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German Pages [316] Year 2020
BIBLISCH-THEOLOGISCHE STUDIEN 188
Klaus Scholtissek Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.)
Diakonie biblisch Neutestamentliche Perspektiven
Biblisch-Theologische Studien Herausgegeben von Jörg Frey, Friedhelm Hartenstein, Bernd Janowski und Matthias Konradt Band 188
Klaus Scholtissek Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.)
Diakonie biblisch Neutestamentliche Perspektiven Mit Beiträgen von M. Konradt, K.-W. Niebuhr, J. Quenstedt, K. Scholtissek und M. Vogel
Vandenhoeck & Ruprecht
Diese Veröffentlichung wurde ermöglicht mit Unterstützung von Diakonie Mitteldeutschland Dezernat Personal des Landeskirchenamts der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland Dezernat Gemeinde des Landeskirchenamts der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9120 ISBN 978-3-7887-3508-1
Vorwort
Diakonie ist eine bekannte Marke – gerade auch im deutschsprachigen Raum. Die verfasste Diakonie in der Bundesrepublik Deutschland ist einer der größten Verbände der freigemeinnützigen Wohlfahrtspflege mit zahlreichen Mitgliedseinrichtungen und mehr als einer halben Million hauptamtlichen sowie ungezählten ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Diakonie und Caritas gelten als „Lebens- und Wesensäußerung der Kirche“. Die Diakonie versteht sich programmatisch als: „Die soziale Arbeit der evangelischen Kirche“. Die kritische Reflexion ihrer Arbeit und ihres Profils begleitet diakonisches Handeln seit ihren Anfängen, in Kirchgemeinden, bei ehrenamtlichem Engagement, als gesellschaftlicher Gestaltungsauftrag, in anwaltschaftlicher Lobbyarbeit und in der verfassten Diakonie. Hier leisten besonders spezialisierte Fachhochschulen und diakoniewissenschaftliche Institute sowie die verschiedenen Spitzenverbände grundlegende Arbeit. Die biblischen Zeugnisse gehören maßgeblich zu dieser Grundlagenarbeit: Was sagen Altes und Neues Testament zum helfenden und heilenden, diakonischen bzw. caritativen Handeln von Juden und Christen? Wie wird diakonisches Handeln im Neuen Testament begründet? Was charakterisiert diakonisches Handeln und unterscheidet es von anderen Gestalten von Sozialarbeit? Der vorliegende kleine Band mit exegetischen Studien kann solche grundsätzlichen Fragen nicht umfassend beantworten, möchte aber Impulse für die Reflexion diakonischer Arbeit aus der „Grundurkunde“ der Kirche, der
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Vorwort
Bibel geben. Er widmet sich in acht exemplarischen Beiträgen dem neutestamentlichen Zeugnis und ergänzt diese durch einen Blick auf die Verwendung von diakonia bei Philon von Alexandrien. Philon, dessen Werke in zeitlicher Nähe zu den neutestamentlichen Schriften entstanden sind, ist ein interessanter Zeuge für die Verwendung von diakonia in der jüdisch-hellenistischen Umwelt des Neuen Testaments. Die hier gesammelten Beiträge sind in den zurückliegenden Jahren überwiegend im Zusammenhang des „Café NT“, des Jenaer neutestamentlichen Oberseminars, entstanden und dort diskutiert worden. Mit zwei Ausnahmen werden sie hier erstmals veröffentlicht.1 Einen gewichtigen Akzent von außen bringt der Aufsatz von Matthias Konradt, Lehrstuhlinhaber für Neues Testament in Heidelberg, ein, der auch zunächst als Vortrag im Jenaer „Café NT“ gehalten wurde. Die Aufsätze wollen einerseits weiterführende Beiträge zur Forschungsdiskussion leisten, andererseits zum Grundverständnis von Diakonia in den neutestamentlichen Schriften beitragen. Dazu wird die aktuelle Forschungsdiskussion um die Semantik von „Dienst, Diener, dienen“ (griechisch: διακονέω κτλ.) im Neuen Testament aufgegriffen und an wichtigen Beispieltexten neu reflektiert. Gleichzeitig rücken die Beiträge wesentliche inhaltliche Bestimmungen des diakonischen Handelns sowie konstitutive biblische, christologische, anthropologische und ethische Kontexte in den Blick. Der Aufbau des Bandes folgt weitgehend der kanonischen Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften: Auf einen
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K. Scholtissek, Neutestamentliche Grundlagen der Diakonie, in: R. Koerrenz – B. Bunk (Hg.), Armut und Armenfürsorge. Protestantische Perspektiven, Kultur und Bildung 5, Paderborn 2014, 33–47; ders., „Ein Beispiel habe ich Euch gegeben …“ (Joh 15,13). Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der johanneischen Fußwaschungserzählung als Konterkarierung römischer Alltagskultur, in: M. Labahn – O. Lehtipuu (Hg.), People under Power. Early Jewish and Christian Responses to the Roman Empire, Early Christianity in the Roman World 1, Amsterdam 2015, 159–184.
Vorwort
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Überblicksartikel zu Beginn „Neutestamentliche Grundlagen der Diakonie“, folgt der Beitrag „Lebenshingabe als Grundimpuls Jesu für eine Theologie der Diakonia“. Daran schließen sich vier Aufsätze zu den Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes an. Es folgen zwei Paulus-Beiträge und einer zu Philon von Alexandrien. Unser Dank gilt stud. theol. Julius Sperling, der mit viel Akribie und Konzentration die mühevolle Formatierungsarbeit und die Erstellung der Register übernommen hat, sowie den Mitarbeitern im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, insbesondere Herrn Dr. Izaak de Hulster und Frau Miriam Espenhain. Weiterhin danken wir der Diakonie Mitteldeutschland und der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland für namhafte Druckkostenzuschüsse. Wir hoffen, dass der vorliegende Band sowohl Impulse für die Forschung geben kann als auch vielen interessierten Leserinnen und Lesern Orientierung und Antworten vermittelt bei Fragen wie: Woher kommt Diakonie? Was ist das Besondere an Diakonie? Was hat Diakonie mit Bibel und Kirche zu tun? Jena, im Juli 2020
Klaus Scholtissek Karl-Wilhelm Niebuhr
Inhalt
Vorwort………………………………………………... V Klaus Scholtissek Neutestamentliche Grundlagen diakonischen Handelns………………………………………………... 1 Karl-Wilhelm Niebuhr Lebenshingabe als Grundimpuls Jesu. Eine Skizze zur Proexistenz als biblischer Grundlage für eine Theologie der Diakonia…………………………………………... 23 Matthias Konradt „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt“ (Mt 25,40). Überlegungen zur Bedeutung diakonischen Handelns im Matthäusevangelium……………………. 53 Klaus Scholtissek „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Die messianische Diakonie Jesu und der Christusgläubigen im Markusevangelium…………………………………………91 Klaus Scholtissek Barmherzige und hörende Liebe (Lk 10,25-42). Das Doppelgebot der Liebe und die Diakonie im Lukasevangelium………………………………………………... 127
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Inhalt
Klaus Scholtissek „Ein Beispiel habe ich euch gegeben ...“ (Joh 13,15). Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der johanneischen Fußwaschungserzählung als Konterkarierung römischer Alltagskultur………………………... 159 Klaus Scholtissek Diakonie der Versöhnung. 2 Kor 5,14-21 – ein Kleinod paulinischer Theologie………………………………. 189 Manuel Vogel Leidensgemeinschaft (Phil 3,10). Mutmaßungen zur Anthropologie diakonischen Handelns anhand einiger Paulustexte…………………………………………... 223 Jan Quenstedt Das Wortfeld Diakonia bei Philon von Alexandrien. Sterne, Priester, Zähne und andere Diakone………… 259 Autorenverzeichnis………………………………….. 289 Sachregister………………………………………….. 291 Stellenregister………………………………………... 295 Autorenregister……………………………………….301
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Neutestamentliche Grundlagen diakonischen Handelns1 1. Einleitung Welche Grundlagen und Maßstäbe gibt es in der Heiligen Schrift aus Altem und Neuen Testament als norma normans non normata für diakonisches Handeln im ersten Jahrhundert des dritten Jahrtausends der christlichen Zeitrechnung?2 Diese Ausgangsfrage hat Ralf Koerrenz im Blick auf das Alte Testament in einem Aufsatz „Zu den Hebräischen Grundlagen diakonischen Handelns“ reflektiert.3 Der folgende Beitrag konzentriert sich auf das Neue Testament.4 1
Der vorliegende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags zur Ringvorlesung im Rahmen des Graduiertenkollegs „Protestantische Bildungstraditionen in Mitteldeutschland“ an der Friedrich-SchillerUniversität Jena am 12.11.2012. Diese Ringvorlesung war zugleich ein wichtiger Baustein des Johannes-Falk-Jahres 2013 (anlässlich des 200. Gründungsjubiläums des Vereins der Freunde in der Not durch Johannes Daniel Falk). Ich danke den einladenden Kollegen Prof. Dr. Dr. Ralf Koerrenz und Prof. Dr. Michael Haspel für den anregenden fachlichen und kollegialen Austausch! – Zu Johannes Daniel Falk vgl. einführend: G. Heufert, Johannes Daniel Falk. Satiriker, Diplomat und Sozialpädagoge, Weimar 2008. 2 Zur aktuellen diakoniewissenschaftlichen Diskussion vgl. einführend H. Schmidt, Diakoniewissenschaft 2000–2010, ThR 77, 2012, 201– 225; J. Eurich, Diakonie in der Transformation des Wohlfahrtstaates, ThLZ 138, 2013, 405–420; G.-H. Hammer, Geschichte der Diakonie in Deutschland, Stuttgart 2013. 3 Vgl. R. Koerrenz, Armut und Armenfürsorge – hebräische Grundlagen, in: ders., B. Bunk (Hg.), Armut und Armenfürsorge. Protestantische Perspektiven, Paderborn 2014, 13–32. 4 Vgl. folgende Überblicke zu Diakonie im Neuen Testament: G. K. Schäfer, T. Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, VDWI 2, Heidelberg 31989; J. N. Collins, Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources, New York 1990; A. Obermann, Wesenszüge dienender Gemeinden im Neuen Testament und ihre Implikationen für diakonisches Handeln heute, KuD 46, 2000,
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Für die neutestamentlichen Grundlagen diakonischen Handelns werden hier zwei zentrale Themenstellungen aufgegriffen: die Botschaft und die Sendung Jesu von Nazaret im Spiegel der vier Evangelien und die Theologie des Apostels Paulus und seiner Schriften. Die Ausführungen beabsichtigen, die theologischen Grundlagen – nicht einzelne Anwendungsfälle – diakonischen Handelns im Zeugnis des Neuen Testaments profiliert herauszuarbeiten. Zunächst ist jedoch eine grundlegende hermeneutische Reflexion zur Botschaft und Sendung Jesu sowie zu den neutestamentlichen Schriften unverzichtbar. 2. Die alttestamentlich-frühjüdische Matrix der Verkündigung Jesu und der ersten Christen5 Die Verkündigung Jesu, wie sie sich in den vier neutestamentlichen Evangelien spiegelt, die ersten Boten der Auf-
36–59; A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT/II 226, Tübingen 2007; V. Herrmann, H. Schmidt (Hg.), Diakonische Konturen im Neuen Testament, DWI-INFO – Forum, Materialien, Informationen; Sonderausgabe 9, Heidelberg 2007; H. Haslinger, Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche, UTB 8397, Paderborn 2009, bes. 205–302; T. Söding, „Nicht bedient zu werden, sondern zu dienen“ (Mk 10,45). Diakonie und Diakonat im Licht des Neuen Testaments, in: ders., K. Armbruster (Hg.), Bereit wozu? Geweiht für was? Zur Diskussion um den Ständigen Diakonat, QD 232, Freiburg 2009, 30–62; ders., „… dass wir der Armen gedenken“ (Gal 2,11). Der Sozialdienst der Kirche im Neuen Testament, in: J. Eurich u.a. (Hg.), Kirchen aktiv gegen Armut und Ausgrenzung. Theologische Grundlagen und praktische Ansätze für Diakonie und Gemeinde, Stuttgart 2011, 36–57; D. Starnitzke, Diakonie in biblischer Orientierung. Biblische Grundlagen – ethische Konkretionen – diakonisches Leitungshandeln, Stuttgart 2011, 11–93; M. Stare, Diakonia im Neuen Testament, in: dies., S. Heil (Hg.), Priestertum und Priesteramt. Historische Entwicklungen und gesellschaftlich-soziale Implikationen, Berlin 2012, 139–161. 5 Vgl. hierzu weiterführend F. Crüsemann, Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, in: G. K. Schäfer, T. Strohm (Hg.), Diakonie
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erstehung Jesu von den Toten, Paulus und seine missionarische Bewegung sowie durchgehend alle neutestamentlichen Autoren stehen in einer fundamentalen Kontinuität zum Glauben Israels, wie er sich in der Hebräischen Bibel und den frühjüdischen Schriften niederschlägt.6 Diese Kontinuität bezieht sich insbesondere auf den monotheistischen Glauben an die Einzigkeit und Barmherzigkeit JHWHs, die Schöpfungstheologie und die Gottebenbildlichkeit der Menschen, die Erwählung Israels und den irreversiblen Bundesschluss mit dem erwählten Volk, die Gültigkeit der Verheißungen JHWHs für Israel und die ganze Schöpfung, die Anerkennung der Schriften Israels als Heilige Schrift und die gesamtbiblische Vorordnung des Indikativs vor dem Imperativ sowie die Geltung der ethischen Forderungen der Tora. Am Beispiel der Tora lässt sich die Kontinuität der Begründung des ethisch Gebotenen in Gottes Heilshandeln klar aufweisen: In den Schriften der Hebräischen Bibel werden die sozialen Gebote an Gott, seinen Willen, sein Wort und sein Handeln an Israel zurückgebunden. Das gilt für den Dekalog insgesamt, das gilt ebenso für den besonderen Schutz der Alten, Witwen und Waisen, der Armen – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, VDWI 2, Heidelberg 31989, 67–93; K. Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagen sozialer Verantwortung im jüdisch-christlichen Gespräch. VDWI 11, Heidelberg 1999; H. K. Nielsen, Diakonie als bibeltheologisches Thema, in: ders., S. Pedersen (Hg.), New Directions in Biblical Theology. Papers of the Aarhus Conference 16–19, September 1992, Leiden 1994, 201–219; R. Koerrenz, Die Grundlegung der Sozialpädagogik im Alten Israel, Oldenburger Universitätsreden 131, Oldenburg 2001; T. Strohm, Diakonie – biblisch-theologische Grundlagen und Orientierungen. Problemhorizonte, in: V. Herrmann, M. Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik Bd. 1: Biblische, historische und theologische Zugänge zur Diakonie, Neukirchen-Vluyn 2006, 15–25; K. Müller, Grundfragen der Diakonie in der Perspektive gesamtbiblischer Theologie, a.a.O., 26–41; R. Weth, Der eine Gott der Diakonie. Diakonik als Problem und Aufgabe Biblischer Theologie, a.a.O., 42–57; J. Frey, Neutestamentliche Wissenschaft und antikes Judentum. Probleme – Wahrnehmungen – Perspektiven, ZThK 109, 2012, 445–471. 6 Vgl. hierzu insbes. Nielsen, Diakonie (Anm. 5).
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und Fremden sowie für die Wirtschaftsgesetze (Zinsverbot, Schuldenerlass, Eigentum).7 Auf dieser Basis sind alle Denkschablonen, die von einer wie auch immer gearteten grundlegenden Diskontinuität zwischen Altem und Neuem Testament ausgehen, zurückzuweisen. Diese Denkschablonen haben nicht nur antijüdische, nicht selten antisemitische Auslegungen hervorgerufen bzw. haben sich für diese in Dienst nehmen lassen. Sie sind auch im Blick auf die konkrete Auslegung der neutestamentlichen Texte unangemessen, schlicht falsch. Insbesondere das schier unausrottbare Vorurteil, die alttestamentliche Ethik sei ausschließlich auf die eigene Ethnie bezogen, wohingegen erst die neutestamentliche Ethik – getrieben vom jesuanischen Doppelgebot der Liebe – universalistisch sei, ist keine textkonforme Auslegung und daher zurückzuweisen. Die folgenden Ausführungen zu zentralen Passagen im NT zeigen implizit und explizit eine Verhältnisbestimmung von Altem und Neuem Testament, die die Gültigkeit und Kontinuität zwischen beiden Testamenten als notwendige Bedingung für die Auslegung der neutestamentlichen Schriften herausstellt. 3. Jesus – Diener der nahen Gottesherrschaft Wer war der historische Jesus von Nazareth? Mit welcher Botschaft trat er an? Was zeichnete ihn aus? Für welche Botschaft und für welches Tun wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet? Diese Urfragen stellen Christen aller Generationen, diese Fragen suchen nicht nur die Schriftgelehrten aller Generationen zu beantworten – damals wie heute. Crüsemannn, Grundlage (Anm. 5); vgl. a.a.O., 93: „Die Durchsetzung solchen Rechts wird somit zum Kriterium für das Gottsein Gottes selbst. Im Ringen der Armen und Elenden um ihr Leben und ihr Recht, im Kampf gegen die sie unterdrückenden Frevler, geht es um nichts Geringeres als das Gottsein Gottes.“ 7
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Die methodischen und hermeneutischen Diskussionen, die mit der sogenannten historischen Rückfrage nach Jesus verbunden sind, können hier nicht verfolgt werden. Es geht vielmehr darum, den Kern der Botschaft Jesu in Wort und Tat, die steuernde Mitte seiner Sendung und in diesem Zusammenhang seine Person, seine messianische Rolle, zu vergegenwärtigen:8 In besonderer Weise eignet sich dazu das Programmwort Jesu in Mk 1,14-15. 3.1 Verkündigung und Sendung Jesu im Prisma von Mk 1,15 Mk 1,14-15 14 a Nach der Auslieferung (Gefangennahme) des Johannes aber kam Jesus nach Galiläa, b verkündete das Evangelium Gottes c und sagte: 15 a „Erfüllt ist die Zeit (ὁ καιρός), b herangenaht die Königsherrschaft Gottes. c Kehrt um und d glaubt an das Evangelium!“
Nach einem weitreichenden exegetischen Konsens trifft der Evangelist Markus mit diesen programmatischen Worten Jesu in Vers 15 zu Beginn seines Evangeliums die Mitte der Botschaft Jesu (vgl. auch Lk 4,16-30).9 In der Einzelbetrachtung der Teilverse 15 a-d ergeben sich folgende Beobachtungen: V. 15a: Jesus beginnt mit einer Zeitansage: „Erfüllt (πεπλήρωται) ist der Kairos“. Jesus spricht hier implizit von einer Zeit der Erwartung, die „erfüllt“ wird, er spricht von dem Kairos, der jetzt herangenaht ist und er definiert die Gegenwart als „erfüllten Kairos“.
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Vgl. hierzu auch K. Scholtissek, Der Messias. Neues Testament, in: H.-J. Fabry, ders., Der Messias, NEB Themen 5, Würzburg 2002, 55– 100. 9 Vgl. H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze, SBS 111, Stuttgart 31989.
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V. 15b: Die Antwort auf die Frage, worin der „erfüllte Kairos“ besteht, gibt Jesus im zweiten Teilsatz 15b: „herangenaht (ἤγγικεν) ist die Königsherrschaft Gottes.“ Der Kairos der Gegenwart besteht in der „herangenahten Königsherrschaft Gottes“. Das Verb „herangenaht“ transportiert zwei Aspekte: die tatsächliche Nähe und die noch ausstehende Vollendung der Königsherrschaft Gottes. Wie aber ist die ‚Nähe‘ der Königsherrschaft Gottes zu verstehen: zeitlich, räumlich? Die Antwort auf diese Frage lässt sich nicht allein mit grammatikalischen Analysen erbringen – so sehr diese geboten und erhellend sind –, sondern aus der entfalteten Gesamtbotschaft und Sendung Jesu: Jesus steht mit dem Bildwort von der Königsherrschaft Gottes – wie könnte es anders sein – in der Tradition seines jüdischen Glaubens: Die Psalmen besingen, erflehen und beschreiben die Königsherrschaft Gottes. Im Zentrum der Zukunftserwartungen der biblischen Schriften und der frühjüdischen Zeugnisse steht die Königsherrschaft Gottes, die sich endlich sichtbar und machtvoll durchsetzen soll gegen alles gottwidrige Treiben auf dieser Erde. Die vielfältigen Messiaserwartungen im zeitgenössischen Judentum verbinden – bei aller Unterschiedlichkeit – mit dem erwarteten Kommen des Messias die Durchsetzung und Vollendung der Königsherrschaft Gottes.10 V. 15cd: Aus der Zeitansage und ihrer inhaltlichen Bestimmung leitet Jesus einen doppelten Imperativ ab: Die Zeitansage im Indikativ erfordert ein dem Kairos entsprechendes Verhalten, eine angemessene Reaktion, die Jesus in zwei Schritten zusammenfasst: Umkehr (Metanoia) und Glaube an das Evangelium. Zur Metanoia haben vor Jesus die Propheten aufgerufen und begründeten diese Forderung mit dem widersprüchlichen Verhalten des Bundesvolkes zur eigenen Sendung und Erwählung durch Gott, mit der von Gott geforderten Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, mit Gottes drohendem Gericht. Wie bei Jesus steht auch in der Glaubenstradition 10
Vgl. hierzu: Fabry, Scholtissek, Der Messias (s.o. Anm. 8).
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Jesu der Indikativ vor dem Imperativ (vgl. den Dekalog in Ex 20,1-17: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe“ [V. 1]; Dtn 5,1-21). Im letzten Teilvers 15d fordert Jesus Glauben an das Evangelium (εὐαγγέλιον). Dem Wort Evangelium kommt in der biblischen Tradition Jesu ebenfalls eine geprägte Bedeutung zu: Jes 61,1-2 spricht vom messianischen Freudenboten:11 Jes 61,1-2 1 Der Geist des Herrn (ist) auf mir, weil er mich gesalbt hat; um frohe Botschaft den Armen zu bringen, hat er hat mich abgesandt, um die zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung zu verkünden und den Blinden neue Sehkraft, 2 um auszurufen ein willkommenes Jahr des Herrn und einen Tag der Vergeltung, um zu trösten alle Trauernden, ...12
Aus der prophetischen Verheißung des Jesaja gewinnt das Leitmotiv Evangelium seine inhaltliche Bestimmung und sein diakonisches Profil: Gott wird zu der von ihm bestimmten Zeit (vgl. Jes 60,22) einen gesalbten (= messianischen) Freudenboten senden, der den Armen die frohe Botschaft bringt, zerbrochene Herzen heilt, Gefangenen Freiheit verkündet und Blinden Sehkraft. Betrachten wir die vier Teilverse in Mk 1,15a-d in ihrem biblischen Zusammenhang, in dem sie verstanden sein wollen, und im Kontext der gesamten Verkündigung Jesu in Wort und Tat, dann steht uns die Sendung Jesu, seine Botschaft und auch sein Selbstverständnis vor Augen:
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Vgl. hierzu auch die Gottesknechtslieder in Jesaja, bes. Jes 42,1-7. Übersetzung aus SEPTUAGINTA DEUTSCH. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. v. W. Kraus, M. Karrer, Stuttgart 2009. 12
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(a) Jesus verkündet den erfüllten Kairos, der durch die herangenahte Gottesherrschaft und die Verkündigung der frohen Botschaft für die Armen inhaltlich qualifiziert ist. (b) Angesichts dieser indikativischen Zeitansage fordert Jesus Metanoia und Glaube an das Evangelium. Die beiden Indikative und die beiden Imperative in den Worten Jesu implizieren eine Selbstaussage: Jesus steht mit seiner Person in einem bestimmten Verhältnis zu seiner Botschaft: Er spricht und handelt im Auftrag Gottes, er ist von ihm gesandt wie der verheißene messianische Freudenbote, der die Menschen aus ihren Nöten befreien wird. Diese Sendung Jesu von Gott gibt ihm das Recht und die Pflicht, Gottes Handeln in der Gegenwart als Indikativ des erfüllten Kairos und der herangenahten Königsherrschaft Gottes zu verkünden und daraus die beiden Imperative abzuleiten. 3.2 Jesu Leben und Sterben im Dienst der nahen Gottesherrschaft Blicken wir auf die gesamte Überlieferung des Wirkens Jesu in den vier Evangelien,13 dann wird das in Mk 1,15 anklingende diakonische Profil der Sendung Jesu angereichert, verdichtet und in einem entscheidenden Punkt vertieft. Konstitutiv zum Wirken Jesu gehören: (a) Jesu Ruf in seine Nachfolge Jesus ruft Menschen in seine Nachfolge, weil er das Evangelium nicht allein verkünden kann und will und weil das Leben in der Nachfolge Jesu als solches zeichenhafter Ausdruck der Botschaft von der nahen Königsherrschaft Gottes ist. (b) Der von ihm gegründete Zwölferkreis Jesus gründet den Zwölferkreis und sendet Apostel aus, weil er im Zeichen der nahen Gottesherrschaft das ZwölfStämme-Volk sammeln, vereinen und für seine endzeitliche Erwählung zurüsten will. 13
Vgl. auch den Überblick bei Haslinger, Diakonie (Anm. 4), 218– 302.
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(c) Jesu zeichenhafte Handlungen Jesus reitet auf einem Esel in Jerusalem ein, um eine vordergründige politische Deutung seiner Sendung zu konterkarieren. Jesus wäscht seinen Jüngern beim letzten Abendmahl die Füße, um ihnen seinen Tod zu deuten als Vollendung seines Lebensdienstes. (d) Jesu Wundertaten Jesus wendet sich Armen, Aussätzigen, Frauen, Kranken, Sündern, Zöllnern und Heiden zu, weil ihnen in besonderer Weise die Freudenbotschaft aus Jes 61,1-2 gilt. Die Kräfte der nahen Gottesherrschaft erreichen sie schon jetzt wirkungsvoll: Lk 11,20: „Wenn ich aber durch den Finger Gottes die bösen Geister austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen“. (e) Jesu Toraauslegung In der Toraauslegung und -praxis Jesu (u.a. zum Liebesgebot, zum Sabbat, zur Reinheit, zur Sünde) gibt es eine grundlegende Kontinuität zur jüdischen Überlieferung. Indem Jesus einzelne Gebote der Tora innerhalb des Spektrums der zeitgenössischen Diskussionen von seiner Reich-Gottes-Verkündigung her profiliert, löst er die grundlegende Gültigkeit der Tora nicht auf, stellt sie aber in den Rahmen seiner Reich-Gottes-Verkündigung. (f) Jesu Beten Jesus betet und lehrt seine Jünger zu beten: „Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme ...“ (Mt 6,9-13 par Lk 11,2-4). (g) Die Seligpreisungen Jesu Jesus preist die Armen selig: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.“ (Mt 5,3). Die Parallele bei Lukas lautet bekanntlich: „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer“ (Lk 6,20). (h) Die Gottesreichgleichnisse Jesu In seinen Gottesreichgleichnissen veranschaulicht und verkündet Jesus die Nähe, die schon jetzt wirksamen Kräfte und die alle Vorstellung überbietende Vollendung der Königsherrschaft Gottes.
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(i) Das letzte Mahl Jesu, sein Tod und seine Auferstehung Jesus feiert mit seinen Jüngern ein letztes Abendmahl (ein letztes Paschamahl?), um ihnen sinnenhaft zu zeigen, dass allem Anschein zum Trotz sein gewaltsames Sterben ihn als Boten der Gottesherrschaft und mit ihm die Botschaft von der herangenahten Gottesherrschaft nicht widerlegt, sondern ins Recht setzt. Die Begleitworte Jesu zu seinen Abendmahlsgesten, wie immer sie im Einzelnen gelautet haben mögen, werden den Tod Jesu in ein positives Verhältnis zu seiner Botschaft gesetzt haben: Der Tod Jesu ist paradoxerweise der letzte, seine Sendung bekräftigende und erfüllende Dienst an der nahen Gottesherrschaft. Gottes Herrschaft, seine heilsame Sorge um seine Geschöpfe, hat im Tod keine unüberwindliche Grenze, im Gegenteil: Gottes Herrschaft setzt die Macht und alle Gestalten des Todes außer Kraft. Sie ist Gottes befreiender und erlösender Dienst an seinen Geschöpfen. 4. Paulus im Dienst der Versöhnung 4.1 Der Apostel als Diener Ausweislich seiner Briefe versteht Paulus seine apostolische Sendung grundlegend als Dienst und sich selbst als „Diener Jesu Christi“. Jürgen Roloff schreibt: Die Aussage, die das paulinische Selbstverständnis „am zentralsten wiedergibt, ist [die] des Dieners Jesu Christi“.14 Das Wort διακονέω κτλ. verwendet Paulus sowohl für seinen Dienst für Jesus Christus als auch für seinen Dienst für die Ekklesia (vgl. im Folgenden 4.2 zu 2 Kor). Dabei ist die Verkündigung des Evangeliums die Mitte seiner apostolischen Sendung (vgl. Röm 11,13; 2 Kor 3,3; 4,1; 5,18; 6,3; 11,8). Paulus versteht sich zusammen mit den anderen Aposteln als διάκονος (vgl. 1 Kor 3,5; vgl. Kol 1,7.23.25; 4,7.17). J. Roloff, Apostolat – Verkündigung – Kirche, Gütersloh 1965, 121. Vgl. hierzu auch A. Weiser, Art. διακονέω κτλ., EWNT I, 1980, 726– 732, hier: 728. 14
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Den Christen in Rom stellt sich Paulus einleitend als „Παῦλος δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ“ vor (Röm 1,1; vgl. Phil 1,1; 2 Kor 4,5; vgl. Tit 1,1). Der Apostel variiert hier die sonst vorherrschende Selbstbezeichnung als „Apostel Christi Jesu“ (1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1; Gal 1,1; vgl.; Eph 1,1; Kol 1,1; 1 Tim 1,1; 2 Tim 1,1). Das paulinische Selbstverständnis als diakonos bzw. doulos Jesu Christi erschließt sich inhaltlich von dem Inhalt seiner Verkündigung. Dem ist im Folgenden nachzugehen. 4.2 Der Dienst der Versöhnung Der 2. Korintherbrief bietet – neben Röm 5,1-11 – die dichteste Reflexion des Apostels zu seinem Selbstverständnis als Diener Jesu Christi, der im „Dienst der Versöhnung“ (2 Kor 5,16-21) steht. Der Abschnitt 2 Kor 2,14-7,4, in dem sich die zentralen Aussagen zum paulinischen „Dienst der Versöhnung“ finden, ist hinsichtlich seiner ursprünglichen Zuordnung umstritten: Ist der 2 Kor ursprünglich einheitlich oder in seiner heutigen Gestalt eine Kompilation mehrerer Paulusbriefe? Die Diskussion um die literarische Einheitlichkeit und die Rekonstruktion der jeweiligen Gemeindesituation, auf die Paulus mit seinen Ausführungen teilweise kritisch und polemisch Bezug nimmt, kann hier nicht aufgenommen werden.15 Grundlegend gilt: Paulus verteidigt sein Apostelamt, den Inhalt und die Praxis seiner Evangeliumsverkündigung gegen massive Infragestellungen: Es geht ums Ganze. Es geht um die Identität des Evangeliums Jesu Christi. Und in dieser zugespitzten Konfliktsituation verteidigt Paulus sich, indem er den konstitutiven Zusammenhang von Inhalt des Evangeliums, Verkündigung des Evangeliums und seinem Apostolat vor Augen führt. Anders formuliert: Die Konflikte in Korinth, die Paulus – da 15 Vgl. hierzu den Überblick bei T. Schmeller, Der Zweite Korintherbrief (2 Kor 1,1-7,4), EKK VIII/1, Neukirchen-Vlyun 2010, 19–40.
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er nicht vor Ort anwesend sein kann – zur Stellungnahme in Schriftform zwingen, provozieren den Apostel dazu, seine Evangeliumsverkündigung neu und vertieft zu reflektieren, um so mit der überzeugenderen Botschaft die irritierten Christen in Korinth zurückzugewinnen. Schauen wir auf die zentrale Passage im 2. Korintherbrief: 2 Kor 5,14-21: Im Dienst der Versöhnung 5,14 Denn die Liebe Christi drängt uns, zumal wir überzeugt sind, dass, wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben. 5, 15 Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist. 5,16 Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr. 5, 17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. 5, 18 Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt. 5, 19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. 5,20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Laßt euch versöhnen mit Gott! 5,21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
Paulus verwendet in 5,18 nicht διάκονος τῆς καταλλαγῆς sondern expressis verbis διακονία τῆς καταλλαγῆς. Er schreibt nicht „Diener der Versöhnung“, sondern „Dienst
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der Versöhnung“ und ergänzt: Diesen Dienst der Versöhnung hat Gott ihm „gegeben“. Martin Luther übersetzt διακονία an diesen Stellen bezeichnenderweise mit „Amt“. Paulus wählt diesen Unterschied hier ganz bewusst: Denn es geht ihm zunächst nicht um ihn selbst, um seine Person, sondern um den von Gott eingesetzten amtlichen Dienst der Versöhnung. Es geht ihm zunächst nicht darum, wie er den Auftrag Gottes ausführt, sondern darum, dass Gott einen amtlichen Dienst eingesetzt hat. Charakteristisch und unverzichtbar für dieses von Gott eingesetzte Amt ist nun sein inhaltliches Profil: Weil es um die Diakonia der Versöhnung geht, die Paulus beschwört, kann das Amt selbst mit dem Wort διακονία bezeichnet werden. Noch einmal anders formuliert: Amtlicher Auftrag und Bevollmächtigung sind in diesem Fall nicht vom Inhalt zu trennen; sie werden in letzter Konsequenz deckungsgleich: Die Versöhnungsbotschaft selbst, für die Paulus antritt, bestimmt und profiliert das Amt, das Paulus von Gott empfangen hat, und sie bestimmt in der Konsequenz seine persönliche Art, diesen Auftrag konkret auszufüllen. Betrachten wir die paulinische Argumentation ausführlicher. (a) An erster Stelle verkündet Paulus Gottes Versöhnungstat in Jesus Christus: 5, 18
5, 19
Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt (τὴν διακονίαν τῆς καταλλαγῆς). Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung (τόν λόγον τῆς καταλλαγῆς).
Inhaltlich variiert Paulus mit dem Wort von der in Christus von Gott geschenkten Versöhnung seine Kreuzestheologie (vgl. 1 Kor 1-3) und seine Rechtfertigungslehre (vgl.
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2 Kor 5,21; Gal; Röm): Versöhnung, Sündenvergebung, Überbrückung der Gottesferne wird allein durch Gott selbst, durch sein Handeln in Jesus Christus sola gratia ermöglicht. (b) An zweiter Stelle beschreibt Paulus das von Gott eingesetzte Amt als Dienstamt: Dieses Dienstamt entspricht der zentralen Botschaft, die es auszurichten hat: Es ist selbst diakonia, die die diakonia Jesu Christi bezeugt. (c) An dritter Stelle spricht Paulus von sich selbst: Er beansprucht, das ihm von Gott gegebene Dienstamt in der Weise des Dienens auszufüllen – in seiner Verkündigung, in seinem Leben. Er versteht sich als „Diener des neuen Bundes“ (2 Kor 3,6) und als doulos, als „Knecht Jesu Christi“ (Röm 1,1; vgl. Phil 1,1; 2 Kor 4,5; vgl. Tit 1,1). Zusammenfassend lässt sich die „Diakonia der Versöhnung“, die Paulus aufgetragen ist und durch die er als „Botschafter an Christi statt“ handelt (ὑπὲρ Χριστοῦ οῦν πρεσβέυομεν; 2 Kor 5,20), als der amtliche Dienst und die Lebensgestalt betrachten, die die Frucht des Lebens- und Todesdienstes Jesu Christi verkündet und den Glaubenden verbindlich zuspricht. 4.3 Diakonie bei Paulus Im Mittelpunkt der paulinischen Verkündigung steht die Botschaft von der Versöhnung mit Gott in Jesus Christus. Diese hat ihren Kern in dem Lebens- und Todesdienst Jesu (vgl. Phil 2,6-11).16 Paulus versteht sich durch seine Berufung zum Apostel Jesu Christi selbst zum doulos Jesu Christi berufen, ihm ist die amtliche diakonia der Versöhnung aufgetragen. Der Inhalt seiner Verkündigung prägt und bestimmt sein Leben in besonderer Weise, und auch das Leben aller Christen: Die durch den Lebensdienst Jesu 16
Zur Frage nach dem irdischen Jesus bei Paulus vgl. K. Scholtissek, „Geboren aus einer Frau, geboren unter das Gesetz“ (Gal 4,4). Die christologisch-soteriologische Bedeutung des irdischen Jesus bei Paulus, in: Paulinische Christologie. FS H. Hübner, hg. v. U. Schnelle, T. Söding unter Mitarbeit von M. Labahn, Göttingen 2000, 194–219.
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gewonnene Versöhnung ist nicht einfach nur ein forensischer Akt im Gnadengericht Gottes. Jesu Versöhnungstat verpflichtet zu einem Glauben, „der durch die Liebe wirksam wird“ (Gal 5,6). Anders formuliert: Christliches Ethos und christliche Ethik wurzeln im Sinne des Paulus in der endzeitlichen Heilssendung Jesu Christi. Mit den Worten von Traugott Holtz: „Denn der Christus-Weg enthüllt Jesus als den Christus Diakonos, der die ihm sich Anvertrauenden auf seinen Weg stellt.“17 Dies soll an einem Beispiel ausgeführt werden: 4.3.1 Die Kollekte für die Armen in Jerusalem als „diakonisches Unternehmen“18 Die von Paulus organisierte Kollekte für die „Armen“ in Jerusalem (Gal 2,10; 2 Kor 8-9; Röm 15,25-31) ist gemeindeübergreifend.19 Wichtig ist die Beobachtung, dass Paulus in ‚seinen‘ heidenchristlichen Gemeinden für die judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem sammelt, genauerhin für „die Armen der Heiligen in Jerusalem“ (Röm 15,26). Auffällig ist zudem der sprachliche Befund: διακονία und διακονέω kommen bei Paulus besonders häufig vor, wenn er von der Kollekte spricht: Röm 15,25.31; 2 Kor 8,4.19f.; 9,1.12.13. Paulus versteht διακονία und διακονέω im Kontext der Kollekte nicht nur 17
T. Holtz, Christus Diakonos. Zur christologischen Begründung der Diakonie in der nachösterlichen Gemeinde, in: G. K. Schäfer, T. Strohm (Hg.), Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, VDWI 2, Heidelberg 31989, 127–143, hier 131. 18 J. Gnilka, Die Kollekte der paulinischen Gemeinden für Jerusalem als Ausdruck ekklesialer Gemeinschaft, in: Ekklesiologie des Neuen Testaments (FS K. Kertelge), hg. v. R. Kampling, T. Söding, Freiburg 1996, 301–315, hier 302. 19 Vgl. hierzu im Überblick: Gnilka, Kollekte (Anm. 18); vgl. weiterführend auch K. Berger, Almosen für Israel. Zum historischen Kontext der paulinischen Kollekte, NTS 23, 1976/1977, 180–204; A. Lindemann, Hilfe für die Armen. Die Jerusalem-Kollekte des Paulus als „diakonisches Unternehmen“, in: ders., Glauben, Handeln, Verstehen. Studien zur Auslegung des Neuen Testaments, Bd. II, WUNT 282, Tübingen 2011, 253–283.
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als funktionale Hilfeleistung in einer akuten Notsituation, sondern als gottesdienstliches Geschehen: 2 Kor 9,12-15 12 Denn der Dienst dieser Sammlung (ἡ διακονία τῆς λειτουργίας) hilft nicht allein dem Mangel der Heiligen ab, sondern wirkt auch überschwänglich darin, dass viele Gott danken. 13 Denn für diesen treuen Dienst preisen sie Gott über eurem Gehorsam im Bekenntnis zum Evangelium Christi und über der Einfalt eurer Gemeinschaft mit ihnen und allen. 14 Und in ihrem Gebet für euch sehnen sie sich nach euch wegen der überschwänglichen Gnade (χάριν) Gottes bei euch. 15 Gott aber sei Dank für seine unaussprechliche Gabe (δωρεᾷ)!
Nach 2 Kor 9,12 bewirkt die Kollekte der Heidenchristen das Gotteslob der judenchristlichen Gemeinde, nach Röm 15,27 ist der gegenseitige Austausch von geistlichen und leiblichen Gütern Ausdruck der Einheit der Kirche Jesu Christi. Röm 15,25-27 25 Jetzt aber fahre ich hin nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen (διακονῶν τοίς ἁγίοις). 26 Denn die in Mazedonien und Achaja haben willig eine gemeinsame Gabe zusammengelegt für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem. 27 Sie haben‘s willig getan und sind auch ihre Schuldner. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen Gütern Anteil bekommen haben, ist es recht und billig, dass sie ihnen auch mit leiblichen Gütern Dienst erweisen (λειτουργῆσαι αὐτοῖς).
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Die materielle Hilfe für die Gemeinde in Jerusalem stellt sich bei Paulus als nota ecclesiae20 dar. Im diakonischen Dienst der Kollekte wird Gott verherrlicht, „weil in ihm der Gehorsam gegenüber dem Bekenntnis zum Evangelium sich Bahn bricht. Das Evangelium setzt den Dienst der Zuwendung zum Bedürftigen frei, dieser ist Ausdruck der Begegnung mit dem Auferstandenen.“21 Paulus denkt und argumentiert tiefgründig: Er bezeichnet die Kollekte als „Gnade Gottes“: 2 Kor 8,1-9: 1 Wir tun euch aber kund, liebe Brüder, die Gnade Gottes (τὴν χάριν τοῦ θεοῦ), die in den Gemeinden Mazedoniens gegeben ist. 2 Denn ihre Freude war überschwänglich, als sie durch viel Bedrängnis bewährt wurden, und obwohl sie sehr arm sind, haben sie doch reichlich gegeben in aller Einfalt. 3 Denn nach Kräften, das bezeuge ich, und sogar über ihre Kräfte haben sie willig gegeben 4 und haben uns mit vielem Zureden gebeten, dass sie mithelfen dürften an der Wohltat und der Gemeinschaft des Dienstes (τὴν χάριν καὶ τὴν κοινωνίαν τῆς διακονίας) für die Heiligen; 5 und das nicht nur, wie wir hofften, sondern sie gaben sich selbst, zuerst dem Herrn und danach uns, nach dem Willen Gottes. 6 So haben wir Titus zugeredet, dass er, wie er zuvor angefangen hatte, nun auch diese Wohltat (τὴν χάριν ταύτην) unter euch vollends ausrichte. 7 Wie ihr aber in allen Stücken reich seid, im Glauben und im Wort und in der Erkenntnis und in allem Eifer und in der Liebe, die wir in euch erweckt haben, so gebt auch reichlich bei dieser Wohltat (ἐν ταύτῃ τῇ χάριτι).
20 21
Holtz, Christus Diakonos (s. Anm. 17), 128. A.a.O., 129.
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Nicht sage ich das als Befehl; sondern weil andere so eifrig sind, prüfe ich auch eure Liebe, ob sie rechter Art sei. Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn (τὴν χάριν τοῦ κυρίου ἡμῶν) Jesus Christus: obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet.
Ausweislich von 2 Kor 8,1 ist die Kollekte eine Gnade Gottes: Mit χάρις ist grundlegend Gottes zuvorkommende, unverdiente Zuwendung gemeint.22 Hier wird die Kollekte mit ihren Ursachen und Wirkungen als sinnenfällige Gestalt der Gnade Gottes verstanden. Die Heidenchristen in den paulinischen Gemeinden dürfen „mithelfen an der Wohltat/Gnade und der Gemeinschaft des Dienstes für die Heiligen“ (2 Kor 8,4). Die Kollekte in den Gemeinden Mazedoniens gibt Anteil an der „Gnade und der Gemeinschaft des Dienstes“ (2 Kor 8,4). 2 Kor 8,9 korreliert die Gnade bzw. Gnadentat Jesu Christi unmittelbar mit der Kollekte, die in 8,1.4.6 und 7 ausdrücklich mit dem gleichen Begriff χάρις bezeichnet wird. Diese Entsprechung und Verbindung zwischen der Kollekte als konkretem diakonischem Hilfsprogramm, ihrer gottesdienstlichen Wirkung und der einen Gnadentat Jesu Christi wird noch durch die paradoxen Schlüsse zwischen Armut und Reichtum verstärkt: Jesus Christus wurde, obwohl er reich war, um der Menschen willen arm, damit die Glaubenden durch seine Armut reich werden (vgl. 2 Kor 8,9). Die Gemeinden Mazedoniens, die die geistlichen Güter ausgehend von der Gemeinde in Jerusalem bekommen haben und dadurch „reich“ geworden sind (vgl. Röm 15,27), geben materielle Güter an die Gemeinde in Jerusalem zurück und bereichern sie auch geistlich (vgl. 2 Kor 8,2.13-15).23
22 23
Vgl. K. Scholtissek, Art. Gnade. NT, HGANT, 22009, 223–225. Vgl. auch Lindemann, Hilfe (s. Anm. 19), 264–272.
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5. Zusammenfassung und Ausblick Überblicken wir Jesu gesamtes Leben, dann ist es sachgerecht, das Wirken Jesu in Wort und Tat unter dem Vorzeichen der Verkündigung der nahen Gottesherrschaft zu sehen und zu deuten: Jesu Selbstverständnis, seine Verkündigung in Wort und Tat – einschließlich seines Todes –, lassen sich zusammenfassen als messianischer Dienst an der nahen Gottesherrschaft: In Kontinuität mit seinem jüdischen Glauben verkündet Jesus die verheißene und ersehnte Königsherrschaft Gottes, die jetzt mit seinem Wirken in Wort und Tat Platz greift und ihre heilenden Kräfte entfaltet. In Kontinuität mit seinem jüdischen Glauben besteht die Königsherrschaft Gottes aus Gottes wirkmächtigem Dienst an seinen Geschöpfen, der in Jesu Sendung zeichenhaft aufleuchtet und zur Vollendung strebt: den Armen die frohe Botschaft zu bringen, zerbrochene Herzen zu heilen, Gefangenen Freiheit zu verkünden und Blinden die Sehkraft. Darin kommt die Sendung Jesu, auch sein Weg in den Tod und durch den Tod hindurch, zum Ziel: Jesus lebt und stirbt im messianischen Dienst an der nahen Gottesherrschaft (vgl. Mk 10,45): Dabei ist die noch ausstehende Vollendung der Gottesherrschaft selbst inhaltlich von Gottes heilsamen Dienst an seinen Geschöpfen bestimmt. Der Apostel Paulus verwendet das Wortfeld διακονέω κτλ. sowohl für die Evangeliumsverkündigung und ihre konkrete Gestalt (vgl. Phlm 19f.) als auch für konkrete Hilfsdienste (vgl. die Kollekte). Gerade die Verschränkung beider Sinnebenen und die konkrete Zuordnung von Heilsdienst und Hilfsdienst bei Paulus bezeugt das paulinische Profil der Verwendung von διακονέω κτλ.24 Bei
24
Traugott Holtz sieht bei Paulus eine neue inhaltliche Prägung der Wortfamilie von διακονία gegeben, für die es weder in der hellenistischen Umwelt noch im AT bzw. in der LXX eine unmittelbare Voraussetzung gegeben habe; vgl. ders., Christus Diakonos (Anm. 17), 133.
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Paulus umfasst der Begriff διακονία „alles Handeln in der Gemeinde …, das von Jesus Christus bestimmt ist. Die Signatur des spezifisch christlichen Handelns ist Diakonia.“25 Paulus erkennt und verkündet im Leben, Sterben und in der Auferstehung Jesu einen im emphatischen Sinn des Wortes erlösenden Heilsdienst: Jesus selbst dient mit seinem Leben und Sterben dem ganzheitlichen Heil, der Rechtfertigung bzw. Versöhnung des glaubenden Menschen. Dieser Heilsdienst Jesu Christi wird bezeugt in der „Diakonia der Versöhnung“ (2 Kor 5,18), die Paulus als Apostel und Diener des Evangeliums, aufgetragen ist. Bei Paulus selbst und bei allen Christen erweist sich die Verkündigung der „Diakonia der Versöhnung“ in wirksamen, konkret helfenden „Gaben“ bzw. „Gnadengaben“. Diese Gnadengaben sind selbst Früchte der rettenden Hilfe Gottes und bezeugen diese verbal und nonverbal. Von der Botschaft Jesu und von dem Zeugnis des Paulus her hat alles christliche Handeln eine diakonische Dimension: Im christlichen Handeln verschränken sich Hilfsdienst und Heilsdienst. Das von Gott irreversibel verheißene Heil für seine Geschöpfe (die vollendete „Gottesherrschaft“) ist der biblischen Anthropologie entsprechend ganzheitlich: Die Rettung des Menschen, sein ewiges Heil, kann nicht getrennt werden von seinem irdischen und leiblichen Wohlergehen. Anders formuliert: In der helfenden Zuwendung zu hilfebedürftigen Menschen wird die den Menschen dienende, sie heilende und erlösende Zuwendung des Schöpfers zu seinen Geschöpfen wirksam. Ihren heilsgeschichtlich abschließenden Ausdruck findet diese Zuwendung Gottes in dem Lebens- und Todesdienst Jesu Christi. In seiner Nachfolge und in seinem Auftrag können Menschen die ihnen gegebenen Charismen als Dies wäre eingehender zu prüfen! Vgl. weiterführend: Collins, Diakonia (Anm. 4); Schmidt, Diakonische Konturen (Anm. 4); Hentschel, Diakonia (Anm. 4). 25 Holtz, Christus Diakonos (Anm. 17), 137.
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aufbauende Dienstleistungen einsetzen. Dabei dürfen sie darauf vertrauen, dass sie so Zeugnis geben von der heilenden Zuwendung Gottes, aus der sie selbst leben. Kirchliches Handeln und diakonisches Handeln verhalten sich nicht additiv zueinander; sie haben den gleichen Ursprung. Aufgrund dieser neutestamentlich-theologischen Überlegungen ist es nicht nur zutreffend, sondern zwingend, die Diakonie als Wesens- und Lebensäußerung der Kirche zu verstehen.
Karl-Wilhelm Niebuhr
Lebenshingabe als Grundimpuls Jesu Eine Skizze zur Proexistenz als biblischer Grundlage für eine Theologie der Diakonia Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. Mk 10,45
Vorbemerkung Die folgenden Überlegungen stellen einen Versuch dar, das vorösterliche Wirken Jesu unter dem Begriff der Diakonia mit der Deutung seines Sterbens im Sinne heilsamer Lebenshingabe für die Vielen, wie sie die frühe nachösterliche Überlieferung zum Ausdruck gebracht hat, zu verbinden. Auf diese Weise soll im Zentrum des neutestamentlichen Kerygmas, der Verkündigung von Tod und Auferweckung Jesu Christi als Heilsbotschaft für alle Menschen, die solchen Heils bedürfen, ein theologischer Ansatzpunkt für das diakonische Handeln von Christen und Kirchen heute aufgewiesen werden. Als methodischen und hermeneutischen Zugang verwende ich im Folgenden die klassischen Methoden der „historisch-kritischen“ Exegese1 der synoptischen Evangelien bzw. lege sie meiner exegetischen Argumentation zugrunde: Die Literarkritik wende ich auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie an, wobei ich freilich der Annahme
1
Zu ihrer aktuellen Diskussion vgl. S. Vollenweider, Die historischkritische Methode – Erfolgsmodell mit Schattenseiten. Überlegungen im Anschluss an Gerhard Ebeling, ZThK 114, 2017, 243–259; K. Backhaus, Aufgegeben? Historische Kritik als Kapitulation und Kapital von Theologie, ZThK 114, 2017, 260–288.
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einer literarischen Gestalt der Logienquelle skeptisch gegenüberstehe und zunehmend Sympathien für einen Ansatz entwickle, der ganz auf eine solche hypothetische zweite Quelle für Matthäus und Lukas neben Markus verzichten kann.2 Formgeschichtlicher Methodik folge ich insofern, als ich von der Existenz und in gewissem Maße auch von der Entwicklung und Weitergabe vorliterarischer, im Wesentlichen mündlicher Überlieferungsstücke ausgehe, die in verschiedenen Gruppen von Jesus-Anhängern nach Ostern und vor der Abfassung literarischer Jesus-Erzählungen gesammelt, bearbeitet, erweitert und möglicherweise auch schon in geprägten Zusammenstellungen („Sammlungen“) tradiert worden sind,3 wobei ich allerdings die Skepsis der neueren Synoptikerforschung gegenüber der Rekonstruktion eines konkreten „Sitzes im Leben“ in bestimmten nachösterlichen „Gemeinden“ ebenso wie des ursprünglichen Wortlautes solcher Überlieferungsstücke teile.4 Redaktionsgeschichtliche Argumente verwende ich, soweit sie auf der Herausarbeitung markanter narrativer Profile und theologischer Eigenarten der einzelnen Synoptiker basieren,5 nicht aber, um „Theologien“ unterschiedlicher „Gemeinden“ zu rekonstruieren und gegeneinander abzusetzen.6 Auch einer „Rückfrage
2
Vgl. zur aktuellen Diskussion F. Watson, Gospel Writing. A Canonical Perspective, Grand Rapids, Cambridge 2013, sowie das Themenheft Synoptische Hypothesen, ZNT 43/44, Jg. 22, 2019. 3 Vgl. exemplarisch für diesen methodischen Ansatz K. Scholtissek, Die Vollmacht Jesu. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen zu einem Leitmotiv markinischer Christologie, NTA 25, Münster 1992, 137–173. 4 Vgl. zum Stand der Diskussion J. Schröter, C. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, insbesondere die einleitenden Kapitel zur Geschichte der historisch-kritischen Jesusforschung, a.a.O., 4–124. 5 Für Markus kann hier exemplarisch auf den Sammelband von T. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevangelium, SBS 163, Stuttgart 1995, verwiesen werden. 6 Vgl. dazu R. Bauckham, For Whom Were Gospels Written?, in: ders. (Hg.), The Gospels for All Christians. Rethinking the Gospel Audiences, Edinburgh 1998, 9–48.
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nach Jesus“ stehe ich nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, wenngleich dabei die Rekonstruktion einer ipsissima vox oder auch nur einer ipsissima intentio Iesu nicht das primäre Ziel sein kann, vielmehr die Verankerung der synoptischen Jesus-Überlieferung (der „erinnerte Jesus“7) in dem geschichtlichen Wirken des Mannes aus Nazaret aus historischen wie theologischen Gründen unerlässlich und auch an der Analyse von Texten aufweisbar ist.8 Meines Erachtens lassen sich mit Hilfe dieser exegetischen Methodik geschichtliche Konturen des vorösterlichen Wirkens Jesu ausreichend klar herausarbeiten,9 die auch einer theologischen Interpretation seines Todes zugrunde gelegt werden können. Für eine gegenwartsbezogene theologische Argumentation und Interpretation der neutestamentlichen Texte im Sinne normativer Grundlagen für kirchliche Lehrbildung und kirchliches Handeln ist der Gesamtzusammenhang von Wirken, Weg und Geschick Jesu aus der Deutungsperspektive („im Licht“) des Ostergeschehens maßgeblich. Diesen Gesamtzusammenhang zu erfassen und für die theologische Urteilsbildung zu gebrauchen, ist m.E. auch möglich, sofern die Zeugnisse der neutestamentlichen Evangelien (in geringerem Maße auch der übrigen
Vgl. zu diesem Konzept vor allem J. Schröter, Der „erinnerte Jesus“: Erinnerung als geschichtshermeneutisches Paradigma der Jesusforschung, in: ders., Jacobi, Jesus Handbuch (Anm. 4), 112–124, aber auch das große Werk von J. D. G. Dunn, Jesus Remembered, Grand Rapids, Cambridge 2003. 8 Vgl. K.-W. Niebuhr, Welchen Jesus predigen wir? Überlegungen im Anschluss an Martin Kähler, Sacra Scripta 9, 2011/12, 123–142. Exemplarisch habe ich versucht, diesen Ansatz im Blick auf die Heilungen und Exorzismen durchzuführen, vgl. ders., Jesu Heilungen und Exorzismen. Ein Stück Theologie des Neuen Testaments, in: W. Kraus, ders. (Hg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie. Mit einem Anhang zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, WUNT 162, Tübingen 2003, 99–112. 9 Vgl. dazu meine Skizze: K.-W. Niebuhr, Jesus, in: ders. (Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung, Göttingen 52020, 403–430. 7
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neutestamentlichen Schriften) im Rahmen einer differenzierten Hermeneutik untersucht und systematisch interpretiert werden. Das Instrumentarium dafür habe ich an anderer Stelle beschrieben.10 Im Folgenden möchte ich drei Thesen vorlegen und begründen, eine historische, eine exegetische und eine theologische. Die historische These lautet: Der Tod Jesu war historisch betrachtet Konsequenz und Vollendung seines Wirkens in Galiläa und Jerusalem. Verschiedene Komponenten des Wirkens und der Verkündigung Jesu,11 wie sie sich mit den klassischen Methoden der Synoptikerexegese ermitteln lassen, kamen in den letzten Tagen Jesu in Jerusalem zusammen, spitzten sich im Gang der Ereignisse zu und führten historisch nachvollziehbar zu seiner gewaltsamen Tötung. Die wichtigsten Elemente dabei waren: der provokative Einsatz Jesu für materiell-physisch Benachteiligte und „Randsiedler“ der galiläisch-jüdischen Gesellschaft (Heilungen; Tischgemeinschaften mit gesellschaftlich marginalisierten Personen wie Prostituierten, „Zöllnern und Sündern“ als „prophetische Zeichenhandlungen“), die prophetisch-präsentische Ansage der endzeitlichen Herrschaft Gottes („Basileia-Verkündigung“), die Sammlung eines innersten Kreises von Anhängern („Nachfolgern“), der in Gruppengestalt („die Zwölf“) und äußerlich wahrnehmbarer Lebensweise ebenfalls Zeichencharakter hatte, der exklusiv-endzeitliche Anspruch Jesu, in seinem eigenen Reden und Tun die Gegenwart Gottes personal zu verkörpern, die daraus resultierenden Konflikte mit Meinungsführern der jüdischen Eliten in Galiläa sowie die aktuelle politische 10 Vgl. K.-W. Niebuhr, Jesu Wirken, Weg und Geschick. Zum Ansatz einer Theologie des Neuen Testaments in ökumenischer Perspektive, ThLZ 127, 2002, 3–22; ders., Schriftauslegung in der Begegnung mit dem Evangelium, in: F. Nüssel (Hg.), Schriftauslegung, Themen der Theologie 8, Tübingen 2014, 43–103. 11 Vgl. dazu W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments. Bd. I: Kriterien aufgrund der Rückfrage nach Jesus und des Glaubens an seine Auferweckung, Münster 21996, 37–43.57–112.
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Lage in Jerusalem, insbesondere das Agieren römischer Provinzbehörden und jüdischer Eliten der Stadt. Jesus hat in seinen letzten Lebenstagen an seinem Anspruch ebenso wie an zentralen Inhalten seines Wirkens festgehalten, im Wissen darum, dass ihn dies sein Leben kosten würde. Will man nicht annehmen, dass Jesus ahnungs- und gottlos auf seinen Tod zugegangen ist,12 muss man den Zusammenhang zwischen seinem Wirken und seinem Geschick im Blick auf seine Biographie und sein „Selbstverständnis“ sowohl historisch als auch theologisch verständlich machen. Dafür bieten sich Verstehensvoraussetzungen der biblisch-frühjüdischen Tradition an, wie sie für das Leben und Wirken Jesu nachweislich bestimmend waren. In Frage kommen dafür insbesondere die Überlieferung vom gewaltsamen Geschick der Propheten und vom stellvertretenden Leiden und Sterben der Gerechten bzw. des Gottesknechts. Beide Traditionen dienten dazu, angesichts bevorstehenden Leidens und Sterbens am Glauben an die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit des Gottes Israels festzuhalten. Jesus wird sein eigenes Geschick in diesem Licht verstanden haben können. Die exegetische These lautet: Das Menschensohn-Wort Mk 10,45 gehört ursprünglich in den Zusammenhang der vorliterarischen Passions-, genauer, der Herrenmahlüberlieferung und bietet einen Zugang zur frühesten nachösterlichen Deutung des Todes Jesu als Sühnegeschehen. In allen vier Evangelien ist die Passionsdarstellung theologisch bestimmt vom Osterglauben, narrativ strukturiert durch den Gang der Ereignisse in den letzten Tagen Jesu, wie er im Wesentlichen in der markinischen Passionsgeschichte erkennbar wird, und historisch verifizierbar anhand vorliterarischer Traditionen und einer Rekonstruktion der Ereigniszusammenhänge mit dem Instrumen-
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Das war im Rahmen zeitgenössischer hellenistisch-römischer Philosophie immerhin auch eine respektable Möglichkeit, s. die Epikureer oder Seneca!
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tarium historisch arbeitender Exegese. Für die hier zu untersuchende Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Todesgeschick Jesu und seiner Deutung sind folgende Elemente innerhalb der Passionsüberlieferung entscheidend: der chronologische Ablauf der Ereignisse während der letzten Tage Jesu vom Einzug in Jerusalem bis zur Kreuzigung auf Golgota, insbesondere die Komprimierung der Ereignisse auf wenige Tage vor dem Passafest, der aufsehenerregende Akt einer Aktion Jesu im Tempel im Sinne einer momentan-zeichenhaften Außerkraftsetzung des Sühnopferkults, die enge Interaktion und Kommunikation Jesu mit dem Zwölferkreis während der Jerusalemer Tage, insbesondere ein gezielt bedeutungsvoll gestaltetes Abschiedsmahl mit ihnen.13 Hinzu kommen Einzelüberlieferungen, die auf den Tod Jesu vorausblicken, aber im narrativen Aufriss der Evangelien bei und seit Markus an anderen Stellen eingeordnet sind, insbesondere Konflikt-Logien,14 Streitgespräche15 und Leidensankündigungen.16 Analysiert man diese Überlieferungen form- und redaktionsgeschichtlich, dann gibt es Gründe, einige der außerhalb der Passionsgeschichte(n) überlieferten Logien traditionsgeschichtlich der ältesten vorliterarischen Passionsüberlieferung zuzuweisen, so insbesondere Mk 10,45. Die theologische These lautet: Geht man von dem Menschensohn-Wort Mk 10,45 als Deutung des bevorstehenden Leidens und Sterbens Jesu aus, dann erschließt sich der theologische Sinn des Wirkens Jesu unter der Kategorie der Lebenshingabe als Dienst (διακονία). Mit der Kategorie der Diakonia lassen sich die inneren Zusammenhänge zwischen der helfenden Zuwendung Jesu zu den Bedürftigen in Galiläa, seiner Lebenshingabe in Konsequenz seines Wirkens im Sinne des gewaltsamen S. die Einzugsüberlieferung, die „Endzeitrede“, das letzte Mahl, Getsemani, die Jüngerflucht bei der Gefangennahme. 14 Besonders Menschensohn-Worte, vgl. Mk 2,10; 2,28. 15 Z.B. die Beelzebul-Perikope: Mk 3,22-30. 16 Besonders die dreifache Textfolge in Mk 8 – 9 – 10 parr.; vgl. aber auch schon Mk 3,6. 13
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Geschicks des endzeitlichen Propheten und Gottesknechts in Jerusalem am Kreuz und der Deutung dieses Lebensund Sterbensgeschicks Jesu als eines „Geschicks“ Gottes in seinem heilsamen Handeln an seinem Volk und der ganzen Schöpfung als „Pro-Existenz“ deuten.17 Auf diese Weise kann eine zentrale soteriologische Kategorie der christlichen Verkündigung, die Heilsbedeutung des Todes Jesu, „nach vorn“ verbunden werden mit einem Grundzug des vorösterlichen Wirkens Jesu und zugleich „nach hinten“ mit einem Modell für kirchliches und christliches Handeln in der Nachfolge Jesu. Lebenshingabe in der Nachfolge Jesu kann so als Leitvorstellung kirchlicher Diakonie in einem weiten Sinn entwickelt werden, für deren Entfaltung natürlich noch weitere Motive der biblischen Überlieferung heranzuziehen wären. 1. „Proexistenz“ in der Lebenshingabe Jesu – Mk 10,45 in der synoptischen Überlieferung Ich beginne mit der Begründung meiner exegetischen These. Für die drei Ankündigungen über das bevorstehende Leiden, Sterben und Auferwecktwerden Jesu im Aufriss des Markusevangeliums18 ist die Textsequenz (1) Wort vom Leiden, Sterben und Auferstehen des Menschensohnes, (2) Nachfolgeworte und (3) Jüngerverhalten charakteristisch. Während Matthäus diese Textfolge an allen drei Stellen von Markus komplett übernimmt, fehlt bei Lukas nach der dritten Leidensankündigung die Perikope von der Zebedaiden-Bitte mit den nachfolgenden Logien 17
Meinen Überlegungen liegt das Denkmodell von Heinz Schürmann zugrunde, wie es in den beiden Büchern: H. Schürmann, Gottes Reich – Jesu Geschick. Jesu ureigener Tod im Licht seiner Basileia-Verkündigung, Freiburg u.a. 1983, und: ders., Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994, in zahlreichen Einzelstudien entwickelt und begründet worden ist. 18 Mk 8,31-33; 9,30-32; 10,32-34 parr. Vgl. dazu A. Weihs, Die Deutung des Todes Jesu im Markusevangelium. Eine exegetische Studie zu den Leidens- und Auferstehungsansagen, fzb 99, Würzburg 2003, zu Mk 10,45 in seinem markinischen Kontext 158–167.441–452.
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zur Leidensnachfolge der Jünger (Mk 10,35-45). Parallelen zu diesem Textkomplex finden sich bei Lukas erst im Zusammenhang seiner Passionsgeschichte im Anschluss an den Bericht vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern, wo Lukas nach der Bezeichnung des Verräters (Lk 22,21-23) eine Art Tischgespräch zum Thema Jüngerverhalten und Nachfolge gestaltet, und zwar mit folgenden Bestandteilen: Streit um den höchsten Rang und Worte vom Herrschen und Dienen (22,24-27), Zusage der endzeitlichen Mahlgemeinschaft und des Richtens über die zwölf Stämme Israels (22,28-30), Zusage an Simon und Ankündigung der Verleugnung des Petrus (22,31-34), Aussendungsworte und Motiv der „Schwerter“ mit Zitat von Jes 53,12 (22,35-38).19 Innerhalb des ersten Redegangs der Tischgespräche nach der Bezeichnung des Verräters findet sich auch die Parallele zur markinischen Perikope vom Rangstreit (Mk 10,41-45), allerdings ohne das Menschensohn-Wort vom Dienen (Mk 10,45).20 Im Blick auf die Traditionsgeschichte von Mk 10,4521 wird das meist so gedeutet: Lukas habe die markinische 19
Vgl. W. Wiefel, Das Evangelium nach Lukas, ThHK 3, Berlin 1987, 361; Die klassische Untersuchung dazu stammt von H. Schürmann, Jesu Abschiedsrede: Lk 22,21-38. Eine quellenkritische Untersuchung des Lukanischen Abendmahlsberichtes, Bd. 3, NTA 20/5, Münster 1957; er sieht in dem lukanischen Textzusammenhang eine Art testamentarischer Rede. Vgl. auch W. Kurz, Luke 22:14-38 and Greco-Roman and Biblical Farewell Addresses, JBL 104, 1985, 251–268. 20 Zum näheren Textzusammenhang bei Lukas vgl. M. Wolter, Das Lukasevangelium, HNT 5, Tübingen 2008, 710–720. 21 Eine sehr detaillierte und weitreichende Studie dazu hat J. Roloff, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk. x. 45 und Lk. xxii. 27), NTS 19, 1972, 38–64, vorgelegt. Er arbeitet dabei, ähnlich wie Schürmann, Jesu Abschiedsrede (Anm. 19), und J. Jeremias, Das Lösegeld für Viele (Mk. 10,45), in: ders., ABBA. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 216– 229, mit der Annahme einer vorlukanischen Sondertradition für den Passionsbericht neben der vormarkinischen Überlieferung, der sich das Logion Mk 10,45 verdanke. Ein Bezug des Lösegeld-Wortes auf Jes 43,3f.; 53,11f. kann kaum in Abrede gestellt werden, vgl. dazu komprimiert P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 120f., sowie J.
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Textfolge bewusst verändert, weil er zum einen Probleme mit der soteriologischen Deutung des Todes Jesu im Sinne von Mk 10,45 (λύτρον ἀντὶ πολλῶν) hatte,22 zum andern im Rahmen seiner Passionsgeschichte mit unterschiedlichen Stücken aus verschiedenen Vorlagen eine eigenständige Symposiumsszene gestalten wollte.23 Dafür spricht, dass Lukas bei seiner Fassung der Perikope vom Rangstreit unter den Jüngern (22,24-27) gerade das Menschensohn-Wort von der Lebenshingabe auslässt24 und dass er auch sonst auf eine sühnetheologische Deutung des Sterbens Jesu verzichtet.25 So ersetzt er im Bericht vom letzten Mahl beim Kelchwort den Ausdruck τὸ αἷμά μου τῆς διαθήκης τὸ ἐκχυννόμενον ὑπὲρ πολλῶν26 durch die Wendung ἡ καινὴ διαθήκη ἐν τῷ αἵματί μου, τὸ ὑπὲρ ὑμῶν
Marcus, Mark 8-16. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 27/A, New Haven 2009, 746–757; G. Guttenberger, Das Evangelium nach Markus, ZBK 2, Zürich 2017, 248f.; W. Klaiber, Das Markusevangelium, Neukirchen-Vluyn 2010, 204. 22 Vgl. z.B. U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 463 (mit Verweis auf H. Conzelmann als einen zentralen Urheber dieser Sicht), und exemplarisch P. Pokorný, Theologie der lukanischen Schriften, FRLANT 174, Göttingen 1998, 149: „Wenn bei Paulus und Markus das Leben Jesu die Vorgeschichte seines heilbringenden Todes ist, so ist bei Lukas der Tod Jesu der feierliche und bestätigende Abschluß seines heilbringenden Lebens.“ 23 Zur Analyse der lukanischen Passionsgeschichte insgesamt vgl. Wolter, Luk (Anm. 20), 686–692. Zur Intention der Texteinheit Lk 22,24-30 bei Lukas P. K. Nelson, The Unitary Character of Luke 22.24-30, NTS 40, 1994, 609–619, 618: „Luke would have its audience see the discipleship pattern in vv. 24-30 as one which, in a sense, involves a dying and rising with Jesus Christ.“; vgl. ders., Leadership and Discipleship. A Study of Luke 22:24-30, SBL.DS 138, Atlanta 1994. 24 Jeremias, Das Lösegeld für Viele (Anm. 21), 224–227, wollte die Differenz damit erklären, dass Lukas hier nicht Markus, sondern „seiner Sonderquelle folgt“, die eine „heidenchristliche Fassung“ „frei von Semitismen“ überliefert und „alles hellenistischem Empfinden Fremde“ vermieden habe. 25 Vgl. aber als prononcierte Gegenstimme U. Mittmann-Richert, Der Sühnetod des Gottesknechts. Jesaja 53 im Lukasevangelium, WUNT 220, Tübingen 2008, zu Lk 22,14-38 a.a.O., 110–176. 26 Mk 14,24; bei Mt 26,28: περὶ πολλῶν.
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ἐκχυννόμενον (22,20), die sich im Sinne einer stellvertretenden Lebenshingabe für die Jünger auch ohne sühnetheologische Beiklänge verstehen lässt.27 Muss man aber daraus auch schließen, dass die Einordung der Perikope vom Rangstreit unter den Jüngern und damit auch des mit ihr verbundenen Menschensohn-Wortes bei Markus außerhalb der Passionsgeschichte und der Tradition vom letzten Mahl ursprünglich ist (im Sinne der Annahme eines „Sitzes im Leben“ in der vormarkinischen SpruchÜberlieferung), also mit der eigentlichen Passionsüberlieferung gar nichts zu tun hätte? Ich glaube nicht. Das Schema der drei Leidensankündigungen bei Markus ist eindeutig redaktionell und verdankt sich gezielter literarischer Gestaltung durch den Evangelisten,28 der sich dazu verschiedener, ursprünglich voneinander unabhängiger Überlieferungsstücke bedient, darunter insbesondere Menschensohn-Worte und Nachfolgesprüche. Demgegenüber gibt es eine Reihe von thematischen Bezügen zwischen den Logien in Lk 22,24-38 und dem Passionsgeschehen bzw. der Zeit nach dem Tod Jesu: − Essen und Trinken mit Jesus in seinem Reich (vgl. Mk 14,25) − Richten der zwölf Stämme als endzeitliche Zukunftsansage (vgl. Mt 19,28 [Q?]) − Worte zum künftigen Glauben Simons (Sondergut) Wolter, Luk (Anm. 20), 705 und 708: „Der ‚neue Bund‘ ist für Lukas also nicht der Heilstod Jesu, sondern die in V. 20 erzählte und gedeutete Becherhandlung.“ 28 Zur Komposition Mk 8,22-10,52 vgl. Marcus, Mk (Anm. 21), 589f.; Guttenberger, Mk (Anm. 21), 193–254, sowie K. Scholtissek, „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Die messianische Diakonie Jesu und der Christusgläubigen im Markusevangelium, in diesem Band 91–125. S.a. N. R. Petersen, Die Zeitebenen im markinischen Erzählwerk. Vorgestellte und dargestellte Zeit, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, SBS 118/119, Stuttgart 1985, 93–135 (bes. 110–119); C. Breytenbach, Das Markusevangelium als episodische Erzählung. Mit Überlegungen zum „Aufbau“ des zweiten Evangeliums, a.a.O., 137–169. 27
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− Ankündigung der Verleugnung des Petrus (vgl. Mk 14,29f.) − Schwertwort (Sondergut) − Vollendung der Prophetie vom Gottesknecht nach Jes 53,12 (Sondergut) Lukas hat also aus allen ihm zur Verfügung stehenden Schichten der Jesus-Überlieferung (vermutlich neben seiner Markus-Vorlage und aus „Q“ auch aus anderen mündlichen Überlieferungen) eine eigene Textfolge gebildet, nicht einfach die Perikope vom Rangstreit aus seiner Markus-Vorlage „umgestellt“ und gekürzt. Wenn man nach einem vorliterarischen Überlieferungskontext der bei Lukas zusammengestellten Logien fragt, dann deutet vieles auf die frühe nachösterliche Passionsüberlieferung, und zwar auf mündliche, noch nicht zu einem (vormarkinischen) Passionsbericht zusammengeführte Traditionsstücke. Insbesondere der Blick über Jesu Tod hinaus auf Herausforderungen der Jünger-Nachfolge nach der Kreuzigung Jesu, auf Konflikte mit anderen Angehörigen „Israels“, die Fürbitte Jesu für Simon und die Aufforderung zum Festhalten am Glauben angesichts des Fernseins Jesu sowie die geradezu „johanneisch“ klingende Zusage, die Königsherrschaft zu empfangen, wie Jesus sie vom Vater empfangen hat (22,29), lassen Erfahrungen der nachösterlichen Jesusanhänger „durchscheinen“. Auch der Ausblick über seinen bevorstehenden Tod hinaus auf die endzeitliche Gemeinschaft mit Jesus, das gemeinsame Essen und Trinken im Reich Gottes, entspricht einem wichtigen Motiv der frühesten nachösterlichen Herrenmahlüberlieferung und dürfte dort wohl auch seinen „Sitz im Leben“ haben.29 Die Verheißung, die zwölf 29
Vgl. Mk 14,25; 1Kor 11,26! Zur schwierigen Frage nach den Ursprüngen des „eschatologischen Ausblicks“ in der Herrenmahl-Überlieferung vgl. H.-J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum 1. Korintherbrief, NTA 15, Münster 21986, 320–323; H. Löhr, Entstehung und Bedeutung des Abendmals im frühesten Christentum, in: ders. (Hg.), Abendmahl, Themen der Theologie 3, Tübingen 2012, 51–94. Zweifellos handelt es
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Stämme Israels zu richten (22,28-30),30 deutet ebenfalls auf eine eher frühe Phase der nachösterlichen Überlieferung, in der der Ausdruck „die Zwölf“ für den engsten vorösterlichen Anhängerkreis Jesu noch nicht „historisierend“ problematisiert31 worden war (vgl. 1Kor 15,5!). Die Simon- und Petrus-Worte (22,31-34) erinnern wiederum sich bei Paulus und Markus um „zwei durchaus unterschiedliche eschatologische Erwartungen“ (a.a.O., 61), die aber doch beide auf denselben Mahlzusammenhang verweisen, was für eine Verbindung der beiden Elemente Mahl Jesu und endzeitlicher Ausblick schon in der vorpaulinischen Herrenmahltradition sprechen dürfte. 30 Vgl. zur Perikope als Bestandteil der Q-Überlieferung P. Hoffmann, Herrscher in oder Richter über Israel? Mt 19,28 / Lk 22,28-30 in der synoptischen Überlieferung, in: Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels (FS W. Schrage), hg.v. K. Wengst, G. Saß, Neukirchen-Vluyn 1998, 253–264. 31 Vgl. F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas. 4. Teilband: Lk 19,2824,53, EKK III/4, Neukirchen-Vluyn, Düsseldorf 2009, 268–270; H. Klein, Das Lukasevangelium, KEK I/3, Göttingen 2006, 671f. Zum Ursprung der „Zwölf“ im Wirken Jesu vgl. M. Hengel, A.-M. Schwemer, Jesus und das Judentum. Geschichte des frühen Christentums, Bd. I, Tübingen 2007, 365–371. Möglicherweise verdankt sich die Streichung des ersten δώδεκα bei Mt 19,28 („ihr werdet auf zwölf Thronen sitzen“) durch Lukas schon einer solchen „historisierenden“ Tendenz, die in Apg 1,15-26 dann narrativ ausgeführt wird. Vertreter der klassischen Q-Hypothese sehen in Lk 22,28-30 gern das „Ende von Q“ (nach einem Aufsatztitel von E. Bammel). So wird die Perikope meist auch in den entsprechenden Editionen und Übersetzungen wiedergegeben, vgl. J. M. Robinson, P. Hoffmann, J. S. Kloppenborg (Hg.), The Critical Edition of Q. Synopsis including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas with English, German, and French Translations of Q and Thomas, Leuven 2000, 558–561; P. Hoffmann, Q 22,28.30. You will Judge the Twelve Tribes of Israel, hg. v. C. Heil, Documenta Q, Leuven 1998; M. Tiwald, Die Logienquelle. Text, Kontext, Theologie, Stuttgart 2016, 70; P. Hoffmann, C. Heil (Hg.), Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch und Deutsch, Darmstadt, Leuven 2002, 112f.; skeptisch demgegenüber aber J. S. Kloppenborg, The Formation of Q. Trajectories in Ancient Wisdom Collections, Harrisburg 1999, 85f.; ders., Excavating Q. The History and Setting of the Sayings Gospel, Edinburgh 2000, 83; ganz dagegen U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 3. Teilband: Mt 18-25, EKK I/3, Zürich und Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 1997, 121, weil das Logion „sowohl bei Mt als auch bei Lk völlig isoliert von anderen Q-Texten erscheint“ (auch Luz hält die matthäische Fassung mit zweimal δώδεκα für ursprünglicher).
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an den Ereigniszusammenhang des Passionsgeschehens (vgl. Mk 14,29-31 parr.), sind aber anders in die Erzählfolge eingeordnet als bei Markus (bzw. schon in der vormarkinischen Passionsüberlieferung); auch das deutet auf eine eher frühe Überlieferungsstufe. Wenn aber so viele der bei Lukas in 22,24-38 zusammengeführten Traditionsstücke aus der frühesten nachösterlichen, nicht-markinischen Passionsüberlieferung stammen, warum soll das dann nicht auch für die Perikope vom Dienen gelten (22,24-27)? Dass sie sachlich in diesen Zusammenhang gehört,32 ist offenkundig. Dass sie unabhängig vom narrativen Zusammenhang des Passionsgeschehens verständlich ist, spricht nicht gegen eine solche traditionsgeschichtliche Einordnung, sondern eher dafür. Auch das Argument, Lukas habe die sühnetheologischen Assoziationen der Perikope gezielt getilgt, lässt sich bei dieser Annahme ohne weiteres beibehalten, vielleicht sogar verstärken: Mit dem aus seinem Sondergut bezogenen Verweis auf Jes 53,12 hatte Lukas eine seinen eigenen theologischen Überzeugungen deutlich besser entsprechende biblisch-theologische Deutung für das Todesgeschick Jesu zur Verfügung und konnte daher umso leichter und lieber auf die Lösegeld-Vorstellung im Menschensohn-Wort mit ihren sühnetheologischen Assoziationen verzichten, deutlicher gesagt: das ganze Logion streichen.33 Markus hätte demnach das Menschensohn-Wort von der Lebenshingabe aus seinem ursprünglichen Zusammenhang in der vielfältigen mündlichen, noch nicht in eine Er-
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Ganz auf den narrativen Zusammenhang bei Lukas beschränkt bleibt die Analyse von Lk 22,34-30 bei A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II/226, Tübingen 2007, 274–294. 33 Vgl. C. Böttrich, Proexistenz im Leben und Sterben. Jesu Tod bei Lukas, in: J. Frey, J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen 22012, 413–436; Mittmann-Richert, Der Sühnetod des Gottesknechts (Anm. 25), 161–176 (Exkurs: Lk 22,27 und Mk 10,45).
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eignisfolge gebrachten Passions-Überlieferung entnommen34 und seiner eigenen Darstellungskonzeption entsprechend35 in die Reihe der Leidensankündigungen eingeordnet (also formal: „vorgezogen“). Das ihm besonders wichtige theologische Motiv der heilsamen Lebenshingabe Jesu für die Vielen ging ihm dabei nicht verloren, zumal er es ja in seiner Passionsgeschichte auch im Rahmen der „Einsetzungsworte“ weiterhin zur Verfügung hatte.36 Vielmehr wurde es auf diese Weise schon vorab 34
Ob mit oder ohne die ganze Spruchgruppe vom Dienen, wäre noch einmal eigens zu prüfen. Vgl. zur Spruchgruppe P.-B. Smit, Exegetical Notes on Mark 10:42-45. Who Serves Whom?, in: B. J. Koet, E. Murphy, E. Ryökös (Hg.), Deacons and Diakonia in Early Christianity. The First Two Centuries, WUNT II/479, Tübingen 2018, 17–29, der primär die antiken politischen Kontexte des Herrschens bzw. Dienens im Blick hat und sich einer sühnetheologischen Interpretation von Mk 10,45 gegenüber äußerst skeptisch positioniert. Zum traditionsgeschichtlichen Zusammenhang des Lösegeld-Logions mit der Herrenmahlüberlieferung vgl. J. C. Edwards, The Ransom Logion in Mark and Matthew. Its Reception and its Significance for the Study of the Gospels, WUNT II/327, Tübingen 2012, 3–5.19–27.115–122; zum Lösegeld-Logion Mk 10,45 par. Mt 20,28 im Vergleich zur Lösegeldvorstellung bei Paulus vgl. J. H. Kwon, The Historical Jesus‘ Death as ‚Forgiveness of Sins‘. A Comparative Study of Paul and Matthew, WUNT II/467, Tübingen 2018, 159–163.168–179. 35 Zur Diakonie des Menschensohns bei Markus vgl. Scholtissek, Die messianische Diakonie Jesu (Anm. 28), in diesem Band 91–125. Eine prägnante Darstellung der markinischen Soteriologie gibt K. Backhaus, „Lösepreis für viele“ (Mk 10,45). Zur Heilsbedeutung des Todes Jesu bei Markus, in: Söding, Der Evangelist als Theologe (Anm. 5), 91–118. 36 Vgl. Mk 14,24: τὸ αἷμά μου τῆς διαθήκης τὸ ἐκχυννόμενον ὑπὲρ πολλῶν. Zur komplexen Frage der Rekonstruktion der Anfänge der Überlieferung von den „Einsetzungsworten“ vgl. H. Merklein, Erwägungen zur Überlieferungsgeschichte der neutestamentlichen Abendmahlstraditionen, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, WUNT 43, Tübingen 1987, 157–180; sehr viel skeptischer J. Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, SBS 210, Stuttgart 2006, 123–136; sorgfältig abwägend demgegenüber Löhr, Entstehung und Bedeutung des Abendmals (Anm. 29), 55–67. Die Rekonstruktion der frühesten nachösterlichen Herrenmahlüberlieferung und ihre sühnetheologische Deutung stand eine zeitlang durchaus im Fokus der Forschung, vgl. nur O. Hofius, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1 Kor 11,23b-25, in: ders.,
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durch Jesus selbst im Rahmen der Leidensankündigungen in Rede gestellt und damit vorverweisend unterstrichen.37 Folgt man dieser traditionskritischen Rekonstruktion, dann führt das Menschensohn-Wort vom Dienen gerade in seiner markinischen Fassung, also mit der sühnetheologischen Deutung des Sterbens Jesu, in die frühesten Anfänge der nachösterlichen Passionsüberlieferung, noch bevor diese in eine szenische Ereignisfolge gebracht worden war, die einem (m.E. anzunehmenden) vormarkinischen Passionsbericht38 bereits zugrunde lag. Auf Schriftlichkeit dieser Überlieferung deutet nichts hin. „Sitz im Leben“ könnte am ehesten die regelmäßig (wöchentlich?, jährlich?, täglich?) wiederholte österliche Herrenmahlfeier sein, die die Gemeinschaft der Jünger mit Jesus beim Essen und Trinken auch nach seinem Tod vergegenwärtigen
Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 1989, 203–240; ders., „Bis daß er kommt“ 1Kor 11,26, a.a.O., 241–243; ders., „Für euch gegeben zur Vergebung der Sünden“. Vom Sinn des Heiligen Abendmahls, in: ders., Neutestamentliche Studien, WUNT 132, Tübingen 2000, 276– 300. Das riesige aktuelle Sammelwerk zum Thema Eucharistie von D. Hellholm, D. Sänger (Hg.), The Eucharist – Its Origins and Contexts, 3 Bde., WUNT 376, Tübingen 2017, verzichtet demgegenüber komplett auf eine Behandlung dieser Frage. Lediglich der Aufsatz von T. Kazen, Sacrificial Interpretation in the Narratives of Jesus‘ Last Meal, a.a.O., Bd. I, 477–502, geht eher am Rande darauf ein, mit extrem skeptischem Ergebnis (vgl. nur das deutsche Summarium, 477: „Wir können zwar über eine primitive ‚Letztes-Mahl-Jesu-Tradition‘ spekulieren, aber es gibt keine Beweise für eine spezifische Opferdeutung von Seiten Jesu als Ursprung solch einer Tradition, mit Ausnahme eines sehr allgemeinen Verständnisses der Vorteile eines edlen Märtyrertods für andere.“ 37 Zur Traditionsgeschichte von Mk 10,45 vgl. Backhaus, „Lösepreis für viele“ (Anm. 35), 108f., sowie P. Stuhlmacher, Existenzstellvertretung für die Vielen: Mk 10,45 (Mt 20,28), in: ders., Versöhnung, Gesetz und Gerechtigkeit. Aufsätze zur biblischen Theologie, Göttingen 1981, 27–42, der allerdings eine Rückführung des Logions auf die frühchristliche Herrenmahlüberlieferung ablehnt (a.a.O., 29). 38 Vgl. dazu W. Reinbold, Der älteste Bericht über den Tod Jesu. Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien, BZNW 69, Berlin, New York 1994, 92–216.
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sollte.39 Zieht man weiter in Betracht, dass die Menschensohn-Worte der synoptischen Überlieferung angesichts ihres Verzichts auf konventionelle christologische Sprachmuster und Prädikate („messianische Titel“) und auch aus philologischen und historischen Gründen als später-nachösterliche Neubildungen kaum erklärbar sind und mit guten Gründen zum älteren Bestand der Jesus-Überlieferung gerechnet werden,40 kann man fragen, ob sich nicht auch in Mk 10,45 eine sehr nahe an die Ereignisse des Todes Jesu heranführende Deutung seines Sterbens erhalten hat. Das muss nicht bedeuten, dass das Logion als ipsissima vox auf den historischen Jesus zurückgeführt werden könnte.41 M.E. spricht mehr dafür, dass es im Kontext der entstehenden nachösterlichen (vermutlich Jerusalemer) Herrenmahlpraxis, aber noch vor der Erstellung eines vormarkinischen „Mahlberichts“ oder gar einer vormarkinischen Passionsgeschichte entstanden ist, um im Vollzug der Vergegenwärtigung des heilsamen Sterbens Jesu sein 39 So Roloff, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Anm. 21), 50: „… es ist der Gottesdienst, und zwar, wie Mk. xiv. 24 wahrscheinlich macht, der unmittelbare Umkreis des Herrenmahles“. Vgl. auch Backhaus, „Lösepreis für viele“ (Anm. 35), 108: „Mit 10,45 präsentiert der Evangelist ein Traditionsstück, das – im Wirkungsbereich der Herrenmahl-Soteriologie und unter dem Einfluß des Motivs vom leidenden Gottesknecht (vgl. Jes 53,10ff.) – Jesu Sterben als stellvertretenden Sühnetod deutet.“ Löhr, Entstehung und Bedeutung des Abendmals (Anm. 29), 66, bezweifelt das für die Erzählüberlieferung der Einsetzungsworte, was aber nicht für Logien wie Mk 10,45 gelten müsste. 40 Vgl. als ersten Zugang zu dieser überaus komplexen Problematik D. du Toit, Christologische Hoheitstitel. 4. Menschensohn, in: Schröter, Jacobi, Jesus Handbuch (Anm. 4), 521–525; Hengel, Schwemer, Jesus und das Judentum (Anm. 31), 526–541, sowie als eine ausgearbeitete These V. Hampel, Menschensohn und historischer Jesus. Ein Rätselwort als Schlüssel zum messianischen Selbstverständnis Jesu, Neukirchen-Vluyn 1990. 41 Hierin unterscheiden sich etwa die Urteile von Stuhlmacher, Existenzstellvertretung für die Vielen (Anm. 37), 29, einerseits, Schürmann, Gestalt und Geheimnis (Anm. 17), 216, Anm. 59, u.ö., und Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus (Anm. 11), 93, Anm. 76, andererseits.
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Leben in der Zuwendung zu den Bedürftigen in Erinnerung zu behalten. Es wäre damit Ausdruck einer theologischen Syntheseleistung der frühesten Gemeinden von Jesus-Anhängern, deren biblisch-theologische Kompetenzen man auf keinen Fall geringschätzen darf, wie auch die in der paulinischen Briefliteratur überlieferten Bekenntnisaussagen reichlich belegen.42 2. „Proexistenz“ im galiläischen Wirken Jesu – die Zuwendung zu den „Randsiedlern“ Ist eine solche Deutung nun vielleicht sogar für Jesus selbst im Blick auf sein ihm vor Augen stehendes Todesgeschick denkbar?43 Bevor wir uns dazu positionieren, müssen wir zunächst nach Anknüpfungspunkten für den Gedanken der Lebenshingabe für andere in den vielfältigen Formen und Zielrichtungen des galiläischen Wirkens Jesu suchen. Auf diese Weise soll der Zusammenhang zwischen dem vorösterlichen Wirken Jesu und der Deutung seines Sterbens als Lebenshingabe für die vielen auch historisch nachvollziehbar aufgewiesen werden.
Vgl. W. Kraus, Zwischen Jerusalem und Antiochia. Die ‚Hellenisten‘, Paulus und die Aufnahme der Heiden in das endzeitliche Gottesvolk, SBS 179, Stuttgart 1999, 49–55; M. Hengel, Der stellvertretende Sühnetod Jesu. Ein Beitrag zur Entstehung des urchristlichen Kerygmas, in: ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, WUNT 201, Tübingen 2006, 146–184. 43 Das möchte Stuhlmacher, Existenzstellvertretung für die Vielen (Anm. 37), exegetisch nachweisen. Ich gehe im Folgenden methodisch einen anderen Weg, indem ich eher die sachlichen Verbindungen zwischen dem vorösterlichen Wirken Jesu und dem theologischen Deutungsgehalt des Menschensohn-Wortes Mk 10,45 aufzuzeigen versuche. 42
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2.1 Heilungen Im Wirken Jesu als Heiler wird die Gottesherrschaft, die er verkündigt hat, exemplarisch gegenwärtig.44 So wie es die biblischen Zeugnisse für die eschatologische Heilszeit als Handeln Gottes an Israel angekündigt haben, so wie es in frühjüdischer Zeit als Endzeiterwartung dringend präsent war, so wendet sich Jesus einzelnen Notleidenden persönlich zu und heilt ihre Krankheiten.45 Menschen, die Jesus gesund macht bzw. denen er Heil zuspricht, erscheinen damit als besonders heils- und hilfsbedürftig. Dass Jesus sich ihnen zuwendet, entspricht seiner Grundhaltung der Proexistenz. Sie kommt besonders plastisch in dem Wort zum Ausdruck: „Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken.“46 Das Geschehen des Heilwerdens kann damit nicht losgelöst werden von der Begegnung mit Jesus, dem Heiler. In ihr erweist sich Jesus als Repräsentant des Heil schaffenden Gottes. In der Begegnung mit Jesus, in der Berührung durch ihn geschieht dem Kranken Heil. Seine Befreiung von persönlicher, oft leibhaftiger Not geht in eins mit der Aufrichtung einer heilvollen Gottesbeziehung für ihn. An zwei synoptischen Perikopen kann das exemplarisch gezeigt werden. In der Erzählung von der Heilung eines Gelähmten in Kafarnaum (Mk 2,1-12 parr.) werden zwei wesentliche Elemente des Wirkens Jesu miteinander verknüpft: das Heilen von Kranken und der Anspruch, Sünden zu vergeben.47 Die Exposition (V. 1-4) stellt den Zusammenhang mit dem Erzählverlauf her, benennt die 44 Zu den Heilungen und Exorzismen Jesu vgl. als Überblick A. Weissenrieder, Heilungen Jesu, in: Schröter, Jacobi, Jesus Handbuch (Anm. 4), 298–310; B. Kollmann, Exorzismen, a.a.O., 310–318. 45 Vgl. dazu mit Blick auf die „Täuferanfrage“ Mt 11,2-6 par. Lk 7,1823 K.-W. Niebuhr, Die Werke des eschatologischen Freudenboten (4Q521 und die Jesusüberlieferung), in: C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures in the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 637–646. 46 Mk 2,17 parr.; vgl. auch Lk 4,23! 47 Vgl. dazu ausführlicher Niebuhr, Jesu Heilungen und Exorzismen (Anm. 8), 105–109; Scholtissek, Die Vollmacht Jesu (Anm. 3), 137– 173.
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handelnden Personen, vor allem Jesus als Heiler (der freilich zunächst als Prediger auftritt, V. 2fin), und schildert die Notlage (der Gelähmte auf der Bahre, der erst von Helfern in die Nähe Jesu gebracht werden muss).48 Im Moment der Begegnung mit dem Kranken (V. 5), also dort, wo sich im Erzählverlauf einer Heilungsgeschichte der Heilungsvorgang anschließen müsste, kommt es aber zunächst zu einer Anrede Jesu an den Gelähmten: „Kind, vergeben sind deine Sünden.“ Daran schließt sich ein Dialog mit „Nebenfiguren“ der Heilungsgeschichte an (V. 6f.), einigen (dazu jetzt erst in die Szene eingeführten) dabeisitzenden Schriftgelehrten, die, ohne es laut zu sagen, Jesu Vollmacht zum Vergeben in Frage stellen und ihn der Gotteslästerung bezichtigen. Jesus durchschaut ihren lautlosen Protest und nagelt sie mit einer Fangfrage darauf fest (V. 8f.): „Was ist leichter: Zu dem Gelähmten zu sagen, vergeben sind deine Sünden, oder zu sagen, steh auf und nimm deine Bahre und geh los?“ Ihr Schweigen beantwortet er doppelt (V. 10f.), mit der Ankündigung einer Demonstration seiner Vollmacht zum Vergeben von Sünden und mit einem Befehlswort an den Gelähmten: „Ich sage dir, steh auf, nimm deine Bahre und geh nach Hause!“ Damit, dass dieser sofort tut, wozu ihn Jesus auffordert, wird nicht nur der Erfolg der Heilung festgestellt, sondern zugleich auch die Vollmacht Jesu zum Vergeben von Sünden erwiesen. Die Pointe der Erzählung liegt darin, dass Jesu Heilungen und sein Anspruch, in der Vollmacht Gottes, der allein ja Sünden vergeben kann, zu wirken, unlösbar miteinander verknüpft sind. Heilung körperlicher Gebrechen und Heilung der Gottesbeziehung bilden im Wirken Jesu eine Einheit. Beides geschieht, wenn der Heilung bedürftige Menschen Jesus erwartungsvoll und empfangsbereit begegnen.
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Zu den typischen Elementen von Heilungserzählungen vgl. die klassische Untersuchung von G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, Gütersloh 1974, 57–81.
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Nicht nur in Heilungsgeschichten, sondern auch in Logien wird das Wirken Jesu als Heiler thematisiert und mit dem Zentrum seiner Verkündigung, der Vergegenwärtigung der Gottesherrschaft, in Beziehung gesetzt. So auch in dem Streitgespräch (aus der Q-Überlieferung),49 das sich an eine ganz knapp erzählte Dämonenaustreibung anschließt (Mt 12,23-30 par. Lk 11,15-26). Exorzismen gehörten zu den herausragenden Heilungen Jesu, führten aber auch zu Konflikten mit seinen Gegnern, die ihm vorwarfen, selbst mit Dämonen im Bunde zu stehen.50 Diesem Vorwurf setzte Jesus seinen Anspruch entgegen, in der Kraft Gottes zu wirken und die Dämonen zu besiegen (Mt 12,28/Lk 11,20).51 Der „Finger Gottes“, den Jesus für sein Wirken als Exorzist hier in Anspruch nimmt, verweist auf Mose, der nach Ex 8,15, ebenfalls mit dem „Finger Gottes“, die ägyptischen Zauberer besiegt hatte.52 Dort, wo Jesus sich gegen die dämonischen Kräfte durchsetzt, die den Menschen unterdrücken, wird Gottes Herrschaft sichtbar und heilsam gegenwärtig. 2.2 Makarismen An den Makarismen Jesu kann der Zusammenhang von Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft in seiner 49
Vgl. dazu M. Hüneburg, Jesus als Wundertäter in der Logienquelle. Ein Beitrag zur Christologie von Q, ABIG 4, Leipzig 2001, 181–225. 50 Vgl. bes. Mk 3,22-27 parr. Zur Interpretation der Exorzismen Jesu M. Ebner, Die Exorzismen Jesu als Testfall für die historische Rückfrage. Die Herausforderung des linguistic turn als Chance für die exegetische Wissenschaft, in: Jesus – Gestalt und Gestaltungen. Rezeptionen des Galiläers in Wissenschaft, Kirche und Gesellschaft (FS G. Theißen), hg. v. P. von Gemünden, D. G. Horrell, M. Küchler, NTOA/ StUNT 100, Göttingen 2013, 477–498. 51 Vgl. zur Analyse Niebuhr, Jesu Heilungen und Exorzismen (Anm. 8), 101–104; zum Zusammenhang Lk 11,14-28 vgl. Wolter, Luk (Anm. 20), 414–422. 52 Vgl. M. Labahn, Jesu Exorzismen (Q 11,19-20) und die Erkenntnis der ägyptischen Magier (Ex 8,15). Q 11,20 als bewahrtes Beispiel für Schrift-Rezeption Jesu nach der Logienquelle, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus, BEThL 158, Leuven 2001, 617–633.
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Verkündigung exemplarisch verdeutlicht werden.53 Im Zuspruch Jesu erfahren die Hörer schon jetzt diejenige Umkehrung von Mangel und Not in Heil und Erfüllung, die sie von der Zukunft in der Gemeinschaft mit Jesus erwarten dürfen. So sind die Makarismen Jesu Sprechhandlungen, ein Ausdruck für die Zusammengehörigkeit von seinem Tatwirken und seiner Wortverkündigung. Sie sind, überspitzt gesagt, Heilungen durch das Medium des Wortes. Auf sie trifft in exemplarischer Weise zu, was der Beter im Psalm vom heilsamen Wirken Gottes bekennt: „Er sandte sein Wort und machte sie gesund und rettete sie, dass sie nicht starben.“ (Ps 107,20) Die Besonderheit der Makarismen Jesu, gerade auf dem Hintergrund der biblischen und frühjüdischen Überlieferung, liegt in ihrem paradoxen Charakter. Der Heilsruf ereilt gerade diejenigen, die Unheilserfahrungen ausgesetzt sind. Damit wird durch Jesu Zuspruch menschliches Unheil in Heil gewendet. Es ist deutlich, dass diesem in den Makarismen Jesu liegenden Aspekt der Wortverkündigung Jesu sein Wirken als Heiler entspricht. 2.3 Zuwendung zu den „Randsiedlern“ der Gesellschaft Dieser Zusammenhang bestimmt auch die Tischgemeinschaften, zu denen Jesus gezielt die „Randsiedler“ der Gemeinschaft, Zöllner, Sünder, Prostituierte, einlädt.54 Auch sie lassen sich, wie die Makarismen, dem Motiv der Proexistenz Jesu zuordnen. Ein charakteristischer Zug der Heilungen Jesu liegt ja darin, dass die Geheilten in die Sozialgemeinschaft zurückgeführt oder überhaupt erst in sie aufgenommen werden. In diesem Motiv sind die Heilun-
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Vgl. Mt 5,3-10 par. Lk 6,20f.; dazu K.-W. Niebuhr, Die Makarismen Jesu als Ausdruck seines Menschenbildes. in: Evangelium ecclesiasticum. Matthäus und die Gestalt der Kirche (FS C. Kähler), hg. v. C. Böttrich u.a., Frankfurt am Main 2009, 329–352, mit weiterführender Literatur. 54 Vgl. als Überblick H. Löhr, Mahlgemeinschaften Jesu, in: Schröter, Jacobi, Jesus Handbuch (Anm. 4), 292–298.
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gen Jesu verbunden mit seiner Zuwendung zu den „Randsiedlern“ der sozialen und religiösen Gemeinschaft seiner Zeit und zu den Armen. Das wird besonders deutlich, wenn Jesus Kranke vom „Aussatz“ heilt, einer Krankheit, die in der Welt Jesu aus rituellen Gründen zu religiöser, aber damit verbunden auch zu sozialer Ausgrenzung führte.55 Die Breite der entsprechenden Bezeugung in verschiedenen Schichten und Gattungen der Jesusüberlieferung56 deutet darauf hin, dass hier ein besonders auffälliges Merkmal des Wirkens Jesu als Heiler in Erinnerung geblieben ist. Auffällig im Vordergrund stehen neben den Kranken die Armen als Empfänger von Heil in der Begegnung mit Jesus. Ihnen besonders gilt die Verkündigung des endzeitlichen Freudenboten, dessen Rolle Jesus einnimmt.57 Sie sind Adressaten eines Makarismus.58 Sie sollen die Gaben der Reichen empfangen und sind offenbar weit eher als ein Reicher dafür geeignet, in die Gottesherrschaft zu gelangen.59 An der Tafel Jesu stehen ihnen Ehrenplätze zu, und zwar neben Verkrüppelten, Lahmen und Blinden.60 An der Tafel Jesu sitzen aber nicht bloß Arme, sondern noch weitere für seine Gesellschaft charakteristische Gestalten: Zöllner, Huren, Sünder.61 Zöllner und Huren sind relativ leicht im täglichen Leben als solche zu erkennen. Schwieriger ist das aber bei „Sündern“, die gleichwohl ebenfalls prägnant im Blickfeld Jesu stehen. Exemplarisch illustrieren das die Gleichnisse vom Verlorenen, die Lukas aus Die „Trennung zwischen physischer und sozial-kultureller Dimension von Krankheit“ stellt Weissenrieder, Heilungen Jesu (Anm. 44), 301, in Frage; vgl. zum „Aussatz“ dies., Images of Illness in the Gospel of Luke. Insights of Ancient Medical Texts, WUNT II/164, Tübingen 2003, 133–167. 56 Vgl. Mk 1,40-44 parr.; Lk 17,11-19; Mt 10,8; s.a. Mk 14,3 par. 57 Vgl. Mt 11,5 par. Lk 7,22. 58 Mt 5,3 par. Lk 6,20. 59 Vgl. Mt 6,1-4; Lk 11,41; 12,33; Mk 10,23-25 parr. 60 Vgl. Lk 14,13.21. 61 Vgl. Mk 2,15-17 parr.; Mt 11,19 par. Lk 7,34; Lk 18,9-14; 19,1-10; Mt 21,31f. 55
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verschiedenen Überlieferungsschichten zusammengestellt hat (Lk 15,1-32).62 Die Forderung Jesu, sich besonders den sozial Schwachen zuzuwenden, darf zwar nicht verabsolutiert, von seiner Verkündigung der Gottesherrschaft getrennt oder gar seinem eschatologischen Selbstanspruch entgegengesetzt werden, stellt aber in jedem Fall ein charakteristisches Merkmal seines Wirkens dar. Im Sinne einer ganzheitlichen Lebenshingabe an die Bedürftigen bildet sie die Basis seiner ethischen Ermahnungen, zugleich aber auch das Prinzip seines eigenen Wirkens.63 Will man diese ganzheitliche Lebenshingabe Jesu an die Bedürftigen auf einen Begriff bringen, dann bietet sich dafür die von Heinz Schürmann eingeführte Kategorie der „Proexistenz“ an.64 Schürmann hat diesen Begriff von Anfang an sowohl für das vorösterliche Wirken Jesu als auch mit Blick auf sein Sterben und auf das „Wesen und Wirken des erhöhten Herrn“65 verwendet. Wilhelm Thüsing hat ihn aufgenommen66 und verwendet ihn ebenfalls, um das Verbindende zwischen der Zuwendung Jesu zu den Bedürftigen in seinem galiläischen Wirken als „Sinnmitte der vorösterlichen keimhaften Passionstheologie“,67 seiner Bereitschaft, für seine Basileia-Verkündigung in den
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Vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Kommunikationsebenen im Gleichnis vom verlorenen Sohn, ThLZ 116, 1991, 481–494. 63 Vgl. den sehr differenzierten Überblick auf der Basis aktueller sozialgeschichtlicher Forschungen bei F. W. Horn, Das Ethos Jesu. 4.2 Besitz und Reichtum, in: Schröter, Jacobi, Jesus Handbuch (Anm. 4), 439–445. 64 H. Schürmann, „Pro-Existenz“ als christologischer Grundbegriff, in: ders., Gestalt und Geheimnis (Anm. 17), 286–315; vgl. ders., Jesu ureigenes Todesverständnis. Bemerkungen zur „impliziten Soteriologie“ Jesu, in: ders., Gottes Reich – Jesu Geschick (Anm. 17), 185–223. 65 Schürmann, „Pro-Existenz“ (Anm. 64), 299. 66 Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus (Anm. 11), 93f.110–112.255f. 67 Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus (Anm. 11), 110.
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Tod zu gehen,68 und seiner Auferweckung als „Vollendung der Proexistenz“69 zum Ausdruck zu bringen. Damit erscheint die Kategorie der Proexistenz als besonders geeignet, auch den geschichtlichen Zusammenhang zwischen den konstitutiven Bestandteilen der Jesus-Christus-Geschichte, wie sie im Neuen Testament bezeugt wird, sachgemäß zu erfassen. Schon die vorsynoptische Überlieferung hat festgehalten, dass die provokant a-soziale Lebensweise Jesu und seiner engsten Anhänger70 wie auch die radikale Zuwendung zu den Bedürftigen seiner Gesellschaft ihn in scharfe Konflikte geführt haben.71 Der durch die Überlieferung vorgezeichnete chronologische und geografische Weg Jesu vom Wirken in Galiläa zum ihm den Tod bringenden Konflikt in Jerusalem ist angesichts der erhaltenen Einzelüberlieferungen auch historisch betrachtet der einzig plausible. Dass Jesus diesen Weg bewusst und gezielt gewählt hat, ergibt sich schon aus der in den Quellen einstimmig belegten Datierung seines Todes auf ein Passafest. Es liegt aber ebenso der in Grundzügen erkennbaren Ereignisfolge während der letzten Tage Jesu in Jerusalem zugrunde. Allein schon die aufsehenerregende, breit bezeugte Aktion Jesu im Tempel, 68 Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus (Anm. 1), 111f.: „Es ist alles andere als undenkbar, daß Jesus die Notwendigkeit, für die Basileia-Verkündigung in den Tod zu gehen, in den Gedanken der Diakonia für diese Basileia hineinnahm; sein Dienst für die Menschen mußte jetzt diese unverständlich erscheinende Form des Leidens und Sterbens annehmen.“ 69 Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus (Anm. 11), 255: „Leben und Tod Jesu von Nazaret sind für die Menschen geschehen, denen er die rettende Gemeinschaft mit Gott zugesprochen hat. Diese ‚aktive Proexistenz‘ bleibt nicht nur bestehen, sondern kann durch die Auferweckung bzw. durch seine Aufnahme in das Geheimnis Gottes universal und vollendend wirksam werden.“ 70 Vgl. dazu M. Ebner, Jesus von Nazaret in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, SBS 196, Stuttgart 22004, 144–177. 71 Exemplarisch ausgestaltet wurden solche Konflikte etwa mit Blick auf Heilungen Jesu am Sabbat; vgl. dazu L. Doering, Schabbat. Sabbathalacha und -praxis im antiken Judentum und Urchristentum, TSAJ 78, Tübingen 1999, 441–478.
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offenbar eine gezielte prophetische Zeichenhandlung,72 ließ alles andere als sein baldiges gewaltsames Ende für extrem unwahrscheinlich erscheinen. Auch wenn das letzte Mahl Jesu mit seinem engsten Anhängerkreis in Jerusalem wohl erst im Zuge der literarischen Gestaltung der Synoptiker zu einem spezifischen Passamahl wurde, können doch beim Versuch, die Ereignisse um den Tod Jesu zu verstehen, die Konnotationen der biblischen und frühjüdischen Überlieferung zum Passafest nicht völlig ausgeblendet werden. Wichtiger für dessen Deutung waren allerdings biblisch-jüdische Vorstellungen über das Leidensgeschick besonders gottnaher Personen, wie sie sich in den Überlieferungskreisen vom gewaltsamen Geschick der Propheten und vom leidenden und sterbenden Gerechten, der in Gottes Hand bleibt, herauskristallisiert hatten.73 Durch Textanalysen an der synoptischen Jesus-Überlieferung wird sich kaum der Nachweis führen lassen, dass Jesus selbst in den letzten Tagen und Stunden seines Lebens sich explizit auf solche Vorstellungen oder gar Texte bezogen hat. Man wird aber vielleicht doch von einer gewissen Konvergenz traditionsgeschichtlicher, historischer und exegetischer Befunde sprechen können, die dies nahelegen.74 Ungeachtet der 72
Vgl. dazu J. Ådna, Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion und das Tempelwort als Ausdruck seiner messianischen Sendung, WUNT II/119, Tübingen 2000; T. Söding, Die Tempelaktion Jesu. Redaktionskritik – Überlieferungsgeschichte – historische Rückfrage (Mk 11,15– 19; Mt 21,*12–17; Lk 19,45-48; Joh 2,13-22), TThZ 101, 1992, 37–64. 73 Vgl. dazu R. Feldmeier, H. Spieckermann, Menschwerdung, Tübingen 2018, 146–161.172–177.204–210. 74 Zur Begründung verweise ich dazu nochmals auf Untersuchungen von H. Schürmann, insbesondere: Schürmann, Jesu ureigenes Todesverständnis (Anm. 64), 198–223; ders., Die Basileia als mögliches Todesgeschick Jesu. Das Mißgeschick des Basileia-Engagements Jesu, in: ders., Gestalt und Geheimnis (Anm. 17), 157–167; ders., Jesu Tod als Heilstod im Kontext seiner Basileia-Verkündigung, a.a.O., 168–185; ders., Konnte Jesus seinen erwarteten Tod als sinnvoll verständlich machen und ihn zur Sprache bringen?, a.a.O., 186–201; ders., Das Weiterleben der Sache Jesu im nachösterlichen Herrenmahl. Die Kontinuität der Zeichen in der Diskontinuität der Zeiten, a.a.O., 241–265.
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speziellen Semantik des griechischen Wortes διακονία75 wird damit hier ein „Dienst Jesu“ sichtbar, der aller kirchlichen Diakonia vorgegeben ist. 3. Die Lebenshingabe Jesu als Grundimpuls und Modell für die Diakonie der Kirche Damit stehen wir vor der Aufgabe einer theologischen Interpretation der Diakonia Jesu als Ursprung und Maßstab für die Dienste von Christen und Kirchen heute. Sie zu erfüllen, kann im Rahmen einer primär exegetisch-historischen Untersuchung nur thesen- und skizzenhaft versucht werden. Hermeneutisch liegen den folgenden Sätzen dabei Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem vorösterlichen Wirken Jesu, dem Christuszeugnis im Neuen Testament und der darin wurzelnden und daran zu messenden kirchlichen Verkündigung und Glaubenspraxis heute zugrunde, die ich an anderer Stelle ausgeführt habe.76 Versucht man auf dieser hermeneutischen Grundlage Gesichtspunkte für die theologische Verankerung kirchlicher 75
Auf die neuere Diskussion dazu, ausgelöst durch die Monographien von J. N. Collins, Diakonia: Re-interpreting the Ancient Sources, New York, Oxford 1990; ders., Diakonia Studies. Critical Issues in Ministry, Oxford 2014, und A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament (Anm. 32), muss ich nicht näher eingehen, da sie den hier gewählten Blickwinkel auf das vorösterliche Wirken Jesu und die früheste Deutung seines Sterbens wenig berührt. 76 Vgl. Niebuhr, Schriftauslegung (Anm. 10), 71–74; ders., Biblische Theologie evangelisch: Neutestamentliche Wissenschaft im Zusammenspiel der Theologie, in: I. U. Dalferth (Hg.), Eine Wissenschaft oder viele? Die Einheit evangelischer Theologie in der Sicht ihrer Disziplinen, ThLZ.F 17, Leipzig 2006, 23–46 (bes. 29–32); ders., Zur Ökumene nach evangelisch–lutherischem Verständnis in biblischer Sicht, in: Wider die Müdigkeit im ökumenischen Gespräch (FS U. Kühn), hg.v. M. Petzoldt u.a., Leipzig 2007, 127–142 (bes. 134–141); ders., Schrift, Bekenntnis und Lehre aus der Perspektive des Neuen Testaments. Historisch–kritische Bibelexegese und Schriftprinzip, in: P. Gemeinhardt, B. Oberdorfer (Hg.), Gebundene Freiheit? Bekenntnisbildung und theologische Lehre im Luthertum, Die Lutherische Kirche – Geschichte und Gestalten 25, Gütersloh 2008, 205–236 (bes. 209–215).
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Diakonie zu gewinnen, dann lässt sich m.E. mit dem Begriff der Spannungseinheit arbeiten. Auf der Ebene des vorösterlichen Wirkens Jesu lässt sich eine solche Spannungseinheit im Verhältnis zwischen dem extrovertierten Handeln und Reden Jesu gegenüber bedürftigen Menschen, die ihm begegnen, und dem introvertierten Verhältnis Jesu zum Vater77 als exklusiv endzeitlicher Gesandter seiner Königsherrschaft konstatieren. Seine Diakonia gegenüber notleidenden und heillosen Menschen besteht darin, dass er ihnen in der persönlichen Begegnung mit ihm Anteil gibt an seiner eigenen heilen Gottesbeziehung. Auf diese Weise ermöglicht er Menschen leibhaftige Gottesnähe und Heilserfahrung, die ihre Lebenserfahrung spürbar verändert. Exemplarisch sichtbar wird dies in den Heilungen Jesu, die deshalb auf keinen Fall von der körperlich erfahrbaren Gesundung der Kranken losgelöst werden dürfen, wenn sie nicht ihren biblischen Sinn verlieren sollen. Freilich ist dem sofort hinzuzufügen, dass auch in den Heilungen Jesu keineswegs schon, wie es von biblischen und frühjüdischen Heilshoffnungen her erwartet werden könnte,78 die Beseitigung allen leiblichen und sozialen Unheils auf Erden (oder auch „nur“ in Israel) erfahrbare Realität wird. Die Heilungen Jesu sind von daher zeichenhaft zu verstehen, indem sie an exemplarischen Einzelfällen schon gegenwärtig sichtbar und erfahrbar machen, was für die endzeitliche Vollendung allumfassend erwartet werden darf. Üblicherweise wird das hier Gemeinte mit dem Begriff „implizite Christologie“ bezeichnet; vgl. dazu als ausgewählte exegetische Stimme M. Hengel, Jesus, der Messias Israels. Zum Streit über das „messianische Sendungsbewußtsein“ Jesu, in: ders., Studien zur Christologie (Anm. 42), 259–280, sowie als systematisch-theologische Stimmen G. Wenz, Die Jesustradition als implizite Voraussetzung der christlichen Osterzeugnisse, in: ders., Christus. Jesus und die Anfänge der Christologie, Studium Systematische Theologie Bd. 5, Göttingen 2011, 46–64; U. Kühn, Das biblische Zeugnis von Jesus Christus, in: ders., Christologie, UTB 2393, Göttingen 2003, 95–146. 78 Vgl. dazu Niebuhr, Die Werke des eschatologischen Freudenboten (Anm. 45), 637–639. 77
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Darin entsprechen die Heilungen Jesu der Spannungseinheit von Gegenwart und Zukunft in der Verkündigung Jesu von der Gottesherrschaft. Für das diakonische Handeln und Verkündigen der Kirche ergibt sich daraus der Grundimpuls, auch hier und heute diese Spannungseinheit von konsequentem Einsatz für die Beseitigung von individuellen und gesellschaftlichen Nöten und der nüchternen Einsicht in die begrenzten Ressourcen menschlicher Heilungsmöglichkeiten offen zu erkennen zu geben, darin aber zugleich die Perspektive der Hoffnung auf das endzeitlich-vollendende Handeln Gottes, wie es die Bibel zusagt, nicht zu verschweigen. Dass in den neutestamentlichen Zeugnissen das heilende Handeln Jesu an einzelnen Notleidenden und Bedürftigen in einen narrativen und auch geschichtlichen Zusammenhang mit seinem eigenen, einzigartigen Leiden und Sterben am Kreuz in Jerusalem gebracht ist, kann ebenfalls im Sinne einer Spannungseinheit theologisch interpretiert werden. Hierin zeigt sich die Spannungseinheit zwischen dem vorösterlichen Wirken Jesu und der österlichen Botschaft von seiner Auferweckung, in der Gott selbst den Dienst der Lebenshingabe Jesu zu seinem eigenen Werk der Rettung der verlorenen Menschheit gemacht hat. Was die biblisch-jüdische Überlieferung im Gedanken der Sühne für die Sünden Israels (im kultischen wie im metaphorisch nichtkultischen Verständnis von Sühne) theologisch konzentriert hat, wird nach christlichem Bekenntnis auf das ganz und gar „unkultische“ Geschehen der Kreuzigung Jesu wie ein Verbrecher übertragen. Die aktive Lebenshingabe Jesu als Haltung seines vorösterlichen Wirkens wird damit zu einem „Passions“-Geschehen, einem passiven Erleiden, in dem allein Gott noch aktiv ist (vgl. Mk 14,36). Jesus selbst mag seinen bevorstehenden Tod schon in einer solchen Perspektive erfahren und gedeutet haben können, was freilich auch für ihn die existentielle Gotteserfahrung gerade nicht ausschloss, die sich in seinem Verlassenheitsruf am Kreuz Gehör verschafft (vgl. Mk 15,34).
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Dienen als Hingabe eigenen Lebens wird in diesem Geschehen jenseits aller vordergründig psychologisierenden Einwände gegen ein angeblich darin verstecktes Aufgeben individueller Persönlichkeitsrechte zu einem Grundimpuls Jesu für die Diakonie der Kirche. Freilich muss auch dieser Grundimpuls im Sinne einer Spannungseinheit verstanden und klar zwischen dem Tun und den Möglichkeiten von Christen und Kirchen einerseits und dem heilvollen Handeln Gottes andererseits unterschieden werden.
Matthias Konradt
„Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt“ (Mt 25,40) Überlegungen zur Bedeutung diakonischen Handelns im Matthäusevangelium Neben der Beispielerzählung vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,29-37)1 zählt Matthäus’ Darstellung des Endgerichts in Mt 25,31-46 zu den neutestamentlichen Haupttexten, wenn es um die biblische Begründung diakonischen Handelns geht.2 Abgesehen davon, dass Matthäus das diakonische Handeln hier exemplarisch in sechs Werke auffächert und damit den ausführlichsten neutestamentlichen Katalog diakonischer Werke bietet, findet dies seinen Grund vor allem in der pointierten Inbeziehungsetzung des Handelns an den Bedürftigen mit Christus: Was „einem der geringsten Brüder“ Jesu getan oder nicht getan wurde, wurde dem Menschensohn-Richter Jesus selbst getan oder nicht getan (V. 40.45). Die Klassifizierung von Mt 25,31-46 als einem der diakonischen Haupttexte des Neuen Testaments ist in der historisch-kritischen Matthäusexegese allerdings umstritten. Entscheidende Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Interpretation der Rede von den „geringsten Brüdern“ zu. Verschiedentlich ist bestritten worden, dass es hier generell um Bedürftige bzw. um Menschen in Notlagen geht. Im Folgenden werde ich zu zeigen versuchen, dass die Inanspruchnahme von Mt 25,31-46 zur theologischen Begründung diakonischen Handelns einer exegetischen Überprüfung standhält. 1
Vgl. für viele P.-G. Klumbies, Diakonie und moderne Lebenswelt. Neutestamentliche Perspektiven, Karlsruhe 1998, 22–24. 2 Vgl. z.B. M. E. Kohler, Diakonie, Neukirchener Arbeitsbücher, Neukirchen-Vluyn 21995, 105–124, der Lk 10,25-37; Mt 25,31-46 und Joh 13,1-17 als biblische Schlüsseltexte zur Diakonie heranzieht.
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Zugleich ist aufzuweisen, dass sich die Bedeutung des Matthäusevangeliums für die biblisch-theologische Reflexion diakonischen Handelns nicht in einer Exegese von Mt 25,31-46 erschöpft. Vielmehr ist dieser Text in umfassendere Sinnhorizonte einzustellen. Grundlegend ist dabei die Einsicht, dass die ethische Forderung diakonischen Handelns im Matthäusevangelium in die Darstellung des diakonischen Handelns Jesu eingebettet ist. Dessen Analyse ist daher ein eigener Abschnitt zu widmen. Legte man die Thesen zur Bedeutung der griechischen Wortgruppe διακονεῖν κτλ von John N. Collins3 und Anni Hentschel4 zugrunde, wäre es angezeigt, eingangs zu markieren, dass zwischen der Bedeutung von διακονεῖν κτλ und dem gegenwärtigen Gebrauch des Begriffs „Diakonie“ im Sinne der helfenden Zuwendung zum bedürftigen Mitmenschen zu unterscheiden ist und es in diesem Beitrag nicht um eine Analyse der Verwendung von διακονεῖν κτλ im Matthäusevangelium geht, sondern um eine Erörterung eben der helfenden Zuwendung zum Mitmenschen im ersten Evangelium. Es wird sich allerdings zeigen, dass Letzteres im Matthäusevangelium durchaus einen quellensprachlichen Anhalt an der Verwendung der Wortgruppe διακονεῖν κτλ hat. Ich setze daher mit einem Abschnitt über den Gebrauch von διακονεῖν κτλ im Matthäusevangelium ein, an den sich dann die Erörterung der Darstellung des diakonischen Handelns Jesu, der Barmherzigkeit als Leitthema der matthäischen Ethik und eine Analyse von Mt 25,31-46 anschließen. Zum Abschluss werde ich noch kurz auf die Brotbitte im Vaterunser zu sprechen kommen.
3
J. N. Collins, Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources, New York, Oxford 1990. 4 A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II/226, Tübingen 2007.
Bedeutung diakonischen Handelns im Matthäusevangelium
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1. Zur Verwendung und zur Bedeutung von διακονεῖν κτλ im Matthäusevangelium Wie oben angezeigt, ist die gegenwärtige Debatte um die Bedeutung von διακονεῖν κτλ maßgeblich durch die Arbeiten von John N. Collins und Anni Hentschel bestimmt, die sich dezidiert gegen das traditionelle Verständnis von διακονεῖν als dienen, διακονία als Dienst und διάκονος als Diener gewendet haben. In der positiven Bestimmung setzen beide leicht unterschiedliche Akzente: Nach Collins steht der Aspekt der Vermittlung im Zentrum,5 Hentschel zufolge das Moment der Beauftragung. Genauer: Nach Hentschel sind unter διάκονοι nicht Diener, sondern Boten, Beauftragte und Übermittler zu verstehen, und mit διακονία werde nicht der Dienstcharakter herausgestellt, sondern διακονία beschreibe „sowohl den Auftragscharakter als auch die Ausführung einer – z.T. vermittelnden – Tätigkeit bzw. eines Berufs“.6 Hentschel versieht diese semantische These zudem mit der expliziten Abgrenzung, dass die Wortgruppe „grundsätzlich weder ein niedriges Dienen noch die fürsorgende Barmherzigkeit ausdrückt“.7 Die in den beiden Arbeiten vorgetragenen Einwände gegen die ihnen vorangehende semantische Diskussion sind zum Teil berechtigt. Insbesondere ist es richtig, dass – anders als dies in Beyers ThWNT-Artikel zur Wortgruppe postuliert wurde8 – nicht einseitig von einer Ausgangs5
D. Starnitzke, Diakonie in biblischer Orientierung. Biblische Grundlagen – ethische Konkretionen – diakonisches Leitungshandeln, Stuttgart 2011, 11–43, sucht im Blick auf den Wortgebrauch im Corpus Paulinum den Anschluss an die These von Collins, erachtet aber in den Evangelien die Übersetzung von διάκονος mit Diener weiterhin als „plausibel“ (36). 6 Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 39 (mit Bezug auf Platon). 7 Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 1. 8 H. W. Beyer, Art. διακονέω, διακονία, διάκονος, ThWNT II, 1935, 81–93, hier 81. – Beyer erwog gar, dass in der Bezeichnung der Evangeliumsverkündigung als διακονία τοῦ λόγου (Apg 6,4) „vielleicht der ursprüngliche Sinn von διακονεῖν noch durch[klingt]: Darbietung des Wortes Gottes als Lebensbrot“ (87). Zu Recht kritisch dazu Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 87.
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und Grundbedeutung „Tischdienst“ auszugehen ist, wenngleich, wie Collins selbst konzediert, zugleich festzuhalten ist, „that a reference to service at table is the most common single reference“.9 Richtig ist auch, dass die Wortgruppe nichts über den genauen Status des διάκονος oder die Wertung der als διακονεῖν bezeichneten Tätigkeit sagt.10 Das weitergehende Anliegen von Collins und Hentschel, den Aspekt des Dienstcharakters überhaupt zugunsten der Aspekte von Beauftragung oder Vermittlung hintan oder gar in Frage zu stellen, führt allerdings schwerlich auf einen semantisch überzeugenden Pfad. Unterzieht man die Argumentation bei Collins und Hentschel einer kritischen Prüfung, zeigt sich vielmehr, dass ihre Behauptungen zur Grundbedeutung von διακονεῖν κτλ auf äußerst tönernen Füßen stehen. Ismo Dunderberg hat in einer kritischen Auseinandersetzung mit der These von Collins darauf hingewiesen, „dass der Unterschied zwischen der traditionellen Ansicht von diakonein als ‚jemandem einen Dienst erweisen‘ und den von Collins vorgebrachten Bedeutungen ‚etwas für jemanden leisten‘ oder ‚im Auftrag eines anderen stehen‘ in den von ihm behandelten Texten normalerweise nicht besonders groß ist“11 und es damit in einer Reihe von Texten, die Collins für seine These geltend macht, keine hinreichende Grundlage für eine klare Entscheidung gibt. Bei einigen Texten wirken die Deutungen von Collins wie auch von Hentschel hingegen geradezu gesucht oder sogar fragwürdig. Die Diskussion relevanter Textbelege kann hier nur exemplarisch geschehen. Ich konzentriere mich auf einige zentrale Texte, die Collins und Hentschel für ihre Thesen ins Feld geführt haben.
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Collins, Diakonia (Anm. 3), 75. Vgl. z.B. Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 85. 11 I. Dunderberg, Vermittlung statt karitativer Tätigkeit? Überlegungen zu John N. Collins’ Interpretation von diakonia, in: V. Herrmann, R. Merz, H. Schmid (Hg.), Diakonische Konturen. Theologie im Kontext sozialer Arbeit, VDWI 18, Heidelberg 2003, 171–183, hier 176. 10
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Collins setzt für seine These mit Platon, Resp 370-371 ein.12 Platon reflektiert hier über die Erfordernisse eines Gemeinwesens, das im Blick auf die Organisation der erforderlichen Tätigkeiten sinnvollerweise auf der Arbeitsteilung seiner Glieder beruht, und führt aus, dass ein solches Gemeinwesen auch der Zufuhr von außen und damit des Handels bedarf, der wiederum voraussetzt, dass in dem betreffenden Gemeinwesen nicht nur für den eigenen Bedarf produziert wird. In diesem Zusammenhang begegnet in 370E das Wort διάκονος: Wenn der διάκονος leer zu anderen hinkommt, wird er auch leer wieder zurückkehren. Collins schlägt nun vor, dass διάκονος hier im Sinne von „courier“ oder „go-between“ zu verstehen sei.13 In 371A werden diese διάκονοι dann als Händler identifiziert. Allerdings werden im Fortgang auch Tagelöhner als διάκονοι bezeichnet (371D–E). Nichts weist darauf hin, dass die Tagelöhner, wie Collins behauptet, zum „commercial sector of the populace“14 zu rechnen sind; es handelt sich vielmehr um Leute, die Dienste für andere leisten. Dies wird bestätigt, wenn man ferner einbezieht, dass im Fortgang des Dialogs auch z.B. Barbiere und Köche ebenfalls unter διάκονοι rubriziert werden (373C); auch diese geraten mit dieser Bezeichnung als Dienstleister im Gemeinwesen in den Blick. Collins’ Postulat, dass διάκονος in Resp 370-371 „only in connection with commercial activities“ verwendet werde,15 scheitert also gleich an mehreren Punkten: Es basiert auf einer Fehldeutung der Rolle der Tagelöhner und ignoriert den Gebrauch von διάκονοι im Fortgang des Dialogs in 373C. Der Gebrauch von διάκονοι in 371D und 373C stellt zudem auch Collins’ Deutung von 371A (und 370E) in Frage, denn die weiteren Vorkommen des Wortes legen nahe, dass Platon in 371A „eher sagen will, dass die Bauern die Dienstleistungen der Kaufleute in Anspruch nehmen müssen, um ihre Produkte verkaufen zu können.“16 Überdies kann man fragen, ob in der auf die Händler bezogenen Wendung τῶν ἄλλων διακόνων nicht impliziert ist, dass auch die zuvor genannten Bauern und Handwerker als διάκονοι aufgefasst werden; sie alle leisten ihre Dienste für das Gemeinwesen. Hentschel bezieht sich für ihre These, dass ein διάκονος ein Beauftragter sei und διακονεῖν „einen Auftrag ausführen“ bedeute, neben dem angeführten Passus aus Platon, Resp 370-371, unter anderem auch auf den Befund bei Dion von Prusa,17 doch vermag ihre Deutung der einschlägigen Passagen schwerlich zu überzeugen. Ich beschränke mich 12 Collins, Diakonia (Anm. 3), 78–81. Vgl. Hentschel, Diakonia (s. Anm. 4), 34–39. 13 Collins, Diakonia (Anm. 3), 79. 14 Collins, Diakonia (Anm. 3), 80. 15 Collins, Diakonia (Anm. 3), 80. 16 Dunderberg, Vermittlung (Anm. 11), 177 (Hervorhebung im Original). 17 Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 44–49.
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auf zwei Beispiele. So ist schwer verständlich, warum in Or 10,10 in der Aussage, dass die Herren zuweilen „mehr in der Klemme stecken als ihre armen διάκονοι, die keinen Haussklaven haben“, unter διάκονοι nicht „Diener“, sondern „Beauftragte“18 zu verstehen sein sollen. Gleiches gilt für Or 49,7f., wo Dion ausführt, dass Königen Philosophen als Ratgeber zur Seite zu stellen sind, so dass die Könige letztlich nur ὑπηρέται καὶ διάκονοι der Philosophen seien (49,8). Wiederum gibt es keinerlei Grund, διάκονοι hier anderes denn als „Diener“ zu verstehen.19 Und wenn, um nur ein weiteres Beispiel zu geben, Epiktet, Diss 2,23,1-15, die Sinnesorgane in ihrem Verhältnis zur προαίρεσις bzw. zur προαιρετικὴ δύναμις als διάκονοι bestimmt (2,23,7.8, vgl. die Verwendung des Verbs in 2,23,11), dürfte „Diener“ im Vergleich zu „Beauftragte“20 oder „agent“21 die treffendere Übersetzung sein, wobei zugleich die Unterordnung der διάκονοι als semantischer Aspekt evident ist (s. bes. 2,23,8). In Epiktets Kynikerdiatribe (Diss 3,22) schlägt Hentschel für die Wendung ὅλον πρὸς τῇ διακονίᾳ τοῦ θεοῦ (3,22,69) als Wiedergabe vor, dass der Kyniker „ganz im Auftrag der Gottheit“ stehen muss.22 Wiederum gibt es aber keinen Grund, von der Übersetzung von διακονία mit „Dienst“23 abzurücken. Zwar wird die διακονία im Fortgang dahingehend erläutert, dass der Kyniker Bote, Kundschafter und Herold der Götter sei (τὸν ἄγγελον καὶ κατάσκοπον καὶ κήρυκα τῶν θεῶν), doch entspricht der Ausdruck ὅλον πρὸς τῇ διακονίᾳ τοῦ θεοῦ dem, was zuvor in 3,22,56 als λατρεύειν mit Zeus als Bezugspunkt bezeichnet wurde.24 Ganz eindeutig ist der mit διακονεῖν κτλ verbundene Dienstcharakter z.B. in einem über die Pflichten gegenüber den Eltern handelnden, von Stobaios zitierten Fragment des Stoikers Hierokles (Stobaios 4,25,53, ed. Wachsmuth/Hense 4 p. 640,4–644,15), wo παραστῆσαι διακονουμένους als das letzte Glied einer ferner das Waschen der Füße und das Bettenmachen umgreifenden Trias von niederen Diensten begegnet (644,1f.), die man den alt gewordenen Eltern zu deren Freude zuteilwerden lassen soll. Im Blick ist beim dritten Glied wohl konkret das Aufwarten zu Tisch. Blickt man auf die frühjüdische Literatur, so sind unter den Zeugnissen des hellenistischen Frühjudentums an erster Stelle die Belege von 18
Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 46f. Anders. Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 48. 20 Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 51. 21 Collins, Diakonia (Anm. 3), 138. 22 Hentschel, Diakonia (Anm. 44), 53 (Hervorhebung im Original). 23 So z.B. die Übersetzung von M. Billerbeck in: Epiktet, Vom Kynismus, hg. und übers. mit einem Kommentar von ders., PhAnt 34, Leiden 1978, 29. 24 Vgl. den entsprechenden Verweis in Billerbeck, Epiktet (Anm. 23), 133. 19
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διακονία in TestHiob 11,1-3 von Gewicht. „[S]chwierig zu interpretieren“25 sind die Belege nur, wenn man von der fragwürdigen Voraussetzung ausgeht, das Nomen beschreibe „in der Regel eine Tätigkeit, die im Namen eines Auftraggebers ausgeübt wird und häufig mit einer Vermittlungsrolle im weitesten Sinne einhergeht“.26 Hingegen bereitet es keinerlei Probleme, mit διακονία hier schlicht den „Dienst“ für die Armen bezeichnet zu sehen. Genauer: Wenn in 11,1 von Fremden die Rede ist, die „bei der Diakonie helfen (ὑπηρετῆσαι τῇ διακονίᾳ)“ möchten, dann weist die durch den Artikel determinierte Rede von der διακονία auf das zurück, was zuvor in 9,2-10,7 an Aktivitäten Hiobs geschildert wurde. Die den postulierten Beauftragungsaspekt zur Geltung bringende These, dass διακονία in TestHiob 11,1-2 „eine … Tätigkeit im Namen des Hiob beschreibt“,27 geht am Textduktus völlig vorbei. In Sonderheit ist festzuhalten, dass der Terminus διακονία dem Autor offenbar geeignet schien, um das zuvor geschilderte karitative Handeln auf den Begriff zu bringen.28 Geradezu skurril mutet die vorgeschlagene Übersetzung von TestJuda 14,2a (τὸ γὰρ πνεῦμα τῆς πορνείας τὸν οἶνον ὡς διάκονον πρὸς τὰς ἡδονὰς ἔχει τοῦ νοός) bei Hentschel wie Collins an: „Denn der Geist der Hurerei gebraucht den Wein als einen Beauftragten zu (der Erregung) der Lust des Verstandes“,29 bzw.: „In fact the spirit of lust keeps wine as an emissary for pleasurably stimulating the mind“.30 Auch hier dürfte die Wiedergabe von διάκονος mit „Diener“ statt mit „Beauftragter“ oder „emissary“ deutlich treffender sein. Bezeichnenderweise nicht thematisiert werden von Hentschel die drei Belege des Verbs διακονεῖν in JosAs (2,6; 13,15; 15,7),31 unter denen die ersten beiden deutlich machen, dass mit διακονεῖν ein Handeln einer untergeordneten bzw. sich unterordnenden Person zugunsten eines anderen bezeichnet werden kann. In JosAs 2,6 ist von den sieben Jungfrauen die Rede, welche Aseneth dienten (καὶ αὗται ἦσαν διακονοῦσαι τῇ Ἀσενέθ). In JosAs 13,15 bittet Aseneth Gott, dass sie Joseph als Magd und Sklavin gegeben werden, und sie sagt: „Ich will ihm sein Bett ausbreiten, seine Füße waschen und ihm dienen (καὶ διακονήσω 25
Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 65. Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 66f. (Hervorhebungen im Original). 27 Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 67 (Hervorhebung im Original). 28 Zum ausführlichen Gemälde der Armenfürsorge Hiobs in TestHiob 9-15 s. K. Berger, ‚Diakonie‘ im Frühjudentum. Die Armenfürsorge in der jüdischen Diasporagemeinde zur Zeit Jesu, in: G. K. Schäfer, T. Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den diakonischen Auftrag, VDWI 2, Heidelberg 21994, 94–105, hier 94–98. 29 Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 64 (Hervorhebung im Original). 30 Collins, Diakonia (Anm. 3), 121. 31 διακονία und διάκονος fehlen in JosAs. 26
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αὐτῷ). Ich will seine Sklavin sein und ihm als Sklavin dienen (καὶ δουλεύσω αὐτῷ) für ewige Zeit.“ Analog zum Nebeneinander von διάκονος und δοῦλος in Mt 20,26f. stehen hier διακονεῖν und δουλεύειν synonym beisammen.32 Als letzter Beispieltext sei Josephus, Ant 18,193f. beigezogen. Josephus schildert hier die Episode, dass Agrippa als Gefangener des Tiberius einen mit einem Wassergefäß vorbeigehenden Sklaven des Gaius namens Thaumastus um etwas zu trinken bittet. Nachdem dieser der Bitte nachgekommen ist, sagt Agrippa ihm als Dank für seine διακονία (193) bzw. für das διακονεῖν, das ihm auch jetzt als Gefangener zuteilwurde (ὃς καὶ δεσμώτῃ μοι γενομένῳ διακονεῖσθαι, 193) zu, bei Gaius seine Freilassung zu erwirken, wenn er selbst freigekommen ist. Hentschel will auch hier διακονία im Sinne der Ausführung eines Auftrags verstehen und postuliert für ὃς καὶ δεσμώτῃ μοι γενομένῳ διακονεῖσθαι die Bedeutung, dass Thaumastus auch jetzt, da Agrippa gefangen ist, Aufträge ausgeführt hat, obwohl, wie sie selbst konzediert, der inhaftierte Agrippa hier lediglich eine Bitte auszusprechen vermag. Wesentlich plausibler ist es auch hier, mit διακονεῖν ein Handeln für bzw. zugunsten von jemandem bezeichnet zu sehen und mit διακονία entsprechend einen Dienst, dem man jemandem leistet.33
Die angeführten Beispiele können leicht um weitere ergänzt werden, doch muss hier die exemplarische Sichtung der Belege genügen. Der Sachverhalt, dass das Wortfeld in der Tat relativ häufig im Zusammenhang von Botengängen bzw. der Vermittlung von Botschaften begegnet, ist nicht zu bestreiten, erklärt sich aber „ganz natürlich dadurch, dass es in der Antike normalerweise Diener waren, die im Auftrag von ihren Herren Botengänge machten.“34 Anders gesagt: Gegen Collins und Hentschel ist m.E. daran festzuhalten, dass die Wortgruppe im Allgemeinen eine Tätigkeit bezeichnet, die man für jemanden, 32 In JosAs 15,7 heißt es von der Umkehr (μετάνοια), sie werde alle wiedererneuern, die sich bekehren, und ihnen dienen (διακονήσει) auf ewig. 33 διακονεῖν kann bei Josephus auch „eine Anweisung ausführen“ bedeuten, so mehrfach in der Erzählung über Caligulas Versuch, eine Statue im Jerusalemer Tempel aufzustellen (Ant 18,261-309), mit Blick darauf, dass Petronius sich gegenüber dem Volk auf eine Anweisung Caligulas beruft (18,262.265.269.277), doch schwingt hier deutlich das Moment mit, dass Petronius als Untergebener gebunden ist. 34 Dunderberg, Vermittlung (Anm. 11), 178.
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um jemandes willen oder zugunsten von jemandem ausübt, wofür die Wortgruppe „Dienst, dienen, Diener“ im Deutschen in einer Vielzahl von Fällen eine angemessene Übersetzung bietet. Dieser „Jemand“ kann der Auftraggeber oder der Empfänger sein, und das διακονεῖν kann eine vermittelnde Tätigkeit sein. Aber das macht den διάκονος nicht der Grundbedeutung nach zu einem Vermittler oder Boten und die διακονία nicht per se zu einer vermittelnden Tätigkeit, sondern der Diener kann Aufträge erhalten oder als Vermittler fungieren, und die mit διακονία bezeichnete Tätigkeit kann auf einem Auftrag beruhen und/oder eine vermittelnde Tätigkeit sein. Von der Kritik an den Ansätzen von Collins und Hentschel bleibt indes die Einsicht unberührt, dass der Wortgruppe keineswegs der Aspekt karitativen Handelns anhaftet, sondern sie diesen nur durch den Verwendungszusammenhang erhalten kann. Dies ist in TestHiob 11,1-3 geschehen, wo die διακονία den Dienst an den Armen meint, aber auch das Matthäusevangelium weist diesen Verwendungszusammenhang auf. Matthäus verwendet sechsmal das Verb διακονεῖν (Mt 4,11; 8,15; 20,28[bis]; 25,44; 27,55) und dreimal das Nomen διάκονος (Mt 20,26; 22,13; 23,11); διακονία fehlt im Matthäusevangelium.35 Bei allen sechs Vorkommen des Verbs legt sich im Deutschen eine Übersetzung mit „dienen, helfen“ nahe. In 4,11 wird im Anschluss daran, dass Jesus die drei Versuchungen des Teufels bestanden hat (4,3-10) und der Teufel auf Jesu gebieterisches Wort „geh fort, Satan!“ (4,10) hin von Jesus gewichen ist (4,11a), notiert, dass die Engel hinzutraten und Jesus dienten (par Mk 1,13). Zumal angesichts dessen, dass Jesus zuvor vierzig Tage und Nächte hungerte, liegt die Annahme nahe, dass dies die Versorgung mit Speise einschließt (vgl. 1Kön Die Belege von διακονεῖν in Mt 4,11; 8,15; 20,28; 27,55 haben Entsprechungen im Markusevangelium (Mk 1,13.31; 10,45; 15,41). Gleiches gilt von διάκονος in Mt 20,26 (par Mk 10,43). Mt 23,11 ist eine variierende Verdoppelung von 20,26. Allein die Belege von διάκονος in 22,13 und von διακονεῖν in 25,44 entstammen dem matthäischen Sondergut. 35
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19,5-8).36 Gleiches dürfte für Mt 8,15 (par Mk 1,31) gelten, wo es von der vom Fieber geheilten Schwiegermutter des Petrus heißt, dass sie aufstand und ihm diente.37 Einstellen kann man hier den Beleg von διάκονος im matthäischen Sondergutspassus in 22,13, wo man sich die διάκονοι, die den ohne hochzeitliches Gewand beim Hochzeitsmahl erschienenen Gast hinauswerfen sollen, als Tischdiener vorzustellen hat. In 27,55, wo die Frauen, die bei der Kreuzigung von weitem zuschauten, als solche identifiziert werden, „die Jesus von Galiläa nachgefolgt waren, um ihm zu dienen“,38 dürfte διακονεῖν umfassender zu verstehen sein. Es geht um Unterstützung unterschiedlicher Art, die die Versorgung mit Speisen einschließen wird, aber darin nicht aufgeht. Klar ist aber auch hier, dass nicht betont ist, dass die Frauen vermittelnde Tätigkeiten ausgeübt oder Aufträge ausgeführt haben, sondern dass sie Jesus in seinem Wirken durch ihre „Dienste“ unterstützt haben. Mt 25,44 steht im Kontext der Auflistung der Werke der Barmherzigkeit im Rahmen der Endgerichtsschilderung in 25,31-46. Der Passus wird unten in Abschnitt 4 noch ausführlich analysiert werden, doch kann schon hier so viel vorweggenommen werden, dass hier erstens nichts gegen die traditionelle Übersetzung von διακονεῖν mit „dienen“ spricht und διακονεῖν zweitens eben als zusammenfassende Bezeichnung für die zuvor genannten karitativen
36 Vgl. z.B. W. D. Davies, D. C. Allison, A Critical and Exegetical Com-
mentary on the Gospel According to Saint Matthew, Vol. 1: Introduction and Commentary on Matthew I–VII, ICC, Edinburgh 1988, 374. 37 In Mt 8,15 eine Spannung zu 20,28 (Jesus ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen) zu sehen, wäre mehr als gesucht. Erzähllogisch fungiert der Dienst der Schwiegermutter des Petrus hier als Beleg für die sofortige Heilung, er ist aber nicht selbst Ziel der Heilung. 38 Matthäus ersetzt das parataktische καὶ διηκόνουν durch das Partizip διακονοῦσαι, das man in der Koine trotz seiner präsentischen Form final auffassen kann (zu diesem Gebrauch des Partizips Präsens s. BDR § 418.4).
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Taten dient.39 Ganz entschieden an der traditionellen Bedeutungszuschreibung ist nicht zuletzt ferner für Mt 20,26; 23,11 und 20,28 festzuhalten. Wenn unter den Jüngern der, der groß sein will, „euer διάκονος“ sein soll, dann soll dieser sich nicht zum Boten oder Vermittler ausbilden lassen, denn es geht hier nicht, wie Hentschel postuliert, rein formal um eine „Person, die Aufträge auszuführen hat“.40 Dagegen spricht an dieser Stelle schon, dass das Genitivattribut ὑμῶν, wie Michael Theobald treffend notiert hat, hier nicht einen Auftraggeber bezeichnet, sondern „im Gegenteil die Nutznießer des auf dem letzten Platz stehenden ‚Dienstleistenden‘“.41 Vielmehr sollen die Jünger bereit sein, sich den Interessen anderer unterzuordnen, anderen in ihren Belangen zu helfen und sie zu unterstützen, also für sie Dienste zu versehen, oder kurz: ihnen zu dienen.42 39
Vgl. exemplarisch U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 3. Teilbd.: Mt 18-25, EKK I/3, Zürich, Düsseldorf, Neukirchen-Vluyn 1997, 541 und Dunderberg, Vermittlung (Anm. 11), 181f., der zudem mit Blick auf die These von Collins treffend notiert: „Es ist schwer vorstellbar, wie die alternativen Bedeutungen von Collins für diakonein in diesem Zusammenhang sinnvoll angewendet werden könnten“ (182). – Als Ausgangspunkt für die Definition des Begriffs Diakonie wählt Mt 25,44 z.B. H. K. Nielsen, Diakonie als bibeltheologisches Thema, in: S. Pedersen (Hg.), New Directions in Biblical Theology. Papers of the Aarhus Conference, 16–19 September 1992, NT.S 76, Leiden, New York 1994, 201–219, hier 201f. 40 Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 276 (Hervorhebung im Original). 41 M. Theobald, Eucharistie als Quelle sozialen Handelns. Eine biblisch-frühkirchliche Besinnung, BThSt 77, Neukirchen-Vluyn 2012, 38. 42 Nicht überzeugend ist auch der Versuch von Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 277, in Mk 10,43 (par Mt 20,26) eine Aussage über den Status des διάκονος auszuklammern, indem sie postuliert: „Während mit dem Nomen Sklave v.a. der niedrige Status der entsprechenden Person assoziiert ist, zielt die Bezeichnung διάκονος in erster Linie auf das Tun des Subjekts, das seinen Auftrag schnell und zuverlässig auszuführen hat“ (Hervorhebungen im Original). Demgegenüber hat Theobald, Eucharistie (Anm. 41), 37 zu Recht darauf hingewiesen, dass Mk 10,43.44 (par Mt 20,26.27) einen Parallelismus bilden, dessen beide Hälften sich wechselseitig interpretieren. Theobald verweist zudem auf den wohl redaktionell von Markus gebildeten Vers Mk 9,35 (εἴ τις θέλει πρῶτος
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Gleiches gilt für den Gebrauch des Verbs in Mt 20,28 par Mk 10,45, d.h. der Vers besagt nicht bloß, dass der Menschensohn nicht gekommen ist, „um für sich selbst Aufträge ausführen zu lassen, d.h. Aufträge zu erteilen und somit eine herrschaftliche Rolle auszufüllen, sondern um selbst einen Auftrag auszuführen, der in Mk 10,45b explizit genannt wird“,43 sondern διακονεῖν meint hier umfassend das Dasein für andere und Unterordnung eigener Lebensinteressen unter die Belange anderer, die im Falle Jesu in seiner Lebenshingabe als höchstem Ausdruck des διακονεῖν gipfelt. Im folgenden Abschnitt ist nun näher nach den Signaturen des diakonischen Handelns Jesu im Matthäusevangelium zu fragen. 2. Das diakonische Handeln Jesu im Matthäusevangelium Festzuhalten ist mit Blick auf Mt 20,28 vorab, dass es keinen der matthäischen Darstellung des Wirkens Jesu fremden Begriff an diese heranträgt, wenn man vom diakonischen Handeln Jesu spricht. Matthäus hat in 20,28 das begründende γάρ seiner Markusvorlage (Mk 10,45) durch ὥσπερ ersetzt und damit den Akzent darauf verlagert, dass Jesu Verhalten der Maßstab für das Handeln seiner Jünger sein soll, ohne damit das begründende Moment von Mk εἶναι, ἔσται πάντων ἔσχατος καὶ πάντων διάκονος), „der den Parallelismus von 10,43f. vorweg zu einer einzigen Aussage kondensiert“ (ebd.). 43 Hentschel, Diakonia (Anm. 4), 278 (Hervorhebungen im Original; vgl. zuvor bereits Collins, Diakonia [Anm. 3], 248–252). Gegen Hentschel hat Theobald, Eucharistie (Anm. 41), 38 zu Recht auf das „Sprachmuster der Worte vom Kommen Jesu“ hingewiesen: „Diese haben nämlich in der Regel zwei Teile: eine formale Sendungsaussage (‚ich bin gekommen‘, ‚er ist gekommen‘) und eine inhaltliche Zielangabe dieses ‚Gekommen-Seins‘. Daraus folgt: Die Opposition οὐκ διακονηθῆναι/διακονῆσαι trifft eine inhaltliche Aussage – und Mk 10,45a.b [bei Hentschel Mk 10,45a, Anm. MK] kann als eigenständiger Satz begriffen werden, der semantisch nicht auf V.45c [bei Hentschel V.45b, Anm. MK] angewiesen ist“ (Hervorhebungen im Original).
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10,45 aufzuheben. Die Jünger sollen sich am Verhaltensmodell des Dieners (Diakons) und des Sklaven orientieren, weil und wie Jesus gekommen ist, um zu dienen. Von Bedeutung ist, dass die zweite positive Aussage in V.28b „und um sein Leben zu geben als Lösegeld für viele“ nicht als eine umfassende Definition zu lesen ist,44 worin Jesu διακονεῖν besteht, aber auch nicht als ein zweites Element neben dem διακονεῖν aufzufassen ist, sondern, wie oben angedeutet, als dessen Gipfelpunkt. Die – von Markus übernommene – kompositorische Platzierung dieser Aussage relativ am Ende des Weges Jesu nach Jerusalem verleiht dem Logion damit zum einen den Charakter eines summarischen Rückblicks auf das vorangehende Wirken Jesu, zum anderen besitzt es eine Brückenfunktion als Vorausblick auf die anstehende Passion. Blickt man auf das zuvor geschilderte Wirken Jesu, so findet sein διακονεῖν eine facettenreiche Illustration in seiner erbarmungsvollen Zuwendung zu den Volksmengen, die ihre, quantitativ betrachtet, bedeutendste Manifestation in seinem heilenden Handeln findet. Angesichts der starken Betonung der Lehre Jesu rückt in der Wahrnehmung des Jesusbildes des ersten Evangeliums zu Unrecht zuweilen eher an den Rand, dass für Matthäus auch das therapeutische Wirken Jesu von allergrößter Bedeutung ist. In den beiden Summarien, die in 4,23 und 9,35 Matthäus’ grundlegende Präsentation des Wirkens Jesu rahmen, ist neben der Lehre in den Synagogen und der Verkündigung des Evangeliums vom Reich ebenso vom Heilen aller Krankheiten und Gebrechen die Rede. Bevor die Lehre Jesu durch die Bergpredigt entfaltet wird, hebt Matthäus in 4,24 zunächst noch einmal Jesu therapeutisches Handeln hervor. Im weiteren Verlauf der Erzählung ist dann in einer Reihe weiterer Summarium allein vom heilenden Wirken Jesu die Rede.45 Besonders auffällig ist hier, dass Matthäus die beiden markinischen Notizen über die Lehre Diese Tendenz z.B. bei Klumbies, Diakonie (Anm. 1), 14: „Das Dienen Jesu wird als erlösender Tod für viele verstanden.“ 45 Siehe Mt 8,16; 12,15; 14,14.35f; 15,30; 19,2; 21,14. 44
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Jesu in Mk 6,34 und 10,1 durch Heilungssummarien ersetzt hat (Mt 14,14; 19,2). An anderen Stellen hat er markinische Heilungssummarien bearbeitet, um Jesu heilendes Handeln stärker zu betonen. Während nach Mk 1,32-34 alle Kranken und Besessenen zu Jesus gebracht werden und er viele heilt, heilt Jesus nach Mt 8,16 alle. Diese Ersetzung der Heilung „vieler“ durch „alle“ wiederholt sich in Mt 12,15 par Mk 3,10. Kurzum: Matthäus legt großen Wert auf die heilende Zuwendung Jesu zu den Menschen.46 Dieses Moment wird nun, wie angedeutet, dadurch profiliert, dass Matthäus Jesu Heilungen betont durch das Motiv des Erbarmens interpretiert, dem im ersten Evangelium geradezu leitmotivische Bedeutung zukommt. Zum einen lässt Matthäus durch die Ersetzung der Lehre durch Heilungen im Summarium in Mt 14,14 (par Mk 6,34) eben Letztere im σπλαγχνίζεσθαι Jesu verankert sein (vgl. 20,34). Zum anderen begegnet die – Gebetssprache der Psalmen aufnehmende – Anrufung Jesu um Erbarmen47 im Zusammenhang von Heilungen in keinem anderen Evangelium so häufig wie bei Matthäus. Während sie sich bei Markus nur im Munde des blinden Bartimäus findet (Mk 10,47.48 parr Mt 20,30.31; Lk 18,38.39), hat Matthäus sie an drei weiteren Stellen aufgenommen: in den Heilungen der beiden Blinden in 9,28, der Tochter der Kanaanäerin in 15,22 sowie des epileptischen Jungen in 17,15.48 Christologisch ist überdies zu beachten, dass der 46
Vgl. zur redaktionellen Hervorhebung des heilenden Wirkens Jesu als Ausdruck der Zuwendung zu den Volksmengen J. R. C. Cousland, The Crowds in the Gospel of Matthew, NT.S 102, Leiden, Boston, Köln 2002, 108–117. 47 Zum Erbarmensruf im Psalter s. Ps 6,3; 9,14; 24,16LXX; 25,11LXX; 26,7LXX; 29,11LXX; 30,10LXX; 40,5.11LXX; 50,3LXX u.ö. 48 Mt 9,27-31 ist eine freie Reduplikation von Mk 10,46-52 par Mt 20,29-34, sodass der Erbarmensruf hier als direkt durch die markinische Vorlage inspiriert rubriziert werden kann. In Mt 15,22 und 17,15 verdankt sich der Erbarmensruf Matthäus’ redaktioneller Hand. In Mt 17,15 gibt es allerdings insofern einen gewissen Anhalt an der markinischen Vorlage, als in Mk 9,22 der Ruf βοήθησον ἡμῖν σπλαγχνισθεὶς ἐφ᾽ ἡμᾶς begegnet. – Lukas hat den Erbarmensruf nirgends redaktionell
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Erbarmensruf in vier der fünf matthäischen Belege mit der Anrufung Jesu als Sohn Davids verknüpft ist49 und Matthäus die Davidsohnschaft Jesu zu einem christologischen Leitmotiv seines Evangeliums ausgebaut hat.50 Dass Matthäus die Anfrage des Täufers in 11,3, ob Jesus der Kommende sei, mit den Worten eingeleitet hat, dass er im Gefängnis von den Werken des Christus gehört hat (11,2), und der Christustitel hier durch den vorangehenden Kontext im Sinne der davidischen Messiantität Jesu koloriert ist, ferner Jesus mit dem Verweis eben auf sein heilendes Wirken antwortet, macht deutlich, dass allgemein gilt: Jesu Heilungen sind für Matthäus Ausdruck der erbarmungsvollen Zuwendung des davidischen Messias zu seinem Volk, mit denen sich die diesem gemachten Heilsverheißungen erfüllen. Die Christologie und Ethik umgreifende leitmotivische Bedeutung der Barmherzigkeit im Matthäusevangelium kommt ferner in der zweimaligen Zitation von Hos 6,6 zum Ausdruck. In 12,7 ist sie Teil eines halachischen Arguments, mit dem Jesus das Ährenraufen der Jünger am Sabbat verteidigt. Nach der Tora gehört es zu den priesterlichen Pflichten, die für den Sabbattag vorgeschriebenen Opfer darzubringen (Num 28,9f.), womit sie den Sabbat entweihen. Da nach dem Prophetenwort Barmherzigkeit über dem Opfer steht, wird das Ruhegebot am Sabbat erst recht durch die Barmherzigkeitsforderung verdrängt. Also sind die Jünger völlig unschuldig.51 Positiv gewenim Markusstoff eingetragen, bietet aber in der Sondergutperikope von der Heilung der zehn Aussätzigen einen weiteren Beleg (Lk 17,13). 49 Die einzige Ausnahme ist Mt 17,15. Sie lässt sich erklären. Siehe dazu M. Konradt, „Glückselig sind die Barmherzigen“ (Mt 5,7). Mitleid und Barmherzigkeit als ethische Haltung im Matthäusevangelium, in: ders.., Studien zum Matthäusevangelium, hg. v. A. Euler, WUNT 358, Tübingen 2016, 413–441, hier 425, Anm. 36. 50 Siehe dazu M. Konradt, Davids Sohn und Herr. Eine Skizze zum davidisch-messianischen Kolorit der matthäischen Christologie, in: ders.., Studien zum Matthäusevangelium (Anm. 49), 146–170. 51 Das hier zutage tretende Moment einer Hierarchie unter den Geboten ist in der matthäischen Gesetzeshermeneutik von zentraler Bedeutung.
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det: Der Primat der Barmherzigkeit bedeutet, dass der Stillung elementarer leiblicher Bedürfnisse Priorität einzuräumen ist gegenüber der Beachtung kultischer Vorschriften. Der Einführung des Barmherzigkeitsmotivs in die Perikope vom Ährenraufen steht zur Seite, dass bei der zweiten wundersamen Speisung das σπλαγχνίζεσθαι Motiv nicht mit den vorangehenden Heilungen, sondern – im Gefolge von Mk 8,2 – mit der Speisung selbst verbunden ist. Die Szenerie ist in 15,32-39 insofern eine andere als bei der vorangehenden Speisung der 5000 in 14,13-21, als die Menschen mit ihren Kranken nicht bloß bis zum Abend bei Jesus sind, sondern schon drei Tage bei ihm ausharren, so dass Jesus fürchtet, sie würden auf dem Rückweg verschmachten.52 Im weiteren Sinn ist in diesem Zusammenhang schließlich noch auf das Vaterunser zu verweisen, in dem die Brotbitte (6,11) deutlich macht, dass leibliche Belange wie die materielle Versorgung mit dem Lebensnotwendigen keineswegs außerhalb des Bereichs der religiösen Aufmerksamkeit liegen. Folgt im Vaterunser auf die Brotbitte die Bitte um Vergebung, so ist mit der Zuwendung zu Sündern ein weiterer zentraler Bereich angesprochen, in dem Matthäus das Erbarmensmotiv in seiner Darstellung des irdischen Wirkens Jesu zur Geltung bringt. Matthäus’ erster Rekurs auf Hos 6,6 begegnet in einer Einfügung in die Kontroverse Jesu mit Pharisäern, die seine Tischgemeinschaft mit Sündern kritisch beäugen und sich mit einer vorwurfsvollen Frage an Jesu Jünger wenden: „Warum isst euer Lehrer mit Zöllner und Sündern?“ Die Replik des matthäischen Jesus gliedert sich durch die Einfügung von Hos 6,6 in drei Schritte.53 Erstens wird durch das Bildwort vom Arzt die Siehe dazu M. Konradt, Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium, in: ders., Studien zum Matthäusevangelium (Anm. 49), 288–315. 52 Anders als in 14,14 begegnet das Motiv des σπλαγχνίζεσθαι in 15,32 ferner nicht als Deutung des Geschehens auf der Ebene der Erzählung, sondern in wörtlicher Rede Jesu. 53 Ausführlicher zum Folgenden Konradt, Glückselig (Anm. 49), 422– 424.
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Situation so interpretiert, dass so, wie ein Kranker eines Arztes bedarf, Sünder nicht als auszugrenzende, sondern als zuwendungsbedürftige Menschen zu sehen sind. Zweitens wird die Tischgemeinschaft durch den Rekurs auf Hos 6,6 als Akt des von Gott geforderten Erbarmens gedeutet und durch die Autorität der Schrift legitimiert. Jesu Selbstaussage über Sinn und Zweck seiner Sendung im dritten Schritt – „ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder“ – ist bei Matthäus vor diesem Hintergrund zu lesen. Sie ist zumal angesichts der Verknüpfung mit dem vorangehenden Hoseazitat im weiteren Kontext zugleich auf die vorangehende Aussage über den Sinn des Gekommenseins Jesu in 5,17 rückbezogen: Jesus ist gekommen, um Tora und Propheten zu erfüllen. Dies tut er, eben in der Zuwendung zu Sündern, denn in Tora und Propheten stehen Nächstenliebe und Barmherzigkeit an oberster Stelle (vgl. Mt 22,34-40; 23,23). Für Matthäus ist Jesu Zuwendung zu Sündern in Gestalt der ihnen gewährten Tischgemeinschaft also gerade keine gelebte Torakritik, sondern im Gegenteil Kernpunkt der Erfüllung von Tora und Propheten in der eigenen Lebenspraxis.54 Zu bedenken ist überdies, dass Jesu Annahme der Sünder auch für die zuvor thematisierten Aspekte seiner Barmherzigkeitspraxis von Belang ist. Verbindet man nämlich die verschiedenen Facetten miteinander, dann macht die Annahme der Sünder deutlich, dass die Zuwendung zu Kranken oder Hungernden nicht an Voraussetzungen wie etwa moralische Würdigkeit des Hilfeempfängers geknüpft ist. Einzubeziehen ist schließlich noch Mt 9,36. Matthäus begründet hier die Aussendung der Jünger zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel im σπλαγχνίζεσθαι Jesu: „Als er aber die Volksmengen sah, hatte er Mitleid mit ihnen, denn sie waren geplagt und daniederliegend wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ Direkt voran geht das abschließende Summarium der Präsentation des Wirkens Jesu in 54
Zum Zusammenhang von Mt 9,13 und 5,17 s. auch J. A. Seeanner, Die Barmherzigkeit (ἔλεος) im Matthäusevangelium. Rettende Vergebung, Kleinhain 2009, 126f.
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4,23-9,35. Das, was Jesus in diesem Zusammenhang gesehen hat, evoziert sein mitleidvolles Erbarmen angesichts der Notlage des Volkes, der er durch die Einbeziehung der Jünger in neuer Weise begegnen will. Die Jünger sollen dazu nach 10,7f. nicht nur wie Jesus die Nähe des Himmelreiches verkündigen (vgl. 4,17), sondern auch Jesu heilendes Wirken fortsetzen, wozu ihnen Jesus in 10,1 Vollmacht über die unreinen Geister verliehen hat.55 Diese Verankerung der Aussendung der Jünger im mitleidvollen Erbarmen Jesu setzt nun nicht nur vor diese ein Vorzeichen, so dass die Sendung der Jünger grundlegend als Dienst des Erbarmens mit den Menschen charakterisiert wird, sondern wirft zugleich auch noch einmal Licht zurück auf Jesu eigenes Wirken und bekräftigt, dass das Erbarmen Leitmotiv des Wirkens Jesu ist. Nimmt man auf dieser Grundlage noch einmal auf, dass die Aussage in 20,28 neben dem Vorausblick auf die Passion zugleich auch das Voranstehende zusammenfassend interpretiert, ist festzuhalten: Jesu Aussage, er sei nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen, ist bei Matthäus konzeptionell aufs Engste mit der Betonung des mitleidvollen Erbarmens zusammenzusehen. Mit seinem mitleidvollen Erbarmen hat Jesus sich in seinem διακονεῖν in den Dienst der Menschen mit ihren geistlichen wie leiblich konkreten Nöten gestellt, also in den Dienst der Sünder, der Kranken, der Hungernden. Bevor vor dem Hintergrund dieser Grundcharakteristika des matthäischen Jesusbildes Mt 25,31-46 näher in den Blick genommen wird, ist vorab noch ein Zwischenschritt
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Der Charakter der Aussendung als Fortsetzung des Wirkens Jesu lässt sich in kompositorischer Hinsicht untermauern. Die Präsentation des Wirkens Jesu in Mt 4,23-9,35 wird durch zwei Jüngertexte gerahmt: die Berufung der ersten vier Jünger in 4,18-22 und die Aussendung der Zwölf in 9,36-11,1. Schon in 4,19 wird als Ziel des Rufs in die Nachfolge angegeben, dass die Jünger Menschenfischer werden sollen. Nachdem sie mit dem Wirken Jesu in Lehre und vollmächtigem Handeln vertraut gemacht wurden, sollen sie selbst in der Lage sein, sich den verlorenen Schafen des Hauses Israel zuzuwenden.
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zu gehen, nämlich zu fragen, wie die in Mt 25,31-46 genannten Werke der Barmherzigkeit neben dem Vorbild Jesu auch durch seine ethische Unterweisung vorbereitet sind. 3. Barmherzigkeit als Leitthema der matthäischen Ethik Matthäus spricht an drei Stellen, an denen er grundsätzliche Aussage über die Willenskundgabe Gottes in den Schriften Israels trifft, auffallender Weise nicht bloß von der Tora, sondern vom Gesetz und den Propheten (5,17; 7,12; 22,40).56 Die Propheten kommen dabei als Interpreten des grundlegend in der Tora niedergelegten Willens Gottes in den Blick. Umgekehrt betrachtet, bedeutet diese Rolle der Propheten zugleich, dass die Art und Weise, wie die Propheten Israel auf den Willen Gottes verpflichtet haben, Matthäus als Leitperspektive seiner Torarezeption dient: Um die Tora adäquat verstehen zu können, ist sie auch, ja wesentlich, im Lichte der Propheten zu lesen.57 Die wichtigste Manifestation dieser Perspektive ist die Zentralstellung der Barmherzigkeit in der matthäischen Ethik, wird diese doch ganz wesentlich durch die bereits angesprochene zweimalige Zitation eines Prophetenwortes – von Hos 6,6 in Mt 9,13; 12,7 – als Grundsatz der matthäischen Ethik eingeführt und als schriftgemäß erwie-
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Davon deutlich zu unterscheiden ist die Wendung in 11,13, wo Matthäus umgekehrt von „Propheten und Gesetz“ spricht. Hier geht es um die weissagende Funktion der Schrift, um die Verheißungen, während sich die Wendung „Gesetz und Propheten“ immer auf den Rechtswillen Gottes bezieht, wie er in der Schrift zum Ausdruck kommt. 57 Zum prophetischen Kolorit des matthäischen Gesetzesverständnisses vgl. B. Repschinski, Nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen. Das jüdische Gesetz in den synoptischen Jesuserzählungen, FzB 120, Würzburg 2009, 136.138f. u.ö. Prägnant C. Ziethe, Auf seinen Namen werden die Völker hoffen. Die matthäische Rezeption der Schriften Israels zur Begründung des universalen Heils, BZNW 233, Berlin, Boston 2018, 297: Das matthäische Gesetzesverständnis ist „als Schriftenauslegung mit prophetischer Hermeneutik zu charakterisieren“.
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sen. Prophetisches Kolorit wird ferner auch in 23,23 sichtbar, wo Matthäus „Recht, Barmherzigkeit und Treue“ ausdrücklich als „das Gewichtigere des Gesetzes“ ausweist, um – noch einmal – die für seine Gesetzeshermeneutik zentrale Überordnung sozialen Verhaltens über rituelle Observanz zur Geltung zu bringen. Denn intertextuell lässt diese Trias die ähnliche Trias in Mi 6,8(LXX) assoziieren, wonach Gott nichts weiter verlangt als „Recht zu üben, Barmherzigkeit zu lieben und bereit zu sein, mit dem Herrn, deinem Gott, zu wandeln“ (vgl. ferner z.B. Jer 9,23; 22,3; Hos 2,21f.; Sach 7,9f.). Im Lichte von Mi 6,8 geht es bei der „Treue“ in Mt 23,23 um die Glaubenstreue Gott gegenüber; Barmherzigkeit erscheint hier wie dort als Generalnenner für den zwischenmenschlichen Umgang. Die Barmherzigkeit nimmt damit in 23,23 die Stelle ein, die nach 22,34-40 (und 19,19) dem Nächstenliebegebot zukommt, was nicht auf eine konzeptionelle Spannung in der matthäischen Ethik, sondern allein auf die enge Zusammengehörigkeit und weitgehende Schnittmenge von Liebe und Barmherzigkeit verweist. „Das Liebesgebot macht das Wohlergehen des Nächsten zur zentralen Handlungsperspektive; die Barmherzigkeitsforderung konkretisiert dies im Blick auf Menschen in Notlagen, seien sie sozialer oder anderer Natur.“58 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass in den Geboten der Tora nirgends expressis verbis Barmherzigkeit gefordert wird.59 Wohl aber begegnet in der Sozialgesetzgebung der Tora eine ganze Reihe von Geboten, die die Belange der Armen und Bedürftigen schützen60 und sich 58
Konradt, Glückselig (Anm. 49), 437. Ex 23,3LXX mahnt vielmehr, dass in einem Rechtsverfahren der Arme kein Mitleid/Erbarmen erfahren darf (καὶ πένητα οὐκ ἐλεήσεις ἐν κρίσει). Dtn 7,2 gebietet, dass die Israeliten bei der Landnahme mit den Völkern des Landes kein Erbarmen haben sollen (οὐδὲ μὴ ἐλεήσητε αὐτούς). Immerhin aber wird in Ex 22,25f. in der Mahnung, den Mantel des Nächsten nicht über Nacht als Pfand zu nehmen, auf Gottes Barmherzigkeit verwiesen. 60 Siehe z.B. Ex 22,20-26; 23,9-11; Lev 19,9f.; 23,22; 25,35-38; Dtn 15,1-11; 24,6-22. 59
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unter die Überschrift der Barmherzigkeit stellen ließen. Aber erst die prophetische Tradition stellt – zusammen mit der weisheitlichen Überlieferung (Prov 14,21.31; 17,5LXX; 19,17; 22,9LXX u.ö.) – die explizite Rede von Barmherzigkeit als Interpretationsschlüssel bereit. Zudem konnte Matthäus nicht nur Hos 6,6, sondern auch anderen prophetischen Texten die für ihn leitende Gewichtung unter den Geboten entnehmen (s. z.B. Jes 58,1-8; Jer 6,20; 7,3-11; Am 5,21-24), die sich aus der Tora selbst keineswegs zwingend ableiten lässt. Die Bedeutung der Barmherzigkeit als Leitperspektive für die Interpretation des Gotteswillens spiegelt sich nicht zuletzt auch in der matthäischen Makarismenreihe in 5,3-12. Matthäus bringt in den Seligpreisungen grundlegende Merkmale des Christseins vor und richtet dazu das Augenmerk primär nicht auf einzelne Taten, sondern auf die ihnen zugrundeliegende Disposition. Entsprechend geht es auch in 5,7 nicht allein um einzelne barmherzige Werke, sondern allgemein um das Barmherzig-Sein, um Offensein für die Belange Bedürftiger. Wie sich diese Disposition konkret manifestiert, differenziert sich dann nach der Bedürftigkeit des Gegenübers aus: Im Kontext der Zuwendung zu Sündern, Kranken und Hungernden ist, wie wir bereits gesehen haben, explizit vom Erbarmen die Rede. Weiteres lässt sich hier subsumieren – wie z.B. die Mahnung in 5,42 (vgl. 6,2-4.19-21; 19,21), dem Bittenden zu geben und sich dem nicht zu entziehen, der sich etwas borgen will (vgl. z.B. Ps 36,21.26LXX; Prov 19,17; 22,9LXX), und eben die in 25,31-46 genannten Werke. Auch hier ist nicht explizit von Barmherzigkeit die Rede, doch ist es im Lichte alttestamentlich-frühjüdischer Tradition völlig unstrittig, dass die hier genannten guten Taten als Werke der Barmherzigkeit zu klassifizieren sind.61 Dieser Text ist nun näher in den Blick zu nehmen.
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Im TestSeb, dessen Leitthema die Barmherzigkeit ist, werden mit dem Schutz Verfolgter, der Unterstützung sozial Schwacher und dem Umgang mit Sündern drei große Bereiche unter das Dach barmherzigen
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4. Die Zuwendung zu den Geringsten als Hauptaufgabe der Jünger in Mt 25,31-46 Mit Mt 25,31-46 gipfelt die letzte der fünf großen Reden Jesu im Matthäusevangelium in einer Schilderung des Endgerichts, in der das Erbarmen mit Bedürftigen und Notleidenden zu dem Kriterium erhoben wird, an dem sich das eschatische Ergehen entscheidet. Ist mit dem Voranstehenden bereits deutlich geworden, dass der Text innerhalb des Matthäusevangeliums nahtlos an die durchgehende Hervorhebung von Nächstenliebe und Barmherzigkeit als ethischen Leitprinzipien anknüpft (5,43-48; 12,7; 19,19; 22,34-40; 23,23), so hat sich ferner auch schon angedeutet, dass sich Matthäus mit seiner Hervorhebung der Handelns gestellt. Im Einzelnen: Sebulon hat mit seinem Bruder Joseph, als die Brüder ihn töten wollen, Mitleid und erbarmt sich seiner (TestSeb 2; 4,2; 5,4). Zu seiner Unterstützung von Menschen in sozialen Notlagen (6,1-7,4) gehört nicht nur, dass er Bedürftigen, namentlich Fremden, Kranken oder Greisen (6,5), vom Ertrag seiner Arbeit als Fischer gibt (6,4-8), sondern auch, dass er einen im Winter Notleidenden kleidet (7,1). 7,3f. verhandelt ferner den Fall des Erbarmens bei temporärer eigener Mittellosigkeit: „Wenn meine Hand zur Zeit nichts fand, dem Bedürftigen zu geben, da ging ich sieben Stadien weinend mit ihm. Und mein Inneres kehrte sich zu ihm aus Mitleid“ (7,4). Schließlich wird noch Joseph als Vorbild des Erbarmens mit denen angeführt, die ihm zuvor Unrecht zugefügt haben (8,4); wer hingegen das Böse nachträgt, hat keine σπλάγχνα ἐλέους (8,6). Dem Befund im TestSeb stehen in den TestXII weitere Passagen zur Seite. So spricht TestIss 5,2 vom Erbarmen über die Armen und Schwachen/ Kranken (πένητα καὶ ἀσθενῆ ἐλεᾶτε). Und nach TestBenj 4 gehört zu den Charakteristika des guten Mannes, dass er sich aller erbarmt, auch wenn sie Sünder sind (4,2: ἐλεᾷ γὰρ πάντας, κἂν ὦσιν ἁμαρτωλοί), bzw. dass er sich des Armen erbarmt und mit den Kranken mitleidet (4,4: τὸν πένητα ἐλεεῖ, τῷ ἀσθενεῖ συμπαθεῖ). Zu Tobits vielen Barmherzigkeitstaten (ἐλεημοσύνας πολλάς, Tob 1,16) gehört neben der Bestattung der Toten unter anderem, dass er den Hungernden seine Speisen und den Nackten seine Kleider gab (τοὺς ἄρτους μου ἐδίδουν τοῖς πεινῶσιν καὶ τὰ ἱμάτιά μου τοῖς γυμνοῖς, 1,17, vgl. dazu Tob [BA] 4,16). Zum Erbarmen über die Armen bzw. sozial Bedürftigen s. ferner z.B. Ps 36,26LXX; Prov 14,21.31; 17,5LXX; 19,17; 22,9LXX; 28,8; Tob (BA) 4,7f; Sir 29,1.8-10; TestAss 2,5-7; PseudPhok 23. Zur Zuwendung zum Fremden TestHiob 10,3.
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Barmherzigkeitstaten in 25,31-46 ganz auf der Linie alttestamentlich-frühjüdischer Ethik bewegt (vgl. z.B. Hiob 22,5-10; 31,16-20.31f.; Jes 58,5-10; TestSeb 6,1-7,4; 2Hen 9,1; MidrPss zu Ps 118,17).62 Die Auflistung der Hungernden, Dürstenden, Fremden, ohne (adäquate) Kleidung Dastehenden, Kranken und Gefangenen ist exemplarisch, nicht erschöpfend zu verstehen.63 Überall, wo jemand bedürftig und in Not ist, ist Barmherzigkeit gefordert; entsprechend ist die Liste der Barmherzigkeitstaten je nach gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu reformulieren. In der Matthäusexegese ist, wie eingangs angedeutet, allerdings nicht unstrittig, dass Mt 25,31-46 als ein diakonischer Haupttext des Neuen Testaments in Anspruch genommen werden kann. Die zentrale Frage ist hier, ob mit den geringsten Brüdern in 25,40 allgemein Menschen in den genannten Notlagen gemeint64 oder aber spezifisch 62
Für einen profunden Überblick über die Bedeutung der Barmherzigkeitsthematik in der frühjüdischen Weisheit s. M. Witte, Begründungen der Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen in jüdischen Weisheitsschriften aus hellenistisch-römischer Zeit, in: M. Konradt, E. Schläpfer (Hg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament – Wechselseitige Wahrnehmungen. Internationales Symposium in Verbindung mit dem Projekt Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (CJHNT), 17.–20. Mai 2012, Heidelberg, WUNT 322, Tübingen 2014, 387–412. 63 Vgl. z.B. J. Nolland, The Gospel of Matthew. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids, Cambridge 2005, 1028. 64 Für eine ausführliche Begründung dieser Deutung s. v.a. C. Niemand, Matthäus 25,31-46 – universal oder exklusiv? Rekonstruktion der ursprünglichen Textintention im Spannungsfeld moderner Wertaxiome, in: Patrimonium Fidei. Traditionsgeschichtliches Verstehen am Ende? (FS M. Löhrer, P.-R. Tragan), hg. v. M. Perroni, E. Salmann, StAns 124, Rom 1997, 287–326, ferner z.B. U. Wilckens, Gottes geringste Brüder – zu Mt 25,31-46, in: Jesus und Paulus (FS W. G. Kümmel), hg. v. E. E. Ellis, E. Gräßer, Göttingen 1975, 363–383; D. O. Via, Ethical Responsibility and Human Wholeness in Matthew 25:31-46, HThR 80, 1987, 79–100, hier 92; S. Grindheim, Ignorance Is Bliss: Attitudinal Aspects of the Judgment according to Works in Matthew 25:31-46, NT 50, 2008, 313–331, hier 328–330; M. Ebner, Plädoyer für die sozial Geringsten als „Brüder“ in Mt 25,40. Eine exegetisch-hermeneutische
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die Nachfolger Jesu65 bzw., noch enger gefasst, christliche Wandermissionare (bzw. Amtsträger)66 im Blick sind.67 Für die Deutung auf Nachfolger Jesu kann man geltend machen, dass der Bruderbegriff im Matthäusevangelium an mehreren Stellen, nämlich in der Rede über das Gemeinschaftsleben in der Gemeinde in Mt 18 (18,15.21.35) sowie in 23,8, innerekklesial auf die Jüngergemeinschaft Zwischenbemerkung, in: Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung (FS R. Hoppe), hg. v. U. Busse, M. Reichardt, M. Theobald, BBB 166, Bonn 2011, 215–229, hier 218–221; C. McMahon, Christology, the Poor, and Surpassing Righteousness: Reading Matthew 25,31-46 with 26,6-13, RB 123, 2016, 554–566, hier 560f., sowie auch G. Theißen, Universales Hilfsethos im Neuen Testament? Mt 25,31-46 und Lk 10,25-37 und das christliche Verständnis des Helfens, GlLern 15, 2000, 22–37, hier 31. 65 Siehe z.B. I. Broer, Das Gericht des Menschensohnes über die Völker: Auslegung von Mt. 25:31-46, BiLe 11, 1970, 273–295, hier 293– 295; D. Gewalt, Matthäus 25, 31–46 im Erwartungshorizont heutiger Exegese, LingBibl 25/26, 1973, 9–21, hier 15f.; J. Friedrich, Gott im Bruder? Eine methodenkritische Untersuchung von Redaktion, Überlieferung und Traditionen in Mt 25, 31-46, CThM A/7, Stuttgart 1977, 238f.248f.; D. J. Harrington, The Gospel of Matthew, SaPaSe 1, Collegeville 1991, 357.358; G. N. Stanton, A Gospel for a New People. Studies in Matthew, Edinburgh 1992, 214–221; A. Runesson, Judging Gentiles in the Gospel of Matthew. Between “Othering” and Inclusion, in: D. M. Gurtner, J. Willitts, R. A. Burridge (Hg.), Jesus, Matthew’s Gospel and Early Christianity. Studies in Memory of Graham N. Stanton, LNTS 435, London, New York 2011, 133–151, hier 147f. 66 Siehe dafür z.B. J. R. Michaels, Apostolic Hardships and Righteous Gentiles. A Study of Matthew 25:31-46, JBL 84, 1965, 27–37; L. Cope, Matthew XXV:31-46. “The Sheep and the Goats” Reinterpreted, NT 11, 1969, 32–44, hier 39–41.43; J. Mánek, Mit wem identifiziert sich Jesus? Eine exegetische Rekonstruktion ad Matt. 25:31-46, in: Christ and Spirit in the New Testament (FS Ch. F. D. Moule), hg. v. B. Lindars, S. S. Smalley, Cambridge 1973, 15–25, hier 19–25; J. R. Donahue, The “Parable” of the Sheep and the Goats: A Challenge to Christian Ethics, TS 47, 1986, 3–31, hier 25–28; Luz, Evangelium nach Matthäus III (Anm.39), 537–539; J. S. Suh, Das Weltgericht und die matthäische Gemeinde, NT 48, 2006, 217–233, der zugleich die Schafe und Zicklein auf unterschiedliche Gruppen in der Gemeinde deutet, die sich durch die geleistete oder unterbliebene Unterstützung der Wandermissionare unterscheiden. 67 Für eine Übersicht über die Interpretationstypen zu Mt 25,31-46 s. Luz, Evangelium nach Matthäus III (Anm. 39), 521–530.
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bezogen wird. Vor allem aber spricht Jesus an zwei Stellen von den Jüngern als seinen Brüdern. So ist das Jesuswort in 12,50: „Wer den Willen meines Vaters in den Himmeln tut, der ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter“, im matthäischen Kontext spezifisch auf die Jünger bezogen (12,49, diff. Mk 3,34); und der Auferstandene trägt den Frauen am Grab auf, sie sollten seinen Brüdern verkünden, dass diese nach Galiläa gehen sollen (28,10). Darüber hinaus ist zu dem Motiv, dass das, was den Geringsten getan oder nicht getan wurde, Jesus selbst getan oder nicht getan wurde, eine Analogie in 10,40-42 zu verzeichnen, wo es um das Verhalten gegenüber den Boten Jesu geht: „Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf. … Und wer immer einem dieser Geringen auch nur einen Becher kalten Wassers zu trinken gibt, weil er ein Jünger ist, amen, ich sage, er wird seinen Lohn gewiss nicht verlieren.“68 Versteht man unter den „geringsten Brüdern“ allein Christen und deutet man ferner πάντα τὰ ἔθνη in 25,32 auf die nicht-christusgläubige Menschheit (mit oder ohne Israel), dann ginge es in 25,31-46 darum, dass die NichtChristen im Endgericht danach beurteilt werden, wie sie sich gegenüber den Jesusanhängern verhalten haben. Mt 25,31-46 wäre dann als eine Art Trosttext für bedrängte Jünger anzusprechen.69 In der neueren Forschung hat dieser Deutungstyp einigen Zuspruch erfahren, m.E. zu Unrecht. Denn zum einen lassen sich die für diese Deutung angeführten Indizien entkräften, zum anderen spricht die kontextuelle Stellung von Mt 25,31-46 deutlich gegen diese Interpretation. Zum matthäischen Bruderbegriff ist darauf zu verweisen, dass in der Bergpredigt mit 5,22-24 und 7,3-5 auch eine nicht spezifisch auf die Jüngergemeinschaft bezogene Rede
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Vgl. zu diesem Argument exemplarisch Michaels, Hardships (Anm. 66), 27f. 69 Siehe für diese Deutung z.B. Friedrich, Gott (Anm. 65), 266f.; Stanton, Gospel (Anm. 65), 208.210f.229f.
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vom Mitmenschen als ἀδελφός begegnet.70 Der Bruderbegriff fungiert hier als ein appellatives Signal, das die Verbundenheit aller Menschen ins Spiel zu bringen sucht, und dient damit der ethischen Motivation.71 Mt 25,40 lässt sich hier einstellen: Damit, dass der Menschensohn die Geringsten in V.40 als „seine Brüder“ bezeichnet, unterstreicht er seine Verbundenheit mit ihnen, aus der die Adressaten die richtigen Schlüsse für ihr Handeln ziehen sollen. Diese Deutung wird im Übrigen noch durch ein Detail des Textes untermauert: In V.45 ist ἑνὶ τούτων τῶν ἀδελφῶν μου τῶν ἐλαχίστων (V.40) um τῶν ἀδελφῶν μου gekürzt. Luz versucht dieses Indiz durch die Erklärung zu entkräften, dass der Brudertitel hier „den Raffungstendenzen im zweiten Dialogteil zum Opfer gefallen“72 sei. Das überzeugt aber kaum, wenn der Brudertitel für die Identifizierung der gemeinten Gruppe von ausschlaggebender Bedeutung sein soll. Sieht man den Sinn des Brudertitels hingegen funktional darin, Verbundenheit zu markieren, ist er im Unterschied zur Identifizierung der Gruppe durch οἱ ἐλάχιστοι in der Variation von V.40 in V.45 in der Tat verzichtbar. Kurzum: Der Akzent liegt darauf, dass es um das Verhalten gegenüber den „Geringsten“ geht, die durch die genannten Notlagen exemplarisch charakterisiert werden. Muss also die Verwendung des Brudertitels in 25,40 als Indiz für die Identifizierung der Geringsten mit Nachfolgern Jesu ausscheiden, so erweist sich zweitens auch der Verweis auf 10,40-42 als Analogie zu 25,40.45 als nicht tragfähig. Denn zu 10,40-42 ist auf das Jesuswort in 18,5 („Wer ein einziges solches Kind in meinem Namen aufnimmt, nimmt mich auf“) als Parallele hinzuweisen, das 70
Ebenso z.B. P. Christian, Jesus und seine geringsten Brüder. Mt 25,31-46 redaktionsgeschichtlich untersucht, EThS 12, Leipzig 1975, 34f. 71 Treffend Niemand, Matthäus 25,31-46 (Anm. 64), 295: Matthäus „kennt in der Gemeinderede die Bruder-Terminologie und meint damit Christen; und er kennt in der Bergpredigt eine Bruder-Terminologie, die ethisch-motivierend ist und konkret-universal gilt.“ 72 So Luz, Evangelium nach Matthäus III (Anm. 39), 541.
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in keiner Weise eine Aussage über den Glaubensstand des Kindes trifft. Darüber hinaus ist in 10,42 – im Unterschied zu 25,31-46 – gerade vorausgesetzt, dass dem Helfer die Verbindung seines Gegenübers zu Jesus bekannt ist; er weiß darum, dass er es mit einem Jünger zu tun hat.73 Drittens ist in traditionsgeschichtlicher Hinsicht zu bedenken, dass mit Prov 14,31; 17,5; 19,17; 2Hen 44,1f. enge Parallelen zur Argumentationsfigur in Mt 25,40.45 zu verzeichnen sind, in denen es immer allgemein um die Bedürftigen geht. Entscheidend aber ist viertens, dass die kontextuelle Stellung von Mt 25,31-46 entschieden dagegenspricht, dass in diesem Text die endgerichtliche Bedeutung des Verhaltens Außenstehender gegenüber Christusgläubigen verhandelt wird. Unser Text ist Schlusspunkt der letzten großen Rede des Matthäusevangeliums. Nach der Darlegung der Ereignisse bis zur Parusie in 24,4-31 setzt der matthäische Jesus in 24,32-25,30 zu einer ausführlichen Wachsamkeitsparänese an, in der ein eher kurzer aus Markus übernommener Passus (24,32-36 par. Mk 13,28-32) durch verschiedene Texte aus der Logienquelle und dem Sondergut erheblich ausgebaut wurde. In dieser massiven Erweiterung dokumentiert sich das Interesse des Evangelisten, als dessen zentrales Anliegen auch andernorts die ethische Ermahnung hervortritt. Durch die Wachsamkeitsparänese in 24,32-25,30 wird den Jesusnachfolgern eindringlich die Notwendigkeit eingeschärft, in ihrem Lebenswandel für die Parusie stets bereit zu sein. Ein Trosttext für (bedrängte) Jünger schlösse daran denkbar schlecht an, ja er wäre schlechthin dysfunktional. Ein völlig organischer Textfluss ergibt sich hingegen, wenn die Gerichtsschilderung (auch) die Jünger betrifft.74 Nachdem die Jünger in 24,32-25,30 zur Wachsamkeit gemahnt 73 Vgl. Wilckens, Brüder (Anm. 64), 369f.; Via, Responsibility (Anm. 64), 92. 74 Vgl. z.B. K. Weber, The Image of Sheep and Goats in Matthew 25:31-46, CBQ 59, 1997, 657–678, hier 677: „Given the forceful paraenetic character of these previous warnings calling Christians to constant and active readiness, one would expect the final judgment scene to continue this emphasis in some way.“
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wurden, ohne dass der nötige Lebenswandel dabei inhaltlich konkretisiert wurde, bietet 25,31-46 abschließend die zentralen inhaltlichen Kriterien. Vom Kontext her empfiehlt es sich also, 25,31-46 nicht als Trosttext aufzufassen, sondern an die paränetische Ausrichtung der vorangehenden Perikopen anzuschließen.75 25,31-46 in dieser Weise organisch an die vorangehende Wachsamkeitsparänese anzuschließen, wird schließlich fünftens auch von 25,31-46 selbst nachdrücklich gefordert, weil der Schwerpunkt des Textes eindeutig auf der Einschärfung der Barmherzigkeitstaten liegt, die nicht weniger als viermal geschildert werden.76 Im Blick auf die Personenkonstellation in Mt 25,31-46 ergibt sich aus dem Voranstehenden erstens, dass die Wendung πάντα τὰ ἔθνη in 25,32 für die gesamte Menschheit steht77 und also die Nachfolger Jesu unter denen, die vor dem Thron des Menschensohn-Richters erscheinen, inkludiert sind.78 In textpragmatischer Hinsicht wird man weitergehend sogar sagen müssen, dass 25,31-46 vornehmlich darauf zielt, den Jesusnachfolgern, die zumindest die primären Rezipienten des Matthäusevangeliums sind, einzuschärfen, dass sich ihr endgerichtliches ErgeTreffend Christian, Jesus (Anm. 70), 7: „Mt 25,31-46 als ein Trostwort an die Jünger zu deuten, hieße, einen Bruch zwischen Mt 25,30 und 25,31 anzunehmen.“ Vgl. auch a.a.O., 11–17; Niemand, Matthäus 25,31-46 (Anm. 64), 302f. 76 Vgl. Niemand, Matthäus 25,31-46 (Anm. 64), 304.306.321. 77 Evident ist, dass die Aussage, dass „alle Völker“ vor dem Menschensohn-Richter versammelt werden, nicht bedeutet, dass ganze Völker als solche gerichtet werden (anders aber Mánek, Jesus [Anm. 66], 17f.). Gerichtet wird jeder einzelne für sich, wie es auch bei der Sendung zu „allen Völkern“ in 28,19 nicht um Christianisierung ganzer Völker, sondern um die Bekehrung einzelner aus allen Völkern geht. In 25,32 wie in 28,19 wird dies durch die Aufnahme von πάντα τὰ ἔθνη durch das maskuline Personalpronomen αὐτούς evident (vgl. Christian, Jesus [Anm. 70], 23). 78 Vgl. z.B. Donahue, “Parable” (Anm. 66), 12f.; Luz, Evangelium nach Matthäus III (Anm. 39), 531 („Πάντα τὰ ἔθνη sind am ehesten ‚alle Völker‘ einschließlich der Gemeinde.“); Grindheim, Ignorance (Anm. 64), 327f.; Ebner, Plädoyer (Anm. 64), 221–227.228. 75
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hen an ihrem Verhalten gegenüber den Bedürftigen entscheidet.79 Das Verständnis von πάντα τὰ ἔθνη im Sinne der gesamten Menschheit bedeutet des Weiteren, dass auch die Notleidenden unter denen, die gerichtet werden, eingeschlossen sind.80 Zu bedenken ist hier schlicht, dass diese keine statisch definierte Gruppe bilden.81 Nicht nur können sich Lebenslagen in den Wechselfällen des Lebens verändern, sondern angesichts der Mannigfaltigkeit der Notlagen ist zugleich zu beachten, dass Menschen, die in einer Hinsicht der Zuwendung bedürfen, in einer anderen Hinsicht selbst Hilfe leisten können. Zweitens ist die Rede von den „geringsten Brüdern“ allgemein auf alle notleidenden Menschen zu beziehen. In der Praxis mag es in den matthäischen Gemeinden zwar im Regelfall so gewesen sein, dass die Adressaten es im Wesentlichen mit bedürftigen Mitchristen zu tun hatten,82 doch findet das diakonische Handeln eben keine prinzipielle Begrenzung an den Mauern der Gemeinde. Kurzum: Im Endgericht werden nach Mt 25,31-46 alle Menschen daran gemessen, ob sie sich dann, wenn sie sich mit Notsituationen anderer konfrontiert sahen und sie in der Lage waren, Hilfe zu gewähren, der Notleidenden und Bedürftigen tatkräftig angenommen haben oder nicht.83 79
Vgl. exemplarisch Weber, Image (Anm. 74), 677. Gegen Cope, Matthew XXV:31-46 (Anm. 66), 37. 81 Ebenso Ebner, Plädoyer (Anm. 64), 228. 82 M. Wolter, Ethisches Subjekt und ethisches Gegenüber. Aspekte aus neutestamentlicher Perspektive, in: H. Schmidt, R. Zitt (Hg.), Diakonie in der Stadt. Reflexionen – Modelle – Konkretionen, Diakoniewissenschaft – Grundlagen und Handlungsperspektiven 8, Stuttgart 2003, 44– 50, hier: 44, postuliert mit Bestimmtheit, „dass das diakonische Engagement der Christen in neutestamentlicher Zeit immer eine interne Angelegenheit blieb und die Grenzen der Gemeinden zu keinem Zeitpunkt überschritt.“ 83 Nicht überzeugen kann der Vorschlag von Starnitzke, Diakonie, 47– 49 (Anm. 5), die in Mt 25 angesprochenen Barmherzigkeitstaten auf den Außenbezug der Kirche zu fokussieren. Weder sind allein Kirchenmitglieder als potentielle Subjekte des diakonischen Handelns vorausgesetzt, auch wenn der Text faktisch im Wesentlichen als Gemeindeparänese fungiert, noch geht es allein um deren Außenbezug. Wenn Starnitzke z.B. zu 25,36 notiert, „dass die dort gemeinten Menschen 80
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Steht das Moment, dass das Verhalten gegenüber Notleidenden in dem hier geschilderten Gerichtsszenarium das Kriterium für den Zugang zum Himmelreich bildet, wie bereits ausgeführt wurde, in Kontinuität zur Etablierung von Nächstenliebe und Barmherzigkeit als ethischen Leitlinien in der matthäischen Ethik, so ist an dieser Stelle ferner noch einmal aufzunehmen, dass Jesus selbst die barmherzige Zuwendung zu den Notleidenden vorgelebt hat, indem er sich der Kranken angenommen und Hungrige gespeist hat. Das Kriterium, nach dem er richten wird, ist also auch durch sein eigenes Leben verkörpert. Das bedeutet, dass sich die in 25,31-46 geforderten Barmherzigkeitstaten in ihrer Bedeutung als Zentrum der Ethik nicht nur als Konsequenz der Befolgung von Tora und Propheten in der autoritativen Auslegung Jesu ergeben, sondern auch als Moment der zweiten Säule matthäischer Nachfolgeethik, der Mimesis Jesu.84 Liegt der Schwerpunkt des Textes, wie ausgeführt, auf der Einschärfung der barmherzigen Zuwendung zu den Bedürftigen, so liegt seine Pointe darin, dass die Barmherzigkeitstaten in V.40.45 als ein dem Menschensohn selbst zuteilgewordenes Handeln ausgewiesen werden. Diese Pointe knüpft, wie angedeutet, an ein Motiv an, das in weisheitlich geprägten frühjüdischen Texten begegnet. Nach Prov 14,31 „verhöhnt der, der den Geringen bedrückt, den, der ihn gemacht hat; aber ihn ehrt, wer sich über den Armen erbarmt“ (vgl. auch 17,5). Ähnlich heißt es in Prov 19,17a: „Wer sich des Armen erbarmt, leiht nicht nackt in der Gemeinde erscheinen konnten“ (48), so ist erstens anzumerken, dass „nackt“ nicht notwendig völlig unbekleidet bedeutet, sondern auch unzureichende oder zerlumpte Kleidung im Blick haben kann, und zweitens ist schlicht auf Jak 2,15f. zu verweisen, wo eben die Situation geschildert wird, dass Gemeindeglieder „nackt“ (ἐὰν ἀδελφὸς ἢ ἀδελφὴ γυμνοὶ ὑπάρχωσιν) in der Versammlung auftauchen. Vgl. exemplarisch C. Burchard, Der Jakobusbrief, HNT 15/I, Tübingen 2000, 115: „Γυμνός …: dürftig gekleidet (wie z.B. Mt 25,36.38.43f.), vielleicht ohne Obergewand (wie z.B. Plato, Resp. 474a …)“. 84 Vgl. dazu M. Konradt, „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir!“ (Mt 11,29). Mt 11,28–30 und die christologische Dimension der matthäischen Ethik, ZNW 109, 2018, 1–31.
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dem Herrn.“ Prov 14,31 und 17,5 machen den schöpfungstheologischen Horizont dieser Denkfigur durch die Rede von Gott als Schöpfer explizit.85 In 2Hen 44,1f. wird ganz auf dieser Linie auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen rekurriert: „Der Herr hat den Menschen mit seinen eigenen Händen gemacht zur Ähnlichkeit seines Angesichtes. Klein und groß hat der Herr ihn geschaffen. Und wer das Angesicht eines Menschen schmäht, schmäht das Angesicht eines Königs und verabscheut das Angesicht des Herrn. Wer das Angesicht eines Menschen verachtet, verachtet das Angesicht des Herrn.“86 Die hier vorliegende schöpfungstheologisch ausgerichtete Motivik ist in Mt 25,40.45 christologisch transformiert. Die angeführten frühjüdischen Texte raten dabei zur Vorsicht, 25,40.45 im Sinne einer (mystischen) Identifikation Jesu mit den Bedürftigen lesen zu wollen. „[L]eitend ist vielmehr die Vorstellung, dass zwischen dem Menschensohn und den Notleidenden eine so enge Solidargemeinschaft besteht, dass das, was diesen getan wird oder versagt bleibt, gleichzeitig als dem Menschensohn Jesus getan oder nicht getan gilt.“87 Ist für Prov 14,31; 17,5; 19,17; 2Hen 44,1f. die Perspektive bestimmend, dass die Geringen von Gott geschaffen und als Gottes Geschöpfe geadelt sind und man sich daher mit Fehlverhalten ihnen gegenüber an Gott vergeht, so argumentiert Mt 25 damit, dass der Menschensohn-Richter auf und an ihrer Seite steht. Daran aus einer 85
Vgl. auch Sir 4,1-6, wo die Ermahnung zur Zuwendung zu den Bedürftigen mit dem Verweis darauf versehen wird, dass der Arme, den man abgewiesen und dem man so Anlass gegeben hat, sein Gegenüber zu verfluchen, von Gott, der ihn gemacht hat, erhört werden wird. 86 Übersetzung von C. Böttrich, Das slavische Henochbuch, JSHRZ V/7, Gütersloh 1996, 781–1040, hier 959f. 87 Konradt, Glückselig (Anm. 49), 435 (Hervorhebung im Original). – Vgl. E. Brandenburger, Taten der Barmherzigkeit als Dienst gegenüber dem königlichen Herrn (Mt 25,31-46), in: G. K. Schäfer, T. Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den diakonischen Auftrag, VDWI 2, Heidelberg 21994, 297–326, hier 315; Niemand, Matthäus 25,31-46 (Anm. 64), 315f.
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modernen Perspektive kritisieren zu wollen, dass den Armen ihre Würde aus ihrem Menschsein selbst zukommt, ginge an der Stoßrichtung unseres Textes – wie nota bene auch an den sozialen Gegebenheiten antiker Gesellschaften – vollkommen vorbei, zumal die Pointe in V.40.45 mit diesem anthropologischen Element gar nicht unvereinbar ist, sondern eher auf diesem aufbaut und es koloriert. Im Übrigen ist es in der gesellschaftlichen Realität auch heute noch oftmals so, dass sozial Schwächere durch die Solidarität von Stärkeren mit ihnen sozialen Schutz erfahren.88 In Mt 25 ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass der Menschensohn in V.34 und V.40 als König bezeichnet wird. Traditionsgeschichtlich klingt hier mit, dass es im alten Israel dem König oblag, für die Wahrung des Rechts der Armen zu sorgen (vgl. Ps 72; Prov 29,14). Innerhalb des Matthäusevangeliums ist die Verwendung des Königstitels ferner darin einzubetten, dass Matthäus insgesamt das royale Kolorit der messianischen Identität Jesu betont hat. Insbesondere ist hier an das im zweiten Abschnitt Ausgeführte anzuknüpfen: Matthäus zeichnet Jesus als königlichen davidischen Messias, der sich voller Erbarmen der Notlagen der Menschen annimmt. Wer von ihm im Endgericht den Weg in das Himmelreich gewiesen bekommen möchte, muss sich an der Solidarität des Königs mit den Bedürftigen orientieren und entsprechend zum διακονεῖν (Mt 25,44) bereit sein. Genauer: Indem Matthäus die Werke der Barmherzigkeit in 25,44 in dem Verb διακονεῖν zusammenfasst, schafft er gezielt eine Querverbindung zu 20,28: Die Nachfolger Jesu sollen sich durch diakonisches Handeln an den Bedürftigen auszeichnen, wie der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen. Diese Querverbindung gewinnt noch an Kontur, wenn man das royale Kolorit beachtet, mit dem Matthäus die Szene eingekleidet hat, die der Unterweisung Jesu in 20,25-28 unmittelbar
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Vgl. zu diesem Punkt, Niemand, Matthäus 25,31-46 (Anm. 64), 317f.
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vorangeht,89 so dass sich die Verbindung von Königtum und διακονεῖν als Konvergenzpunkt zwischen Mt 20,20-28 und 25,31-46 zeigt. Kommen bei Markus die beiden Zebedaiden geradezu fordernd auf Jesus zu: „Lehrer, wir wollen, dass du uns tust, um was wir dich bitten werden“ (Mk 10,35), vollzieht bei Matthäus die Mutter der Zebedaiden die Proskynese vor Jesus, da sie ihn etwas bitten will, aber sie sagt erst einmal nichts, sondern wartet, bis Jesus sie mit königlichem Habitus auffordert, ihre Bitte vorzutragen: „Was willst du?“90 (Mt 20,20f.). Dem royalen Kolorit der Szene entspricht, dass die Mutter von Johannes und Jakobus für diese um die Plätze zur Rechten und zur Linken Jesu in dessen Königreich bittet (20,21: ἐν τῇ βασιλείᾳ σου, anders Mk 10,37: ἐν τῇ δόξῃ σου). Kurzum: Matthäus betont in 20,20-28 noch einmal das Königtum Jesu, und ebendies verleiht der Unterweisung in 20,25-28 bei Matthäus ihr spezifisches Profil: Jesus ist der messianische König, der seine Herrschaft nicht wie die Herrscher auf Erden für sich nutzt, indem er seine Untertanen unterdrückt und über sie Macht ausübt, sondern der dient, indem er als König zum Diakon wird. Hat er damit den Menschen ein Handlungsmodell gegeben, so beurteilt er entsprechend im Gericht alle nach ihrem diakonischen Dienst an den Bedürftigen. Mahnt Jesus seine Jünger in 20,26, dass der, der unter ihnen groß sein will, der Diakon aller sein soll, so gewinnt das diakonische Ethos im Matthäusevangelium sein spezifisches Profil also erstens dadurch, dass der Große 89
Zur matthäischen Gestaltung der Szene in 20,20f. s. ausführlicher M. Konradt, „Ihr wisst nicht, was ihr erbittet“ (Mt 20,22). Die Zebedaidenbitte in Mt 20,20f und die königliche Messianologie im Matthäusevangelium, in: ders., Studien zum Matthäusevangelium (Anm. 49), 171–200, hier 172–174. 90 Vgl. J. Gnilka, Das Matthäusevangelium, Bd. 2, HThKNT 1.2, Freiburg, Basel, Wien 21992, 188 sowie W. D. Davies, D. C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel According to Saint Matthew, Vol. 3: Commentary on Matthew XIX–XXVIII, ICC, Edinburgh 1997, 88: „the counter-question to one bowed before him makes Jesus sound like a king“ (mit Verweis auf die Frage des Königs an Esther in Est 5,3: Τί θέλεις …;).
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schlechthin, der messianische König, zum Diakon aller geworden ist und seine Proexistenz sogar in der Hingabe seines Lebens gipfelte. Zweitens hat der, der nach dem Modell Jesu sein Leben in den diakonischen Dienst stellt, es in seinem diakonischen Handeln mit Jesus selbst zu tun, weil das, was den Bedürftigen getan oder nicht getan wird, als Jesus getan oder nicht getan gilt. Der Menschensohn, der sich in seinem irdischen Leben den Notleidenden zugewandt hat, steht auch als Richter an ihrer Seite. Nicht zuletzt macht der Verweis auf die Solidarität Christi, des Königs, mit den Notleidenden deutlich, dass es bei der „Diakonie“ nicht um ein Adiaphoron des Christseins geht, das auch fehlen könnte. Vielmehr entscheidet sich hier, ob ein Mensch Christus tatsächlich „dient“ oder nicht. Mit einem Wort: Die Zuwendung zu Notleidenden gilt Matthäus als elementares Wesensmerkmal christlicher Existenz. Noch eine Nebenbemerkung: Aus dem erzählerischen Motiv, dass die Gerechten sich unwissend zeigen, dass sie Jesus selber gedient haben, ist zuweilen die „Reinheit“ ihrer Motivation abgeleitet worden. Sie tun das Gute um seiner selbst willen; ihre Hilfe für die Bedürftigen ist nicht durch Nebenzwecke „kontaminiert“, d.h. sie schielen nicht auf himmlischen Lohn und haben tatsächlich die Bedürftigen im Blick, also diese nicht bloß insofern, als sie mit ihrem Tun Christus dienen. Man kann dagegen einwenden, dass das Unwissenheitsmotiv ein literarisches Mittel ist, um die Pointe in V.40.45 zu untermauern91 und die „erzählte Welt“ nicht mit der Kommunikationsebene des Evangelisten zu verwechseln ist. Den Adressaten wird durch den Text ja gerade eingeschärft, dass die von ihnen geforderten Werke der Barmherzigkeit „Dienst“ an Christus sind. Zugleich ist aber festzuhalten, dass dieses Moment in der Logik des Textes das geforderte diakonische Handeln an den Bedürftigen nicht grundständig begründet, sondern allein dazu dient, seine Bedeutung zu untermauern. Diesem Sachverhalt fügt sich ein, dass Mt 25,3191 In diesem Sinne z.B. Luz, Evangelium nach Matthäus III (Anm. 39), 536.
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46 den Anspruch universaler Relevanz erhebt. Alle Menschen werden im Endgericht nach dem Kriterium beurteilt, wie sie sich gegenüber den Bedürftigen verhalten haben, auch wenn die christusgläubigen Rezipienten des Evangeliums sich in besonderer Weise angesprochen sehen sollen. Das heißt zugleich: Nach Matthäus handelt es sich hier nicht um ethische Forderungen, die nur an Christusgläubige gerichtet sind, sondern um allgemein gültige humanitäre Maßstäbe, die auch außerhalb der christusgläubigen Gemeinden eingeklagt werden können. Oder anders: Christen sollen vorleben, was universal gilt. Was sie von anderen unterscheidet, ist das Glaubenswissen, dass Christus so eng an der Seite der Bedürftigen steht, dass gesagt werden kann: „Was ihr einem dieser geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (25,40). Zum Schluss sei noch einmal die Verwendung von διακονεῖν in 25,44 aufgenommen. John N. Collins hat postuliert, dass in dem Gebrauch von διακονεῖν im Munde der Verurteilten ein durch Verschlagenheit gekennzeichneter Versuch zu sehen sei, sich beim Richterkönig einzuschmeicheln, indem sie mit διακονεῖν „an appropriate term from the language of the court“ verwenden.92 Nichts im Text weist darauf hin. Es gibt für die Verurteilten auch nichts mehr zu retten; das Urteil ist gesprochen. Sie werden auch nicht in ihrem etwaigen Versuch, beim Richter Sympathien zu gewinnen, zurückgewiesen, sondern bekommen nur noch eine Erläuterung. In einem neueren Aufsatz hat Collins ferner postuliert, dass ein Dativobjekt bei διακονεῖν nicht den Empfänger/Adressaten der Handlung angebe, sondern „the dependent dative is identifying the source of the mandate under which the activity occurs.“93 Dies gelte auch für διακονῶν τοῖς ἁγίοις in Röm 15,25, wo die Heiligen entsprechend nicht die Jerusalemer 92
Collins, Diakonia (Anm. 3), 65. J. N. Collins, The Rhetorical Value of Διακον- in Matthew 25:44, in: B. J. Koet, E. Murphy, E. Ryökäs (Hg.), Deacons and Diakonia in Early Christianity. The First Two Centuries, WUNT II/479, Tübingen 2018, 31–43, hier 37. 93
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Empfänger der Kollekte sein sollen, sondern die „Heiligen“ in Makedonien und Achaia. Ein Seitenblick auf die Wendung τῆς διακονίας τῆς εἰς τοὺς ἁγίους in 2Kor 8,4; 9,13 lässt aber kaum einen Zweifel zu, dass die Heiligen auch in Röm 15,25 die Jerusalemer Christusgläubigen sind, also der Dativ diejenigen bezeichnet, denen das διακονεῖν zugutekommt.94 Dies ist in Mt 25,44 nicht anders. Es bleibt also dabei: Mt 25,44 besagt nicht, wie Collins paraphrasiert, „Your Majesty, when was it that we did not comply with any of your demands upon us?“,95 sondern διακονεῖν dient hier als zusammenfassende Bezeichnung der zuvor genannten Werke der Barmherzigkeit, und der Dativ gibt den Empfänger der Hilfe an. Mt 25,31-46 ist also nicht nur der Sache nach ein biblischer Grundtext für die Diakonie, sondern auch wichtiger biblischer Anhaltspunkt für den Gebrauch des Wortes Diakonie in diesem Zusammenhang. Mehr noch: Der Gebrauch in 25,44 klingt, wie ausgeführt wurde, im Gesamtkontext des Matthäusevangeliums mit 20,28 zusammen, womit zugleich eine spezifische Note in die für die Christusgläubigen geltende Form des diakonischen Ethos hineinkommt, denn es geht hier nicht um einzelnes humanitäres Verhalten, das im Alltag situativ gefordert ist, sondern um eine Grundbestimmung ihrer Existenz: Ist Jesus nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen, so ist dies ebenso denen aufgetragen, die sich in seine Nachfolge begeben haben. Wie das Erbarmen zentrales Signum des Wirkens Jesu ist, so ist es auch zentrale Forderung an den Lebenswandel der Jünger. Das heißt: Diakonisches Handelns ist für sie nicht Einzelaktion, sondern Lebensprogramm, es kommt nicht in einzelnen Lebenssituationen auf sie zu, sondern wird gesucht, indem sie dort hingehen, wo Menschen in Not sind. Damit ist zugleich gesagt, „dass mitleidvolles Erbarmen mit den Bedürftigen für Matthäus keine Handlung sein 94
Vgl. exemplarisch M. Wolter, Der Brief an die Römer, Teilbd. 2: Röm 9–16, EKK VI/2, Ostfildern, Göttingen 2019, 442. 95 Collins, Value (Anm. 93), 42.
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kann, zu der sich ein Christenmensch angesichts einer prinzipiell offenen Entscheidung zwischen Handlungsoptionen je und je neu entschließen müsste, sondern es um eine grundlegende ethische Haltung geht, die organisch aus der Glaubensüberzeugung von der Barmherzigkeit Gottes, wie er sie im messianischen Wirken Jesu erwiesen hat, erwächst.“96 5. „Gib uns heute unser Brot für morgen“ (Mt 6,11) Zum Schluss sei noch einmal die Brotbitte des Vaterunsers aufgenommen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sie deutlich macht, dass Gott das leibliche Wohlergehen der Menschen nicht als irrelevant ansieht. Die Stillung elementarer Lebensbedürfnisse ist ein berechtigtes Gebetsanliegen. Die Zusage in 6,33 an jene, die zuerst das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit suchen, dass ihnen die Stillung der Grundbedürfnisse – Essen, Trinken, Kleidung – dazugegeben wird, fügt sich hier nahtlos ein. In der Brotbitte ist im Blick auf das hier verfolgte Thema nun ferner zu beachten, dass hier nicht eine einzelne Person um ihre Sättigung bittet, sondern eine Gemeinschaft darum, dass alle von ihnen satt werden können. Von fundamentaler Bedeutung ist dabei, dass Gott als Geber der Mittel zum Leben betrachtet wird. Mit diesem Aspekt aber verbindet sich organisch das ethische Moment, dass Gaben im Sinne des Gebers zu verwenden sind. Konkret: Sie sind zu teilen. In der ethischen Tradition des frühen Judentums findet dies mehrfach eine explizite Manifestation. Nach Philon sind „die Gnaden des obersten Herrschers zum Nutzen der Gesamtheit bestimmt, die er Einzelnen gewährt …“ (Virt 169). PseudPhok 29 mahnt bündig: „An dem, was Gott dir gab, gewähre Bedürftigen Anteil.“ Ähnlich mahnt Sebulon seine Nachkommen in TestSeb 7,2: „Und ihr nun, meine Kinder, aus dem, was Gott euch gibt, erbarmt euch mitleidsvoll ohne Unterschied aller und 96
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gebt jedem Menschen aus gutem Herzen“ (vgl. frühchristlich Did 1,5; HermMand II 4). Daraus, dass der Mensch nicht als ein autonomes Individuum gesehen, sondern fundamental in seiner Relation zu Gott betrachtet wird, folgt, dass er in eine Solidargemeinschaft mit seinen Mitmenschen gestellt ist. Eine solche Einordnung des Einzelnen in eine Solidargemeinschaft spiegelt sich auch in der WirForm der Brotbitte. Daraus folgt ferner, dass man das Vaterunser nicht beten kann, ohne selbst zum Teilen des Brotes bereit zu sein97 – wie man, wie in der nachfolgenden paränetischen Erläuterung der fünften Bitte explizit ausgeführt wird, von Gott nicht die Vergebung der Sünden erhoffen kann, wenn man nicht selbst zur Vergebung bereit ist (6,12.14f.). Wie in Mt 25,31-46 zeigt sich auch hier: Zwischenmenschliche Solidarität bildet für Matthäus ein wesentliches Moment der Gottesbeziehung selbst. Diakonie ist damit nach dem ersten Evangelium nichts weniger als ein Wesensmerkmal von Kirche, ohne welches Kirche nicht Kirche ist.98
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Vgl. C. E. B. Cranfield, Diakonia in the New Testament, in: Service in Christ (FS K. Barth), hg. v. J. I. McCord, T. H. L. Parker, London 1966, 37–48, hier 40. 98 Vgl. A. Obermann, Wesenszüge dienender Gemeinden im Neuen Testament und ihre Implikationen für diakonisches Handeln heute, KuD 46, 2000, 36–59, hier 36: „Kirche kann … ohne Diakonie nicht wahrhaft Kirche sein“. Ferner U. Luz, Biblische Grundlagen der Diakonie, in: G. Ruddat, G. K. Schäfer (Hg.), Diakonisches Kompendium, Göttingen 2005, 17–35, hier 34: „Diakonie ist aus neutestamentlicher Perspektive eine, wenn nicht sogar ‚die nota ecclesiae‘“ (Hervorhebung im Original).
Klaus Scholtissek
„Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45) Die messianische Diakonie Jesu und der Christusgläubigen im Markusevangelium „Mk ist eben noch nicht in dem Maße Herr über den Stoff geworden, daß er eine Gliederung wagen könnte“ – so lautet ein älteres, längst ausgeräumtes Vorurteil in der Markusforschung von Rudolf Bultmann.1 In den letzten Jahrzehnten hat sich die Markusforschung2 von dieser 1
R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, FRLANT 29, Göttingen 81970, 375. 2 Vgl. hierzu U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 42002, 240–261; K. Scholtissek, Die Vollmacht Jesu. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen zu einem Leitmotiv markinischer Christologie, NTA.NF 25, Münster 1992; ders., „Grunderzählung“ des Heils. Zum aktuellen Stand der Markusforschung: ThLZ 130, 2005, 858–880, sowie die neueren Kommentare von P. Dschulnigg, Das Markusevangelium, ThKNT 2, Stuttgart 2007; W. Eckey, Das Markusevangelium. Orientierung am Weg Jesu. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 22008; vgl. auch E.-M. Becker, Das Markusevangelium im Rahmen antiker Historiographie, WUNT 195, Tübingen 2006; D. Dormeyer, Das Markusevangelium, Darmstadt 2005; W. R. Telford, Writing on the Gospel of Mark, Guides to Advanced Biblical Research 1, Leiden 2009; K. M. Schmidt, Wege des Heils. Erzählstrukturen und Rezeptionskontexte des Markusevangeliums, NTOA 74, Göttingen 2010; M. Meiser, Markusforschung in der (Selbst-)Kritik, in: W. Kraus, M. Rösel (Hg.). Update-Exegese 2.1. Ergebnisse gegenwärtiger Bibelwissenschaft, Leipzig 2015, 134–144; G. Guttenberger, Das Evangelium nach Markus, ZBK.NT 2, Zürich 2017; A. Lindemann, Kommentare zum Markusevangelium 2000–2017, ThR 83, 2018, 217–273; G. van Oyen (Hg.), Reading the Gospel of Mark in the Twenty-First Century. Method and Meaning, BEThL 301, Leuven 2019. Die unmittelbare Auseinandersetzung des Markusevangeliums mit dem römischen Kaiserkult betonen mit unterschiedlichen Ansätzen
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Klaus Scholtissek
Annahme weit entfernt. Die literarische bzw. erzählerische Qualität sowie die anspruchsvolle theologische Konzeption und Kohärenz des Markusevangeliums wurden vielfältig herausgearbeitet und bestätigt.3 u.a. G. Gelardini, Christus Militans. Studien zur politisch-militärischen Semantik im Markusevangelium, NT.S 165, Leiden 2016; H. Blatz, Die Semantik der Macht. Eine zeit- und religionsgeschichtliche Studie zu den markinischen Wundererzählungen, NTA.NF 59, Münster 2016; C. Schramm, Die Königsmacher. Wie die synoptischen Evangelien Herrschaftslegitimierung betreiben, BBB 186, Göttingen 2019; M. Lau, Der gekreuzigte Triumphator. Eine motivkritische Studie zum Markusevangelium, NTOA 114, Göttingen 2019. Kritisch zu diesem Interpretationsansatz M. Meiser, Das Markusevangelium – eine ideologie- und imperiumskritische Schrift? Ein Blick in die Auslegungsgeschichte, in: M. Labahn, O. Lehtipuu (Hg.), People under Power. Early Jewish and Christian Responses to the Roman Empire, Amsterdam 2015, 129–157; N. Huttunen, Christians Adapting to the Roman Empire. Early Christians Adapting to the Roman Empire Mutual Recognition, NT.S 179, Leiden 2020; T. Nicklas, Jesus und Vespasian? Das Markusevangelium als politisch interessiertes „AntiEvangelium“ zum Aufstieg der Flavier?, in: J. Snyder, K. Zamfir (Hg.), Reading the Political in Jewish and Christian Texts, Biblical Tools and Studies 38, Leuven 2020, 159– 178. 3 Vgl. F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung, SBS 118/119, Stuttgart 1985; T. Söding (Hg.), Der Evangelist als Theologe. Studien zum Markusevangelium, SBS 163, Stuttgart 1995; vgl. auch K. Scholtissek, „Er ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden“ (Mk 12,27). Grundzüge der markinischen Theo-logie, in: Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments. (FS W. Thüsing), hg. v. T. Söding, NTA.NF 31, Münster 1996, 71–100; B. Bosenius, Der literarische Raum des Markusevangeliums, WMANT 140, Neukirchen-Vluyn 2014; S. Hübenthal, Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis, FRLANT 253, Göttingen, 2014, 22018; C. Gerber, Erzählte Christologie im Markusevangelium oder: Wie ist zu verstehen, wer Jesus ist?, in: T. FornetPonse (Hg.), Jesus Christus – von alttestamentlichen Messiasvorstellungen bis zur literarischen Figur, Jerusalemer theologisches Forum 25, Münster 2015, 63–72; J. Rüggemeier, Poetik der markinischen Christologie. Eine kognitiv-narratologische Exegese, WUNT II/458, Tübingen 2017; ders., Mark’s Jesus reviewed. Towards A CognitiveNarratological Reading of Character Perspectives and Markan Christology, in: G. van Oyen, Reading the Gospel of Mark in the TwentyFirst Century (Anm. 2), 717–735; ders., Ein See – Zwei Ufer. Raum und erzählte Welt im Markusevangelium, in C. Bartsch, F. Bode (Hg.),
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Die folgenden Ausführungen wenden sich der Frage nach der christologischen und ekklesiologischen Grundlegung diakonischen Handelns im Markusevangelium zu.4 Dafür wird zunächst das markinische Wortvorkommen von διακονέω κτλ. in den Blick genommen (1). Zu berücksichtigen ist die jüngste umfassende semantische Analyse von διακονέω κτλ. in der paganen, jüdisch-hellenistischen und neutestamentlichen Literatur von Anni Hentschel.5 (2). Die darauf folgenden Ausführungen richten die exegetische Aufmerksamkeit in besonderer Weise auf die kompositionelle Arbeit des Verfassers des ältesten kanonischen Evangeliums. Dabei bildet die Auslegung der Perikope Mk 10,35-45 im unmittelbaren und weiteren Kontext des markinischen Kompositionsprogramms den Schwerpunkt (vgl. 3 und 4). Der Beitrag schließt mit einer zusammenfassenden Ergebnissicherung ab (5).
Welten Erzählen: Paradigmen und Perspektiven, Narratologia 65, 2019, 317–339; P.-G. Klumbies, Das Markusevangelium als Erzählung, WUNT 408, Tübingen 2018. 4 Zum biblischen Fundament christlicher Diakonie vgl. K. Scholtissek, Neutestamentliche Grundlagen der Diakonie, 2014, in diesem Band: 1– 21; ders., Ein Beispiel habe ich Euch gegeben …“ (Joh 15,13). Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums, 2014, in diesem Band: 159–188. Vgl. grundlegend: G. K. Schäfer, T. Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, VDWI 2, Heidelberg 31989; V. Herrmann, H. Schmidt (Hg.), Diakonische Konturen im Neuen Testament, DWI-INFO – Forum, Materialien, Informationen; Sonderausgabe 9, Heidelberg 2007. 5 Vgl. A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II/226, Tübingen 2007; vgl. dies., Art. Dienen, WiBiLex, 2008; dies., Art. Diakon/Diakonin, WiBiLex, 2011; dies., Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, BThSt 136, Neukirchen-Vluyn 2013; dies., Diakonie – Sprachverwirrung um einen griechischen Begriff, GlLern 29, 2014, 1–15. Vgl. auch die weiterführende Diskussion in: B. J. Koet, E. Murphy, E. Ryökäs (Hg.), Deacons and Diakonia in Early Christianity. The First Two Centuries, WUNT II/479, Tübingen 2018.
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1. Die Wortfamilie διακονέω κτλ. im Markusevangelium Die Verwendung von διακονέω κτλ. im Markusevangelium scheint auf den ersten Blick recht übersichtlich zu sein: Im Evangelium findet sich διακονέω in Mk 1,13.31; 10,45(bis); 15,41 sowie διάκονος in Mk 9,35 und 10,43. Subjekte, deren Handeln mit διακονέω beschrieben werden, sind: − Engel (Mk 1,13: Objekt: Jesus), − die Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,31; Objekt: Jesus), − nicht spezifizierte Dritte (Mk 10,45; Objekt: Jesus), − Jesus (Mk 10,45; Objekt: „für viele“), − die namentlich genannten Frauen unter dem Kreuz (Mk 15,41; Objekt: Jesus). Der Evangelist verwendet das Nomen διάκονος (Mk 9,35; 10,43f.) bezeichnenderweise jeweils in Regelworten von grundsätzlichem, normierenden Charakter: 9,35: „Wenn jemand will der Erste (πρῶτος) sein, der soll der Letzte sein von allen (πάντων ἔσχατος) und aller Diener (πάντων διάκονος).“ 10,43-44: „Aber so ist es unter euch nicht; sondern wer groß (μέγας) sein will unter euch, der soll euer Diener (διάκονος) sein; und wer unter euch der Erste (πρῶτος) sein will, der soll aller Knecht (πάντων δοῦλος) sein.“
Im Textzusammenhang geht es jeweils um Größe, Rang, Macht und Autorität innerhalb der Nachfolgegemeinde (vgl. Mk 9,33-37; 10,35-45). Beide Perikopen sind eng aufeinander zu beziehen, interpretieren und verstärken sich wechselseitig. Mk 10,35-45 nimmt die Aussagen von 9,33-37 erneut auf, erweitert und vertieft sie. Für die Semantik des markinischen Verständnisses von διακονέω und διάκονος sind sowohl der Mikro- als auch der Makrokontext von hoher Relevanz. In und mit diesen Kontexten
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buchstabiert und definiert der Evangelist sein Verständnis von διακονέω: Mikrokontext (a) Im unmittelbaren Textzusammenhang von Mk 9,33-37 und 10,35-45 geht es um das für Markus typische Jüngerunverständnis6 (vgl. nur das Signalwort: διαλογίζομαι in 9,33.34), das In-Szene-Setzen Jesu als Lehrer und damit verbunden eine (für die nachösterliche Situation transparente) scharfe Zurechtweisung und Belehrung der Nachfolgenden – anlässlich der Ausgangsfrage: „Wer ist der Größte (τίς μείζων)?“ (Mk 9,34; vgl. die Analogie in 10,37). In Mk 9,33-37 entwickelt der Evangelist ein semantisches Netz mit den Worten μείζων, πρῶτος, πάντων ἔσχατος, πάντων διάκονος und πάντων δοῦλος und veranschaulicht so seine Botschaft mit einer Zeichenhandlung (9,36: In-die-Mitte-Stellen eines Kindes, Umarmen/Herzen des Kindes) und der mit einer Zusage verbundenen Aufforderung, wie er Kinder „aufzunehmen“ (9,37). (b) In Analogie und Weiterführung greift der Evangelist dieses semantische Netz in Mk 10,35-45 erneut auf und erweitert es: Anlässlich der ihr erneutes Unverständnis offenbarenden Bitte der Zebedaiden um das zukünftige Sitzen zur Rechten und Linken in der Herrlichkeit Jesu (vgl. 10,35-40) entfaltet der Evangelist erneut eine Jüngerbelehrung. Hierzu führt er neu als Kontrastbild das Verhalten derer ein, „die als Herrscher der Völker gelten“ (οἱ δοκοῦντες ἄρχειν τῶν ἐθνῶν) und „der Mächtigen“ (οἱ μεγάλοι). Diese „unterdrücken“ (κατακυριεύουσιν) ihre Völker und „tun ihnen Gewalt an“ (κατεξουσιάζουσιν) (10,42). In scharfer Entgegensetzung profiliert Jesus das in der Gemeinde geforderte Verhalten in dem parallelismus mem-
6
Vgl. hierzu Scholtissek, Vollmacht (Anm. 2), 157–159.
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brorum in den Versen 43-44 und begründet dies abschließend mit seiner Sendung, mit seinem Lebens- und Todesdienst (vgl. 10,45). In den VV. 43-44 verwendet Markus die Stichwörter: μέγας, διάκονος, πρῶτος, πάντων δοῦλος. Erstmals aufgenommen ist hier das Stichwort δοῦλος,7 mit dem der Evangelist die Aussage aus Vers 43 bewusst weiter zuspitzt. Makrokontext Mk 9,33-37 folgt im Markusevangelium unmittelbar auf die zweite Leidensankündigung Jesu (vgl. Mk 9,30-31), der – wie so oft bei Markus – unmittelbar der Hinweis auf das fehlende Jüngerverständnis folgt (vgl. den Erzählerkommentar in 9,32). Dieses Jüngerunverständnis wird dann in 9,33-37 exemplifiziert. Mit dieser Komposition spricht der Evangelist einen Zusammenhang an, um den es ihm in der Komposition Mk 8,27-10,45 (gerahmt durch die beiden Blindenheilungen in 8,22-26 und 10,46-52) und nicht zuletzt im gesamten Evangelium geht: Der Weg Jesu führt ins Leiden, zu Tod und Auferstehung. Angesichts dieses messianischen Weges Jesu ist die Lernkurve seiner Nachfolger erschreckend schwach, weil nicht vorhanden. Dabei geht es dem Evangelisten vordergründig nicht um eine wohlfeile Jüngerkritik, wohl aber um diesen einen Zusammenhang: Den Lebens- und Leidensweg Jesu trotz aller Einwände als die messianische Sendung Jesu zu erfassen und die in diesem messianischen Weg Jesu grundgelegte messianisch-diakonische Ethik zu lernen. Innerhalb der Gesamtkomposition des Markusevangeliums kommt Mk 10,35-45 ein prominenter Platz zu: Mit dieser Perikope (und der ihr folgenden Blindenheilung 10,46-52) schließt der Evangelist den „Weg“ Jesu von Galiläa nach Jerusalem ab und leitet zur Passionserzählung
7 Vgl. auch das weitere Vorkommen von δοῦλος im Markusevangelium: Mk 12,2.4; 13,34; 14,47.
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über. Genau an diesem Wendepunkt seiner Erzählung interpretiert der Evangelist im Vorgriff auf die Erzählung von Passion und Auferstehung Jesu erneut den Zusammenhang von messianischem Leidensweg Jesu (vgl. die dritte Leidensankündigung Jesu in Mk 10,32-34) und der entsprechenden messianisch-diakonischen Ethik seiner Nachfolgenden. Diese ersten Textbeobachtungen zum markinischen Verständnis von διακονέω κτλ. sind im Folgenden zu vertiefen. Zuvor wird die neuere Diskussion zur Semantik von διακονέω κτλ. im Neuen Testament vorgestellt. 2 . Die Thesen von Anni Hentschel zu διακονέω κτλ. im Neuen Testament In ihrer Monographie „Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der Frauen“8 analysiert und interpretiert Anni Hentschel die Begriffsgeschichte von διακονέω κτλ. in profangriechischen, jüdisch-hellenistischen und neutestamentlichen Zusammenhängen.9 Ihre neutestamentlichen Schwerpunkttexte sind Paulus und das lukanische Doppelwerk. Besondere Interessen von Anni Henschel sind ausweislich des Untertitels die Rolle von Frauen sowie die Frage nach Ämtern in den neutestamentlichen Schriften.10 8
Vgl. Hentschel, Diakonia (Anm. 5). Zum Alten Testament vgl. F. Crüsemann, Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie, in: Schäfer, Strohm, Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen (Anm. 4), 67–93. Vgl. auch weiterführend K. Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagen sozialer Verantwortung im jüdisch-christlichen Gespräch, VDWI 11, Heidelberg 1999; ders., Grundfragen der Diakonie in der Perspektive gesamtbiblischer Theologie, in: V. Herrmann, M. Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik Bd. 1: Biblische, historische und theologische Zugänge zur Diakonie, Neukirchen-Vluyn 2006, 26– 41; H. K. Nielsen, Diakonie als bibeltheologisches Thema, in: ders., S. Pedersen (Hg.), New Directions in Biblical Theology. Papers of the Aarhus Conference, 16–19 September 1992, NT.S 76, Leiden 1994, 201–219. 10 Vgl. Hentschel, Diakonia (Anm. 5), 1–5.25 u.ö. 9
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Einordnung in die Forschungsgeschichte Ihre semantischen Analysen führen Anni Hentschel zu einer gegenüber einer verbreiteten Auslegung11 weitreichenden Neubestimmung, genauerhin Neuabgrenzung des semantischen Gehalts von διακονέω κτλ. im Neuen Testament. Nach H.-W. Beyer „bezeichne διακονέω ursprünglich den niedrigen, untergeordneten Dienst von Frauen und Sklaven, insbesondere den Tischdienst, und sei im Neuen Testament v.a. als Dienst der Barmherzigkeit und Nächstenliebe gemäß dem Vorbild Jesu Christi in seiner Bedeutung spezifiziert worden“.12 Beyer ist ein traditionsbildender Vertreter der Forschungsmeinung, die neutestamentliche Verwendung von διακονέω κτλ. kennzeichne eine semantische Bedeutungszuschreibung, die durch das vorbildliche Leben und Sterben Jesu geprägt sei und ihre „theologische Tiefe“13 gewinne. Im Gegensatz hierzu führt Anni Hentschel die Positionen von Dieter Georgi14 und John N. Collins15 weiter, bestätigt und differenziert sie: Georgi und Collins verstehen „das griechische Lexem vielmehr vom Gesandtschaftsinstitut und von der Beauftragung mit Botengängen bzw. Vermittlungstätigkeiten her“.16 Collins „bietet selbst ein wesentlich differenzierteres Bedeutungsspektrum von διακονέω
11 Vgl. exemplarisch H.-W. Beyer, Art. διακονέω κτλ., ThWNT 2, 1934, 81–93. 12 Hentschel, Diakonia (Anm. 5), 2. 13 Beyer, Art. διακονέω κτλ. (Anm. 11), 85. 14 Vgl. D. Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief. Studien zur religiösen Propaganda in der Spätantike, WMANT 11, NeukirchenVluyn 1964. 15 Vgl. J. N. Collins, Diakonia. Re-interpreting the Ancient Sources, New York 1990; vgl. ders., Diakonia Studies: Critical Issues in Ministry, Oxford 2014; ders., The Rhetorical Value of Διακον- in Matthew 25:44 in: Koet, Murphy, Ryökäs, Deacons and Diakonia (Anm. 5), 31– 43. Zur Auseinandersetzung mit den Thesen von John N. Collins vgl. auch den Sammelband V. Herrmann, H. Schmidt (Hg.), Diakonische Konturen im Neuen Testamen, DWI-Info Sonderausgabe 9, Heidelberg 2007. 16 Hentschel, Diakonia (Anm. 5) 2; vgl. a.a.0., 19–24.
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und seinen Derivaten, die nach ihm in der Regel eine Tätigkeit wiedergeben, in welcher das Subjekt im Auftrag eines anderen Sachen oder Nachrichten von einem Ort an den anderen bringe. Dies gelte sowohl für den Tischdienst als auch für den Übermittler von Botschaften. Collins stellt zudem die These auf, dass es keine spezifisch christliche Verwendung von διακονέω κτλ. im Sinne von Liebesdienst gebe und dass ein Verständnis von διακονέω im Sinne von Liebesdienst verfehlt sei“.17 Nach Collins gibt es drei Kontexte, in denen die Wortgruppe διακονέω κτλ. verwendet wird: „1. der Bereich von Botengängen, der Übermittlung von Botschaften, 2. der Bereich der Ausführung von Aufgaben und 3. der Bereich der Aufwartung gegenüber einer Person oder Arbeiten in einem Haushalt“.18
17
Ebd. 3; vgl. ebd. 24. Ebd. 22; vgl. Collins, Diakonia (Anm. 15) 335–337. Zur Auseinandersetzung mit J. N. Collins vgl. den Sammelband: Diakonische Konturen (Anm. 4), hier besonders. die Beiträge von: H-J. Benedict, Die größere Diakonie: Versuch einer Neubestimmung im Anschluss an John N. Collins, 127–135; Dietzel, Zur Entstehung des Diakonats im Urchristentum. Eine Auseinandersetzung mit den Positionen von Wilhelm Brandt, Hermann Wolfgang Beyer und John N. Collins, ebd. 136– 170; I. Dunderberg, Vermittlung statt karitativer Tätigkeit? Überlegungen zu John N. Collins’ Interpretation von diakonia, ebd. 171–183. I. Dunderberg hält abschließend fest: Collins „gelingt es m.E. nicht, die gesamte Richtung der älteren Forschung zu wenden. Allerdings finde ich seinen Versuch, ein und dieselbe ‚richtige’ Bedeutung in allen möglichen Zusammenhängen anzuwenden, oft nicht völlig überzeugend. … Das ‚traditionelle’ Verständnis der diakonia als eine wohltätige, liebende und persönliche Fürsorge für die anderen bildet somit nur einen Teilaspekt davon, was mit diakonia in den altertümlichen Quellen gemeint wird. Allerdings ist das m. E. kein Grund, auf diesen Aspekt der diakonia zu verzichten“ (182f). Vgl. auch die Auseinandersetzung bei M. Konrad, „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt“ (Mt 25,40). Überlegungen zur Bedeutung diakonischen Handelns im Matthäusevangelium, in diesem Band: 53–91. 18
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Zur Semantik und vorneutestamentlichen Begriffsgeschichte von διακονέω κτλ. Anni Hentschel versteht die Grundbedeutung von διακονέω κτλ. als Beauftragung und auftragsgemäße Ausführung eines Auftrags.19 Dafür beruft sie sich insbesondere auf die profangriechische und jüdisch-hellenistische Verwendung von διακονέω κτλ.20 Sie betont, dass die semantische Valenz von διακονέω als ‚niedriger Dienst‘, der insbesondere von Frauen ausgeübt werde, in den von ihr untersuchten Textcorpora nicht zu belegen ist.21 „Es zeigte sich, dass die Wortgruppe nicht grundsätzlich die niedere Hausarbeit oder den Tischdienst von Frauen und Sklaven bezeichnet. Weder die Vorstellung eines demütigen Dienstes noch die Annahme, dass der Status der jeweiligen Subjekte in der Regel ein niederer sei, wurde durch die zahlreichen Belegstellen nahegelegt.“22 In ihrer Sicht finden sich vielfältige Forschungsbeiträge mit vereinnahmenden und tendenziellen Interpretationen, die nicht den Texten selbst zu entnehmen sind, sondern textfremde Interessen eintragen. Mit ihren Analysen plädiert sie vehement gegen eine Vereinnahmung der neutestamentlichen Verwendung von διακονέω κτλ. durch ein modern-volkstümliches Verständnis von Diakonie als „niedriger Dienst“, als untergeordnete karitative Dienstleistung. Die griechische Wortgruppe διακονέω κτλ. drückt „grundsätzlich weder ein niedriges Dienen noch die fürsorgende Barmherzigkeit“23 aus. Die „deutschen Lehnworte Diakonie und diakonisch (geben) die Bedeutung der zugrundliegenden Begriffe nicht zutreffend wieder“.24
19
Vgl. Hentschel, Diakonia (Anm. 5), passim. Vgl. a.a.O., 34–89. Zu Philon vgl. jetzt auch den Beitrag von J. Quenstedt, Diakonia bei Philon von Alexandrien – Sterne, Priester, Zähne und andere Diakone, in diesem Band 259–290. 21 Vgl. Hentschel, Diakonia (Anm. 5), 85–89. 22 A.a.O., 85. 23 A.a.O., 1. 24 Ebd. 20
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Für die Verwendung von διακονέω κτλ. in der Septuaginta25 schlussfolgert Anni Hentschel: „Das Lexem findet sich keineswegs nur im Sinne von Tischdienst oder Höfling, wie die Übersetzungen ins Deutsche nahelegen, sondern es lässt sich eine mit der profangriechischen Literatur vergleichbare Breite der Verwendung erkennen, wobei διακονέω κτλ. sowohl für den Tischdienst und die eher stumpfsinnige Ausführung von Aufträgen durch niedere Angestellte als auch für durchaus angesehene und verantwortungsvolle Positionen mit amtlichen Strukturen vorkommen kann“.26 Bei der Auslegung von TestHiob 11,1-5 (vgl. auch TestHiob 12,1; 15,1.4.8) kommt Anni Hentschel zu dem Ergebnis, dass mit diakonia hier „eindeutig die den Nächsten zugewandte, barmherzige Hilfsbereitschaft des Hiob bzw. im Namen des Hiob“27 gemeint ist. „Durch den Kontext, und nicht aufgrund des Bedeutungsspektrums des Lexems, wird die diakonia hier als ein wohltätiger Dienst der Fremden an den Bedürftigen konnotiert und charakterisiert.“28 διακονέω κτλ.bei Paulus Auch bei der Analyse und Interpretation der paulinischen Verwendung von διακονέω κτλ. hebt Anni Hentschel auf die Übersetzung von διακονέω κτλ. mit „Beauftragen, Beauftragter, Beauftragung“ ab. Paulus deute daher die profangriechische Verwendung von διακονέω κτλ. nicht um, sondern nutze sie. Paulus gehe es um „die Beauftragung mit der Verkündigung einer Offenbarung/Botschaft Gottes an die Menschen“.29 διακονέω κτλ. sei „besonders In der LXX finden sich sieben Belege von διακονέω κτλ.: Est 1,10; 2,2; 6,3.5; 4 Makk 9,17; Prov 10,14; 1 Makk 11,58. 26 Hentschel, Diakonia (Anm. 5), 63. 27 A.a.O., 68. 28 Ebd. Vgl. weiterführend: K. Berger, ‚Diakonie‘ im Frühjudentum. Die Armenfürsorge in der jüdischen Diasporagemeinde zur Zeit Jesu, in: Schäfer, Strohm, Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen (Anm. 4), 94–105. 29 Hentschel, Diakonia (Anm. 5), 110. 25
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geeignet …, die einzelnen Aspekte der Funktion von Offenbarungsmittlern zu beleuchten, zu denen der Offenbarungsempfang, die Beauftragung und v.a. die Vermittlung zur zuverlässigen Weitergabe der Inhalte und die Rechenschaftspflicht gehören“.30 Die paulinische „Diakonie der Versöhnung“ (διακονία τῆς καταλλαγῆς, 2 Kor 5,18) übersetzt sie konsequent mit „und uns gegeben hat den Auftrag zur Verkündigung der Versöhnung“.31 Paulus verstehe sich als διάκονος τοῦ θεοῦ (2 Kor 6,1-10), d.h. als „Beauftragter Gottes“.32 An einem Punkt „radikalisiere“ Paulus jedoch die „übliche Verwendungsweise des Lexems“: In 2 Kor verteidige Paulus sich selbst nicht nur mit dem Aspekt seiner Beauftragung durch Gott sondern zugleich mit dem Aspekt seiner Befähigung durch Gott.33 Insgesamt gilt für Anni Hentschel die Schlussfolgerung: „Eine Auslegung der Diakonia des Paulus als sich selbst erniedrigender Dienst, welche die Schwäche ungebrochen als Beleg für die demütige und niedrige Rolle des Paulus als Diener Christi verwendet, ist damit nicht mehr möglich.“34 Konsequent fasst Anni Hentschel die paulinische Verwendung von διακονέω κτλ. wie folgt zusammen: „Ansonsten verwendet Paulus das Lexem nicht für im heutigen Wortsinn diakonische, d.h. karitative Aufgaben. Dies gilt auch für die Verwendung des Nomens im Kontext der Kollekte, das den Botengang zur Überbringung der Gelder als eine verantwortliche, offizielle Beauftragung beschreibt. Auch lässt die Verwendung von διακονέω und seiner Derivate bei Paulus weder auf einen niedrigen Status der aktiven Subjekte noch auf deren demütige Gesinnung schließen.
30
A.a.O. 110; vgl. 180–184. A.a.O., 116. 32 Vgl. a.a.O., 122–126. 33 Vgl. a.a.O., 126–128. Zur Auslegung von 2 Kor 5,14-21 vgl. auch K. Scholtissek, Diakonie der Versöhnung. 2 Kor 5,14-21 – ein Kleinod paulinischer Theologie, in diesem Band 189–222. 34 Hentschel, Diakonia (Anm. 5), 138. 31
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Dies entspricht der profangriechisch üblichen Wortverwendung, die nicht auf den Status oder die Gesinnung der Subjekte, sondern auf den Auftrag zielt.“35 διακονέω κτλ. bei Lukas Die Analysen und Interpretationen zu der lukanischen Verwendung von διακονέω κτλ. führen sie zu der Schlussfolgerung, dass Lukas erstens διακονέω κτλ. – analog zu Paulus und zur profangriechischen Verwendung – grundlegend als Beauftragung versteht. Das Beispiel des Siebenerkreises in Apg 6,1-7 zeige: „Mit Diakonen im modernen Sinn haben die Sieben nichts zu tun, und auch der Aufgabenbereich, für den Lukas sie nach Apg 6,1-7 vorsieht, ist als eine spezifische Funktion, eine offizielle Beauftragung in der Gemeinde im Zusammenhang der Mahlzeiten und somit als eine Beauftragung für einen karitativen Bereich zu verstehen, nicht jedoch als karitatives Dienstamt.“36 Zweitens ziele Lukas aus Gründen der Sicherung bzw. der Bewahrung der reinen Lehre im Kontext seiner zeitgenössischen Kultur darauf, die Beteiligung von Frauen an amtlichen Aufgaben in der Gemeinde, die er im frühen Christentum und in seinen Traditionen vorgefunden habe, schrittweise zurückzudrängen.37 Dazu verweist Anni Hentschel insbesondere auf ihre Auslegung der MariaMarta-Perikope Lk 10,38-42, in der – bei aller Wertschätzung ‚diakonischer‘ Aufgaben – am Beispiel des Vorbildes Maria die Rolle des passiven Hörens für Frauen propagiert werde.38 Auch die Apostelgeschichte, besonders 35
A.a.O., 182. A.a.O., 344. 37 Vgl. a.a.O., 294–297.315f.380–382.439f.443f. 38 Vgl. a.a.O., 236–258; vgl. dies., Martha und Maria – zwei vorbildliche Jüngerinnen?, in: B. Heininger (Hg.), Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen. Geschlecht – Symbol – Religion I, Münster 2003, 170–191. Zu einer anderen Auslegung von Lk 10,38-42 vgl. K. Scholtissek, Barmherzige und hörende Liebe (Lk 10,25-42). Das Doppelgebot der Liebe und die Diakonie im Lukasevangelium, in diesem Band 127–158. 36
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Apg 1,15-26 und 6,1-7, verstärken – so die Auslegung von Anni Hentschel – die Zurückdrängung von Frauen aus der Beteiligung an christologisch oder ekklesial begründeten Aufträgen. Zur Auseinandersetzung mit der Auslegung von Anni Hentschel An die verdienstvolle Arbeit lassen sich Fragen stellen. Eine soll hier besonders verfolgt werden: Ist die neutestamentliche Semantik von διακονέω κτλ. tatsächlich mit der Matrix: Beauftragung und auftragsgemäße Ausführung eines Auftrags vollständig abgedeckt? Die beiden leitenden Fragestellungen – Rolle der Frauen und der Ämter in den neutestamentlichen Gemeinden – sind einerseits hermeneutisch produktiv: Sie dekonstruieren internalisierte Plausibilitäten und Vorurteile, und sie öffnen zugleich den Blick für neue Textbeobachtungen, gleichzeitig kann aber auch eine neue Engführung der Perspektive und Interpretation erfolgen. In aller Vorsicht wird hier die These vertreten, dass es unabhängig von geschlechtsbezogenen und amtstheologischen Dimensionen im Neuen Testament auch eine Verwendung von διακονέω κτλ. gibt, die über die semantische Valenz von Beauftragung und auftragsgemäße Ausführung eines Auftrags hinausgeht – diese beiden Aspekte aber bleibend inkludiert. Grundsätzlich gilt – das betont auch Anni Hentschel durchgehend39 –, dass die Semantik von Wörtern sich maßgeblich aus dem Kontext, in dem sie verwendet werden, ergibt. Deshalb ist es jeweils nötig, den Mikrokontext (die Perikope) sowie den Makrokontext (die jeweilige Schrift und insbesondere die weitere Verwendung eines Lexems in der gesamten Schrift) zu berücksichtigen. Dies soll im Folgenden an einer exemplarischen Schrift, hier dem Markusevangelium, als Makrokontext
39
Vgl. Hentschel, Diakonie (Anm. 5), 24–23.87f.90.433.434 u.ö.
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und der Perikope 10,35-45 als Mikrokontext geprüft werden.40 3. Die Komposition Mk 8,22-10,52: Sehen, Bekennen, Leiden, Nachfolgen, Dienen Der Evangelist Markus ist Herr über seinen Stoff geworden – die literarische Kohärenz und Qualität des ältesten Evangeliums muss hier nicht neu aufgewiesen werden.41 Gerade narrative Analysen des Markusevangeliums haben dies zur Genüge nachgewiesen.42 Im Folgenden soll insbesondere der Aspekt der Komposition herausgestellt werden. Die These lautet: Markus setzt das literarische Instrument der Komposition ein, um seine theologische Absicht, sein εὐαγγέλιον Ἰησοῦ Χριστοῦ (Mk 1,1) zu profilieren und zu vertiefen. Ein erster Zugang zur Relevanz der Komposition im Markusevangelium ist die Gliederung des Gesamtwerks. Die klassische Sichtweise43 gliedert folgendermaßen: 1,1-1.14-15 Prolog: programmatische Verkündigung44 1,16-8,21.22-26 Hauptteil I: Wirken in Galiläa/Umgebung 8,22-26.27-16,8 Hauptteil II: Weg nach Jerusalem, Passion und Auferstehung 16,9-20 Erscheinungen des Auferstandenen
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Anni Hentschel bespricht mehrfach Markus-Perikopen; vgl. a.a.O., 200–202.228–231.276–281. Zu den folgenden Ausführungen vgl. auch die Beobachtungen von D. Jonas, Diakonein – Diakonia – Diakonos. Studien zum Verständnis des Dienstes („Diakonie“) bei Markus und Lukas, in: Schäfer, Storm, Diakonische Konturen (Anm. 4), 63–126, hier 69–92 unter der treffenden Gesamtüberschrift „Markusevangelium: Diakonie der Befreiung“. 41 Vgl. Anm. 2. 42 Vgl. Anm. 3. 43 Vgl. u.a. Schnelle, Einleitung (Anm. 2), 248–250. Vgl. weiterführend auch Dschulnigg, Markusevangelium (Anm. 2), 33f; Eckey, Markusevangelium (Anm. 2) 18–22. K. M. Schmidt bestätigt diese Gliederung, vgl. ders., Wege (Anm. 2), 5.22–26.523 et passim. 44 Zur programmatischen Bedeutung von Mk 1,14-15 als Überschrift für die beiden Hauptteile des MkEv vgl. Scholtissek, Grundlagen
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Dabei kommen 1,14-15 sowie 8,22-26 und 10,46-52 ‚Scharnier‘-Funktionen zu. Die erste große, vom Evangelisten komponierte Einheit zu Beginn des 2. Hauptteiles umfasst 8,22-10,52:45 Zwei Blindenheilungen rahmen bekanntlich den Weg Jesu von Cäsarea Philippi nach Jericho, der letzten Station Jesu vor Betfage und Betanien bzw. Jerusalem (11,1). Zu der Rahmung treten weitere kompositionelle Stilmittel, das auffälligste ist die Strukturierung der gerahmten Einheit durch die dreifache Leidensankündigung Jesu in Mk 8,31-33; 9,30-32 und 10,32-34.46 Damit ist das Hauptthema benannt, dem die weiteren inhaltlichen Anliegen des Markusevangeliums zugeordnet werden: Leitend ist hier das schon im ersten Hauptteil angesprochene und in 8,14-21 zugespitzte Motiv des Jüngerunverständnisses: Der Weg Jesu und das Verhalten der Nachfolgegemeinschaft zu diesem Weg Jesu wird hier grundlegend angesprochen und reflektiert. Dabei verschränken sich die vorösterliche Erzählebene und das nachösterliche Erzählinteresse. Exemplarisch lässt sich dies an der markinischen Metaphorik des Sehens und der markinischen Metaphorik des Weges aufzeigen. Die folgende Darstellung verdeutlicht die markinische Komposition in 8,22-10,52: 8,14-21
Versteht ihr noch nicht und begreift ihr noch nicht? Habt ihr noch ein verhärtetes Herz? Habt ihr Augen und seht nicht, und habt Ohren und hört nicht? Begreift ihr denn noch nicht?
(Anm. 4); ders., Der Sohn Gottes für das Reich Gottes. Zur Verbindung von Christologie und Eschatologie bei Markus, in: Söding, Der Evangelist als Theologe (Anm. 3), 63–90. 45 Vgl. hierzu auch weiterführend: Schmidt, Wege (Anm. 2), 40–69. 46 Vgl. A. Weihs, Die Deutung des Todes Jesu im Markusevangelium. Eine exegetische Studie zu den Leidens- und Auferstehungsaussagen, fzb 99, Würzburg 2003.
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8,22-26
10,46-52 11,1
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Heilung eines Blinden bei Betsaida 8,27-30 Bekenntnis des Petrus („in die Dörfer bei Cäsarea Philippi“) 8,31-33 1. Ankündigung von Leiden und Auferstehung / Petrustadel 8,34-9,1 Von der Nachfolge 9,2-13 Verklärung Jesu 9,14-29 Heilung des besessenen Knaben 9,30-32 2. Ankündigung von Leiden und Auferstehung 9,33-37 Rangstreit der Jünger 9,38-10,31 (weitere Perikopen) 10,32-34 3. Ankündigung von Leiden und Auferstehung 10,35-35 Vom Herrschen und vom Dienen Heilung eines Blinden bei Jericho („und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf seinem Weg“) „Und als sie in die Nähe von Jerusalem kamen“
3.1 Die Metaphorik des Sehens Die Perikope Mk 8,14-2147 fasst im Sinne der markinischen Komposition das Unverständnis der Jünger Jesu zusammen: Obwohl sie unmittelbare Augen- und Ohrenzeugen des messianischen Wirkens Jesu sind, bleiben sie hinter dem Anspruch der Botschaft und der Person Jesu zurück: Sie treffen die deutlichen Vorwürfe Jesu: „… begreift und versteht ihr immer noch nicht? Ist denn euer Herz verstockt? Habt ihr denn keine Augen, um zu sehen, und keine Ohren um zu hören? Erinnert ihr euch nicht …“. Entsprechend der biblischen Anthropologie geht es um eine ganzheitliche Wahrnehmung der Jünger und Jüngerinnen Jesu („begreifen“, „verstehen“, „sehen“, „hören“, Vgl. K. Scholtissek, „Augen habt ihr und seht nicht, und Ohren habt ihr und hört nicht?“ (Mk 8,18). Lernprozesse der Jünger Jesu im Markusevangelium, in: Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt. (FS A. Fuchs), hg. v. Niemand, LPTB 7, Frankfurt a. M. 2002, 191–222; vgl. ders., Die Vollmacht Jesu (Anm. 2), 159f.257.
47
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„erinnern“). Markus geht es um den Überstieg von der medizinisch gesehen gesunden Sehkraft des Menschen hin zu einem vertieften Sehen dessen, was geschieht, zum Erkennen und Verstehen dessen, was vor ihren Augen geschieht, bis zum Anerkennen und Bekennen dessen, was geschieht und durch wen es geschieht, und daraus abgeleitet der Nachfolge Jesu. Die beiden rahmenden Blindenheilungen spiegeln in ihren Übereinstimmungen und in ihren Differenzen diesen von Markus intendierten Seh-Weg der Nachfolgenden: Mk 8,22-26 spricht vieldeutig von einem schrittweisen Zum-Sehen-Kommen des namenlosen Blinden bei Betsaida. Ihm wird ein für das Markusevangelium typisches Schweigegebot auferlegt. Mk 10,46-52 benennt den Geheilten namentlich (Bartimäus) und endet mit dem Hinweis: „Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach auf dem Wege“ (10,52). Bartimäus wird hier als Vorbild für die Jünger dargestellt: Er wird sehend im doppelten Sinne und er folgt Jesus nach auf dem Weg. Die korrespondierenden Motive des Weges und der Nachfolge wiederum werden im Markusevangelium selbst ebenfalls metaphorisch verwendet. 3.2 Die Metaphorik des Weges bzw. der Nachfolge Anders als das Johannesevangelium kennt das Markusevangelium (wie die beiden anderen Synoptiker) nur einen Weg Jesu von Galiläa nach Jerusalem. Dieser geographische Aufriss des Markusevangeliums – zu dem konstitutiv auch die Kontakte Jesu zu Heiden gehören48 – eignet sich 48 Vgl. hierzu weiterführend T. Schmeller, Jesus im Umland Galiläas. Zu den markinischen Berichten vom Aufenthalt Jesu in den Gebieten von Tyros, Caesarea Philippi und der Dekapolis, in: ders., Untersuchungen zur Jesusüberlieferung und zu frühchristlichen Gemeinden, SBAB 62, Stuttgart 2016, 101–132; D. Haase, Jesu Weg zu den Heiden. Das geographische Konzept des Markusevangeliums, ABIG 63, Leipzig 2019; K.-M. Bull, Die Dekapolis im Markusevangelium, in: Neutestamentliche Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung (FS E. Reinmuth), hg. v. S. Alkier, C. Böttrich, Leipzig 2017, 279–293; J. U. Beck, Freiheit zum Leben. Wirkungen des Wirkens Jesu nach
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hervorragend für eine metaphorische Deutung: Der Evangelist hat dies erkannt und so als Erster ein Evangelium komponiert.49 Ihm geht es grundlegend darum, den geographischen Weg transparent werden zu lassen für den Heils-Weg des Messias, des „Sohnes Gottes“ (Mk 1,1; vgl. 1,11; 9,7; 14,61; 15,39).50 Zu diesem Heils-Weg des Messias Jesus51 gehören – das klingt im ersten Hauptteil des Evangeliums deutlich an und wird im zweiten Hauptteil explizites Leitthema – das Leiden, der Tod und die Auferstehung Jesu. Die Darstellung der Verbindung zwischen der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu in Wort und Tat einerseits und der Verkündigung von Tod und Auferstehung Jesu andererseits (vgl. die beiden Hauptteile des MkEv) und ihre Plausibilisierung ist als maßgebliches, treibendes Motiv zu sehen für die Entstehung und Abfassung des zeitlich ersten Evangeliums. Darauf ist bei der Auslegung von Mk 10,45 noch zurückzukommen. Die markinische Wegmetaphorik wird besonders deutlich und vertieft in Mk 8,27-33. Der Weg der Nachfolgenden wird hier exemplarisch an der Figur des Petrus vor Augen geführt: Zunächst bekennt sich Petrus in zutreffendem Vokabular zu Jesus: „Du bist der Christus“ (8,29). Unmittelbar darauffolgend kassiert er den denkbar weitreichendsten Tadel: „Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ (8,33). Zwischen diesen beiden Worten liegt der Versuch des Petrus, Jesus von seinem Leidensweg abzuhalten.
Mk 5,1-20, in: Bestimmte Freiheit (FS Chr. Landmesser), hg. v. M. Bauspieß, ders., F. Portenhauser, ABIG 64, Leipzig 2020, 121–142. 49 Vgl. K. Scholtissek, Von Galiläa nach Jerusalem und zurück. Zur theologischen Topographie im Markusevangelium, in: Oleum laetitiae. (FS B. Schwank), hg. v. A. Haendler-Kläsener, G. Brüske, JThF 5, Münster 2003, 56–77. 50 Auch diese bewusst gesetzten Vorkommen der Sohn-Gottes-Titulatur bezeugen das Kompositionsinteresse des Evangelisten. 51 Vgl. hierzu auch die Ausführungen von H.-J. Fabry, K. Scholtissek, Der Messias. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, NEB. Themen 5, Würzburg 2002, 55–100.
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Eben dieser Versuch des Petrus wird als satanische Versuchung von Jesus selbst zurückgewiesen (vgl. die Konvergenz zu Mk 1,13). Die Botschaft lautet: Wer sich in den Weg Jesu stellt, diesen von seinem messianischen Weg abzuhalten versucht, macht sich zu einem satanischen Werkzeug. Umgekehrt besteht die markinische Lehre aus dem Petrustadel darin, den messianischen Weg Jesu als solchen zu erkennen, ihn anzunehmen und dem Messias auf diesem Weg nachzufolgen. Das wird an einer kleinen, aber wichtigen Textbeobachtung zu Mk 8,33 deutlich: Hatte die Lutherübersetzung von 1984 ὕπαγε ὀπίσω μου, σατανᾶ … noch mit „Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist“ übersetzt, so korrigierte die Lutherübersetzung 2017 zutreffend: „Geh hinter mich, du Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.“ Analog die Einheitsübersetzung: Hatte die Einheitsübersetzung aus dem Jahre 1980 noch übersetzt: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“, so korrigierte die Einheitsübersetzung 2016: „Tritt hinter mich, du Satan! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ Wörtlich ist zu übersetzen: „Geh (weg), hinter mich, Satan!“ Die Pointe dieses scharfen Petrustadels ist nicht, dass Jesus Petrus tatsächlich weit weg schickt, sondern dass Jesus Petrus an die richtige Stelle verweist: Nicht vor ihm und damit als Hindernis auf seinem Weg, sondern hinter ihm (ὀπίσω μου; vgl. die wörtliche Parallele in Mk 1,16-20, die Berufung der beiden Brüderpaare in die Nachfolge), in der Nachfolge auf dem Weg Jesu ist der richtige, angestammte Platz des Petrus – und mit ihm aller Jüngerinnen und Jünger. Jesus schickt Petrus gerade nicht endgültig weg, sondern ruft ihn erneut zurück in die Nachfolge, aus der er herausgefallen war, hatte er sich doch trotz seines richtigen Christusbekenntnisses in den Leidensweg des Messias gestellt.
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4. Diakonia in der Perikope Mk 10,35-45: Die diakonische Gemeinde Jesu als Gegenentwurf Die bedeutendste Verwendung von διακονέω κτλ. (vgl. die Beobachtungen in Kapitel 2) im Markusevangelium findet sich in Mk 10,35-45 (hier die VV. 43 und 45). Jede Analyse und Interpretation von διακονέω κτλ. im Markusevangelium muss sich an diesen Versen orientieren und bewähren. Dem versuchen die folgenden Ausführungen gerecht zu werden. 4.1 Der kompositionelle Ort im Markusevangelium Der Gesprächsgang zwischen Jakobus und Johannes bzw. den anderen zehn einerseits und Jesus andererseits wird geographisch kurz vor Abschluss des Weges Jesu von Galiläa nach Jerusalem, nicht weit weg von Jericho verortet. Der folgende Vers Mk 10,46 beginnt: „Und sie kamen nach Jericho“. In der markinischen Kompositionseinheit 8,22-10,52 schließt die Perikope 10,35-45 die gesamte Jüngerbelehrung in 8,27-10,45 ab. Das Menschensohnlogion in 10,45 bildet den Abschluss und Höhepunkt der Jüngerbelehrung. Mk 10,45 ist Jesu letztes abschließendes Wort (wenn man von den Worten in 10,46-52 absieht) vor dem Einzug in Jerusalem (Mk 11,1ff.). Es ist die Zusammenfassung der Komposition 8,27-10,45 und gleichzeitig ein Präludium der Passion Jesu, genauerhin die vorweggenommene theologische Deutung seines gesamten Wirkens, seiner Sendung einschließlich seines Todes. 4.2 Gliederung und Argumentation in Mk 10,35-45 Die Perikope 10,35-45 ist zweigeteilt: I 35-40 35 36 37 38 39 ab
Dialog von Jakobus und Johannes mit Jesus Bitte der Zebedäus-Söhne Rückfrage Jesu nach dem Inhalt der Bitte Bitte der Zebedaiden konfrontierende Rückfragen Jesu Zustimmung der Zebedaiden
112 39 c-g 40 II 41-45 41 42-45 42 43-44 45
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Prophezeiung Jesu Ablehnung der Bitte der Zebedaiden durch Jesus Jüngerbelehrung Jesu Anstoßnehmen „der Zehn“ Jüngerbelehrung Regeln bei „Herrschenden“ und „Mächtigen“ Kontrastregeln „unter euch“ Begründung: die Diakonia des Menschensohnes
Jesu Jüngerbelehrung VV. 42-45 besteht aus drei Teilen: 42 οἴδατε ὅτι οἱ δοκοῦντες ἄρχειν τῶν ἐθνῶν κατακυριεύουσιν αὐτῶν καὶ οἱ μεγάλοι αὐτῶν κατεξουσιάζουσιν αὐτῶν. 43-44 οὐχ οὕτως δέ ἐστιν ἐν ὑμῖν, ἀλλ’ ὃς ἂν θέλῃ μέγας γενέσθαι ἐν ὑμῖν ἔσται ὑμῶν διάκονος, καὶ ὃς ἂν θέλῃ ἐν ὑμῖν εἶναι πρῶτος ἔσται πάντων δοῦλος· 45 καὶ γὰρ ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου οὐκ ἦλθεν διακονηθῆναι ἀλλὰ διακονῆσαι καὶ δοῦναι τὴν ψυχὴν αὐτοῦ λύτρον ἀντὶ πολλῶν.
In V. 42 und in den VV. 43-44 findet sich jeweils ein Parallelismus membrorum.52 V. 42 beinhaltet eine Aussage Jesu über die Herrscher (genauer: „die ihre Völker zu beherrschen scheinen“) und Mächtigen: Jesus formuliert hier grundsätzlich (mit geradezu globalem Bezug) und regelhaft (die Aussage gilt durchgehend). Der parallelismus membrorum in V. 42 ist als synthetischer Parallelismus zu verstehen: Der zweite 52 Zum parallelismus membrorum vgl. B. Weber, Art. Poesie (AT), WiBiLex (abgerufen am 11.4.2020).
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Teil erklärt und erläutert den ersten Teil.53 In den VV. 43-44 formuliert Jesus Regeln für seine Nachfolgenden, die in ausdrücklichem diametralem Kontrast54 stehen zu den Regeln der „Herrschenden“ und „Mächtigen“: Auch hier findet sich ein noch strenger ausgeführter parallelismus membrorum. Dabei spitzt V. 44 die Aussage von V. 43 weiter zu: Das Nomen διάκονος wird durch das Nomen δοῦλος ersetzt. Diese Zuspitzung treibt den Kontrast zu den „Herrschenden“ und „Mächtigen“ weiter voran und schließt jede Form einer abmildernden Interpretation aus. V. 45 begründet die Kontrastregeln in der Jüngergemeinde christologisch (s. hierzu 4.4). Wie ist nun διάκονος in 10,43 zu verstehen? 4.3 διάκονος in Mk 10,43 Anni Hentschel deutet διάκονος in 10,43 wie folgt: „Ein Verständnis des διάκονος im Sinne einer Person, die Aufträge auszuführen hat, fügt sich nahtlos in die Darstellung ein und ist das entsprechende Gegenüber zu den Herrschern der Welt, die Aufträge erteilen und ihre Durchsetzung erzwingen können. Größe in der Jüngerschaft zeigt sich nach Mk 10,43 in der pflichtbewußten Ausübung der Aufgaben, nicht in einer herrschaftlichen Rolle. Während mit dem Nomen Sklave v.a. der niedrige Status der entsprechenden Person assoziiert ist, zielt die Bezeichnung διάκονος in erster Linie auf das Tun des Subjekts, das seinen Auftrag schnell und zuverlässig auszuführen hat.“55 In V. 43 werde διάκονος nicht als Status- sondern als Funktionsbegriff verwendet.56 53
Vgl. F. W. Horn, Diakonische Leitlinien Jesu, in: Schäfer, Strohm, Diakonie – biblische Grundlagen (Anm. 4), 109–126, hier 122f. 54 Oda Wischmeyer spricht von einer Antithese, O. Wischmeyer, Herrschen als Dienen. Markus 10,41-45, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments, hg. v. E.-M. Becker, WUNT 173, Tübingen 2004, 190–206, hier 191f. 55 Hentschel, Diakonia (Anm. 5), 276f. 56 A.a.O., 279.
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Diese Auslegung ist jedoch nicht erschöpfend: Zur markinischen Deutung des Nomens διάκονος gehört nicht nur die pflichtgemäße Erledigung der Aufgabe: (1) In der Deutung von Anni Hentschel kommt der in den VV. 42-44 aufgebaute Kontrast nicht ausreichend in den Blick: Der Akzent liegt nicht in dem tertium comparationis der Macht, Aufträge zu erteilen und ihre Durchsetzung anzuordnen. Der Hauptakzent liegt vielmehr in dem diametralen Gegensatz des Handelns: Während „die als Herrscher Geltenden“ und die „Mächtigen“ „niederhalten“ und „Gewalt antun“, soll sich die Größe der Jünger Jesu in ihrem διάκονος-Sein erweisen. (2) Ausweislich des parallelismus membrorum in VV. 43-44 wird dieses Tun der Jüngergemeinde mit dem Stichwort δοῦλος, das das Nomen διάκονος inhaltlich zuspitzt, charakterisiert. Δοῦλος begegnet im Markusevangelium auch in dem Bildwort 13,34 („Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen“). (3) Der Evangelist Markus greift mit διακονέω auf eine im profanen Sprachgebrauch ebenso wie in der jüdischen Überlieferung vorfindliche semantische Valenz von διακονέυω κτλ. zurück, die ein Handeln beschreibt, dem keine gehobene Statuszuschreibung zukommt, im Gegenteil: Im Gegenüber zu den „als Herrscher Geltenden“ und den „Mächtigen“ wird die gegenteilige soziale Statuszuschreibung bewusst und provozierend als niedere herausgestellt. (4) Dabei geschieht jedoch eine Umkehrung der in der antiken Philosophie57 und Gesellschaft gültigen Wertparameter: Die Umkehrung bzw. Dekonstruktion griechischrömischer Plausibiltäten wird schon in der Formulierung die „als Herrscher Geltenden“ (οἱ δοκοῦντες ἄρχειν τῶν ἐθνῶν) deutlich ausgesprochen. Diese Umkehrung der Vgl. Platon, Georgias 491e: „Denn wie könnte wohl ein Mensch glücklich sein, der irgendwem diente (δουλεύων)“. 57
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Wertmaßstäbe erfolgt in der Verkündigung Jesu angesichts und im Horizont der herangenahten Gottesherrschaft (vgl. Mk 1,15), genauerhin im zeichenhaften Vorgriff auf die vollendete Gottesherrschaft (vgl. Mk 10,31: πολλοὶ δὲ ἔσονται πρῶτοι ἔσχατοι καὶ [οἱ] ἔσχατοι πρῶτοι; vgl. Mt 18,4; 19,30; 20,26f; 23,11f.; Lk 9,48; 14,11; 18,14; 26,26f.). Die Studie von Carsten Jochum-Bortfeld „Die Verachteten stehen auf“58 stellt sich diesem Thema ausführlich und kommt zu dem Ergebnis: „Anders als Theißen möchte ich davon sprechen, dass der Markusevangelist die alttestamentlich-jüdische Tradition (natürlich in der Lesart, die davon geprägt ist, dass Jesus der Christus ist) den hierarchischen Menschenbildern seiner Umwelt entgegensetzt. Hier werden nicht nur Wertvorstellungen der Oberschicht von Christen ‚neu definiert‘, sondern durch anders gegründete Menschenbilder ersetzt. Seine Geschichten sind Widerworte zu den großen Erzählungen der römisch-hellenistischen Kultur.“59 Und Karl Matthias Schmidt urteilt: „Gefordert ist von den Anhängern Jesu jedoch kein Durchsetzungsvermögen, das politische und militärische Gegner ausschaltet, sondern die Fürsorge für die Schwächsten, ein Dienst, für den der wahre Prinzeps ein Beispiel gibt. Das Reich Gottes ist in fast allen Punkten das Gegenteil der Herrschaft des römischen Kaisers, des weltlichen Machtdenkens.“60
58 C. Jochum-Bortfeld, Die Verachteten stehen auf. Widersprüche und Gegenentwürfe des Markusevangeliums zu den Menschenbildern seiner Zeit, BWANT 178, Stuttgart 2008. 59 A.a.O., 310 (mit Zitat von G. Theißen, Mythos und Werterevolution im Urchristentum, in: D. Harth, J. Assmann [Hg.], Revolution und Mythos 1992, 62–81, hier 68). Vgl. auch G. Theißen. Universales Hilfsethos im Neuen Testament? Mt 25,31-46 und Lk 10,25-37 und das christliche Verständnis des Helfens, GlLern 15, 2000, 22–37. 60 Schmidt, Wege (s. Anm. 2), 326f.
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Exkurs: διάκονος in Mk 9,35 Die Perikope Mk 9,33-37 lässt sich als Präludium und in Analogie zu 10,35-45 lesen,61 dem Rangstreit unter den Jüngern bzw. den „Zwölf“ (9,35) in Kapernaum. Die Ausgangsfrage lautet: τίς μείζων (9,34; vgl. 10,43: ὃς ἂν θέλῃ μέγας γενέσθαι ἐν ὑμῖν). Diese Frage seiner Jünger braucht gar nicht ausgesprochen zu werden. Jesus erkennt die Gedanken und sieht in die Herzen der Menschen (Kardiognosie ist nach biblischem Zeugnis eine Eigenschaft Gottes62). Ausweislich der markinischen Verwendung von διαλογίζομαι (für die Schriftgelehrten in Mk 2,6.8) parallelisiert der Evangelist seine unverständigen Jünger bewusst mit den Schriftgelehrten (vgl. Mk 9,33 und 9,34). Die Lesenden sind also schon eingestimmt und vorbereitet – sie erkennen das wertende Erzählinteresse des Evangelisten.
Das Lehrwort Jesu in 9,35 – Jesus wird in 35a wie durchgehend im Markusevangelium als Lehrender inszeniert – lautet: 9,35 Wenn jemand der Erste sein der soll der Letzte sein will, von allen und aller Diener. εἴ τις θέλει πρῶτος εἶναι, ἔσται πάντων ἔσχατος καὶ πάντων διάκονος.
Dieses Regelwort hat zwei Parallelen in 10,43 und 10,44: 10,43 Wer groß sein will unter euch, ὃς ἂν θέλῃ μέγας γενέσθαι ἐν ὑμῖν
der soll euer Diener sein. ἔσται ὑμῶν διάκονος
61 Vgl. Scholtissek, Vollmacht Jesu (s. Anm. 2), 275–279; Eckey, Markusevangelium (s. Anm. 2), 316: „Solche Verdoppelungen weisen auf den Rang hin, den die angesprochenen Probleme für Markus und die Gemeinde hatten.” 62 Vgl. Scholtissek, Vollmacht (s. Anm. 2), 158f.
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10,44 Wer unter euch der Erste sein will, ὃς ἂν θέλῃ ἐν ὑμῖν εἶναι πρῶτος
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der soll aller Knecht sein. ἔσται πάντων δοῦλος
Diese drei Regelworte Jesu haben einen weitgehend gleichen Aufbau mit leichten Variationen: 9,35 verwendet neben und parallel zu διάκονος zusätzlich ἔσχατος – genauerhin explizieren sich ἔσχατος und διάκονος wechselseitig. Dabei kommt dem „Letzten“ (ἔσχατος) ausdrücklich die niedrigste Statuszuschreibung zu. Die Provokation sowie die Statusumschreibung Jesu bilden eine unverkennbare Analogie zu 10,35-45. Während 10,35-45 die „als Herrscher Geltenden“ und die „Mächtigen“ als Kontrastfolie aufbaut bzw. nutzt, veranschaulicht Jesus in 9,36-37 am Beispiel der Aufnahme von Kindern (vgl. ebenfalls Mk 10,13-16) die Umwertung der Werte: Im Gegensatz zur zeitgenössischen gesellschaftlichen Kultur stellt Jesus Kinder in den Mittelpunkt und deutet ihre Aufnahme als Aufnahme seiner selbst und die Aufnahme seiner selbst als Aufnahme des ihn Sendenden.63 Die Aufnahme der Kinder, die ein geringes Ansehen haben, ist selbst eine geringgeschätzte Tätigkeit: Gerade diese Tätigkeit wird in 9,33-37 als dasjenige diakonische Handeln identifiziert, das in die Gemeinschaft mit Jesus und dem ihn Sendenden führt. Aus dieser Interpretation ergibt sich, dass διάκονος in 9,35 nicht nur eine Funktion, sondern auch eine Statusaussage impliziert.64 Freilich wird dieser Status in der typisch jesuanischen Umkehrung neu definiert: Der ἔσχατος aller und der διάκονος aller wird der Erste sein. 63 Zur markinischen Kindheitsmetaphorik vgl. M. Meiser, Das Markusevangelium und antike jüdische Literatur, in: van Oyen, Reading the Gospel of Mark in the Twenty-First Century (Anm. 2), 643–664, hier: 653–656. 64 K. M. Schmidt interpretiert Mk 9,35-37; 10,13-16 auf dem Hintergrund der tutela Augusti; vgl. ders., Wege (Anm. 2), 359–343.
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Auch die Auslegung des Menschensohnwortes in Mk 10,45 verstärkt die vorgetragene Auslegung der VV. 10,42-44. 4.4 Der Menschensohn als διάκονος in Mk 10,45 Anni Hentschel argumentiert zur Auslegung von 10,45: Wenn διάκονος in 10,43 als Funktionsbegriff zu verstehen ist, dann auch in 10,45. „Daraus ergibt sich, dass auch in Mk 10,45a Jesus weder als Tischdiener noch als demütignächstenliebender Diener gezeichnet wird, der aus dieser Motivation heraus sein Leben für die Menschen geben würde. Sowohl vom Kontext als auch von der Wortverwendung her ist es naheliegender, hier eine Sendungsvorstellung im Hintergrund zu sehen, die Jesu Auftrag, sein Leben für die Menschen zu geben, voraussetzt und ihn darin als einen Gesandten Gottes beschreibt, der sich nicht durch autoritär-herrschaftliche Züge auszeichnet, sondern durch die pflichtgetreue Ausübung eines vor menschlichen Maßstäben ehrlosen Auftrags.“65 Sinngemäß ist dann 10,45 zu verstehen: „Der Menschensohn ist nicht gekommen, um für sich selbst Aufträge ausführen zu lassen, d.h. Aufträge zu erteilen und somit eine herrschaftliche Rolle auszufüllen, sondern um selbst einen Auftrag auszuführen“.66 65
Hentschel, Diakonia (Anm. 5), 279. A.a.O., 278. Auf dieser Linie der Interpretation liegt auch der Beitrag von P.-B. Smit, Exegetical Notes on Mark 10:42-45. Who serves Whom?, in: Koet, Murphy, Ryökäs, Deacons and Diakonia in Early Christianity (Anm. 5), 17–29, der „a veritable paradigm shift in the interpretation of ‘διακονέω/διακονία’ in early Christianity, including the New Testament” (17) voraussetzt und sich mit dieser Annahme dem locus classicus Mk 10,42-45 zuwendet: Smit versteht den Paradigmenwechsel als Wechsel vom niedrigen Dienst (humble service) zu servant leadership (vgl. a.a.O., 18). Mit J. N. Collins und A. Hentschel gehe es in Mk 10,42-45 nicht um Statusfragen und/oder Autorität, sondern um die Loyalität Jesu gegenüber seinem Auftrag bzw. Auftraggeber. Gleichzeitig führt er diese Auslegungsrichtung in einem wichtigen Punkt weiter bzw. variiert sie in einem entscheidenden Punkt: διακονέω als „acting on behalf of“ in Mk 10,42-45 sei nicht so sehr auf die korrekte und konsequente Ausführung des göttlichen Auftrags 66
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Aber schöpft diese Beschränkung der Deutung von διάκονος in 10,45 auf den Funktionsbegriff (Jesus als Gesandter, der seine Sendung pflichtgemäß erfüllt) die markinische Aussageabsicht aus? (1) Die Dimension der Sendung ist zweifelsohne grundlegend für den ganzen Vers Mk 10,45. Dies wird insbesondere durch den Menschensohntitel und den terminus technicus ἦλθεν in 10,45 verstärkt und gesichert. (2) In 10,45 ist jedoch noch mehr angesprochen: 10,45 fasst – ausweislich der markinischen Komposition (s. o.) – den gesamten Lebensweg programmatisch zusammen und verbindet im Sinne einer konkludenten Weiterführung Jesu Lebensweg mit seinem Weg in den Tod.67 Die hoheitliche Selbstaussage Jesu in 10,45 beschreibt einerseits das formale Moment der Sendung Jesu: Jesus handelt nicht aus eigener Initiative, sondern im Auftrag und in der Vollmacht dessen, der ihn sendet. Diese Sendung Jesu ist
durch den Auftragnehmer zu beziehen: „‘acting on behalf of‘ happens primarily in relation to the community“ (a.a.O., 19). Unter Berücksichtigung von Mk 9,35 sieht Smit diakonisches Handeln im Markusevangelium nicht unmittelbar an Gott als Auftraggeber gebunden, sondern an die Gemeinde als Auftraggeberin: „The Gentile model positions the leader over the community; the Markan model positions the community over the leader“ (a.a.O., 28). Zusammenfassend betont Smit, der Evangelist Markus „presents leadership in the community as being characterised by exercising authority on behalf of others. This is inherent in the use of διακονία terminology. Second, in the community that Mark imagines, such an ideal-typical leadership consists of acting on behalf of the community and in its service” (29). An die Thesen von PeterBen Smit sind erhebliche Rückfragen zu stellen: Ist es eine text- und kontextgemäße Alternative, wenn für Mk 10,42-45 mit J. N. Collins und A. Hentschel zwischen Status bzw. Autorität einerseits und Loyalität gegenüber dem Auftrag Jesu andererseits unterschieden wird? Ist es wirklich eine text- und kontextgemäße Alternative, wenn unter Bezug auf Mk 9,35 diakonisches Handeln nicht an Gott als Auftraggeber zurückgebunden wird, sondern an die Gemeinde als Auftraggeberin? 67 Vgl. hierzu auch K. Kertelge, Der dienende Menschensohn (Mk 10,45), in: Jesus und der Menschensohn (FS A. Vögtle), hg. v. R. Pesch u.a., Freiburg 1975, 225–239; Scholtissek, Vollmacht Jesu (Anm. 2), 228–253.
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jedoch ausweislich der gesamten Erzählung des Markusevangeliums auch inhaltlich qualifiziert: Jesus ist als der Menschensohn der messianische Freundenbote, der in Wort und Tat die verheißene Gottesherrschaft heraufführt und ihr zeichenhaft in Heilungen, Dämonenaustreibungen und Sündenvergebung schon jetzt Raum verschafft. Diese inhaltliche Qualifikation spiegelt sich auch in 10,45 wieder: Ausweislich des Kontextes, Mk 10,45 begründet die Kontrastregeln in 10,43-44, steht der διάκονος Jesus in striktem inhaltlichen Kontrast zu den „als Herrscher Geltenden“ und den „Mächtigen“, die „niederhalten“ und „Gewalt antun“. Denen, die ihre Macht missbrauchen, stellt sich Jesus selbst als provozierendes Gegenbeispiel gegenüber: Das Ziel seiner Sendung erreicht er nicht durch Anwendung von physischer oder psychischer Gewalt, nicht dadurch, dass er sich bedienen lässt, das Ziel erreicht er durch befreiendes, heilendes, helfendes Handeln in der Vollmacht, die ihm von Gott gegeben wurde. Unter Berücksichtigung der kompositorischen Verortung von Mk 10,45 fasst der Evangelist Markus das befreiende, heilende, helfende Handeln Jesu – so wie er es in seinem Evangelium vielfältig und vielschichtig erzählt – in dem gesamten Vers 10,45 und in besonderer Weise in dem Nomen διάκονος zusammen: Jesus stellt sich und seine Sendung – programmatisch zusammenfassend – vor als messianischer Freudenbote, der in seinem gesamten Tun und Geschick der Durchsetzung der nahen Gottesherrschaft „dient“. Er steht mit seinem Wirken in einem Dienstverhältnis zur nahen Gottesherrschaft, er ist Diener der nahen Gottesherrschaft. Dieser Dienst Jesu kann auch das Moment des niedrigen Status – insbesondere in der Außenwahrnehmung – einschließen. Die Provokation des Lebensweges Jesu – so versteht Markus die Versfolge 10,4245 – setzt sich in den provozierenden Maximen für das Verhalten in der Jüngergemeinde fort. (3) Diese Auslegung wird durch den Schlussteil von 10,45 verstärkt bzw. inhaltlich präzisiert: καὶ δοῦναι τὴν ψυχὴν αὐτοῦ λύτρον ἀντὶ πολλῶν. Der bevorstehende Tod Jesu
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wird hier von ihm selbst als „Lösegeld für viele“ soteriologisch gedeutet.68 Die Anknüpfung mit „und“ (καί) ist im Sinne einer zuspitzenden Weiterführung zu verstehen: Das befreiende, heilende und helfende Handeln Jesu im Zeichen der nahen Gottesherrschaft kulminiert in der Gabe seines Lebens, in der Gabe seiner selbst. Eben darin steht Jesus noch einmal in dem stärksten denkbaren Gegensatz zu den „als Herrscher Geltenden“ und den „Mächtigen“. Genau durch diese Lebensgabe erweist er sich als der, dessen befreiendes, heilendes und helfendes Handeln nicht am Tod scheitert, sondern sich durch den Tod hindurch durchsetzt „als Lösegeld für viele“.69 5 . Zusammenfassung: Messianische Diakonie im Markusevangelium 5.1 Der Lebens- und Todesdienst Jesu Die zurückliegenden Ausführungen lenken die Aufmerksamkeit auf die Komposition und das Kompositionsinteresse des Evangelisten: Mit διάκονος in 10,45 im Zusammenhang von Mk 10,42-45 und im Kontext des ganzen
68
Vgl. die kontrovers diskutierte Bezugnahme auf Jes 43,3f.; 53,11f. in Mk 10,45. Die überzeugenderen Argumente sprechen für eine bewusste Rezeption; vgl. weiterführend K. Backhaus, „Lösepreis für viele“ (Mk 10,45). Zur Heilsbedeutung des Todes Jesu im Markusevangelium, in: Söding, Der Evangelist als Theologe (Anm. 3), 91–118; J. Frey, J. Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu, WUNT 181, Tübingen 2005, 22012 (UTB 2953); U. Mittmann-Richert, Der Sühnetod des Gottesknechts. Jesaja 53 im Lukasevangelium, WUNT 220, Tübingen 2008, 161–175. Vgl. zusammenfassend auch Eckey, Markusevangelium (Anm. 2), 346 f. (Lit.). Zu möglichen griechisch-hellenistischen Vergleichstexten vgl. U. Schnelle unter Mitarbeit von M. Lang und M. Labahn (Hg.), Neuer Wettstein I/1.1: Texte zum Markusevangelium, Berlin 2008, 528–530; sowie I/2: Texte zum Johannesevangelium, Berlin 2001, 533–535.540.587–598.715–726 (zu Joh 10,11.17; 11,50; 15,13). 69 Vgl. Dschulnigg, Markusevangelium (Anm. 2), 286: „Der Tod wird als Vollendung des Lebensdienstes betrachtet und in seiner erlösenden Funktion für viele herausgestellt.“
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Markusevangeliums beschreibt der Evangelist den gesamten Weg Jesu als befreienden, heilenden und helfenden Lebens- und Todesdienst, der die nahe Gottesherrschaft zeichenhaft heraufführt und durchsetzt. Die seinen Lebens- und Todesdienst prägende Grundhaltung ist die der Proexistenz.70 Diese proexistente Haltung kennzeichnet nicht ‚nur‘ einen Teil seines Wirkens, sondern sein ganzes Wirken. Lebens-Dienst und Todes-Dienst stehen nicht im Widerspruch, sondern konkludent zueinander. Somit kommt dem Schlüsselvers Mk 10,45 nicht nur eine von der Gattung Evangelium geforderte „Scharnierfunktion“ zwischen der Verkündigung Jesu in Wort und Tat und der Passions- und Auferweckungs-Verkündigung zu. Mk 10,45 bietet zudem – in Gestalt der Selbstaussage Jesu – die theologische Deutung des Lebens- und Todesweges Jesu. Deshalb kann Mk 10,45 im Sinne des Evangelisten als Kurzfassung bzw. summa evangelii bezeichnet werden. Mit der die Gegenüberstellung von „dienen lassen“ und „dienen“ weiterführenden, epexegetischen Erläuterung des „Dienens Jesu“ in der abschließenden Wendung: καὶ δοῦναι τὴν ψυχὴν αὐτοῦ λύτρον ἀντὶ πολλῶν (Mk 10,45fin) formuliert das Jesuslogion eine soteriologische Deutung des Todes Jesu, die sich einer abschwächenden Interpretation entzieht: Die Deutung der Lebenshingabe Jesu in den Tod „als Lösegeld für viele“ deutet den anstößigen Tod des Messias allem Anschein zum Trotz als universale Erlösung, als stellvertretenden messianischen Todesdienst, der dem Leben aller dient. Der Menschensohn Jesus ist der „Diener“ der herangenahten Gottesherrschaft. Dieser „Dienst“ findet im stellvertretenden Leidensweg Jesu und seiner Auferstehung seinen Höhepunkt und sein Ziel. Vgl. hierzu grundlegend H. Schürmann, Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994; vgl. auch den Beitrag von K.-W. Niebuhr, Lebenshingabe als Grundimpuls Jesu. Eine Skizze zur Proexistenz als biblischer Grundlage für eine Theologie der Diakonia, in diesem Band 23–51.
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Der kompositionelle Ort des Menschensohnlogions Mk 10,45 und die theologische Interpretation desselben haben eine wichtige Konsequenz für die Interpretation der markinischen Verwendung von διακονέω κτλ.: Markus bestimmt die Semantik von διακονέω κτλ. neu vom Lebens- und Todesdienst Jesu her, d.h. christologisch:71 Das „Evangelium Jesu Christi“ (Mk 1,1), als genitivus subjectivus und als genitivus objectivus verstanden, prägt die markinische Deutung von diakonia: Wort- und Tatverkündigung Jesu und seine Lebenshingabe in den Tod „als Lösegeld für viele“ definieren das markinische Verständnis von διακονέω κτλ. Mit anderen Worten: Wenn es im gesamten Markusevangelium um die Verkündigung der Botschaft Jesu Christi geht und dazu die Gattung Evangelium (soweit wir wissen) erstmals schriftliche Gestalt gewinnt, dann ist auch die markinische Interpretation der diakonia Jesu in dem urchristlichen Prozess semantischer Innovation und Pionierarbeit zu verorten, die von der Verkündigung des Evangeliums selbst angestoßen wurde.72 5.2 Diakonie in der Nachfolge Jesu Das Markusevangelium stellt das „Dienen“ Jesu in scharfen Kontrast zu einem „sich dienen lassen“ und zu den politischen Machthabern seiner Zeit: „Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an“ (10,42). Markus zeigt sich dabei besonders an einer weitreichenden Umwertung der Werte interessiert: Das scheinbar Macht- und Ehrlose wird neu qualifiziert, von seiner scheinbaren ‚Niedrigkeit‘
71 Vgl. hierzu auch T. Holtz, Christus Diakonos. Zur christologischen Begründung der Diakonie in der nachösterlichen Gemeinde, in: ders., Geschichte und Theologie des Urchristentums. Gesammelte Aufsätze, WUNT 57, Tübingen 1991, 399–416. 72 Vgl. hierzu weiterführend auch den Versuch K. Scholtissek, Jesus, der Christus, im Zeugnis des Neuen Testaments – Wegmarken einer sprachlichen und hermeneutischen Pionierarbeit, SNTU.A 31, 2006, 89–12.
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befreit und aufgewertet: Befreiendes, heilendes und helfendes Handeln in der Nachfolge Jesu wird exakt als der Ort gedeutet, in dem sich Gottes Herrschaft zeichenhaft und sinnenfällig durchsetzt. Diese Botschaft und diesen Auftrag veranschaulichen insbesondere die markinischen Heilungsgeschichten in vielfacher Weise. Der Zwölferkreis (vgl. Mk 3,13-19; 6,7-13) wie die Nachfolgegemeinde insgesamt sind beauftragt und befähigt, dieses messianisch-diakonische Wirken Jesu in seinem Auftrag fortzusetzen. Dabei ist der gesamte Lebensweg Jesu (sein irdisches Wirken in Wort und Tat, sein Leidensweg und seine Auferstehung) der ermöglichende und befreiende Grund für den Lebensdienst der Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu. Alle Glaubenden sind zur Nachfolge Jesu gerufen: Sie sollen seinen Weg mitgehen, auf diesem Weg zum „Sehen“ kommen, sich von Jesus je neu korrigieren lassen (vgl. Petrus im Markusevangelium), sich ihm im Glauben ganz anvertrauen und aus diesem Glauben heraus selbst auch diakonisch handeln. Die Nachfolge Jesu hat keine andere Gestalt als der Lebensweg Jesu selbst: In seiner Nachfolge und in seinem Namen verkünden die Glaubenden in Wort und Tat Gottes zuvorkommende, aufbauende, heilende, tröstende und rettende Zuwendung – im Kontrast zu allen Formen der Unterdrückung, der Gewalt und des Machtmissbrauchs, von denen Jesus sich in aller Schärfe distanziert und die er als bewusste oder unbewusste Versuchung auch in seinem engsten Jüngerkreis verortet (vgl. nur Mk 9,33-37; 10,35-45). Als Boten Jesu setzt die Gemeinschaft seiner Nachfolgenden sichtbar, hörbar, spürbar die diakonia ihres Messias fort, der gesalbt und gesandt ist, um frohe Botschaft den Armen zu bringen (εὐαγγελίσασθαι), um die zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind, um den Gefangenen Freilassung zu verkünden und den Blinden neue Sehkraft,
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um auszurufen ein willkommenes Jahr des Herrn und einen Tag der Vergeltung, um zu trösten alle Trauernden (Jes 61,1-2).73
73
Die markinische Bezugnahme auf Jesaja 52,7; 61,1-2 (vgl. auch den Bezug von Mk 1,2-3 auf Jes 40,3) ist durch Mk 1,1.14; 8,35; 10,29; 13,10; 14,9) gesichert; vgl. J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 1,1-8,26), EKK II/1, Neukirchen-Vluyn 1978, 66; R. Pesch, Das Markusevangelium, HThKNT II/1, Freiburg 41984, 101. Vgl. auch H.J. Klauck, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Prolog, BThS 32, Neukirchen-Vluyn 1997. 63f.74.103. Vgl. auch die Beiträge von H. Frankemölle, Evangelium. Begriff und Gattung. Ein Forschungsbericht, SBB 15, Stuttgart 21994; ders., Jesus als deuterojesajanischer Freudenbote? Zur Rezeption von Jes 52,7 und 61,1 im Neuen Testament, durch Jesus und in den Targumim, in: Vom Urchristentum zu Jesus. (FS J.Gnilka), hrsg. v. ders., K. Kertelge, Freiburg 1989, 34–67. Vgl. den luziden Überblick zur markinischen Septuagintarezeption bei M. Meiser, Die Funktion der Septuaginta-Zitate im Markusevangelium, in: W. Kraus, S. Kreuzer (Hg.), Die Septuaginta – Text, Wirkung, Rezeption, WUNT 325, Tübingen 2014, 517–543, hier 522f. (zu Mk 1,2f. und Jes 40,3), 524 (zu Mk 1,11 und Jes 42,1).
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Barmherzige und hörende Liebe (Lk 10,25-42) Das Doppelgebot der Liebe und die Diakonie im Lukasevangelium Seit jeher ist aufgefallen, dass sich im Lukasevangelium (wie in der Apostelgeschichte) viele diakonisch relevante Worte Jesu und Perikopen finden, die sich zu einem Gesamtbild fügen. So wird Lukas gerne als „Evangelist der Armen“ bezeichnet.1 Die Parabel vom barmherzigen Samariter Lk 10,30-35 ist einer der großen, wenn nicht der bekannteste und wirkmächtigste Referenztext für diakonisches Handeln in der Nachfolge Jesu. Insbesondere aufgrund der Rahmung mit dem Doppelgebot der Liebe Lk 10,25-29(30-35).36-37 wird diese Passage im Lukasevangelium vielfach zum Ausgangspunkt und Maßstab der Reflexion über die biblische Grundlage christlicher Ethik überhaupt.2
1 Vgl. H.-J. Degenhardt, Lukas – Evangelist der Armen, Stuttgart 1965;
T. Söding, „Selig, ihr Armen“. Die Makarismen im Zentrum der Verkündigung Jesu, in: O. H. Pesch, J.-M. Van Cangh (Hg.), Béatitude eschatologique et bonheur humain, Publications de L’Academie Internationale des Sciences Religieuses, Paris 2005, 37–75; B. Rost, Soziales Handeln im Horizont der kommenden Gottesherrschaft. Die Wohltätigkeitsforderung als Zentrum der Reichen-Armen-Thematik bei Lukas, in: V. Herrmann, H. Schmidt (Hg.), Diakonische Konturen im Neuen Testament, DWI-INFO Sonderausgabe 9, Heidelberg 2007, 12– 62; D. Jonas, Diakonein – Diakonia – Diakonos. Studien zum Verständnis des Dienens („Diakonie“) bei Markus und Lukas, a.a.O., 63– 126, hier: 92–126. Zur neueren Lukasforschung vgl. C. Böttrich, Das Lukasevangelium im Kontext frühjüdischer Literatur, ZNW 106, 2015, 151–183; ders., Lukas in neuer Perspektive, EvTh 79, 2019, 114–130. 2 Vgl. G. Theißen, Die Bibel diakonisch lesen: Die Legitimitätskrise des Helfens und der barmherzige Samariter, in: G. K. Schäfer, T. Strohm (Hg.), Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen.
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Die folgenden Ausführungen wenden sich den beiden kontrastierenden und doch eng verbundenen Perikopen Lk 10,25-37 und 10,38-42 zu, widmen sich dazu dem lukanischen Kontext 9,51-10,42 (1.) und versuchen das lukanische Profil und die lukanische Intention beider Perikopen zu erhellen (2. und 3.) – im Blick auf die Impulse, die der Evangelist für diakonisches Handeln in der Gemeinde seiner Zeit und zu allen Zeiten gibt. 1. Die lukanische Komposition Lk 9,51-10,42 Jede Auslegung der beiden kontrastierenden Perikopen Lk 10,25-37 und 10,38-42 ist auf die lukanische Komposition3 des ganzen Evangeliums einerseits4 und des weiteren (Lk 9,51-19,27) und des näheren Kontextes (Lk 9,5110,42) andererseits angewiesen: Mit Lk 9,51 („Es begab sich aber, als die Zeit erfüllt war, dass er hinweggenommen werden sollte, da wandte er sein Ein Arbeitsbuch zur theologischen Verständigung über den diakonischen Auftrag, VDWI 2, Heidelberg 31998, 376–401; ders., Gemeindestrukturen und Hilfsmotivation. Wie haben urchristliche Gemeinden zum Helfen motiviert?, in: M. Konradt, E. Schläpfer (Hg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. Internationales Symposium in Verbindung mit dem Projekt Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, CJHNT, 17.–20. Mai 2012, Heidelberg, WUNT 322, Tübingen 2014, 413–440; T. Söding, Nächstenliebe. Gottes Gebot als Verheißung und Anspruch, Freiburg 2015. 3 Zur lukanischen Erzähltechnik und Komposition vgl. ausführlich: A. Dauer, Beobachtungen zur literarischen Arbeitstechnik des Lukas, BBB 79, Frankfurt 1990; M. Diefenbach, Die Komposition des Lukasevangeliums unter Berücksichtigung antiker Rhetorikelemente, FTS 43, Frankfurt 1993. 4 Vgl. hierzu den Überblick bei U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 92017, 309–331, bes. 320–322; vgl. auch J. Kremer, Lukasevangelium, NEB.NT 3, Würzburg 1988, 7–20; F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas (Lk 1,1-9,50), EKK III/1, Zürich 1989, 14–17, hier 17: „Gliederung wie Stil des lukanischen Doppelwerkes bezeugen die schöpferische Kunst des Lukas in literarischer und theologische Hinsicht. Die Art, wie er die griechische Sprache beherrscht, bestätigt diese Feststellung.“
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Angesicht, stracks nach Jerusalem zu wandern“) wird ein großer Erzählbogen eröffnet, der erst in 19,27 seinen Abschluss findet. Das Grundmotiv dieses großen Abschnitts im Lukasevangelium ist die „Reise Jesu“.5 Der Evangelist integriert hier Überlieferungen (aus der Logienquelle und aus seinem Sondergut?) in den markinischen Erzählbogen. Lk 19,28 berichtet dann vom Weg Jesu hinauf nach Jerusalem, dem Ziel seines Lebensweges: „Und als er das gesagt hatte, ging er voran und zog hinauf nach Jerusalem“. Innerhalb der „metaphorischen Reiseerzählung“6 Lk 9,51-19,27 („Jesus unterwegs nach Jerusalem“)7 lässt sich ein erster Sinnabschnitt mit 9,51-10,42 abgrenzen. Wilfried Eckey überschreibt ihn mit: „Von der Aufnahme Jesu und seiner Boten“,8 Heinz Schürmann mit „Die Begründung der Jüngergemeinde durch das Wort Jesu und das seiner Sendlinge“.9 Heinz Schürmann gliedert Lk 9,51-10,42 wie folgt:10 9,51-10,42 Begründung der Jüngergemeinde durch das Wort Jesu und das seiner Sendlinge 9,51-62 Aufbruch und Jüngernachfolge 10,1-20 Sendung und Rückkehr der Siebzig11 10,21-37 Jüngerschaft als Gabe und Aufgabe 10,21-24 Lobpreis des Vaters und Seligpreisung der Jünger 10,25-37 Der Weg zum Leben 10,38-42 „Hören auf das Wort“ als das Eine Notwendige 5
Zum Reisemotiv vgl. grundlegend K. Backhaus, Religion als Reise. Intertextuelle Lektüren in Antike und Christentum, TrC 8, Tübingen 2014. 6 Vgl. H. Schürmann, Das Lukasevangelium, HThK.NT III 2/1, Freiburg 1994 (weitere Auflagen), 1–19. 7 Vgl. a.a.O., 1–19. 8 W. Eckey, Das Lukasevangelium unter Berücksichtigung seiner Parallelen, Teilband I 1,1–10,42, Neukirchen-Vluyn 22006, 443f. 9 Vgl. Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 21. 10 Dabei deutet er Lk 9,51-10,42 als Taufanamnese; vgl. a.a.O., 167f. 11 In der textkritisch schwer zu entscheidenden Frage, ob die Zahl siebzig oder zweiundsiebzig ursprünglich ist, entscheidet sich Schürmann für die Zahl siebzig, die Lutherübersetzung 2017 und die Einheitsübersetzung 2016 für zweiundsiebzig.
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Schürmann sieht in der Aussendungserzählung 10,1-20 den Kern der redaktionellen lukanischen Komposition in 9,51-10,42. Die Aussendungserzählung sei schon in der Redenquelle von 9,51-62 und 10,21-24 gerahmt gewesen. Lukas habe dann aus einem Sondergut die beiden Sequenzen 10,25-37 und 10,38-42 ergänzt: Dabei verfolge Lukas das Ziel, „die übernommene Tradition erzählerisch“ zu konkretisieren, abzurunden „und sie zugleich für die Kirche seiner Zeit gegen falschen Enthusiasmus“ abzusichern und „zudem die universale Mission – auch in Samaria – sichern“ zu helfen.12 Der Weg Jesu nach Jerusalem – das wird in dieser den „Reisebericht“ Lk 9,51-19,27 einführenden Komposition Lk 9,51-10,42 klar – wird nicht enggeführt auf den Weg des Protagonisten allein, sondern entfaltet als Weg der missionarischen Verkündigung und Zusage des Evangeliums durch Jesus selbst ebenso wie durch seine „Boten“ (ἀγγέλοι in Lk 9,52), seine Jünger (μαθηταί in 9,54), für die strenge Nachfolgeregeln gelten (Lk 9,57-62). Die den Boten Jesu aufgetragene Evangeliumsverkündigung geschieht in einem Dorf der Samariter (9,52-56) und reflektiert das Thema der Zurückweisung, der Nicht-Aufnahme Jesu (9,53: οὐκ ἐδέξαντο αὐτόν). Die entscheidende Begründung und der Maßstab für die Radikalität der Nachfolge ist die „Königsherrschaft Gottes“ (βασιλεία τοῦ θεοῦ; Lk 9,60.62). Die gesamte Komposition ist transparent für die Situation der nachösterlichen Gemeinde, ihren Auftrag, ihre positiven und negativen Missionserfahrungen. In der Erzählung von der Sendung, Unterweisung und Rückkehr der 70 weiteren Jünger in Lk 10,1-20 wird die Verkündigungsaufgabe der Jünger Jesu („Arbeiter“ in der „Ernte“; Lk 10,2) detailliert entfaltet und reflektiert – gerade auch hinsichtlich der Aufnahme bzw. der Ablehnung der Boten. In der Stadt, wo die Boten „aufgenommen werden“ (10,8: δέχωνται ὑμᾶς), dürfen sie essen, was ihnen 12
A.a.O., 167.
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vorgesetzt wird; dort sollen sie diejenigen „heilen“ (θεραπεύειν), die in ihr krank sind, und verkünden: „Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen (ἤγγικεν ἐφ’ ὑμᾶς ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ) (Lk 10,9). Noch den Städten, in denen sie nicht aufgenommen werden, gilt die Verkündigung der Boten Jesu: „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen (ἤγγικεν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ)“ (10,11) – zum Gericht (vgl. 10,12.13-16; vgl. 10,16: „Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat“). Die Erzählung von der Rückkehr der Siebzig reflektiert das Staunen bzw. die Freude der Boten über ihre erfolgreiche Verkündigung und Dämonenaustreibungen (10,17-20). Kennzeichnend für die Sendung der Boten Jesu sind konkrete Weg- und Quartiersregeln,13 die Jesus autoritativ setzt, sowie die konstitutive Verbindung von Wort und Tat: Reich-Gottes-Verkündigung und heilendes Wirken der Boten. Lk 10,8f. stellt zudem eine klare Reihenfolge heraus: 10,8 10,9
Wenn ihr in eine Stadt kommt und sie euch aufnehmen, so esst, was euch vorsetzt wird (Regel a) und heilt die Kranken, die dort sind, (Regel b) und sagt ihnen: Das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen. (Regel c)
Dort wo die „Aufnahme“ der Boten gegeben ist, gilt die folgende Reihenfolge für die Boten Jesu: Sättigung, Krankenheilung (vgl. Dämonenaustreibungen in Lk 10,17), Wortverkündigung. Die Verkündigung der nahen Gottesherrschaft geschieht in Wort und Tat, hier in der Reihenfolge Tat und Wort. Dabei sind die genannten Taten durchgehend diakonisch: Krankenheilungen bzw. Dämonenaustreibungen.
13
Vgl. den Sprachgebrauch und Überblick bei Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 63–71.
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Exkurs: Jesu Antrittspredigt in Nazaret in Lk 4,14-30 Diese Verschränkung von Wort- und Tatverkündigung ist im Lukasevangelium bereits in der das öffentliche Wirken Jesu eröffnenden Perikope Lk 4,14-30 (Die Verkündigung Jesu in der Synagoge in seiner Heimatstadt Nazaret) grundgelegt. Jesus liest den Anwesenden aus Jesaja vor: 4,18 a Der Geist des Herrn ist auf mir, b weil er mich gesalbt hat, c zu verkündigen das Evangelium den Armen; d er hat mich gesandt, e zu predigen den Gefangenen Freilassung, und den Blinden (das) Augenlicht, und die Zerschlagenen zu entlassen in Freiheit, 4,19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.
(Geistbegabung) (Salbung) (Auftrag) (Botschaft) (Sendung) (Auftrag) (Botschaft a) (Botschaft b) (Botschaft c) (Auftrag) (Botschaft)
Lk 4,18-19 ist komplett durchkomponiert: (a) Das Mischzitat wird gerahmt von „Geist des Herrn“ und „Gnadenjahr des Herrn“. Der Kyrios bzw. sein Geist und sein gnädiges Handeln ist Ausgangspunkt und Grundlage der Verkündigung Jesu. (b) Jesus der Verkündiger ist ausgestattet mit Gottes Geist, er ist gesalbt und mit einem Auftrag gesendet. (c) Die Abfolge Auftrag und Botschaft findet sich dreimal: Die beiden kürzeren Versionen V 18c und V 19 rahmen die längere Version V 18e. Inhaltlich entfaltet die Langversion V 18e, was mit der Verkündigung des Evangeliums an die Armen (V 18c) bzw. dem Gnadenjahr des Herrn (V 19) gemeint ist. Das Mischzitat aus Septuaginta Jes 61,1f.; 58,6 und Lev 25,10 fasst im Sinne des Lukasevangeliums das Selbstverständnis und die Sendung Jesu programmatisch zusammen. Jesus stellt sich grundlegend in die biblische Verheißung, stellt sich selbst vor als den erwarteten messianischen Freudenboten, der die Freudenbotschaft den Armen verkündet und das Gnadenjahr des Kyrios ausruft.14
14
Vgl. hierzu auch Lk 7,18-23 par. Mt 11,2-6 mit der Rezeption von Jes 26,19; 29,18; 35,5f.; 61,1. Vgl. K.-W. Niebuhr, Die Werke des eschatologischen Freudenboten (4Q521 und die Jesusüberlieferung), in: C. M. Tuckett (Hg.), The Scriptures and the Gospels, BEThL 131, Leuven 1997, 637–646. Vgl. auch K. Scholtissek, Neutestamentliche Grundlagen diakonischen Handelns, in diesem Band: 1–21, hier 5–8.
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Deutung der Zeit (καιρός; vgl. Lk 12,56; Mk 1,15) bzw. Zeitansage, Gegenwart des messianischen Freudenboten, und messianisches Programm (Verkündigung des Evangeliums an die Armen, Freilassung der Gefangenen, Heilung der Blinden, Freiheit für die Zerschlagenen, Ausrufung des Gnadenjahres) bilden eine Einheit, die – ausweislich der Zitate Jes 61,1f.; 58,6 und Lev 25,10 – in der Heiligen Schrift Israels verheißen ist. Das Neue, das der lukanische Jesus in der Synagoge von Nazaret programmatisch verkündet, ist nicht das messianische Programm und sein diakonisches Profil, ist nicht die Verheißung eines messianischen Freudenboten, sondern die „Erfüllung“ (vgl. πεπλήρωται in Lk 4,21) dieser Verheißung hier und „heute“ (σήμερον in Lk 4,21) in und mit seiner Person selbst. Darum besteht die Auslegung der Schrift durch Jesus zunächst nur aus dem einem Satz: „Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ (4,21b) Im Anschluss verteidigt Jesus sich gegen Vorwürfe: Er zitiert das „Sprichwort“: „Arzt, hilf dir selber!“ im Kontext der Aufforderung, die Taten, die er in Kafarnaum vollbracht hat, auch in Nazaret zu vollbringen. Dann erinnert er an die biblischen Erzählungen von Elia und der Witwe von Sarepta, der allein er in der Hungernot hilft (vgl. 1 Kön 17,1-7.8-16) und von Elisa, der nur den Syrer Naaman vom Aussatz reinigt (vgl. 2 Kön 5,1-27). Mit diesen Beispielen reflektiert Jesus an zwei exemplarischen Erzählungen der Heiligen Schrift den Zusammenhang von Unglaube bzw. Ablehnung und ausbleibender Hilfe in der Not in Israel einerseits und Glaube und Nothilfe bei Nichtisraeliten andererseits. Zugleich wird die Ablehnung Jesu und seiner Botschaft sowie deren tödliche Folge insgesamt im Lukasevangelium präfiguriert (vgl. Lk 4,29f.). Inhaltlich läßt sich die Hilfe in der Hungersnot durch Elia und die Heilung bzw. Reinigung vom Aussatz durch Elisa als Vorverweis lesen für das messianisch-diakonische, Grenzen überschreitende Programm Jesu.
An die Aussendungsrede Jesu Lk 10,1-20 schließen sich in 10,21-24 vier Verse an, die eng mit dem Kontext verbunden sind: Jesu Lobpreis des Vaters (10,21f.) und seine Seligpreisung der Jünger (10,23f.) knüpfen an das Gespräch Jesu mit den zurückkehrenden Siebzig an (vgl. das Stichwort „Freude“ in 10,17 und 10,21 „jubelte/freute sich Jesus“) und sind eng verbunden mit der folgenden, von Lukas redaktionell hinzugefügten Perikope 10,25-37: Der neu eingeführte „Gesetzeslehrer“ (10,25) und seine versucherische Frage setzt die unmittelbar vorausgehende Szenerie voraus. Heinz Schürmann betont die lukanische Absicht bei dieser redaktionellen Ergänzung durch 10,25-37 (und 10,38-42):
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Der Aufruf zur Freude in 10,21f. (Jubelruf Jesu) und in 10,23f. (Seligpreisung der Jünger) ist abhängig „von der Erfüllung des einen Hauptgebotes Jesu …: von der Erfüllung der auf das Doppelgebot der Liebe konzentrierten und intentionalisierten Tora“.15 „Freudiger Enthusiasmus ohne tätiges Engagement würde schwärmerisch, und die Gnade würde billig verdorben.“16 Die kompositionelle Einheit von 9,51-10,42 schließt mit zwei Perikopen aus dem lukanischen Sondergut ab, die in je eigener Weise das Verhalten der Jünger und Jüngerinnen Jesu thematisieren. Mit dem Doppelgebot der Liebe wird die Zusammengehörigkeit der von Liebe geprägten Gottesbeziehung und der von Liebe geprägten Beziehung zum Nächsten betont und spezifisch entfaltet. Diese reflektierende Entfaltung des Doppelgebotes der Liebe geschieht sowohl in 10,25-37 als auch in 10,38-42. Diese These wird im Folgenden zu belegen und zu entfalten sein.
15
Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 128. Ebd. Vgl. a.a.O., 148: „Im Gesamtzusammenhang von VV 21-42 macht die Perikope VV 25-37 deutlich, daß das Evangelium Jesu die Forderung Gottes in sich hat, nebenher im Zusammenhang mit 9,51-10,20 (…) noch, daß Jesu Evangelium und Forderung universal sind. … Vermutlich will Lukas, wenn er 10,25-28.29-37 anfügt, von jenem bestätigenden, jubelnden und seligpreisenden (10,21f.23f) Herrenworten ein enthusiastisch-libertinistisches Mißverständnis fernhalten (…): Das ‚Leben‘ hängt auch an der Frage des Liebesgebotes … Das ‚Evangelium‘ wird mißverständlich, wenn es nicht das ‚Gesetz‘ in sich hat.“ 16
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2. Barmherzige Liebe - Jesu Auslegung des Doppelgebotes der Liebe17 im Samaritergleichnis Lk 10,25-3718 Formal lässt sich Lk 10,25-37 in folgende Sprechakte gliedern: 25 26 27 28 29 30-35 36 37a 37b
Frage des Gesetzeslehrers (doppelte) Gegenfrage Jesu Antwort des Gesetzeslehrers (Doppelgebot der Liebe) Bestätigung der Antwort des Gesetzeslehrers durch Jesus erneute Frage des Gesetzeslehrers Antwort Jesu (Parabel vom Samariter) Gegenfrage Jesu Antwort des Gesetzeslehrers Aufforderung Jesu, wie der Samariter zu handeln
2.1 Lk 10,25-29 Ausweislich der Stichworte „Gesetzeslehrer“ (νομικός, V. 25) und „Gesetz“ (νόμος, V. 26) sowie der Anrede Jesu mit „Lehrer“ (διδάσκαλος, V. 25) handelt es sich um ein Lehrgespräch19 über das Gesetz, d.h. über den in der Tora enthaltenen verbindlichen Willen Gottes. Dabei soll die Gesetzeserfüllung zum „ewigen Leben“ führen (V. 25).
17
Zum Doppelgebot der Liebe, den biblischen Grundlagen und der neutestamentlichen Verwendung vgl. u.a.: H. Thyen, Gottes- und Nächstenliebe, in: Schäfer, Strohm, Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen (Anm. 2), 263–296; Söding, Nächstenliebe (Anm. 2). 18 Zur Auslegung von Lk 10,25-37 vgl. u.a. Eckey, Lukasevangelium (Anm. 8), 482–491: „Das Doppelgebot der Liebe und die Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter 10,25-37“; J. Rüggemeier, Strategisches Erzählen und Strategiewechsel im Umfeld neutestamentlicher Erzähltexte. Das lukanische Gleichnis vom barmherzigen Samariter als Anschauungsbeispiel, DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung 5, 2016, 63–83. 19 Zur Gattungsfrage (Schulgespräch, Streitgespräch) vgl. auch Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 131f.
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Zwei Lehrer, ein Gesetzeslehrer und Jesus, stehen sich gegenüber. Die Frage des Gesetzeslehrers wird zudem als „versucherisch“ (V. 25) charakterisiert und damit negativ konnotiert. Entscheidend ist, dass sich beide Lehrer in der Orientierung an der Tora als Urkunde des verbindlichen Willens Gottes und in der inhaltlichen Aussage der Tora (Doppelgebot der Liebe; vgl. Dtn 6,5; Lev 19,18) einig sind.20 Jesu doppelte Gegenfrage in V. 26 führt den Gesetzeslehrer dazu, die an Jesus gerichtete Frage selbst zu beantworten. Jesus bestätigt dem Gesetzeslehrer daraufhin die Richtigkeit seiner Antwort und fordert ihn auf: „Tu das, so wirst du leben“ (V. 28). Diese auf den ersten Blick gegebene Einigkeit zwischen beiden Lehrern wird durch die insistierende Rückfrage des Gesetzeslehrers („Wer ist denn mein Nächster?“; V. 29) irritiert: Jetzt geht es um die konkrete und möglicherweise unterschiedliche Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe.21 20
Die Konzentration des in der Tora geforderten Verhaltens im Doppelgebot der Liebe als oberster Maxime entspricht der Botschaft des historischen Jesus. Damit allein ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal Jesu gegeben. Vgl. Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 140: „Die Verknüpfung von Dtn 6,5 mit Lev 19,18 zum ‚Doppelgebot‘ kann auf Jesus selbst zurückgehen. … Die Frage nach der ‚Geschichtlichkeit‘ des Doppelgebotes als ipsissimum verbum Jesu muß so gestellt werden: ob dieses ‚als treffender Ausdruck seiner (Jesu) geistigen Haltung‘, als ipsissima intentio Jesu verstanden werden kann. Das ist mit großer Sicherheit zu bejahen.“ Vgl. die weitere Deutung des lukanischen Doppelgebotes der Liebe bei Schürmann: Lukas „ordnet Gottesund Nächstenliebe als Akt noch deutlicher [als Markus] zusammen. Dabei wird freilich erst im Hinblick auf 10,29-37 der Sinn recht deutlich: Die geforderte totale Gottesliebe verwirklicht sich in besonderer Weise! in der V 27b dann geforderten und VV 29-37 illustrierten Nächstenliebe“ (ebd. 134). „Der innere Grund für die Forderung, in solch radikaler Weise die Gottesliebe als Nächstenliebe zu betätigen, wird in V 27 nicht ins Wort gehoben. Das so geartete Liebesgebot dürfte sein Proprium und sein Maß erst im Verhalten Jesu finden. … Erst als Mitvollzug der Herablassung Gottes wird Jesu Gottesliebe zur Nächstenliebe“ (a.a.O., 135). 21 In V. 29 stellt der Gesetzeslehrer die Frage „nach der Grenze der ‚Nächsten‘-Liebe. Es geht um den Geltungsbereich von Lev 19,18b und aller Tora-Vorschriften, die den ‚Nächsten‘ betreffen“ (Schür-
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In Lk 10,25-29 vergewissern sich beide Lehrer über ihre gemeinsame Basis: Die Erfüllung des Willens Gottes, der im Doppelgebot der Liebe zusammengefasst wird, führt zum „ewigen Leben“ (10,25b). Wie jedoch das Gebot der Nächstenliebe konkret auszulegen ist, ist offensichtlich kontrovers – insbesondere, wer zur Gruppe der Nächsten gehört und welche Rolle dem Subjekt des Handelns dabei zukommt. Die Antwort auf diese beiden Fragen illustriert Jesus in der Erzählung vom barmherzigen Samariter. 2.2 Lk 10,30-37 Die Frage der genauen Gattungsbestimmung wird in Bezug auf Lk 10,30-35 kontrovers diskutiert: Ruben Zimmermann wendet sich gegen die traditionelle Zuordnung als Beispielerzählung (seit A. Jülicher)22 und plädiert für eine Parabel: „… schon in der antiken Rhetorik (bleibt) die Übertragung, d.h. der metaphorische Charakter, beim parabolischen Exemplum unbestreitbar: Auch Lk 10,3035 ist nicht nur ein fiktionaler, sondern ein metaphorischer Erzähltext.“23 „Ganz wie bei anderen Parabeln wird ein mann, Lukasevangelium [Anm. 6], 142). Nach Lev 19,18 ist der Volksgenosse, nach Lev 19,34 und Dtn 10,19 ist auch der Fremdling, der in Israel wohnt, mit eingeschlossen. 22 So auch a.a.O., 146: VV. 30-35 sind eine Beispielerzählung, keine Parabel: „Der Samariter ist nicht (aktiv) ein Bild für jemand, auch nicht für Jesus, noch weniger der Ausgeraubte.“ 23 R. Zimmermann, Berührende Liebe (Der barmherzige Samariter) Lk 10,30-35, in: ders. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 538–555, hier 542; vgl. M. Zimmermann, ders., Der barmherzige Wirt. Das „Samariter-Gleichnis“ (Lk 10,25-37) und die Diakonie, in: Diakonie und Kirche (FS Th. Strohm), hg. v. A. Götzelmann, Heidelberg 2003, 44–58. Vgl. weiterführend R. Zimmermann., Die Gleichnisse Jesu. Eine Leseanleitung zum Kompendium, in: ders. (Hg.), Hermeneutik der Gleichnisse Jesu, WUNT 231, Tübingen 2008, 3–46, hier: ders., Im Spielraum des Verstehens. Chancen einer integrativen Gleichnishermeneutik, 3–24; ders., Gleichnishermeneutik im Rückblick und Vorblick. Die Beiträge des Sammelbandes vor dem Hintergrund von 100 Jahren Gleichnisforschung, 25–63; ders., Parabeln – sonst nichts! Gattungsbestimmung jenseits der Klassifikation in „Bildwort“, „Gleichnis“, „Parabel“ und „Beispielerzählung“, 383–419.
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konkreter Einzelfall konstruiert, von dem aus aber grundlegendere und allgemeinere Einsichten abzuleiten sind.“24 Die Kernaussage der Parabel in VV. 30-35 ist in der nachfolgenden Gegenfrage Jesu V. 36 ausdrücklich ausgesprochen und bereits im Gleichnis impliziert: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen ist?“. Jesus – und der Gesetzeslehrer folgt ihm darin (vgl. V. 37a) – kehrt damit die klassische Rollenverteilung um: Er bezieht die Frage nach dem Nächsten nicht auf das Objekt, sondern auf das Subjekt des barmherzigen Handelns. Damit ergeben sich weitreichende Folgen: Das Objekt des barmherzigen Handelns ist ausdrücklich „ein Mensch“ (ἄνθρωπός τις) – im Gegensatz zu den Beschreibungen der drei bzw. vier25 Akteure (Priester, Levit, Samariter und Wirt), der nicht nach Status, nicht nach Geschlecht26 nicht nach Beruf oder nationaler Herkunft beschrieben wird, sondern nach seinem Geschick: 10,30 b c d e f h i
24
Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen.
Zimmermann, Berührende Liebe (Anm. 23) 542f. Darauf macht mit Recht Ruben Zimmermann aufmerksam: „Lk 10,30-35 folgt hingegen eigenen Erzählgesetzen, indem vier Handlungspersonen im Gegenüber zum Überfallenen genannt werden: zwei Vorübergehende und zwei Helfende“ (ders., Berührende Liebe [Anm. 23], 540). 26 Die Einheitsübersetzung von 2016 verschleift diesen Aspekt mit der Übersetzung „ein Mann“ – anders die Lutherübersetzung 2017: „ein Mensch“. Lukas unterscheidet jedoch zwischen „Mensch“ und „Mann“. 25
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Die erzählerische Beschreibung des Menschen, dem die gebotene Nächstenliebe gilt, ist eindeutig und unmissverständlich: Maßgeblich für die geforderte barmherzige Zuwendung zu dem, der unter die Räuber gefallen ist, ist keine wie auch immer geartete Statuszuschreibung, auch nicht dessen Glaube, sondern allein und ausschließlich seine drängende, akute Not. Mit dieser (für unsere Ohren schon sprichwörtlichen) Beschreibung des unter die Räuber gefallenen Menschen schließt Jesus jede andere Bedingung für die Gefordertheit des barmherzigen Hilfehandelns aus. Anders formuliert: Jesus universalisiert das im Doppelgebot der Liebe geforderte Hilfehandeln – das Gebot des barmherzigen Hilfehandelns gilt jedem Menschen, sofern er hilfsbedürftig bzw. in Not ist.27 Als Subjekte des geforderten barmherzigen Hilfehandelns werden in dem Gleichnis vier Personen vorgestellt: Zunächst werden in weitreichender syntaktischer und terminologischer Parallelität „ein Priester“ und „ein Levit“ genannt: 10,31
10,32
a b c d a b c d
Es traf sich aber; daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit; als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
Für beide Akteure reichen dem Erzähler die knappen Berufsbezeichnungen: „ein Priester“, „ein Levit“. Den zeitgenössischen Hörern sind diese Berufs- und Statusbezeichnungen vertraut. Sie müssen nicht weiter erklärt werden. Entscheidend ist auch hier das konkrete Tun: Beide „sehen ihn“ und „gehen vorüber“. Die Botschaft
Der weitere lukanische Gebrauch von „Mensch“ belegt diese Deutung; vgl. Lk 15,11-32; 16,19-31; Apg 10,26.28; 14,15; 15,9. 27
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und die Bewertung aus Sicht des Erzählers ist klar: Sie erfüllen das biblische Gebot der Nächstenliebe, mit dem beide angesichts ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinschaft und angesichts ihrer Profession vertraut sein müssen, nicht. Der Priester und der Levit werden als Negativbeispiele der weiteren Erzählung vorangestellt. Zugleich ist jedoch durch das Verhalten des Priesters und des Leviten auch der erste Teil des Doppelgebotes der Liebe angesprochen und im Kern getroffen: Auch die richtige Gestalt der in der Tora geforderten Gottesliebe („von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt“; Lk 10,27) steht hier auf dem Spiel: Der kultische Gottesdienst der Priester und Leviten wird genau an dem Punkt kritisiert und zurückgewiesen, wo dieser nicht zu der von Jesus geforderten universalen Nächstenliebe führt. Eine Abkoppelung bzw. Trennung von Gottes- und Nächstenliebe – und sei es im Sinne eines arbeitsteiligen Vorgehens – schließt Jesus aus.28 Im Gegenüber zum Priester und Levit wird das Kontrastbeispiel des Samariters umso ausführlicher und gewinnender vor Augen gestellt: 10,33 a b a‘ c d 10,34 a b c d e f 10,35 a
Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn (ἐσπλαγχνίσθη); und er ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn. Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, b gab sie dem Wirt
Vgl. Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 145: „Es legt sich die Deutung nahe: Es gibt keinen wirklichen Gottesdienst (mehr), der nicht Nächstendienst ist oder sich in Nächstendienst auswirkt.“ 28
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c d e f h
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und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Zunächst wird der Samariter in gleicher Kürze wie der Priester und Levit eingeführt (V. 33a-c), in V. 33d wird die Abweichung markiert: Wie der Priester und der Levit „sieht“ auch der Samariter den unter die Räuber Gefallenen, er geht aber nicht vorüber wie seine beiden Vorgänger, sondern der Halbtote „jammerte ihn“ (so die Lutherübersetzung 2017; Einheitsübersetzung 2016: „hatte er Mitleid“). In den Gleichnissen Mt 18,21-35 und Lk 15,11-32 wird mit σπλαγχνίζομαι Gottes Verhalten zu den Menschen beschrieben (Mt 18,27;29 Lk 15,20; Lk 1,78: „durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes (διὰ σπλάγχνα ἐλέους θεοῦ ἡμῶν)“,30 in Lk 10,33 wird der Samariter als „ein Mensch dargestellt, der an Gottes Erbarmen ‚Maß nimmt‘ und so Gottes Willen tut“.31 Mk 6,34 spricht vom Erbarmen Jesu: „Und Jesus stieg aus und sah die große Menge; und sie jammerte ihn (ἐσπλαγχνίσθη ἐπ’ αὐτούς), denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ Der Evangelist Markus leitet mit dieser Überschrift die Speisung der Fünftausend ein. Die Verheißung aus Ez 34 wird hier aufgerufen, so dass der sich erbarmende Jesus „als (eschatologischer) Repräsentant Gottes erscheint“.32 Diese markinische Charakterisierung Jesu wird in der zweiten Speisungserzählung Mk 8,1-10 in wörtlicher Rede verstärkt aufgenommen: „Mich jammert das Volk, …“ (Mk 8,2). Die Synoptiker Mt und Lk übernehmen diese messianische Konnotation (vgl. Mt 9,36; 14,14; 15,32; 20,34; Lk 7,13; 9,22).
Das in Lk 10,33d genannte „Mitleid“ führt zu dem differenziert geschilderten Hilfehandeln, das über eine erste 29 Vgl. die Verwendung von ἐλεέω in Mt 18,33: „… hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?“ 30 Vgl. im AT die Psalmen und Deuterojesaja sowie TestSeb 8,1-2. 31 N. Walter, Art. σπλαγχνίζομαι, EWNT 3, 1983, 633f., hier 634. 32 A.a.O., 634.
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Notversorgung hinaus auch die weiterführende, zu einem erfolgreichen Abschluss führende Pflegestrategie (unter Einbezug eines weiteren, bezahlten Akteurs) einschließt.33 Die konkrete Hilfeleistung, die praktizierte Nächstenliebe, beschränkt sich ausschließlich, dafür aber umso systematischer auf die Überwindung der Not des unter die Räuber Gefallenen. Der „Wirt“ wird als Akteur eingeführt, sein dem Aufwand entsprechend bezahltes Handeln (Pflege) wird in der Erzählung vorausgesetzt. Der Samariter – das ist die Botschaft des Gleichnisses – erfüllt das Gebot der Nächstenliebe vorbildlich. Ausweislich der Gegenfrage Jesu V. 36 und der Antwort des Gesetzeslehrers V. 37 ist er durch sein barmherziges Handeln dem unter die Räuber Gefallenen „zum Nächsten geworden“ (V. 37). Der Gesetzeslehrer definiert in seiner Antwort auf die Gegenfrage Jesu geradezu die Antwort auf seine eigene Ausgangsfrage: „Wer ist denn mein Nächster?“ (V. 29):34 10,36 a b a‘ c 10,37 a b c d
33
Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen.
Vgl. Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 143: Die Anschaulichkeit der geschilderten Not verstärkt die implizite Wertung: „Niemand kann doch an einer derartigen Elendsgestalt vorbeigehen; jeder muß sich aufgefordert fühlen. Nicht die Feindesliebe (6,27f.29f.), sondern die ‚Goldene Regel‘ (6,31), die Barmherzigkeitstat (6,36) soll hier veranschaulicht werden.“ Und: „… die wortkarge Erzählung (wird) auffallend gesprächig“ (a.a.O., 145). 34 Vgl. a.a.O.,141: Das Abschlussgespräch rückt „die einleitende Frage zurecht“, beantwortet sie richtig und verweist „von der theoretischen Ebene in die Praxis; dabei nimmt V. 36 die Frage von V. 28b konkretisiert auf und beantwortet die von V. 25b endgültig“.
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Die Reaktion des Gesetzeslehrers auf diese abschließende Aufforderung Jesu wird im Lukasevangelium nicht erzählt – sie ist für den Evangelisten auch nicht mehr wichtig. Denn seine Leser und Leserinnen bzw. Hörer und Hörerinnen verstehen: Jesus legt das biblische Gebot der Nächstenliebe neu und unmissverständlich aus. Er fordert die universale, von keinen Bedingungen eingeschränkte Verwirklichung der Nächstenliebe, die ausnahmslos jedem Menschen gilt, der hilfebedürftig ist. Nur so wird das im biblischen Doppelgebot der Liebe geforderte Gebot der Nächstenliebe erfüllt. Nur so wird der, der einen notleidenden Menschen „sieht“, zum Nächsten für den Notleidenden. 2.3 Zusammenfassung Ausweislich des lukanisch komponierten Zusammenhangs, in dem das Gleichnis vom Samariter steht, und des Samaritergleichnisses selbst geht es in Lk 10,25-37 um eine Auslegung des Doppelgebotes der Liebe in beiden Teilen:35 der geforderten Gottesliebe und der geforderten Nächstenliebe. Beide werden nicht gegeneinander gestellt und schon gar nicht gegeneinander ausgespielt. Die gemeinsame Basis für das kontroverse Lehrgespräch zwischen den beiden Lehrern ist die Heilige Schrift Israels, die Tora als Willensoffenbarung Gottes. Unter Berufung auf Dtn 6,5 und Lev 19,18 sind sich beide einig, dass die „ganze“, „ungeteilte“ (vgl. die viermalige Verwendung von ὅλος in Lk 10,27) Gottesliebe und die am Maßstab der Selbstliebe zu bemessende Nächstenliebe gefordert sind, „um das ewige Leben zu erben“ (Lk 10,25). Implizit vorausgesetzt wird bei beiden Lehrern, dass die geforderte Gottes- und Nächstenliebe – ausweislich der Botschaft der Heiligen Schrift Israels und der Evangeliumsverkündigung Jesu im Lukasevangelium – in der Liebe Gottes zu bzw. dem Erbarmen Gottes mit seinem Volk wurzelt und auf diese Liebe antwortet. 35
So auch Thyen, Gottes- und Nächstenliebe (Anm. 17), 273.
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Mit dem Samaritergleichnis bestimmt Jesus das innere Verhältnis von Gottes- und Nächstenliebe: Beide können und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Es gibt keine legitime Über- oder Unterordnung des einen Gebotes unter oder über das andere. Es gibt auch keine legitime Loslösung des einen Gebotes von dem anderen. Die geforderte „ganze“ Gottesliebe lässt eine ausschließliche Gottesliebe unter Ausschluss der Nächstenliebe nicht zu. Es findet jedoch auch keine Ersetzung der Gottes- durch die Nächstenliebe statt. Im Samaritergleichnis nimmt Jesus eine weitreichende Neubestimmung des „Nächsten“ vor – in doppelter Hinsicht: (a) Derjenige, dem die Liebe gilt, ist grundsätzlich jeder „Mensch“, der in einer Notlage ist. Jede andere darüberhinausgehende Konditionierung und damit faktische Einschränkung der verpflichtenden Liebeszuwendung schließt Jesus kategorisch aus. Das Doppelgebot der Liebe in 10,25-29 und 10,36f. und die Parabel vom Hilfehandeln aus Barmherzigkeit in 10,30-35 interpretieren in ihrer Komposition die in der Tora geforderte Liebe als „Barmherzigkeitshandeln aus Liebe“.36 Diese Verknüpfung war „traditionsgeschichtlich keineswegs vorgeprägt …, so vertraut sie heutigen LeserInnen sein mag.“37 Mit der Zuschreibung der Vorbildrolle ausgerechnet an den Samariter überwindet Jesus bewusst provozierend Grenzen: „Nun war der Fremde oder sogar der Feind bereits im AT und Frühjudentum als Objekt der Liebe bezeichnet worden (Lev 19,34; Dtn 10,19; Arist 227; Philo virt. 51ff.). Die explizite Ausweitung des Liebesgebots unterstreicht allerdings, dass der Fremde nicht bereits bei der Nennung des ‚Nächsten‘ in Lev 19,18 eingeschlossen war. … Die metaphorische Zusammenfügung von Nächster und Samariter in der Parabel kann also im Sinne einer frischen
36 37
Zimmermann, Berührende Liebe (Anm. 23), 547. Ebd.
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Metapher verstanden werden. Hier wird zusammengezwungen, was traditionsgemäß nicht zusammengehörte: Der Samariter ist gerade kein Nächster.“38 Die Parabel vom Samariter lässt sich jedoch nicht nur auf der Folie einer innerjüdischen (bzw. einer jüdisch-christlichen) Kontroverse lesen und deuten, sondern darüber hinaus auch anthropologisch-ethnologisch: „Die Parabel wird in ihrer wertfreien Erzählweise gerade zum nüchternen Spiegel menschlicher Selbstgerechtigkeit.“39 „In der dann folgenden subversiven Doppelstrategie im Blick auf Juden und Samariter stellt dieser Mensch alle kulturell und religiös begründeten Handlungswiderstände in Frage. Hier ist nur noch ein Mensch, dem andere Menschen helfen können – und sollen. In der Parabel geht es um ein ‚universales Hilfsethos‘ (G. Theißen).“40 (b) Diese universale Verpflichtung zur Nächstenliebe verankert Jesus in der im abschließenden Dialog der beiden Lehrer vorgenommenen Umkehrung der Rollen: In der Auslegung des Gebotes der Nächstenliebe durch Jesus ist nicht mehr das Objekt der liebenden Fürsorge der „Nächste“, den es irgendwie näher zu klassifizieren gilt, sondern das Subjekt des Handelns ist derjenige, der einem anderen, genauerhin: jedem anderen „Menschen“, zum „Nächsten“ werden kann (oder eben nicht). „In dieser Weise wird das Mitleiden-Können zum narrativen Wendepunkt in der Parabel, wie auch zum entscheidenden Schlüssel zum Verständnis des Nächsten und der Ethik überhaupt. … Die Kategorie des ‚Nächsten‘ erschließt sich nicht über eine Bestimmung des ‚Nächsten‘ als Adressat oder gar als Objekt meiner Liebesbemühungen, sondern nur indem ich durch mein Mit-Leiden selbst zum Nächsten werde … Ich selbst bin als Subjekt des Handelns gefragt.“41 „Nicht: Was sollen wir als ethische Subjekte tun, sondern: Wie werde ich überhaupt zum Subjekt des Handelns? Dieser Fragehorizont rückt die Parabel eng zur
38
Ebd. A.a.O., 551. 40 Ebd. 41 A.a.O., 549. 39
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Ethik des jüdischen Philosophen Emanuel Lévinas, … Die Selbstwerdung des Menschen vollzieht sich relational.“42
Indem hier ein Samariter als derjenige vorgestellt wird, der das Gebot der Nächstenliebe vorbildlich erfüllt, wird die zum „ewigen Leben“ führende Erfüllung des Doppelgebotes der Liebe – mindestens in dem zweiten horizontalen Teil – einem nichtorthodox Glaubenden zugeordnet. Die Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe im Sinne Jesu ist damit ausdrücklich nicht an ein orthodoxes Glaubensbekenntnis gebunden. Für ‚diakonisches‘ Handeln im modernen Verständnis gilt: Jeder Christ ist durch das Doppelgebot der Liebe, an dessen Erfüllung das „ewige Leben“ hängt, zu einem Handeln verpflichtet, für das der Samariter Vorbild ist. Diakonisches Hilfehandeln besteht nach Lk 10,30-35 aus zwei Schritten: Erste Hilfe und Rehabilitation (Schutz in der Herberge; Finanzierung). Nach vollbrachter Erster Hilfe delegiert der Samariter die Pflege an einen ‚kommerziellen‘ Wirt und bezahlt ihn für sein Tun. Hierin manifestiert sich der Übergang von der Individual- zur Sozialethik, von der unmittelbaren Situationsethik zur institutionellen Absicherung der Hilfe.43 Sprachlich fällt die Parallelisierung des helfenden Handelns des Samariters und des Wirtes auf: Das Tun beider wird mit ἐπιμελέομαι (= „pflegen“, „sorgen“) beschrieben (Lk 10,34f). 3. Hörende Liebe – Jesu Auslegung des Doppelgebotes Liebe in der Begegnung mit Maria und Marta Lk 10,38-42 Auch für die lukanische Interpretation der Begegnung Jesu mit den beiden Schwestern Marta und Maria44 ist der 42
Ebd. Vgl. weiterführend M. und R. Zimmermann, Der barmherzige Wirt. Das Samaritergleichnis (Lk 10,25-37) und die Diakonie, in: dies., Diakonie und Kirche (Anm. 23), 44–57. 44 Zur Auslegung von Lk 10,38-42 vgl. u.a. Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 151–167; Eckey, Lukasevangelium (Anm. 8), 491–496: „Jesus zu Gast bei Martha und Maria“; F. Bovon, Das Evangelium nach 43
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narrative und kompositionelle Kontext von hoher Bedeutung: Lk 10,38-42 rahmt zusammen mit 9,51-56 die Erzählsequenz 9,51-10,42.45 Erzählen die VV. 9,51-56 von Lukas (Lk 9,51-14,35), EKK III/2, Zürich 1996, 99–117. Vgl. auch W. Carter, Getting Martha out of the Kitchen: Luke 10.38-42 again, in: A.J. Levine (Hg.), A Feminist Companion to the New Testament and Early Christian Writings 3, London 2002, 214–231; J. N. Collins, Did Luke intend a disservice to women in the Martha and Mary story?, BTB 28, 1998, 104–111; M. Trautmann, “Die ideale Frau, würd’ ich sagen, ist die: ein bißchen Martha und auch ein bißchen Marie”. Überlegungen zur Marta-Maria-Erzählung in Lk 10,38-42, in: Verantwortete Exegese. Hermeneutische Zugänge – Exegetische Studien – Systematische Reflexionen – Ökumenische Perspektiven – Praktische Konkretionen. (FS F. G. Untergaßmair), hg. v. G. Hotze, E. Spiegel, Münster 2006, 183–193; M. Weymann, Zwei Frauen und kein Ende. Zur gender-Diskussion um Maria und Martha im Lukasevangelium, in: A. D‘Anna et al. (Hg.), Cristianesimi nell'antichità: Fonti, istituzioni, ideologie a confronto, Spudasmata 117, Hildesheim 2007, 59–81; S. Hübenthal, Das Notwendige erkennen. Christus im Hause der Maria und Martha – Lk 10,38-42, BiLi 81, 2008, 263–267; A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II/226, Tübingen 2007, 236–258; dies., Martha und Maria – zwei vorbildliche Jüngerinnen?, in: dies., B. Heininger (Hg.), Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen, Münster 2003, 170–191; C. Böttrich, Zwischen Sensibilität und Konvention. Rollenbilder von Frauen im lukanischen Doppelwerk, in: J. Frey, N. Rupschus (Hg.), Frauen im antiken Judentum und frühen Christentum, WUNT II/489, Tübingen 2019, 175–208. 45 Vgl. oben unter 2. Vgl. Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 152: „Die Erzählung 10,38-42 …, überschaut als Abschluss Einheit 9,5110,37(ff), denn sie korrespondiert deutlich der Einleitung … 9,5156(57-62): der Verweigerung der Aufnahme Jesu dort stellt Lukas nun hier seine Erzählung entgegen, die seine Aufnahme schildert. Diese Abschlusserzählung aber hat insbesondere den Hauptteil … 10,120.21-37 im Auge: 10,1 hatte Jesus die Siebzig in jede Stadt und Ortschaft gesandt, in die er selbst – als der Kyrios (V 1; vgl. VV 39ff) – gehen wollte. … so bietet er 10,38-42 wenigstens ein Beispiel für das Kommen Jesu. … Wobei noch einmal deutlich wird, daß Jesus der Offenbarer (VV 21f) ist, dessen Wort schlechthin nichts vorzuziehen ist, nicht einmal die heilige Pflicht der Gastfreundschaft (V 39), und wie sehr selig zu preisen sind, die hören, was sie hören (V 24), was hier nun an Maria beispielhaft veranschaulicht wird und für alle Zeiten gelten soll. Was Jesus ihr – als Heilszusage und Heilsforderung – grundlegend zu sagen hatte, soll nach Meinung des Lukas wohl VV 21-24.25-37 nachgelesen werden können.“
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der exemplarischen Nicht-Aufnahme Jesu und seiner Boten, so erzählen die VV. 10,38-42 von der Aufnahme Jesu bei Marta und Maria. 3.1 Textbeobachtungen 10,38 a b c d
Als sie aber weiterzogen kam er in ein Dorf. Da war eine Frau mit Namen Marta, die nahm ihn auf (ὑπεδέξατο αὐτόν).
Der einleitende V. 38ab führt einen neuen betont unbestimmten Ort („ein Dorf“). Die handelnden Akteure („sie“) sind Jesus und seine Jünger, insbesondere die, die Jesus ausgesendet hatte (Lk 10,1-20). V. 38cd beschreibt nüchtern knapp die „Aufnahme“ Jesu in das Haus der Marta. Ὑποδέχομαι bzw. δέχομαι ist im Lukasevangelium ein bekannter Begriff, der über die wörtliche Bedeutung des Hereinlassens in ein privates Haus auch die übertragene Bedeutung der „Aufnahme“ Jesu bzw. seiner Sendlinge im Sinne der Annahme ihrer Sendung und Botschaft konnotiert: Nach Lk 19,6 nimmt Zachäus Jesus freudig in sein Haus auf (ὑπεδέξατο αὐτόν). Dies ist die Reaktion des Zachäus auf die Ansage Jesu: „Zachäus, steig eilend herunter; denn ich muß heute in deinem Haus einkehren (σήμερον γὰρ ἐν τῷ οἴκῳ σου δεῖ με μεῖναι)“ (vgl. auch Apg 17,6f). Δέχομαι begegnet in Lk 9,53 im Zusammenhang der Nichtaufnahme Jesu und seiner Boten in einem Dorf der Samariter und in der Aussendungsrede Lk 10 in der Alternative: „Und wenn ihr in eine Stadt kommt, und sie euch aufnehmen …“ (δέχωνται ὑμᾶς), (10,8) und 10,10: „Wenn ihr in eine Stadt kommt und sie euch nicht aufnehmen …“ (μὴ δέχωνται ὑμᾶς).46 Zuvor wurde δέχομαι auch in der Aussendung der Zwölf verwendet (Lk 9,16): 46 Vgl. die weitere Verwendung von δέχομαι in Mt 10,40f.; Joh 4,45; Mk 9,37 parr.
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Lk 9,5 a Und wenn sie euch nicht aufnehmen (μὴ δέχωνται ὑμᾶς), b dann geht fort aus dieser Stadt …
Lukas kürzt hier seine markinische Vorlage Mk 6,11 um die Erweiterung „und nicht hört“: Mk 6,11 a Und wo man euch nicht aufnimmt (μὴ δέξηται ὑμᾶς) b und nicht hört, c da geht hinaus …
Ausweislich insbesondere der beiden Aussendungsreden Lk 9,1-6 und 10,1-20 kürzt Lukas die markinische Vorlage „und nicht hört“ nicht, weil er inhaltlich von ihr abweichen würde, sondern weil sie ihm wahrscheinlich als unnötige inhaltliche Doppelung erschien: Dass die Zwölf ebenso wie die 70 Sendlinge „die Königsherrschaft Gottes verkündigen“ (9,2) bzw. sagen sollen: „die Königsherrschaft Gottes ist nahe zu euch gekommen“ (10,9) und dass dieser Verkündigung notwendig ein „Hören“ auf der Seite der Adressaten entspricht, ist selbstverständlich. Lk 10,16 verstärkt diese Deutung sogar: Lk 10,16 a b c d e f g
Wer euch hört, der hört mich; und wer euch verachtet, der verachtet mich; wer aber mich verachtet, der verachtet den, der mich gesandt hat.
Dieser lukanische Vers ist die ‚Parallele‘ zu Mt 10,40: Mt 10,40 a b c d e
Wer euch aufnimmt, nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat.
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Für Lukas gilt (ebenso wie für Markus und Matthäus): Die „Aufnahme“ der Boten Jesu oder Jesu selbst in das private Haus wird inhaltlich aufgeladen, sie entscheidet über den Erfolg der Missionare. In der urchristlichen Missionssprache wird die ursprünglich wortwörtliche Bedeutung von „aufnehmen (in das private Haus)“ zum terminus technicus für die zustimmende Annahme von Boten und Botschaft.47 In Lk 10,38cd wird mit der nüchternen Formulierung der „Aufnahme“ Jesu in das Haus der Marta dieser missionarische Zusammenhang aufgerufen. Neben Jesus wird als zweite Hauptfigur Marta eingeführt. Als zweite Bewohnerin des Hauses, in das Jesus aufgenommen wurde, wird ihre Schwester Maria vorgestellt: Maria füllt die Rolle aus, die Jesus (und analog seine Sendlinge) für ihre Verkündigung der Gottesherrschaft brauchen – sie ist bis in den körperlichen Gestus hinein aufmerksam Hörende: 10,39 a b c d
Und sie hatte eine Schwester, die hieß Maria; die setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seiner Rede zu.
Maria hockt wie ein Schüler vor dem Rabbi „und hört auf ‚sein‘ Wort, das ja doch das des ‚Kyrios‘ ist, wie betonend gesagt wird. Es war der Kyrios, dessen ‚Kommen‘ 10,1 angekündigt war und der nun gekommen ist. Aus dem Kontext 10,21f. weiß man, woher sein Offenbarungswort kommt, aus 10,23f., wie sehr seligzupreisen sind, die es
47
Das Johannesevangelium baut diese synoptische Semantik noch weiter aus und verwendet dafür das Wort παραλαμβάνειν; vgl. hierzu Joh 1,11-12 und F. Mußner, Die „semantische Achse“ des Johannesevangeliums. Ein Versuch, in: Vom Urchristentum zu Jesus (FS J. Gnilka), hg. v. H. Frankemölle, K. Kertelge, Freiburg i. Br. 1989, 246– 255; K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg i. Br. 2000, 179–184.
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jetzt hören dürfen“.48 Dieser hörenden Schwester wird die viel beschäftigte, ‚dienende‘ Schwester als Kontrastbild gegenübergestellt. Das unterschiedliche Verhalten wird von Marta als Vorwurf und Aufforderung an Jesus thematisiert: 10,40 a b c d e f
Marta aber machte sich viel zu schaffen, ihm zu dienen (περιεσπᾶτο περὶ πολλὴν διακονίαν). Und sie trat hinzu und sprach: Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester läßt allein dienen (διακονεῖν)? g Sag ihr doch, h dass sie mir helfen soll.
Die Antwort Jesu erfüllt die Erwartung Martas nicht, im Gegenteil: Jesus lobt Maria und kritisiert Marta: 10,41 a b c 10,42 a b c
Der Herr (ὁ κύριος) aber antwortete und sprach zu ihr: Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt; das soll nicht von ihr genommen werden.
Das Lob für Maria und der Tadel für Marta ist im Kontext der missionarischen Grundsituation zu erklären: Es geht um die „Aufnahme“ Jesu in das Haus. Diese „Aufnahme“ Jesu als Gottes messianischer Bote, als Kyrios, droht zu scheitern, wenn das Hören auf das Wort des Kyrios in anderen Beschäftigungen erstickt wird. Auch die Arbeit, die sich aus der Gastfreundschaft ergibt, kann das Zuhören auf die Botschaft des Kyrios und damit den Erfolg der Verkündigung der nahen Gottesherrschaft zunichtemachen.49 Die Aufnahme Jesu im Haus der Marta erzählt in 48
Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 156f. Vgl. a.a.O., 153: „Primär geht es um das ‚Verhalten gegenüber Jesus, der als Bote Gottes im Wort den Willen Gottes auslegt‘, also gegenüber 49
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dem kontrastierenden Verhalten der beiden Schwestern das Gelingen und das Scheitern der Verkündigung Jesu und sie visualisiert den Anspruch des Kyrios auf ungeteilte Zuwendung.50 Diese Szene ist – wie das ganze Lukasevangelium – transparent für die nachösterliche Situation der Evangeliumsverkündigung: Daher ist nicht nur die Erstverkündigung des Evangeliums im Blick, sondern – im Spiegel des aus nachösterlicher Perspektive erzählten Lebens Jesu – auch die sich wiederholende, erneuernde und vertiefende Verkündigung des Evangeliums, die ihr Ziel erreichen oder verfehlen kann. 3.2 Die Auslegung von Anni Hentschel Ihre Analysen und Interpretationen zu der lukanischen Verwendung von διακονέω κτλ.51 führen Anni Hentschel zu der Schlussfolgerung, dass Lukas erstens διακονέω κτλ. – analog zur profangriechischen Verwendung und zu Paulus – grundlegend als Beauftragung bzw. auch als beauftragte Aufwartung versteht. Zum Beleg verweist sie neben einer Analyse aller Vorkommen von διακονέω κτλ. im lukanischen Doppelwerk auch auf die lukanische Verwendung von διακονέω κτλ. in Lk 12,35-48; 17,5-10 und 22,24-30: Lukas spreche hier „aufgrund der Thematik, der
dem Wort des Kyrios, wo immer und wie immer es begegnet.“ „Dabei wird aber mitbedacht sein, daß es normalerweise in den Gemeinden im Wort der Boten des Kyrios begegnet: ‚Wer euch hört, hört mich‘ (V 6a; vgl. Mt 10,40). … Der Akzent liegt dabei aber nicht auf der Mahnung, die Sendlinge mögen anspruchslos sein (VV 4.7.8; vgl. 12,31); vielmehr darauf: deren Aufnahme solle so sein, daß nicht die Aufwartung, sondern das Hören auf das Wort der Sendlinge im Mittelpunkt stehe.“ 50 Vgl. a.a.O., 160: „Die Christologie kommt hier indirekt zur Sprache; sie wird anthropologisch angegangen. Die Wichtigkeit des Offenbarungswortes Jesu gibt sich zu erkennen im geforderten Verhalten ihm gegenüber.“ 51 Vgl. Hentschel, Diakonia (Anm. 44), 185–382; dies., Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, BThSt 136, Neukirchen-Vluyn 2013, bes. 203–223.
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Wortwahl, der Metaphorik und der textintern hervorgehobenen Adressierung an die zwölf Apostel in besonderer Weise … diejenigen Leser … (an), die selbst in gemeindeleitender Verantwortung stehen“.52 Lukas fordere in diesen Perikopen „für die zukünftigen Gemeindeleiter nicht den Verzicht auf Herrschaft oder Ehre …, auch nicht den Dienst, sondern den verantwortungsbewussten Umgang mit einer delegierten Autorität und Vollmacht“.53 Im Zuge der Auslegung von Lk 12,35-48; 17,5-10 und 22,24-30 zeigt sich für Anni Hentschel, dass der Evangelist Lukas stärker als die anderen Evangelisten den Tischdienst als Metapher für Gemeindeleitung interpretiere: „Διακονέω und seine Ableitungen sind geeignet, sowohl die untergeordnete Position und Rechenschaftspflicht eines Beauftragten im Verhältnis zu seinem Auftraggeber darzustellen, als auch die mit dem Auftrag evtl. verbundene Autorität gegenüber Adressatinnen und Adressaten auszudrücken und zu beleuchten.“54 Das Beispiel des Siebenerkreises in Apg 6,1-7 zeige: „Mit Diakonen im modernen Sinn haben die Sieben nichts zu tun, und auch der Aufgabenbereich, für den Lukas sie nach Apg 6,1-7 vorsieht, ist als eine spezifische Funktion, eine offizielle Beauftragung in der Gemeinde im Zusammenhang der Mahlzeiten und somit als eine Beauftragung für
52
Dies., Gemeinde (Anm. 51), 203. A.a.O., 203f. 54 A.a.O., 213. Vgl. ebd.: „Die beauftragten Leiter sind keine autonomen Herrscher in der Nachfolgegemeinschaft, die aufgrund ihrer Tätigkeit in eigenem Ermessen und zum eigenen Vorteil schalten und walten können (Lk 12,42-48), sondern sie sind und bleiben Beauftragte, die pflichtgemäß und verantwortlich ihre Aufgabe auszuführen haben (Lk 17,7-10). Als normierendes Vorbild gilt Jesus (Lk 22,27). Die treue Pflichterfüllung wird durch die besondere Ehrung (Lk 12,37; 22,29f) sowie durch die Ausweitung der Machtbefugnisse belohnt (Lk 12,44; evtl. 22,30). Hierarchien, Macht und Autorität werden also nicht grundsätzlich negiert, allerdings wird ein verantwortungsbewusster und v.a. dem Auftraggeber – Jesus Christus oder Gott – entsprechender Umgang damit gefordert.“ 53
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einen karitativen Bereich zu verstehen, nicht jedoch als karitatives Dienstamt.“55 Zweitens ziele Lukas aus Gründen der Sicherung bzw. der Bewahrung der reinen Lehre im Kontext seiner zeitgenössischen Kultur darauf, die Beteiligung von Frauen an amtlichen Aufgaben in der Gemeinde, die er im frühen Christentum und in seinen Traditionen vorgefunden habe, schrittweise zurückzudrängen.56 Dazu verweist Anni Hentschel insbesondere auf die Maria-Marta-Perikope Lk 10,38-42, in der am Beispiel des Vorbildes Marias die Rolle des passiven Hörens für Frauen propagiert werde. Auch die Apg, besonders Apg 1,15-26 und 6,1-7, verstärke die Zurückdrängung von Frauen aus der Beteiligung an christologisch oder ekklesial begründeten Aufträgen. Anni Hentschel sieht in Lk 10,38-4257 zwei unterschiedliche Rollen für Frauen angesprochen, gegenübergestellt und vom Evangelisten eindeutig bewertet: Mit Marta und ihrer Aufwartung zu Tische, die für eine aktive, gemeindeleitende Funktion von Frauen in der frühchristlichen Gemeinde stehe,58 würden Frauen durch die Zurechtweisung Jesu aus gemeindeleitender Verantwortung herausgedrängt und ihnen „die passive, hörende Rolle der Maria als Leitbild vor Augen“59 gestellt. Dabei gibt Anni Hentschel zu erkennen, dass die Verwendung von διακονία in 10,40 aus 10,38-42 selbst nicht eindeutig zu erheben ist: „Da die Erzählung Lk 10,38-42 die διακονία der Marta, außer durch die Ergänzung viel aller-
55
A.a.O., 344. Vgl. a.a.O., 436–441; dies., Gemeinde (Anm. 51), 214–223. 57 Vgl. ihre ausführliche Untersuchung in dies., Diakonia (Anm. 51), 236–258. 58 Vgl. a.a.O., 246–252. 59 Dies., Gemeinde (Anm. 51) 220 Anm. 554; vgl. dies., Diakonia (Anm. 51), 249. A. Hentschel schließt sich hier der Deutung von E. Schüssler-Fiorenza, Zu ihrem Gedächtnis. Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge, München 1988, 195f., an. 56
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dings gerade nicht genauer konkretisiert, bleibt ein Verständnis von Diakonia innerhalb dieser kurzen Szene letztlich unklar, weil die Textbedeutung διακονέω und seine Derivate sehr stark vom Kontext abhängig ist.“60 So lässt sie eine sichere und eindeutige Interpretation von διακονία in 10,40 offen, verweist aber auf die Rezeptionssituation des Textes, in der die passiv-hörende Rollenzuweisung für Frauen sich gut auf Lk 10,38-42 beziehen könne: „Unabhängig davon, ob man der Interpretation von Lk 10,38-42 diesem im Hinblick auf eine Gemeindefunktion gedeuteten Verständnis des Nomens διακονία folgen kann oder will, ist der Text, wie die narratologische Analyse gezeigt hat, in seiner – vorstellbaren – gemeindlichen Konfliktsituation wegen der Beteiligung von Frauen an Gemeindefunktionen geeignet, diese Frauen mit Berufung auf Lk 10,38-42 zu kritisieren. Gerade das deutliche, die an sich offene Erzählung abschließende Herrenwort … kann bei Bedarf als Argument benutzt werden, um den Frauen eine passiv-hörende Rolle zuzuweisen, unabhängig davon, welche Form der Diakonia – in der Erzählung der Tischdienst der Marta, in der Gemeindesituation die möglicherweise als Diakonia bezeichnete Mitarbeit von Gemeindeleiterinnen – jeweils zur Diskussion steht.“61 4.3 Die lukanische Intention Eine kontextuelle Verbindung zur vorausgehenden Perikope Lk 10,25-37 und damit eine kontextuelle Interpretation von 10,38-42 im Zusammenhang mit dem Doppelgebot der Liebe und der Parabel vom Samariter lehnt Anni Hentschel ab: „Allerdings lassen sich in Lk 10,38-42 keine narrativen Hinweise auf eine solche auf Lk 10,25-37 bezogene Lektüre finden … Aufgrund des Situations- und Personenwechsels in Lk 10,38 ist 10,38-42 vielmehr unabhängig von dem vorangehenden Gleichnis zu verstehen.“62 Damit wird jedoch die Einbindung von Lk 10,3860
Dies., Diakonia (Anm. 51), 257. A.a.O., 258. 62 A.a.O., 237 Anm. 262. 61
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42 in die von Lukas geschaffene Komposition unterschätzt. Durch die Leitwörter und Stichwortverbindungen ὑποδέχομαι bzw. δέχομαι und ἀκούω in der lukanischen Erzählsequenz 9,51-10,42 wird der übergeordnete lukanische Erzählzusammenhang und die theologische Intention des Lukas bestimmt. Hinzu tritt die prominente Stellung des Lehrgespräches über das Doppelgebot der Liebe als Weg zum „ewigen Leben“ (Lk 10,25-37). Das biblische, konsensuale Gebot der Gottes- und Nächstenliebe wird in den folgenden unmittelbaren Kontexten von Jesus neu ausgelegt: (a) auf dem Weg Jesu nach Jerusalem, auf dem Weg in seine endgültige „Nicht-Aufnahme“ (d.h. Ablehnung und Hinrichtung Jesu), (b) auf dem Weg der Verkündigung der nahen Gottesherrschaft, (c) unter der Beteiligung der Nachfolgegemeinschaft Jesu an der Verkündigung (vgl. die exemplarischen Aussendungen der Zwölf und der Siebzig), (d) durch Erzählungen vom Scheitern der Aufnahme und vom Gelingen der Aufnahme Jesu bzw. seiner Boten und (e) durch provozierende Grenzüberschreitungen zu den Samaritern (vgl. 9,51-56 und 10,30-35). Zu dieser Neuauslegung des Gebotes der Gottes- und Nächstenliebe gehört auch Lk 10,38-42: Wird im Gleichnis vom barmherzigen Samariter konkret definiert, wie die geforderte Nächstenliebe Gestalt gewinnen kann, so wird in Lk 10,38-42 konkret definiert, wie die geforderte Gottesliebe Gestalt gewinnen kann. Dabei werden in 10,38-42 gerade nicht Aktivität und Passivität gegenübergestellt. Die Pointe der Kritik Jesu gegenüber Marta liegt darin, dass ihre „Sorge und Mühe“ (10,40) den Kairos der Verkündigung Jesu63 verpasst. Die geforderte Gottesliebe 63 Vgl. dazu weiterführend: K. Scholtissek, „Könnt ihr die Zeichen der Zeit deuten?" (vgl. Lk 12,56). Christologie und Kairologie im lukanischen Dopperk, in: ThGl 85, 1995, 195–223. Das Lukasevangelium beinhaltet keine Situationsethik in dem Sinne, dass die Situation inhaltlich vorschreibt, was ethisch gefordert ist, sondern eine kairologische Ethik, die grundlegend von der Nähe der Gottesherrschaft bestimmt ist
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wird in der Nachfolge Jesu christologisch als kompromisslose Hinwendung zu Jesus, zu seiner Verkündigung „des Wortes“ (10,39) gedeutet. Diese provozierende Kompromisslosigkeit in der Nachfolge Jesu hatte Lukas innerhalb der Rahmensequenz 9,51-10,42 schon in 9,57-62 mit geradezu verletzenden Worten zugespitzt. Die zu den Füßen ihres Kyrios sitzende und „dem Wort“ Jesu zuhörende Maria (10,39) ist auch nicht wirklich passiv (‚passiv‘ erscheint sie vordergründig im Kontrast zu Marta): Im Sinne der biblischen Tradition des Hörens auf das Wort Gottes64 bzw. auf das Wort Jesu65 ist die hörbereite und „das Wort“ hörende Maria ein Vorbild für alle Nachfolgerinnen und Nachfolger Jesu schlechthin. Sie verwirklicht in ihrer aufmerksamen, hörenden Zuwendung zu Jesus konkret die geforderte Gottesliebe: die Liebe zu dem Gott, der sich in Jesu endzeitlicher Sendung seinem Volk und allen hörbereiten Menschen zuwendet. Der Evangelist leitet mit dieser Erzählung auch über zu den sich anschließenden Sequenzen über das Beten Jesu (11,1), das Beten der Nachfolgenden (11,2-4), das beharrliche Bittgebet (11,5-8) und das vertrauensvolle Beten der Jünger (11,9-13). Wenn diese Interpretation zutrifft, dann steht in Lk 10,2832 primär nicht die kontroverse Deutungshoheit über Gemeindeleitung und Geschlechterrollen im Fokus, sondern grundlegender die Frage nach der von allen Menschen zu
und sich in konkreten Begegnungen verwirklicht: sei es die in einer konkreten Situation geforderte Hilfe für einen „Menschen“, sei es das aufmerksame Hören auf das verpflichtende Wort Gottes im Munde Jesu. Vgl. zum Thema auch C. Böttrich, Die Zeichen der Zeit. Zeitvorstellungen im lukanischen Doppelwerk, Zeit, JBTh 28, 2013, 67–101. 64 Vgl. nur das „Höre, Israel, …“ in Dtn 4,1; 5,1; 6,4; vgl. Am 3,1; 4,1; 51; Jes 6,9f.; 50,4; 1 Sam 15,22; Koh 4,17; Spr 28,9; vgl. weiterführend: T. Krüger, Art. Ohr/Hören, HGANT 52016, 351–353; K. Herrmann, Art. Shemac, RGG4 7, 2004, 1277f. 65 Vgl. nur Lk 2,47; 5,1.15; 6,18.27.47.49; 7,22; 8,8-18.21; 9,35; 10,16.24.39; 11,28.31; 14,35; 16,31; 19,11.48; 21,38; 22,71.
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allen Zeiten geforderten „Aufnahme“ Jesu und seiner Verkündigung der nahen Gottesherrschaft.66 Dabei kommt dem Doppelgebot der Liebe eine herausragende Stellung zu: Der Samariter in der Parabel und Maria in der Begegnungsgeschichte sind jeweils exemplarische Vorbilder für das geforderte Verhalten in der Nachfolge Jesu: Barmherzige Liebe, die alle menschlichen, kulturellen und religiösen Grenzziehungen überwindet und sich ausschließlich von der konkreten Not und ihrer Überwindung leiten lässt (10,25-37) und hörende Liebe, die sich von keinem noch so gut gemeinten Engagement von der Zuwendung zum Wort Gottes (Lk 10,38-42) bzw. von der Nachfolge (Lk 9,57-62) abhalten lässt, widersprechen sich nicht, sondern sind zwei Seiten einer Medaille. Sie erfüllen die Tora in der Auslegung Jesu und führen zum ewigen Leben.
Vgl. Schürmann, Lukasevangelium (Anm. 6), 160f: „Es ist nicht zu verkennen, daß unsere Erzählung Lk 10 in einem von Lukas ekklesiologisch gemeinten Kontext steht, der die tradierte Aussendungsrede der Redenquelle (etwa Lk 10,1-16) weitermeditierte auf das in der Kirche ‚Jüngern‘ als Gabe und Aufgabe zukommende Heil hin (Lk 10,2124.25-37).“ 66
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„Ein Beispiel habe ich euch gegeben ...“ (Joh 13,15) Die Diakonie Jesu und die Diakonie der Christen in der johanneischen Fußwaschungserzählung als Konterkarierung römischer Alltagskultur*
1. Einleitung Das sozial-kulturelle System der römischen Herrschaft, die Definition und die Durchsetzung des römischen Machtanspruchs haben erheblichen, oft unterschätzten Einfluss auf jüdische und christliche Minderheiten, ihr Leben und ihre sich weiter entwickelnde Selbstverständigung. An dieser mehrschichtigen Auseinandersetzung und Abgrenzung hat auch das Johannesevangelium1 erkennbaren Anteil. Dem widerspricht nicht die Wahrnehmung, dass das Johannesevangelium sich zunächst und primär an die eigenen Gemeindeglieder richtet und ihren Glauben stärken will. Gerade zur Verwirklichung dieser Absicht * Der vorliegende Beitrag ist die überarbeitete Fassung meiner Antrittsvorlesung als Privatdozent an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena am 19.6.2012. Für die Unterstützung und freundschaftliche Wegbegleitung bei meiner Umhabilitation bin ich besonders Prof. Dr. Karl-Wilhelm Niebuhr zu großem Dank verpflichtet. Mein Dank gilt zudem dem gesamten Kollegium der Theologischen Fakultät in Jena und dem Oberseminar NT in Jena. 1 Zur neueren Johannesforschung vgl. K. Haldimann, H. Weder, Aus der Literatur zum Johannesevangelium 1985–1994, ThR 71, 2006, 91– 113; J. Frey, Grundfragen der Johannesinterpretation im Spektrum neuerer Gesamtdarstellungen, ThLZ 133, 2008, 743–760; ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften I, WUNT 307, Tübingen 2013. Vgl. hierzu meine ausführliche Rezension in ThLZ 139, 2014, 576–579; J. Beutler, Das Johannesevangelium, Freiburg i. Br. 2013.
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gilt es, die Begründung, innere Plausibilität und Kraft des christlichen Bekenntnisses so vorzutragen, dass die johanneischen Christen in ihrer vorfindlichen und vertrauten kulturellen Umwelt einerseits und der Pax Romana andererseits die ihrem Bekenntnis eigene sozio-kulturelle Identität finden und konstruktiv verteidigen können. Allein schon ausweislich des Prologes eignet dem Johannesevangelium ein kosmologisch-schöpfungstheologischer Anspruch. Anthropologie, Metaphorik und Ethik des vierten Evangeliums denken universell und bieten vielfältige Anknüpfungs- und Vermittlungsangebote für unterschiedliche philosophische, kulturelle und religiöse Konzepte. Der Evangelist Johannes vertritt eine universale Soteriologie und eine klare christologisch verankerte missionarische Strategie. Das vierte Evangelium wird in der Regel nicht mit dem Stichwort Diakonie2 in Verbindung gebracht – das Wort διακονέω κτλ. begegnet nur in 12,26 (zweimal διακονέω; einmal διακονός).3 Der nachfolgende Beitrag zeigt am Beispiel der johanneischen Deutung der Fußwaschung Jesu dennoch, dass und wie diakonische Praxis der Christen – orientiert am „Beispiel“ Jesu (13,15) – die soziale Praxis der dominanten römischen Alltagskultur intelligent konterkariert. Dazu wird das Ritual der Fußwaschung in neue Sinnzusammenhänge gestellt (reframing), mit neuen Deutungsebenen ausgestattet und so zu einem erschließenden Ritual der christlichen Glaubenspraxis aufgewertet.
2
Vgl. einführend K. Scholtissek, Neutestamentliche Grundlagen der Diakonie (2014), in diesem Band 1–21. 3 Der Sache nach wird das Thema Diakonie in der Fußwaschungserzählung (Joh 13,1-17) ausführlich verhandelt. In der Johannesforschung wird diese Fragestellung bisher völlig unzureichend berücksichtigt. Die folgenden Ausführungen fragen neu nach der johanneischen Deutung der Fußwaschung Jesu und den Konsequenzen für die johanneische Darstellung der Diakonie Jesu und der Diakonie der Christen.
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2. Der Ort des letzten Mahles Jesu in der erzählerischen Komposition und theologischen Intention des Johannesevangeliums Das Johannesevangelium ist – hier ist nur eine erste Annäherung möglich – in zwei Hauptteile aufgeteilt. Der erste Hauptteil geht um Jesu Offenbarungswirken in Wort und Tat (Joh 1,19-11,57) – hier spielen die sieben „Zeichen“ eine herausragende Rolle. Er schließt mit der Verurteilung Jesu durch den Hohen Rat aufgrund der „Zeichen“ und des durch diese Zeichen ausgelösten Glaubens (11,47-52[53-57]). Der zweite Hauptteil umfasst Jesu Abschied, seinen Tod, die Ostererfahrungen und die Sendung der Jünger (13,1-21,25). Eröffnet wird das Johannesevangelium von dem sprachlich und theologisch hochkarätigen Prolog (1,1-18), der den theologischen Anspruch und die Reichweite des Evangelisten ins Wort hebt, die Kernbotschaft des Evangeliums verdichtet vorstellt und gleichzeitig eine geschickte Leserführung intoniert. Das Kapitel 12,1-50 zwischen den beiden Hauptteilen hat eine (noch viel zu wenig beachtete) Scharnierfunktion.4 Mit dem Vers 13,1 beginnt der zweite Hauptteil des Evangeliums. Dieser Vers ist vom Evangelisten als Überschrift zum letzten Mahl Jesu und gleichzeitig zum gesamten zweiten Hauptteil gestaltet worden.5 „Vor dem Paschafest aber, als Jesus erkannte, dass seine Stunde gekommen war, aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen,
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Margareta Gruber betont in erhellender Weise die Verbindungslinien zwischen der Salbung der Füße Jesu durch Maria in 12,1-2 und der Fußwaschung Jesu: M. Gruber, Zumutung der Gegenseitigkeit. Zur johanneischen Deutung des Todes Jesu anhand einer pragmatisch-intertextuellen Lektüre, in: G. van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel, BETL 200, Leuven 2007, 647–660. 5 Joh 13,1 ist sowohl die „Überschrift zum ganzen 2. Hauptteil als auch die Einleitung der Fußwaschung im joh. Verständnis“, R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium, Band 3, Freiburg i. Br. 51986, 17.
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und da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung (εἰς τέλος).“
Dieser Vers hat zunächst einleitenden Charakter: Zeitangabe und Protagonist werden genannt. Gleichzeitig ist die prima facie harmlos daherkommende Zeitangabe „vor dem Paschafest“ als theologische Zeitangabe zu lesen bzw. hören: Jesu Wirken, seine Sendung, sein bevorstehender Tod stehen in einem inhaltlichen Verhältnis zum Festinhalt des Paschafestes (vgl. 1,29.36; 2,13.23). Gleichzeitig wird diese Deutung durch eine zweite nachfolgende Zeitangabe verstärkt: Jetzt – darauf weist der Erzähler seine Hörer unmissverständlich hin – ist die wiederholt angesagte und mit Spannung erwartete „Stunde“ Jesu (vgl. 2,4; 12,23) gekommen. Über diese Stunde Jesu, die eben nicht zufällig in unmittelbarer Nähe mit dem Paschafest steht, handeln die folgenden Ausführungen in Joh 13 und im gesamten zweiten Hauptteil. Der Erzähler spricht in diesem Vers weitere in der narrativen6 und theologischen Linienführung des Evangelisten zentrale Inhalte an: die Sendung Jesu vom Vater in diese Welt und wieder aus dieser Welt zurück zum Vater; sodann den inneren Grund und Antrieb seiner Sendung: die Liebe zu den Seinen, die Jesus mit und in der gekommenen Stunde als εἰς τέλος erweist. „Gemeint ist die Manifestation seiner Liebe zu den Seinigen, die am Ende steht und unübertrefflich ist. Denn εἰς τέλος kann sowohl einen zeitlichen wie einen qualitativ-eminenten Sinn haben.“7 „Bis zur Vollendung“ bezieht sich auf die Hingabe Jesu in den Tod – eben diese wird in der Fußwaschung gedeutet. Es ist kein Zufall, sondern johanneische Komposition, dass das letzte Wort Jesu am Kreuz: τετέλεσται („es ist 6
Zur Bedeutung der Narratologie für die Auslegung des Johannesevangeliums vgl. zuletzt J. Frey, U. Poplutz (Hg.), Narrativität und Theologie im Johannesevangelium, BThSt 130, Neukirchen-Vluyn 2012; T. Schultheiss, Das Petrusbild im Johannesevangelium, WUNT II/32, Tübingen 2012. 7 Schnackenburg, Johannesevangelium (Anm. 5), 16.
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vollbracht/vollendet“; 19,30), das letzte Wort in der Überschrift des zweiten Hauptteils (13,1) wieder aufnimmt und jetzt im Moment des Todes Jesu die Vollendung seiner Sendung, seiner Liebe zu den Seinen, bekräftigt. Auch diese verbale Brücke bestätigt den Überschriftcharakter von 13,1 für den gesamten zweiten Hauptteil. Es ist ebenfalls kein Zufall, dass der Evangelist mit dem Stichwort „die Seinen“ (οἱ ἴδιοι) an den Prolog (1,11) und die Hirtenrede in Kapitel 10 anknüpft. Zum theologischen Profil des Johannesevangeliums gehören folgende charakteristische Merkmale. Was sich bei den synoptischen Evangelien bereits abzeichnet und keimhaft andeutet, das führt der Evangelist Johannes konsequent weiter. Im Sinne einer Verschmelzung der Zeiten8 unterscheidet er nicht mehr zwischen den Worten des vorösterlichen und denen des nachösterlichen Jesus. Im irdischen Jesus spricht schon der Auferstandene. Diese konsequente Weiterführung synoptischer Tendenzen zu einer nachösterlichen Hermeneutik (vgl. Joh 2,22; 16,13) trifft ebenfalls für die konsequent vorangetriebene Transparenz der Dialoge Jesu mit seinen Jüngern in Richtung auf die nachösterliche Gemeinde zu. Die ersten Jünger Jesu, die von Johannes dem Täufer zu Jesus verwiesen werden (vgl. 1,35-51), die Teilnehmenden an der Hochzeit zu Kana (Joh 2,1-11), der Ratsherr Nikodemus (Joh 3), die Samariterin (Joh 4) und alle weiteren Dialoge und Begegnungen mit Jesus sind konsequent so erzählt, dass sich Christen der Gemeinden, für die der Evangelist in seiner Zeit schreibt, in diesen Personen wiedererkennen können, ihre eigenen Glaubenswege durchbuchstabiert sehen. In diesem Sinne ist das Johannesevangelium ein eminent katechetisches, im Blick auf die Glaubensbiographie des einzelnen Menschen ein in den Glauben und im Glauben 8 Vgl. hierzu grundlegend C. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsrede als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium, WUNT II/84; Tübingen 1996; J. Frey, Die johanneische Eschatologie I-III, WUNT 96/110/116, Tübingen 1997/1998/2000; ders., Eschatology in the Johannine Circle, in: ders., Herrlichkeit (Anm. 1), 663–698.
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führendes, ein mystagogisches Evangelium.9 Dem Evangelisten geht es um Glaubensvertiefung, um das Überwinden von Glaubenswiderständen, von vordergründigen Missverständnissen. Dieses theologische Profil des Johannesevangeliums lässt sich in allen Kapiteln aufweisen, in den Begegnungsgeschichten, den sieben Zeichen, den Reden Jesu, dem Abschied und den Abschiedsreden Jesu, den Szenen am Kreuz, seinen Osterbegegnungen.10 Auch die Darstellung des letzten Mahles Jesu11 ist von diesem Anliegen des Evangelisten durchdrungen. 3. Aufbau und Leserführung in Joh 13,1-30 Nachdem die Doppelfunktion des einleitenden Verses 13,1 als Überschrift für das Kapitel 13 und für den gesamten zweiten Hauptteil des Johannesevangeliums vorgestellt wurde, geht es im Folgenden um den Aufbau und die Gedankenführung in Joh 13,1-30. Das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern lässt sich in zwei Teile gliedern: die Fußwaschung als Sinnbild des erlösenden Lebensdienstes Jesu und als Vorbild für seine Jünger (13,2-17) und der
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Vgl. A. Meyer, Kommt und seht. Mystagogie im Johannesevangelium ausgehend von Joh 1,35-51, FzB 103, Würzburg 2005. 10 Vgl. dazu weiterführend: K. Scholtissek, Perspektiven der Johannesforschung, in: ders., Textwelt und Theologie des Johannesevangeliums. Gesammelte Studien, WUNT, Tübingen 2020, 3–147. 11 Joh 13 verdient eine neue, intensive exegetische Diskussion. Als neuere Beiträge vgl. H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT VI, Tübingen 2005, 582–594; ders., εἰ μὴ τοὺς πόδας (Joh 13,10). Die Wirkungsgeschichte einer frühen Glosse, in: ders., Studien zum Corpus Johanneum, WUNT 214, Tübingen 2007, 595–602; A. Stimpfle, Teilhabe in Hingabe. Zur „Fremdheit“ der johanneischen Fußwaschung (Joh 13,1-17), in: Verantwortete Exegese. Hermeneutische Zugänge – Exegetische Studien – Systematische Reflexionen – Ökumenische Perspektiven – Praktische Konkretionen (FS F.G. Untergaßmair), hg. v. G. Hotze, E. Spiegel, Münster 2006, 219–229; J. Frey, ‚Ethical’ Traditions, Familiy Ethos and Love in the Johannine Literature, in: ders., Herrlichkeit (Anm. 1), 768–802, 793–796; Beutler, Johannesevangelium (Anm. 1), 376–393.
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Verrat des Judas als Gegenbild eines Jüngers Jesu (13,18-30). Die Aufmerksamkeit gilt hier vornehmlich VV. 2-17, die eine Dreigliederung aufweisen. Der Handlung Jesu in VV. 2-5 folgen ein Dialog und ein Monolog: 2-5 6-11 12-17
Die Fußwaschung Jesu Dialog: Jesus und Simon Petrus Ansprache Jesu an seine Jünger
(a) VV. 2-5: Die Fußwaschung selbst ist in aller Einfachheit und Nüchternheit geschildert. Nach der Situationsangabe „Und als ein Mahl war ...“ (13,2) folgen konkludent sieben Verben: aufstehen, Gewand ablegen, Leinentuch nehmen, sich umgürten, Wasser ins Becken schütten, Füße waschen, trocknen. Dieser einfache Erzählstil wird durch eine sprachlich und grammatikalisch schwierige Parenthese unterbrochen und aufgebrochen: Und als ein Mahl war – der Teufel hatte Judas Iskariot, dem Sohn Simons, schon ins Herz gegeben, ihn auszuliefern; Jesus wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände gegeben hat und dass er von Gott ausgegangen ist und zu Gott zurückkehrt … (13,2-3).
Es ist kein Wunder, dass sich daran literarkritische Diskussionen entzünden, denen hier nicht nachgegangen werden kann. Die Aufgabe, den vorliegenden Endtext des Johannesevangeliums zu interpretieren, darf dabei nicht aus dem Auge verloren werden. Formal lässt sich diese Parenthese als eingeschobener Erzählerkommentar kennzeichnen. Der Erzähler gibt seinen Lesern bzw. Hörern zwei Hinweise. Der erste ist neu: Es geht um den Verrat des Judas im Vorgriff auf 13,18-30, die das Gegenbild zur Fußwaschung Jesu ausleuchten. Der zweite Hinweis nimmt die schon in Vers 1 angesprochene Sendungschristologie auf und entfaltet diese.
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Die Parenthese verknüpft also die nüchterne Fußwaschungserzählung mit der Überschrift in 13,1 und dem zweiten Teil der Erzählung in Joh 13. Beide Hinweise, der Vorverweis auf den Verrat des Judas und der Rückverweis auf die johanneische Sendungschristologie, sind offensichtlich unverzichtbare Interpretationsbezüge für den nüchternen Bericht der Fußwaschung Jesu. Die Einspielung der verstärkend ausgeführten Sendungschristologie betont die johanneische Zielaussage: „Der niedrige Dienst verweist auf den Tod Jesu, der doch als Anteilgabe am Heil ein Dienst voll innerer Hoheit ist.“12 (b) VV. 6-11: Ausgangspunkt des kurzen Dialoges zwischen Petrus und Jesus ist der Einwand des Petrus: „Herr (κύριε), du wäschst mir die Füße?“ (13,6). Petrus fasst das in klare Worte, was gewissermaßen in der Luft liegt: Warum wäscht der Kyrios seinen Jüngern die Füße? Denn das, was Jesus tut, ist eine anstößige und offensichtlich unverständliche Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse. Das soziale Paradoxon, das Petrus in aller Klarheit anspricht, wird noch dadurch gesteigert, dass der Titel κύριος im Neuen Testament und auch im Johannesevangelium die Konnotation des Gottesnamens bzw. der Gottesanrede in der Septuaginta trägt. Der in Frageform gehaltene Einwand des Petrus ist erzähltheoretisch von doppelter Bedeutung: Petrus stellt die Frage, die aufgrund des Tuns Jesu jedem Leser und Hörer des Johannesevangeliums auf den Lippen liegt – er stellt die Frage der Lesenden und Hörenden, die Frage, die gestellt werden muss! Und zweitens gibt der Einwand des Petrus Jesus die Möglichkeit zu antworten, sein Tun zu deuten. Jeder Versuch, von der hier gestellten Frage des Petrus auf seine geschichtliche Persönlichkeit zurückzuschließen, ist deshalb unangebracht. Schließlich steht die Frage des Petrus in einer typisch johanneischen Tradition. Zahlreiche Dialoge zwischen Jesus und einer zweiten Person nehmen ihren Ausgang beim Nichtbegreifen bzw. einem Missverständnis, das durch 12
Schnackenburg, Johannesevangelium (Anm. 5), 19.
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Jesu Antwort auf einen tieferen Sinn hin erschlossen wird.13 Ein Beispiel dafür ist Nikodemus, der fragt: „Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ (3,4) oder die Samariterin, die bemerkt: „Herr, du hast doch nichts, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief; woher hast du dann lebendiges Wasser?“ (4,11). In den Fragen der Menschen im Johannesevangelium spiegeln sich die Fragen der Christen in der johanneischen Gemeinde. Ihre Fragen werden gestellt, ihre zu kurz greifenden Missverständnisse werden artikuliert – nicht, um sie vorzuführen, sondern um alle Lesenden und Hörenden auf den Weg zu einem vertieften Verstehen der Sendung Jesu mitzunehmen.14 Eben darum geht es auch hier: Die Fußwaschung Jesu kann und soll irritieren, sie kann missverstanden werden – Jesus aber geht es um das richtige Verständnis seines Tuns. Jesu erste Antwort, „Was ich tue, verstehst Du jetzt nicht, du wirst es aber nachher verstehen“ (13,7), klingt zunächst rätselhaft. Sie verweist auf einen späteren Zeitpunkt des Verstehens – für die aufmerksamen Leser des Johannesevangeliums ist die Zeitangabe „nachher“ jedoch klar. Es geht ausweislich von 13,1 um „die Stunde“ Jesu, es geht um seinen Tod, seine Auferstehung und das vom Wirken des Geistes getragene nachösterliche Verstehen des gesamten Lebensweges Jesu. Erst im Licht der Auferstehung Jesu wird die Fußwaschung seiner Jünger angemessen und richtig verständlich. Der zweite Einwand des Petrus, „nicht sollst du meine Füße waschen bis in Ewigkeit“ (V. 8), betont das Nichtverstehen des Petrus – der wohlwollende Leser ist dem Petrus schon ein Stück voraus. Aber auch dieser zweite Widerstand des Petrus hat seine erzählerische Funktion. Sie ermöglicht Jesus eine zweite Antwort: „Wenn ich Dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ (V. 8). 13
Vgl. u.a. Joh 3,4; 4,11.31-34; 6,7-9.67-70; 9,2-5; 11,8-10; 14,5-10. Vgl. auch 13,27-29. Auch hier werden zu kurz greifende Deutungen der Worte Jesu zurückgewiesen. 14
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Hier geht es nicht um den Zeitpunkt und die Möglichkeitsbedingungen des Verstehens, sondern um das Ziel der Sendung Jesu insgesamt, wie um das Ziel der Zeichenhandlung Jesu, der Fußwaschung: Es geht um die Anteilhabe an Jesus selbst. Es geht ums Ganze: Jesu Heilssendung, seine Lebensgabe kommt dort zum Ziel, wo die Jünger Jesu vor Ostern wie die Jünger Jesu zu allen Zeiten nach Ostern Jesu Tun zulassen und dieses im Licht des Osterglaubens deuten. Jesu gesamte Sendung ist ein Lebens-Dienst für die Menschen, in der Fußwaschung wird dieses Sinnziel des Wirkens Jesu fokussiert. Jesus macht in dieser Zeichenhandlung „seine Hingabe in den Tod für die Jünger anschaulich und wirksam … kraft seiner Liebe, die sie dadurch bis zum äußersten erfahren“.15 Im Kern geht es um die Anteilhabe an Jesus, an dem Leben, das er schenkt, an seiner Beziehung zum Vater, an seiner nachösterlichen Herrlichkeit. Im Johannesevangelium ist Jesus ausweislich der „Ichbin“-Worte in persona das Heilsgeschenk Gottes an die Menschen: „Ich bin das Brot des Lebens“ (6,35); „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (14,6). Die Antwort des Petrus (V. 9) zeigt erneut ein vordergründiges Missverständnis. Es ist nicht die Verteilung des Waschwassers über alle Körperteile, die zum Anteil an Jesus selbst führt, sondern das Tun Jesu in seiner Selbsthingabe in den Tod und die Bereitschaft, diesen Weg Jesu als heilsam anzunehmen. (c) VV. 12-17: In den nächsten Versen hält Jesus eine feierliche Ansprache an seine Jünger. In der Einleitung markiert der Evangelist den Abschluss der Fußwaschung – Jesus nimmt wie zu Beginn der Mahlzeit die Rolle des sitzenden Lehrers ein. Jesus betont ausdrücklich die ihm zustehenden hoheitlichen Titel „Lehrer“ und „Kyrios“. Er verwendet die im Johannesevangelium öfter begegnende, die Vollmacht Jesu betonende Einleitungsformel: „Amen, amen, ich sage euch …“ und gebraucht abschließend eine Seligpreisung. 15
Schnackenburg, Johannesevangelium (Anm. 5), bes. 21.
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Aufgrund der einleitenden Frage „Versteht ihr, was ich euch getan habe?“ (V. 12) geht es erneut um das Verstehen. Um das Verstehen des Tuns Jesu ging es ja schon beim vorausgehenden Dialog mit Petrus. Wiederholt sich also die Aussageabsicht aus VV. 6-11 in VV. 12-17? Nein, sie wiederholt sich nicht. Der Ansprache Jesu geht es um ein neues Moment, das offensichtlich zum Verstehen der Fußwaschung respective der Sendung Jesu konstitutiv dazugehört. Zunächst bestätigt Jesus das schon von Petrus angesprochene Paradoxon der Fußwaschung. Es ist tatsächlich der „Lehrer“ und „Kyrios“ seiner Jünger, der ihnen die Füße gewaschen hat (V. 13). Aus dieser Wahrnehmung und Beschreibung der Situation leitet Jesus die entscheidende Schlussfolgerung ab. Wenn schon der „Lehrer“ und „Kyrios“ seinen Jüngern die Füße gewaschen hat, dann „müssen“ auch die Jünger einander die Füße waschen (V. 14). Jesus verweist zur weiteren vertiefenden Begründung auf das vorbildliche „Beispiel“, das er ihnen gegeben hat (V. 15) und erinnert an eine plausible Lebenswahrheit: Der Knecht ist nicht größer als sein Kyrios und der Gesandte nicht größer als der Sendende (V. 16). Mit anderen Worten: Die von Jesus gesandten Jünger können ihre Sendung nicht anders gestalten und verwirklichen als in der Nachfolge des „Beispiels“ Jesu. Ein anderer Weg als der Weg Jesu steht ihnen nicht zur Verfügung. Jesu Seligpreisung (V. 17) gilt denen und nur denen, die dem Beispiel Jesu tatsächlich und in adäquater Entsprechung folgen. Dieser Weg Jesu, das Ur-Bild der Jüngernachfolge, wird im Johannesevangelium insgesamt und in der Fußwaschungserzählung in besonderer Dichte veranschaulicht. Zur Vertiefung und Absicherung der bisherigen Auslegungsschritte werden die beiden folgenden Fragestellungen vertieft: die Bedeutung der Fußwaschung in der zeitgenössischen Umwelt und die Fußwaschung als Zeichenhandlung bzw. als paradoxe Intervention.
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4. Die Bedeutung der Fußwaschung in der zeitgenössischen Alltagskultur und vor dem Hintergrund römischen Standesdenkens In der Umwelt des Neuen Testaments16 lassen sich drei zeitgenössische Konnotationen der Fußwaschung identifizieren. (a) In der griechisch-römischen Literatur finden sich zahlreiche Belege, die direkt oder beiläufig Zeugnis davon geben, dass das Fußwaschen als typische Aufgabe von Sklaven, Dienern und Mägden vertraut war. Die hierarchische Unterordnung der Fußwaschenden wurde so dokumentiert und bekräftigt. Ein anschauliches Beispiel ist uns bei Plutarch überliefert: Als es aber Zeit für die Hauptmahlzeit war und der Kapitän das Essen aus den Vorräten zubereitete, sah Favonius [ein Prätor des Pompeius], dass Pompeius in Ermangelung von Sklaven begann, seine eigenen Schuhe auszuziehen, und eilte herbei, zog ihm die Schuhe aus und salbte seine Füße. (Plutarch, Pompeius 73.6)17
Schon die Bekleidung mit einem Lendenschurz, der zum Abtrocknen der Füße nach dem Fußwaschen verwendet werden konnte, gilt für sich genommen als Ausdruck einer Standeszuordnung. In Suetons Kaiservita zu Caligula heißt es:
16 Vgl. B. Kötting, D. Halama, Art. Fußwaschung, RAC VIII, 1972, 743–745; J. C. Thomas, Footwashing in John 13 and the Johanninne Community, JSNTSup 61, Sheffield 1991, 26–56; K. Wengst, Das Johannesevangelium, ThKNT IV/2, Stuttgart 2001, 91–93 (zu Zeugnissen in der rabbinischen Tradition). 17 Zitiert nach U. Schnelle (Hg.) unter Mitarbeit von M. Labahn und M. Lang, Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Band I/2, Berlin 2001, 641. Vgl. auch Homer, Odyssee 19.317-324.343-348.386-388; Herodot 2.172-175; 6.19.2; Catull 64,158-163.
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Mit ebenso wenig Ehrerbietung und Milde ging er (scil. Caligula) mit dem Senat um. Einige Senatoren, die höchste Ämter verwaltet hatten, ließ er einige Meilen in der Toga neben seinem Reisewagen herlaufen und, während er speiste, einmal unter dem Sofa, einmal zu seinen Füßen nur mit einem Lendenschurz bekleidet stehen. (Sueton, Caligula 26.2)18
(b) Vorwiegend in der jüdischen Tradition aber auch in der griechisch-römischen Überlieferung wird die Fußwaschung als Ausdruck der Reinheit und der Nähe zu Gott bzw. der einen Gottheit verstanden. Nach Philon besprengen sich die Priester beim Betreten des Heiligtums Hände und Füße als „Sinnbild fleckenlosen Lebens und reinen Lebenswandels in lobenswerten Werken“ (Philo, Vita Mosis 2.138).19 Das Waschen der „Eingeweide“ bzw. „des Bauches“ und „der Füße“ wird als „Reinigung“ verstanden: ... mit dem Bauch deutet das Gesetz auf die Begierde hin, deren Reinigung sehr heilsam ist, da sie mit Befleckungen, Besudelungen, Trunksucht und Völlerei behaftet ist, also auf den schlimmsten Schädling, der zum Verderben für unser Leben uns angeheftet und ausgeschmiedet ist. Das Waschen der Füße aber bedeutet, dass wir nicht mehr auf Erden gehen, sondern in Aethers Höhen schweben sollen; denn in Wahrheit schwebt ja die Seele des von Liebe zu Gott erfüllten Menschen von der Erde hinauf zum Himmel und wandelt beflügelt in der Höhe ... (SpecLeg 1.206-207; vgl. LegAll 3.143).20 H. Martinet, C. Suetonis Tranquillus. Die Kaiserviten – De vita Caesarum, Düsseldorf / Zürich 1997, 485; zitiert nach Neuer Wettstein (Anm. 17), 636. 19 Philo, Vita Mosis 2.138: „Diese [sc. die erzenen Spiegel der Frauen] nahm der Künstler, und er beschloss, sie zu schmelzen und nichts anderes als das Waschbecken aus ihnen zu verfertigen, damit die Priester beim Betreten des Heiligtums (…) dies als Gefäß für das Sprengwasser, besonders. beim Waschen von Händen und Füssen benützten – ein Sinnbild fleckenlosen Lebens und reinen Lebenswandels in lobenswerten Werken …“ 20 Vgl. auch Plinius, Naturalis historia 24.103. 18
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(c) Besonders bei Josef und Aseneth, einer zeitgenössischen Schrift „an der Schnittstelle zwischen jüdischer Novelle und griechischem Roman, namentlich dem Abenteuer- und Liebesroman“,21 findet sich ein beeindruckendes Zeugnis zum Fußwaschen als Ausdruck der Liebe und Beziehungsintensität.22 [1] Und sie umschlangen einander lange und verflochten die Bande ihrer Hände. Und Aseneth sprach zu Joseph: „Wohlan, mein Herr (κύριε μοῦ), tritt ein in unser Haus. Ich habe nämlich unser Haus vorbereitet und ein großes Mahl gemacht.“ [2] Sie ergriff seine rechte Hand, führte ihn in ihr Haus und setzte ihn auf den Thronsessel ihres Vaters. Und sie brachte Wasser, um seine Füße zu waschen. [3] Joseph sprach zu ihr: „Es soll doch eine deiner Jungfrauen kommen und meine Füße waschen!“ [4] Und Aseneth sagte: „Mitnichten, mein Herr (κύριε μοῦ), denn von jetzt an bist du mein Herr, und ich deine Sklavin. Warum sagst du das, eine andere Jungfrau solle deine Füße waschen? Deine Füße sind ja meine Füße, deine Hände sind meine Hände, deine Seele ist meine Seele.“ [5] Und sie bedrängte ihn und wusch seine Füße. Joseph betrachtete ihre Hände. Sie waren wie Hände des Lebens und ihre Finger wie Finger eines von Liebe ergriffenen Schnellschreibers. Und danach ergriff Joseph ihre rechte Hand und küsste sie. Und Aseneth küsste sein Haupt und setzte sich zu seiner Rechten. (JosAs 20.1-5)23
In der johanneischen Fußwaschungserzählung finden sich alle drei Konnotationen aus der zeitgenössischen Umwelt wieder – jeweils in spezieller Profilierung: 21 Vgl. hierzu im Überblick M. Vogel, „Einführung“ in Joseph und Aseneth, SAPERE 15, Tübingen 2009, 3–31, 6. Vogel datiert Joseph und Aseneth in die zweite Hälfte des 1. Jh. n. Chr. bzw. die ersten Jahre des 2. Jh. n.Chr. (vgl. bes. 11–15). 22 Vgl. auch JosAs 7.1. 23 Übersetzung nach Eckart Reinmuth. Vgl. C. Burchard, Joseph und Aseneth, JSHRZ 2.4, Gütersloh 1983, 683. Vgl. auch Catull 64.158– 163; Anthologia Graeca 13.68.
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(a) Die in der zeitgenössischen Umwelt selbstverständliche hierarchische Zuordnung von Fußwaschung an die Untergebenen und niederen Dienste wird in Joh 13 einerseits von Petrus vorausgesetzt und zum Gegenstand seines ersten Einwandes gemacht. Gleichzeitig betont Jesus seine hoheitliche Sendung als Lehrer und Kyrios. Andererseits durchbricht Jesus in seinem Tun diese Rollenzuweisung in paradoxer Umkehrung bei ausdrücklicher Wahrung seines Status als Lehrer und Kyrios. (b) Das Thema der Reinheit und der sich daraus ergebenden (wachsenden) Gottesnähe greift Joh 13 in VV. 10-11 auf. Die erstrebte Reinheit ist durch die Fußwaschung, genauerhin durch die in der Fußwaschung gedeutete Lebenshingabe Jesu, vollumfänglich bewirkt. Die Jünger Jesu sind „rein“ – mit der einen Ausnahme des Judas. Zwischen Judas auf der einen Seite und Jesus und seinen Jüngern auf der anderen Seite verläuft die Trennlinie zwischen rein und unrein. (c) In der johanneischen Fußwaschungserzählung geht es nicht um die erotische Liebe zwischen Mann und Frau, es geht jedoch sehr wohl um Liebe (vgl. 13,1.34-35; 15,9-17 bes. 15,13: „Niemand hat eine größere Liebe als der, der sein Leben gibt für seine Freunde“: Lebenshingabe als höchste Konsequenz der Liebe) und die durch die praktizierte Liebe Jesu gewonnene Beziehungstiefe (vgl. 13,8: Anteil haben an Jesus). Aseneth versteht ihr Tun – sie besteht darauf, dass sie allein und niemand sonst Josef die Füße wäscht – als Liebesdienst, den sie dem Geliebten und nur ihm erweisen will. Als Liebesdienst versteht auch Jesus sein Tun an den Jüngern – in der Hingabe seines Lebens in den Tod (vgl. 15,13). Diese Lebenshingabe in den Tod wird in der Fußwaschung als reinigender und beziehungsstiftender Lebensdienst gedeutet.
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5. Fußwaschung als Zeichenhandlung und als paradoxe Intervention Die Fußwaschung Jesu reiht sich ein in viele andere Zeichenhandlungen Jesu:24 der Jüngerkreis Jesu als solcher, der Zwölferkreis, die Mahlveranstaltungen Jesu, die sogenannte Tempelreinigung, der Einzug Jesu in Jerusalem auf einem Esel, das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern. Jesus steht mit diesen Zeichenhandlungen in der Tradition der Propheten. Zeichenhandlungen in der biblischen Tradition begleiten, veranschaulichen und deuten die Verkündigung der Propheten bzw. Jesu. Auch die Fußwaschung Jesu ist in diese Tradition einzuordnen. Ob wir von einer historisch sicheren Überlieferung ausgehen können – die Synoptiker kennen die Fußwaschung nicht25 – kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Viele Argumente sprechen für die Annahme, dass Jesus beim letzten Abendmahl diese Zeichenhandlung bewusst verwendet hat.26 Die Fußwaschung Jesu kann als historisch glaubwürdige Überlieferung gelten, die in der kompositionellen Deutung des Johannesevangeliums eine herausragende Bedeutung erhält. Dafür sprechen auch die synoptischen Analogien in Mk 10,45; Lk 12,37; 22,27; insbesondere die Kompatibilität mit dem zeichenhaften Tun Jesu.27 24
Vgl. hierzu grundlegend H. Schürmann, Die Symbolhandlungen Jesu als eschatologische Erfüllungszeichen. Eine Rückfrage nach dem historischen Jesus, in: ders., Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994, 136–156. 25 Vgl. aber Lk 22,7-13.14-23.24-30; bes. 22,27. 26 Vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium (Anm. 5), 45–48; H.-J. Klauck, Die Sakramente und der historische Jesus, in: ders., Gemeinde – Amt – Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 273–285, hier 276–279. 27 Das Johannesevangelium steht mit der Fußwaschungserzählung in inhaltlicher Kongruenz mit den synoptischen Evangelien. Im Lukasevangelium ist das Wort Jesu im Zusammenhang mit dem Abendmahl überliefert: „Er aber sprach zu ihnen: Die Könige herrschen über ihre Völker, und ihre Machthaber lassen sich Wohltäter nennen. Ihr aber nicht so! Sondern der Größte unter Euch soll sein wie der Jüngste, und
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Für die Auslegung der Fußwaschungserzählung im Johannesevangelium ist das genaue Profil dieser Zeichenhandlung von Interesse. Die johanneische Darstellung unterstreicht das Paradox. Die hoheitliche Rolle Jesu wird nachdrücklich betont und gleichzeitig durch seine konkrete Tat im Sinne der zeitgenössisch-kulturellen Plausibilität unterlaufen mit dem Ziel, die hoheitliche Rolle Jesu – in der Weise des Kontrastes zu kulturellen Plausibilitäten – neu zu bestimmen: Als Herr und Lehrer erweist Jesus sich gerade in der Fußwaschung, die als Sinnbild die erlösende Lebenshingabe Jesu veranschaulicht. Zum besseren Verständnis der Fußwaschung Jesu soll im Folgenden eine neue Interpretationskategorie zur Anwendung kommen: Bietet sich der Gedanke der „paradoxen Intervention“ als ein Hilfsinstrument an für das Verständnis der Fußwaschung Jesu? Der Begriff „paradoxe Intervention“ stammt aus der modernen systemischen Therapie. Eine paradoxe Intervention zielt darauf, eine paradoxe Kommunikation aufzulösen bzw. die Lösung von festen Mustern zu ermöglichen. Manchmal nennt man sie auch Symptomverschreibung, bei der das nicht erwünschte Verhalten gefördert wird, teils bis zur Übertreibung. Im engeren therapeutischen Kontext zielt die paradoxe Intervention z.B. darauf, persönliche Gefühls-, Verhaltens- und Reaktionsmuster zu erkennen und durch die Bewusstwerdung zu heilen.
der Vornehmste wie ein Diener (ὡς ὁ διακονῶν). Denn wer ist größer: der zu Tisch sitzt oder der dient (ὁ διακονῶν)? Ist’s nicht der, der zu Tisch sitzt? Ich aber bin unter euch wie ein Diener (ὁ διακονῶν)“ (Lk 22,25-27). Der Evangelist Lukas überliefert hier Jesusworte zum Tischdienst Jesu: Jesus stellt sich als Tischdiener vor – auch wenn die Fußwaschung nicht genannt wird. Der Tischdienst Jesu hat die gleiche Provokationskraft: ‚Größe‘ und ‚Vornehmheit‘ werden dekonstruiert und neu bestimmt. Gleichzeitig verbindet Lukas Jesu Tischdienst mit der Herrscherkritik Jesu (vgl. Mk 10,35-45). Die markinische Parallele zu Lk 22,25 in Mk 10,42 („Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an“) verstärkt noch die Kritik Jesu am zeitgenössischen System der Macht.
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Bei den Zeichenhandlungen Jesu geht es jedoch nicht um die übertriebene Veranschaulichung eines problematischen Verhaltens bzw. internalisierten Reaktionsmusters, sondern im Gegenteil um die veranschaulichende und verstärkende In-Szenierung der Botschaft und Sendung Jesu, die geprägte Verhaltens- und Denkmuster unterläuft und dekonstruiert. Dennoch kann von dem Gedanken der „paradoxen Intervention“ Licht auf die Fußwaschungserzählung fallen. Drei Beobachtungen sollen hier hervorgehoben werden. (1) Eine paradoxe Intervention lebt – wie die Fußwaschung Jesu – von der Konkretion, Anschaulichkeit und Nachvollziehbarkeit. (2) Die paradoxe Intervention – wie die Fußwaschung Jesu – bricht mit einem Muster, mit einer allgemeinen oder gruppeninternen Kultur bzw. Plausibilität um eines Zieles willen. (3) Die paradoxe Intervention – wie die Fußwaschung Jesu – provoziert, irritiert, fordert heraus. Sie weist über sich hinaus, sie will gedeutet und verstanden werden. In Anwendung auf die Fußwaschung Jesu heißt das: Jesus erweist sich in der Fußwaschung in neuer Weise als „Lehrer“ und „Herr“. Beim letzten Mahl mit seinen Jüngern vor seinem Tod und den eigenen Tod vor Augen durchbricht Jesus die verinnerlichten kulturellen Spielregeln seiner Zeit. Die banale Fußwaschung vor Beginn der Mahlzeit wird durch sein paradoxes Handeln zu einer Provokation, die die Jünger Jesu – die in der Erzählung anwesenden Jünger Jesu ebenso wie die Hörer und Leser des Johannesevangeliums zu allen Zeiten – massiv herausfordert: Was geschieht hier? Warum handelt Jesus so? Die Fußwaschung Jesu löst einen Such- und Verstehensprozess aus, der sich in dem Dialog zwischen Jesus und Petrus (VV. 6-11) und in der anschließenden Ansprache Jesu (VV. 12-17) niederschlägt. Wie der Evangelist Johannes die Fußwaschung Jesu verstanden wissen will, zeigt er zudem in der Komposition des 13. Kapitels (vgl. bes. 13,1) und in der Gesamtkomposition seines Evange-
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liums. Mit und in der Fußwaschung deutet Jesus selbst seinen Weg in den Tod als Anteilgabe an ihm, an seinem Leben, an seiner Lebensgemeinschaft mit dem Vater. 6. Die johanneische Interpretation In der exegetischen Fachdiskussion gibt es einen deutlichen Trend, die zwei Deutungen der Fußwaschung Jesu, die christologisch-soteriologische (VV. 6-11) und die ethische (VV. 12-17) zu trennen bzw. sie gegenüberzustellen. Beide stünden in einer inhaltlichen und literarkritisch zu separierenden Spannung zueinander.28 Der Wortlaut des Textes selbst liefert dazu keine überzeugenden Anhaltspunkte. Im Gegenteil: Die Komposition des Kapitels 13 und das in dieser Komposition erkennbare Interesse bzw. die Leserführung des Evangelisten sind erzählerisch und theologisch kohärent.29 Im Folgenden werden fünf zentrale Anliegen des Evangelisten in Joh 13,1-30 hervorgehoben. 6.1 Deutung der Sendung Jesu Das „Beispiel“, das Jesus in der Fußwaschung gibt, ist eine In-Szenierung seiner paradox erscheinenden Sendung: Jesus unterläuft die kulturelle Plausibilität und den Status Quo der griechisch-römischen Standesgesellschaft. 28
So u.a. Schnackenburg, Johannesevangelium (Anm. 5), 7; M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium, HBS 34, Freiburg 2002, 130–138; H. Thyen, Johannes 13 und die „Kirchliche Redaktion“ des vierten Evangeliums, in: ders., Studien zum Corpus Johanneum (Anm. 11), 29–41. (Selbst-)Kritisch dazu ders., Joh 13,1ff als Objekt literarkritischer Analysen, in: ders., Studien zum Corpus Johanneum (Anm. 11), 591–594. 29 Zur johanneischen Ethik vgl. u.a. J. Frey, Love Relations in the Fourth Gospel. Establishing a Semantic Network, in: ders., Herrlichkeit (Anm. 1), 739–765; J. G. van der Watt, R. Zimmermann (Hg.), Rethinking the Ethics of John. „Implicit Ethics“ in the Johannine Writings, WUNT 291, Tübingen 2012; V. Rabens, Johannine Perspectives on Ethical Enabling in the Context of Stoic and Philonic Ethics, a.a.O., 114–139.
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Sein Dienst stellt die gewohnte Rollenzuweisung ‚auf den Kopf‘. Sein Dienst hat zugleich eine erheblich größere Reichweite als alle anderen üblichen sozialen Dienstleistungen. Seine Sendung zielt auf die Rettung des Menschen, auf die Gemeinschaft mit ihm und durch die Gemeinschaft mit ihm auf die ewige, unzerstörbare Gemeinschaft mit seinem Vater. 6.2 Deutung des Todes Jesu Ausweislich der Gesamtkomposition des Johannesevangeliums und der Überschrift in 13,1 geht es dem Evangelisten im gesamten zweiten Hauptteil um die existenzielle Bewältigung und die theologische Deutung des Todes und der Auferstehung Jesu.30 Das letzte Mahl Jesu mit „den Seinen“ (13,1) und hier besonders die Fußwaschung Jesu bildet dazu den Auftakt, das Präludium im engsten Kreis der Jünger – aus dem Judas noch ausscheidet: Sein von Jesus vorhergesagter Verrat führt zum Weggang aus dem Jüngerkreis in die „Nacht“ (13,30). Jesus erweist sich angesichts des bevorstehenden Todes genauso souverän und hoheitsvoll wie in der gesamten Zeit seines öffentlichen Wirkens im Johannesevangelium. Freilich ist der drohende Tod Jesu insbesondere aus der Jüngerperspektive eine erhebliche Infragestellung der Botschaft Jesu und des Boten selbst. Wie kann es sein, dass Gottes Sohn von menschlichem Kalkül und menschlicher Willkür in den Tod gegeben wird? Widerspricht der von Menschen gemachte Tod Jesu nicht seiner Botschaft und Sendung? Welchen Sinn hat der Tod Jesu? Wie geht es nach dem Tod Jesu weiter? Diese Fragen beantwortet der Evangelist konzentriert im zweiten Hauptteil seines Evangeliums, so sehr deutliche 30 Vgl. weiterführend T. Söding, Kreuzerhöhung. Zur Deutung des Todes Jesu nach Johannes, ZThK 103, 2006; 2–25; J. Frey, Die „theologia crucifixi“ des Johannesevangeliums, in: ders., Herrlichkeit (Anm. 1), 485–554; vgl. ders., Edler Tod – wirksamer Tod – stellvertretender Tod – heilschaffender Tod. Zur narrativen und theologischen Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium, a.a.O., 555–584.
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Spuren schon im ersten Hauptteil gelegt werden. Der zweite Hauptteil des Evangeliums wird geprägt von den Abschiedsreden, die von Abschied (der Name sagt es bereits) und zugleich von neuer Gegenwart Jesu handeln,31 von dem Prozess gegen Jesus, in dem Jesus sich in ironischer Rollenverkehrung als der wahre Richter erweist,32 und von den Osterbegegnungen, in denen der Auferstandene die Gemeinschaft mit den Jüngern erneuert und sie sendet. In der Fußwaschungserzählung interpretiert der Evangelist den Tod Jesu nicht als Scheitern der Sendung Jesu, sondern als Aufgipfelung seines Lebensdienstes aus Liebe (vgl. 13,1). Die Fußwaschung setzt das Paradox der Hoheit Jesu im niedrigen Dienst in Szene. Hoheit und Niedrigkeit Jesu spiegeln sich in seinem ganzen Leben in der johanneischen Darstellung. Dieses Paradox liegt in der Linie der im Prolog hymnisch besungenen Inkarnation des Weltenschöpfers, des Logos, in menschliches Fleisch (vgl. 1,14) und wird im Prozess Jesu weiter ausgeführt. 6.3 Deutung des Abendmahles Der zweite Hauptteil wird präludiert von dem letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern. Es ist bekannt, dass Johannes hier nicht das letzte Mahl mit den Einsetzungsgesten und -worten erzählt, sondern die Fußwaschung.33 Die Fußwaschung tritt an die Stelle, an der die synoptischen Evangelien das letzte Mahl Jesu berichten34 – nicht, weil Johannes das letzte Mahl nicht kannte oder es ablehnte (vgl. die Brotrede in Joh 6), sondern weil er mit der Fußwaschung Jesu das in der Gemeinde gefeierte Abendmahl Jesu interpretiert und der „feiernden Gemeinde eine Lehre erteilen 31 Vgl. K. Scholtissek, Abschied und neue Gegenwart. Exegetische und theologische Reflexionen zur johanneischen Abschiedsrede Joh 13,3117,26, EThL 75, 1999, 332–358. 32 Vgl. K. Scholtissek, Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium, ZNW 89, 1998, 235–255. 33 Vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium (Anm. 5), 38–53. 34 Zum Problem und zu Deutungsmöglichkeiten vgl. a.a.O., 48–53.
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(wollte), etwa in der gleichen Richtung wie Paulus: ‚So oft ihr dieses Brot eßt und den Kelch trinkt, verkündet ihr den Tod des Herrn‘ (1 Kor 11,26), johanneisch gesprochen: die äußerste Liebe Jesu, der sich in den Tod gab, um euch Anteil an seinem Leben zu schenken (vgl. das Wort an Petrus 13,8b).“35 So interpretiert der Evangelist in der Fußwaschungserzählung das in der Gemeinde gefeierte Abendmahl als Teilgabe Jesu an seiner erlösenden Lebenshingabe und als Anteilhabe an ihm. 6.4 Verpflichtung auf einen Liebesdienst nach dem Vorbild Jesu Der in der Lebenshingabe gipfelnde Lebensweg Jesu und die Feier der Teilhabe an ihm als Frucht seiner Lebenshingabe verpflichten die Jünger Jesu, „seine Freunde“ (vgl. Joh 15,12-17): Sie werden verpflichtet auf einen innergemeindlichen Liebesdienst, der sich am Maßstab Jesu orientiert (13,15-17; vgl. 13,1.34-35; 15,12-14). Dazu ist die Fußwaschung ein anschauliches und zugleich normierendes „Beispiel“.36 Das treibende Motiv für die Verhaltensaufforderung und Verpflichtung der Freunde Jesu ist die Liebe (13,1) in der konkreten Auslegung Jesu (13,2-17): Anders als bei Jesus trifft auf die Freunde Jesu in der Aufforderung Jesu, nach seinem „Beispiel“ zu handeln, primär nicht die Paradoxie von Hoheit und Niedrigkeit zu. Gleichwohl sollen auch sie mit einer kulturellen Plausibilität brechen: eine wiederholte und wechselseitige Verpflichtung zur Fußwaschung Vgl. a.a.O., 52; vgl. ebd: „Damit wird die Fußwaschung nicht zu einem Symbol für die Eucharistie, aber in ihrem auf den Tod Jesu verweisenden Symbolgehalt zu einer Verständnishilfe für die Teilnehmer am eucharistischen Mahl.“ 36 Das griechische Wort in V. 15: ὑπόδειγμα ist ein johanneisches Hapaxlegommenon. In der griechischsprachigen Literatur begegnet ὑπόδειγμα im Sinne des nachzueifernden ethischen Vorbilds (beispielsweise Josephus, Bellum Judaicum 1.374: „… das könnt ihr am eigenen Beispiel lernen …“; Polybios 15.20.5: „… um durch das Exempel [ὑπόδειγμα], das sie mit aufstellte, der Nachwelt eine eindrückliche Warnung zu erteilen, sich eines Besseren zu belehren“). 35
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ist der griechisch-römischen Kultur zutiefst fremd. Diese Wiederholungen und Wechselseitigkeit einschließende Inpflichtnahme der Freunde Jesu ist eine bleibende Provokation ad intra, für die Jünger Jesu selbst (die, die die Füße anderer waschen, und die, die die Füße gewaschen bekommen), als auch ad extra, für die Außenstehenden, die durch dieses Verhalten nach dem „Beispiel“ Jesu erheblich angefragt werden. Die johanneische Verpflichtung auf die gegenseitige Liebe ist zunächst eine innergemeindliche Verpflichtung. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass diese innergemeindlich praktizierte Liebe auf die Menschen zielt, die diese Liebe „sehen“ (13,35; vgl. 17,20-23). An der Liebe der Freunde Jesu untereinander soll die Welt erkennen, wie sehr sie selbst geliebt ist. Die Universalität der Liebe Gottes in seinem Sohn (vgl. 3,16!)37 wird durch das johanneische Modell nicht aufgehoben oder eingegrenzt, sondern an konkrete Subjekte gebunden – an jeden einzelnen Christen in der Gemeinde Jesu. Die Inpflichtnahme der Freunde Jesu wird in 13,16 mit einer feierlich eingeleiteten Doppelregel begründet: Amen, amen, ich sage euch: Der Knecht (δοῦλος) ist nicht größer als sein Herr (κύριος), noch ist der Gesandte größer als der Ihn Sendende.
Jesus betont hier erneut sein Herr-Sein und das entsprechende Knecht-Sein der Jünger Jesu. Das ist eine vor- wie nachösterliche Konstante. Ihr folgend gilt die Verpflichtung auf den Kyrios und seinen Willen. Verstärkt wird dieser Anspruch Jesu durch das grundlegende Sendungsprinzip bzw. -recht. Wie bei Jesus als dem Gesandten des Vaters gilt auch für die Gesandten Jesu. Sie folgen dem Auftrag des Sendenden rückhaltlos. Dem Tun des Willens Vgl. weiterführend T. Söding, „Er ist der Retter der Welt“ (Joh 4,42). Die Heilsuniversalität Jesu nach Johannes, in: Mittler und Befreier. Die christologische Dimension der Theologie (FS G. L. Müller), hg. v. C. Schaller, M. Schulz, R. Voderholzer, Freiburg i. Br. 2008, 219–232.
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des Sendenden verspricht Jesus zudem die Seligkeit: „Wenn ihr dieses wisst, selig seid ihr, wenn ihr dieses tut“ (13,17). 6.5 Aufnahme in die Gemeinschaft der Freunde Jesu, in die Gemeinschaft mit Jesus und mit seinem Vater In der johanneischen Fußwaschungserzählung begegnen den Lesenden und Hörenden ekklesiologische Grundaussagen:38 Dazu gehören die oben genannte Deutung der Feier des Abendmahls in der Gemeinde als gemeinsame Teilhabe am erlösenden Lebensdienst Jesu und die Verpflichtung auf den gegenseitigen Liebesdienst nach dem Vorbild Jesu. Zur Ekklesiologie der johanneischen Fußwaschungserzählung gehört noch eine weitere zentrale Aussage: der Verrat des Judas als Gegenbild eines Jüngers Jesu: Amen, Amen, ich sage euch: Wer aufnimmt, wen (immer) ich senden werde, nimmt mich auf, wer aber mich aufnimmt, nimmt den auf, der mich gesandt hat. (13,20)39
Die beiden dominierenden Verben sind „senden“ (πέμπω) und „aufnehmen“ (παραλαμβάνω): Eine gründliche Übersicht über den vollständigen Gebrauch des Wortes παραλαμβάνω im Johannesevangelium erweist dieses Verb als eine zentrale ekklesiologische Vokabel des Evangelisten:40
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Vgl. hierzu auch M. L. Coloe, God Dwells with us. Temple Symbolism in the Fourth Gospel, Minneapolis 2001; dies., Welcome into the Household of God. The Footwashing in John 13, CBQ 66, 2004, 400– 415; dies., Sources in the Shadows. John 13 and the Johannine Community, in: F. Lozada Jr., Tom Thatcher (Hg.), New Currents Through John. A Global Perspective, SBLRBS 54, Atlanta 2006, 69–82. 39 Vgl. Mt 10,40. 40 Vgl. weiterführend K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg 2000; B. Repschinski, Freundschaft mit Jesus. Joh 15,12-17, in: Im Geist und in der Wahrheit. Studien zum Johannesevangelium und zur
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Er kam in sein Eigenes (εἰς τὰ ἴδια) und die Seinen (οἵ ἴδιοι) nahmen ihn nicht auf. (οὐ παρέλαβον) (1,11) ... und von jener Stunde an nahm sie der Jünger in sein Eigenes (εἰς τὰ ἴδια) auf. (19,27)
Der Evangelist Johannes definiert die „Aufnahme“ durch die Seinen geradezu als das Sinnziel der Sendung Jesu. Dort, wo er „aufgenommen wird“, entsteht die Gemeinschaft der Freunde Jesu bzw. der Kinder Gottes. Seine Aufnahme bewirkt die Gemeinschaft mit ihm und mit seinem Vater. Die Verse 13,16 und 13,20 sind zusammen zu sehen: „Zwischen den beiden Logien besteht eine Dialektik: Der Abgesandte ist nicht größer als der ihn Sendende, und doch partizipiert er auch an dessen Hoheit und Würde.“41 Auf seine Jünger bezogen heißt dies: sie haben Gemeinschaft mit Jesus und über ihn mit dem Vater, sie haben Teil an seiner vollmächtigen Sendung – sie haben Teil an der Hoheit Jesu aufgrund der von Jesu Sendung eröffneten und ermöglichten Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn. 7. Diakonie als gegenkulturelle Praxis – eine Zusammenfassung 7.1 Die Diakonie Jesu Auch wenn die Wortfamilie διακονέω κτλ. im Johannesevangelium nur selten vorkommt (vgl. 12,26), die Sendung Jesu lässt sich als Diakonie verstehen. Ausweislich der Fußwaschungserzählung dient Jesu Botschaft sowie sein gesamtes Leben einschließlich seines Sterbens den Menschen, denen, die ihn „aufnehmen“. Durch seinen Lebensdienst begründet und ermöglicht Jesus Gemeinde, die Gemeinschaft der Freunde Jesu und der Kinder Gottes. Offenbarung des Johannes sowie weitere Beiträge (FS M. Hasitschka), hg. v. K. Huber, B. Repschinski, NTA 52, Münster 2008, 155–167. 41 Schnackenburg, Johannesevangelium (Anm. 5), 32.
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Ohne diesen konkreten Dienst Jesu gibt es keine Gemeinde Jesu. Sie erwächst geradezu aus dem Lebensdienst Jesu, der in der Lebenshingabe gipfelt. Am Kreuz, unter dem Kreuz vollzieht sich ein idealtypischer gemeindegründender Akt. Jesus verweist, sendet seine Mutter zu dem Lieblingsjünger. Dieser „nimmt“ Maria „in sein Eigen auf“. Durch die Inpflichtnahme des Lieblingsjüngers erfüllt sich die Evangeliumsregel aus 13,20. Am Kreuz werfen die Lesenden und Hörenden des Johannesevangeliums einen Blick auf die Urzelle der christlichen Gemeinde. Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu ist eine anschauliche In-Szenierung der Diakonie Jesu. Er durchbricht provokativ-zeichenhaft kulturelle Normen und Muster seiner Umwelt. Jesus entzieht sich selbst den bekannten sozialen Hierarchien mit den ihnen eigenen und sie dokumentierenden sozialen Dienstleistungen und stellt sie in der Fußwaschung in paradoxer Zuspitzung auf den Kopf. Mit dieser Zeichenhandlung deutet Jesus seinen Weg und das Ziel seiner Sendung. Er dient, um erlöstes Leben zu ermöglichen. Er dient auch und gerade in seinem Sterben, um Menschen durch seinen Dienst in die endgültige Gemeinschaft mit ihm und seinem Vater zu führen. Der Lebens-Dienst Jesu – und nur er – befreit aus der Verlorenheit des Menschen an „die Nacht“ (um die johanneische Metaphorik42 aufzugreifen; vgl. 13,30). 7.2 Die Diakonie Jesu verstehen Die Absicht des Evangelisten, seine Leserführung und Leserlenkung, zielt insgesamt darauf, die Lesenden und Hörenden mit dem Weg Jesu, seinem Leben, Sterben und Auferstehen vertraut zu machen. Dabei richtet sich der Evangelist zunächst an die Christen selbst. Sie sollen noch 42
Vgl. hierzu grundlegend O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften, HBS 5, Freiburg 1995; J. Frey, Das Bild als Wirkungspotential. Ein rezeptionsästhetischer Versuch zur Funktion der Brot-Metapher in Johannes 6, in: ders., Herrlichkeit (Anm. 1), 381–407.
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tiefer in den Glauben hineinwachsen, sie sollen über vordergründige, vorläufige Deutungen zur Mitte der Sendung Jesu vorstoßen, ihn ‚verstehen‘. Indem der Evangelist seinen Christen vertiefend das Leben Jesu vor Augen führt, will er sie stärken, sie tiefer in der Gemeinde der Freunde Jesu verankern und sie ermächtigen, ihren Auftrag (vgl. 13,15: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben ...“) zu leben. Dazu gilt es, das Leben und Sterben Jesu, seinen LebensDienst, besser „zu verstehen“, alles Vordergründige hin zur Mitte der Sendung Jesu zu überschreiten. Am Beispiel der Fußwaschungserzählung wird den Lesenden und Hörenden aller Zeiten dieser Verstehensprozess vor Augen geführt. Am Beispiel des Petrus werden mögliche Missverständnisse der Lesenden und Hörenden aufgedeckt und überwunden. Der Weg des Judas veranschaulicht ein (freilich genauer zu betrachtendes) Nichtverstehen bzw. Missverstehen der Sendung Jesu. 7.3 Die neue Diakonie der Christen Der die Füße seiner Jünger waschende Jesus verpflichtet „die Seinen“ auf seine eigene Praxis. Seinem „Beispiel“ folgend sollen sie einander die Füße waschen (13,14-15). Der Logik und der konkreten Gestalt seines Dienstes folgend, werden die Jünger darauf verpflichtet, sich gegenseitig zu dienen. Nur so entsprechen sie dem erlösenden Dienst Jesu. Diesem Auftrag korrespondiert auch das einzige Jesuswort im Johannesevangelium, in dem die Wortfamilie διακονέω κτλ. vorkommt: „Wenn jemand mir dienen will, dann folge er mir nach, und wo ich bin, dort wird auch mein Diener sein. Wenn jemand mir dient, wird er den Vater ehren“ (12,26). Ziel des Dienstes der Jünger Jesu ist es, wie Jesus den Vater zu ehren, von ihm beauftragt und gesandt, dem Vater alle Ehre zu geben. Es gibt drei Kennzeichen der neuen Diakonie der Christen in der Lesart des Johannesevangeliums: reframing, innergemeindliche Diakonie und missionarische Diakonie.
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(a) Reframing Die Verpflichtung der Freunde Jesu auf den Lebensdienst Jesu beinhaltet das gesamte Wirken und die gesamte Verkündigung Jesu. In der Fußwaschung Jesu lenkt der Evangelist den Blick der Lesenden und Hörenden auf eine konkrete Praxis, eine soziale Dienstleistung, ein alltägliches Ritual. Dieses Ritual wird neu gedeutet. Hier setzt ein reframing ein – eine Neubestimmung des normativen Rahmens. Kulturell festgeschriebene Rollen werden in Frage gestellt, durchbrochen und überholt bzw. in einen neuen Sinnhorizont gestellt. In der Gemeinde Jesu gelten im Unterschied zur sozialen Umwelt neue diakonische Regeln. Galt in der Umwelt der frühen Christen die Fußwaschung als eine soziale Dienstleistung, die eine bestimmte soziale Hierarchie dokumentiert und verstetigt, so wird die Fußwaschung durch das „Beispiel“ Jesu zum Ausdruck einer neuen Diakonie. Fußwaschung nicht mehr als Ausdruck einer Gesellschaft, die von sozialer Unter- und Überordnung bestimmt wird, sondern als Zeichen einer Gemeinschaft, die sich wechselseitig dient: in den konkreten, notwendigen Alltagsvollzügen und in der unabschließbaren Aufgabe, den Lebensdienst Jesu in seiner ganzen Reichweite für sich selbst und für andere zu erschließen. (b) Innergemeindliche Diakonie und Vertiefung des Glaubens Im Sinne des Johannesevangeliums hat die christliche Gemeinde die Aufgabe, sich untereinander zu dienen. Das kann und muss in den scheinbar banalsten helfenden Lebenssituationen konkret werden: Maßstab für innergemeindliche Diakonie ist das normierende „Beispiel“ Jesu – nicht die jeweils gültigen Standes- oder Verhaltensregeln der zeitgenössischen Umwelt. Diese innergemeindliche Diakonie kann nicht von der Verkündigung des Evangeliums getrennt und gegebenenfalls an Dritte delegiert werden. Im Gegenteil: Die innergemeindliche Diakonie
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ist integraler Bestandteil der Verkündigung des Evangeliums. Worte ohne kongruente Taten gab es im Leben Jesu nicht, sie darf es auch nicht in der Gemeinde Jesu geben. Positiv formuliert: innergemeindliche Diakonie verfügt über ein nicht zu unterschätzendes Gemeinschafts- und Erschließungspotential. Innergemeindliche Diakonie verbindet Menschen miteinander, verstärkt ihre Einbindung in die Gemeinde Jesu und hilft bei der Erschließung des Evangeliums Jesu Christi. Wie bei der Fußwaschung Jesu werden Fragen wach, deren Antworten Christen schrittweise und je neu voneinander lernen können: Die Frage des Petrus „Herr, Du willst mir die Füße waschen?“ und die Frage Jesu: „Versteht ihr, was ich euch getan habe?“ bleiben virulent, werden je neu gestellt und rufen zur Vertiefung des Glaubens und einer persönlichen Antwort. (c) Missionarische Diakonie Die neue Diakonie der Christen, die sich nicht an den kulturellen und sozialen Standards ihrer Umwelt orientiert, sondern am „Beispiel“ Jesu, hat eine starke Außenwirkung. Die gelebte Infragestellung und Neubestimmung des sozialen Zusammenlebens in der christlichen Gemeinde wird wahrgenommen und entfaltet die ihr innewohnende Provokation. Jede religiöse Überhöhung der staatlichen Ordnung (s. den zeitgenössischen römischen Kaiserkult), jede Gestalt einer auf Privilegien bzw. einer auf sozialer Herkunft beruhenden oder auf gewaltsam herbeigeführten Standesunterschieden beruhenden Sozialordnung wird von der Gemeinde Jesu zutiefst in Frage gestellt und delegitimiert. In der Gemeinschaft der Jünge rinnen und Jünger Jesu gelten andere soziale Regeln – Urgrund der kontrastiven Ethik Jesu und der ihm Nachfolgenden ist nicht der Kontrast um des Kontrastes, sondern um seiner Botschaft willen, die nur so von Menschen gehört, gelebt und verstanden werden kann. Es geht um die Identität und Strahlkraft des Evangeliums selbst. Die in der Sendung Jesu den „Seinen“ erwiesene Liebe, die in den Tod geht und ihn überwindet, gilt der
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ganzen Welt, dem Kosmos: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“ (3,16). Die Liebe Gottes zu seiner Schöpfung, zu dem vom Logos ins Leben gerufenen Kosmos (vgl. 1,1-3), will alle Menschen erreichen.43 Die von Jesus gerufene, an ihn glaubende und von ihm gesandte Gemeinschaft der Kinder Gottes ist der konkrete Ort, in dem diese universale Liebe Gottes gelebt und veranschaulicht wird und ausstrahlt. So verkündigt sie die Botschaft Jesu an alle anderen Menschen, die am Beispiel der sich dienenden Christen ablesen können, wie sehr sie selbst geliebt sind: Joh 17,20-23 spricht von der innigen Einheit der Christen und ihrem Zweck: „… damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast … und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst“ (Joh 17,20-23).
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Das Johannesevangelium kennt keine Prädestinationslehre; vgl. Frey, Herrlichkeit (Anm. 1), 230–231.460–467.480.
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2 Kor 5,14-21 – ein Kleinod paulinischer Theologie 1. Hinführung Der zweite Korintherbrief ist ein anspruchsvoller und herausfordernder Paulusbrief: Das schlägt sich in der kontroversen Forschungsgeschichte und in dem gegenwärtigen Forschungsdiskursen nieder.1 Zu den Kontroversen mit Klassikerstatus gehören seit vielen Jahrzehnten insbesondere:
1
Zur Auslegung von 2 Kor vgl. u.a. R. Bieringer, J. Lambrecht (Hg.), Studies on 2 Corinthians, BETHL 112, Leuven 1994; R. Bieringer (Hg.), The Corinthian Correspondence, BETHL 125, Leuven 1996; C. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Leipzig 32017; T. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther, EKK VIII/1-2, Neukirchen-Vluyn, Ostfildern 2010, 2015; W. Klaiber, Der zweite Korintherbrief, Die Botschaft des Neuen Testaments, Göttingen 2012; Der zweite Korintherbrief. Literarische Gestalt – historische Situation – theologische Argumentation (FS D.-A. Koch), hg. v. D. Sänger, Göttingen 2012; R. Bieringer, M. S. Ibita, D. A. Kurek-Chomycz, T. A. Vollmer (Hg.), Theologizing in the Corinthian Conflict. Studies in the Exegesis and Theology of 2 Corinthians, Biblical Tools and Studies 16, Leuven 2013; T. Schmeller, Kreuz und Kraft II. Untersuchungen zu Paulus, SBAB 66, Stuttgart 2018.
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− die Diskussionen um die literarische Einheitlichkeit des 2 Kor2 und damit verbunden die Einschätzung der klassischen Einleitungsfragen,3
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Im Blick auf die literarische Integrität wurden bis zu sechs oder sieben Teile des 2 Kor als ursprünglich selbständige Briefe angesehen, die in 2 Kor zu einer Briefkompilation zusammengeführt worden seien. U. Schnelle votiert für eine (relative) Einheit des 2 Kor „unter der Voraussetzung einer veränderten Gemeindesituation zwischen 2 Kor 1-9 und 2 Kor 10-13“ (Einleitung in das Neue Testament, UTB 1830, Göttingen 92017, 109). Neuere Forschungsbeiträge gehen zunehmend von der Einheitlichkeit des 2 Kor aus; vgl. hierzu die Forschungsbeiträge von R. Bieringer, Teilungshypothesen zum 2. Korintherbrief, in: ders., Lambrecht, Studies on 2 Corinthians (Anm. 1), 67–105; ders., Der 2. Korintherbrief als ursprüngliche Einheit. Ein Forschungsüberblick, a.a.O., 107–130; ders., Plädoyer für die Einheitlichkeit des 2. Korintherbriefes. Literarkritische und inhaltliche Argumente, a.a.O., 107– 130; vgl. hierzu den Überblick bei Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 19–40; J. D. H. Amador, Revisiting 2 Corinthians. Rhetoric and the Case for Unity, NTS 46, 2000, 92–111; vgl. auch die Beiträge im Themenheft zu 2 Kor: ZNT 38/19, 2016, 1–68 (P. Arzt-Grabner, Dokumentarische Papyri und 2. Korintherbrief, a.a.O., 3–12; I. Vegge, Der Zweite Korintherbrief – ein Brief über Versöhnung. Eine psychagogische, epistolographische und rhetorische Analyse, a.a.O., 13–26: hier: Paulus verfolgt in allen Briefteilen mit einem breiten Spektrum unterschiedlicher Stilmittel ein und dasselbe Ziel: „Die volle Aussöhnung zwischen den Korinthern und Paulus als ihrem legitimen Apostel Christi. Der 2. Korintherbrief ist deshalb ein einheitlicher Brief über Versöhnung.“; R. Bieringer, Verluste und Gewinne. Hermeneutische Überlegungen zu den Teilungshypothesen zum 2. Korintherbrief, a.a.O., 44–48; für Briefteilung plädiert erneut L. Aejmelaeus, Der 2. Korintherbrief als Drama von Streit und Versöhnung. Ein Plädoyer für die Briefteilung, a.a.O., 49–54) Vgl. auch: M. Vogel, Versöhnung und Streit. Notizen zur Literarkritik des 2. Korintherbriefes in der neueren Forschung, in: Spurensuche zur Einleitung in das Neue Testament (FS U. Schnelle), hg. v. M. Labahn, Göttingen 2017, 87–107. 3 Vgl. einführend den Überblick bei Schnelle, Einleitung (Anm. 2), 95– 115. Er hält fest: Die Echtheit der Verfasserangabe wird heute nicht mehr infrage gestellt. Der 2 Kor wurde wahrscheinlich im Spätherbst 55 n. Chr. in Makedonien geschrieben. Empfänger ist die von Paulus gegründete Gemeinde in Korinth sowie „alle Heiligen in ganz Achaia“ (2 Kor 1,1; 9,2; 11,10). Mit dem 2 Kor reagiert Paulus auf von außen in die Gemeinde eingedrungene Irrlehrer (2 Kor 11,4; vgl. 2,6.8; 10,1f.7.10.12; 11,4f12f.18.20.22f.). Vgl. auch R. Bieringer, Zwischen
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− die komplexe Frage nach den Gegnern des Paulus4 und ggfs. ihrer religionsgeschichtlichen Verortung5 sowie die Frage nach dem „Unrechtstäter“ (vgl. 2 Kor 2,5-11; 7,12),6 − die Frage nach der Israeltheologie in 2 Kor7 und − die Frage nach dem paulinischen Selbstverständnis als Apostel Jesu Christi.8 Die Analyse und Interpretation der theologischen Leitaussagen des 2. Korintherbriefes ist eng verbunden und oftmals abhängig von diesen Forschungsfragen. Apologie, Polemik und Theologie des Paulus sind im Brief (einmal Kontinuität und Diskontinuität. Die beiden Korintherbriefe in ihrer Beziehung zueinander nach der neueren Forschung, in: ders., The Corinthian correspondence (Anm. 1), 3–38. 4 Vgl. weiterführend R. Bieringer, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, in: ders., Lambrecht, Studies on 2 Corinthians (Anm. 1), 181–221; T. Schmeller, Der Konflikt in Korinth. Sozialgeschichtliche Überlegungen zu den Gegnern im zweiten Korintherbrief, in: ders., Kreuz und Kraft II. Untersuchungen zu Paulus, SBAB 66, Stuttgart 2018, 196–221; ders., Paulus und seine Gegner im 2. Korintherbrief. Die Inszenierung einer Kontroverse, a.a.O., 222–251; U. Schnelle, Der 2. Korintherbrief und die Mission gegen Paulus, in: Sänger, Der zweite Korintherbrief (Anm. 1), 300–322; V. Rabens, Inclusion of and Demarcation from ‘Outsiders’. Mission and Ethics in Paul’s Second Letter to the Corinthians, in: J. Kok et al. (Hg.), Sensitivity towards Outsiders, WUNT II/364, Tübingen 2014, 290–323; ders., Paul's Rhetoric of Demarcation: Separation from „Unbelievers“ (2 Cor 6:14-7:1) in the Corinthian Conflict, in: Vollmer, Theologizing in the Corinthian Conflict (Anm. 1), 229–254; M. Vogel, Die Gegenspieler des Paulus im 2. Korintherbrief und die Frage nach dem Sachgehalt des in 2 Kor ausgetragenen Konflikts, in: U. Mell u.a. (Hg.) Gegenspieler. Zur Auseinandersetzung mit dem Gegner in frühjüdischer und urchristlicher Literatur, WUNT 428, Tübingen 2019, 83–99. 5 Im Blick auf eine religionsgeschichtliche Einordnung der Gegner des Paulus im 2 Kor gibt es in der Forschung weit divergierende Hypothesen. 6 Vgl. L. L. Welborn, Paulus und der „Unrechttäter“ des 2. Korintherbriefes. Das Ringen um Versöhnung, ZNT 19, 2016, 27–42. 7 Vgl. R. Bieringer, E. Nathan, D. Pollefeyt, P. J. Tomson (Hg.), Second Corinthians in the Perspective of Late Second Temple Judaism, CRINT 14, Leiden 2014. 8 Vgl. u.a. R. Vorholt, Der Dienst der Versöhnung. Studien zur Apostolatstheologie bei Paulus, WMANT 118, Neukirchen-Vluyn 2008.
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mehr) sehr eng ineinander verwoben.9 Die Gefahr von Zirkelschlüsseln ist entsprechend groß. Die folgenden Ausführungen widmen sich schwerpunktmäßig einem zentralen Abschnitt der paulinischen Argumentation im 2. Korintherbrief: den Versen 5,14-21, in denen Paulus über den ihm aufgetragenen „Dienst der Versöhnung (διακονία τῆς καταλλαγῆς)“ spricht. Auch hier stellen sich die Fragen: Wieviel und welche Apologie, wieviel und welche Polemik sowie wieviel und welche Theoogie betreibt Paulus hier? Wie greifen diese ineinander? Ein leitendes Interesse dieser Ausführungen ist die Frage: Wie versteht Paulus die ihm aufgetragene „Diakonie der Versöhnung“ inhaltlich? Welche Konsequenzen ergeben sich für das paulinische Verständnis von diakonia im 2. Korintherbrief? 2. 2 Kor 5,14-21: Paulus im Dienst der Versöhnung In dem übergreifenden Komplex 2 Kor 2,14-7,4 – klassisch: der „Apologie des Paulus“10 – steht die apostolische Existenz des Paulus und die Botschaft, die er verkündet, im Zentrum: Paulus verteidigt und erläutert ausführlich sein eigenes Selbstverständnis, die Legitimität und das Wesen seines Apostolats. Diese Aufgabe geht Paulus an, indem er seinen Auftrag theologisch reflektiert: Von Gottes endzeitlichem Handeln durch Jesus Christus her erhellt und gestaltet sich sein Leben: „Paulus, Apostel Christi Jesu durch den Willen Gottes, und Timotheus, der Bruder, an die Gemeinde Gottes in Korinth …“ (2 Kor 1,1). 9
Zur Strategie des Paulus im gesamten 2 Kor vgl. auch den Überblick von T. Schmeller, Christsein nach dem 2. Korintherbrief, ZNT 19, 2016, 55–65. 10 R. Bultmann überschreibt 2 Kor 2,14-7,4 mit „Das apostolische Amt“ (Der zweite Brief an die Korinther, KEK, Göttingen 1976, 65). Vgl. zur Auslegung auch A. Oliveira, Die Diakonie der Gerechtigkeit und der Versöhnung in der Apologie des 2. Korintherbriefes. Analyse und Auslegung von 2 Kor 2,14-4,6; 5,11-6,10, NTA.NF 21, Münster 1990.
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Thomas Schmeller gliedert 2 Kor 2,14-7,4 (= „Der Dienst des Paulus“) in vier Teile:11 2,14-17 Einleitung und Thema 3,1-5,10 Der herrliche und der verborgene Dienst 5,11-6,10 Der Dienst der Versöhnung (mit den Abschnitten: 5,11-13; 5,14-21;12 6,1-10) 6,11-7,4 Aufforderung zur Versöhnung
2.1 5,14-15: Liebe Christi, stellvertretender Tod Christi, Leben für Christus 14 a Denn die Liebe Christi beherrscht uns, ἡ γὰρ ἀγάπη τοῦ Χριστοῦ συνέχει ἡμᾶς, b da wir zu diesem Urteil gekommen sind: κρίναντας τοῦτο, c Einer ist für alle gestorben, ὅτι εἷς ὑπὲρ πάντων ἀπέθανεν, d also sind alle gestorben. ἄρα οἱ πάντες ἀπέθανον 15 a Und er ist für alle gestorben, καὶ ὑπὲρ πάντων ἀπέθανεν, b damit die Lebenden nicht mehr sich selber leben, sondern für den, der für sie starb und auferweckt wurde. ἵνα οἱ ζῶντες μηκέτι ἑαυτοῖς ζῶσιν ἀλλὰ τῷ ὑπὲρ αὐτῶν ἀποθανόντι καὶ ἐγερθέντι.
Der Vers 14a leitet unseren Textabschnitt markant ein: „Denn die Liebe Christi beherrscht uns …“. Diese Einleitung kann als Überschrift der Verse 5,14-21 verstanden werden. Mit der „Liebe Christi“ gibt Paulus seinen Adressaten einen hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis dieser Perikope an die Hand. Der Genitiv „Christi“ ist als
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Vgl. Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 18f. Zur Begründung dieser Textabgrenzung vgl. Schmeller, 2 Kor (Anm. 1) 318f.; vgl. a.a.O., 320f. den Überblick über die Fülle rhetorischer Stilmittel des Paulus in 5,14-21. 12
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gen. subj. zu verstehen: Paulus betont die Liebe, die ausgehend von Jesus Christus auch ihn selbst „beherrscht“. Paulus schließt die folgenden Ausführungen zum heilvollen Tod Jesu Christi und seinem sich daraus ableitenden apostolischen Selbstverständnis im Leitmotiv der „herrschenden“ Liebe Christi als Basisinterpretament zusammen. In dieser kurzen Aussage betont Paulus die asymmetrische Relation zwischen Christus und ihm, eine Asymmetrie, die durch die wirkmächtige Liebe Christi13 inhaltlich bestimmt wird. Durch die Brille der wirkmächtigen „Liebe Christi“ hindurch erinnert Paulus die korinthischen Adressaten gezielt in Vers 14c an den Tod Jesu Christi, den er zugleich deutet, und an seine eigene Verkündigung des Todes Jesu Christi (vgl. 1 Kor 15,3; Röm 5,8; 1 Thess 5,10):14 Mit der Formel εἷς ὑπὲρ πάντων greift er (a) den Stellvertretungsgedanken auf (ὑπέρ begegnet gleich dreimal in VV 1415) und betont (b) auf diesen konkreten Fall bezogen die universale Reichweite dieser Stellvertretung (ὑπὲρ πάντων). Für den Begriff „Stellvertretung“ gibt es kein quellensprachliches Äquivalent. Für diesen Gedanken – wie für weitere Termini, die zur Deutung des Todes Jesu herangezogen werden (vgl. „Opfer“, „Sühne“, „Erlösung“, „Versöhnung“) gilt: „Was mit den Termini gemeint ist, hängt von der je zugrunde gelegten Definition ab, ist daher in der Forschungsdiskussion meist uneindeutig und jedenfalls vom Bedeutungsumfang spezifischer quellensprachlicher Termini zu unterscheiden.“15
Vgl. zur paulinischen Agape-Theologie einführend T. Söding, „Am größten ist die Liebe“ (1Kor 13,13). Eros und Agape im Alten und im Neuen Testament, in: G. M. Hoff (Hg.), Liebe. Provokationen. Salzburger Hochschulwochen 2008, Innsbruck 2008, 66–103; O. Wischmeyer, „Die Liebe Christi dringet uns …“. 2Kor 15,15f. und die Liebe Christi bei Paulus, in: Sänger, Der zweite Korintherbrief (Anm. 1), 323–336. 14 Vgl. einführend: K. Kertelge, Das Verständnis des Todes Jesu bei Paulus, in: ders., Grundthemen paulinischer Theologie, Freiburg 1991, 62–80. 15 J. Frey, J. Schröter, Einleitung zur zweiten Auflage, in: dies. (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, Tübingen 2012, XI– XXXII, hier: XXII. 13
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Stellvertretung wird hier grundlegend verstanden als: Jesus Christus tritt ersatzweise und heilsam im Sinne eines Platzwechsels an die Stelle eines oder mehrerer anderer Dritter.16 Die drei Aspekte der griechischen Präposition ὑπέρ gehören untrennbar zusammen: das Sterben Jesu ‚wegen‘, ‚anstelle von‘ und ‚zu unseren Gunsten‘.17 Dieser Motivzusammenhang ist von einer kultisch verstandenen Sühne zu unterscheiden. Gleichwohl kann das kultisch verstandene Sühnemotiv kultmetaphorisch zur Deutung des Todes Jesu Anwendung finden (vgl. 2 Kor 5,21; Röm 3,25).18 Mit Jörg Frey kann festgehalten werden: „Im Rahmen eines sinnvollerweise eher weit zu fassenden Stellvertretungsbegriffs ist dann für die je zu behandelnden Einzeltexte zu beschreiben, inwiefern sich in den Aussagen über Jesu Tod Stellvertretung ereignet, als Übernahme von Schuld und Straftod, als Hingabe seiner selbst im Sinne einer ‚Ersatzleistung‘, als heiligende Sühne auf dem Horizont von Kultmetaphorik oder kultischem Denken, als ein coram Deo vollzogener Rollentausch, als Repräsentation, die den Repräsentanten einbezieht und an dem bezeichneten Geschehen partizipieren lässt usw. In dieser Weite kann die Kategorie der ‚Stellvertretung‘ als eine zentrale … Kategorie der Inter-
Bultmann urteilt: „Vielmehr liegt der juristische Stellvertretungsgedanke vor (…): mit der Leistung des Stellvertreters gelten auch die durch ihn Vertretenen als solche, die die Leistung erbracht haben. Durch den Stellvertretungsgedanken macht Paulus klar, dass Jesu Tod das Heilsereignis ist, an dem alle (sc. Gläubigen) teilhaben. Denn sein Grundgedanke als solcher ist nicht der juristische, da den Vertretenen nicht einfach zugute geschrieben wird, was der Vertreter geleistet hat, sondern sie sein Sterben nachvollziehen müssen“ (2 Kor [Anm. 10], 153). 17 Vgl. J. Frey, Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung, in: ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften II, WUNT 368, Tübingen 2016, 225–263; ders., Probleme der Deutung des Todes Jesu, in: ders., Schröter, Deutungen des Todes Jesu (Anm. 15), 24f. Vgl. weiterführend auch R. Bieringer, Traditionsgeschichtlicher Ursprung und theologische Bedeutung der HYPER-Aussagen im Neuen Testament, in: The Four Gospels 1992 I (FS F. Neirynck), hg. v. F. van Segbroeck, BETHL 100, Leuven 1992, 219–248; ders., Dying and Being Raised For. Shifts in the Meaning of HYPER in 2 Cor 5:1415, in: Vollmer, Theologizing in the Corinthian conflict (Anm. 1), 163– 175. 18 Vgl. hierzu B. Janowski, Das Leben für andere hingeben, in: Frey, Schröter, Deutungen des Todes Jesu (Anm. 15), 110–115; T. Söding, Sühne durch Stellvertretung. Zur zentralen Deutung des Todes Jesu im Römerbrief, a.a.O., 375–396. 16
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pretation des Todes Jesu (und vielleicht – davon abgeleitet – auch seiner ganzen Existenz) gelten, sofern man sie für die bei jedem einzelnen Text erforderlichen Präzisierungen offenhält.“19 Maßgeblich für das paulinische Verständnis von ‚Stellvertretung‘ ist der Versuch des Apostels, das Sterben Jesu Christi im Kontext der Sendung Jesu Christi verstehend zu deuten. Dazu greift Paulus auf früheste Traditionen zurück (vgl. nur Phil 2,6-11; 1 Kor 11,22-25; 15,3-8), die Jesu Tod in der Konsequenz seines gesamten Lebensweges bzw. seiner Sendung interpretieren.20 Diese Deutung, der Tod Jesu die Konsequenz einer sein Leben bestimmenden Grundhaltung: der Lebenshingabe, hat Heinz Schürmann in dem treffenden Begriff der Proexistenz zusammengefasst und beschrieben.21 In die vorpaulinischen, paulinischen und weiteren neutestamentlichen Reflexionen über den Tod Jesu fließen jüdische Traditionen22 maßgeblich ein. Die interpretierende Anverwandlung griechischer Motivzusammenhänge ist damit keineswegs ausgeschlossen. Für die Evangelien wie für Paulus ist hier insbesondere die Abendmahlsüberlieferung und für die Evangelien insbesondere Mk 10,45 parr zu berücksichtigen.23 19
Frey, Probleme der Deutung des Todes Jesu (Anm. 17), 25f. Auch für 2 Kor 5,19 wird eine mögliche Rezeption einer ‚Vorlage‘ aus der Tradition diskutiert; positiv hierzu Schnelle, Einleitung (Anm. 2), 114; ablehnend R. Bieringer, 2 Korinther 5,19a und die Versöhnung der Welt, 1987, in: ders.., Studies in 2 Corinthians (Anm. 1), 429–459, hier 445–456; Wolff, 2 Kor (Anm. 1), 118. 21 Vgl. H. Schürmann, Gottes Reich – Jesu Geschick. Jesu ureigener Tod im Licht seiner Basileia-Verkündigung, Freiburg 1983; ders., Jesus – Gestalt und Geheimnis. Gesammelte Beiträge, hg. v. K. Scholtissek, Paderborn 1994. Aufgenommen u.a. von: W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments. Bd. I: Kriterien aufgrund der Rückfrage nach Jesus und des Glaubens an seine Auferweckung, Münster 21996, 93f.110–112.255f.; Janowski, Das Leben für andere hingeben (Anm. 18); K.-W. Niebuhr, Lebenshingabe als Grundimpuls Jesu. Eine Skizze zur Proexistenz als biblischer Grundlage für eine Theologie der Diakonia, in diesem Band 23–51; C. Böttrich, Proexistenz im Leben und Sterben. Jesu Tod bei Lukas, in: Frey, Schröter, Deutungen des Todes Jesu (Anm. 15), 413–436. 22 Zum biblischen Verständnis vgl. B. Janowski, Stellvertretung. Alttestamentliche Studien zu einem theologischen Grundbegriff, SBS 165, Stuttgart 1997; ders., Das Leben für andere hingeben (Anm. 18), 97– 118; J. C. Janowski u.a. (Hg.), Stellvertretung. Theologische, philosophische und kulturelle Aspekte. Band 1, Neukirchen-Vluyn 2006. 23 Vgl. zur Traditionsgeschichte von Mk 10,45 die Ausführungen bei K.-W. Niebuhr, Lebenshingabe als Grundimpuls Jesu (Anm. 21), und 20
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Weiterführend und unverzichtbar ist die Beobachtung, dass die neutestamentlichen Schriften unterschiedliche Termini, Sprachformen, Bilder und Motive verwenden und diese ggfs. auch zur wechselseitigen Interpretation über- und ineinander blenden, um den Tod Jesu zu deuten. Eben dies geschieht auch in 2 Kor 5,14-21 in besonders gedrängter Weise. Es ist bei aller gebotenen Differenzierung und Pluralität der Deutungen wenig zielführend, einzelne Interpretationen des Todes Jesu zu verabsolutieren, zu priorisieren oder gegeneinander auszuspielen. Die vielversprechendere Aufgabe ist es, gerade in der Kombination und Komposition der Termini, Sprachformen, Bilder und Motive die Intentionen der neutestamentlichen Autoren zu rekonstruieren.24 Der entscheidende Impuls für die vielgestaltige Reflexion und Deutung des Todes Jesu liegt im Leben, Sterben und der Auferweckung Jesu selbst. Thomas Schmeller freilich sieht in 5,14 den Gedanken der Stellvertretung nicht angesprochen. Er schlussfolgert: „Es ist deshalb vorzuziehen, ὑπέρ allgemeiner als ‚zugunsten von‘ zu deuten und den Gedanken der Schicksalsgemeinschaft im Hintergrund zu sehen: Das Geschick des einen schließt das aller übrigen Menschen ein.“25 Über den Gedanken der Schicksalsgemeinschaft „kann“26 nach Schmeller eine Verbindung zu Jes 53 oder zur Adam-Christus-Parallele (vgl. 1 Kor 15,45-49) hergestellt werden. Dann aber ist zu fragen, ob nicht gerade für den leidenden Gottesknecht in Jes 53 der Stellvertretungsgedanke konstitutiv ist.
In 5,14d schlussfolgert Paulus auf den ersten Blick überraschend: „also sind alle gestorben“. Paulus leitet aus dem stellvertretenden Sterben Christi das Sterben aller ab. Er betont hier – wie auch sonst in seinen Briefen – die zur markinischen Interpretation die Ausführungen von K. Scholtissek, „Denn der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele“ (Mk 10,45). Die messianische Diakonie Jesu und der Christusgläubigen im Markusevangelium, in diesem Band 91–125. 24 Vgl. weiterführend J. Frey, Die Deutung des Todes Jesu als Stellvertretung. Neutestamentliche Perspektiven, in: Janowski, Stellvertretung (Anm. 22), 87–121; ders., Probleme der Deutung des Todes Jesu in der neutestamentlichen Wissenschaft. Streiflichter zur exegetischen Diskussion, in: ders., Schröter, Deutungen des Todes Jesu (Anm. 15), 3– 50. 25 Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 322. In diesem Sinne auch J. Schröter, Sühne, Stellvertretung und Opfer. Zur Verwendung analytischer Kategorien zur Deutung des Todes Jesu, in: Frey, ders., Deutungen des Todes Jesu (Anm. 15), 56–71, 68f. 26 Schmeller, 2 Kor (Anm 1), 322.
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Schicksalsgemeinschaft zwischen Christus und den Menschen (a) im Sterben (hier auch in einem übertragenen Sinn verstanden) und (b) – das zeigt der Vers 15 – in der Frucht des Sterbens Jesu Christi.27 Diese Schicksalsgemeinschaft ist insbesondere aufgrund des Stellvertretungsgedankens asymmetrisch zu verstehen. Dies erläutert Paulus auch im Vers 15: Der Stellvertretungsgedanke wird in Vers 15a wiederholt (wörtlich aus Vers 14c) und dann in Vers 15b positiv entfaltet: Paulus erinnert hierzu an seine Verkündigung der Auferweckung Jesu Christi (vgl. nur 1 Kor 15): In der leicht variierenden, dritten Wiederholung der Formel (εἷς) ὑπὲρ πάντων ἀπέθανεν in Vers 15b wird als gezielt überschießendes Glied mit der kurzen Erweiterung (καὶ ἐγερθέντι) die Auferstehung Jesu Christi genannt. An der Lebensmacht der Auferstehung Jesu Christi haben die Korinther Anteil, da sie „nicht mehr sich selber leben“ – dies ist für Paulus die Kurzbeschreibung einer von der Todesverfallenheit gezeichneten Existenz –, sondern dem stellvertretend für sie Gestorbenen und Auferstandenen. Das stellvertretende Sterben und Auferstehen Jesu Christi begründet eine neue Lebensweise, die nicht mehr um sich selbst kreist (als Bild für den Tod), sondern in eine neue kontrastierende Lebensform führt: „leben dem, der für sie gestorben und auferstanden ist“. Paulus reserviert hier sehr bewusst die Präposition ὑπέρ für das stellvertretende Sterben und Auferstehen Jesu Christi. Das daraus erwachsende neue Leben der Glaubenden wird im Griechischen konsequent mit dem Dativ konstruiert. Auch hier hält Paulus das Moment der Asymmetrie durch. Thomas Schmeller formuliert zu Vers 15: „Die plakative Art der Argumentation zeigt sich darin, dass die Heilswirkung des Todes Christi nicht näher beschrieben wird: Handelt es sich wirk-
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Vgl. hierzu besonders auch die paulinische Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12-21 und die sich unmittelbar anschließende paulinische Tauftheologie im Röm 6.
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lich um eine Schicksalsgemeinschaft? Wie kommt diese zustande? Bewirkt er einen Herrschaftswechsel? Ist wirklich von einer gegenwärtigen Gemeinschaft auch in der Auferstehung die Rede? Solche Fragen sind nicht im Blick, denn es geht nicht um Soteriologie, sondern um die Basis der paulinischen Existenz, die er mit den Glaubenden in Korinth teilt.“28 Hier wird allein die Kürze der paulinischen Argumentation in diesem einen, isoliert (!) betrachteten Vers zu einem Argument gegen den Inhalt erhoben und übersehen, dass Paulus in jedem einzelnen Vers von 5,14-21 rhetorisch verknappend (formelhaft) und gerade darin konzentriert und intensiviert argumentiert. Zudem ist auch die von Paulus durch die Komposition der Verse 14-21 intendierte, wechselseitige Auslegung der verknappten Gedanken zu berücksichtigen.
2.2 5,16-17: Erkennen vor und nach Tod und Auferstehung Christi, neue Schöpfung 16 a Deshalb kennen wir von jetzt an niemanden mehr dem Fleische nach. Ὥστε ἡμεῖς ἀπὸ τοῦ νῦν οὐδένα οἴδαμεν κατὰ σάρκα· b Wenn wir auch Christus dem Fleische nach gekannt haben, εἰ καὶ ἐγνώκαμεν κατὰ σάρκα Χριστόν, c so kennen wir ihn jetzt nicht mehr (so). ἀλλὰ νῦν οὐκέτι γινώσκομεν. 17 a Deshalb: Wenn einer in Christus ist, ὥστε εἴ τις ἐν Χριστῷ, b (dann ist [er]) eine neue Schöpfung καινὴ κτίσις· c Das Alte ist vergangen, τὰ ἀρχαῖα παρῆλθεν, d siehe, Neues ist geworden. ἰδοὺ γέγονεν καινά. A.a.O., 323f. Sind „Soteriologie“ und „die Basis der paulinischen Existenz“ wirklich sinnvolle Alternativen („nicht um …, sondern um“)? 28
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Die Verse 16-17 setzen die Aussagen in den Versen 14-15 voraus und führen sie weiter: Paulus baut zunächst eine zeitliche Opposition auf, der er zwei konträre Erkenntnisweisen zuordnet: Vor Tod und Auferstehung Jesu Christi vollzieht sich alles menschliche Erkennen κατὰ σάρκα. „Von jetzt an (ἀπὸ τοῦ νῦν)“29 – der von Tod und Auferstehung Jesu Christi markierten Zeitenwende – gilt ein neues Erkennen.30 In Vers 16b exemplifiziert Paulus die vormalige Erkenntnisweise provozierend am Beispiel Jesu Christi selbst: Christus κατὰ σάρκα zu (er-)kennen, greift bei weitem zu kurz – sei es, dass Paulus hier auf ein persönliches Kennen des geschichtlichen Jesus vor seinem Tod und seiner Auferstehung anspielt,31 sei es, dass er hier grundsätzlich einen Zugang zu seiner Evangeliumsverkündigung κατὰ σάρκα ausschließt. In Vers 17 interpretiert Paulus diese zwei konträren Erkenntnisweisen vertiefend mit dem Gedanken der „neuen Schöpfung“: Die zeitliche Gegenüberstellung beider Erkenntnisweisen hat ihre Ursache in der durch Jesu stellvertretenden Tod und seine Auferstehung heraufgeführten Zeitenwende: Abgeleitet aus der Auferstehung Jesu, die Paulus mit seiner jüdischen Tradition als endzeitlichen Erweis der neuschöpferischen Lebensmacht Gottes interpretiert, sind alle an Jesus Christus Glaubenden – Paulus verwendet hier die für ihn typische Immanenzaussage (ἐν
Vgl. „aber jetzt“ (ἀλλὰ νῦν) in V. 16c. Paulus verwendet hier nicht die Opposition κατὰ πνεῦμα. 31 Vgl. hierzu Wolff, 2 Kor (Anm. 1), 123–127. Vgl. auch K. Scholtissek, „Geboren aus einer Frau, geboren unter das Gesetz“ (Gal 4,4). Die christologisch-soteriologische Bedeutung des irdischen Jesus bei Paulus, in: Paulinische Christologie (FS H. Hübner), hg. v. U. Schnelle, T. Söding unter Mitarbeit von M. Labahn, Göttingen 2000, 194–219. 29
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Χριστῷ)32 – selbst neue Schöpfung.33 Paulus bleibt auch hier seinem grundlegenden Gedanken der asymmetrischen Schicksalsgemeinschaft treu. Die konditional formulierte Regelaussage: ὥστε εἴ τις ἐν Χριστῷ, καινὴ κτίσις ist apodiktisch: Jeder, der „in Christus“ ist, ist selbst „neue Schöpfung“. Die schöpfungstheologische Sprache in Vers 17 (vgl. auch die Verwendung von γίνομαι in V. 17 und LXX Gen 1-2) unterstreicht und verstärkt unmissverständlich die Reichweite der paulinischen Aussage. Auch wenn Paulus die Wortverbindung καινὴ κτίσις selbst geprägt hat, steht er mit dem in V. 17 rezipierten Motivzusammenhang des endzeitlichen, neuschöpferischen Handelns Gottes in seiner angestammten alttestamentlich-jüdischen Tradition.34 Das schließt nicht aus, dass Paulus und die Adressaten in Korinth die Wendung „neue Schöpfung“ auch als bewussten Gegensatz zu der Ideologie der römischen Neugründung der antiken Stadt Korinth inszenierten bzw. verstanden.35 32
Vgl. weiterführend zu den paulinischen Immanenzaussagen K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, HBS 21, Freiburg 2000, 144–146; zum religions- und philosophiegeschichtlichen Vergleich vgl. a.a.O., 23–130. 33 Vgl. Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 326: „Nicht nur die Einschätzung der Mitmenschen ändert sich, sondern der ganze Mensch, der ‚in Christus‘ ist, d.h. an der Schicksalsgemeinschaft mit ihm teilhat (vgl. V. 14), wird von Grund auf neu geschaffen.“ Vgl. H.-J. Klauck, Zweiter Korintherbrief, NEB.NT 8, Würzburg 31994, 55: „Die verlorene Gottebenbildlichkeit, die dem Menschen bei der ersten Schöpfung zugedacht war, wird wiederhergestellt.“ Vgl. weiterführend K. Kertelge, „Neue Schöpfung“. Grund und Maßstab apostolischen Handelns (2. Kor 5,17), in: Eschatologie und Schöpfung (FS E. Gräßer), hg. v. M. Evang, H. Merklein, M. Wolter, BZNW 89, Berlin 1997, 139–144; U. Mell, „Neue Schöpfung“ als theologische Grundfigur paulinischer Anthropologie, in: E. Herms (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde, Gütersloh 2001, 345–364. 34 Vgl. Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 326f. Vgl. auch 2 Kor 3,18; 4,4; Gal 3,28. 35 So die These von D. Kurek-Chomycz, R. Bieringer, The Corinthian καιναὶ κτίσεις? 2 Cor 5:17 and the Roman Re-Foundation of Corinth, in: Stones, Bones and the Sacred: Essays on Material Culture and Ancient Religion (FS D. E. Smith), hg. v. A.H. Cadwallader, Early Christianity and Its Literature 21, Atlanta 2016, 195–220.
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2.3 5,18-19: Gottes universales Versöhnungshandeln durch Christus und der „Dienst der Versöhnung“ 18 a Alles aber stammt von Gott, τὰ δὲ πάντα ἐκ τοῦ θεοῦ b der uns durch Christus mit sich versöhnt τοῦ καταλλάξαντος ἡμᾶς ἑαυτῷ διὰ Χριστοῦ c und der uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat. καὶ δόντος ἡμῖν τὴν διακονίαν τῆς καταλλαγῆς, 19 a Denn Gott war in Christus ὡς ὅτι θεὸς ἦν ἐν Χριστῷ b die Welt mit sich selbst versöhnend,36 κόσμον καταλλάσσων ἑαυτῷ, c ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnend μὴ λογιζόμενος αὐτοῖς τὰ παραπτώματα αὐτῶν d und unter uns das Wort der Versöhnung aufrichtend. καὶ θέμενος ἐν ἡμῖν τὸν λόγον τῆς καταλλαγῆς.
In 5,18a ist Gott (θεός) erstmals expressis verbis genannt. Er ist in den Versen 18-19 durchgehend das Subjekt, also Ursprung und Ursache allen Geschehens (Theozentrik). Das wird grammatikalisch gesichert durch die analoge Konstruktion der Verse 18 und 19: Beide beginnen mit einem Hauptsatz, dem sich erläuternd zwei (V. 18) bzw. drei Partizipialsätze (V. 19) anschließen. Gottes Wirken wird in den VV. 18-19 – das ist aufgrund der vorausgegangenen Verse auch nicht überraschend – auf das Christusereignis, also Tod und Auferstehung Jesu Christi, fokussiert. Die paulinische Argumentation greift in den folgenden Versen 18 und 19 weiter ‚zurück‘ und weiter ‚nach vorn‘: Die Übersetzungen von Vers 19 variieren – entsprechend unterschiedlichen grammatikalischen Zuordnungen – deutlich: „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber …“ (Lutherübersetzung 2017). „Ja, Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat, …“ (Einheitsübersetzung 2016). „das heißt: Gott war es, der in Christus die Welt mit sich versöhnte …“, Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 317. 36
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Wieder ist in Vers 18a die Schöpfungstheologie angesprochen (vgl. „Alles [τὰ δὲ πάντα] ist von Gott“; vgl. die Aussagen zur „neuen Schöpfung in dem unmittelbar vorausgehenden Vers 17). Thomas Schmeller schließt für V. 18 den Bezug zur biblischen Schöpfungstheologie aus: „Mit τὰ δὲ πάντα ἐκ τοῦ θεοῦ wird nicht etwa die gesamte Schöpfung, das All, auf Gott zurückgeführt, sondern es werden die Liebe Christi und ihre Folgen, wie sie in VV. 14-17 besprochen wurden, mit Gott als ihrem letzten Grund verbunden.“37 Gleichwohl ist zu fragen, ob hier nicht eine Alternative konstruiert wird, die für Paulus nicht besteht: Wenn schon in den unmittelbar vorausgehenden Versen von der „neuen Schöpfung“ die Rede ist, und Paulus jetzt explizit in die theozentrische Perspektive wechselt, dann ist auch hier – bei aller erneuten Verknappung und bei aller Fokussierung auf das Christusgeschehen – grundsätzlich die Schöpfermacht Gottes von allem Anfang an und für alle Zeiten vorausgesetzt und angesprochen.
Zur Deutung dieses Christusereignisses führt Paulus in den Versen 18 und 19 eine neue Deutekategorie ein: Er verwendet zweimal das Verb καταλλάσσω und zweimal das Substantiv καταλλαγή. Paulus interpretiert den stellvertretenden Tod Jesu und seine Auferstehung als Gottes zuvorkommendes Handeln, durch das Gott selbst „uns“ mit sich versöhnt. Er beansprucht zudem, den „Dienst der Versöhnung“ (τὴν διακονίαν τῆς καταλλαγῆς) übertragen bekommen zu haben. Paulus verwendet διακονέω κτλ. in den beiden großen apologetischen Schlüsselpassagen des 2. Korintherbriefes, in 2,14-7,4 und in 10,1-13,10.38 In der Passage
37
A.a.O., 328. Vgl. die Vorkommen von διακονέω κτλ. in 2 Kor 3,3.6 [bis].7.8.9 [bis]; 4,1; 5,18; 6,3.4; 8,4.19.20; 9,1.12.13; 11,8.15[bis].23. Vgl. hierzu R. Bieringer, Paul‘s Understanding of DIAKONIA in 2 Corinthians 5,18, in: ders., Lambrecht, Studies on 2 Corinthians (Anm. 1), 413–428 (ebd. 413–421 die Durchsicht zur Forschungsdiskussion). R. Bieringer besteht – zu Recht – auf einer „contextual investigation“ (421) des paulinischen Sprachgebrauchs und betont: „The διάκονος is not just the mediator of an objective fact, but is personally involved in what he/she proclaims“ (428). 38
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2,14-7,4, die Thomas Schmeller mit „Der Dienst des Paulus“ überschreibt, fallen die fünf Genitivverbindungen besonders auf: − „Dienst des Todes“ διακονία τοῦ θανάτου (2 Kor 3,7), − „Dienst des Geistes“ διακονία τοῦ πνεύματος (2 Kor 3,8), − „Dienst der Verurteilung“ διακονία τῆς κατακρίσεως (2 Kor 3,9), − „Dienst der Gerechtigkeit“ διακονία τῆς δικαιοσύνης (2 Kor 3,9), − „Dienst der Versöhnung“ διακονία τῆς καταλλαγῆς (2 Kor 5,18). Sind jeweils zwei der ersten vier Genitivverbindungen als Oppositionen vorgestellt („Dienst des Todes“ versus „Dienst des Geistes“ und „Dienst der Verurteilung“ versus „Dienst der Gerechtigkeit“), so formuliert Paulus zu „Dienst der Versöhnung“ keine direkte Opposition. Es liegt nahe, Paulus diese fünf Wortbildungen als originäre ad-hoc-Bildungen zuzuschreiben:39 Paulus arbeitet in der ganzen Passage mit vielfältigen Oppositionen, die er für seine rhetorische Strategie einsetzt.40 Dabei ist es nicht zielführend, die rhetorisch-polemische Strategie des Paulus (und ihre Gefahren) gegen seine theologische Intention auszuspielen. Gerade das Beispiel von 2 Kor 5,14-21 zeigt, dass und wie Paulus den ihm übertragenen „Dienst der Versöhnung“ theologisch ausleuchtet. Die Auslegung der paulinischen Versöhnungsaussagen in VV. 18-19 ist stark geprägt von der grundsätzlichen Fragestellung, „ob und in welcher Weise bei Paulus über die Heilsbedeutung des Todes Jesu gesprochen werden
Vgl. hierzu auch die Wendungen „Diener der Gerechtigkeit“ (11,15) und „Diener Christi“ (11,23), die Paulus – für sich selbst in Anspruch nehmend (vgl. 2 Kor 3,6; 4,1; 5,18; 6,3-4) – seinen Gegnern abspricht – sie sind vielmehr „Diener“ des Satans (vgl. 2 Kor 11,12-15). 40 Eben diese Beobachtung gilt (weitgehend) auch für die weiteren Vorkommen von διακονέω κτλ. in 2 Kor 3,3.6; 4,1; 6,3-4; 11,8.15.23. 39
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kann“.41 Die komplexe Diskussion wird bekanntlich für alle neutestamentlichen Schriften kontrovers geführt.42 Im Blick auf den traditionsgeschichtlichen Hintergrund der Versöhnungsaussagen in 2 Kor 5,18-19 werden in der Forschung zwei grundsätzlich verschiedene Herleitungen angeführt: Entweder wird eine biblische Verwurzelung (Otfried Hofius) oder alternativ eine Herleitung aus der hellenistischen Diplomatie (Ciliers Breytenbach) favorisiert. Otfried Hofius bezieht sich auf den aus seiner Sicht alttestamentlich fest vorgegebenen sprachlichen Zusammenhang zwischen Versöhnung und kultischer Sühne. „Der paulinische Versöhnungsgedanke ist … entscheidend durch die Botschaft Deuterojesajas geprägt.“43 Dem widerspricht Ciliers Breytenbach, der annimmt, Paulus rezipiere wesentliche Elemente seiner Versöhnungsaussagen aus der Sprache und Vorstellungswelt der hellenistischen Diplomatie: Danach bezeichnen διαλλάσσειν und καταλλάσσειν („versöhnen“) in klassischen und hellenistischen Texten ein versöhnendes Handeln im politischen, gesellschaftlichen und familiären Bereich.44 Diese Aussagen kommen ohne eine religiöse und/oder kultische Bezugnahme aus. Deshalb widerspricht Breytenbach Hofius diametral: „Die paulinische καταλλάσσεινVorstellung und die alttestamentliche כפר-Tradition stehen in keinem
41
Schnelle, Einleitung (Anm. 2), 114. Vgl. den Sammelband Frey, Schröter, Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament (Anm. 15). 43 O. Hofius, Erwägungen zur Gestalt und Herkunft des paulinischen Versöhnungsgedankens, 1980, in: ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen, 1989, 21994, 1–14, hier: 14; vgl. A.a.O. 15–32.33.49. Vgl. auch den hilfreichen Überblick bei G. Fischer, K. Backhaus, Sühne und Versöhnung. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, NEB.Themen 7, Würzburg 2000. Zum jüdischen Verständnis von Versöhnung vgl. A. Zempelburg, Versöhnung im Judentum. Eine religionswissenschaftliche Perspektive auf den jüdischen Versöhnungsbegriff in Bezug auf Gott, den Nächsten, den Anderen und sich selbst, Religionen aktuell 26, Baden-Baden 2019. 44 Vgl. hierzu u.a. die Textzeugnisse in G. Strecker, U. Schnelle unter Mitarbeit von G. Seelig (Hg.), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus II/1: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Berlin 1996, 450–455. 42
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traditionsgeschichtlichen Zusammenhang, der einer biblischen Theologie zugrunde gelegt werden könnte.“45 Auch Thomas Schmeller reflektiert die Diskussion zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund von 2 Kor 5,18-19: „Diese Metapher ist vor Paulus in religiösen Zusammenhängen kaum nachweisbar. Sie hat einen profanen Hintergrund: καταλλάσσω und διαλλάσσω beziehen sich in der hellenistischen Literatur, wenn es um Versöhnungsvorgänge geht, auf ‚ein Geschehen, in dem zwei Personen handeln, und zwar in einer solchen Weise, daß das gestörte, feindliche Verhältnis zwischen ihnen aufgehoben und durch eine Relation des Friedens, der Freundschaft oder Eintracht ersetzt wird‘. Meistens geht es um politische Versöhnung, also die Ersetzung eines feindlichen, kriegerischen durch ein freundliches, friedliches Verhältnis zwischen Gruppen, etwa durch den Abschluss eines Friedensvertrags.“46 „Ein religiöser Gebrauch dieser Metapher ist, wie gesagt, nur an wenigen Stellen erkennbar, und zwar fast immer im hellenistischen Judentum. Der Vergleich mit 2Makk 1,5; 7,33; 8,29 (vgl. auch 5,20) zeigt einen wesentlichen Unterschied: Καταλλάσσω begegnet dort nur im Passiv mit Gott als Subjekt, das heißt: Gott lässt sich hier durch die Gebete und Gottesdienste der Menschen versöhnen. Bei Paulus liegt dagegen die gesamte Initiative bei Gott: Er hat ‚uns mit sich durch Christus versöhnt‘, ohne dass menschliche Aktivitäten ins Spiel kämen.“47
Für die Auslegung der VV. 18-19 übernimmt Thomas Schmeller zunächst den Interpretationsansatz von Ciliers Breytenbach (für den V. 21 sieht er dann jedoch auch eine von Paulus intendierte Verbindung von Versöhnungs- und Sühnegedanken): „Versöhnung meint also die Überwindung der Feindschaft durch Gott, die vonseiten der Men-
45
C. Breytenbach, Versöhnung. Eine Studie zur paulinischen Soteriologie, WMANT 60, Neukirchen 1989, 221. Schnelle wiederum betont die paulinische Zusammenführung beider Motive: „Erst Paulus stellt diesen Zusammenhang durch die Aufnahme einer Tradition in 2Kor 5,19a.b her“ (ders., Einleitung [Anm. 2], 114); vgl. auch die Diskussion bei Vorholt, Der Dienst der Versöhnung (Anm. 8), 364–368. 46 Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 328f.; Zitat im Zitat: Breytenbach, Versöhnung (Anm. 45), 82; vgl. auch ders., Versöhnung, Stellvertretung und Sühne. Semantische und traditionsgeschichtliche Bemerkungen am Beispiel der paulinischen Briefe, NTS 39, 1993, 59–79. 47 Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 329.
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schen nur angenommen zu werden braucht. Der bildspendende Bereich hat mit Sünde und Sühne nichts zu tun.“48 Da von einer traditionsgeschichtlichen Verbindung nicht unvermittelt auf die paulinische Interpretation geschlossen werden kann, konzediert Thomas Schmeller in der Auslegung von Vers 15: „Die Versöhnung wird hier mit dem Nicht-Anrechnen der Übertretungen erläutert. … Die einzelnen Sünden der Menschen werden ihnen infolge der Versöhnung nicht mehr aufs Konto gesetzt. Dieser Versteil, der in V. 18 keine Entsprechung hat, bereitet die Verbindung des Versöhnungs- mit dem Sühnegedanken vor, wie sie in V. 21 vollzogen ist. Hier in V. 19 ist aber noch kein Bezug zur Sühne anzunehmen: Versöhnung wurde in der griechisch-römischen Antike oft als ein Akt bewussten Vergessens früheren Unrechts verstanden.“49 Wenn Paulus das Versöhnungsmotiv aus der hellenistischen Diplomatie voraussetzen sollte, dann wird sichtbar, dass und wie er dieses Motiv in dem von ihm reflektierten Zusammenhang (Interpretation des Todes Jesu Christi) semantisch neu codiert: Dazu wird der ursprüngliche bildspendende Bereich erheblich überschritten. Zu dieser Überschreitung und damit zur paulinischen Interpretation50 gehört in Vers 19 die Nichtanrechnung der Übertre-
Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 329; vgl. ebd.: „Die religiöse Versöhnungsvorstellung begegnet im NT nur bei Paulus, und zwar zum ersten Mal im 2Kor (danach nur noch im Röm). Die Vermutung liegt nahe, dass Paulus durch die besondere Briefsituation dazu veranlasst wurde, diese Vorstellung zu entwickeln, sei es als Hintergrund der noch ausstehenden Versöhnung mit der Gemeinde, sei es, um seine eigene unverzichtbare Rolle als Versöhnungsmittler darstellen zu können.“ 49 A.a.O., 333. 50 In Röm 5,1-11 (und 11,15) findet sich eine ausführlichere Reflexion des Paulus zur Versöhnung: „Denn wenn wir mit Gott versöhnt worden sind durch den Tod seines Sohnes, als wir noch Feinde waren, um wie viel mehr werden wir selig werden durch sein Leben, nachdem wir nun versöhnt sind. Nicht allein aber das, sondern wir rühmen uns auch Gottes durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben“ (Röm 5,10-11). Viele Aussagen in Röm 5 liegen in 2 Kor 5,14-21 bereits in nuce vor. 48
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tungen als ein wesentlicher Inhalt des Versöhnungshandelns Gottes sowie die starke Betonung der Initiative Gottes: „Paul uses καταλλάσσω in a way not found in previous Greek usage. He is the first extant author to use the active voice form of the verb with the offended and hence angered party in a relationship (i.e. God) as (grammatical) subject taking the initiative in effecting reconciliation between himself and the offering party, that is, humanity.”51
In Vers 19 holt Paulus zu einer inhaltlichen Erläuterung, Vertiefung und Erweiterung der Thesen in Vers 18 aus: Dazu stellt er – in Analogie zu der grammatikalischen Konstruktion in Vers 18 – zunächst einen weitreichenden christologischen Hauptsatz vor: θεὸς ἦν ἐν Χριστῷ und fügt dann drei Partizipialsätze mit Gott als Subjekt hinzu. Der Hauptsatz in Vers 19a verwendet erneut eine Immanenzaussage: „Gott war in Christus“. Diese Immanenzaussage wird hier als theologische Voraussetzung eingeführt, um Gottes neuschöpferisches52 Handeln zu erklären: Die Immanenz Gottes in Christus53 ermöglicht das im Folgenden ausgeführte Handeln Gottes: − die Versöhnung des Kosmos mit sich (19b) − die Nichtanrechnung der Verfehlungen (19c) 51
S. E. Porter, Reconciliation and 2 Cor 5,18-21, in: Bieringer, The Corinthian Correspondence (Anm. 1), 693–705, hier: 692. In diesem Sinne urteilt auch Bieringer, 2 Korinther 5,19a und die Versöhnung der Welt (Anm. 20), 458f.; vgl. ders., Divine-Human Reconciliation in 2 Cor 5:18-21 in its Interpersonal Context. The contextual meaning of the καταλλάσσω / καταλλαγή Terminology, in: Paulus – Werk und Wirkung (FS A. Lindemann), hg. v. P.-G. Klumbies, D. S. du Toit, Tübingen 2013, 61–80. 52 Vgl. auch T. Ryan Jackson, New Creation in Paul‘s Letters. A Study of the Historical and Social Setting of a Pauline Concept, WUNT II/272, Tübingen 2010. 53 Bultmann nimmt jedoch an: „… denn das εἶναι Gottes ἐν Χριστῶ ist doch wohl ein für Paulus unnachvollziehbarer Gedanke“ (2 Kor [Anm. 10], 162. Auch Reimund Bieringer sieht die grammatikalische Zuordnung anders, vgl. ders., 2 Korinther 5,19a und die Versöhnung der Welt (Anm. 20), 437–445.
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− das Aufrichten des Wortes der Versöhnung (19d). Vergleichen wir die Versöhnungsaussagen in V. 18b und V. 19b, fällt die erweiterte Reichweite des versöhnenden Handelns Gottes in den Blick: V. 19b betont die Versöhnung des ganzen Kosmos mit Gott. V. 19c kann als inhaltliche Entfaltung von V 19b verstanden werden. V. 19d greift zudem variierend den Gedanken aus Vers 18c auf: 18 c καὶ δόντος ἡμῖν τὴν διακονίαν τῆς καταλλαγῆς 19 d καὶ θέμενος ἐν ἡμῖν τὸν λόγον τῆς καταλλαγῆς
2.4 5,20: Paulus, Botschafter der Versöhnungstat Gottes 20 a An Christi statt sind wir also Botschafter Ὑπὲρ Χριστοῦ οὖν πρεσβεύομεν b da Gott durch uns mahnt. ὡς τοῦ θεοῦ παρακαλοῦντος δι’ ἡμῶν· c Wir bitten an Christi statt: δεόμεθα ὑπὲρ Χριστοῦ, d Lasst euch versöhnen mit Gott. καταλλάγητε τῷ θεῷ.
Mit Vers 20 vollzieht Paulus die ihm übertragene apostolische Aufgabe (vgl. 18c und Variante 19d). Thomas Schmeller formuliert treffend: „Das Bild von Paulus als Gesandtem Christi bzw. Gottes führt die Versöhnungsmetapher weiter.“54 Dazu greift Schmeller erneut auf den von ihm vorausgesetzten bildspendenden Bereich zurück: „‚Gesandter‘ (πρέσβυς / πρεσβεύς / πρεσβευτής / legatus) war ein offizieller Titel für den Vermittler in einem (bereits bestehenden oder möglichen) Konflikt, der das Versöhnungs- und Friedensangebot der einen an die andere Seite zu überbringen, also Feindschaft in Freundschaft zu verwandeln hatte.“55
54 55
A.a.O., 334. Ebd.
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Paulus versteht sich als Botschafter und Bittender ὑπὲρ Χριστοῦ (zweimal in V 20a+c). Durch Paulus und in seiner Botschaft erreicht Gottes Ruf zur Versöhnung konkret und persönlich seine Adressaten. Die Versöhnungstat Gottes durch Jesus Christus, die den ganzen Kosmos einschließt, braucht Botschafter, die diese Botschaft verbindlich und wirksam ausrichten. „Ein Gesandter vertritt den Sendenden als offizieller Repräsentant, besitzt also dessen volle Autorität. Paulus handelt in Christi und Gottes Auftrag und an ihrer Stelle, wenn er mahnt … und bittet …. Die Versöhnung mit Gott ist an seine Vermittlung gebunden. Er bringt keine eigene Botschaft, sondern richtet die Botschaft Gottes aus.“56 Dieses Sendungs- und Repräsentationsverständnis wiederum ist alttestamentlich-jüdisch ebenso vertraut wie in der Jesusüberlieferung der Evangelien. 2.5 5,21: Die Rechtfertigung der Sünder durch das stellvertretende Tragen der Sünde am Kreuz 21 a Den, der keine Sünde kannte, τὸν μὴ γνόντα ἁμαρτίαν b hat er für uns zur Sünde gemacht, ὑπὲρ ἡμῶν ἁμαρτίαν ἐποίησεν, c damit wir Gerechtigkeit Gottes würden in ihm. ἵνα ἡμεῖς γενώμεθα δικαιοσύνη θεοῦ ἐν αὐτῷ.57
Der theologisch ohnehin schon sehr dichte Abschnitt erfährt mit dem abschließenden Vers 21 eine weitere anspruchsvolle Vertiefung:58 Erneut ist Gott das Subjekt mit 56
Ebd. Lutherübersetzung 2017: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ Einheitsübersetzung 2016: „Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.“ 58 Vgl. hierzu vertiefend R. Bieringer, Sünde und Gerechtigkeit Gottes in 2 Korinther 5,21, in: ders., Studies on 2 Corinthians (Anm. 1), 461– 513. 57
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Christus als Objekt seines Handelns (V. 21ab): Mit Vers 21ab wird erneut der Tod Jesu Christi gedeutet – in einer neuen christologisch-soteriologischen Zuspitzung: War in Vers 19c schon von der Nichtanrechnung der menschlichen Verfehlungen (τὰ παραπτώματα αὐτῶν) die Rede, so wird das Thema Sünde (ἁμαρτία) und damit im biblischen Verständnis die Gottesferne im Blick auf das Christusgeschehen in einer formelhaften Zusammenfassung durchbuchstabiert: Jesus Christus, der selbst keine Sünde „kennt“, wird von Gott „ὑπὲρ ἡμῶν zur Sünde gemacht“. Paulus spielt hier auf den Kreuzestod Jesu an, der das Verdikt aus Dtn 21,2359 aufruft und auf Jesus in persona bezieht. Mit diesem Vers 21ab und insbesondere 21c greift Paulus in abbreviatorischer Kürze gezielt die Terminologie und Theologie seiner Rechtfertigungslehre auf. Dabei nimmt Paulus erneut das Motiv der Stellvertretung auf und interpretiert diese Stellvertretung neu mit Hilfe des Motivs nichtkultischer Sühne. Die Wirkung und das glatte Gegenteil (vgl. die Opposition: Sünde – Gerechtigkeit) dieses von Gott selbst herbeigeführten Fluchtodes Jesu (vgl. Dtn 21,23: „denn ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott“), durch den Christus am Kreuz selbst zur „Sünde gemacht wird“, ist die „Gerechtigkeit Gottes in ihm“, die Gerechtigkeit, die Gott den Glaubenden schenkt und die hier erneut in der Sprache der Immanenz (vgl. V. 17), dem „Sein in Christus“, beschrieben wird. Die neuerliche, theologische Vertiefung und die vertraute Rhetorik (in oppositionellen Formulierungen) sprechen sehr dafür, dass Paulus eben keine neue, zusätzliche Aussage machen will, sondern die eine Botschaft, die den ganzen Abschnitt 5,14-21 prägt, reformuliert. Thomas Schmeller betont zu Recht den kompositorischen bzw. rhetorischen Konnex innerhalb der Verse 5,14-21: Dieser Vers 21 „führt mit der Gegenüberstellung von Sünde und 59
Vgl. Gal 3,13; Just., Dial 32,1; Tert., Adv Jud X 1; Adv Marc III 18,1.
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Gerechtigkeit Gottes einen neuen Gedanken ein, ist aber formal durch das Asyndeton und die sentenzartige Formulierung als Abschluss des Gedankengangs erkennbar. … Vor allem ist in den ὑπέρ-Aussagen (…) und dem ἵνα-Satz eine gewisse Inklusion mit den VV. 14f zu beobachten.“60 Die inhaltliche Aussage in Vers 21 bestimmt Thomas Schmeller so: „Sünde und Gerechtigkeit, Christus und ‚Wir‘ sind jedenfalls deutlich aufeinander bezogen. Es kommt zu einer Art Tausch (vgl. 8,9). … Dazu passt die Inklusion mit den V. 14f., die sehr dafür spricht, das Kreuzesgeschehen als den Punkt zu bestimmen, an dem Christus zur Sünde wurde.“61 „‘Gott machte ihn für uns zur Sünde‘ ist nicht mit der Vorstellung des Sündopfers (Lev 4,21.24; 5,12; 6,18 LXX) zu verbinden. Immerhin ist der paulinische Gedanke aber der stellvertretenden Übernahme der Sünde durch den Gottesknecht in Jes 53,10f ähnlich. … Gal 3,13 ist eine Verständnishilfe: Wie Jesus zum Fluch wurde, um die Verfluchten vom Fluch zu befreien, so wurde er zur Sünde, um die Sünder von der Sünde zu befreien. Es scheint derselbe Gedanke der Schicksalsgemeinschaft im Hintergrund zu stehen wie in den VV. 14f: Gott schließt Christus mit uns in der Sünde zusammen, damit wir in ihm Gerechtigkeit werden. Man kann von Sühne sprechen, allerdings nicht von kultischer Sühne. Hier ist auch die Grenze des Tauschgedankens erkennbar: Am Schluss sind die Seiten nicht wirklich vertauscht, sondern alle Beteiligten befinden sich auf Seite der Gerechtigkeit.“62 In seiner Auslegung betont Thomas Schmeller die Trennung der Gedanken bzw. Motive: „An die Stelle der Versöhnung ist in V.21 der Rechtfertigungsgedanke getreten. Beides ist nicht einfach identisch, sondern es werden (…) verschiedene Aspekte desselben Heilsgeschehens benannt. Wie Paulus seinen Dienst der Versöhnung zuordnen kann (5,18), so auch der Gerechtigkeit (3,9).“63 Gleichwohl fehlt bei ihm der Blick für die bei Paulus intendierte wechselseitige Durchdringung und Interpretation der Motive: Als Früchte des stellvertretenden Heilstodes Christi verhalten sich Leben für Christus (V. 15), Immanenz in Christus (vgl. VV. 17.19), neue Schöpfung (vgl. V. 17), Versöhnung (vgl. VV. 18-20) und Rechtfertigung (V. 21) nicht additiv zueinander, sie stehen auch nicht nebeneinander, sondern mit ihnen will Paulus das neu gewonnene „Leben“ ausleuchten und durchdringen.
60
Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 336. A.a.O., 337. 62 A.a.O., 337f. 63 A.a.O., 338f. 61
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3. Die paulinische Diakonie der Versöhnung 3.1 Im Zentrum der paulinischen Theologie Der kleine Abschnitt 2 Kor 5,14-21 führt die Leserinnen und Leser – das zeigen die zurückliegenden Analysen – in das Zentrum der paulinischen Theologie. Wie in einem Brennglas gebündelt versammelt Paulus hier seine theologischen, christologischen, soteriologischen und ethischen Grundlagen. Das geschieht nicht in akademischsystematischer Absicht, sondern in der konkreten Herausforderung durch Anfeindungen, Verwerfungen und Gegner, die in der von ihm gegründeten Gemeinde Fuß gefasst haben. Diese erbitterte Kontroverse führt Paulus primär als Verteidigung seines Apostolats. Davon ist der Gesamtduktus des 2. Korintherbriefes bestimmt. Gleichwohl greift es erheblich zu kurz, die Polemik, rhetorische Schärfe und Apologie des Paulus als einziges Leitthema wahrzunehmen. Paulus führt die in Teilen konfrontative Auseinandersetzung nicht ‚nur‘ rhetorisch, polemisch und apologetisch. Er führt sie auch im Rückgriff auf das Zentrum und die Konsequenzen seiner Evangeliumsverkündigung. Hierzu gibt schon der 1. Korintherbrief eindrucksvollen Anschauungsunterricht. In beiden Korintherbriefen treten uns die frühesten heute noch greifbaren Anfänge der theologischen Reflexion in den bzw. für die jungen Missionsgemeinden des Paulus entgegen. Paulus entwickelt in diesen Briefen allererst eine zusammenhängende Interpretation und Sprache für seine Evangeliumsverkündigung (vgl. 1 Kor 15,1: „das Evangelium, das ich euch verkündet habe“; wörtlicher: „das Evangelium, das ich euch als frohe Botschaft verkündet habe“). Diese Evangeliumsverkündigung wird erst im Nachgang und mit unterschiedlich großem Abstand als „die“ Theologie des Paulus versuchsweise rekonstruiert werden. Paulus kann für seine Evangeliumsverkündigung auf früheste Überlieferungen zurückgreifen (vgl. nur 1 Kor 7.10; 11,23-26; 15,3-8; Phil 2,6-11), deren Umfang und Inhalt nicht leicht en detail zu bestimmen sind, die aber in der Sache, in der Zentralität und vielfach bis in den Wortlaut
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hinein mit in den Evangelien überlieferten Inhalten konvergieren. Im Dialog mit seinen Gemeinden, der sich in seinen Briefen mannigfach spiegelt, entfaltet Paulus seinen angestammten jüdischen Glauben, der seit seiner Berufung von der Christuserkenntnis geprägt ist (vgl. 1 Kor 15,8; Phil 3). Diese Entfaltung erfolgt im Rückgriff auf die „Schriften“ des Gottesvolkes Israel. Und sie erfolgt im Kontext und im Diskurs mit den kulturellen, philosophischen und religiösen Traditionen seiner jüdischen, jüdisch-hellenistischen, hellenistischen und römischen Umwelt.64 In 2 Kor 5,14-21 lässt sich exemplarisch nachvollziehen, wie Paulus zentrale Inhalte seines Evangeliums aufruft, bündelt und reformuliert. Paulus gelingt hier eine verdichtete Neuauslegung seines Evangeliums, die situationsgerecht ist und zugleich die konkrete Kommunikationssituation übersteigt. 3.2 Die sprachliche und theologische Verdichtung Die exegetischen Ausführungen in 2.1 – 2.5 zeigen, wie sehr Paulus in 2 Kor 5,14-21 sprachlich verknappt und verdichtet. Der starken Tendenz zur sprachlichen entspricht eine theologische Verknappung und Verdichtung: Steht in den VV. 14-17 prima facie Christus im Mittelpunkt der Reflexionen, so in den Versen 18-21 prima facie Gott. Gleichwohl sind die theologischen Bezüge sehr viel detaillierter verteilt: Das ekklesiale Setting In den rahmenden Versen 14 und 20 reflektiert (vgl. 14a: die ihn beherrschende Liebe Christi) und vollzieht (vgl. 20: der Ruf zur Versöhnung mit Gott) Paulus seine apostolische Verkündigung. Paulus befindet sich mit diesen Versen mitten in der korinthischen Kontroverse, in der Vgl. O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, utb 2767, Göttingen 22012; E. Kobel, Paulus als interkultureller Vermittler. Eine Studie zur kulturellen Positionierung des Apostels der Völker, Studies in Cultural Contexts of the Bible 1, Paderborn 2019. 64
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sein Apostolat und seine Evangeliumsverkündigung hochgradig angefochten sind. Beherrscht von der Liebe Christi hält Paulus an seiner apostolischen Sendung fest und will sie mitten im Konflikt erfüllen.65 Dazu stehen ihm ‚nur‘ seine Evangeliumsverkündigung selbst, die kontextualisierte Reformulierung dieses Evangeliums und der Verweis auf seine eigene evangeliumskonforme Existenz zur Verfügung. So will er die Korinther (zurück-)gewinnen für das von ihm verkündigte Evangelium von der Versöhnung mit Gott. So sollen sie selbst lernen, nicht mehr für sich selbst zu leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist (vgl. 5,15). Dieses Leben aus der Versöhnung mit Gott führt wiederum zum Zeugnis für diese Versöhnungsbotschaft.66 Die paulinische Christologie Paulus stellt in dem gesamten Abschnitt 5,14-21 den Tod Christi und die Deutung seines Todes in den Fokus seiner Ausführungen. Dabei geht es ihm nicht um einen konkreten Zeitpunkt am Lebensende Jesu Christi als solchen, sondern um den Tod Christi, insofern sich in diesem Tod die Liebe Christi, seine messianische Proexistenz, bewährt und aufgipfelt. Die Auferstehung Jesu ist Gottes ret-
Vgl. Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 339: „Das zentrale Thema des Textes ist erneut (wie schon in 3,1-4,6) die Größe des apostolischen Dienstes. Paulus präsentiert sich als von der Liebe Christi bestimmten, der fleischlichen Sichtweise enthobenen, mit Gott versöhnten und von ihm legitimierten Überbringer der Versöhnungsbotschaft. Als Gesandter handelt er in Christi und Gottes Auftrag und mit göttlicher Autorität.“ 66 Vgl. ebd.: „Neu gegenüber der früheren Darstellung ist nicht nur die Metaphorik (Versöhnung, Gesandter), sondern auch die Verhältnisbestimmung zur Gemeinde. Die 1. Person Plural ist zwar weiterhin fast durchweg auf Paulus zu beziehen (die einzige Ausnahme ist V. 21), aber das exkludierende Element ist zurückgenommen. Vieles, was von diesem ‚Wir‘ gesagt wird, kann und soll auch für die Gemeinde gelten: Alle sind vom Liebestod Christi betroffen und sollen sich von ihm leiten lassen; alle sollen aufhören, sich an weltlichen Maßstäben zu orientieren und andere nach solchen zu beurteilen, denn alle sind ‚neue Schöpfung‘; alle sind im Grunde mit Gott versöhnt.“ 65
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tendes Bekenntnis zu ihm und seine universale Inmachtsetzung an der Seite Gottes. Christian Wolff formuliert zutreffend: „Auch die Auferstehung des Christus steht also unter dem Vorzeichen des Pro nobis (vgl. Röm. 4,25; 7,4; 14,9; 1. Thess. 4,14), sie setzt die neue Existenz des Menschen erst eigentlich in Kraft (vgl. Röm. 6,4.10f.; 1. Kor 15,17).“67 Durch Tod und Auferstehung hindurch kommt die Liebe Christi für alle Ewigkeit zum Zug und sucht die Glaubenden zu ergreifen, zu „beherrschen“ und so als Botschafter der Versöhnung zuzurüsten. Die soteriologische Deutung des Todes Jesu Paulus deutet den Tod Christi soteriologisch.68 Dazu greift er mehrere Motive auf: Zentrale Motive sind für Paulus in den VV. 14-21 die Stellvertretung, die Immanenz in Christus, die neue Schöpfung und die Versöhnung. Zur weiteren Entfaltung nimmt Paulus abschließend den Zusammenhang von Sühne in einem übertragenen Sinn und Rechtfertigung auf. Diese Motivvielfalt kann irritieren und zu einer Diskussion über eine Rangfolge der Motive verleiten. Dabei wird jedoch übersehen, dass Paulus sich selbst gerade nicht auf eine einzige und ggfs. noch enggeführte soteriologische Deutung des Todes Jesu festlegen lassen will. Die Heilsbedeutung des Todes Jesu lässt sich für Paulus nur in der Zusammenschau und der wechselseitigen Interpretation seines Motivclusters in 2 Kor 5,14-21 ausloten. Diese Sichtweise nimmt die einzelnen Motive ernst, relativiert oder entleert sie also nicht, sondern versteht sie (a) als das von Paulus intendierte Ausschöpfen der soteriologischen Reichweite des Todes und der Auferstehung Jesu 67
Wolff, 2 Kor (Anm. 1), 122. Anders, aber nicht überzeugend Schmeller, 2 Kor (Anm. 1), 340: „Die Textaussagen zum Heilsgeschehen sind dem gerade skizzierten Anliegen untergeordnet und tragen kein eigenes Gewicht. Es geht dem Text nicht um Soteriologie. Deshalb wird hier nicht differenziert und nur scheinbar argumentiert. … Zudem werden verschiedene Heilsaussagen unausgeglichen nebeneinandergestellt (vor allem die von Versöhnung und Gerechtigkeit). Nur mit großer Vorsicht ist der Text deshalb für die paulinische Soteriologie auszuwerten.“ 68
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Christi und (b) als die seinem Verkündigungsauftrag konforme, werbende Auslegung des Evangeliums inmitten des zugespitzten Konfliktes in Korinth. Dabei ist wahrzunehmen, dass und wie Paulus ihm vertraute Motive reformuliert und in der Komposition des Motivclusters neu interpretiert. Der Tod Christi ist für Paulus ein stellvertretender Tod (indem die Proexistenz Jesu Christi gipfelt), weil Tod und Auferstehung Christi die Menschen aus ihrer unentrinnbaren Todes- und Schuldverfallenheit zu einem neuen Leben befreien. Diese Befreiungstat liegt für Paulus grundsätzlich außerhalb der Reichweite menschlicher Handlungsmacht, sie ist extra nos, aber pro nobis. Paulus beschreibt den Tod Jesu als unverfügbare Ersatz-Handlung, die in eine neue Freiheit führt – eine Freiheit von Selbstbezüglichkeit („sich selber leben“) und eine Freiheit für ein Leben im Sinne und im Auftrag Jesu Christi („dem leben, der für uns gestorben und auferstanden ist“). Das neu gewonnene Leben der Glaubenden beschreibt Paulus auch als „Sein in Christus“ und als „neue Schöpfung“. Mit Tod und Auferstehung Christi beginnt die von Gott selbst verheißene, erwartete und jetzt von ihm heraufgeführte eschatologische Heilszeit, in der Gott seine Schöpfung in „neue Schöpfung“ verwandelt. Zu diesen soteriologischen Motiven führt Paulus in den VV. 18-20 an prominenter Stelle zusätzlich neu das Motiv der Versöhnung ein (vgl. hierzu 3.3). Abschließend vertieft Paulus den mehrfach angesprochenen Stellvertretungsgedanken mit der Aussage, dass Gott Christus am Kreuz „für uns zur Sünde gemacht hat“. An dem Ort der größten denkbaren Gottesferne, dort, wo der Fluch Gottes öffentlich sichtbar vor Augen geführt wird (vgl. Dtn 21,23: „denn ein Aufgehängter ist verflucht bei Gott“), genau dort trifft den Sündlosen der göttliche Fluch, der für die Sünde bestimmt ist und macht ihn zur Sünde. Gerade durch diese paradoxe Irregularität zerbricht Gott selbst die ausweglose Verlorenheit der Menschen an die Sünde und die Folgen der Sünde. Es ist der Sündlose, der sein Leben hingibt, um die hoffnungslos verlorenen Sünder in eine
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neue, von der Fluchandrohung befreite Gottesbeziehung zu führen. Paulus nennt diese neue Gottesbeziehung „Gerechtigkeit Gottes werden in ihm (= Christus)“ (V. 21). In welchem Sinn kann diese Deutung des Todes Jesu Christi als Sühne bezeichnet werden? Paulus geht es nicht um eine rituell vollzogene Sühne (für die eigenen Sünden und die des Gottesvolkes), nicht um eine zu wiederholende Sühneleistung von Menschen, um Gottes Barmherzigkeit zu erlangen, nicht um eine Sühneleistung, die Gott von Menschen fordert und in diesem Sinne „braucht“. Paulus reformuliert das (biblische) Sühne-Motiv in Anwendung auf den Tod Jesu im Gesamtkontext der Verse 14-21. Wenn für den Vers 21 von Sühne gesprochen werden kann, dann sind in der Sache der Stellvertretungsgedanke und der Versöhnungsgedanke leitend: Die sich durch die Sünde manifestierende Verlorenheit, Ausweglosigkeit und Gottesferne der Menschen wird – Paulus deutet aus der Retrospektive Tod und Auferstehung Jesu Christi – in der proexistenten Lebenshingabe Jesu Christi und seiner Auferweckung grundsätzlich überwunden. Es ist Gott selbst, der durch Christus diese Gottesferne am Ort der größten Gottesferne – dem Fluchtod am Kreuz – überwindet. Die paulinische Theo-logie Paulus spricht insbesondere in den VV. 18-21 (aber nicht nur in diesen Versen!) ausdrücklich Gott als handelndes Subjekt, als Urheber und Souverän des Heilshandelns in Jesus Christus an. Es ist der eine Schöpfergott, der in Jesus Christus „neue Schöpfung“ heraufführt. Er war „in Christus“ und er hat durch Christus (durch die liebende Lebenshingabe Christi in den Tod und seine Auferweckung aus den Toten), die eschatologische Zeitenwende heraufgeführt und die korinthische Gemeinde („uns“), ja die ganze „Welt“, mit sich versöhnt. Er hat Paulus den apostolischen Auftrag gegeben, den „Dienst der Versöhnung“. Er hat das „Wort der Versöhnung“ durch die paulinische
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Evangeliumsverkündigung in der korinthischen Gemeinde „aufgerichtet“. Er hat in dem Kreuzestod Christi die Macht und den Fluch der Sünde überwunden. Die paulinische Ethik und ihr diakonischer Grundimpuls Ansatzpunkte für die paulinische Ethik ergeben sich aus dem Motiv der „Liebe Christi“, der proexistenten Lebenshingabe Christi, dem ermöglichten und geforderten Leben „dem, der für uns gestorben und auferstanden ist“ sowie der in der Gemeinde aufgerichteten Versöhnungsbotschaft: Wenn Paulus von der „Liebe Christi“ spricht, dann meint er die Liebe Christi, die seine Lebenshingabe bestimmt hat und die zugleich auch das Wirken des Auferstandenen kennzeichnet: Paulus selbst weiß sich „beherrscht“ von dieser Liebe Christi. Ausdrücklich spricht er den Herrschaftswechsel an von dem „sich selber Leben“ zum Leben „für den, der für uns gestorben und auferstanden ist“. Die Liebe Christi, die im stellvertretenden Sterben kulminiert, die Liebe des von Gott Auferweckten ruft die Glaubenden zur antwortenden Liebe: Liebe zu dem stellvertretend „für uns“ Gestorbenen und Auferstandenen hat ihr Maß an der Liebe Christi selbst: Aus Christi Lebenshingabe „aus seinem Sein für uns folgt unser Sein für ihn und, daraus abgeleitet, für andere.“69 Der Gemeinde bzw. den Glaubenden, die „in Christus“ „neue Schöpfung“ sind, die Gott mitsamt dem ganzen Kosmos durch Christus mit sich versöhnt hat, ist „der Dienst der Versöhnung“ anvertraut. Diese Indienstnahme aus der empfangenen Versöhnung richtet auf und verpflichtet. 3.3 Das paulinische Verständnis von diakonia im 2. Korintherbrief In den fünf parallel formulierten Wendungen: „Dienst des Todes“ (2 Kor 3,7), „Dienst des Geistes“ (2 Kor 3,8), „Dienst der Verurteilung“ (2 Kor 3,9), „Dienst der Gerechtigkeit“ (2 Kor 3,9) und „Dienst der Versöhnung“ 69
Klauck, 2 Kor (Anm. 33), 54.
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(2 Kor 5,18) spiegelt sich eine von Paulus gezielt eingesetzte und in Teilen polemische Systematisierung und Abstraktion. Im 1. Korintherbrief hatte er nur einmal das Nomen διάκονος (1 Kor 3,5) verwendet. Das Verb διακονέω begegnet dort nicht, zweimal das Nomen διακονία – jeweils ohne Genetiverweiterung (1 Kor 12,5 und 16,15). Im 2. Korintherbrief wird sowohl bei der Verwendung von διάκονος als auch bei διακονία der der Kontroverse geschuldete Profilierungsbedarf erkennbar: Paulus versteht und erklärt sich als „Diener des neuen Bundes“ (2 Kor 3,6) und als „Knecht (δοῦλος) Jesu Christi“ (2 Kor 4,5; vgl. Röm 1,1; Phil 1,1; Tit 1,1). In der zugespitzten Konfliktsituation in Korinth kann es sein, dass beide Seiten jeweils für sich in Anspruch genommen haben, „Diakonos“ bzw. „Diakonoi“ Christi zu sein (2 Kor 11,15[bis].23; vgl. analog die gegnerische Inanspruchnahme des Aposteltitels 2 Kor 11,13). Paulus versucht, im 2. Korintherbrief diese personenbezogene Rivalität zu vergrundsätzlichen: Mit dem jeweils um einen Genetiv erweiterten Abstraktum διακονία τῆς … spricht er eine Zuordnung und eine Relation an. Es geht um eine gegensätzliche Indienstnahme durch „den Tod“ oder „den Geist“, durch „die Verurteilung“ oder „die Gerechtigkeit“. Es geht um ein Auftragsverhältnis,70 um ein ausführendes 70
Insoweit ist dem Interpretationsansatz von Anni Hentschel, die διακονέω κτλ. durchgehend mit „Auftrag“, „beauftragen“ übersetzt, zuzustimmen. Zuzustimmen ist ihr auch, dass διακονέω κτλ. im 2 Kor nicht für karitative Tätigkeiten und nicht für ‚niedere‘ Dienstleistungen verwendet wird; vgl. A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II/226, Tübingen 2007, 90–184; dies., Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven der neutestamentlichen Ekklesiologie, BThS 136, Neukirchen-Vluyn 2013, 65–136; dies., Paul’s Apostleship and the Concept of Diakonia in 2 Corinthians, in: B. J. Koet, E. Murphy, E. Ryökäs (Hg.), Deacons and Diakonia in Early Christianity. The First Two Centuries, WUNT II/479, Tübingen 2018, 103–115, hier 102: Paulus verwende die beiden Begriffe ἀπόστολοι und διάκονοι „to his own role as a messenger mandated to preach the gospel in the name of Christ or God. In the light of the semantics of the Greek term διακονία and its cognates, any interpretation of the διακονία of Paul as a self-
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Handeln und insoweit um eine Asymmetrie zwischen Auftraggeber und ausführendem Organ. Gleichwohl ist für Paulus διάκονος kein neutraler, technischer Begriff: Dort, wo Paulus von „διάκονος Gottes“ oder „διάκονος Christi“ spricht (vgl. analog „δοῦλος“ oder „ἀπόστολος“ Christi), erhält der Begriff (a) eine titulare Bedeutung – Paulus und seine Gegner kämpfen ja gerade um diesen Titel – und (b) eine inhaltliche Bestimmung. Diese inhaltliche Bestimmung wird gerade in der Kontroverse herausgearbeitet: Der „Dienst der Versöhnung“ gewinnt seinen Charakter und seine Gestalt aus der einzigartigen Versöhnungstat Gottes in Christus, wie sie Paulus in 2 Kor 5,14-21 verdichtet reflektiert. Dieses Versöhnungshandeln Gottes braucht διάκονοι bzw. „Botschafter“, die sich in den „Dienst der Versöhnung“ stellen, die „das Wort der Versöhnung“ vergegenwärtigen. Die Versöhnungsbotschaft, für die Paulus antritt, bestimmt und profiliert das Apostelamt, das Paulus von Gott empfangen hat, und sie bestimmt die Art, diesen Auftrag konkret auszufüllen. Die Vergegenwärtigung des Versöhnungshandelns Gottes ist im hohen Maße existenziell: Nur wer diese Versöhnung selbst empfangen hat, wer „in Christus“ „neue Schöpfung“ ist und „dem lebt, der für uns gestorben und auferstanden ist“, wer sich also von „der Liebe Christi beherrschen“ lässt, kann selbst wirksam in den „Dienst der Versöhnung“ treten.71 Seinen Gegnern in Korinth spricht Paulus genau dies ab. abasing and self-sacrificing service for his communities is no longer possible” (102; wörtlich wiederholt 115). 71 Jens Schröter spitzt diesen Gedanken noch zu: Der apostolische Auftrag und die apostolische Botschaft sind nicht nur von existenzieller Prägekraft, sondern auch von soteriologischer Relevanz: Paulus verstehe sich in 2 Kor 5 als ein Mittler, dessen Verkündigung selbst auch ein Teil des Heilsgeschehens ist. Demzufolge sei die Versöhnung erst zur Gänze abgeschlossen, wenn die Versöhnungsbotschaft von einzelnen Personen angenommen worden ist; vgl. J. Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2 Kor 2,14-7,4, TANZ 10, Tübingen 1993, bes. 31.195. Differenzierter urteilt Udo Schnelle: „Als von Gott berufener Apostel (vgl. 2Kor 2,16f; 3,5f) verkündigt Paulus das Wort
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Paulus entfaltet im 2. Korintherbrief keinen Aufgabenkatalog für eine ‚diakonische‘ Praxis in der Gemeinde (wie er es in Ansätzen in 1 Kor 12 tut). Dieses Anliegen steht in der Situation, die Paulus im 2. Korintherbrief zu reflektieren sich gezwungen sieht, nicht im Fokus. In den Fokus rückt Paulus vielmehr das Zentrum seines Evangeliums, das er neu als ein Versöhnungshandeln Gottes formuliert, das nicht sediert, sondern in die Verkündigung des Evangeliums involviert und integriert: Jeder Mensch, der sich durch die Versöhnungsbotschaft mit Gott versöhnen lässt, wird selbst zum Boten der Versöhnung: Alles menschliche Handeln in Wort und Tat steht im Dienst der Versöhnungsbotschaft. Jeder und jede mit Gott Versöhnte lebt in einer neugeschaffenen Gottes- und Christusbeziehung. Dieses neue Leben nach dem Maß der Liebe bzw. Lebenshingabe Jesu Christi wird selbst auch zu einem Gleichnis für das Versöhnungshandeln Gottes.
der Versöhnung (vgl. 2Kor 5,11-21). Sein Dienst ist Teil der von Gott geschenkten Versöhnung in Jesus Christus. (vgl. 2Kor 5,19-21). … In der Versöhnungstat gründet das Amt der der Versöhnung (2Kor 5,18b). … zugleich ereignet sich in dieser Verkündigung die Versöhnung mit Gott, im Wort ist das Heilsgeschehen präsent. Paulus proklamiert eine Koinzidenz von Gottes Wort am Kreuz und dem apostolischen Wort der Versöhnung“ (Schnelle, Einleitung [Anm. 2], 112); vgl. auch Wolff, 2 Kor (Anm. 1), 130: „Gottes universales Versöhnungshandeln und die Versöhnungsbotschaft sind also voneinander unterschieden, nämlich als einmalige Tat Gottes am Kreuz Christi und deren Vergegenwärtigung in der Verkündigung.“
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Leidensgemeinschaft (Phil 3,10) Mutmaßungen zur Anthropologie diakonischen Handelns anhand einiger Paulustexte Nach einer geläufigen Trias gehört diakonia neben martyria und leiturgia zu den Grundvollzügen kirchlichen Lebens: Zum öffentlichen Bezeugen des Evangeliums und zur Feier des Gottesdienstes und der Sakramente kommt die tätige Zuwendung zu notleidenden Menschen.1 „Diakonie“ ist „ein Bemühen, das nicht mehr will, als einem Menschen in seiner Not zugute zu kommen“.2 Diakonisches Handeln ist damit eo ipso Teilnehmen am Leiden anderer. Dabei kann das Ausharren beim leidenden anderen ein über-sich-Hinaussein zum anderen hin zeitigen, das nicht nur dem ethisch Gebotenen entspricht, sondern zugleich auch neue Beziehungen stiftet. Leidensteilhabe ist so gesehen eine menschliche Grundausstattung und eine natürliche Äußerung des Lebens als Leben in Beziehungen und damit nicht (nur) eine solidarische Inkaufnahme der Minderung eigener Lebensmöglichkeiten, sondern (auch) eine positive Lebensäußerung. Die Umgangssprache legt Spuren zu dieser Ambivalenz, etwa in der lexematischen Schnittmenge zwischen dem negativ konnotierten „Leid“ und der positiv besetzten „Leidenschaft“ oder in der Redewendung, dass man „jemanden leiden kann“, was mit anderen Worten heißt, dass man ihn oder sie mag. Auch das Fremdwort „Sympathie“ gehört hierher, das ja wörtlich übersetzt „Mitleid“ heißt, sowie die H. Janßen, Über die Herkunft der Trias Martyria – Leiturgia – Diakonia, ThPh 85, 2010, 407–413; C. Grethlein, Praktische Theologie, Berlin, Boston 2012, 163–167; E. Hauschildt, U. Pohl-Patalong (Hg.), Kirche, Lehrbuch PT Bd. 4, Gütersloh 2013, 420; J. Knop, Diakonische Kirche unter den Bedingungen der Diaspora, IKaZ 47, 2018, 216–228. 2 P. J. R. Abbing, Art. Diakonie II. Theologische Grundprobleme der Diakonie, TRE 8, 1981, 644–656, 644.
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Redensart, dass Menschen einander zu „Leidensgenossen“ werden können, womit gesagt ist, dass gemeinsame Leiderfahrung eine enge und dauerhafte Verbindung zwischen Menschen schaffen kann.3 Im Folgenden sind drei Paulustexte in Augenschein zu nehmen, in denen sich dieser Sachverhalt niederschlägt und damit zugleich einen wichtigen Aspekt der Begründungslogik dieser Texte freilegt, ein anthropologisches Substrat, das religiös nur dann zum Klingen kommt, wenn es nicht a priori innerhalb einer religiösen Matrix gedeutet wird. Vielmehr ist von einem gegenseitigen religiösanthropologischen Resonanzverhältnis auszugehen, das sich im vorliegenden Fall darin äußert, dass ein nichtreligiös beschreibbarer Sachverhalt4 gerade in religiösen Tex-
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Die Bosheit der Lager zeigt sich nicht zuletzt daran, dass ihre Akteure in der Inszenierung totaler Entmenschlichung (hierzu neuerdings in dt. Übersetzung D. Rousset, Das KZ-Universum, Berlin 2020 [frz. L’Univers concentrationnaire, Paris 1946]) auch noch das humane Potential geteilten Leids zu vernichten trachteten. Die naive Erwartung, die Überlebenden seien, weil Leiden läutere und die ständige Todesdrohung den Wert des Lebens sehen lehre, bessere Menschen geworden und verfügten nun über besondere moralische Autorität, lässt damit erkennen, dass sie vom Grauen keinen Begriff hat. Dass unter anderen Umständen extreme Leiderfahrung in einzigartiger Weise Menschen dauerhaft zu einer lebenslangen Gemeinschaft zusammenschließen kann, zeigt das Beispiel der uruguayischen Rugby-Mannschaft, die 1972 nach dem Absturz ihres Flugzeuges in den Hochanden mehrere Wochen unter extremen Bedingungen ausharrten, bevor sie wider Erwarten doch noch gerettet wurden. Die Überlebenden treffen sich bis heute jährlich und pflegen damit ihre lebenslange, enge Verbundenheit. Lit.: N. Parrado, 72 Tage in der Hölle, München 52008; P. P. Read, Überleben. Die wahre Geschichte des Flugzeugabsturzes in den Anden, München 22012; R. Canessa, I had to survive, London 2016; P. Algorta, Into the Mountains, London 2016. Eine Dokumentation mit Interviews der Überlebenden ist unter Documental – La Sociedad de la Nieve mit englischen Untertiteln bei youtube zugänglich (https://www.youtube.com/watch?v= R2qWqwk3XnM, letzter Zugriff: 31.1.2020). 4 So bereits in der aristotelischen Freundschaftsethik; vgl. A. Inselmann, Zum Affekt der Freude im Philipperbrief. Unter Berücksichtigung pragmatischer und psychologischer Zugänge, in: J. Frey,
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ten mit besonderer Prägnanz seinen sprachlichen Ausdruck findet, bis hin zur formelhaft verdichteten Wendung κοινωνὶα παθημάτων in Phil 3,10. Ihr verdankt sich die Fragestellung des vorliegenden Beitrages, weshalb der Passus Phil 3,1-11 am Anfang steht, gefolgt von 2 Kor 1,3-7 und 1 Thess 2,14-16. 1. κοινωνὶα παθημάτων: Phil 3,1-11 Mit τὸ λοιπόν in V. 1a wird ein Neueinsatz markiert über das „im Übrigen“ noch zu Sagende,5 das durchaus raumgreifend sein und also auch im Mittelteil eines Briefes stehen kann,6 mithin nicht notwendig als Schlussformel auf einen ursprünglichen Briefschluss deutet.7 V. 1b τὰ αὐτὰ γράφειν bezieht sich nicht auf den Aufruf zur Freude, sondern (mit Bezug auf früher8 schriftlich9 oder mündlich10 Geäußertes) auf die scharfe Gegnerpolemik11 in V. 2, verbunden mit der Antithese ἡμεῖς γάρ ἐσμεν ἡ περιτομή in B. Schließer (Hg.), Der Philipperbrief des Paulus in der hellenistischrömischen Welt, WUNT 353, Tübingen 2015, 255–288, 265f. 5 G. D. Fee, Paul’s Letter to the Philippians, NICNT, Grand Rapids 1995, 288. 6 Geläufig auch in antiken Privatbriefen; vgl. L. Alexander, Hellenistic Letter-Forms and the Structure of Philippians, in: S. E. Porter, C. G. Evans (Hg.), The Pauline Writings, Sheffield 1995, 232–246, 242. 7 So aber P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin, New York 1975, 160. 8 A. H. Snyman, A Rhetorical Analysis of Philippians 3:1-11, Neotest 40, 2006, 259–283, 266. 9 R. A. Lipsius, Briefe an die Galater, Römer, Philipper, HC 2.II, Freiburg 1892, 234. 10 J. Gnilka, Der Philipperbrief, HThK X/3, Freiburg/Basel/Wien 1976, 185. 11 Fee, Paul’s Letter (Anm. 5), 292f. Der Aufruf zur Freude und die Aufforderung, auf die „Hunde“ zu achten, treffen für modernes Empfinden hart auf einander, weshalb oft zwischen 3,1a und 3,1b (Züricher Bibel 1971) oder zwischen 3,1 und 3,2 (BasisBibel) ein Abschnittswechsel eingefügt wird. Aber die Verbindung von Disposition zur Freude und Bereitschaft zum Konflikt ist frühchristlich auch sonst geläufig; vgl. etwa Mt 5,11f. par. Auch in der paulinischen Zeichnung
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V. 3a, die die Adressaten in das Satzsubjekt inkludiert (oder ihnen die jüdischen Christusgläubigen, die auf der Seite der beschneidungsfreien Heidenmission stehen, an die Seite stellt)12 und ihnen damit gegenüber Akteuren, die nichtjüdische Christusverehrer als jüdische Vollproselyten gewinnen wollen, den Rücken stärkt. V. 1a ist über die Wendung τὸ λοιπόν auch dadurch ein Auftakt zum Folgenden, dass an den Aufruf zur Freude ἐν κυρίῳ mit ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ in V. 3b und die nachfolgenden christologischen Aussagen angeknüpft wird: Der bis V. 11 reichende Abschnitt führt aus, was die von Freude grundierte Zugehörigkeit zu Christus bedeutet. Diese lässt sich aber jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang offenbar nur antithetisch beschreiben, d.h. nicht nur, aber eben auch in der Beantwortung der Frage: Die Zugehörigkeit zu Christus ist das Gegenteil wovon?13 Auch die Antwort auf die Frage, wie das in V. 10 angesprochene „Erkennen der κοινωνία der παθήματα Jesu“ konkret zu fassen ist, hängt an der Einzeichnung dieses Gedankens in die in 3,4-11 formulierte Antithese. Was Paulus am eigenen Beispiel in 3,4-11 ausführt, fasst V. 3b vorgreifend in den Gegensatz „sich Rühmen in Christus Jesus“ versus „Setzen auf das Fleisch“. Ab V. 4 spricht Paulus in der 1. Pers. Sg., weil er auf diese Weise am eigenen Beispiel eines christusgläubigen pharisäisch geprägten Juden a fortiori zeigen kann, warum ein formeller Übertritt zum Judentum für nichtjüdische Christusverehrer kategorisch ausscheidet: Die nichtjüdischen Adressaten können unmöglich anstreben,
von Phil 3,1f. wird der Affekt der Freude durch Konflikt und Konfrontation nicht geschmälert, sondern gefestigt. 12 So H. Köster, The Purpose of the Polemic of a Pauline Fragment (Phil 3), NTS 8, 1962, 317–332, 320f. 13 Der literarkritische Schnitt zwischen 3,1 und 3,2 (u.a. U. B. Müller, Der Brief der Paulus an die Philipper, ThHK 11/I, Leipzig 22002, 138) zerreißt diesen Zusammenhang bzw. wird ihn als Überinterpretation kritisieren. Aber das Beseitigen von Antagonismen verdankt sich nicht methodischer Präzision, sondern interpretatorischer Vorannahmen.
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wovon sich der Jude selbst mit Nachdruck distanziert.14 Mit dem zweifachen ἐν σαρκί in V. 4 knüpft Paulus an V. 3b οὐκ ἐν σαρκὶ πεποιθότες an und expliziert damit den negativen Teil der Antithese: Das Setzen auf die σάρξ scheidet aus, auch und gerade für Paulus, obwohl/wenngleich (καίπερ) er als Jude hier etwas vorweisen kann und von seinen Voraussetzungen her „auch auf das Fleisch“ (καὶ ἐν σαρκί) setzen d.h. den Christusglauben mit dem (aus der Sicht von Juden und Sympathisanten) herausgehobenen Status des Judesseins verbinden kann (was er aber, wie er gleich ausführen wird, nicht tut). Das zunächst schlagwortartige πεποιθέναι ἐν σαρκί (V. 4b) wird in V. 5f. inhaltlich bestimmt als Rekurs auf das Judesein des Paulus, das er im Blick auf die Beschneidung, seine Zugehörigkeit zu Israel, seine Herkunft aus dem Stamm Benjamin als „Hebräer aus Hebräern“ und als Pharisäer, seinen „Eifer“ und seine untadelige δικαιοσύνη ἐν νόμῳ spezifiziert. All dies sind nun keineswegs Eigenschaften, die – und sei es nur nach paulinischer Auffassung in Verzeichnung jüdischer Gottesverehrung – Juden gegenüber Gott geltend machen in angeblicher jüdischer Selbst- oder Werkgerechtigkeit, so als entspreche es antik-jüdischem Selbstverständnis, sich das Heil bei Gott verdienen zu können. Vielmehr zählt Paulus hier am Beispiel seiner eigenen Biographie zunächst Eigenschaften auf, worin Juden sich von Nichtjuden objektiv unterscheiden. Ein Nichtjude ist nun einmal kein Israelit vom Stamme Benjamin, kein Hebräer usw. Im πεποιθέναι ἐν σαρκί kommt nun aber zu der objektiven Unterscheidung der die anderen abwertende Vergleich. Mit der pejorativ verstandenen σάρξ ist bei Paulus der Vergleich mit anderen auf Kosten anderer im Blick, wie sich etwa an 1 Kor 3,3f. (die Korin-
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Die Argumentation anhand des eigenen Beispiels war möglicherweise auch deshalb unumgänglich, weil die Gegner auf Paulus als Christusgläubigen, der als Jude zugleich auch beschnitten war, verweisen konnten, ebenso auf Jesus selbst; vgl. K. Berger, Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh 2011, 728.
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ther sind σαρκίνοι, weil und insofern sie durch ihr Konkurrenzdenken in Eifersucht und Streit verfallen) oder Gal 5,19f. (die „Werke der σάρξ“ wirken negativ innerhalb von Sozialbeziehungen) zeigen lässt. Durch antithetische Formulierungen und Zuspitzungen in V. 7f. führt Paulus aus, dass für ihn dieses sich auf Kosten anderer mit anderen Vergleichen – konkret: sich als Jude zum eigenen Vorteil von Nichtjuden zu unterscheiden im Sinne der in Gal 2,15 formulierten Unterscheidung von Ἰουδᾶιοι / ἁμαρτωλόι ἐξ ἐθνῶν – nicht mehr in Frage kommt. Durch Christus wurde sein Verhältnis zu den Heiden grundlegend verändert, eine Veränderung, die er so drastisch wie möglich zur Sprache bringt: Was er vorher hochhielt und sich zugutehielt, tritt er nun in den Schmutz. Er begnügt sich nicht mit einer Neutralisierung wie in 1 Kor 7,19 („Die Beschneidung ist nichts, und die Unbeschnittenheit ist nichts“), sondern spitzt das nunmehr „Wertneutrale“ seines Judeseins zu im Bild des Abfalls, an dem der Gestank der Gosse haftet. Diese drastische Entwertung ist rhetorisch nötig, weil Judesein von der judaisierenden Mission aktuell noch unvermindert als religiöses Statusmerkmal propagiert wird. Die grundlegende Neuorientierung des Paulus im Blick auf das Verhältnis von Juden und Nichtjuden, die zwingend ein Konzept von Völkermission nach sich zieht, das Nichtjuden Nichtjuden sein und die Forderung nach Vollkonversion durch Übernahme der jüdischen Lebensweise fallen lässt, vollzog Paulus διά τὸν Χριστόν (V. 7) bzw. διὰ τὸ ὑπερέχον τῆς γνώσεως Χριστοῦ Ἰησοῦ (V. 8), und er richtet sein ganzes Streben darauf, „Christus zu gewinnen“ (V. 8). Die nichtjüdischen Adressaten sollen am Beispiel des Paulus lernen, dass die Christuszugehörigkeit keinesfalls mit dem Statusgewinn des Jüdischwerdens in Einklang zu bringen ist. Warum das so ist, wird im ganzen Abschnitt nicht ausgeführt. Die aufgerufene Antithese „Rühmen in Christus versus Setzen auf das Fleisch“ (V. 3) wird zwar inhaltlich gefüllt, nicht aber begründet, womit das Verständnis des Abschnitts nicht eben erleichtert wird.
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Redlicherweise ist m.E. auch zu konzedieren, dass die judaisierende Auffassung, dass Nichtjuden, die sich am Ende des alten Äons dem von Gott gesandten Messias Israels zuwenden, selbstverständlich und mit Freude Juden werden in Erfüllung alter Verheißungen, dass am Ende der Zeit auch Heiden zum Glauben an den Gott Israels finden, weder böswillig noch abwegig ist. Umso spannender ist die Frage, warum Paulus dieses Modell so kategorisch verwirft. Für die Beantwortung der Ausgangsfrage, was wir uns unter der κοινωνία der παθήματα Jesu vorstellen sollen, muss hier wenigstens skizzenhaft eine Antwort versucht werden, ein Versuch, der zunächst auch deshalb unabdingbar ist, weil das mit guten Gründen in Verruf geratene christliche Stereotyp von der jüdischen Selbst- und Werkgerechtigkeit an Formulierungen wie ἐμὴ δικαιοσύνη ἡ ἐκ νόμου in V. 9 ihren geradezu natürlich anmutenden Haftpunkt hat. Dass mit diesem Stereotyp etwas nicht stimmen kann, zeigt ein Durchgang durch die Literatur des Frühjudentums, wie er im Anschluss an Ed P. Sanders15 etwa von Wolfgang Schenk16 in der Diskussion von Phil 3,9 unternommen wurde: Selbstverständlich weiß eine „torafromme“ jüdische Selbstauffassung beispielsweise der Qumranschriften oder der Psalmen Salomos etwas von Schuld und Vergebung, von Gottes Treue
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E. P. Sanders., Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, London 1977. 16 W. Schenk, Die Philipperbriefe des Paulus, Stuttgart 1984, 298–302 über „[d]as unberechtigte Axiom von einer jüdischen Werkgerechtigkeit“ (298). N. Livesey, Paul, the Philonic Jew (Philippians 3,5-21), ASEs 27, 2010, 35–44. liest die paulinische Abwertung seines eigenen jüdischen Status von der hellenistischen Ethik der Selbstbeherrschung in ihrer Rezeption durch Philon her, der Abraham als Vorbild einer Orientierung weg von der Leibverfallenheit hin zu der unsichtbaren/himmlischen Wirklichkeit Gottes interpretiert. Damit zeige sich: „Neither Philo nor Paul speaks of changing his religious affiliation from Jew to something else“ (44). Aber gibt es bei Philon Analogien zur paulinischen Auffassung, dass ein Nichtjuden abwertendes Selbstverständnis als Jude etwas ist, das zugunsten des „upper calling of God“ als „primary pursuit of the people of God“ (44) aufzugeben ist?
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mit seinem untreuen Volk, von notwendiger Demutsgesinnung gegenüber Gott im Angesicht der eigenen Fehlbarkeit wie auch der notorischen Widerspenstigkeit Israels im Laufe seiner Geschichte. Dass Paulus demgegenüber nicht das Bild des selbstgerechten Juden erzeugen wollte, ist m.E. anzunehmen, schon allein seiner mangelnden Plausibilisierbarkeit wegen, denn jeder judaisierende Missionar hätte doch auf Nachfrage bestätigt, dass auch Juden nicht einfach dadurch vor Gott bestehen, dass sie die Gebote der Tora halten, sondern dadurch, dass Gott seinem Bund treu bleibt, Israel gnädig ist und wieder und wieder Vergebung gewährt. Was meint aber dann ἐμὴ δικαιοσύνη ἐκ νόμου? Es ist diejenige δικαιοσύνη, von der der Jude Paulus mit seiner eindrucksvollen Abstammung und Prägung und seiner Treue zu dem in der Tora niedergelegten Gotteswillen gegenüber Nichtjuden einst sagte: „Sie ist meine und nicht eure“.17 Also nicht Gott gegenüber hat Paulus einst „meine Gerechtigkeit“ gesagt und diese auch nicht in einer antik-jüdisch gedacht ausweislich der Quellen im Grunde völlig unmöglichen Vermessenheit vor Gott und von Gott eingefordert, sondern gegenüber Nichtjuden, die er, da sie den in der Tora niedergelegten Gotteswillen gar nicht kannten, pauschal als ἁμαρτωλόι (vgl. Gal 2,15) ansah. Welcher Art ist dann aber die in Christus sich erschließende δικαιοσύνη ἐκ θεοῦ (V. 9)? Mit dem Text gesagt, wie wir ihn bisher paraphrasiert haben: Es ist diejenige Gerechtigkeit, die Gott auch den Heiden zuerkennt, und zwar als Heiden, wodurch dann ganz folgerichtig der von den objektiven Gegebenheiten her ja material mögliche und eigentlich keinesfalls abwegige von Juden
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So auch J. D. G. Dunn, Philippians 3.2-14, in: ders., The New Perspective on Paul. Collected Essays, WUNT 185, Tübingen 2005, 463– 484, 469 zu πεποίθησις ἐν σαρκί (Phil 3,4): „The confidence expressed thus far is clearly in ethnic terms. The implication, of course, is that those not circumcised, not of the people of Israel, could not share the same confindence“.
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anzustellende Vergleich mit den Heiden zu Lasten der Heiden wegfällt und für unstatthaft erklärt wird.18 Lässt sich die Erwählung der Heiden als Heiden in ihrer Begründungslogik weitergehend aufhellen? Ausweislich der Antithese von σάρξ und Χριστός in 3,3 legt unser Text eine christologische Spur. Näherhin ist das, wofür Paulus das „Setzen auf das Fleisch“ nur zu gern drangibt, die intensive Christusbindung, das Sein „in ihm“ (ἐν αὐτῷ). Dieser Aspekt ist auch für die γνῶσις Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ κυρίου μου (V. 8) und das γνῶναι αὐτόν (V. 10) stark zu gewichten, denn im Erkenntnisbegriff schwingt an diesen Stellen der Aspekt des Kennenlernens durch Erfahrung
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Vgl. auch C. Strecker, Leben als liminale Existenz. Kulturanthropologische Betrachtungen zum frühchristen Existenzverständnis am Beispiel von Phil 3, EvTh 68, 2008, 460–472, 469f.: „[D]ie in Phil 3,9 begegnende Kontrastierung zweier Formen der Gerechtigkeit“ lässt sich „wie folgt deuten: Die von Paulus negierte eigene Gerechtigkeit, die aus dem Nomos kommt, steht – worauf das Possessivpronomen ,meine‘ weist – für jüdische Exklusivität und damit implizit für die Forderung, Nichtjuden könnten allein qua Beschneidung, also nur durch Integration in jüdische Identität Gerechtigkeit erlangen. Dieser exklusiven Gerechtigkeit stellt Paulus die ,Gerechtigkeit aus Gott‘ gegenüber, die in der πίστις Χριστοῦ gründet und von daher Juden wie Nichtjuden gleichermaßen offen steht. Diese Gerechtigkeit aus Gott aufgrund der πίστις ist, wie Paulus an anderer Stelle ausführt (vgl. Röm 1,16f.; 3,21-31), ethnisch inklusiv. Sie lässt die Beschneidungsforderung der Konkurrenten obsolet werden. Trifft diese Deutung zu, so geht es in dem knappen, anspielungsreichen rechtfertigungstheologischen Nebensatz in Phil 3,9 um eine liminale Auflösung exklusiver ethnischer Strukturpositionen zugunsten inklusiver Anti-Struktur. Es rückt dann indirekt eine horizontale Communitas aus Juden und Nichtjuden in den Blick“. Zustimmend T. Schmeller, Zwei Narrenreden? 2Kor 11,21b-33 und Phil 3,2-11 im Vergleich, in: Frey, Schließer, Der Philipperbrief des Paulus (Anm. 4), 189–205, 202 mit Anm. 18, und P. Reinl, Plädoyer gegen die Schaffung neuer Ränder in der Gemeinde von Philippi. Phil 3,1b-11(21) und das kulturanthropologische Modell „Ehre und Scham/Schande“, in: Randfiguren in der Mitte (FS H.-J. Venetz), hg. v. M. Küchler, ders., Luzern, Freiburg (Schweiz) 2003, 117–134, 127 mit Anm. 34.
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und Begegnung mit.19 In V. 10 ist das erste καί epexegetisch aufzufassen,20 d.h. „ihn (Jesus) erkennen“ heißt konkret: die δύναμις seiner Auferstehung und die κοινωνία seiner παθήματα durch Erfahrung und Begegnung kennenzulernen, seiner innezuwerden. Der schon in V. 1 (ἐν κυρίῳ), V. 3 (ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ) und V. 9 (ἐν αὐτῷ) anklingende Aspekt der Zugehörigkeit und Beziehung wird in V. 10 mit dem Terminus κοινωνία nun auch begrifflich explizit: Was Paulus, so können wir nun vorläufig formulieren, gegen das „Setzen auf die σάρξ“ eintauscht, ist die Zugehörigkeit zu bzw. die Gemeinschaft mit Jesus, die neben der Erfahrung seiner Auferstehungs-δύναμις namentlich und konkret als uneingeschränkte Teilhabe an seinem Leidensgeschick aufzufassen ist, die Paulus erfährt „als“ jemand, der dem Tode Jesu gleichgestaltet wird.21 Die Orientierung am und die Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten ist der Widerpart zum Sich-Vergleichen mit anderen auf Kosten anderer. An die Stelle der Unterscheidung „wir versus die anderen“ tritt nun (bei gegebener Verschränkung beider Unterscheidungen) diejenige von „oben versus unten“. Da nämlich des Gottessohnes „Tod am Kreuz“ (2,8) den Punkt seiner maximalen Erniedrigung markiert, ist Paulus, der sich als Jude in der Hierarchie Juden/Heiden „oben“ positioniert hat, gezwungen,
Fee, Paul’s Letter (Anm. 5), 318: „,[K]nowing Christ‘ does not mean to have head knowledge about him, but to ,know‘ him personally (...) and relationally‘“. Das paulinisch singuläre Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ κυρίου μου verstärkt diesen Aspekt, so auch Snyman, A Rhetorical Analysis (Anm. 8), 272f.275, und bereits Schenk, Philipperbriefe (Anm. 16), 305f., in Abgrenzung zum Begriff rein kognitiven „Wissens“. 20 Fee, Paul’s Letter (Anm. 5), 328. 21 G. Hotze, Paradoxien bei Paulus. Untersuchungen zu einer elementaren Denkform seiner Theologie, NTA NF 33, Münster 1997, 246, betont m.R. die Gleichzeitigkeit. Engste Sachparallele ist 2 Kor 4,10. Dagegen votiert H. Wojtkowiak, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012, 185, konsequent für „[e]in futurisches Verständnis der Christusteilhabe durch Mitleiden, Mitsterben und Mitauferstehen“.
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sich, weil er dem gekreuzigten Messias angehört, nunmehr „unten“ zu positionieren. Der ehedem die Heiden verachtet hat, gehört nun dem an, der verachtet ist. Der zuvor Judesein (im sozialen Verteilungskampf um Ehre) als Ehre verstand, teilt nun (gleichfalls in gewollter sozialer Erkennbarkeit)22 die Schande des völlig Entehrten. Dies ist ein Stück paulinischer Kreuzestheologie, deren Kernaussage der soziale Positionswechsel ist.23 Nach Phil 3,18f. sind „Feinde des Kreuzes Christi“ diejenigen, die analog zum Verhältnis von Schaden (ζημία) und Gewinn (κέρδος) in 3,7f. einen Begriff von Ehre (δόξα) und Schande (αἰσχύνη) haben, der demjenigen des Paulus, von der Leidensgemeinschaft mit dem Gekreuzigten her denkend, völlig entgegensteht. Der kreuzestheologisch geforderte soziale Positionswechsel kommt deutlicher noch in 1 Kor 1,17-31 zum Tragen: Gott hat, weil die Gebildeten und Einflussreichen den Gottessohn getötet haben, zur Beschämung der Gebildeten die Ungebildeten „erwählt“ (ἐξελέξατο) und zur Beschämung der Einflussreichen die Unbedeutenden (1 Kor 1,26-29). Paulus attackiert damit die konkurrenzförmige und gemeinschaftszerstörende soziale Aufwärtsmobilität der korinthischen Gemeinde: Die Adressaten haben, indem sie um Bildung und sozialen Einfluss wetteifern, nicht verstanden, dass Gott die Ungebildeten als Ungebildete erwählt hat und die Bedeutungslosen als Bedeutungslose. Nun zu sagen, dass die gläubig gewordenen Ungebildeten sich bilden müssen und die gläubig gewordenen Unbedeutenden sich um gesellschaftlichen Einfluss bemühen sollen, würde dem göttlichen Erwählen geradezu seine Pointe und Gott regelrecht das Heft aus der Hand nehmen, würde „das Kreuz des Christus entleeren“ (1Kor 1,17). Dieser Aspekt ist mit εὑρεθῶ angesprochen. Gemeint ist ein Wahrgenommenwerden durch andere; vgl. hierzu M. Vogel, Commentatio mortis. 2Kor 5,1-10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi, FRLANT 214, Göttingen 2006, 248f. 23 Hierzu M. Vogel, Theologien des Kreuzes, ThLZ 136, 2011, 723– 738, 724–731. 22
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Von hier aus lassen sich argumentativer Kontext und Duktus in Phil 3,1-11 noch klarer konturieren: Wie Gott die Ungebildeten und Einflusslosen als Ungebildete und Einflusslose erwählt hat, ohne dass sie nun Bildung und Einfluss erwerben müssen – und würden sie es versuchen, hätten sie nichts verstanden – so hat Gott auch die Heiden als Heiden erwählt, ohne dass sie Juden werden müssten, und auch hier gilt: Würden sie es dennoch erstreben, hätten sie nichts verstanden. Das Eintreten des Paulus für die gesetzesfreie Heidenmission und sein erbitterter Kampf gegen die judaisierende Alternative wird von hier aus kenntlich als Konsequenz seiner Kreuzestheologie, die in der Solidarität mit dem Gekreuzigten und vom Ort äußerster Schande aus das Ganze menschlicher Sozialbeziehungen neu strukturiert, orientiert und normiert.24 Die von Paulus erstrebte κοινωνία der παθήματα Jesu bis hin zur „Gleichgestalt seines Todes“ markiert den Ort äußerster sozialer Exklusion,25 den Paulus aufsucht, weil er den 24
In diese Richtung geht auch die Interpretation von Phil 3,7-11 bei Reinl, Plädoyer (Anm. 18), 131: „Die Christozentrik dieses Abschnitts unterstreicht, dass sein [d.h. des Paulus, M.V.] Anderer der Messias ist und nicht mehr die nach den Regeln von ,Ehre und Scham / Schande‘ lebende Öffentlichkeit, zu der er auch die Judaisten zählt“. 25 Schenk, Philipperbriefe (Anm. 16), 328, gibt 3,10 in seiner paraphrasierenden Übersetzung folgendermaßen wieder: „Gott wollte, dass ich mit diesem Christus bekannt und vertraut würde, und d.h. sowohl von derjenigen ,Auferstehungskraft‘, die er hat, als auch von den Verfolgungen, die den seinen entsprechen, ,mitbetroffen zu werden‘, also wohl ,gleichgestaltet zu werden‘ – aber eben seinem Verfolgungstod“. Zur Begründung der Konnotation „Verfolgung“ (was hier soziale Exklusion und Repression genannt wird) von „Leiden“ und „Tod“ vgl. a.a.O., 320–322. Der u.a. von R. P. Martin, Philippians (NCB), London 1976, 134, und J.-F. Collange, The Epistle of Saint Paul to the Philippians, London 1979, 130, eingebrachte Bezug auf die Taufe (Röm 6,111) ist dann weiterführend (und nicht etwa eine spiritualisierende Verinnerlichung wie etwa bei G. W. Hawthorne, Philippians, WBC 43, Waco 1983, 145), wenn die Taufaussagen in Röm 6 ihrerseits auf dem Hintergrund sozialer Desintegration gelesen werden. Das „Mitgekreuzigtsein des alten Menschen“ (Röm 6,6) meint dann konkret den Zerbruch der bisherigen, nunmehr als verfehlt erkannten Sozialbeziehungen innerhalb der römischen Mehrheitsgesellschaft („Zunichtewerden
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Messias dort zu finden hofft und mit dem Messias Gott selbst,26 der ihn von den Toten auferweckt und damit den Verachteten als Verachteten ins Recht und seine Verächter ins Unrecht gesetzt hat.27
des σῶμα τῆς ἁμαρτίας“; zu σῶμα als sozialem Kontaktorgan s.u. Anm. 31). 26 Es geht also nicht um ein Ertragen der Leiden in der Kraft der Auferstehung, als bedürfte es der lebensfördernden Erfahrung der Auferstehungs-Dynamis, um die lebensmindernde Leidensgemeinschaft durchstehen zu können, so aber Snyman, A Rhetorical Analysis (Anm. 8), 276: „Christ’s resurrection as the means for enabling Paul to endure suffering“), ähnlich Fee, Paul’s Letter (Anm. 5), 330: „Without the power inherent in Christ’s resurrection, present suffering (…) is meaningless“. Nein! Es eröffnet κοινωνία! Gemeint ist eine soziale Selbstpositionierung eigenen Rechts als Modus und Medium der Gottes- und Christusgemeinschaft. Die Leidensgemeinschaft hat ungeachtet der auffälligen Voranstellung der Auferstehungsaussage (hierzu Hotze, Paradoxien [Anm. 21], 247f.) mithin einen Eigenwert. In der Leidenstheologie des 1Petr ist dieser Aspekt weiter zugespitzt zu dem Gedanken, dass Leidensteilhabe in der Gegenwart überhaupt der einzige Modus der Christusgemeinschaft ist; vgl. hierzu K. Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments, SBS 147/147, Stuttgart 1991, 216– 225. Unstrittig ist, dass in Phil 3,10f. Auferstehungs-Dynamis, Leidensteilhabe bis hin zur Gleichgestalt des Todes und AuferstehungsHoffnung (ausführlich hierzu auch V. Koperski, The Knowledge of Jesus Christ my Lord. The High Christology of Philippians 3:7-11, Kampen 1996, 239–285) zusammenzudenken sind, zumal dann, wenn der (textkritisch unsichere) bestimmte Artikel vor κοινωνίαν zu streichen und τὴν δύναμιν τῆς ἀναστάσεως αὐτοῦ καὶ κοινωνίαν [τῶν] παθημάτων αὐτοῦ als ein einziger Sachverhalt mit zwei Aspekten zu verstehen ist. Aber über die Verhältnisbestimmung der Teilaussagen in V. 10f. (zur chiastischen Textsegmentierung: Schenk, Philipperbriefe [Anm. 16], 251) ist damit noch nicht viel gesagt. 27 Der Ausblick auf die Auferstehung der Toten in V. 11 – zu εἴ πως vgl. R. E. Otto, „If Possible I May Attain the Resurrection from the Dead“ (Philippians 3:11), CBQ 57, 1995, 324–340 – heißt jedenfalls auch: Es gibt diesen Ausblick (ähnlich Röm 8,17) für Paulus nicht anders als über die Gleichgestalt des Todes Jesu, denn Gott hat den äußerster Schande Preisgegebenen auferweckt und (einstweilen) keinen sonst. Mit Hans Weder, den W. Harnisch, Selbstempfehlung als Plädoyer für den Gekreuzigten. Rhetorisch-hermeneutische Erwägungen zu Phil 3, in: Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker), hg. v. U. Mell, U. B. Müller, Berlin, New York 1999,
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Wenn wir nun nach der Einordnung von 3,1-11 in den literarischen Zusammenhang des Briefganzen fragen, fällt unser Blick zuerst auf 3,17: Συμμιμηταί μου γίνεσθε, „Werdet meine Mitnachahmer“. Zusammen mit Paulus sollen die Adressaten Nachahmer sein, d.h. aber Nachahmer Christi. Peter Wick versteht den Imperativ so: „Die Philipper, die Paulus bereits zum Vorbild haben, sollen gemeinsam mit ihm Jesus Christus nachahmen“.28 Gemeint ist mit dem paulinischen und neutestamentlichen Hapaxlegomenon συμμιμητής also nicht, dass in der Gemeinde „alle miteinander“ Paulus nachahmen sollen. Vielmehr bilden Paulus und die Adressaten in ihrem gemeinsamen Nachahmen Christi eine enge Gemeinschaft. Damit wird aber zumal die Teilhabe am Leidensgeschick Jesu zu ihrer gemeinsamen Bestimmung, die sie untereinander verbindet und sie als Gruppe kennzeichnet. Der Sache nach ist κοινωνία in 3,10 dann nicht nur Teilhabe, sondern auch communitas.29 Paulus und die Gemeinde 133–154, 153, zustimmend zitiert, klingt das existenzontologisch formuliert so: „Im Widerspruch zur Idee einer Konstanz der Identität redet Paulus der Kontingenz einer Ich-Stiftung das Wort, deren Integral das persönliche Nichts als Medium der göttlichen Kreativität darstellt.“ Man fragt sich, wem die Theologie mit solchen Sätzen eigentlich was beweisen zu müssen meint. Im Blick auf ihren intendierten oder nicht intendierten Praxisbezug sei angemerkt, dass das Zitat ausgerechnet aus einem Synodenpapier stammt (H. Weder, Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament, in: Synode der EKD [Hg.], Glauben heute. Christ werden – Christ bleiben, Gütersloh 1988, 52–64, 53; Originalzitat bei Harnisch z.T. kursiv). 28 P. Wick, „Ahmt Christus mit mir zusammen nach“ (Phil 3,17). Imitatio Pauli und imitatio Christi im Philipperbrief, in: Frey, Schließer, Der Philipperbrief des Paulus (Anm. 4), 309–326, 311. 29 J. M. Ogereau, A Survey of Κοινωνία and Its Cognates in Documentary Sources, NT 57, 2015, 275–294, 286, verweist als „perhaps the definition (…) that best encapsulates the basic lexical meaning of the word“ auf J. Y. Campbell, ΚΟΙΝΩΝΙΑ and Its Cognates in the New Testament, JBL 51, 1932, 352–380, 356: „Kοινωνία is primarily the abstract noun corresponding to κοινωνός and κοινωνεῖν, and its meaning therefore is ,(the) having something in common with someone‘“, which, effectively, evokes both „ideas of participation and of association“.
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bilden die communitas derer, die das Leidensgeschick Jesu teilen.30 Dass κοινωνία παθημάτων wesentlich auch diese soziale Komponente hat, nämlich die Verkörperung des Gekreuzigten in einer den Angriffen der imperialrömischen Mehrheitsgesellschaft preisgegebenen Gruppenexistenz außerhalb des geschützten Raumes der Diasporasynagoge, wird dadurch gestützt, dass an die Aufforderung zum Mitnachahmen Christi (3,17) in 3,1820 eine neuerliche Abgrenzung von den Gegnern anschließt, in der σταυρός und πολίτευμα mittelbar einen semantischen Gegensatz bilden: Die „Feinde des Kreuzes“ orientieren sich in ihrer „irdischen“ Gesinnung nicht am „himmlischen“ πολίτευμα, sondern eben am irdischen. Die Kontrahenten sind darin Feinde des Kreuzes, dass sie nach einer vorteilhaften gesellschaftlichen Positionierung streben. Hierfür gab es, soweit wir die Verhältnisse einschätzen können, nachvollziehbare Gründe.31 Aus Sicht des Paulus war aber einerseits der damit in Kauf genommene Subtext bleibender religiöser Zweitrangigkeit, die nur durch Vollkonversion zu beheben war, von seinen kreuzestheologischen Grundannahmen her nicht tolerierbar, und andererseits bildete die sozial marginalisierte und
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So auch M. Byrnes, Confirmation to the Death of Christ and the hope of resurrection. An Exegetico-Theological Study of 2 Corinthians 4,715 and Philippians 3,7-11, Thesi Gregoriana. Serie Teologia 99, Rom 2003, 221: „[T]he experience of suffering on the part of the believer is not a solitary one; rather, it is shared by all the members of the body. In this sense, to know the κοινωονία of Christ’s suffering is also to enter into relationship with all the members of the suffering church“. 31 Hierzu M. Tellbe, The Sociological Factors behind Philippians 3.111 and the Conflict at Philippi, JSNT 55, 1994, 97–121, 121: „The identity of the agitators in Phil. 3.2-6 was most likely Jewish-Christian, that is, Judaizers. Their appeal to accept circumcision would have been theologically attractive for the Philippian believers as a means of securing their identity as true members of God’s people. Moreover, for a church which suffered from the clash with the surrounding society, the same message would also have been sociologically attractive as a means of mitigating the conflict and obtaining recognition as a religio licita and protection from Rome“.
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gesellschaftlicher Repression preisgegebene Gemeinde32 gerade durch diese prekäre Existenzform (mit 3,21 gesprochen als sozial verfasstes σῶμα τῆς ταπεινώσεως ἡμῶν)33 das Leidensgeschick Jesu bis hin zur „Gleichgestalt seines Todes“ ab.34 Der Blick auf 3,17 hat zunächst die kreuzestheologische Interpretation von 3,10 geschärft, eröffnet darüber hinaus aber weitere wichtige Sinnbezüge. Wenn nämlich κοινωνία der Sache nach nicht nur Teilhabe ist, sondern auch communitas der Christus-Nachahmer, wird das γνῶναι κοινωνίαν παθημάτων αὐτοῦ zur Signatur des Gemeindelebens insgesamt. Das Gemeinte bildet sich dann nicht nur
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Instruktiv ist A. Standhartinger, Aus der Welt eines Gefangenen. Die Kommunikationsstruktur des Philipperbriefs im Spiegel seiner Abfassungssituation, NT 55, 2013, 140–167, die die Lebens- und Kommunikationsbedingungen von Gefängnishaft unter den Verhältnissen der römischen Antike sozialgeschichtlich ausleuchtet und auf diese Weise dazu beiträgt, dass sich die Sprache des Phil nicht ins situationslos Religiöse verflüchtigt. Phil 3,2-21;4,8f. hält sie in dies., Join in imitating me‘ (Philippians 3.17). Towards an Interpretation of Philippians 3, NTS 54, 2008, 417–435, 431f., für „a sapiential testament written and smuggled out of prison by Paul in a situation of gravest mortal danger – possibly the situation of 2 Cor 1.8-9. It is his – then still early – letter of farewell to the community close to him where he presents them with his christologically reflected biography. The introductory warnings indicate more than just the fear for his beloved community; they express primarily the urgency and danger of the present situation. Hope for heavenly Politeuma including a Saviour (σωτῆρ) and hope for the change of the ,vile body‘ in 3.20–21 could also be understood against a backdrop of torture and mortal fear“. 33 Gilt generell, dass σῶμα soziales Kontaktorgan ist und den Menschen als Beziehungswesen bezeichnet (Berger, Historische Psychologie [Anm. 26], 83–92), scheint dies ausweislich des singularischen σῶμα bei pluralischem Possessivpronomen ἡμῶν zumal für Phil 3,21 zuzutreffen: Paulus und die Gemeinde sind miteinander „ein Leib“. 34 Vergleichspunkt ist also nicht das heilswirksame Leiden für andere, sinngemäß: „Jesus ist zum Heil der Menschen gestorben, und da Paulus für das Evangelium leidet, das dieses Heil vermittelt, leidet er indirekt ebenfalls heilswirksam für andere“. Darum geht es hier aber nicht, wie gegen Fee, Paul’s letter (Anm. 5), 334 („suffering that is in some way on behalf of the gospel, thus for the sake of others“), zu betonen ist.
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im Selbstzeugnis des Paulus ab, sondern im gesamten Beziehungsgefüge, das Paulus mit seinem Brief zu formen unternimmt. So steht nach 2,30 die lebensbedrohliche Krankheit, die Epaphroditus glücklicherweise überstanden hat, dafür, dass er „sein Leben aufs Spiel gesetzt hat“ und „für das Werk Christi dem Tode nahegekommen ist (μέχρι θανάτοῦ ἤγγισεν)“. Nicht nur in der ausführlich thematisierten Gefangenschaft des Paulus, sondern auch in der Krankheit des Epaphroditus nimmt also die Teilhabe der Gemeinde am Leidensgeschick Jesu Gestalt an, ebenso in den Repressionen, die die Gemeinde nach 1,28f. ausgesetzt sind, ein Geschehen ἀπό θεοῦ, ja, ein Geschenk (ἐχαρίσθη ὑμῖν), das darin besteht, dass die Gemeinde im „gemeinsamen Kämpfen“ (συναθλοῦντες) nicht nur an Christus glaubt, sondern auch gewürdigt ist, „seinetwegen zu leiden“ (ὑπὲρ αὐτοῦ πάσχειν).35 Von hier aus lässt sich κοινωνία παθημάτων in 3,10 mit der Anrede der Adressaten als συγκοινωνοί μοῦ τῆς χάριτος („Mitteilhaber an der mir [geschenkten] Gnade“) in 1,7 zusammendenken. Leiden ist Gnade, weil und sofern die Teilhabe am Geschick des gekreuzigten Messias zugleich Gemeinschaft mit ihm und Gemeinschaft untereinander stiftet. Anhand der über den ganzen Brief verstreuten συν-Komposita und der Aussagen zu κοινωνία/κοινωνέω,36 angefangen von der in 1,5 35
L. G. Bloomquist, The Function of Suffering in Philippians, JSNT.S 78, Sheffield 1993, 193f., hat darauf hingewiesen, dass Paulus keineswegs nur sein eigenes Leiden hervorhebt, sondern auch und vor allem dasjenige seiner Mitarbeiter und Adressaten. 36 Einen guten Überblick zu κοινωνία in den Paulusbriefen insgesamt bietet Koperski, The Knowledge (Anm. 26), 81–88, sowie monographisch J. Hainz, KOINONIA. „Kirche“ als Gemeinschaft bei Paulus, BU 16, Regensburg 1982. Hauptsächlich mit Paulustexten befasst ist auch G. Panikulam, Koinōnia in the New Testament. A Dynamic Expression of Christian Life, AnBib 85, Rom 1979. Dass κοινωνία von Paulus irgend in der Bedeutung „Genossenschaft“ (societas) verwendet wird, bestreitet H. Seesemann, Der Begriff ΚΟΙΝΩΝΙΑ im Neuen Testament, Gießen 1933, 99. Der Terminus sei deshalb nicht geeignet „die Kirchenidee des Paulus“ zu erhellen. Zugleich meint er, dass „κοινωνία für Paulus ein religiöser Terminus ist“. Spielt in diesen Befund die Vorannahme eines Gegensatzes von Religion und Institution hinein?
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aufgerufenen κοινωνία εἰς το εὐαγγέλιον, lässt sich das Gemeindeleben, als dessen Teil der aus der Haft schreibende Paulus sich sieht, als ein Organismus vitaler Sozialbeziehungen mit einem sensiblen Nervensystem gegenseitiger Anteilnahme beschreiben, einschließlich stetiger materieller Hilfeleistung, nun auch für den Gefangenen, die Paulus als ein συγκοινωνεῖν μου τῇ θλίψει auffasst (4,14) und im Rückblick auf frühere Zuwendungen zugleich in nüchterner Geschäftssprache als κοινωνεῖν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήμψεως (4,15) bezeichnen und im Sprachspiel ökonomischer Metaphern beschreiben kann.37 Das zwischenmenschliche Beziehungsgefüge von κοινωνία als communitas wird anschaulich im Verhalten, das Paulus dem Gesandten Epaphroditus zuschreibt: Der auf den Tod Kranke war in Unruhe, weil die Gemeinde von seiner Krankheit gehört hatte: ἀδημονῶν διότι ἠκούσατε ὅτι ἠσθένησεν (2,26). Er war also nicht wegen seiner Krankheit beunruhigt, sondern weil er wusste, dass seine Krankheit die Gemeinde beunruhigt. Er gibt damit ein Beispiel für die am bis zum Tode gehorsamen Jesus sich orientierende Haltung, „nicht auf das eigene zu sehen, sondern auch auf das, was des anderen ist“ (μὴ τὰ ἑαυτῶν ἕκαστος σκοποῦντες ἀλλὰ [καὶ] τὰ ἑτέρων ἕκαστοι, 2,4), und er bewährt sich in der „Gemeinschaft des Geistes“ (κοινωνία πνεύματος), die einhergeht mit und affin ist zu „Mitleid und Erbarmen“ (σπλάγχνα καὶ οἰκτιρμοί, 2,1).
Hierzu monographisch J. M. Ogereau, Paul’s Koinonia with the Philippians. A Socio-Historical Investigation of a Pauline Economic Partnership, WUNT II.377, Tübingen 2014. L. G. Bloomquist, The Rhetoric of Suffering in Paul’s Letter to the Philippians. Socio-Rhetorical Reflections and Further Thoughts on a Post-Colonial Contribution to the Discussion, Theoforum 35, 2004, 195–223, unternimmt eine Deutung auch des Leidensmotivs im ökonomischen Paradigma des Tauschs von Ehre und Schande bzw. Leid und Herrlichkeit als Merkmal der familial strukturierten liminalen Gemeinschaft der Glaubenden als sozial Gleichen. 37
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Deutlich wurde nach allem Bisherigen, dass das Leidensmotiv im Philipperbrief wesentlich christologisch bestimmt ist. Gemeint ist die Solidarität mit dem gekreuzigten Messias in der sozialen Selbstpositionierung an den unteren und äußeren Rändern der Gesellschaft unter Inkaufnahme von Repressionen seitens der Mehrheitsgesellschaft. Die Weigerung des Paulus, seine Gemeinden den diasporasynagogalen Strukturen zu assoziieren und ihnen damit zu einer definierten Position nach den Maßgaben römischer Religionspolitik zu verhelfen, wurzelt in seiner Kreuzestheologie, die die Präferenz des göttlichen Erwählens für die Verachteten als Verachtete bloßlegt. Christusgemeinschaft als Leidensteilhabe ist jedoch eingebettet in den sozialen Kontext des ekklesialen Binnenraumes, der einen neuen Handlungszusammenhang mit eigenen Handlungsmöglichkeiten eröffnet.38 Die communitas der Christusnachahmer ist ein vitaler sozialer Organismus und Erfahrungsraum der göttlichen Zuwendung in Gnade, Geist und, wie hier nachzutragen ist, in „Freude im Herrn“. Da in der modernen Umgangssprache Leid und Freude als Affekte einen Gegensatz bilden, beides im Philipperbrief aber allem Anschein nach nicht als Gegensatz verstanden wird, ist hierüber noch ein Wort zu verlieren. Wie Leid und Freude gleichzeitig auftreten können, ist insofern zunächst nicht schwer zu verstehen, als die Teilhabe am Leidensgeschick Christi Gemeinschaft mit Christus eröffnet und diese ohne weiteres als Grund zur Freude verstanden werden kann. Leiden ist aber auch ein Handlungsbegriff und als solcher nicht direkt Gegensatz zu „Freude“, sondern zu „Handeln“. Der Leidende ist Objekt des Handelns anderer, die über ihn verfügen und seine eigenen Möglichkeiten als Handlungssubjekt (wie auch als Rechtssubjekt) teilweise einschränken oder völlig zunichtemachen.39 Die Eine erhellende Zusammenstellung der „ΚΟΙΝΩΝΙΑ relationships in Philippians“ bietet Koperski, The Knowledge (Anm. 26), 80f. 39 So M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998, 86, zu den markinischen Passionsaussagen: „,Paschein‘ ist griechisch das Oppositum der Verben des Handelns. Wer leidet, erfährt Tätigkeit. Er ist dem Geschehen ausgeliefert, verursacht und gestaltet 38
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Aufforderung zur Freude im Herrn bei gleichzeitiger Teilhabe an seinem Leidensgeschick kann unter versuchsweiser semantischer Verschränkung von „Freude“ und „Handeln“ mittels des gemeinsamen Gegenbegriffs „Leid“ so verstanden werden, dass sich ungeachtet des Ausgeliefertseins der sozial Marginalisierten an die Willkür der Mehrheitsgesellschaft gleichwohl ein positiver Handlungsspielraum im Binnengefüge der Gruppe eröffnet, der dadurch zum Erfahrungsraum des Geistes wird. Wird dergestalt der gemeinsamen „Freude im Herrn“ ein Handlungsaspekt zugeschrieben, lässt sich derselbe außerdem auch auf die konflikthaft und bedrohlich erlebten Außenbeziehungen ausdehnen. Nach 2,15 „leuchten“ die Adressaten inmitten ihrer korrumpierten Umgebung „wie Sterne in der Welt“, und in der Paränese 4,2-9 werden sie in praktischer Umsetzung des unmittelbar vorangehenden Appells zur „Freude im Herrn“ (V. 3) aufgefordert, ihre „Freundlichkeit (τὸ ἐπιεικές) allen Menschen“ kundwerden zu lassen (V. 5). Es geht also nicht affektspezifisch darum, dass man guter Dinge ist, obwohl es einem schlecht geht, sondern handlungsspezifisch darum, dass trotz der prekären gesellschaftlichen Position der Christusverehrer ein im Grundsatz aktives Weltverhältnis möglich ist.40 Wir halten inne und blicken zurück: Was ist κοινωνὶα παθημάτων? Etwas, das als Teil eines größeren Sinngefüges zu beschreiben und nicht ohne eine wenn auch nur skizzenhafte Verständigung über Grundannahmen paulinischen Denkens zu erhellen war. Das so Bezeichnete erschließt in der sozialen Abwärtsorientierung einen neuen Lebenszusammenhang der gegenseitigen Anteilnahme es nicht selbst (unsere grammatische Kategorie des ,Passiv‘ erinnert daran). Mk hörte dieses Gefälle in der ihm überkommenen Passionsüberlieferung und bejahte das als Glied der Christologie. Deswegen stellte er die ,Leidens‘-Ansagen voran. Er vermittelt mit der Überlieferung ein markantes Bild Jesu auf dem Weg zu seinem Tod: An Jesus wird gehandelt, er handelt nicht selber“ (Kursive im Original). 40 Schenk, Philipperbriefe (Anm. 16), 244 spricht zutreffend von der „Praxis der Freude“.
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und des positiven Zugewandtseins zu einer als feindselig erfahrenen Umwelt. 2. κοινωνοὶ ἐστε τῶν παθημάτων: 2 Kor 1,3-7 Blickt man von Phil 3,1-11 nach 2 Kor 1,3-7 herüber, fällt das Leitwort παράκλησις / παρακαλέω auf,41 das in Phil 3,1-11 nicht vorkommt, und andererseits in 2 Kor 1,3-7 die fehlende Referenz auf die Auferweckung Jesu. Diese Differenz ist für beide Texte sprechend: In Phil 3 kann die in V. 10 akzentuierte Orientierung der Leidensgemeinschaft mit dem Gekreuzigten auf die Auferweckung Jesu und die kommende Totenauferweckung als Reflex der zugemuteten sozialen Desintegration gelesen werden, die in der Ausrichtung auf das himmlische πολίτευμα und die Erwartung der eschatologischen Gemeinschaft mit dem vom Himmel her kommenden Christus (3,20f.) ihr Gegengewicht erhält. Dieser Bezug fehlt in den Leidensaussagen in 2 Kor 1,3-7 völlig.42 Leitend ist statt dessen die von Gott kommende Tröstung (παράκλησις), die dazu da ist, die Beziehung zwischen Paulus und seiner Gemeinde zu intensivieren und zu festigen. Überblickt man den 2. Korintherbrief insgesamt, ist deutlich, dass es um diese Beziehung zur Zeit der Abfassung des Briefes nicht zum Besten steht. Stellenweise muss Paulus rhetorisch das Äußerste aufbieten, um seine Position als Gemeindegründer und Apostel Jesu Christi zu verteidigen. Die Trübung des Einvernehmens kommt im Zur Wortstatistik von παράκλησις vgl. T. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther: 2Kor 1,1-7,4, EKK VIII/1, Neukirchen-Vluyn, Ostfildern 2010, 58: „Von den 18 Vorkommen bei Paulus entfallen 11 auf den 2Kor, davon 6 auf das Proömium. Nimmt man das Verb παρακαλέω hinzu, ergeben sich insgesamt 58 Belege bei Paulus davon 29 (die Hälfte!) in 2Kor, 25 Belege in den Kap. 1-9 und 10 Belege im Proömium“. 42 Er ist auch nicht von 1,9 her einzulesen, da es hier speziell um die von Paulus erlebte, konkrete Todesgefahr geht. Der Zusammenhang von Bedrängnis und Trost spielt in 1,8-11 (trotz des Anschlusses mit γάρ in V. 8) keine Rolle. 41
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Proömium des 2. Korintherbriefes nicht so deutlich zum Ausdruck wie zu Beginn des Galaterbriefes, wo Paulus anstelle der brieftypischen Danksagung für den Glauben der Gemeinde unverhohlen ihre Bereitschaft tadelt, den gegnerischen Missionaren Folge zu leisten (Gal 1,6-9). Aber auch das Proömium des 2. Korintherbriefes lässt diese Danksagung vermissen und enthält stattdessen in V. 3.4a eine Eulogie über Gottes Erbarmen und Trost, auf die in V. 4b-7 Aussagen über das Wirksamwerden des göttlichen Trostes bei Paulus und in der Gemeinde folgen. Erst in V. 11 folgt eine Danksagung, aber nicht für die Gemeinde aus dem Munde des Paulus, sondern umgekehrt möge die Gemeinde Gott für das Paulus gegebene χάρισμα danken.43 Nach der Mehrheit der Ausleger reicht das Proömium bis V. 11, das durch das Dankmotiv dann doch noch gattungskonform abschließt. Innerhalb des Proömiums bildet V. 8 einen Neueinsatz, der mit der Todesnot in der Asia ein konkretes Geschehen anspricht und sich damit von der allgemeinen Betrachtung zur Wirksamkeit des göttlichen Trostes in 1,3-7 klar abhebt. V. 3 prädiziert Gott nominal als „Vater unseres Herrn Jesus Christus“ und „Vater der Erbarmungen und Gott jeglichen Trostes“, wobei letzteres schon auf eine vielfältige Aktivität Gottes abhebt (Akte des Erbarmens und der Tröstung), die in V. 4a dann partizipial ausgesagt ist (ὁ παρακαλῶν) und als ein Gotteshandeln kenntlich wird, an welchem Paulus entscheidend und unverzichtbar mitwirkt: Gott tröstet Paulus, damit Paulus seinerseits andere trösten kann. V. 4 ist eine kunstvolle apologetische Miniatur unter dem positiven Vorzeichen der Zuwendung Gottes zu den Menschen, die eben nicht ohne die Mitwirkung des Apostels an ihr Ziel kommt: Die Bedrängnisse des Paulus sind die notwendige Veranlassung für die Erfahrung des göttlichen Trostes, den Paulus wie eine Substanz an andere weitergibt, die ihrerseits in Bedrängnis sind. V. 5 expliziert diesen Zusammenhang christologisch als 43
Vgl. Schmeller, 2 Kor (Anm. 41), 55f.
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quantitatives Entsprechungsverhältnis: Bei den Bedrängnissen handelt es sich näherhin um Ausprägungen der „Leiden Christi“ (παθήματα τοῦ Χριστοῦ), und Christus ist es auch, durch den Paulus Trost erfährt, und zwar so reichlich und im Überfluss, wie auch die Leiden Christi auf ihn kommen. Umso mehr Paulus zu leiden hat, desto reichlicher kann er Trost weitergeben. Heißt es in V. 4 unspezifisch, dass Paulus τοὺς ἐν πάσῃ θλίψει tröstet, so führt V. 6a aus, was dies im Blick auf die Adressaten bedeutet: Die Bedrängnis des Paulus zeitigt bei der Gemeinde παράκλησις und σωτηρία, entweder aufgrund des vorher beschriebenen παράκλησις-Effekts erlittener Bedrängnis, oder aber allgemeiner in Ausübung des nun einmal leidbehafteten apostolischen Dienstes, der über die Aufgabe zu trösten hinaus für die σωτηρία der Gemeinde unabdingbar ist. Was Paulus bis V. 6a darlegt, entspricht der positiven Auswirkung auch und gerade der apostolischen Leiden, die Paulus in 2 Kor 4,12 als Folgerung aus dem ab 4,7 Ausgeführten auf die Formel bringt: „Also ist der Tod in uns wirksam, das Leben aber unter euch“ (ὥστε ὁ θάνατος ἐν ἡμῖν ἐνεργεῖται, ἡ δὲ ζωὴ ἐν ὑμῖν). Das in V. 3-6a Gesagte deckt sich insoweit mit der apologetischen Veranlassung und Abzweckung des gesamten Briefes, der Paulus als rechtmäßigen Apostel der korinthischen Gemeinde ausweisen und in diesem Zusammenhang auch die Leiden des Paulus dadurch plausibilisieren soll, dass sie funktional auf das Wohlergehen der Gemeinde hin kenntlich werden. Mit 1,6b.7 setzt Paulus nun aber einen gegenläufigen Akzent, der innerhalb der korinthischen Korrespondenz heraussticht:44 Die Gemeinde ist nicht nur Nutznießerin der 44
Dies beobachtet im Anschluss an M. E. Thrall, A Critical and Exegetical Commentary on The Second Epistle to the Corinthians, Bd. 1: Introduction and Commentary on II Corinthians 1-7 (ICC), London 1994, 111 (dass Paulus „speaks of the suffering of his readers and says that they are the same as his own ... is puzzling. There is no indication elsewhere that the Corinthians were actually undergoing persecution or any other kind of hardship, and the picture of their situation in 1Cor 4.8-10 would suggest the opposite sate of affairs“), auch D.
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paulinischen Bedrängnisse, sie teilt auch seine Leiden mit ihm. Dienen seine Bedrängnisse nach V. 6a ihrer παράκλησις und σωτηρία, so kommt nach V. 6b seine eigene παράκλησις der ihrigen dergestalt zugute, dass sie sich „im geduldigen Ertragen derselben Leiden, die auch wir erleiden“ (ἐν ὑπομονῇ τῶν αὐτῶν παθημάτων ὧν καὶ ἡμεῖς πάσχομεν) auswirkt. Die Finalität der Bedrängnisse auf den Trost hin wird nun invertiert zum Motiv des Getröstetwerdens im Leiden, u.zw. des gemeinsam geteilten Leidens, wie V. 7 noch stärker akzentuiert: Paulus betont seine hoffnungsvolle Gewissheit in Bezug auf die Gemeinde in Anbetracht dessen, dass sie, wie sie „(seine)45 Gefährten der Leiden“ (κοινωνοί τῶν παθημάτων) sind, so auch am Trost teilhaben. Wie fügt sich nun die apostolische Vermittlungsfunktion des Paulus im Blick auf die Gemeinde zum Aspekt der Gemeinschaft mit ihr? Thomas Schmeller formuliert so: „Die Vermittlung betont das Gefälle, die Gemeinschaft betont die Gleichheit zwischen Apostel und Gemeinde. Beide Aspekte (...) werden hier so miteinander verwoben, dass das Ergebnis kaum mehr verständlich ist“.46 In der Tat erschließt sich die funktionale Aufteilung von Leiden und Getröstetwerden im Blick auf zwei unterschiedliche Ausprägungen von Trost für die Gemeinde nicht leicht. Aber Schmidt, „Nicht vergeblich empfangen“. Eine Untersuchung zum 2. Korintherbrief als Beitrag zur Frage nach der paulinischen Einschätzung des Handelns, BWANT 162, Stuttgart 2004. Er weist darauf hin, dass „nirgends sonst in 2 Kor etwas von einem Leiden der Korinther zu erkennen ist, sondern von den Adressaten im Verlauf des Briefes vielmehr deutlich wird, dass sie die Leiden des Apostels mit Skepsis betrachten“ (111). Schmidt erkennt hinter V. 6 „einen bedrohlichen Horizont“ (112), der auch V. 7 umfasst: „Die Gemeinschaft zwischen Paulus und den Korinthern scheint doch (auch) aufgrund der Tatsache belastet, dass der Apostel ein Leidender ist (...). Kein Anzeichen für eine gewisse Anteilnahme an den Leiden des Apostels findet sich in 2Kor, sondern nur Hinweise auf herbe Kritik!“ (112f.). 45 Dass es prononciert um die Gemeinschaft mit Paulus geht und nicht nur den Zusammenhalt untereinander, ist durch V. 6b hinreichend klargestellt. 46 Schmeller, 2 Kor (Anm. 41), 66.
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soviel lässt sich sagen, dass Paulus allem Anschein nach das Motiv der Leidensgenossenschaft briefrhetorisch als unabdingbar ansah, weil er so eine Ebene bzw. Intensität der (aktuell gefährdeten und erneut zu festigenden!) Gemeinschaft mit den Adressaten aufrufen konnte, die nicht anders oder jedenfalls nicht besser denn als Leidensgemeinschaft aussagbar war. Die argumentative Sperrigkeit des Leidensmotivs47 indiziert seine rhetorische Unverzichtbarkeit. Die briefpragmatische Ausrichtung des Leidesmotivs auf die im 2. Korintherbrief zu leistende „Beziehungsarbeit“ erweist sich als noch stärker, wenn man mit Thomas Schmeller die in V. 7 artikulierte „Hoffnung“ intratextuell als Vorgriff auf V. 13 liest: „Die Wiederaufnahme des ,Hoffens‘ in V. 13 lässt … vermuten, dass Paulus … schon in V. 7 an den Konflikt mit der Gemeinde denkt. In V. 13 hofft er darauf, dass die korinthischen Christen ihn vollständig erkennen, d.h. dass sie ihre unbegründeten Vorbehalte ihm gegenüber völlig aufgeben und sich mit ihrem Apostel versöhnen werden. V. 7 dürfte diesen Wunsch und dieses Ziel schon andeuten.“48 Von κοινωνία kann nicht direkt als Trostgemeinschaft die Rede sein, sondern nur als etwas, das sich in der Leidensgemeinschaft bildet, eine starke soziale Kraft, an die Paulus im situativen Kontext des 2. Korintherbriefes die Hoffnung knüpft, dass sie an der völligen Überwindung eines schweren Konflikts mitwirkt. 3. τὰ αὐτὰ ἐπάθητε καὶ ὑμεῖς: 1 Thess 2,14-16 Die abschließend in Augenschein zu nehmende kurze Passage aus dem 1. Thessalonicherbrief wird üblicherweise unter dem Thema des neutestamentlichen bzw. spezifisch paulinischen „Antijudaismus“ verhandelt. Seine Authentizität wurde vielfach in Frage gestellt mit Hinweis auf eine ganz andere Sicht auf das das Judentum außerhalb der 47
Unklar ist auch der sachliche Bezug; vgl. hierzu die Überlegungen bei Schmeller, 2 Kor (Anm. 41), 67. 48 Schmeller, 2 Kor (Anm. 41), 68.
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Jesusbewegung in Röm 9-11, die mit der scharfen Polemik in 1 Thess 2,14-16 nicht zu vereinbaren und dem Verfasser von Röm 9-11 nicht zuzutrauen sei.49 Die exegetische Debatte zu diesem gern für unpaulinisch und interpoliert erklärten Abschnitt ist weitestgehend auf das Antijudaismus-Thema fokussiert. Die besondere Perspektive des vorliegenden Beitrags ermöglicht eine andere Sicht, nämlich das Verständnis von 1 Thess 2,14-16 als Trostargument. Der Passus ist Teil der brieflichen Danksagung des Briefes, die von 1,2 bis 3,13 reicht und damit die üblichen Proportionen des Proömiums weit überschreitet.50 Oder aber man rechnet die Wiederaufnahmen des Dankes in 2,13 und 3,9 bereits zum Briefkorpus und lässt das Proömium nur bis 1,10 reichen.51 In beiden Fällen bildet 2,1-16 (Erinnerung an das Verhalten des Paulus und der Gemeinde in der Zeit der Gemeindegründung) zwischen 1,2-10 (Dank für den vorbildlichen Glauben der Gemeinde) und 2,17-3,13 (Sehnsucht des Paulus nach der Gemeinde, Hoffnung auf erneuten Besuch) einen eigenen Abschnitt. Dieser kann nochmals untergliedert werden in das apologetische Stück 2,1-12 und die „Tröstung über Verfolgung in der Form der Danksagung“52 2,13-16. Die Danksagung in 2,13 schließt mit καὶ διὰ τοῦτο an 2,12 an, wo es um den „würdigen Wandel“ vor Gott geht, der „euch in sein Reich und seine Herrlichkeit ruft“. Im Vorgriff auf 2,13ff. steht zu vermuten, dass der Rekurs auf Gottes βασιλεία in 2,12 argumentativ denselben Zweck erfüllt wie das in Phil 49
F. Mußner, Dieses Geschlecht wird nicht vergehen. Judentum und Kirche, Freiburg 1991, 76, führt die Differenz zwischen 1 Thess 2 und Röm 9-11 darauf zurück, dass Paulus seine Rechtfertigungslehre, die in 1 Thess noch keine Rolle spielt, im Röm israeltheologisch weitergedacht habe. 50 S. dazu T. Holtz, Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher, EKK XIII, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1986, 29. 51 I. Broer, Einleitung in das Neue Testament, 4. Aufl. in Verbindung mit H.-U. Weidemann, Würzburg 2006, 320f. 52 K. Berger, Bibelkunde des Alten und Neuen Testaments, Bd. 2: Neues Testament, Heidelberg 31986, 417.
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3,30 aufgerufene himmlische πολίτευμα. Geht es in Phil 3 um den Widerpart von σάρξ und Christus bzw. „irdisch“ und „himmlisch“, so in 1 Thess 2 um den Gegensatz von Gott und Menschen. Als gemeinsamer situativer Hintergrund sind Erfahrungen sozialer Exklusion und gesellschaftlicher Repression wahrscheinlich, nicht erst mit Blick auf das in 1 Thess 2,14 thematisierte Ausgeliefertsein der Adressaten an ihr gesellschaftliches Umfeld, sondern bereits von 1,6 her, wo die Adressaten als Nachahmer des Paulus und Christi angesprochen werden, so wahr sie das Wort „in viel Trübsal“ (ἐν θλίψει πολλῇ) angenommen haben. Angesichts der im würdigen Wandel zu bewährenden Berufung in Gottes Reich und Herrlichkeit ist es für Paulus Grund zum Dank, dass die Adressaten das „Gotteswort unserer Predigt“ (λόγον ἀκοῆς παρ’ ἡμῶν τοῦ θεοῦ) nicht „als Wort von Menschen“, sondern als wahrhaft so zu nennendes „Wort Gottes“ angenommen haben. Das Folgende dient dem Aufweis, dass die Adressaten den qualitativen Unterschied zwischen Menschen- und Gotteswort tatsächlich wahrgenommen und ihre Hinkehr zu Gott in voller Kenntnis dieses Unterschieds vollzogen haben: Sie haben von ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld etwas „erlitten“ (ἐπάθετε) und mussten erleben, dass die neue Gemeinschaft mit Gott und die bisherige Gemeinschaft mit Menschen in ein antagonistisches Verhältnis zu einander traten. Die Berufung „zu Gottes Reich und Herrlichkeit“ zeitigt plötzliche Feindseligkeit von Seiten ihrer bis dahin vertrauten und stabilen gesellschaftlichen Umgebung. Das Wort Gottes wird kenntlich in seiner sozial dysfunktionalen, desintegrierenden und konfliktauslösenden Wirkung. Die besondere Qualität der paulinischen Botschaft als Gotteswort ist indirekt greifbar und anschaulich als dasjenige, wofür die Christusgläubigen den sozialen Konflikt in Kauf nehmen, und dass sie ihn durchstehen, zeigt, dass sie dieser Qualität auch gewahr geworden sind. So in etwa wird man den Gedankenfortschritt von 2,12 über 2,13 nach 2,14 zu paraphrasieren haben.
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V. 14-16 dient nun dazu, die nichtjüdischen Adressaten in ihrer in der Danksagung 2,13 angesprochenen religiös-sozialen Selbstpositionierung durch den Hinweis zu stärken, dass sie durch die Repressionen innerhalb ihres eigenen sozialen Umfeldes in eine Leidensgemeinschaft mit den jüdischen Christusgläubigen in Judäa getreten sind. Durch die hier wie dort erlittenen Feindseligkeiten ist ein neues soziales Band entstanden, das die Adressaten mit den judäischen Gemeinden zusammenschließt. Dass sie „dasselbe“ (τὰ αὐτά) „von ihren eigenen Landsleuten“ (ὑπὸ τῶν ἰδίων συμφυλετῶν) erlitten haben, wie jene „von den Juden/Judäern“ (ὑπὸ τῶν Ἰουδαίων) hat allem Anschein nach eine Trostfunktion: Sich in dieser Leidensgemeinschaft zu wissen, bestärkt die Adressaten darin, ihre marginale gesellschaftliche Position, von der aus sie Repressionen von Seiten der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt sind,53 zu bejahen. Sie werden deshalb bestärkt, weil sie das so verstandene Leiden mit denen verbindet, die sozusagen das gruppenförmige missing link zwischen den nichtjüdischen Adressaten und der biblisch-jüdischen Geschichte und Tradition herstellen, an der sie sich, die sie nunmehr den Gott Israels und seinen Messias verehren, orientieren.54 Dass es solch ein missing link gibt und es Vgl. auch Holtz, 1 Thess (Anm. 50), 49: „Man wird damit rechnen müssen, dass es zu einem wesentlichen Teil soziale Bedrückungen waren, die die die Gemeinde trafen. Das Maß an sozialer Desintegration, das diejenigen auf sich nahmen, die aus der Welt des hellenistischen Heidentums in die christliche Gemeinde eintraten, ist kaum zu überschätzen“. Hierzu „trat in Tessalonich offenbar von Anfang an die soziale Diffamierung“. 54 In dieselbe Richtung weist S. E. Rollens, Inventing Tradition in Thessalonica. The Appropriation of the Past in 1 Thessalonians 2:14-16, BTB 46, 2016, 123–132. Die Verfasserin „treats 1 Thessalonians 2:14– 16 as an ,invented tradition‘ (à la Eric Hobsbawm and Terence Ranger) which links the social experience of the Thessalonians to the nascent ekklesia in Judaea. Instead of acting as a mouthpiece for Paul’s theology concerning Jews, the point of this passage may instead be to invent a coherent ,past‘ for the Thessalonians, who may have had few other social features in common upon which to base their group identity. By appropriating an ,already in place‘ framework for identity (Deuteronomistic theology) and by connecting the Thessalonians’ experience to 53
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nur „zwischenmenschlich“ gefüllt werden kann, ist bereits bemerkenswert. Eine rein diskursive, schrifttheologische Verknüpfung des Leidensgeschicks der Adressaten mit der in V. 15 angesprochenen Ermordung des Kyrios55 und der Verfolgung der Propheten hätte allem Anschein nach briefrhetorisch nicht dasselbe geleistet wie die von Paulus gewählte Figur einer engen Verbindung zwischen jüdischen und nichtjüdischen Gläubigen. Bemerkenswert ist erst recht, dass diese Verbindung als Leidensgemeinschaft definiert wird: „Dasselbe“ erlitten zu haben, verbindet Menschen augenscheinlich intensiver und dauerhafter miteinander als etwa die gemeinsame Orientierung an einem religiösen Traditionsbestand. Deshalb wird diese (gleichwohl unaufgebbare) Orientierung gewissermaßen soziomorph (um nicht zu sagen: ökumenisch-ekklesiologisch) konkretisiert, und zwar dergestalt, dass die von Nichtjuden in einem paganen Kontext erfahrene Feindseligkeit, weil es sich um „dasselbe“ Leiden handelt, auf der Folie eines aus der biblisch-jüdischen Tradition sattsam bekannten Konflikts deutbar ist. Die durchaus kühne Behauptung, dass das, was „Heiden von Heiden“ dulden müssen, in Wahrheit die Teilhabe an einer originär biblisch-jüdischen Konfliktgeschichte ist, ermöglicht die Inszenierung einer über das geteilte Leid definierten Gemeinschaft mit den jüdischen Christusverehrern in Judäa, both the ekklesia in Jerusalem, as well as to past prophets, 1 Thess 2:1416 attaches the Thessalonians to an identity that extends beyond their local group“. M.E. ist diese Sicht außerordentlich hilfreich und wichtig für den Versuch, den Passus nicht einfach als „antijüdisch“ zu etikettieren. 55 Am Rande sei darauf hingewiesen, dass der pln. Rekurs auf die Passion Jesu auch für die Frage nach der Rezeption früher Jesustraditionen durch Paulus interessant ist, zumal der Plural παθήματα in Phil 3,10 möglicherweise eine breitere Referenz hat als nur die Passionsereignisse selbst. Zum Problem vgl. G. Röhser, Jesus und Paulus – ein unüberwindlicher Gegensatz?, in: S. M. Daecke, P. R. Sahm (Hg.), Jesus von Nazareth und das Christentum, Neukirchen-Vluyn 2000, 194–208, und zur Forschungsgeschichte F. Holzbrecher, Paulus und der historische Jesus. Darstellung und Analyse der bisherigen Forschungsgeschichte, TANZ 48, Tübingen 2007.
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die die Zugehörigkeit der christusgläubigen Nichtjuden zu ihren jüdischen Geschwistern sozial anschaulich macht. Was sich in Judäa abspielt, ereignet sich „vollgültig“ auch im griechischen Thessalonike ohne jegliche Beteiligung von Juden, denn auch so sind die in einem paganen Kontext erfahrenen Repressionen im Orbit der biblisch-jüdischen Geschichte deutbar. Die wegen ihrer gegen Juden gerichteten Polemik in der Forschung durchweg als problematisch empfundenen Aussagen in 2,15f. sind mithin Teil des Trostarguments: Die Repressionen gegen die jüdischen Christusgläubigen in Judäa sind Reflex eines Dramas, in das die nichtjüdischen Adressaten auch ihre eigenen Leiderfahrungen einzeichnen können. Damit wird ihre eigene Geschichte, obwohl sie selbst keine Juden sind und ohne dass sie Juden werden müssen, zum Außenposten der Geschichte Israels: Sie werden in dasjenige Leid gewissermaßen sinnstiftend hineingezogen, das sie an die Seite nicht nur der jüdischen Jesusgemeinden in Judäa stellt, sondern auch in eine Linie mit den verfolgten Propheten und dem ermordeten Messias, Seite an Seite mit denen, die diese Feindseligkeit direkt und am eigenen Leib erfahren. Es bleibt aber nicht bei dieser mehr behaupteten als erwiesenen Entsprechung. Vielmehr zieht Paulus die Linie von den Propheten, dem Messias und seinen jüdischen Verehrern weiter aus zu den Adressaten selbst, u.zw. dadurch, dass die biblisch-jüdische Konfliktgeschichte dergestalt weiter ausgreift, dass ein Handlungszusammenhang von der Verfolgung der Propheten bis zur Behinderung der Heidenmission skizziert wird: Dass die Juden/Judäer „Gott nicht gefallen“ und in (Aufnahme eines Topos paganer Judenpolemik) „allen Menschen feind“ sind, rührt daher, dass sie die Apostel von ihrer auf die Rettung der Heiden abzielenden Missionspredigt abhalten. Indirekt werden damit auch die Adressaten selbst
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durch die von den judäischen Juden ausgehende Agitation56 in Mitleidenschaft gezogen, sofern die Missionspredigt unter ihresgleichen nicht voll zum Zuge kommt. Die Leidensgenossenschaft mit den judäischen Gemeinden ist also nicht nur in der Gleichartigkeit des Leidens begründet, sondern auch durch ein direktes Ausgreifen der gegen die judäischen Geschwister gerichteten Umtriebe auf den Lebenszusammenhang der nichtjüdischen Adressaten, womit die Agitatoren „das Maß ihrer Sünden voll machen“.57 Indem aber die Adressaten in den sinnstiftenden
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F. D. Gilliard, The Problem of the Antisemitic Comma between 1 Thessalonians 2.14 and 15, NTS 35, 1989 481–502, hat darauf hingewiesen, dass das Komma in ὑπὸ τῶν Ἰουδαίων, τῶν καὶ τὸν κύριον ἀποκτεινάντων Ἰησοῦν (so auch noch in der 28. Auflage des NestleAland) eine generalisierende Lektüre begünstigt („… von den Juden. Die haben ja im Übrigen auch …“). Fällt das Komma weg, ist die Aussage spezifizierend („… von denjenigen Juden, die auch …“). Die BasisBibel setzt zwar in V. 15 mit einem neuen Satz ein, paraphrasiert aber in V. 14 m.E. gelungen „… von den Juden dort“ (Kursive hinzugefügt). Einen Rekurs auf die spezifisch judäischen Verhältnisse sieht auch F. Thielman, Paul’s View of Israel’s Misstep in Rom 9.32–3. Its Origin and Meaning, NTS 64, 2018, 362–377, 375: „A Jew such as Paul, who felt that he and other Jewish Christians had been the victims of the Jewish ruling elites in Jerusalem, might well describe them … as people who do not please God and oppose all people“. 57 J. M. G. Barclay, Hostility to Jews as Cultural Construct, in: C. Böttrich, J. Herzer (Hg.), Josephus und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen. II. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum, WUNT 209, Tübingen 2007, 365–385 stellt zwar nicht in Abrede, dass die paulinische Polemik einen judäischen Haftpunkt hat und insofern nicht als pauschal antijüdisch gelten kann, verweist aber darauf, dass „some motifs are originally Hellenistic (the slur on opposition to ,all people‘) and some are distinctively Christian (killing the Lord Jesus and driving out / persecuting ,us‘)“. Und: „[T]he whole package of motifs, whatever their origin, is now directed to a predominantly Gentile audience, so that the text has quite a different effect than if it constituted some tract internal to the Jewish / Judaen community“ (383). Die Reichweite der paulinischen Aussagen auf judäische Juden zu begrenzen, hält Barclay für nicht durchführbar, denn „we seem to move into a generalised mode of accusation, and it is not clear, how Judea-resident Judeans could be held responsible for hindering Paul and his companions (,us‘) from speaking to the Gen-
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Deutungszusammenhang der biblisch-jüdischen Geschichte einrücken, ist die Ansage des Zornes Gottes über die judäischen Juden auch für die nichtjüdischen Adressaten von Bedeutung: „[D]er Zorn Gottes ist über sie gekommen zum Ende hin. Das gilt als Drohung auch den Verfolgern der Gemeinde von Thessalonike!“.58 Den Adressaten gilt wie auch den judäischen Gemeinden die implizite Zusage, dass Gott dem Treiben der Verfolger ein Ende setzen wird, ja, dass der Zorn Gottes schon jetzt auf ihnen lastet. Wird 1 Thess 2,15f. in dieser Weise als Explikation der Leidensgemeinschaft der Adressaten mit den judäischen Gemeinden gelesen, erübrigt sich ein Verständnis als
tiles“ (382), mithin liege eine raum- und zeitübergreifende (Prophetenmorde!) Generalisierung der Vorwürfe vor. Hierauf ist bündig zu antworten: All das ist richtig, aber erst umgekehrt wird ein Schuh daraus! Denn die Stoßrichtung des Trostarguments ist nicht generalisierend, sondern umgekehrt fokussierend, nicht zentrifugal, sondern zentripetal. Die nichtjüdischen Adressaten sollen verstehen, dass und wie das Leiden der judäischen Geschwister auch ihr eigenes ist und es sie deshalb mit diesen zu einer Leidensgemeinschaft zusammenschweißt. Die Raum und Zeit übergreifende Perspektive soll nicht antijüdische Polemik generalisieren, sondern Nichtjuden in der biblisch-jüdischen Geschichte beheimaten, die in Judäa (Jerusalem) ihren geographischen Bezug hat. Textpragmatisch hängt an der Frage nicht allzuviel, welcher Art ein möglicher Einfluss Jerusalems auf die jüdische Diaspora (und damit mittelbar auf die paulinische Heidenmission) gewesen sein könnte. Paulus erzählt die Geschichte einer schon gegen die Propheten gerichteten Feindschaft, die nun auch auf nichtjüdische Verehrer des Gottes Israels ausgreift. Erzählungen bilden Wirklichkeit nicht ab, sondern spielen damit und sind gegenüber dem Erweis ihrer historischen Haltbarkeit in gewissem Maße frei. Ob die Adressaten die mit der paulinischen Erzählung angebotene Beheimatung sich zu eigen machten, entschied sich nicht am Nachweis, dass die Heidenmission von Jerusalem aus bekämpft wurde, dessen unbenommen, dass ein solcher Zusammenhang m.E. historisch nicht unwahrscheinlich ist: Nach der (gewiss stilisierten, aber nicht notwendigerweise auch fiktionalen) Szene Apg 28,17-28 spielte es für das Gespräch des Paulus mit den Juden Roms eine Rolle, was man, brieflich in die Diaspora kommuniziert, „in Judäa“ über ihn dachte (28,21). Unstrittig ist immerhin der mit der Tempelsteuer gegebene diasporaweite Jerusalembezug. 58 Berger, Bibelkunde (Anm. 52), 417.
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plötzlicher antijüdischer Ausfall des Paulus.59 Vielmehr geht es darum, dass die von den Adressaten erfahrenen Anfeindungen als Ausprägung von etwas verstanden werden, das sich genauso auch bei den jüdischen Geschwistern in Judäa ereignet und das die Adressaten mit den dortigen jüdischen Christusverehrern über die räumliche Distanz hinweg zu einer engen Gemeinschaft verbindet, die ihre prekäre soziale Situation gemeinsam auf dem Hintergrund der biblisch-jüdischen Tradition deutet und auf das Offenbarwerden des Zornes Gottes wider die Verfolger hofft. 1 Thess 2,14-16 ist nicht pauschal oder unmotiviert antijüdisch. Der Passus hebt vielmehr darauf ab, dass Nichtjuden aus dem, was Juden von Juden erleiden, Hoffnung schöpfen. 4. Zusammenfassung Das Motiv der Leidensgemeinschaft, verstanden als gemeinschaftliche bzw. Gemeinschaft bildende Leidensteilhabe, war in diesem Beitrag auf seine brieflichen Verwendungszusammenhänge im Philipper-, 2. Korinther- und 1. Thessalonicherbrief hin zu untersuchen. In Phil 3,1-11 rekurriert Paulus auf die Teilhabe an den Leiden Christi, um seine Option für die gesetzesfreie Heidenmission zu begründen. Gegen die soziale und religiöse Aufwärtsorientierung der judaisierenden Mission setzt Paulus die Orientierung am Geschick des gekreuzigten Messias, der den Ort äußerster gesellschaftlicher Schande und sozialer Exklusion markiert. Teilhabe an den Leiden des Messias meint also zunächst die soziale Selbstpositionierung an den unteren und äußeren Rändern der Gesellschaft. Hier entsteht aber ein neuer sozialer Raum mit
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So etwa R. A. Wortham, The Problem of Anti-Judaism in 1 Thess 2:14-16 and Related Pauline Texts, BTB 25, 1995, 37–44, unter Zuhilfenahme moderner Vorurteilsforschung. Dagegen erübrigt die hier vorgeschlagene Lektüre jegliche psychologischen Mutmaßungen über den Briefverfasser.
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eigenen Handlungsmöglichkeiten, der nach Paulus qualitativ von „Gnade“, „Geist“ und „Freude“ bestimmt ist. Die sich an den unteren und äußeren Rändern zu einer Gemeinschaft in Solidarität mit dem gekreuzigten Messias zusammenschließen, bilden einen vitalen sozialen Binnenraum und sind zugleich zu positiven Außenbeziehungen gegenüber einer feindlich eingestellten Umgebung in der Lage. In 2 Kor 1,3-7 geht es um die zwischen Paulus und den Adressaten bestehende Leidensgemeinschaft angesichts einer aktuell belasteten und trotz erfolgreicher Wiederannäherung noch immer gefährdeten Beziehung zwischen Apostel und Gemeinde. Das Motiv der gemeinsamen Leidensteilhabe ist in einen deutlich anders ausgerichteten argumentativen Duktus eingeflochten, der auf den positiven Effekt des gerade nicht mit der Gemeinde geteilten, sondern zu ihren Gunsten in Trost umgemünzten Leidens des Paulus abhebt. Hierbei handelt es sich um eines von vielen Interpretamenten des paulinischen Apostolats im 2. Korintherbrief, die die Eignung auch des schwachen und leidenden Apostels plausibilisieren und damit das Autoritätsgefälle zwischen Paulus und den korinthischen Christusverehrern verteidigen sollen, wie es sich aus dem Anspruch des Paulus, „Apostel Jesu Christi durch den Willen Gottes“ zu sein (2 Kor 1,1), ergibt. Dagegen appelliert der Schlussakzent in 1,7 mit κοινωνοί ἐστε τῶν παθημάτων an die gemeinsame Erfahrung geteilten Leids, die ohne jeden Hinweis auf die Mittlerrolle des Paulus im Vorgang der Heilsvermittlung auskommt und für einen Moment die im 2. Korintherbrief ansonsten auf Schritt und Tritt betonte Vorrangstellung des Paulus ausblendet. Dass dieser Moment gleichwohl entscheidend wichtig ist, liegt dann vollends klar zutage, wenn die auf die Leidens- und Trostgemeinschaft gegründete „Hoffnung“ (V. 7) im Vorgriff auf 1,13 die Hoffnung auf gänzliche Aussöhnung zwischen Paulus und seiner Gemeinde zum Gegenstand hat: Es genügt nicht, wenn die Gemeinde Paulus in der von ihm be-
Leidensgemeinschaft
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anspruchten Rolle aufs Neue akzeptiert, es muss auch etwas geben, worin beide Partner ganz unhierarchisch Seite an Seite stehen. 1 Thess 2,13-16 bildet in gewisser Hinsicht eine Synthese aus den beiden anderen Paulus-Texten: Wie in Phil 3,1-11 (Fleisch versus Christus, irdisch versus himmlisch) treten die göttliche und menschliche Sphäre in einen tendenziell konflikthaften Gegensatz („von Gott“ versus „von Menschen“), und wie in 2 Kor 1 (Leidens- und Trostgemeinschaft zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde) geht es um die Inszenierung einer in gemeinsamer Leidensteilhabe begründeten engen Gemeinschaft zwischen Menschen, hier nun aber nicht in Überbrückung eines Konflikts, sondern der räumlichen und kulturellen Distanz zwischen Christusgemeinden in Judäa und Thessalonike. Dass an beiden Orten Christusgläubige unter denselben Ausgrenzungen und Repressionen leiden, schließt sie zu einer Gemeinschaft zusammen, die zugleich die Leidenserfahrungen der nichtjüdischen Gläubigen im Deutungshorizont einer biblisch-jüdischen Geschichte der Verfolgung der Gottesboten beheimatet. Signifikant ist, dass diese Beheimatung nicht rein diskursiv erfolgt, sondern im Medium einer neuen Gruppenzugehörigkeit über das geteilte Leid, dem Paulus die Kraft zutraut, eine enge Beziehung zwischen einander Fernstehenden zu stiften. Die exegetischen Nahaufnahmen dieses Beitrages sind gewiss nicht dazu angetan, der Selbstverständigung diakonischen Handelns als Funktion der Kirche(n) unmittelbar zugrunde gelegt zu werden. Sie machen aber darauf aufmerksam, dass Leidensteilhabe als menschliche Lebensäußerung sich bereits in frühchristlichen Texten niedergeschlagen und zur christlichen Selbst- und Weltdeutung in der Zeit des Anfangs Wesentliches beigetragen hat. Gerade die die Texte prägenden historisch weit entfernten und sozial und kulturell andersartigen Daseinsbedingungen laden dazu ein, eigene Erfahrungen in den Erfahrungen frühchristlicher Gemeinden zu spiegeln und daraus möglicherweise eigene Handlungsorientierungen zu gewinnen.
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Das Wortfeld Diakonia bei Philon von Alexandrien Sterne, Priester, Zähne und andere Diakone Was haben Sterne, Priester, Zähne und Diakone gemeinsam? Diese Frage, die auf den ersten Blick wie der Auftakt zu einem schlechten Witz erscheint, führt geradewegs zum Verständnis des Wortfeldes um διακονέω und seiner Derivate im hellenistischen Judentum. Der vorliegende Beitrag stellt dieses Verständnis am Beispiel der Schriften Philons von Alexandrien dar und vervollständigt damit das Bild, das sich aus einem entsprechenden semantischen Zugriff auf das Neue Testament ergibt.1 Eine Vorbemerkung führt in die Bedeutung der Schriften Philons für das Verständnis des Neuen Testaments ein, bevor der Beitrag in einer Art Konkordanzstil die Belege für das Lexem διακονέω und seine Derivate im Œuvre Philons benennt und beschreibt und damit eine Antwort auf die einleitende Frage bietet. 1. Vorbemerkung: Philon von Alexandrien und das Neue Testament Die komparative Wahrnehmung des Neuen Testamens im Licht der Schriften Philons ist sachlich aus mehreren Gründen sinnvoll: Seine Lebensdaten bringen den Autor des Corpus Philonicum einmal als einen Zeitgenossen 1 Vgl. dazu prominent und exemplarisch J. N. Collins, Diakonia. Reinterpreting the ancient sources, New York 1990, und A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II/226, Tübingen 2007. Vgl. ferner den älteren und wirkmächtigen Wörterbucheintrag von H. W. Beyer, Art. διακονέω, διακονία, διάκονος, ThWNT II, 1935, 81–93.
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Jesu und des Paulus in eine zeitliche Nähe zum frühen Christentum bzw. zur Jesusbewegung.2 Unter inhaltlichen Gesichtspunkten sind die zugehörigen Schriften weiterhin aufgrund eines umfangreichen Wissens des Autors über die griechisch-römische Kultur für das Verständnis des Neuen Testaments in seinem zeitgeschichtlich-kulturellen Horizont von Relevanz.3 An seiner Person zeigt sich zudem anschaulich eine „gewisse Synthese zwischen atl. Offenbarung u. griech. Denken.“4 Anders gesagt verbindet sich in der Person Philons die jüdische Tradition mit hellenistischen Denkmustern. Darüber hinaus macht seine Herkunft aus der Stadt Alexandrien und seine damit verbundene Zugehörigkeit zur jüdisch-alexandrinischen Gemeinde sein Werk interessant für eine Betrachtung, weil
2
Obgleich die Lebensdaten Philons nicht mit letzter Genauigkeit zu benennen sind, lassen sich anhand seiner Teilnahme an einer Gesandtschaft alexandrinischer Juden an Kaiser Gaius Caligula um das Jahr 39 n. Chr. zumindest annähernd Lebensdaten gewinnen. Vgl. hierzu M. Frenschkowski, Art. Philon von Alexandrien, BBKL VII, 1994, 523– 537, 523–524. Vgl. weiterhin G. E. Sterling, Art. Philo, in: J.J. Collins, D. C. Harlow (Hg.), The Eerdmans dictionary of early Judaism, Grand Rapids 2010, 1063–1070, 1065. Laut einer philonischen Selbstdarstellung geschah diese Teilnahme bereits im fortgeschrittenen Alter, sodass als Lebenszeit der Zeitraum von 20/13 v. Chr. bis 45–50 n. Chr. angenommen wird, vgl. M. Mach, Art. Philo von Alexandrien, TRE 26, 1996, 523–531, 523; T. Seland, Philo of Alexandria: An Introduction, in: ders. (Hg.), Reading Philo. A handbook to Philo of Alexandria, Grand Rapids 2014, 3–16, 4–5. Für weitere Aspekte vgl. O. Kaiser, Studien zu Philo von Alexandrien, hg. v. M. Witte, BZNW 501, Berlin 2016. 3 Zur Frage nach der Bildung Philos vgl. Seland, Philo (Anm. 2), 7; E. Koskenniemi, Philo and Classical Education, in: T. Seland (Hg.), Reading Philo. A handbook to Philo of Alexandria, Grand Rapids 2014, 102–128; Sterling, Philo (Anm. 2), 1064–1065; R. Klein, Art. Hellenen. A. Nichtchristlich. IV. Jüdisch. b. Philon, RAC 14, 1988, 417–418. 4 Klein, Hellenen (Anm. 3), 417.
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im Vergleich mit dem Neuen Testament literarische, semantische bzw. motivgeschichtliche Einflüsse sichtbar werden können.5 Forschungsgeschichtlich relevant ist vor diesem Hintergrund vor allem die Frage, inwieweit Interdependenzen zwischen dem Neuen Testament und Philon wahrnehmund nachweisbar sind. Der Klärung auch dieses Sachverhaltes widmet sich das Forschungsprojekt des Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (CJHNT), dessen Anfänge auf den Leipziger Neutestamentler und Religionswissenschaftler Georg Heinrich Henrici zurückzuführen sind und das seit der Jahrtausendwende eine Neukonzipierung und Fortführung erfährt.6 Der Arbeit des Corpus liegt der Gedanke zugrunde, dass das Werk Philons – neben anderen Schriften und Autoren – ein wichtiges Bindeglied zwischen der jüdisch-hellenistischen Sprach- und Gedankenwelt und dem frühen Christentum und seiner Literatur darstellt, weil diese Schriften als Referenzquellen wichtige Beiträge zum Verständnis und zur motiv- und traditionsgeschichtlichen Genese der neutestamentlichen Schriften bieten. Dabei ist zu reflektieren, inwiefern Interdependenzen plausibel zu machen und zu erklären sind. Neben direkter literarischer Abhängigkeit ist dabei auch an eine mündliche Tradierung zu denken, die ihren Niederschlag in den neutestamentlichen Schriften fand.7 Eine 5
Vgl. dazu die Darstellung Philons in LegGai und als weitere Quelle Josephus, Ant XVII, 257–260, mit einer Referenz auf die philosophische Bildung Philons. Eine Paraphrase von LegGai bietet J. Herzer, Pontius Pilatus. Henker und Heiliger, BG 32, Leipzig 2020, 97–99. 6 Vgl. für weitere Informationen zur Anlage des Projekts und für Literaturhinweise R. Deines, K.-W. Niebuhr, Philo und das Neue Testament – Das Neue Testament und Philo. Wechselseitige Wahrnehmungen, in: R. Deines (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen; I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum, 1. - 4. Mai 2003, Eisenach/Jena, WUNT 172, Tübingen 2004, 4–18, 12–16. 7 Für Überlegungen und Literaturangaben zur Vermittlung von philonischen Traditionen vgl. G. Holtz, Von Alexandrien nach Jerusalem. Überlegungen zur Vermittlung philonisch-alexandrinischer Tradition an Paulus, ZNW 105, 2014, 228–263, 229–231. Im Anschluss an ihre
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weitere Option besteht in der Nutzung eines „gemeinsamen Fundus der Traditionsbildung des hellenistischen Judentums“,8 aus dem Philon und Paulus gleichermaßen schöpften und ihn in ihrem Sinne verwendeten. Die nachfolgenden Hinweise zur Verwendung des Lexems διακονέω und seiner Derivate bei Philon verstehen sich als exemplarische Einblicke in einen möglichen semantischen Fundus des hellenistischen Judentums, aus dem die neutestamentlichen Autoren geschöpft haben könnten und der somit bei der Entstehung der neutestamentlichen Schriften den Gebrauch des entsprechenden Lexems nahegelegt bzw. beeinflusst haben könnte. Somit lassen sich im besten Fall religionsgeschichtliche Aspekte beschreiben, die die außerbiblische Verwendung des Lexems bzw. des zugehörigen Wortfeldes erhellen und somit einen Beitrag zu dessen Verständnis im biblischen Kontext leisten können. Dabei ist aber der Hinweis von Holtz zu beachten, „dass eine gemeinsame Begrifflichkeit keineswegs das Vorhandensein identischer Vorstellungen verbürgt.“9 Holtz regt deswegen die Untersuchung definierter Sachfragen im Corpus Philonicum im Vergleich zum Neuen Testament an. Der vorliegende Beitrag versteht sich in dieser Perspektive als ein Hilfsmittel für weiterführende Überlegungen.
Darstellung der im von Deines und Niebuhr herausgegebenen Tagungsband (vgl. R. Deines (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen; I. Internationales Symposium zum Corpus Judaeo-Hellenisticum, 1. - 4. Mai 2003, Eisenach/Jena, WUNT 172, Tübingen 2004, passim) gebotenen drei Erklärungsmodelle zur Erläuterung von Ähnlichkeiten regt sie a.a.O., 231–232, eine vierte, an der Untersuchung konkreter Sachfragen orientierte, Herangehensweise an. 8 Holtz, Alexandrien (Anm. 7), 230–231. 9 Holtz, Alexandrien (Anm. 7), 232.
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2. Über Sterne, Priester und Zähne – Eine kleine Konkordanz der Diakonie bei Philon Ein erster Überblick über die Verwendung des DiakoniaWortfeldes bei Philon macht zunächst zweierlei deutlich: Einerseits ist ersichtlich, dass das Wortfeld keinen großen Raum innerhalb seiner Schriften einnimmt. Lediglich 14 Belege lassen sich für διακονέω, διακονία, διακονικός und διάκονος mit und ohne Flexion finden.10 Für den Gebrauch des Wortfeldes in Verbindung mit dem Präfix ὑπο(ὑποδιακονικός und ὑποδιάκονος) sind zusätzlich zehn Belege mit und ohne Flexion nachzuweisen.11 Diese Verbindung mit Präfix ist im Neuen Testament nicht zu finden. Weiterhin verwendet Philon den Terminus διακονικός, der sich ebenfalls innerhalb der neutestamentlichen Literatur nicht findet. Die Darstellung fokussiert sich zunächst auf das Lexem διακονέω und seine Derivate, geordnet nach den Schriften Philons. Wo Clusterbildungen sinnvoll erscheinen, werden die entsprechenden Schriften in einem gemeinsamen Abschnitt behandelt. Danach erfolgt in gleicher Weise die Darstellung der Konstruktion mit Präfix. Einer knappen Beschreibung des Kontexts und der Bedeutung des Lexems wird jeweils der maßgebliche Textzusammenhang in griechischer Sprache und in einer Übersetzung beigestellt. 2.1 De vita contemplativa Die Schrift De vita contemplative (VitCont) bietet vier Belege für das Wortfeld um das Lexem διακονέω und seine Derivate. VitCont wendet sich einer Darstellung der Lebensweise der sogenannten Therapeuten zu, deren Ziel in der Erreichung der Gottesschau liegt (vgl. VitCont 10–
10 Vgl. P. Borgen, K. Fuglseth, R. Skarsten, The Philo index. A complete Greek word index to the writings of Philo of Alexandria, lemmatised & computer-generated, Grand Rapids 2000, 87. 11 Vgl. Borgen, Fuglseth, Skarsten, Philo index (Anm. 10), 346.
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12). In VitCont 50 wird mit διακονικός das Verhalten von Sklaven während eines Festmahles beschrieben: διακονικὰ ἀνδράποδα εὐμορφότατα καί περικαλλέστατα, ὡς ἀφιγμένα οὐχ ὑπηρεσίας ἕνεκα μᾶλλον ἢ τοῦ φανέντα τὴν τῶν θεωμένων ὄψιν ἡδῦναι·τούτων οἱ μὲν παῖδες ἔτι ὄντες οἰνοχοοῦσιν, ὑδροφοροῦσι δὲ βούπαιδες λελουμένοι καὶ λελειασμένοι, οἳ τά τε πρόσωπα ἐντρίβονται καὶ ὑπογράφονται καὶ τὰς τῆς κεφαλῆς τρίχας εὖ πως διαπλέκονται σφηκούμενοι. Es bedienen sehr wohlgestaltete und schöne Sklaven, die den Eindruck erwecken, sie seien nicht so sehr zur Dienstleistung da als vielmehr dazu, durch ihr Erscheinen die Augen der Betrachter zu erfreuen. Diejenigen von ihnen, die noch im Knabenalter stehen, schenken Wein ein, während die großen Burschen frisch gewaschen und glatt rasiert Wasser tragen. Sie schminken sich und untermalen die Augen, das Haupthaar flechten sie sehr sorgfältig und binden es zusammen.12
In der Zusammenschau mit ὑπηρεσία wird ersichtlich, dass den Sklaven während der Mahlzeit Aufgaben zukommen und διακονικός hier auf den Tischdienst bezogen ist und damit Tätigkeiten der Aufwartung bei Tisch bezeichnet. Der einzige Beleg der Grundform διακονέω bei Philon findet sich in VitCont 70, ebenfalls im Rahmen von Ausführungen zu gemeinsamen Mahlzeiten bzw. Festmählern: διακονοῦνται δὲ οὐχ ὑπ᾽ ἀνδραπόδων, ἡγούμενοι συνόλως τὴν θεραπόντων κτῆσιν εἶναι παρὰ φύσιν ἡ μὲν γὰρ ἐλευθέρους ἅπαντας γεγέννηκεν, αἱ δέ τινων ἀδικίαι καὶ πλεονεξίαι ζηλωσάντων τὴν ἀρχέκακον ἀνισότητα καταζεύξασαι τὸ ἐπὶ τοῖς ἀσθενεστέροις κράτος τοῖς δυνατωτέροις ἀνῆψαν. 12 VitCont 50. Griechische Textgrundlage hier und im Folgenden ist L. Cohn, P. Wendland (Hg.), Philonis Alexandrini Opera quae supersunt, Nachdruck Berlin 1962, hier: VI, 59. Die deutschen Übersetzungen folgen L. Cohn, I. Heinemann u.a. (Hg.), Philo von Alexandrien. Die Werke in deutscher Übersetzung, Nachdruck Berlin 1964, hier: VII, 59–60.
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Sie lassen sich nicht von Sklaven bedienen, da sie den Besitz von Sklaven für gänzlich naturwidrig ansehen. Die Natur nämlich brachte alle als Freie hervor, die Ungerechtigkeit jedoch und die Habgier einiger, die nach Ungleichheit, der Quelle allen Übels, strebten, brachte die Menschen unter ihr Joch und gab den Mächtigeren Gewalt über die Schwächeren.13
Im Kontrast zu VitCont 50 wird die (dienende) Tätigkeit (διακονέω) von Sklaven bei den Therapeuten in VitCont 71 abgelehnt, weil sie den Besitz von Sklaven als wider die Natur seiend verstehen. Stattdessen sind Freie die Ausführenden und Personen, die die notwendigen Aufgaben und Erledigungen verrichten (VitCont 71, διακονικός). Konkret handelt es sich dabei um eine Tätigkeit, bzw. die Aufwartung, bei Tisch: ἐν δὴ τῷ ἱερῷ τούτῳ συμποσίῳ δοῦλος μὲν ὡς ἔφην οὐδείς, ἐλεύθεροι δὲ ὑπηρετοῦσι, τὰς διακονικὰς χρείας ἐπιτελοῦντες οὐ πρὸς βίαν οὐδὲ προστάξεις ἀναμένοντες, ἀλλ᾽ ἐθελουσίῳ γνώμῃ φθάνοντες μετὰ σπουδῆς καὶ προθυμίας τὰς ἐπικελεύσεις. Bei diesem heiligen Gastmahl gibt es also, wie ich sagte, keine Sklaven, sondern Freie vollbringen die Dienstleistungen, und zwar nicht unter Zwang oder auf die Weise, dass sie auf Anordnungen warteten, sondern mit freiwilligem Entschluss nehmen sie voller Eifer und Bereitwilligkeit jede Aufforderung vorweg.14
Auch der letzte Beleg für das Wortfeld in VitCont 75 steht im Kontext von Mahlzeiten: καὶ τὰ μὲν πρῶτα τοιαῦτα. μετὰ δὲ τὸ κατακλιθῆναι μὲν τοὺς συμπότας ἐν αἷς ἐδήλωσα τάξεσι, στῆναι δὲ τοὺς διακόνους ἐν κόσμῳ πρὸς ὑπηρεσίαν ἑτοίμους, ὁ πρόεδρος αὐτῶν, πολλῆς ἁπάντων ἡσυχίας γενομένης πότε δὲ οὐκ ἔστιν; εἴποι τις ἄν· 13 14
VitCont 70. VitCont 71.
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ἀλλ᾽ ἔτι μᾶλλον ἢ πρότερον, ὡς μηδὲ γρύξαι τινὰ τολμᾶν ἢ ἀναπνεῦσαι βιαιότερον, ζητεῖ τι τῶν ἐν τοῖς ἱεροῖς γράμμασιν ἢ καὶ ὑπ᾽ ἄλλου προταθὲν ἐπιλύεται, φροντίζων μὲν οὐδὲν ἐπιδείξεως οὐ γὰρ τῆς ἐπὶ δεινότητι λόγων εὐκλείας ὀρέγεται, θεάσασθαι δέ τινα ποθῶν ἀκριβέστερον καὶ θεασάμενος μὴ φθονῆσαι τοῖς εἰ καὶ μὴ ὁμοίως ὀξυδορκοῦσι, τὸν γοῦν τοῦ μαθεῖν ἵμερον παραπλήσιον ἔχουσι. Von solcher Art sind die Vorbereitungen zum Gastmahl. Wenn die Gäste sich dann in der beschriebenen Reihenfolge niedergelassen und die Diener sich in gehöriger Ordnung bereit zur Dienstleistung, aufgestellt haben, tritt tiefstes Schweigen ein. Man könnte fragen, warum denn nicht alle schweigen. Aber zu diesem Zeitpunkt herrscht noch tieferes Schweigen als vorher, so dass keiner einen Laut von sich zu geben oder heftiger als gewöhnlich zu atmen wagt. Sodann geht ihr Vorsteher einem Problem nach, das sich aus den heiligen Schriften ergibt, oder erörtert eine Frage, die von einem aufgeworfen wurde. Hierbei achtet er nicht auf glanzvolle Vortragsweise – denn er strebt nicht nach Ruhm –, sondern ihm geht es darum, bezüglich einiger Punkte eine genauere Erkenntnis zu gewinnen und, wenn ihm das gelingt, sie den andern nicht vorzuenthalten, die das gleiche Verlangen nach Verständnis besitzen, wenn sie auch nicht so scharfsichtig sind wie er.15
Das Nomen διάκονος bezeichnet in VitCont 75 die bei Tisch beschäftigten Diener. Somit beschreibt das Wortfeld in VitCont insgesamt praktisch-profane Tätigkeiten von Menschen im Rahmen von Mahlzeiten und Festmählern. Deutlich wird, dass die Verwendung nicht zwangsläufig mit einem bestimmten sozialen Status des handelnden Subjekts verbunden ist: Sowohl die Tätigkeit von Freien (VitCont 71) als auch von Sklaven (VitCont 50) kann damit bezeichnet werden. Die Motivation leitet sich also entweder aus der freien Entscheidung der Person oder aber aus unmittelbarem Zwang ab.
15
VitCont 75.
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2.2 In Flaccum Zwei Belege für das Wortfeld bietet die Schrift „Gegen Flaccus“ (Flacc): Für διακονία gibt es einen Nachweis in Flacc 162, für διακονικός einen in Flacc 113. Die Schrift setzt sich kritisch mit der Person des Flaccus auseinander, dem römischen Statthalter in Ägypten zur Zeit der Judenverfolgung in Alexandria im Jahr 38. In Flacc 113 findet sich der Beleg für διακονικός in Zusammenhang mit einer knappen Beschreibung des Gefolges des Flaccus während seiner Verhaftung: γνοὺς δὲ τὸ περὶ τὰς εἰσόδους ἀφύλακτον καὶ τὴν περὶ τὸν Φλάκκον ὀλιγότητα μόλις γὰρ δέκα ἢ πεντεκαίδεκα τῶν διακονικῶν ἀνδραπόδων ἐπηκολουθήκει σύνθημα δοὺς τοῖς περὶ αὑτὸν εἰσέδραμεν ἐξαίφνης, καὶ τῶν στρατιωτῶν οἱ μὲν παρὰ τὸ συμπόσιον ἐπιστάντες ὑπεζωσμένοι τὰ ξίφη κυκλοῦσιν αὐτὸν οὐ προϊδόμενον·ἐτύγχανε γὰρ καὶ πρόποσίν τινι διδοὺς καὶ φιλοφρονούμενος τοὺς παρόντας. Dieser stellte fest, dass die Eingänge unbewacht sind und nur wenige den Flaccus begleiten – kaum zehn oder fünfzehn seiner Haussklaven waren mitgegangen, da gibt er den seinen Leuten ein Zeichen und stürmt plötzlich hinein. Etliche Soldaten traten mit den Schwertern an der Seite zur Gesellschaft und umringten den ahnungslosen Flaccus, der gerade einem (Gast) zutrinken und freundliche Begrüßungsworte an die Anwesenden richten wollte.16
Philon beschreibt, dass Flaccus zu einem Gastmahl mit allenfalls zehn oder fünfzehn τῶν διακονικῶν ἀνδραπόδων erschienen sei. Aufgrund einer fehlenden spezifischen Charakterisierung ist anzunehmen, dass es sich um gewöhnliche Haussklaven aus dem Besitz des Flaccus handelt. Der zweite Beleg für das Wortfeld in Flacc 162 dient zur Bezeichnung eines Diensts bzw. der Erfüllung eines Auftrags:
16
Flacc 113.
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καὶ οἱ μὲν τὴν διακονίαν ἐκπλήσαντες ἀπῄεσαν·τῷ δὲ Φλάκκῳ μηδεμίαν ὄψιν οἰκείαν ἔτι θεωμένῳ τὸ πάθος ἐκαινοῦτο τρανότερον φαντασίαις ἐναργεστέραις καὶ τὴν ἐν κύκλῳ κατανοοῦντι πολλὴν ἐρημίαν, ἧς μέσος ἀπείληπτο, κουφότερον ἐδόκει κακὸν ἡ ἐν τῇ πατρίδι βίαιος ἀναίρεσις, μᾶλλον δὲ συγκρίσει τῶν παρόντων ἀσπαστὸν ἀγαθόν. οὕτως ἐσφάδᾳζεν, ὡς μηδὲν τῶν μεμηνότων διαφέρειν·ἐπήδα πολλάκις ἄνω κάτω διαθέων, τὰς χεῖρας συνεκρότει, τοὺς μηροὺς ἔπαιε, κατέβαλεν εἰς τὸ ἔδαφος ἑαυτόν, ἐξεφώνει πολλάκις· Damit war ihr Dienst getan, und sie entfernten sich. Dem Flaccus aber blieb kein vertrautes Gesicht mehr vor Augen, dafür stand sein Leid in klareren Umrissen immer deutlicher vor ihm. Rings um sich spürte er die tiefe Einsamkeit, in deren Mitte er verlassen stand, und der gewaltsame Tod im Vaterland schien ihm als geringeres Übel, sogar als willkommenes Gut im Vergleich zur Gegenwart. Er schwankte so, dass er sich von einem Wahnsinnigen nicht unterschied. Oft sprang er auf und lief hin und her, schlug die Hände zusammen, hieb sich auf die Schenkel und warf sich zu Boden.17
Im konkreten Fall bestand die beschriebene Diakonie in der Überführung des Flaccus in die Verbannung. Mit dem Eintreffen auf der Insel Andros und der Vorführung des Verbannten vor der Inselbevölkerung ist der kaiserliche Auftrag der Begleiter erfüllt, und sie lassen ihn auf der Insel zurück. Auch hier wird deutlich wird, dass die Verwendung des Lexems διακονέω und seiner Derivate nicht zwangsläufig einen Rückschluss auf den sozialen Status des handelnden Subjekts zulässt und grundsätzlich auch die Erfüllung einer Aufgabe bzw. eines Auftrags bezeichnen kann. 2.3 De Josepho In den Rahmen der Gesetzesauslegungen ist die Schrift De Josepho (Jos) einzuordnen, die das Leben Josephs darstellt und illustriert. Auch in dieser Schrift lassen sich zwei Be17
Flacc 162.
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lege für das Wortfeld ausmachen. In Jos 167 wird im Rahmen der Unterredung zwischen Joseph und zehn seiner elf Brüder eine Form von διακονία verwendet: πειρωμένων δ᾽ ἀπολογεῖσθαι καὶ διεξιόντων, ὡς ἐπ᾽ ἀγενήτοις κατηγοροῦνται, μήτε γὰρ παρὰ δυσμενῶν ἥκειν μήτ᾽ αὐτοὶ τοῖς ἐγχωρίοις ἀπέχθεσθαι μηδ᾽ ἂν ὑπομεῖναί ποτε τοιαύτην διακονίαν, εἶναι γὰρ τὰς φύσεις εἰρηνικοὶ καὶ μεμαθηκέναι σχεδὸν ἐξ ἔτι νηπίων παίδων τιμᾶν εὐστάθειαν παρ᾽ ὁσιωτάτῳ καὶ θεοφιλεστάτῳ πατρί, ᾧ δώδεκα γενομένων υἱῶν ἕνα μὲν τὸν νεώτατον οὐκ ἔχοντά πω ἡλικίαν ἀποδημίας οἴκοι καταμεῖναι, δέκα δὲ τοὺς ὁρωμένους ἡμᾶς ἐνταῦθα ὑπάρχειν, τὸν δὲ λοιπὸν ἐκποδὼν γεγενῆσθαι, ταῦτ᾽ ἀκούσας ὡς ἐπὶ τεθνεῶτι ἑαυτῷ παρὰ τῶν ἀποδομένων τί τὴν ψυχὴν ἄρα ἐπεπόνθει; Die Brüder versuchten sich zu rechtfertigen und erklärten, dass sie ohne jeden Grund beschuldigt werden; denn weder kämen sie von Feinden, noch seien sie selbst den Bewohnern des Landes feindlich gesinnt, und niemals würden sie eine solche Dienstleistung übernehmen, denn sie seien von Natur friedliche Leute und hätten von frühster Jugend an die Ruhe wertschätzen gelernt bei ihrem frommen und gottgesegnetem Vater, dem 12 Söhne geboren wurden, von denen einer, der jüngste, weil er noch nicht das Alter für Reisen ins Ausland habe, zu Hause geblieben sei, zehn hier vor seinen Augen stehen und einer verlorengegangen sei. Als er so von sich wie von einem Toten die Brüder, die ihn verkauft hatten, sprechen hörte, was musste er da in seiner Seele empfinden?18
Joseph – von seinen Brüdern unerkannt – verstellt sich und wirft ihnen vor, feindliche Kundschafter zu sein. Diese verteidigen sich und widersetzen sich dem Vorwurf einer solchen διακονία mit Verweis auf ihre von der Natur gegebene Friedfertigkeit. In diesem Kontext kann die Verwendung zur Bezeichnung eines Auftrags bzw. einer Dienstleistung im weitesten Sinne verstanden werden. Hentschel charakterisiert diesen Beleg als zum „Bereich 18
Jos 167.
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der Botengänge“,19 hier im Sinne der „Beschaffung und Übermittlung von Informationen“20 (d. h. zur Spionage), zugehörig. Ein weiterer Beleg für διάκονος findet sich in Jos 241 innerhalb eines Monologs Josephs, mit dem er sich seinen Brüdern zu erkennen gibt: καὶ νομίζω τῶν συμβεβηκότων οὐχ ὑμᾶς ἀλλὰ θεὸν αἴτιον γεγενῆσθαι βουληθέντα με τῶν αὐτοῦ χαρίτων καὶ δωρεῶν, ἃς ἐν τοῖς ἀναγκαιοτάτοις καιροῖς ἠξίωσε τῷ γένει τῶν ἀνθρώπων παρασχεῖν, ὑπηρέτην γενέσθαι καὶ διάκονον. Auch meine ich, dass das Geschehene nicht von euch, sondern von Gott veranlasst ist, weil er wollte, dass ich der dienstfertige Bote seiner Gnadengeschenke werde, die er in diesen Zeiten der Not dem Menschengeschlechte gewähren wollte.21
Im voranstehenden Abschnitt bezeichnet sich Joseph selbst als ὑπηρέτης […] καὶ διάκονος. Er stellt sich somit als ein Untergebener dar, der die Entscheidungen und Entschlüsse Gottes umsetzt und darin als „Überbringer seiner Gnadengeschenke“22 fungiert. Damit zeigt sich, dass der Begriff auch in der Sphäre der Kommunikation zwischen Mensch und Gott verwendet werden und ein Beziehungsoder Auftragsgefüge zwischen Gott und Menschen beschreiben kann. In diesem Gefüge fungiert Joseph als ein Vermittler der göttlichen Gnadengeschenke. Insgesamt machen die Belegstellen aus Jos die Spannweite des Bedeutungsspektrums deutlich, lassen aber erneut keinen Rückschluss auf die soziale Stellung des handelnden bzw. bezeichneten Subjekts zu. 2.4 De vita Mosis und De posteritate Caini Ein einzelner Beleg für eine flektierte Form von διάκονος findet sich in Philons Schrift über das Leben Moses in 19
Hentschel, Diakonia (Anm. 1), 73. Hentschel, Diakonia (Anm. 1), 73. 21 Jos 241. 22 Hentschel, Diakonia (Anm. 1), 73.
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VitMos 2,199. Beschrieben wird, wie das Hörvermögen zum Gehilfen einer Sprache wird, die die Seele befleckt: ὦ ἄνθρωπε, καταρᾶταί τις θεόν; τίνα καλῶν ἕτερον θεὸν εἰς τὴν τῆς ἀρᾶς βεβαίωσιν; ἢ δῆλον ὅτι αὐτὸν κατ᾽ αὐτοῦ; ἄπαγε βεβήλων καὶ ἀνοσίων ἐνθυμημάτων. καλὸν ἐκνίψασθαι τὴν ἀθλίαν ψυχὴν ἐπηρεασθεῖσαν μὲν ὑπὸ φωνῆς, διακόνοις δὲ τοῖς ὠσὶ χρησαμένην, αἰσθήσει τυφλῇ. O Mensch, fluchen kann jemand Gott? welchen andern Gott kann er zur Bekräftigung seines Fluches anrufen? oder ruft er ihn selbst gegen ihn an? Fort mit so unheiligen, frevelhaften Einfällen! Die arme Seele müsste nach dem Gebote der Schicklichkeit von ihrer Befleckung durch solche Sprache, bei der der stumpfe Sinn des Gehörs ihr seinen Dienst leistete, sich rein waschen.23
Post 165 (De posteritate Caini) beschreibt wie VitMos 2,199 ein Verhalten der Ohren, die den falschen Mythen derer, für die das Leben eine Tragödie ist, zur Hand gehen. Somit wird an dieser Stelle eine Dienstleistung bzw. ein Dienst beschrieben, der dabei hilft, dass falsche Mythen die Seelen beflecken. Die Ohren werden damit als Vermittler zwischen falschen Mythen und den Seelen gekennzeichnet: ταῦροι δὲ καὶ κριοὶ καὶ τράγοι, οὓς Αἴγυπτος διὰ τιμῆς ἔχει, καὶ ὅσα ἄλλα φθαρτῆς ὕλης ἀφιδρύματα, ἀκοῇ μόνον νομίζονται θεοί, πρὸς ἀλήθειαν οὐκ ὄντες, ψευδώνυμοι πάντες. ἁπαλαῖς γὰρ ἔτι ταῖς τῶν νέων ψυχαῖς οἱ τραγῳδίαν τὸν βίον τύφων ἐρώντων νομίζοντες κεκιβδηλευμένους χαρακτῆρας ἐναπομάττονται, διακόνοις ἀκοαῖς χρώμενοι, ὧν μυθικὸν λῆρον καταχέαντες καὶ μέχρι διανοίας αὐτῶν ἐντήξαντες θεοπλαστεῖν τοὺς τὰ φρονήματα ἄνδρας μὲν μηδέποτε γινομένους ἀεὶ δὲ θηλυδρίας ὄντας ἠνάγκασαν. Stiere aber, Widder und Böcke, die in Ägypten verehrt werden, und alle anderen Götzenbilder aus vergänglichem Stoff, gelten 23
VitMos 2,199.
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nur für das Ohr als Götter, sind es in Wahrheit nicht und werden alle fälschlich so genannt. Denn in die noch zarten Seelen der jungen Leute prägen die, welche das Leben für eine Tragödie halten, wie sie die Dichter verfassen, die den eitlen Wahn lieben, verfälschte Eindrücke unter Benutzung der Ohren als Helfer. Nachdem sie über diese als Mythengeschwätz ausgegossen und bis in ihr Denken fest eingeprägt hatten, zwangen sie die in ihrem Verstande niemals zu Männern Gereiften, sondern immer weibisch Gebliebenen dazu, Götzenbilder herzustellen.24
VitMos 2,199 und Post 165 zeigen, dass nicht allein Menschen mit dem Lexem und seinen Derivaten angesprochen, sondern auch Dinge, im speziellen Fall das Hörvermögen und die Ohren, als Erfüllungsgehilfen einer bestimmten Aufgabe bezeichnet werden können. Dadurch erscheinen sie als Vermittler zwischen Gott und Menschen oder anderen Subjekten. 2.5 De gigantibus Eine vergleichbare Beschreibung wie in VitMos 2,199 und Post 165 lässt sich zunächst auch für die Verwendung des Nomens διάκονος in Gig 12 (De gigantibus) wahrnehmen, weil hier die Inanspruchnahme der Seelen durch den Schöpfer und somit abermals eine Dienstleistung beschrieben wird, die die Seelen als eine Art Vermittler zwischen Gott und Mensch auszeichnet: τῶν οὖν ψυχῶν αἱ μὲν πρὸς σώματα κατέβησαν, αἱ δὲ οὐδενὶ τῶν γῆς μορίων ἠξίωσάν ποτε συνενεχθῆναι. ταύταις ἀφιερωθείσαις καὶ τῆς τοῦ πατρὸς θεραπείας περιεχομέναις ὑπηρέτισι καὶ διακόνοις ὁ δημιουργὸς εἴωθε χρῆσθαι πρὸς τὴν τῶν θνητῶν ἐπιστασίαν. Von den Seelen nun sind die einen in Körper hinabgestiegen, die anderen hielten es für richtig, niemals mit einem Teile der Erde vermengt zu werden. Da diese rein geworden sind und sich
24
Post 165.
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dem Dienste des Vaters widmen, pflegt der Schöpfer sie als Gehilfen und Diener zur Aufsicht über die Sterblichen zu gebrauchen.25
Bedeutsam ist an diesem Beleg einerseits, dass er nicht allein zur Bezeichnung von Personen verwendet wird, sondern auch andere Subjekte als seine Adressaten fungieren können. Damit ist – wie bereits angedeutet – eine Vergleichbarkeit mit VitMos 2,199 und Post 165 festzustellen. Darüber hinaus zeigt der Beleg aber auch, dass das Lexem weiterhin im Bereich der Kommunikation mit dem Göttlichen verwendet wird und Gott als Auftraggeber fungieren kann. Dieser Aspekt war auch im Kontext von Jos 241 zu beobachten. 2.6 De specialibus legibus, De virtutibus, Quaestiones in Genesim Innerhalb der Gesetzesauslegung Philons findet sich ein Beleg für διακονία in De specialibus legibus 2,91: (90) παυσάσθωσαν οὖν οἱ λεγόμενοι δεσπόται τῶν ἐπὶ δούλοις σφοδρῶν καὶ δυσυπομονήτων ἐπιταγμάτων, ἃ καὶ τὰ σώματα κατακλᾷ βιαζόμενα καὶ τὰς ψυχὰς πρὸ τῶν σωμάτων ἀπαγορεύειν ἀναγκάζει. (91) φθόνος γὰρ οὐδεὶς προστάττειν τὰ μέτρια, δι᾽ ὧν καὶ ὑμεῖς τῆς προσηκούσης ὑπηρεσίας ἀπολαύσετε καὶ οἱ θεράποντες εὐφόρως τὰ κελευσθέντα δράσουσι καὶ τὰς διακονίας οὐ πρὸς ὀλίγον ἅτε προκαμόντες καὶ εἰ δεῖ τἀληθὲς εἰπεῖν ἐν τοῖς πόνοις προγηράσαντες ὑπομενοῦσιν, ἀλλὰ πρὸς μήκιστον ἀθλητῶν τρόπον ἀνηβῶντες, οὐ τῶν εἰς πολυσαρκίαν πιαινομένων, ἀλλ᾽ οἷς ἔθος ἐγγυμνάζεσθαι διὰ ξηρῶν ἱδρώτων πρὸς τὴν τῶν περὶ τὸν βίον ἀναγκαίων καὶ χρησίμων κτῆσιν. (90) So mögen dann die sogenannten „Herren“ aufhören, ihren Dienern schwere und kaum zu bewältigende Leistungen aufzuerlegen, deren Druck den Körper lähmt und den Geist noch vor dem Körper mit Notwendigkeit erschlaffen macht. (91) Es ist euch ja unbenommen, ihnen zu befehlen, was sich gehört; dann 25
Gig 12.
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wird euch die erforderliche Bedienung zuteil, und die Diener werden flink euren Befehlen nachkommen und ihren Obliegenheiten nicht nur kurze Zeit gewachsen sein, weil sie ermattet und, richtig gesprochen, vorzeitig gealtert sind in ihrer Mühsal, sondern recht lange, da sie sich verjüngen wie die Athleten – nicht wie solche, die zur Wohlbeleibtheit herangemästet werden, sondern die mit die mit trockenem Schweiß um den Erwerb der notwendigen und nützlichen Lebensgüter ringen.26
Der Kontext zeigt, dass mit διακονία hier allgemein Diener bezeichnet werden, zu deren Beschreibung in SpecLeg 2,90 das Nomen δοῦλος gebraucht und deren Aufgabenbereich nicht näher beschrieben wird. Im Kontrast zur Bezeichnung der Diener in SpecLeg bezeichnet in der Schrift De virtutibus διακονία (Virt 122) alle durch Tagelöhner erbrachten Leistungen, die zur Sicherung ihres Lebensunterhalts dienen: θῆτας μὲν οὖν ἕνεκα χρείας τῶν ἀναγκαίων ὑποβεβληκότας ἑαυτοὺς ἄλλων ὑπηρεσίαις οἴεται δεῖν ἀνάξιον μηδὲν ὑπομένειν τῆς ἐκ γένους ἐλευθερίας, παραινῶν τοῖς τυγχάνουσι τῆς διακονίας εἰς τὸ τῆς τύχης ἀτέκμαρτον ἀφορᾶν καὶ λαμβάνειν αἰδῶ τῆς μεταβολῆς· τοὺς δ᾽ ἐξ ἐφημερινῶν δανείων χρεώστας τὸ τῆς προσβολῆς ὄνομα καὶ πάθος ὑποδύντας ἢ καὶ τοὺς ἀνάγκῃ βιαστικωτέρᾳ γενομένους ἐξ ἐλευθέρων δούλους οὐκ εἰς ἅπαν κακοπραγεῖν ἐᾷ διδοὺς ἐκεχειρίαν τούτοις τὴν εἰς ἅπαν ἐνιαυτῷ ἑβδόμῳ. Tagelöhner nun, die zur Befriedigung ihrer notwendigen Bedürfnisse Dienstleistungen für andere auf sich genommen haben, dürfen nach seiner Meinung nichts erdulden, was der Freiheit, die sie von Geburt besaßen, unwürdig wäre: er ermahnt die Empfänger solcher Dienste auf den unsicheren Bestand des Glückes zu achten und den Umschlag zu fürchten. Die aber, die infolge täglicher Anleihen Schuldner geworden sind und den Namen und die schlimmen Folgen eines solchen Schicksals auf sich nehmen mussten oder auch durch zwingendere Umstände
26
SpecLeg 2,90–91.
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aus freien Männern Knechte wurden, diese lässt er nicht für immer in ihrem Unglück, sondern gewährt ihnen im siebten Jahre Freiheit für alle Zeit.27
Die Zusammenschau von SpecLeg 2,90 mit Virt 122 zeigt, dass sich mit dem Lexem unspezifische Dienstleistungen für einen Auftraggeber verbinden. Im Sinne von unspezifischen Diensten und Dienstleistungen in Bezug auf die Betreuung von Heranwachsenden kann auch der Beleg für διακονία in QuaestGen 4,88 verstanden werden: διά τί [δὲ] μὴ τῷ υἱῷ παραγγέλλει μὴ λαβεῖν Χανανίτιν, ὥσπερ ὕστερον τῷ Ἰακὼβ οἱ γονεῖς, ἀλλὰ τῷ παιδί; [καίτοι] τελείου τυγχάνοντος Ἰσαὰκ καὶ ἡλικίαν ἔχοντος γάμου, καὶ εἰ μὲν ἤμελλε πείθεσθαι εἰκὸς ἦν αὐτῷ μᾶλλον παρεγγυᾶν, εἰ δὲ ἀπειθεῖν, περιττὴ τοῦ παιδὸς ἡ διακονία. τὸ γὰρ εἰπεῖν ὅτι, χρησμῷ τῆς γῆς ἐξελθῶν, πέμπειν εἰς αὐτὴν οὐκ ἠξίου τὸν υἱόν, [εἰ καὶ εὔλογον, ὅμως ἀπαρέσκει τισί], διὰ τὸ μηδ᾽ ἂν τὸν Ἰακώβ, [εἰ τοῦτο ἦν ἀληθές], ὑπὸ τῶν γονέων ἐνταῦθα πεμφθῆναι.28 Why does he instruct, not his son, not to take a Canaanite wife, as later his parents (instructed) Jacob, but the servant? Truly the literal meaning contains an anxiety of doubt and the thought of deliberation. For since Isaac was of mature and marriageable age, and was not under the dominion of the servant, one of two things (was bound to happen): either he would obey or he would oppose (him). Now, in case of his obedience, it would be natural for his father to be his sponsor. And if he did not obey, the ministration of the servant would be superfluous. And to say that because Abraham had migrated from the land of the Chaldaeans on account of a divine oracle, he did not consider it right to send his son (there), is very silly and foolish. In the first place, for this (same) reason it would not have been right (for him) to undertake the matter and be a sponsor at all in a family connexion from which he had been told to depart, nor for Jacob to go there 27
Virt 122. Text nach R. Arnaldez, F. Petit (Hg.), Quaestiones in Genesim et in Exodum, fragmenta Graeca, Les œuvres de Philon d'Alexandrie 33, Paris 1978, 173. 28
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to betroth himself, since he was an imitator of his father, and very well understood the instructions that had been given him. 29
QuaestGen 4,88 thematisiert das Verhalten Isaaks gegenüber seinem Vater Abraham. Erweist er sich ihm gegenüber gehorsam, wird er Unterstützung im Falle einer Eheschließung erhalten. Andernfalls wäre die διακονία des Dieners ersetzlich, der die Aufsicht bzw. Erziehung Isaaks zu verantworten hat. 2.7 ὑποδιάκονικος und ὑποδιάκονος Weitere zehn Belege für das Wortfeld um διακονέω lassen sich in Verbindung mit dem Präfix ὑπο- finden. Dabei entfällt ein Beleg auf die Verbindung ὑποδιάκονικος (VitMos 1,84) und neun Belege auf ὑποδιάκονος (Abr 115; Jos 123; Decal 178; SpecLeg 1,17.31.66.116.204; SpecLeg 3,201).30 2.7.1 De vita Mosis
ὁ δ᾽ ἀποδεξάμενος αὐτὸν τῆς αἰδοῦς "ἆρά γε ἀγνοεῖς" εἶπε "τὸν δόντα ἀνθρώπῳ στόμα καὶ κατασκευάσαντα γλῶτταν καὶ ἀρτηρίαν καὶ τὴν ἅπασαν λογικῆς φωνῆς ὀργανοποιίαν; αὐτός εἰμι ἐγώ. μηδὲν οὖν δείσῃς· ἐμοῦ γὰρ ἐπινεύσαντος ἀρθρωθήσεται πάντα καὶ μεταβαλεῖ πρὸς τὸ μέτριον, ὡς μηδενὸς ἔτι ἐμποδίζοντος ῥεῖν εὔτροχον καὶ λεῖον ἀπὸ καθαρᾶς πηγῆς τὸ τῶν λόγων νᾶμα. χρεία δ᾽ εἰ γένοιτο ἑρμηνέως, ὑποδιακονικὸν στόμα τὸν ἀδελφὸν ἕξεις, ἵν᾽ ὁ μὲν τῷ πλήθει ἀπαγγέλλῃ τὰ ἀπὸ σοῦ, σὺ δ᾽ ἐκείνῳ τὰ θεῖα." Gott aber, der ob seiner Bescheidenheit Gefallen an ihm gefunden, sagte: „Kennst du den nicht, der dem Menschen den Mund gegeben, der ihm Zunge und Luftröhre und die ganze Einrichtung der Sprachorgane geschaffen? Ich bin es, daher fürchte nichts, denn durch meine Huld werden alle Laute zu deutlicher
29 Die englische Übersetzung folgt, R. Marcus, Philo Supplement I. Questions on Genesis, LCL 380, Cambridge 1953, 366–367. 30 Vgl. für die Belegstellen Borgen, Fuglseth, Skarsten, Philo index (Anm. 10), 346.
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Sprache werden und in ebenmäßige Rede sich verwandeln, sodass ohne jedes Hindernis fortan schnell und glatt aus reiner Quelle der Strom deiner Worte fließen wird. Sollte aber ein Dolmetsch nötig werden, so wirst du an deinem Bruder einen helfenden Mund haben, damit er der Menge deine Worte künde, wie du ihm die göttlichen“.31
In VitMos 1,84 spricht Gott zu Mose und beruft ihn in seinen Dienst. Auf den Einwand des Moses, der für ihn vorgesehenen Aufgabe, mit Verweis auf seine schwache Stimme, nicht gewachsen zu sein, verheißt ihm Gott den ὑποδιακονικὸν στόμα eines Bruders. Und somit einen helfenden, hilfreichen bzw. dienstbeflissenen Mund. Der Fokus liegt in diesem Kontext auf dem Bereich der Hilfeleistungen bzw. der Unterstützung. 2.7.2 De decalogo In ähnlicher Weise wie in VitMos 1,84 kann die Funktion von ὑποδιάκονος in Decal 178 verstanden werden: ἐμπρεπὲς γὰρ ὑπηρέταις μὲν καὶ ὑπάρχοις θεοῦ καθάπερ τοῖς πολέμου στρατηγοῖς ἐπὶ λιποτάκταις οἳ λείπουσι τὴν τοῦ δικαίου τάξιν ἀμυντηρίοις χρῆσθαι, τῷ δὲ μεγάλῳ βασιλεῖ τὴν κοινὴν ἀσφάλειαν ἐπιγεγράφθαι τοῦ παντός, εἰρηνοφυλακοῦντι καὶ τὰ τῆς εἰρήνης ἀγαθὰ πάντα τοῖς πανταχοῦ πᾶσιν ἀεὶ πλουσίως καὶ ἀφθόνως χορηγοῦντι·τῷ γὰρ ὄντι ὁ μὲν θεὸς πρύτανις εἰρήνης, οἱ δ᾽ ὑποδιάκονοι πολέμων ἡγεμόνες εἰσίν. Denn den Diener und Satthaltern Gottes kommt es ähnlich wie den Befehlshabern im Kriege zu, gegen Fahnenflüchtige, die den Platz des Gerechten (Gottes) verlassen, mit Strafen vorzugehen; dem großen Herrscher selbst aber gehört die Fürsorge für die allgemeine Sicherheit des Alls, ihm, dem Wächter des Friedens, der alle Segnungen des Friedens allen und aller Orten und allezeit neidlos in reichem Maße spendet. Denn in Wahrheit ist Gott ein Herr des Friedens, seine Diener aber die Führer der Kriege.32 31 32
VitMos 1,84. Decal 178.
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Der Kontext von Decal 178 stellt das Aufgabengebiet der vorher noch als ὑπηρέτης und ὕπαρχος bezeichneten Personengruppe im Bereich der Kriegsführung dar. Die so Bezeichneten werden als Heerführer verstanden, im Kontrast zu Gott als Herr des Friedens. Jedoch sind die menschlichen Heerführer Gottes Autorität untergeordnet und führen darin seine Aufträge aus. 2.7.3 De Josepho Auch der Beleg in Jos 123 zeigt ein Abhängigkeitsverhältnis, indem er den Aufstieg Josephs vom ὑποδιάκονος εἱρκτοφύλακος zum ὕπαρχον βασιλέως beschreibt: τίς γὰρ ἂν προσεδόκησε μιᾷ ἡμέρᾳ τὸν αὐτὸν ἀντὶ μὲν δούλου δεσπότην, ἀντὶ δὲ δεσμώτου πάντων ἀξιονικότατον καὶ τὸν ὑποδιάκονον εἱρκτοφύλακος ὕπαρχον βασιλέως ἔσεσθαι καὶ ἀντὶ τῆς εἱρκτῆς τὰ βασίλεια οἰκήσειν, τὰ πρῶτα τῶν ἐπὶ τιμαῖς φερόμενον ἀντὶ τῶν εἰς ἀτιμίαν ἐσχάτων. Wer hätte erwartet, dass an einem Tage plötzlich einer vom Sklaven zum Herren, vom Gefangenen zum Allervornehmsten und vom Gehilfen eines Gefängnisaufsehers zum Stellvertreter des Königs werden und statt des Gefängnisses die Königsburg bewohnen und aus äußerster Schande heraus zu den ersten Ehren gelangen würde?33
Trotz fehlender Tätigkeitsbeschreibung wird deutlich, dass ein Dienstverhältnis beschrieben wird, das die Erledigung von Aufgaben und die Vollbringung und Erfüllung von Aufträgen und Dienstleistungen impliziert. 2.7.4 De Abrahamo Anhand von Abr 115 ergibt sich ebenfalls ein Bild der Zuordnung und der Beschreibung von Abhängigkeitsverhältnissen, insofern hier heilige und göttliche Wesen als
33
Jos 123.
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ὑποδιάκονος Gottes bezeichnet werden und damit ihre Unterordnung thematisiert wird: εἰ δ᾽ εὐδαίμονα καὶ μακάριον οἶκον ὑπέλαβον εἶναί τινες, ἐν ᾧ συνέβη καταχθῆναι καὶ ἐνδιατρῖψαι σοφούς, οὐκ ἂν ἀξιώσαντας ἀλλ᾽ οὐδ᾽ ὅσον διακῦψαι μόνον, εἴ τι πάθος ἐνεώρων ταῖς ψυχαῖς τῶν ἔνδον ὄντων ἀνίατον, ἐγὼ δὲ οὐκ οἶδα, τίνα ὑπερβολὴν εὐδαιμονίας καὶ μακαριότητος εἶναι φῶ περὶ τὴν οἰκίαν, ἐν ᾗ καταχθῆναι καὶ ξενίων λαχεῖν ὑπέμειναν ἄγγελοι πρὸς ἀνθρώπους, ἱεραὶ καὶ θεῖαι φύσεις, ὑποδιάκονοι καὶ ὕπαρχοι τοῦ πρώτου θεοῦ, δι᾽ ὧν οἷα πρεσβευτῶν ὅσα ἂν θελήσῃ τῷ γένει ἡμῶν προθεσπίσαι διαγγέλλει. Wenn aber manche glauben, dass das Haus ein glückliches und gesegnetes ist, worin Weise sich einfinden und verweilen, die es nicht für recht halten würden, auch nur einen Blick hineinzuwerfen, wenn sie irgend eine unheilbare Leidenschaft in den Seelen der Bewohner wahrnehmen, so weiß ich nicht, welches Übermaß von Glück und Segen ich dem Hause zuerkennen soll, wo einzukehren und Gastfreundschaft von Menschen zu genießen Engel nicht verschmähten, heilige und göttliche Wesen, Diener und Statthalter des höchsten Gottes, durch die als seine Boten er kündet, was er unserem Geschlecht prophezeien will.34
2.7.5 De specialibus legibus Grundsätzlich gilt die Einschätzung der Beschreibung von Abhängigkeitsverhältnissen auch für die Belegstellen in SpecLeg 1,17.31.66.116.204 und SpecLeg 3,201. Trotzdem können sie in ihrem Kontext wahrgenommen und inhaltlich entfaltet werden, weil durch sie ein weiterer Bedeutungsaspekt vertieft wird. εἰ δ᾽ ἐσπούδασαν διὰ τῆς ἀπλανοῦς βαδίζειν ὁδοῦ, κἂν εὐθὺς ἔγνωσαν ὅτι, καθάπερ αἴσθησις ὑποδιάκονος νοῦ γέγονε, τὸν αὐτὸν τρόπον καὶ οἱ αἰσθητοὶ πάντες ὑπηρέται τοῦ νοητοῦ κατέστησαν, ἀγαπήσαντες εἰ δευτερείων ἐφίξονται.
34
Abr 115.
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Hätten sie sich aber bestrebt den unfehlbaren Weg einzuschlagen, so hätten sie sofort erkannt, dass ebenso wie die sinnliche Wahrnehmung nur die Dienerin der Vernunft ist, auch alle sinnlich wahrnehmbaren Götter dem nur mit dem Verstande Fassbaren untergeordnet sind und sich bestenfalls mit der zweithöchsten Stelle begnügen müssen.35
In SpecLeg 1,17 wird die Bedeutung der Himmelskörper dargestellt, die dem einzigen Gott untergeordnet sind. Bedeutsam ist, dass sie grundsätzlich Gott gegenüber rechenschaftspflichtig, jedoch aufgrund ihrer hervorgehobenen Stellung von dieser Aufgabe dispensiert sind (vgl. SpecLeg 1,19). λέλεκται δ᾽ ὅτι "οἱ προσκείμενοι τῷ ὄντι θεῷ ζῶσι πάντες". ἆρ᾽ οὐχ οὗτός ἐστιν ὁ τρισμακάριος καὶ τρισευδαίμων βίος, ἀγαπητικῶς ἔχεσθαι τῆς θεραπείας τοῦ πρεσβυτάτου πάντων αἰτίου καὶ μὴ τοὺς ὑποδιακόνους καὶ πυλωροὺς πρὸ τοῦ βασιλέως θεραπεύειν ἀξιοῦν; ἀθάνατος ἥδε ἡ ζωὴ καὶ μακραίων ἐν ταῖς τῆς φύσεως στήλαις ἀναγέγραπται·ταυτὶ δὲ τὰ γράμματα τῷ κόσμῳ συνδιαιωνίζειν ἀναγκαῖον. Es heißt auch, dass „die, die am wahren Gotte festhalten, alle leben“. Ist es nicht ein dreifach glückliches und seliges Leben, in Liebe festzuhalten an der Verehrung des erhabenen Urhebers aller Dinge und nicht die Untergebenen und Torwächter statt des Königs der Verehrung zu würdigen? Als ewig und unsterblich wird ein solches Leben in den Gesetzestafeln der Natur bezeichnet: diese Schriftzüge aber müssen dauern, solange die Welt besteht.36
Im Rahmen von SpecLeg 1,28ff. werden die Mythendichter und ihre Fabeln thematisiert, die neben irdischem Reichtum und Ruhm dazu führen, den wirklichen Gott der Vergessenheit anheimzugeben. Demgegenüber betont SpecLeg 1,31 das dreifache glückliche und selige Leben,
35 36
SpecLeg 1,17. SpecLeg 1,31.
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das derjenige führt, der dem ewigen König, d.h Gott, anhängt, anstelle seine Diener und Untergebenen zu verehren. Der Begriff des ὑποδιάκονος steht in einem Zusammenhang mit dem des Türwächters. Insofern ist anzunehmen, dass der ὑποδιάκονος analog zum πυλωρός als eine Art Vermittler zu verstehen ist, der Zugang zu jemandem oder etwas gewährt oder verhindert. Im Kontext von SpecLeg 1,31 ist an eine Vermittlung zwischen Gott und Mensch gedacht. τὸ μὲν ἀνωτάτω καὶ πρὸς ἀλήθειαν ἱερὸν θεοῦ νομίζειν τὸν σύμπαντα χρὴ κόσμον εἶναι, νεὼ μὲν ἔχοντα τὸ ἁγιώτατον τῆς τῶν ὄντων οὐσίας μέρος, οὐρανόν, ἀναθήματα δὲ τοὺς ἀστέρας, ἱερέας δὲ τοὺς ὑποδιακόνους αὐτοῦ τῶν δυνάμεων ἀγγέλους, ἀσωμάτους ψυχάς, οὐ κράματα ἐκ λογικῆς καὶ ἀλόγου φύσεως, οἵας τὰς ἡμετέρας εἶναι συμβέβηκεν, ἀλλ᾽ ἐκτετμημένας τὸ ἄλογον, ὅλας δι᾽ ὅλων νοεράς, λογισμοὺς ἀκραιφνεῖς, μονάδι ὁμοιουμένας. Als das höchste und wahrhafte Heiligtum der Gottheit ist das ganze Weltall zu betrachten, das zum Tempelraum den heiligsten Bestandteil der Welt, den Himmel, hat, dessen Weihgeschenke die Sterne, dessen Priester die Unterdiener der göttlichen Kräfte, die Engel, sind, körperlose Seelenwesen, nicht wie unsere Seelen Mischungen aus vernünftiger und vernunftloser Natur, sondern ganz bar des vernunftlosen Teils, vollkommen von Vernunft erfüllt, reine, der höchsten Einheit gleichkommende Verstandeswesen.37
SpecLeg 1,66ff. bietet Ausführungen zum Heiligtum bzw. streng genommen zu den Heiligtümern: SpecLeg 1,66 geht auf das wahrhaftige und höchste Heiligtum Gottes ein, welches der Kosmos ist. Daneben gibt es aber auch ein menschengemachtes Heiligtum, den Tempel (SpecLeg 1,67ff.). Im erstgenannten Heiligtum agieren die Engel als Priester und werden in dieser Funktion als ὑποδιάκονοι
37
SpecLeg 1,66.
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beschrieben. Ihnen kommt somit eine kultische Vermittlerfunktion zu. βούλεται γὰρ αὐτὸν ὁ νόμος μείζονος μεμοιρᾶσθαι φύσεως ἢ κατ᾽ ἄνθρωπον, ἐγγυτέρω προσιόντα τῆς θείας, μεθόριον, εἰ δεῖ τἀληθὲς λέγειν, ἀμφοῖν, ἵνα διὰ μέσου τινὸς ἄνθρωποι μὲν ἱλάσκωνται θεόν, θεὸς δὲ τὰς χάριτας ἀνθρώποις ὑποδιακόνῳ τινὶ χρώμενος ὀρέγῃ καὶ χορηγῇ. Denn das Gesetz will, dass er über Menschennatur hinausgehoben werde, dass er der göttlichen sich nähere und recht eigentlich eine Mittelstellung zwischen beiden einnehme, damit die Menschen durch einen Mittler die Gnade Gottes erflehen, Gott aber die Gaben seiner Gunst durch einen Diener den Menschen reichen und übermitteln könne.38
SpecLeg 1,116 steht im Kontext der Ausführungen zu den Priestern. Im voranstehenden Abschnitt wird die herausragende Stellung des Priesters thematisiert, der eine Mittelstellung (wörtlich: μεθόριος) zwischen Mensch und Gott einnehmen soll, damit durch ihn die Menschen Gottes Gnade erbitten und Gott wiederum durch den Priester seine Gaben den Menschen vermittelt. Der als ὑποδιάκονος bezeichnete Priester ist somit Gott und den Menschen gegenüber verantwortlich und in seiner Stellung den Menschen über- und Gott untergeordnet. Mit dem Lexem verbinden sich dementsprechend Momente der Abhängigkeit und der Beauftragung ebenso wie Momente der Fürsprache und der Vermittlung. αἱ χεῖρες αὗται οὔτε δῶρον ἐπ᾽ ἀδίκοις ἔλαβον οὔτε τὰς ἐξ ἁρπαγῆς καὶ πλεονεξίας διανομὰς οὔτε αἵματος ἀθῴου προσήψαντο, οὐ πήρωσιν, οὐχ ὕβριν, οὐ τραῦμα, οὐ βίαν ἐξειργάσαντο, οὐκ ἄλλο τὸ παράπαν οὐδὲν τῶν κατηγορίαν καὶ ψόγον ἐχόντων ὑπηρέτησαν, ἀλλ᾽ ὑποδιάκονοι πάντων ἐγένοντο τῶν καλῶν καὶ συμφερόντων, ἃ παρὰ σοφίᾳ καὶ νόμοις καὶ σοφοῖς καὶ νομίμοις ἀνδράσι τετίμηται. 38
SpecLeg 1,116.
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Diese Hände haben weder Geschenke für unredliches Tun noch Anteil an Raub oder unrechtmäßigem Gewinn genommen noch mit unschuldigem Blute sich befleckt, sie haben keine Verstümmelung, keine Misshandlung, keine Verwundung, keine Gewalttat begangen, auch sonst keine Dienstleistung getan, die einen Vorwurf oder Tadel verdiente, sie haben vielmehr für alles Schöne und Nützliche gewirkt, das bei der Weisheit und dem Gesetz und bei weisen und gesetzestreuen Männern in Ehren steht.39
SpecLeg 1,204 steht im Zusammenhang von Ausführungen und Bestimmungen zu Opferhandlungen. Dabei behandelt der entsprechende Abschnitt die Gesinnung des Opfernden, welche tadellos sein soll. Insgesamt soll er keine Sache getan haben, die in irgendeiner Art und Weise schändlich sein könnte, sondern sich als Mensch erwiesen haben, der gute und nützliche Dinge ausgeführt hat. In diesen Handlungen ist er als ein ὑποδιάκονος zu verstehen. Im Kontext werden mit dem Lexem wiederum Handlungen und Verhaltensweisen verschiedenster Art subsumiert, die sich allesamt als gut und nützlich erweisen sollen. In diesem Sinne ist der ὑποδιάκονος ein Diener der Weisheit und des Gesetzes. ἐὰν οὖν τις εἴξας ἀλαζονείᾳ θεράποντος ὀδόντα ἐκκόψῃ τὸν ὑπηρέτην καὶ ὑποδιάκονον τῶν ἀναγκαιοτάτων τροφῆς τε καὶ ζωῆς, ἐλευθερούτω τὸν ἀδικηθέντα, στερόμενος καὶ αὐτὸς τῆς ἐκ τοῦ πεπονθότος λατρείας τε καὶ ὑπηρεσίας. Wenn also jemand, von Übermut getrieben, seinem Diener einen Zahn ausschlägt, der diesem zum Unentbehrlichsten, zur Nahrung und Lebenserhaltung, verhilft und Dienste leistet, so soll er den Geschädigten freilassen und somit gleichfalls des Dienstes und der Hülfeleistung des von ihm schlecht Behandelten verlustig gehen.40
39 40
SpecLeg 1,204. SpecLeg 3,201.
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Den Abschluss der Belege bildet SpecLeg 3,201 mit „handfesten“ Ausführungen: Sollte jemand seinem Diener einen Zahn ausschlagen, der ihm zur Nahrungsaufnahme und zum Lebenserhalt dient, so soll der Geschädigte freigelassen werden. Nun liegt die Vermutung nah, dass der Sklave als ὑποδιάκονος bezeichnet wird. Dem ist allerdings nicht so, Philon tituliert ihn als θεράπων.41 Stattdessen wird der ausgeschlagene Zahn als ὑποδιάκονος bezeichnet. Zweifellos ist ein Zahn in seiner Funktionalität vom Willen und Auftrag seines Besitzers abhängig. Jedoch ist hier auch der umgekehrte Fall möglich: nämlich, dass derjenige, dem der Zahn ausgeschlagen wurde, von der Funktionalität und dem Dienst des verlorenen Zahnes abhängig ist. Das zeigt sich in der vorliegenden Perikope anhand der Anordnung, den Geschädigten freizulassen. Insofern verkehren sich in diesem Verwendungszusammenhang die Abhängigkeits- und Unterordnungsverhältnisse, auch wenn der spezielle Anlass keinen Raum für eine generelle Annahme dieses Verständnisses lässt. 2.7.6 Summa Insgesamt zeigt sich, dass das Präfix keinen signifikanten Bedeutungsunterschied gegenüber den präfixlosen Formen besitzt. Dennoch ist zumindest vorstellbar, dass das Präfix in besonderer Weise den Aspekt der Unterordnung hervorhebt, der auch mit der Ausführung von Aufträgen verbunden sein kann.42 Allerdings ist diese Annahme nicht sicher, wie besonders anhand von SpecLeg 1,17.19 deutlich wird: Zweifellos sind die Himmelskörper Gott untergeordnet (SpecLeg 1,17); allerdings besitzen sie selbst in dieser Unterordnung eine hervorgehobene Stellung, die sie von ihrer Rechenschaftspflicht dem Schöpfer gegenüber entbindet (SpecLeg 1,19). Insofern kann nicht 41 Zur Begriffsbedeutung vgl. Art. θεραπεία, in: H. G. Liddell, R. Scott, A Greek-English Lexicon. With a revised supplement 1996, Oxford 91996, 792–793. 42 Vgl. hierzu exemplarisch Art. ὑποδιακονέω, Art. ὑποδιακονικός und Art. ὑποδιάκονος, in: Liddell, Scott, Lexicon (Anm. 42), 1879. Vgl. ferner Hentschel, Diakonia (Anm. 1), 72, Anm. 224.
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grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass das Präfix dem Lexem διακονέω und seinen Derivaten ein besonderes Moment der Unterordnung zuschreibt. Entscheidend bleibt der jeweilige Kontextbezug. 3. Zum Stellenwert des Wortfeldes im Corpus Philonicum Es zeigt sich, dass dem untersuchten Wortfeld innerhalb des umfangreichen Werks Philons nur eine geringe Bedeutung zukommt. Deutlich wird diese Wahrnehmung anhand eines exemplarischen Vergleichs mit der Häufigkeit der Nutzung des Wortfeldes um ὑπηρετέω, ὑπηρέτης und ὑπηρέτις. In seinem Bedeutungsspektrum ist es – so die Hypothese – auf den ersten Blick mit der des Wortfeldes um διακονέω und ὑποδιακονέω vergleichbar, obgleich ferner zu prüfen wäre, ob auch in seinem Bedeutungsspektrum ein Aspekt der Vermittlung mitschwingen kann.43 Ungeachtet dessen lassen sich in der Häufigkeit der Verwendung deutliche Unterschiede festhalten. Gegenüber der oben dargestellten, überschaubaren Anzahl an Belegstellen für den διακον-Stamm gibt es eine weitaus größere Anzahl an Belegen für den ὑπηρετ-Stamm. In der Summe finden sich für das erstgenannte Wortfeld insgesamt 24 Belege, inklusive der Erweiterungen mit dem Präfix ὑπο-. Für die zweite Gruppe lassen sich hingegen 89 Belege festhalten.44 In den vorgestellten Belegstellen für διακονέω und seine Derivate im Corpus Philonicum ist bei neun Belegen (VitCont 50.75; Jos 241; SpecLeg 1,17.204; SpecLeg 2,91; SpecLeg 3,201; Virt 122; Decal 178) zugleich eine Verwendung des ὑπηρετ-Stammes erkennbar. In Jos 241 ist eine wechselseitige Näherbestimmung der Lexeme wahrzunehmen, insofern der Diakoniebegriff das dienstbare Handeln des Joseph näher entfaltet und erst dadurch seine Vgl. Art. ὑπηρετεία, in: Liddell, Scott, Lexicon (Anm. 42), 1872. Vgl. Borgen, Fuglseth, Skarsten, Philo index (Anm. 10), 346, zu den Belegen für ὑπηρετέω, ὑπηρέτης und ὑπηρέτις. Vgl. weiterhin a. a. O., 87.346, zu den Belegen des διακον-Stammes ohne und mit Präfix. 43
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Mittlerposition zwischen Gott und Mensch deutlich wird. VitCont 50 bezeichnet den Tischdienst als διακονία, während mit ὑπηρεσία unspezifische Aufgaben und Dienstleistungen beschrieben werden. Auch VitCont 75 bezeichnet mit ὑπηρεσία Dienstleistungen oder Aufgaben bei Tisch, während derjenige, der diese Aufgaben ausführt, als διάκονος bezeichnet wird. SpecLeg 1,204 bietet einen interessanten Kontrast: Während mit dem Lexem ὑπηρετέω negativ konnotierte Verhaltensweisen und Handlungen wie Misshandlungen oder Körperverletzung verbunden werden, beschreibt das Lexem ὑποδιάκονος diejenigen Menschen, die sich befleißigen in τῶν καλῶν καὶ συμφερόντων. Philon nimmt hier eine deutliche Differenzierung zwischen beiden Lexemen vor, wodurch ὑποδιάκονοι diejenigen Personen sind, die weise und nach dem Gesetz handeln, wie weiter ausgeführt wird. Augenscheinlich handelt es sich bei dieser Kontrastierung um einen singulären Beleg, insofern SpecLeg 3,201 den ausgeschlagenen Zahn als τὸν ὑπηρέτην καὶ ὑποδιάκονον τῶν ἀναγκαιοτάτων τροφῆς τε καὶ ζωῆς bezeichnet, damit beide Lexeme positiv konnotiert werden und sich wechselseitig näherbestimmen. Decal 178; SpecLeg 1,17, SpecLeg 2,91 und Virt 122 bieten keine dezidierten Hinweise auf eine engere Verbindung zwischen dem Diakoniebegriff und dem ὑπηρετ-Stamm. Es zeigt sich, dass dem Lexem διακονέω und seinen Derivaten im Corpus Philonicum keine hervorgehobene Rolle bei der Bezeichnung von Diensten bzw. Dienstleistungen zukommt. Ein Grund dafür könnte einerseits in der unspezifischen Verwendung des Lexems liegen, das, wie oben ausgeführt, die Ausführung von Diensten bzw. die Erbringung von Dienstleistungen beschreibt, jedoch zu einer näheren inhaltlichen Bestimmung jeweils einer Kontextualisierung bedarf. Andererseits könnte aber der identifizierte Aspekt der Vermittlung dazu beitragen, dass das Lexem eine seltene Verwendung erfährt. Gerade Jos 241 zeigt durch die simultane Verwendung flektierter Formen von διάκονος und ὑπηρέτης, dass der erste Begriff ein Surplus besitzt, das ihn von anderen Lexemen zur Beschreibung
Diakonia bei Philon von Alexandrien
287
von Abhängigkeitsverhältnissen unterscheidet. Der Aspekt der Vermittlung erscheint als wesentliches Differenzkriterium, dass διακονέω und seine Derivate z.B. gegenüber dem ὑπηρετ-Stamm auszeichnet, wobei allerdings gerade dieser Aspekt eine häufigere Verwendung von διακονέω und seinen Derivaten nahelegt. Zu denken ist nur an Ausführungen, die kultisches Personal und damit eine Vermittlung zwischen Gott und Mensch betreffen. Ungeachtet dieser hypothetischen Überlegungen, die lediglich Denkanstöße markieren, wird deutlich, dass es sich bei dem Lexem διακονέω und seinen Derivaten um eine flexible Begrifflichkeit zur Bezeichnung von Abhängigkeitsverhältnissen bzw. Beziehungsgefügen handelt, die sich insbesondere durch eine Erfüllung von Aufgaben und Aufträgen auszeichnen denen z.T. ein Moment der Vermittlung eingeschrieben ist. Darin besteht ein Mehrwert des Diakoniebegriffes gegenüber anderen Lexemen aus dem Spektrum der Bezeichnung von Aufgaben, Diensten und Dienstleistungen. 4. Zusammenfassung In der Zusammenschau aller betrachteten Belegstellen im Corpus Philonicum wird deutlich, dass das Lexem διακονέω und seine Derivate – mit oder ohne Präfix ὑπο- – insgesamt entweder Zuordnungs- bzw. Abhängigkeitsverhältnisse beschreibt oder aber Tätigkeiten und Handlungsfelder, die sich aus diesen Verhältnissen heraus ergeben. Nicht automatisch ist damit ein bestimmter sozialer Status impliziert – das Lexem kann, wie die Belege in VitCont illustrieren, sowohl Freie als auch Sklaven in ihrem Handeln bezeichnen. Außerdem ist es auch nicht zwangsläufig immer auf Menschen bezogen. Das zeigt u.a. Gig 12, wo die menschlichen Seelen von Gott für die Erfüllung einer Aufgabe in Anspruch genommen werden, VitMos 1,84 mit der Beschreibung des Mundes durch das Lexem oder noch deutlicher SpecLeg 3,201 mit der Bezeichnung eines Zahns als ὑποδιάκονος. An diesen Stellen verfängt die
288
Jan Quenstedt
Frage nach einem sozialen Status in keinem Fall. In diesem Zusammenhang ist zugleich wahrzunehmen, dass der Begriff auch im Bereich der Kommunikation bzw. des Kontakts mit dem Göttlichen Verwendung findet und z.B. in Gig 12; Jos 241; SpecLeg 1,31 und noch deutlicher in SpecLeg 1,116 eine Art der (kultischen) Vermittlung beschreibt. In Post 165 kommt der Aspekt der Vermittlung in profanen Kontexten zum Ausdruck. Es wird damit also auch deutlich, dass kein bestimmter Bereich auszumachen ist, in dem das Wortfeld in besonderem Maße charakteristisch wäre oder besonders häufig verwendet wird – kultische Zusammenhänge stehen gleichermaßen neben profanen Kontexten. Damit ist auch gesagt, dass erst aus dem je spezifischen Verwendungskontext heraus deutlich wird, in welcher Art und Weise die so bezeichneten Personen bzw. Personengruppen oder Subjekte handeln und auf welche Bereiche ihre Tätigkeit fokussiert ist. Auch in dieser Hinsicht stellt sich das Wortfeld in seinem Gebrauch als unspezifisch und somit offen für vielfältige Verwendungszusammenhänge dar, wie Sterne, Priester und Zähne eindrücklich illustrieren. Trotz der gewissen Offenheit des Lexems verdeutlichen die Belege, dass zu einer Diakonia im Sinne des Corpus Philonicum immer mehrere Beteiligte gehören. Dabei ist es unerheblich, ob es sich bei diesen um Menschen, eine Gottheit oder andere Subjekte handelt. Διακονέω und seine Derivate bezeichnen somit immer ein Beziehungsgeschehen, dessen Herausarbeitung auch in der Betrachtung der neutestamentlichen Belegstellen für das Wortfeld und seine Kontexte Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.45
45 Vgl. dazu ausführlich J. Quenstedt, Diakonie zwischen Vereinslokal und Herrenmahl. Das Konzept diakonischen Handelns im Licht antiker Vereinigungen und früher christlicher Gemeinden, NET 31, Tübingen 2020.
Autorenverzeichnis
Matthias Konradt, Dr. theol. habil., ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Karl-Wilhelm Niebuhr, Dr. theol. habil., ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jan Quenstedt, Dr. theol., ist Vikar der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens und war bis 2020 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Klaus Scholtissek, Dr. theol. habil., ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein gGmbH und Außerplanmäßiger Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Manuel Vogel, Dr. theol. habil., ist Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Sachregister
Abendmahl 10, 179f., 196 Abhängigkeitsverhältnis 278f., 287 Alexandrien 260, 267 Amt 13 Anspruch Jesu 27 Antijudaismus 247 Apostolat 192, 213 Auferweckung 23 Auftrag 56 Aussatz 44 Aussendung 69, 130 Ägypten 267 Ährenraufen 67 Barmherzigkeit 62, 67, 71, 73, 98, 142 Beauftragung 100f., 103f., 152, 282 Bedürftigkeit 73, 79, 81 Brotbitte 89 Brüder, geringste 76–78 Christologie 67 Davidsohnschaft 67 Diakonia 21, 54f., 57, 61, 85, 87f. Diener 266, 274, 284 Dienstamt 14 Dienst 56f., 277 der Menschen 70 der Versöhnung 11
Heilsdienst 20 Hilfsdienst 20 Dienstleistung 269, 271f., 274f., 283, 286 Einsetzungsworte 36 Endgericht 53 Erbarmen 66, 70, 73f., 88, 141 Erlösung 194 Erwählung 3, 231 Ethik 127, 160 johanneische 177 matthäische 71 Sozialethik 146 Evangelium 5, 213, 215 Exorzismen 42, 131 Exklusion 234, 249 Fluch Gottes 217 Gastmahl 267 Gerechtigkeit 212 eigene 229 Gottes 230 Glauben 163 Gnade 17f. Gnadengaben 20 Gottebenbildlichkeit 83 Gottesbeziehung 91 Gottesherrschaft 4, 6, 19 Gottesliebe 140, 143 Gottesreichgleichnisse 9
292 Heidenmission 234 Heilung 40f., 43f., 49f., 65, 131 Herrenmahl 33, 37f. Immanenz 208, 211f., 216 Jesusbewegung 260 Jüngerbelehrung 112 Jüngerunverständnis 95f. Kirche 17, 90 Kollekte 15 Kommunikation 271, 273, 288 Königtum 84f. Kairos 5, 156 Kosmos 188, 208f. Kreuz 210f., 233 Kyrios 166 Lebensdienst 124, 183 Lebenshingabe 32, 35f. 39, 45, 48, 50f., 122f., 173, 175, 180, 184, 196, 219 Lehrer 135f., 168, 176 letztes Mahl 31, 47, 161 Liebe 162, 172f., 180f., 193 Christi 215f., 219 Liebesdienst 173 Liebesgebot 4, 72, 127, 134, 143, 156, 158 Makarismen 9, 42–44 Markusforschung 91 Menschensohn 83, 120 Messias 7, 120, 132 Mimesis 82
Sachregister
Nachfolge 8, 29, 108, 110, 123f., 158 Nächstenliebe 74, 83, 140 Opfer 194 Pascha 162 Passionsüberlieferung 33, 35 Parusie 79 Paulus 10 Petrus 110 Pro-Existenz 29, 45f., 122, 196, 215, 217 Rechtfertigung 210–212, 216 Reinheit 171, 173 Repression 149 Schöpfung, neue 199–201, 203, 212, 216f. Schriftautorität 69 Septuaginta 101 Sklaven 264–266 Solidarität 84 Sozialgesetzgebung 72 Stellvertretung 194f., 198, 211, 216 Sühne 27, 37, 194–196, 207, 211f., 216, 218 Sünde 69, 207, 210–212, 217 Theozentrik 202 Therapeuten 263, 265 Tischdienst 98, 264 Tischgemeinschaft 43 Tod Jesu 10, 23, 26–28, 35, 37f., 46f., 178, 215
Sachregister
Tora 9, 69, 135f., 140 Umkehr 6 Vergebung 41, 68, 90 Vermittlung 281f., 287f. Versöhnung 14, 194, 202f., 207, 212, 216f. Zwölferkreis 8, 34, 77 Zeichen 9, 95, 168f., 174, 184 Zuwendung 54, 86
293
Stellenregister
Altes Testament Exodus 8,15 20,1-17 Levitikus 19,18 19,34 25,10
42 7 136f., 143f. 137, 144 132f.
Deuteronomium 5,1-21 7 6,5 136, 143 10,19 137, 144 21,23 211, 217 1. Könige 17,1-7.8-16
133
2. Könige 5,1-27
133
Psalmen 107,30
43
Sprüche 14,31
82
Jesaja 25,5f. 26,19
132 132
29,18 40,3f. 40,3 52,7 53 53,10f. 53,11f. 53,12 58,6 61,1f. 61,1
132 121 125 125 197 212 121 33, 35 132f. 125, 132f. 132
Hosea 6,6
67, 69, 73
2. Makkabäerbuch 1,5 5,20 7,33 8,29
206 206 206 206
Neues Testament Matthäus 4,11 5,3-12 5,3-10 5,3 6,9-13 6,11 8,15 9,36
61 73 43 9 9 89 61 69
296 12,28 18,21-35 18,27 18,33 19,19 19,28 20,25-28 20,26 20,28 22,13 22,34-40 23,11 23,23 25,31-46 25,40 25,44 27,55
Stellenregister
42 141 141 141 72 32 84 61 61, 64 61f. 69, 72 61 69, 72 53, 74 53 61f. 61f.
Markus 1,1 105 1,2-3 125 1,13 110 1,14-15 5, 106 1,15 133 2,1-12 40 6,34 141 8,22-10,52 105f., 111 8,14-21 106f. 8,22-26 106 8,27-33 109 8,31-33 106 8,33 109f. 9,30-32 106 9,33-37 94f., 116 9,35 94, 116 10,13-16 117 10,31 115 10,32-34 97, 106 10,35-45 30, 94f., 111
10,41-45 30 10,43-44 94 10,43 113, 116 10,44 116 10,45 19, 27–31, 65, 91, 109, 118, 121f., 174, 196 10,46-52 106 12,23-30 42 13,34 114 14,25 32f. 14,29-31 35 14,29f. 33 14,36 50 15,34 50 Lukas 1,78 4,14-30 4,16-30 4,21 6,20f. 6,20 7,18-23 9,1-6 9,51-10,42 10,1-20 10,8 10,9 10,10 10,11 10,16 10,25-42 10,25-37 10,25-29 10,27 10,30-37 10,30-35
141 132 5 133 43 9 132 148f. 128f. 130, 149 148 131 148 131 131, 149 127 128, 135, 143 135, 137 143 137 127
297
Stellenregister
10,30 10,31 10,32 10,38-42 10,38 10,39 10,40 10,41 11,2-4 11,15-26 11,20 12,34-48 12,37 12,56 15,1-32 15,11-32 15,20 17,5-10 19,6 22,1-38 22,24-38 22,24-30 22,24-27 22,15-27 22,27 22,28-30 22,29 22,31-34 Johannes 1,1-18 1,11 1,14 1,29 1,36 2,13 2,23 3,4
138 139 139 103, 128, 146, 154 148 150 151 151 9 42 9, 42 152 174 133 45 141 141 152 148 30 32, 35 152 31, 35 175 174 33 33 34 161 183 179 162 162 162 162 167
3,16 181, 188 4,11 167 6 179 6,35 168 11,47-52 161 12,1-50 161 12,26 160, 183, 185 13,1-30 164 13,1 161, 163, 178 13,2-5 165 13,6-11 166 13,7 167 13,12-17 168 13,15 159f. 13,16 181 13,20 182 13,30 178 13,35 181 14,6 168 15,13 173 17,20-23 181, 188 19,27 183 19,30 163 Apostelgeschichte 1,15-26 104, 154 6,1-7 103f., 154 Römerbrief 1,1 3,25 5,1-11 5,8 5,12-21 6 15,25-31 15,25-27
11 195 11, 207 194 198 198 15 16
298
Stellenregister
1. Korintherbrief 1,1 11 1,17 233 1,26-29 233 3,5 220 7,10 213 11,22-25 196 11,23-26 213 11,26 33 15,3-8 198, 213 15,3 194 15,5 34 15,8 214 15,45-49 197
9,1 9,12-15 9,12 9,13 11,15 11,23
2. Korintherbrief 1,1 11, 192 1,3-7 243 2,14-7,4 11, 192f. 3,6 14, 220 3,7 204, 219 3,8 204, 219 3,9 204, 219 3,18 201 4,4 201 4,5 11, 220 5,14-21 12, 189 5,14f. 193 5,14d 197 5,16f. 199 5,18f. 202 5,18 12, 102, 204, 220 5,19 13, 196 5,20 209 5,21 14, 195, 210 8-9 15 8,1-9 17 8,4.19f. 15
Philipperbrief 1,1 11 2,6-11 14, 196, 213 2,30 239 3 214 3,1-11 225 3,9 229 3,21 238 4,14 240
Galaterbrief 1,1 2,10 3,13 3,28 4,4 5,6
15 16 15 15 220 220 11 15 211f. 201 14 15
1. Thessalonicherbrief 2,14-16 247 5,10 194 Frühjüdische Quellen Philon Abr 115 Decal 178
276, 278 276–278, 285f.
299
Stellenregister
3,201
Flacc 113 162
267 267f.
Gig 12 Jos 123 167 241
272, 287f. 276, 278 169 270, 273, 285f., 288
LegAll 3,143 Post 165
1,19 1,28ff. 1,31 1,66ff. 1,66 1,67ff. 1,116 1,204 1,206f. 2,90f. 2,90 2,91
Virt 51ff. 122 169
144 274f., 285f. 89
VitCont 10-12 163f. 50 264–266, 285f. 70 264f. 71 265f. 75 165f., 285f.
171 271–273, 288
QuaestGen 4,88 SpecLeg 1,17
276, 279, 283f., 285–287
275f.
276, 279f., 284–286 280, 284 280 276, 279–281, 288 281 276, 279, 281 281 276, 279, 282 276, 279, 283, 285f. 171 274 274f. 273, 285f.
VitMos 1,84 2,138 2,199
276f., 287 171 271–273
Josephus Antiquitates 17,257-260 18,193f.
161 60
Weitere Schriften Arist 227
144
2. Hen 44,1f.
83
JosAs 2,6 7,1 13,15 15,7 20,1-5
59 172 59 59 172
300
Stellenregister
PseudPhok 29
89
TestHiob 11,1-5 11,1-3 12,1 15,1.4.8
101 59 101 101
TestSeb 7,2 8,1-2
89 141
Epiktet Diss 2,23,1-15
58
Platon Gorgias 491e
114
Politeia 370f.
57
Plinius Naturalis historia 24.103
171
Plutarch Pompeius 73.6
170
Sueton Caligula 26.2
171
Frühchristliche Quellen Justin Dial 32,1
211
Tertullian Adv Jud X 1 211 Adv Marc III 18,1 211 Pagane Quellen Anthologia Greaca 13,68 172 Catull 64,158-163
170, 172
Dion von Prusa Or 10,10 49,7f.
58 58
Autorenregister
Abbing, P.J.R. 223 Ådna, J. 47 Aejmelaeus, L. 190 Alexander, L. 225 Algorta, P. 224 Allison, D.C. 62, 85 Amador, J.D.H. 190 Arnaldez, R. 275 Arzt-Grabner, P. 190 Backhaus, K. 23, 36–38, 121, 129, 205 Barclay, J.M.G. 253 Bauckham, R. 24 Beck, J.U. 108 Becker, E.-M. 91 Benedict, H.-J. 99 Berger, K. 15, 59, 101, 227, 235, 238, 248, 254 Beutler, J. 159, 164 Beyer, H.W. 55, 98, 259 Bieringer, R. 189–192, 195f., 201, 203, 208, 210 Billerbeck, M. 58 Blatz, H. 92 Bloomquist, L.G. 239f. Borgen, P. 263, 276, 285 Bosenius, B. 92 Bovon, F. 43, 128, 146f.
Böttrich, C. 35, 83, 127, 147, 157, 196 Brandenburger, E. 83 Breytenbach, C. 32, 206 Broer, I. 76, 248 Bull, K.-M. 108 Bultmann, R. 91, 192, 195, 208–210 Burchard, C. 82, 172 Byrnes, M. 237 Campbell, J.Y. 236 Canessa, R. 224 Carter, W. 147 Christian, P. 78, 80 Cohn, L. 264 Collange, J.-F. 234 Collins, J. N. 1, 20, 48, 54, 56–59, 64, 87f., 98f., 147, 259 Coloe, M.L. 182 Cope, L. 76, 81 Cousland, J.R.C. 66 Cranfield, C.E.B. 90 Crüsemann, F. 2, 4, 97 Dauer, A. 128 Davies, W.D. 62, 85 Degenhardt, H.-J. 127 Deines, R. 261f. Diefenbach, M. 128 Dietzel, S. 99 Doering, L. 46 Donahue, J.R. 76, 80
302 Dormeyer, D. 91 Dschullnigg, P. 91, 105, 121 Dunderberg, I. 56f., 60, 63, 99 Dunn, J.D.G. 230 du Toit, D. 38 Ebner, M. 42, 46, 75, 81 Eckey, W. 91, 105, 116, 121, 129, 135 Edwards, J.C. 36 Eurich, J. 1 Fabry, H.-J. 5f., 109 Fee, G.D. 225, 232, 235, 238 Feldmeier, R. 47 Fischer, G. 205 Frankemölle, H. 125 Frenschowsky, M. 260 Frey, J. 3, 121, 159, 162–164, 177f., 184, 188, 194–197, 205 Friedrich, J. 76f. Fuglseth, K. 263, 276, 285 Gelardini, G. 92 Georgi, D. 98 Gerber, C. 92 Gewalt, D. 76 Gilliard, F.D. 253 Gnilka, J. 15, 85, 125, 225 Grethlein, C. 223 Grindheim, S. 75, 80 Gruber, M. 161 Guttenberger, G. 31f., 91 Haase, D. 108 Hahn, F. 92
Autorenregister
Hainz, J. 239 Halama, D. 170 Haldimann, K. 159 Hammer, G.-H. 1 Hampel, V. 38 Harnisch, W. 235 Harrington, D.J. 76 Haslinger, H. 2, 8 Hauschild, E. 223 Hawthorne, G.W. 234 Heil, C. 34 Heinemann, I. 264 Hellholm, D. 37 Hengel, M. 49 Hengel, M. 34, 38f. Hentschel, A. 2, 20, 35, 48, 54–59, 63f., 93, 97f., 100–105, 113, 118, 147, 152–155, 220, 259, 270 Herrmann, K. 157 Herrmann, V. 93, 98 Herzer, J. 261 Heufert, G. 1 Hoegen-Rohls, C. 162 Holzbrecher, F. 251 Hoffmann, P. 34 Hofius, O. 36f., 205 Holtz, T. 15, 17, 19f., 123, 248, 250, 261f. Horn, F.W. 45, 113 Hotze, G. 232, 235 Huttunen, N. 92 Hübenthal, S. 92, 147 Hüneburg, M. 42 Ibita, M.S. 189 Inselmann, A. 224 Jacobi, C. 24 Janowski, B. 195–197
Autorenregister
Janßen, J. 223 Jeremias, J. 30f. Jochum-Bortfeld, C. 115 Jonas, D. 105, 127 Kaiser, O. 260 Karrer, M. 7, 241 Kertelge, K. 119, 194, 201 Klaiber, W. 31, 189 Klauck, H.-J. 33, 125, 174, 201, 219 Klein, H. 34 Klein, R. 260 Kloppenborg, J.S. 34 Klumbies, P.-G. 53, 65, 93 Knop, J. 223 Kobel, E. 214 Koerrenz, R. 1, 3 Kohler, M.E. 53 Kollmann, B. 40 Konradt, M. 67f., 72, 82f., 85, 89, 99 Koperski, V. 235, 239, 241 Koskenniemi, E. 260 Köster, H. 226 Kötting, B. 170 Kraus, W. 7, 39 Kremer, J. 128 Krüger, T. 157 Kurek-Chomycz, D.A. 189, 201 Kurz, W. 30 Kühn, 49 Kwon, J.H. 36 Labahn, M. 42, 121, 170 Lambrecht, J. 189
303 Lang, M. 121, 170 Lau, M. 92 Liddell, H.G. 284f. Lindemann, A. 15, 18, 91 Lipsius, R.A. 225 Livesey, N. 229 Löhr, H. 33, 38, 43 Luz, U. 34, 63, 76, 78, 80, 86, 90 Mach, M. 260 Mánek, J. 76, 80 Marcus, J. 31f. Marcus, R. 276 Martin, R.P. 234 Martinet, H. 171 McMahon, C. 76 Meiser, M. 91f., 117, 125 Mell, U. 201 Merklein, H. 5, 36 Meyer, A. 164 Michaels, J.R. 76f. Mittmann-Richert, U. 31, 35, 121 Mußner, F. 150, 248 Müller, U.B. 226 Müller, K. 3, 97 Nathan, E. 191 Nelson, P.K. 31 Nicklas, T. 92 Niebuhr, K.-W. 25f., 40, 42f., 45, 48f., 122, 132, 196, 261 Nielsen, H.K. 3, 63, 97 Niemand, C. 75, 78, 80, 83f. Nolland, J. 75 Obermann, A. 90 Ogereau, J.M. 236, 240
304 Oliveira, A. 192 Otto, R.E. 235 Panikulam 239 Parrado, N. 224 Pesch, R. 125 Petersen, N.R. 32 Petit, F. 275 Pohl-Patalong, U. 223 Pokorný, P. 31 Pollefeyt, D. 191 Poplutz, U. 162 Porter, S.E. 208 Quenstedt, J. 100, 288 Rabens, V. 177, 191 Read, P.P. 224 Reinbold, W. 37 Reinl, P. 231, 234 Repschinski, B. 71, 182 Robinson, J.M. 34 Rollens, S.E. 250 Roloff, J. 10, 30, 38 Rost, B. 127 Rousset, D. 224 Röhser, G. 251 Runesson, A. 76 Rüggemeier, J. 92, 135 Ryan Jackson, T. 208 Sanders, E.P. 229 Sänger, D. 37 Schäfer, G.K. 93 Schenk, W. 229, 232, 234, 242 Schmeller, T. 11, 108, 189–193, 197, 199, 201–203, 206f., 212, 215f., 231, 243f., 246f. Schmidt, D. 245f. Schmidt, H. 1, 20, 93,
Autorenregister
98 Schmidt, K.M. 91, 106, 115, 117 Schnackenburg, R. 161f., 166, 168, 174, 177, 179f., 183 Schnelle, U. 31, 91, 105, 121, 128, 170, 190f., 196, 205f., 222 Scholtissek, K. 5f., 14, 18, 24, 32, 36, 40, 91– 93, 95, 102f., 105– 107, 109, 116, 119, 123, 132, 150, 156, 160, 164, 179, 182, 197, 200f. Schramm, C. 92 Schröter, J. 24f., 36, 121, 194, 197, 205, 220 Schürmann, H. 29f., 38, 46f., 122, 129–131, 134–137, 140, 142, 146f., 151f., 158, 174, 196 Schüssler-Fiorenza, E. 154 Schwankl, O. 184 Schwemer, A.-M. 34, 38 Scott, R. 284f. Seeanner, J.A. 69 Seelig, G. 205 Seland, T. 260 Skarsten, R. 263, 276, 285 Smit, P.-B. 36, 118 Seesemann, H. 239 Snyman, A.H. 225, 232, 235
Autorenregister
Söding, T. 2, 24, 36, 47, 92, 127f., 135, 178, 181, 194f. Spieckermann, H. 47 Standhartinger, A. 238 Stanton, G.N. 76f. Starnitzke, D. 2, 55, 81 Stare, M. 2 Sterling, G.E. 260 Stimpfle, A. 164 Strecker, C. 231 Strecker, G. 205 Strohm, T. 3, 93 Stuhlmacher, P. 30, 37–39 Suh, J.S. 76 Telford, W.R. 91 Tellbe, M. 237 Theißen, G. 41, 76, 115, 127f. Theobald, M. 63f., 177 Thielman, F. 253 Thomas, J.C. 170 Thrall, M.E. 245 Thüsing, W. 26, 38, 46f., 196 Thyen, H. 135, 143, 164, 177 Tiwald, M. 34 Tomson, P.J. 191 Trautmann, M. 147 van der Watt, J.G. 177 van Oyen, G. 91f. Vegge, I. 190 Vielhauer, P. 225 Vogel, M. 172, 190f., 233 Vollenweider, S. 23 Vollmer, T.A. 189
305 Vorholt, R. 191, 206 Walter, N. 141 Watson, F. 24 Weber, B. 112 Weber, K. 79, 81 Weder, H. 159, 236 Weidemann, H.-U. 248 Weihs, A. 29, 106 Weiser, A. 10 Weissenrieder, A. 40, 44 Welborn, L.L. 191 Wendland, P. 264 Wengst, K. 170 Wenz, G. 49 Weth, R. 3 Weymann, M. 147 Wick, P. 236 Wiefel, W. 30 Wilckens, U. 75, 79 Wischmeyer, O, 113, 194, 214 Witte, M. 75 Wolff, C. 189, 196, 200, 216, 222 Wolter, M. 30–32, 42, 81, 88 Wojtkowiak, H. 232 Wortham, R.A. 255 Zempelburg, A. 205 Ziehte, C. 71 Zimmermann, M. 146 Zimmermann, R. 137f., 144, 146, 177