gefunden (vgl. die zahlreichen Bände des Jahrbuchs für Kinder- und später auch für Jugendtheologie). Kritische Stellungnahmen, die insgesamt selten geblieben sind, verweisen allerdings auf die Schwierigkeiten des bei diesem Ansatz zugrundegelegten Theologieverständnisses. Theologie sei doch eine Wissenschaft, und das kindliche Denken über religiöse Vorstellungen könne damit nicht gleichgesetzt werden. Gerade diese zentrale Dimension der Kindertheologie, die Theologie von Kindern, wirft hochbrisante Fragen auf, wenn sie im islamisch-religionsdidaktischen Kontext gedacht wird. Dabei ist mit der kritischen Rückfrage zu
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rechnen, ob das Theologisieren von Kindern aus islamisch-theologischer Perspektive überhaupt eine Berechtigung hat. Auf der Grundlage empirischer Ergebnisse kann zunächst bestätigt werden, dass auch muslimische Kinder theologisch kompetente und produktive Subjekte sind und dass nur eine reflektierte Auseinandersetzung mit der islamischen Tradition und die Ausbildung exegetischer Kompetenzen Mündigkeit ermöglicht. So wird durch Studien deutlich, dass das Erkennen, Deuten und Diskutieren der Vielfalt muslimischer Gottesnarrative bei den SchülerInnen zu einer Beweglichkeit im Denken, zur Kompetenz des Perspektivenwechsels und zur Erweiterung des Wahrnehmungshorizonts führt (vgl. Ulfat, 2017a, S. 286). Eine Kindertheologie, in der die SchülerInnen die Möglichkeit erhalten, die Vielfalt der Gottesnarrative, die sich in der muslimischen Geschichte entwickelt haben, mit ihren eigenen Gottesnarrativen in Verbindung zu bringen und zu reflektieren, fördert einen Zuwachs an religiöser Mündigkeit und Selbstbestimmung (vgl. Ulfat, 2017b). Kompetenzorientierter Religionsunterricht? Nach heutigem Verständnis muss aller Unterricht auf den Erwerb von Kompetenzen bezogen sein. Dies ist auch für den Religionsunterricht zu bejahen. Mitunter wird darin ein eigener religionsdidaktischer Ansatz gesehen, bei dem der Unterricht von sog. Anforderungssituationen ausgehen soll (vgl. Obst, 2015). Damit sind praktische Probleme gemeint, zu deren Lösung im Unterricht erworbene Kenntnisse und Fähigkeiten eingesetzt werden sollen. Beliebt sind beispielsweise Aufgaben, bei denen etwa einer Austauschschülerin erklärt werden soll, wie ein religiöses Fest hierzulande gefeiert wird. In der vorliegenden Darstellung wird die Kompetenzorientierung einerseits als Konkretion der Aufgabe religiöser Bildung verstanden und andererseits in den Horizont der Elementarisierung gerückt (Elementarisierung als Weg des Kompetenzerwerbs, S. 140 ff.). Auf diese Weise wird deutlich, dass Kompetenzorientierung eine Dimension allen (Religions-)Unterrichts darstellt, aber gerade deshalb keinen eigenen religionsdidaktischen Ansatz. Elementarisierung als übergreifende Aufgabe Die bislang genannten Ansätze verstehen sich häufig als Alternativen, zwischen denen man sich entscheiden müsse. Beim Elementarisierungsansatz ist dies insofern anders, als dieser Ansatz eine übergreifende Aufgabe betrifft, die sich bei allen Ansätzen stellt. Denn immer geht es um ein Lernen zwischen Sache und Person, um eine entwicklungsgerechte und erfahrungsbezogene Erschließung
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von Themen sowie um eine existenzielle Auseinandersetzung mit Fragen des Glaubens (vgl. Schweitzer et al., 2019). Damit ist der zentrale Anspruch des Elementarisierungsmodells benannt: Auch ein schüler- und subjektorientierter Unterricht soll und kann sich auf theologische Inhalte beziehen, soweit diese entsprechend aufbereitet sind. Für eine solche Erschließung werden beim Elementarisierungsmodell fünf Dimensionen beschrieben, die sich als Arbeitsschritte bei der Vorbereitung und Gestaltung von Religionsunterricht empfehlen ( im Schema dargestellt auf S. 141). Während das Elementarisierungsmodell zunächst in der evangelischen und katholischen Religionsdidaktik weite Verbreitung gefunden hat, lässt es sich auch unproblematisch im islamischen Religionsunterricht anwenden. Neuerdings wird das Modell auch als Möglichkeit für die Analyse von Unterricht weiterentwickelt. In diesem Falle bezeichnen die fünf Dimensionen Qualitätsmerkmale »guten Religionsunterrichts« (vgl. Schweitzer, 2020, S. 163).
3.4 Bestimmung der Unterrichtsinhalte Zum Anspruch der Fachdidaktik gehört es, dass die Auswahl von Inhalten für den Unterricht nicht einfach als Aufgabe der Fachwissenschaft gesehen werden soll. Mitunter wird in der Didaktik sogar die Auffassung vertreten, dass eine solche Bestimmung letztlich allein von der (Fach-)Didaktik ausgehen dürfe. Auf jeden Fall aber sind bei der Erstellung von Bildungsplänen didaktische Kriterien konstitutiv zu berücksichtigen. Auch sofern dieser Anspruch von der Religionsdidaktik übernommen wird, stellt sich allerdings das Problem, dass es in der Religionsdidaktik derzeit kein Theorieangebot gibt, an dem sich eine Auswahl von Inhalten orientieren könnte. Eine entsprechende Theorie der religiösen Bildung müsste nicht nur ein allgemeines Verständnis religiöser Bildung bieten ( S. 26 ff.), sondern im Einzelnen angeben können, welche inhaltlichen Kenntnisse und welche Vertrautheit mit bestimmten Themen dazu gehören. Darüber hinaus müsste eine solche Theorie begründet Auskunft darüber geben, wie es um die Abfolge der Inhalte über die verschiedenen Schuljahre hinweg bestellt sein soll (Sequenzialität). Hier besteht eine deutliche Lücke in der Religionsdidaktik. Auch die neuere Diskussion, die sich weniger auf Inhalte als auf Kompetenzen bezieht, führt nicht wirklich weiter. Denn in aller Regel werden solche Kompetenzen für das Ende bestimmter Abschnitte in der Schulzeit beschrieben, also etwa für den Abschluss der Grundschule oder der Sekundarstufe I, aber wie die im Unterricht zu behandelnden Inhalte den Schuljahren zugeordnet werden sollen, wird nicht gesagt.
Bestimmung der Unterrichtsinhalte
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3.5 Gibt es eine gemeinsame Religionsdidaktik für den christlichen und den islamischen Religionsunterricht? Wie der vorliegende Band zeigt, lassen sich zwischen der islamischen und der christlichen Religionsdidaktik viele Gemeinsamkeiten entdecken. Spannend und anregend ist dabei vor allem eine dialogische Perspektive, die nicht nur Gemeinsames identifiziert, sondern auch Unterschiede oder sogar einander widersprechende Sichtweisen als Lernanlässe und Chancen für neue Einsichten nutzen kann. Immer wieder fordern Vergleiche dazu heraus, sich des Eigenen bewusster zu werden und es zugleich dort, wo es nur scheinbar festliegt, angesichts der aus den Begegnungen erwachsenden Erfahrungen neu zu bestimmen. So erscheint es zwar durchaus möglich, die beiden Religionsdidaktiken im Sinne einer Bereichsdidaktik miteinander verbunden zu sehen, aber die Möglichkeiten von Kooperation und Dialog hängen doch von der Existenz mehrerer eigenständiger Fachdidaktiken ab. Dies entspricht dem Prinzip der Fachlichkeit von Unterricht, die wiederum nicht einfach aus der – als zufällig zu betrachtenden – Existenz bestimmter Schulfächer erwächst, sondern von den Inhalten her. Aus diesen Gründen wird im vorliegenden Band die Auffassung vertreten, dass kooperative Modelle sowohl für den Religionsunterricht als auch für die Religionsdidaktik am besten geeignet sind ( S. 92 ff.). Zum Weiterlesen Kropač, Ulrich & Riegel, Ulrich (Hrsg.) (2021). Handbuch Religionsdidaktik. Stutt gart: Kohlhammer. Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Zwischen der christlichen und der islamischen Religionsdidaktik lassen sich zahlreiche Gemeinsamkeiten entdecken, die im Sinne der Kooperation genutzt werden können. Ȥ Bleibende Voraussetzung der Kooperation ist die Existenz verschiedener Fachdidaktiken, die zugleich dem Prinzip der Fachlichkeit von Unterricht entspricht. Ȥ Auch für die Religionsdidaktiken gilt, dass Kooperation ebenso der Identifikation von Gemeinsamkeiten dienen muss wie dem Lernen anhand von Unterschieden. Ȥ Die Aufgaben der Religionsdidaktik können sich heute nicht mehr auf die jeweils eigene Religion beschränken, sondern müssen sich zunehmend auf interreli giöse Bildung beziehen ( S. 260 ff.).
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Zur Geschichte der christlichen und islamischen Religionsdidaktik
Auch dieses Kapitel folgt der doppelten Perspektive auf die christliche und die islamische Religionsdidaktik. Darin unterscheidet es sich von herkömmlichen Darstellungen. Zunächst muss aber geklärt werden, warum geschichtliche Perspektiven hier überhaupt bedeutsam sind.
4.1 Warum der Blick in die Geschichte? Das Interesse dieser Darstellung Wer kompetent Religion unterrichten will, braucht eine Orientierung im Bereich der Religionsdidaktik. Dazu gehören auch geschichtliche Perspektiven, weil sich gerade beim Religionsunterricht vieles nur geschichtlich erklären lässt. Die unterschiedlichen Formen von Religionsunterricht, die sich heute beispielsweise in Europa finden, gehen auf unterschiedliche Entwicklungen in den verschiedenen Ländern zurück. Darüber hinaus spielen in der Geschichte der Religionsdidaktik häufig bestimmte Positionen, die sich mit einzelnen WissenschaftlerInnen verbinden, eine wichtige Rolle. Sie bieten Orientierungspunkte, auf die sich die Diskussion immer wieder bezieht. Dabei begegnen freilich nicht nur Auffassungen, die sich noch sinnvoll auf die Gegenwart übertragen lassen. Vielfach beeindrucken vielmehr die Unterschiede zur heutigen Situation sowie die Abständigkeit der in früheren Zeiten vertretenen Sichtweisen. Auch Kon traste können zu Klärungsprozessen beitragen. Im Folgenden soll der Religionsunterricht im deutschsprachigen Bereich im Zentrum stehen, wobei die geschichtlichen Wurzeln für das Christentum ebenso wie für den Islam in andere Kulturräume zurückreichen. Der Stand der Forschung erlaubt vor allem Einblicke in die Entwicklung der evangelischen, katholischen und islamischen Religionsdidaktik. Andere Konfessionen und Religionen haben entweder kaum eigene religionsdidaktische Traditionen hervorgebracht, zumindest nicht in Zentraleuropa, oder ihre Geschichten sind noch wenig erforscht.
Warum der Blick in die Geschichte?
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Selbstverständlich ist es im Rahmen einer einführenden Darstellung nicht möglich, die Geschichte der christlichen und der islamischen Religionsdidaktik im Detail darzustellen. Dafür ist auf entsprechende Spezialliteratur hinzuweisen (bes. Helmreich, 1966; Paul, 1993, 1995; Nipkow & Schweitzer, 1991, 1994; Lachmann & Schröder, 2007; Simon, 2018; Günther, 2020).
Christliche und islamische Religionsdidaktik: Zwei Geschichten – oder eine? Über weite Strecken stellen sich die christliche und islamische Religionsdidaktik in ihrer Geschichte unterschiedlich dar. Sie bilden sich in räumlich und zeitlich unterschiedenen Bereichen heraus und haben sich auch später weithin wechselseitig kaum wahrgenommen. Im deutschsprachigen Raum hat sich dies allerdings inzwischen verändert: An vielen Orten kommt es zu Begegnungen und Kooperationen, in Praxis und Ausbildung, aber auch in der religionsdidaktischen Forschung. Um dieser Situation gerecht zu werden, werden im Folgenden zunächst die Geschichte der christlichen und der islamischen Religionsdidaktik jeweils für sich dargestellt. In einem weiteren Schritt soll dann für die Gegenwart bzw. die Zeit seit der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 die Frage aufgenommen werden, ob es nicht angemessener wäre, für diese Zeit von einer gemeinsamen Geschichte auszugehen. In dieser Hinsicht geht die vorliegende Darstellung neue Wege.
4.2 Religionsdidaktik im Christentum Neutestamentliche Zeit und Alte Kirche Es ist charakteristisch für das Christentum, dass sich bereits in neutestamentlicher Zeit Bezüge auf religiöse Unterweisung sowie auf das Amt eines (Religions-) Lehrers finden (1. Kor 12; Eph 4). Hier setzt sich ein gesamtbiblisches Interesse an der Einführung in die Glaubensüberlieferung fort, das sich alttestamentlich beispielsweise schon im Buch Deuteronomium prominent findet (5. Mose 6,20). Von einer Religionsdidaktik lässt sich im Blick auf die Bibel aber noch nicht sprechen, auch wenn mitunter versucht wurde, eine der Bibel eigene Didaktik – als »biblische Didaktik« (Baldermann, 1996) – zu identifizieren. Die Anfänge einer systematischen Institutionalisierung christlicher Unterweisung sind in der Taufunterweisung der ersten nachchristlichen Jahrhunderte zu sehen. Bezeichnet wird diese Unterweisung, die sich an erwachsene Taufbewerbende richtete, als Katechumenat. Deren Aufgabe war es, die Taufbewerbenden mit dem christlichen Glauben vertraut zu machen. In diesen
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Zusammenhang gehören auch erste theoretische Anweisungen dazu, wie dieser Unterricht möglichst wirksam ausgestaltet werden kann. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die Darstellung von Augustinus »De catechizandis rudibus« (»Vom ersten Unterricht«, Augustinus, 1985). Augustinus macht Vorschläge für die Auswahl der Inhalte sowie für die Form des Unterrichts, unter Berücksichtigung unterschiedlicher Zielgruppen. Mittelalter Mit dem Übergang des Christentums zu einer offiziell anerkannten Religion und schließlich – im Jahr 380 – zur römischen Staatsreligion wurde die Taufe im Erwachsenenalter mehr und mehr durch die Kindertaufe abgelöst. Eine Unterweisung vor der Taufe war dann nicht mehr möglich. Eine Unterweisung im christlichen Glauben gab es auch weiterhin, vor allem im Rahmen der allerdings keineswegs flächendeckend verfügbaren Schulen (etwa am Bischofssitz oder in Klöstern). Insgesamt gilt die Zeit zwischen dem 5. und dem 15. Jahrhundert als eine Periode, in der der christlichen Unterweisung eher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Reformation und konfessionelles Zeitalter Die Reformation im 16. Jahrhundert, die auf eine Erneuerung der Kirche zielte, wird mitunter auch als eine Bildungsbewegung bezeichnet (vgl. Schweitzer, 2016b). Da es damals noch keine Trennung zwischen Staat und Kirche gab, war eine Reform allein der Kirche nicht denkbar. Bildung gehörte vor allem für Martin Luther und Philipp Melanchthon, den beiden Wittenberger Reformatoren, zu den für ihr Reformprogramm von Kirche und Gesellschaft zentralen Elementen. Luther setzte sich schon früh für die allgemeine Schulpflicht ein, und zur Schule sollte unbedingt auch ein Unterricht in der Heiligen Schrift gehören. Vor allem aber stammen von Luther weithin wirksame, zum Teil bis heute in Gebrauch befindliche Katechismen. Diese Katechismen sollten in knapper Form alles umfassen, was für den christlichen Glauben wesentlich ist. Nach Luthers eigener Auffassung zielten sie auf ein Verstehen des Glaubens und nicht auf bloßes Auswendiglernen. Der Gebrauch der Katechismen war sowohl für die Familie als auch für den Gottesdienst vorgesehen. Die Einführung von Religionsunterricht besitzt wichtige Wurzeln in der Reformation. Auch auf katholischer Seite wurde die Bedeutung eines solchen Unterrichts aber bald erkannt und bemühte man sich um dessen Einrichtung. Hier waren dabei ebenfalls bestimmte Katechismen besonders bedeutsam, vor allem
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der Katechismus von Petrus Canisius im 16. Jahrhundert. Kennzeichnend ist darüber hinaus die enge Verbindung zwischen Humanismus und Katholizismus gerade im Bereich der Pädagogik, wofür etwa Erasmus als Beispiel zu nennen ist. Auf evangelischer Seite stand vor allem Melanchthon dem Humanismus nahe. An der Schwelle zwischen dem ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Neuzeit wirkte der in der Pädagogikgeschichte, aber auch in der Geschichte der (Religions-)Didaktik bedeutsame Johann Amos Comenius. Mit seiner »Großen Didaktik« (erschienen 1657, vgl. Comenius, 1982) hat er fast allen Fächern der Schule zukunftsweisende Impulse gegeben. Moderne und Aufklärung Die moderne Pädagogik wird vielfach als ein Kind der Aufklärung angesehen. Als ihr erster maßgeblicher Vertreter gilt Jean-Jacques Rousseau, vor allem mit seinem Erziehungsroman »Emile« (1762). Rousseau zeigt sich in diesem Werk zugleich als scharfer Kritiker jeder Form der religiösen Erziehung in der Kindheit, von der er angesichts der noch beschränkten Verstehensmöglichkeiten von Kindern nur Indoktrination erwarten konnte. Erst im Jugendalter könne eine wirklich verständige religiöse Unterweisung erreicht werden, durch die Menschen dann zu eigener Entscheidung über ihren Glauben befähigt werden sollten. Mit dieser Position ist Rousseau in der Religionspädagogik auf starke Kritik und Ablehnung gestoßen, aber zugleich hat er die Religionsdidaktik mit seiner radikalen Forderung nach Kindgemäßheit allen Unterrichts nachhaltig befruchtet. Doch bedurfte es zuerst einer religionsdidaktischen Transformation der neuen, mit der Aufklärung verbundenen pädagogischen Prinzipien, ehe solche Impulse religionsdidaktisch integriert werden konnten. Für diese Transformation spielte in der christlichen Religionsdidaktik der evangelische Theologe und Pädagoge Friedrich Schleiermacher eine wichtige Rolle. In seinen »Reden über die Religion« (1799) bietet er eine Begründung für religiöse Bildung, die anthropologisch – also vom Menschen her – argumentiert ( S. 26 ff.). Demnach ist Religion als eine mit dem Menschsein gegebene Dimension anzusehen (er spricht aus heutiger Sicht missverständlich von einer »Anlage zur Religion«, Schleiermacher, 1967, S. 102). Deshalb darf sie auch bei der Bildung des Menschen nicht übergangen werden. Religionsdidaktisch entscheidend ist die Wendung hin zum Subjekt. Religionsunterricht als Vermittlung von Religion hält Schleiermacher für ausgeschlossen, weil Religion von innen heraus lebendig werden müsse. In seiner Erziehungslehre (1826, postum veröffentlicht 1849) wird religiöse Bildung dann als integraler Bestandteil der Gesamterziehung beschrieben. Ziel der religiösen Bildung ist die Fähig-
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keit zur Teilhabe insbesondere an gottesdienstlichen Vollzügen, zugleich aber auch individuelle religiöse Mündigkeit. Mit dem Bildungsziel der religiösen Mündigkeit wird ein Anspruch der Aufklärungspädagogik integriert. Dieser Anspruch wird dabei so interpretiert, dass er sich mit Religion verträgt. Die Vernunft steht damit nicht mehr gegen Religion und definiert auch nicht wie bei Immanuel Kant deren Grenzen, sondern Mündigkeit kann in der Religion sowie im Horizont religiöser Bildung ausgebildet werden. 19. und frühes 20. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert hat sich die Religionsdidaktik (damals noch »Katechetik«) mehr und mehr zu einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin entwickelt. Besonders einflussreich war die Didaktik und (Lern-)Psychologie von Johann Friedrich Herbart und seiner Schüler. Religionsdidaktisches Leitbild war die »sittlich-religiöse Persönlichkeit«. Insofern bezog sich der Religionsunterricht in der damaligen Sicht auf den Kern schulischer Bildung, die insgesamt religiös ausgerichtet war. Die Hochschätzung religiöser Erziehung und Bildung entsprach zugleich den Erwartungen des Staates, dem an der Loyalität seiner Untertanen gelegen war. Religiöse Bildung sollte nicht nur zur Achtung vor dem Vater im Himmel führen, sondern auch zu Gehorsam gegenüber dem Landesvater. Religionsdidaktisch im engeren Sinne besonders wichtig war die im Herbartianismus entwickelte Theorie der sog. Formalstufen. Diese Stufen beschreiben auf psychologischer Grundlage eine möglichst in jeder Stunde zu wiederholende Abfolge von Lehr- und Lernschritten. Im Zentrum steht dabei der Versuch, an bei den SchülerInnen vorhandene Vorstellungen anzuknüpfen, neues Wissen damit zu verbinden, dieses auch aktiv zu durchdringen und schließlich auf neue Fragen anwenden zu können. Wie leicht zu erkennen, steht auch die heutige Lernpsychologie in dieser Tradition. Im Herbartianismus wurden die Formalstufen, zeitgenössisch-kritischen Wahrnehmungen zufolge, allerdings immer stärker in einer bloß mechanischen Weise exekutiert, sodass der Unterricht jede Lebendigkeit verlor.
Ungefähr seit Beginn des 20. Jahrhunderts setzten sich neue religionsdidaktische Ansätze durch, die sich auf die damalige Reformpädagogik beriefen. Religionsdidaktische Prinzipien wie kindgemäßer Unterricht (»Pädagogik vom Kinde aus«), Erlebnis- und Erfahrungsorientierung sowie Handlungsorientierung haben vor allem in dieser Zeit ihren Ursprung. Angesichts der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, durch die auch die in europäischen Ländern vorherrschende evangelische oder katholische Prägung von Staat und Gesellschaft infrage gestellt wurde und die letztlich zur Trennung von Staat und Kirche führte (in Deutschland 1918/19), wurde in der damaligen Religionsdidaktik vielfach für eine Öffnung gegenüber der modernen Kultur
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plädiert. Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstmals nachweisbare Begriff der Religionspädagogik weist ebenfalls in diese Richtung. Er steht mit seiner Abgrenzung von der traditionellen Katechetik sowohl für eine Öffnung für die Pädagogik wie auch für den Versuch, religiöse Bildung und moderne Kultur miteinander zu versöhnen (vgl. Schweitzer & Simojoki, 2005). Nationalsozialismus Im Nationalsozialismus unterlag der Religionsunterricht einem starken ideologischen Anpassungsdruck. Wie alle anderen Fächer sollte er nunmehr ganz im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung erteilt werden. Der für den Nationalsozialismus prägende Antisemitismus, der dann auch zum Holocaust führte, machte sich im Religionsunterricht ebenfalls bemerkbar. Vor allem das Alte Testament wurde als jüdisch abgelehnt, während Jesus als »Arier« dargestellt werden sollte. Solchen »völkischen« Erwartungen schloss sich ein nicht unerheblicher Teil der Lehrer- und Pfarrerschaft vor allem im evange lischen Religionsunterricht an, während andere mit der Bekennenden Kirche versuchten, dem Nationalsozialismus zumindest einen gewissen Widerstand entgegenzusetzen (vgl. Rickers, 1995). Eine dem Nationalsozialismus kritisch begegnende Haltung war jedoch im Raum der Schule kaum möglich, weshalb in dieser Sicht vor allem der in den Kirchengemeinden angebotene Unterricht (»Christenlehre«) wichtig wurde. Westliche Bundesrepublik und DDR (1949–1990) Auch wenn die vorliegende Einführung nicht nur auf Deutschland, sondern auf den gesamten deutschsprachigen Raum bezogen ist, muss speziell auf die Situation der deutschen Teilung eingegangen werden. Darin spiegelt sich exemplarisch die Ost-West-Polarisierung, die für die (welt-)politische Situation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmend war ( zu ihren Folgen im muslimischen Bereich s. S. 65 ff.). In der DDR gab es allerdings nur in den ersten Jahren nach der Staatsgründung (1949) einen Religionsunterricht, der in der Schule stattfinden durfte, wenn auch nicht als deren integraler Bestandteil. Im Laufe der 1950er Jahre wurde er ganz abgeschafft. Dennoch ist es schon geschichtlich gesehen proble matisch, wenn die Entwicklungen in der DDR-Zeit in religionsdidaktischen Darstellungen einfach übergangen werden. Darüber hinaus verstärken solche Darstellungen die Vorurteile gegen »Wessis«, die den Osten Deutschlands rücksichtslos zu kolonialisieren scheinen.
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Entwicklung in Westdeutschland: Die Geschichte der Religionsdidaktik in der Zeit der westlichen Bundesrepublik wird für gewöhnlich als Abfolge sog. »Konzeptionen« dargestellt ( S. 43 ff.). An dieser Stelle soll der geschichtliche Zusammenhang aufgezeigt werden, in dem diese Abfolge zu verstehen ist. Dabei kommen auch solche Modelle oder »Konzeptionen« in den Blick, die aus heutiger Sicht nunmehr von historischem Interesse sind. Wie auch in vielen anderen gesellschaftlichen und besonders pädagogischen Zusammenhängen war bis weit in die 1950er Jahre hinein das Streben nach einer Rückkehr zu der Zeit vor dem Nationalsozialismus bestimmend. Im Bereich von Kirche und Religionsdidaktik lag es zudem nahe, an die tendenziell nationalsozialismus-kritische Tradition der Bekennenden Kirche anzuknüpfen. Dafür steht in der Religionsdidaktik auf evangelischer Seite besonders Oskar Hammelsbeck, der als Freund Dietrich Bonhoeffers mitunter auch als der Katechet dieser kirchlichen Bewegung im Nationalsozialismus bezeichnet wird. Auf katholischer Seite spielte der Katechetiker Josef Jungmann eine in gewisser Hinsicht vergleichbare Rolle. In beiden Fällen steht die Konzentration auf das Evangelium ganz im Vordergrund. Aus dieser Zeit stammt die bis heute immer wieder (freilich oft kritisch) zitierte (Selbst-)Bezeichnung Evangelische Unterweisung oder, auf katholischer Seite, Materialkatechetik. Das Programm dieser Modellbildung hat Helmuth Kittel (1947) besonders wirksam in seinem Buch »Vom Religionsunterricht zur evangelischen Unterweisung« beschrieben (wobei Kittel verschweigt, dass er vor 1945 dem Nationalsozialismus durchaus etwas abgewinnen konnte!). Im Zentrum der Evangelischen Unterweisung soll die Heilige Schrift stehen, zusammen mit dem Evangelischen Gesangbuch und dem Katechismus. Jede Anpassung an die Moderne und deren Religionsverständnis soll vermieden werden. Religionsunterricht wird damit zur »Kirche in der Schule«. Es ist eine noch wenig geklärte Frage, wie weit diese Ansätze tatsächlich die Praxis bestimmt haben. Deutlich ist aber, dass eine solche Religionsdidaktik angesichts der geschichtlichen Entwicklung immer weniger plausibel erschien. In beiden christlichen Konfessionen ist dies vor allem in den 1960er Jahren am wachsenden Einfluss der modernen Bibelexegese abzulesen. Diese Exegese ging nicht mehr einfach von der Bibel als Heiliger Schrift aus, sondern behandelte diese historisch-kritisch als ein Dokument der Überlieferung, das wissenschaftlich ausgelegt werden muss. Dieser Aufgabe stellte sich die damals neue hermeneutische Theologie, wie sie besonders von dem Neutestamentler Rudolf Bultmann ausging. Für den Religionsunterricht wird von einer hermeneutischen Phase gesprochen. Auch für den Religionsunterricht erschien eine sich nicht an wissenschaftlichen Befunden orientierende Arbeit mit der Bibel nicht länger legitim. Bibelauslegung und Religionsunterricht sollten sich für den »modernen Menschen« öffnen.
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Je länger je mehr, erschien aber auch dies nicht ausreichend. Immer mehr geriet der Religionsunterricht in den Ruf eines allein auf die Vergangenheit fixierten Faches, das sich viel zu wenig auf die SchülerInnen einzustellen bereit war. Folge waren – vor allem zu Beginn der 1970er Jahre – massive Austrittsbewegungen sowie ein allgemein geringes Ansehen des Faches, dessen Zukunft insgesamt bedroht schien. Die Umstellung auf einen problemorientierten Religionsunterricht ( S. 46) reagierte auf diese Herausforderung dadurch, dass sie den Beitrag des christlichen Glaubens zur Lösung gesellschaftlicher Gegenwarts- und Zukunftsprobleme in den Vordergrund rückte. Mit etwas anderen Akzenten wurde auf katholischer Seite eine Korrelationsdidaktik entwickelt, in deren Mittelpunkt die Verbindung zwischen Tradition und Situation oder Überlieferung und Gegenwart stehen sollte. Mit solchen Entwicklungen nimmt die Religionsdidaktik nicht zuletzt auch Impulse der damaligen, sehr weitgreifenden Bildungsreform auf, die beispielsweise auf das Prinzip der Wissenschaftsorientierung im Unterricht großen Wert legte. Weiterhin wurde für die Religionspädagogik eine »realistische Wendung« gefordert. Damit sich der Unterricht auf heutige Kinder und Jugendliche einstellen kann, sei eine sorgfältige Rezeption der sozialwissenschaftlichen Sozialisationsforschung erforderlich, aber auch empirische Untersuchungen zum Religionsunterricht selbst. Seither gehört es zum religionsdidaktischen Standard, dass Untersuchungen zur religiösen Sozialisation sowie zu Religion im Kindes- und Jugendalter konsequent berücksichtigt werden ( S. 104 ff.). Ebenso hat sich beginnend in den 1970er Jahren eine empirische Forschung zum Religionsunterricht etablieren können, auch wenn sich diese noch immer in der Entwicklung befindet ( S. 163 ff.). Der problemorientierte Religionsunterricht fand seine damalige Zuspitzung in politischen Herausforderungen, wie sie in den 1980er Jahren dann eine Zusammenfassung im sog. Konziliaren Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung fanden. Dieses Profil wurde in diversen religionsdidaktischen Modellen weiter konkretisiert, was seine Produktivität unterstreicht. Zugleich erwies sich die Problemorientierung aber auch der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung der 1960er Jahre verhaftet – mit der Folge, dass die in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre im Bildungsbereich einsetzenden konservativen Tendenzen auch für die Religionsdidaktik Korrekturen erforderlich machten. Darüber hinaus wurde u. a. mit der Postmodernediskussion der 1980er Jahre zunehmend bewusst, dass Religion nicht in Politik und Gesellschaftsreform aufgeht, sondern beispielsweise auch eine grundlegende ästhetische Dimension einschließt. Für dieses veränderte Bewusstsein steht exemplarisch die Symboldidaktik ( S. 47).
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Das für eine interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik besonders bedeutsame Thema der Migration kündigt sich etwa seit den 1970er Jahren zunächst zurückhaltend, dann aber doch immer deutlicher an. Zunächst geht es um »Gastarbeiter«, später um »ausländische Mitbürger« und schließlich um »Einwanderer«. Für besondere Kontroversen sorgt in den 1980er Jahren erstmals die Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft, durch die der christliche Charakter der Kultur in Deutschland und ähnlich auch in Österreich oder der Schweiz in unzulässiger Weise infrage gestellt schien. Dass es hier auch um Multireligiosität geht und interreligiöse Bildung, war damals noch kaum im Blick. Entwicklung in Ostdeutschland: Da es in der Schule in der DDR, abgesehen von den Anfangsjahren, keinen Religionsunterricht gab, konnte dafür auch keine Didaktik ausgebildet werden. Nachdem der schulische Religionsunterricht weggefallen war, wurde mit der sog. Christenlehre für Kinder und der Jungen Gemeinde für Jugendliche im Rahmen der Kirchengemeinde ein religionspädagogisches Angebot geschaffen, dass diese Lücke füllen sollte (vgl. Reiher, 1992). Dabei konnte an Entwicklungen in der Zeit des Nationalsozialismus angeknüpft werden (Alternativangebote zur nationalsozialistisch überformten Schule). Die zu diesem Zweck ausgearbeiteten gemeindepädagogischen Bildungspläne machten auch im Gegenüber zur staatssozialistischen Schule ebenso Sinn wie der religionsdidaktische Ansatz der Evangelischen Unterweisung mit seinem Insistieren auf ein grundsätzlich kritisches Verhältnis des Religionsunterrichts zu den anderen Fächern der Schule. Die Entwicklung einer ausdrücklich als eigene Disziplin zu verstehenden Gemeindepädagogik gehört zu den wichtigen Entwicklungen in der Zeit der DDR. Mit dieser Disziplin verband sich der Anspruch auf ein konsequent pädagogisch ausgestaltetes Angebot im Raum der Kirche. Auch in diesem Falle stellte sich mehr und mehr die Herausforderung, wie auf die aktuellen Lebenskontexte im Sozialismus sowie auf die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen eingegangen werden konnte. Insofern gibt es hier Parallelen zu den Entwicklungen in Westdeutschland im Sinne eines problem- und schülerorientierten Unterrichts. Die grundlegend auf ein kritisches Gegenüber zum Staat und der von ihm vermittelten Bildung in der Schule angelegte Ausrichtung blieb allerdings bestehen, schon weil die Situation in der DDR kaum etwas anderes zuließ und auch die von der Theologie im Bereich der DDR vertretene Katechetik etwa bei Jürgen Henkys (vgl. Henkys & Kehnscherper, 1978) eine solche Ausrichtung begründete und verlangte. Was für die Religionsdidaktik aus den Entwicklungen zur Zeit der DDR vielleicht auf Dauer und damit auch für die heutige Situation zu lernen wäre, ist eine
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noch offene und häufig nicht allzu sehr beachtete Frage. Derzeit ist dabei vor allem an die Situation der Konfessionslosigkeit zu denken, unter deren Voraussetzungen Religionsunterricht heute im gesamten deutschsprachigen Bereich zunehmend konzipiert werden muss (vgl. EKD, 2020; Domsgen, 2019).
4.3 Religionsdidaktik im Islam Mit der koranischen Offenbarung im 7. Jahrhundert ist eine Zeit eingeläutet worden, in der Wissensaneignung und -vermittlung einen besonderen Stellenwert eingenommen haben. Im Koran finden sich dazu zahlreiche Aussagen, besonders zum Nachdenken, zum Verstehen und zum Nutzen des eigenen Verstandes. Das Streben nach Wissen wurde zu einem Grundideal muslimischer Frömmigkeit. Die meisten Verse im Koran, die Lehren und Lernen thematisieren, beziehen sich auf eine Unterweisung der Gläubigen im Glauben und auf ihre spirituelle Entfaltung. Zugleich wird auch das rationale Begreifen der Welt unterstrichen. Quell allen Wissens ist Gott, der »Allwissende«. Gott ist laut Sure 96:1–5, nicht nur Schöpfer, sondern auch Lehrer des Menschen (vgl. Fück, 1999, S. 1): 1 Trag vor im Namen deines Herrn, der schuf, 2 den Menschen aus Geronnenem schuf! 3 Trag vor! Denn dein Herr ist’s, der hochgeehrte, 4 der mit dem Schreibrohr lehrte, 5 den Menschen, was er nicht wusste, lehrte Wissen wird im Koran mit der göttlichen Offenbarung verknüpft, was zur Folge hat, dass Wissen im Sinne objektiver Erkenntnis und Glaube im Sinne von innerer Überzeugung nicht als einander ausschließend betrachtet werden (vgl. Günther, 2020, S. 5). Zudem wird Wissen und Glaube in gleicher Weise als von Gott gegeben angesehen (30:56). Besonders häufig kommt im Koran das Verb ʿallama (lehren, anleiten, trainieren, jemanden unterrichten/informieren) vor. Dabei wird thematisiert, dass Gott die Propheten lehrt (z. B. 2:31, 2:251), dass Gott die Menschheit lehrt (z. B. 96:5, 55:2), dass Gott die Engel lehrt (z. B. 2:32), dass die Propheten die Menschen lehren (z. B. 2:129, 2:151), dass die Menschen sich untereinander lehren (z. B. 3:79), aber auch die Tiere trainieren und zur Jagd abrichten (z. B. 5:4) und dass selbst Engel und Teufel lehren (z. B. 2:102) (vgl. Günther, 2006, S. 200 ff.). Es gibt noch zahlreiche weitere Begriffe, die das Lehren implizieren (vgl. Fück, 1999; Günther, 2006, S. 203). Dazu kommen im Koran bestimmte Haltungen und Praktiken, wie geduldig zu sein (z. B. 18:60–82), aufmerksam zu sein (z. B. 7:204), sich über das Gelernte Gedanken zu machen (z. B. 38:29), über Themen zu debattieren (z. B. 3:66), aus der Geschichte zu lernen (z. B. 5:32) usw. (vgl. Günther,
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2006, S. 203 f.). Die literarischen Ausdrucksmittel des Koran, wie Wiederholungen, Metaphern, Gleichnisse, rhetorische Fragen usw., können dazu dienen, aus ihnen pädagogische und didaktische Elemente zu entwickeln.
Die überlieferten Aussprüche und Handlungen des Propheten Muhammad (Hadithe) enthalten ebenfalls zahlreiche Aussagen über den Wert des Wissens, die Pflicht, nach Wissen zu suchen, Wissen zu bewahren, Wissen weiterzugeben und über den Lohn, der den Gläubigen dann zuteil wird. Unter den Gelehrten wurde intensiv diskutiert, was unter Wissen verstanden werden kann und welche Beziehung zwischen Wissen und Glaube und zwischen Wissen und Erkenntnis besteht. Für die Philosophie (falsafa), für die Fundamentaltheologie (kalām) und für die Lehr- und Lernmodelle war ein genaues Verständnis des Wesens des Wissens (ʿilm) eine entscheidende erkenntnistheoretische Grundlage (vgl. Walker, 2003, S. 100). Dieser Prozess führte auch zur Entwicklung einer »islamischen Erziehungslehre« oder »islamischen Pädagogik«. Lehren und Lernen in der klassischen Zeit des Islam (8.–15. Jahrhundert) Die Weitergabe und das Studium des Koran erfolgten zunächst durch Unterricht in Moscheen. Muhammad war der erste, der in seiner Moschee in Medina seine Anhänger unterrichtete. Nachdem die Araber im 8. Jahrhundert die Papierherstellung von den Chinesen erlernten, wurden schriftliche Dokumente zu einem entscheidenden Medium. Dieser Prozess, der mit der Entwicklung der Buchproduktion einherging, gab dem Studium und dem Lehren weiteren Auftrieb, sodass die damalige muslimische Gesellschaft als »Wissensgesellschaft« bezeichnet werden kann (Günther, 2013, S. 360). Bis ins 19. Jahrhundert fand die erste Stufe der traditionellen islamischen Erziehung im Nahen Osten in Grundschulen, genannt kuttāb statt, wo Jungen zwei bis fünf Jahre lang Lesen, Schreiben, Rechnen, Grammatik, Koranrezitation und -memorierung sowie einige Grundprinzipien der islamischen Normenlehre (fiqh) lernten (vgl. Doorn-Harder, 2006, S. 209). Eine weiterführende Ausbildung für Schüler und Erwachsene fand anfänglich auf informeller Basis statt, indem Gelehrte des Koran, des Hadith (Prophetische Tradition), der Normenlehre (fiqh), der Grammatik und der Philologie in Moscheen Vorlesungen in sog. Studienzirkeln (ḥalqa) hielten (vgl. Schoeler, 2013, S. 272 ff.). Schüler suchten Lehrer auch in anderen Ländern auf und studierten bei ihnen. Erst ab dem 11. Jahrhundert wurden madāris (sing. madrasa) als Institutionen für höhere
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Bildung gegründet. Der Ausdruck madrasa leitet sich vom arabischen Verb darasa ab (lernen, studieren). Madāris wurden durch Stiftungen finanziert und waren private Bildungseinrichtungen. Die Ausbildung in den madāris war meist Männern vorbehalten. Es ist aber bekannt, dass auch Frauen Stifterinnen von madāris waren, wie Fāṭima bint Muḥammad al-Fihrī (gest. 880), die im Jahr 859 die al-Qarawīyīn-Moschee mit madrasa im marokkanischen Fès gründete. Zudem zeugen biografische Nachschlagewerke auch von Gelehrtinnen, wie as-Sayyida Nafīsa bint al-Ḥasan (gest. 825), Fātima bint Muḥammad Ibn Aḥmad as-Samarqandī (gest. 1185) und anderen Frauen. Madāris entwickelten sich zu Institutionen der Bewahrung und Weitergabe religiösen Wissens, die bis ins 19. Jahrhundert überdauerten (vgl. Doorn-Harder, 2006). Die erste institutionalisierte madrasa wurde im Jahr 1067 in Bagdad eröffnet: die Niẓāmiyya. Ihr Gründer war Niẓām al-Mulk (gest. 1092). Der Lehrplan war sehr umfassend und beinhaltete das Studium und Auswendiglernen des Koran, Koranexegese, Prophetische Tradition, Prinzipien der Normenlehre; Grammatik, Rhetorik und Literatur, Theologie, Logik, Philosophie, Astronomie und Arithmetik (vgl. ebd.). Andere berühmte madāris waren die al-Zaytūna in Tunis und die al-Sulaymāniyya in Istanbul.
Klassische Denkmodelle von Lehren, Lernen und Erziehung in den Schriften muslimischer Denker Wissenschaftliche Diskussionen über das Lehren und Lernen finden sich in der klassischen Zeit (ca. ab dem 9. Jahrhundert) in zahlreichen Werken muslimischer Gelehrter, die freilich keine Pädagogen im heutigen Sinne waren, sondern Theologen, Philosophen, Historiker, Juristen, Mediziner, Naturwissenschaftler u. a. Ihre Überlegungen gründeten nicht nur auf koranischen Vorstellungen oder Aussagen des Propheten, sondern auch auf dem antiken griechischen, altiranischen und indischen intellektuellen Erbe sowie auf jüdischen und christlichen Vorstellungen. Diese legendäre Offenheit hat auch im Westen in entscheidender Weise das Bild der klassischen Zeit des Islam geprägt und über Autoren wie beispielsweise Goethe und Lessing Eingang in die westliche Ideengeschichte gefunden (vgl. Günther, 2013, S. 364). Nicht nur die Vermittlung von Wissen im Sinne von taʿlīm und taʿallum (Lehren und Lernen) haben die Vorstellungen der klassischen Denker geprägt, sondern auch taʾdīb (Erziehung) und adab (kulturelle und intellektuelle Verfeinerung) (vgl. Günther, 2020, S. 3). So wird auch heute noch in muslimisch geprägten Ländern im Bildungskontext in erster Linie der Begriff tarbiyya (erziehen) verwendet, der eher einseitig vom Erziehenden aus zu verstehen ist. Im deutschen Bildungskontext wird mittlerweile eher der Begriff tazkiyya
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(Kultivierung des Selbst) verwendet, der die aktive Rolle der Lernenden in den Mittelpunkt stellt ( S. 26 ff.). Der Kolonialismus und seine Folgen Im 19. Jahrhundert wurde dieses traditionelle System der Weitergabe des Koran und des Studiums der klassischen theologischen Disziplinen mehr oder weniger zerstört, als die Länder des Nahen Ostens unter kolonialem Einfluss begannen, die madāris durch säkulare Institutionen zu ersetzen. Dies führte zu einer Krise im traditionellen Bildungssystem, die die klassischen Institutionen zwang, sich neu zu definieren – was sich im 20. Jahrhundert weiter fortsetzte. In der Folge wurde die religiöse Unterweisung in vielen muslimischen Ländern zeitweise völlig vernachlässigt bzw. in den privaten Bereich abgedrängt. Dennoch gibt es heute noch in einigen Ländern madāris. Deren AbsolventInnen können, je nach Qualität der Einrichtung, säkulare Universitäten oder religiös ausgerichtete Institutionen für höhere Bildung besuchen (vgl. Doorn-Harder, 2006, S. 210 ff.). Die Türkei schaffte im Jahr 1924 ihre madāris ab, ersetzte sie durch ein säkulares Schulsystem und eröffnete spezielle weiterführende Schulen für die Ausbildung von Imamen (vgl. ebd., S. 211). Krise der islamischen Erziehung und Bildung seit dem 19. Jahrhundert Die sog. »Krise der islamischen Erziehung und Bildung« ist mit Ereignissen verknüpft, die ab dem Jahr 1979 ihren Lauf nehmen. Diese Ereignisse werden im Folgenden kurz skizziert, da sie neben den Folgen des Kolonialismus eine Wende für muslimisch geprägte Gesellschaften darstellten und starke Auswirkungen darauf hatten, wie Islam von nun an verstanden, gelebt und gelehrt werden sollte. Zwischen den 1940er und 1960er Jahren erlangten die meisten Länder im Nahen Osten, die im Rahmen des postkolonialen Prozesses entstanden sind, ihre Unabhängigkeit. Im damaligen Kontext des Kalten Krieges entwickelten diese jungen Staaten entweder eine Nähe zu den USA oder zur Sowjetunion. Die meisten Monarchien suchten die Nähe der USA (z. B. die Golfstaaten, Marokko, Jordanien, Iran). Andere Nationen wandten sich der Sowjetunion zu (z. B. Syrien, Ägypten, Irak, Libyen, die palästinensischen Autonomiegebiete) (vgl. Koopmans, 2020). Die neuen Nationalstaaten waren weit entfernt von islamistischen Ideologien. Für viele Menschen damals war der arabische Sozialismus, wie ihn der ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser forcierte, zukunftsweisend. 1967, nach der
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Niederlage von Ägypten und Syrien gegen Israel im Sechs-Tage-Krieg kamen viele Menschen in den arabischsprechenden Nationen zu der Überzeugung, dass diese Idee nicht verwirklicht werden konnte. Die ägyptische Regierung betrieb eine repressive Politik gegen die Muslimbrüder, die dazu führte, dass viele von ihnen ins Exil nach Saudi-Arabien und Europa gingen. Diese Gruppe spielte eine bedeutende Rolle im jungen saudischen Staat. Die Saudis standen in Opposition zum arabischen Sozialismus, weil diese Ideologie die Monarchien infrage stellte. Auch die Sowjetunion und die USA spielten in dieser Problemkonstellation stets eine wichtige Rolle, da sie im Nahostkonflikt auf unterschiedlichen Seiten standen und gleichzeitig um die militärische, politische und wirtschaftliche Vormacht in der Region rangen. Im Zuge der Entwicklungen konstruierten die saudischen Machthaber in Gestalt des modernen Islamismus eine Gegenideologie, als Alternative zum Sozialismus, und bedienten sich dazu der Expertise der Muslimbruderschaft. Dadurch gewannen die Muslimbrüder Einfluss auf das saudische Bildungssystem (vgl. ebd.). Eine ähnliche Entwicklung fand im Iran statt. Der Iran war eine quasidiktatorische prowestliche Monarchie. Von den politisch sehr unterschiedlich eingestellten Oppositionskräften im Iran waren es die islamistischen Schiiten um Ayatullah Chomeini, die sich durchsetzen konnten. Sie stürzten die Regierung des Schah Reza Pahlavi, und Chomeini ging als Führer der Islamischen Revolution von 1979 und Gründer der Islamischen Republik Iran in die Geschichtsbücher ein. Dieser neue Staat wandte sich gegen die USA, eine Politik, die ihren spektakulärsten Ausdruck in der Besetzung der US-amerikanischen Botschaft in Teheran fand. Im Laufe der kommenden Jahre begann der Iran seine islamistische Ideologie international zu verbreiten (vgl. ebd.). Auf sunnitischer Seite nahm die Entwicklung ebenfalls einen krisenhaften Verlauf. Durch ihre Ölexporte gewannen die Golfstaaten unter der politischen Führerschaft von Saudi-Arabien immer mehr an politischem Gewicht. Einige Stimmen in der saudischen Gesellschaft plädierten für eine Liberalisierung der Gesellschaft. Diese prowestlichen und reformerisch orientierten Aktivisten schlugen vor, Kinos zu eröffnen, Frauen Auto fahren zu lassen usw. Auf der anderen Seite bekamen bestimmte Gruppen von Wahhabiten den Eindruck, dass die Monarchie sie nicht unterstützte. Diese Entwicklungen und die Erfolge der Revolution im Iran inspirierte eine Gruppe von Wahhabiten, die sich als Al-Ǧamāʿa as-salafiyya al-muḥtasiba (die Gruppe der Altvorderen, die Recht befiehlt und Unrecht verbietet) bezeichnete, unter der Leitung von Ǧuhaymān al-ʿUtaibī, am 20.11.1979 die Heilige Moschee in Mekka zu besetzten, um das saudische Königshaus zu stürzen und einen »islamischen Staat« in ihrem Sinne zu errichten. Zur Lösung dieses Problems benötigte die saudische Regierung die
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theologische Unterstützung der wahabitischen Geistlichkeit. Das führte dazu, dass der Einfluss der islamistischen Kräfte in Saudi-Arabien erheblich zunahm und die Wahabiten zur internationalen Verbreitung ihrer Ideen auf die finanziellen Ressourcen des saudischen Staates zugreifen konnten (vgl. ebd.). Diese und weitere Entwicklungen haben sich auf die Bildungssysteme der entsprechenden Länder prägend und nachhaltig ausgewirkt. Im Iran beispielsweise ließ Chomeini im Jahr 1980 alle Universitäten schließen, sodass neue Curricula eingeführt werden konnten, die von der »korrupten westlichen Kultur« bereinigt zu sein hatten und ein »islamkonformes Wissen« vermitteln sollten (Franke, 2020). In Saudi-Arabien war eine ähnliche Entwicklung zu beobachten. Im Frühjahr 1977 wurde die erste »World Conference on Muslim Education« von der King Abdulaziz University in Mekka organisiert. Bereits im Vorwort des Tagungsbandes werden die für die Konferenz bestimmenden Grundgedanken deutlich: die Modernisierung der muslimischen Welt und die Krise, die damit einherging. Dieser Prozess wird als ein Überrollen der muslimisch geprägten Welt durch marxistische und liberale Konzepte beschrieben, wobei die größte »Gefahr« im »westlichen Liberalismus« gesehen wird (Husain & Ashraf, 1979, S. IX). Dagegen hätten muslimische Gelehrte bisher noch keine adäquaten islamischen Konzepte formuliert. Der Westen habe seine »religiöse Verankerung« verloren. Seit der Renaissance habe eine moralische Abwärtsentwicklung stattgefunden. Die Menschen im Westen würden sich nicht mehr an einem »religiösen Kodex« orientieren, der ihnen als »unhinterfragbare Norm« ethische und spirituelle Grundlagen liefern könne (ebd., S. 1). Folge sei ein Gefühl der »Wurzellosigkeit«, das auch in die muslimischen Gesellschaften eingedrungen sei (ebd., S. 2). Dass das traditionelle Bildungssystem in muslimisch geprägten Ländern an westliche Standards angepasst wurde, wird ebenfalls bemängelt, da dadurch bei den Lernenden Zweifel an den grundlegenden Annahmen des Islam erzeugt werden würden (vgl. ebd. S. 3). Gefordert wird dagegen die Entwicklung pädagogischer Konzepte, die »islamisch« seien. Aus der Perspektive einer wissenschaftlich reflektierten islamischen Religionspädagogik gesprochen, legt dieser Tagungsband beredtes Zeugnis davon ab, wie ursprünglich versucht wurde, auf die Krise der islamischen Bildung und Erziehung zu reagieren. Die dokumentierten Vorschläge illustrieren jedoch, wie schnell eine kritische Pädagogik einer islamistischen Lehre weichen muss, in deren Fahrwasser eine ideologische Zementierung althergebrachter kultureller und politischer Vorstellungen stattfindet. »Islam« und »Westen« werden als in jeglicher Hinsicht verfeindete Gegensätze konstruiert. Diese ideologische Dichotomisierung hat bis heute erhebliche und teilweise verheerende Implikationen.
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Sie führt zu einem sich zwar »islamisch« nennenden Bildungssystem, das aber faktisch die Bildungsideale und das spirituelle Lehr- und Lernethos des Koran ignoriert und den Menschen religiös in Unmündigkeit hält. Entwicklung einer akademischen islamischen Religionspädagogik in Deutschland MuslimInnen in Zentraleuropa gehen einen anderen Weg. In Deutschland wurden seit Anfang der 2000er Jahre an verschiedenen Orten Professuren für islamische Religionspädagogik eingerichtet. Die Begrifflichkeit ist der christlichen Tradition entlehnt, die über die letzten 100 Jahre hinweg die Entwicklung zu einer wissenschaftlich reflektierten Religionspädagogik vollzogen hat. Kann auch im Bereich der islamischen Erziehung und Bildung von einer Religionspädagogik dieser Art gesprochen werden? Dies ist zu bejahen: Die Aneignung des Begriffs impliziert keineswegs, dass die islamische Religionspädagogik bloß eine Modifikation der christlichen Religionspädagogiken ist. Der Terminus verdeutlicht im Gegenteil, dass die islamische Religionspädagogik ihr eigenes Profil entwickelt. Sie betreibt ihre eigene Form der theologischen Expertise und schöpft dabei aus ihrer eigenen Tradition, die sie im hiesigen Kontext neu deutet. Es findet somit lediglich eine Übernahme des Begriffs Religionspädagogik als Bezeichnung der akademischen und forschenden Disziplin statt, wobei die konkrete inhaltliche Füllung von den christlichen Religionspädagogiken abweicht. Freilich finden methodologische und methodische Übernahmen und ein Lernen aus den langjährigen Erfahrungen der christlichen Religionspädagogiken statt. Das macht zugleich die Reflexion der historischen Entwicklungen unabdingbar, da sie für das eigene Verständnis eine wesentliche Rolle spielt. In Deutschland hat sich die islamische Religionspädagogik als akademische Disziplin zeitlich vor der islamischen Theologie etabliert. Die Einführung des islamischen Religionsunterrichts und die Entwicklung der islamischen Religionspädagogik sind dabei eng mit der Migrationsgeschichte verwoben, insbesondere mit der Anwerbung von GastarbeiterInnen aus der Türkei ab 1961 (ab 1973 gab es den sog. Familiennachzug). Zunächst wurden Konzepte zur sprachlichen Eingliederung entwickelt. Die kulturelle und religiöse Unterweisung der muslimischen Kinder wurde erst ab 1977 durch den »muttersprachlichen und landeskundlichen Ergänzungsunterricht« gewährleistet, der von Lehrkräften aus den Herkunftsländern auf der Grundlage der Heimatlehrpläne unterrichtet wurde (vgl. Engin, 2015, S. 369). Als zunehmend klar wurde, dass die sog. »Gastarbeiter« nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren würden, und unter dem
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Eindruck dessen, dass MuslimInnen ein Teil der Gesellschaft bleiben würden, stellte sich die dringende Frage nach einer religiösen Bildungsinfrastruktur. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass ab den 2000er Jahren der Politik und den Bildungseinrichtungen die Bedeutung von Religion und Religiosität bei muslimischen Kindern und Jugendlichen zunehmend bewusst wurde, vor allem unter integrations- und sicherheitspolitischen Aspekten (vgl. Ceylan, 2014, S. 22). Diese Entwicklungen hängen u. a. mit den Terroranschlägen des 11. September 2001 und ihren Folgen zusammen. Damit verbunden war ein terminologischer Wandel in den Migrations- und Integrationsdebatten: Vormals als »Ausländer« bzw. »Gastarbeiter« bezeichnete Bevölkerungsgruppen wurden plötzlich zu »Muslimen«, was dann mit der integrationsdiskursiven Konstruktion eines uniformen »muslimischen Subjekts« einherging (Shooman, 2015, S. 149; vgl. auch Spielhaus, 2006; Tezcan, 2018; zu anderen europäischen Ländern vgl. Aslan, 2009). 1999 hat Nordrhein-Westfalen den Schulversuch »Islamkunde in deutscher Sprache« eingeführt. Dieser wurde religionskundlich konzipiert, das heißt, die Bildungspläne lagen in der Verantwortung des Staates. Da der Anspruch auf religiöse Unterweisung für muslimische SchülerInnen schwierig einzulösen war, nahm sich die Deutsche Islam Konferenz (DIK) ab 2008 dieser Thematik an und setzte sich für Übergangslösungen ein. So wurden »Ansprechgremien« für die Lehr- und Bildungspläne für das Fach islamischer Religionsunterricht geschaffen, sodass sich die MuslimInnen selbst an deren Erstellung beteiligen konnten. Im Rahmen dieser Entwicklung wurden Erweiterungs- bzw. Ergänzungsstudiengänge für den islamischen Religionsunterricht an deutschen Hochschulen implementiert (vgl. Engin, 2015). In den deutschen Bundesländern haben sich verschiedene Formen des islamischen Religionsunterrichts entwickelt (vgl. Mediendienst Integration, 2020): Die erste Variante ist der bekenntnisorientierte Religionsunterricht in Zusammenarbeit mit und in Verantwortung von muslimischen Verbänden. Nur Hessen und Niedersachsen haben bisher diese Form des bekenntnisgebundenen Unterrichts gemäß Art. 7 Abs. 3 GG angeboten. Das Land Hessen arbeitete bis zum Schuljahr 2019/20 mit dem hessischen DITIB-Landesverband und der Ahmadiyya Muslim Jamaat zusammen. Ab dem Schuljahr 2020/21 arbeitet das Land nicht mehr mit DITIB (Türkisch Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.) zusammen und bietet stattdessen Islamkunde in staatlicher Verantwortung an, da Zweifel an der Unabhängigkeit der DITIB vom türkischen Staat bestehen. In Niedersachsen fungieren als Ansprechpartner für den Staat die »Schura Niedersachsen – Landesverband der Muslime in Niedersachsen e. V.« und der »DITIB Landesverband Niedersachsen und Bremen e. V.« (vgl. ebd.). In Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und im Saarland wird islamischer Religionsunterricht als »Modellprojekt« angeboten, wobei muslimische Verbände unterschiedlich involviert sind. In Nordrhein-Westfalen wird neben dem islamischen Religionsunterricht auch Islamkunde in staatlicher Verantwortung angeboten. Mit Blick auf den islamischen Religionsunterricht arbeitet Nordrhein-Westfalen noch mit einem im Jahr 2011 gegründeten
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Beirat zusammen, der aus vier VertreterInnen, die das Schulministerium in NRW ernannt hat, besteht und aus vier VertreteInnen muslimischer Verbände, wobei die Mitgliedschaft von DITIB zurzeit ruht. In Zukunft soll der Beirat durch eine Kommission ersetzt werden, die mehr Verbände inkludiert. Baden-Württemberg hat ein Stiftungsmodell konzipiert. Die »Stiftung Sunnitischer Schulrat« hat zum Schuljahr 2019/20 ihre Arbeit aufgenommen. In der Stiftung sind der Landesverband der Islamischen Kulturzentren Baden-Württemberg (LVIKZ) und die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD) vertreten. DITIB lehnt die Zusammenarbeit bislang ab. Die Islamische Glaubensgemeinschaft Baden-Württemberg (IGBW) ist ebenfalls nicht eingebunden. Der Vorstand besteht aus fünf Personen, die von den Verbänden LVIKZ und IGBD benannt wurden, wobei für drei Mitglieder die Zustimmung des Landes Baden-Württemberg erforderlich war. Zudem ist im Stiftungsmodell auch eine Schiedskommission inkludiert, die aus drei Mitgliedern besteht, die von den Verbänden und vom Land gemeinsam benannt wurden. Inwieweit hier die religiöse Neutralität des Staates gewährleistet wurde und die Tatsache, dass in diesem Modell keine muslimischen Stimmen vertreten sind, die andere Auffassungen vertreten als LVIKZ und IGBD, wird kontrovers diskutiert. Rheinland-Pfalz arbeitet mit lokalen Verbänden zusammen, wie dem Christlich-Islamischen Gesprächskreis Ludwigshafen (CIG), der Islamischen Frauenbildungsstätte Ludwigshafen (IGRA), dem Arbeitskreis Mainzer Muslime (AKMM) und dem Elternverein Worms und Umgebung. Das Saarland kooperiert mit dem DITIB Landesverband, der Islamischen Gemeinde Saar (IGS), dem Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG), dem Bosnische Kulturzentrum Saarbrücken und der Bosnischen Moscheegemeinde Saarbrücken (vgl. ebd.). Eine weitere Variante ist Islamkunde in staatlicher Verantwortung, die in Bayern und Schleswig- Holstein angeboten wird, sowie neuerdings auch in Hessen. In Hamburg und Bremen wird SchülerInnen ein »Religionsunterricht für alle« angeboten. In Hamburg wurde dieser Religionsunterricht bislang von der evangelischen Nordkirche verantwortet. Zurzeit wird ein gemeinsam verantworteter dialogischer Religionsunterricht erprobt ( S. 80 ff.). In Berlin gilt eine Ausnahmeregelung, die sog. »Bremer Klausel« (Art. 141 GG). Der bekenntnisgebundene Religionsunterricht ist dort kein ordentliches Lehrfach, sondern wird an öffentlichen Schulen in alleiniger Verantwortung von den Religionsgemeinschaften angeboten. Die Islamische Föderation Berlin ist in Berlin als Religionsgemeinschaft anerkannt und erteilt seit 2011 an Berliner Schulen den Religionsunterricht. In den fünf Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen wird kein Religionsunterricht für muslimische SchülerInnen angeboten.
In Österreich ist die Situation nur historisch zu verstehen. 1908 kam BosnienHerzegowina zum österreichischen Staatsgebiet hinzu, und auf diese Weise gehörten plötzlich mehr als 600.000 MuslimInnen zur Donaumonarchie. Aufgrund des Islamgesetzes von 1912, auf dessen Grundlage der Islam in seiner hanafitischen2 Form als Religionsgesellschaft anerkannt ist, hat sich die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) 1979 als anerkannte Religionsgemeinschaft konstituiert. So begann in Österreich der islamische Religionsunterricht an öffentlichen Schulen bereits 1982/83. 2 Ḥanafiten ist die Bezeichnung für eine der vier Rechtsschulen, die sich im sunnitischen Bereich entwickelt haben. Rechtsschulen stellen Wege dar, durch die die göttliche Botschaft verstanden werden kann.
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In Wien wurde 1998 die IRPA (Islamische Religionspädagogische Akademie) gegründet, die die Religionslehrkräfte zunächst in Kooperation mit der Azhar Universität Kairo ausbildete. Im Zuge des Bologna Prozesses bietet die IRPA seit 2007 den Bachelorabschluss an und kooperiert mit der kirchlichen pädagogischen Hochschule Wien/Krems. An der Universität Wien wurde ebenfalls ab 2006/07 der Masterstudiengang Islamische Religionspädagogik etabliert, den die Studierenden für das Gymnasiallehramt absolvieren müssen. Ab 2013/14 bot die Universität Innsbruck das Bachelorstudium Islamische Religionspädagogik an. Seit 2017 ist der Fachbereich Islamische Religionspädagogik in Innsbruck ein eigenständiges Institut für Islamische Theologie und Religionspädagogik.
In der Schweiz verläuft die Etablierung einer islamischen Theologie und Religionspädagogik an Hochschulen zögernd. 2015 wurde das Schweizerische Zentrum für Islam und Gesellschaft an der Universität Freiburg gegründet. Nach seiner Selbstbeschreibung dient das Zentrum dazu, aktuelle gesellschaftliche Fragen zum Islam in der Schweiz wissenschaftlich zu thematisieren, aber auch aus muslimischen Perspektiven akademisch zu bearbeiten. An der Universität Luzern wurde 2018 an der Theologischen Fakultät eine Professur für Islamische Theologie eingerichtet. In ihrer akademischen Pionierfunktion hat die islamische Religionspädagogik auch die Aufgaben der Fachwissenschaften übernommen, allerdings betreibt sie dabei ihre eigene Form der theologischen Expertise und ist keine Anwendungswissenschaft. Diese Dynamik ist prägend für das Fach und die bundesdeutsche und österreichische Situation. Islamische Religionspädagogik ist historisch gesehen die Leitwissenschaft der islamischen Theologie in diesen Ländern. In dieser Vorreiterrolle hat sie die Verknüpfung mit der akademischen Welt und den Bezug zur modernen Wissenschaft hergestellt (vgl. Ulfat, 2017c). Dies geschah allerdings nicht ohne wegbereitende und wegbegleitende christliche AkteurInnen, wie beispielsweise Johannes Lähnemann, der maßgeblich zum Aufbau des Interdisziplinären Zentrums für Islamische Religionslehre der Universität Erlangen-Nürnberg beigetragen hat, oder Peter Graf, der den Weg der Islamischen Religionspädagogik an der Universität Osnabrück bereitete. Weiter zu nennen wäre u. a. Peter Müller. Er hat das Modellprojekt »Islamischer Religionsunterricht« in Baden-Württemberg seit seiner Entstehung im Jahr 1990 geleitet.
Nach den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen im Jahr 2010 wurden in Deutschland Zentren bzw. Institute für islamisch-religiöse Studien bzw. islamische Theologie an den Standorten Tübingen, Münster/Osnabrück, Frankfurt/Gießen und Erlangen-Nürnberg errichtet. An der Humboldt Universität zu Berlin wurde 2019 das Berliner Institut für Islamische Theologie gegründet. Auch an der Universität Paderborn soll ein Institut für Islamische Theologie entstehen.
Religionsdidaktik im Islam
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Zugleich wurde auch die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses im Bereich der islamischen Religionspädagogik und der islamischen Studien/Theologie auf ein neues Niveau gehoben. Dieser Schritt ermöglichte es, die Entwicklung rapide zu beschleunigen. Stiftungen und Forschungsgemeinschaften vergaben Promotionsstipendien, um erste Schritte in diese Richtung zu unterstützen. Beispielsweise errichtete die Stiftung Mercator ein standortübergreifendes Graduiertenkolleg Islamische Theologie, in dem 16 NachwuchswissenschaftlerInnen promovieren und zugleich ein Studienprogramm absolvieren konnten.
Auf der Ebene der Hochschulen steht die islamische Religionspädagogik nun vor der Herausforderung, sich u. a. in den Bereichen der empirischen Religionspädagogik, der historischen Forschung, der Evaluation und der Wissenschaftstheorie zu profilieren und so mit der christlichen Religionspädagogik auf Augenhöhe zu gelangen. Moscheekatechese Wie gesagt bezieht sich der Begriff der Religionsdidaktik auch auf Lehr-LernProzesse in religiösen Gemeinden, so auch in Moscheen. Im Zuge der Arbeitsmigration haben zunächst die Gastarbeiter selbst die Weitergabe der Inhalte des muslimischen Glaubens in ihrer Gemeinschaft oder Gemeinde und die Durchführung der Gemeinschaftsgebete organisiert. Seit den 1970er Jahren, genauer seit der Familienzusammenführung, gibt es in Moscheen religiöse Unterweisungsangebote für Kinder und Jugendliche. In erster Linie geht es bei diesen Angeboten um das Memorieren, Rezitieren und Lesen des Koran, um das Erlernen religiöser Praktiken und von Glaubensgrundlagen. Die Moscheekatechese findet hauptsächlich an Wochenenden statt, die Kinder werden meist mit Schulbeginn angemeldet. In der Regel tendieren die Jugendlichen mit fortschreitendem Alter immer weniger dazu, die Moscheekatechese zu besuchen. Neben den Imamen sind viele der Unterrichtenden Rentner, andere sind Absolventen der Imam Hatib Schulen (religiöse Gymnasien in der Türkei). Zahlreiche Herausforderungen sind mit der strukturellen und inhaltlichen Gestaltung der Moscheekatechese verbunden: fehlende Lehrpläne, fehlendes qualifiziertes (religions-)pädagogisches Personal, das die veränderten Lebensbedingungen und Lebensstile der jungen Menschen ernst- und wahrnimmt, fehlende religionsdidaktische Grundlagen, Traditionalismus, Kollektiv- und Gemeinschaftsideologie, Imame aus der Türkei mit geringen deutschen Sprachkenntnissen u. a. (vgl. Ulfat, 2019a; ausführlich Ceylan, 2014). Die Einführung des islamischen Religionsunterrichts wurde zum Teil auch damit begründet, die religiöse Erziehung in den Moscheegemeinden zu konterkarieren und die
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religiöse Unterweisung aus den sog. »Hinterhofmoscheen« herauszuholen (vgl. Ceylan, 2014, S. 22). Die Frage nach der Verhältnisbestimmung zwischen Moscheekatechese und islamischem Religionsunterricht wurde bisher wissenschaftlich-religionspädagogisch noch wenig reflektiert. Das liegt in entscheidender Weise auch daran, dass es bisher keine wissenschaftlich fundierte, akademische islamische Gemeindepädagogik gibt.
4.4 Religionsdidaktik im wiedervereinten Deutschland: Gemeinsame Geschichte christlicher und islamischer Religionsdidaktik? Vorüberlegung Die Frage, ob sich die Entwicklung der Religionsdidaktik in den letzten 30 Jahren als gemeinsame Geschichte christlicher und islamischer Religionsdidaktik begreifen lässt, ist noch neu. Insofern wird an dieser Stelle ein innovativer Versuch unternommen, der eine Vorüberlegung erforderlich macht. Von einer gemeinsamen Geschichte ist für die Zeit seit den 1990er Jahren zunächst insofern zu sprechen, als sich in dieser Zeit die Religionsdidaktiken beider Religionen im selben gesellschaftlichen und kulturellen Raum bewegen. Insofern beziehen sie sich auf parallele Herausforderungen und kommt es auch begrifflich zu der pluralisierenden Rede von Religionsdidaktiken. Da die islamische Religionspädagogik und -didaktik sich erst mit Beginn der 2000er Jahre als wissenschaftliche Disziplin in der deutschsprachigen Hochschullandschaft entwickelt, ist für sie die evangelische und katholische Religionsdidaktik mit ihrer langen Tradition ein wegweisender Orientierungspunkt. Insbesondere im Bereich der religionsdidaktischen Ansätze werden Modelle erprobt und entwickelt, die sich an den bereits existierenden Ansätzen orientieren, freilich mit spezifischen inhaltlichen Ausrichtungen und Schwerpunkten ( S. 39 ff.). Mit der oben beschriebenen Einrichtung von islamischer Religionspäda gogik und Theologie an den Hochschulen ist zunehmend von einem institutionellen Nebeneinander der Religionsdidaktiken auszugehen. Ein ausdrückliches Miteinander wird daraus aber erst dann, wenn die neue Situation für Kooperationen in Ausbildung und Forschung genutzt wird. Auch dafür gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Beispielen ( S. 278 ff.). Die vorliegende interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik ist als Versuch zu verstehen, diese Entwicklung auch im Bereich der Lehrbuchliteratur aufzunehmen. Einen
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weiteren Hintergrund stellen dabei Kooperationen in der schulischen Praxis dar ( S. 260 ff.). Neue Herausforderungen: Säkularisierung und Religionswandel Mit der deutschen Vereinigung hat sich die religiöse Situation stark verändert ( S. 58 ff.). Nicht nur für die Kirchen, sondern auch für den Religionsunterricht hat dies Folgen. Unter den beschriebenen Voraussetzungen wird es beispielsweise schwieriger, einen konfessionellen (evangelischen und katholischen) Religionsunterricht zu organisieren. Gleichzeitig hat der Anteil der Menschen in Deutschland, die sich zum Islam bekennen, deutlich zugenommen. Im Blick auf das Christentum wird häufig von einer Säkularisierung gespro chen, durch die der religiöse Einfluss auf die Menschen immer geringer werde. Inzwischen wird stärker von einem Religionswandel ausgegangen sowie davon, dass Religion ihre Sichtbarkeit verliere. Welche Säkularisierungsprozesse bei MuslimInnen in Deutschland oder bei solchen Menschen, die sich nicht mehr dem Islam zugehörig fühlen, tatsächlich zu finden sind, ist bisher wissenschaftlich kaum geklärt. Es gibt dazu keine belastbaren Angaben. Immer wieder diskutiert wird auch die Frage, ob die formelle Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ein geeigneter Indikator für vorhandene oder nicht vorhandene Religiosität sei. Viele Menschen sind offenbar religiös interessiert, fangen aber nichts mit der Kirche an. Ohne Zweifel hat die religiöse Vielfalt in Zentraleuropa stark zugenommen. Ein Wandel vollzieht sich auch innerhalb der verschiedenen Konfessionen und Religionen, weil Menschen sich ihren Glauben nicht mehr einfach vorgeben lassen, sondern selbst darüber bestimmen wollen. Vor allem Jugendliche sind zutiefst davon überzeugt, dass nur sie selbst entscheiden (dürfen), was sie glauben wollen. Die religiöse Individualisierung ist im Bereich des Christentums durch vielfältige Untersuchungen gut belegt. Für muslimische Jugendliche zeigen – allerdings noch vorläufige – Befunde, dass auch hier mit religiösen Individualisierungsprozessen zu rechnen ist. Religionsdidaktisch entsprechen dem Religionswandel solche Ansätze, die versuchen, Religion von den Subjekten her zu erschließen. Dieses Anliegen verbindet beispielsweise den Elementarisierungsansatz mit der konstruktivistischen Religionsdidaktik oder allgemein der immer wichtiger werdenden Subjekt- und Erfahrungsorientierung im Religionsunterricht ( S. 39 ff.). Als Modell für den Religionsunterricht »nach dem Traditionsabbruch« versteht sich mitunter die performative Religionsdidaktik. Hier wird versucht, Erfahrungen mit Religion im Unterricht selbst zu ermöglichen. Die Annahme,
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dass gerade in den letzten Jahren von einem oder sogar dem Traditionsabbruch gesprochen werden könne, übergeht allerdings die Tatsache, dass solche Abbrüche auch in der Vergangenheit immer wieder vorgekommen sind – etwa in der Zeit nach dem Nationalsozialismus, als die Kinder und Jugendlichen noch stark durch die nationalsozialistische Indoktrination geprägt waren. Die christliche und die islamische Religionsdidaktik stehen im Blick auf den Religionswandel in der Gegenwart vor durchaus vergleichbaren Herausforderungen. Allerdings bedingt die ausgeprägte Minderheitensituation der MuslimInnen nach wie vor eine andere Ausgangssituation. Dazu kommt, dass auch die Ressourcen zwischen den Angehörigen der beiden Religionen ungleich verteilt sind. Das ist schon an den Bildungsabschlüssen abzulesen: Kinder aus christlichen oder konfessionslosen Elternhäusern erreichen mit weit größerer Wahrscheinlichkeit eine Hochschulreife, was sich entsprechend auf die spätere Berufslaufbahn auswirkt. Doch ist das Thema der sozialen Ungleichheit nicht auf nur eine Religion begrenzt. Mit dem Hinweis auf Bildungsgerechtigkeit und Heterogenität hat die Religionsdidaktik in den letzten Jahren ein verstärktes Bewusstsein für diese lange Zeit vernachlässigten Probleme ausgebildet (vgl. etwa Grümme, 2017). Eine weitere religionsdidaktische Entwicklung wird in der verstärkten Hinwendung zu Fragen zwischen Glaube und Naturwissenschaft im Sinne säkularer Formen der Welterklärung greifbar. Vor allem die Spannung zwischen einem Schöpfungsglauben und der Evolutionstheorie sorgt für mitunter auch in der medialen Öffentlichkeit stark wahrgenommene Kontroversen. Die eigene Religion im Kontext anderer Religionen und einer zunehmend von Konfessionslosigkeit bestimmten Gesellschaft Was zunächst an den Mitgliedschaftsverhältnissen und der wachsenden Zahl konfessionsloser Menschen in Deutschland abzulesen war, spiegelt sich in theologischen und weltanschaulichen Herausforderungen wider: Es ist zu einer unabweisbaren Aufgabe geworden, die eigene Religion im Kontext anderer Religionen verstehen zu lernen. Dies erklärt, warum gerade in den letzten Jahren Themen wie interreligiöses Lernen so wichtig geworden sind ( S. 14 ff.). Dabei geht es keineswegs allein um akademische Themen, sondern um das gesellschaftliche Zusammenleben. Die dafür erforderlichen Einstellungen bilden sich offenbar nicht automatisch heraus. Problematische Erscheinungen wie Antisemitismus und Islamfeindlichkeit werden zunehmend beobachtet. Mitunter wird auch angenommen, dass es bei jungen Menschen im islamischen Bereich zu christentumsfeindlichen Haltungen und Vorurteilen komme,
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wozu allerdings noch kaum empirische Befunde vorliegen. Weitere Probleme betreffen aggressive religiöse oder politische Strömungen bis hin zu terroristischen Akten, die sich angeblich aus dem Islam begründen (lassen). Der 11. September 2001 hat sich tief in das ikonografische Gedächtnis der Menschen eingegraben. Auch die Religionsdidaktik muss sich seither im Horizont dieser Situation bewegen. Immer stärker bewusst wird auch die Herausforderung, jungen Menschen Orientierung in der religiös-weltanschaulichen Vielfalt zu ermöglichen (vgl. etwa EKD, 2014a). Was sollen sie angesichts der vielfältigen religiösen Möglichkeiten in der Gesellschaft glauben? Wie können sie ihren Glauben für sich selbst und für andere plausibel machen, die diesen Glauben nicht teilen? Muslimische Jugendliche befinden sich zudem meist unter Rechtfertigungsdruck. Sie stehen vor der Herausforderung, Terroranschläge, frauenfeindliche Haltungen, politische Entwicklungen und andere brisante Themen in einer verteidigenden Haltung zu kommentieren und sich von diesen zu distanzieren. Im Blick auf Konfessionslose geht diese Herausforderung noch weiter: Soll und muss man denn überhaupt etwas glauben? Ist man nicht glücklicher ohne Religion? Auch in diesem Falle geht es um paradigmatische Herausforderungen, denen sich die Religionsdidaktik stellen muss. Dass die Religionsdidaktiken dabei in unterschiedlicher Weise auf die jeweils eigenen Traditionen zurückgreifen müssen, begründet ihre bleibende Verschiedenheit auch im Horizont einer gemeinsamen Geschichte. Zunehmend setzt sich in den letzten Jahren die Einsicht durch, dass interreligiöse Bildungsaufgaben ebenso für die individuelle Lebensführung wie für das Zusammenleben in der Gesellschaft von entscheidender Bedeutung sind. Den verschiedenen Ansätzen ist das Ziel gemeinsam, Kinder und Jugendliche mit der jeweils anderen Religion vertraut zu machen (Wissen und Verstehen), sie dazu zu befähigen, die Perspektive des anderen einzunehmen (Perspektivenübernahme) sowie Vorurteile abzubauen und positive Haltungen zu stärken (Einstellungen) (entsprechende Literatur S. 260 ff.).
Religionsunterricht im Horizont globaler Herausforderungen und schulischer Leistungsvergleiche Zunehmend wird bewusst, dass der Religionsunterricht heute auch in globalen Horizonten wahrgenommen werden muss. Diese Feststellung betrifft wiederum unterschiedliche Zusammenhänge. Zunächst geht es vor allem um globale Herausforderungen, wie die weltweit ungleiche Verteilung von Ressourcen, Migration und Flucht, ökologische Belastungen, Pandemien usw. Im Hintergrund wirksam ist die Globalisierung von Ökonomie und Informations-
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technologien, mit denen ein verändertes Bewusstsein des Lebens in der Welt als »einem Ort« einhergeht. Eine solche Sicht hat auch religiöse Wurzeln. Schon der Schöpfungsglaube lehrt, die Welt als eine von Gott geschaffene Einheit zu sehen. Darüber hinaus pflegen Christentum und Islam das Bewusstsein für die weltweite Verbreitung der jeweiligen Glaubensweise. Im Christentum hat im Laufe des 20. Jahrhunderts der Gedanke der Ökumene im Sinne der weltweiten Einheit des Christentums an Einfluss gewonnen und auch religionsdidaktisch bedeutsame Initiativen etwa für ökumenisches Lernen motiviert. Im Islam spielt in diesem Zusammenhang die Einladung (daʿwa) eine Rolle, im Sinne der Einladung der Menschen auf den Weg Gottes. Diese Einladung geht von den Propheten aus, aber auch von Gott selbst, der zum »Haus des Friedens« (10:25) und in den »Garten der Glückseligkeit und Vergebung« (2:221) einlädt. Dieser Gedanke hat einerseits missionarische Züge angenommen, die heute noch etwa von der Muslimbruderschaft oder der Islamischen Weltliga fortgeführt werden. Andererseits entwickeln sich auch dialogische Impulse, beispielsweise in der Initiative »A Common Word« (www.acommonword.com) im Jahr 2007, bei der 138 muslimische Gelehrte an die Führungspersönlichkeiten christlicher Kirchen einen offenen Brief als Einladung zum Dialog verfasst haben. In ganz anderer Weise macht sich die Globalisierung in Schule und Religionsunterricht durch weltweite Schulleistungsvergleiche bemerkbar, für die als symbolisches Beispiel die PISA-Studien stehen können. Solche Studien beurteilen Lernerfolge nicht mehr im Zusammenhang einer Schulklasse, sondern in einem mindestens nationalen, vorzugsweise aber weltweiten Vergleichshorizont. Für die Religionsdidaktik haben diese Studien wie auch für alle anderen Fachdidaktiken die sog. Kompetenzorientierung mit sich gebracht ( S. 50). Damit sieht sich die Religionsdidaktik herausgefordert, eigene Kompetenzmodelle zu entwickeln und möglichst auch empirisch zu validieren, was bislang aber nur ansatzweise gelungen ist ( S. 33 f.). Diese Entwicklungen haben auch Konsequenzen für die Gestaltung von Religionsunterricht ( S. 140 ff.). Diversifizierung der Formen religionsbezogenen Unterrichts als Anfrage Eine weitere für die Religionsdidaktik grundlegende Frage betrifft die Organisationsgestalt von Religionsunterricht. Aufgrund der rechtlichen Vorgaben, aber auch der Geschichte wird der konfessionelle Religionsunterricht in der Regel als Grundgestalt angesehen. In diesem Falle wird der Unterricht von einer Lehrkraft erteilt, die von einer bestimmten Konfession oder Religion bevollmächtigt ist.
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Entsprechend steht die Perspektive dieser Konfession oder Religion im Vordergrund, auch wenn der schulische Religionsunterricht als Bildungsangebot nicht darauf zielen kann, Kinder und Jugendliche beispielsweise für die Übernahme einer Glaubensweise zu motivieren oder sie gar zu überreden. Über den herkömmlichen konfessionellen Religionsunterricht hinaus führen seit den 1990er Jahren offiziell anerkannte Formen der Kooperation vor allem zwischen dem evangelischen und katholischen Religionsunterricht ( S. 260 ff.). Mit der Konfessionslosigkeit hat die Bedeutung des Ethikunterrichts stark zugenommen. Im Ethikunterricht werden auch religionsbezogene Themen behandelt, wobei dieser Unterricht auf religiös-weltanschauliche Neutralität verpflichtet ist und deshalb prinzipiell alle Kinder und Jugendlichen einbeziehen kann. Bislang wird Ethik aber als Ersatz- oder Alternativfach angeboten. Nur in Berlin ist er Pflichtfach für alle. Mitunter heftige Kontroversen haben Modelle ausgelöst, die an die Stelle des Religionsunterrichts treten sollen. Das gilt besonders für das Brandenburger Schulfach LER. In Hamburg wurde seit den 1990er Jahren der Weg eines »Religionsunterrichts für alle« begangen. In der Schweiz gingen mit dem Lehrplan 21 ähnliche Impulse von dem Züricher Schulfach »Religion & Kultur« aus. Die entsprechend kontroverse Modelldiskussion begleitet die religionsdidaktische Diskussion der Gegenwart und fordert sie immer wieder neu heraus ( S. 92 ff.). In der vorliegenden Darstellung wird die Auffassung vertreten, dass die entsprechenden Herausforderungen am besten mit kooperativen Modellen aufgenommen und bearbeitet werden können. Dabei geht es ebenso um die Kooperation in der Schule wie in der Wissenschaft bzw. der Ausbildung für den Religionsunterricht. Beiden Themen sind deshalb eigene Teile des Buches gewidmet ( S. 260 ff. und S. 278 ff.). Zum Weiterlesen Lachmann, Rainer & Schröder, Bernd (Hrsg.) (2007). Geschichte des evangelischen Religionsunterrichts in Deutschland: ein Studienbuch. Neukirchen-Vluyn: Neu kirchener. Günther, Sebastian (Hrsg.) (2020). Knowledge and Education in Classical Islam: Religious Learning Between Continuity and Change. Leiden & Boston: Brill. Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Beide, die christliche und die islamische Religionsdidaktik erwachsen aus einer langen Tradition, die sie bis heute prägt. Wechselseitiges Verständnis kann nur erreicht werden, wo auch die Geschichte mit im Blick ist.
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Ȥ Im Unterschied zu vielen Situationen in der Vergangenheit ist heute auch beim Religionsunterricht die Multireligiosität in einer zunehmend durch Migration bestimmten Gesellschaft zu einer entscheidenden Voraussetzung geworden. Zugleich bildet die wachsende Konfessionslosigkeit den Horizont, in dem sich die Religionen und der Religionsunterricht bewegen müssen. Ȥ Einen weiteren gemeinsamen Horizont für die Religionsdidaktiken stellen glo bale Herausforderungen dar, denen sich der Religionsunterricht nicht entziehen darf. Interreligiöse Lernprozesse sind vor diesem Horizont zu begreifen und entsprechend zu gestalten. Ȥ Geschichtlich gesehen neu ist der Versuch einer geregelten Kooperation zwi schen den Religionsdidaktiken in der Schule sowie bei der Ausbildung für den Religionsunterricht. Eine solche Kooperation entspricht nicht nur Entwicklungen in der Theologie, sondern bietet auch eine geeignete Grundlage dafür, die reli gionsdidaktischen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft aufzunehmen.
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Für den Religionsunterricht spielen rechtliche Rahmenvorgaben eine wichtige Rolle. Der Unterricht findet in der staatlichen Schule statt – mit Vorgaben, die für alle Fächer gelten. Zugleich bedürfen religiöse Zusammenhänge besonderer Bestimmungen etwa im Blick auf die Religionsfreiheit (Art. 4 GG). Diese Freiheit setzt die Trennung von Staat und Kirche oder Religion voraus (vgl. Art. 140 GG: »Es besteht keine Staatskirche.«). In Deutschland kam es mit der Einführung der ersten Demokratie (1918/1919) zur Trennung von Staat und Kirche – ein Datum, das für die Geschichte der Kirche und inzwischen auch für andere Religionen in Deutschland von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Recht und Geschichte sind eng miteinander verflochten. Schon im deutschsprachigen Bereich stellt sich die rechtliche Situation unterschiedlich dar, worauf hier nur verwiesen werden kann. In Europa insgesamt reicht das Spektrum von noch immer bestehenden Staatskirchen (etwa Dänemark und England) auf der einen und einer radikalen Trennung zwischen Staat und Kirche im Laizismus (Frankreich) auf der anderen Seite. Das Staatskirchenrecht, inzwischen auch als Religionsrecht bezeichnet, hat sich in Deutschland im Verhältnis zum Christentum entwickelt. Insofern können im Blick auf den Islam neue Fragen aufbrechen. Das Recht gilt für alle Menschen in Deutschland gleichermaßen. Zugleich und aus diesem Grund muss auch die Frage gestellt werden, ob etwa die Regelungen für den Religionsunterricht einseitig die im Christentum gegebenen Strukturen voraussetzen und insofern zu Ungleichheit führen. Dies wird besonders hinsichtlich der im Grundgesetz vorausgesetzten Religionsgemeinschaften diskutiert, da es solche rechtlich verfassten Religionsgemeinschaften bei MuslimInnen in Deutschland (bislang) nicht gibt.
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5.1 Rechtsquellen An erster Stelle ist hier das Grundgesetz zu nennen. Daneben finden sich Bestimmungen zum Religionsunterricht aber auch in manchen Landesverfassungen sowie in Schulgesetzen. Darüber hinaus ist an Verordnungen zu denken, in denen beispielsweise geregelt wird, ab welcher SchülerInnenzahl eine Religionsgruppe eingerichtet wird, was für die Praxis von erheblicher Bedeutung ist (zum Folgenden vgl. insgesamt Listl & Pirson, 1994; Heckel, 2002; Meckel et al., 2020). Die verschiedenen Rechtsquellen stehen nicht einfach nebeneinander, sondern folgen dem Prinzip der Gesetzeshierarchie. Entscheidend sind die Vorgaben im Grundgesetz, alle weiteren Regelungen müssen grundgesetzkonform sein. Die Bundesländer können jedoch zusätzliche Regelungen treffen, die allerdings dem Grundgesetz nicht widersprechen dürfen. Ein Beispiel dafür ist die Regelung in Art. 18 Landesverfassung Baden-Württemberg: Demnach wird der Religionsunterricht von den »Beauftragten« der Religionsgemeinschaften »erteilt und beaufsichtigt«. Vielfach wird angenommen, dass der Religionsunterricht damit einer Art kirchlicher Aufsicht unterstellt sei, aber das im Grundgesetz festgelegte staatliche Aufsichtsrecht (Art. 7,1) kann durch eine Landesverfassung nicht außer Kraft gesetzt werden. Die Beteiligung der Religionsgemeinschaften an der Aufsicht ist, gemäß der übergeordneten grundgesetzlichen Regelung, im Rahmen der staatlichen Schulaufsicht zu sehen.
5.2 Der Religionsunterricht im Grundgesetz Im Grundgesetz werden Regelungen zu Schule und Religionsunterricht in Art. 7 getroffen. Im Falle des Religionsunterrichts spielt auch Art. 4 eine wichtige Rolle. Denn die in Art. 4 gewährleistete Glaubens- und Gewissensfreiheit erstreckt sich u. a. auf die Schule, sodass der Religionsunterricht als Verwirklichung von Religionsfreiheit in der Schule angesehen werden kann. Innerhalb von Art. 7 wird der Religionsunterricht ausdrücklich in Absatz 2 und 3 angesprochen, aber auch Art. 7,1 ist von Belang (»Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates«). Das schließt auch den Religionsunterricht ein. In der Rechtsauslegung begründet Art. 7,1 darüber hinaus einen staatlichen Erziehungsauftrag, aus dem wiederum normierende Ansprüche mit Blick auf alle Fächer der Schule erwachsen. Bemerkenswert ist, dass bereits in Art. 7,2 den Erziehungsberechtigten das Bestimmungsrecht über die Teilnahme am Religionsunterricht zugesprochen wird. Offenbar soll von Anfang an klar sein, dass die Religionsfreiheit auch beim Religionsunterricht keineswegs infrage gestellt sein soll. Positiv ausgedrückt stellt Art. 7,2 sicher, dass der Religionsunterricht auf einer freiheitlichen Grundlage steht. Niemand wird gezwungen, am Religionsunterricht teilzunehmen.
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Die wichtigsten Regelungen für den Religionsunterricht finden sich dann aber in Art. 7,3: »Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt. Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen.« Satz 1 beschreibt den Religionsunterricht als »ordentliches Lehrfach«. Es wird zwar nicht gesagt, was dies im Einzelnen bedeutet, aber es ist klar, dass der Religionsunterricht wie jedes andere Fach, also gleichberechtigt behandelt werden muss. So ist es etwa nicht zulässig, dass der Religionsunterricht bei der Versorgung mit Lehrkräften hinter anderen Fächern zurückstehen soll oder dass er nur in Randstunden erteilt wird. Darüber hinaus verpflichtet diese Regelung den Staat dazu, für die Erteilung von Religionsunterricht zu sorgen. Es geht beim Religionsunterricht also nicht um eine Aufgabe der Religionsgemeinschaften. Zu den Aufgaben des Staates gehört es auch, Ausbildungsmöglichkeiten für Religionslehrkräfte zu gewährleisten. Das »ordentliche Lehrfach« ist an allen Schulen einzurichten. Die genannte »Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen« verweist zurück auf die Weimarer Reichsverfassung, die Erziehungsberechtigten die Möglichkeit einräumte, einen Antrag auf Einrichtung einer solchen Schule zu stellen. Faktisch spielt diese Regelung heute allerdings keine Rolle, da keine entsprechenden Anträge vorliegen.
Satz 2 ist insofern überraschend, als er noch einmal auf das staatliche Aufsichtsrecht verweist (»unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes«). Nachdem dies bereits durch Art. 7,1 geregelt wird, kann dieser erneute Hinweis als ein Ausrufezeichen gelesen werden, was sich aus der Fortsetzung erklärt (»wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt«). Denn hier kommen die Religionsgemeinschaften ins Spiel und soll offenbar ausgeschlossen werden, dass deren Beteiligung eine Ausnahme von der staatlichen Schulaufsicht impliziere. Art. 7,3 geht davon aus, dass auch ein so erteilter Religionsunterricht den allgemeinen Kriterien von Unterricht entsprechen muss. Was die »Grundsätze der Religionsgemeinschaften« jeweils sind, kann von staatlicher Seite nicht festgelegt werden. Dies gehört gemäß Art. 4 GG zur Freiheit der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Von den Kirchen wird dies etwa durch kirchliche Denkschriften und Verlautbarungen zum Religionsunterricht wahrgenommen (vgl. EKD, 1994, 2014; DBK, 1996). Allerdings hat der Staat die Aufgabe zu prüfen, ob es sich tatsächlich um eine Religionsgemeinschaft handelt
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und es entsprechende religiöse Grundsätze gibt. Beispielsweise kommen deshalb Kulturvereine auch dann nicht als solche Religionsgemeinschaften infrage, wenn ihnen nachweislich nur MuslimInnen (oder ggf. ChristInnen) angehören. Im Grundgesetz ist der Begriff der Religionsgemeinschaft nicht auf die Kirchen beschränkt, sondern prinzipiell für alle Religionen offen. Daraus erwächst die Möglichkeit verschiedener Formen von Religionsunterricht, die in Deutschland derzeit vor allem als christlicher, jüdischer und islamischer Religionsunterricht anzutreffen sind. Zu einer Religionsgemeinschaft im hier gemeinten Sinne gehört weiterhin, dass es eine klar bestimmte Mitgliedschaft gibt sowie eine Außenvertretung, etwa als Gegenüber zum Staat. Für die Praxis spielt auch die Mindestzahl von Angehörigen eine Rolle: Die Einrichtung von Religionsunterricht kann nur dann verlangt werden, wenn eine ausreichende Anzahl von SchülerInnen dauerhaft daran teilnehmen wird. Dabei handelt es sich um eine pragmatische Begrenzung, die den Staat vor einer Überforderung schützen soll.
Im Bereich des Christentums besteht zunächst Übereinstimmung, dass die hier einschlägigen »Grundsätze« von »Schrift und Bekenntnis« ausgehen, also von der Bibel und den Bekenntnissen der Kirche. Darüber hinaus weisen die Grundsätze der christlichen Konfessionen Unterschiede auf. Im Katholizismus gehören auch kirchenamtliche Aussagen zu den Grundsätzen, während sie in evangelischer Sicht lediglich als Auslegungen von Schrift und Bekenntnis bedeutsam sind. Im Bereich des Islam basieren diese »Grundsätze« auf dem Koran und der prophetischen Tradition. Diese Grundsätze betreffen einerseits den Bereich der gottesdienstlichen Handlungen, zu denen das Glaubensbekenntnis und die Glaubensgrundsätze gehören. Diese werden von der Mehrheit der muslimischen Strömungen übereinstimmend vertreten. Diskutiert wurde und wird, ob bestimmte Aussagen und Lehren des Koran und der prophetischen Tradition mit der Werteordnung des Grundgesetzes übereinstimmen, in dessen Rahmen der Religionsunterricht erteilt wird. Diese betreffen den Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen. In diesem Bereich lässt der Koran weiten Interpretationsspielraum. Das betrifft beispielsweise Geschlechterkonzeptionen, Umgang mit Andersgläubigen, wirtschaftliche und finanzielle Beziehungen usw. Die Interpretationen des Koran zu diesen Themen führen zu unterschiedlichsten Ansichten, die nicht gegensätzlicher sein könnten. Freilich werden die »Grundsätze« nirgends in den zugänglichen Texten der muslimischen Religionsgemeinschaften explizit formuliert. Jedoch geben die Lehrerlaubnisordnungen ( S. 84) dieser Religionsgemeinschaften konkretisierende Hinweise. Sie stellen das Glaubensbekenntnis
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und die Glaubensgrundsätze, wie das Bekenntnis zum Islam und »reflektierte Kenntnisse der Glaubensgrundsätze und der Glaubenspraxis« in den Mittelpunkt (Beirat für den Islamischen Religionsunterricht in NRW, 2017).
Im Grundgesetz wird nicht genauer ausgeführt, was es bedeutet, dass der Religionsunterricht »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« erteilt wird. In der Rechtsprechung wird auf eine Formulierung aus der älteren Rechtsauslegung zurückgegriffen, der zufolge der Religionsunterricht »in konfessioneller Positivität und Gebundenheit« zu erteilen ist oder, in einer neueren Formulierung des Bundesverfassungsgerichtes, dass der Religionsunterricht »die Glaubenssätze der jeweiligen Religionsgemeinschaft […] als bestehende Wahrheiten zu vermitteln« habe (BVerfGE 74, 244). Aus religionsdidaktischer Sicht sind solche Aussagen zumindest auslegungsbedürftig, wenn nicht sogar korrekturbedürftig. Denn ein Religionsunterricht, der der religiösen Bildung dienen soll, muss ja gerade dazu befähigen, Wahrheitsansprüche kritisch zu beurteilen. Entscheidend ist aber auch religionsdidaktisch gesehen der Bezug auf ein Bekenntnis. Anders als ein allein vom Staat verantwortetes Angebot muss der Religionsunterricht in diesem Sinne nicht neutral sein. Dies wird durch die freiheitliche Bestimmung über die Teilnahme in Art. 7,2 ermöglicht. Aufgrund landesrechtlicher Bestimmungen – das Grundgesetz enthält dazu keine Aussagen – setzt die Tätigkeit als Religionslehrekraft eine Beauftragung durch eine entsprechende Religionsgemeinschaft voraus (evangelisch: Vocatio, katholisch: Missio, islamisch: iǧāza) (vgl. Timmer, 2017; Wöller, 2019). Die Erteilung dieser Beauftragung erfolgt im christlichen Bereich häufig aufgrund der Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen für (angehende) Religionslehrkräfte. In jedem Falle ist die Verpflichtung auf die »Grundsätze« der entsprechenden Regionsgemeinschaft maßgeblich. Im Einzelnen verbinden sich mit der Frage der Beauftragung mitunter komplexe Diskussionen. Auch in diesem Falle spielt dabei das Verhältnis zwischen dem Staat bzw. der staatlichen Schule und den Religionsgemeinschaften eine Rolle, da die unterschiedlichen Pflichten aus dem staatlichen Anstellungs- oder Beamtenverhältnis und der Beauftragung durch die Religionsgemeinschaften in Ausgleich gebracht werden müssen. Darüber hinaus liegen Spannungen auch im Verhältnis zwischen den einzelnen Religionslehrkräften mit ihrem Anspruch auf religiöse Autonomie und den religiösen Institutionen.
Satz 3 (»Kein Lehrer darf gegen seinen Willen verpflichtet werden, Religionsunterricht zu erteilen«) geht auf eine geschichtliche Situation zurück, in der alle Lehrkräfte verpflichtet waren, auch Religionsunterricht zu erteilen. Mit der Trennung von Staat und Kirche war diese Verpflichtung nicht vereinbar. Heute kann diese
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Regelung insofern noch eine Rolle spielen, als auch eine verbeamtete Religionslehrkraft vom Staat nicht dazu gezwungen werden kann, auch dann noch Religion zu erteilen, wenn sie sich innerlich nicht (mehr) dazu in der Lage sieht. Die weiteren Bestimmungen in Art. 7 GG betreffen nicht mehr den Religionsunterricht, sondern Schulen in nicht-staatlicher Trägerschaft.
5.3 Besondere Fragen zum islamischen Religionsunterricht Von Art. 4 und 7 GG her steht einem islamischen Religionsunterricht nicht nur nichts entgegen, sondern ergibt sich für den Staat eine prinzipielle Verpflichtung zur Einrichtung eines solchen Unterrichts. Dabei spielen Fragen der Gleichbehandlung der Religionen ebenfalls eine Rolle. Die Kultusministerkonferenz hat bereits 1984 die Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts nach den Maßgaben des Grundgesetzes bejaht (vgl. Heckel, 2004, S. 40). Eine Reihe von Bedenken, die bei der Einführung von islamischem Religionsunterricht geäußert wurden, können inzwischen als beantwortet betrachtet werden. Selbstverständlich untersteht auch dieser Unterricht der staatlichen Schulaufsicht und ist grundgesetzkonform zu erteilen. Der islamische Religionsunterricht muss schon aus diesem Grund in deutscher Sprache erteilt werden. Religionslehrkräfte müssen über eine mit anderen Lehrkräften der Schule vergleichbare Qualifikation verfügen. Die wichtigste offene Frage betrifft die für die Inanspruchnahme der grundgesetzlichen Regelung vorausgesetzte »Religionsgemeinschaft«. Dass es eine solche Religionsgemeinschaft im muslimischen Spektrum in Deutschland bislang nur in Gestalt der alevitischen Religionsgemeinschaft3 und der Ahmadiyya Muslim Jamaat gibt, stellt noch immer ein Hindernis für die förmliche Einrichtung von islamischem Religionsunterricht gemäß Art. 7,3 GG dar. Mitunter wird argumentiert, dass hier implizit eine christlich-kirchliche Organisationsform vorausgesetzt werde, die einer Gleichbehandlung der Religionen widerspricht. Insofern sei es an der Zeit, das Grundgesetz zu ändern. Diese Sicht ist einerseits verständlich, trägt andererseits aber nicht den gerade bei dieser Bestimmung wesentlichen Implikationen staatlicher Neutralitätspflicht Rechnung. Denn die im Grundgesetz vorgesehene Rolle der Religionsgemeinschaften ist keineswegs nur historisch bedingt, sondern sachlich begründet: Sie gewährleistet, dass der Staat nicht selbst religiöse Inhalte oder Grundsätze festlegen muss. Eben diese Aufgabe kommt dem Grundgesetz zufolge den Religionsgemeinschaften zu, 3 Ob das Alevitentum eine muslimische Strömung darstellt, ist unter AlevitInnen umstritten.
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die dadurch den Staat von Entscheidungen entlasten, die ein religionsneutraler Staat nicht treffen kann. So gesehen ist eine Religionsgemeinschaft für die Einrichtung von Religionsunterricht zwingend erforderlich. Was das für MuslimInnen bedeutet, ist allerdings umstritten: Auf der einen Seite werden MuslimInnen gefragt, ob es nicht doch sinnvoll und möglich wäre, hierzulande eine Religionsgemeinschaft zu bilden. Unter den Voraussetzungen einer rechtsstaatlichen Demokratie sind Vereine und Vereinigungen eine Grundvoraussetzung für eine aktive Mitwirkung im Gemeinwesen. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang auch auf Österreich und Bosnien oder auch andere Länder in Europa, in denen es muslimische Religionsgemeinschaften gibt. Offenbar ist der Weg zu einer Religionsgemeinschaft auch für MuslimInnen nicht ausgeschlossen. Auf der anderen Seite wird auf die enormen praktischen sowie zahllosen theologischen und ideologischen Probleme verwiesen, die die Bildung einer »Religionsgemeinschaft« der MuslimInnen in Deutschland mit sich bringen würde. Sie stellt aber auch keineswegs den Königsweg für das gleichberechtigte Miteinander von Islam und anderen Religionen in Deutschland dar. Es gibt daneben eine Reihe »kleinformatigerer« Lösungsansätze. So können die Bundesländer auch Verbänden, die nicht als Religionsgemeinschaften anerkannt sind, das Recht einräumen, als Ansprechpartner für den Staat zu fungieren. Beispielsweise werden in verschiedenen Bundesländern, in denen ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht angeboten wird oder entsprechende Modellprojekte durchgeführt werden, muslimische Verbände oder lokale Moscheegemeinden einbezogen. In Baden-Württemberg beispielsweise dienen als Ansprechpartner für den Staat der Landesverband der Islamischen Kulturzentren Baden-Württemberg (LVIKZ) und die Islamische Gemeinschaft der Bosniaken in Deutschland (IGBD), und auch in anderen Bundesländern gibt es vergleichbare Kooperationen ( S. 53 ff.), die allerdings nicht das gesamte Spektrum der muslimischen Positionen abbilden. Ein erster Schritt besteht demnach darin, MuslimInnen nicht nur durch diejenigen Verbände repräsentieren zu lassen, deren Existenz sich den vielfältigen Zufällen der Migrationsgeschichte verdankt. Eine »islamische Religionsgemeinschaft« kann allerhöchstens das Endprodukt eines langen Diskussionsprozesses der in Deutschland lebenden MuslimInnen sein, nicht deren Ausgangspunkt. Solange es in Deutschland keine plural zusammengesetzte islamische Religionsgemeinschaft gibt, besteht eine nicht wünschenswerte Folge zumindest teilweise in einem starken Einfluss vonseiten der türkischen Regierung. Ein nicht unerheblicher Anteil der MuslimInnen in Deutschland ist türkischstämmig und besitzt zum Teil auch die türkische Staatsbürgerschaft – mit der Folge, dass diese MuslimInnen dem Religionsministerium in Ankara entweder förmlich unterstellt sind oder sich mit dessen Vorgaben identifizieren. Angesichts der politischen Verhältnisse in der Türkei kann es aus deutscher Sicht kaum akzeptiert werden, dass eine mit der Türkei verbundene Religionsvertretung in deutschen Schulen eine maßgebliche Rolle spielen soll. Eine weitere Frage betrifft das Verhältnis unterschiedlicher muslimischer Strömungen zum Religionsunterricht, neben den AlevitInnen und den Ahmadiyya in Deutschland also vor allem von SunnitInnen und SchiitInnen. Zahlenmäßig überwiegen in Deutschland bei weitem SunnitInnen ( S. 14 ff.). Für AlevitInnen wurde in verschiedenen Bundesländern ein Religionsunterricht eingerichtet. Religionsunterricht in Kooperation mit der Ahmadiyya Gemeinde wird in Hessen angeboten. Neun Bundesländer bieten eine Form des islamischen Religionsunterrichts an, dabei trägt der Religionsunterricht nur in Baden-Württemberg die Denomination »sunnitischer Prägung«. Für SchiitInnen gibt es bislang keinen eigenen Religionsunterricht.
Es ist sehr zu begrüßen, dass einzelne Bundesländer sich inzwischen ausdrücklich zu dem Ziel einer flächendeckenden Einführung des islamischen Religionsunterrichts bekannt haben. Die mitunter zu beobachtenden Versuche, von staat-
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licher Seite aus Äquivalente für die fehlende islamische Religionsgemeinschaft zu schaffen, indem vom Staat etwa Vertretungen definiert oder Stiftungen errichtet werden, bleiben problematisch. Denn im Gefüge der auf den Religionsunterricht bezogenen Bestimmungen im Grundgesetz sollen die Religionsgemeinschaften eindeutig ein Gegenüber für den Staat darstellen, was eigentlich ausschließt, dass sie vom Staat eingerichtet oder gar kontrolliert und geleitet werden.
5.4 Der Religionsunterricht und seine Alternativen in rechtlicher Sicht Die Diskussion über Alternativen zum Religionsunterricht spielt heute eine wichtige Rolle ( S. 92 ff.). Dabei sind auch rechtliche Klärungen erforderlich. In Deutschland geht es dabei zunächst um den Ethikunterricht mit seinen religionsbezogenen Anteilen sowie, in Brandenburg, um das Schulfach LER. In Nordrhein-Westfalen gibt es darüber hinaus – in abnehmendem Maße, weil zunehmend ein islamischer Religionsunterricht eingerichtet wird – eine Islamkunde, die allein vom Staat verantwortet wird. In Bayern und Schleswig-Holstein wird ausschließlich Islamkunde angeboten. Der »Religionsunterricht für alle« in Hamburg hingegen ist als eine Form von Religionsunterricht zu verstehen und stellt insofern nicht einfach eine Alternative dazu dar, sondern eine besondere Ausgestaltung, auf die hier gleichwohl eingegangen werden soll, weil dieses Modell auch in rechtlicher Hinsicht wichtige Fragen aufwirft (Diskussion: Bauer, 2019; Härle, 2019; Knauth & Weiße, 2020). Auch ein kooperativer Religionsunterricht, wie er zunächst für die Zusammenarbeit zwischen dem evangelischen und dem katholischen Religionsunterricht entwickelt wurde und nun auf die christlich-islamische Kooperation im Religionsunterricht ausgeweitet werden sollte, stellt eine Alternative dar. In diesem Falle stellt sich ebenso die Frage nach der rechtlichen Grundlage. Religionsunterricht und Religionskunde Rechtlich gesehen betrifft die wichtigste Unterscheidung zunächst die Begriffe Religionsunterricht und Religionskunde. Religionsunterricht ist bekenntnisorientiert, weil er nach Art. 7,3 GG »in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« erteilt wird. Der Ethikunterricht mit seinen religionsbezogenen Anteilen und LER hingegen sind als Religionskunde zu verstehen (im Falle von LER schon an der Selbstbezeichnung abzulesen: Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde). Religionskunde wird allein vom Staat
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verantwortet und muss deshalb aus Gründen der staatlichen Neutralitätspflicht konsequent neutral erteilt werden. Während die Lehrkräfte im Religionsunterricht bestimmte religiöse Positionen vertreten dürfen und sollen, ist dies bei den religionskundlichen Angeboten ausgeschlossen. Hier liegt ein bleibendes Problem: Ganz unvermeidlich gerät der Staat hier in eine seine Neutralität gefährdende Situation, weil er im Bildungsplan die Inhalte für den Unterricht festlegen muss, was die Inanspruchnahme einer wertenden Urteilskompetenz voraussetzt (Was ist bei einer Religion wichtig?). Insofern trifft auch die manchmal zu hörende Einschätzung nicht zu, dass ein allein vom Staat verantworteter Unterricht »über Religion« doch viel demokratischer sei als das vom Grundgesetz vorgegebene Modell einer Mitwirkung von Religionsgemeinschaften. Hier kann im Übrigen auch auf die für heutige Demokratietheorien wichtige Vorstellung einer Zivilgesellschaft verwiesen werden, von deren Vitalität eine Demokratie abhängig ist. Die Religionsgemeinschaften sind Teil der Zivilgesellschaft, und ein Zusammenwirken mit dem Staat kann als gute demokratische Praxis bezeichnet werden. Solche Überlegungen bedeuten allerdings nicht, dass auf ein Alternativangebot zum Religionsunterricht verzichtet werden sollte. Schon angesichts der großen Zahl Konfessionsloser ist es überaus wünschenswert, dass sich auch diejenigen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, mit ethischen Fragen befassen sowie ein Grundwissen zu den Religionen erwerben. Zugleich ist der Religionsunterricht auch für Konfessionslose offen – ein Angebot, das in der Praxis vielfach genutzt wird (vgl. grundlegend Käbisch, 2014). Kooperativer Religionsunterricht Von kooperativem Religionsunterricht ist zu sprechen, wenn verschiedene Formen von Religionsunterricht zusammenarbeiten. Dabei wird die Bekenntnisorientierung der einzelnen Formen nicht aufgehoben – das ist der bleibende Unterschied zu einer Religionskunde –, sondern in einen dialogischen Zusammenhang gebracht (vgl. zusammenfassend Frisch, 2020). In idealer Gestalt wird dies realisiert, wenn mehrere Religionslehrkräfte im Team unterrichten und unterschiedliche konfessionelle und religiöse Perspektiven einbringen. Soweit dies nicht möglich ist, werden andere Formen der Kooperation praktiziert (etwa Wechsel der Lehrkraft in den verschiedenen Gruppen, Kooperation bei der Planung von Unterricht usw.), immer dem Prinzip einer dialogischen Zusammenarbeit folgend. Die verschiedenen konfessionellen und religiösen Perspektiven stellen den eigentlichen Kern des kooperativen Religionsunterrichts dar, da eine Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden erst durch deren transparente Präsenz möglich wird.
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»Religionsunterricht für alle« in Hamburg Der Hamburger »Religionsunterricht für alle« versteht sich ebenfalls nicht als Religionskunde (Überblick: Bauer, 2019). Ursprünglich wurde er in »evangelischer Verantwortung« erteilt. Die Angehörigen anderer Religionen sowie Konfessionslose waren damit Gäste der evangelischen Kirche. Ergänzend gab es einen interreligiösen Gesprächskreis, der aber keine formelle Verantwortung für den »Religionsunterricht für alle« übernehmen konnte. Da ein solches, einseitig von der evangelischen Seite ausgehendes Angebot längerfristig nicht einleuchten konnte (Verletzung des Gleichheitsgebots), war es konsequent, dass die allein »evangelische Verantwortung« mit den Verträgen zwischen der Stadt Hamburg und den verschiedenen Religionsgemeinschaften beendet wurde. Nunmehr wird nach Möglichkeiten gesucht, wie ein »Religionsunterricht für alle« in einer Art kooperativer Verantwortung verschiedener Religionsgemeinschaften möglich sein könnte. Ob dies dann auch noch den Vorgaben des Grundgesetzes entspricht, ist nicht leicht zu sagen. In seinem Gutachten spricht der Jurist Hinnerk Wissmann von einer »bewusste[n] Weiterentwicklung des Religionsverfassungsrechts« (Wissmann, 2019, S. 61). Der evangelische Theologe Wilfried Härle (2019) meldet hingegen deutliche Bedenken an einer solchen Entwicklung an. Derzeit ist noch nicht klar, wie sich der »Religionsunterricht für alle« unter den veränderten rechtlichen Voraussetzungen darstellen wird. Insofern ist auch eine abschließende Einschätzung noch nicht möglich. Es scheint durchaus denkbar, dass das in Hamburg am Ende zu realisierende Modell zumindest eine deutliche Nähe zum kooperativen Unterricht aufweisen wird. Anders als beim kooperativen Religionsunterricht ist dort derzeit aber noch vorgesehen, dass die beteiligten Religionslehrkräfte unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit sämtliche Inhalte (also isla mische, christliche oder jüdische Inhalte) allein unterrichten können. Hier droht aus dem Religionsunterricht dann doch eine Religionskunde zu werden.
Religionsunterricht in anderen Ländern Rechtliche Regelungen auf europäischer Ebene gibt es zum Religionsunterricht nicht. Die entsprechenden Entscheidungen bleiben auch innerhalb der Europäischen Union den Mitgliedstaaten vorbehalten. Das in einem Land realisierte Modell von Religionsunterricht ist eng mit der Geschichte und insbesondere der rechtlichen Tradition im jeweiligen Land verbunden (Überblick zum Folgenden: Jäggle et al., 2013, sowie die weiteren Bände in dieser Reihe). Beispielsweise besteht der für das Fehlen von Religionsunterricht in der staatlichen Schule in Frankreich maßgebliche Hintergrund in der Orientierung am Laizismus seit dem 19. Jahrhundert. Das auch in Deutsch-
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land stark beachtete Modell von Multi-Faith Religious Education in England und Wales geht ebenfalls auf das 19. Jahrhundert zurück. Damals wurden konfessionelle Bindungen des Religionsunterrichts zugunsten einer allgemeineren, damals freilich noch immer christlichen Ausrichtung abgeschafft. Heute spielen multireligiös zusammengesetzte Gremien (Standing Advisory Council on Religious Education/SACRE) auf regionaler Ebene eine wichtige Rolle bei der Verantwortung für den nicht-konfessionellen Religionsunterricht, wobei aber die Kirche von England als Staatskirche eine rechtlich privilegierte Stellung mit Vetorecht besitzt. Besonders interessant und in der Diskussion zu wenig beachtet ist auch das flexible österreichische Modell, bei dem verschiedene Konfessionen und Religionen einen eigenen, vom Staat finanzierten Religionsunterricht in der Schule erteilen können, wenn eine bestimmte Mindestzahl von SchülerInnen erreicht wird. Schon diese wenigen Hinweise machen deutlich, dass es nicht möglich ist, die jeweils an bestimmte rechtliche Regelungen und Traditionen gebundenen Modelle einfach in andere Länder zu exportieren. Der Blick auf die Vielfalt der Modelle von Religionsunterricht in Europa kann aber dazu dienen, neue Impulse zu gewinnen, die dann jedoch im rechtlichen Rahmen des jeweils eigenen, von einer besonderen Geschichte und Situation geprägten Landes in entsprechender Gestalt und Transformation umgesetzt werden müssen. Zum Weiterlesen Meckel, Thomas, Frisch, Michael, Danilovich, Yauheniya, Brumlik, Micha & Behr, Harry H. »Religionsunterricht«. In Lexikon für Kirchen- und Religionsrecht. https://dx.doi.org/10.30965/9783506786395_0432 (Aufruf 12.04.2021). Ucar, Bülent & Bergmann, Danja (Hrsg.) (2010). Islamischer Religionsunterricht in Deutschland: Fachdidaktische Konzeptionen, Ausgangslage, Erwartungen und Ziele. Göttingen: V&R unipress. Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Das Grundgesetz sichert allen Menschen in Deutschland die Möglichkeit zu, ihre Religion – so sie dies wollen – frei auszuüben. Der Religionsunterricht kann als Ausdruck der Religionsfreiheit in der Schule verstanden werden. Dazu gehört auch das Recht, nicht am Religionsunterricht teilzunehmen. Ȥ Art. 7,3 GG bestimmt den Religionsunterricht als »ordentliches Lehrfach«, das in »Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« erteilt wird. Dies schafft die Grundlage für verschiedene Formen bekenntnisorientier ten Religionsunterrichts.
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Ȥ Im Unterschied zur Religionskunde soll der Religionsunterricht nicht reli giös-weltanschaulich neutral sein, sondern positionell ausgestaltet werden. Dies unterstreicht die Pluralitätsoffenheit des Grundgesetzes und begründet Möglichkeiten für ein kooperativ-dialogisches Lernen der Schule. Ȥ Nicht zuletzt geht das Grundgesetz nicht den Weg einer allein staatlichen Verantwortung, die gerade im religiös-weltanschaulichen Bereich in der Gefahr eines Totalitarismus stünde.
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Begründung des Religionsunterrichts: Der konfessionelle Religionsunterricht und seine Alternativen
Die Frage nach Begründungsmöglichkeiten für den Religionsunterricht wird seit Langem intensiv diskutiert. Neuerdings kommt dazu die Aufgabe, auch Alternativmodelle, die an die Stelle von Religionsunterricht treten sollen, zu beurteilen (Überblick zu den deutschen Bundesländern: vgl. Rothgangel & Schröder, 2020). In der Religionspädagogik hat sich eine Art Kanon von Begründungen herausgebildet, die auch hier aufgenommen werden sollen. Aus einer interreligiösen Perspektive ergeben sich zugleich wichtige neue Akzente: Zum einen stellt sich der Begründungsbedarf religionsspezifisch unterschiedlich dar, zum anderen kommen bei der Beurteilung alternativer Modelle ebenfalls religionsspezifische Kriterien ins Spiel.
6.1 Warum muss der Religionsunterricht eigens begründet werden? Die Bedeutung religiöser Bildung ist umstritten ( S. 26 ff.). Ob es Religionsunterricht geben soll oder nicht, hängt vom Menschenbild ab sowie von Vorstellungen davon, was für das Leben in der Gesellschaft wichtig ist. Im Alltag von Schule ergibt sich der Begründungsbedarf zumeist aus der knappen Zeit, die der Schule zur Verfügung steht, sowie den Schwierigkeiten, einen nach Konfessionen und Religionen ausdifferenzierten Religionsunterricht zu realisieren. Angesichts der zunehmenden religiös-weltanschaulichen Vielfalt gewinnen solche Fragen an Gewicht: Wurde es mitunter schon als schwierig empfunden, evangelischen und katholischen Religionsunterricht einzurichten, so erscheint es jetzt als nicht (mehr) zu bewältigende Herausforderung, für die verschiedenen Konfessionen und Religionen jeweils ein eigenes Angebot vorzuhalten. Der Wunsch nach islamischem Religionsunterricht ließ weitere Ambivalenzen hervortreten. Die Ablehnung islamischen Religionsunterrichts, weniger in der Wissenschaft als in Politik und
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Öffentlichkeit, ging offenbar auf Befürchtungen im Blick auf diese »gefährliche Religion« zurück. Solle es in der Schule erlaubt sein, auch fundamentalistische Überzeugungen zu vertreten? Und wie steht es mit dem islamistischen Terrorismus? Solchen Einstellungen, die heute als islamfeindliche Vorurteile beschrieben werden, stehen aber auch ausgesprochene Sympathien gegenüber. Manche politischen Parteien, die aus einer kritischen Einstellung gegenüber den Kirchen heraus einen konfessionellen Religionsunterricht ablehnen, zeigen beim islamischen Religionsunterricht eine andere Haltung. Vorstellungen einer multikulturellen Gesellschaft sowie das Anliegen, Minderheiten zu unterstützen, können offenbar auch Sympathien für den islamischen Religionsunterricht wecken. Daneben gibt es auch die Intention, die religiöse Erziehung nicht ausschließlich privaten Organisationen zu überlassen, sondern ihr einen staatlich beaufsichtigten, theologisch und religionspädagogisch reflektierten Unterricht gegenüberzustellen. Dabei spielen auch inte grations- und sicherheitspolitische Aspekte eine Rolle.
Zumindest dort, wo in der Schule Modelle religionsbezogenen Unterrichts realisiert werden, die an die Stelle des Religionsunterrichts treten sollen, hat die Antwort auf die Frage nach der Begründung von Religionsunterricht auch praktische Konsequenzen. Am deutlichsten ist dies in Brandenburg, wo das Fach LER das Regelangebot darstellt und der Religionsunterricht die Ausnahme, aber auch in anderen Bundesländern wie Bremen gibt es keinen Religionsunterricht, der mit dem in anderen Bundesländern vergleichbar wäre. Der Hamburger »Religionsunterricht für alle« sprengt ebenfalls den herkömmlichen Rahmen. Wer an einem konfessionellen Religionsunterricht festhalten will, sieht sich mit einer zunehmenden Begründungspflicht konfrontiert.
6.2 Verschiedene Begründungsmöglichkeiten Gesellschaftliche Begründung Die zunehmende religiös-weltanschauliche Vielfalt wird mitunter als Erschwernis für die Einrichtung von Religionsunterricht wahrgenommen, aber zugleich ist es gerade diese Vielfalt, die ein solches Angebot immer wichtiger macht. Denn in einer solchen Situation können Kinder und Jugendliche immer weniger auf selbstverständliche Weise eine Orientierung gewinnen, sondern sind dafür auf pädagogische Unterstützung angewiesen. Um kompetent mit der Vielfalt umgehen zu können, sind Kenntnisse und Einsichten erforderlich sowie Urteilsund Handlungsfähigkeit. Unzureichende Pluralitätsverarbeitung kann zu Relativismus auf der einen und Fundamentalismus auf der anderen Seite führen. Im ersten Falle erscheinen alle religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen relativ, weil nun so viele Überzeugungen nebeneinanderstehen. Folge kann eine allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber letzten Fragen sein. Der Fundamentalismus hingegen lässt
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sich als Versuch verstehen, Gewissheit durch fraglose Identifikation mit nur einer Überzeugung zu gewinnen und dann alle anderen Sichtweisen als falsch abzuwehren. Angesichts solcher problematischer Haltungen wird der Religionsunterricht mitunter auch als »Fundamentalismusprophylaxe« verstanden ( S. 212).
Die zunehmende Bedeutung politischer Aspekte für die Begründung von Religionsunterricht lässt sich am Beispiel der Diskussion über eine »christliche Leitkultur« aufzeigen ( S. 23). Hier liegt die Befürchtung auf der Hand, dass dann alle, die sich nicht zum Christentum zählen, gesellschaftlich ausgegrenzt werden. Soweit allerdings bestimmte Werte etwa im Sinne des Grundgesetzes betroffen sind, beispielsweise die Rechte der Frau, wird dem nicht widersprochen werden können, auch wenn es dann nicht einfach um »christliche Werte« geht. Der Orientierungsbedarf im Aufwachsen junger Menschen bezieht sich nicht zuletzt auf die Darstellung von Religion in den Medien (vgl. Nord & Zipernovszky, 2017). Schon lange wird eine verzerrende Darstellung des Islam in europäischen Medien kritisiert. Neuerdings gilt das Internet auch als Plattform für Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Daneben gibt es auch pädagogisch zu begrüßende Angebote, aber es wird Kindern und Jugendlichen oft schwerfallen, die Darstellungen zu beurteilen. Kulturgeschichtliche Begründung Diese Begründung verweist darauf, dass die europäische Kultur in hohem Maße durch religiöse Prägungen mitbestimmt ist. Das beginnt bei den Wochentagen, die vom Sonntag angeführt werden, sowie den Festen im Jahreskreis, und erstreckt sich über bildende Kunst, Architektur, Musik und Literatur bis hinein in kulturelle Muster der Lebensorientierung und der gesellschaftlichen Ordnung. Zur Bildung gehört auch eine »religiöse Lesefähigkeit« (literacy, vgl. Biesta et al., 2019). Diese Fähigkeit muss sich ebenso auf christliche wie jüdische und islamische Einflüsse beziehen. Für muslimische SchülerInnen ist das Verständnis der jüdischen und christlichen Wurzeln europäischer Kultur bedeutsam, ebenso wie für christliche SchülerInnen das Verständnis der Einflüsse des Islam in Europa. Religious literacy muss heute global gedacht werden (vgl. Simojoki, 2012), sodass auch etwa der Islam in den arabischen Ländern oder der Einfluss des Buddhismus in Europa in den Blick kommen. Anthropologische Begründung Religion kommt hier als Teil des Menschseins den Blick. Klassisch geworden ist die Argumentation von Friedrich Schleiermacher (1967, ursprünglich 1799),
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der Religion als eine Möglichkeit (»Anlage«) beschreibt, die bei jedem Menschen zu finden sei. In der islamischen Tradition kann hier auf die im Koran erwähnte fiṭra (naturgegebene Disposition des Menschen, Gott suchen und finden zu wollen (30:30)) verwiesen werden. Der Mensch in seiner Freiheit ist aber auch in der Lage, sich willentlich gegen den Gottesglauben zu entscheiden (2:256). In der Gegenwart spricht etwa Jürgen Baumert von unterschiedlichen Rationalitätsformen, die in der Schule gleichermaßen aufgenommen werden müssen (vgl. Baumert, 2002). In der neueren Diskussion wird allerdings davor gewarnt, aus anthropologischen Annahmen eine Unterstellung im Verhältnis zu den SchülerInnen zu machen: Besonders in Ostdeutschland, aber keineswegs nur dort gibt es Kinder und Jugendliche, die sich selbst nicht als religiös wahrnehmen wollen (vgl. EKD, 2020). Dies muss ebenso anerkannt werden, auch wenn die anthropologische Begründung für Religionsunterricht dadurch nicht widerlegt wird. Denn diese Begründung zielt nicht darauf, dass faktisch alle Menschen religiös seien – es geht immer nur um eine Möglichkeit des Menschen.
Bildungstheoretische Begründung Die bislang beschriebenen Begründungsmöglichkeiten lassen sich auch bildungstheoretisch wenden ( S. 26 ff.). Entscheidend ist dann ein Bildungsbegriff mit dem Anspruch, dass die Schule Bildungsmöglichkeiten für möglichst alle Dimensionen des Menschseins eröffnen soll. In neuerer Zeit kann neben Jürgen Baumert (2002) vor allem Dietrich Benner (2014, 2015) als erziehungswissenschaftlicher Vertreter einer solchen Sicht genannt werden. Dabei weist Benner noch auf zwei weitere bildungstheoretisch bedeutsame Aspekte hin: – In bestimmten Bereichen des Lebens falle die Tradierung über den Wechsel der Generationen hinweg besonders schwer. Im religiösen Bereich sei eine Tradierung etwa durch das Elternhaus heute immer weniger selbstverständlich. Insofern komme der Schule dafür eine besondere Bedeutung zu. – Bildungstheoretisch gehe es immer auch um die Erschließung von Teilhabemöglichkeiten. Bildung soll junge Menschen dazu befähigen, sich an gesellschaftlichen Zusammenhängen zu beteiligen. Aufgabe der Schule kann es dabei nicht sein, junge Menschen beispielsweise dazu zu veranlassen, bestimmten Vereinigungen beizutreten, aber sie soll doch mit solchen Möglichkeiten vertraut machen und eigene Entscheidungen ermöglichen. Darüber hinaus sollen sich die SchülerInnen in reflektierter Weise am gesellschaftlichen Diskurs über religionsbezogene Fragen beteiligen können.
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Schultheoretische Begründung In so gut wie allen Schulen ist die religiös-weltanschauliche Vielfalt ganz selbstverständlich durch die Schüler- und Elternschaft präsent, mitunter auch begleitet von Spannungen oder sogar Konflikten – beispielsweise bei Bekleidungsvorschriften (Hotpants, Schlabberhose, Kopftuch). Pädagogisch gesehen ist es unbefriedigend, wenn die Schule auf die damit verbundenen Herausforderungen nicht reagiert (vgl. EKD, 2014a). Dabei ist es einerseits wichtig, dass diese Aufgabe nicht einfach an den Religionsunterricht delegiert wird. Andererseits kann der Religionsunterricht in dieser Hinsicht eine Funktion übernehmen, die sich als Entlastung der Schule im Ganzen verstehen lässt. Wertebezogene Begründung Religion geht nicht in Werten auf, und niemand übernimmt einen bestimmten Glauben, weil sie oder er ein Interesse an Werten hat. Gleichwohl waren die Religionen in der ganzen Geschichte eine wichtige Quelle von Werten. Dies bedeutet nicht, dass andere Formen der Wertebegründung ausgeschlossen wären – in einer zunehmend von Konfessionslosigkeit und Säkularität bestimmten Gesellschaft sind solche Begründungsformen unverzichtbar. Umgekehrt folgt daraus aber nicht, dass religiöse Formen der Wertebegründung bedeutungslos geworden wären. Solange sich die Mehrheit der Menschen in einer Gesellschaft einer Religion zugehörig fühlt, was auch in den meisten Ländern Europas noch immer der Fall ist, leuchtet dies unmittelbar ein. Darüber hinaus argumentieren Philosophen wie Jürgen Habermas (2001), dass die religiösen Traditionen zum Teil ethische Gehalte in sich schließen, die auch in einer sich säkular verstehenden Welt bedeutsam bleiben. In Öffentlichkeit und Politik, aber auch in der Elternschaft wird nach wie vor häufig die Erwartung geäußert, dass der Religionsunterricht zur Werteerziehung oder, wie pädagogisch anspruchsvoller formuliert werden sollte, zur Wertebildung beitragen soll. In der Religionspädagogik wird dies häufig problematisiert, eben weil eine Reduktion von Religion auf Werte befürchtet wird (vgl. Dressler, 2002), aber es wäre kaum sinnvoll, sich hier den gesellschaftlichen Erwartungen einfach entziehen zu wollen. Folge wäre ein deutlicher Relevanzverlust für den Religionsunterricht. Zudem spielen Werte sowohl in christlicher als auch in muslimischer Sicht eine hervorgehobene Rolle. Eine verantwortungsbewusste Lebensführung wird mit Verweis auf die Zehn Gebote in der Bibel oder auf den Grundsatz im Koran, nach Gerechtigkeit und Güte zu streben (iḥṣān – im Bewusstsein der Gegenwart Gottes zu leben), als zentral angesehen. Darüber
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hinaus wird der Mensch in beiden Religionen grundsätzlich in der Rolle stellvertretender Verantwortung in der von Gott geschaffenen Welt gesehen. Die naive Vorstellung einer Vermittlung von Werten ist allerdings pädagogisch problematisch und kann auch praktisch nicht funktionieren. Religionspädagogisch sind solche Vorstellungen abzuweisen, weil sie den Bildungsanspruch unterlaufen. Wertebildung dient dem Ziel der Mündigkeit sowie einer kritischen Urteilsfähigkeit, die sich auch auf die religiösen Traditionen selbst beziehen können muss. Nicht alle religiös begründeten Werte werden beispielsweise heutigen Ansprüchen an Mündigkeit oder den Menschenrechten gerecht. Begründung im Blick auf die religiöse Entwicklung im Kindes- und Jugendalter Im Kindes- und Jugendalter vollziehen sich auch in religiöser Hinsicht wichtige Entwicklungen, die eine religionspädagogische Begleitung wünschenswert machen (vgl. Schweitzer, 2016a). Dazu gehört beispielsweise die Ausbildung eines Gottesbildes oder Gottesverständnisses schon in der Zeit vor der Schule. Im Grundschulalter verbinden sich die Gottesvorstellungen dann mit zunehmend ausgeformten Weltbildern, was im christlichen wie im muslimischen Bereich durch entsprechende Bilder und Narrative der Kinder plastisch zum Ausdruck kommt (vgl. Ulfat, 2017a). Mit dem Übergang zum Jugendalter sowie dem auch schulisch bedingten Einfluss eines naturwissenschaftlich geprägten Denkens werden solche Vorstellungen häufig als kindisch infrage gestellt. Untersuchungen zur Entwicklung des Schöpfungsglaubens im Verhältnis zu naturwissenschaftlichen Welterklärungen, wie sie bislang allerdings nur für den christlichen Bereich vorliegen (vgl. Fetz et al., 2001), machen deutlich, dass ein komplementäres Denken, das für religiöse ebenso wie nicht-religiöse Weltzugänge offen ist, als ein eigenes Bildungsziel zu verstehen ist. Begründung mit dem Recht des Kindes auf Religion Ein Recht auf Religion (vgl. Schweitzer, 2019b) als Anspruch auf religiöse Begleitung haben Kinder zunächst in einem pädagogischen Sinne, etwa so, wie der Pädagoge Janusz Korczak (1970) vom »Recht des Kindes auf Achtung« gesprochen hat. Ein solches Recht lässt sich kaum in Gesetze fassen, bezeichnet aber doch einen Anspruch an die Gesamtausrichtung von Erziehung und Bildung. Demnach müssen Kinder auch in religiöser Hinsicht gefördert werden. In der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989 werden Kinderrechte formell verbrieft. Wenn auch weniger deutlich, als dies religions-
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pädagogisch wünschenswert wäre, findet sich in dieser Konvention neben der Gewährleistung von Religionsfreiheit bereits im Kindesalter (Art. 14) auch das Recht des Kindes auf Lebensbedingungen, die ihm eine angemessene Entwicklung in »spiritueller Hinsicht« ermöglichen (Art. 27). Rechtliche Begründung Der rechtlichen Begründung kommt speziell in Deutschland große Bedeutung zu. Sie wird in diesem Band eigens dargestellt ( S. 80 ff.).
6.3 Zur Weiterentwicklung des konfessionellen Religionsunterrichts Die beschriebenen Begründungen geben noch keine unmittelbare Antwort auf die Frage, welche Gestalt der Religionsunterricht haben soll. Häufig wird diese Frage heute so zugespitzt: Soll der Unterricht konfessionell ausgerichtet sein oder besser neutral? Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht zum einen Ansätze, die als Weiterentwicklung des konfessionellen Religionsunterrichts verstanden werden können, und zum anderen die Alternativen zum Religionsunterricht ( S. 87 ff.). – Von einer Weiterentwicklung des Religionsunterrichts ist dann auszugehen, wenn dabei der Grundcharakter des Religionsunterrichts als eines bekenntnisorientierten Angebotes erhalten bleibt, während zugleich neue Organisationsformen und Zielsetzungen aufgenommen werden. – Mit Alternativen zum Religionsunterricht können sowohl unterrichtliche Angebote gemeint sein, die im Sinne eines Wahl- oder Wahlpflicht-Verhältnisses neben dem Religionsunterricht stehen, wie auch solche Modelle, die an die Stelle des Religionsunterrichts treten sollen. Gemeinsam ist diesen Alternativen, dass auch sie als religionsbezogener Unterricht zu verstehen sind, weil sie Religion als Unterrichtsinhalt thematisieren, allerdings in anderer Weise als der Religionsunterricht.
Konfessionelle Kooperation und »Religionsunterricht für alle« Vor allem seit der Denkschrift der EKD »Identität und Verständigung« (EKD, 1994) hat sich an vielen Orten in Deutschland ein konfessionell-kooperativer Religionsunterricht durchgesetzt. Nach zunächst zurückhaltenden Einschätzungen wird die evangelisch-katholische Zusammenarbeit inzwischen auch von katholischer Seite ausdrücklich bejaht (vgl. DBK, 2016). Bei diesem Modell bleibt der Bekenntnisbezug im Sinne einer klaren Positionalität erhalten, aber diese Voraussetzung
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führt nun nicht mehr einfach zu einem Unterricht in nach Konfessions- und Religionszugehörigkeit getrennten Gruppen, sondern wird zum Ausgangspunkt für Kooperation und Dialog (vgl. Lindner et al., 2017). In der Praxis gibt es dafür unterschiedliche Realisierungsformen, die von einer Zusammenarbeit nur auf der Ebene der Religionslehrkräfte bis hin zu über längere Zeit hinweg gemeinsam für alle SchülerInnen erteiltem Unterricht reichen. Inzwischen ist auch eine christlich-islamische Kooperation anzustreben ( S. 260 ff.). In Hamburg wurde vor allem seit den 1990er Jahren ein anderer Weg eingeschlagen. Hier öffnete sich der evangelische Religionsunterricht programmatisch für alle SchülerInnen – mit dem Angebot eines »Religionsunterrichts für alle« (vgl. Bauer, 2019; zu rechtlichen Fragen sowie den derzeitigen Umbrüchen in Hamburg S. 87 ff.). In Zukunft soll auch dort, darin ähnlich dem kooperativen Religionsunterricht, ein erheblicher Anteil der Zeit (»mindestens die Hälfte«) in Konzentration auf jeweils nur eine Konfession oder Religion unterrichtet werden, während die übrige Zeit religionsübergreifend gestaltet sein soll. Viele Fragen sind hier noch offen. Ein ungelöstes Problem stellt nicht zuletzt die Ausbildung der Lehrkräfte für solch einen Religionsunterricht dar. Alternativen zum Religionsunterricht Ethikunterricht
Ethikunterricht ist vor allem in Deutschland weit verbreitet (vgl. KMK, 2020). Schon nach dem Zweiten Weltkrieg sah ein Teil der Landesverfassungen einen Unterricht in »Sittenlehre« vor (bspw. Landesverfassung Rheinland-Pfalz, Art. 35). Aber welche sittlichen Grundsätze sind hier gemeint? Gibt es heute noch allgemein anerkannte Grundsätze? Praktische Bedeutung gewann der Ethikunterricht in den 1970er Jahren, nachdem sich ein wachsender Teil der SchülerInnen vom Religionsunterricht befreien ließ. Nun wurde in vielen Bundesländern – mit unterschiedlicher Fachbezeichnung (z. B. »Werte und Normen« oder »Praktische Philosophie«) – ein für diejenigen verpflichtender Unterricht eingerichtet, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Dies wird als »Ersatzfach«-Regelung bezeichnet, nicht im abwertenden Sinne, sondern als vollwertiger Ersatz. Nach der deutschen Vereinigung wurde diese Regelung in den östlichen Bundesländern (mit Ausnahme von Brandenburg) durch eine Wahlpflichtfach-Regelung ersetzt, sodass dort zwischen Religions- und Ethikunterricht gewählt werden muss. In Berlin ist der Besuch von Ethik für alle SchülerInnen verpflichtend, sodass Religionsunterricht nur zusätzlich besucht werden kann.
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Der Unterricht kann unterschiedlich akzentuiert sein. Im Schulgesetz für Baden-Württemberg (§ 100a) beispielsweise finden sich verschiedene Akzentuierungen nebeneinander. Hier ist ebenso von der »Erziehung der Schüler zu verantwortungs- und wertbewußtem Verhalten« die Rede wie von Philosophie und Religion: »Der Unterricht soll diese Vorstellungen und Grundsätze vermitteln sowie Zugang zu philosophischen und religionskundlichen Fragestellungen eröffnen.«
Eine offizielle Statistik zur Konfessions- und Religionszugehörigkeit der SchülerInnen im Ethikunterricht ist nicht verfügbar. Einer neueren Repräsentativbefragung in Baden-Württemberg zufolge, die sich auf Jugendliche im Alter von etwa 16 Jahren bezog, gehören die SchülerInnen im Ethikunterricht etwa zur Hälfte der evangelischen oder der katholischen Kirche an, knapp ein Fünftel sind MuslimInnen, 4 % orthodoxe ChristInnen, während gut ein Viertel konfessionslos ist (vgl. Schweitzer et al., 2018, S. 70). Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde (LER in Brandenburg) Dieses Fach, das es nur in Brandenburg gibt, geht auf die Situation nach der deutschen Vereinigung zurück (vgl. Edelstein et al., 2001). Nachdem es in den Schulen der DDR keinen Religionsunterricht gegeben hatte und auch die Kirchenmitgliedschaft in den damals neuen Bundesländern zum Teil unter 20 % lag, stellte sich die Frage, wie in der Schule dafür gesorgt werden könne, dass alle SchülerInnen eine ethische sowie eine religionsbezogene Bildung erhalten. Ein konfessioneller Religionsunterricht würde, so wurde argumentiert, aufgrund der Verhältnisse bei der Religionszugehörigkeit nur eine Minderheit erreichen. Zudem sei es wünschenswert, dass gerade bei ethischen und religionsbezogenen Themen alle SchülerInnen gemeinsam lernen. Das Fach LER war vor allem in den 1990er Jahren Gegenstand weitreichender Kontroversen, am Ende sogar von Klagen beim Bundesverfassungsgericht. Grund dafür war insbesondere der mit LER verbundene Anspruch, den Religionsunterricht durch ein religionskundliches Fach überflüssig zu machen. Anders als zunächst vorgesehen wurde trotz des Anspruchs auf Neutralität eine Befreiungsmöglichkeit für diejenigen SchülerInnen etabliert, die an einem von der Kirche in der Schule als freiwilliges Angebot durchgeführten Religionsunterricht teilnehmen. Was dies für die muslimischen SchülerInnen bedeutet, wird in der Wissenschaft bislang nicht diskutiert. Bei dieser Befreiungsmöglichkeit handelt es sich insofern um ein Kuriosum, als anders als beim Religionsunterricht nun nicht die Bekenntnisorientierung eine solche Befreiungsmöglichkeit erforderlich mache, sondern gerade die Neutralität von LER, die das Gewissen belasten könne (vgl. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport Brandenburg, 1996, S. 27). Kurios ist diese Sicht insofern, als dann auch eine Thematisierung religiöser Zusammenhänge beispielsweise im Geschichtsunterricht mit entsprechenden Befreiungsmöglichkeiten versehen werden müsste.
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Ausblick auf andere Länder in Europa Manchmal wird behauptet, der konfessionelle Religionsunterricht in Deutschland sei ein Unikum. Dass dies nicht zutrifft, ist leicht zu sehen. Richtig ist allerdings, dass es in jedem Land eine eigene, zugespitzt formuliert: einzigartige Form von Religionsunterricht gibt (vgl. Jäggle et al., 2013). Lässt man sich gleichwohl auf eine typisierende Beschreibung ein, so erweist sich die Unterscheidung zwischen Religionsunterricht und Religionskunde ( S. 87 f.) als hilfreich: – In einem Teil der Länder ähnelt der Religionsunterricht der Situation in Deutschland (etwa in Österreich, Belgien, Finnland, Italien, Spanien, Polen) und wird als Unterricht im Ausgang von einer bestimmten Konfession oder Religion angeboten. – In einem anderen Teil der Länder finden sich Formen von Unterricht, die in allein staatlicher Verantwortung stehen und eine neutrale Darstellung religiöser Inhalte bieten wollen (Schweden, Norwegen, zum Teil in den Niederlanden). In der in Deutschland üblichen Terminologie sind sie als Religionskunde anzusprechen. – Als eine Art Mischmodell kann der international stark ausstrahlende Religionsunterricht in England und Wales bezeichnet werden, da hier einerseits die Religionsgemeinschaften großen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung haben, andererseits aber im Unterricht keine Trennung nach Konfessionen stattfindet (sog. Multi-Faith-Unterricht). Diese Situation betrifft vor allem die staatlichen Schulen, während der Religionsunterricht in den zahlreichen Schulen, die von der Church auf England unterhalten werden, eher mit dem Religionsunterricht in Deutschland vergleichbar ist.
Interessant ist auch die Beobachtung, dass sich trotz bleibender Vielfalt auf der Modellebene bei den Zielsetzungen heute doch deutliche Konvergenz feststellen lässt (vgl. Ziebertz & Riegel, 2009). Dazu gehört in zentraler Weise das Anliegen, junge Menschen dazu zu befähigen, eine Orientierung in der religiös-weltanschaulichen Vielfalt zu gewinnen und zu einem Zusammenleben in Frieden und Toleranz, wechselseitiger Anerkennung und Respekt beizutragen.
6.4 Beurteilung und Zukunftsperspektiven Wie die Zukunft des Religionsunterrichts aussehen wird, ist in vieler Hinsicht eine politische Frage. Im vorliegenden Zusammenhang soll aber die religionspädagogische Beurteilung im Vordergrund stehen. Welche Kriterien sollen dabei leitend sein? Ȥ An erster Stelle muss das Kriterium stehen, welche Gestalt von Religionsunterricht den Kindern und Jugendlichen ein Optimum religiöser Bildung gewährleistet. Ȥ Da die religiösen Traditionen nur dann eine Bildungsbedeutung gewinnen können, die über den bloßen Erwerb von Wissensbeständen hinausreicht,
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wenn eine auch existenzielle Auseinandersetzung mit Glaubensüberzeugungen möglich ist, bezieht sich ein zweites Kriterium darauf, wie diese Überzeugungen bei der jeweiligen Gestalt von Religionsunterricht aufgenommen werden. Ȥ Angesichts religiöser Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse ergibt sich als drittes Kriterium, wie die Rechte von Minderheiten jeweils gewahrt werden. Aus den ersten beiden Kriterien folgt eine Präferenz für Religionsunterricht im Verhältnis zu Religionskunde. Neutral darstellende Elemente sind notwendig, aber eine existenzielle Auseinandersetzung mit Glaubensüberzeugungen, die nicht nur auf der Ebene der einzelnen SchülerInnen und damit gleichsam privat geschieht, wird erst durch einen positionellen Religionsunterricht erreichbar. Denn hier dürfen auch die Religionslehrkräfte Position beziehen. Es liegt auf der Hand, dass die Einrichtung von Religionsunterricht über das Christentum hinaus – derzeit in Gestalt eines jüdischen und islamischen Unterrichts (und in Zukunft vielleicht auch noch weiterer Formen) – gerade für Angehörige einer Religionsgemeinschaft, die hierzulande in der Minderheit ist, eine zentrale Frage ihrer Anerkennung darstellt. Modelle, die einen jüdischen und islamischen Religionsunterricht ausschließen, erscheinen auch unter diesem Aspekt problematisch. Zum Weiterlesen Schweitzer, Friedrich (22019). Religionspädagogik. Gütersloh: Gütersloher Verlags haus. Boschki, Reinhold (32017). Einführung in die Religionspädagogik. Darmstadt: WBG. Ucar, Bülent, Blasberg-Kuhnke, Martina & Scheliha, Arnulf von (Hrsg.) (2010). Religionen in der Schule und die Bedeutung des Islamischen Religionsunterrichts. Göttingen: V&R unipress. Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Zwischen den heute üblichen Begründungen und den dann im Religionsunterricht maßgeblichen Zielen besteht ein notwendiger Zusammenhang. Religiöse Bildung ohne interreligiöse Perspektiven bleibt hinter ihrem Anspruch zurück. Ȥ Religiöse Bildung kann sich am besten dort entfalten, wo der Unterricht auch existenziellen Fragen Raum gibt. Insofern konvergieren bildungstheoretische Begründungen mit der im Grundgesetz vorgesehenen Bekenntnisorientierung, die in der heutigen gesellschaftlichen Situation zugleich auf dialogisch-inter religiöse Aufgaben eingestellt sein muss.
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Ȥ Religionskundliche Angebote besonders für Konfessionslose sind unverzicht bar, aber sie sollten nicht als Alternativen zum Religionsunterricht verstanden werden, die an dessen Stelle treten können. Keine dieser Alternativen kann den Anspruch begründen, religiöse Bildung besser unterstützen zu können als der Religionsunterricht. Ȥ Die herkömmlichen Begründungen für Religionsunterricht müssen angesichts der Herausforderungen der Gegenwart so erweitert werden, dass sie die Bedeutung konfessioneller und interreligiöser Kooperation einschließen.
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In diesem Kapitel wird ein zentrales Thema der Religionsdidaktik aufgenommen – die Frage nach den Kindern und Jugendlichen im Religionsunterricht. Ohne sie gäbe es keinen Religionsunterricht, und letztlich kommt es immer darauf an, welche Lernerfahrungen der Unterricht ihnen ermöglicht. Darüber hinaus ist es gerade für den Religionsunterricht entscheidend, nicht nur lebensferne Inhalte zu behandeln, sondern den Unterricht so zu gestalten, dass er für die Kinder und Jugendlichen lebensbedeutsam werden kann. Dies kann nur gelingen, wenn die Inhalte so erschlossen oder elementarisiert werden, dass sie an die Erfahrungs- und Lebenswelt der SchülerInnen anknüpfen und deren eigene Verstehens- und Deutungsweisen konstitutiv berücksichtigen. Dafür sind Erkenntnisse zur religiösen Sozialisation, zu religiösen Einstellungen und Glaubensüberzeugungen erforderlich. Dabei müssen Kinder und Jugendliche mit ihren eigenen Entwicklungs- und Orientierungsbedürfnissen sowie Weltzugängen in den Blick kommen. Immer mehr ist bei alldem bewusst geworden, dass die Erwartungen, mit denen Kinder und Jugendliche dem Religionsunterricht begegnen, ebenfalls sehr ernst zu nehmen sind. Denn vorbei an diesen Erwartungen kann kein Religionsunterricht gelingen. Eine Darstellung, die diese Fragen aus einer doppelten – muslimischen und christlichen – Perspektive aufnimmt, ist besonders spannend. Denn hier wird es möglich, aus einer vergleichenden Betrachtung heraus Einsichten zu gewinnen, die bei einer Beschränkung auf nur eine der beiden Religionen kaum erreichbar wären.
7.1 Religiöse Sozialisation Im Aufwachsen christlicher Kinder und Jugendlicher spielen konfessionelle Unterschiede in Deutschland weithin keine hervorgehobene Rolle mehr. Auch wenn die Eltern und daher häufig auch ihre Kinder der evangelischen oder der katholischen Kirche angehören, bedeutet das vielfach nicht, dass sich die Eltern in
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einem nachdrücklichen Sinne als evangelische oder katholische ChristInnen verstehen. Ähnlich stellt sich die Situation auch bei Jugendlichen dar, nach deren Verhältnis zur Kirche immer eigens gefragt werden muss. Darüber hinaus sind sich die Sozialisationsverhältnisse im Vergleich zwischen evangelischen und katholischen Elternhäusern zumindest in Deutschland wohl auch in den Nachbarländern immer ähnlicher geworden. Die religiöse Sozialisation von muslimischen Kindern und Jugendlichen in Deutschland muss immer im Blick auf die Migrations- und Minderheitensituation gelesen werden. Muslimische Kinder und Jugendliche wachsen in einem Spannungsverhältnis zwischen den Erwartungen ihrer Familien und religiös- kulturellen Communities, der christlich geprägten, aber stark säkularisierten Gesellschaft in Deutschland und ihren eigenen individuellen Bestrebungen, Hoffnungen und Wünschen auf. Diese drei Felder können einander diametral gegenüberstehen. Dabei ist nicht zu vergessen, dass es auch einen Einfluss auf die religiöse Sozialisation von muslimischen Kindern und Jugendlichen hat, wie der Islam und die MuslimInnen von der deutschen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden, nämlich als überwiegend negativ und bedrohlich (vgl. Religionsmonitor, 2019). Religiöse Sozialisation in der Familie Ganz allgemein wird heute davon ausgegangen, dass die religiöse Sozialisation in christlichen Familien immer schwächer wird. Immer weniger Kinder und Jugendliche erfahren demnach eine ausdrückliche religiöse Begleitung durch ihre Eltern. Prüft man freilich genauer, welche empirischen Befunde hinter solchen Einschätzungen stehen, ergeben sich deutliche Nachfragen. Die Familie ist gleichsam der Kern des Privatlebens. Anders als bei Kindertagesstätten oder der Schule gibt es hier keine Aufsicht über die Eltern. Nur in extremen Fällen schreitet das Jugendamt ein. Auch für die Forschung ist der familiäre Bereich nur schwer zugänglich. Die allermeisten Einschätzungen zur Situation der religiösen Familiensozialisation kommen aus der Praxis – etwa der Schule, wo Religionslehrkräfte darüber klagen, dass die Kinder und Jugendlichen »immer weniger« in den Religionsunterricht mitbringen. Mitunter wird auch in der wissenschaftlichen Religionspädagogik von einem Traditionsabbruch gesprochen (vgl. etwa Dressler, 2006), aber auch in diesem Falle liegen dieser Einschätzung keine harten Daten zugrunde. Im evangelischen Bereich haben die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen, die regelmäßig in einem Abstand von zehn Jahren durchgeführt werden, in dieser Hinsicht stark prägend gewirkt (vgl. zuletzt EKD, 2014b). Bei diesen Untersuchungen wurden Jugendliche und vor allem Erwachsene
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gefragt, ob sie durch ihre Eltern religiös erzogen worden seien. Dabei ergibt sich das Bild, dass umso weniger von religiöser Familiensozialisation berichtet wird, je jünger die Befragten sind. Dieser Befund wird dann im Sinne eines längsschnittlichen Zeitvergleichs so interpretiert, dass die religiöse Sozialisation immer mehr nachlasse. Dabei wird freilich nicht beachtet, dass sich auch bereits mehr als 40 Jahre früher in soziologischen Befragungen ähnliche Bilder zeigten (vgl. Schmidtchen, 1979) – was in einen bemerkenswerten Widerspruch führt: Haben die in den 1970er Jahren noch jungen Menschen inzwischen ihre Meinung hinsichtlich der von ihnen erfahrenen Sozialisation geändert? Heute berichten sie von einer starken religiösen Familiensozialisation, während sie damals kaum solche Erfahrungen berichteten. Offenbar spielen hier auch Erinnerungseffekte eine Rolle und könnte es eine Neigung bei älteren Menschen geben, die Verhältnisse in ihrer Kindheit auch in religiöser Hinsicht zu idealisieren.
Empirische Untersuchungen, die sich auf die aktuelle Sozialisation in der Familie beziehen, ergeben auch heute ein gemischtes Bild, wobei es an aktuellen Befunden mangelt. Die untersuchten Familien pflegen durchaus bestimmte Rituale wie vor allem das Abendgebet mit den Kindern, auch wenn gerade bei traditionellen Formen wie dem Tischgebet seit Langem ein deutlicher Rückgang konstatiert wird (vgl. Ebertz, 2000). Eine ältere, aber noch immer interessante Untersuchung (vgl. Schwab, 1995) versuchte darüber hinaus, verschiedene Generationen in einer Familie einzubeziehen. Dabei ergab sich, dass innerhalb der einzelnen Familien weniger ein Abbruchverhalten als vielmehr eine deutliche Kontinuität festzustellen war – eine Kontinuität, die allerdings nicht in allen Fällen eine intensive religiöse Sozialisation bedeutete, sondern beispielsweise auch eine Kontinuität der Distanz zur Kirche. Eine Erziehung im Sinne des kirchlichen Christentums oder gar zur Kirchlichkeit findet sich in heutigen Familien in der Regel nicht. Das ist schon am Gottesdienstbesuch abzulesen: Junge Eltern nehmen nur selten und bei speziellen Anlässen an Gottesdiensten teil. Gleichwohl kann nicht einfach von einer allgemeinen Säkularisierung ausgegangen werden, so als spielten religiöse Fragen oder auch Rituale in den Familien keinerlei Rolle mehr. Allerdings ist eher von einer Familienreligiosität zu sprechen als von einer an der Kirche orientierten Form von Religiosität. Die Bedürfnisse der Familien entscheiden darüber, was ihnen in religiöser Hinsicht wichtig ist und was nicht. Dass Eltern nach wie vor religiös interessiert sind, ist am deutlichsten an der Taufe abzulesen. Hier belegen die Zahlen eine – trotz gewisser Schwankungen – erstaunliche Stabilität (vgl. EKD, 2014b, S. 69). Allerdings lassen nicht mehr alle Eltern ihre Kinder möglichst bald nach der Geburt taufen, so wie dies in der Vergangenheit weithin der Fall war. Ein sich in vielen Studien wiederholender Befund ist darin zu sehen, dass vom Elternhaus religiös positiv oder negativ prägende Wirkungen weit über die Kindheit hinaus ausgehen. Beispielsweise war bei den Konfirmandenstudien (vgl.
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Schweitzer et al., 2015), die mehrfach sowie in verschiedenen Ländern durchgeführt wurden, dieser Effekt bei den Jugendlichen deutlich spürbar. Kirchliche Angebote werden von solchen Eltern weniger wahrgenommen, die alleinerziehend sind. Eine erhebliche Anzahl von Eltern gehört heute auch nicht derselben christlichen Konfession an. Für evangelisch-katholische Elternhäuser (das ist in Deutschland inzwischen etwa ein Drittel aller christlichen Elternhäuser) ist es dann nicht immer leicht, eine für alle Beteiligten befriedigenden Lösung zu finden (vgl. Biesinger & Schweitzer, 2009). In diesem Zusammenhang ist auch an Elternhäuser zu denken, in denen der Partner oder die Partnerin einer anderen Religion angehört, also beispielsweise Islam und Christentum (vgl. Froese, 2005). Angebote zur Begleitung solcher Eltern sind noch immer selten. Für muslimische Kinder und Jugendliche ist die Familie ein entscheidender Ort, an dem sie mit religiösem Erleben in Berührung kommen können. Gerade unter MuslimInnen hat die Familie schon durch die Migrations- und Minderheitensituation eine besonders große Bedeutung. Die starke Familienorientierung muslimischer Jugendlicher wird in einigen Studien belegt (vgl. z. B. Aygün, 2013; Wensierski et al., 2015). Aber natürlich gibt es auch hier eine große Bandbreite in der Einstellung zu religiöser Erziehung, die von stark traditionell und religiös geprägt bis zu säkular reicht. Bei einer Befragung nach den Erziehungszielen türkischer Eltern wurde festgestellt, dass für 48 % die religiöse Pflichterfüllung besonders wichtig war, für 46 % eher unwichtig (vgl. Uslucan, 2008, S. 16). Der Stil der religiösen Sozialisation in der Familie hängt mit der Bedeutung und dem Verständnis der Eltern von Religion, mit der Herkunft, den kulturellen Vorstellungen, sozialen Hintergründen, dem Bildungsgrad und weiteren Faktoren zusammen (vgl. Antes & Ceylan, 2017). So kann in bestimmten religiösen, kulturellen und sozialen Familienkonstellationen neben der religiösen Erziehung auch die Erziehung zu Respekt und Gehorsam gegenüber der älteren Generation sowie eine Erziehung zu zurückhaltender und restriktiver Sexualität und Geschlechtertrennung eine Rolle spielen (vgl. Boos-Nünning, 2011; ElMafaalani & Toprak, 2011). Bei muslimischen Familien, in denen die religiöse Erziehung einen hohen Stellenwert einnimmt, ist den Eltern vor allem wichtig, dass ihre Kinder den Koran auf Arabisch lesen können, bestimmte religiöse Rituale praktizieren können, die fünf Säulen des Islam einhalten, sich an Geboten und Verboten orientieren, religiöse Grundkenntnisse erwerben und sich so zu »guten MuslimInnen« mit »gutem Charakter« entwickeln. Dabei greifen die Eltern auch auf Angebote von Moscheevereinen zurück (vgl. Boos-Nünning, 2011; Karakaşoğlu & Öztürk, 2007).
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Ein Teil der Kinder und Jugendlichen kritisiert die Überzeugungen und Haltungen der Eltern und übernimmt sie nicht unreflektiert (vgl. Boos-Nünning, 2011, S. 28). Doch es gibt auch nicht wenige Kinder und Jugendliche, die die religiöse Haltung der Eltern mehr oder weniger unhinterfragt übernehmen (vgl. Weiss, 2014, S. 91). Elementarbereich Die meisten Kinder in Deutschland besuchen heute eine Kindertagesstätte, wobei sich der Eintritt in eine solche Einrichtung in den letzten Jahren deutlich nach vorn verschoben hat. Damit wächst die Bedeutung solcher Einrichtungen auch in zeitlicher Hinsicht, zumal in vielen Fällen eine Tendenz hin zu Ganztagseinrichtungen zu beobachten ist. In Deutschland wird etwa knapp die Hälfte aller Kindertageseinrichtungen von der evangelischen oder katholischen Kirche getragen (vgl. ComeniusInstitut, 2018). Einrichtungen in muslimischer Trägerschaft sind sehr selten. Bemerkenswert sind erste Einrichtungen in interreligiöser Trägerschaft (etwa in Pforzheim). Umfragen haben allerdings gezeigt, dass selbst in kirchlichen Einrichtungen – und noch mehr in kommunalen Einrichtungen – im Blick auf religionspädagogische Fragen große Unsicherheit herrscht (vgl. Schweitzer et al., 2011). Vielfach wird gefragt, wie angesichts der zunehmenden religiös-weltanschaulichen Vielfalt noch eine religiöse Begleitung der Kinder möglich sein soll. Sofern die Diagnose einer nachlassenden religiösen Sozialisation in christlichen Elternhäusern zutrifft, kommt den Tageseinrichtungen für Kinder in dieser Hinsicht eine wachsende Aufgabe zu. Das gilt in anderer Weise auch im Blick auf die religiös gemischte Zusammensetzung von Kindergruppen. In vielen Fällen ist der Kindergarten der Ort, an dem Kinder erstmals anderen Kindern mit einer anderen Religionszugehörigkeit oder ohne Religionszugehörigkeit begegnen. Darin bildet sich die gesellschaftliche Situation auch schon im Kindesalter ab. Am ehesten gesichert ist heute nach Auskunft der pädagogischen Fachkräfte eine christliche Begleitung der Kinder in kirchlich getragenen Einrichtungen. In kommunalen Einrichtungen ist die Situation auch im Blick auf das Christentum sehr uneinheitlich. Insbesondere fehlt es offenbar in allen Einrichtungen an einer islamisch-religionspädagogischen Begleitung der Kinder, und auch ein interreligiöses Lernen ist keineswegs überall gesichert (vgl. Schweitzer et al., 2011). Das religiöse Angebot der Kindertageseinrichtungen ist bisher noch nicht auf die multireligiöse Realität eingestellt. So zeigen verschiedene Studien, die im Elementarbereich auch mit muslimischen Kindern durchgeführt wurden, dass sie schon im Kindergartenalter die Fähigkeit aufweisen, religiöse Unterschiede wahr-
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zunehmen und zu thematisieren (vgl. Edelbrock et al., 2010; Hoffmann, 2009; Stockinger, 2017). Das Spektrum individueller religiöser Vorstellungen ist breit und spiegelt die vielfältigen Lebenswelten und Lebenserfahrungen der Kinder wider. Angestoßen durch ihre Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen rezipieren die Kinder nicht nur die Inhalte der religiösen Erziehung, sondern setzen sich mit ihnen auch mehr oder weniger reflektiert auseinander und können so zu eigenständigen Deutungen gelangen (vgl. Schweitzer & Dubiski, 2012). Der Umgang mit religiöser Differenz in den Kindertageseinrichtungen ist sehr unterschiedlich. In konfessionell und nicht-konfessionell gebundenen Kindertageseinrichtungen wird zwar die Förderung religiöser Bildung bei Kindern von den Fachkräften sehr befürwortet, jedoch nicht entsprechend in die Praxis umgesetzt (vgl. Schweitzer et al., 2008). Kinder werden zwar als Ko-Konstrukteure in ihren religiösen Bildungsprozessen wahrgenommen, jedoch mündet diese Wahrnehmung oft nicht in eine partizipative religionspädagogische Arbeit (vgl. Wustrack, 2009). Problematisch ist in einigen Kindertageseinrichtungen, wie MuslimInnen von ErzieherInnen wahrgenommen werden. Befunde aus drei Kitas (zwei in freier Trägerschaft und eine in der Trägerschaft der katholischen Kirche) zeigen, dass das »Einrichtungsmilieu« entscheidend dafür ist, welche Bedeutung muslimischer Religiosität im Alltag zugeschrieben wird. Es gibt Kindertageseinrichtungen, in denen MuslimInnen keine pauschalisierenden und generalisierenden Merkmale zugeschrieben werden, in anderen wird klar zwischen dem »Eigenen« und dem »Anderen« unterschieden, wobei das Andere als »muslimisch« markiert wird. Dabei werden Nationalität und Religionszugehörigkeit von den ErzieherInnen oftmals nicht voneinander getrennt (Blaschke-Nacak, 2016, S. 62; vgl. auch Stockinger, 2017; Brandstetter, 2020). Schule als religiöse Sozialisationsinstanz Von der Schule als einer religiösen Sozialisationsinstanz zu sprechen ist heute ungewohnt. Solange die allermeisten Schulen in Deutschland als christliche Schulen verfasst waren, was auch im staatlichen Bereich noch bis vor 50 oder 60 Jahren der Fall war, verstand sich dies von selbst. Auch heute stellt sich jedoch die Frage, wie die Schule mit der religiös-weltanschaulich vielfältigen Situation bei den SchülerInnen und Eltern umgeht. Dabei kann zunächst an Feste und festliche Veranstaltungen gedacht werden, wie sie beispielsweise bei der Einschulung immer größeres Gewicht gewinnen. Soll dabei auch in der Schule ein Gottesdienst gefeiert werden, oder ist das nur außerhalb der Schule möglich? Können dabei ver-
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schiedene Konfessionen und Religionen zusammenwirken? Und was bedeutet dies für die Wahrnehmung von Schule in religiöser Hinsicht?
Prägende Einflüsse in religiöser Hinsicht gehen von der Schule auch dann aus, wenn die religiös-weltanschauliche Vielfalt in einer Schule nicht wahrgenommen wird. Offenbar gibt es Schulen, die diese Dimension der Vielfalt grundsätzlich ausblenden und sich etwa im aktuellen Diskurs über Heterogenität allein auf Unterschiede von Geschlecht, Kultur, körperliche oder geistige Einschränkungen, Milieus usw. beschränken. In diesem Falle verstärkt die Schule die Auffassung, dass religiöse Unterschiede gar nicht wichtig seien und dass sie in der Schule keinen Platz haben. Welche Sozialisationswirkung vom Religionsunterricht ausgehen kann, ist eine eigene Frage. Die meisten SchülerInnen besuchen entweder den gut ausgebauten christlichen oder den noch im Aufbau befindlichen islamischen Religionsunterricht. Auch wenn der Bedarf an islamischem Religionsunterricht sehr hoch ist und dieser Unterricht von den SchülerInnen gewünscht wird, hat er in vielen Bundesländern noch Modellcharakter und ist nicht bundesweit eingeführt ( S. 68 ff.). Schon vor Jahren ging man von mindestens 580.000 SchülerInnen muslimischen Glaubens aus (vgl. Haug et al., 2009, S. 186 f.). Derzeit nehmen in Deutschland knapp 60.000 SchülerInnen am islamischen Religionsunterricht bzw. an der Islamkunde teil (vgl. Mediendienst Integration, 2020, S. 3). Vom islamischen Religionsunterricht kann auch ein wichtiger Einfluss auf die religiöse Sozialisation ausgehen. Vielen religiösen und ethischen Fragen, die Kinder und Jugendliche in der Moschee oder der Familie nicht stellen wollen oder können, kann im Unterricht Raum gegeben werden. SchülerInnen haben die Möglichkeit, sich im Unterricht mit ihrer Religion kritisch und reflektiert auseinanderzusetzen, und ihre Religion ist durch den Unterricht als Normalität im Kontext der Schule anerkannt.
Non-formale Angebote: Kinder- und Jugendarbeit, Freizeitverhalten Welche Rolle die kirchliche Kinder- und Jugendarbeit im Leben der christlichen Kinder und Jugendlichen spielt, ist nicht leicht zu sagen. Einen allgemeinen Überblick versuchen regelmäßig die Shell-Jugendstudien. In der Studie von 2019 konnten die befragten Jugendlichen jeweils fünf Aktivitäten nennen, die sie am häufigsten ausüben. Die kirchliche Kinder- und Jugendarbeit wird von den Befragten nicht genannt. Der Prozentsatz bei den Nennungen für »Engagement in Projekt/Initiative/Verein« (6 %) sowie »Jugendfreizeittreff/Jugendzentrum besuchen« (4 %), bei denen auch kirchliche Programme gemeint sein könnten, bewegt sich insgesamt auf einem niedrigen Niveau (vgl. Shell Deutschland Holding, 2019, S. 214). Dies entspricht auch früheren Untersuchungen, denen
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zufolge die Reichweite von Angeboten der evangelischen Jugendarbeit bei etwa 10 bis maximal 20 % der jugendlichen Bevölkerung liegt (vgl. Fauser et al., 2006). Gleichwohl bieten sich auch andere Betrachtungsweisen an. Bei den Konfirmandenstudien beispielsweise wurde nach Erfahrungen mit kirchlichen Angeboten vor der Konfi-Zeit gefragt. Die Befunde zeigen, dass etwa die Hälfte der Jugendlichen vor dieser Zeit an kirchlichen Angeboten teilgenommen hat. Nur 19 % verneinten dies für das Alter von 5–9 Jahren und 24 % für das Alter von 10–13 Jahren (vgl. Schweitzer et al. 2015, S. 51). Ein noch genaueres Bild allerdings nur für Baden-Württemberg erlaubt die dort verfügbare Statistik zur evangelischen Kinder- und Jugendarbeit »Jugend zählt« (Ilg et al., 2014): Auch hier wird eine große Reichweite der Angebote deutlich.
Eine ausgeprägte Intensität als Faktor der religiösen Sozialisation erreicht die kirchliche Kinder- und Jugendarbeit offenbar nur bei einem begrenzten Anteil der Kinder- und Jugendlichen, wobei hier die Sozialisationserfahrungen umso intensiver sein können. Das zeigt sich insbesondere dort, wo Jugendliche sich dann auch als Ehrenamtliche im kirchlichen Bereich engagieren. Ein solches Engagement geht beispielsweise mit stärkeren Glaubensüberzeugungen auf der einen und einer geringeren Neigung zum Kirchenaustritt auf der anderen Seite einher (vgl. Ilg et al., 2018). Für den schulischen Religionsunterricht gesprochen bedeuten solche Befunde, dass die Wahrnehmung, Kinder und Jugendliche würden heute in religiöser Hinsicht »gar nichts mehr« mitbringen, differenziert werden müsste. Auf jeden Fall bringen die Kinder immer schon Wahrnehmungen, Fragen und Vorurteile mit, auch wenn sie keine ausgeprägte religiöse Sozialisation erfahren haben. Insofern gibt es immer Lernvoraussetzungen, an die religionsdidaktisch angeknüpft werden muss. Ein nicht zu übergehender Anteil der christlichen SchülerInnen bringt darüber hinaus auch heute Erfahrungen im Bereich von Religion und Kirche mit, was nicht übergangen werden darf. Non-formale religiöse Erziehung in muslimischen Gemeinden begann in Deutschland in den 1970er Jahren, ausgelöst durch den Familiennachzug der sog. »Gastarbeiter«. Die Bildungs- und Freizeitangebote der größeren religiösen Verbände und ihrer Jugendorganisationen, die hauptsächlich von türkischstämmigen MuslimInnen gegründet wurden, wie die der DITIB (Gründung 1984), des VIKZ (Gründung 1973) oder der IGMG (Gründung 1995), spielen in der religiösen Sozialisation der muslimischen Kinder und Jugendlichen ebenfalls eine Rolle, vor allem bei der Ausbildung einer türkisch-muslimischen Identität, dies in erster Linie, weil die Gemeinden so gut wie immer ethnisch homogen zusammengesetzt sind. Die Glaubenspraxis steht bei diesen Angeboten im Vordergrund, wie beispielsweise das Lesen, Rezitieren und Memorieren des Korans sowie die Einführung in die Glaubensinhalte, Rituale und Pflichten. Professionelle Struk-
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turen fehlen allerdings weitgehend. Die religiöse Unterweisung findet hauptsächlich an Wochenenden statt. Kinder werden meist mit Schulbeginn in den Kursen angemeldet. In der Regel tendieren die Jugendlichen mit Beginn der Pubertät dazu, nicht mehr an den Angeboten teilzunehmen. Die Moscheegemeinden nehmen die veränderten Lebensbedingungen und Lebensstile der jungen Menschen zwar wahr, können aber nicht adäquat darauf reagieren und die Moschee für die Jugendlichen attraktiv halten (vgl. Ceylan, 2014, S. 320). In Reaktion darauf sind mittlerweile neue Organisationen, Vereine und Institutionen entstanden, die verbandsunabhängig Jugendarbeit betreiben und ethnisch und konfessionell heterogen zusammengesetzt sind. Dabei steht weniger die Glaubenspraxis im Vordergrund als etwa gesellschaftspolitische Themen (vgl. Mediendienst Integration, 2019). 15 % der muslimischen Jugendlichen sind in solchen religiösen Gruppen aktiv, ein Fünftel der muslimischen Jugendlichen nimmt Bildungs- und Jugendangebote von Jugendzentren wahr (vgl. Geier & Gaupp, 2015, S. 231). Insgesamt sind das Freizeitverhalten, die Mediennutzung, die sportlichen Aktivitäten und die gesellschaftliche Beteiligung bei muslimischen Jugendlichen nicht auffällig anders als bei anderen Jugendlichen. Unterschiede zeigen sich eher in der stärkeren Familienorientierung und in der Aktivität in religiösen Gruppen. Auch die materiellen Voraussetzungen sind ausschlaggebend für die Frage, ob und wie muslimische Jugendliche sich gesellschaftlich engagieren und welche Freizeitaktivitäten sie wahrnehmen (vgl. Geier & Gaupp, 2015, S. 233). Medien auch als religiöser Sozialisationsfaktor? Die Omnipräsenz von Medien gehört heute zu den Grunderfahrungen im Alltag. Das gilt vielleicht noch mehr für Kinder und Jugendliche als für Erwachsene. Aber sind Medien auch ein religiöser Sozialisationsfaktor? Die hohe Bedeutung von Medien in der Freizeit zeigt sich etwa in den Befunden der Shell-Jugendstudien (vgl. Shell Deutschland Holding 2019, S. 215). Dabei wird von den Jugendlichen eine ganze Reihe von Medien genannt: An der Spitze stehen das Internet und Musik hören, aber auch das Fernsehen spielt mit 33 % (häufige Nutzung) noch immer eine Rolle. Auffällig ist zugleich, dass mit 55 % sich »mit Leuten treffen« nach wie vor eine hoch bedeutsame Freizeitaktivität darstellt. Noch genauere Befunde geben hier die ebenfalls regelmäßig durchgeführten Kim- und Jim-Studien (www.mpfs.de/studien/). Die Mediennutzung im Kindes- und Jugendalter ist stark ausgeprägt und scheint noch weiter zuzunehmen. Bei der (evangelischen) Kirchenmitgliedschaftsstudie (EKD, 2014b) wurde auch ausdrücklich nach der Bedeutung für die auf Religion bezogene Kommunika-
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tion gefragt. Nach Auskunft der Befragten spielen die Medien in dieser Hinsicht für sie nur eine geringe Rolle (S. 50). In einer anderen, französisch-deutschen Vergleichsstudie wurde, etwas zurückhaltender, nach den Medien als Quelle für Wissen oder Informationen im Bereich von Religionen gefragt (vgl. Michon, 2019). Hier gaben die Befragten an, dass Filme für sie eine wichtige religiöse Informationsquelle seien. Die Shell-Jugendstudie 2019 unterscheidet bei der Mediennutzung nicht nach Religion, sondern nach dem vorhandenen oder nicht vorhandenen Migrationshintergrund. Dabei stellt die Studie fest, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Jugendlichen ohne Migrationshintergrund seltener das Fernsehen als wichtige Freizeitaktivität nennen, jedoch häufiger streamen (vgl. Shell Deutschland Holding, 2019, S. 216). Wie die Nutzung der Social Media bei muslimischen Jugendlichen ausfällt, bleibt in der Studie unklar. Gleichwohl ist es offensichtlich, dass z. B. salafistische Gruppen über das Internet ein breites Publikum erreichen, darunter auch viele Jugendliche. Viele Propagandisten haben Social Media-Kanäle, und die Angebote sind mittlerweile so zahlreich, dass Jugendliche fast unweigerlich darauf stoßen, wenn sie religiösen Fragen im Internet nachgehen. Die Online-Angebote greifen Themen auf, die für die Jugendlichen lebensweltlich von Bedeutung sind, wie Diskriminierungserfahrungen, Fremdheitserfahrungen, Fragen bezüglich Gender und Sexualität, Freundschaften mit dem anderen Geschlecht, Umgang mit Andersgläubigen usw. Dabei beantworten sie die Fragen der Jugendlichen im Einklang mit ihrer fundamentalistischen Lehre schwarz-weiß und eindimensional auf die Kategorie erlaubt bzw. nicht erlaubt (halal/haram) reduziert. Daneben finden sich auch gewaltverherrlichende Inhalte. Studien belegen die Bedeutung extremistischer OnlineAngebote für Radikalisierungsprozesse. Das betrifft freilich nicht nur muslimische Jugendliche (vgl. Reinemann et al., 2019). Auch Messengerdienste sind nicht zu unterschätzen. Seit einiger Zeit gibt es Gegenangebote, die für Jugendliche gestaltet werden, wie die Videos der »Datteltäter«, die »Museltoonz«-Videos, die Reihe »#whatIS« usw. auf YouTube, aber auch als Podcasts und in anderen aktuellen Darstellungsformen.
Da salafistische Narrative nachweislich für muslimische Jugendliche attraktiv sind und ein immer größer werdender Teil persönlichen Lernens der SchülerInnen heute im Netz stattfindet, stellt Medienbildung eine »religionspädagogische Notwendigkeit« dar, damit Kinder und Jugendliche die Möglichkeit erhalten, Medien kritisch zu bewerten sowie selbstbestimmt mit ihnen umzugehen (vgl. Pirner, 2004).
7.2 Religiöse Einstellungen Bei den religiösen Einstellungen ist die gemeinsame Betrachtung christlicher und muslimischer Jugendlicher insofern besonders interessant, als sich die Frage stellt, ob Kinder und Jugendliche, die in Deutschland aufwachsen, so
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stark durch die gesellschaftlichen Voraussetzungen bestimmt werden, dass der Einfluss ihrer Konfessions- und Religionszugehörigkeit kaum mehr eine Rolle spielt. Glaube an Gott Der Glaube an Gott steht sowohl im Islam als auch im Christentum ganz im Zentrum. Denn von diesem Glauben hängen, zumindest theologisch gesehen, alle weiteren religiösen Überzeugungen ab. Wo es keinen Gottesglauben gibt, da ist auch eine christliche oder muslimische Religiosität kaum vorstellbar. Dieser Erwartung entspricht es, dass der Glaube an Gott verschiedenen Untersuchungen zufolge auch heute bei Jugendlichen eine mehrheitliche Verbreitung besitzt. Je nach Lebensalter – bei jüngeren mehr als bei älteren Jugendlichen – liegen die Zustimmungswerte mitunter bei mehr als drei Viertel der Jugendlichen, aber auch die Religionszugehörigkeit spielt eine Rolle: Bei den muslimischen Jugendlichen finden sich überhaupt nur wenige, die sagen, dass sie nicht an Gott glauben (vgl. bspw. Schweitzer et al., 2018). Doch stellt sich natürlich auch die Frage, wie dieser Gottesglaube genau aussieht und was er für das Leben der jungen Menschen bedeutet. Die Shell-Jugendstudien fragen deshalb traditionell, ob Jugendliche an einen »persönlichen Gott« oder etwa an ein »göttliches Prinzip« glauben. Solche Fragen sind allerdings nicht unproblematisch, weil sie von Jugendlichen (und vielen Erwachsenen ebenso) wohl kaum verstanden werden. In qualitativen Untersuchungen, in denen die Kinder und Jugendlichen selbst zu Wort kommen, tauchen solche Begriffe dann auch nicht auf (vgl. Schweitzer et al., 2018; Ulfat, 2017a). Qualitative Studien verweisen auf stark individualisierte Gottesbilder und Gottesverständnisse, wobei sich auch innerhalb der Konfessionen und Religionen ein breites Spektrum von Einstellungen zeigt. Bei der Frage nach der Bedeutung des Gottesglaubens für die eigene Lebensführung treten Unterschiede zwischen muslimischen und christlichen Jugendlichen ebenso hervor. In der Shell-Jugendstudie von 2019 gaben 70 % der Jugendlichen, die einer »anderen Religion« angehören, an, dass der Glaube für ihre Lebensführung wichtig sei, während dies nur 24 % der evangelischen und 39 % der katholischen Jugendlichen bejahen (vgl. Shell Deutschland Holding, 2019, S. 153). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass gerade muslimische Jugendliche dazu tendieren könnten, hier weniger ihre persönliche Realität zu beschreiben als vielmehr im Sinne der ihnen bekannten religiösen Erwartungen zu antworten.
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Jesus Christus und Muhammad – Bibel und Koran in Bezug Die etwas komplexe Überschrift ruft in Erinnerung, dass die Parallele zwischen Jesus Christus und Muhammad als sog. Religionsstifter, wie es in der Religionswissenschaft heißt, nur auf den ersten Blick zutrifft ( S. 184 ff.). Denn für den Glauben in Islam und Christentum bedeuten diese beiden Personen etwas sehr Unterschiedliches. Im Christentum steht Jesus Christus als der Sohn Gottes im Zentrum. Der Glaube richtet sich ausdrücklich auf den Gott, der in Jesus Christus offenbar geworden ist. Im Islam ist der Prophet der Empfänger der göttlichen Botschaft, in Gestalt des Koran, aber er selbst ist keine Offenbarung. Für MuslimInnen ist Muhammad ein Zeichen der Barmherzigkeit Gottes (21:107) und ein »schönes Vorbild« (33:21). Obwohl der Bezug auf Jesus Christus und Muhammad, Bibel und Koran für die beiden Religionen von grundlegender Bedeutung ist, gibt es nur wenig Umfragen, die hier weitere Aufschlüsse bieten: Welche Einstellungen finden sich bei heutigen Jugendlichen zu Jesus Christus und Muhammad, Bibel und Koran? Eine Ausnahme stellen hier die Konfirmandenstudien dar, in denen die Jugendlichen u. a. gefragt wurden, ob sie glauben, dass Jesus auferstanden ist. Selbst bei dieser Gruppe waren es nur 52 %, die zustimmten (Schweitzer et al., 2015, S. 296). Diese Frage wurde dann auch in der Studie »Jugend – Glaube – Religion« übernommen und um eine Frage nach Muhammad ergänzt. Hier waren es 34 % aller Befragten, die an die Auferstehung Jesu glauben (die Sichtweisen der muslimischen Jugendlichen sind nicht gesondert ausgewiesen, vgl. Schweitzer et al., 2018, S. 258). Ebenfalls bei allen Befragten, also muslimische und christliche Jugendliche ebenso eingeschlossen wie die konfessionslosen, meinten 8 %, dass Muhammad der wichtigste Prophet sei (vgl. S. 258). Bei den muslimischen Befragten waren es 81 %. Und 78 % gaben an, dass der Koran in ihrer Sicht wortwörtlich wahr sei (vgl. S. 150). Im Gesamtsample waren es 6 % der Befragten, die den Koran so sehen, während es im Blick auf die Bibel 11 % waren (vgl. S. 258). Einblicke in die Bedeutung biblischer Geschichten geben auch die quantitativen und qualitativen Befunde bei Gennerich und Zimmermann (2020). Zu der Frage, wie Jugendliche Jesus Christus sehen, gibt es auch interessante qualitative Befragungen (vgl. Büttner, 2002; Ziegler, 2006). Aus den Befunden geht auch in diesem Falle zum einen die große Bandbreite individueller Sichtweisen hervor, zum anderen aber eine kritisch-fragende Haltung vieler Jugendlicher im Blick auf herkömmliche theologische Deutungen. Demnach kann keineswegs vorausgesetzt werden, dass christliche Jugendliche so an Jesus Christus glauben, wie es die Kirche lehrt.
Insgesamt zeigen sich die muslimischen Befragten weit stärker von ihrem Glauben überzeugt als die christlichen Jugendlichen. Allerdings reichen die verfügbaren quantitativen Befunde in diesem Falle nicht allzu weit und es gibt noch zu wenig qualitative Studien etwa zu Gottesbildern und zum Gottesverständnis junger Menschen. Sichtbar wird auch, dass die glaubensbezogenen Wahrnehmungen von Jesus Christus und Muhammad zwischen den Angehörigen
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der beiden Religionen differieren, was ein Ansatzpunkt für interreligiöse Lernprozesse sein kann. Die Vielfalt der individuellen Sichtweisen innerhalb der beiden Religionen muss ebenfalls beachtet werden. Einstellungen zu Kirche und Gottesdienst sowie Gebetspraxis Die Einstellungen zu Kirche und Gottesdienst bei christlichen Jugendlichen sind spannungsvoll. Auf der einen Seite steht eine weit verbreitete positive Wahrnehmung von Kirche (sie »tut viel Gutes für die Menschen« meinen zwei Drittel oder, bei den jüngeren Jugendlichen, drei Viertel der Befragten in verschiedenen Untersuchungen), aber auf der anderen Seite sei für sie selbst die Mitgliedschaft nicht besonders bedeutsam (vgl. etwa Schweitzer et al., 2018, S. 129). Gottesdienste werden tendenziell als »langweilig« wahrgenommen, woran sich beispielsweise auch durch die pflichtgemäßen Gottesdienstbesuche in der KonfiZeit nichts ändert. Für die Moschee stellt sich das Bild zunächst anders dar. Die wichtigste gottesdienstliche Handlung, die in einer Moschee vollzogen wird, ist das rituelle Gebet. Dabei ist nur die Verrichtung des freitagmittags stattfindenden Gebets verpflichtend. Die Teilnahme von Frauen am Freitagsgebet in der Moschee wird weithin nicht als religiöse Pflicht angesehen. Jugendliche und Männer können hierzulande wegen ihrer schulischen und beruflichen Verpflichtungen in der Regel nicht am Freitagsgebet teilnehmen. Dennoch sind die Moscheen freitags sehr voll, im Sommer werden teilweise sogar die Höfe für das Gebet genutzt. Das Interesse am Freitagsgebet ist also sehr hoch, jedoch sind es in erster Linie Menschen im Ruhestand, die sich beteiligen. Laut einem Forschungsbericht zum »Islamischen Gemeindeleben in Deutschland« nehmen 18,8 % der Muslime unter 20 Jahren am Freitagsgebet teil, Musliminnen desselben Alters jedoch kaum (vgl. Halm et al., 2012, S. 223). Eine Mitgliedschaft ist nicht erforderlich, um an den gottesdienstlichen Handlungen teilnehmen zu können. Das Gebet kann sowohl als Teil eines mit anderen geteilten Rituals verstanden werden wie auch als eine persönliche religiöse oder spirituelle Praxis. Bei der Studie »Jugend – Glaube – Religion« gab ein Drittel der befragten MuslimInnen an, mehrmals am Tag zu beten, und die übrigen beteten regelmäßig bis gelegentlich – nur 15 % gaben an nie zu beten (Schweitzer et al., 2018, S. 149). Auch bei den christlichen Jugendlichen war es nur ein Viertel der Befragten, die nie beten, 37 % beten ab und zu, und 38 % mindestens einmal im Monat oder öfter (S. 91). Hier besitzt das Gebet also ebenfalls eine erstaunlich weite Verbreitung, wenn das gelegentliche Beten mitgerechnet wird.
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Leben nach dem Tod Der Glaube an ein Leben nach dem Tod scheint für viele Jugendliche besonders wichtig zu sein. In den Konfirmandenstudien wurde eindrücklich belegt, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod zu den wenigen Glaubensinhalten gehört, die bei Jugendlichen eine hohe Zustimmung finden, gerade auch wenn die Zustimmungswerte bei anderen Fragen rückläufig sind (vgl. Schweitzer et al., 2015, S. 40). Bei der Studie »Jugend – Glaube – Religion« (vgl. Schweitzer et al., 2018) waren es 54 %, die diesen Glauben bejahten. Dabei fällt zugleich im Gesamtsample die Vielfalt der Vorstellungen auf, die jeweils von einer größeren oder kleineren Gruppe der Befragten bejaht wurden (z. B. Wiedergeburt: 20 %, Paradies: 30 %, Weiterleben der Seele: 53 %; S. 82). Interessant ist auch der Befund, dass 24 % aller Befragten der Vorstellung vom in den Himmel Kommen zustimmen, aber nur 8 % der Hölle als Ort für die Ungläubigen (vgl. S. 82). In den Befunden treten wiederum die Unterschiede zwischen muslimischen und christlichen Jugendlichen deutlich hervor. Bei den muslimischen Jugendlichen waren es 82 %, die der Aussage »es gibt ein Leben nach dem Tod« zustimmten (S. 148). Einstellungen zu anderen Religionen Nachdem sich in der Gegenwart Nachrichten hinsichtlich eines neuen Antisemitismus und islamfeindlicher Einstellungen mehren, ist zunächst hervorzuheben, dass die allermeisten christlichen und muslimischen Jugendlichen sich gegenüber anderen Kulturen und Religionen aufgeschlossen zeigen. In der Studie »Jugend – Glaube – Religion« waren nur wenige (13 %) der Auffassung, dass nur eine (also die eigene) Religion wahr sein könne. Hingegen stimmten mehr als zwei Drittel der Befragten der Aussage zu, dass mehrere Religionen wahr sein können (vgl. Schweitzer et al., 2018, S. 112). In anderen Studien wurde auch das ausdrückliche Interesse an der Thematisierung verschiedener Religionen im Religionsunterricht deutlich (vgl. Pohl-Patalong et al., 2017, S. 65). Diesem erfreulichen Gesamtbild stehen allerdings Befunde gegenüber, die gerade pädagogisch sehr herausfordernd sind. So zeigte der Religionsmonitor 2013, dass ein erheblicher Anteil der Menschen in Deutschland vor allem den Islam, zum Teil aber auch das Judentum, zunehmend als Bedrohung wahrnimmt (vgl. Religionsmonitor, 2013 und 2015). Eine Mehrheit der Befragten sieht den Islam als eine Religion an, die nicht zur westlichen Welt passt (vgl. auch Pollack et al., 2014). Interessanterweise lassen die Befunde auch erkennen, dass entsprechende Vorbehalte vor allem bei den Erwachsenen bestehen, während
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Jugendliche zumindest noch weniger Vorurteile dieser Art zu haben scheinen. Pädagogisch begründet dies die Frage, wie ein solcher Anstieg im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter verhindert werden kann. Bei muslimischen Jugendlichen besteht prinzipiell ebenso Offenheit für andere Religionen, auch wenn hier deutlich mehr Befragte (55 %) die Auffassung vertraten, dass nur eine Religion wahr sein könne (alle Befragten, ohne MuslimInnen: 10 %; Schweitzer et al., 2018, S. 154). Auch der Anteil derer, die meinen, es gebe zu viele Juden/Jüdinnen in Deutschland, lag bei den muslimischen Jugendlichen mit 14 % deutlich höher als bei den anderen Befragten (6 %, alle Befragten, ohne MuslimInnen; S. 155). Darüber, wie muslimische Jugendliche ChristInnen und das Christentum wahrnehmen, ob es auch hier Vorbehalte und Vorurteile gibt, ist bislang noch wenig bekannt. Dazu fehlen bisher einschlägige Untersuchungen. Die Studie »Jugend – Glaube – Religion« lässt zumindest erkennen, dass junge MuslimInnen die Existenz der Kirche zwar mehrheitlich nicht so positiv einschätzen wie die christlichen Jugendlichen, aber immerhin 40 % gaben an, dass sie es gut finden, dass es die Kirche gibt (S. 153). Religiös begründete Lebensführung, Werte und Gender Spielt Religion für die Lebensführung junger Menschen noch eine Rolle? Gibt es einen Zusammenhang zwischen bestimmten Werten und Glaubensüberzeugungen? In Deutschland traten solche Fragen schon deshalb immer mehr in den Hintergrund, weil sich evangelische und katholische Jugendliche beispielsweise in ihrem Freizeitverhalten kaum mehr unterscheiden. Schien früher ein Kinobesuch bei katholischen Jugendlichen weniger wahrscheinlich als bei evangelischen, so wirkt heute bereits eine solche Frage merkwürdig. Durch die migrationsbedingte Präsenz verschiedener Religionen in Deutschland hat die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Religion und Werten aber allgemein wieder an Bedeutung gewonnen. Dabei spielen dann auch Gender-Fragen und Frauenrechte eine wichtige Rolle. Interessant sind in diesem Zusammenhang zunächst die Einschätzungen der Jugendlichen selbst. Die Shell-Jugendstudie von 2015 bietet dazu überraschende Befunde. Zwar beantworten die Jugendlichen die Frage nach der Wichtigkeit des Glaubens an Gott für die Lebensführung im Zeitvergleich 2002– 2015 deutlich rückläufig so, dass die Bedeutung des Glaubens in dieser Hinsicht abnimmt. Gleichwohl gab es auch 2015 noch eine mehrheitlich bejahende Einschätzung dazu (58 % der katholischen und 53 % der evangelischen Jugendlichen, Shell Deutschland Holding, 2015, S. 251). Bei den befragten muslimischen Jugendlichen lag der entsprechende Anteil sogar bei 85 % (vgl. S. 251). Insofern
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bestätigt sich zumindest tendenziell der in theologischer Perspektive postulierte Zusammenhang zwischen Glaube und Werten. Worin dieser Zusammenhang dann im Einzelnen seinen Ausdruck findet, lässt sich mithilfe dieser Befunde allerdings nicht weiter klären. Im Bereich von Gender und Religion zeigen sich bei muslimischen Jugendlichen unterschiedliche Haltungen. So können muslimische Jugendliche sowohl partnerschaftliche, gleichberechtigte als auch ungleiche Geschlechterverhältnisse vertreten, aber auch unterschiedliche Einstellungen zu verschiedenen Geschlechteridentitäten die nicht nur durch religiöse Orientierungen bedingt sind. Geschlechterkonstruktionen und Geschlechterdifferenzen stehen in einem Zusammenhang mit verschiedenen Faktoren wie Bildung, nationaler, sozialer und kultureller Hintergrund, politische oder sonstige Überzeugungen, wirtschaftliche Verhältnisse usw. Häufig wird in Studien der Zusammenhang zwischen Bildung und Geschlechterkonstruktionen verdeutlicht: »Mädchen mit hohem Bildungsniveau vertreten nicht konventionelle Geschlechterrollen« (Boos-Nünning & Karakaşoğlu, 2006, S. 210). Bei christlichen Jugendlichen spielen die religiös-traditionellen Prägungen im Blick auf Gender heute nur noch eine untergeordnete Rolle, schon weil sie sich für ihre Lebensführung in der Regel nicht nach religiösen Vorgaben richten (allerdings gilt dies nur für die freilich breite Mehrheit – es gibt auch andere Strömungen und Gruppierungen im Christentum, die stärker traditionell ausgerichtet sind). Eine andere Frage betrifft allerdings nicht explizit christliche, sondern kulturell tradierte und vermittelte Muster bei den Geschlechterrollen auch im christlichen Bereich ( S. 196 ff.). Religiöse Pluralisierung und Individualisierung als übergreifende Tendenzen? Schon seit Langem gelten religiöse Pluralisierung und Individualisierung als Signaturen der Gegenwart, nicht zuletzt im Blick auf Jugendliche. Bei der Pluralisierung geht es in diesem Falle auch um die wachsende Vielfalt innerhalb der einzelnen Konfessionen und Religionen, nicht nur um das Nebeneinander verschiedener Religionen und Weltanschauungen. Eng verbunden ist damit die religiöse Individualisierung: Die meisten Menschen wollen ihre religiösen Überzeugungen nur noch selbst bestimmen, ohne dass dabei Vorschriften von religiösen Institutionen oder Autoritäten als maßgeblich wahrgenommen werden ( S. 18 ff.). Solche Pluralisierungs- und Individualisierungseffekte sind für den christlichen Bereich gut belegt. Einzelne, allerdings nicht repräsentative Studien lassen
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ähnliche Tendenzen bei muslimischen Jugendlichen erwarten, auch wenn hier die Bereitschaft größer zu sein scheint, die Verbindlichkeit religiöser Autoritäten anzuerkennen. Dabei ist allerdings bewusst zu halten, dass es im muslimischen Kontext keinerlei allgemeines Lehramt gibt, das etwa mit dem der katholischen Kirche vergleichbar wäre. Stattdessen ist eine Vielfalt unterschiedlicher religiöser und theologischer Strömungen gegeben, in Gestalt verschiedener Rechtsschulen, nicht zuletzt aber auch zahlreicher Gemeinschaften, die aus bestimmten Strömungen hervorgegangen sind. Insofern stellt sich muslimischer Glaube schon von seiner Grundgestalt her plural dar. Lassen sich Pluralisierung und Individualisierung als Effekte der für muslimische und christliche Kinder und Jugendliche gemeinsamen Situation des Aufwachsens in Zentraleuropa verstehen, so machen die ebenfalls immer wieder beobachteten Unterschiede bei den religiösen Einstellungen zugleich deutlich, dass die religiösen Profile von Christentum und Islam nicht einfach verschwunden sind.
7.3 Religiöse Entwicklung Entwicklungspsychologische Theorien beziehen sich nicht auf Angehörige einer bestimmten Religion, sondern erheben einen allgemeinen Geltungsanspruch (Überblick zum Folgenden: Schweitzer, 2016a). Deshalb werden die entsprechenden Theorien kurz vorgestellt, unterteilt nach allgemeinen Theorien der religiösen Entwicklung und thematischen Untersuchungen, die sich beispielsweise auf bestimmte religiöse Themen beziehen. Erst danach wird dann die in einem interreligiösen Kontext wichtige Frage aufgenommen, ob sich die im Bereich des Christentums entstandenen Theorien auch auf andere Religionen übertragen lassen. Entwicklungspsychologische Theorien waren in der Religionspädagogik der letzten 30 oder 40 Jahre überaus einflussreich, national und international. Dies erklärt sich schon daraus, dass aus pädagogischer Sicht ein besonderes Interesse daran bestehen muss, Kindern und Jugendlichen gerade auch in ihrer Unterschiedenheit von Erwachsenen gerecht zu werden. Zumindest ein Teil der entwicklungspsychologischen Zugänge entspricht diesem Interesse unmittelbar, indem versucht wird, die Perspektive von Kindern stark zu machen und Kinder nicht einfach als defizitär oder »unentwickelt« zu beschreiben. Teilweise werden die entwicklungspsychologischen Theorien aber auch stark kritisiert, worauf in einem weiteren Schritt eingegangen werden soll.
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Allgemeine Theorien der religiösen Entwicklung Für das Verständnis der religiösen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter sind im Bereich der Religionspädagogik vor allem psychoanalytische Zugänge auf der einen und strukturgenetische Modelle auf der anderen Seite bedeutsam geworden. Diese Zugänge und Modelle werden im Folgenden jeweils im Blick auf ihre Urheber beschrieben. Die Darstellung versteht sich dabei nicht in einem erschöpfenden Sinne, sondern eher als Hinweis auf weiterreichende Literatur. Erik H. Erikson: Religion im Kindes- und Jugendalter im Horizont der psychosozialen Entwicklung Der deutsch-amerikanische Kinderpsychologe Erikson war einer der weltweit ersten, der die menschliche Entwicklung insgesamt und speziell die religiöse Entwicklung anders als etwa noch Sigmund Freud nicht auf die Kindheit beschränkt sah (vgl. Erikson, 1981 und 1984). Seit Erikson wird die grundlegende Bedeutung der religiösen Entwicklung im Jugendalter in ihrer Verknüpfung mit der adoleszenten Identitätsbildung weithin als theoretischer Rahmen akzeptiert. Darüber hinaus hat Erikson auch das Erwachsenenalter, bis hin zum hohen Alter, in sein Entwicklungsmodell einbezogen. Auch der inzwischen allgemein geläufige Begriff »psychosozial« geht auf Erikson zurück. Er bedeutet eine entscheidende Erweiterung des Entwicklungsverständnisses über die Sphäre des Individuums hinaus. Jeder Mensch, so Erikson, ist von Anfang an in soziale Zusammenhänge eingebunden, in zwischenmenschliche Beziehungen schon in der frühen Mutter- oder Eltern-Beziehung (soweit das Kind bei den Eltern aufwächst) und später in gesellschaftliche Zusammenhänge. Vor diesem Hintergrund ist auch Eriksons Religionspsychologie zu verstehen. Sie entspricht darüber hinaus seinem Modell einer Entwicklungsfolge, die er in Gestalt von verschiedenen Phasen oder Stufen des Lebens beschreibt: Beginnend bei der frühen Kindheit und bis hin zum hohen Alter sind es acht Lebensalter, mit denen dieses Modell operiert (vgl. Erikson, 1984). Am Anfang des Lebens gehe es um die Ausbildung eines Grundvertrauens, später etwa um die Gewissensbildung und schließlich, was das Jugendalter betrifft, um eine eigene Identität, die auch durch eine (religiöse) Sinngebung fundiert sein soll. Jedes Lebensalter sei durch eine spezifische Dynamik gekennzeichnet, die sich aus der Spannung zwischen einem positiven und einem negativen Pol ergibt. Dem Grundvertrauen beispielsweise stehe immer ein Grundmisstrauen gegenüber, dem freien Gewissen als Grundlage moralischer Autonomie solche Gebote und Verbote, die das Kind einengen, und bei der Identitätsbildung stellt die Identi-
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tätsdiffusion einen Gegenpol dar. In jedem Lebensalter komme es darauf an, ein Gleichgewicht zu erreichen, bei dem der positive Pol zumindest leicht überwiegt, auch wenn der negative Pol nie einfach verschwinde. Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung zu unterstützen ist in diesem Modell die grundlegende Aufgabe der Pädagogik. Speziell die Religionspädagogik kann nach Eriksons Auffassung Jugendliche mit sinnstiftenden Deutungsangeboten aus den religiösen Traditionen bekannt machen. Dadurch kann sie die adoleszente Identitätsbildung unterstützen und zugleich beispielsweise eine Verengung nur auf technologische und ökonomische Lebensziele vermeiden helfen. James W. Fowler: Glaubensentwicklung als Teil der Suche nach Sinn Fowler (1991) wurde durch die Arbeiten Eriksons inspiriert, nahm aber daneben auch die strukturgenetische Psychologie von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg auf. Auf Piaget und Kohlberg geht insbesondere das Interesse an Strukturen zurück, die hier im Unterschied zu Inhalten für das Verständnis der menschlichen Deutung von Wirklichkeit als entscheidend angesehen werden. Demnach weisen solche Strukturen eine bestimmte Regelhaftigkeit auf, wie sie Fowler auch für die religiöse Entwicklung beschrieben hat. Es geht um unterschiedliche Deutungsweisen, auch im Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen. Darauf verweist der Begriff »genetisch«, der hier auf die Entwicklung des Menschen bezogen wird. Bei Piaget stand dahinter seine Kritik an einer Intelligenzforschung, die Kinder nur abwertend als noch wenig entwickelt oder gar als weniger intelligent (im Sinne von Intelligenztests) beschrieb. Demgegenüber komme es darauf an, die Stimmigkeit und Plausibilität kindlicher Weltzugänge und Weltbilder anzuerkennen. Diese unterscheiden sich von denen der Erwachsenen, aber die Unterschiede lassen sich nicht als ein Mehr oder Weniger erfassen. Der – missverständliche – Begriff der Stufe dient dann dazu, das eigene Recht kindlicher Weltbilder zu sichern. In späteren Untersuchungen, wie sie vor allem Kohlberg (1996) zur moralischen Entwicklung unternahm, trat, aufgrund der Ausrichtung auf ethisch begründete Entwicklungsziele, das pädagogisch spannungsvolle und zum Teil problematische Verständnis in den Vordergrund, dass »höhere« Stufen auch als »besser« gelten müssen. Bei der ethischen Erziehung lassen sich Wertungen allerdings nicht vermeiden. Fowlers Theorie der Glaubensentwicklung ist sehr komplex und weist Aspekte beider Auffassungen auf, der Würdigung der Weltzugänge von Kindern und Jugendlichen auf der einen und der Ausrichtung auf eine Höherentwicklung auf der anderen Seite. Im Zentrum dieser Theorie steht der Begriff des Glaubens (faith), der bei Fowler nicht auf ein bestimmtes religiöses Verständnis
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beschränkt ist, sondern die bei jedem Menschen zu findende Konstruktion von Sinn, verstanden als Deutung von Selbst und Wirklichkeit, meint. Jeder Mensch sei auf solche Sinngebungen oder auch Sinnerfahrungen angewiesen. Dabei kommen in Gestalt der Orientierung an letzten Werten immer auch religiöse Aspekte mit ins Spiel. Die religiösen Traditionen beschreibt Fowler mit dem Begriff Religion, als im geschichtlichen Prozess der Tradition angesammelte (Glaubens-)Überzeugungen. Fowlers dritter Begriff – belief – kann im Deutschen ebenfalls mit Glaube wiedergegeben werden, meint bei ihm aber im Unterschied zu faith bestimmte religiöse Überzeugungen (an etwas glauben).
Fowler konnte zeigen, dass sich in der Lebensspanne unterschiedliche religiöse Strukturmuster identifizieren lassen, für die er dann den Begriff der Stufe wählt. Im Grundschulalter etwa sei für gewöhnlich (klare Altersabgrenzungen seien nicht möglich, da die Entwicklung immer individuell und kontextuell verläuft) ein mythischer und wortwörtlicher Glaube zu erwarten, verbunden mit anthropomorphen Gottesbildern und einem literalen Verständnis beispielsweise der Bibel. Im Jugendalter werde dann der Einfluss der Gleichaltrigen immer stärker und infolgedessen auch die Anpassung an deren Glaubensüberzeugungen (konventioneller Glaube). Da dieser Glaube von anderen übernommen wird, fehle ihm noch die persönliche Reflexion, weshalb Fowler ihn als gleichsam »zusammengesetzt« (synthetisch) ansieht. Erst im späteren Jugendalter komme dazu in vielen Fällen eine vom Individuum ausgehende kritische Reflexion (individuierend-reflektierender Glaube). Fritz Oser: Religiöse Entwicklung im Horizont der Gott-Mensch-Beziehung Osers Modell (Oser & Gmünder, 1984) ist im Vergleich zu Fowler stärker auf die kognitive Entwicklung konzentriert. Beschrieben wird hier die Art und Weise, wie Kinder, Jugendliche und Erwachsene jeweils die Beziehung zwischen Mensch und Gott auffassen oder konstruieren. Oser spricht statt von Gott vom Ultimaten (Letztgültigen), um seine psychologische Theorie nicht auf eine bestimmte Religion zu begrenzen. Im Verständnis der Gott-Mensch-Beziehung lassen sich wiederum Muster erkennen, die als Strukturstufen beschrieben werden können. In diesem Falle steht dann die Art der Beziehung zwischen Gott und Mensch im Zentrum. Für das Grundschulalter beschreibt Oser eine Art Handelsbeziehung (do ut des/ich gebe, damit Du mir gibst): Die Menschen müssen etwas tun, um Gott zu einem bestimmten Handeln zu bewegen. Im Jugendalter hingegen stehe die menschliche Autonomie im Verhältnis zu Gott im Vordergrund (Deismus). Auch bei dieser Theorie gibt es eine über diese einseitige Ausrichtung hinausführende Entwicklung, bei der Gott als die menschliche Freiheit allererst ermöglichende
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Voraussetzung wahrgenommen wird (Gott als Apriori der Freiheit). Die jeweilige Art und Weise, wie die Gott-Mensch-Beziehung konstruiert wird, bezeichnet Oser als religiöses Urteil. Thematische Untersuchungen Bei diesen Untersuchungen geht es nicht um die religiöse Entwicklung insgesamt, sondern beispielsweise um das Verständnis bestimmter Arten biblischer Texte oder Sprachformen (Gleichnisse, Wundergeschichten, Schöpfungserzählungen), wobei wohl analog auch an Texte aus dem Koran gedacht werden kann. Eine Ausnahme stellen Untersuchungen zur Entwicklung von Gottesbild oder Gottesverständnis dar, da dieses Verständnis immer auch die religiöse Entwicklung insgesamt betrifft. Das ist schon an der Theorie von Oser abzulesen. Ähnliches gilt für die psychoanalytische Studie zur Entwicklung des Gottesbildes von Ana-Maria Rizzuto (1979). Bei ihr liegt der Akzent auf der kritischen Auseinandersetzung Jugendlicher mit Gottesbildern, die sie in ihrer Kindheit aufgenommen haben. Entwicklung des Gleichnisverständnisses Die Sprache von Gleichnissen, wie sie besonders für Jesu Verkündigung bezeichnend ist, wird heute als metaphorische Sprache verstanden. Metaphern bezeichnen Phänomene einer kreativen Sprachbildung, bei der durch die Zusammenstellung zuvor nicht zusammengehöriger Worte oder Begriffe neuer Sinn entsteht (»Achill ist ein Löwe«, »Ich bin der Weinstock«). Während in der Geschichte der christlichen Religionsdidaktik lange Zeit die biblischen Gleichnisse als für Kinder besonders geeignet angesehen wurden, weil ihre Sprache so bildhaft und lebendig sei, haben entwicklungspsychologische Untersuchungen auf die Schwierigkeiten verwiesen, die gerade Kinder mit einer solchen Sprache haben können (vgl. bes. Bucher, 1990). Sie verstehen Gleichnisse oft als Geschichten, die irgendwann einmal passiert sind, und nehmen den weiterreichenden theologischen Gehalt nicht wahr. Ein Verständnis von Gleichnissen als Gleichnissen werde vor dem Jugendalter kaum erreicht und könne auch dann nicht einfach vorausgesetzt werden. Entwicklung des Wunderverständnisses Wunder werden vor allem seit dem Beginn der Neuzeit als besonders herausfordernd wahrgenommen. Da die Naturgesetze dabei außer Kraft gesetzt scheinen, wird ihre Glaubwürdigkeit grundlegend infrage gestellt. Auch heutigen
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Kindern und vor allem Jugendlichen liegen ähnlich kritische Fragen nahe (vgl. Blum, 1997; Bee-Schroedter, 1998; Riegel, 2021). Entwicklung eines komplementären Verständnisses von Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie In der Gegenwart kommt es immer wieder zu öffentlichen Auseinandersetzungen um den Schöpfungsglauben. Für großes Aufsehen hat zuletzt etwa der Weltbestseller »Der Gotteswahn« von Richard Dawkins (2007) gesorgt, weil Dawkins die Auffassung vertritt, dass dieser Glaube durch die Naturwissenschaft endgültig widerlegt sei. Deshalb ist er auch der Meinung, es sei geradezu ein Verbrechen an Kindern, wenn man ihnen von Gott als dem Schöpfer erzählt. Weitere Auseinandersetzungen bezogen sich auf den sog. Kreationismus, der als – angeblich – wissenschaftliche Theorie die Wahrheit des Schöpfungsglaubens beweise. Auch wissenschaftlich gesehen sei es nicht möglich, die Welt und die Entstehung der Lebewesen ohne Rückbezug auf einen göttlichen Schöpfer zu erklären. Mitunter wird deshalb verlangt, dass in der Schule neben der Evolutionstheorie auch der Kreationismus unterrichtet werden müsse. Die Verse des Koran über die Schöpfung lassen eine Vereinbarkeit mit der Evolutionstheorie zu. Eine der ersten umfangreichen muslimischen Abhandlungen moderner Evolutionstheorien wurde 1887 von Husayn al-Jisr (gest. 1909) verfasst. Die vier Evolutionsgesetze stellten für ihn keinen Widerspruch zum muslimischen Glauben dar. Die Sichtweise, dass Darwins Theorie keine glaubwürdige wissenschaftliche Theorie sei, verbreitete sich nach Marwa Elshakry allerdings auch unter MuslimInnen aufgrund der globalen Weitergabe sog. kreationistischer Literatur (vgl. Elshakry, 2011). Dass die Spannung zwischen Schöpfungsglaube und Evolutionstheorie heute auch von vielen Jugendlichen empfunden wird, ist ebenfalls bekannt (vgl. Schweitzer et al., 2018; Beniermann, 2019). Vor allem eine Forschungsgruppe um Helmut Reich (Fetz et al., 2001) hat vor diesem Hintergrund die Entwicklung des Schöpfungsglaubens im Verhältnis zu evolutionstheoretischen Erklärungsmodellen untersucht. Leitend ist dabei die Vorstellung einer Komplementarität, für die sowohl religiöse als auch naturwissenschaftliche Sichtweisen sinnvoll bleiben. Sie stehen zwar zumindest teilweise zueinander in Widerspruch, aber sie sind gleichwohl beide notwendig, um ein Gesamtverständnis der Welt und ihrer Herkunft zu erreichen. Der Begriff der Komplementarität wird dabei aus der Physik übernommen, wo bei der Erklärung von Licht ebenfalls einander widersprechende Modellvorstellungen unerlässlich sind (Licht als Welle und Licht als Teilchen). Religionsdidaktisch besonders wichtig ist die Einsicht, dass sich ein Denken in Komplementarität keineswegs automatisch herausbildet. Hier könnte der Religionsunterricht eine wichtige Rolle spielen, sofern er eine entsprechende Entwicklung mit seinem Lernangebot unterstützt.
Entscheidend ist, dass Kinder und Jugendliche sich im Umgang mit einander widersprechenden Erklärungsmodellen deutlich unterscheiden. Während Kinder kein Problem damit haben, solche Erklärungen einfach nebeneinander stehen zu lassen, wird für Jugendliche daraus vielfach ein Problem, da sie den Widerspruch stärker wahrnehmen und dann auflösen wollen – in der Regel durch die Entscheidung für eine allein naturwissenschaftliche Welterklärung.
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Zumindest in Einzelfällen (die Befunde sind nicht repräsentativ, sondern qualitativer Art) konnten aber weitere Entwicklungsschritte in Richtung des beschriebenen Denkens in Komplementarität beobachtet werden. Entwicklungspsychologische Modelle in der kritischen Diskussion Allgemeine Anfragen
Die entwicklungspsychologischen Darstellungen zur religiösen Entwicklung haben weltweit ein breites Echo gefunden, haben aber auch zu kritischen Diskussionen geführt. Darauf kann hier nur verwiesen werden (vgl. dazu Schweitzer, 2016a; Büttner & Dieterich, 2016). Eine religionsdidaktisch besonders bedeutsame Frage bezieht sich auf die sog. Domänenspezifität von Entwicklung. So kann damit gerechnet werden, dass die Vertrautheit mit bestimmten Inhalten auch einen differenzierteren Umgang mit darauf bezogenen Fragen ermöglicht, als dies von den beschriebenen Entwicklungstheorien her zu erwarten wäre. Didaktisch sollten die Entwicklungstheorien als eine allgemeine Sehhilfe verstanden und nicht so eingesetzt werden, dass die Kinder und Jugendlichen dadurch festgelegt werden. Pädagogisch entscheidend bleibt, dass Kinder und Jugendliche mit ihren Weltzugängen und Deutungsweisen geachtet werden. Zur Frage der Übertragbarkeit von Entwicklungsmodellen auf verschiedene Kulturen und Religionen Alle bislang beschriebenen Theorien stammen aus Kontexten, die durch das Christentum geprägt sind. Daraus ergibt sich die Frage, ob diese Theorien auch auf andere, beispielsweise muslimische Kontexte übertragen werden können. Besonders Kohlberg (1996) hatte schon früh die Notwendigkeit erkannt, seine Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils auch außerhalb Nordamerikas auf die Probe zu stellen. Erikson (1984) beruft sich für seine Sicht des menschlichen Lebenszyklus auf Einsichten, die er bei Forschungsprojekten mit amerikanischen Ureinwohnern (Native Americans) gewonnen hatte. Sein Schüler Robert Coles (1992) führte speziell für seine religionsbezogenen Untersuchungen Interview-Reisen beispielsweise in arabischen Ländern durch. Insofern steht die Frage nach der Übertragbarkeit solcher Theorien diesen nicht nur äußerlich gegenüber, sondern entspricht deren Intention, vorschnelle Verallgemeinerungen zu vermeiden.
Insgesamt liegen aber noch sehr wenige Untersuchungen vor, mit deren Hilfe die Frage nach der Übertragbarkeit fundiert beantwortet werden könnte. Gerhard Büttner verweist darauf, dass die Ergebnisse von Oser und Gmünder als Beschreibung einer spezifischen kulturellen Form der religiösen Entwicklung
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angesehen werden und in Abhängigkeit von ihrem kulturellen, christlichen Erhebungsraum gelesen werden müssen (vgl. Büttner, 2010). Clark Power (1988, S. 115) drückt diesen Aspekt folgendermaßen aus: »Angesichts der theistischen Einbettung der höheren Stufen ist es wohl angemessener, Fowlers und Osers Theorien als eine Beschreibung der religiösen Entwicklung von Theisten innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition anzusehen.«
7.4 Erwartungen der SchülerInnen an den Religionsunterricht Schon seit Langem werden Umfragen zu den Sichtweisen von Kindern und Jugendlichen im Religionsunterricht durchgeführt (vgl. zusammenfassend Schwarz, 2019; auch S. 146 ff.). Dabei kann zwischen zwei Perspektiven unterschieden werden, die sich in den Befragungen allerdings immer wieder mischen: – Auf der einen Seite haben Kinder und Jugendliche bestimmte Erwartungen an den Unterricht. Hier geht es darum, wie sie sich den Unterricht wünschen. – Auf der anderen Seite beurteilen die SchülerInnen den Unterricht, den sie tatsächlich erfahren. In diesem Falle steht die positive oder negative Einschätzung von Unterrichtserfahrungen im Vordergrund. Erwartungen und Erfahrungen hängen insofern miteinander zusammen, als sich Wünsche aufgrund von Erfahrungen entwickeln (Wie schön wäre es, wenn der Unterricht anders wäre!) und Einschätzungen des erfahrenen Unterrichts immer von Erwartungen abhängig sind (Das hatte ich mir ganz anders vorgestellt!). Im Folgenden sollen besonders die Erwartungen aufgenommen werden. Die Erfahrungen werden bei der Frage nach »gutem Religionsunterricht« ausgewertet ( S. 140 ff.).
Obwohl die Bedeutung von Erwartungen an den Religionsunterricht für die Motivation der SchülerInnen auf der Hand liegt, wird in den bislang vorliegenden Untersuchungen zum Religionsunterricht der Fokus eher selten auf die Erwartungen gelegt. In der Regel stehen die Erfahrungen mit dem Unterricht im Vordergrund. Soweit die Motivation für den Besuch von Religionsunterricht exploriert wird, können die Befunde einigermaßen ernüchternd ausfallen: Am häufigsten genannt werden Besuchsmotive, die mit dem allgemeinen Image von Religionsunterricht als einem Fach, in dem man sich ausruhen kann und sich nicht allzu sehr anstrengen muss, zu tun haben. Mit deutlichem Abstand, aber noch immer mit einer Zustimmung von ungefähr einem Viertel der Befragten folgen Motive, die inhaltliche Interessen betreffen: dass man »zum Nachdenken angeregt« wird und »eigene Probleme besprochen« werden (Schwarz & Dörnhöfer, 2016, S. 208).
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Das stimmt mit Befunden aus älteren Befragungen überein, denen zufolge die Kinder und Jugendlichen sich vor allem einen auf ihre Erfahrungen und ihr Leben bezogenen Unterricht wünschen (vgl. Bucher, 2000). Damit ist nicht unbedingt gemeint, dass ihr Leben zum zentralen Thema des Unterrichts werden sollte, aber offenbar ist ihnen wichtig, dass deutlich wird, warum die im Unterricht besprochenen Themen für sie relevant sein sollen. Den Wunsch nach Lebens- und Erfahrungsbezug von Unterricht unterstreichen auch etwa die Konfirmandenstudien: Die auf die Kirche bezogenen sowie im engeren Sinne theologischen Themen fanden hier weit weniger Interesse als beispielsweise das Thema Freundschaft (vgl. Schweitzer et al., 2015, S. 297). Es gibt bisher noch wenige Untersuchungen, die die Erwartungen der muslimischen SchülerInnen an den islamischen Religionsunterricht erheben ( S. 149 f.). Die hierzu bislang vorliegenden Studien aus Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bayern beziehen sich eher auf die Erfahrungen mit dem Unterricht. Sie verdeutlichen, dass SchülerInnen zum großen Teil mit dem Unterrichtsklima zufrieden sind, aber mangelnde Disziplin im Unterricht kritisieren. In den Befragungen geben mehr als die Hälfte der SchülerInnen den Wunsch an, mehr Kenntnisse über andere Religionen zu erwerben. In Bezug auf den Wissenszuwachs haben die SchülerInnen geäußert, dass der Religionsunterricht aus ihrer subjektiven Perspektive zu einem hohen Zuwachs geführt hat. Das Unterrichtsklima und die Fürsorglichkeit der Lehrkräfte wurden ebenfalls überwiegend positiv bewertet. Bei Befragungen an weiterführenden Schulen fällt auf, dass sowohl Mädchen als auch Jungen ihre Informationen über den Islam lieber über die Moschee beziehen als über die Schule. Insgesamt lässt sich eine hohe Zufriedenheit und eine hohe Akzeptanz des islamischen Religionsunterrichts diagnostizieren (vgl. Holzberger, 2014; Uslucan, 2006, 2015). Aus den Befunden zum christlichen Religionsunterricht wird deutlich, dass es im Unterricht keineswegs automatisch gelingt, die Themen so zu erschließen, dass ihre Relevanz für das Leben von Kindern und Jugendlichen wahrnehmbar wird (vgl. zusammenfassend Schwarz, 2019). Offenbar ist der Unterricht noch zu wenig auf die pluralen und individualisierten Formen von Religion bei Kindern und Jugendlichen eingestellt. Zum Teil scheint es auch an Offenheit für die kritischen Fragen besonders der Jugendlichen zu fehlen (vgl. Schweitzer et al., 2018). Mitunter wird aus der Praxis berichtet, dass Jugendliche heute, wie es dann heißt, »respektlos« die Frage stellen: »Was bringt mir das?« Religionsdidaktisch gesehen sind solche Fragen nicht einfach Ausdruck mangelnden Respekts, sondern ein wichtiger Anlass dazu, über Möglichkeiten einer lebensbedeutsamen Erschließung religionsunterrichtlicher Themen nachzudenken.
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Worauf es für die SchülerInnen ankommt
In den Wünschen der SchülerInnen zeigt sich darüber hinaus das Interesse an einem Religionsunterricht, in dem es möglich ist, eigene Fragen und Probleme gemeinsam mit anderen Kindern und Jugendlichen sowie einer engagierten Religionslehrkraft zu besprechen. Die bei den Begründungen für den Religionsunterricht genannte pädagogische Forderung, Kindern und Jugendlichen bei ihrer religiösen Entwicklung eine kompetente religionspädagogische Begleitung zu bieten, findet darin eine wichtige Bestätigung. Zum Weiterlesen Schwarz, Susanne (2019). SchülerInnenperspektiven und Religionsunterricht. Empirische Einblicke – theoretische Überlegungen. Stuttgart: Kohlhammer. Schweitzer, Friedrich, Wissner, Golde, Bohner, Annette, Nowack, Rebecca, Gronover, Mat thias & Boschki, Reinhold (2018). Jugend – Glaube – Religion. Eine Repräsentativstudie zu Jugendlichen im Religions- und Ethikunterricht. Münster & New York: Waxmann. Behr, Harry H., Bochinger, Christoph, Rohe, Mathias & Schmidt, Hansjörg (Hrsg.) (2011). Was soll ich hier? Lebensweltorientierung muslimischer Schülerinnen und Schüler als Herausforderung für den Islamischen Religionsunterricht. Berlin: LIT. Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Die bei Kindern und vor allem bei Jugendlichen vorhandene Neugier und Offenheit im Blick auf andere Religionen ist eine günstige Voraussetzung für interreligiöse Kooperation. Zugleich verweisen die Befunde aus empirischen Untersuchungen auch auf problematische Tendenzen etwa von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, aber auch negative Einstellungen gegenüber dem Christentum sind etwa bei mus limischen Jugendlichen zu erwarten. Interreligiös-kooperativer Religionsunterricht hat damit eine besondere Chance, auf das Interesse der SchülerInnen zu stoßen, steht aber auch vor besonderen Herausforderungen. Ȥ Die SchülerInnen wünschen sich durchweg einen Unterricht, in dem nicht abs trakt religionsbezogene Themen behandelt, sondern Fragen aufgenommen werden, die in ihrem eigenen Leben bedeutsam sind. Ȥ Auch ein interreligiös-kooperativer Unterricht ist nicht automatisch gut, sondern steht vor der Aufgabe, seine Themen zu elementarisieren. Da die inhaltliche Komplexität durch den gleichzeitigen Bezug auf mehrere Religionen zunimmt, kommt dieser Aufgabe hier noch mehr Bedeutung zu als sonst. Ȥ Auch interreligiös-kooperativer Unterricht hat es mit Kindern und Jugendlichen zu tun und nicht mit Erwachsenen. Dieser Unterricht muss deshalb den Entwicklungsund Orientierungsbedürfnissen im Kindes- und Jugendalter ebenso Raum geben wie den eigenen Weltzugängen und Deutungsweisen der SchülerInnen.
Erwartungen der SchülerInnen an den Religionsunterricht
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Worauf es für die Religionslehrkräfte ankommt
In diesem Kapitel werden drei Perspektiven aufgenommen: ReligionslehrerIn werden, sein und bleiben. In allen drei Fällen geht es darum, was jemand braucht, um das Fach Religion zu unterrichten, wie die Arbeit als Religionslehrkraft erfolgreich ausgeübt werden und wie die Motivation dafür auf Dauer aufrechterhalten werden kann, ohne beispielsweise Burnout-Effekten zu erliegen. Im Blick auf Religionslehrkräfte sind sowohl allgemeine Aspekte von Professionalität bedeutsam als auch spezifische Fragen, die mit dem Glauben zu tun haben. Von den Inhalten des Unterrichts her stellen sich solche Fragen ganz unvermeidlich. Denn Religionslehrkräfte müssen in dem Sinne glaubwürdig unterrichten, dass sie ihr eigenes Verhältnis zu den Themen geklärt haben und dazu auskunftsfähig sind. Viele Anforderungen an Religionslehrkräfte gelten für alle Formen von Religionsunterricht. Da die Ausbildung für den islamischen Religionsunterricht zunehmend in analoger Gestalt zum christlichen Religionsunterricht erfolgt, weil nun grundständige Studiengänge eingerichtet sind, kann hier von parallelen Voraussetzungen ausgegangen werden. Unterschiede ergeben sich vor allem im Blick auf die im muslimischen Bereich stärker ausgeprägten Migrationshintergründe sowie im Blick auf die Expertise jeweils in einer spezifischen Konfession oder Religion. Ebenfalls gleichermaßen für alle Formen von Religionsunterricht gilt die Beauftragung durch eine Kirche oder Religionsgemeinschaft als zwingende Voraussetzung ( S. 80 ff.).
8.1 Professionalität als Kriterium? Wissenschaftliche Perspektiven auf Religionslehrkräfte Die Frage nach Professionalität findet heute in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion zur LehrerInnenbildung starke Beachtung. Auch im Blick auf den Religionsunterricht wird das Thema vermehrt diskutiert (vgl. Simojoki et al.,
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Worauf es für die Religionslehrkräfte ankommt
2021). Dabei spielen biografietheoretische, rollen- bzw. strukturtheoretische sowie kompetenztheoretische Zugangsweisen eine Rolle. Diese Zugänge werden manchmal konträr diskutiert. Gerade beim Religionsunterricht wird aber deutlich, dass sie sich wechselseitig ergänzen. Übergreifend steht der Begriff der Professionalität für die durch eine bestimmte fachliche und fachdidaktische Ausbildung zu gewinnende Fähigkeit, Unterricht so zu gestalten, dass er ausgewiesenen, in der Profession allgemein anerkannten wissenschaftlichen sowie praxisbezogenen Standards gerecht wird. Biografietheoretische Zugänge In der Religionspädagogik wurde der Zusammenhang zwischen Lebensgeschichte und Religion zunächst im Blick auf die Kinder und Jugendlichen aufgenommen ( S. 104 ff.). In einem weiteren Schritt wurde bewusst, dass auch die Religionslehrkräfte eigene biografische Voraussetzungen mitbringen und dass ihre Prägungen für den Unterricht eine wichtige Rolle spielen (vgl. Heimbrock, 2017). Dabei geht es nicht nur um einschränkende Prägungen, die zu theologischen oder pädagogischen Einseitigkeiten führen können, sondern auch um die besonderen Potenziale, die sich aus einer bestimmten Lebensgeschichte ergeben. Wer beispielsweise Erfahrungen aus der außerschulischen Jugendarbeit mitbringt, kann solche Erfahrungen auch in der Schule fruchtbar machen. Andere Beispiele betreffen etwa Auslandsaufenthalte oder Migrationserfahrungen, die eine besondere interkulturelle oder interreligiöse Sensibilität unterstützen können. Biografietheoretische Zugänge machen deutlich, dass das Ideal der Professionalität abstrakt bleibt, wenn es unter Absehung von allen individuellen Voraussetzungen bei den Lehrkräften gefasst wird. Sinnvoller ist es zu fragen, wie die mit der Professionalität verbundenen Ansprüche – etwa im Sinne bestimmter Kompetenzen – mit den lebensgeschichtlich bedingten Prägungen der Lehrkräfte verbunden werden können. Zumindest in gewisser Hinsicht leben Schule und Religionsunterricht davon, dass jede Lehrkraft anders ist und auf ganz eigene Weise unterrichtet. Allerdings können hier auch Spannungen wahrgenommen werden. Wodurch unterscheidet sich der Religionsunterricht etwa von alltäglichen Begegnungen mit religiösen Themen oder mit Menschen, mit denen ein Austausch über religiöse Themen stattfindet oder mit denen beispielsweise gebetet wird? Im Alltag ist es legitim, wenn einfach die eigene Religiosität, so wie sie jemand als gelebte Religion wichtig ist, zum Ausdruck gebracht wird. Im Unterricht hingegen geht es um gelehrte Religion, für die andere – professionelle – Kriterien gelten (vgl. Feige et al., 2000; Biesinger et al., 2008). Durch die spezielle Ausbildung für den
Professionalität als Kriterium?
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Religionsunterricht muss daher eine Fähigkeit zu religiöser Reflexivität und (Selbst-)Distanzierung erworben werden. Eine Religionslehrkraft muss fähig sein, konstruktiv mit religiösen Einstellungen umzugehen, die den eigenen Überzeugungen widersprechen. Dies bedeutet nicht, dass eine Religionslehrkraft auch solche Überzeugungen akzeptieren oder gar bestätigen müsste, die beispielsweise aufgrund fundamentalistischer Prägungen als problematisch einzuschätzen sind. Auch in solchen Fällen verlangt es die Professionalität jedoch, nicht einfach blind zu agieren, sondern in reflektierter Weise etwa Strategien der Fundamentalismusprävention zu nutzen (vgl. Ceylan & Kiefer, 2018). Neben die professionelle Selbstdistanzierungsfähigkeit tritt die Aufgabe, sich der eigenen, aus der jeweiligen Lebensgeschichte erwachsenden Stärken bewusst zu werden, einschließlich der Möglichkeiten, diese Stärken beim Unterricht zum Tragen zu bringen. Dies entspricht zugleich der für die Professionalität ebenso bedeutsamen Aufgabe der Unterrichtsentwicklung ( S. 140 ff.), auch im Sinne der Arbeit an eigenen Schwächen. Rollen- und strukturtheoretische Zugänge Der rollentheoretische Zugang hebt die soziale und institutionelle Bestimmtheit des Handelns im Unterricht hervor, sowohl im Blick auf die SchülerInnen als auch die Lehrkräfte. Die am Unterricht Beteiligten handeln nicht einfach in individueller Weise, sondern sie folgen bestimmten Erwartungen, die sozial und institutionell – als SchülerInnen- und LehrerInnenrolle – vorgegeben sind. Das beginnt bei simplen Ansprüchen wie dem pünktlichen Erscheinen zum Unterricht, reicht aber bis hin zu inhaltlichen Fragen der Unterrichtsgestaltung. Alles Handeln in Schule und Gesellschaft lässt sich rollentheoretisch beschreiben und zumindest ein Stück weit auch erklären. Die strukturtheoretische Zugangsweise kann als Weiterentwicklung der Rollentheorie verstanden werden. Besonders bei Werner Helsper, dem Hauptvertreter dieses Modells, stehen dabei »Antinomien des Lehrerhandelns« im Zentrum: Demnach finden sich Lehrkräfte in einer Spannung zwischen »reformpädagogischen Idealen und einer reflexiven Selbstbegrenzung« (Helsper, 1996, S. 521), wobei sich in dieser Spannung das Aufeinandertreffen pädagogisch-persönlicher Ideale mit den institutionellen Voraussetzungen von Schule widerspiegele. Die Schule unterliegt beispielsweise administrativen Vorgaben, die ein Lernen in Freiheit, geleitet von persönlichen Interessen und ohne Leistungsbewertung, nicht zulassen. Darüber hinaus bedinge die Schule ein besonderes Verhältnis zwischen Distanz und Nähe sowie eine Heteronomie, die nur bedingt Raum für die Autonomie der SchülerInnen lässt. Solche Antinomien sind nach Helsper als nicht auflösbare Spannungsverhältnisse zu verstehen, in denen sich
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Worauf es für die Religionslehrkräfte ankommt
das Handeln der Lehrkräfte bewegen muss. Gerade für den Religionsunterricht, der sich vielfach nicht einfach den schulischen Verhältnissen anpassen will, sind solche Antinomien bedeutsam. Für den christlichen Religionsunterricht wurde beispielsweise sehr kontrovers diskutiert, ob es in diesem Fach Noten geben solle (vgl. Nipkow, 1979). Die Entscheidung fiel am Ende für eine Leistungsbewertung, aber die Frage, wie sich beispielsweise die im Unterricht thematisierte »Gnade« zu solchen Bewertungen verhalte, hat sich damit nicht erledigt.
Während die strukturtheoretische Zugangsweise in der Religionsdidaktik bislang weniger Aufmerksamkeit gefunden hat, hat die Rollentheorie einen festen Platz auch in der Religionsdidaktik gefunden. Der Religionsunterricht unterliegt ganz offenbar in besonderem Maße unterschiedlichen und zum Teil konträren Erwartungen: – Bildungspläne, die im Blick auf ihre inhaltlichen Erwartungen in ihrer Begründung nicht immer transparent sind. – Religionsdidaktik und Theologie, die mitunter auch von den Bildungsplänen abweichende Sichtweisen vertreten. – Kirchen und Religionsgemeinschaften, die pädagogisch nicht immer unproblematische Erwar tungen an den Religionsunterricht formulieren – etwa im Sinne der Sicherung von Mitgliedschaftsverhältnissen. – Schule und Bildungspolitik, die den Religionsunterricht als Fach der Schule definieren und dabei beispielsweise den Schwerpunkt in einer pädagogisch problematischen Form der Wertevermittlung (nicht der Wertebildung!) sehen wollen. – Kinder und Jugendliche mit ihren Erfahrungen, Interessen und Lernmöglichkeiten, aber auch mit Schul- und Unterrichtsmüdigkeit und Desinteresse.
Angesichts manchmal divergenter Erwartungen kommt es darauf an, dass eine Religionslehrkraft nicht einfach vorgegebene Erwartungen übernimmt und damit zu einem bloßen Ausführungsorgan solcher Erwartungen wird. In der (religions-)pädagogischen Diskussion wird deshalb die Forderung vertreten, dass Lehrkräfte eine Selbstrolle ausbilden müssen, die ihnen auch eine gewisse Unabhängigkeit ermöglicht (vgl. Lämmermann, 1985). Professionalität bedeutet in diesem Sinne die Fähigkeit, in ein reflektiertes, auch kritisch-distanziertes Verhältnis zu Rollenvorgaben zu treten. Kompetenztheoretische Zugänge Diese Zugangsweise besitzt derzeit die stärkste Verbreitung. In Analogie zu der Frage nach den Kompetenzen, die die SchülerInnen erwerben sollen, wird hier nach den Fähigkeiten gefragt, die für Lehrkräfte erforderlich sind. Entsprechend wird die Ausbildung von Lehrkräften dann als individuelle Professionalisierung verstanden, die im Erwerb dieser Fähigkeiten bestehen soll.
Professionalität als Kriterium?
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Dabei gibt es unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Kompetenzen für Lehrkräfte allgemein und speziell für Religionslehrkräfte wichtig sind. Im erziehungswissenschaftlichen Bereich hat besonders das sog. Coactiv-Modell großen Einfluss gewonnen (vgl. Baumert & Kunter, 2011). Jürgen Baumert und Mareike Kunter fassen »professionelle Kompetenz« als Professionswissen, Überzeugungen/Werthaltungen/Ziele, motivationale Orientierungen sowie Selbstregulation auf. Diese Kategorien werden dann weiter ausdifferenziert. Für das Professionswissen beispielsweise werden fünf Kompetenzbereiche ausgewiesen: Fachwissen, Fachdidaktisches Wissen, Pädagogisch-psychologisches Wissen, Organisationswissen, Beratungswissen (vgl. S. 32). Allgemeine Kompetenzmodelle dieser Art sind nicht fachlich spezifiziert, können aber fachdidaktisch aufgenommen und weiterentwickelt werden. Dabei kommt es auch zu Modifikationen. Für den Religionsunterricht beispielsweise ist es sinnvoll, die Bedeutung eines Orientierungswissens zu diesem Unterricht stärker zu akzentuieren, da u. a. angesichts anhaltender Kontroversen um dieses Fach eine entsprechende Orientierungsfähigkeit besonders wichtig ist (vgl. Simojoki et al., 2021).
Im Blick auf die für Religionslehrkräfte erforderlichen Kompetenzen liegen auch kirchliche Stellungnahmen vor, die den von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten Kompetenzkatalogen zur ReligionslehrerInnenbildung zugrunde liegen (vgl. KMK, 2018). Beispielsweise hat die evangelische Kirche eine Darstellung mit fünf übergreifenden Kompetenzen veröffentlicht: Reflexionskompetenz, Gestaltungskompetenz, Förderkompetenz, Entwicklungskompetenz sowie Dialog- und Diskurskompetenz (vgl. EKD, 2008, S. 20 f.). Die katholische Kirche hat ihrerseits Standards für die LehrerInnenbildung festgeschrieben (vgl. DBK, 2011). Entsprechende Standards für die Religionslehrkräfte für den islamischen Religionsunterricht gibt es noch nicht. Solche Kompetenzbeschreibungen und -kataloge für Religionslehrkräfte stellen eine normative Vorgabe dar. Sie geben noch keine Auskunft darüber, über welche Kompetenzen Religionslehrkräfte tatsächlich verfügen. Größere Untersuchungen dazu liegen bislang nicht vor.
Eine Metaperspektive Die drei Zugangsweisen – biografietheoretisch, rollen- und strukturtheoretisch, kompetenztheoretisch – haben sich in je eigener Form entwickelt. Dies erklärt, warum sie mitunter als Alternativen behandelt werden. Von der Sache her liegt es aber auf der Hand, dass von einer wechselseitigen Ergänzung der verschiedenen Zugangsweisen ausgegangen werden sollte. So gesehen leuchtet das in der neueren Diskussion entwickelte Modell einer professionstheoretischen Metaperspektive unmittelbar ein. Hier wird versucht, die verschiedenen Zugangsweisen im Sinne komplementärer Perspektiven zu nutzen sowie die Lehrkräfte dazu zu befähigen, eine eigene Orientierung im Blick auf ihre Professionalität zu gewinnen.
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Worauf es für die Religionslehrkräfte ankommt
In dieser übergreifenden Perspektive wird Professionalität als »Meta-Reflexivität« verstanden als die Fähigkeit, »unterschiedliche Perspektiven […] einnehmen zu können, die jeweiligen Grundlagen (z. B. Axiomatik) der Perspektiven ins Verhältnis setzen zu können und so konsistente […] Deutungen des komplexen Handlungsfeldes Schule und Unterricht vorzunehmen und potenziell danach zu handeln« (Cramer & Drahmann, 2019, S. 18 f.). Gerade weil Lehrkräfte nie Gewissheit haben können, dass das eintritt, was sie antizipieren, ist es wesentlich, das eigene Handeln mehrperspektivisch zu reflektieren. Dazu bedarf es der Kenntnis, der Verortung, der Verhältnisbestimmung und der kritischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Theorien und empirischen Befunden.
8.2 Der eigene Glaube und der Unterricht Der Religionsunterricht als Fach wie jedes andere und wie kein anderes Fach Die beschriebenen Perspektiven zur Professionalität stammen aus der bildungswissenschaftlichen Forschung. Insofern beleuchten sie die Religionslehrkraft aus einer allgemeinen, nicht fachbezogenen Sicht. Die Anwendung solcher Perspektiven auf den Religionsunterricht ist insofern angemessen, als dieser Unterricht nur unter der Voraussetzung als Fach der Schule Anerkennung finden kann, dass die allgemeinen Professionalitätsansprüche auch hier erfüllt werden (können). Der Religionsunterricht ist in dieser Hinsicht ein Fach wie jedes andere. Religionsunterricht muss »guter Unterricht« sein (vgl. Schweitzer, 2020). Bei der Anwendung bildungswissenschaftlicher Perspektiven auf den Reli gionsunterricht wird zugleich deutlich, dass ebenso die spezifische Thematik berücksichtigt werden muss. Diese Thematik – also Religion – verlangt eine eigene fachliche und fachdidaktische Expertise. Insofern ist der Religionsunterricht ein Fach wie kein anderes. Er muss »guter Fachunterricht« sein. Entsprechendes lässt sich allerdings für alle Fächer behaupten, da ja jedes Fach eine besondere Thematik aufweist. Im Falle des Religionsunterrichts berührt die Thematik aber immer auch die Person der Unterrichtenden. Sie werden nicht nur bei ihrer eigenen Auseinandersetzung mit einem Thema dazu herausgefordert, ihr eigenes Verhältnis dazu zu klären (Was glaube ich eigentlich selbst? Welche Erwartungen meiner Religionsgemeinschaft teile ich und welche nicht?). Vielmehr können und sollen solche Fragen auch im Unterricht aufkommen, im Gespräch mit den SchülerInnen. Darin kann das besondere Profil von Religionsunterricht als eines konstitutiv auf existenzielle Fragen bezogenen Faches gesehen werden.
Der eigene Glaube und der Unterricht
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Motivation und Ziele Aus welchen Gründen entscheidet sich jemand dafür, eine Religionslehrkraft zu werden? Was motiviert jemand dazu, im Alltag der Schule immer wieder neu die Verantwortung für das Angebot von Religionsunterricht zu übernehmen? Ziele und Motivationen sind naturgemäß eng miteinander verbunden. Aus bestimmten Motivationen erwachsen entsprechende Ziele. Zugleich geht es aber auch um unterschiedliche Betrachtungsweisen, einerseits mit dem Fokus auf die Verankerung von Erwartungen an den Religionsunterricht in der eigenen Lebensgeschichte und Persönlichkeit sowie den eigenen Überzeugungen (Motivation), andererseits auf der Gestaltung von Unterricht (Ziele). Zumindest ein Stück weit lassen empirische Untersuchungen erkennen, welche Ziele und Motivationen für Religionslehrkräfte bestimmend sind. Auf die Einzelbefunde solcher Untersuchungen kann hier allerdings nur exemplarisch eingegangen werden: Christlichen Religionslehrkräften ist beispielsweise die professionalitätstheoretisch begründete Unterscheidung zwischen gelebter und gelehrter Religion wichtig (vgl. Feige et al., 2000). Gleichwohl spielen religiöse Prägungen aus der Biografie eine wichtige Rolle (vgl. Biesinger et al., 2008). Weitere Befunde machen deutlich, dass den Religionslehrkräften besonders an einem Angebot der religiösen Orientierung für die Schülerinnen gelegen ist, das für diese persönlich bedeutsam sein kann, während institutionelle Erwartungen etwa der Kirche für sie ein geringeres Gewicht besitzen (vgl. Feige & Tzscheetzsch, 2005). Bemerkenswert ist die Offenheit der Lehrkräfte für die religiöse Pluralität (vgl. Pohl-Patalong et al., 2016; Rothgangel et al., 2017). Die verschiedenen Untersuchungen machen deutlich, dass Religionslehrkräfte ihren Unterricht gerne erteilen und vergleichsweise selten von Burn-out-Problemen berichten. Zu Motivation und Zielen muslimischer Religionslehrkräfte gibt es bisher wenige Untersuchungen. Eine österreichische Untersuchung von 2009 kommt zu dem Ergebnis, dass für 70,4 % der Befragten die Vermittlung von Glaubensgrundsätzen und Ritualen wesentlich ist. Für 42,3 % ist die Aufklärung und Befähigung zur kritischen Reflexion die zentrale Aufgabe. 83,6 % erachten die Förderung interreligiöser Fähigkeiten als vorrangig (vgl. Khorchide, 2009, S. 86 ff., 182 f.). Laut einer Studie, die 2015/16 in Niedersachsen durchgeführt wurde, wird der Religionslehrkraft, die selbst ihren Glauben praktizieren müsse, eine Vorbildfunktion zugewiesen. Weiterhin wird die Religionslehrkraft von einem Teil der Interviewten als »WissensvermittlerIn« angesehen, von einem anderen Teil als »PräventionshelferIn« oder »WegweiserIn« und von einem anderen wiederum als »UnterstützerIn bei der eigenständigen Auseinandersetzung mit Religion« (Stein et al., 2017, S. 55 f.). Auf der Grundlage einer quantitativen Studie (Kamcili-Yildiz, 2020) wird für Religionslehrkräfte des islamischen Religionsunterrichts in NRW konstatiert, dass »die theologischen Kenntnisse in Teilen entwicklungsfähig sind« (S. 249), »sich Tendenzen zu einer an der Glaubensvermittlung als Ziel des islamischen Religionsunterrichts und zu einer Vermittlungsdidaktik erkennen lassen« und dass die Lehrkräfte eine positive Haltung zu anderen Religionen aufweisen (S. 250). Auch wenn positive Tendenzen zu verzeichnen sind, machen die Studien auch Defizite sichtbar, die in der Ausbildung für den Religionsunterricht Beachtung finden müssen.
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Worauf es für die Religionslehrkräfte ankommt
Positionalität im Unterricht Die Besonderheit des bekenntnisbezogenen Religionsunterrichts besteht darin, dass hier glaubensbezogene Auseinandersetzungen möglich sind und auch die Religionslehrkraft persönlich Position beziehen darf ( S. 80 ff.). Ziel ist dabei nicht, die SchülerInnen von etwas zu überzeugen – die dialogische Auseinandersetzung soll vielmehr dazu beitragen, dass Kinder und Jugendliche eigene Positionen ausbilden und entscheidungsfähig werden. Für diejenigen, die sich mit einer religiösen Tradition identifizieren, kann der Unterricht durchaus zu einer informierten Verstärkung dieser Identifikation führen. Für andere kann er im Extremfall eine kritische Distanzierung weiter bestätigen. Traditionell wird von der Bekenntnisbindung oder Konfessionalität des Unterrichts gesprochen, aber diese Begrifflichkeit hat weithin ihre Plausibilität verloren. Heute wird deshalb zumeist der Begriff Positionalität verwendet (vgl. Heimbrock, 2017). Die Lehrkraft soll Position beziehen und damit die Voraussetzung für dialogische Verhältnisse schaffen, die den SchülerInnen beides ermöglichen, Zustimmung, aber auch Abgrenzung. Religiöse Bildung bedeutet, dass Identifikations- und Ablehnungsverhältnisse durch die SchülerInnen reflexiv auf die Probe gestellt werden. Für die Professionalität von Religionslehrkräften impliziert dies die Fähigkeit, Ȥ die eigene persönliche Überzeugung oder Position im Unterricht so zum Ausdruck zu bringen, dass sie für die SchülerInnen erkennbar wird, ohne dass sie sich vereinnahmt fühlen; Ȥ die Beteiligung von SchülerInnen, die die persönlichen Überzeugungen der Lehrkraft nicht teilen, nicht nur hinzunehmen, sondern ausdrücklich anerkennen zu können. Als schulisches Bildungsangebot steht der Religionsunterricht nicht nur solchen Kindern und Jugendlichen offen, die sich mit einer bestimmten religiösen Überzeugung identifizieren. Neuere Befunde unterstreichen, wie wichtig es ist, dass Religionslehrkräfte die Offenheit ihres Unterrichts für kontroverse Diskussionen auch über bestimmte Glaubensweisen ausdrücklich kommunizieren. Vielfach scheint bei den SchülerInnen bislang der Eindruck zu entstehen, der Religionsunterricht sei ein Angebot nur für diejenigen, die eine bestimmte Glaubensüberzeugung teilen. Für die anderen gebe es dann den Ethikunterricht (vgl. Schweitzer et al., 2018).
8.3 Reflexion und Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts Die Fähigkeit, den eigenen Unterricht kritisch zu reflektieren und ihn auf dieser Grundlage weiterzuentwickeln, wird als grundlegend für die Professiona-
Reflexion und Weiterentwicklung des eigenen Unterrichts
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lität von (Religions-)Lehrkräften angesehen ( S. 140 ff.). Professionalität zielt auf ein reflektiertes Verhältnis zum eigenen Handeln sowie ein Repertoire von Strategien dafür, in der Praxis auftretende Probleme zu bearbeiten. Wie auch in diesem Band zu sehen, spielt die Frage nach Qualität von Religionsunterricht eine zunehmend als grundlegend erachtete Rolle (vgl. Schweitzer, 2020). Die Gründe dafür liegen teils in der Bildungspolitik, sind aber auch pädagogisch bedeutsam. Unterricht hat nur dann eine Berechtigung, wenn SchülerInnen dadurch tatsächlich gefördert werden. Trotz der mit dem Religionsunterricht oft verbundenen Erwartung einer religiösen Begleitung, die nicht auf bestimmte Outcomes bezogen sein kann, ist das Fach Religion von solchen Fragen nicht ausgenommen. Angesichts der in Politik und Öffentlichkeit in der Gegenwart stark beachteten Schulleistungsvergleichsuntersuchungen stellt sich in der Praxis manchmal das Gefühl ein, es gehe dabei nur um eine Art Fremdbeurteilung. Deshalb ist es wichtig, die Frage nach der realisierten Unterrichtsqualität konsequent mit der Perspektive der Verbesserung von Unterricht im Sinne der Unterrichtsentwicklung zu verbinden ( S. 140 ff.). Die Reflexion auf den eigenen Unterricht – mit der Perspektive, den Unterricht zu verbessern – ist noch aus einem weiteren Grund bedeutsam: Angesichts der Herausforderung, die Motivation für eine Tätigkeit, bei der sich vieles wiederholt, auf Dauer aufrechtzuerhalten, kommt es darauf an, sich immer wieder neue Ziele zu setzen, die über das bislang Erreichte hinausführen. Auch wenn dabei nicht alles gelingt – was nie der Fall sein kann –, ist es spannend zu sehen, was passiert, wenn man Neues ausprobiert.
8.4 Gender und Migrationshintergrund bei Religionslehrkräften Die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Gender und Migrationshintergründen hat sich in der Religionspädagogik in den letzten Jahren in erfreulicher Weise verstärkt. In aller Regel sind dabei aber die SchülerInnen im Blick und nicht die Religionslehrkräfte. Macht es einen Unterschied, ob Frauen oder Männer oder diverse Personen den Religionsunterricht erteilen? Gibt es genderabhängige Auffassungen und Zielsetzungen im Religionsunterricht? Werden Frauen und Männer oder diverse Personen im Unterricht unterschiedlich wahrgenommen? Besonders im Bereich des islamischen Religionsunterrichts spielen unterschiedliche Migrationshintergründe eine deutliche Rolle. Die Religionslehr-
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kräfte bringen hier biografisch bedingt Wurzeln in unterschiedlichen Kulturen mit, die allerdings auch schon mehrere Generationen zurückliegen können. Im christlichen Bereich sind die Migrationshintergründe weniger offensichtlich, aber doch ebenfalls vorhanden – zu denken ist hier an die Migration beispielsweise aus Süd- oder Osteuropa, aber auch aus außereuropäischen Ländern. Hier stellt sich ebenfalls die Frage, was solche Wurzeln für den Unterricht bedeuten und bedeuten können oder sollen. In anderen pädagogischen Bereichen wird in multikulturell zusammengesetzten Teams inzwischen eine besondere Chance dafür gesehen, der kulturellen, aber auch religiös-weltanschaulichen Vielfalt bei den Kindern und Jugendlichen stärker gerecht zu werden. Zum Weiterlesen Burrichter, Rita et al. (Hrsg.) (2012). Professionell Religion unterrichten. Ein Arbeitsbuch. Stuttgart: Kohlhammer. Schweitzer, Friedrich (2020). Religion noch besser unterrichten. Qualität und Qualitätsentwicklung im RU. Göttingen: V&R. Tuna, Mehmet H. (2019). Islamische ReligionslehrerInnen auf dem Weg zur Professio nalisierung. Münster: Waxmann. Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Dass die Unterrichtenden als Personen im Religionsunterricht eine wichtige Rolle spielen und dass sie Position beziehen dürfen, gilt gerade auch in inter religiös-kooperativen Zusammenhängen. Ȥ Eine interreligiös-kooperative Didaktik sollte durch Aus- und Fortbildung kon sequent unterstützt werden. Ȥ Eine ausschließliche Konzentration auf biografisch bestimmte Prägungen wird den Religionslehrkräften nicht gerecht. Die biografietheoretischen, rollen- und strukturtheoretischen sowie kompetenztheoretischen Ansätze sind auch auf die interreligiös-kooperative Didaktik zu beziehen. Ȥ Die Fähigkeit, Lehr- und Lernprozesse interreligiös-kooperativ zu gestalten, kann als unabdingbare Dimension zukunftsfähiger Professionalität von Reli gionslehrkräften angesehen werden.
Gender und Migrationshintergrund bei Religionslehrkräften
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Religionsunterricht gestalten
Die Aufgabe, Religionsunterricht zu planen und zu gestalten, gilt als Kerngeschäft der Religionsdidaktik. Diese Aufgabe stellt sich für den Religionsunterricht ebenso wie für alle Fächer der Schule. Zugleich muss in jedem Fach die Besonderheit der Inhalte oder Inhaltsdomäne (Inhaltsbereich) berücksichtigt werden. Daher gibt es sowohl allgemeine, alle Fächer übergreifende Modelle der Unterrichtsplanung als auch fachspezifische Vorschläge. Im Folgenden soll es speziell um die Planung von Religionsunterricht gehen, wobei allgemeine Kriterien »guten Unterrichts« durchweg im Blick bleiben müssen. Dem interreligiösen Ansatz des Bandes entsprechend werden auch auf den islamischen oder den christlichen Religionsunterricht bezogene Fragen aufgenommen. Im Aufbau folgt das Kapitel einem handlungsorientierten Vorgehen. Am Anfang wird eine Kurzanleitung für die Planung von Unterricht geboten. Die weiteren Teilkapitel fokussieren jeweils Aspekte, die dabei angesprochen werden.
9.1 Vorbereitung und Planung von Unterricht: eine Kurzanleitung Die größte Verbreitung in der Religionsdidaktik der letzten Jahrzehnte hat das Elementarisierungsmodell gefunden. Es erfährt in beiden christlichen Konfessionen große Zustimmung und wird auch in der islamischen Religionsdidaktik rezipiert (aktuelle Darstellung: Schweitzer et al., 2019). Dimensionen der Elementarisierung Das Modell schließt fünf Dimensionen ein, als unterschiedliche, aber aufeinander bezogene Arbeitsschritte.
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Religionsunterricht gestalten
Dimensionen der Elementarisierung Elementare Strukturen
Identifikation der zentralen inhaltlichen Aspekte, Zusammenhänge, Aussagen usw., die mithilfe der Fachwissenschaft (besonders der Theologie) herausgearbeitet werden, jedoch immer bereits mit Bezug auf eine bestimmte Lerngruppe, für die nicht gleichermaßen alle inhalt lichen Aspekte infrage kommen.
Elementare Zugänge
Wahrnehmung und Beschreibung der besonderen Zugangs- und Deu tungsweisen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen je nach Ziel gruppe, aber auch verschiedener Einzelpersonen, deren je besondere Lebenslagen auch in ihre Verstehensweisen eingehen; Grundlage dafür sind entwicklungspsychologische sowie konstruktivistische Theorien, empirische Untersuchungen u. Ä.
Elementare Erfahrungen
Wahrnehmung und Beschreibung von Erfahrungen und lebenswelt lichen Zusammenhängen, von denen her Kinder, Jugendliche und Erwachsene einem Thema begegnen bzw. auf die hin ein Thema aus gelegt werden kann, z. B. mithilfe der Sozialisationsforschung, empiri scher Untersuchungen zur Religiosität u. Ä.
Elementare Wahrheiten
Identifikation der existenziellen Bezüge oder Gewissheiten, die bei einem Thema oder in einer biblischen Geschichte bzw. einem Abschnitt aus dem Koran als Glaubensfragen angesprochen oder enthalten sind; Prüfung von Möglichkeiten, diesen Wahrheits anspruch dialogisch aufzunehmen; auch dafür bietet die Theo logie wichtige Hinweise, daneben ist etwa an theologische Gespräche mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu denken (Kinder- und Jugendtheologie).
Elementare Lernformen
Suche nach Formen des Lehrens und Lernens, die der Besonderheit des Themas gerecht werden, unter Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte des Lernens (kognitiv, affektiv, handlungsorientiert) sowie kreativer Möglichkeiten der Gestaltung im Anschluss an die aktuelle pädagogisch-didaktische Methodik.
Modifiziert aus: Schweitzer et al., 2019, S. 20.
Die Reihenfolge, in der die fünf Dimensionen bearbeitet werden, steht nicht fest. Bei der Ausarbeitung von Unterrichtsplänen kommen dazu noch weitere Arbeitsschritte, sodass insgesamt von zehn Schritten der Planung von Unterricht ausgegangen werden kann (vgl. Schweitzer et al., 2019, S. 38–49). Zehn Schritte der Planung von Unterricht 1. Ausgangspunkte – Orientierungen: An erster Stelle steht in der Praxis häufig der Blick in einen Bildungsplan, doch sollte ausdrücklich immer nach der Bedeutung des gewählten Themas für die Kinder und Jugendlichen in der jeweiligen Lerngruppe gefragt werden. Eine Hilfe können dabei, soweit ver-
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fügbar, empirische Untersuchungen aus der Kinder- und Jugendforschung oder aus der Unterrichtsforschung bieten. 2. Inhaltsbezogene fachwissenschaftliche Klärung (elementare Strukturen): Als Fach der Schule, aber auch aus der Perspektive der Religionsdidaktik steht der Religionsunterricht unter dem Anspruch, Inhalte gemäß dem jeweiligen Stand der Forschung zu behandeln. Dies betrifft vor allem die Theologie, aber je nach Thema kommen auch andere Wissenschaften wie Religionswissenschaft, Soziologie, Psychologie usw. infrage. Auch wenn Unterricht für jüngere SchülerInnen vorbereitet wird, der theologisch nicht allzu anspruchsvoll erscheint, ist es unverzichtbar, sich mit der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion vertraut zu machen. Religionslehrkräfte müssen in der Lage sein, auch KollegInnen anderer Fächer, Eltern oder der Öffentlichkeit kompetent erklären zu können, was sie in welcher Weise behandeln. Und nicht zuletzt sind solche Klärungen auch für Religionslehrkräfte und für ihre fachlichpersönliche Entwicklung immer wieder neu bedeutsam. 3. Lebensweltliche Bezüge wahrnehmen (elementare Erfahrungen): Erfahrungsorientierung ist ein Unterrichtsprinzip, das heute in der Didaktik vieler Fächer breit akzeptiert ist ( S. 153 f.). Auch die Pädagogische Psychologie geht davon aus, dass ein kognitiv aktivierender Unterricht, der nachhaltiges Lernen erst ermöglicht, an die Erfahrungen der Lernenden anknüpfen muss (vgl. Kunter & Trautwein, 2013). Im Religionsunterricht spielt die Erfahrungsorientierung insofern eine hervorgehobene Rolle, als dieser Unterricht auf lebensbedeutsame Klärungsprozesse zielt und deshalb konstitutiv darauf angewiesen ist, lebensweltliche Erfahrungen aufzunehmen. Darüber hinaus sind auch in den religiösen Überlieferungen Erfahrungszusammenhänge eingelagert, die entweder im Kontrast zu heutigen Erfahrungen stehen oder sich heute noch unmittelbar erschließen. Kontrasterfahrungen betreffen beispielsweise die patriarchalen Verhältnisse, die in biblischer und koranischer Zeit als damalige Lebenswelt gegeben waren und die aus heutiger Sicht fremd erscheinen. Hingegen sprechen etwa die in Koran oder Bibel beschriebenen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder auch zwischen Frau und Mann direkt Erfahrungen an, wie sie auch heute noch gemacht werden. Andere Kontrasterfahrungen können sich auf Visionen einer gerechten und friedlichen Welt beziehen, die in den religiösen Überlieferungen als Verheißungen eine wichtige Rolle spielen und die noch immer eine orientierende Funktion haben können.
Da Erfahrungswelten auch in der Gegenwart einem starken Wandel unterliegen (etwa durch die Medien) und sich innerhalb ein und derselben Gesellschaft schicht- oder milieubezogen unterscheiden, sollte bei der Unterrichtsvorbereitung nicht nur auf eigene Erinnerungen und Beobachtungen zurückgegriffen werden, sondern wiederum auf wissenschaftliche Unter suchungen etwa aus der Kinder- und Jugendforschung.
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4. Wie konstruieren Schülerinnen und Schüler das Thema? (elementare Zugänge): Diese Dimension entspricht in hervorgehobener Weise der Subjektorientierung als einem weiteren Unterrichtsprinzip ( S. 154 f.). Sie erkennt SchülerInnen als Subjekte an, denen nicht einfach etwas vermittelt werden soll, und nimmt die unterschiedlichen Deutungsweisen und Weltzugänge von Kindern und Jugendlichen in ihrer Unterschiedenheit von denen der Erwachsenen ernst. Besonders aus der Religions- und Entwicklungspsychologie stehen zahlreiche Untersuchungen zu diversen Themen zur Verfügung, auf die sich der Religionsunterricht im Sinne der Wahrnehmung von Lernvoraussetzungen beziehen kann (Überblick: Schweitzer, 2016a; Büttner & Dieterich, 2016). Dabei ist an unterschiedliche Gottesbilder oder Gottesverständnisse zu denken, an das Verständnis von Geschichten aus Koran oder Bibel, an den Umgang mit metaphorischer Sprache usw. Die konstruktivistische Didaktik ( S. 43 ff.) unterstreicht die Bedeutung solcher Lernvoraussetzungen, indem sie vor Augen führt, dass alles menschliche Erkennen und Lernen von den Erkennenden und Lernenden abhängig ist. Unterrichtende müssen deshalb die verschiedenen, bei den Kindern und Jugendlichen zu beobachtenden Konstruktionsweisen sorgfältig wahrnehmen und bei der Gestaltung von Unterricht gezielt zum Tragen kommen lassen. Andernfalls geht der Unterricht an den Kindern und Jugendlichen vorbei, die Inhalte gewinnen keine Bedeutung für ihr Leben. Hilfreich im Sinne einer Wahrnehmungshilfe, nicht hingegen im Sinne eines starren Fahrplans können dabei entwicklungspsychologische Modelle wie die von Erikson, Fowler oder Oser sein ( S. 120 ff.). Auf jeden Fall muss bei der Unterrichtsvorbereitung der jeweilige Stand der Forschung auch in dieser Hinsicht sorgfältig beachtet werden. 5. Welche Überzeugungen stehen auf dem Spiel? (elementare Wahrheiten): »Guter Religionsunterricht« gibt Kindern und Jugendlichen Raum für die Klärung existenzieller Fragen (vgl. Schweitzer, 2020). Ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht erlaubt es den Lehrkräften ausdrücklich, selbst Stellung zu nehmen und religiöse Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen. Ziel kann dabei nicht sein, dass am Ende die SchülerInnen die Überzeugungen der Lehrkräfte übernehmen – vielmehr geht es um die Möglichkeit, Wahrheitsansprüche im Dialog sowohl zwischen den SchülerInnen als auch mit der Religionslehrkraft auf die Probe zu stellen. Häufig werden die Fragen der Kinder und Jugendlichen dabei zweifelnd und mitunter auch ausdrücklich kritisch ausfallen, aber genau darin liegt die Chance eines lebensbedeutsamen Unterrichts. Existenzielle Gespräche und Klärungen sind nicht in jeder Unterrichtsstunde zu erwarten. Der Alltag von Schule bedingt in der Regel
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eine andere Erwartungshaltung (vor allem lernen zu müssen und dafür Noten zu bekommen). Gerade für den Religionsunterricht bleibt es gleichwohl wichtig, dass immer wieder weiterreichende Fragen aufbrechen und gemeinsam reflektiert werden können. Denn auch Kinder und Jugendliche nehmen wahr, dass ihre Erfahrungen oft nur schwer mit den Verheißungen, denen sie in Bibel oder Koran begegnen, in Übereinstimmung zu bringen sind. Ist Gott wirklich bei mir, wenn es mir schlecht geht? Warum musste eine Mutter so jung sterben? Gibt es in der Welt wirklich so etwas wie göttliche Gerechtigkeit, oder triumphieren am Ende doch immer nur Gier und Hass? 6. Unterrichtsprozesse gestalten (elementare Lernformen): Manchmal wird die Planung von Unterricht mit der Wahl von Methoden gleichgesetzt, aber didaktisch ist das nicht sachgemäß: Methoden müssen von den Lernformen her gewählt und konzipiert werden, die sie ermöglichen sollen, und sie müssen mit den für eine Stunde leitenden Lernzielen übereinstimmen. Im Elementarisierungsansatz wird dabei besonderer Wert darauf gelegt, dass die Lernformen eine Entsprechung zum jeweiligen Thema aufweisen. Bestimmte Textgattungen machen dies besonders deutlich: Psalmen oder Korantexte können um ihre Wirkung gebracht werden, wenn sie nicht auch laut und vielleicht gemeinsam gesprochen oder, im Falle des Koran, rezitiert oder gehört werden (das Internet bietet dafür gute Beispiele für den Unterricht). Als besonders wichtig gelten heute durchweg aktivierende Lernformen, die eine selbstständige Auseinandersetzung mit Inhalten unterstützen. In diesem Sinne wird auch von der anzustrebenden Handlungsorientierung gesprochen. Im Einzelnen zählen dazu Formen wie eigenes aktives Erkunden, Erarbeiten, Darstellen beispielsweise in Präsentationen, aber auch das gemeinsame Verfolgen eines Ziels bei Projekten wie etwa der Vorbereitung einer Ausstellung. 7. Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Unterrichtsforschung? Dieser Arbeitsschritt findet sich bislang nur in wenigen Modellen für die Unterrichtsvorbereitung, aber er entspricht dem für die Fachdidaktik heute maßgeblichen Prinzip der empiriebasierten Unterrichtsgestaltung. Gemeint ist, dass spätestens an dieser Stelle die Frage nach eventuell verfügbaren empirischen Studien zu bestimmten Themenbereichen im Religionsunterricht geklärt werden muss. Dabei stellen sich etwa folgende Fragen: Welche unterrichtliche Strategie verspricht die besten Lernergebnisse? Welcher religionsdidaktische Ansatz hat sich empirisch bewährt? Welche Aspekte sind ausweislich ihrer Wirksamkeit besonders wichtig? Wie für die meisten Fächer steht für den Religionsunterricht bislang nur eine begrenzte Anzahl entsprechender empirischer Untersuchungen zur Verfügung (Überblick: vgl.
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Schweitzer & Boschki, 2018; Schambeck & Riegel, 2018). Insofern lässt sich der Anspruch empiriebasierten Unterrichtens nur ansatzweise umsetzen. 8. Welche Kompetenzen sollen besonders gefördert werden? Fast alle Bildungspläne sind inzwischen auf Kompetenzorientierung umgestellt. Sie zählen nicht mehr einfach Inhalte auf, die behandelt werden sollen, sondern beschreiben Fähigkeiten und Fertigkeiten, die SchülerInnen am Ende einer Unterrichtsstunde oder einer Unterrichtseinheit erworben haben sollen (vgl. Obst, 2015; Schweitzer, 2018). Für den Religionsunterricht spielen sowohl prozess- als auch inhaltsbezogene Kompetenzen eine wichtige Rolle (Darstellungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit usw. auf der einen und Vertrautheit mit bestimmten biblischen oder koranischen Texten – und der prophetischen Tradition –, theologisch-ethischen Fragestellungen usw. auf der anderen Seite). Die Kompetenzbeschreibungen in den Bildungsplänen sind häufig breit und allgemein, sodass von vornherein klar ist, dass die entsprechenden Kompetenzen nicht in einer einzelnen Unterrichtsstunde oder -einheit erworben werden können. Zudem ist die Zahl der Kompetenzen in den Bildungsplänen sehr groß und wenig übersichtlich. Bei der Unterrichtsplanung muss daher eine Auswahl getroffen werden, sodass eine konzentrierte Planung möglich wird. 9. Stundenlernziel(e) beschreiben: Mitunter wird die Auffassung vertreten, dass das ältere Prinzip der Lernzielorientierung durch die Kompetenzorientierung überflüssig geworden sei. In der Praxis hat sich hingegen gezeigt, dass Lernziele nach wie vor unverzichtbar sind. Wenn kein klares Ziel vor Augen steht, verliert der Unterricht seine Kontur und lässt sich auch nicht mehr sagen, wann er erfolgreich war. Daher gehört zur Planung von Unterricht unverzichtbar die Angabe eines Stundenziels (manchmal auch mehrerer, keinesfalls aber beliebig vieler Ziele) sowie die Ausdifferenzierung darauf bezogener Teillernziele, verstanden als Schritte, die zum Erreichen des übergreifenden Zieles erforderlich sind. 10. Übertragung in ein Planungsschema: Die Ergebnisse der bisherigen Arbeitsschritte lassen sich in ein Planungsschema übertragen: Zeit
Unterrichts verlauf nach Phasen
Organisati ons-/Sozial form, Schüler aktivität
Medien/ Materialien
Bezug zum angestreb ten Ziel (ggf. zur ange strebten Kompetenz)
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9.2 »Guter Religionsunterricht«: Unterrichtsqualität normativ und empirisch Idealvorstellungen und die Realität des Unterrichts Die Gestaltung von Religionsunterricht folgt unvermeidlich einem bestimmten Leitbild gelingenden Unterrichts, an dem sich das unterrichtliche Handeln orientieren soll, auch wenn dies in der Realität nicht immer erreicht wird. Solche Leitbilder können mit dem Begriff »guter Religionsunterricht« beschrieben werden (vgl. Bizer et al., 2006). Dabei handelt es sich an erster Stelle um eine normative Vorstellung: Im Sinne eines Maßstabes werden Merkmale beschrieben, die ein solcher Unterricht aufweisen soll. Dass weder in der Wissenschaft noch in der Praxis Konsens darüber besteht, welche Merkmale dies sein sollen, ist nicht weiter überraschend. Vorstellungen von gelingendem Unterricht können sehr unterschiedlich ausfallen. Insofern gibt es nicht einfach den »guten Religionsunterricht«, sondern nur Annäherungen in der Überschneidung unterschiedlicher Merkmalsbestimmungen (vgl. Pirner, 2008). Beispielsweise können bei der Bewertung von Religionsunterricht unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt werden, zum einen mehr auf die inhaltliche Qualität im Sinne der Fachwissenschaft, zum anderen didaktisch und pädagogisch im Blick auf die Lehr- und Lernprozesse. Der Begriff »Annäherung« ist auch noch in anderer Hinsicht bedeutsam. Denn bei Vorstellungen von »gutem Religionsunterricht« besteht immer die Gefahr, dass ein Ideal vor Augen gestellt wird, das niemand erreichen kann. Abstrakte pädagogische Ideale können leicht demotivierend wirken, wenn sie nur aufzeigen, wie wenig in der Praxis tatsächlich gelingt. Aus verschiedenen Gründen ist es deshalb wichtig, bei der Frage nach »gutem Religionsunterricht« nicht nur an Idealbilder zu denken, sondern auch empirisch nach der Realität des Unterrichts zu fragen. Diese Frage ist heute allerdings unausweichlich, weil sich die Fachdidaktiken aller Fächer inzwischen nicht mehr mit bloßen Idealvorstellungen auf der einen und persönlichen Erfahrungen im Unterricht auf der anderen Seite zufriedengeben (vgl. Rothgangel et al., 2020). Empiriegestützte Qualitätsentwicklung ist zu einer Aufgabe aller Fachdidaktiken geworden, in Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und schulischer Praxis. Kriterien für Unterrichtsqualität Die neuere Diskussion über »guten Religionsunterricht« lässt sich zusammenfassend in dem Vorschlag eines dreifachen Bestimmungshorizonts zur Qualität von Religionsunterricht zuspitzen (vgl. Schweitzer, 2020, S. 38–56). Demnach gilt:
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Religionsunterricht gestalten
Ȥ Religionsunterricht muss »guter Unterricht« sein, indem er den allgemeinen Kriterien für gelingenden Unterricht aus der Erziehungswissenschaft und der Pädagogischen Psychologie gerecht wird. Darin unterscheidet sich der Religionsunterricht nicht von anderen Fächern. Der Unterricht muss den Kompetenzerwerb unterstützen, kognitive Aktivierung erreichen, den Ansprüchen von Klassenführung und einer guten Lernatmosphäre entsprechen usw. Übergreifend muss der Anspruch religiöser Bildung zum Tragen kommen ( S. 26 ff.). Ȥ Religionsunterricht muss »guter Fachunterricht« sein. Er muss dem Stand der fachwissenschaftlichen Forschung gerecht werden (Wissenschaftsorientierung), was allerdings immer auch die didaktische Transformation fachwissenschaftlicher Inhalte einschließt. Ȥ Religionsunterricht muss sein besonderes Profil wahren, wie es aus dem speziellen Charakter der Inhalte erwächst, aber auch dem Verhältnis der LehrerInnen und SchülerInnen zu diesen Inhalten entspricht. Hier ist auch der persönliche Glaube berührt, der zugleich für den Unterricht unverfügbar bleibt. Der Religionsunterricht kann jedoch seinem Anspruch nicht gerecht werden, wenn Glaubensfragen kein Raum gegeben wird. Unterschiedliche Perspektiven auf Unterrichtsqualität Qualität im Religionsunterricht lässt sich nur mehrperspektivisch bestimmen. Wichtig ist dabei die für die gegenwärtige Diskussion zentrale Unterscheidung zwischen Produkt- und Prozessqualität (als weit verbreitetes Lehrbuch vgl. Helmke, 2015): Ȥ Unter Produktqualität werden die Wirkungen oder insgesamt die Wirksamkeit von Unterricht verstanden. Erfasst wird diese Wirksamkeit, etwa bei internationalen Schulleistungsuntersuchungen wie PISA, anhand von Kompetenzmodellen: Unterricht ist umso wirksamer, je stärker die Kompetenzausprägung bei den SchülerInnen ausfällt. Die Konzentration auf solche Wirkungen von Unterricht ist namentlich in der Religionspädagogik umstritten (Diskussion: vgl. Sajak, 2012; Schweitzer& Boschki, 2018). Für sich allein genommen bleibt der Blick auf die Outcomes zu eng, weil das Wie des Lernens übergangen wird, wenn nur auf die Effekte von Unterricht geschaut wird. Umgekehrt lässt sich aber auch nicht behaupten, es komme beim Religionsunterricht gar nicht darauf an, welche Kenntnisse und Fähigkeiten erworben werden. Schulischer Unterricht ist nur zu rechtfertigen, wenn die Kinder und Jugendlichen in ihren Kompetenzen gefördert werden. Welche Kompetenzen dabei für den Religionsunterricht bedeutsam sind, muss allerdings eigens diskutiert werden ( S. 33 f.).
»Guter Religionsunterricht«: Unterrichtsqualität normativ und empirisch
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Ȥ Prozessqualität bezieht sich auf die im Unterricht realisierten Gestaltungsformen. Mitunter wird darin die didaktisch überhaupt entscheidende Frage gesehen, weil hier die Art und Weise des Lernens in den Fokus rückt. Tatsächlich lassen sich Ziel und Weg pädagogisch nicht trennen – ein im Sinne der Produktqualität noch so wirksamer Unterricht kann pädagogisch problematisch sein, etwa weil er die SchülerInnen gängelt und auf diese Weise auch ihre Urteilsfähigkeit nicht stärkt. Doch sollte die Ausbildung von Urteilsfähigkeit nicht einfach nur behauptet werden. Vielmehr kann auch diese Fähigkeit als ein Produkt im Sinne der Produktqualität verstanden und untersucht werden. Religionspädagogisch sind demnach einseitige Bestimmungen von Unterrichtsqualität abzulehnen. Das gilt ebenso für eine Verabsolutierung von Produkt- wie von Prozessqualität. Dies hat Konsequenzen für die religionsdidaktische Forschung: In beiden Fällen müssen sich Untersuchungen zum Religionsunterricht der in der empirischen Bildungsforschung üblichen Methoden zur Feststellung von Unterrichtsqualität bedienen. Dadurch wird die Beurteilung von Unterrichtsqualität den Religionslehrkräften aber nicht einfach aus der Hand genommen. In der neueren Diskussion spielt forschendes Lernen oder, wie es im Falle von Lehrkräften heißen sollte, forschendes Unterrichten vielmehr eine wichtige Rolle (vgl. Pirner & Rothgangel, 2018). Dazu gehört auch die Beurteilung des eigenen Unterrichts.
Neben den Lehrkräften und der Wissenschaft wird heute auch den SchülerInnen ein eigenes, durchaus verlässliches Qualitätsurteil zugetraut (vgl. Göllner et al., 2016). Das gilt zwar nicht uneingeschränkt, eben weil Kinder und Jugendliche nicht mit allen zu berücksichtigenden pädagogischen, didaktischen und fachwissenschaftlichen Zusammenhängen vertraut sein können. Zurecht wird aber gerade bei der Unterrichtsgestaltung auf Aspekte verwiesen, die auch von Kindern und Jugendlichen in ihrer Qualität eingeschätzt werden können. Inzwischen gibt es zum Religionsunterricht eine ganze Anzahl von Befragungen sowie weiterreichende Versuche, die diversen Befunde zusammenfassend auszuwerten (Überblick: vgl. Schwarz, 2019). Auf solche Untersuchungen wurde im Sinne der Schülererwartungen an den Religionsunterricht bereits eingegangen ( S. 127 ff.). An dieser Stelle soll es nun darum gehen, wie SchülerInnen die Qualität des von ihnen tatsächlich erfahrenen Religionsunterrichts einschätzen.
Der Religionsunterricht im Urteil der SchülerInnen Da es den islamischen Religionsunterricht in Deutschland erst seit vergleichsweise kurzer Zeit gibt, ist es nicht erstaunlich, dass sich die meisten Schülerbefragungen bislang auf den evangelischen oder katholischen Religionsunterricht beziehen. Inzwischen gibt es aber zumindest erste empirische Befunde auch zum islamischen Religionsunterricht, die im Folgenden aufgenommen werden.
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Ein wichtiger Bezugspunkt für Schülerbefragungen zum Religionsunterricht sind bis heute die beiden Studien von Anton Bucher zum katholischen Religionsunterricht in Deutschland und in Österreich geblieben, da hier erstmals eine sehr große Anzahl von SchülerInnen differenziert nach Einschätzungen zum Religionsunterricht befragt wurde (Bucher, 1996, 2000). Die Befragung liegt allerdings mehr als 20 Jahre zurück, sodass die Befunde nicht mehr aktuell sind. Neuere Befragungen erbrachten jedoch kein grundsätzlich davon abweichendes Bild. Neuere Befragungen liegen vor allem für den evangelischen Religionsunterricht vor (Schwarz, 2019; Pohl-Patalong et al., 2017; mit Einbezug beider Konfessionen Schweitzer et al., 2018; Wissner et al., 2020). Da sich der evangelische und der katholische Religionsunterricht einander stark angenähert haben, wird häufig davon ausgegangen, dass solche Befunde nicht nur für den evangelischen Bereich gelten. Streng genommen müsste dies jedoch empirisch überprüft werden. Die entsprechenden Studien können hier nicht im Einzelnen beschrieben werden. Stattdessen sollen in verdichteter Form exemplarisch religionsdidaktisch zentrale Befunde vorgestellt werden: – Die SchülerInnen nehmen den Religionsunterricht insgesamt mehrheitlich positiv wahr und besuchen ihn gerne. Besonders ausgeprägt gilt dies für die Grundschule, während der Religionsunterricht in der Sekundarstufe I in der Wertschätzung der Jugendlichen zurückfällt. – Das Anforderungsniveau wird als tendenziell niedrig eingeschätzt, auch wenn das Urteil »zu niedrig« selten bleibt. Besonders in der Sekundarstufe I erschiene ein höheres Anforderungsniveau denkbar. – Im Religionsunterricht werden der Selbsteinschätzung der SchülerInnen zufolge wichtige Kompetenzen erworben, die sich sowohl auf religiöse als auch auf ethische Themen und Einstellungen beziehen. Defizite nehmen die SchülerInnen hinsichtlich der eigenen Auskunftsfähigkeit im Blick auf ihre Religions- und Konfessionszugehörigkeit wahr. – Besonders bei älteren Jugendlichen scheint der Religionsunterricht den Eindruck zu hinterlassen, dass er für kritische Einstellungen und Fragen nicht genügend offen ist, was zumindest teilweise den Wechsel in den Ethikunterricht erklärt.
Beim islamischen Religionsunterricht stand im Rahmen von wissenschaftlichen Evaluationen bislang die Frage nach der Akzeptanz und Integrationswirksamkeit im Fokus. Dabei ging es nicht um spezielle Untersuchungen zu den Wahrnehmungen der SchülerInnen, aber diese fließen in die Gesamtbefunde ein. In erster Linie sind die Studien aus Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachsen zu nennen, die im Auftrag des jeweiligen Bundeslandes durchgeführt wurden (vgl. Uslucan & Yalcin, 2018; Holzberger, 2014; Uslucan, 2011). Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchungen lassen sich so zusammenfassen: – Der islamische Religionsunterricht erfährt bei SchülerInnen und Eltern große Akzeptanz. – Die SchülerInnen geben an, dass im islamischen Religionsunterricht über Fragen gesprochen wird, die für sie wichtig sind. Sie wünschen sich auch Kenntnisse über andere Religionen.
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– Die Eltern geben an, dass ihre Kinder viel über den Islam gelernt haben und der Unterricht auch ihre Erwartungen in Bezug auf die Auseinandersetzung mit ethisch-moralischen Fragestellungen, Persönlichkeitsbildung und Toleranz erfüllt. Die Verbesserungsvorschläge der Eltern betreffen u. a. den Wunsch nach mehr Inhalt, besseren Unterrichtsmethoden und Ausweitung des islamischen Religionsunterrichts. Die Eltern haben Angst, dass fundamentalistische Lehrkräfte zum Einsatz kommen und dass der Unterricht von den SchülerInnen aufgrund von fehlenden Noten nicht ernst genug genommen werden könnte. – Die Lehrkräfte sind mit dem bisherigen Verlauf der Einführung des islamischen Religionsunterrichts insgesamt zufrieden, wünschen sich jedoch mehr Lehrmaterialien und Fortbildungen. Sie wünschen sich eine stärkere Zusammenarbeit mit dem Beirat für den islamischen Religionsunterricht und mehr Transparenz, was die Lehrerlaubnis des Beirats betrifft. – Die Schulleitungen, KlassenleiterInnen, die Lehrkräfte für Religion und Ethik, aber auch die ElternvertreterInnen beurteilen das Fach überwiegend positiv. Die positive Beurteilung gründet darin, dass durch den Unterricht eine fundierte Wissensvermittlung stattfindet, der Einfluss von Fundamentalisten verringert wird, Toleranz gefördert wird, die Identität der Kinder gestärkt wird und dass es für die Kinder Optionen der Diskussion von Problemen und der Klärung von Fragen außerhalb von Familie und Moschee gibt. – Das Fach ist integrationsfördernd und stärkt die SchülerInnen in verschiedenen Kompetenzbereichen, wie der Urteils- und Toleranzkompetenz. Verbesserungsvorschläge betreffen u. a. die pädagogische Qualifikation der Lehrkräfte, die Verfügbarkeit von Unterrichtsmaterialien sowie die organisatorischen Rahmenbedingungen.
Mit Befragungen der Lehrkräfte, SchülerInnen, Eltern etc. kann nicht erhoben werden, inwieweit der islamische Religionsunterricht den Ansprüchen an religiöse Bildung gerecht wird und wie Bildungs- bzw. Lehrpläne im Unterricht umgesetzt werden. Ebenfalls nicht erfasst werden die Qualität der Lehre, die theologische und pädagogische Professionalität der Lehrkräfte sowie viele weitere Aspekte eines guten Unterrichts. Diesen Fragen muss mithilfe empirischer Untersuchungen zum Unterricht nachgegangen werden. Besonders für ein junges Fach wie den islamischen Religionsunterricht ist die empirisch-wissenschaftliche Begleitung und Evaluation für Qualitätssicherung und Weiterentwicklung von entscheidender Bedeutung.
9.3 Ziele und Kompetenzen Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Religionsdidaktik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestand in der Erkenntnis, dass für jede Unterrichtsstunde und Unterrichtseinheit klare Zielangaben gemacht werden müssen. Zu einer solchen zielorientierten Planung gehört auch die Beschreibung von Teillernzielen, die für das Erreichen des Gesamtziels einer Stunde oder Einheit erforderlich sind. Auf diese Weise wurde ein Verständnis von Unterricht überwunden, das allein von den Inhalten ausging und nicht von den Lerneffekten bei den SchülerInnen.
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Vor allem seit den PISA-Studien, also seit ungefähr dem Beginn des 21. Jahrhunderts, spielt darüber hinaus die Kompetenzorientierung in der Fachdidaktik eine wichtige Rolle (vgl. Obst, 2015). Entscheidend ist in dieser Sicht, dass nicht einfach im Ausgang von den immer auch situativ bestimmten Bildungsplänen mögliche Lerneffekte erfasst werden sollen, sondern dass die von den SchülerInnen erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten oder eben Kompetenzen im Zentrum stehen. Zumindest in gewisser Weise setzt sich damit eine vom Lernen der Kinder und Jugendlichen ausgehende Betrachtungsweise, wie sie mit der Lernzieldiskussion begonnen hat, weiter fort. Didaktisch zu begrüßen ist die Einsicht, dass es beim Unterricht immer darauf ankommt, ob und wie Kinder und Jugendliche in ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten tatsächlich gefördert wurden. Dies kann als Ausdruck eines Bildungsanspruches verstanden werden, der im Sinne religiöser Bildung die Entwicklung von Person und Persönlichkeit zum entscheidenden Maßstab von Unterricht macht ( S. 26 ff.). Um die Ausprägung von Kompetenzen verlässlich abschätzen zu können, werden empirisch überprüfte Kompetenzmodelle benötigt (vgl. Klieme et al., 2007). Denn beim Kompetenzerwerb soll es von vornherein nicht einfach um Wunschvorstellungen gehen, die an der Realität des Unterrichts ebenso wie an den tatsächlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Kindern und Jugendlichen vorbeigehen. Der Versuch, solche Kompetenzmodelle für die verschiedenen Schulfächer und also auch für den Religionsunterricht zu entwickeln, hat interessante und kontroverse Diskussionen ausgelöst, gerade auch in der Religionsdidaktik: (vgl. Rothgangel & Fischer, 2004; Sajak, 2012). Es ist offenbar gar nicht einfach, genau zu sagen, welche Kompetenzen im Religionsunterricht erworben werden sollen. Die Bildungspläne für den Religionsunterricht sind zwar inzwischen fast durchweg kompetenzorientiert formuliert, aber nach wie vor greifen sie dabei nicht auf empirische Befunde zurück, so wie dies für die Kompetenzorientierung eigentlich erforderlich wäre. Die größte Ausstrahlung hat bislang ein Kompetenzmodell gewonnen, das von einer Forschungsgruppe um den Berliner Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner entwickelt und empirisch validiert wurde (vgl. Benner et al., 2011). Die Validierung fand allerdings nur im evangelischen Religionsunterricht statt, das Modell ist jedoch so allgemein gefasst, dass es sich auch für den katholischen und den islamischen Religionsunterricht eignet. Unterschieden werden hier drei Kompetenzbereiche: religionskundliches Wissen, religionsbezogene Deutungsfähigkeit sowie die Fähigkeit, an religiösen Zusammenhängen zu partizipieren (Partizipationsfähigkeit, womit nicht etwa die Teilnahme an Gottesdiensten oder Gebeten gemeint ist, sondern die informierte Teilhabe an gesellschaftlichen Diskursen, Auseinandersetzungen usw.). Der
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dritte Kompetenzbereich konnte allerdings empirisch nicht verlässlich erfasst werden. Im Anschluss an dieses allgemeine Modell religiöser Kompetenz wurden vor allem für den Bereich des interreligiösen Lernens spezifische Modelle entwickelt, bei denen insbesondere die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme eine wichtige Rolle spielt (vgl. Schambeck, 2013; Schweitzer et al., 2017). Kompetenzmodelle dieser Art sind für die Unterrichtsforschung unerlässlich ( S. 163 ff.), etwa wenn die Wirksamkeit einer bestimmten Form von Unterricht überprüft werden soll. Sie können auch eine orientierende Funktion im Blick auf Bildungspläne sowie für eine übergreifende Betrachtung des eigenen Unterrichts in einem Schuljahr oder einer Schulstufe übernehmen. Bei der Planung einzelner Unterrichtsstunden oder -einheiten stellt sich allerdings das Problem, dass Kompetenzen kaum in einer einzelnen Unterrichtsstunde erworben werden können. Die Aussage etwa, in einer Stunde solle soziale Kompetenz erworben werden, wäre wenig sinnvoll. Eine solche Kompetenz kann nur über längere Zeiträume hinweg entwickelt werden. Einzelne Stunden können dazu beitragen, aber eben nicht so, dass die Kompetenz am Ende der Stunde erreicht wäre. Insofern bleibt die Aufgabe, für jede Unterrichtsstunde begrenzte Lernziele und Teillernziele auszuweisen, auch unter den Voraussetzungen der Kompetenzorientierung, bestehen. Mitunter wird auch von »kompetenzorientiertem Unterrichten« gesprochen und von einem »kompetenzorientierten Religionsunterricht«. Das ist insofern irreführend, als die Kompetenzorientierung nicht nur für eine bestimmte Form von Unterricht gelten soll, sondern für allen Unterricht. Kompetenzorientierung kann nur bedeuten, dass nunmehr mit größerer Sorgfalt auf die im Unterricht zu erwerbenden und (nicht) erworbenen Kompetenzen geachtet wird. Auch die ebenfalls in der Literatur zu findende Auffassung, dass unter Voraussetzung der Kompetenzorientierung Religionsunterricht immer von sog. Anforderungssituationen ausgehen müsse, kann nicht überzeugen. Es kann durchaus sinnvoll sein, im Religionsunterricht mit solchen Anforderungssituationen zu arbeiten, etwa indem – so ein berühmt gewordenes Beispiel – den SchülerInnen die Aufgabe gestellt wird, die Ausgestaltung von Todesanzeigen in der Tageszeitung und die dabei verwendeten Symbole zu deuten, aber nicht alle Inhalte des Religionsunterrichts lassen sich sinnvoll in die Gestalt von Anforderungssituationen übersetzen. Die dazu berichteten Beispiele greifen dafür oft auf sich rasch abnutzende Situationen zurück (»Stell dir vor, eine Austauschschülerin fragt dich …«). Zudem fügen sich etwa poetische Texte wie die Psalmen oder auch Narrative nicht in ein didaktisches Raster, bei dem die Kinder und Jugendlichen Probleme lösen sollen.
Die Kompetenzbeschreibungen in den Bildungsplänen fallen in aller Regel sehr knapp aus. Den Lehrkräften soll dadurch die Freiheit eröffnet werden, die Fähigkeiten und Fertigkeiten, deren Erwerb oder Unterstützung durch die Bildungspläne vorgeschrieben ist, auf verschiedenen Wegen zu erreichen. Dies ist prinzipiell zu begrüßen. Für noch wenig erfahrene Lehrkräfte liegt darin allerdings
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eine nicht zu unterschätzende Herausforderung, da ihnen die Bildungspläne nur wenig konkrete Hilfen an die Hand geben. In dieser Situation liegt es dann nahe, sich etwa an Schulbüchern oder publizierten Unterrichtsentwürfen zu orientieren, was aber nur nach sorgfältiger eigener Prüfung geschehen sollte ( S. 158).
9.4 Unterrichtsprinzipien Was sind Unterrichtsprinzipien? Unterrichtsprinzipien geben an, von welchen Grundsätzen eine erfolgreiche Unterrichtsgestaltung abhängig ist. Solche Prinzipien können übergreifend für alle Schulfächer beschrieben werden (vgl. Wiater, 2018). Grundlegend sind die drei Prinzipien von Erfahrungsorientierung, Subjektorientierung und Handlungsorientierung, aber darüber hinaus gibt es weitere Prinzipien wie etwa Anschaulichkeit, Individualisierung von Lernangeboten, Differenzierung usw. Aus der Pädagogischen Psychologie kommen die ebenfalls viel beachteten Prinzipien von kognitiver Aktivierung, positiver Lernatmosphäre und erfolgreicher Klassenführung (vgl. Kunter & Trautwein, 2013). Solche allgemeinen Prinzipien können dann im Blick auf bestimmte Fächer und deren Inhalte weiter konkretisiert werden. In diesem Sinne werden im »Handbuch Religionsdidaktik« (Kropač & Riegel, 2021) zehn »religionsdidaktische Lernformen« beschrieben. Die Lernformen beziehen sich dabei nicht auf den gesamten Religionsunterricht, sondern beispielsweise auf bestimmte Themen oder Unterrichtseinheiten (z. B. ethisches Lernen oder interreligiöses Lernen). Die im Folgenden dargestellten Unterrichtsprinzipien sind hingegen nicht nur bei bestimmten Themen wichtig, sondern für den Religionsunterricht insgesamt. Erfahrungsorientierung Der Erfahrungsbegriff hat in der Religionsdidaktik eine lange Geschichte. Er wurzelt in der Aufklärungspädagogik des 18. Jahrhunderts und gewinnt dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts zentrale Bedeutung. Dabei geht es zunächst um eine Kritik des herkömmlichen Religionsunterrichts, der an den Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen allzu oft vorbeigehe und dessen Inhalte deshalb für die Lernenden kaum eine wirkliche Bedeutung gewinnen könne. Weiterreichend steht hinter dieser Kritik die theologische Grundanforderung, dass sich der Religionsunterricht wie auch die Theologie den Herausforderungen durch die Moderne stellen müssen. Der »moderne Mensch«, wie dann auch formuliert wurde, finde nur überzeugend, was sich anhand der eigenen Erfahrungen verifizieren lässt.
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In der neueren didaktischen Diskussion sind diese weiterreichenden Hintergründe in der Regel nicht im Blick. Es geht vielmehr um unterrichtspraktische Möglichkeiten, wie der Unterricht Verbindungen zwischen bestimmten Inhalten und der Erfahrungs- oder Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen sichtbar machen kann. Dabei spielen auch sprachliche Fragen eine wichtige Rolle. Die religiösen Überlieferungen begegnen Kindern und Jugendlichen in einer ihnen oft fremden Sprachgestalt. Darüber hinaus stammen sie aus weit zurückliegenden Zeiten. All dies macht es notwendig, sie im Horizont heutiger Erfahrungen neu zu erschließen. Darauf zielt deshalb auch die Elementarisierungsdimension der elementaren Erfahrungen ( S. 140 ff.). In der Theologie gilt die Forderung, die Texte der religiösen Überlieferung – sei es in der Bibel oder im Koran und Hadith – mit höchstmöglicher Sorgfalt sowie in Anwendung aller verfügbaren methodischen Zugänge auszulegen. Religionsdidaktisch lässt sich ähnlich im Blick auf die heutigen Erfahrungswelten fordern, dass diese Zusammenhänge eine nicht weniger sorgfältige Wahrnehmung verdienen. Dabei ist die Religionsdidaktik auch auf andere wissenschaftliche Disziplinen wie etwa die Kinder- und Jugendforschung, die Soziologie und Psychologie sowie religions- und kulturwissenschaftliche Zugangsweisen angewiesen. Subjektorientierung Dieses Unterrichtsprinzip ist erst in den letzten Jahrzehnten bedeutsam geworden, zumindest vom Begriff her. Es bezieht sich auf ein sog. Grundparadox der Pädagogik (vgl. Benner, 1987): Alle Pädagogik dient der Subjektwerdung von Kindern und Jugendlichen und nimmt sie deshalb als Subjekte wahr. Damit orientiert sich die Pädagogik an einem Zustand, der erst in der Zukunft erreichbar ist. Zugleich kann eine Subjektwerdung nur dadurch erreicht werden, dass die Pädagogik die Kinder und Jugendlichen immer schon als Subjekte anerkennt. Als paradox ist diese Verhältnisbestimmung insofern zu bezeichnen, als etwas vorausgesetzt werden soll, was zugleich ausdrücklich nicht oder jedenfalls noch nicht gegeben ist.
Eine solche Sicht von Kindern und Jugendlichen als Subjekten, die sie immer schon sind und zu denen sie doch erst noch werden müssen, ist auch theologisch zu bejahen. In den schöpfungstheologischen Sichtweisen in Islam und Christentum lässt sich als gemeinsamer Kern eine mit dem Menschsein als solchem verbundene besondere Stellung in der Welt identifizieren. Im Christentum wird hier von der Gottebenbildlichkeit gesprochen, die dem Menschen in unverlierbarer Weise geschenkt ist und die deshalb auch schon Kindern von Anfang an zu eigen
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ist. Aus muslimischer Perspektive wird von einer besonderen Beauftragung des Menschen im Sinne einer stellvertretenden Verantwortung ausgegangen, die auf eine mit der Schöpfung verbundene göttliche Beauftragung zurückgeht. In beiden Fällen kann insofern von einer grundlegenden Anerkennung von Kindern und Jugendlichen als selbstverantwortlichen Subjekten, die sie immer schon sind, gesprochen werden, wie auch von einem Auftrag, dass Kinder und Jugendliche immer mehr zu Subjekten werden sollen und damit ihrer Bestimmung als Menschen gerecht werden können. Im Unterricht ist die Subjektorientierung in verschiedenen Hinsichten zu konkretisieren. Es geht zunächst um die Beziehung zwischen der Religionslehrkraft auf der einen und den SchülerInnen auf der anderen Seite, die durch partnerschaftliche wechselseitige Anerkennung bestimmt sein sollte (vgl. Boschki, 2017). Weiter zu nennen ist die Offenheit des Religionsunterrichts für die Sichtweisen und Deutungsformen, die von den Kindern und Jugendlichen eingebracht werden. Und nicht zuletzt sind auch die Ziele des Religionsunterrichts in den Blick zu nehmen: Diese Ziele müssen einen ausdrücklichen Beitrag zur Selbstwerdung von Kindern und Jugendlichen einschließen, etwa im Sinne der grundsätzlichen Orientierung des Religionsunterrichts an religiöser Mündigkeit ( S. 26 ff.). Handlungsorientierung Anders als bei den beiden zuerst aufgenommenen Unterrichtsprinzipien bezieht sich die Handlungsorientierung vor allem auf die methodische Gestaltung. Dem Prinzip der Handlungsorientierung zufolge soll der Unterricht durchweg so angelegt sein, dass sich Lernen im Rahmen eines eigenen Handelns oder Tuns der SchülerInnen vollziehen kann (vgl. Riegger, 2019). Forderungen dieser Art finden sich schon in der gesamten pädagogischen Tradition, aber die herkömmliche Gestalt von Schule – man denke nur an die in vielen Ländern bis ins 20. Jahrhundert hinein am Boden festgeschraubten Schulbänke – ließ ein aktives Lernen bestenfalls als geistiges Tun zu. Erst mit den reformpädagogischen Aufbrüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und besonders der von John Dewey geprägten Formel »Lernen durch Handeln« (learning by doing) konnte sich eine veränderte Unterrichtsgestaltung stärker durchsetzen. In Fächern wie dem Religionsunterricht, die von einer textlichen Überlieferung ausgehen und mitunter überhaupt als Auslegung von Quellen konzipiert wurden, besteht immer die Gefahr, dass die Gestalt von Unterricht hinter den Anforderungen der Handlungsorientierung zurückbleibt. Deshalb ist in diesem Falle ganz besonders nach aktivierenden Formen der Unterrichtsgestaltung zu fragen.
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9.5 Unterrichtsmethoden Darstellungen und Handbücher zu Unterrichtsmethoden entwickeln sich häufig zu Bestsellern. Das entspricht der Erwartung, dass ein breites Methodenrepertoire die wichtigste Voraussetzung für Unterrichtsqualität darstelle. Sicher ist es hilfreich, wenn Lehrkräfte sich bei den Unterrichtsmethoden gut auskennen und in dieser Hinsicht variabel sind. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass die Unterrichtsmethoden beispielsweise bei den von der Pädagogischen Psychologie gebotenen Qualitätsmerkmalen nicht genannt werden. Ähnlich werden in der Religionsdidaktik eher die Unterrichtsprinzipien und Lernformen in den Vordergrund gestellt und nicht einfach Methoden. Daran ist abzulesen, dass Methoden zwar im konkreten Unterricht durchaus bedeutsam sind, dass sich ihre jeweilige Bedeutung aber erst vom didaktischen Kontext her bestimmen lässt. Insofern bietet auch die Methodenliteratur nur begrenzt Unterstützung für die Qualitätssicherung. Keine Methode ist als solche gut – ihr Beitrag zu »gutem Unterricht« hängt davon ab, dass sie in einem angemessenen Zusammenhang mit den jeweils verfolgten Zielen steht, dass sie beispielsweise kognitive Aktivierung unterstützt, die Subjektorientierung stärkt usw. Das Angebot von Methoden für den Religionsunterricht ist breit und kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen dargestellt werden. Die bislang ausführlichste Darstellung bietet Manfred Riegger (2019), der zugleich großen Wert auf die lerntheoretischen Hintergründe der verschiedenen Methoden legt. Weite Verbreitung haben diverse Kompendien gefunden (Adam & Lachmann, 2010; Niehl & Thömmes, 2014).
9.6 Unterrichtsforschung als Grundlage der Unterrichtsplanung Die Forderung, dass Fachdidaktik empiriebasiert sein muss, ist noch vergleichsweise neu. Erst in den letzten Jahren konnte sie sich, im Zusammenhang des Ausbaus der empirischen Bildungsforschung, wirklich durchsetzen. Früher berief man sich hingegen vielfach auf (in der Regel) »gute Erfahrungen« mit einem bestimmten Vorgehen oder einer didaktischen Strategie. Angesichts der Fortschritte in der empirischen Unterrichtsforschung kann eine solche Sichtweise nicht mehr überzeugen. In Anbetracht des bislang erreichten Standes der empirischen Forschung zum Religionsunterricht ist eine empiriebasierte Religionsdidaktik allerdings nur in Ansätzen erreichbar ( S. 163 ff.). Zu sehr vielen Aspekten von Religionsunterricht stehen noch keine empirischen Befunde zur Verfügung.
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Das zeigt sich schon bei sehr einfachen Fragen, die bei der Unterrichtsplanung beantwortet werden müssen: Wie soll eine Unterrichtstunde am besten beginnen? Welche religionsdidaktische Strategie etwa im Sinne der religionsdidaktischen Ansätze ( S. 39 ff.) ist bei welchem Thema am wirksamsten? Welche Möglichkeiten gibt es, ein bestimmtes Ziel oder eine bestimmte Kompetenz wie beispielsweise das vertiefte Verstehen eines Textes aus Koran oder Bibel am besten zu erreichen? Auf welche Weise lässt sich der Lernerfolg und der Kompetenzerwerb verlässlich überprüfen? Wie oft soll ein Methodenwechsel stattfinden?
Nur wenige dieser Fragen werden bislang in Untersuchungen zum Religionsunterricht genauer betrachtet, und zudem reichen einzelne Studien zu einer bestimmten Frage nicht aus, wenn wirklich eine verallgemeinerbare Antwort gefunden werden soll. Wie auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen steht für die Religionsdidaktik sowie die Fachdidaktik allgemein vielmehr zu erwarten, dass erst wiederholte Untersuchungen zeigen können, ob ein bestimmter Befund vielleicht doch auf Einzelfälle beschränkt ist oder ob er sich wirklich verallgemeinern lässt. Trotz oder auch wegen dieser Einschränkungen ist es umso wichtiger, die in der Religionsdidaktik verfügbaren empirischen Erkenntnisse tatsächlich für die Unterrichtsgestaltung zu nutzen. Gerade zum interreligiösen Lernen etwa, das für den vorliegenden Band besonders wichtig ist, sind verschiedene Untersuchungen verfügbar, durch die auch neue didaktische Herausforderungen identifiziert werden. Zum Beispiel warf die Studie »Interreligiöses Lernen durch Perspektivenübernahme« (Schweitzer et al., 2017) die Frage auf, wie genau subjektorientierter Religionsunterricht ausgestaltet werden muss. Nicht jede Form der beabsichtigten Subjektorientierung ist in der Praxis erfolgreich. Zudem stellen sich weiterreichende Fragen: Kann es auch eine zu stark ausgeprägte Subjektorientierung geben? Welche Form von Subjektorientierung lässt welche Lernergebnisse erwarten? Eine andere aktuelle Studie (Unser, 2019) verweist auf einen – kontraproduktiven – Zusammenhang zwischen interreligiösem Lernen und sozialer Ungleichheit, weil die bislang üblichen Ansätze zum interreligiösen Lernen offenbar eher auf Schülerinnen mit ausgeprägter religiöser Sozialisation und bildungsnahem Elternhaus abgestimmt scheinen. Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, bei der eigenen Unterrichtsplanung Erkenntnisse aus der empirischen Unterrichtsforschung einzubeziehen. Bei der Vorbereitung von Religionsunterricht müssen deshalb entsprechende Publikationen sorgfältig geprüft werden. Darüber hinaus gehört eine Vertrautheit mit der empirischen Forschung zum Religionsunterricht inzwischen zu den für die Aus- und Fortbildung wesentlichen Zielen. Nicht zuletzt schließt dies auch die Fähigkeit ein, entsprechende Studien kritisch beurteilen zu können ( S. 163 ff.).
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9.7 Religionsbücher und Unterrichtsmaterialien Im evangelischen und katholischen Religionsunterricht spielen Schulbücher in der Regel nicht (mehr) die Rolle eines Leitmediums. Vielfach werden eigene Materialien eingesetzt, bei deren Zusammenstellung allerdings auf Auszüge etwa aus Religionsbüchern zurückgegriffen wird. Für den islamischen Religionsunterricht gibt es (noch) sehr wenige Lehrbücher und Materialien. Durch die kompetenzorientierten Bildungspläne, die oft kaum mehr Hinweise für die Unterrichtsgestaltung enthalten, wächst die Bedeutung von Religionsbüchern wieder an. Sie bieten gleichsam eine anschauliche Darstellung der Entfaltung von Themen, wie sie die heutigen Bildungspläne vermissen lassen. Diese Entwicklung ist insofern nicht unproblematisch, als Religionsbücher in Deutschland zwar einem Zulassungsverfahren unterworfen sind, gleichwohl aber stärker auf Einzelpersonen zurückgehen als die Bildungspläne. Die Religionsbücher weisen eine recht unterschiedliche Qualität auf. In religionsdidaktischer Hinsicht sind sie oft kritisch zu beurteilen. Das gilt für die ihnen zugrunde liegende Theologie, die nicht immer überzeugt und auch nicht in jedem Falle mit der wissenschaftlichen Entwicklung Schritt hält, betrifft aber auch die jeweils verwendeten Bilder und Texte. Das lässt sich besonders leicht am Beispiel des Themas Judentum illustrieren, bei dem lange Zeit nur Bilder zum orthodoxen Judentum eingesetzt wurden. Auf diese Weise entstehen Vorstellungen vom Judentum, die kaum der Realität entsprechen ( S. 219 ff.). Solche Beobachtungen machen exemplarisch deutlich, dass Religionsbücher und andere Unterrichtsmaterialien fachdidaktisch sorgfältig beurteilt werden müssen. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Einsatz eines bestimmten Religionsbuchs »guten Unterricht« garantiert. Das gilt schon deshalb, weil ein Medium nie allein für die Unterrichtsqualität entscheidend ist, sondern immer erst der Umgang mit diesem Medium. Im evangelischen Bereich am weitesten verbreitet ist das Kursbuch Religion (Verlage: Diesterweg und Calwer), das seit knapp 50 Jahren in zahlreichen Auflagen und Neubearbeitungen sowie für alle Schulstufen angeboten wird. Daneben ist u. a. auf die Reihe Religionsbuch (Cornelsen) zu verweisen. Im katholischen Bereich sind besonders Mittendrin (Cornelsen) und Leben gestalten (Klett) zu nennen. Auch für den islamischen Religionsunterricht sind einige Schulbuchreihen zu nennen. Religionsdidaktisch am besten gelungen ist die Reihe Saphir (Cornelsen). Daneben sind noch die Reihen Bismillah (Schroedel), EinBlick in den Islam (Anadolu) und Islamstunde (Oldenbourg) zu nennen.
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Religionsunterricht gestalten
9.8 Selbstreflexion, Feedback und Evaluation Zur Professionalität von Lehrkräften gehört konstitutiv die Fähigkeit, das eigene Unterrichten kritisch zu reflektieren ( S. 130 ff.). Damit ist nicht nur ein allgemeines Nachdenken über den Unterricht gemeint (Wie ist es heute gelaufen? Haben die SchülerInnen mitgemacht?). Vielmehr sollten die Möglichkeiten der Unterrichtsanalyse dafür genutzt werden – im Sinne eines forschenden Unterrichtens. Dafür werden in der schulpädagogischen Literatur verschiedene Modelle beschrieben (vgl. etwa Kiel, 2018; Meyer & Jansen, 2016), die jeweils Kategorien für die Selbstbeobachtung und Selbsteinschätzung bieten. Für ein spezifisch religionsdidaktisches Modell wird auf die oben dargestellten Dimensionen der Elementarisierung zurückgegriffen (vgl. Schweitzer, 2020, S. 163). Dabei stellen sich dann beispielsweise folgende Fragen: Welche elementaren Strukturen waren in der Stunde für die SchülerInnen wahrnehmbar? Woran war das abzulesen? Wie hat der Unterricht den eigenen Deutungsweisen der SchülerInnen Raum gegeben? Ist das als ausreichend zu beurteilen? Welche elementaren Erfahrungen wurden in der Unterrichtsstunde angesprochen? Usw. In vielen pädagogischen Arbeitsfeldern wird bei solchen Fragen auch das Feedback durch die Teilnehmenden bzw. die SchülerInnen einbezogen, was inzwischen als Qualitätsmerkmal gilt. Auch Kinder und Jugendliche finden dies offenbar sehr gut, weil sie sich partnerschaftlich ernst genommen und mit ihren Bedürfnissen und Interessen wahrgenommen fühlen. Zugleich werden sie, indem sie um Feedback gebeten werden, dazu angeleitet, über ihr Lernen nachzudenken (Was hilft mir beim Lernen?). Für den schulischen Bereich gibt es inzwischen Tools, mit deren Hilfe sich Feedback digital einholen lässt (feedbackschule.de). Dabei werden auch psychologisch-lerntheoretische Kriterien berücksichtigt. Evaluation wird von Lehrkräften häufig als fremdbestimmt wahrgenommen. Das ergibt sich aus Erfahrungen mit staatlich-schulaufsichtlichen Maßnahmen, die heute häufig als Evaluation bezeichnet werden. Von solchen, auch religionsdidaktisch zu problematisierenden Formen der Evaluation, denen Schulen und Lehrkräfte »unterzogen« werden, sind pädagogisch sinnvolle Formen der Selbstevaluation von Schule und Unterricht zu unterscheiden. Dabei muss es vor allem darum gehen, auch mithilfe der bereits genannten Möglichkeiten von Unterrichtsanalyse und Feedback Anregungen für die Weiterentwicklung von Schule und Unterricht zu gewinnen. Die beste Voraussetzung dafür ist eine in Schulen allerdings nur über längere Zeiträume hinweg zu erreichende Kultur der kritischen Selbstreflexion, die möglichst gemeinsam, etwa in Gruppen von Lehrkräften in produktive Impulse und neue Ideen für den Unterricht über-
Selbstreflexion, Feedback und Evaluation
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führt werden kann. Dabei geht es nicht um Schulaufsicht oder Fremdbewertung, sondern beispielsweise um die Freude daran, immer mal wieder etwas Neues auszuprobieren und sich mit KollegInnen darüber auszutauschen.
9.9 Unterrichtsentwicklung als weiterer Horizont Die Aufgabe der Unterrichtsgestaltung bezieht sich im Alltag zunächst auf einzelne Unterrichtsstunden und -einheiten. Dass dabei weitere Horizonte mit im Spiel sind, muss eigens bewusst gemacht werden. Diese Horizonte betreffen sowohl den Religionsunterricht insgesamt als auch die individuelle Situation jeder einzelnen Lehrkraft. Den Religionsunterricht entwickeln und verbessern Schule und Unterricht sind nicht einfach Konstanten, sondern müssen ständig in Bewegung bleiben. Sie müssen mit dem Wandel der Gesellschaft und ganz konkret mit Veränderungen im Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen Schritt halten. Ähnlich gehen Veränderungsimpulse auch von den Wissenschaften aus, auf die sich die Schulfächer beziehen. Und nicht zuletzt kommen aus der Politik immer wieder neue Anforderungen. In den letzten Jahren ist dabei insbesondere an die mit den internationalen Schulleistungsvergleichsuntersuchungen verbundene Umstellung auf Kompetenzorientierung zu denken. Ähnliches gilt für die immer wieder aufflackernde kontroverse Diskussion über den Sinn besonders eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts, dessen Konfessionalität vielfach nicht mehr einzuleuchten scheint. In dieser Hinsicht geht es bei der Entwicklungsfähigkeit von Religionsunterricht immer auch um dessen Legitimation nach außen. Zugleich erwächst die Forderung nach einer Weiterentwicklung und Verbesserung von Religionsunterricht aber auch gleichsam von innen her, beispielsweise aus den Befunden zur Wahrnehmung des Unterrichts durch die SchülerInnen. Wenn Jugendliche beispielsweise den Religionsunterricht – im Unterschied zum Ethikunterricht – so wahrnehmen, dass er für die gerade im Jugendalter wichtigen kritischen und zweifelnden Fragen keinen Raum bietet (vgl. Schweitzer et al., 2018), dann liegt darin – unabhängig davon, ob diese Wahrnehmung zutrifft oder nicht – eine grundlegende religionspädagogische Herausforderung. Denn der Religionsunterricht soll seinem Selbstverständnis nach ein Angebot für alle SchülerInnen sein und dem Anspruch religiöser Bildung gemäß gerade auch religionskritische Fragen aufnehmen.
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Religionsunterricht gestalten
Religionsdidaktisch gesehen ist es wichtig, dass mit der Perspektive von Unterrichtsentwicklung und-Verbesserung ein übergreifender Horizont verfügbar wird, der es ermöglicht, einzelne Erwartungen an den Unterricht nicht nur isoliert zu betrachten. Sinnvoll lassen sich solche Einzelerwartungen nur integrieren, wenn eine übergreifende Perspektive für den eigenen Unterricht verfügbar ist. Es gehört daher zu den Aufgaben der Aus- und Fortbildung, Möglichkeiten dafür zu schaffen, solche Perspektiven kennenzulernen. Die Aufgabe der Unterrichtsentwicklung im berufsbiografischen Zusammenhang Der LehrerInberuf gehört zu den Tätigkeiten, die besonders von Burn-outEffekten bedroht sind. Immer wieder muss, tagein tagaus, dieselbe Tätigkeit ausgeübt werden, mit immer wieder wechselnden Schülergruppen und vielfach ohne klar erkennbare Erfolge. Das kann ermüdend wirken. Umfragen bei ReligionslehrerInnen zufolge sind Burn-out-Effekte gerade in dieser Berufsgruppe zwar erfreulich wenig verbreitet (vgl. Feige & Tzscheetzsch, 2005), aber auch Religionslehrkräfte unterliegen entsprechenden Risiken. Eine wichtige Möglichkeit, Ermüdungs- und Erschöpfungseffekten vorzubeugen, liegt in der Orientierung an weiterreichenden Perspektiven, die dem Handeln im Alltag Sinn geben oder einen solchen Sinn wahrnehmbar machen. So gesehen bietet die Perspektive der Unterrichtsentwicklung einen Horizont, der für die individuelle Arbeitssituation von Lehrkräften sinnstiftend wirken kann. Sie bietet Möglichkeiten, alltägliche Aufgaben in ihrer Bedeutung für einen Gesamtzusammenhang einzuordnen, und ermutigt dazu, immer mal wieder etwas Neues auszuprobieren und zu sehen, was dies für den eigenen Unterricht bedeutet. Unterrichtsentwicklung sollte also nicht nur als ein von außen kommender Anspruch oder gar als technologisch verfasstes Unternehmen verstanden werden. Gerade eine spielerische Haltung, die für überraschende Erfahrungen offen ist (Nicht alles wird gelingen!), ist der Unterrichtsentwicklung angemessen. Zum Weiterlesen Schweitzer, Friedrich, Haen, Sara & Krimmer, Evelyn (2019). Elementarisierung 2.0. Religionsunterricht vorbereiten nach dem Elementarisierungsmodell. Göttingen: V&R. Schweitzer, Friedrich (2020). Religion noch besser unterrichten. Qualität und Qualitätsentwicklung im RU. Göttingen: V&R. Riegger, Manfred (2019). Handlungsorientierte Religionsdidaktik. Teil 1: Haltungen, Wirkungen, Kommunikation; Teil 2: Unterrichtsmethoden. 2 Bde. Stuttgart: Kohl hammer.
Unterrichtsentwicklung als weiterer Horizont
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Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Interreligiös-kooperativer Religionsunterricht ist nicht nur eine Frage auf der Modellebene, sondern betrifft nicht zuletzt die konkrete Unterrichtsgestaltung im Alltag. Auch dabei gilt, dass es gut und weniger gut gelingenden Unterricht gibt. Ȥ Wissenschaftliche Begleitung sowie der Einbezug von Möglichkeiten der empi rischen Unterrichtsforschung sind für innovative religionsdidaktische Versuche wie den interreligiös-kooperativen Unterricht unverzichtbar. Deshalb sollte die religionspädagogische Unterrichtsforschung dringend weiter ausgebaut werden. Ȥ Unterrichtsentwicklung sollte nicht nur als eine fremdbestimmte Anforderung wahrgenommen werden, sondern als ein persönliches Anliegen jeder Reli gionslehrkraft. Ohne die Lust, mal wieder etwas Neues auszuprobieren, verliert der Unterricht seine Lebendigkeit. Ȥ Auch für eine interreligiös-kooperative Didaktik bieten Formen des Feedback und einer innerschulischen Kultur von Evaluation und Selbstreflexion wichtige Möglichkeiten.
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Religionsunterricht gestalten
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Empirische Unterrichtsforschung als Voraus setzung für »guten Religionsunterricht«?
Herkömmlicherweise wurde die empirische Unterrichtsforschung in einer Einführung in die Religionsdidaktik nicht berücksichtigt. Das Thema »Forschung« erschien für Studierende kaum relevant. Darin spiegelt sich ein überholtes Verständnis von Didaktik: Unterrichtsforschung gilt heute als eine entscheidende Voraussetzung für gelingenden Unterricht, weil ihre Befunde ein wissenschaftlich verantwortetes Unterrichten allererst erlauben. Deshalb gehört eine gewisse Vertrautheit mit solchen Befunden zur Professionalität jeder Religionslehrkraft. Für alle Fächer setzt sich immer mehr die Auffassung durch, dass die Fachdidaktik eine forschende Disziplin werden muss und dass auch in der Praxis ein »forschendes Unterrichten« ( S. 130 ff.) anzustreben ist.
10.1 Religionsdidaktik als angewandte Fachwissenschaft und als forschende Disziplin Lange Zeit wurde die Fachdidaktik lediglich als eine Art Transportband für fachwissenschaftliche Inhalte verstanden. Sie sollte Methoden liefern, mit deren Hilfe ein solcher Transport ins Klassenzimmer gelingen konnte. In der christlichen Religionsdidaktik hatte die Formulierung »von der Exegese zur Katechese« geradezu sprichwörtlichen Charakter. Auch im muslimischen Bereich gehen manche Laien heute noch davon aus, dass im Unterricht einfach Glaubensinhalte vermittelt werden sollen, gleichsam als Theologie auf kindgerechtem Niveau. Im Unterschied zu solchen Vorstellungen ist Wissenschaftsorientierung in der Didaktik in einem doppelten Sinne zu verstehen: Zum einen muss sich der Religionsunterricht auf die jeweils neuesten Erkenntnisse in Theologie und anderen Wissenschaften beziehen, zum anderen braucht er ein eigenes Fundament in der religionsdidaktischen Forschung (vgl. bspw. Englert et al., 2014). Dabei wird vor allem an die empirische Erforschung von Unterrichtsprozessen sowie deren Wirksamkeit gedacht. Darüber hinaus sind für eine wissenschaft-
Religionsdidaktik als angewandte Fachwissenschaft und als forschende Disziplin
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lich fundierte Religionsdidaktik weitere Formen der Forschung erforderlich – historische, analytische, international-vergleichende sowie evaluative Ansätze (vgl. Schweitzer, 2019c, S. 284–286; s. auch Schröder, 2012; Boschki, 2017b). (Religions-)Didaktische Forschung lässt sich allerdings nicht einfach von den jeweils verwendeten Methoden her begreifen. Statistische Methoden beispielsweise werden auch etwa in der historischen Forschung eingesetzt, und internationale Vergleiche werden in vielen Bereichen genutzt, die deshalb nicht unbedingt auch schon als international-vergleichende Forschung anzusprechen sind. Riegel & Rothgangel (2020, S. 349) sprechen deshalb von »fachdidaktischen Forschungsformaten«. Gebräuchlicher ist aber die Rede von unterschiedlichen Forschungsansätzen oder auch einfach von verschiedenen wissenschaftlichen Zugangsweisen. Entscheidend ist, welche Fragestellungen bei einer religionsdidaktischen Untersuchung jeweils verfolgt werden sollen. Die Wahl der Methoden muss der Fragestellung entsprechen. Das ist keineswegs immer der Fall, und manches, was in der Öffentlichkeit als solider wissenschaftlicher Befund angesehen wird, erweist sich bei genauerer Betrachtung als wenig fundiert. Deshalb gehört zur religionspädagogischen Ausbildung auch die Fähigkeit, kritisch mit Befunden aus der empirischen Forschung umzugehen.
10.2 Zur Bedeutung empirisch-religionsdidaktischer Forschung für den Unterricht Wenn sich die Fachdidaktiken nunmehr um eine empirische Fundierung bemühen, so steht dahinter mitunter die Zielvorstellung eines evidenzbasierten Unterrichtens. Ähnlich wie sich die Medizin heute an der empirisch belegten Wirksamkeit von Behandlungsmethoden orientiert, müsse auch der Unterrichtende eine empirisch fundierte Auswahl didaktischer Strategien treffen. Die Vorstellung einer solchen Evidenzbasierung für den Unterricht ist aber aus mindestens zwei Gründen problematisch: – Unterricht ist ein überkomplexes Geschehen, das von sehr vielen Einflüssen bestimmt wird: einer immer heterogeneren Schülerschaft, situativen Faktoren (bestimmte Tagesereignisse, Erfahrungen im persönlichen Bereich, Begegnungen in der Schule usw.), kommunikativen Verhältnissen in der Lerngruppe etc. Unter dieser Voraussetzung ist es kaum denkbar, dass sich eine bestimmte didaktische Einzelentscheidung (Lasse ich einen Text von den SchülerInnen lesen oder trage ich ihn selbst vor?) aus einer gesicherten Befundlage heraus treffen lässt. – Speziell zum Religionsunterricht gibt es bislang nur eine sehr begrenzte Anzahl empirischer Untersuchungen (Überblick: vgl. Schweitzer & Boschki, 2018; Schambeck & Riegel, 2018). Vieles wurde noch nicht empirisch untersucht. Zudem wäre es im Sinne der Evidenzbasierung erforderlich, dass Forschungsergebnisse mehrfach repliziert werden, weil im Einzelfall immer zufällige Faktoren die Ergebnisse verzerren können. Replikationsstudien gibt es in der Religionsdidaktik aber bislang so gut wie gar nicht.
Die grundsätzliche Notwendigkeit, empirische Befunde bei der Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen, ist dadurch aber keineswegs widerlegt. Empiri-
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Empirische Unterrichtsforschung als Voraussetzung für »guten Religionsunterricht«?
sche Erkenntnisse sollten dort, wo sie verfügbar sind, auch genutzt werden. Zu hoffen steht, dass in Zukunft zumindest schrittweise mehr Erkenntnisse zum Religionsunterricht verfügbar werden. Auf jeden Fall muss es darum gehen, die jeweils am besten geeignete didaktische Strategie zu wählen und sich dabei an den verfügbaren Erkenntnissen zu orientieren. Dabei handelt es sich um eine Aufgabe der professionellen Unterrichtsgestaltung, weshalb die Frage nach empirischen Befunden auch etwa in das Elementarisierungsmodell aufgenommen wurde ( S. 140 ff.). Ein gutes Beispiel aus dem christlichen Bereich, das auch für den islamischen Religionsunterricht von Interesse sein kann, stellen Untersuchungen zum Gleichnisverständnis oder, allgemeiner formuliert, zum Verständnis metaphorischer Sprache dar. Metaphorische Ausdrucksweisen, die mit Symbolen und übertragenen Bedeutungen operieren, werden mitunter auch als Sprache der Religion und der Religionen bezeichnet. Die in den letzten 30 Jahren dazu verfügbar gewordenen Untersuchungen (besonders im Anschluss an Bucher, 1990, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit ihm, u. a. Pfeifer, 2002), sensibilisieren für die entwicklungsbedingten Voraussetzungen der Rezeption sprachlicher Ausdrucksformen. Die Kenntnis dieser Befunde als Lernvoraussetzungen kann dabei helfen, diese Voraussetzungen bei der Auswahl von Inhalten oder Themen gezielt zu berücksichtigen sowie kindgemäße Arbeitsformen zu finden.
10.3 Schwerpunkte empirisch-religionsdidaktischer Forschung: Lernvoraussetzungen – Deutungsweisen – Kompetenzerwerb Seit mehr als 100 Jahren gibt es in Deutschland empirisch-religionspädagogische Untersuchungen zu Religion im Kindes- und Jugendalter. Vielfach standen dabei entwicklungs- und religionspsychologische Untersuchungen Pate. Aber erst ab etwa den 1960er Jahren, als empirische Untersuchungen auch in der Erziehungswissenschaft geläufiger wurden, fanden empirisch gewonnene Befunde in der Religionsdidaktik allgemeine Beachtung. Wie das Beispiel der in der Religionspädagogik stark beachteten Shell-Jugendstudien zeigt (zuletzt Shell Deutschland Holding 2019), ging es dabei vielfach um die Übernahme von Befunden, die nicht in der Religionspädagogik selbst gewonnen wurden. Die Berücksichtigung religionsbezogener Fragestellungen in der allgemeinen Jugendforschung ist aber fast durchweg unbefriedigend. Zumeist wird von vornherein davon ausgegangen, dass Religion für heutige Jugendliche keine Rolle mehr spiele und deshalb auch nicht genauer untersucht werden müsse. Immer mehr sah sich die Religionspädagogik daher herausgefordert, mit eigenen Studien die durch solche Vorurteile erzeugte Forschungslücke zu füllen. Seit etwa 20 Jahren wurden dann größere religionspädagogische Jugendstudien durchgeführt (vgl. Ziebertz et al.,
Schwerpunkte empirisch-religionsdidaktischer Forschung
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2003; zuletzt Schweitzer et al., 2018; Wissner et al., 2020). Ungefähr zur selben Zeit begann die Kindertheologie, sich um genauere Einblicke in die Religiosität von Kindern zu bemühen. Empirisch-methodologisch geurteilt sind diese Einblicke allerdings nicht immer als Forschungsbefunde zu bezeichnen, sondern eher als Alltagsbeobachtungen (vgl. die Beiträge in den Jahrbüchern für Kinder- und Jugendtheologie). Nur langsam konnte sich in der (Religions-)Pädagogik die Forderung durchsetzen, die eigenen Weltzugänge und Deutungsweisen von Kindern ausdrücklich zu würdigen und sie nicht einfach als defizitär abzuqualifizieren. Vor allem mit dem Konstruktivismus verbindet sich eine veränderte Sichtweise: Lernen geschieht niemals so, dass einfach bestimmte Erkenntnisse von den Erwachsenen auf die Kinder übertragen werden – Lernen vollzieht sich immer nur in der Gestalt der von den Kindern selbst entwickelten Deutungen, als deren Kon struktionen von Welt und Wirklichkeit (vgl. Mendl, 2015). Das gilt nicht zuletzt im religiösen Bereich: Beispielsweise haben Kinder ein anderes Gottesbild oder Gottesverständnis als Erwachsene. Religionsunterricht, der sich darauf nicht einlässt, geht an den Kindern vorbei. Neben den religiösen Vorstellungen und Deutungsweisen von Kindern und Jugendlichen sowie ihren religiösen Einstellungen bezieht sich ein dritter Schwerpunkt religionsdidaktischer Forschung auf den Kompetenzerwerb. Während sich religionsbezogene Vorstellungen und Einstellungen als Lernvoraussetzungen verstehen lassen, geht es dabei um die Wirksamkeit des Unterrichts. In welchem Maße gelingt es, den Kompetenzerwerb zu unterstützen? Zur Erfassung des Kompetenzerwerbs sind Kompetenzmodelle erforderlich. Starke Beachtung fand hier das von Benner et al. (2011) entwickelte Modell ( S. 151). Erste Untersuchungen auf dieser Grundlage zeigten, dass Jugendliche, die kontinuierlich am Religionsunterricht teilgenommen hatten, beispielsweise in interreligiöser Hinsicht über deutlich ausgeprägtere Kompetenzen verfügten als andere Jugendliche ohne Teilnahme am Religionsunterricht (vgl. S. 137 f.). Spätere Untersuchungen einer Tübinger Forschungsgruppe bezogen sich auch auf die Art und Weise, in der unterrichtet werden muss, damit beispielsweise die in der Religionsdidaktik vielfach als Ziel beschriebene Fähigkeit zur Perspektivenübernahme ausgebildet werden kann (vgl. Schweitzer et al., 2017). Dazu wurde eine Interventionsstudie durchgeführt. Solche Studien weisen ein bestimmtes Design auf: Sie vergleichen eine sog. Versuchsgruppe, die an einer bestimmten Form von Unterricht teilnimmt, mit einer Kontrollgruppe, die nicht daran teilnimmt. Durch Befragungen zu Beginn und am Ende des Unterrichts wird es möglich, Veränderungen in der Versuchs- und in der Kontrollgruppe miteinander zu vergleichen. Pädagogisch-psychologisch gesehen verspricht ein solches Forschungsdesign besonders aufschlussreiche Erkenntnisse.
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Empirische Unterrichtsforschung als Voraussetzung für »guten Religionsunterricht«?
Über die genannten Schwerpunkte hinaus gibt es noch weitere Untersuchungen aus dem Bereich der Religionsdidaktik. Dafür kann hier nur auf Überblicksdarstellungen verwiesen werden (vgl. Schweitzer & Boschki, 2018; Schambeck & Riegel, 2018; Ulfat, in Veröff.). Etwas genauer dargestellt werden sollen Befunde aus zwei exemplarisch ausgewählten Untersuchungen zu Gottesbildern und Gottesbeziehungen im Kindes- und Jugendalter.
10.4 Empirische Befunde bei der Unterrichtsgestaltung aufnehmen: Gottesbild und Gottesbeziehung als exemplarische Konkretion Im Folgenden werden zwei eigene Studien zu Gottesbildern/Gottesbeziehungen im Kindes- und Jugendalter vorgestellt: eine Untersuchung zur Gottesbeziehung muslimischer Kinder (vgl. Ulfat, 2017a) sowie die Tübinger Studie »Jugend – Glaube – Religion«, bei der u. a. Gottesvorstellungen Jugendlicher erfasst wurden (vgl. Schweitzer et al., 2018; Wissner et al., 2020). Die beiden Untersuchungen gehen methodisch unterschiedlich vor. Die Kinder-Studie ist rein qualitativ, die Jugend-Studie umfasst sowohl qualitative als auch quantitative Anteile, wobei im Folgenden aus Gründen eines kontrastierenden Vergleichs nur der quantitative Teil berücksichtigt wird. Dargestellt werden soll, welche Aufschlüsse von unterschiedlich angelegten Untersuchungen jeweils zu erwarten sind. Insofern geht es nicht um eine Frage der besseren oder schlechteren Vorgehensweise, sondern um die Eigenart unterschiedlicher Methodologien. Gottesbeziehungen muslimischer Kinder – am Beispiel der Studie »Die Selbstrelationierung muslimischer Kinder zu Gott« Die Studie (Ulfat, 2017a) befasste sich mit der Frage, welche Formen von Beziehungen zu Gott sich bei muslimischen Kindern zeigen und welche Rolle Gott für sie in bestimmten Situationen spielt. Es war das Anliegen der Studie, die Kinder selbst zu Wort kommen zu lassen, ihre eigenen Relevanzen in den Vordergrund zu stellen und somit ihre individuellen Erfahrungen mit Gott, aber auch ohne Gott zu rekonstruieren. Weiterhin sollten die Kinder selbst entscheiden können, ob sie Gott ins Gespräch bringen wollten. In der Studie wurden muslimische Kinder im Alter von ca. 10 Jahren interviewt, die bereits am islamischen Religionsunterricht teilgenommen haben (etliche von ihnen auch am Moscheeunterricht). Mit ca. 25 Kindern wurden narrative Einzelinterviews durchgeführt (vgl. Schütze, 1976), von denen 15 (acht
Empirische Befunde bei der Unterrichtsgestaltung aufnehmen
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Mädchen und sieben Jungen) mit der dokumentarischen Methode ausgewertet wurden (vgl. Bohnsack, 2009), da nach 15 Auswertungen keine neuen Erkenntnisse hinzukamen (»theoretische Sättigung«, vgl. Glaser & Strauss, 2010). Ihre Familien stammen aus verschiedenen Kultur- und Sprachräumen und gehören unterschiedlichen Strömungen des Islam an (vgl. S. 65–90). Folgende Typen von Gottesbeziehungen konnten rekonstruiert werden: Typ A: R elationierung des Selbst zu Gott im Modus der Personalisierung Hier steht Gott als ein Du im Mittelpunkt des eigenen Glaubens. Die Art und Weise, wie dieser Typ über Gott spricht, weist einen auf Erfahrung basierenden emotionalen Bezug zu Gott auf. Gottes Existenz wird nicht infrage gestellt. Aber nicht nur Gott wird in bestimmten Situationen Verfügungsmacht zugewiesen, sondern auch dem Menschen Handlungsfähigkeit zugesprochen. Dieser Typ setzt sich mit der Deutung von Welt und Mensch sowohl aus religiöser Perspektive als auch aus verantwortungsethischer Perspektive auseinander. Dementsprechend werden sowohl jenseitsbezogene als auch immanente Phänomene mit einem relativ hohen Abstraktionsgrad zur Sprache gebracht (vgl. S. 120–167).
Typ B: R elationierung des Selbst zu Gott im Modus der Moralisierung und Traditionsorientierung In diesem Falle tritt die Beziehung zu Gott in den Hintergrund, während das Befolgen von Geboten, Aufsagen von Gebeten und die dichotome Einteilung von Handlungen in erlaubt und verboten, richtig und falsch, gut und böse den Kern des eigenen Glaubens ausmachen. Gott wird die Rolle des Erschaffers eines Lohn-Strafe-Systems zugewiesen, und das Verhältnis zu ihm zeichnet sich durch Zweckrationalität aus. Von und über Gott wird häufig in sozial erwünschter Weise gesprochen. Prägend sind dabei islamisch-religiöse sprachliche Marker, die zugleich der Konstruktion eines Zugehörigkeitsraums einer religiösen Gemeinschaft dienen (vgl. S. 168–206).
Typ C: R elationierung des Selbst zu immanenten Größen im Modus der Gottesferne Dieser Typ ist durch weitgehendes Fehlen von transzendenten Bezügen gekennzeichnet. Im Mittelpunkt stehen immanente Größen wie beispielsweise zwischenmenschliche Beziehungen. Gott existiert zwar, jedoch nicht als ein Du, sondern als soziale Realität. Er wird eher im Fantasiebereich verortet. Transzendente Phänomene wie der Tod werden immanent gedeutet. Die Äußerungen dieses Typs sind sozial. Soziale Phänomene werden aus einer verantwortungsethischen Perspektive thematisiert (vgl. S. 207–244).
Insgesamt wird sichtbar, dass sich bei den Kindern bereits im Alter von ca. 10 Jahren deutlich ausdifferenzierte Typen von Gottesbeziehungen auskristallisieren, die obendrein ausgesprochen heterogen sind:
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Empirische Unterrichtsforschung als Voraussetzung für »guten Religionsunterricht«?
Es gibt unter muslimisch erzogenen Kindern den Typ einer individuellen und mündigen Gottesbeziehung, die sie für ein Leben sowohl in religiösen als auch nicht-religiösen Welten befähigt. Im Anschluss an religionssoziologische Untersuchungen kann davon ausgegangen werden, dass dieser Typ in der Lage ist, Religiosität in einer hoch individualisierten und pluralen Gesellschaft für sich reflexiv zu rahmen (vgl. u. a. die religionssoziologischen Untersuchungen mit muslimischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Gerlach, 2006; Tressat, 2011; Tietze, 2001; Karakaşoğlu-Aydın, 2000). Des Weiteren gibt es unter muslimischen Kindern den Typ einer durch Tradition dominierten Gottesbeziehung. Im Anschluss an die genannten religionssoziologischen Untersuchungen kann davon ausgegangen werden, dass eine Gottesbeziehung, die nicht über eine rein formale Religiosität hinausgeht, zum Fehlen von Reflexivität führen kann, was es erschweren kann, in einer individualisierten und pluralen Gesellschaft zurechtzukommen. Schließlich wird deutlich, dass es auch muslimisch erzogene Kinder gibt, die zum Zeitpunkt des Interviews keine Gottesbeziehung und eine Distanz zur Tradition aufweisen. Der religionsferne Mensch stellt also ebenfalls einen Bestandteil der innerislamischen Pluralität dar (vgl. S. 251–261). Gottesverständnisse christlicher und muslimischer Jugendlicher – am Beispiel der Studie »Jugend – Glaube – Religion« Diese Studie (Schweitzer et al., 2018; Wissner et al., 2020) zielte in ihrem quantitativen Anteil auf Repräsentativität. Die Auswahl der Befragten sollte möglichst genau die gesamte Altersgruppe in Baden-Württemberg widerspiegeln (Schwerpunkt 16–18 Jahre). Deshalb wurden Jugendliche aus verschiedenen Schularten im allgemeinbildenden und berufsbildenden Bereich einbezogen sowie aus dem Religions- und Ethikunterricht. Beteiligt waren christliche wie muslimische und konfessionslose, aber auch etwa orthodoxe SchülerInnen (N=7246). Das muslimische Teilsample fiel mit 5 % der Befragten kleiner aus als gewünscht, war aber noch groß genug für zumindest aussagekräftige Befunde (N=373). Die Untersuchung schloss eine Befragung zu drei Zeitpunkten ein und ist damit längsschnittlich angelegt, was bislang bei größeren Untersuchungen zu Jugend und Religion nur sehr selten realisiert wurde. Die Befunde eröffnen zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten (Veränderungen in der Zeit, Unterschiede zwischen den Schularten, verschiedenen Religionszugehörigkeiten, weiblich/männlich usw.).
Empirische Befunde bei der Unterrichtsgestaltung aufnehmen
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52 % aller Befragten bejahten, dass sie an Gott glauben (Schweitzer et al., 2018, S. 73). 39 % halten die Beziehung zu Gott für sich selbst wichtig und berichten, dass der Glaube an Gott ihnen in schwierigen Situationen hilft (40 %). Die Werte bei weiblichen liegen deutlich über denen der männlichen Befragten, ebenso die der Jugendlichen im Religionsunterricht im Vergleich zu denen im Ethikunterricht. Besonders markant sind die Unterschiede zwischen katholischen und evangelischen Jugendlichen auf der einen und muslimischen sowie evangelisch-freikirchlichen Jugendlichen auf der anderen Seite: Die muslimischen und freikirchlichen Jugendlichen bejahten den Gottesglauben sehr viel stärker als die evangelischen und katholischen Jugendlichen (der Unterschied beträgt 40 % und mehr) (vgl. S. 74 ff.).
Im Einzelnen erweist sich das Gottesverständnis der Jugendlichen als sehr vielfältig – aus Sicht der Erwachsenen kann es auch als widersprüchlich bezeichnet werden. Einerseits geht die Tendenz hin zu abstrakten Vorstellungen (Gott als höhere Macht usw.), andererseits nimmt über die Zeit hinweg die Bejahung personaler Vorstellungen zu (Gott als jemand, zu dem man sprechen kann). An solchen Befunden ist zugleich der Gewinn längsschnittlicher Betrachtungsweisen abzulesen. Auch hier liegen die Zustimmungswerte bei den muslimischen und den evangelisch-freikirchlichen weit über denen der anderen Jugendlichen (vgl. S. 78 f.). Umgekehrt geben deutlich weniger muslimische als christliche Jugendliche an, dass sie beispielsweise angesichts des frühen Todes eines Kindes fragen würden, wie Gott das zulassen kann. Zwar bejahen dies auch 20 % der befragten muslimischen Jugendlichen – insofern kann nicht einfach behauptet werden, dass die TheodizeeFrage für diese Jugendlichen ohne jede Bedeutung sei –, aber im Gesamtsample sind es deutlich mehr (36 %, vgl. S. 86, 149).
Zum Vergleich der beiden Studien Die beiden hier exemplarisch aufgenommenen Studien machen deutlich, dass die verschiedenen Untersuchungsansätze zu sehr unterschiedlichen Befunden führen. Im Falle der qualitativ angelegten Studien geht es um vertiefte Einblicke in den Gottesglauben von Kindern, wobei offenbleibt, ob sich die im Gespräch mit einer kleinen Anzahl von Kindern gewonnenen Befunde verallgemeinern lassen. Im Falle der quantitativen Studie geht es um möglichst verallgemeinerbare Aussagen zum Gottesglauben im Jugendalter, wobei offenbleibt, was genau das Antwortverhalten der Jugendlichen zu den ihnen vorgegebenen Aussagen bedeutet. In vereinfachter Umschreibung lässt sich sagen, dass qualitative Ansätze individuelle Vertiefungen ermöglichen, während quantitative Vorgehensweisen repräsentative Befunde erreichen können. Dabei ist es auch kein Zufall, dass gerade bei der Kinder-Studie ein qualitatives Verfahren gewählt wurde. Denn ein ausführlicher Fragebogen würde Kinder im vierten Schuljahr überfordern. Bei Jugendlichen können grundsätz-
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lich ebenso qualitative wie quantitative Zugangsweisen eingesetzt werden. Hier muss das jeweilige Forschungsinteresse entscheiden. Nicht zuletzt spielt bei der Frage, welche Zugangsweise jeweils vorzuziehen ist, immer auch der Stand der Forschung eine Rolle. Wenn wie im Falle der Gottesbeziehungen muslimischer Kinder noch kaum Befunde verfügbar sind, empfiehlt sich ein exploratives Vorgehen, für das sich zumeist qualitative Methoden besser eignen. Bei Themen wie dem Gottesbild christlicher Jugendlicher, zu dem bereits zahlreiche Studien vorliegen, kann sich die Konzeption einer quantitativen Studie auf diese Vorarbeiten stützen, sodass nicht nur explorative, sondern repräsentative Befunde erzielt werden können. Im Blick auf die Gestaltung des eigenen Religionsunterrichts enthalten beide Studien wichtige Erkenntnisse, beispielsweise hinsichtlich der vielfältigen Voraussetzungen, die Kinder und Jugendliche mitbringen. Die qualitativen und quantitativen Zugänge haben dabei insofern eine pädagogische Entsprechung in der Praxis, als die Arbeit in einer Religionsgruppe immer sowohl die Förderung jeder und jedes einzelnen SchülerIn zur Aufgabe hat als auch die Orientierung an der Gesamtgruppe. Befunde aus empirischen Untersuchungen können aber in keinem Falle eins zu eins auf die eigene Lerngruppe übertragen werden. Stattdessen bieten sie eine Grundlage für Erwartungen, die erst noch mit der Realität in dieser Gruppe abgeglichen werden müssen. Insofern eröffnen sie Fragestellungen, erweitern die Wahrnehmungsfähigkeit der Religionslehrkräfte und stellen somit eine Art religionsdidaktische Sehhilfe dar. Besonders hilfreich sind auch Studien, bei denen bestimmte didaktische Vorgehensweisen im Blick auf ihre Wirksamkeit untersucht werden. Befunde aus solchen Studien können dabei helfen, die eigenen religionsdidaktischen Routinen noch einmal auf den Prüfstand zu stellen, und sie können dazu ermutigen, etwas Neues auszuprobieren. Zum Weiterlesen Schweitzer, Friedrich (2020). Religion noch besser unterrichten. Qualität und Qualitätsentwicklung im RU. Göttingen: V&R. Schambeck, Mirjam & Riegel, Ulrich (2018). Was im Religionsunterricht so läuft. Wege und Ergebnisse religionspädagogischer Unterrichtsforschung. Freiburg u. a.: Herder.
Empirische Befunde bei der Unterrichtsgestaltung aufnehmen
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Zusammenfassung Bedeutung für eine interreligiös-kooperative Didaktik Ȥ Fachdidaktik muss heute möglichst empiriebasiert sein und selbst Forschung betreiben. Das gilt auch für eine interreligiös-kooperative Didaktik. Ȥ Bei der Entscheidung über religionsdidaktische Strategien für die Unterrichts gestaltung müssen zunehmend Befunde aus der empirischen Unterrichts forschung Berücksichtigung finden. Ȥ Zu den religionsbezogenen Lernvoraussetzungen der Kinder und Jugendlichen (etwa zu Gottesbildern und Gottesverständnissen) liegen inzwischen diverse Studien vor, während Unterrichtsprozesse im Bereich des Religionsunterrichts noch (zu) wenig untersucht sind. Ȥ Zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von didaktischen Strategien sind in der Regel Interventionsstudien erforderlich, die in der Religionspädagogik allerdings noch wenig verbreitet sind.
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Teil 2
Zentrale Unterrichtsthemen dialogisch elementarisiert
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Der eine Gott
Die Frage nach Gott ist das zentrale Thema des Religionsunterrichts. Im Rahmen einer interreligiösen Einführung in die Religionsdidaktik konkretisiert sich dieses Thema in dem Dilemma, ob ChristInnen und MuslimInnen an denselben Gott glauben. Denn die Gottesvorstellungen und -narrative in beiden Religionen weichen stark voneinander ab, insbesondere hinsichtlich der christlichen Lehre von der Göttlichkeit Jesu Christi. Die Bearbeitung des Themas aus einer interreligiösen Perspektive stellt daher eine Herausforderung dar, bietet aber den SchülerInnen die Chance, am Gottesverständnis der anderen zu erkennen, dass auch ihre eigenen Gottesvorstellungen facettenreich und heterogen sind. Darüber hinaus kann die Betrachtung zweier unterschiedlicher theologischer Gotteskonstruktionen und ihrer wechselseitigen Beziehung den Blick für die historische Dimension des eigenen und des anderen Glaubens eröffnen.
1.1 SchülerInnenfragen Christliche Kinder und Jugendliche stehen dem Gottesglauben von MuslimInnen prinzipiell wohl nicht kritisch gegenüber, und sie denken bei der Gottesfrage in der Regel auch nicht an die Göttlichkeit von Jesus Christus. Am ehesten könnte, je nach Elternhaus und Prägung, die Frage eine Rolle spielen, ob ChristInnen und MuslimInnen an denselben Gott glauben, obwohl dies gerade für viele Kinder und Jugendliche nicht infrage zu stehen scheint. Dennoch zeigen beispielsweise Interviews mit Kindern, dass hier schon im Kindesalter Streitfragen aufbrechen können (Welcher Gott ist der richtige?). Für Jugendliche steht dann eher die Frage im Vordergrund, welche zum Teil »extremen« oder sogar gewaltförmigen Konsequenzen MuslimInnen aus ihrer Religion zu ziehen scheinen. Muslimische Kinder und Jugendliche nehmen den christlichen Gottesglauben häufig skeptisch wahr, da für sie insbesondere die für den christlichen
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Glauben maßgebliche Überzeugung von der Göttlichkeit Jesu Christi schnell im Raum steht. Freilich beziehen MuslimInnen ihre Kenntnisse über die christliche Trinitätslehre praktisch ausschließlich aus muslimischen Kreisen. Die Ablehnung der Trinitätsvorstellung ist stark in der Volksreligiosität und damit in der Kultur verankert, wo sie als Abgrenzungssymbol zur christlichen Gottesvorstellung fungiert, was wiederum zu bestimmten Vorurteilen führt, beispielsweise der Infragestellung des Monotheismus im Christentum.
1.2 Elementare Strukturen Im Folgenden soll zunächst der muslimische Gottesglaube beschrieben werden – bewusst für christliche LeserInnen, danach der christliche Gottesglaube – für muslimische LeserInnen. Für MuslimInnen ist es grundlegend, dass es nur einen Gott gibt, der angebetet und verehrt werden kann, unabhängig davon, wie man diese Gottheit nennt oder beschreibt. Der Koran besteht darauf, dass Gott nur einer ist und es ihm fern sei, einen Sohn zu haben. Er fordert auf, nicht von Dreien zu sprechen (4:171). Diese fundamentale Haltung ist bereits im Glaubensbekenntnis (schahada) angelegt. Das Bekenntnis ist kurz und kann von den meisten muslimischen Kindern und Jugendlichen sowohl auf Arabisch als auch auf Deutsch wiedergegeben werden: »Es gibt keine Gottheit außer dem Einen und Muhammad ist sein Prophet!« Die Hauptbotschaft des Koran ist die der Einheit Gottes. Sie kommt in der 112. Sure im Koran in verdichteter Form zum Ausdruck, wo es heißt: »Sprich: ›Er ist Gott, der Eine, Gott, der Beständige, er zeugte nicht und wurde nicht gezeugt, und keiner ist ihm ebenbürtig.‹« Gott nennt sich in seinen eigenen Worten Allah. Allah wird nicht als ein Eigenname verstanden, »sondern als Name des namenlosen Gottes, neben dem es keinen anderen gibt. Allah wird nur im Singular genannt, von dem Namen kann kein Plural gebildet werden. Gott wird im Islam jedoch nicht als ein abstraktes Absolutes verstanden, sondern Gott existiert und ist eins: Gott ist das einzige wirkliche, höchste Wesen, das alle Muslime mit dem Namen ›Allah‹ ansprechen und anrufen« (Böwering, 2002, S. 213). Aber auch arabischsprachige ChristInnen verwenden den Begriff Allah als Gottesbezeichnung. Der Koran beschreibt Gott als den unnahbaren, »der Erste und der Letzte, der Sichtbare und der Verborgene« (57:3), und als den nahbaren, der dem Menschen »viel näher noch als seine Halsschlagader« ist (50:16) (vgl. Schimmel 1995, S. 41). Gottes Nähe kommt auch in dem Vers 2:186 zum Ausdruck, in dem es heißt: »Wenn dich meine Knechte nach mir fragen, so bin ich nahe. Ich erhöre
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die Bitte des Bittenden, wenn er mich bittet.« Die Transzendenz und Unnahbarkeit Gottes finden ihren Kern in der oben genannten Sure 112. Die Offenbarung ist eine Möglichkeit, die Gegenwart Gottes in der Welt zu erleben. Diese »Grenzüberschreitung« (Karimi, 2013, S. 97) durch die Offenbarung kommt in Vers 39:23 zum Ausdruck: »Gott sandte den schönsten Bericht herab, ein Buch voll Ähnlichkeit und Wiederholung; seinetwegen kräuselt sich die Haut derer, die ihren Herrn fürchten. Darauf wird ihre Haut geschmeidig, während ihre Herzen sich dem Gedenken Gottes zuneigen. Das ist die Leitung Gottes. Er leitet mit ihr, wen er will. Wen Gott abirren lässt, der hat keinen Führer«. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott ist aber durch nichts begrenzt und niemand steht zwischen Mensch und Gott, auch nicht Muhammad. Gott teilt sich den Menschen auf unterschiedliche Weise mit, durch Zeichen in der Natur, historische Ereignisse, offenbarende Kommunikation, die einem Propheten zuteilwird (waḥy), und Inspiration (ilhām), die jeden Menschen zuteilwerden kann. Gott wird im Koran mit seinen »schönsten Namen« beschrieben (al-asmāʾ al-ḥusnā (7:180)). Sie werden traditionell als 99 an der Zahl aufgezählt. Die göttlichen Namen werden nicht als abstrakte Attribute Gottes angesehen, sondern als Namen, die Gott in den zahlreichen Facetten seines Wesens beschreiben. Traditionell wird der Name Allah selbst nicht zu den schönsten Namen gezählt. Die göttlichen Namen können am besten als Ausdruck des Lobpreises Gottes verstanden werden (vgl. Böwering, 2002). Der Koran schließt jede Ähnlichkeit zwischen Gott und den Menschen aus. Während Gott in seinem Schöpfungsakt die Menschen in der Form »komponierte«, die er ihnen geben wollte (82:8), blieb Gott selbst davon unberührt (ebd., S. 323). Diese streng monotheistische Idee betont der Koran an zahlreichen Stellen, indem er die Beigesellung (širk) Gottes als den einzigen Fehler bezeichnet, den Gott nicht vergibt. Auch aus christlicher Perspektive kann das Glaubensbekenntnis am Anfang stehen. Es ist deutlich länger als das muslimische, und es gibt hier auch verschiedene Bekenntnisse. Sehr große Verbreitung besitzt das Apostolische Glaubensbekenntnis, das so beginnt: »Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.« Das bezieht sich beispielsweise auf die Schöpfungserzählungen am Anfang der Bibel, ist zugleich aber auch im Sinne der Zehn Gebote zu lesen (2. Mose 20): »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!« Auch das Christentum bekennt sich eindeutig zum Monotheismus (einführend: Deuser, 1999, S. 13–66; im interreligiösen Horizont: Heine et al., 2014, S. 54–124). Für MuslimInnen herausfordernd ist dann aber der zweite Artikel dieses Bekenntnisses: »Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn«. Der christ-
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liche Glaube bezieht sich also auch auf Jesus Christus, zu dem ebenfalls gebetet wird. Das entspricht dem Neuen Testament ( S. 184 ff.), in dem Jesus Christus beispielsweise als »Ebenbild des unsichtbaren Gottes« (Kol 1,15) bezeichnet wird. Gott ist in christlicher Sicht Mensch geworden (Inkarnation, Joh 1) und will dem Menschen in seiner niedrigen, inkarnierten Gestalt begegnen – bis hin zur Kreuzigung (Phil 2). Vorbei an Jesus Christus als dem »gekreuzigten Gott« (Jürgen Moltmann) gibt es für den christlichen Glauben keinen Weg zu Gott und keinen wahren Glauben. Dazu kommt noch der dritte Glaubensartikel: »Ich glaube an den Heiligen Geist«. Es ist auch aus christlicher Sicht durchaus nachvollziehbar, dass dieses dreifache Glaubensbekenntnis verwirrend sein kann. Für ChristInnen kommt darin die Art und Weise zum Ausdruck, in der Gott ihnen im Glauben begegnet. Beim Heiligen Geist geht es um die Anwesenheit Gottes in seiner Gemeinde sowie in den einzelnen Glaubenden, die vom Geist bewegt und belebt werden. Die Gabe des göttlichen Geistes wird mit einem der großen kirchlichen Jahresfeste gefeiert (Pfingsten). Theologisch gefasst wird dies in der Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes (Trinität). Im Rahmen des Versuchs, sich dialogisch über Kernthemen des Glaubens zu verständigen, formulieren Christoph Schwöbel und Amir Zaidan (2014, S. 61, 63): »Christen und Christinnen bekennen sich zu Gott als dem dreieinigen in der Einheit von Vater, Sohn und Geist. Denn die Gestalt Jesu Christi als Wort Gottes ist der Weg, auf dem Gott sich den Menschen mitteilt.« »Dass es sich dabei um eine Mitteilung Gottes handelt, lässt sich an Jesus von Nazaret nicht empirisch ablesen oder historisch beweisen, sondern muss von Gott selbst den Menschen erschlossen werden. Dies geschieht durch den Heiligen Geist, der Gottes Gegenwart in Christus erfassbar und erfahrbar werden lässt.« »In den ewigen Beziehungswillen Gottes, den Jesus Christus repräsentiert, werden die Menschen hineingenommen durch den Heiligen Geist, in dem Gott je gegenwärtig in der Welt wirkt«. Und zu den muslimischen Sichtweisen auf die ChristInnen heißt es ( S. 184 ff.): »Während sich die christliche Koranforschung lange Zeit darauf beschränkt hat, Muhammad vorzuwerfen, er habe die Trinität nicht verstanden, erbrachte der wissenschaftliche Austausch inzwischen neue Zugänge. So gibt es muslimische Gelehrte, die davon ausgehen, dass der Koran nicht pauschal ›die Christen‹ meint, sondern Irrlehren im Visier hat, die auch von christlicher Seite zurückgewiesen werden.« »Ein wesentliches Stichwort dabei ist die Übertreibung, wie sie sich vor allem in der orientalisch-christlichen Volksfrömmigkeit mit ihrer übersteigerten Christus- und Marien verehrung zeigt« (Schwöbel & Zaidan, 2014, S. 77). Auch wenn einige DenkerInnen behaupten, dass zu den vom Koran abgelehnten »Denkformen […] das trinitarische Gottesverständnis« gehöre (Schwöbel & Zaidan, 2014, S. 77), ist kritisch anzumerken, dass die Trinität, wie sie heute im Christentum vertreten wird, im Koran nicht thematisiert wird. Der Koran lehnt den Tritheismus ab ( S. 188). Im Laufe der Entwicklung der systematischen Theologie wurde von der großen Mehrheit muslimischer Gelehrter eine strikte Ablehnung aller Formen von Trinität entwickelt, was sich zu einem markanten Unterschied im Gottesverständnis der beiden Religionen entwickelt hat. Allerdings gibt es Bemühungen auf beiden Seiten, diesen Fragen differenzierter nachzugehen, indem die Christologien, die zur Entstehungszeit des Korans im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel präsent waren und mit denen sich der Koran auseinandersetzt, historisch nachgezeichnet werden (vgl. Khorchide & von Stosch, 2018).
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Ein wichtiges Ziel kann für den Religionsunterricht darin bestehen, dass MuslimInnen wahrnehmen, dass der Glaube an den einen Gott und die Trinitätslehre aus christlicher Sicht keinen Widerspruch bilden. Umgekehrt können ChristInnen verstehen, welche Christologie der Koran kritisiert und was MuslimInnen am christlichen Glauben problematisch finden. Auf diese Weise kann aus pauschaler Ablehnung ein differenziertes Verständnis werden – bei bleibender Differenz.
1.3 Elementare Erfahrungen Welche Erfahrungen machen Kinder und Jugendliche mit ihrem eigenen Gottesglauben und mit dem Gottesglauben anderer Konfessionen und Religionen? Schon Kindergartenkinder nehmen religiöse Differenzen wahr. Ihnen ist beispielsweise bewusst, dass Gott bei ChristInnen und MuslimInnen unterschiedlich gesehen wird (vgl. Dubiski et al., 2010). Bereits die unterschiedlichen Bezeichnungen »Gott« und »Allah« lassen die Frage aufkommen, ob Gott und Allah der Gleiche ist bzw. ob MuslimInnen und ChristInnen an denselben Gott glauben. Es ist anzunehmen, dass die absolute Mehrheit der muslimischen Kinder und Jugendlichen, der koranischen Sicht entsprechend, davon ausgehen, dass es derselbe Gott ist. Jesus ist für sie hingegen ein Prophet, wie Muhammad. In der Abgrenzung von einem trinitarischen Gottesverständnis besteht für die meisten muslimischen Kinder und Jugendlichen der grundlegende Unterschied zwischen dem muslimischen und dem christlichen Glauben, auch wenn sie in der Regel nicht verstehen, was Trinität eigentlich bedeutet. Es kann davon ausgegangen werden, dass die muslimischen Kinder und Jugendlichen ihre christlichen AltersgenossInnen zumeist für wenig gläubig oder gar ungläubig halten. Das liegt in entscheidender Weise daran, dass muslimische Kinder und Jugendliche eine spezifische Vorstellung von Religion haben, die stark von der christlichen abweicht. »Religion« als generelle Kategorie wird von Menschen in der Regel von der je eigenen konkreten Religion her inhaltlich gefüllt. Der Islam mit seiner relativ klaren Innen-Außen-Struktur und seiner hohen sozialen Sichtbarkeit wird für die SchülerInnen so zum Muster dafür, wie »Religion« zu sein hat. Vor diesem Hintergrund wirkt die nicht selten individualisierte, privatisierte und pluralisierte Religion der christlichen AltersgenossInnen möglicherweise diffus und schwer greifbar. So kommen muslimische Kinder und Jugendliche zu dem Schluss, dass diese wenig oder gar nicht gläubig seien, weil sie beispielsweise nicht regelmäßig Rituale vollziehen. Zudem
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hat die Selbstzuordnung zu Religion oder die Selbstbezeichnung als religiös bei muslimischen Kindern und Jugendlichen im Gegensatz zu christlichen Kindern und Jugendlichen fast durchgängig einen positiven Wert. SchülerInnen, die den großen Kirchen angehören, bezeichnen sich eher als gläubig und nicht als religiös (vgl. Schweitzer et al., 2018). Christlichen Kindern und Jugendlichen erscheinen viele ihrer muslimischen AltersgenossInnen »extrem«, zumindest dann, wenn sie regelmäßig beten und sich strikt an entsprechende Kleidungsvorschriften und Speisegebote halten. Dabei fällt es ihnen wohl in vielen Fällen schwer, zwischen religiösen und kulturellen Prägungen zu unterscheiden. Ein bestimmter, beispielsweise konservativer Erziehungsstil im Elternhaus erscheint dann als muslimisch, während er vielleicht eher als traditionell zu bezeichnen wäre. Die schon angesprochenen Interviewgespräche (vgl. Dubiski et al., 2010) zeigen ebenso für den christlichen Bereich, dass Kinder entsprechende Unterschiede zumindest zum Teil schon früh wahrnehmen und dabei auch in Auseinandersetzungen mit muslimischen Kindern geraten können. Dabei sind auf beiden Seiten immer auch die Einflüsse des Elternhauses im Spiel, aber die Herkunft bestimmter Haltungen ändert nichts daran, dass sie bei Kindern und Jugendlichen zu finden sind.
1.4 Elementare Zugänge Bei der Dimension der elementaren Zugänge geht es darum, welche Gottesbilder und Gottesverständnisse Kinder und Jugendliche haben oder wie sie Gott konstruieren. Das hängt einerseits von den Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen ab, andererseits aber auch von ihrer kognitiven und emotionalen Entwicklung (vgl. Schweitzer, 2016a). Da Gottesbilder als ein zentrales Element der religiösen Entwicklung angesehen werden, werden sie seit mehr als 100 Jahren empirisch erforscht. Zum Gottesverständnis wird heute besonders die Theorie von Fritz Oser herangezogen ( S. 104 ff.), aber auch andere neuere Studien stellen die subjektiven Deutungsleistungen der Kinder und Jugendlichen in den Mittelpunkt (vgl. Büttner & Dieterich, 2016). Thematisch steht die Entwicklung des Gottesverständnisses in der Lebensgeschichte im Vordergrund. Dabei spielen der Einfluss der religiösen Sozialisation, Gender-Aspekte sowie Einflüsse von Konfessionslosigkeit und Säkularisierung eine Rolle. Die im christlichen Bereich durchgeführten Untersuchungen verweisen auf weitreichende Transformationen im Gottesverständnis zwischen Kindes-, Jugendund Erwachsenenalter. Zugleich belegen sie die kontextuelle Bestimmtheit aller
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solchenVorstellungen. Besonders eindrücklich ist im Jugendalter die Vielfalt unterschiedlicher Gottesvorstellungen, die von eher personalen Vorstellungen von einem Gott, mit dem man sprechen kann, bis hin zu Gleichsetzungen von Gott und Natur reichen (vgl. Schweitzer et al., 2018, 2020). Erwachsenen erscheint diese Vielfalt, die zum Teil auch bei denselben Jugendlichen zu finden ist, oft widersprüchlich, aber für die Jugendlichen selbst scheint das kein Problem zu sein – wobei auch darauf hingewiesen werden kann, dass die Gottesbilder von Erwachsenen keineswegs in sich stimmig sein müssen. Studien zu den Gottesverständnissen im muslimischen Bereich lehnen sich methodisch an die Untersuchungen zu christlichen Kindern und Jugendlichen an. Inhaltlich zeigen sich jedoch Unterschiede. Auch die meisten muslimischen Kinder stellen sich Gott als Schöpfer vor. Viele Kinder weisen anthropomorphe Gottesvorstellungen auf, die mit steigendem Alter jedoch abnehmen. Das Wissen der Kinder um die Differenz zwischen Gott und seiner Schöpfung nimmt mit dem Alter zu. Die Kinder legen – wohl dem Koran folgend – Wert darauf, dass Gott nicht gezeugt ist und nicht zeugt. Jüngere Kinder stellen sich Gott überwiegend als beängstigend und strafend vor, die älteren hingegen zunehmend als liebevoll und beschützend (vgl. Yıldız & Arık, 2011). Qualitative Interviews werden ebenfalls als Erhebungsmethode eingesetzt, etwa von Adem Aygün (2013) bei muslimischen Jugendlichen in Deutschland und in der Türkei. Demnach weisen die Gottesvorstellungen von Jugendlichen in der Türkei im Vergleich zu türkischen Jugendlichen in Deutschland eine größere Vielfalt auf. Khizar Zuberi (1988) stellt fest, dass die Gottesverständnisse von Kindern entscheidend von Erwachsenen beeinflusst sind. Mithilfe narrativer Interviews hat Fahimah Ulfat (2017a) die Gottesbeziehungen muslimischer Kinder untersucht. Demnach entwickeln muslimische Kinder ein breites Spektrum an unterschiedlichen Gottesbezügen, das von einem sehr persönlichen Bezug zu Gott über einen starken Bezug zur Tradition bis hin zu einem fehlenden Bezug zu beidem reicht ( S. 167 ff.).
Erste quantitative Befunde zum Gottesverständnis muslimischer Jugendlicher erbrachten die Shell-Jugendstudien (vgl. Shell Deutschland Holding, 2019), die auf deutliche Unterschiede zwischen christlichen und muslimischen Befragten verweisen. Insbesondere der Gottesglaube scheint bei muslimischen Jugendlichen stärker ausgeprägt. In eine ähnliche Richtung weist die Untersuchung »Jugend – Glaube – Religion«, die die Unterschiede bei den Gottesvorstellungen genauer herausarbeitet. So zeichnen sich die muslimischen Befragten dadurch aus, »dass alle positiven Aussagen zu einem Glauben an Gott vergleichsweise hohe Zustimmungswerte erhalten. Der Aussage »Gott liebt jeden Menschen und kümmert sich um uns« stimmen 80 % der befragten Muslime zu, während dies beispielsweise nur 37 % der katholischen Schülerinnen und Schüler tun. 82 %
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der muslimischen Gruppe geben an, dass ihnen die Beziehung zu Gott wichtig sei, während dem im restlichen Sample nur 37 % zustimmen« (Schweitzer et al., 2018, S. 147).
1.5 Elementare Wahrheiten Das Thema Gott bringt für alle Kinder und Jugendlichen die Frage mit sich, ob und wenn ja, an welchen Gott man selbst glaubt oder glauben will. Der Glaube an Gott scheint bei muslimischen Kindern und Jugendlichen vergleichsweise stärker ausgeprägt zu sein, aber auch für die meisten christlichen Kinder und Jugendlichen steht der Gottesglaube als solcher nicht infrage. Zugleich scheint im christlichen Bereich allerdings die Theodizee (Warum kann Gott so viel Leid zulassen?) eine größere Rolle zu spielen. Bei der Frage nach Gott sind die Kinder und Jugendlichen, aber auch die Lehrkräfte herausgefordert, sich über das eigene Bild oder das eigene Verständnis von Gott klar zu werden. Woher kommt mein eigenes Gottesbild? Ist mein Gott ein strafender oder ein liebender und barmherziger Gott oder beides? Wodurch wurde mein Bild geprägt? Welches Bild von Gott haben mir meine Eltern vermittelt oder nicht vermittelt? Hat sich mein Bild von Gott im Laufe meines Lebens verändert und wenn ja, wodurch und in welcher Weise? Welchen Bezug habe ich zu Gott? Spielt Gott eine Rolle in meinem Leben oder eher nicht? Welche Rolle spielt Jesus Christus in meinem Gottesbild? In welchen Situationen wende ich mich an Gott und in welchen an Jesus? Welche Auswirkungen hat mein Gottesbild auf meine Wahrnehmung von Welt und Mensch, von anderen Religionen und Weltanschauungen? Warum ist mein Bild von Gott anders als das Anderer? Glauben wir alle an denselben Gott, wenn unsere Vorstellungen so verschieden sind? Solchen, zum Teil auch kontroversen Fragen muss im Religionsunterricht Raum gegeben werden. Diese Fragen machen deutlich, dass es bei der Wahrheitsfrage immer auch um die Beziehungsfrage geht. Die Beziehung zu Gott spiegelt sich wider in der Beziehung zur Welt, zu den Mitmenschen und zum Selbst. Die Frage nach Gott und der Beziehung zu Gott ist ein zentraler Inhaltsbereich der Religionsdidaktik. Freilich kann man die Beziehung zu Gott nicht lehren. Bei aller Wichtigkeit sind nicht Informationen das Entscheidende für die Entwicklung der Gottesbeziehungen, sondern die Entdeckung oder Verlebendigung des eigenen Gottesbezugs. Dafür kann der Religionsunterricht Optionen anbieten. Er kann aber bestenfalls die Bedingungen der Möglichkeit schaffen.
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1.6 Elementare Lernformen Die Frage nach Gott kann methodisch auf vielfältige Weise ins Gespräch gebracht werden. Dazu können biblische und koranische bzw. prophetische Erzählungen dienen, aber auch andere Texte und Zeugnisse aus den religiösen Traditionen. Dabei können beispielsweise folgende Methoden helfen: Schreibmeditationen Alle SchülerInnen gehen um ein großes Plakat herum, auf dem Themen, Thesen und Impulse zum Thema Gott aus christlicher und muslimischer Perspektive notiert sind. Jede/r schreibt seine Meinung dazu auf, wodurch andere angeregt werden und antworten. Dabei wird nicht gesprochen. Es entsteht ein Gruppen-Schreibgespräch. 4-Ecken-Gespräche Es werden vier Begriffe oder vier Zitate/Aussagen zum Thema Gott aufgeschrieben und in je einer der vier Ecken des Raumes aufgehängt. Die Zitate/Aussagen können auch kontrovers sein und sollen möglichst die elementaren Erfahrungen der christlichen und muslimischen SchülerInnen mit einschließen. Jede/r SchülerIn sucht sich die Aussage aus, der sie/er am meisten zustimmt oder am meisten widerspricht, und stellt sich in diese Ecke. Alle dort Stehenden diskutieren über ihre Gründe, sich für oder gegen diese Ecke entschieden zu haben. Die SchülerInnen berichten anschließend im Plenum über ihre Diskussion (vgl. ausführlich Ulfat, 2020). Das japanische Erzähltheater Kamishibai Das Kamishibai stellt eine Form des Geschichtenerzählens dar, die mit visuellen und aktiven Mitteln arbeitet. Sein Aufbau ahmt den Eindruck einer Theaterbühne im Kleinen nach. Sein Herzstück besteht aus einem doppelten Holzrahmen, der genügend Platz bietet, um mehrere Bilder aufzunehmen. Diese Bilder können von den Kindern und Jugendlichen selbst hergestellt werden und dienen dann dazu, sie bei ihrer Erzählung zu unterstützen. Zunächst wird die komplette Bilderfolge in den Rahmen hineingeschoben, so dass während des Erzählens nur noch die Bilder nacheinander herausgezogen werden müssen und der Erzählfluss nicht gestört wird. Christliche und muslimische Kinder und Jugendlichen können ihre eigenen Geschichten über bzw. mit Gott visu-
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alisieren und ihren Gedanken über Gott freien Lauf lassen. Sie können aber auch mithilfe des Kamishibai der Frage nachgehen, was sie in ihrem Leben wirklich trägt. Im Dialog Friedrich Schweitzer: Auch am Ende dieses Kapitels scheint es dabei zu bleiben, dass uns die Art und Weise, wie wir an den einen Gott glauben, dauerhaft trennt. Sowohl für das christliche als auch für das muslimische Verständnis ist der eigene Gottesglaube zentral und unaufgebbar. Fahimah Ulfat: Auch wenn die Unterschiede bestehen bleiben, sind sie, wie man an dieser Einführung sieht, kein Hinderungsgrund für Dialog, Verständnis und gegenseitige Anerkennung. Friedrich Schweitzer: Wenn sich die beiden Glaubensweisen in dieser Hinsicht wider sprechen, wie sollen wir dann damit umgehen? Mitunter wird ja geraten, eben den Monotheismus als eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner zu verstehen. Mich selbst überzeugt das nicht so recht, eben weil dabei die Unterschiede letztlich einfach unter den Teppich gekehrt werden. Fahimah Ulfat: Oft begegne ich Lehrkräften, die sehr überrascht sind, dass es doch so viele Ähnlichkeiten bzw. Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam gibt. Vor allem der Vergleich zwischen der Geschichte von der Geburt Jesu im Koran und im Evangelium erstaunt viele. Das stellt ein Gefühl von Nähe her. Mag eine solche Nähe auch gelegentlich dazu verführen, die Unterschiede zu unterschätzen oder zu vernachlässigen, so ist sie doch die entscheidende Grundvoraussetzung für die gegenseitige Akzeptanz eben dieser Unterschiede. Friedrich Schweitzer: Wegen unterschiedlicher Glaubensüberzeugungen hat man sich in der ganzen Geschichte immer wieder bekriegt. Mir scheint es wichtig, dass wir heute andere Formen finden, mit solchen Unterschieden zu leben. Aus meiner Sicht ist das die eigentliche Probe auf die Toleranz, die – anders, als häufig gesagt wird – gerade dann notwendig wird, wenn die Unterschiede nicht aufgehoben werden können, aber auch nicht bloß widerwillig hingenom men werden sollen. Fahimah Ulfat: Dem stimme ich zu, denn sonst kann man nur in Extreme verfallen: entweder in einen Relativismus oder in einen Fundamentalismus.
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Jesus Christus und Muhammad – Bibel und Koran
Dieses Thema ist für Christentum und Islam von gleichermaßen zentraler Bedeutung. Zugleich liegen hier Missverständnisse und problematische Auffassungen besonders nahe. Geht man von religionswissenschaftlichen Einteilungen aus, dann sind mit Jesus und Muhammad die beiden »Religionsstifter« und mit Bibel und Koran die beiden »heiligen Bücher« angesprochen. Dabei gehen aber von vornherein die entscheidenden Unterschiede zwischen Jesus und Muhammad, Bibel und Koran verloren.
2.1 SchülerInnenfragen Bei muslimischen Kindern und Jugendlichen ruft vor allem die Göttlichkeit Jesu Christi und seine Bezeichnung als Sohn Gottes kritische Wahrnehmungen hervor ( S. 104 ff.; S. 174 ff.). Wird hier ein Mensch vergöttlicht und damit der Glaube an den einen Gott infrage gestellt? Ist dies nicht die »Beigesellung«, vor der im Koran gewarnt wird? Für den Koran gehört Jesus in die Reihe der Propheten, wobei nicht vorausgesetzt werden kann, dass die besondere und herausragende Stellung Jesu im Koran den muslimischen Kindern und Jugendlichen bekannt ist. Die Bibel erscheint ihnen im Vergleich zum Koran mitunter als unsicheres Buch, da es so viele Varianten zu geben scheint. Wie kann man sich verbindlich auf eine Schrift – als Offenbarung – berufen, bei der es so viele unterschiedliche Fassungen gibt? Zugleich erscheint die Bibel schon im Blick auf die Einteilung in Altes und Neues Testament, zahlreiche Bücher sowie insbesondere die vier Evangelien undurchschaubar. Dazu kommt noch das unklare Verhältnis zwischen der jüdischen und der christlichen Bibel: Handelt es sich hier nicht um zwei verschiedene Religionen, und was soll dann die Rede von der »jüdisch-christlichen« Tradition? Bei christlichen Kindern und Jugendlichen dürften weder zu Muhammad noch zum Koran ausgeprägte Einstellungen oder auch nur klar artikulierbare
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Fragen zu finden sein. Zugleich ist mit einer gewissen Neugier auf das ihnen Unbekannte zu rechnen. Vielfach wissen sie über Muhammad und den Koran nicht viel. Schon ein Begriff wie Offenbarung ist ihnen ziemlich fremd, und bei Propheten denken sie vielleicht an den Religionsunterricht (etwa zu Amos), aber Propheten haben für sie keine große Bedeutung.
2.2 Elementare Strukturen Christentum Die Bedeutung von Jesus Christus kann viele Fragen aufwerfen (einführend: Schröter, 2017). Besonders der Ehrentitel »Sohn Gottes«, der im Neuen Testament häufig auf Jesus angewendet wird, kann im Sinne einer biologischen Abstammung missverstanden werden. An solchen Vorstellungen, die in der damaligen Zeit u. a. von frühchristlichen Häresien vertreten wurden, entzündet sich auch die Ablehnung der Rede von einem »Sohn Gottes« im Koran: Gott zeuge nicht! (112:3). In der christlichen Bekenntnistradition ist tatsächlich davon die Rede, dass Jesus Christus »gezeugt« und »nicht geschaffen« sei (Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel aus dem Jahre 325), aber dabei geht es um die Beziehung zwischen Gott und Jesus Christus und nicht um ein biologisches Abstammungsverhältnis (vgl. Heine & Özsoy, 2014). Für ChristInnen ist entscheidend, dass ihnen in Jesus Christus tatsächlich Gott selbst begegnet und dass Gott sich mit Jesus Christus identifiziert. Aus christlicher Sicht widerspricht dies nicht dem Glauben an den einen Gott. Für den christlichen Glauben gibt es keinesfalls zwei oder gar drei Götter ( S. 174 ff.). Vielmehr folgt das Christentum gemeinsam mit dem Judentum dem grundlegenden Gebot: »Ich bin der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben« (2. Mose 20,2 f.). Darin konvergieren der jüdische und der christliche mit dem muslimischen Glauben. Im Christentum ist die Bibel die maßgebliche Urkunde des Glaubens. Die Unterscheidung zwischen dem Alten und dem Neuen Testament erklärt sich daraus, dass das Christentum aus dem Judentum hervorgegangen ist (einführend: Dohmen & Hieke, 2019). Das Alte Testament enthält diejenigen Schriften aus der Zeit vor Jesus Christus, die das Judentum und das Christentum bis heute miteinander teilen. Die Bezeichnung Altes Testament steht für eine Unterscheidung, die aus christlicher Perspektive getroffen wird. Im Judentum wird vom Tanach als der jüdischen Bibel gesprochen.
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– Das Alte Testament enthält drei Teile: Geschichtsbücher, Lehrbücher und Psalmen, Prophetenbücher. Die Geschichtsbücher beginnen mit der Erschaffung der Welt und folgen der Geschichte Gottes mit dem Volk Israel. Die Psalmen sind Gebete sowie poetische Ausdrucksformen des Glaubens, während die Lehrbücher die damalige Weisheit, also Erkenntnisse über das Leben und die Welt, enthalten. Die Prophetenbücher sind jeweils dem Wirken eines bestimmten Propheten gewidmet. – Das Neue Testament kann in Geschichtsbücher, Briefe und ein prophetisches Buch eingeteilt werden. Zu den Geschichtsbüchern zählen die vier Evangelien (jeweils eine Darstellung von Jesus Christus und seiner Verkündigung) sowie die Apostelgeschichte, in der über das frühe Christentum berichtet wird. Die Briefe stammen von Autoren, die für die Ausbreitung des Christentums bestimmend waren, wie etwa Paulus. Das prophetische Buch wird auch als Apokalypse oder Offenbarung (der letzten Dinge) bezeichnet. Alle neutestamentlichen Bücher gehen auf Autoren zurück, die den christlichen Glauben aus unterschiedlicher Perspektive beschreiben. Das gilt insbesondere für die vier Evangelien, die jeweils aus ihrer Sicht und für eine bestimmte Gruppe von LeserInnen darstellen wollen, was Jesus für den Glauben bedeutet.
Mit wenigen Ausnahmen, etwa wenn ausdrücklich gesagt wird, Gott selbst habe so gesprochen, erhebt die Bibel nicht den Anspruch, unmittelbar Gottes Wort zu referieren. In heutiger theologischer Terminologie formuliert enthält die Bibel Gottes Wort im Menschenwort. Sie geht gleichwohl auf göttliche Offenbarungen zurück, die in der Bibel beschrieben werden – etwa als Offenbarung auf dem Berg Sinai (Ex 20), wo Mose die Zehn Gebote empfängt, oder als Erscheinung des auferstandenen Jesus Christus, von der Paulus erzählt (1. Kor 15,6–8). Paulus berichtet aber nicht davon, dass ihm ein Text geoffenbart wurde. Vielmehr geht es darum, dass er sich durch diese Erscheinung der Wahrheit der Auferstehungsbotschaft gewiss geworden ist. Das biblische Offenbarungsverständnis ist sehr komplex. Das gilt schon für die Propheten in alttestamentlicher Zeit. Diese Propheten sprechen, ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge, unmittelbar im Namen Gottes (»so spricht der Herr«), aber dabei geht es eher darum, dass der Wille Gottes authentisch zum Ausdruck gebracht wird, und weniger um einen bestimmten Wortlaut.
Die biblischen Schriften, wie sie heute in der Bibel zu lesen sind, weisen eine lange Entstehungsgeschichte auf, die Gegenstand der historischen Forschung ist (Überblick: Schnelle, 2017). Zum Teil stand am Anfang wahrscheinlich die mündliche Überlieferung. Zum Teil wurden die mündlichen Überlieferungen in größere schriftliche Kompositionen eingefügt, worin immer auch ein Interpretationsprozess zu sehen ist. Welche Schriften genau zur Bibel gehören, stand nicht von Anfang an fest. So gab es beispielsweise über die vier Evangelien in der Bibel hinaus noch weitere Darstellungen wie das Thomas-Evangelium. In den ersten Jahrhunderten nach Christus kam es zu einem Kanonisierungsprozess, in dem die endgültige Gestalt der Bibel festgelegt wurde. Dabei wurden Schriften, die nicht als gleichermaßen authentisch angesehen wurden, ausgeschlossen. Die Überlieferung des Textbestandes geschah dann über die Jahrhunderte hinweg in handschriftlichen
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Abschriften, was dazu führte, dass der Textbestand im Vergleich der Handschriften Unterschiede aufweist. Heutige Bibelausgaben beruhen auf einem minutiösen Abgleich der Varianten und dem Versuch, die jeweils ältesten und am besten bezeugten Fassungen zu identifizieren.
Das Alte Testament ist im Wesentlichen in hebräischer, das Neue Testament in griechischer Sprache geschrieben. Schon früh wurden auch Übersetzungen angefertigt, etwa des Alten Testaments ins Griechische, später der gesamten Bibel ins Lateinische. Heute ist die Bibel in fast allen Sprachen der Welt verfügbar. In den christlichen Gemeinden werden nur die Übersetzungen benutzt, aber die wissenschaftliche Theologie sowie die PfarrerInnen greifen auf die hebräische und griechische Fassung zurück. Auch der Religionsunterricht versteht sich in dem Sinne als wissenschaftsorientiert, dass hier auf die maßgeblichen hebräischen und griechischen Quellen verwiesen wird. Lange Zeit wurde der Koran im Christentum als Häresie wahrgenommen, da die im Koran beschriebene Wahrnehmung des Evangeliums der christlichen Eigensicht widerspricht. Entsprechend wurde Muhammad nur negativ beurteilt und der Islam als »falsche Religion« abgelehnt. Auch seine Polygamie wird als problematisch angesehen (wobei die heutige muslimisch-historische Forschung für die von christlicher Seite besonders kritisch aufgenommene Heirat mit der noch kindlichen Aischa für diese ein höheres Lebensalter angibt, als früher angenommen wurde). Erst in neuerer Zeit weichen pauschale Negativurteile dem Bemühen um eine dialogoffene Einschätzung. Vor allem seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auf katholischer und späteren kirchlichen Erklärungen auf evangelischer Seite wird die Gemeinsamkeit von Islam und Christentum im Monotheismus hervorgehoben (vgl. Leimgruber, 2007). Dem entsprechen beispielsweise die gemeinsame Erschließung von Bibel und Koran (vgl. z. B. Khorchide & von Stosch, 2018). Gleichwohl können auch solche Verständigungsbemühungen den grundlegenden Unterschied zwischen Christentum und Islam am Ende nicht übergehen. Dieser Unterschied erwächst letztlich aus der für den christlichen Glauben konstitutiven Bedeutung Jesu Christi als Sohn Gottes, was im Koran ausgeschlossen wird (etwa Sure 4:171). Religionspädagogisch, aber auch frömmigkeitsgeschichtlich bedeutsam ist der Gebrauch der Bibel im Christentum, auch bei der religiösen Erziehung sowie im Religionsunterricht. Besonders die Reformation hat die Bedeutung der Bibel, die anderen kirchlichen Autoritäten übergeordnet sein müsse, hervorgehoben und gefordert, dass alle Kinder, Jugendliche und Erwachsene instandgesetzt werden sollten, sich selbst aus der Bibel zu belehren. Heute gehört die Bibel unverzichtbar zum Stoff des evangelischen und katholischen Religionsunterrichts. Ab dem 18. Jahrhundert wurden Auswahlausgaben für den Religionsunterricht und für die religiöse Familienerziehung erstellt. Bis heute sind im Christentum Kinderbibeln weit verbreitet, zum Teil mit problematischen Bild-
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programmen. Darüber hinaus ist auf die große Wirkungsgeschichte der biblischen Psalmen hinzuweisen, die als Gebetstexte eingesetzt werden, insbesondere im Gottesdienst. Vor allem der oft auswendig gelernte Psalm 23 (»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln«) hat für viele ChristInnen eine elementare tröstende Bedeutung.
Islam Die Botschaft des Propheten Muhammad ereignete sich an einem Ort, der außerhalb der urbanen Zentren lag, weit entfernt vom byzantinischen (orthodoxe Kirche) und vom persischen (Zoroastrier) Reich. Die AdressatInnen waren hauptsächlich PolytheistInnen und Mitglieder unterschiedlicher Religionen auf der arabischen Halbinsel. Die im Koran erwähnten ChristInnen lebten auf der arabischen Halbinsel und wurden von der orthodoxen Kirche der Häresie bezichtigt. Die damaligen MekkanerInnen hatten Vorstellungen von Gott, die u. a. durch das Judentum, das östliche Christentum, durch christliche Häresien und durch Zoroastrismus geprägt waren. Dieser Kontext bestimmte die Diskurse im Koran: Sein Hauptthema ist daher der Monotheismus. Erzählungen von Gott im Koran bauen auf Vorwissen besonders aus dem Alten Testament auf. Der Koran ist nicht daran interessiert, Gott zu erklären, sondern den Einheitsglauben zu vermitteln. Mit heutigen Augen gelesen scheint der Koran die Trinität zu kritisieren. Jedoch kritisiert der Koran den Tritheismus – als Triade von Gott, Jesus und Maria, wie sie von einigen christlichen Gruppen damals gelehrt wurde. Dass die Trinitätslehre als eine Form des Monotheismus verstanden werden kann, haben auch einige klassische muslimische Gelehrte vertreten, etwa Ibn ʿArabī. »Der Koran präsentiert sich […] als ein hochrhetorisches und oft metatextuelles Dokument, das eine laufende Debatte widerspiegelt« (Neuwirth, 2016, S. 171). Zur Zeit Muhammads wurde auf der arabischen Halbinsel eine lebendige Debattenkultur gepflegt. In diese Kultur zielt die Offenbarung des Koran, die auf das Interesse und das Vorwissen der ErstadressatInnen bauen konnte. Ohne die Kenntnis dieses Vorwissens und des historischen Kontextes wirken die Verse des Koran gelegentlich unverständlich. Der Koran ist ein lyrischer, melodischer, rhythmischer Text, der mehrdeutig, fragmentarisch und verspielt ist. Er ist kein Informationstext, sondern regt eher zum Fragen an. Nicht ohne Grund wird der Name Koran in der muslimischen Tradition häufig mit »die Rezitation« übersetzt.
Der Koran gilt der Mehrheit der MuslimInnen als wörtliche Gottesrede. Er sagt vieles über sich selbst aus, über seine Form, Funktion, Qualitäten, Besonderheiten und über seinen göttlichen Ursprung. Laut Koran wurden die ersten Verse in »der Nacht der Bestimmung« (Sure 97) herabgesandt. Der Koran wurde im Laufe von ca. 22 Jahren vervollständigt. Die Verse wurden laut muslimischer
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Tradition vom Engel Gabriel an Muhammad weitergegeben, der sie wiederum an seine HörerInnen weitergab. Im Koran spricht Muhammad nicht, sondern wird von Gott angesprochen bzw. spricht Gott über Muhammad. Zu Lebzeiten des Propheten Muhammad wurden bereits Teile des Koran niedergeschrieben. 632 n. Chr. entstand der erste Koran-Kodex. Der Koran ist eingeteilt in 114 Suren (abgeschlossene Vortragstexte), die nicht chronologisch nach ihrer Entstehungszeit angeordnet sind, sondern nach dem Kriterium der abnehmenden Länge. Die Sprache des Koran ist Arabisch (Grundinformationen zum Koran: Bobzin, 2018). Der Koran wurde und wird in etliche Sprachen übertragen. Dabei sind Übertragungen philologisch gesehen stets Interpretationen. Besonders gute deutschsprachige wissenschaftliche Übertragungen sind die von Rudi Paret und Hartmut Bobzin. Für die Interpretation kann das Werk »The Study Quran« (Nasr et al., 2015) empfohlen werden, das eine Sammlung verschiedener Exegesen enthält. »Mohammed ist nichts als ein Gesandter, dem andere Gesandte vorausgegangen sind« (3:144). Muhammad wird als Glied in einer Reihe sterblicher Menschen angesehen. Er ist aber jener, der die Reihe der Gesandten und Propheten »besiegelt«, sie also abschließt (33:40). Die Aufgabe von Muhammad ist wie die aller anderen Propheten auch: ein Mensch aus »eurer« Mitte, der die Zeichen Gottes verliest, seinen Mitmenschen die Weisheit und das Buch lehrt und sie zur spirituellen und ethischen Reife führt (tazkiyya, vgl. Ulfat, 2019c) (62:2, 3:164). Die Aussagen, Handlungen und stillschweigenden Billigungen des Propheten Muhammad sind in den Hadithen festgehalten – Geschichten, die diese Aussagen und Handlungen häufig in Episoden aus dem Leben Muhammads einbetten. Sie werden in der Hadithwissenschaft erforscht. Durch die Überlieferungen erfahren MuslimInnen etwas über Bräuche, Werte und Normen (sunna) des Propheten. Hadithe sind besonders für die praktische Umsetzung der religiösen Gebote bedeutender als der Koran, da der Koran zu gottesdienstlichen Handlungen keine konkreten Angaben zur Umsetzung macht. Allerdings muss hinzugefügt werden, dass zum einen die Überlieferungen kontextualisiert und interpretiert werden müssen. Zum anderen muss aufgrund der späten Niederschrift vieler Überlieferungen davon ausgegangen werden, dass es sich bei diesen eher um Vorstellungen und Bilder vom Propheten und seiner Gemeinschaft handelt, die die Menschen nach dem 8. Jahrhundert konstruiert, und ja manchmal imaginiert haben. Muslimische Gelehrte sind sich darüber einig, dass der Koran im Zusammenhang mit dem Leben Muhammads interpretiert werden muss. Daher ist die
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Kenntnis der Lebensgeschichte bzw. Biografie Muhammads (sīra) für sein Verständnis unabdingbar. Für MuslimInnen stellt der Prophet Muhammad einen entscheidenden Zugang zu Gott dar. Im Koran sagt Gott, dass er die Menschen erschaffen hat, damit sie ihm dienen (51:56), wobei nach einigen ExegetInnen mit »dienen« im Kern »erkennen« gemeint ist. Der Prophet ist nach muslimischer Überzeugung derjenige, der Gott am besten erkannt hat. Zugleich wird er von Gott geliebt. Wenn der Mensch ein liebendes Bewusstsein für den Propheten entwickelt, entwickelt er damit ein Bewusstsein für den, der ihn liebt, nämlich Gott. Der Koran sieht das Evangelium (inǧīl), die Torah (tawrāt) und den Psalter (zābūr) ebenfalls als Offenbarungsschriften an. Was Jesus anbelangt, so wird er im Koran als Geist Gottes (rūḥ) bezeichnet, ein Titel, der ausschließlich ihm zugesprochen wird (4:171). Auch wenn er nur als ein Gesandter Gottes bezeichnet wird (4:171), gibt es keinen anderen Propheten, der mit diesem Attribut ausgezeichnet ist. Seine Mission, seine Geburt und sein Lebensweg werden als außergewöhnlich beschrieben. Es wird bestätigt, dass er eine Reform der Religion bewirkt hat (3:48, 5:46–47). Der Koran gesteht ihm zu, dass er im christlichen Sinne der »Messias« ist (3:45, 4:171). Der Koran begründet die herausgehobene Stellung Jesu damit, dass er der »Logos« (kalima) ist (4:171), ganz ähnlich wie im Evangelium des Johannes. Er bezeichnet ihn als das »Wort Gottes«, das als Geist Gottes aus Gottes Atem gekommen ist. Der Koran geht aber nicht davon aus, dass Jesus der »Sohn Gottes« ist. Der Koran bezeichnet sich ebenfalls als kalima, als eine Offenbarung, die herabgesandt wurde. So wird Jesus auf die gleiche Stufe mit dem Koran gestellt. Muhammad besitzt diesen Status nicht. Der Koran wird in der religiösen Erziehung in der Familie meist insofern so genutzt, dass Kinder und Jugendliche kurze Suren auswendig lernen sollen, die für das rituelle Gebet unerlässlich sind. Den Koran als Ganzes auswendig zu lernen wird ebenfalls von einigen Eltern gefördert. Wegen seiner Struktur (Reime und Metrik) ist der Koran relativ leicht erlernbar. Dabei kommt es nicht auf das Verstehen der Bedeutung an, sondern auf die Kunst des Vortragens. In einem pädagogisch reflektierten islamischen Religionsunterricht spielt hingegen die Bedeutung der koranischen Verse eine wesentliche Rolle. Allerdings erfordert das Verständnis des Koran aufgrund seiner Struktur besondere hermeneutische Kompetenzen und historische Kenntnisse. Einen Kinderkoran gibt es noch nicht. »Der Koran für Kinder und Erwachsene« (Kaddor & Müller, 2008) ist ein erster Versuch, wobei dieses Werk eine thematische Anordnung der Verse vornimmt und sie verständlich übersetzt.
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2.3 Elementare Erfahrungen Christliche Kinder und Jugendliche begegnen der Bibel und damit zum Teil auch Jesus Christus häufig zum ersten Mal im Religionsunterricht, später dann auch bei anderen kirchlichen Angeboten. Kinder zeigen oft großes Interesse an biblischen Geschichten, vor allem wenn sie ihnen als Erzählungen begegnen. Jugendliche finden häufig nur schwer Zugang zur Bibel und sind nicht immer leicht dafür zu motivieren. Der Religionsunterricht bemüht sich daher um subjekt- und erfahrungsbezogene Auslegungen und setzt dabei auch auf kreative Methoden (moderne Klassiker der Bibeldidaktik: Baldermann, 1996; Berg, 1993). Auch den Koran und Muhammad lernen christliche Kinder und Jugendliche vor allem im Religionsunterricht kennen. Zunehmend werden im christlichen Religionsunterricht biblische und koranische Texte im Vergleich gelesen (bes. Sure 19). Die Frage, ob dies auch schon in der Grundschule sinnvoll ist, muss religionsdidaktisch weiter geklärt werden. Wenn muslimische Kinder dem Koran begegnen, dann in der Regel sehr früh in Familie und Gemeinde, vor allem akustisch. Zudem wird in religiös orientierten Familien der Koran bei Beerdigungen und an Ramadan häufig rezitiert. Eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Verse findet häufig erst im Religionsunterricht statt. Muhammad ist für viele muslimische Kinder und Jugendliche im Alltag eine bekannte Figur, denn seine Aussprüche werden häufig zitiert und die Erwähnung seines Namens wird mit einem Segensspruch begleitet. Relativ viele muslimische Kinder und Jugendliche kennen beispielsweise die Aussage des Propheten, dass das Paradies zu Füßen der Mütter liegt. Zudem wird auch der Geburtstag des Propheten in vielen Gemeinden gefeiert – mit traditionellen Liedern, die den Propheten thematisieren. Die Lebendigkeit solcher Traditionen legt Zeugnis darüber ab, wie wichtig die Person Muhammads den meisten MuslimInnen ist. Zeitgenössische SängerInnen komponieren beispielsweise Loblieder, auch in englischer Sprache, wie z. B. Maher Zain oder Sami Yusuf. Daraus erklärt sich auch die Empfindlichkeit, mit der viele MuslimInnen auf tatsächliche oder eingebildete Angriffe auf den Propheten reagieren. Aufgrund der Migrations- und Minderheitensituation sind muslimische Kinder und Jugendliche sich auch meist bewusst, dass das heilige Buch der ChristInnen die Bibel ist und Jesus als Sohn Gottes verehrt wird, wobei sie sich damit inhaltlich kaum auskennen. Nicht selten entstehen durch fehlende Kenntnisse auch Vorurteile. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Christentum findet häufig erst im Religionsunterricht statt.
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Zur Dimension der elementaren Erfahrungen gehört auch die Frage, ob eine erfahrungsbezogene Erschließung der religiösen Überlieferung, also von Koran- und Bibeltexten, gelingt. Daher wird im Blick auf die Auswahl und unterrichtliche Aufnahme von Bibeltexten der Erfahrungsbezug möglichst konsequent berücksichtigt. Beispielsweise wird in der Grundschule gerne die Erzählung von Jesu Besuch bei Zachäus aufgenommen (Lk 19). Zachäus war ein gesellschaftlicher Außenseiter und zugleich »klein von Gestalt«, was Kindern – so die Erwartung – eine Identifikation erleichtert. Da der Koran kaum Narrative enthält, ist es schwierig, Erzählungen aus dem Koran mit Kindern und Jugendlichen erfahrungsbezogen zu erschließen. Daher müssen häufig Narrative mithilfe der Biografie des Propheten, den Hadithen und anderen Quellen, erst formuliert werden.
2.4 Elementare Zugänge Bei der Art und Weise, wie Kinder und Jugendliche Bibel und Koran sowie Muhammad und Jesus Christus wahrnehmen und deuten, sind verschiedene Aspekte zu berücksichtigen. Wie Bibel und Koran insgesamt gesehen werden, ist bislang empirisch noch nicht genauer geklärt, auch wenn es beispielsweise Befunde zur Einstellung christlicher Kinder und Jugendlicher zur Bibel gibt. Bei diesen Befunden steht vor allem die Frage des Interesses im Vordergrund. Darüber hinaus liegen auch Untersuchungen dazu vor, wie christliche Kinder und Jugendliche Jesus Christus verstehen. Im christlich-religionspädagogischen Bereich hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere der Einfluss entwicklungsbedingter Faktoren auf das Verständnis biblischer Geschichten große Aufmerksamkeit gefunden. Vor allem die an Piaget anschließenden Untersuchungen von Ronald Goldman (1965) haben hier Zeichen gesetzt. Bestimmte Textsorten in der Bibel scheinen besondere Schwierigkeiten aufzuwerfen: Gleichnisse, Wunder sowie metaphorische Sprache insgesamt werden oft auch noch im Jugendalter nicht in ihrer Verweisungsdimension oder ihrem theologischen Gehalt verstanden (vgl. Bucher, 1990; Blum, 1997).
In Weiterführung entwicklungspsychologischer Untersuchungen nehmen heute kindertheologische Ansätze die Deutungen der Kinder und Jugendlichen weniger in ihrer entwicklungsbedingten Beschränktheit wahr, sondern verstehen Kinder und Jugendliche als Exegeten (Zimmermann, 2010; Schlag & Schweitzer, 2011). Dies bedeutet, dass ihre Auslegung biblischer Texte als dialogisch ernstzunehmende Verständnisweisen – im Sinne des Eigenrechts kindlicher Weltzugänge – geachtet werden.
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Im Blick auf muslimische Kinder und Jugendliche ist empirisch noch nicht viel darüber bekannt, wie sie Koran und Muhammad wahrnehmen. Quantitative Studien belegen, dass »fundamental-religiöse« MuslimInnen den Koran »wortgetreu« auslegen (Haug et al., 2009, S. 29). Dabei kann keineswegs als geklärt gelten, was eine »wortgetreue Auslegung« ist, welche Inhalte sie transportiert und welche Haltungen sie fördert. Besonders dringend sind deshalb Studien, die über die Verstehensvoraussetzungen und -prozesse von Kindern und Jugendlichen mit Blick auf Koran und Muhammad Auskunft geben. Sehr interessant sind auch Befunde zum Verständnis von Jesus Christus bei christlichen Kindern und Jugendlichen. Kinder verstehen Jesus häufig als eine Gestalt mit übernatürlichen Kräften – ähnlich den Gestalten in den Medien –, während Jugendliche stärker auf die Menschlichkeit Jesu abheben (vgl. Büttner, 2002; Ziegler, 2006). Dass Jesus beispielsweise Menschen aus Seenot retten kann und übermenschliche Kräfte einsetzt, ist Kindern durchaus plausibel. Jugendliche hingegen melden Zweifel an oder ziehen naturwissenschaftliche Erklärungsmöglichkeiten vor. Im Blick auf die in der Bibel Jesus zugeschriebenen Heilungen kann es dabei zu sehr differenzierten Deutungsweisen kommen, bei denen die Jugendlichen den für sie unverzichtbaren Beitrag der modernen Medizin mit einem ebenfalls unerlässlichen Einfluss, der vom Glauben auf den Lebenswillen des Menschen ausgeht, zu verknüpfen suchen (vgl. Bee-Schroedter, 1998). Darin kann wiederum ein Stück Jugendtheologie gesehen werden: Jugendliche stellen nicht nur Fragen, sondern finden auch selbst theologische Antworten – als für sie stimmigen Deutungen.
2.5 Elementare Wahrheiten Auch beim Thema Bibel und Koran, Jesus Christus und Muhammad stellen sich Wahrheitsfragen auf verschiedenen Ebenen. Zunächst stellen sich solche Fragen in Christentum und Islam selbst: Wie glaubwürdig sind die Bibel oder der Koran für mich? Und was kann ich damit anfangen – in meinem Leben? Weitere Fragen beziehen sich auf die jeweils andere Religion: Was bedeutet es, wenn es nicht nur eine »Heilige« Schrift gibt, sondern zwei – und im Blick auf weitere Religionen noch viel mehr solche Schriften? Können alle gleichermaßen wahr sein? Und wie ist mit konfligierenden Wahrheitsansprüchen etwa im Blick auf Jesus Christus umzugehen? Erfahrungsberichten zufolge neigen besonders ältere (christliche) SchülerInnen zu der Haltung, dass man über den Glauben ohnehin nicht streiten könne.
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Ziel des Religionsunterrichts kann es nicht sein, den SchülerInnen hier einfach eine Antwort vorzugeben. Religiöse Bildung bedeutet, dass Kinder und Jugendliche lernen, in reflexiver Weise mit solchen Fragen umzugehen. Dabei sollten ihnen auch verschiedene Aspekte der Beurteilung deutlich werden: das Menschenrecht der Religionsfreiheit, die das mögliche Nebeneinander verschiedener Religionen gebietet; der notwendige Wahrheitsanspruch religiöser Überlieferungen, auf die sich Menschen für ihren Glauben verlassen; die individuell unterschiedlichen Glaubensweisen und Haltungen auch innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaft, die sich auch im Verhältnis zu Bibel und Koran, Jesus Christus und Muhammad Ausdruck verschaffen; die Grenzen aller menschlichen Erkenntnis im Verhältnis zu Gott. Diese unterschiedlichen Beurteilungsperspektiven haben alle ein eigenes Recht. Deshalb ist im Unterricht schon viel erreicht, wenn den SchülerInnen aufgeht, wie komplex die Wahrheitsthematik tatsächlich ist. Weiterführend kann gefragt werden, was Wahrheit genau bedeutet – ein Thema, das gerade im Religionsunterricht mehr Beachtung verdient.
2.6 Elementare Lernformen Von grundlegender Bedeutung ist das Kennenlernen der »Heiligen Schrift« der anderen (vgl. van der Velden, 2011). Bei Bibel und Koran legt sich dabei u. a. die vergleichende Betrachtung von Texten nahe, in denen von denselben Personen (Abraham/Ibrāhīm, Jesus/ʿĪsā, Maria/Maryam) oder denselben Ereignissen (Geburt Jesu) berichtet wird. Doch sollten beide, koranische und biblische Texte nicht nur als im Unterricht zu lesende Texte aufgenommen werden, sondern auch in liturgischer und gesungener Gestalt. Für MuslimInnen ist der Koran nicht nur eine Textwelt, sondern auch eine Klangwelt. Im Internet finden sich dazu leicht zugänglich Audio-Dateien. Viele interessante Anstöße ergeben sich bei dem Versuch, in christlichmuslimischen Lerngruppen gemeinsam Texte aus Bibel und Koran auszulegen (in der Theologie wird von Scriptual Reasoning gesprochen). Ein an konkreten Einzeltexten orientiertes Vorgehen entspricht auch der komparativen Theologie, weil auf diese Weise pauschale Einschätzungen vermieden werden können. Ein weiterer Zugang könnte auch darin bestehen, die jeweilige Form des Feierns der Geburt Jesu und der Geburt Muhammads aufzunehmen. Der Geburtstag Muhammads wird zwar keineswegs von allen MuslimInnen gefeiert, aber das Fest ist doch ausreichend bekannt. Kinder und Jugendliche können einander wechselseitig berichten, wie sie die Feste begehen und was sie für sie bedeuten.
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Im Dialog Fahimah Ulfat: Wenn es bei der Trinitätslehre um die Beziehung zwischen Gott und Jesus Christus geht und nicht um ein biologisches Abstammungsverhältnis, warum wird dann von Jesus als dem Sohn Gottes gesprochen? Friedrich Schweitzer: In der biblischen Tradition, schon im Alten Testament, wird von einem Kind oder Sohn Gottes nie im Sinne biologischer Abstammungsverhältnisse gesprochen – diese Missverständlichkeit entstand erst durch die griechische Göttermythologie. Der Ehrentitel Sohn Gottes folgt etwa der Verheißung in Jes 9,5 (»Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter«) und hatte zur Zeit Jesu den klaren Sinn, dass Gott sich in Jesus Christus offenbart. Fahimah Ulfat: Oft begegne ich ChristInnen, die ihre Gebete an Gott richten, nicht an Jesus. Welche Bedeutung hat Jesus eigentlich im Alltag für ChristInnen? Friedrich Schweitzer: Im Christentum kann zu Gott als dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist gebetet werden, was in gottesdienstlichen Gebeten auch ausdrücklich geschieht. Viele ChristInnen beten heute aber einfach zu Gott, ohne weitere Unterscheidung, was in der Vergangenheit anders war. Im Alltagsleben ist Jesus Christus eher in Gestalt etwa seines Gebots zur Nächstenund Feindesliebe gegenwärtig oder auch dadurch, dass das wichtigste Gebet im Christentum (das Vater Unser) auf ihn zurückgeht (Mt 6). Fahimah Ulfat: Die Schriften, die zur Bibel gehören, wurden im Zuge eines Kanonisierungsprozesses festgelegt. Wird diese Festlegung kritisch hinter fragt? Sucht man heute nach weiteren Schriften, die hineingehören könnten? Friedrich Schweitzer: Der Kanonisierungsprozess wird heute in der Theologie selbst verständlich kritisch erforscht – auch im Blick auf sein Ergebnis, aber bislang sind keine anderen Schriften bekannt geworden, denen eine mit den in der Bibel zu findenden Schriften vergleichbare Authentizität und Überzeugungskraft zugetraut werden könnte.
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Das Thema Sexualität und Gender wird in Verbindung mit Religion sehr kontrovers diskutiert. In Deutschland hat sich seit den 1960er Jahren ein erheblicher Wertewandel in Bezug auf sexuelle Selbstbestimmung und die Gleichstellung der Geschlechter vollzogen. Religiöse Überzeugungen können dabei sowohl weiterhin traditionelle Geschlechterdifferenzierungen befördern als auch emanzipatorische Impulse freisetzen. Zugleich muss bei diesem Thema durchweg bewusst sein, dass damit zentrale Fragen vor allem der Adoleszenz angesprochen sind. Alles, was mit Beziehungen zwischen den Geschlechtern zu tun hat, mit Freundschaft, Liebe und Intimität, ist für Jugendliche von mitunter brennendem persönlichem Interesse. Im Folgenden soll jedoch nicht die Entwicklung im Jugendalter allgemein im Vordergrund stehen, sondern die Frage nach der Rolle von Religion in diesem Horizont.
3.1 SchülerInnenfragen Christliche und muslimische Kinder und Jugendliche können sich fragen, warum die Haltungen zu den Themen Sexualität, Gender und Beziehungen in den beiden Religionen so unterschiedlich sind, dass daraus häufig Konflikte entstehen. Christliche Kinder und Jugendliche können sich fragen, warum muslimische Frauen und Männer unterschiedliche Rechte und Pflichten haben, warum Frauen ein Kopftuch tragen »müssen«, warum muslimische Männer vier Frauen heiraten dürfen, warum MuslimInnen gegen Homosexualität sind und warum »christliche« oder »westliche« Frauen negativ angesehen werden. Insgesamt herrscht wohl der Eindruck vor, dass Frauen im Islam keine gleichen Rechte haben. Dabei spielen auch klischeehafte Vorstellungen eine Rolle: Frauen gehen hinter den Männern, müssen sich verhüllen, werden als Bräute verkauft … Muslimische Kinder und Jugendliche könnten sich fragen, was die Bibel zum Wesen und zur Rolle von Frauen und Männern sagt und wie bzw. ob diese
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Aussagen heute noch eine Rolle spielen. Was sagt die Bibel zu Homosexualität, was sagt die Kirche? Ist die Ehe für alle auch aus evangelischer und katholischer Perspektive erlaubt?
3.2 Elementare Strukturen Im Folgenden wird ausführlicher auf muslimische Perspektiven eingegangen als auf christliche. Für das Christentum sind entsprechende Informationen in der Literatur leichter greifbar als für den Islam (vgl. einführend: Wendel, 2016; historisch: Frey & Rupschus, 2019; eine wichtige Rolle für die Diskussion in Deutschland spielte etwa: Moltmann-Wendel, 1980; religionspädagogisch: Wieser, 2015). Frau und Mann in der Bibel In den beiden Schöpfungserzählungen am Anfang der Bibel wird die Erschaffung des Menschen in unterschiedlicher Weise beschrieben. In 1. Mose 1,27 heißt es: »Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib«. Dies wird heute im Sinne der sozialen Natur des Menschseins ausgelegt und begründet keine Ungleichheit von Frau und Mann. In 1. Mose 2 heißt es, dass Gott dem Menschen (Adam) ein Gegenüber (Eva) schuf, damit er nicht allein sei (V. 18) – Luther übersetzte dies allerdings mit »Gehilfin«, was ein Gefälle zwischen Frau und Mann bedeutete. In V. 21 wird gesagt, dass die Frau aus einer Rippe Adams geschaffen wurde. In der Tradition wurde darin weithin eine biblische Vorgabe im Sinne der Geschlechterhierarchie gesehen. Auch im Neuen Testament finden sich Stellen, wo die Frau dem Mann nachgeordnet wird, besonders bei Paulus (etwa 1. Kor 11). Daneben finden sich aber auch Aussagen, die zumindest aus heutiger Sicht eine Gleichheit der Geschlechter begründen: »hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus« (Gal 3,28). Frau und Mann in der christlichen Tradition Bis ins 20. Jahrhundert hinein war im Christentum eine klare Geschlechterhierarchie maßgeblich. Auch wenn es vereinzelte Ausnahmen gab, war die Rolle der Frau patriarchalisch als Mutter und Hausfrau oder Magd festgelegt, während der Mann als Oberhaupt fungierte. Das gilt auch für die Kirche und ihre Ämter. Bis heute gibt es in der katholischen Kirche keine Priesterinnen. In der evangelischen Kirche in Deutschland
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können Frauen seit den 1960er Jahren Pfarrerinnen sein. Inzwischen gibt es auch Bischöfinnen und damit Frauen in den höchsten Leitungsämtern. Kritische Auseinandersetzung mit der kirchlichen und zum Teil auch der biblischen Tradition war eine maßgebliche Voraussetzung für die heute zumindest im Prinzip durchgesetzte Gleichheit der Geschlechter. Die Überwindung von Ungleichheit ist aber noch immer nicht abgeschlossen, da beispielsweise Leitungsgremien de facto häufig von Männern dominiert werden. Auch gibt es einzelne evangelische Kirchen, die heute noch die Frauenordination für das Pfarramt ablehnen (beispielsweise in Lettland). Im Alten Testament finden sich Beispiele für polygame Eheformen, aber für die christliche Tradition wurde die Monogamie das maßgebliche Prinzip. Im Anschluss an Mt 19,6, wo die Eheschließung als eine von Gott gegebene Verbindung zu einer neuen Einheit zwischen Frau und Mann gesehen wird, sollte es auch keine Ehescheidung geben. Das ist gemeint, wenn im Katholizismus die Ehe als Sakrament und damit als gottgegeben angesehen wird. Im Katholizismus ist daher auch eine erneute Eheschließung – anders als im Protestantismus – ausgeschlossen. Frau und Mann im Koran Die Informationen zur Erschaffung des Menschen im Koran sind spärlich und vielseitig interpretierbar. Sie können so gedeutet werden, dass Adam der erste Mensch war und somit so etwas wie eine Schablone für die weitere Menschheit darstellte. Sie können aber auch so interpretiert werden, dass Adam als der erste Mensch für die Gattung der Menschheit steht, was eine evolutionstheoretische Sichtweise auf den Menschen möglich macht. Frau und Mann wurden in der Sicht des Koran aus einem Wesen erschaffen (Sure 4:1). In diesem Vers geht es um die Hervorbringung des Menschengeschlechts »aus einem Wesen oder einer Seele« (min nafsin wāḥidatin). »Nafs« hat im Arabischen ein feminines Geschlecht. Aufgrund des grammatikalisch weiblichen Geschlechts des Wortes »nafs« könnte man den Vers so verstehen, »dass Gott zuerst eine weibliche Person (nafs) geschaffen und daraus ihren Gatten (zawǧ) gemacht hat« (Paret, 2012, S. 180). »Zawǧ« kann für das weibliche und männliche Geschlecht verwendet werden und bedeutet: der eine Teil eines Paares, Gatte, Ehemann, Gattin, Ehefrau, Gefährte, PartnerIn, Paar. In den meisten nicht wissenschaftlichen Übertragungen des Koran wird das Wort »nafs« zwar mit Wesen übersetzt, das Wort »zawǧ« aber mit Gattin oder Gefährtin, was die ursprüngliche Offenheit des Koran in diesem Bereich auf eine patriarchalische Vorstellung reduziert (vgl. ausführlich Ulfat, 2018).
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Frau und Mann in der muslimischen Tradition Klassische Interpreten haben die im Koran offen bleibenden Fragen zur Erschaffung von Frau und Mann mithilfe weiterer Quellen, wie den Hadithen, der Bibel, apokryphen Schriften und älteren Mythen, in eine zusammenhängende Geschichte verwandelt und damit eine Geschlechterhierarchie gerechtfertigt. Die männlichen Interpreten nutzten verschiedene hermeneutische Strategien, um aus den Texten ein Bild der Frau herauszulesen, das ihrem eigenen Frauenbild entsprach und so den Männern sowohl Macht als auch Privilegien zuschrieb (vgl. Bauer, 2015, S. 102). So geht die Mehrzahl der klassischen Korankommentatoren davon aus, dass die Frau aus dem Mann erschaffen wurde, und zwar aus seiner Rippe, eine Sichtweise, die der Koran nicht stützt. In den zeitgenössischen Interpretationen des Koran hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, von der weitverbreiteten traditionellen Vorstellung einer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern hin zu der Vorstellung einer inhärenten Gleichheit. Leila Ahmed, Asma Barlas, Amina Wadud und andere sind sich zum Beispiel einig, dass die Implikationen, die aus den Diskussionen, Mythen und Konzepten über die Schaffung der ersten Menschen gezogen wurden, sich nachhaltig auf die Einstellung von Männern und Frauen bezüglich der Geschlechter und Geschlechterhierarchie ausgewirkt haben. Die Konstruktion der Frau hat Einfluss auf die Konstruktionen von Geschlechterrechten im muslimischen Rechtsdenken. So können aktuell drei verschiedene Diskurse rekonstruiert werden (vgl. Mir-Hosseini, 2003): Der »traditionalistische« Diskurs basiert auf der patriarchalischen Ideologie des vorislamischen Arabiens, die sich in die islamische Zeit hinein fortsetzte und die Gleichstellung der Geschlechter ablehnt. Der »neo-traditionalistische« Diskurs entstand im Zuge der Begegnung mit den westlichen Kolonialmächten. Die Gleichstellung der Geschlechter wird immer noch abgelehnt. Stattdessen wird der Begriff der »Komplementarität« von Geschlechterrechten und -pflichten eingeführt. Der »reformistische« Diskurs, der sich für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzt, entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Diskurs, der auch als emanzipatorisch bezeichnet werden kann, werden die klassischen Geschlechterdifferenzierungen nicht als Manifestation göttlicher Gerechtigkeit angesehen, sondern als Konstruktionen männlicher Rechtsgelehrter.
Alle drei Diskurse finden sich in der gelebten Praxis von MuslimInnen heute wieder, auch in Deutschland. Dadurch befinden sich viele muslimische Frauen in einer schwierigen Lage, denn sie müssen die Erwartungen zweier verschiedener Wertesysteme erfüllen, einerseits die des hiesigen säkularen Wertesystems, andererseits die ihres eigenen kulturell und religiös gefärbten Wertesystems. Nicht zuletzt in Antwort auf diese Wiedersprüche und Spannungsfelder haben muslimische TheologInnen geschlechtersensible koranhermeneutische Zugänge
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entwickelt, um ein besseres Verständnis der Quellen zu gewinnen und denen ein modernes Verständnis von Geschlechtergleichheit zugrunde liegt. Dabei verbinden sie ihre Koranexegese mit den Erkenntnissen der Soziologie und der Genderstudies (vgl. ausführlich Hidayatullah, 2014). Ungeachtet der Tatsache, dass viele muslimisch geprägte Länder mittlerweile die Einehe als rechtlichen Standard pflegen, ist ein weiteres, scheinbar unausrottbares Klischee gegenüber »dem Islam« die ihm als »wesensmäßig« zugeschriebene Eheform der Polygamie.4 Auch hier öffnet sich hinter der scheinbaren Eindimensionalität eine erheblich unübersichtlichere und vielfältigere Wirklichkeit. Ehe und Eheformen, seien sie monogam, polygam oder anders, sind eng mit ihren Kulturen und Rechtsnormen verzahnte soziale Konstrukte. Ehe wird in muslimischen Kontexten ganz anders als in christlichen Kontexten verstanden. Den muslimischen Ehevorstellungen fehlt die mystische und theologische Überhöhung des christlichen Ehebegriffs. Ihr Zugang ist erheblich pragmatischer. Der Begriff nikāḥ, der für die Beziehung zwischen Mann und Frau verwendet wird, hat zwei Bedeutungen: Geschlechtsverkehr und Ehevertrag. Je nach Rechtsschule gilt einer der Begriffe als primär, was zu unterschiedlichen Rechtsimplikationen führt (vgl. Ghandour, 2019, S. 28–35). Im Zentrum des Interesses des nikāḥ als Ehevertrag steht die soziale und rechtliche Sicherung der Familie und des geregelten Erbgangs. Er ist kein Sakrament, was u. a. daran sichtbar wird, dass eine Scheidung stets als möglich mitgedacht wird. Das Einverständnis beider Partner ist eine unabdingbare Voraussetzung des nikāḥ. Geschlechtsverkehr, Lust und sexueller Genuss im Rahmen des nikāḥ werden positiv als Teil der menschlichen Natur betrachtet. Die Vorstellungen von nikāḥ und die Regelungen, die ihn betreffen, basieren auf Vorstellungen der vorislamischen Araber. Muslimische Rechtsgelehrte haben diese Praxis lediglich normiert und nicht abgeschafft (vgl. Ghandour, 2019, S. 28–35).
So verhält es sich auch mit der Polygamie. Diese ist keine Besonderheit muslimisch geprägter Gesellschaften, sondern eine Praxis, die schon in der vorislamischen Zeit auf der arabischen Halbinsel praktiziert wurde und sich später fortsetzte, wenn auch in modifizierter Form. Koranische Verse sind kritisch gegenüber dem niedrigen Status von Frauen im vorislamischen Arabien und führten grundlegende Neuerungen herbei, besonders in der Art und Weise, wie Frauen angesehen und behandelt wurden. So spricht der Koran zwar davon, dass zwei, drei oder vier Frauen geheiratet werden können (4:3). Voraussetzung sei jedoch, dass ihr Ehemann jeder von ihnen in gleichem Maß gerecht werden kann. Der Vers missbilligt also implizit die Polygamie. 4 Auch wenn Muhammad selbst mehr als vier Frauen hatte, war dies zu keiner Zeit für MuslimInnen ein Anlass oder ein Gebot, das nachzuahmen.
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Interessanterweise wurde von Rechtsgelehrten ein Verbot der Polyandrie so begründet, dass der Vater der Kinder nicht ermittelt werden könne. Das hätte negative Auswirkungen auf das Erbrecht und weitere Rechte der Nachkommenschaft. Diese Norm hatte offensichtlich in ihrem soziokulturellen und historischen Kontext wirtschaftliche Plausibilität, ist heute aber obsolet (vgl. Ghandour, 2019, S. 36–43). An Beispielen wie diesen wird deutlich, dass auch die Normen, die sich im Bereich der Polygamie über lange Zeit und zahlreiche Kulturräume hinweg erhalten haben, heute keinen Sinn mehr machen und neu gedacht werden müssen.
Sexuelle Diversität in Christentum und Islam Für die christliche Sicht besonders von Homosexualität war lange Zeit die Gleichsetzung mit Sünde maßgeblich (etwa nach Röm 1,26 f.). Das erklärt, warum eine gleichgeschlechtliche Ehe, wie sie heute in Deutschland aufgrund einer neuen Gesetzeslage möglich ist, vielen ChristInnen anstößig erscheint, was zu erheblichen Konflikten in den Kirchen führen kann. Vor allem eine kirchliche Segnung wird in diesem Falle zum Teil strikt abgelehnt. Exegetisch wird allerdings darauf hingewiesen, dass bei Paulus nicht die Homosexualität als solche gemeint war, sondern die in der damaligen Welt anzutreffende Knabenliebe, die auch aus heutiger Sicht zu problematisieren ist. Insofern könne daraus keine allgemeine Gleichsetzung mit Sünde gefolgert werden. Zudem können in christlich-ethischer Sicht die heutigen Einsichten aus Biologie und Medizin, die von sexuell diversen Veranlagungen ausgehen, nicht einfach übergangen werden. Dass Gott alle Menschen geschaffen und ihnen Gottebenbildlichkeit geschenkt hat, gilt auch im Blick auf die sexuelle Diversität. In der muslimischen Tradition gibt es Belege dafür, dass MuslimInnen in urbanen Gesellschaften der Vormoderne (bis etwa 1800) eine große sexuelle Diversität kannten, die auch weithin toleriert wurde. Sexualität wurde offen thematisiert, Homoerotik akzeptiert und Prostitution mitunter besteuert (vgl. Ghandour, 2019, S. 165). In der Gegenwart lehnt die Mehrheit von muslimisch geprägten Gesellschaften sexuelle Diversität stark ab. Diese Ablehnung der Abweichung von heteronormativen Vorstellungen in muslimisch geprägten Gesellschaften ist also ein Phänomen, das relativ neu ist. Hass und Ablehnung gegenüber bestimmten sexuellen Orientierungen bis hin zu ihrer Verfolgung finden sich erst ab der Kolonialzeit (u. a. durch die Übernahme der viktorianischen Sexualmoral) und setzen sich bis heute fort. Eines der stärksten Argumente der SalafistInnen ist, solche liberalen sexuellen und Genderorientierungen hätten den Islam und die MuslimInnen »verdorben«. Sie fordern daher eine »Rückkehr« zu einem Ursprung, der ihre Ideale, nicht aber die historische Wirklichkeit widerspiegelt. Sie tabuisieren Sexualität, vertreten eine rigide Sexualmoral und predigen Beziehungsformen, die ihren Ursprung in patriarchalischen kulturellen Kontexten haben und nicht in der Religion. Hier kann – gegen das salafistische Selbstverständnis – von einem regelrechten Traditionsbruch
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gesprochen werden. Viele MuslimInnen tendieren zu der Annahme, dass die heutige Einstellung der SalafistInnen eine geschichtliche Kontinuität besitze, die es so aber nie gegeben hat.
Was die Homosexualität anbelangt, kommt weder im Koran noch in den sog. einwandfreien Hadithen (Hadithe, die lückenlos überliefert sind) der Begriff Homosexualität vor. In den Quellen wird kein expliziter Bezug auf gleichgeschlechtliche Sexualität und auf gleichgeschlechtlichen Verkehr genommen. Dennoch berufen sich vor allem viele klassische muslimische Rechtsgelehrte auf die koranische Version der Erzählung von Lot, auf deren Grundlage sie Geschlechtsverkehr zwischen Männern für verboten erklären. Bei der Geschichte von Lot, die in Sure 7:81, 27:55 und 26:165 f. aufgegriffen wird, geht es jedoch um sexualisierte Gewalt (Vergewaltigung), nicht um ein Verbot von Homosexualität im heutigen Sinne (vgl. Bauer, 2015; Ghandour, 2019). Thomas Bauer (2015, S. 77) kommt zu dem Schluss: »Von allen drei monotheistischen Religionen hat der Islam die schwächste Textbasis für eine Verurteilung von ›Homosexualität‹«.
3.3 Elementare Erfahrungen Alle Kinder und Jugendlichen, die heute in Deutschland aufwachsen, unterliegen im Blick auf Gender und Sexualität denselben starken Einflüssen vor allem aus den Medien. Insbesondere in der Werbung werden beständig (scheinbare) Ideale beispielsweise perfekter Körper und attraktiver (kostspieliger) Kleidung vor Augen gestellt, durch die sich vor allem Jugendliche mit ihrer oft so anderen körperlichen und materiellen Realität infrage gestellt sehen. Dabei spielt auch der Druck in der Gruppe der Gleichaltrigen eine wichtige Rolle. Religion wird vor allem dann wichtig, wenn es um bestimmte Normen geht. Nicht nur unter MuslimInnen, sondern auch unter ChristInnen herrschte lange Zeit eine strenge Sexualmoral vor. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es in Deutschland verboten, dass ein unverheiratetes Paar gemeinsam übernachtete. Eine Schwangerschaft vor der Ehe galt als tiefe Schande. Eine eigene Geschichte betrifft die katholische Sexualmoral, die sich zum Teil durch extreme Vorschriften für den Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität vom Protestantismus unterschied. Inzwischen haben solche Unterschiede zumindest in Deutschland weithin ihre Bedeutung verloren. Auch das Prinzip der Koedukation hat sich erst seit den 1960er Jahren durchgesetzt. Nach wie vor versuchen die Kirchen, einen verantwortungsbewussten Umgang mit Sexualität zu unterstützen, wie er auch in den Schulbüchern für den christlichen Religionsunterricht beschrieben wird. Wie sich dies allerdings mit den Missbrauchsskandalen verträgt und wie junge Menschen darauf reagieren, ist bislang noch kaum Thema in der Religionspädagogik.
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Bei muslimischen Jugendlichen geht zusätzlich ein Einfluss von den Herkunftskulturen sowie von unterschiedlichen religiösen Vorstellungen aus. Vor allem im Bereich der Sexualmoral, der Beziehungsformen und der familiären Verbundenheit zeigen sich geschlechtsspezifische Unterschiede, die allerdings je nach Herkunftskultur und Auslegung des Islam stark variieren. Folgende Problemfelder können dabei auftreten: Die Tabuisierung von Sexualität, fehlende Sexualaufklärung in der Familie, die kollektive Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit vor der Ehe insbesondere für Mädchen und Frauen, die Kontrolle der Sexualität der Mädchen und Frauen durch die männlichen Familienmitglieder, fehlende sexuelle Selbstbestimmung vor allem bei Mädchen und Frauen und die Tendenz zur Sexualisierung weiblicher Körper nicht nur durch die genannten Aspekte, sondern auch durch bestimmte Deutungen des Kopftuchs und anderer Elemente traditioneller Bekleidung aus muslimisch geprägten Kulturen (vgl. Wensierski, 2007, S. 62 f.).
Freilich gibt es auch zahlreiche Beispiele für junge Musliminnen, die sich nicht an die Virginitätsnorm halten und sexuelle Erfahrungen außerhalb der Ehe sammeln. Insbesondere Bildungsaspirationen ermöglichen jungen Frauen, sich der sozialen Kontrolle zu entziehen und eine individualisierte Lebensführung zu realisieren (vgl. Schäfer & Schwarz, 2007, S. 270). Als ein »Sonderphänomen« bezüglich der Jugendphase von Musliminnen kann das Kopftuch gelten, das wie kaum ein anderes Kleidungsstück in der deutschen Nachkriegsgeschichte zum umstrittenen Zankapfel der öffentlichen Diskurse avancierte. In der nicht-muslimischen Wahrnehmung gilt es meist als ein Symbol für Rückständigkeit. In der Selbstwahrnehmung der Musliminnen kann das Tragen des Kopftuchs jedoch eine ganze Reihe unterschiedlicher Gründe haben. Das Kopftuch hat die Tendenz, für muslimische Mädchen und Frauen zu einem kraftvollen, immer wieder aber auch erdrückenden Element ihrer sozialen, kulturellen und religiösen Identitäten zu werden. Die vieldimensionale Konnotierung des Kopftuchs hebt seine Trägerinnen heraus, macht sie zu etwas Besonderem, oft genug aber auch zu Zielscheiben.
3.4 Elementare Zugänge Bei Sexualität und Gender kommt es nicht nur auf die prägenden Erfahrungen an, die Kinder und Jugendliche machen, sondern auch darauf, welche eigenen Vorstellungen sie dazu ausbilden. Schon vor Jahrzehnten hat etwa Lawrence Kohlberg (1974) aufgezeigt, dass Geschlechtsrollen immer auch Konstruktionen darstellen, die ab einem gewissen – in der Regel frühen – Alter anzutreffen sind. Daneben spielen hier Einstellungen ebenfalls eine wichtige Rolle.
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In religionspädagogischer Hinsicht stellt sich in erster Linie die Frage, ob Kinder und Jugendliche auch ihre eigene Religiosität mit Sexualität und Gender in Verbindung bringen. Für christliche Kinder und Jugendliche liegen dazu allerdings keine aktuellen Befunde vor, sodass nur im Unterricht selbst auf solche Vorstellungen und Einstellungen geachtet werden kann. Neuere Befunde zur Genderfrage bei jungen MuslimInnen zeigen, dass Einstellungen und Haltungen zu Geschlecht nicht nur auf religiöse Vorstellungen zurückzuführen sind. Das zeigen vor allem intersektional angelegte Studien, die bestimmte Merkmale wie religiöse Überzeugungen, Geschlecht, sexuelle Orientierung, sozialer Status, ökonomische Verhältnisse, kultureller Hintergrund, Bildung, Alter, Ethnie usw. nicht isoliert voneinander betrachten, sondern in ihrer Interdependenz (wechselseitige Abhängigkeit). Der Ansatz der Intersektionalität hilft, essenzialistische Sichtweisen zu vermeiden, wie beispielsweise, dass Religion eine feste und unveränderbare Größe ist, die das Verhalten von Menschen als einzige Kategorie determiniert (vgl. z. B. Gasser, 2020).
3.5 Elementare Wahrheiten In dieser Hinsicht kann zunächst auf die für christliche und muslimische Kinder und Jugendliche gleichermaßen prägende Situation eines Umbruchs verwiesen werden. Dieser Umbruch begann in Deutschland in den 1960er Jahren und ist bis heute nicht zum Abschluss gekommen, wie die öffentlichen Debatten um #MeToo, Missbrauchsfälle in den Kirchen, die prekäre Rolle genderqueerer Menschen, die Frage der Ehe für alle und weitere Problemkomplexe zeigen. Hier spielen auch Vorbilder – etwa aus den Medien – eine nicht unproble matische Rolle. Welche Vorbilder sind für heutige Kinder und Jugendliche attraktiv? Religionspädagogisch kommt es darauf an, Kindern und Jugendlichen die Fragwürdigkeit von Idolen vor Augen zu stellen, ohne dabei ihre eigenen Vorstellungen und Wünsche zu verletzen. Für viele muslimische Jugendliche ist heute von einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (Ernst Bloch) zu sprechen. Sie leben in einem Land, in dem ein selbstbestimmter Umgang mit Sexualität und Gender den generell akzeptierten Standard bildet, können aber gleichzeitig in einem sozialen Umfeld verankert sein, das eine tendenziell restriktive, vom Kollektiv kontrollierte Sexualethik vertritt. Die Herausforderung für die Religionsdidaktik besteht darin, den Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen, in diesem Spannungsfeld ihren persönlichen Weg zu suchen. Dazu brauchen sie die Fähigkeit, sich in solchen Fragen Wissen anzueignen, sowohl zur biologischen Seite von Geschlecht als auch zur sozialen
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Seite, auch wie sie sich im religiösen Denken ausdrückt. Dieses Wissen ist für die Kinder und Jugendlichen ein wesentlicher Faktor von Selbstbestimmung und Mündigkeit. Nur auf einer solchen Basis können Kinder und Jugendliche eigenverantwortlich Entscheidungen treffen und ihre eigene je individuelle geschlechtliche Identität finden und bejahen. Sowohl im islamischen als auch im christlichen Religionsunterricht bedeutet das Thema Gender und Sexualität immer auch eine besondere didaktische Herausforderung. Der Religionsunterricht kann hier schnell an Grenzen stoßen. Das für Kinder und Jugendliche sehr persönliche Thema kann nicht einfach abstrakt abgehandelt werden. Zudem sind das potenzielle Leid und die Verletzbarkeit in diesem Bereich enorm groß. Der Unterricht muss hier für die Kinder und Jugendlichen Räume schaffen, wo sie nach eigenen Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfen fragen können sowie danach, in welchem Geschlecht sie sich selbst verorten (wollen). Unverantwortlich wäre es, wenn dabei beispielsweise rigoristische Herangehensweisen z. B. beim Thema Homosexualität die Not der Kinder und Jugendlichen noch vergrößern würden. Insofern fordert das Thema die Lehrkräfte selbst heraus, da sie von den SchülerInnen mehr oder weniger offen mit ihrer eigenen sexuellen Orientierung, ihrer Haltung zur sexuellen Diversität und ihren Geschlechterkonstruktionen konfrontiert werden. Mehr als irgendein anderes Thema liegt der Fragenkomplex Sexualität und Gender dicht an der Grenze zwischen Didaktik und Seelsorge.
3.6 Elementare Lernformen Einen sehr effektiven Zugang kann diesem Thema beispielsweise die Medienanalyse bieten. So können im Unterricht Bilder analysiert werden, die vorhandene Stereotype aufbrechen und die SchülerInnen mit der Lebenswirklichkeit traditionell als deviant eingestufter Formen der Sexualität und der Genderidentität konfrontieren, zum Beispiel transsexuelle oder homosexuelle ChristInnen und MuslimInnen (auch ImamInnen und PfarrerInnen). Für muslimische Schülerinnen können auch unverheiratete Paare anstößig sein. Durch die kritische Beschäftigung mit Berichten und Bildern aus den Medien werden der Macht der vertrauten Stereotypen andere Bilder möglichen Menschseins entgegengesetzt. Anhand der Kontrastierung der Bilder und der Geschichten der dargestellten Personen können Klischees, Dichotomisierungen und Homogenisierungen zumindest ansatzweise dekonstruiert und die Kinder und Jugendlichen für die Problematik der mit ihnen verbundenen Werturteile sensibilisiert werden. Das
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gibt ihnen die Möglichkeit, auch die eigenen Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfe neu auszuhandeln und sich kritisch gegen vorherrschende Stereotype oder Zuschreibungen abzusetzen (vgl. Haeger, 2008, S. 91). Im Dialog Fahimah Ulfat: Mir kommt es so vor, als würden die biblischen Geschlechter konstruktionen und das untergeordnete Bild der Frau, die sich in der Bibel finden lassen, im heutigen Kontext gar keine Rolle mehr zu spielen. Wie kam es dazu? Friedrich Schweitzer: Ganz so optimistisch kann ich da nicht sein. Es gibt wohl bei bestimmten Gruppen noch immer patriarchalische Vorstellungen, die religiös begründet werden. Im Übrigen aber haben Frauen im Christentum eine erstaun liche Aufklärungsarbeit geleistet und sich beispielsweise in Führungsrollen in der Kirche bewährt. Pfarrerinnen sind in der evangelischen Kirche sehr beliebt und erfolgreich. Ich sehe mit Bedauern, dass die katholische Kirche diese Potenziale nicht nutzt. Fahimah Ulfat: »Queer sein« und »religiös sein« scheint oft schwierig zu verein baren. Liebt Gott queere Menschen und wenn ja, wie können Religionen das Wirklichkeit werden lassen? Was kann die Religionsdidaktik dazu beitragen, queeren Menschen zu einem akzeptierten Platz in religiösen Gemeinschaften zu verhelfen? Friedrich Schweitzer: Ich habe den Eindruck, dass wir da noch ganz am Anfang eines langen Weges stehen. Die Thematik gewinnt erst allmählich an Fahrt. Wie das Beispiel der Geschlechterhierarchien zeigt, dauert es sehr lange, bis sich ein verändertes Bewusstsein bis in die Praxis hinein wirklich durchset zen kann. Umso wichtiger ist es, entsprechende Themen auch zunehmend im Religionsunterricht aufzunehmen.
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Religionen, Konfessionen und religiöse Gruppierungen
Dieses Thema ist nicht nur für den Religionsunterricht besonders spannend, sondern auch im Blick auf eine interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik. Eine solche Darstellung beruht auf einem bestimmten Verständnis von Konfessionen, Religionen und religiösen Strömungen. Darüber hinaus gibt die Bearbeitung des Themas im Unterricht Kindern und Jugendlichen die Chance, sich mit Sinn und Möglichkeiten eines bekenntnisbezogenen oder kooperativen Religionsunterrichts auseinanderzusetzen.
4.1 SchülerInnenfragen Zur Wahrnehmung der religiösen Vielfalt in der Gesellschaft, der eigenen Schule oder Schulklasse liegen aus Umfragen Äußerungen von Jugendlichen vor, die zumindest einen gewissen Aufschluss dazu geben. Mehrheitlich herrschen Offenheit und Neugier vor: Kinder und Jugendliche finden es spannend, Genaueres über die Religion besonders anderer SchülerInnen zu erfahren (vgl. Pohl-Patalong et al., 2017; Schweitzer et al., 2018; Uslucan, 2011). Immer wieder wird aber bei den christlichen SchülerInnen auch eine Ablehnung »extremer« Formen von Religion deutlich, wobei sie diese mit ihrer eigenen »normalen« Religiosität kontrastieren. Das in ihrer Sicht zulässige Spektrum des »Normalen« wird besonders durch ausgeprägtes rituelles Verhalten, religiöse Bekleidungsvorschriften sowie festliegende Glaubensweisen überschritten. Nicht zu übergehen ist – den meisten Untersuchungen zufolge – ein Anteil der SchülerInnen im Religionsunterricht, die von Antisemitismus und Islamfeindlichkeit beeinflusst sind. Die Einstellungen muslimischer Kinder und Jugendlicher zum Christentum wurden noch nicht untersucht, sodass sich nicht sagen lässt, wie weit in dieser Hinsicht skeptische oder abwertende Haltungen verbreitet sind. Für den Unterricht sollte auch damit gerechnet werden.
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Prinzipiell scheinen Kinder und Jugendliche die religiöse Vielfalt gut zu finden. Dabei spielt – weniger für Kinder als für Jugendliche – eine Rolle, dass die Vielfalt individuelle Wahlmöglichkeiten eröffnet (vgl. Schweitzer et al., 2006). Diese Wahrnehmung passt gut zu einer weiteren, bei Jugendlichen beim Thema Glaube oder Religion vielfach überhaupt an die erste Stelle gerückten Überzeugung: Religiöser Zwang wird konsequent abgelehnt, während religiöse Selbstbestimmung uneingeschränkt bejaht wird: Sie selbst entscheiden darüber, was sie glauben wollen. Als Ausnahme müssen Jugendliche gelten, die sich in radikalreligiösen oder fundamentalistischen Kontexten bewegen. Sie würden die Selbstbestimmung zwar ebenfalls bejahen, aber für sie besteht die Wahl in der Entscheidung einfach zwischen Richtig und Falsch und für sie gibt es kaum Zweifel, was richtig ist. Im Vergleich zu früheren Zeiten, in denen für christliche Jugendliche beim Verhältnis zwischen den christlichen Konfessionen die Glaubwürdigkeit des Christentums auf dem Spiel zu stehen schien, hat sich eine Verschiebung vollzogen: Galt es damals als unglaubwürdig, wenn es in einer Religion zu Spaltungen kam, sehen heutige Kinder und Jugendliche Probleme eher dann, wenn religiöse Unterschiede zu Aggression und Gewalt führen. Anders als aus der religionssoziologischen Literatur zu erwarten (etwa Peter Bergers »Zwang zur Häresie«, 1980), tendieren die Jugendlichen nicht zu mehrfach wechselnden religiösen Zugehörigkeiten. Die allermeisten wollen bleiben, was sie sind. Höchstens ein Austritt aus der Kirche kommt für christliche Jugendliche infrage, wobei es vor allem um ein distanziertes Verhältnis zur Kirche als Institution geht. Freundschaften und auch einer zukünftigen Eheschließung stehen konfessionelle und religiöse Unterschiede zumeist nicht im Wege, zumindest solange die PartnerIn sich im Spektrum des »Normalen« bewegt. Bei muslimischen Jugendlichen spielen religiöse Unterschiede bei der PartnerInnenwahl eher eine Rolle als bei christlichen, zumindest wenn es um eine spätere Eheschließung geht. Noch wenig erforscht ist allerdings die Bedeutung der unterschiedlichen gesellschaftlichen Ausgangspositionen christlicher und muslimischer Kinder und Jugendlicher. Es liegt auf der Hand, dass die Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse, die Migrationshintergründe sowie die noch immer vorherrschende soziale Ungleichheit, die beispielsweise auch in einer unterschiedlichen Gymnasialquote zum Ausdruck kommt, sich im Blick auf interreligiöse Beziehungen auswirken. Bemerkenswert ist auch der Befund, dass Themen wie der interreligiöse Dialog eher Mädchen als Jungen sowie Kinder und Jugendliche aus eher bildungsnahen Elternhäusern zu interessieren scheint (vgl. Unser, 2019).
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Religionen, Konfessionen und religiöse Gruppierungen
4.2 Elementare Strukturen Die religiöse Gegenwartssituation wird an anderer Stelle in diesem Band beschrieben ( S. 14 ff.). Im Folgenden geht es um den Unterricht und damit um Themen, die Kindern und Jugendlichen besonders wichtig sind. Darüber hinaus müssen die alltäglichen, persönlichen oder medialen Begegnungen mit Konfessionen und Religionen beachtet werden. Was sind eigentlich Religionen, was sind Konfessionen und was unterscheidet beide voneinander? Der Begriff Religion wird heute so gebraucht, als würde er eine universelle Gegebenheit beschreiben, die in allen Kulturen und zu allen Zeiten vorhanden war. Dies wird inzwischen zunehmend infrage gestellt (vgl. bereits Sundermeier, 1999; aktuell Nongbri, 2013, S. 2). Die Problematik des Religionsbegriffs wird schon dadurch deutlich, dass antike Sprachen kein Wort für Religion im heutigen Sinne kennen und nicht jede spirituelle Gruppierung sich selbst als Religion versteht. Der heutige Begriff Religion ist im Gefolge der europäischen Religionskriege (1530–1630) entstanden und wurde durch die europäische Aufklärung geprägt. Bei den Religionskriegen in Europa gelang es den Parteien nicht, den Streit um das »wahre Christentum« in einer Weise zu lösen, die zu Frieden und Stabilität führte. Die Lösung wurde erst durch »die Verbannung des Glaubens an Gott in eine private Sphäre« erreicht und durch die Unterordnung des Glaubens unter die »Loyalität zu den Rechtskodizes der sich entwickelnden Nationalstaaten« (Ahmed, 2017, S. 6). Selbst wenn der Islam von MuslimInnen in der Gegenwart als Religion bezeichnet wird, muss angemerkt werden, dass der Koran kein begriffliches Pendant zum Begriff Religion kennt (vgl. Ulfat, 2019b). Auch in Religionswissenschaft und Religionssoziologie besteht der einzige Konsens zum Religionsbegriff darin, dass er nicht eindeutig zu bestimmen ist (vgl. Knoblauch, 1999, S. 10–13). Im Religionsunterricht sollte der Religionsbegriff ebenfalls in kritisch reflektierter Weise verwendet werden. Von Konfessionen (dem englischen Sprachgebrauch folgend: Denominationen) wird im Blick auf verschiedene Bekenntnisse innerhalb des Christentums gesprochen (vgl. Bochinger et al., 1998; Klöcker & Tworuschka, 2019). Mit der Trennung zwischen der evangelischen und der katholischen Kirche nahm das Christentum die Gestalt einer sich in verschiedene Konfessionen ausdifferenzierenden Religion an. Die Trennung zwischen der Ostkirche (Orthodoxie) und der Westkirche (später als Katholizismus bezeichnet) wurde bereits im Jahr 1054 besiegelt. Vor allem im Protestantismus standen sich von Anfang an Lutheraner und Reformierte gegenüber. Dazu kamen, teilweise in späterer Zeit, zahlreiche weitere evangelische Kirchen (Methodisten, Baptisten usw.),
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die sich auch als Freikirchen bezeichnen, weil hier keine Bindung an einen Staat gegeben ist. Trotz der zum Teil ausgeprägten Ablehnung und Abwertung der jeweils anderen Konfessionen stand die Zugehörigkeit der Kirchen zum Christentum prinzipiell nicht infrage. Vielmehr war es gerade der Streit um das richtige Verständnis des christlichen Glaubens, der die Auseinandersetzungen ermöglichte. So gesehen unterscheiden sich die Begriffe Konfession und Religion dadurch, dass Religionen durch eine gemeinsame Glaubensweise oder ein bestimmtes Bekenntnis konstituiert werden und verschiedene Religionen entsprechend durch unterschiedliche Glaubensweisen und Bekenntnisse voneinander abgegrenzt werden. Wenn der Begriff der Konfessionen auch auf andere Religionen angewendet wird, setzt dies voraus, dass sich der aus dem Christentum stammende Begriff von seiner geschichtlichen Entstehung ablösen lässt. Um dieser Schwierigkeit zu entgehen, wird bei nicht-christlichen Religionen mitunter statt von Konfessionen von religiösen Strömungen oder Gruppierungen gesprochen. Beim Judentum etwa kann an die Dreiteilung in orthodox, konservativ und liberal gedacht werden. Beim Islam ist der Begriff der Konfessionen letztlich nicht sinnvoll anwendbar. Die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten ist auf politische Ursachen zurückzuführen: Der Begriff Schia oder Schiitentum steht für schīʿat ʿAlī = »Partei Alis«. Die Schiiten sehen sich als Anhänger vonʿAlī ibn Abī Tālib, dem Schwiegersohn und Vetter des Propheten Muhammad, den sie als dessen einzigen rechtmäßigen Nachfolger (Kalif) betrachten. Der Hauptunterschied zwischen Sunniten und Schiiten liegt bis heute in der Frage, wer die politische Führung nach dem Tode des Propheten übernehmen sollte. Nach dem militärischen Scheitern der Herrschaftsansprüche der Erben Alis entwickelten schiitische Theologen die Theorie, dass die Söhne Alis und die ihnen folgenden »Imame« nicht nur politische, sondern auch religiöse Führer seien. Die theologischen Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten haben somit ihren Ursprung in den Diskursen des 8. und 9. Jahrhunderts. Mit der Zeit haben sich verschiedene theologische Traditionen, genannt Verständniswege (mad-āhib), entwickelt. Unter den sunnitischen Verständniswegen haben sich der mālikītische, der ḥanafītische, der šafiʿītische und der ḥanbalītische durchgesetzt. Zu den Schiiten gehören u. a. die Imamiten, die Zaiditen und die Ismailiten. Ob das Alevitentum als eine Strömung des Islam angesehen wird, ist umstritten. Ein Teil der AlevitInnen sieht sich als MuslimInnen, ein anderer Teil sieht seine Religion als eine vom Islam grundlegend zu unterscheidende an.
MuslimInnen kennen keine Institution wie die Kirche, die das christliche Verständnis von Mensch und Welt und den Inhalt des christlichen Glaubens in die Gesellschaft hinein vermittelt. Bei MuslimInnen war und ist es die stets neue und stets unabgeschlossene Aufgabe der Gemeinschaft, die göttliche Botschaft und das prophetische Erbe zu interpretieren (vgl. Ahmed, 2017, S. 192). Allerdings muss angemerkt werden, dass bestimmte Normen, die in anderen Kontex-
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ten und zu anderen Zeiten entstanden sind, hartnäckig über die Jahre erhalten wurden. Viele muslimische TheologInnen fordern daher, eine Dekonstruktion und Desakralisierung der Normenlehre (fiqh), um den enormen sozialen Veränderungen unserer Zeit Rechnung zu tragen und Reformen zu bewirken, die insbesondere die zwischenmenschlichen Beziehungen betreffen, wie beispielsweise die Geschlechtergleichheit. In der Gegenwart ist die individuelle Vielfalt innerhalb der verschiedenen Konfessionen und Religionen in neuer Weise bewusst geworden. Aus der Zugehörigkeit zu einer Konfession oder Religion kann nicht einfach auf bestimmte Glaubensüberzeugungen geschlossen werden. »Jede/r ein Sonderfall« ist der treffende Titel einer religionssoziologischen Studie aus der Schweiz (Dubach & Campiche, 1993). In der (englischen) Religionspädagogik wird die Annahme der Existenz von Religionen als distinkte Größen zum Teil grundsätzlich infrage gestellt (vgl. Jackson, 1997). Dabei wird etwa auf den Hinduismus verwiesen, den es schon begrifflich vor der Kolonialzeit gar nicht gegeben habe. Bei dieser Kritik an der Vorstellung distinkter Religionen wird allerdings nicht ausreichend beachtet, dass beispielsweise die Abgrenzung zwischen Christentum und Islam für viele MuslimInnen und ChristInnen durchaus eine Rolle spielt. Darüber hinaus kann hier auch auf festliegende Bekenntnisgrundlagen verwiesen werden. Manche Kinder und Jugendliche wollen auch wissen, warum es eigentlich verschiedene Konfessionen und Religionen gibt. Angesichts der geschichtlichen Faktizität ist dies natürlich eine hypothetische Frage, aber sie ist theologisch durchaus bedeutsam. Mögliche Antworten können auf verschiedenen Ebenen gegeben werden. Auch für Kinder und Jugendliche leicht nachvollziehbar ist der Hinweis auf Freundschaften und darauf beruhende Gruppenbildungen: Man ist gerne mit denen zusammen, die einem nicht ständig widersprechen. Für theologische Erklärungen wichtig ist der für Bibel und Koran zwar unterschiedliche, aber doch gleichsinnige Befund, dass hier die Existenz des Judentums (in der Sicht des Neuen Testaments) oder auch beider Religionen, Judentum und Christentum (so im Koran) vorausgesetzt und bejaht wird. Ebenfalls in der Bibel wie im Koran gibt es auch unterschiedliche Formen des Umgangs mit der religiösen Vielfalt: ausdrückliche Gesprächsangebote, die für ein Verständnis des jeweils eigenen Glaubens werben – etwa Paulus auf dem Areopag (Apg 17) oder die Einladung zum Gespräch auf Augenhöhe (Sure 3:64) –, aber auch die Mahnung zu Einheit statt Zerstrittenheit in der eigenen Religion (etwa bei Paulus) oder die Ansicht, dass Meinungsverschiedenheit ein Segen für eine Glaubensgemeinschaft ist (etwa bei Muhammad). Im Kern steht hinter der konfessionellen und religiösen Vielfalt immer ein Wahrheitsbewusstsein, das den eigenen Glauben konstituiert. Da dieses Wahrheitsbewusstsein den innersten Kern des menschlichen Daseins und dessen Sinn betrifft, erwachsen daraus unvermeidlich Unterscheidungen und Trennungen von denen, die dieses Bewusstsein nicht teilen.
Gesellschaftlich gesehen stellen vor allem fundamentalistische Strömungen vor Probleme, weil sie zu Aggression und Gewalt führen können. Der Fundamentalis-
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mus wird heute vor allem mit dem Islam identifiziert, aber sein geschichtlicher Ursprung liegt im Christentum. Dabei ging es – im frühen 20. Jahrhundert vor allem in den USA – um die Abwehr der historisch-kritischen Bibelauslegung auf der einen und der Evolutionstheorie auf der anderen Seite (vgl. Numbers, 2006). Mit deren wachsendem Einfluss schienen die eigenen Glaubensüberzeugungen immer mehr infrage gestellt, sodass es den Anhängern dieser Bewegung wichtig war, die Grundlagen des Glaubens (»the fundamentals«) zu verteidigen. Das wesentliche Problem an dieser Stelle liegt in einem ahistorischen und statischen Bild der eigenen Religion. Das, was diese Richtung für die unverzichtbaren Grundlagen des eigenen Glaubens hält, muss ihrer Überzeugung nach für andere Strömungen dieselbe Relevanz besitzen – z. B. der Glaube an die Verbalinspiration der Bibel. Die Attraktivität solcher, sich selbst als fundamentalistisch verstehender Strömungen liegt in ihrer scheinbaren Einfachheit und Eindeutigkeit (vgl. Marty & Appleby, 1991–1995).
Fundamentalistische Strömungen finden sich heute in vielen Religionen. In etlichen Ländern des muslimischen Kulturraums wird die westliche Kultur dabei häufig als eine so weitreichende Infragestellung des eigenen Glaubens und einer religiös begründeten Lebensführung wahrgenommen, dass nur entschiedene Ablehnung und Verteidigung übrig bleiben. In extremen Fällen kann daraus eine gewaltbereite Haltung erwachsen. Von daher ist es nachvollziehbar, dass in der Fundamentalismusprävention eine wichtige Aufgabe für Schule und Religionsunterricht gesehen wird (Überblick: Ceylan & Kiefer, 2018).
4.3 Elementare Erfahrungen Vielfach ist der Kindergarten der erste Ort, an dem Kinder anderen Kindern mit einer anderen Konfessions- oder Religionszugehörigkeit sowie ohne formelle Zugehörigkeit begegnen. Auch in Schule und Freizeit ist die religiös- weltanschauliche Vielfalt präsent, ebenso wie in den Medien, die von Kindern und Jugendlichen alltäglich genutzt werden. Bei besonderen Anlässen – in der Weihnachtszeit oder im Ramadan – treten die Unterschiede stärker in den Vordergrund. Durchweg zu bedenken sind dabei die ungleichen Voraussetzungen: Während sowohl das Christentum als auch der Islam in den deutschsprachigen Ländern eine ausgeprägte alltägliche Präsenz aufweisen, begegnen Kinder und Jugendliche hier dem Judentum nur sehr selten. Seit dem Holocaust stellen jüdische Menschen in diesen Ländern eine kleine Minderheit dar. Im Blick auf muslimische Kinder und Jugendliche spielt in vielen Fällen die Darstellung jüdischer Menschen und Israels in den Medien eine nicht immer unproblematische Rolle. Vielfach können die muslimischen Kinder und Jugendlichen nicht zwischen dem Judentum als Religion und dem Zionismus als einer politischen
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Strömung differenzieren, was in nicht geringem Ausmaß auch an den Darstellungen des Judentums liegt, die sie aus den Medien der Herkunftsländer ihrer Eltern und oft auch den informellen Diskursen ihres sozialen Umfelds kennen. Die konfessionellen Unterschiede spielen für Kinder und Jugendliche im christlichen Bereich hierzulande eine abnehmende Rolle. Christliche SchülerInnen haben eher selten eine ausgeprägte kirchliche Verankerung, und etwa ein Drittel von ihnen kommt aus einem konfessionsverbindenden Elternhaus. Freundschaften und Partnerschaften über konfessionelle Grenzen hinweg sind längst selbstverständlich. Da es zwischen den sunnitischen und schiitischen Traditionen in der religiösen Praxis kaum Unterschiede gibt, werden die beiden Strömungen gerade von Kindern und Jugendlichen in Deutschland in erster Linie als »ethnische« bzw. politische Gruppen wahrgenommen. Zudem gehört die überwältigende Mehrheit der hier lebenden MuslimInnen zu den Sunniten. Allerdings werden die Unterschiede dann virulent, wenn politische Ereignisse in den Medien und den sozialen Umfeldern der Kinder und Jugendlichen religiös legitimiert werden und zur gegenseitigen Schuldzuweisung missbraucht werden. Diese eigentlich politischen Kontroversen gehen an den muslimischen Kindern und Jugendlichen nicht vorbei. Religiös geladene Konflikte auf der Ebene des Globalen haben auch auf der Ebene des Lokalen Auswirkungen, sodass man von »glokalen« Konstellationen sprechen kann, die schülernah und differenziert entschlüsselt werden müssen (Simojoki, 2014, S. 173). Soweit in der Erfahrungs- und Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen noch von Grenzen zu sprechen ist, betreffen sie eher die verschiedenen Religionen als die Konfessionen. Dabei mischen sich unterschiedliche Einflüsse wie Schulart, Wohnquartiere, gesellschaftliche Stellung u. a. mit religiösen Prägungen. Grenzen, die mitunter als religiös wahrgenommen werden, haben vielfach mit solchen sozialen Faktoren zu tun und können nicht einfach auf unterschiedliche Glaubensüberzeugungen zurückgeführt werden. Wo dies dennoch geschieht, wird kritisch von »Religionismus« oder »Religiösierung« gesprochen, wodurch die Grenzen zwischen den Religionen übersteigert und falsche Zuschreibungen erzeugt werden (vgl. Hull, 2000). Aus einer Grundschülerin, deren Großeltern einmal aus der Türkei eingewandert sind, wird dann einfach eine »Muslimin«, deren Religionszugehörigkeit ihr gesamtes Verhalten erklären soll. In dieser Hinsicht wird von Othering (Zum-Anderen-machen) gesprochen. In diesem Prozess wird ein kollektives »Wir« und ein kollektives »die Anderen« anhand der Kategorie Religion konstruiert: »Subjekte werden so einem bestimmten religiösen Kollektiv (dem
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Islam) zugeordnet, sie werden als homogene Gruppe konstruiert, die als grundsätzlich anders als die eigene Gruppe wahrgenommen wird. Der Islam wird zur anderen, zur fremden Religion. Dies geschieht innerhalb und durch vielfältige (mediale, gesellschaftspolitische, akademische etc.) Praktiken der Ausgrenzung, Zuschreibung, Hierarchisierung, Differenzierung, Homogenisierung und Essentialisierung« (Lingen-Ali & Mecheril, 2016, S. 19). Jugendliche werden mithilfe der »sozialen Deutungs- und Identifikationspraxis Religion« eindimensional als MuslimInnen hergestellt bzw. »muslimisiert« und damit muslimischer gemacht, als sie meistens sind. Das kann auch dazu führen, dass sie sich in Reaktion auf diese Ausgrenzung selbst »muslimisieren« (S. 20).
Vor allem in den Medien finden aggressive Ausdrucksformen von Religion und Religionen starke Aufmerksamkeit. Wenn christliche Jugendliche mit dem Islam Gewalt assoziieren, dürften dahinter nicht zuletzt entsprechende mediale Darstellungen stehen. Die Auseinandersetzung mit solchen Darstellungen gehört deshalb auch zum Religionsunterricht.
4.4 Elementare Zugänge Bei dieser Elementarisierungsdimension geht es darum, wie Kinder und Jugendliche Konfessionen und Religionen wahrnehmen oder, konstruktivistisch formuliert, wie sie diese konstruieren. Ihre Deutungsweisen sind dabei immer von ihren Erfahrungen abhängig, aber auch entwicklungsbedingte Unterschiede spielen eine Rolle. Schon vor mehr als 50 Jahren hat der Entwicklungspsychologe David Elkind (1961, 1962, 1963) untersucht, wie Kinder verschiedenen Alters die christlichen Konfessionen sowie das Judentum und ihre Angehörigen wahrnehmen. Dabei trat vor allem bei jüngeren Kindern die Vermischung von Nationalitäten und Konfessions- und Religionszugehörigkeiten vor Augen (Gibt es evangelische Italiener? Blonde Juden? Usw.). Bei Untersuchungen im Zusammenhang des konfessionell-kooperativen (evangelisch-katholischen) Religionsunterrichts (vgl. Schweitzer et al., 2002, 2006) verweisen die Befunde bei den Kindern auf Sichtweisen, die zeigen, dass konfessionelle Unterschiede auch heute noch vor Probleme des Verstehens sowie zu originellen Konstruktionen führen können. So waren manche Kinder der Meinung, dass solche Unterschiede angeboren seien oder dass die evangelische bzw. katholische Konfessionszugehörigkeit vielleicht vom Geburtsjahr abhänge (in geraden Jahren katholisch, in ungeraden evangelisch …). Bei Jugendlichen waren solche Deutungen nicht mehr zu finden. Stattdessen betonten die Jugendlichen, dass es zwischen den Konfessionen kaum bedeutsame Unterschiede gebe, wohl aber zwischen den verschiedenen Religionen. Auch glaubensbezogene Unterschiede wurden dabei zum Teil von den Kindern und Jugendlichen angesprochen, aber vielfach standen sichtbare Unterschiede beispielsweise bei Festen, Ritualen, Kleidungsweise usw. vor Augen.
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Kinder und Jugendliche haben auch eigene Vorstellungen vom Zusammenleben in religiös-weltanschaulicher Vielfalt. Abgelehnt werden vor allem Aggression und Gewalt. Einzelne Studien aus dem Bereich der Kindertheologie zeigen, dass zumindest manche Kinder Visionen eines friedlichen und versöhnten Zusammenlebens verschiedener Religionen haben.
4.5 Elementare Wahrheiten Das Thema Konfessionen und Religionen bringt insbesondere für Kinder, aber auch für Jugendliche und Erwachsene ganz unvermeidlich die Frage mit sich, wohin man selbst gehört und gehören will. Bei Kindern hängt die Antwort eng mit der Herkunftsfamilie zusammen (Was sind eigentlich wir?). Bei Jugendlichen im Bereich des Christentums führen Individualisierungstendenzen in vielen Fällen dazu, dass für die eigene Person keine klare Zugehörigkeit gewünscht wird. Das spiegelt sich beispielsweise in der Selbstbezeichnung als »gläubig« statt als »religiös«. Denn »religiös« wird insbesondere mit Institutionen wie der Kirche in Zusammenhang gebracht (vgl. Schweitzer at al., 2018). Bei Jugendlichen im muslimischen Bereich scheint diese Tendenz der Distanzierung weniger ausgeprägt, da Religion und Religionszugehörigkeit in ihrem sozialen Umfeld eine weit größere Selbstverständlichkeit besitzen und oftmals positiv konnotiert sind. Religion kann überdies mit Nationalität verschmelzen, und ein national gefärbtes Muslimsein kann in der Minderheiten- und Migrationssituation ein identitätsstiftendes Merkmal werden. Nicht nur die SchülerInnen, sondern auch Religionslehrkräfte sehen sich beim Thema Konfessionen und Religionen herausgefordert, sich selbst zu positionieren. Womit können sie sich (nicht) identifizieren? Wie stehen sie zur Kirche und zu Lehraussagen etwa des Papstes oder beispielsweise zu salafistischen Positionen? Weitere Fragen betreffen die eigenen Zielvorstellungen und Visionen. Ist die konfessionelle, religiöse und weltanschauliche Vielfalt wirklich wünschenswert oder wäre es besser, wenn sich die Menschen auf eine gemeinsame Glaubensweise verständigen könnten? Sind die Trennungen innerhalb der eigenen Religion oder auch zwischen den Religionen Ausdruck menschlichen Fehlverhaltens, das zu Spaltungen führt und theologisch abzulehnen ist, oder vielmehr eines religiösen Reichtums, weil Gott jedem Menschen ganz individuell begegnet? Und wie ist damit umzugehen, wenn die Glaubensüberzeugungen einander widersprechen? Beim Thema Konfessionen und Religionen geht es letztlich auch um das eigene Wahrheitsbewusstsein und das Verhältnis zur religiös-weltanschaulichen
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Pluralität. Dieses Verhältnis betrifft nicht nur kognitive Verarbeitungsformen im Umgang mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen, sondern berührt ebenso soziale Zugehörigkeiten. Ziel des Religionsunterrichts kann es nicht sein, solche Zugehörigkeiten zu erzeugen, auch wenn der Unterricht durchaus religiöse Bindungen verstärken kann. Ziel des schulischen Religionsunterrichts bleibt aber immer religiöse Bildung, nicht religiöse Bindung. Der Unterricht kann und soll allerdings auch die Bedeutung religiöser Gemeinschaften und Zugehörigkeit thematisieren sowie auf außerschulische Möglichkeiten dafür hinweisen, wie eine solche Zugehörigkeit gefunden werden kann. Im Rahmen religiöser Bildung geht es auch dann um eine reflektierte Wahrnehmung von religiöser Gemeinschaft sowie um eigene Urteilsfähigkeit im Blick auf religiöse Institutionen.
4.6 Elementare Lernformen Gerade beim Thema Konfessionen und Religionen gibt es zahlreiche interessante methodische Möglichkeiten. Dazu einige Beispiele: Ȥ Welche Konfessions- und Religionszugehörigkeiten oder Nicht-Zugehörigkeiten kommen an der eigenen Schule vor? Spielen die Unterschiede eine Rolle? Wenn ja, bei welchen Gelegenheiten? Wenn nein, warum nicht? Ȥ Welche Konfessionen und Religionen gibt es im eigenen Dorf oder in der eigenen Stadt? Welche Gottes- oder Gebetshäuser finden sich hier? Wohin gehen Menschen, die einer Religion zugehören, für die es vor Ort kein solches Haus oder Zentrum gibt? Mit Kindern bieten sich hier Besuche verschiedener Gottes- und Gebetshäuser sowie religiöser Einrichtungen an. Jugendliche können eigene Recherchen durchführen, auch im Internet, und eine Präsentation vorbereiten. Auch der Umgang der Konfessionen und Religionen miteinander könnte ein wichtiges Thema sein (Gibt es Kontakte, gemeinsame Aktionen, gemeinsam gefeierte Feste usw.? Kommt es zu Konflikten?). Ȥ Eine weitere Möglichkeit besteht in der Analyse medialer Präsentationen: Wie werden die Konfessionen und Religionen dargestellt? Wie ist das zu bewerten? Wie verhalten sich die Websites, die von den Konfessionen und Religionen unterhalten werden, zu anderen Darstellungen?
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Im Dialog Friedrich Schweitzer: Wie nimmst Du die Unterschiede zwischen den christlichen Konfessionen wahr? Fahimah Ulfat: Im Alltag nehme ich die Unterschiede eher am Rande wahr, zum Beispiel in den Kirchen. Im wissenschaftlichen Bereich nehme ich theologische Unterschiede wahr, aber auch Verletzlichkeiten, die ab und zu durchscheinen. Hauptsächlich nehme ich aber die Gemeinsamkeit wahr, dass Jesus in beiden Konfessionen die gleiche Bedeutung hat. Bei den KatholikInnen nehme ich wahr, dass für sie im interreligiösen Dialog der gemeinsame Glaube an denselben Gott häufig selbstverständlicher ist als bei ProtestantInnen. Wie nimmst Du die Unterschiede zwischen den muslimischen Strömungen wahr? Friedrich Schweitzer: Zunächst fand ich das sehr irritierend, weil es der Vorstellung vom Islam als einer Einheit widerspricht. Auch heute staune ich darüber, dass MuslimInnen so oft unterschiedliche Auffassungen vom Glauben haben kön nen. Kommt es bei einer Religion, der man sich zugehörig fühlt, nicht auf Gemeinsamkeiten im Glauben an? Solche Gemeinsamkeiten nehme ich im Christentum zumindest auf der Ebene der Bekenntnisse deutlicher wahr. Im Islam gilt offenbar nicht einmal das Alkoholverbot allgemein: Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich einmal mit einem Kollegen aus der Türkei beim Weintrinken war – irgendwo auf dem Balkan. Er sah keinerlei Problem darin, das ganz öffentlich zu tun. Ähnlich nehme ich es bei der Kleidung wahr: Im Islam scheint ebenso Raum zu sein für die Pflicht zum Tragen einer Burka wie für den kürzesten Minirock. Fahimah Ulfat: Das liegt möglicherweise daran, dass viele muslimische TheologInnen, darunter auch ich, »Islam« nicht als geschlossenes System im herkömmlichen Sinne des Wortes »Religion« verstehen. Wir wollen mit dem Begriff »Islam« eine Haltung ausdrücken, einen stets unabgeschlossenen, vom Subjekt immer neu zu vollziehenden Akt der Ergebung und Hingabe gegenüber Gott. So wird Islam auch im Koran verstanden. Daher vermeide ich es auch, von »dem Islam« zu sprechen, oder davon, was »im Islam« geht oder nicht geht. Solche Sätze sug gerieren, dass »der Islam« ein Subjekt sei, das selbst handelt. Normen können aber nur von Subjekten formuliert werden und nicht von einem Abstraktum namens »Islam«. Im Grunde besteht unter MuslimInnen nur bei den fünf »gottesdienstlichen Verrichtungen« Konsens (Gott bezeugen, Gebet, Fasten, Spenden, Pilgern). Alle anderen Bereiche, auch die, die zwischenmenschliche Beziehungen betreffen, sind im steten Wandel. Leider existieren in vielen Bereichen noch Normen, die dem heutigen Kontext nicht mehr entsprechen, aber beispielsweise durch patriarchale gesellschaftliche Machtstrukturen aufrechterhalten werden. Der
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Koran dagegen ist in diesen Hinsichten sehr offen für eine kontinuierliche, dyna mische Auslegung. Er erlaubt eine Interpretation, die je nach Kontext, Ort und Zeit zu unterschiedlichen Deutungen kommt. Islam ist in dieser Perspektive die Einstellung, aus der heraus der Mensch den Koran interpretiert. Für mich macht gerade diese Offenheit meinen Glauben erst richtig lebbar. Durch sie rückt Gott und die Beziehung zu ihm in den Mittelpunkt dessen, was ich als Islam verstehe. Friedrich Schweitzer: Irgendwie wird der muslimische Glaube für mich dadurch unfassbar. Muss es nicht doch Kriterien dafür geben, was im Islam möglich ist und was nicht? Fahimah Ulfat: In der Tat scheint es hier einen Unterschied zum traditionellen westlichen Religionsbegriff zu geben. Die Einheit der MuslimInnen konstituiert sich über die fünf gemeinsamen Vollzüge der gelebten Hingabe an Gott. Alle anderen Fragen werden in unabgeschlossenen Diskursen weitergeführt und bleiben oft umstritten.
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Religionen, Konfessionen und religiöse Gruppierungen
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Judentum
(Reinhold Boschki/Friedrich Schweitzer/Fahimah Ulfat)
Bei diesem Kapitel kommen besonders komplexe und herausfordernde Fragen ins Spiel, im Blick auf das Christentum ebenso wie auf den Islam. Aus christlicher Sicht lässt sich das Thema Judentum in Deutschland nicht von der Frage nach dem Holocaust trennen, auch wenn der Holocaust nicht mit dem Thema Judentum in eins fällt und jüdische Menschen nicht auf eine Opferrolle zu reduzieren sind. Für viele MuslimInnen besonders aus arabischen Ländern stellen sich beim Thema Judentum automatisch viele Fragen hinsichtlich des Staates Israel und dessen Politik gegenüber den (muslimischen) PalästinenserInnen, bis hin zu staatlich verantwortetem Terror bei Vergeltungsaktionen. Auch daran kann der Unterricht nicht vorbeigehen.
5.1 SchülerInnenfragen Im Alltag begegnen die SchülerInnen in Deutschland dem Judentum – aufgrund der Vernichtung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus – nur selten, mit Ausnahmen der wenigen Städte, in denen es größere jüdische Gemeinden gibt. Das Judentum taucht für sie vor allem in den Medien auf, besonders bei Anschlägen auf Synagogen oder im Blick auf Israel. Für manche muslimische SchülerInnen spielen arabische und türkische Medien ebenfalls eine wichtige Rolle, zum Teil auch mit antisemitischen Darstellungen. Die starke Präsenz antisemitischer Inhalte ist aber auch für deutschund englischsprachige Medien belegt. Als negative Zerrbilder erscheinen Juden/ Jüdinnen an unzähligen Stellen im digitalen Netz, auch auf Mainstreamseiten wie YouTube, Facebook, in Messaging-Gruppen, bei hausaufgaben.de oder gutefrage.net (vgl. Schwarz-Friesel, 2019). Christlichen SchülerInnen erscheint das Judentum oft als historisch ferne Größe nur aus biblischer Zeit. Und doch haben alle schon irgendwie davon gehört, wissen ein bisschen etwas aus früherem Unterricht, von zu Hause oder
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aus den Medien. Das Schimpfwort »Du Jude!« haben wohl alle SchülerInnen schon gehört (vgl. Bernstein, 2020, S. 53). Insofern ist das Thema jungen Menschen nach wie vor unheimlich nah. Seine Behandlung stößt auf Neugier und ruft zugleich kritische Fragen sowie Vorurteile auf, auch schon bei jüngeren SchülerInnen, was noch zu häufig übergangen wird (vgl. Schweitzer & Bucher, 2020). Im Religionsunterricht ist es sinnvoll, etwa beim Einstieg in eine Unterrichtseinheit konkrete, von den SchülerInnen ausgehende Fragen in den Vordergrund zu stellen: Wo bin ich in meinem Leben dem Judentum schon begegnet? Auf diese Weise kann vor Augen treten, dass es in Deutschland heutzutage wenig Gelegenheit gibt, jüdische Menschen zu treffen. Vor allem kann deutlich werden: Wenn Menschen meinen, etwas über Juden/Jüdinnen zu wissen, und bestimmte Bilder im Kopf haben, stammen diese fast immer aus zweiter Hand. Deshalb ist es wichtig, weitere Fragen zu stellen: Was habe ich über das Judentum oder über jüdisches Leben schon gehört? Von wem? Wer hat es mit welcher Absicht erzählt? In welchen Medien und mit welchen Bildern? Dabei ist es besonders interessant, diese Bilder vom Judentum bei SchülerInnen unterschiedlicher Herkunft und Religionszugehörigkeit zu vergleichen. Erfahrungsberichten zufolge ist vor allem in höheren Klassenstufen auch mit Desinteresse zu rechnen. Bestimmte mit dem Judentum verbundene Themen könne man »einfach nicht mehr hören«. Sinnvoll kann es hier sein, den Ursachen dafür nachzugehen und zu fragen, was die SchülerInnen genau davon wissen. Dabei kommen wiederum verschiedene Hintergründe ins Spiel, etwa eine Herkunft der Familie aus Ländern in der Nahost-Region. In dieser Hinsicht stellt sich die Situation im christlichen und im islamischen Religionsunterricht unterschiedlich dar, wobei auch bei christlichen SchülerInnen familiäre Hintergründe eine Rolle spielen können.
5.2 Elementare Strukturen Die wichtigste Aufgabe besteht hier darin, das Judentum als Religion und Kultur in Geschichte und Gegenwart darzustellen. Um eine Reduktion des Judentums auf eine geschichtlich ferne Größe zu vermeiden, kann das im heutigen Deutschland und Europa (von jungen Menschen) gelebte Judentum den Ausgangspunkt bilden, anstatt der auch in Schulbüchern – nicht zuletzt in deren Bildprogrammen – noch immer zu beobachtenden Konzentration auf das exotisch wirkende orthodoxe Judentum in anderen Ländern. Auch die Unterscheidung zwischen dem Judentum und der Politik des Staates Israel ist wichtig.
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Judentum
Wenn das heute in Deutschland gelebte Judentum thematisiert wird, muss auf jeden Fall dessen tatsächliche Vielfalt deutlich werden (»Das Judentum hat viele Gesichter«, vgl. Rosenthal & Homolka, 2014). Diese Vielfalt wird beispielsweise in Biografien von säkularen, liberalen, konservativen und orthodoxen Juden/Jüdinnen greifbar. Ein anderer Zugang kann sich auf jüdische Einrichtungen hierzulande beziehen: Kindergärten, Schulen, Erwachsenenbildung und Gemeinden (interaktive Karte: www.zentralratderjuden.de/vorort/gemeinden/, auf der recherchiert werden kann). Zentrale Aspekte des Judentums als Religion können an dieser Stelle nur kurz benannt werden (ausführlich Nachama et al., 2015). Gottesglaube Das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis, das von Gläubigen in Gebeten und in Gottesdiensten mehrfach am Tag gesprochen wird, ist kurz: »Höre Israel! Der Herr ist unser Gott, der Herr ist einzig« (4. Mose 6,4). Mit »Israel« ist nicht der heutige Staat, sondern das biblische und das geistliche Israel, also die Gemeinschaft des Judentums gemeint. Die Grundüberzeugung, dass es nur einen einzigen Gott gibt, der sich in der hebräischen Bibel zu erkennen gibt, war die Grundlage für den Ein-Gott-Glauben (Monotheismus) von Christentum und Islam. Das Bekenntnis zu dem einen Gott drückt sich auch in der Überzeugung aus, dass Gott der Schöpfer aller Dinge und Menschen ist. Die ersten Worte der Bibel lauten: »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde« (1. Mose 1,1). Dahinter steht die bis heute von vielen Juden/Jüdinnen auch im naturwissenschaftlich geprägten Zeitalter geteilte Überzeugung: Gott hat alles in seiner Hand, das Entstehen des Lebens und das Vergehen, Leben und Tod. Dieser Gott steht in einer engen Beziehung mit den Menschen. Gebete Wie in den meisten Religionen gibt es auch im Judentum eine persönliche wie eine gemeinschaftliche Gebetspraxis, gemäß den biblischen Geboten (5. Mose 6,7). Der ganze Tag soll vom Gebet durchwoben sein. So haben sich geschichtlich drei feste Gebetszeiten entwickelt: Morgengebet (Schacharit), Nachmittagsgebet (Mincha), Abendgebet (Maariv). An Feiertagen kommt noch Mussaf hinzu. Gebetet werden diese Gebete aus dem Siddur, dem jüdischen Gebetsbuch. Dabei werden sie gerahmt von Segenssprüchen (Berachot) sowie Danksprüchen, Psalmen, Hymnen und Liedversen.
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Ein besonders wichtiger Gebetstext ist das Kaddisch, ein Lobpreis der Herrlichkeit und Größe Gottes, auch als Gebet für die Toten. In der wörtlichen Befolgung biblischer Vorgaben legen Juden und heute zum Teil auch Jüdinnen beim Gebet die traditionellen Tephillin (Gebetsriemen) um den Arm und an die Stirn. An den ledernen Riemen befinden sich in kleinen Kapseln winzige Pergamente mit biblischen Texten, die für die ganze Torah stehen. Dazu kann noch das Tragen des Tallit kommen (Gebetsschal oder Gebetsmantel), beim Morgengebet sowohl werktags als auch am Schabbat und an den Festtagen. Mit dem Tallit umhüllt man Kopf und Oberkörper, oder er wird als Schal um die Schultern gelegt. Der ursprüngliche Sinn dieser Handlung ist ebenso wie das Tragen einer Kopfbedeckung (Kippa) ein Verhüllungsritus: Der Mensch soll nicht unverhüllt vor Gott treten, was auf biblische Weisungen zurückgeht. Die gemeinschaftlichen Gebete werden in der Synagoge, dem »Haus der Versammlung« (Bejt HaKnesset) praktiziert.
Heilige Schriften Die wichtigsten Schriften der jüdischen Religion sind die Torah und der Talmud. Torah heißt wörtlich »Weisung« und stellt die sog. fünf Bücher Mose dar. Die Torah-Rolle ist die handschriftliche hebräische Abschrift der fünf Bücher Mose für den gottesdienstlichen Gebrauch. Im Laufe eines Jahres wird sie einmal im ganzen Umfang vorgelesen. Die Torah wird ergänzt durch die prophetischen Bücher und die sog. »Schriften«. Diese drei Teile bilden die jüdische (hebräische) Bibel, die von Christen als »Altes Testament« bezeichnet wird ( S. 184 ff.). Umfangreiche weitere Schriften sind Auslegungen bzw. Kommentare. Die wichtigsten Kommentare heißen Talmud (wörtlich »Lehre«) und Midrasch (wörtlich »Auslegung«), die jeweils zahlreiche Bände umfassen. Die Gelehrten der Schrift werden besonders geachtet: Rav (Meister, Lehrer) ist der traditionelle Titel für einen Schriftgelehrten; Rabbi (mein Meister, mein Lehrer) ist der Ehrentitel für den Rabbiner, der das religiöse Oberhaupt einer Gemeinde darstellt. In manchen Strömungen des Judentums gibt es heute auch Rabbinerinnen. Feste und Feiern Der wöchentliche Festtag heiß Schabbat. Er wird von Freitagabend bis Samstagabend gefeiert. Religiös praktizierende Familien kommen zusammen, sprechen Gebete, entzünden Kerzen, halten miteinander ein festliches Mahl. Zum Schabbat gehört es, dass keine Arbeiten verrichtet werden sollen, was Juden/ Jüdinnen sehr unterschiedlich halten. Dazu kommen zahlreiche Feste im Jahreskreis:
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Judentum
Die Jahresfeste beginnen mit Rosch Ha-Schana, dem Neujahrsfest (September/Oktober). Hier beginnt eine zehn Tage lange Zeit der Buße, mit besonderen Gebeten und abgeschlossen durch den hohen Feiertag Jom Kippur, den Versöhnungstag – ein Tag des strengen Fastens, der Buße und der Umkehr. Kurz danach beginnt Sukkot, das Laubhüttenfest, das sieben Tage lang dauert und ein herbstliches Erntedankfest darstellt. Nicht jeder Tag ist ein Feiertag, man geht zwischendurch dem Alltag nach. Sukkot ist die Erinnerung an das biblische Israel, das durch die Wüste zog. Deshalb baut man eine Laubhütte (»Sukka«, aus natürlichen Materialien, meist aus Schilf) in seinem Garten oder auf dem Balkon. Dort werden die Mahlzeiten eingenommen, wird gebetet und gesungen. Das Fest der Torah-Freude heißt Simchat Torah und fällt ebenfalls in den Herbst. Es ist ein Freudenfest zu Ehren der Torah. In Dezember wird Chanukka, das Lichterfest gefeiert. Es ist ein achttägiges Fest im Andenken an die Wiedereinweihung des Jerusalemer Tempels im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. An jedem Tag wird an einem achtarmigen Leuchter eine weitere Kerze entzündet. Purim ist das sog. Losfest (Februar/März), ein fröhliches Fest zur Erinnerung an die Rettung der persischen Juden. Das Pessach-Fest ist das Befreiungsfest (März/April), das zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten (Exodus), also die Befreiung des biblischen Volkes Israel aus der Sklaverei gefeiert wird. Es dauert acht Tage und ist eines der bedeutendsten Feste im Judentum. Sieben Wochen nach Pessach wird Schawuot, das Wochenfest gefeiert. Es ist das Fest der Gabe der Torah durch Gott. Zu den Feiertagen kommen im heutigen Judentum insbesondere die nichtreligiösen Gedenktage an Verfolgung, Leid und Tod: 9. November (»Pogromnacht«) zum Gedenken an die Zerstörung der Synagogen im Nationalsozialismus; 27. Januar zur Erinnerung an die Befreiung des Todeslagers Auschwitz; in Israel: Jom HaShoah (im April/Mai), ebenfalls ein Gedenktag an den Holocaust.
Der Beitrag des Judentums zur europäischen Kultur und das Verhältnis zwischen Judentum, Christentum und Islam Zum Thema Judentum gehört unverzichtbar auch der Beitrag des Judentums zur europäischen Kultur, insbesondere in Deutschland und anderen europäischen Ländern, aber auch über Europa hinaus etwa in den USA. Dabei werden – neben einer langen Geschichte von Antijudaismus und Antisemitismus, von Ausgrenzung und Vertreibung – auch zahlreiche positive Beispiele des Zusammenlebens von Angehörigen des Judentums, des Christentums und des Islam sichtbar. Die manchmal etwas verklärende Darstellung der Verhältnisse im mittelalterlichen Andalusien ist inzwischen zwar stark in die Kritik geraten (vgl. Schweitzer, 2019a), doch gibt es auch andere Beispiele friedlicher Nachbarschaft. In Deutschland gestaltete sich das Zusammenleben über Jahrhunderte hinweg einigermaßen friedlich, in den Städten, aber auch auf dem Land. Beispielsweise gab es vielerorts ein starkes sog. »Landjudentum«, dessen Spuren bis heute sichtbar sind (ehemalige Synagogen, jüdische Friedhöfe). Manche Dörfer hatten einen jüdischen Bevölkerungsanteil von 30 % oder mehr, und in Schulen und Universitäten gehörte das Miteinander von Juden/Jüdinnen und ChristInnen ganz selbstverständlich zum alltäglichen Leben.
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An vielen Orten in Europa, im heutigen Nahen Osten sowie in Nordafrika kam es seit dem frühen Mittelalter zu einem Wissensaustausch zwischen Juden/ Jüdinnen und MuslimInnen, an dem verschiedentlich auch ChristInnen beteiligt waren. Für die Neuzeit ist nicht zuletzt in Deutschland auf zahlreiche Formen der wechselseitigen Beeinflussung und Interdependenz besonders im Bereich der Bildung, der Philosophie und der Theologie hinzuweisen. Exemplarisch zu denken ist dabei an Namen wie Moses Mendelssohn, Heinrich Heine, Martin Buber, Leo Baeck, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Ernst Bloch. Es waren politische Entwicklungen von Nationalismus und Nationalsozialismus, die zum Zusammenbruch und Verfall des Austausches geführt haben. Antisemitismus als Ideologie ist historisch betrachtet ein modernes Phänomen, das in Europa seinen Ausgang nahm. Im Falle des jüdisch-muslimischen Verhältnisses war es die Gründung des Staates Israel sowie dessen Politik, die die wechselseitige Wahrnehmung negativ beeinflussten. Heute wird das Judentum von einem Teil der MuslimInnen mit dem Zionismus gleichgesetzt, mit der Folge antisemitischer Tendenzen, was zu einem schleichenden, oft aber auch offenen Antisemitismus in Teilen der muslimischen Bevölkerung in Zentraleuropa und anderen Ländern führt. Parallel dazu haben sich die Fronten auch in Teilen der jüdisch-israelischen Gesellschaft verhärtet. Politische Konflikte werden mit pseudo-theologischen Argumenten untermauert und die Ursachen in einem konstruierten Konflikt zwischen den Muslimen und den Juden bereits in der Frühgeschichte des Islam gesucht. Die Konflikte zwischen Muhammad und drei arabisch-jüdischen Stämmen können aber nicht als eine Feindschaft zwischen Islam und Judentum gelesen werden. Sie basierten auf konkreten historischen Ereignissen und haben keinen allgemeingültigen Charakter. Mit Juden, die im Koran erwähnt werden, sind zudem diejenigen gemeint, die im 7. Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel gelebt haben. Es gibt Stellen im Koran, die positiv über diese Gruppe sprechen, aber auch Stellen, in denen sie kritisiert werden. Auf jeden Fall sind diese Stellen historisch kontextuell zu deuten.
Eine andere geschichtliche Entwicklung rührt aus dem christlichen Antijudaismus, der auch Wurzeln im Neuen Testament besitzt (etwa im Johannesevangelium). Frühe Auseinandersetzungen zwischen jüdischen und christlichen Gemeinden stehen dabei historisch gesehen im Hintergrund. Die vermeintlich christlich-theologisch begründete Ablehnung des Judentums konnte später den Antisemitismus verstärken. Ein anschauliches Beispiel sind mittelalterliche Darstellungen von Kirche und Synagoge, wobei die Synagoge als blinde und verirrte sowie beschämte Frau erscheint. Auf solche Formen der Ablehnung des Judentums in der christlichen Tradition konnte später der Nationalsozialismus propagandistisch zurückgreifen. Bekanntlich stammen beispielsweise von Martin Luther abscheuliche Empfehlungen an den Staat, das Judentum aus Europa – wo nötig auch mit Gewalt – zu entfernen (vgl. dazu kritisch EKD, 2017). Vor diesem
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Judentum
Hintergrund sind umso mehr die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von beiden großen Kirchen in Deutschland getroffenen wertschätzenden Aussagen zum Judentum sowie zur bleibenden Verbindung des Christentums mit dem Judentum hervorzuheben (vgl. dazu Leimgruber, 2007; EKD, 2002). Auf muslimischer Seite belegt die gemeinsame jüdisch-muslimische Geschichte, dass sie sich von Anfang an nicht nur im Bereich der Philosophie und Theologie gegenseitig bereicherten (vgl. Lewis, 2014), auch wenn es sowohl positive als auch negative Phasen jüdisch-muslimischer Beziehungen gab und gibt. Positive Verhältnisbestimmungen und Erfahrungen können sich sowohl auf Aussagen im Koran als auch in der Bibel stützen, die auch für den Unterricht besonders wichtig sein können: Ȥ Im Koran ist vor allem an die Anerkennung der »Leute der Schrift« zu denken, zu denen Juden/Jüdinnen ebenso wie ChristInnen als diejenigen, die über eine Offenbarungsschrift verfügen, zählen. Die Offenbarungsschriften der Juden/Jüdinnen und ChristInnen werden im Koran als göttliche Offenbarungen bestätigt. Auch Stellen wie Sure 2:62 drücken eine wertschätzende Anerkennung aus: »Siehe, diejenigen, die glauben, die sich zum Judentum bekennen, die Christen und die Sabier – wer an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und rechtschaffen handelt, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, sie brauchen keine Furcht zu haben und sollen auch nicht traurig sein!«
Ȥ In der Bibel wird das Judentum etwa bei Paulus als bleibende »Wurzel« des Christentums gewürdigt (Röm 9 ff.) und durch die Person Jesu, der Jude war, ist eine immerwährende Verbindung zwischen der jüdischen und christlichen Glaubensgemeinschaft gegeben. Ȥ Heute wenden sich auch jüdische Institutionen und Gelehrte verstärkt den anderen Religionen in positiver Weise zu. So gibt es inzwischen zahlreiche Erklärungen von einflussreichen Rabbinerversammlungen über ein neues, positives Verhältnis zum Christentum im Sinne einer »Partnerschaft« (vgl. Ahrens et al., 2017). Auch gibt es jüdisch-theologische Ansätze einer »Theologie der Weltreligionen«, die die anderen Religionen in wertschätzender Weise wahrnehmen und Gesprächsangebote formulieren (vgl. u. a. GoshenGottstein & Korn, 2012).
5.3 Elementare Erfahrungen Wenn es an eigenen Erfahrungen mit dem Judentum weithin fehlt, wird hier die mediale Dimension im Vordergrund stehen müssen. Darüber hinaus kann die literarische oder auch persönliche Begegnung mit jungen Menschen aus dem Judentum den Erfahrungsbezug stärken (als eigene Aktion: Meet a Jew: www.meetajew.de,
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ein Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, Meet2Respect, Cafe Abraham, ausARTen). Lange Zeit konnten auch noch ZeitzeugInnen aus der Zeit des Nationalsozialismus einbezogen werden, an deren Stelle heute mediale Zeitzeugenprojekte treten (z. B. das Videoprojekt www.papierblatt.de; mit Unterrichtsvorschlägen). Erfahrungsbezüge entstehen auch durch Identifikationen – didaktisch angestrebt zum Beispiel durch die Lektüre von Anne Franks Tagebuch. Ein ganz anderes Beispiel, das didaktisch herausfordernder ist, begegnet mitunter in Gestalt der Identifikation junger MuslimInnen mit palästinensischen Opfern, die dann auch Aggression und Gewalt gegen jüdische Menschen zu rechtfertigen scheint. In dieser Hinsicht hilft es zu klären, wie sich globale Ereignisse auf die Einstellungen und Haltungen der Jugendlichen in Deutschland auswirken (vgl. Simojoki, 2014). Literarische oder andere mediale Darstellungen bieten mit ihren Identifikationsangeboten noch weitere Möglichkeiten für erfahrungsorientierten Unterricht, beispielsweise zu Vorurteilen gegen jüdische Menschen. Als Klassiker kann dazu das Buch oder die Verfilmung von Max Frisch »Andorra« genannt werden. Aktuelle Filme wie »Das Unwort« (2020) oder der Kurzfilm »Masel Tov Cocktail« (2020) zeigen auf satirische Weise, wie sehr antijüdische Vorurteile auch im Kontext Schule präsent sind. Erfahrungen mit Vorurteilen haben fast alle SchülerInnen auch selbst schon gemacht, wenn auch nicht unbedingt in religiöser Hinsicht. Insofern bieten sich hier gute Anknüpfungsmöglichkeiten, gerade in emotionaler Hinsicht. Allerdings zeigen empirische Befunde, dass auch ein gewisser Anteil junger Menschen in Deutschland deutliche Vorurteile gegen Juden/Jüdinnen aufweist.
In der Praxis vieler Religionslehrkräfte findet sich auch der Versuch, den Erfahrungsbezug durch den Besuch von Gedenkstätten zu stärken (vgl. Forschungsgruppe REMEMBER, 2020). Erste religionspädagogische Untersuchungen zu solchen Besuchen legen allerdings nahe, dass die Begegnung mit in der Gegenwart genutzten jüdischen Einrichtungen bei Kindern und Jugendlichen auf stärkeres Interesse stößt als etwa Bildungseinrichtungen (vgl. Gärtner & Bettin, 2015). Auf Interesse kann auch eine Suche nach Spuren jüdischen Lebens am eigenen Wohnoder Schulort stoßen, ebenso wie Besuche bei jüdischen Gemeinden. Die Gedenkstätten in Deutschland und anderen europäischen Ländern beziehen sich häufig auf den Nationalsozialismus und damit auf die deutsche Geschichte. Deshalb stellt sich zunehmend die Frage, wie sich junge Menschen mit Migrationshintergrund insbesondere zur deutschen Schuld-Geschichte verhalten. Befragungen zeigen in dieser Hinsicht ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite findet die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte durchaus Interesse, auf der anderen Seite gewinnt zumindest ein Teil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund kein inneres Verhältnis zu dieser Geschichte oder
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werden im Extremfall aus antisemitischen oder rechtsextremistischen Motiven heraus die nationalsozialistischen Verbrechen an jüdischen Menschen gerechtfertigt (vgl. die Erfahrungsberichte in Forschungsgruppe REMEMBER, 2020).
5.4 Elementare Zugänge Wie nehmen Kinder und Jugendliche andere Religionen wahr? Was sind Konfessionen, was sind Religionen? Wie hängen Kultur, Nationalität und Religionszugehörigkeit zusammen? Hier gibt es dauerhafte »Verwechslungen« (keine katholischen SchwedInnen, keine wirklich deutschen MuslimInnen) ( S. 207 ff.). Gerade beim Thema Judentum kann deutlich werden, wie komplex sich die begriffliche Fassung von Religion oder Religionen im Verhältnis zu Kultur und Kulturen darstellt. Das Judentum ist nicht einfach eine Religion, sondern immer zugleich eine kulturelle Ausdrucksform, die – etwa im Falle sich säkular verstehender Menschen, die sich gleichwohl dem Judentum zurechnen – auch deutlich über die jüdische Religion hinausreicht. Zugleich gibt es im Judentum Religionsgemeinschaften und Gemeinden mit einer klar definierten Mitgliedschaft. Das unterscheidet Judentum und Christentum vom Islam, der solche Mitgliedschaftsverhältnisse nur in Ausnahmefällen (etwa in Österreich oder Bosnien) kennt. In manchen Bildungsplänen ist vorgesehen, nicht nur jeweils eine andere Religion zu thematisieren, sondern die jeweils anderen beiden monotheistischen Religionen im Unterricht gemeinsam zu behandeln. Erste wissenschaftliche Befunde dazu entkräften die von Lehrkräften mitunter geäußerte Befürchtung, dass es dann zu Verwirrungen komme. Zugleich belegen die Befunde aber ebenso wenig die von anderen erwartete verstärkte Motivation für interreligiöse Themen bei den SchülerInnen (vgl. Schweitzer & Bucher, 2020). Auf jeden Fall dürfen die jeweils besonderen Beziehungsgeschichten zwischen jeder der drei Religionen zu einer der anderen beiden nicht aus dem Blick geraten.
Häufig unterschätzt wird offenbar noch immer die Problematik der Vorurteile oder Stereotype gegenüber dem Judentum, auch schon bei jüngeren SchülerInnen. Über welche Einflussmöglichkeiten der Religionsunterricht im Blick auf solche Einstellungen und speziell im Blick auf den Antisemitismus tatsächlich verfügt, sollte allerdings nüchtern wahrgenommen werden. Bislang vorliegende Befunde zum interreligiösen Lernen lassen eine eher geringe Wirksamkeit erwarten (vgl. Schweitzer et al., 2017), was freilich nicht als Grund für Resignation missverstanden werden sollte. Dringlich wären wissenschaftlich begleitete Versuche, durch Unterricht und schulische Aktionen, Projekte und Kooperationen wirksame Strategien zu entwickeln.
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5.5 Elementare Wahrheiten Für den Islam und das Christentum verbindet sich das Thema Judentum mit der Frage nach der »wahren Religion«. Für das Christentum war diese Frage unausweichlich, weil es auch seinem Selbstverständnis zufolge aus dem Judentum hervorgegangen ist. Der Koran bezeichnet sich an mehreren Stellen als Bestätigung der heiligen Bücher von Judentum und Christentum (etwa 5:48). Er würdigt die Torah und die anderen biblischen Offenbarungen mehrfach als Rechtleitung und Licht (z. B. 5:46, 5:44). Bei alldem war und ist dabei aber weithin die Überzeugung bestimmend, dass die höchste Wahrheit nur in der eigenen Religion zu finden sei. Kontrovers war und ist die bleibende Gültigkeit der früheren Offenbarungen, die dem eigenen Wahrheitsbewusstsein zu widersprechen scheint. Solche Wahrheitsansprüche sind wohl allen Religionen inhärent, eben weil es jeweils um letzte Überzeugungen geht. Heute wird in diesem Zusammenhang auf ein den monotheistischen Religionen angeblich innewohnendes Gewaltpotenzial verwiesen (vgl. Assmann, 1998). Dabei wird leicht übersehen, dass auch Polytheisten Kriege im Namen ihrer Götter geführt haben. Theologisch gesehen geht es nicht nur um die Wahrheitsansprüche der verschiedenen Religionen, sondern auch um Sinn und Recht solcher Wahrheitsansprüche überhaupt. Zumindest in gewisser Weise berührt sich dies mit der vielen Erfahrungsberichten zufolge für heutige SchülerInnen ganz selbstverständlichen Auffassung, dass man über unterschiedliche Glaubensweisen ohnehin nicht streiten könne. Aus solchen Auffassungen, die aus religionspädagogischer Sicht ebenso problematisch wie herausfordernd sind, können sich interessante Perspektiven für den Unterricht ergeben. Bereits in Bibel und Koran finden sich Modelle, wie mit konfligierenden religiösen Geltungsansprüchen umgegangen werden kann (zentral: Röm 9–11, Sure 3:64). Welche Bedeutung können diese Modelle heute noch haben? Welche anderen Modelle gibt es? Einen Ansatz dazu kann ein reflektiertes Wahrheitsverständnis bieten, das Wahrheit beispielsweise als Weg und gemeinsame Suche nach Wahrheit versteht. Soweit für die Religionen Gott die Wahrheit ist (vgl. etwa Ps 119,151, Joh 14,6 oder Sure 22:62), ist die Suche nach Wahrheit identisch mit der Suche nach Gott. Biblisch gesehen impliziert dies, dass die menschliche Wahrheitserkenntnis immer bruchstückhaft und vorläufig ist (2. Kor 4,7 und 5,7). Im Koran wird Wahrheit als einer der Namen Gottes angeführt. Das impliziert, dass Gott die Wahrheit ist und nicht die Religionen. Die absolute Wahrheit bleibt für Menschen unerreichbar, womit auch ein religiöser Exklusivismus ausgeschlossen wird. Ein solches, sich der eigenen Beschränktheit bewusstes Verständnis von Wahrheit kann in den Aufruf zur gemeinsamen und je eigenen Suche nach Wahrheit in »versöhnter Verschiedenheit« (vgl.
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Sacks, 2011) münden. Dieses Modell einer gemeinsamen, miteinander wettstreitenden und sich wechselseitig motivierenden Suche nach dem wahren Glauben oder dem eigenen Weg hat im Koran ein wichtiges Vorbild (5:48).
Offene Fragen Auch wenn für das Verhältnis der drei Religionen zueinander durchaus erfreuliche Entwicklungen zu konstatieren sind, bleiben noch viele Fragen offen. Das zeigen beispielsweise schon die auch in der Religionspädagogik zum Teil stark beachteten Versuche, die Gemeinsamkeiten zwischen den drei Religionen hervorzuheben, indem sie als »abrahamithische Religionen« bezeichnet oder in das Verhältnis eines »Trialogs« gesetzt werden (vgl. Langenhorst, 2016). Wie weit solche Versuche reichen, müsste eigens diskutiert werden. In anderer Weise werfen Begriffe wie Islamophobie oder Islamfeindlichkeit Fragen auf. Wo sind solche Begriffe angemessen, wo werden sie politisch missbraucht? In welchem Verhältnis stehen diese Begriffe zum Begriff Antisemitismus? Weitere Fragen stellen sich in theologischer Hinsicht. Die kirchlichen Stellungnahmen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beantworten keineswegs schon alle Fragen, die theologisch zu klären sind. Ähnliches gilt auch für muslimische Stellungnahmen. Wie beispielsweise eine gute Nachbarschaft zwischen den Religionen in Deutschland auch theologisch begründet und entsprechend gestaltet werden kann, ist noch immer nicht ausreichend geklärt. Auch für den Regionsunterricht bleibt es wichtig, die weitere theologische Diskussion einzubeziehen. Für christliche und muslimische ReligionspädagogInnen ist es wohl gleichermaßen schmerzlich, dass die eigenen religiösen Traditionen offenbar immer wieder neu Antisemitismus hervorgebracht haben und noch immer hervorbringen. Darin liegt eine bleibende Anfrage nicht zuletzt auch an Religionslehrkräfte, auch wenn dabei vielfach – aber eben nicht immer – zwischen Religion und dem politischen Missbrauch von Religion unterschieden werden muss und Antisemitismus nicht nur religiöse Wurzeln hat.
5.6 Elementare Lernformen In diesem Kapitel muss es im Blick auf die Unterrichtsgestaltung bei wenigen Hinweisen bleiben (hilfreiche aktuelle Darstellungen vgl. u. a.: Judentum und Islam unterrichten [Jahrbuch der Religionspädagogik], 2020; Jüdisches Leben in Deutschland [Loccumer Pelikan], 2021; Mokrosch et al., 2020):
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Ȥ Durchweg wichtig sind persönliche und mediale Begegnungen mit jungen Menschen aus dem Judentum. Die dazu mitunter in Schulbüchern zu findenden Kunstprodukte, bei denen erfundenen Jugendlichen Positionen aus theologischen Lehrbüchern in den Mund gelegt werden, sind allerdings problematisch. Sie könnten mit den SchülerInnen daraufhin untersucht werden, welche Bilder von Jugendlichen und deren Religiosität hier erzeugt werden. Beispielsweise die Filmreihe »Was glaubst Du?« lässt (junge) Juden/Jüdinnen selbst zu Wort kommen (Medienprojekt Wuppertal, 2011; vgl. auch Meyer, 2015; oder Zeile-Elsner, 2018). Ȥ An manchen Orten in Deutschland ist es möglich, jüdische Synagogengemeinden zu besuchen. Im Idealfall kann man dort auch mit Juden/Jüdinnen ins Gespräch kommen. Die Besuche müssen sehr gut vor- und nachbereitet werden. Ȥ Vielfach bieten sich lokal- und regionalgeschichtliche Ansätze an: Spuren und Präsenz des Judentums vor Ort, Stolpersteine, Gedenktafeln recherchieren, eigene Gedenktafeln entwerfen (vielleicht sogar für die eigene Schule). Ȥ Religiöse und politische Konflikte im Kontext des Staates Israel können unter dem Aspekt des Verhältnisses zwischen Religion und Politik thematisiert werden. Das Kennenlernen von Friedensinitiativen, bei denen junge Menschen aus Judentum, Christentum und Islam sich gemeinsam engagieren. Ȥ Besuche von Gedenkstätten wie früheren Konzentrationslagern bieten sich noch immer an. Die Gedenkstättenpädagogik bietet Anregungen dafür, wie solche Besuche in einer multikulturellen und multireligiösen gesellschaftlichen Situation gestaltet werden können. Ȥ Der Umgang mit der deutschen Schuldgeschichte stellt vor komplexe Herausforderungen. Das gilt für den wachsenden zeitlichen Abstand zum Nationalsozialismus, in anderer Weise aber auch für Fragen einer Schuldgeschichte, die nicht mit der eigenen Herkunft verbunden ist. Was bedeuten hier Begriffe wie Haftung oder Verantwortung und wie ist dies zu beurteilen? Kann man in fremde Schuld eintreten? Bietet die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft eine tragfähige Perspektive?
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Kommentar aus jüdischer Perspektive (Asher J. Mattern) Das von Reinhold Boschki, Friedrich Schweitzer und Fahimah Ulfat verfasste Kapitel zum Judentum spricht nicht nur wichtige Aspekte des Judentums an und gibt ReligionslehrerInnen damit einen Leitfaden zur Vermittlung eines Grundwissens über das Judentum. Das Kapitel umreißt zudem angemessen eine Reihe von Schwierigkeiten, denen LehrerInnen bei der Behandlung des Judentums begegnen, sei es hinsichtlich eigener religiöser und kultureller Prägungen, sei es bezüglich des Vorwissens oder der Reaktionen von christlichen oder muslimischen SchülerInnen mit unterschiedlichen Migrationshintergründen oder auch aufgrund der besonde ren Situation einer Auseinandersetzung mit dem Judentum im Bewusstsein der deutschen Geschichte. Seit einigen Jahren besuche ich Schulklassen im Rahmen interreligiöser Unterrichtseinheiten, alleine oder zusammen mit christlichen oder muslimischen VertreterInnen, um den SchülerInnen eine Orientierung bezüglich des Judentums zu vermitteln. In den vergangenen Jahren geschieht dies zumeist gemeinsam mit einem Imam im Rahmen der Organisation meet2respect. Die folgenden Ergänzungen zum vorausgehenden Kapitel speisen sich aus dieser Erfahrung und enthalten daher eine persönliche Note. Zunächst möchte ich betonen, wie wichtig für viele SchülerInnen die persön liche Begegnung mit mir als traditionell nach dem jüdischen Gesetz lebendem Juden ist – mag sich die große Mehrheit der SchülerInnen von Anfang an offen für die Begegnung zeigen, so verändert sich die Haltung der wenigen skeptischen oder ablehnenden SchülerInnen vor allem muslimischer Herkunft, deren Perspektive auf Juden/Jüdinnen sich oft nur aus dem politischen Kontext des Konflikts zwi schen Israelis und Palästinensern bildet, erstaunlich schnell, wenn ihnen ein kon kreter Mensch gegenübersteht – ein Mensch, der als Jude nicht auf ihr Bild von einem israelischen Soldaten reduzierbar ist und mit dem sie erstaunlich viele Gemeinsamkeiten entdecken. Gerade angesichts dieser sehr positiven Effekte zeigt sich allerdings sogleich ein Problem hinsichtlich der fehlenden Nachhaltigkeit – derartige Unterrichtsbesuche müssten regelmäßig wiederholt werden, wenn sie Vorurteilen des jeweiligen kulturellen Umfelds und einseitiger Berichterstattung durch bestimmte Medien ernsthaft entgegenwirken sollen. Nach meiner Erfahrung besteht das Problem der kulturellen und religiösen Voreinstellungen aber keineswegs nur bei den SchülerInnen. Bei den Unterrichts besuchen zeigt sich oft, wie schwer es den LehrerInnen unabhängig davon, ob sie nun selbst religiös oder atheistisch sind, fällt, für ein anderes als christliches Verständnis von Religion offen zu sein oder dies nachvollziehen zu können. Ein Verständnis von
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Religion, das nicht nur von der Innerlichkeit des Glaubens bestimmt ist, sondern die Befolgung konkreter Verhaltensweisen, also eine Gesetzespraxis vorsieht, ist vielen im liberalen Kontext unserer Gesellschaft regelrecht suspekt. Es zeigt sich immer wieder, wie schwierig es für muslimische SchülerInnen ist, in ihrer Religiosität anerkannt zu werden, in einer Religiosität, für die der Gottesbezug beinhaltet, bestimmte Speiseoder Kleidervorschriften zu befolgen, statt schlicht nur persönlich »an Gott zu glauben«. Muslimische SchülerInnen reagieren deshalb oft geradezu mit Begeisterung darauf, wenn ich vor ihren LehrerInnen davon berichte, wie wichtig für traditionelle Juden/ Jüdinnen und auch für mich persönlich zum Beispiel Speisevorschriften, bestimmte Gebetszeiten oder die Regeln des Schabbat sind – sie fühlen sich plötzlich auch selbst in ihrer eigenen Praxis verteidigt, ernst genommen und verstanden. Die Behandlung des Judentums sollte deshalb im weiteren Kontext einer Öffnung für die multikulturelle Dimension unserer modernen Gesellschaften stehen. Die Behandlung von unterschiedlichen Religionen sollte ein Medium sein, über das LehrerInnen vermitteln, dass andere Perspektiven auch für sie neu sind und dass es tatsächlich spannend sein kann, sich dem zu öffnen, was einem zunächst fremd ist: Was bedeutet es etwa, wenn Menschen nach religiösen Gesetzen leben und bestimmte Praktiken zentral für eine Religion sind? Statt unmittelbar zu vermuten, es handele sich um bloße Rituale, wäre zu fragen, wie dies gelebt wird und wel che Bedeutung es für diejenigen hat, die diese Handlungen vollziehen. In höheren Jahrgängen könnte dabei durchaus (vielleicht mit einem Schlenker zur Antigone …) die Frage behandelt werden, wie mit Wertekonflikten umzugehen ist, etwa wenn innere Überzeugungen nicht mit den geforderten religiösen Praktiken überein stimmen oder religiöse und staatliche Gesetze in Konflikt treten. Auf diese Weise wäre es möglich zu reflektieren, dass auch religiöse Menschen die Gesetze und Perspektiven ihrer Religion nicht notwendig ohne Fragen und innere Konflikte, son dern eventuell sogar mit mehr oder weniger intensiven Spannungen leben, obwohl oder gerade weil ihre religiöse Tradition für sie von hoher Bedeutung ist und sie diese als sie persönlich verpflichtend erfahren. Vor diesem Hintergrund möchte ich hier noch drei Punkte erwähnen, die im Kapitel »Judentum« dieses Buches nicht näher behandelt wurden, nach denen bei Unterrichtsbesuchen aber immer wieder gefragt wird: Die eine betrifft die Frage, wer oder was Juden/Jüdinnen überhaupt sind, und damit verbunden diejenige nach der Möglichkeit eines Übertritts zum Judentum, die andere die nach der Begründung der religiösen Praktiken. Diese Fragen scheinen mir tatsächlich zu einem besseren Verständnis des Judentums zu verhelfen. Wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde, ist Jude oder Jüdin, ob er/sie nun religiös ist oder nicht. Das Judentum ist insofern keine Religion im christlichen Sinne, sondern zugleich ein Volk, es ist eine Gemeinschaft, ohne dabei notwendig
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Glaubensgemeinschaft zu sein. Ein Jude oder eine Jüdin, ob religiös oder atheis tisch, kann dabei zugleich Italiener oder Brasilianerin, Deutscher oder Israeli sein, und diese nationalen Zugehörigkeiten können für ihr/sein Selbstverständnis und ihre/seine Identität durchaus sehr wichtig sein. Insofern ist das jüdische Volk eher wie eine große Familie, der ganz verschiedene Menschen angehören, Menschen, die unterschiedlicher Nationalität sind und andere weltanschauliche Positionen vertreten. Diese Art familiärer Bindung wird jedoch getragen von den religiösen Traditionen, vom Schabbat, von den Feiertagen, den Interpretationen, den kulinari schen Bräuchen: Die unterschiedlichen Facetten der jüdischen Gemeinschaft leben bis heute aus den religiösen Ressourcen, es sind die Traditionen des Gottesbundes, die die Bindung der Juden/Jüdinnen bis in ihre säkularen Positionen trägt. Anders als das Christentum und der Islam ist das Judentum keine universale Religion oder wenn, dann in anderer Weise. Auch das Judentum geht davon aus, dass alle Menschen sich Gott zuwenden sollten und ihn als Herrn anerkennen sollten, verlangt aber nicht danach, dass alle Menschen dafür Juden/Jüdinnen werden. Da aus jüdischer Sicht auch Nicht-Juden/-Jüdinnen ihr Seelenheil finden, oder säkularer gesprochen, ihre Menschlichkeit voll und ganz verwirklichen kön nen, sofern sie Gott als unseren Herrn anerkennen, gibt es aus jüdischer Sicht keine Notwendigkeit einer Konversion zum Judentum. Doch wenn es dafür keine Notwendigkeit gibt, besteht durchaus diese Möglichkeit: Wer nicht als Jude/Jüdin geboren wurde, kann durch eine Konversion vollwertiges Mitglied der jüdischen Gemeinschaft und ihres Bundes mit Gott werden. Voraussetzung einer ernsthaf ten Konversion ist aus der Sicht des traditionellen Judentums dabei zweierlei: der Wille, in guten wie in schlechten Zeiten Teil der jüdischen Gemeinschaft zu sein, sowie Gott als König anzuerkennen und nach seinen Geboten und Gesetzen zu leben. Während säkulare Juden/Jüdinnen voll und ganz Juden/Jüdinnen bleiben, sollte der Übertritt also durchaus eine religiöse Perspektive haben – es sollte um die Absicht gehen, als Teil der jüdischen Gemeinschaft in der Bindung an Gottes Gesetz zu leben. Warum ist für traditionelle Juden/Jüdinnen die Befolgung der religiösen Gesetze so wichtig? Die erste Antwort ist sicherlich, dass es sich bei dem jüdischen Gesetz um die Vorschriften handelt, die Gott dem Volk gegeben hat, als es in den Bund mit Ihm eingetreten ist. Allerdings gibt es durchaus auch nicht-religiöse Juden/Jüdinnen, die das Gesetz befolgen, etwa weil sie sich der Tradition verpflichtet fühlen und diese weiterleben lassen wollen oder weil sie davon ausgehen, dass diese auch die Grundlage für die Bildung einer sozialen und gerechten Gemeinschaft darstellt, ja sogar weil sie denken, dass die Abwendung vom jüdischen Gesetz in einer Weise zur Auflösung der Tradition führen könnte, die dem Vernichtungswillen von anti semitischer Seite in die Hände spielen würde.
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Aus einer traditionellen Perspektive bedeutet die Befolgung des Torah-Gesetzes, dass wir im Sinne des göttlichen Schöpfungswillens an uns und an der Welt arbei ten bzw. diesen Willen in uns und in die Welt einarbeiten: Mithilfe der göttlichen Vorschriften können wir uns selbst, die Gemeinschaft, ja die Welt als solche zu einer besseren machen, zu einer Welt, in der wir und letztlich die ganze Menschheit sich auf das Gerechte, auf das Gute, auf das Wahre ausrichtet, kurz: auf Gott. Liegt hierin der Sinn der jüdischen Existenz, dann konvergiert er aus jüdischer Sicht letztlich mit dem Sinn menschlicher Existenz überhaupt.
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Judentum
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Wenn junge Menschen heute bei Religion sogleich an Krieg, Terror und Gewalt denken, widerspricht dies zutiefst der Friedensbotschaft von Christentum und Islam, aber genau deshalb ist es wichtig, solche Fragen nicht zu übergehen. Dabei kommen auch wechselseitig kritische Wahrnehmungen zwischen Islam und Christentum ins Spiel, die mitunter verletzend sein können.
6.1 SchülerInnenfragen Für christliche SchülerInnen in Zentraleuropa steht heute vor allem der von ihnen wahrgenommene Zusammenhang zwischen Islam und Terrorismus im Vordergrund sowie der »heilige Krieg«. Beides widerspricht ihrem tiefen Bedürfnis nach einem Leben in Frieden. Die kritischen Wahrnehmungen scheinen sich allerdings nicht unterschiedslos auf den Islam zu richten, sondern auf solche Gruppen und Strömungen, die sie als »extrem« ansehen (vgl. Schweitzer, et al., 2018, S. 113–117). Bei muslimischen SchülerInnen wird das Christentum im (kulturellen) Tiefengedächtnis oft mit den Kreuzzügen assoziiert. In dieser Perspektive erscheint es als eine zu Gewalt motivierende imperialistische Religion, die dem Islam feindlich gegenübersteht. Die Eroberung Jerusalems, in der die Kreuzzüge ihr Ziel fanden, betraf eben nicht nur die heilige Stadt des Judentums oder des Christentums, sondern auch die des Islam. Denn Jerusalem ist der Schauplatz vieler bedeutender biblischer Geschichten, die in den Koran eingeflossen sind. Klassische Korankommentatoren haben die im Koran erwähnte »fernste« »Anbetungsstatt«, zu der Gott »seinen Knecht nachts reisen ließ« (17:1), in Jerusalem lokalisiert. Aus diesem und auch anderen Gründen hat die Stadt eine besondere Stellung im muslimischen Denken erhalten. Das wird vor allem durch den späteren Bau der al-Aqsa-Moschee auf dem Tempelberg in der Umayyadenzeit repräsentiert. Dabei ist anzumerken, dass die religiöse Bedeutung Jeru-
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salems heute von politischen Deutungen völlig überformt ist. Bis heute gibt es intensive Diskussionen über die historisch-kritische Forschung bezüglich der Bedeutung des Verses und der Stadt Jerusalem. So ist Israel bis heute ein Ort religiöser und politischer Spannungen, was erklärt, warum muslimische Kinder und Jugendliche beim Thema Gewalt nicht zuletzt an das Judentum im Nahen Osten denken, das darin ihrer Wahrnehmung nach vom »Westen« und insbesondere den USA unterstützt wird. Ob dann beim »Westen« auch an das Christentum gedacht wird – im Sinne der in der amerikanischen Politik anzutreffenden Selbstbezeichnung als »christliche Nation« –, müsste eigens geprüft werden. In Deutschland kann das Thema Krieg und Frieden nicht ohne Bezug auf den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg verstanden werden. Im Nationalsozialismus bekannten sich auch viele ChristInnen zu den verbrecherischen Zielen des nationalsozialistischen Staates. Für den Religionsunterricht geht es dabei insbesondere um die Bedeutung des Holocaust im Horizont der christlich-jüdischen Geschichte ( S. 219 ff.). Grundsätzlich ist die Situation für die Friedenspädagogik in Zentraleuropa heute dadurch bestimmt, dass es an konkreten Möglichkeiten zu fehlen scheint, sich für den Frieden zu engagieren. Zu Zeiten des Kalten Krieges lag es in Deutschland und Europa noch auf der Hand, dass sich das Friedensengagement auf die nukleare Abrüstung auf der einen sowie Entspannung zwischen den feindlichen Blöcken in Ost und West auf der anderen Seite beziehen musste (vgl. Schmitt, 1990). Heute hingegen stellt sich die Situation diffus dar ( S. 240 f.). Gleichwohl gibt es nach wie vor christlich motivierte Friedensgruppen und an vielen Orten Friedensinitiativen, an denen junge Menschen aus dem Bereich des Christentums beteiligt sind. Auch im muslimischen Bereich finden sich weltweit Beispiele für Friedensinitiativen und friedenstheologische Konzepte. Es gibt nicht nur mehrere FriedensnobelpreisträgerInnen, die sich als MuslimInnen für den Frieden einsetzen, sondern auch zahlreiche Stellungnahmen gegen Gewalt und Terror von MuslimInnen (Beispiele in Weingardt, 2018). Zu nennen sind auch friedenspädagogisch bedeutsame Jugendgruppen, die sich beispielsweise mit Empowerment, Diskriminierung und Rassismus befassen. Freilich werden diese Themen immer wieder von radikalen Gruppierungen instrumentalisiert, die versuchen, so auf muslimische SchülerInnen Einfluss zu nehmen. Hier stellt sich dann das Problem eines religiös begründeten Extremismus, mit dem sich friedenspädagogische Ansätze heute ebenfalls auseinandersetzen müssen (vgl. Ceylan & Kiefer, 2018).
6.2 Elementare Strukturen Sachinformationen sind beim Thema Krieg und Frieden schon deshalb so wichtig, weil es in dieser Hinsicht nicht nur bei jungen Menschen, sondern in der Gesellschaft insgesamt vielfach an fundiertem Wissen fehlt. Unreflektiert aus den Medien übernommene »Kenntnisse« führen leicht zu Klischees und Fehl-
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einschätzungen vor allem im Blick auf den Islam als eine »wesensmäßig« von Gewalt geprägte Religion. Was lehren Bibel und Christentum über Krieg und Frieden? Zunächst ist kritisch festzuhalten, dass die Bibel vor allem im Alten Testament vielfach von Kriegen berichtet und dass diese Kriege keineswegs in allen Fällen abgelehnt, sondern zum Teil sogar auf einen göttlichen Befehl zurückgeführt werden (bspw. 5. Mose 20). Krieg kann dann als eine religiöse Pflicht erscheinen, aber auch die Gräuel des Krieges, die für das alte Israel vor allem mit den Eroberungszügen der großen Nachbarstaaten verbunden waren, werden keineswegs verschwiegen. Solche Hinweise auf geschichtliche Zusammenhänge machen deutlich, warum eine historisch-kontextuelle und kritische Auslegung der biblischen Überlieferungen erforderlich ist. Deutungen von Krieg und Frieden im Altertum lassen sich nicht einfach auf die Gegenwart übertragen, und die Inanspruchnahme isolierter Bibelzitate kann gefährlich sein. Darüber hinaus finden sich ebenfalls schon im Alten Testament Visionen eines universellen Friedens. »Schalom« (das hebräische Wort für Frieden) meint einen umfassenden Zustand von Frieden und Gerechtigkeit – eine biblische Verheißung und theologisch-normative Vorstellung, die bis in die Gegenwart hinein wirksam geblieben sind. Mit Jesus verbindet sich eine radikale Friedensethik, wie sie an erster Stelle in der berühmten Bergpredigt zum Ausdruck kommt. Ihre Zuspitzung findet diese Ethik in der Feindesliebe: »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen« (Mt 5,44). Und: »Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar« (Mt 5,39). In der ganzen Geschichte des Christentums ist freilich umstritten geblieben, ob sich ein solches Gebot nur auf den einzelnen Menschen beziehen kann oder auch auf die staatliche Politik (vgl. Mokrosch, 1991). Manche ChristInnen halten den Pazifismus, der jede Form von Krieg ablehnt, für die einzig legitime christliche Haltung. Christliche PazifistInnen haben für ihre Überzeugung oft einen hohen Preis bezahlt und ließen sich lieber verhaften als sich zum Wehrdienst zwingen zu lassen. Andere halten dem entgegen, dass auch ChristInnen ein Recht auf Notwehr haben und dass der Schutz bedrohter Menschen zumindest in extremen Situationen den Einsatz militärischer Mittel sogar gebieten kann. Zu Missverständnissen kann die christliche Lehre vom »gerechten Krieg« führen (vgl. EKD, 2007, S. 65). Diese Lehre hat Wurzeln in der antiken Philosophie und im römischen Recht, wurde dann aber vor allem in der frühen Kirche theologisch ausformuliert, speziell bei Augustinus. In dieser Lehre werden nicht ein-
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fach Kriege legitimiert, sondern es werden einschränkende Voraussetzungen beschrieben, von deren Erfüllung der einzig noch als legitim angesehene »gerechte Krieg« abhängig gemacht wird. Dazu gehört vor allem, dass nur solche Kriege als gerechtfertigt angesehen werden, die letztlich der Wiederherstellung des Friedens dienen. Darüber hinaus dürfe auch im Krieg selbst kein rechtloser Zustand herrschen, sondern sollten bei der Kriegsführung ethische Kriterien maßgeblich bleiben, gerade also auch bei der Behandlung von FeindInnen. Friedensethisch bleibt die Lehre vom »gerechten Krieg« insofern ambivalent, als sie Kriege am Ende doch als gerechtfertigt anzusehen scheint, wenn auch nur in Ausnahmefällen. Wie die weitere Geschichte des Christentums im Mittelalter und dann vor allem in der Zeit des nationalen Denkens in Europa seit dem 19. Jahrhundert zeigt, kam es immer wieder zu problematischen Identifikationen von Religion oder Christentum und Nation, in deren Namen Kriege auch religiös gesehen legitim erschienen. Als exemplarische Erinnerung wird immer wieder darauf verwiesen, dass die deutschen Soldaten im Ersten Weltkrieg mit der Aufschrift »Gott mit uns« auf der Koppel ins Feld zogen (was so oder ähnlich bei Soldaten unterschiedlicher Nationalität der Fall war). Solchen Entwicklungen standen allerdings immer wieder christliche Friedensinitiativen gegenüber sowie pazifistische Gruppen, wie etwa die Mennoniten. Für die Gegenwart hat die sog. »Konziliare Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« – vor allem seit den 1980er Jahren – eine grundlegende friedensethische Bedeutung gewonnen (vgl. EKD/DBK, 1985). In DDR-Zeiten griffen oppositionelle Jugendliche gerne auf das Bibelwort »Schwerter zu Pflugscharen« (Jes 2,4) zurück, um ihren Protest gegen die Rüstungsspirale in Ost und West zum Ausdruck zu bringen. Besonders bedeutsam für Friedensethik und -pädagogik ist die für neuere evangelische und katholische Stellungnahmen bezeichnende Hinwendung zum »gerechten Frieden«. Dazu gehört der in der EKD-Denkschrift »Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« (EKD, 2007) unternommene Versuch, den Fokus insgesamt vom »gerechten Krieg« hin zum »gerechten Frieden« zu verschieben. Krieg lasse sich nur in einer gerechten Weltordnung überwinden, weshalb sich das christliche Friedensengagement auf die Schaffung einer solchen Ordnung richten muss. Pädagogisch gesehen wird damit der Einsatz für gerechte Verhältnisse in der globalen Welt zur entscheidenden friedenspädagogischen Aufgabe. In der Geschichte der christlichen Pädagogik blieben entschiedene friedenspädagogische Initiativen insgesamt selten (vgl. Nipkow, 2007). Es gab jedoch zumindest einzelne PädagogInnen wie Johann Amos Comenius, die eine Friedenspädagogik vertraten und deren Einsatz deshalb erinnert werden sollte. Auch bei Comenius beziehen sich die Visionen eines religiösen Friedens allerdings allein
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auf die zerstrittenen Richtungen (Konfessionen) im Christentum. Von den MuslimInnen hatte Comenius eine schlechte Meinung, die er auch in seinen Büchern verbreitete. Tatsächlich war der Weg zu einem Frieden, der die Religionen ebenfalls einschließt, wie Karl Ernst Nipkow (2007) sich ausdrückt, ein ausgesprochen »schwerer Weg«, der noch immer nicht an sein Ziel gekommen scheint. Was lehren Koran und muslimische Tradition über Krieg und Frieden? Frieden (as-salām) spielt im Koran und im muslimischen Leben eine wesentliche Rolle. Der Begriff ist vieldimensional und hat verschiedene Konnotationen, die auf theologischer, eschatologischer, prophetologischer und sozialer Ebene sichtbar werden (vgl. Waugh, 2004, S. 34). Theologisch ist Frieden ein grundlegender Bestandteil der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Zunächst gehört der Begriff zu den Eigenschaften Gottes, der als Inbegriff des Friedens gesehen wird (59:23). Den von Gott Rechtgeleiteten ist »das Haus des Friedens zugedacht bei ihrem Herrn« (6:127). Alle Gesandten sind Empfänger der göttlichen Gabe des Friedens (37:79–181). Deshalb ist es unter MuslimInnen üblich, der Erwähnung des Propheten Muhammad den Friedensgruß (»Friede sei mit ihm«) hinzuzufügen (33:56). Die Offenbarung des Koran beginnt in einer Nacht, in der Frieden herrschte (97:1–5). Die mit dem Frieden einhergehende innere Ruhe ist eine spirituelle Gabe, die Gott »in die Herzen der Gläubigen« niedersendet (48:4). Wenn der Koran vom Leben nach dem Tod spricht, dann spielt Frieden ebenfalls eine wesentliche Rolle. So werden die Gläubigen sich nicht fürchten, keinen Kummer erleiden, sondern Freude und Frieden spüren (7:49, 21:97–103, 36:55–58). Auf der prophetologischen Ebene ist es der Auftrag Muhammads und im Grunde aller Gläubigen, Frieden zwischen sich streitenden Gläubigen zu schließen (49:9). Muhammad wird aufgefordert, wenn seine Gegner »zum Friedensschluss neigen«, dies ebenfalls zu tun (8:61) (vgl. Waugh, 2004, S. 34 f.).
Auf sozialer und politischer Ebene spielt Frieden für die gesellschaftliche Ordnung eine wesentliche Rolle. In diesem Rahmen muss dann auch Krieg thematisiert werden. »Der bewaffnete Kampf wird als legitim erklärt, wenn es um Selbstverteidigung geht, um Prävention eines Krieges (9:8; 60:2), um Rettung von Gläubigen (4:75) und um Wiedergutmachung von Unrecht, einschließlich der Bestrafung der Übeltäter (9:13–14). Das Grundprinzip ist, dass andere Gemeinschaften so behandelt werden sollen, wie man die eigene behandelt« (Crone, 2006, S. 456). Der sog. »Schwertvers«, in dem es heißt, dass »Beigeseller« getötet werden sollen (9:5), beruht auf denselben Voraussetzungen, da er sich gegen eine bestimmte Gruppe richtet, die des Eidbruchs und der Aggression bezichtigt wird (9:1–23; 8:56–60). Jene, die ihren Verträgen treu bleiben, sind
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ausdrücklich ausgenommen (9:4). Hier und auch an anderen Stellen wird betont, dass der Kampf beendet werden muss, wenn die Gegenseite aufhört. Obwohl das Recht, sich zu verteidigen, gegeben ist, besitzt das Prinzip der Vergebung eine ebenso große Bedeutung (42:37–43) (vgl. Crone, 2006, S. 456). Der schillernde und in Deutschland meist eindimensional mit Kriegsführung assoziierte Begriff »Dschihad« ist in erster Linie ein spiritueller bzw. moralischer Begriff. Im Koran weist er unterschiedliche Konnotationen auf, von denen nur die wenigsten eindeutig im Sinne von Kriegsführung interpretiert werden können. Meist hat Dschihad die Bedeutung der Anstrengung auf dem Wege Gottes im Sinne von Kampf gegen die eigenen Begierden und Schwächen, Standhaftigkeit bei der Einhaltung der religiösen Gebote, Streben nach religiösem Wissen, Befolgung der Sunna (mündliche Lehren und Handlungen des Propheten) oder Gehorsam gegenüber Gott (vgl. Landau-Tasseron, 2003, S. 35 ff.). Die Interpretation von Dschihad im Sinne von Krieg steht allerdings in vielen Werken klassischer Rechtsgelehrter im Vordergrund. Neben den politischen Entwicklungen der frühen muslimischen Reiche hängt das in erster Linie damit zusammen, dass im Laufe der frühen muslimischen Theologiegeschichte etliche Begriffe aus dem spirituellen Bereich in den juristischen und politischen Bereich übernommen wurden und so häufig neue Bedeutungsdimensionen annahmen. In der Gegenwart wird der Begriff Dschihad von extremistischen Gruppierungen im Sinne ihrer politischen Ideologie gewendet. Sie sprechen gezielt von einem »heiligen Krieg« gegen »die Ungläubigen« und propagieren den Mythos, dieser »heilige Krieg« sei gottgewollt. Doch nicht nur ExtremistInnen missbrauchen diesen Terminus. Mitunter wurde er auch zur Mobilisierung von MuslimInnen im Kontext des Ersten Weltkriegs verwendet, beispielsweise als das Deutsche Reich eine Propagandakampagne in den muslimisch geprägten britischen und französischen Kolonien durchführte. Die deutsche Kampagne hatte das Ziel, Aufstände anzuzetteln, um die Kriegsgegner Frankreich und Großbritannien zu schwächen. Dabei wurde die Idee des Dschihad aufgegriffen und propagiert, dass es eine »heilige« Pflicht der Muslime sei, auf der Seite Deutschlands zu kämpfen, weil Deutschland als Verbündeter des osmanischen Sultans ein Freund des Islam sei (vgl. Oppenheim, 2018, erste Aufl. 1914). Christiaan Snouck Hurgronie hat diesen Plan als »Dschihad Made in Germany« bezeichnet (vgl. Schwanitz, 2003).
Aktuelle Herausforderungen für den Unterricht über Krieg und Frieden Die Friedenspädagogik steht heute vor der Herausforderung, dass sich die Kriege weltweit vervielfacht haben und dass kaum mehr gesagt werden kann, wer da im Einzelnen der Aggressor ist und was man – als junger Mensch in Zentral-
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europa – tun kann, um dazu beizutragen, Kriege zu beenden. Darin liegt einer der Gründe dafür, warum der Einsatz für Gerechtigkeit im Sinne des »gerechten Friedens« nun im Zentrum der Friedenspädagogik stehen muss. Denn hier gibt es viele Möglichkeiten, sich zu engagieren, auch schon für junge Menschen. In den letzten Jahrzehnten ist der Zusammenhang zwischen Frieden und Religion neu bewusst geworden. Im Anschluss an den katholischen Theologen Hans Küng (1990) wird dies oft so ausgedrückt, dass es ohne einen Frieden zwischen den Religionen auch keinen Weltfrieden geben kann. Vor diesem Hintergrund sind gerade interreligiöse Friedensinitiativen, wie sie in Deutschland beispielsweise in Nürnberg oder in Osnabrück in besonders sichtbarer Gestalt entstanden sind (vgl. Lähnemann, 2021), zu würdigen. Auch insgesamt sollte die interreligiöse Kooperation als Teil eines Friedensengagements wahrgenommen werden, bis hin zum vorliegenden Band. Im Religionsunterricht kann folgende These diskutiert werden: Es gab und gibt keine Kriege, die aus rein religiösen Motiven erwachsen – vielmehr geht es immer um Verschmelzungen von politischen und wirtschaftlichen Interessen auf der einen und religiösen Motiven auf der anderen Seite. Und vielfach wird Religion dafür genutzt und funktionalisiert, politische und wirtschaftliche Interessen durchzusetzen.
6.3 Elementare Erfahrungen Hier sind die Ausgangspunkte für die Kinder und Jugendlichen überaus verschieden: Während den meisten SchülerInnen im christlichen Bereich Kriege nur aus den Medien bekannt sind und in der Regel weit weg scheinen, bringen muslimische SchülerInnen zum Teil (bei entsprechender Migrationsgeschichte) persönliche Erfahrungen traumatischer Art mit oder sind familiär mit Menschen verbunden, die aktuell unter Kriegen zu leiden haben (Syrien, Irak, Afghanistan usw.). Zugleich leben die christlichen SchülerInnen auch alltäglich mit Kindern und Jugendlichen zusammen, die persönliche Kriegserfahrungen haben. Die Erfahrungszusammenhänge beim Thema Krieg und Frieden sind immer auch familiär zu denken. Welche Rolle spielt Krieg in der Erinnerung von Familien in Deutschland? Welche Kriege werden wie erinnert? Auch hier gibt es Unterschiede, die allerdings nicht immer mit unterschiedlichen Religionszugehörigkeiten zusammenfallen. Der Zweite Weltkrieg hat in vielen Familien dauerhafte Erinnerungsspuren hinterlassen, die vor allem von der Großeltern- und Urgroßelterngeneration tradiert werden. Auch Schuldfragen können dabei eine Rolle spielen ( S. 219 ff.). Der Jugoslawien-Krieg in den 1990er Jahren sowie die bis in die Gegenwart reichenden Kriege im Nahen Osten haben jeweils eine große Zahl Geflüchteter nach Deutschland geführt.
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Tief eingegraben ins ikonische Gedächtnis haben sich vielfach die Bilder vom 11. September 2001. Sie sind zum Symbol für religiös motivierten Terrorismus geworden und gehören insofern auch zu den Erfahrungen im Leben von Kindern und Jugendlichen. Das besondere Leiden von Kindern unter Krieg und Flucht durchzieht die Geschichte in vielfältig trauriger Art: Kinder als Kriegswaisen, verstümmelte und vergewaltigte Kinder, »Kindersoldaten«, Kinder als Objekte von Propaganda, Kinder als ZeugInnen schlimmster Kriegsverbrechen, Verlust der Heimat und vieles andere mehr (vgl. Denzler et al., 2016; Dreher & Werthan, 2017; Große-Oetringhaus, 1998). Auch wenn es sich dabei vielfach um vergangene Erfahrungen handelt, bieten sich für den Unterricht doch zahlreiche Anknüpfungsmöglichkeiten.
6.4 Elementare Zugänge Mehr und mehr wird bewusst, dass gerade Kinder in ihrer Verletzlichkeit beim Thema Krieg und Frieden im Blick sein müssen. Weit mehr, als dies lange Zeit wahrgenommen wurde, waren gerade sie – zusammen mit den Frauen – Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen. Zugleich wird noch immer viel zu selten erforscht, was Krieg für die Kinder selbst bedeutet, wie sie darüber denken, wo sie die Ursachen von Kriegen sehen und welche Wünsche und Sehnsüchte nach Frieden sie hegen. Fluchterfahrungen etwa aus Kriegsgebieten verbinden sich gerade für Kinder häufig mit traumatischen Erlebnissen. Ein Zusammenhang mit psychosomatischen Problemen wie Schlaflosigkeit, (schulischer) Demotivation oder phobischen Reaktionen liegt auf der Hand und wird von BetreuerInnen beschrieben, etwa im Zusammenhang der Arbeit mit Geflüchteten im Umkreis des Jahres 2015. Die Annahme, dass das Leben in Zentraleuropa »ohne Krieg« für eine Generation ohne Kriegsängste gesorgt habe, erweist sich als oberflächlich und naiv. Beispielsweise belegen Untersuchungen mit Kindern aus den 1980er und 1990er Jahren eindrücklich, wie tief sich die Angst vor einem Atomkrieg damals in die Seelen der Kinder eingegraben hatte (vgl. Petri, 1998). Auch bei der Behandlung des Themas Krieg muss dies bewusst bleiben. Für viele Kinder scheint das Thema Krieg in existenzieller Weise angstbesetzt, auch wenn dies nicht einfach verallgemeinert werden kann. Das Verständnis von Krieg und Frieden unterliegt entwicklungsbezogenen Voraussetzungen, etwa im Blick auf die Frage, wann Kriege »gerecht« sind und
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wie ein »gerechter Friede« aussehen soll. Spezielle Untersuchungen zum Thema Versöhnung zeigen, dass auch hier – ähnlich wie beim moralischen Urteil – von Kindern und Jugendlichen Vorstellungen ausgebildet werden, die sich von denen der Erwachsenen unterscheiden (vgl. Enright & North, 1998; weltweite Zusammenhänge: Balvin & Christie, 2020). Im Blick auf Jugendliche spielten im 20. Jahrhundert vielfach staatlich propagierte Vorstellungen von Bewährung und angeblichem Heldentum eine wichtige Rolle, was ebenso auf eine besondere Empfänglichkeit junger Menschen für solche »Vorbilder« verweist wie auf deren politischen Missbrauch (vgl. z. B. Gilmour, 2016). In diesem Zusammenhang können heute etwa deutsche Jugendliche, die sich dem Islamischen Staat (IS) in Syrien oder im Irak angeschlossen haben, gesehen werden. In diesem Falle ist es allerdings besonders schwer, die Motive dieser Jugendlichen zu ergründen. Für den islamischen Religionsunterricht erwächst daraus die Frage, welche Möglichkeiten der Prävention sich hier bieten.
6.5 Elementare Wahrheiten Beim Thema Krieg und Frieden stellen sich viele existenzielle Fragen. Traditionell wird dies in Deutschland bei der Frage der Wehrdienstverweigerung sichtbar, da es hier um die Gewissensthematik geht. Lässt es das eigene Gewissen zu, eine Waffe zu nutzen, um anderen das Leben zu nehmen? Welche Rolle spielt dabei der Glaube? Und was bedeutet das biblische Gebot: »Du sollst nicht töten!« (2. Mose 20,13)? Umgekehrt stellt sich ganz unvermeidlich die Frage nach Situationen, in denen trotz aller Friedensliebe Kriege – als eine letzte Möglichkeit der Notwehr – gerechtfertigt scheinen: Wie ist das einzuschätzen, gerade auch ganz persönlich? Muss nicht immer genauso mit einem elementaren Recht auf Notwehr gerechnet werden, das sogar militärische Maßnahmen einschließen kann? Auch die genannte EKD-Schrift (2007) geht trotz aller Betonung des »gerechten Friedens« von solchen Ausnahmen aus, die allerdings an bestimmte Voraussetzungen im Völkerrecht gebunden werden. Kann es so gesehen doch angemessen sein, Kriege zu führen? Die Frage nach der Beteiligung am Wehrdienst kann durchaus in einer anderen Perspektive diskutiert werden: Ist (freiwilliger) Wehrdienst aus religiöser Perspektive gerechtfertigt oder gar als eine religiöse Pflicht anzusehen? Vor allem in Israel und in den arabischen Ländern stellt sich diese Frage immer wieder, angesichts dauerhaft ungelöster Konflikte, bei denen sich politische, ökonomische und religiöse Dimensionen mischen.
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Was genau besagen die religiösen Traditionen im Blick auf heutige Entscheidungen? Welche Erwartungen ergeben sich daraus? Kann ich als ChristIn oder MuslimIn SoldatIn sein? Oder ist die Kriegsdienstverweigerung die einzig angemessene Antwort? Im Christentum und im Islam führten und führen die Bibel, insbesondere die Bergpredigt, und der Koran immer wieder vor die Frage, ob ein Mensch, der wirklich gläubig ist, nicht Pazifist sein muss. Soll ich mich selbst zum Pazifismus bekennen oder nicht? Der Religionsunterricht sollte Raum für solche Fragen bieten, die ganz unvermeidlich eine existenzielle Dimension aufweisen und die sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten lassen.
6.6 Elementare Lernformen An dieser Stelle sollen nur wenige Hinweise auf elementare Lernformen und didaktische Designs gegeben werden. Einige Herausforderungen friedenspädagogischer Ansätze im Religionsunterricht sollen in diesem Sinne genannt werden: Ȥ Zum einen stellt sich die Herausforderung, dass Friede und Friedenspädagogik banalisiert werden können. Lassen sich freundliche Verhältnisse in der Schulklasse wirklich als »Beitrag zum Weltfrieden« verstehen? Zugleich besteht die religionsdidaktische Notwendigkeit, bei diesem Thema Kindern und Jugendlichen auch Möglichkeiten für ein eigenes Engagement aufzuzeigen. Wo dies nicht der Fall ist, geht die im Religionsunterricht vielleicht angestrebte Ablehnung von Gewalt und Krieg leicht ins Leere. Um dem entgegenzuwirken, bedarf es u. a. der Auseinandersetzung mit aktuellen Formen von Diskriminierung und Rassismus. Ȥ Eine weitere Grundfrage angesichts der Situation in Zentraleuropa, in der Kriege nicht (mehr) unmittelbar vor Augen stehen, betrifft das Problem der Erfahrungsferne. Soll hier beispielsweise mit Filmen gearbeitet werden, die die Schrecken des Krieges zumindest medial ein Stück weit erfahrbar machen, oder droht dann eine »Gräuel-Pädagogik«? Welche Filme oder andere Medien sind dafür geeignet, und welche sind eher abträglich? Ȥ Immer wieder wird von MuslimInnen erwartet, sie mögen sich von Terroranschlägen im Namen des Islam distanzieren. Bemängelt wird häufig, dass MuslimInnen sich nicht äußern und keine Stellungnahmen abgeben würden. Diesem vorherrschenden Bild zum Trotz gibt es aber relativ viele Anstrengungen vonseiten deutscher MuslimInnen vor allem in den sozialen Medien,
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die öffentlich kaum zur Kenntnis genommen werden. Solche Anstrengungen gilt es im Unterricht sichtbar zu machen. Parallele Stellungnahmen von christlicher und muslimischer Seite können SchülerInnen beider Religionen dazu anregen, eigene Initiativen in Kooperation zu entwickeln. Im Dialog Friedrich Schweitzer: Wenn beide Religionen übergreifend eine universale Friedens botschaft vertreten: Wie kann es dann sein, dass sich immer wieder Menschen auf Christentum und Islam als Begründung für gewaltförmiges Handeln bis hin zu Terror berufen? Muss man am Ende nicht doch den religionskritischen Einschätzungen etwa von Jan Assmann zustimmen, dass die monotheistischen Religionen ein Gewaltpotenzial in sich schließen, das sie diskreditiert? Fahimah Ulfat: Man mag es als eine bedauerliche Tatsache betrachten, dass sich in den Basistexten beider Religionen Verse finden, die zur Gewalt aufrufen oder zumindest aufzurufen scheinen. Hier ist es von entscheidender Bedeutung, die Schriften historisch-kritisch zu kontextualisieren und deutlich zu machen, dass sich daraus keineswegs Legitimationen für religiös begründete Gewalt ableiten lassen. Die Aneignung dieser Kompetenz durch die SchülerInnen muss deshalb auch im Interesse des Friedens zwischen den Religionen in der Gegenwart im Mittelpunkt der religionsdidaktischen Bemühungen stehen. Friedrich Schweitzer: Ist es dann weitergehend sinnvoll, im Religionsunterricht nach den gerade in der jeweils eigenen religiösen Tradition auftretenden Gewaltmotiven zu fragen? Beispielsweise könnte das für das Christentum die Kreuzzüge betreffen, als es »gut, gerecht und gottgewollt« erschien, MuslimInnen zu töten. Bleibt ein Religionsunterricht, der sich nicht auch den dunklen Seiten des eigenen Glaubens und dessen Geschichte stellt, nicht zu harmlos? Fahimah Ulfat: Das ist pädagogisch und theologisch sinnvoll. Daneben ist es auch unerlässlich, die Gewaltmotive von Menschen oder Institutionen oder Nationen zu thematisieren, die beispielsweise die Kreuzzüge und andere Gräueltaten mithilfe der religiösen Quellen legitimiert haben. Das gehört leider nicht der Vergangenheit an. Zu thematisieren ist auch, dass sogar nicht religiös legiti mierte Kriege mithilfe religiöser Symbolik und Sprache propagiert werden, wie beispielsweise der sog. »Kreuzzug gegen den Terror« (George W. Bush).
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Weihnachten und Ostern – Ramadan- und Opferfest
Gottesdienste zu bestimmten Anlässen wie Einschulung, Schuljahresbeginn und -abschluss sowie anlässlich christlicher Feste spielen im Schulleben eine wesentliche Rolle. In einer von religiöser und weltanschaulicher Vielfalt gekennzeichneten Schulkultur stellt sich allerdings immer mehr die Frage, wie diese Feiern gemeinsam religionsbewusst und differenzsensibel gestaltet werden können. Gemeinsame Feiern können dazu beitragen, dass SchülerInnen und LehrerInnen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit erleben, was sie verbindet, aber auch was sie von anderen unterscheidet. Religiöse Feste geben ihnen die Möglichkeit, persönlich Einblick in den Glauben und die Botschaft der jeweils anderen zu gewinnen oder auch den eigenen Glauben anderen vorzustellen. Das gemeinsame Begehen besonderer religiöser Anlässe kann dazu beitragen, einander respektvoll zuzuhören und den Glauben anderer achten zu lernen.
7.1 SchülerInnenfragen Fragen von muslimischen Kindern und Jugendlichen können sein: Was ist an Weihnachten passiert? Warum wird an Weihnachten die Geburt Jesu gefeiert, wenn er doch eigentlich nicht in dieser Zeit geboren wurde? Welche Bedeutung hat der Adventskranz und der Weihnachtsbaum? Welche Bedeutung hat Weihnachten für ChristInnen? Was ist an Ostern passiert? Welche Bedeutung hat Ostern für ChristInnen? Was haben Hasen mit Ostern zu tun und warum werden Eier gesucht? Was ist an Pfingsten passiert? Welche Bedeutung hat Pfingsten für ChristInnen? Wie werden die Feste gefeiert? Fragen von christlichen Kindern und Jugendlichen können sein: Sind Ramadanfest und Opferfest vergleichbar mit Weihnachten und Ostern? Warum wird das Ramadanfest gefeiert? Welche Bedeutung hat das Fest für MuslimInnen? Was ist der Unterschied zwischen Ramadanfest und Opferfest? Was wird geopfert
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Weihnachten und Ostern – Ramadan- und Opferfest
und warum? Wie feiern MuslimInnen das Fest des Fastenbrechens? Können MuslimInnen auch Weihnachten feiern?
7.2 Elementare Strukturen Religiöse Feste der MuslimInnen MuslimInnen feiern alljährlich zwei große religiöse Feste: das Fest des Fastenbrechens bzw. Ramadanfest (ʿīd al-fiṭr) und das Opferfest (ʿīd al-ad.ḥā). Beide Feste sind mit bestimmten Ritualen verbunden. Neben den zwei großen Festen gibt es noch zahlreiche andere Gedenktage oder bestimmte Abende oder Nächte, die feierlich begangen werden, wie beispielsweise der Geburtstag des Propheten, auf die hier nur verwiesen werden kann. Fastenbrechen: Das Fest des Fastenbrechens wird am Ende des Fastenmonats Ramadan gefeiert. MuslimInnen orientieren sich bei ihren religiösen Festen nicht am gregorianischen Sonnenkalender, sondern am Mondkalender, dessen Jahr 354 Tage hat. Daher verschieben sich die Feste jedes Jahr gegenüber dem Sonnenkalender um 11 Tage nach vorn und »wandern« so durch das Sonnenjahr. Das Wort Ramadan bedeutet »der heiße Monat« und ist der Name des neunten Monats des Mondkalenders. MuslimInnen gehen davon aus, dass in diesem Monat der Prophet Muhammad die erste Offenbarung des Koran erhalten hat. Das wird im Koran selbst erwähnt (2:185 und Sure 97). Einen Monat lang enthalten sich die Fastenden von der Morgendämmerung bis zum Sonnenuntergang des Essens, Trinkens und des Geschlechtsverkehrs. Das Fasten ist ein gottesdienstlicher Akt, in dem der Mensch willentlich auf etwas verzichtet und somit seine Hingabe gegenüber Gott »verwirklicht« (zu Ritualen: Tambiah, 2003). Aber beim Fasten geht es um viel mehr als nur Verzicht. Seine tiefere Bedeutung liegt in der Einübung der Fähigkeit, auf weltliche Dinge zu verzichten und so sein Selbst zu beherrschen. Ziel ist nicht nur, Selbstkontrolle in Bezug auf körperliche Bedürfnisse zu lernen, sondern auch in Bezug auf die eigenen Gedanken, Handlungen und Absichten. Im Fasten drückt sich die Freiheit des Menschen aus, nicht von Begierden und weltlichen Bedürfnissen beherrscht zu werden. Im Grunde ist das Fasten eine Art »Entwerdung« (fanā), die hilft, die geistige, innere Dimension des Seins achtsamer wahrzunehmen und weiterzuentwickeln. Ziel des Fastens ist es wahrzunehmen, wodurch die eigenen Gedanken gelenkt werden, Herr über das Selbst zu werden, das Herz von Negativem zu reinigen und zur Gotteserkenntnis zu gelangen. Das heißt nicht, sich von der Welt abzuwenden. Diese Welt soll nicht als Selbstzweck, sondern als eine Manifestation der Eigenschaften Gottes wahrgenommen werden.
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Unmittelbar im Anschluss an den Fastenmonat feiern MuslimInnen das Fest des Fastenbrechens. In Deutschland hat sich das Wort Zuckerfest etabliert, als Übersetzung des türkischen Begriffs Şeker Bayramı (eine Reduktion auf die Süßigkeiten ist allerdings ähnlich problematisch wie eine Reduktion des Osterfestes auf Schoko-Hasen). Dieses Fest dauert in der Regel drei Tage. Traditionell orientiert man sich bei der Festlegung des Tages, an dem das Fasten beginnt, an der Sichtung des Neumonds. Dabei kann es zu Verschiebungen kommen, sodass der Beginn des Festes nicht immer für alle MuslimInnen auf demselben Tag liegt. Die Vorbereitungen auf das Fest beginnen in den letzten Tagen des Ramadan: In der Regel findet ein großer Hausputz statt, es wird gebacken, Festtagskleidung gekauft und Geschenke für die Kinder besorgt. Einige verzieren sich für das Fest die Hände mit Henna. In Deutschland können MuslimInnen mittlerweile am ersten Tag des Festes ihre Kinder von der Schule befreien lassen. Am Morgen des ersten Festtages wird das Festgebet in der Moschee verrichtet. Das ist der erste Anlass, sich gegenseitig zu sehen und zum Fest zu gratulieren. Danach beginnen die Besuche von Verwandten, FreundInnen und NachbarInnen. Dabei werden meist süße Speisen gereicht und Geschenke für Kinder verteilt. In manchen Familien wird traditionelle Festtagskleidung getragen. Die drei Tage werden mit Verwandten und FreundInnen verbracht, soweit es die Berufsausübung der Eltern und die Schulpflicht der Kinder erlauben.
Opferfest: Auch das Opferfest hat einen gottesdienstlichen Hintergrund, nämlich die Pilgerfahrt nach Mekka (Hadsch). Die Pilgerfahrt ist eine religiöse Pflicht, die MuslimInnen einmal im Leben erfüllen sollen, soweit bestimmte Voraussetzungen gegeben sind (Volljährigkeit, Gesundheit, hinreichende finanzielle Mittel). Mehr als zwei Millionen MuslimInnen aus der ganzen Welt begeben sich jährlich auf die Pilgerfahrt. Die Ursprünge der Pilgerfahrt liegen in vorislamischer Zeit. Der Prophet Muhammad hat das Ritual neu geordnet. Die Pilgerfahrt dient der Reinigung, der Vergebung und einem Neubeginn des eigenen Lebens. Sie ist eine Zeit der Achtsamkeit und der Gotteserkenntnis, eine Zeit, in der sich MuslimInnen auf die »Reise zu Gott« begeben. Wie das Fasten im Ramadan folgt die Pilgerfahrt dem Mondkalender. Sie findet im Monat D - ū l-Ḥiǧǧa statt, dem 12. Monat des muslimischen Mondkalenders. Am Ende der Pilgerfahrt wird das Opferfest gefeiert. Auch dieses Fest dauert in der Regel drei Tage. In seinem Mittelpunkt steht das Gedenken an den Propheten Abraham, den Gott laut Koran von der Opferung seines Sohnes abhielt und ihm stattdessen befahl, einen Widder zu opfern. Für MuslimInnen, auch jene, die die Pilgerfahrt in diesem Jahr nicht selbst vollzogen haben, ist es üblich, als Erinnerung an diese Begebenheit ein Tier (Schaf, Ziege, Rind) zu schlachten (in Deutschland ist dazu eine Genehmigung erforderlich) und das Fleisch mit Bedürftigen zu teilen. Immer mehr MuslimInnen gehen dazu über, statt selbst zu schlachten, Geld zu spenden und dafür in Ländern, in
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Weihnachten und Ostern – Ramadan- und Opferfest
denen Bedarf besteht, ein Tier schlachten und das Fleisch verteilen zu lassen. Der Ablauf dieses Festes ähnelt dem des Festes des Fastenbrechens. Begonnen wird wieder am ersten Morgen mit dem Festtagsgebet in der Moschee. Muslimische SchülerInnen haben auch bei diesem Fest das Recht, sich am ersten Tag vom Unterricht befreien zu lassen. Religiöse Feste der ChristInnen Im Christentum stehen drei große Feste im Jahreskreis im Zentrum: Ostern, Pfingsten und Weihnachten. Dabei handelt es sich nicht nur um einzelne Festtage, sondern um ganze Festkreise. Dazu kommen noch zahlreiche, über das Jahr hinweg verteilte Feiertage, auf die hier nur verwiesen werden kann (Überblick: Bieritz, 2005). Ostern: Das christlich-theologisch wichtigste Fest ist Ostern. Aus diesem Fest hat sich historisch gesehen der christliche Festzyklus entwickelt. Zumindest in gewisser Hinsicht beginnt es schon am Donnerstag vor dem Ostersonntag (Gründonnerstag), mit der Feier des Abendmahls (katholisch: Eucharistie), die an das letzte Abendmahl erinnert, das Jesus mit seinen Jüngern gefeiert hat. Am Tag danach, am Karfreitag (Tag der Trauer und des Kummers) wird der Kreuzigung Jesu und seines Sterbens am Kreuz gedacht. Besonders für evangelische ChristInnen hat dieser Tag große Bedeutung, da der Kreuzestod Jesu als ein Geschehen der Versöhnung mit Gott und der Vergebung von Schuld verstanden wird. Am Ostersonntag wird die Auferstehung Jesu Christi gefeiert – als das für den christlichen Glauben konstitutive Ereignis, in dem der Tod für alle Glaubenden überwunden wird, auch wenn dies in der Gegenwart natürlich eine Hoffnung bezeichnet, noch keine unmittelbar erfahrbare Realität. Historisch gesehen ist das Osterfest mit der jüdischen Pesach-Feier5 verbunden, auch wenn es dazu bereits im Neuen Testament unterschiedliche Deutungen gibt. Das Datum für das Osterfest wird in Entsprechung zum gregorianischen Kalender festgelegt. Dabei kommt es zu kleineren Verschiebungen, aber der Ostertermin fällt immer in eine ähnliche Zeit (März oder April).
5 Das jüdische Pesach-Fest hat auch Einzug gefunden in die muslimische Tradition, nämlich in Form des Tages von āšūrāʾ. An diesem Tag, an dem laut Überlieferung Gott einst die Kinder Israels zur Zeit des Propheten Mose vor ihren Gegnern rettete, pflegte Muhammad wie die Juden/Jüdinnen, denen er in Medina begegnete, zu fasten. Als das Fasten dann im Monat Ramadan für MuslimInnen zur Pflicht wurde, stellte Muhammad das Fasten am Tag von āšūrāʾ zur freien Wahl. An diesem Tag fasten MuslimInnen auch heute noch teilweise.
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Neben den Gottesdiensten, die von zahlreichen ChristInnen besucht werden, gibt es viele Bräuche, die besonders Kindern wichtig sein können. Dazu zählen Geschenke ebenso wie Süßigkeiten (Schoko-Hasen). Die gefärbten Ostereier können auf die Auferstehung verweisen, werden aber von den meisten Menschen nicht als religiös wahrgenommen. In der christlichen Tradition geht dem Osterfest eine lange Fastenzeit voraus, die aber keineswegs von allen ChristInnen beachtet wird. Allerdings gibt es Versuche, diese Fastenzeit gleichsam zu modernisieren, indem nach individueller Entscheidung bewusst auf bestimmte Dinge wie Süßigkeiten oder Alkohol, aber auch beispielsweise Fernsehen verzichtet wird. Besonders im orthodoxen Christentum spielen traditionelle Formen des Fastens eine große Rolle.
Pfingsten: Das Pfingstfest wird 50 Tage nach Ostern gefeiert (darauf verweist auch das griechische Wort hinter dem deutschen »Pfingsten«). Gedacht wird an diesem Tag der Gabe des Heiligen Geistes, so wie diese etwa in der Apostelgeschichte (Apg 2) beschrieben wird. In Gestalt dieses Geistes kommt Gott zu den Menschen, nachdem Jesus Christus nicht mehr in irdischer Gestalt bei ihnen ist (im christlichen Festkalender wird die Entrückung Jesu Christi zehn Tage vor Pfingsten, an »Himmelfahrt«, gefeiert). Heute wird das Pfingstfest manchmal auch als Feier der Geburtsstunde der Kirche verstanden, wiederum in Entsprechung zur Apostelgeschichte, die mit der Gabe des Geistes die Entstehung erster christlicher Gemeinden verbindet. In Zentraleuropa hat das Pfingstfest im Leben der ChristInnen stark an Bedeutung verloren. Es steht deutlich hinter Ostern und Weihnachten zurück. Entsprechend verbindet sich damit auch kein Brauchtum mehr. Allerdings gibt es kleinere christliche Gemeinschaften oder Kirchen (Pfingstkirchen, Pentecostals), für die die Geistbegabung oder Geisterfahrung zentral ist.
Weihnachten: In den Augen vieler Menschen auch über das Christentum hinaus ist dieses Fest heute am wichtigsten. Gefeiert wird die Geburt Jesu Christi, die der Bibel zufolge in Bethlehem geschehen ist. Theologisch geht es um die Menschwerdung Gottes – in einem Kind, was auch für die Pädagogik bemerkenswert ist: Gott identifiziert sich in besonderem Maße mit Kindern. Schon in der Bibel verbinden sich die Erzählungen zur Geburt Jesu mit zahlreichen Details (besonders im Lukasevangelium, Kap. 2), die dann auch für das Brauchtum wichtig geworden sind. So wird Jesus in einem Stall geboren, in Anwesenheit von Tieren (Ochsen und Esel), in einer (Futter-)Krippe (eine bessere Unterkunft war nicht verfügbar), die Hirten, die von den Feldern herbeikommen, werden zu ersten Zeugen der göttlichen Geburt, während die drei Weisen oder auch Könige aus dem Morgenland von weither anreisen, um das Kind zu sehen (ihnen ist am 6. Januar ein eigener Feiertag gewidmet).
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Datierung: Historisch gesehen ist nicht bekannt, wann genau Jesus geboren wurde. Entsprechend präzise Aufzeichnungen waren damals nicht üblich. Erst später hat sich die Festlegung von Weihnachten auf den 25. Dezember und damit Jesu Geburt auf den Tag davor (heute: Heiligabend) durchgesetzt. Dabei spielte, wie auch sonst oft in der Religionsgeschichte, wo frühere durch spätere Religionen gleichsam beerbt werden, die vorchristliche Bedeutung dieses Termins im Blick auf die Winter-Sonnenwende eine Rolle. Dass es im westlichen und im östlichen Christentum unterschiedliche Kalender gab, erklärt, warum das Weihnachtsfest bis heute in der evangelischen und katholischen Kirche an einem anderen Tag gefeiert wird als zum Teil im orthodoxen Christentum (entsprechend auch die anderen christlichen Feste).
Das Weihnachtsfest und der in Vorbereitung auf Weihnachten gefeierte Advent (die Zeit ab dem vierten Sonntag vor Weihnachten, ursprünglich eine Fastenzeit) wurde vor allem seit dem 20. Jahrhundert immer mehr von kommerziellen Interessen überlagert und von diesen missbraucht. So erscheint Weihnachten heute vor allem als ein Familienfest, an dem zahlreiche, mitunter große Geschenke ausgetauscht werden. Gleichzeitig bleibt Weihnachten aber doch für viele ChristInnen ein religiöses Fest, etwa abzulesen daran, dass die Gottesdienste an Weihnachten regelmäßig überfüllt sind. Können MuslimInnen auch Weihnachten feiern – und ChristInnen das Ramadanfest? Diese Frage stellen sich nicht nur ChristInnen, sondern auch MuslimInnen, insbesondere diejenigen, die konvertiert sind, und ChristInnen in der Familie haben oder in einer interreligiösen Ehe leben. Denn häufig wird unter MuslimInnen die Meinung vertreten, dass das Feiern von Weihnachten absolut verboten und sündhaft sei. Umgekehrt können auch ChristInnen es befremdlich finden, wenn andere Menschen »ihre« Feste feiern. Feste haben kulturelle, religiöse und soziale Hintergründe und Ziele. Die beiden Feste Ramadan- und Opferfest gelten für MuslimInnen als Glaubenspraktiken, mit dem Feiern dieser Feste, wird der Glaube verwirklicht. Allerdings gibt es muslimischerseits keine theologischen Argumente dagegen, Geburtstage, das Neujahrsfest oder andere Feste, die nicht als ein Akt der Glaubenspraxis verstanden werden, zu feiern. Das Weihnachtsfest steht damit weder als kulturelles noch als religiöses Fest im Widerspruch zum muslimischen Glauben. Bei diesem Fest wird die Geburt Jesu gefeiert, einer Person, die von MuslimInnen als Prophet verehrt und respektiert wird. Die Geburt Jesu wird im Koran erwähnt und ist ein Kernbestandteil der muslimischen Tradition ( S. 184 ff.). Das was an Weihnachten gefeiert wird, ist MuslimInnen nicht fremd.
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Das weihnachtliche Zusammensein und die Bräuche der gegenseitigen Besuche und der Geschenke sind rituelle Handlungen, die sich in keinster Weise gegen die Glaubenspraxis der MuslimInnen richten. Auch in anderen Ländern wie in Indien ist es üblich, dass MuslimInnen nicht-muslimische Feste feiern und umgekehrt Nicht-MuslimInnen muslimische Feste. In Ägypten und Syrien besuchen einige MuslimInnen auch die Weihnachtsmesse der dort lebenden ChristInnen als Ausdruck von Verbundenheit und Respekt. In Dubai und Indonesien sieht man sogar geschmückte Tannenbäume in der Öffentlichkeit. Auf der Ebene des gelebten Glaubens existieren also andere, weitere und offenere Traditionen als auf der theoretischen, normativen Ebene muslimischen Denkens.
Freilich gibt es bei manchen MuslimInnen eine Tendenz, den Islam als eine Religion aufzufassen, die abgeschlossen und völlig losgelöst von der jüdischen und christlichen Tradition existiert. Nur in dieser verengten Sichtweise scheint es einleuchtend, die Feste anderer Religionen als Bedrohung des Eigenen zu verstehen. Im Endeffekt ist die Frage, ob man als MuslimIn Weihnachten mitfeiert, eine Frage des individuellen Gewissens und der subjektiven spirituellen Entscheidung. Dabei hat niemand das Recht, andere MuslimInnen als »ungläubig« zu bezeichnen, wenn sie an Weihnachten teilhaben wollen. Für die meisten ChristInnen spielen die muslimischen Feste zumindest in Zentraleuropa nur insofern eine Rolle, als sie deutlich wahrnehmen, wie wichtig diese Feste für MuslimInnen sind. Ein inneres Verhältnis dazu haben sie nicht. Die einzige Ausnahme sind bislang die an manchen Orten üblich gewordenen Einladungen zum Fastenbrechen im Ramadan, das mitunter öffentlich begangen und von manchen ChristInnen mitgefeiert wird, in Gestalt der gemeinsamen festlichen Mahlzeit. Theologisch gesehen erscheint dies nicht problematisch, weil es vor allem als eine Geste der Gemeinsamkeit sowie der Offenheit und des Respekts für andere Kulturen und Religionen verstanden wird.
7.3 Elementare Erfahrungen Feste bieten besondere Chancen für eine erfahrungsbezogene Erschließung interreligiöser Themen. Hier können die SchülerInnen die religiösen Hintergründe der jeweils anderen Rituale und Feste kennenlernen und sie mit ihren eigenen in Beziehung setzen. Sie können gemeinsam überlegen, ob sie die Feste der jeweils anderen Religion mitfeiern wollen und welche Bedeutung dies für sie haben könnte. Muslimische Kinder und Jugendliche Muslimische Kinder und Jugendliche erfahren die beiden genannten großen muslimischen Feste in der Regel im Rahmen ihrer Familie. Selbst wenn eine Familie nicht besonders religiös ist und nicht fastet, wird man zum Fest eingeladen
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oder lädt andere ein. Die gemeinsame Vorbereitung des Fastenbrechens und die erfahrene Gemeinschaft sind ein besonderes Ereignis, das von vielen Kindern und Jugendlichen intensiv erlebt wird. Ähnliches gilt für das Opferfest, das auch bei Familien mit wenig Bezug zur Pilgerfahrt einen festen Bestandteil des Jahresablaufs bildet. Was die christlichen Feste anbelangt, so können muslimische Kinder und Jugendliche einerseits Ostern und Weihnachten in ihrem mittelbaren Umfeld wahrnehmen, in der Kindertagesstätte, der Schule, bei den Nachbarn, Freunden und Bekannten. Andererseits können muslimische Kinder und Jugendliche Ostern und Weihnachten auch in ihrem unmittelbaren Umfeld, also in ihren Familien erleben. Zahlreiche MuslimInnen in Deutschland schätzen die Traditionen, die mit Weihnachten und Ostern verbunden sind: Weihnachtsmärkte, Weihnachtsgebäck, Ostereier, Dekorationen, Geschenke. Es gibt auch muslimische Familien, die zuhause einen Weihnachtsbaum aufstellen, ihren Kindern etwas schenken oder auf Ostereiersuche gehen. Diese Feste haben dann vermutlich weniger eine religiöse als vielmehr eine kulturelle Bedeutung. Sie bilden einen Raum der Teilhabe und der Zugehörigkeit zur deutschen Alltags- und Feierkultur. Freilich ist hier bezüglich der muslimischen Kinder eine grundlegende Asymmetrie zu konstatieren, denn die Erfahrung, in den Festkreis einer fremden Religion eingebunden zu sein, machen nur sie, nicht aber ihre christlichen MitschülerInnen. Es gibt auch MuslimInnen, die gegenüber den christlichen Festen kritisch eingestellt sind. Sie fragen sich beispielsweise, ob es für sie religiös erlaubt ist, ChristInnen frohe Weihnachten zu wünschen oder das Weihnachtsfest mitzufeiern. Hier entsteht eine Spannung zwischen der kulturellen und der religiösen Ebene. Der Alltag der muslimischen Kinder und Jugendlichen ist in den Jahresrhythmus eingebunden, der in Deutschland christlich geprägt ist. Das Weihnachtsfest ist kulturell betrachtet auch ein Jahresendfest und Ostern ein Frühlingsfest. Wenn muslimische Familien sich von diesen Festen bewusst distanzieren oder ihre Kinder nicht daran teilhaben lassen, werden die Kinder und Jugendlichen auch aus dem Jahresrhythmus, der mit dem religiösen Festzyklus unweigerlich zusammenhängt, herausgenommen. Eine solche Selbstdistanzierung kann problematisch werden, denn sie kann u. a. das Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft stören und Fremdheitserfahrungen erzeugen.
Christliche Kinder und Jugendliche Besonders intensive Erfahrungen verbinden sich für christliche Kinder und Jugendliche mit Weihnachten, vor allem als Familienfest und als »Fest der Geschenke«. Auf dieses Fest freuen sie sich lange im Voraus. Jüngere Kinder fiebern vor allem dem Heiligabend entgegen. Die am Adventskranz Stück für Stück entzündeten Kerzen machen ihnen die Zeit der Erwartung anschaulich, und die Advents- und Weihnachtslieder verstärken die festlichen Stimmungen und Erwartungen.
Elementare Erfahrungen
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Obwohl es für die meisten ChristInnen ohne Adventskranz und Weihnachtsbaum heute kein richtiges Weihnachten geben kann, sind diese Bräuche erst in den letzten zwei Jahrhunderten entstanden. Beim Weihnachtsbaum handelt es sich um eine Tradition, die zuerst im Elsass zu finden war, der Adventskranz wurde im pädagogischen Kontext einer diakonisch-sozialpädagogischen Einrichtung von Johann Hinrich Wichern im 19. Jahrhundert erfunden.
Auch an Ostern gibt es familiäre Bräuche, etwa Familienbesuche, aber sie sind nicht so stark ausgeprägt wie an Weihnachten. Die Pfingstfeiertage werden heute häufig für Ausflüge genutzt, im Freundes- und Familienkreis. Den Feiertagen im Islam begegnen christliche Kinder und Jugendliche in der Regel nur aus einer mehr oder weniger distanzierten Beobachterperspektive. Dabei dürften zum einen die Medien eine Rolle spielen, zum anderen aber auch das Zusammenleben in der Schule. Im christlichen Religionsunterricht werden in der Regel schon in der Grundschule, im Rahmen etwa einer Unterrichtseinheit zum Islam, auch die Feste behandelt. Dabei stehen religionskundliche Informationen im Vordergrund.
7.4 Elementare Zugänge Nur in den wenigsten Fällen werden Kinder darüber nachdenken, warum ein bestimmtes Fest gefeiert wird. Die religiösen Feste gehören einfach dazu und werfen keine Fragen auf. Ältere christliche Jugendliche reflektieren allerdings zum Teil kritisch auf den mit Weihnachten verbundenen Kommerz und Konsum. Biografisch gesehen kommt es mitunter zu Ernüchterungserfahrungen, wenn in der Kindheit an das »Christkind« oder den Weihnachtsmann geglaubt wurde, die die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen. Die subjektive Erfahrung der Feste hängt mit den Vorstellungen von Zeit bei Kindern und Jugendlichen zusammen. Ihr Zeitverständnis verändert sich im Zuge der Entwicklung. Aus entwicklungspsychologischer Perspektive sind bereits Kleinkinder keine reinen »Gegenwartswesen«, sondern verfügen schon in den ersten Monaten über »Erinnerungsspuren« (Bucher, 2004, S. 37 f.). Zeit ist allerdings für Kinder »erlebte, mit Erlebnissen und Handlungen ausgefüllte Zeit« und nicht linear, wie bei Erwachsenen (S. 46). Der Zeitbegriff verändert sich im Laufe der Entwicklung von einem anschaulichen und konkreten bis hin zu einem abstrakten Verständnis. Ein Indiz für einen frühen Zeitbegriff ist, dass Kinder danach fragen, wie oft sie noch schlafen müssen, bis ein Ereignis eintritt. Vor allem geben Festtage, die mit Freude erwartet werden, »dem Zeiterleben den ersten festen Rhythmus«, worunter die Festtage fallen (S. 42). Feste strukturieren den Zeitablauf, stellen wiederkehrende (emotionale) Ankerpunkte im Jahresverlauf dar und sind auch im Jugendalter trotz des immer abstrakteren Zeitverständnisses von hoher Relevanz.
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7.5 Elementare Wahrheiten Beim Thema Ostern, Weihnachten, Fasten und Ramadan kommen Wahrheitsansprüche auf verschiedenen Ebenen ins Spiel. Einerseits können Fragen innerhalb der beiden Religionen aufbrechen: Welche Bedeutung haben die Feste für mich persönlich? Aus welchen Gründen sind sie für mich wichtig oder nicht wichtig? Welche Erinnerungen kommen bei mir auf? Welche Erfahrungen verbinde ich damit? Haben die Feste etwas mit meiner Gottesbeziehung zu tun? Sind die Hintergründe der Feste noch rational nachvollziehbar? Andererseits können Fragen die jeweils andere Religion betreffen: Ist das Fasten, wie MuslimInnen es einhalten, noch zeitgemäß? Warum soll man für Gott auf Essen und Trinken verzichten? Zum Gottesdienst gehört auch die Erfahrung, den Glauben mit anderen zu teilen. Deshalb können ChristInnen fragen, ob MuslimInnen auch Weihnachten und Ostern feiern »dürfen«, obwohl sie den christlichen Glauben nicht teilen. Andere Fragen betreffen etwa das Fasten (ein Zwang?). MuslimInnen können fragen, ob ChristInnen den religiösen Charakter ihrer Feste überhaupt noch ernst nehmen. Wie viel Raum lässt die heutige Weihnachtskultur für Gott? Zumindest in manchen Fällen werden die christlichen Feste als »haram« (verboten) abgelehnt (Dubiski et al., 2010). Für den Unterricht folgt daraus, dass er sich nicht einfach auf religionskundliche Informationen zu den religiösen Festen beschränken kann. Neben dem anzustrebenden reflektierten Verständnis muss es immer auch um die Einstellungen zu den Festen gehen, insbesondere zu den Festen der anderen.
7.6 Elementare Lernformen In diesem Kapitel soll exemplarisch etwas breiter auf die elementaren Lernformen eingegangen werden. Dies bietet sich beim Thema Feste besonders an. Als es verstärkt üblich wurde, Aufgaben des interreligiösen Lernens wahrzunehmen, wurde vielfach versucht, bei den Festen der Religionen anzusetzen. Zunächst erschien es als ein Ziel, einfach alle religiösen Feste gemeinsam zu feiern – schon im Kindergarten, dann auch in der Schule. Dabei wurde zu wenig darauf reflektiert, dass diese Feste in nicht von allen geteilte Glaubensüberzeugungen eingebunden sind. Insofern kann das gemeinsame Feiern zu einer religiösen Verflachung führen, vor allem wenn die religiösen Hintergründe zugunsten der Erfahrung von Gemeinsamkeit ausgeblendet werden. Im Laufe der Zeit hat daher das Modell der wechselseitigen Gastfreundschaft (vgl. Harz, 2014) viel Zustimmung gefunden: Kinder und Jugendliche können
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einander erzählen, was und wie ein Fest in der eigenen Familie gefeiert wird und so andere daran teilhaben lassen, beispielsweise durch das Teilen von Gebäck oder Speisen. Auch in Theologie und Kirche wurde die Frage der interreligiösen Gestaltung religiöser Feste stark diskutiert. Besonders gemeinsame Gebete werden als Problem wahrgenommen. Einen wichtigen Impuls für gemeinsame gottesdienstliche Veranstaltungen lieferte das Gebetstreffen aller großen Religionen in Assisi, das von Papst Johannes Paul II 1986 initiiert wurde. In einer gemeinsamen Feier haben die Gemeinschaften nacheinander ihre jeweiligen Gebete gesprochen. Die Deutsche Bischofskonferenz hat 2003 solch eine multireligiöse Feier für Gemeinden und Schulen in einer Arbeitshilfe befürwortet (vgl. DBK, 2003). Dies blieb aber nicht unwidersprochen. Beispielsweise verbot 2006 Kardinal Meisner multireligiöse Feiern in den kirchlichen Schulen seiner Diözese mit der Begründung, dass diese bei Kindern und Jugendlichen zu Verwirrungen führen könnten (vgl. Pressestelle des Erzbistums Köln, 2006). Diese Einstellung setzte sich durch, sodass in der Neuauflage der Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz von 2008 nicht mehr von multireligiösen Feiern die Rede ist, sondern davon, dass die Glaubensgemeinschaften ihre jeweiligen Gottesdienste an getrennten Orten feiern sollen und danach eine Begegnung in der Schule stattfinden kann (vgl. DBK, 2008). Auf evangelischer Seite werden gemeinsame religiöse Feiern und besonders gemeinsame Gebete ebenfalls häufig problematisiert, da eine Vermischung befürchtet wird. Inzwischen werden aber auch auf kirchenleitender Ebene verstärkt die positiven Erfahrungen vor Ort wahrgenommen. Die theologisch verantwortliche Ausgestaltung interreligiöser Feiern wird als Aufgabe für die vor Ort Beteiligten angesehen (vgl. EKD, 2015, S. 53).
Mittlerweile haben sich vier Grundmodelle gemeinsamer religiöser Feiern etabliert, die u. a. in einer Handreichung der Landeskirchen und Diözesen in Baden-Württemberg dargelegt werden: – »Liturgische Gastfreundschaft«: Bei diesem Modell werden Angehörige anderer Religionsgemeinschaften eingeladen, beim Gebet als Gäste dabei zu sein. Die einladende Religionsgemeinschaft bestimmt den Rahmen, und die Gäste halten sich an deren Gepflogenheiten. Hier spielen die Gastfreundschaft und die gegenseitige Wertschätzung eine wesentliche Rolle. – »Teammodell: Multireligiöse Feier – nebeneinander beten«: Bei diesem Modell kommen verschiedene Religionsgemeinschaften zusammen, um zum Gebet beieinander zu sein. In der Feierpraxis wechseln sich liturgische Elemente aus verschiedenen Religionen ab. Die TeilnehmerInnen formulieren aus ihrer jeweiligen Tradition ihre Gebete, wobei die anderen zuhören. Die Verantwortung der Feier sollte in der Verantwortung der VertreterInnen der beteiligten Religionsgemeinschaften liegen. – »Interreligiöse Feier – miteinander feiern«: Bei dieser Form sprechen alle TeilnehmerInnen gemeinsam ein Gebet, dessen Formulierung von den VetreterInnen der beteiligten Religionsgemeinschaften gemeinsam verantwortet wird. Unterschiede spielen keine vordergründige Rolle, gesucht wird das Verbindende. Wie bereits erwähnt, wird dieses Modell im schulischen Kontext kritisch gesehen, da die Differenzen zwischen den Religionen nicht klar zum Ausdruck kommen würden. Um Ängsten vor Vereinnahmung oder Relativismus vorzubeugen, kann die im Religionsunterricht ohnehin vom Lehrplan vorgesehene Auseinandersetzung mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden der Religionen vorgeschaltet werden. Fragen lässt
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sich, was gegen gemeinsame Gebete z. B. für den Frieden sprechen könnte, wenn sie vorher mit Kollegium und Eltern dialogisch vorbereitet werden. – »Schulveranstaltungen mit religiösen Elementen«: Bei dieser Feierform geht es um weltliche Feiern, zu denen Gebete oder religiöse Elemente von VertreterInnen der jeweiligen Religionsgemeinschaften nacheinander beigetragen werden (Bischöfliches Ordinariat Rottenburg et al., 2018, S. 11 f.).
Offizielle Stellungnahmen von muslimischen Religionsgemeinschaften gibt es dazu bislang nicht. Wünschenswert wäre die Erarbeitung einer Handreichung, die auch von VertreterInnen anderer Religionsgemeinschaften wie MuslimInnen und Juden/Jüdinnen mitgetragen und mitverantwortet wird. Für Praxisbeispiele kann auf die bereits genannte Handreichung verwiesen werden (vgl. Bischöfliches Ordinariat Rottenburg et al. 2018). Im Dialog Fahimah Ulfat: Die Versöhnung mit Gott und die Vergebung von Schuld, wie sie sich im Feiern des Osterfestes konkretisiert, ist für mich schwierig nachvollziehbar. Was ist das genau, mit dem der Mensch so belastet ist? Friedrich Schweitzer: In biblischer Sicht ist der Mensch von sich aus nicht in der Lage, den Willen Gottes zu erfüllen. Die menschliche Existenz wird als frag mentarisch und in sich zerrissen dargestellt (»das Gute, dass ich will, das tue ich nicht«, Röm 7,19). Das gilt ebenso im Verhältnis zu anderen Menschen wie zu Gott. Deshalb ist der Mensch auf Versöhnung und Vergebung angewiesen. Fahimah Ulfat: Sowohl die christlichen als auch die muslimischen Jahresfeste haben einen eigentümlichen Doppelcharakter. Einerseits sind sie beliebt und werden einhellig gefeiert. Andererseits können die Ereignisse, auf denen sie basieren, in den Augen mancher Jugendlicher, fremd und irrational wirken. Wie kann die Religionsdidaktik diesen Bruch überbrücken? Friedrich Schweitzer: Die Aufgabe des Religionsunterrichts sehe ich hier darin, mit den religiösen Hintergründen der Feste vertraut zu machen. Das ist auch ein Beitrag zur Kultur, weil es verhindert, dass die Feste einfach verflachen und in bloßem Konsum und Kommerz enden. Die mit den religiösen Festen verbun denen Geschichten und Mythen geben den Festen eine Grundlage, auf der sie sich tiefer erfahren lassen.
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Teil 3
Interreligiös-kooperatives Lernen: Zusammenarbeit im Religionsunterricht
Diese interreligiöse Einführung in die Religionsdidaktik versteht sich im Zusammenhang der Kooperation zwischen islamischem und christlichem Religionsunterricht – wobei auch weitere Formen der Kooperation, etwa mit dem jüdischen Religionsunterricht, sehr wünschenswert sind. Den weiteren Horizont der Kooperation stellt interreligiöses Lernen oder – mit grundsätzlicherem Anspruch – interreligiöse Bildung dar (Schweitzer, 2014a). Im Folgenden soll es aber nicht um eine erneute allgemeine Darstellung dazu gehen, sondern speziell um die Zusammenarbeit zwischen islamischem und christlichem Religionsunterricht.
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Chancen der Kooperation im Religions unterricht: Konzeptionelle Perspektiven
1.1 Interreligiöse Bildung als Ziel und als Kriterium Eine Zusammenarbeit zwischen christlichem und islamischem Religionsunterricht muss dem Ziel der interreligiösen Bildung dienen. Den SchülerInnen sollen Möglichkeiten einer bewussten Begegnung mit Kindern und Jugendlichen mit anderer Religionszugehörigkeit eröffnet werden. Für manche, die selbst keiner bestimmten Religion angehören, kann auch einfach das Kennenlernen verschiedener Religionen im Vordergrund stehen, aber der Schwerpunkt der Kooperation soll hier beim Verhältnis zwischen Christentum und Islam liegen. Diese Zielsetzung impliziert, dass interreligiöse Bildung als Kriterium im Blick auf verschiedene Formen der islamisch-christlichen Zusammenarbeit im Religionsunterricht anzusehen ist. Dabei ist u. a. die Frage nach konkurrierenden Modellen für interreligiöses Lernen zu klären: Wie soll die Zusammenarbeit gestaltet werden – als Kooperation zwischen verschiedenen religionsunterrichtlichen Angeboten oder als allgemeiner Religionsunterricht »für alle«? Welche Form der Kooperation bietet die besten Möglichkeiten für interreligiöses Lernen? An dieser Stelle muss der Stand der Diskussion zum interreligiösen Lernen zumindest kurz umrissen werden: Ȥ Weitreichende Übereinstimmung kann im Blick auf die Notwendigkeit interreligiöser Bildung konstatiert werden. Ganz allgemein wird auf die zunehmende Multireligiosität in der Gesellschaft verwiesen sowie auf die Herausforderungen eines Zusammenlebens in Frieden und Toleranz, Respekt und wechselseitiger Anerkennung ( S. 14 ff.). Insofern bezeichnet interreligiöse Bildung keinen Spezialbereich, sondern eine Dimension allen Religionsunterrichts (vgl. z. B. Willems, 2011; Schambeck, 2013; Schweitzer, 2014a; Sajak, 2018; Meyer, 2019). Ȥ Bei den Zielen der interreligiösen Bildung ist das Spektrum der Positionen breiter. Beispielsweise gibt es hier unterschiedliche, sich allerdings auch
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überlappende Kompetenzkataloge. Vielfach genannt werden als im Unterricht zu erwerbende Kompetenzen: Wahrnehmungsfähigkeit, Wissen/religionskundliche Kenntnisse, Verstehen/Deutungsfähigkeit, Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, Offenheit für andere Überzeugungen/Toleranz, Urteilsfähigkeit, Handlungsfähigkeit und Dialogfähigkeit (vgl. Lähnemann, 1998; Nipkow, 1998; Leimgruber, 2007; sowie die oben genannte Literatur). Wiederum breit akzeptiert ist die didaktische Aufgabe, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den religiösen Traditionen erkennbar und verständlich zu machen. Dabei soll es nicht um abstrakte Kenntnisse gehen, sondern Kinder und Jugendliche sollen dazu befähigt werden, anderen in informierter und reflektierter Weise zu begegnen. Wenn dabei von Toleranz gesprochen wird, bedeutet dies folglich auch nicht ein bloßes Hinnehmen oder Dulden, sondern einen reflektierten Umgang mit bleibenden Unterschieden (vgl. die im Folgenden genannten Publikationen). In empirischen Untersuchungen hat sich mehrfach gezeigt, dass der Religionsunterricht besonders im Blick auf den Erwerb von Wissen über andere Religionen erfolgreich sein kann, während es bislang im Unterricht aber offenbar kaum gelingt, Veränderungen bei den Einstellungen zu erzielen (vgl. Ziebertz, 2010; Ritzer, 2010; Schweitzer et al., 2017). Doch sollte das Wissen über andere Religionen nicht geringgeachtet werden. Es lässt sich auch als Voraussetzung für weiterreichende Fähigkeiten des Verstehens und der Perspektivenübernahme begreifen. Ȥ Am weitesten auseinander gehen die Auffassungen bei den Realisierungsformen hinsichtlich des für interreligiöses Lernen anzustrebenden Modells von Religionsunterricht. Gemeinsam ist allen Auffassungen allerdings die Forderung, dass es im Religionsunterricht vermehrt zu Begegnung und Zusammenarbeit zwischen Angehörigen verschiedener Religionsgemeinschaften kommen muss. Ob dies aber am besten in der Gestalt einer Kooperation zwischen verschiedenen Formen von Religionsunterricht – evangelisch, katholisch, orthodox, islamisch und, soweit möglich, jüdisch – oder im Rahmen eines allgemeinen Religionsunterrichts »für alle« geschehen soll, ist umstritten (vgl. zuletzt Knauth & Weiße, 2020).
1.2 Kooperatives Modell oder »Religionsunterricht für alle«? Vor einer Diskussion und Beurteilung der Vor- und Nachteile ist eine genauere Beschreibung der beiden Modelle erforderlich.
Kooperatives Modell oder »Religionsunterricht für alle«?
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Beschreibung der Modelle Für eine über die eigene Konfession oder Religion hinausgehende Zusammenarbeit im Religionsunterricht haben sich vor allem zwei Modelle herausgebildet: das kooperative Modell sowie der »Religionsunterricht für alle«. Beide Modelle schließen hinsichtlich ihrer Institutionalisierung der Praxis ein gewisses Spektrum ein, weil sie in verschiedenen Bundesländern auf unterschiedliche Art und Weise realisiert werden. Das kooperative Modell ist aus der evangelisch-katholischen Zusammenarbeit erwachsen und steht derzeit vor der Aufgabe, die konfessionelle zu einer interreligiösen Kooperation zu erweitern (vgl. schon Schweitzer et al. 2002 und 2006). Der »Religionsunterricht für alle« verstand sich zunächst als eine Art allgemeiner Religionsunterricht (in »evangelischer Verantwortung«, vgl. Doedens & Weiße, 1997), der einfach dadurch zustande kommt, dass alle SchülerInnen an ihm teilnehmen. Dieser Ansatz sieht sich nun mit der Herausforderung konfrontiert, wie eine interreligiöse Kooperation über die bloße Öffnung für alle SchülerInnen hinaus auch im Blick auf die verschiedenen Religionsgemeinschaften erreicht und wie für die Lehrkräfte eine entsprechende Ausbildung mit Qualifikationen etwa im Bereich des Islam oder des Christentums gewährleistet werden kann (vgl. Bauer, 2019). Was dies genau bedeutet, lässt sich am Beispiel von Baden-Württemberg auf der einen und von Hamburg auf der anderen Seite verdeutlichen: Ȥ Der kooperative Religionsunterricht in Baden-Württemberg hat seine erste Gestalt in der Öffnung des evangelischen und des katholischen Religionsunterrichts für die jeweils andere Konfession gewonnen. Insofern war es kein Zufall, dass die ersten Ansätze dazu in den 1970er Jahren zu finden sind und damit in der Zeit, als die katholische Kirche sich im Horizont des Zweiten Vatikanischen Konzils erstmals für andere Konfessionen und Religionen öffnete. Eine erste offizielle Genehmigung der konfessionellen Kooperation wurde dann 1993 in Gestalt einer veröffentlichten Absprache zwischen zwei Schulreferenten der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der evangelischen Landeskirche in Württemberg erreicht (vgl. Beschluss der Schulreferenten, 1993). Weiteren Rückenwind gewann die Kooperation dann durch die 1994 publizierte Denkschrift der EKD »Identität und Verständigung«, die bundesweit als maßgebliche Grundlage für die Kooperation auf evangelischer Seite gelten kann (EKD, 1994). Ab 2005 wurde die in Baden-Württemberg in der Praxis bereits weit vorangeschrittene konfessionelle Kooperation dann in offiziellen Rahmenbestimmungen für alle vier Kirchen in diesem Bundesland als eine Regelform von Religionsunterricht gefasst und mit entsprechenden
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Vorgaben verbunden (vgl. Sammlung der Vereinbarungen: Konfessionelle Kooperation, 2015). Im Kern bedeute das Modell der konfessionellen Kooperation bis heute, dass die herkömmlichen Formen vor allem evangelischen und katholischen, prinzipiell aber auch weiterer Formen eines konfessionellen Religionsunterrichts als solche erhalten bleiben, zugleich aber in unterschiedlicher Weise miteinander kooperieren (wobei mitunter auch die für ein religionsunterricht liches Angebot erforderlichen SchülerInnenzahlen eine Rolle spielen). Konkret impliziert die Kooperation vor allem Phasen gemeinsamen Unterrichts, der auch ein ganzes Schuljahr umfassen kann, Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften u. a. m. Vonseiten der wissenschaftlichen Begleitung, die in diesem Falle in Gestalt mehrerer Forschungsprojekte gegeben war, wurde auch ein Team-Teaching empfohlen, das aber in der Praxis aus schulorganisatorischen Gründen nur in Ausnahmefällen realisiert werden konnte (vgl. Schweitzer et al., 2002 und 2006; Kuld et al., 2009). Für die inhaltliche Ausrichtung ist die Zielformel »Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden« kennzeichnend (Schweitzer et al., 2002). Diese Formulierung bringt an erster Stelle die auch biblisch fundierte Forderung zur Geltung, die Gemeinsamkeiten im christlichen Glauben wahrzunehmen und trennende Grenzen kritisch zu hinterfragen. Zugleich sollen die Unterschiede zwischen den Konfessionen aber ebenso wertgeschätzt und damit die unterschiedlichen Wege im Christentum gewürdigt werden. Dies entspricht dem Stand der ökumenischen Theologie, soweit diese mit Zielsetzungen wie etwa »versöhnte Vielfalt« für ein entsprechendes Verständnis eintritt.
Dass eine konfessionelle Kooperation, die sich auf den Bereich des Christentums beschränkt, angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung und insbesondere der zunehmenden Multireligiosität in der Gesellschaft religionspädagogisch gesehen auf Dauer nicht ausreichen kann, wurde bereits früh festgehalten (vgl. Schweitzer et al., 2006, S. 174–184). Mit der Einrichtung eines islamischen Religionsunterrichts, der in Baden-Württemberg inzwischen sowohl für die Grundschule als auch für die Sekundarstufe an immer mehr Schulen in Gang gekommen ist, der Gründung des Zentrums für Islamische Theologie in Tübingen sowie der Errichtung einzelner Professuren für islamische Religionspädagogik an den Pädagogischen Hochschulen des Landes sind die Voraussetzungen dafür gegeben, die konfessionelle Kooperation zu einer interreligiösen Kooperation weiterzuentwickeln (über das hier als Beispiel gewählte Bundesland Baden-Württemberg hinaus stellen sich die Verhältnisse zum Teil ähnlich dar). Dazu gibt es bereits erste Ansätze, die unten genauer beschrieben werden. Die Grundgestalt der Kooperation, bei der verschiedene Formen von Religionsunterricht – evangelisch, islamisch, katholisch – den Ausgangspunkt bilden, bleibt dabei erhalten. Rechtlich gesehen
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soll die Kooperation keine Fusion bedeuten (vgl. Heckel, 2005, S. 288). Gerade die Zusammenarbeit unterschiedlicher, religiös identifizierbarer religionsunterrichtlicher Angebote wird als Gewinn verstanden, da auf diese Weise beides, Gemeinsamkeiten und Unterschiede, zum Ausdruck kommen kann. Ȥ Der Hamburger »Religionsunterricht für alle« hat, bei ebenfalls weiter in der Geschichte zurückreichenden Wurzeln, als Modell seit etwa den 1990er Jahren an Fahrt aufgenommen (vgl. Doedens & Weiße, 1997; Bauer, 2019). Auch in diesem Falle steht die in der Großstadt Hamburg besonders ausgeprägte religiös-weltanschauliche Pluralität im Hintergrund. Darüber hinaus spielten hier dialogtheologische Modelle sowie Impulse aus der englischen Religionspädagogik eine wichtige Rolle. Zunächst war mit dem »Religionsunterricht für alle« (Rufa) das Angebot der Evangelischen Kirche gemeint, den evangelischen Religionsunterricht auch für SchülerInnen mit anderer Religionszugehörigkeit zu öffnen. Deshalb hieß dieser Unterricht auch »Religionsunterricht für alle in evangelischer Verantwortung«. Nach der Jahrtausendwende kam es jedoch zu Verhandlungen der Stadt Hamburg mit den verschiedenen Religionsgemeinschaften, die zumindest teilweise zu vertraglichen Vereinbarungen mit diesen Religionsgemeinschaften führten. Somit konnte das ursprüngliche Modell einer evangelischen Gastgeberschaft im Religionsunterricht nicht mehr einleuchten, eben weil es keine gleichberechtigte Verantwortung und Beteiligung verschiedener Religionsgemeinschaften zuließ. Derzeit wird im Rahmen eines Modellversuchs geprüft, wie eine Zusammenarbeit verschiedener Religionsgemeinschaften in der Verantwortung für den »Religionsunterricht für alle« erreicht werden kann (vgl. Bauer, 2019; Härle, 2019). Darüber hinaus soll die Beteiligung der verschiedenen Religionsgemeinschaften auch im Unterricht selbst deutlicher werden, indem mindestens die Hälfte der Unterrichtszeit der jeweils eigenen Religion der SchülerInnen gewidmet wird. In der verbleibenden Unterrichtszeit soll dann gemeinsamer Unterricht zu verschiedenen Religionen stattfinden. Damit nähert sich der Hamburger Religionsunterricht dem in anderen Bundesländern üblichen kooperativen Modell, wobei jedoch auch jetzt auf die förmliche Einrichtung verschiedener Religionsgruppen verzichtet werden soll. Begrifflich wird nun zwischen Rufa 1.0 und Rufa 2.0 unterschieden. In inhaltlicher Hinsicht folgt auch das Hamburger Modell dem doppelten Interesse an Gemein samkeiten und Unterschieden. Hier ist also eine deutliche Nähe zwischen den Modellen zu sehen. Die religionspädagogisch-theoretischen Ausführungen zum Hamburger Weg lassen jedoch erkennen, dass der Fokus dort weit stärker auf den Gemeinsamkeiten liegt als auf den Unterschieden (vgl. schon Doedens & Weiße, 2019). Dies dürfte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass bei Rufa 1.0 nur die SchülerInnen zusammenarbeiteten, während eine Kooperation auf der Ebene der Lehrkräfte keine geregelte Gestalt gewinnen konnte (so kritisch Bauer, 2019).
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Die wichtigste Entwicklungsaufgabe in Hamburg kann darin gesehen werden, wie eine nunmehr gleichberechtigte Verantwortung für den gemeinsamen Religionsunterricht realisiert werden kann. Eine weitere Voraussetzung besteht darin, dass Religionslehrkräfte über den christlichen Bereich hinaus ausgebildet werden können. Beurteilung der beiden Modelle Naturgemäß gibt es verschiedene Möglichkeiten, solche Modelle zu beurteilen (vgl. die Diskussionsbeiträge in Knauth & Weiße, 2020). Grundsätzlich muss bedacht werden, dass solche Modelle immer aus einer bestimmten, auch regionalen Geschichte erwachsen. Zudem entwickeln einmal eingeführte Modelle eine Tendenz zur Bestandswahrung, die sich bis hinein in die in empirischen Untersuchungen erfragten SchülerInnensichtweisen zeigt. So wollen die SchülerInnen in Hamburg – zumindest nach Auskunft einer nicht-repräsentativen Gruppe von Befragten – gerne an einem gemeinsamen Unterricht festhalten, in Fortsetzung der ihnen vertrauten Praxis. SchülerInnen in Nordrhein-Westfalen hingegen, die einen getrennten Unterricht besuchen, sprechen sich für diese Form aus (vgl. Josza, 2008; Knauth, 2008). SchülerInnen in anderen Befragungen schlagen vor, dass es getrennte Angebote besonders für die Grundschule und den Eingangsbereich der Sekundarstufe geben sollte und erst später gemeinsamen Unterricht (vgl. Wolst, 2020). Auch diese Jugendlichen hatten eine solche Abfolge in ihrer bisherigen Schulzeit kennengelernt. Die Lehrkräfte zeigen sich ebenfalls gespalten. Zumindest außerhalb von Hamburg findet der »Religionsunterricht für alle« nur wenig Zustimmung und wird nicht als Zukunftsmodell wahrgenommen (vgl. etwa Rothgangel et al., 2017, S. 82 f.). Ein entscheidender Nachteil des Hamburger Wegs kann darin gesehen werden, dass er den Verzicht auf einen eigenen islamischen Religionsunterricht impliziert. Darin widerspricht das Modell dem Ziel, dass die verschiedenen Religionen in Deutschland durch den Staat gleichbehandelt werden. Dabei kann es kaum ein Argument sein, dass es in Hamburg auch keinen eigenständigen christlichen Religionsunterricht mehr geben soll. Denn in diesem Falle steht in Hamburg eine jahrhundertelange Tradition christlichen Unterrichts im Hintergrund, was im Falle des islamischen Religionsunterrichts nicht der Fall ist. Vielmehr wird ein solcher Unterricht dort einfach gar nicht erst eingerichtet, wenn es allein den »Religionsunterricht für alle« geben soll. Zudem wird in der Praxis deutlich, dass es eine Asymmetrie in der Anzahl christlicher und muslimischer Religionslehrkräfte gibt. Da es bislang sehr wenige muslimische
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Religionslehrkräfte gibt, wird der Rufa meist von christlichen Religionslehrkräften angeboten. Das kooperative Modell gibt den Religionsgemeinschaften von vornherein stärkeres Gewicht und mehr Einfluss (was im Blick auf den Islam, bei dem es in der Regel keine solche Religionsgemeinschaften gibt, natürlich auch Probleme aufwerfen kann; S. 80 ff.). Für alle Religionsgemeinschaften gibt es einen eigenen Religionsunterricht, der gemäß Art. 7,3 GG nach den »Grundsätzen der Religionsgemeinschaften« erteilt wird. Die Kooperation hebt diese Ausgangsbasis nicht auf, sondern führt sie in der Kooperation konstruktiv und dialogisch weiter. In welchem Maße die Beteiligung der Religionsgemeinschaften nun bei Rufa 2.0 gewährleistet werden kann, ist derzeit noch offen. Ein Religionsunterricht mit ausgeprägter Beziehung zu einer Religionsgemeinschaft ist dabei nicht nur aus der Sicht der Religionsgemeinschaften wünschenswert, sondern auch pädagogisch und gesellschaftlich. Das zeigen beispielsweise die Erfahrungen in England und Wales, wo eine solche Beziehung in der Regel nicht besteht. Daher sind die Möglichkeiten des dortigen schulischen Religionsunterrichts, über die Schule hinaus in die Gesellschaft hineinzuwirken, sehr beschränkt.
Ein weiterer Aspekt der Beurteilung betrifft den Stand der theologischen Diskussion. Hier ist es in den letzten Jahren zu bemerkenswerten dialogischen Verständigungsversuchen zwischen christlichen und muslimischen TheologInnen gekommen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Auf der Grundlage jahrelanger Zusammenarbeit konnten Susanne Heine, Ömer Özsoy, Christoph Schwöbel und Abdullah Takim den Band »Christen und Muslime im Gespräch. Eine Verständigung über Kernthemen der Theologie« (vgl. Heine et al., 2014) vorlegen, in dem ein breites Spektrum theologischer Fragen jeweils aus christlicher und muslimischer Sicht beleuchtet wird. Im Bereich der muslimischen und christlichen Sicht von Jesus Christus hat das komparativtheologische Projekt von Mouhanad Khorchide und Klaus von Stosch ebenfalls einen Ergebnisband hervorgebracht, in dem in differenzierter Weise sowohl auf Gemeinsamkeiten als auch auf Unterschiede der Sichtweisen eingegangen wird (vgl. Khorchide & von Stosch, 2018). In diesem Zusammenhang können die mitunter religionspädagogisch stark rezipierten Ansätze zum »Trialog« zwischen Judentum, Christentum und Islam gesehen werden (vgl. Langenhorst, 2016; als Reihe: »Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen« von Krochmalnik, Boehme, Behr & Schröder).
Auch wenn diese Veröffentlichungen hier nicht im Detail aufgenommen werden können, machen sie in der Zusammenschau jedenfalls deutlich, dass ein dialogischer Austausch zwischen Islam und Christentum sowohl sinnvoll als auch tatsächlich möglich ist und dass dabei eine präzisere Identifikation von Gemeinsamkeiten und Unterschieden erreicht werden kann.
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Dies bedeutet freilich auch, dass am Ende beides steht: Gemeinsamkeiten, die eine Zusammenarbeit unterstützen und erleichtern, aber auch Unterschiede, die wohl auch in Zukunft nicht aufzuheben sind. Wie der evangelische Theologe Wilfried Härle in seinem Gutachten zum Hamburger Religionsunterricht hervorhebt, sollte auch der Religionsunterricht dieser theologischen Einschätzung gerecht werden. Aus seiner Sicht ist es fragwürdig, wenn im religionspädagogischen Bereich nur von Unterschieden, nicht aber auch von Gegensätzen und einander widerstreitenden Auffassungen gesprochen wird (vgl. Härle, 2019, S. XI).
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Formen der Kooperation in der Praxis
Bislang kann noch nicht auf eine breite Erfahrungsbasis im Blick auf die Kooperation zwischen christlichem und islamischem Religionsunterricht zurückgegriffen werden. In Deutschland liegt dies vor allem daran, dass die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts erst in den letzten Jahren vorangekommen ist. Da es etwa in Österreich schon länger islamischen Religionsunterricht gibt, ist es besonders interessant, hier nach entsprechenden Erfahrungen in diesem Land zu fragen. Im Folgenden soll es dabei nicht um einen sog. allgemeinen Religionsunterricht gehen, der auf eine Auflösung der verschiedenen Formen von Religionsunterricht zielt (»Fusion«) oder darauf, dass ein islamischer Religionsunterricht erst gar nicht eingerichtet wird. Stattdessen sollen Kooperationen zwischen dem islamischen und dem christlichen (evangelischen und/oder katholischen) Religionsunterricht in den Blick genommen werden.
2.1 Erfahrungen mit interreligiöser Kooperation Bislang gibt es in der Literatur noch keine zusammenfassende Darstellung zu Erfahrungen mit Formen der interreligiösen Kooperation im Religionsunterricht. Werner Hemsing hat im Jahr 2016 in Österreich eine Umfrage zu Formen der konfessionellen und interreligiösen Kooperation durchgeführt. »Die zentralen Fragen im Fragebogen lauteten: ›Gibt es an (einer) Ihrer/n Schule(n) Kooperationen im Rahmen des Religionsunterrichts? – mit den christlichen Kirchen – mit anderen Religionsgesellschaften?‹. Wenn ja, mit welchen Kirchen?, in welcher Form? Wenn nein, nennen Sie uns Gründe« (Hemsing, 2018, S. 172). 649 Religionslehrkräfte beteiligten sich an dieser Untersuchung, sodass zwar nicht von repräsentativen, aber doch aussagekräftigen Befunden ausgegangen werden kann. Als wichtigster Befund kann festgehalten werden, dass 30 % der Befragten von einer interreligiösen Kooperation bzw.
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27 % von einer Kooperation zwischen dem katholischen und dem islamischen Religionsunterricht berichteten (S. 173). Allerdings geschieht die Kooperation vielfach nicht im Unterricht selbst, sondern etwa bei religiösen Feiern und Projekten (S. 175). Insofern ist eine unterrichtliche Kooperation auch in Österreich bislang noch selten. Gefragt wurde auch nach Hindernissen für eine Kooperation. Den Antworten der Lehrkräfte zufolge können sich vor allem im organisatorischen Bereich Schwierigkeiten ergeben – angefangen bei der Situation, dass es an der eigenen Schule keinen islamischen Religionsunterricht gibt, bis hin zu fehlenden Begegnungen im Alltag (in Österreich unterrichten Religionslehrkräfte häufig an verschiedenen Schulen und sind folglich an den einzelnen Schulen nicht sehr präsent; vgl. Tuna, 2019).
Zur Situation der Kooperation zwischen christlichem und islamischem Religionsunterricht in Deutschland gibt es noch keinen allgemeinen Überblick. Die Studie »Praxis Religionsunterricht« (vgl. Rothgangel et al., 2017) aus dem Rheinland enthält jedoch erste Hinweise zu dieser Frage (wobei allerdings die in Nordrhein-Westfalen angebotene Islamkunde bei dieser Frage mit dem islamischen Religionsunterricht zusammengefasst wurde). Die Fallzahl der Antwortenden ist allerdings überaus gering (Angaben von 15 Personen). Auch in diesem Falle spielen vor allem Projekte und außerunterrichtliche Veranstaltungen eine Rolle für die Kooperation, während die Kooperation im Unterricht selten ist (S. 76 f.). Hinzuweisen ist daneben auf die Studie von Carsten Gennerich und Reinhold Mokrosch (2016) zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht in Niedersachsen, bei der im Rahmen von 15 Interviews (S. 119) auch nach der »Perspektive eines religions-kooperativen Religionsunterrichts« gefragt wurde (S. 140). Die Reaktionen der hier befragten christlichen Religionslehrkräfte waren insgesamt gemischt: »Die Bandbreite reicht von einem Nein über eher abwägende Äußerungen bis hin zu einer begeisterten Zustimmung« (S. 140). Bemerkenswert und problematisch ist der Befund, dass sich die christlichen Religionslehrkräfte zwar durchaus vorstellen können, auch muslimische SchülerInnen zu unterrichten, dass dies jedoch umgekehrt für sie schwer vorstellbar sei: »Bei der Frage, ob sie konsequenterweise einverstanden wären, dass ihre christlichen oder jüdischen Schüler zeitweise auch von einer Muslima und ihre muslimischen oder jüdischen Schüler zeitweise auch von einer Christin unterrichtet würden, zögerten jedoch viele und meinten, dass da sicherlich die Eltern intervenieren würden, dass manche Lehrkräfte vielleicht doch überfordert seien und dass sie selbst prüfen wollten, ob das wohl gut gehe« (ebd.). Solche Befunde zeigen an, dass die Bereitschaft zu einer Kooperation auf der Grundlage einer gleichberechtigten Partnerschaft (noch) keineswegs allgemein vorausgesetzt werden kann – eine Erfahrung, die auch in Österreich zu machen war ( S. 292).
Laura Wolst hat den Versuch unternommen, SchülerInnenerfahrungen mit einem kooperativen christlich-islamischen Religionsunterricht in NordrheinWestfalen zu erheben. Dabei stellte es sich jedoch als schwierig heraus, überhaupt Schulen zu finden, in denen eine solche Kooperation tatsächlich stattfindet (vgl. Wolst, 2020, S. 115). Am Ende konnte sich die Studie nur auf sechs Religionsgruppen in drei Schulen beziehen (S. 117). Der dort faktisch erteilte Unterricht wies verschiedene Varianten auf – zwischen konfessionellem
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Religionsunterricht und Religionsunterricht im Klassenverband –, die sich nicht wirklich dem kooperativen Modell zuordnen lassen. Interessant bei dieser Studie sind gleichwohl die oben erwähnten Wünsche der SchülerInnen, die auf eine Abfolge von getrenntem (konfessionellem) Religionsunterricht in der Grundschule und zu Beginn der Sekundarstufe einerseits und einem später einsetzenden gemeinsamen Unterricht andererseits abheben.
In Österreich gibt es des Weiteren bemerkenswerte interreligiöse Erfahrungen im Bereich der Ausbildung für den Religionsunterricht, die sich auch als Voraussetzung für eine Kooperation in der Schulpraxis verstehen lassen (zu Ausbildungsfragen S. 278 ff.). An der KPH Wien-Krems werden neben- und miteinander katholische, evangelische, orthodoxe, islamische, alevitische und jüdische Religionslehrkräfte ausgebildet. An der Universität Innsbruck sind die Studiengänge für den katholischen und für den islamischen Religionsunterricht miteinander verbunden. Im Rahmen der schulpraktischen Anteile werden auch interreligiöse Phasen im katholischen Religionsunterricht realisiert, die bislang allerdings noch sehr begrenzt sind ( S. 260 ff.). Eine Auswertung der Erfahrungen im Unterricht steht noch nicht zur Verfügung. Auch in Deutschland findet sich mitunter die Verbindung zwischen einer interreligiösen Kooperation in der Ausbildung für den Religionsunterricht und der Kooperation in der Schule. Das gilt etwa für die Universität Tübingen, die mit ihren beiden theologischen Fakultäten sowie dem Zentrum für Islamische Theologie besonders günstige Voraussetzungen dafür aufweist ( S. 278 ff.). Die von den Studierenden sowie den Lehrkräften an einer Tübinger Schule vorbereiteten und auch in der Praxis erprobten kooperativen Unterrichtsformen erbrachten erste aufschlussreiche Erfahrungen und warfen Fragen auf, die der weiteren religionsdidaktischen Klärung bedürfen. Beispielsweise vertraten die Studierenden und die Religionslehrkräfte in der Schule unterschiedliche Erwartungen hinsichtlich einer ausdrücklichen religiösen Identifikation der SchülerInnen: Nach Auffassung der Studierenden sollte die Religionszugehörigkeit nicht im Vordergrund stehen, während die Lehrkräfte gerade in bewusst religiös gemischten Gruppen ein Potenzial für ausdrückliche Begegnungen sahen. Insgesamt mehren sich die Beispiele für einen interreligiös-kooperativen Unterricht. Besonders interessant sind beispielsweise die von Katja Boehme mehrfach beschriebenen Erfahrungen mit einem kooperativen Projekt in Heidelberg, da in diesem Falle auch die jüdische Seite mitbeteiligt ist (vgl. Boehme, 2020). Allerdings wurde der damit verbundene Unterrichtsversuch nur ansatzweise ausgewertet und betreffen die Darstellungen dieser Autorin vor allem die konzeptionelle Ebene sowie die Ausbildung von Religionslehrkräften und weniger die Kooperation im Unterricht. Weithin bekannt geworden ist die Drei-Religionen-Grundschule, die in Osnabrück in der Trägerschaft der Schulstiftung des dortigen Bistums christliche, jüdische und muslimische Kinder zusammenführt (http://www.drei-religionen-schule.de). Der Religionsunterricht wird hier zunächst in getrennten Religionsgruppen erteilt, und bei Projekttagen wird das im getrennten
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Religionsunterricht Gelernte dann zusammengeführt und den Eltern vorgestellt. Der Religionsunterricht ist dabei in ein weiterreichendes interreligiöses Schulkonzept eingebettet, das vielfältige interreligiöse Aktivitäten einschließt. Die Schule ist auch ein Beispiel dafür, dass solche Projekte keineswegs schon Selbstläufer sind. Presseberichten zufolge stieß das Konzept vor allem in der Lehrerschaft der katholischen Schule zunächst auf erheblichen Widerstand (vgl. Streit um die Schule, 2012). Inzwischen wird die Arbeit als erfolgreich beschrieben. Eine wissenschaftliche Darstellung dazu ist jedoch noch nicht verfügbar. An einem Beruflichen Gymnasium in Offenbach wurde erfolgreich eine Kooperation zwischen dem evangelischen und dem katholischen Religionsunterricht sowie dem Ethikunterricht etabliert, wobei die muslimische Seite durch eine entsprechend qualifizierte Ethiklehrkraft vertreten wird (vgl. Gronover et al., 2020). Die Kooperation bezieht sich dabei allerdings vor allem auf die Trägerschaft. Der Unterricht selbst wird als gemeinsamer Religionsunterricht »für alle« durchgeführt.
Die aus den verschiedenen Schulen berichteten Erfahrungen sind insgesamt ermutigend. Die Kooperation wird in fast allen Fällen als bereichernd erfahren, gerade im Blick auf die jeweils eigenen religiösen Überzeugungen, die sich in der Begegnung mit anderen weiter klären, auch im Sinne offener und offen bleibender Fragen. In allen Fällen wird sichtbar, dass der inzwischen völlig selbstverständliche Kontakt zwischen Kindern und Jugendlichen mit verschiedener Religionszugehörigkeit oder auch ohne formelle Zugehörigkeit dieser Art im Religionsunterricht gleichsam reflexiv eingeholt wird. Auf diese Weise wird ein weiterreichendes Verstehen der jeweils anderen Überzeugungen ermöglicht und werden bewusste Formen eines friedlichen Zusammenlebens unterstützt. Solche Einschätzungen beruhen aber noch weithin auf Erfahrungswerten, die aus den Schulen und aus deren Praxis stammen. Es fehlt bisher an einer wissenschaftlichen Begleitung und Auswertung, die aufbauend auf solchen Erfahrungswerten zu wissenschaftlich validen Erkenntnissen führen könnte.
2.2 Entwürfe zur Weiterentwicklung Bislang am weitesten ausgearbeitet ist das Heidelberger Modell eines »fächerkooperierenden interreligiösen Begegnungslernens« von Katja Boehme (2020). Bei diesem Modell arbeiten unterschiedliche Formen von Religions- sowie Ethikoder Philosophieunterricht zusammen (S. 44). Es schließt dabei verschiedene Phasen ein: Nachdem zwischen den beteiligten Lehrkräften ein gemeinsames Thema verabredet wurde, wird das Thema in einer ersten Phase in den verschiedenen Religionsgruppen parallel erarbeitet. In der zweiten Phase, beispielsweise an einem Projekttag, wird das Gelernte zusammengeführt und kommt ein Austausch zustande, der in gemischten Lerngruppen in der dritten Phase weiter vertieft wird. Die vierte Phase bietet eine abschließende Reflexion, wie-
Entwürfe zur Weiterentwicklung
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derum in den ursprünglichen Lerngruppen. Nicht zuletzt empfehle sich dieses Modell durch seine leichte Handhabbarkeit. Zumindest punktuell konnte das Modell in Mannheim auch praktisch umgesetzt werden, auch unter Beteiligung jüdischer SchülerInnen. Die in Kooperation zwischen der islamischen, katholischen und evangelischen Religionspädagogik in Tübingen entwickelten Modellvorstellungen haben erst ansatzweise einen Ausdruck in der Literatur gefunden (der vorliegende Band kann in diesem Zusammenhang gesehen werden). Auch in diesem Falle wird auf die Erfahrungen mit dem konfessionell-kooperativen Religionsunterricht aufgebaut. Die vorgesehenen und ansatzweise in einer Tübinger Schule realisierten Formen sind allerdings vielfältiger als bei dem Heidelberger Modell. Voraussetzung ist die Kooperation zwischen den drei Formen von Religionsunterricht in der Sekundarstufe I (evangelisch, katholisch, islamisch). Gemeinsam gelernt wird nicht nur bei Projekttagen, sondern während einer gesamten Unterrichtseinheit. Die Themen werden also im Unterricht bereits kooperativ erarbeitet. Dies bringt eine beständige Kooperation der beteiligten Religionslehrkräfte bei der Unterrichtsvorbereitung mit sich. Darüber hinaus werden zum Teil Formen des Team-Teaching realisiert, wobei die organisatorischen Voraussetzungen – etwa die Anzahl der zu unterrichtenden SchülerInnen – dies nicht immer zulässt. Allerdings wurde erfolgreich auch mit Unterricht in der Großgruppe (50 SchülerInnen!) experimentiert, wobei verschiedene Formen von Gruppenarbeit unerlässlich waren, um die nicht immer einfache Situation in einer so großen Gruppe wiederholt zu unterbrechen.
Interreligiös-kooperativer Religionsunterricht sollte als ein Rahmen verstanden werden, in dem vielfältige Formen der Zusammenarbeit möglich sind – in Entsprechung zu den regional und örtlich variierenden Gegebenheiten. Kennzeichnendes Element des damit flexibel bestimmten Rahmens bleibt eine möglichst auch durch offizielle, also nicht allein individuelle Vereinbarungen bestimmte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Formen von Religionsunterricht, wobei weitere Fächer wie vor allem der Ethikunterricht in die Kooperation einbezogen werden können.
2.3 Voraussetzungen für die Kooperation Die erste Voraussetzung für eine Kooperation zwischen christlichem und islamischem Religionsunterricht ist nur vordergründig trivial: Beide Formen von Religionsunterricht müssen tatsächlich eingerichtet sein. Dies ist beim islamischen Religionsunterricht derzeit noch nicht immer der Fall, da er sich in den meisten Bundesländern noch in der Einführungsphase befindet. Umso wichtiger ist es, schon in dieser Phase Kooperationsmöglichkeiten zu bedenken
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und aktiv anzubahnen. Mitunter wurden in den Schulen auch vorläufige Formen der Kooperation erprobt, beispielsweise indem eine muslimische Lehrkraft, die nicht speziell für den Religionsunterricht ausgebildet ist, sondern etwa für den Ethikunterricht, in die Rolle eines/einer religionsunterrichtlichen Kooperationspartners bzw. -partnerin schlüpft. Dass es sich dabei nur um eine vorläufige Form handeln kann, geht aus den Voraussetzungen einer echten Kooperation hervor: Dafür sind ausgebildete Religionslehrkräfte mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit und durch eine entsprechende Ausbildung gesicherte Expertise auf Dauer unverzichtbar. Wie alle Formen der engeren Kooperation in der Schule oder in anderen Zusammenhängen hängt deren Gelingen immer auch von persönlichen Faktoren ab. Nicht alle Menschen können gut miteinander zusammenarbeiten. In manchen Fällen erscheint eine größere persönliche Nähe attraktiv, in anderen Fällen kann es aber auch das Gegenteil geben. Kooperation ist aber nicht nur eine persönliche Frage, sondern sachlich aus (religions-)pädagogischen Gründen geboten. Insofern kann sie nicht einfach von persönlichen Neigungen abhängig gemacht werden. Interreligiöse Zusammenarbeit gehört heute zu den Aufgaben einer jeden Religionslehrkraft, so wie der übrige Unterricht auch. Wie weit die Kooperation dann aber reicht und wie intensiv sie sich gestaltet, lässt sich gleichwohl – wie die Erfahrungen aus dem konfessionell-kooperativen Unterricht zeigen – nicht einfach verordnen. Weitere Erfahrungen aus dem konfessionell-kooperativen Unterricht lassen sich im Blick auf eine interreligiöse Kooperation fruchtbar machen (vgl. Schweitzer et al., 2002 und 2006). Sie betreffen Voraussetzungen, die gezielt geschaffen werden können: Ȥ Schon bei der Erstellung von Bildungsplänen sollte die Frage möglicher Kooperationen bedacht werden. Das betrifft beispielsweise die Zuordnung von Themen zu bestimmten Jahrgangsstufen in den verschiedenen Formen von Religionsunterricht. Wenn ähnliche Themen in den verschiedenen Bildungsplänen unterschiedlichen Jahrgangsstufen zugeordnet werden, kann dies die Kooperation deutlich erschweren. Ȥ Schulorganisatorisch sollten beispielsweise bei der Erstellung von Stundenplänen ebenfalls Kooperationsmöglichkeiten im Blick sein. Eine parallele Platzierung der verschiedenen Formen von Religionsunterricht im Stundenplan kann die Kooperation nachhaltig unterstützen. Ȥ Wie in vielen anderen Hinsichten spielen Schulleitungen auch für die Kooperation im Religionsunterricht eine wichtige Rolle. Wo Schulleitungen die Kooperation als bedeutsam ansehen und die Religionslehrkräfte aktiv dazu ermutigen, wird dies häufig als wichtige Unterstützung und Anerkennung erfahren.
Voraussetzungen für die Kooperation
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Ȥ Kooperationen sollten nicht erst in der Schule, sondern bereits in der Ausbildung für den Religionsunterricht in den ersten beiden Phasen, also an der Hochschule sowie im Referendariat, stattfinden ( S. 278 ff.). Auf diese Weise kann sich die Kooperation einspielen und wird auch in der späteren Schulpraxis mehr und mehr zu einer Selbstverständlichkeit. Darüber hinaus können im Einzelfall schon im Studium oder im Referendariat persönliche Kontakte geknüpft werden, die vielleicht später in der Praxis genutzt werden können. Neben den Voraussetzungen, die eine Kooperation ermöglichen oder unterstützen, gibt es aber auch Hindernisse, die an dieser Stelle genannt werden müssen: Ȥ Zumindest zu Beginn bedeutet eine Kooperation einen zusätzlichen Aufwand für die Religionslehrkräfte, der mitunter angesichts der Fülle der sonstigen Aufgaben leicht als Überlastung wahrgenommen werden kann. Auf längere Sicht aber, so wird berichtet, zahle sich dieser Aufwand aus, und er werde mit der Zeit auch deutlich geringer. Ȥ Manchmal stehen einer Kooperation theologische Vorbehalte im Weg. Das gilt vor allem dann, wenn die jeweils anderen Religionen noch immer als eine Art Irrlehre abgelehnt werden. In diesem Falle fehlt es offenbar an einer reflektierten theologischen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen, zum Teil auch miteinander konfligierenden Glaubensüberzeugungen, wie sie heute, wiederum beginnend im Studium, geleistet werden müsste. Ȥ In Einzelfällen gibt es offenbar auch Eltern, die einer Kooperation im Religionsunterricht ablehnend gegenüberstehen. Rechtlich gesehen dürfen Eltern nicht zu einer Einwilligung in eine solche Kooperation gezwungen werden, da Art. 7,3 GG einen Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der eigenen Religionsgemeinschaft garantiert. In Gesprächen können entsprechende Vorbehalte jedoch häufig abgebaut werden. Zum Weiterlesen Schweitzer, Friedrich et al. (2002). Gemeinsamkeiten stärken – Unterschieden gerecht werden. Erfahrungen und Perspektiven zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Freiburg & Gütersloh: Herder & Gütersloher Verlagshaus. Knauth, Thorsten & Weiße, Wolfram (Hrsg.) (2020). Gesetze, Kontexte und Impulse zu dialogischem Religionsunterricht. Münster & New York: Waxmann.
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Zusammenfassung Kooperation zwischen christlichem und islamischem Religionsunterricht Ȥ Das Modell der Kooperation zwischen christlichem (evangelischem und katholi schem) und islamischem Religionsunterricht geht von einer zumindest in einem großen Teil der Bundesländer mehr und mehr gegebenen Situation mit paral leler Einrichtung verschiedener Formen von Religionsunterricht aus (wobei je nach regionaler Situation auch noch orthodoxer, jüdischer und alevitischer Religionsunterricht hinzukommen kann). Ein bloßes Nebeneinander der ver schiedenen Angebote wäre unter dem Aspekt des interreligiösen Lernens unbe friedigend. Es würde die Chancen einer ausdrücklichen Begegnung zwischen den Religionsgruppen – SchülerInnen ebenso wie Lehrkräften – ungenutzt lassen. Ȥ Die Kooperation kann als flexibles Modell, wie die Erfahrungen mit dem kon fessionell-kooperativen Religionsunterricht zeigen, auf unterschiedliche Arten und Weisen realisiert werden, je nach Situation vor Ort. Zumeist gibt es jedoch Phasen mit nach Religionszugehörigkeit getrenntem und Phasen mit gemein samem Unterricht. Ein solcher Wechsel erlaubt unterschiedliche Erfahrungen von Identifikation mit einer bestimmten Glaubensrichtung und des Dialogs mit anderen. Die Befassung mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden steht dabei im Zentrum, ohne dass dies als ständig vorherrschendes Thema hoch gehalten wird und vor allem ohne dass dabei künstliche Grenzen errichtet und Unterschiede unnötig stark gemacht werden. Ȥ Mit der Warnung vor der Gefahr eines Othering und der Kritik an Homogenitäts unterstellungen (»die Muslime«, »die Christen«, »die Juden«) hat sich in der religionsdidaktischen Diskussion die Forderung durchgesetzt, Begegnungen und Kooperationen so auszugestalten, dass nicht einfach festliegende reli giöse Identitäten vorausgesetzt werden. Für die Zukunft wäre es wichtig, wei tere Erfahrungen mit der interreligiösen Kooperation im Religionsunterricht zu gewinnen und diese auch zu dokumentieren.
Voraussetzungen für die Kooperation
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Teil 4
Interreligiöse Kooperation in der Ausbildung: Erfahrungen – Aufgaben – Perspektiven (Reinhold Boschki/Friedrich Schweitzer/Fahimah Ulfat)
In Teil 3 wurde der Ansatz interreligiös-kooperativen Lernens als Form der interreligiösen Bildung beschrieben. Dabei zeigte sich, dass solche Formen der Zusammenarbeit eine Frage der persönlichen Motivation sind, zunehmend aber auch eine professionell vorgegebene Aufgabe darstellen. Daraus ergeben sich Folgerungen im Blick auf die Ausbildung: Wenn es zunehmend zur Tätigkeit einer Religionslehrkraft gehört, den Unterricht gemeinsam mit KollegInnen, die für eine andere Form von Religionsunterricht zuständig sind, zu gestalten, muss dies auch in der Ausbildung entsprechend aufgenommen werden. Die Auffassung, dass interreligiöse Kooperationen schon im Studium angebahnt und praktiziert werden sollten, wird inzwischen an vielen Standorten geteilt und je nach örtlichen Möglichkeiten auch in Gestalt gemeinsamer Lehrveranstaltungen umgesetzt. In Tübingen etwa, wo die Autorin und die beiden Autoren dieses Teils des Buches die islamische, katholische und evangelische Religionspädagogik vertreten, bestehen dafür besonders günstige Voraussetzungen, da es hier zwei christliche theologische Fakultäten sowie das Zentrum für Islamische Theologie gibt. Darüber hinaus wurde im Jahr 2020 ein förmlicher Verbund für gemeinsame religionspädagogische Forschung zwischen diesen drei Bereichen begründet. Die damit verbundenen Kooperationsmöglichkeiten werden seit mehreren Jahren regelmäßig für gemeinsame Lehrveranstaltungen genutzt. Die dabei gewonnenen Erfahrungen werden in diesem Kapitel mehrfach aufgenommen, zusammen mit Darstellungen von anderen Orten, soweit entsprechende Berichte vorliegen. Zunächst aber muss geklärt werden, welche Kompetenzen für den interreligiös-kooperativen Unterricht anzustreben sind.
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Welche Kompetenzen brauchen Religionslehrkräfte für interreligiöskooperatives Unterrichten?
Aufgaben der LehrerInnenbildung werden heute insbesondere in Gestalt von Kompetenzen und Kompetenzkatalogen für das Studium beschrieben. Im vorliegenden Zusammenhang gibt es dafür bisher kein Vorbild, weshalb noch einmal der weitere Horizont als Ausgangspunkt dient.
1.1 Interreligiöse Bildung als Horizont Ganz allgemein haben sich die Anforderungen an Religionslehrkräfte in den letzten Jahren und Jahrzehnten grundsätzlich verändert ( S. 130 ff.). In der Gesellschaft und ebenso in der Schule begegnen Lehrkräfte einer zunehmend multireligiösen Situation, die für die SchülerInnen ebenso wie für die Lehrkräfte neue Orientierungsaufgaben mit sich bringt. Dadurch wandelt sich das Erwartungsprofil im Blick auf Religionslehrkräfte: Erschien es lange Zeit ganz normal und völlig ausreichend, wenn Religionslehrkräfte mit ihrer eigenen Konfession oder Religion in einem wissenschaftlichen, aber auch persönlichen Sinne vertraut waren, so bezieht sich die entsprechende Anforderung heute auf einen multireligiösen Kontext und damit immer auf mehrere Konfessionen und Religionen. Die SchülerInnen, aber auch KollegInnen, die Schulleitung und die Elternschaft erwarten von Religionslehrkräften inzwischen vielfach eine allgemeine Expertise in (allen) religiösen Fragen, unabhängig von der eigenen Religionszugehörigkeit der Lehrkraft. Diese veränderte Situation spiegelt sich zumindest ansatzweise in der Ausbildung für den Religionsunterricht wider, indem hier beispielsweise die Befassung mit anderen Religionen verpflichtend vorgeschrieben wird. Diese allgemeine Anforderung konkretisiert und verstärkt sich noch einmal, wenn der Religionsunterricht – wie inzwischen weithin gefordert – auch gezielt der interreligiösen Bildung dienen soll. Was dies für die Ausbildung für den Religionsunterricht bedeutet, wird ebenfalls zunehmend diskutiert. Grundlegend erscheinen vor allem drei Aspekte:
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Ȥ ein Wissen über andere Religionen, das zumindest eine gewisse Vertrautheit mit diesen Religionen ermöglicht; Ȥ weiterreichend kommt dazu die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, da diese Fähigkeit im interreligiösen Bereich als eine wesentliche Voraussetzung für ein Verstehen des anderen anzusehen ist und da im Unterricht gelehrt und gelernt werden soll, sich selbst mit den Augen der Anderen wahrzunehmen sowie die Perspektive des anderen auf seine eigene Religion zu verstehen; Ȥ nicht zuletzt bedarf es im Vergleich zur Vergangenheit veränderter Haltungen, die sich etwa als Offenheit gegenüber anderen Religionen beschreiben lassen. Diese Überlegungen betreffen inzwischen allen Religionsunterricht und alle Religionslehrkräfte. Interreligiös-kooperatives Unterrichten macht darüber hinaus weitere Bestimmungen erforderlich.
1.2 Aufgaben und Herausforderungen Interreligiöse Bildung geschieht bislang zumeist ohne aktuelle Begegnungen mit Angehörigen anderer Religionen im Unterricht selbst, während solche Begegnungen im Alltag inzwischen »ganz normal« sind, aber in den meisten Fällen ohne weitere Reflexion bleiben. Im Unterricht hingegen wird eine Darstellung verschiedener Religionen angestrebt, an die sich dann vertiefende Reflexionen anschließen können. Bei der interreligiösen Kooperation wird dieser traditionelle Rahmen bewusst überschritten, indem eine gezielte Zusammenarbeit im Religionsunterricht etabliert wird und damit bewusste Begegnungen ermöglicht werden. Dadurch ergeben sich zusätzliche Anforderungen an die Religionslehrkräfte. Eine solche Kooperation erfordert beispielsweise die Fähigkeit, die eigene Religion für andere, die diese Religion nicht oder zumindest nur ansatzweise kennen und die deren Glaubensüberzeugungen nicht teilen, in verständlicher und möglichst plausibler Form darstellen zu können. Diese Darstellung darf dabei nicht ins Missionarische abgleiten – Mission ist keine Aufgabe der interreligiösen Kooperation in der Schule, auch wenn hier wie bei allen dialo gischen Begegnungen nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich eine andere Glaubensweise als persönlich attraktiv erweist. Wie wenig entsprechende Aufgaben der Darstellung bislang im Blick sind, ist schon daran abzulesen, dass es in der Literatur noch immer weithin an geeigneten Darstellungen fehlt. Es wäre
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wünschenswert, dass vermehrt knappe Einführungen in das Christentum und den Islam oder auch andere Religionen verfügbar werden. Eine weitere für den interreligiös-kooperativen Unterricht erforderliche Fähigkeit besteht darin, mit Lehrkräften für den jeweils anderen Religionsunterricht auch persönlich zusammenzuarbeiten, bei der Unterrichtsplanung wie im Unterricht selbst. Sachlich gesehen schließt dies auch eine Klärung der eigenen Haltung gegenüber Glaubensüberzeugungen ein, die man nicht teilen kann oder teilen will. Es betrifft aber auch kommunikative Herausforderungen – etwa die in kooperativen Kontexten nicht immer leicht zu beantwortende Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welcher Form kritische Anfragen an die/den anderen gestellt werden können. An dieser Stelle kommt noch eine Schwierigkeit ins Spiel, die bereits vom evangelisch-katholisch-kooperativen Unterricht bekannt ist ( S. 273): Weil nicht alle Menschen »gut miteinander können«, bleibt es schwierig, eine Kooperation einfach administrativ für alle Religionslehrkräfte anzuordnen. Interreligiöse Kooperation sollte von der Basis her wachsen können. Zugleich stellt die interreligiöse Kooperation im Religionsunterricht aber auch eine allgemeine Aufgabe dar, die nicht einfach von individuellen Präferenzen abhängig gemacht werden kann. Die Kooperation zählt zunehmend einfach zu den Pflichten einer professionellen Religionslehrkraft. Hier liegt eine bleibende Spannung zwischen persönlichen Präferenzen und unausweichlichen professionellen Aufgaben, die sich theoretisch nicht aufheben lässt, sondern nur in der Praxis der einzelnen Schulen austariert werden kann. Beispielsweise kann es an einer Schule Religionsehrkräfte geben, die sich besonders für die Kooperation engagieren, während andere sich in dieser Hinsicht zurückhalten. Grundsätzlich gilt, dass interreligiös-kooperativer Religionsunterricht für sein Gelingen auf Lehrkräfte angewiesen ist, die dazu innerlich motiviert sind. Auch im Blick auf die Ausbildung gilt, dass sich entsprechende Motivationslagen für ein solches Engagement etwa in gemeinsamen Seminaren an der Hochschule nicht einfach herstellen lassen. Die Ausbildung für den Religionsunterricht sollte gleichwohl – beispielsweise durch positive Erfahrungen und Begegnungen schon im Studium und im Referendariat – Möglichkeiten dafür eröffnen, dass angehende Lehrkräfte sich von etwas begeistern lassen. Die Erfahrungen (beispielsweise in Tübingen) sind in dieser Hinsicht durchaus vielversprechend. Besonders positiv scheint sich auszuwirken, wenn es regelmäßig hochschulische Lehrangebote gibt, die sich an Studierende für verschiedene Formen von Religionsunterricht richten und die im Idealfall auch – etwa in der Gestalt eines Team-Teaching von WissenschaftlerInnen – die für die Schule angestrebte interreligiöse Kooperation in anderer Form erlebbar machen. Obwohl nicht
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naiv von einer Vorbildwirkung des Lehrens und Lernens an der Hochschule auf den schulischen Unterricht ausgegangen werden kann, bleibt es stimmig, wenn die für die Schule angestrebte Kooperation eine Entsprechung im universitären Kontext findet.
1.3 Kompetenzen für interreligiös-kooperatives Unterrichten Vor dem beschriebenen Hintergrund interreligiös-kooperativen Unterrichtens in der Schule ( S. 260 ff.) sowie den damit im Blick auf die Religionslehrkräfte verbundenen Aufgaben kann nun die Frage nach Kompetenzen für interreligiöskooperatives Unterrichten aufgenommen werden. Dabei sollen die bereits an anderer Stelle in diesem Buch beschriebenen allgemeinen religionsdidaktischen Kompetenzen nicht erneut aufgezählt werden. Vielmehr geht es an dieser Stelle speziell um solche Kompetenzen, die für das interreligiös-kooperative Unterrichten besonders wichtig sind. Wahrnehmungskompetenz In interreligiösen Kontexten kommt der Wahrnehmung von anderen und Anderem besondere Bedeutung zu. Gemeint ist eine möglichst unverstellte, sich der eigenen Vorannahmen und Vorurteile bewusste Offenheit für Menschen und Sachverhalte, die sich immer wieder ganz individuell und in überraschender Form darstellen können. Zugleich setzt erfolgreiches Wahrnehmen im religiösen ebenso wie im interreligiösen Bereich aber auch Vorkenntnisse sowie Wahrnehmungskategorien voraus, durch die die Wahrnehmung allererst religiös und interreligiös sensibel wird. Wer nichts vom Protestantismus weiß, wird kaum die Bedeutung der aufgeschlagenen Bibel auf dem Altar wahrnehmen können. Wer sich noch nie mit dem Islam befasst hat, wird die religiös begründete Bedeutung der arabischen Sprache für MuslimInnen leicht übersehen. Insofern ist die Wahrnehmungskompetenz nicht isoliert zu sehen, sondern setzt immer schon ein bestimmtes Wissen voraus. Vertrautheit mit anderen Religionen (Wissen) Wissen wird häufig nicht als Kompetenz beschrieben, sondern gilt als Voraussetzung von Kompetenzen. In interreligiösen Zusammenhängen der Kooperation wird ein entsprechendes Wissen vor allem durch die Kooperierenden eingebracht. Beispielsweise liegt die Expertise der einen Lehrkraft im Bereich des
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Islam, die der anderen im Bereich des Christentums. Gleichwohl ist an dieser Stelle noch einmal die oben im Blick auf interreligiöse Bildung ganz allgemein für heutige Religionslehrkräfte erforderliche Vertrautheit mit verschiedenen Religionen hervorzuheben, die sich durchaus als Kompetenz bezeichnen lässt. Denn eine dialogische Zusammenarbeit kann nur gelingen, wenn zumindest ein basales Wissen zur jeweils anderen Religion gegeben ist. Interreligiöse Deutungskompetenz Wahrnehmung und Wissen im Sinne der Vertrautheit mit einer anderen Religion führen weiter zu der Aufgabe, die jeweils anderen Glaubensüberzeugungen in weiterreichender Weise zu verstehen und zu deuten. Konkret heißt dies, dass die häufig komplexen Zusammenhänge, in denen religiöse Phänomene jeweils stehen, bewusst werden müssen. Was bedeutet die Bibel für ChristInnen und was der Koran für MuslimInnen? Was genau ist mit der koranischen Kritik am Tritheismus gemeint? Das Verstehen erschöpft sich aber nicht im Nachvollzug der jeweiligen Innenperspektive, sondern muss auch weitere Perspektiven integrieren: Die Perspektive der jeweils anderen Religion muss ins Verhältnis zur eigenen Perspektive gesetzt werden (Wie stellt sich die koranische Kritik am Tritheismus aus christlicher Sicht dar? Wie ist die christliche Kritik an der Polygamie aus muslimischer Sicht einzuschätzen?). Darüber hinaus kommen nicht-religiöse Außenperspektiven ins Spiel (beispielsweise Kritik am Monotheismus in Judentum, Christentum und Islam und am Gewaltpotenzial von Religionen, kritische Anfragen an die Demokratiefähigkeit von Religionen, Kritik an Vorstellungen oder Auslegungen, die naturwissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechen) sowie der Umgang mit solchen Außenperspektiven in wiederum religiöser Sicht. An solchen Fragen wird rasch deutlich, dass entsprechende Kompetenzen nicht beispielsweise schon im Studium in umfassender Weise erworben werden können. Vielmehr geht es hier um Lern- und Entwicklungsprozesse, die auch später im Beruf weiter gepflegt und unterstützt werden müssen. Insofern ist bescheiden zu formulieren, dass es bei der Ausbildung darum geht, religiöse Phänomene der anderen Religionen zumindest ansatzweise deuten zu können.
Kompetenz zur Perspektivenübernahme In interreligiösen Zusammenhängen kommt es vielfach darauf an, sich der Unterschiede zwischen den Deutungen aus der eigenen Perspektive und der Perspektive von anderen bewusst zu werden. Dazu gehört auch die Reflexion
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der eigenen Perspektive und der eigenen Vorurteile, d. h. die Frage danach, wodurch die eigene Perspektive geprägt ist. Daran kann sich dann der Versuch anschließen, die Perspektive des anderen – soweit dies möglich ist – einzunehmen und sie insofern zu übernehmen. Darin liegt nicht nur ein Bildungsziel für den Religionsunterricht, sondern auch eine für Religionslehrkräfte anzustrebende Kompetenz. In gewisser Weise kann die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme auch als interreligiöse Zuspitzung der Wahrnehmungsund Deutungskompetenz verstanden werden. Wie die Forschung zur Perspektivenübernahme gezeigt hat, gibt es dabei verschiedene Komplexitätsgrade (vgl. Selman, 1980; Steins, 2016). Die grundlegende Aufgabe besteht in der bewussten Unterscheidung verschiedener Perspektiven, weiterreichend geht es darum, sich mit den Augen des/der anderen wahrzunehmen. Noch komplexer wird es, wenn bewusst wird, dass der andere nicht nur eine andere Perspektive hat, sondern auf meine Wahrnehmung seiner Perspektive wiederum aus seiner Sicht Bezug nehmen und reagieren kann. Besonders sensibel sind hier Wahrnehmungen des jeweils anderen Glaubens: Gibt es einen wahren Glauben? Wie ist mit unterschiedlichen Auffassungen dieses Glaubens umzugehen? Wie wird der Glaube des anderen eingeschätzt? Begegnungskompetenz Bei den bisher beschriebenen Kompetenzen ist noch nicht zwingend vorausgesetzt, dass es tatsächlich zu persönlichen Begegnungen im interreligiösen Sinne kommt. Solche Begegnungen setzen aber ebenfalls besondere Fähigkeiten voraus, vor allem im kommunikativen Bereich. Insofern geht es auch um mehr als eine Dialogkompetenz, wie sie auch ohne persönliche Begegnungen ausgebildet werden kann, etwa im literarischen Sinne. Persönliche Begegnungen erfordern weitere Kompetenzen, die natürlich auch als eigene Kompetenzen angeführt werden könnten: Umgang mit interreligiösen Konflikten (Konfliktkompetenz) sowie mit inneren und äußeren Spannungen etwa angesichts von nicht aufzulösenden Widersprüchen zwischen Glaubensüberzeugungen (Ambiguitäts- und Ambivalenzkompetenz). Positiv kann auch auf das Ziel einer wechselseitigen Anerkennung verwiesen werden (wobei man sich streiten kann, ob dafür der Begriff einer »Anerkennungskompetenz« eingeführt werden soll oder ob hier die Grenze zu einem inflationären Begriffsgebrauch überschritten würde). In der Religionspädagogik wird mitunter auch von einer Differenzkompetenz (vgl. Klie et al., 2012) gesprochen als der Fähigkeit, Differenzen wahrzunehmen und sie auch auszuhalten.
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Urteilskompetenz Multireligiöse Situationen verlangen gerade auch in gesellschaftlicher Hinsicht mehr als Wahrnehmungen und Deutungen. Erforderlich ist auch Kritik und insofern Urteilskompetenz. Welche Ansprüche von Religionen sind berechtigt, welche eher problematisch? Dabei kommen beispielsweise fundamentalistische Tendenzen in den Blick oder sich sonst negativ auf das individuelle oder gemeinsame Leben auswirkende religiöse Positionen, bei denen es im pädagogischen Zusammenhang zwar immer auch um das Verstehen und Deuten sowie um eine Perspektivenübernahme geht, aber eben auch um das Engagement gegen solche Positionen. Kritische Urteile sind dort ebenso erforderlich, wo sich religiöse und politische Motive so miteinander verbinden, dass rechtliche oder demokratische Grundprinzipien nicht mehr geachtet werden. Haltungen Ob Kompetenzen auch Haltungen einschließen (sollen), ist in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten. Jedenfalls bezeichnen Haltungen keine Fähigkeiten und Fertigkeiten, weder auf LehrerInnen- noch auf SchülerInnenseite. Es besteht zugleich aber kein Zweifel daran, dass bestimmte Haltungen oder Einstellungen eine interreligiöse Kooperation im Religionsunterricht unterstützen können und insofern sehr wünschenswert sind. Diese Haltungen können in verschiedener Weise beschrieben werden. Ohne Zweifel spielt auch hier die Offenheit für andere und anderes eine zentrale Rolle, etwa in Gestalt einer respektvollen Haltung gegenüber anderen Religionen sowie einer neugierigen, lernbereiten Haltung. In manchen pädagogischen Bereichen, etwa im Elementarbereich, wird auch von einer »vorurteilsbewussten Erziehung und Bildung« gesprochen (vgl. Wagner, 2008). Dies leuchtet insofern ein, als niemand von Vorurteilen frei ist. Auch die beste Ausbildung kann daran nur wenig ändern. Erreichbar ist aber ein verstärktes Bewusstsein für eigene Vorurteile sowie ein ebenfalls bewusster Umgang mit solchen Vorurteilen.
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Zusammenfassung Interreligiöse Kooperation im Religionsunterricht steht weithin noch am Anfang und befindet sich im Stadium der experimentellen Exploration verschiedener Möglichkeiten. Abschließende Antworten auf die Frage nach den Kompetenzen, die Religionslehrkräfte für eine solche Kooperation brauchen, sind noch nicht möglich. Gleichwohl ist bereits deutlich, dass die interreligiöse Zusammenarbeit beides einschließt, neue Herausforderungen für die Religionslehrkräfte ebenso wie neue Möglichkeiten, dem eigenen Glauben sowie dem Glauben des und der jeweils anderen zu begegnen. Insofern geht es nicht einfach um zusätzliche Anforderungen, sondern um eine zentrale Dimension allen Religionsunterrichts. Und nicht zuletzt ist zu betonen, dass die Kooperation ebenso in persönlicher wie in sachlicher Hinsicht überaus bereichernd sein kann. In den beschriebenen Kompetenzen konkretisieren sich die allgemeinen Erwar tungen an Religionslehrkräfte ( S. 130 ff.) im Blick auf interreligiöse Kooperationen, und zugleich stellen sie die herkömmlichen Erwartungen in einen neuen und erwei terten Horizont. Damit verbindet sich allerdings auch ein Problem, das hier exem plarisch für das Studium genauer betrachtet werden soll: Wie können (zukünftige) Religionslehrkräfte diese Kompetenzen tatsächlich erwerben?
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Interreligiöse Kooperation im Studium als Weg des Kompetenzerwerbs
Auf die Bedeutung von Lehrveranstaltungen, bei denen schon im Studium interreligiöse Kooperation praktiziert und eingeübt werden kann, wurde oben hingewiesen. Diese allgemeine Forderung soll nun anhand von zwei Fragen weiter konkretisiert werden: Welche Formen der interreligiösen Kooperation im Studium werden bereits praktiziert und welche Erfahrungen verbinden sich damit? An welchen Leitlinien können sich kooperative Angebote im Studium orientieren? Die Beantwortung dieser beiden Fragen setzt eine Analyse von Erfahrungsberichten und darauf aufbauenden Darstellungen voraus. Dazu werden im Folgenden ebenso die in der Literatur zunehmend verfügbaren Veröffentlichungen zu diesem Thema herangezogen wie die eigenen Erfahrungen mit kooperativen Lehrveranstaltungen an der Universität Tübingen, zu denen auch Evaluationen durch die Studierenden verfügbar sind. In einem weiteren Schritt folgt dann der Versuch, erste Leitlinien für die interreligiöse Kooperation im Studium zu formulieren.
2.1 Erfahrungen aus der Praxis des Studiums Das Interesse und die Offenheit für interreligiöse Kooperationen können in der Religionspädagogik inzwischen weithin als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Wie vielfach festgestellt, hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass interreligiöse Bildung zu den Grundaufgaben des Religionsunterrichts gehört und gehören muss. Dass dies auch Implikationen für die Ausbildung für den Religionsunterricht einschließt, liegt nicht nur auf der Hand, sondern hat an vielen Orten bereits zu entsprechenden Konsequenzen geführt. Wie diese Konsequenzen genau aussehen, hängt allerdings vom jeweiligen regionalen Kontext und Standort ab. Insbesondere eine interreligiöse Kooperation setzt mögliche Partnerschaften vor Ort oder zumindest in der Region voraus, die nicht in allen Fällen gegeben sind. An vielen Standorten gibt es bislang nur evange
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Interreligiöse Kooperation im Studium als Weg des Kompetenzerwerbs
lische und/oder katholische Theologie und Religionspädagogik, aber kein Pendant auf muslimischer Seite. Auch jüdische Theologie oder jüdische Studien gibt es in Deutschland nur an wenigen Standorten, und noch seltener ist eine jüdische Religionspädagogik, die nur an den jüdischen Hochschulen in Heidelberg und Potsdam anzutreffen ist. Im Bereich der islamischen Theologie und Religionspädagogik nehmen die Kooperationsmöglichkeiten allerdings deutlich zu. In Baden-Württemberg beispielsweise, wo die Etablierung von Ausbildungsmöglichkeiten für den islamischen Religionsunterricht besonders weit vorangeschritten ist, finden sich inzwischen mehrere Standorte mit islamischer Theologie/islamischer Religionspädagogik: an der Universität Tübingen das Zentrum für Islamische Theologie und eine eigene Professur für islamische Religionspädagogik, an den in diesem Bundesland weiterhin bestehenden Pädagogischen Hochschulen religionspädagogische Professuren in Freiburg, Karlsruhe und Ludwigsburg sowie Mittelbaustellen und/oder Lehraufträge an weiteren Standorten. In Österreich, um ein weiteres Beispiel zu nennen, spielen die Hochschulen in Wien und Innsbruck in dieser Hinsicht eine hervorgehobene Rolle (Professuren für islamische Religionspädagogik an den Universitäten Wien und Innsbruck, Ausbildung für den islamischen Religionsunterricht an der KPH Wien-Krems sowie Angebote und Lehraufträge an weiteren Standorten, etwa in Graz). Insofern stellen sich die Kooperationsmöglichkeiten in dieser Hinsicht sowohl in Deutschland als auch in Österreich zunehmend günstig dar. Die entsprechenden Darstellungen und Erfahrungsberichte zur interreli giösen Kooperation im Studium können im Sinne einer ersten Typologie verdichtet werden. Unterschieden werden können gemeinsame Lehrveranstaltungen, gemeinsame Projekte und vernetzte Studiengänge. Gemeinsame Lehrveranstaltungen In Kooperation getragene muslimisch-christliche Lehrveranstaltungen, insbesondere in Gestalt von Seminaren, sind wohl die nächstliegende Möglichkeit bei der interreligiösen Zusammenarbeit im Studium. Als Beispiel dafür können die seit mehreren Jahren regelmäßig in Zusammenarbeit zwischen der Autorin und den beiden Autoren dieses Teils des Buches an der Universität Tübingen durchgeführten Seminare dienen. Jedes Wintersemester wird hier ein gemeinsames Seminar angeboten, zu dem Studierende der evangelischen, der katholischen und der islamischen Theologie eingeladen sind. Curricular sind die Lehrveranstaltungen in die verschiedenen Studiengänge an den drei beteiligten Institutionen so eingebaut, dass jeweils verpflichtende Studienleistungen erbracht werden können. Da die Anforderungen solcher Studiengänge zumindest zum großen Teil ähnlich sind, bereitet dies keine
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größeren Schwierigkeiten. Es bedeutet allerdings nicht, dass die Teilnahme an den gemeinsamen Lehrveranstaltungen für alle Studierenden verpflichtend wäre. Es gibt immer auch die Möglichkeit, die entsprechenden Studienleistungen bei anderen Veranstaltungen in allein evangelischer, katholischer oder islamischer Trägerschaft zu erbringen. Die Veranstaltungen haben einen Schwerpunkt beim schulischen Religionsunterricht, wenden sich aber nicht nur an Lehramtsstudierende. Seminarthemen waren bislang der Vergleich und die Kooperationsmöglichkeiten zwischen evangelischem, katholischem und islamischem Religionsunterricht; Jesus und Muhammad, Bibel und Koran im christlichen und islamischen Religionsunterricht, Planen und Gestalten des Religionsunterrichts in christlicher und islamisch religionsdidaktischer Perspektive, Judentum im christlichen und islamischen Religionsunterricht.
Schwerpunkte der Veranstaltungen liegen beim wechselseitigen Kennenlernen, inhaltlich durch die vergleichende und dialogische Bearbeitung ausgewählter Themen (etwa: Bibel und Koran, Jesus und Muhammad, Beten und Gebete, Bildungspläne, Judentum, Antisemitismus usw.), aber auch sozial und kommunikativ durch verschiedene Formen der Gruppenarbeit im Seminar und Arbeitsgruppen mit verschiedenen Aufträgen außerhalb der Seminarzeiten sowie besondere Seminartage. Dabei gibt es eine unmittelbare Entsprechung zwischen der Kooperation der Lehrenden und der Kooperation der Studierenden, da die entsprechenden Gruppen von Studierenden – wo immer möglich und sinnvoll – gezielt konfessionell und religiös gemischt werden. Dass aufseiten der christlichen Religionspädagogik ein evangelischer und ein katholischer Kollege sowie Studierende beider Konfessionen beteiligt sind, eröffnet weitere Möglichkeiten des Kennenlernens und des Dialogs. Das Christentum erweist sich bereits in dieser Hinsicht als in sich selbst vielfältig, was in anderer Weise auch für den Islam deutlich wird, etwa durch die Aufnahme von Bezügen auf verschiedene Traditionen innerhalb des Islam. Ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit im Seminar liegt bei der Ausarbeitung von Unterrichtsstunden und Unterrichtseinheiten für einen interreligiöskooperativen Unterricht, die dann in Zusammenarbeit mit einer Tübinger Schule zum Teil auch in die Praxis umgesetzt werden konnten. In anderen Fällen fanden Schul- und Unterrichtsbesuche statt, bei denen die Studierenden Formen der Kooperation der Religionslehrkräfte in der Praxis kennenlernen konnten. Da dieser Schwerpunkt sich im Sinne gemeinsamer Projekte verstehen lässt, soll er im nächsten Abschnitt genauer aufgenommen werden. An dieser Stelle soll zunächst noch kurz auf die in der Tübinger Religionspädagogik regelmäßig durchgeführten Evaluationen durch die Studierenden eingegangen werden. Angesichts des innovativen Charakters gemeinsamer Lehrveranstaltungen schien es besonders wichtig, über den universitätsweiten Standard eines quantitativen Fragebogens hinauszugehen und die Studierenden
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um ausführlichere Stellungnahmen zu bitten. Die Evaluationsergebnisse zeigen insgesamt ein sehr positives Bild. Auch in der Sicht der Studierenden bieten diese Veranstaltungen eine wichtige Möglichkeit, sich mit der jeweils anderen Konfession und besonders der jeweils anderen Religion zu befassen. So fanden Studierende es sehr positiv, dass sowohl die Dozierenden als auch die Studierenden der islamischen, katholischen und evangelischen Religionslehre in einen intensiven Austausch kamen: »Spannende Gespräche; respektvoller und vor allem sehr offener, neugieriger Austausch; gute Zusammenarbeit innerhalb der Gruppen.« Dass dies in einer gemeinsamen Veranstaltung geschieht, eröffnet nach Wahrnehmung der Studierenden zusätzliche Chancen der Begegnung, die sonst nicht gegeben wären: Viele würdigten die Möglichkeit, »in Kontakt mit Studierenden der beiden anderen Fakultäten zu kommen, was sonst nie der Fall ist.« Auch die unterschiedlichen Kompetenzen und Expertisen der Lehrenden wurden besonders gewürdigt. Kritisch wahrgenommen wurden die sich in den Lehrveranstaltungen – trotz gegenteiliger Steuerungsversuche – immer wieder ergebenden Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse (an der Universität Tübingen liegt die Anzahl der christlichen Studierenden weit über der der muslimischen Studierenden; eine Rolle spielt auch die jahrhundertelange Geschichte der beiden christlichen Fakultäten, im Verhältnis zu den erst gut zehn Jahren, auf die das Zentrum für Islamische Theologie hier zurückblicken kann). Dennoch haben Teilnehmende den Eindruck, dass sie durch die interreligiösen Begegnungen und den Austausch Entscheidendes gelernt haben, beispielsweise: »Der Austausch zwischen den Konfessionen und Religionen hat meinen Horizont erweitert und geholfen, Vorurteile abzubauen.« Gemeinsame Projekte An der Pädagogischen Hochschule Heidelberg gibt es seit etwa 20 Jahren erste Versuche zum interreligiösen dialogischen Lernen für Studierende, was sich ab 2011 zum einem fakultativen Zertifikatstudiengang entwickelt hat (Boehme, 2021 und 2018). Der Name des Studiengangs »Fächerkooperierendes Interreligiöses Begegnungslernen« ist Programm, denn er bietet angehenden Religions- und EthiklehrerInnen die Möglichkeit, in direkten Austausch mit Studierenden anderer Religionen zu treten. Neben dem durchführenden Institut für Philosophie und Theologie der PH Heidelberg sind auch die Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg und das Fach Islamische Theologie an der PH Karlsruhe involviert, teilweise auch das Fach Alevitische Religionslehre der PH Weingarten sowie das Fach Islamische Theologie des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Tübingen.
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Das Studienprogramm ist in vier Phasen gegliedert: In Phase (1) erlernen Studierende das jeweilige Thema (z. B. Gottesfrage, Anthropologie, Heilige Schriften, Eschatologie) im Horizont ihres eigenen Fachs. Die Phasen (2) und (3) werden als Präsentations- und Austauschphase in interreligiösen Studientagen organisiert. Während in der zweiten Phase eher präsentiert wird, sollen die Studierenden in Phase (3) in kleinen gemischten Gruppen zusammenkommen, um die Themen aus der Sicht ihrer jeweiligen Theologie und Religion zu diskutieren. Die Reflexionsphase (4) findet zunächst in interreligiös gemischten, schließlich in den ursprünglichen nach Religionen und Konfessionen getrennten Gruppen statt.
Das solchermaßen organisierte fächerkooperierende interreligiöse Begegnungslernen will zusätzlich zum kognitiven, informierenden Erweitern des Wissens über die eigene Religion und über andere Religionen die religionspädagogischen Kenntnisse zum interreligiösen Lernen erweitern und die Kompetenz des Perspektivenwechsels fördern. Evaluationen und Studierendenbefragungen zeigen, dass die Ziele durch ein solches Studienangebot zumindest teilweise erreicht werden. Tübinger Unterrichtsversuche Die Planung und Durchführung unterrichtspraktischer Versuche wird im Sinne einer erfahrungs- und handlungsorientierten Seminardidaktik als wesentlicher Bestandteil der gemeinsamen Lehrveranstaltungen verstanden. Da die dafür jeweils verantwortlichen Arbeitsgruppen möglichst konfessionell und religiös gemischt zusammengesetzt sind, kommt dazu noch ein sehr erwünschter interreligiöser Effekt im Sinne von Erfahrungen mit persönlicher Kooperation. Diese Kooperation auf der Ebene der Studierenden, so kann erfreulicherweise berichtet werden, scheint durchweg gut zu funktionieren. Im Anschluss an die Unterrichtsversuche in der Schule werden diese im Seminar gemeinsam besprochen. Die bislang aufwändigste Form eines Unterrichtsversuchs wurde zum Thema Gebet in einer Klasse 7 realisiert. Dabei wurden die SchülerInnen aus drei Parallelklassen neu in konfessionell und religiös gemischte Lerngruppen eingeteilt (aufgrund der geringeren Anzahl muslimischer SchülerInnen war eine der drei Gruppen nur evangelisch-katholisch zusammengesetzt). Die Unterrichtsstunden wurden, soweit die Eltern zustimmten, videografiert, was dann in zwei der drei Gruppen möglich war. Im Seminar konnten ausgewählte Sequenzen vorgestellt und gemeinsam analysiert werden. Die parallelen Aufzeichnungen ließen auch vergleichende Analysen zu.
Besonders intensive und zum Teil kontroverse Diskussionen betrafen mehrfach die Frage, ob die SchülerInnen im Unterricht jeweils bewusst in ihrer Konfessions- und Religionszugehörigkeit identifiziert werden sollten (etwa durch die
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Zuweisung entsprechender konfessions- und religionsbezogener Aufgaben oder Rollen im Unterricht) oder ob solche Identifikationen gerade vermieden werden sollten, weil sie vielleicht Grenzen aufrichten, anstatt die Gemeinsamkeiten zwischen den SchülerInnen ungeachtet ihrer Konfessions- und Religionszugehörigkeit zu stärken. Die Studierenden optierten in großer Mehrheit für die zweite Vorgehensweise, während die beteiligten Religionslehrkräfte mitunter die erste Vorgehensweise für sinnvoller hielten. Für die Studierenden (und auch für die Lehrenden) waren die Unterrichtsversuche besonders eindrücklich und boten zahlreiche Lernmöglichkeiten. Gleichzeitig soll aber auch nicht verschwiegen werden, dass solche Projekte aufgrund der enormen zeitlichen Inanspruchnahme im heutigen Studiensystem mitunter als zusätzliche Belastung kritisiert wurden. Eine Lösung ergab sich dann aus der Entscheidung, den Studierenden die Beteiligung an den unterrichtspraktischen Anteilen der Seminare freizustellen.
Die Tübinger Erfahrungen werden hier nicht deshalb dargestellt, weil sie einzigartig wären, sondern weil die Autorin und die Autoren besonders damit vertraut sind. Berichte zu Kooperationen im Sinne gemeinsamer Lehrveranstaltungen liegen von zahlreichen Standorten vor. Besonders zu nennen ist hier vor allem die religionspädagogische Ausbildung in Nürnberg, die in dieser Hinsicht eine Pionierrolle übernommen hat – auch flankiert durch die interkulturellen und interreligiösen Foren, die dort schon seit mehr als 40 Jahren durchgeführt werden (vgl. Lähnemann, 2021). Vernetzte Studiengänge An der Kirchlich-Pädagogischen Hochschule Wien-Krems werden seit 2007 interkonfessionelle und interreligiöse Lehrveranstaltungen durchgeführt, die auch in Kooperation mit der Universität Wien und dem dort angebotenen Masterstudium »Islamische Religionspädagogik« erfolgen. Angehende katholische, evangelische, orthodoxe, muslimische und inzwischen auch jüdische, alevitische und buddhistische ReligionslehrerInnen können miteinander und in engem Austausch der jeweiligen Dozierenden lernen. Interreligiöses Team-Teaching der Dozierenden sowie interreligiöse Studientage sind die Markenzeichen dieses Modells (vgl. Krobath, 2014). An der Universität Innsbruck wurde das »Zentrum für Interreligiöse Studien« in enger Kooperation der Institute für Islamische Religionspädagogik und Katholische Religionspädagogik gegründet. Christliche und muslimische Studierende kommen in gemeinsamen Lehrveranstaltungen zusammen und führen gemeinsame Praktika im (katholischen) Religionsunterricht durch. Aus
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Innsbruck liegen ausführliche Evaluationen aus verschiedenen Perspektiven (Studierende, Lehrende, Schulaufsicht usw.) vor (vgl. Kraml & Sejdini, 2018; Kraml et al. 2020). Trotz vereinzelter Schwierigkeiten, etwa wenn christliche Eltern Einwände gegen muslimische Lehrkräfte im katholischen Religionsunterricht haben, entwickelt sich der Versuch sehr erfolgreich und findet breite Zustimmung. Dazu tragen auch flankierende theologische Veranstaltungen zum interreligiösen Dialog (Tagungen usw.) bei. Praktische Herausforderungen – Grenzen der Kooperation – offene Fragen Die wohl größte Herausforderung für die interreligiöse Kooperation in der Ausbildung für den Religionsunterricht sowie allgemein für die Forderung nach einem Vertrautwerden mit mehr als einer Religion liegt zunächst in den Grenzen, die der Aufnahme zusätzlicher Elemente angesichts des engen Zeitkorsetts heutiger Studienformen gezogen sind. Vielfach werden schon die Anteile für die jeweils eigene Theologie und Religionspädagogik im Rahmen besonders eines Studiums für den Religionsunterricht an Grund-, Haupt-, Gemeinschafts- und Realschulen (die Bezeichnungen der Schularten variieren zwischen den Bundesländern bereits in Deutschland) als unzureichend wahrgenommen. Insofern erscheint die Integration zusätzlicher Themenbereiche nur auf Kosten einer weiteren Verknappung eigentlich unerlässlicher fachwissenschaftlicher und fachdidaktischer Studienanteile denkbar. Dieser Herausforderung kann wohl nur in zwei Richtungen begegnet werden, einmal eher grundsätzlich und einmal eher pragmatisch: Ȥ Grundsätzlich muss das Bewusstsein dafür wachsen, dass die fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Anforderungen an den Religionsunterricht in einer multireligiösen Gesellschaft deutlich zunehmen und das bislang etwa in Studienordnungen und Studiengängen vorgesehene Kontingente für Theologie und Religionspädagogik daher noch einmal überdacht werden müssen. Die mit Religion und Religionen verbundenen gesellschaftlichen Herausforderungen müssen in der Ausbildung für den Religionsunterricht heute mehr Platz finden, als dies in der Vergangenheit noch der Fall war. Ȥ Als pragmatische Lösung kann die Integration sowohl interreligiöser Themen als auch der interreligiösen Kooperation in bestehende curriculare Strukturen bezeichnet werden, so wie dies oben für die gemeinsamen Lehrveranstaltungen an der Universität Tübingen beschrieben wurde. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass bestimmte andere Themen etwas zurücktreten müssen, wofür dann in weiteren Lehrveranstaltungen ein Ausgleich
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gesucht wird. Dies gilt beispielsweise für fachdidaktische und unterrichtsmethodische Grundkenntnisse, deren Erwerb in den gemeinsamen Lehrveranstaltungen vorausgesetzt werden muss. Eine ebenfalls praktische Herausforderung liegt in der Größe kooperativer Lehrveranstaltungen. Wenn mehrere Studiengänge, Fakultäten oder Institute beteiligt sind – in Tübingen sind es in der Regel drei theologische Einrichtungen sowie verschiedene Studiengänge –, multiplizieren sich die Zahlen mit 3. Damit im Seminar noch sinnvoll gearbeitet werden kann, wurde in diesem Fall eine Begrenzung auf 50 Teilnehmende eingeführt (eine Anzahl, die bislang immer rasch erreicht war, was auf ein entsprechendes Interesse schließen lässt). Aber auch 50 Teilnehmende sind eigentlich zu viel und machen ein stark auf der Arbeit in Gruppen basierendes didaktisches Konzept erforderlich. Da die Teilnahmebegrenzung auf jede der drei beteiligten Institutionen angewendet wurde, ergab sich theoretisch die Zusammensetzung aus einem Drittel islamisch, einem Drittel katholisch, einem Drittel evangelisch. Dies impliziert, dass die muslimischen Studierenden immer eine Minderheit darstellen – ein Problem, für das bislang keine sinnvolle Lösung gefunden werden konnte.
2.2 Leitlinien für interreligiöse Kooperation im Studium Es versteht sich von selbst, dass bei einem so jungen Unternehmen wie der interreligiösen Kooperation im Studium noch keine abschließende Formulierung von Leitlinien möglich ist. Sinnvoll – als Beitrag zur Weiterentwicklung der Kooperation – kann es aber sein, den bislang erreichten Stand sowie sich abzeichnende Erfordernisse für die Zukunft zu beschreiben. Die im Folgenden gewählte thesenhafte Form entspricht diesem Stand. Bei der Formulierung solcher Leitlinien bleibt darüber hinaus zu bedenken, wie sich die Voraussetzungen im Studium an verschiedenen Standorten jeweils darstellen. Die verschiedenen Formen der Zusammenarbeit, die oben beschrieben wurden, basieren auf unterschiedlichen institutionellen und zum Teil auch unterschiedlichen rechtlichen Voraussetzungen, bedingt durch die Studiengänge, aber auch durch die regionale Situation des Religionsunterrichts. Die Leitlinien müssen deshalb so beschrieben werden, dass sie zu verschiedenen Voraussetzungen passen. Ȥ Interreligiöse Kooperation in der Ausbildung für den Religionsunterricht stellt eine wichtige Voraussetzung für interreligiöse Bildung sowie für interreligiöskooperativen Religionsunterricht in der Schule dar. Möglichkeiten für eine solche Kooperation im Studium sollten daher zunehmend genutzt werden. Ȥ Prinzipiell kommen alle Formen von Lehrveranstaltungen für eine inter religiöse Kooperation infrage, angefangen bei Vorlesungen über Seminare
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bis hin zu schulpraktischen Übungen und Projekten. Besonderes Gewicht muss jedoch auf solchen Formen liegen, bei denen Studierende mit verschiedener Konfessions- und Religionszugehörigkeit gemeinsam arbeiten und gemeinsame Ziele verfolgen. Die Kooperation sollte bei den Lehrveranstaltungen sowohl auf Ebene der Studierenden als auch auf Ebene der Lehrenden sichtbar praktiziert werden. Interreligiöses Team-Teaching von WissenschaftlerInnen ist insofern ideal, aber auch die zumindest punktuelle Einladung von entsprechenden KollegInnen oder außeruniversitären PartnerInnen in der Schule kann einen gewissen Ersatz bieten. Damit die Zusammenarbeit gelingen kann, muss auch die Zusammensetzung der teilnehmenden Studierenden gezielt bedacht werden. Eine gewisse Ausgewogenheit christlicher und muslimischer Studierender ist eine zwingende Voraussetzung, wobei sich aufgrund der Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse wohl noch auf lange Sicht Ungleichheiten nicht vermeiden lassen. Auch eine konfessionelle Mischung der christlichen Studierenden kann von Vorteil sein, weil darin die innere Pluralität des Christentums zum Ausdruck kommt. Wie es darüber hinaus auch im muslimischen Bereich möglich sein könnte, die Pluralität dieser Religion (Sunniten, Schiiten usw.) ebenfalls durch konkrete Beteiligungsverhältnisse sichtbar zu machen, scheint noch eine offene Frage zu sein. Eine Möglichkeit können digitale bzw. hybride Lehrformate bieten, um auch über weite Entfernungen hinweg, zumindest zeitweise, mit Studierenden anderer religiöser Strömungen interreligiöskooperative Lehrveranstaltungen durchzuführen. Interreligiös-kooperative Lehrveranstaltungen sollten mehr und mehr Teil des Regelangebots sein und also verlässlich wiederkehrend durchgeführt werden (am besten in einem erkennbar festen Rhythmus). Als Grundlage kann dabei das im Zusammenhang der konfessionellen Kooperation entwickelte Prinzip »Kooperation, nicht Fusion« dienen. Weiter zu präzisieren und zu konkretisieren sind dabei noch die sich aus den theologischen Implikationen konfessioneller und interreligiöser Zusammenarbeit ergebenden Konsequenzen. Dabei ist mittelfristig über die bislang noch experimentellen und explorativen Angebote hinaus ein systematisch begründetes Curriculum anzustreben, das die oben beschriebenen Kompetenzen für die interreligiöse Kooperation im Religionsunterricht aufnimmt. Diese Kompetenzen müssen dafür allerdings noch weiter ausdifferenziert und empirisch validiert werden. Dadurch wird auch die Möglichkeit eröffnet, in Zusammenarbeit mit den beiden großen Kirchen und den muslimischen Glaubensgemeinschaften Standards für die LehrerInnenbildung zu formulieren.
Interreligiöse Kooperation im Studium als Weg des Kompetenzerwerbs
Ȥ Kooperation im Studium für den Religionsunterricht kann sich nicht in religionspädagogischen Lehrveranstaltungen erschöpfen. Auch im Bereich der Fachwissenschaft – bei der Auslegung von Bibel und Koran, der Ideenund Geistesgeschichte von Christentum und Islam sowie gegenwartsbezogenen theologischen Lehrveranstaltungen in Dogmatik und Ethik – sind interreligiös-kooperative Lehrveranstaltungen anzustreben.
Leitlinien für interreligiöse Kooperation im Studium
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Die Autorin und die Autoren
Dr. Dr. h. c. Friedrich Schweitzer, Prof. für Regionspädagogik/Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen Dr. Fahimah Ulfat, Prof. für Islamische Religionspädagogik am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen Dr. Reinhold Boschki, Prof. für Regionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen Dr. Asher J. Mattern, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ökumenische und Interreligiöse Forschung der Universität Tübingen
Die Autorin und die Autoren
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