Diagnose: Besonderheit: Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm 9783666404658, 9783647404653, 9783525404652


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Diagnose: Besonderheit: Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm
 9783666404658, 9783647404653, 9783525404652

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Sabine Klar / Lika Trinkl (Hg.)

Diagnose: Besonderheit Systemische Psychotherapie an den Rändern der Norm

Mit einem Vorwort von Tom Levold

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40465-3 Umschlagabbildung: © Martin Zitzlaff, Hamburg, Germany; http://www.zitzlaff.com, »ZEIT_praxis_6777« © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Produced in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Gewöhnlich, ungewöhnlich, suspekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Katja Salomonovic »Mein Vater ist Auschwitzüberlebender«. Bedeutung (familien-) historischer Aspekte für die Identitätsentwicklung von Kindern der Shoa-Überlebenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Zeliha Özlü-Erkilic Ent-Fremdungen. Transkulturelle Aspekte in der psychotherapeutischen Betreuung und Begleitung von türkischsprachigen Migrant_innen in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Guido Ebi und Leo E. Walkner Regenbogenfamilien/Queere Familien. Gleich und doch anders . . . . . . . . . 41 Katerina Albrechtowitz Am Ende wird alles gut. Gerontopsychosoziale Aspekte in der systemischen psychotherapeutischen Praxis und Beratung . . . . . . . . . . . . . . 62 Lika Trinkl im Gespräch mit Ferdinand Wolf Systemische Therapie und Kleinkinder – ein Widerspruch? . . . . . . . . . . . . . 72 Regina Klambauer Ich sehe was, was du nicht siehst … Systemische Psychotherapie mit sehbeeinträchtigten und blinden Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

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Inhalt

Johannes Schneller »Bitte nicht helfen – es ist auch so schon schwer genug«. Das Auftrags­ dilemma zwischen Betreuung, Beratung und Psychotherapie . . . . . . . . . . . 90 Ulrike Wögerer Und wenn meine Fesseln mich hindern, meines Glückes Schmied zu sein? Psychotherapeutische Aspekte im Rahmen des Trainings mit arbeit­suchenden Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden . . . . . . 104 Lika Trinkl »It’s a jungle out there …«. Über die Besonderheit psychotherapeutischer Arbeit mit obdachlosen Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Emily Bono Sichergehen – wohin? Systemische Psychotherapie mit Asylsuchenden und Flüchtlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Marion Herbert und Christian Reininger »Probleme, nichts als Probleme!« Niederschwellige Psychotherapie für mehrfach belastete Menschen im Kontext der ambulanten Drogenhilfe . 161 Karoline Schober Ein Treffpunkt für Berge und Prophet_innen. Anlässe und Rahmen­ bedingungen für mobile Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Andrea Schmidbauer Mit dem Mut der Verzweiflung und der Begeisterung von Pionier_innen. Ein Erfahrungsbericht über die Arbeit im Psychotherapieprojekt TIRAM 201 Sabine Klar Zugang zu Menschen finden. Eigenarten in den Blick bekommen . . . . . . . 213 Die Autor_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

Vorwort

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts ist die Psychotherapie als »normales« Klärungsund Konsultationsformat weitgehend in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wie die Soziologin Eva Illouz in ihrem Werk »Die Errettung der modernen Seele« (2009) eindrucksvoll zeigt, ist der therapeutische Diskurs zu einem Kernbestandteil der Selbstbeschreibung unserer spätmodernen Gesellschaft geworden. Man kann diese Entwicklung wie Illouz durchaus kritisch betrachten, weil psychotherapeutische Reflexivität nicht nur zur Linderung individuellen Leids und zur Auflösung von Entwicklungsblockaden beiträgt, sondern auch unter Umständen »Endlosschleifen unbefriedigter Bedürfnisse« in Gang zu setzen und aufrechtzuerhalten vermag. Die gesellschaftliche Anerkennung und »Normalisierung« von Psychotherapie hat auf jeden Fall dazu beigetragen, dass – zumindest in den Großstädten – kaum mehr jemand ernsthaft stigmatisiert wird, der eine Therapie für sich in Anspruch nimmt (auch wenn Vorbehalte und Vorurteile in bestimmten ländlichen Regionen nach wie vor zu beobachten sind). Mit dieser Normalisierung – und der damit verbundenen Professionalisierung von Psychotherapie – gehen gleichzeitig auch eine Standardisierung der therapeutischen Vorgehensweisen, eine zunehmende berufsrechtliche Regelung sowie die ökonomische Regulierung therapeutischer Praxis einher. Mit der Etablierung von Psychotherapie als »Normalformat« psychosozialer Hilfe wird also auch festgelegt, welche Berufsgruppen sich überhaupt zu Psychotherapie ausbilden lassen und welche Methoden und Vorgehensweisen eingesetzt werden dürfen, welche Leistungen bezahlt oder erstattet werden, welche »Krankheiten« oder Störungen »mit Krankheitswert« überhaupt behandelt werden dürfen und unter welchen Bedingungen Klienten als therapiebedürftig (und -fähig) gelten können. Das Standardsetting einer psychotherapeutischen Praxis, die unter solchen Bedingungen für die Praxisinhaber ökonomisch tragfähig ist, ist daher auf die Arbeit mit einsichtsfähigen und -bereiten Einzelklienten in angenehm aus-

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Vorwort

gestatteten und temperierten Therapieräumen ausgerichtet, die abseits von den alltäglichen Kampfschauplätzen des sozialen Lebens erlauben, problematische Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster zu reflektieren und Möglichkeiten ihrer Überwindung zu finden. Von diesem Standardsetting handelt dieses Buch jedoch nicht. Die Herausgeberinnen Sabine Klar und Lika Trinkl, systemische Psychotherapeutinnen aus Wien, interessieren sich vielmehr dafür, wie man auch an den Rändern oder gar jenseits dessen, was psychotherapeutische »Norm« ist, therapeutisch wirksam sein kann. Zu diesem Zweck haben sie eine Reihe von systemisch arbeitenden Therapeutinnen und Therapeuten eingeladen, über ihre Arbeit mit Klientensystemen zu berichten, die gewissermaßen aus dem Rahmen psychotherapeutischer Standardversorgung herausfallen, die aus dieser Perspektive nicht oder nur begrenzt therapierbar erscheinen, den Rahmen einer Normalpraxis nicht aus-, ein- oder durchhalten können, deren Therapie von den Kassen als aussichtslos oder nicht angebracht abgelehnt wird, deren Ressourcenlage bescheiden ist, die als Randgruppen ohnehin wenig sozialen Status haben – der Gründe lassen sich viele finden. Auch wenn die vorgestellten Fälle in Hinblick auf die Themen und Prozesse sehr unterschiedlich sind, fällt doch bei den meisten Beiträgen sofort auf, dass wir es hier mit leiderzeugenden Problemen zu tun haben, die mit einer klassischen Individualdiagnostik gänzlich unzureichend erfasst werden. Vielmehr verweisen sie unmittelbar auf den Lebenszusammenhang, in dem sie entstehen, auf die Kontexte von politischen und sozialen Traumata, auf Migration, Diskriminierung, Exklusion, Stigmatisierung, denen diese Menschen ausgesetzt sind und die ohnehin vorhandene Probleme wie körperliche und seelische Beeinträchtigungen nur noch verstärken. Die gemeinsame Klammer aller Beiträge ist die systemische Perspektive, die es erlaubt, die sozialen und politischen Kontexte von Wahrnehmen, Fühlen und Verhalten konsequent in den Blick zu nehmen, anstatt die Schwierigkeiten der Klienten individualdiagnostisch zu entkontextualisieren. Neben der Kontextorientierung gehört auch die methodische Vielfalt und Kreativität sowie die Orientierung an den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Ressourcen der Klientensysteme zu den großen Stärken des systemischen Ansatzes, die hier auf eindrucksvolle Weise demonstriert werden. Hier geht es nicht um Therapie lege artis, weil die Regeln für das, was hilft, erst im Einzelfall und im Dialog mit den Klienten entwickelt werden müssen. Manuale helfen hier nicht! Zielbestimmung und Auftragsklärung, die im systemischen Ansatz von großer Bedeutung sind, sind hier durchaus nicht immer leicht zu erreichen, manchmal verhindern sie womöglich die Ent-

Vorwort

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wicklung einer tragfähigen Arbeitsbeziehung. Viel wichtiger, so zeigt sich hier, ist die Frage, wie man einen guten Zugang zu den Menschen bekommt, ihre Autonomie respektiert und fördert, sie dabei ermutigt und unterstützt, ihre eigenen Wege zu gehen und im Rahmen dessen, was im jeweiligen Kontext realistisch erscheint, Verbesserungen der konkreten Lebenspraxis zu explorieren. Dieses Buch soll ermutigen, die Anwendung psychotherapeutischen Handwerkzeugs nicht auf die Praxisräume von Therapeuten und die Indikationen der Diagnostiksysteme zu beschränken, sondern sich auch mit Themen und Klientensystemen zu befassen, die aus dem Rahmen des psychotherapeutischen Mainstreams herausfallen. Damit schließt es an große Traditionen einer sozialen Fundierung psychotherapeutischer Praxis an. Die einzelnen Beiträge tragen dem Rechnung, indem sie jeweils ausführliche Fallbeispiele und Informationen über die sozialen Hintergründe der jeweiligen Themen und Problembereiche auf lehrreiche Weise verbinden. Wenn dieses Buch hilft, dem Stigma »nicht therapiefähig« entgegenzuwirken, das Menschen aufgedrückt wird, die aufgrund ihrer Lebenslage und -geschichte mit einem klassischen Therapiesetting nicht erreicht werden können, ist bereits viel erreicht. Ich wünsche diesem Band, dass sich viele Leserinnen und Leser von ihm in ihrer eigenen Praxis inspirieren lassen und sie mutiger werden, die »Ränder der Norm«, die ja immer auch die eigenen sind, zu überschreiten. Tom Levold, Köln Literatur Illouz, E. (2009). Die Errettung der modernen Seele: Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Gewöhnlich, ungewöhnlich, suspekt? Vorbemerkung

Besondere Menschen verlangen besondere Behandlungen. Steht ihnen das zu? Was ist das Besondere und was die Norm? Ist das sich außerhalb oder an den Rändern der Norm Befindliche bereits abnorm? Falls ja: Helfen normierende Klassifizierungen, alles wieder in (eine) Ord­ nung zu bringen? Falls nein: Wie viel Unordnung darf sein? Diesem Buch liegt ein Prozess zugrunde, der sich in mitunter mühsamen, immer wieder rückführenden Diskussionsschleifen, aber auch in dynamischen, richtungsweisenden Gedankensprüngen entwickelt hat und weiterentwickeln wird. Unser Anliegen war, Besonderheiten systemischer psychotherapeutischer Arbeit aufzuzeigen. Besonderheiten insofern, als wir therapeutische Zugänge und Tätigkeitsbereiche darlegen wollten, die in keinen Lehrbüchern zu finden sind, weil sich Klient_innen gängigen diagnostischen Kriterien nicht fügen oder konventionelle therapeutische Vorgehensweisen unzureichend sind. Es ging also um die Passung bzw. eben nicht um Anpassung, sondern darum, offen für aus dem Rahmen Fallendes zu sein, Rahmen zu erweitern und beweglicher zu werden. Es geht um Expansion anstelle von Integration. Ideen darüber, wie Menschen sind oder wie sie sein sollen, beschäftigen Therapeut_innen, Klient_innen, Überweiser_innen, Krankenkassen, Geldgeber_innen und psychosoziale Institutionen. Es existiert eine Unzahl vorgefertigter Bilder über männliche, weibliche, kindliche, mütterliche, väterliche, kranke, gesunde, arbeitslose, fremde, erfolgreiche und beeinträchtigte Menschen, die zu unangemessenen Interpretationen und Urteilen führt und die das Erleben und Verhalten ihnen gegenüber beeinflusst. Problematische Beziehungsmuster entwickeln sich oft auf der Basis festgelegter Vorstellungen voneinander, beruhen auf der Verwendung von »Schablonen«, die einen offeneren Zugang zu sich und anderen verunmöglichen. Unsere gesellschaftliche Umgebung konstituiert sich zunehmend über die Standardisierung von

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Abläufen und Produkten und bevorzugt daher voraussagbares Verhalten sowie Menschen, die sich problemlos in bestehende Verhältnisse und Strukturen einordnen und einordnen lassen. Psychosoziale oder psychoedukative Maßnahmen tendieren dazu, sie der Ordnung zuzuführen, die der dominante Diskurs verlangt. Menschen fügen sich dieser Ordnung jedoch in erster Linie deshalb, weil sie Angst haben, sonst aus dem Netz wirtschaftlicher und sozialer Akzeptanz herauszufallen. Ihre individuellen Stärken werden dann ausschließlich über die erfolgreiche Anpassung an bestehende Strukturen sichtbar und nicht in der kreativen Abweichung. Misserfolge werden eher der Inkompetenz Rat- bzw. Hilfesuchender zugeschrieben als den Gegebenheiten und Rahmenbedingungen, mit denen sie sich konfrontiert sehen. Wir fragten uns, ob Psychotherapie den Auftrag hat, Klient_innen in ihrer Anpassungsleistung zu unterstützen oder sie in ihrem Widerstand, ihrer Eigenart zu stärken, und sprachen mit systemischen Psychotherapeut_innen, die hinsichtlich dieser »grenzgängerischen« Überlegungen nicht nur erfahren waren, sondern spezielle Zugänge oder Modelle entwickelt haben, die ihnen ermöglichen, eine förderliche Arbeits- und Beziehungsbasis für sich und ihre Klient_innen sowie die dafür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Wir fragten sie, wie das gelingen kann. Was sie veranlasst, den manchmal unbequemeren Weg einzuschlagen. Woran positive Veränderungen zu erkennen sind. Antworten auf diese Fragen und Einblicke in die Haltungen und Arbeitsweisen systemischer Therapeut_innen finden sich in den Beiträgen dieses Buchs, die erzählerisch anhand von Fallbeispielen aus der systemischen Praxis berichten. Es geht um Menschen, die in ihrer persönlichen oder ihrer Familiengeschichte Ausgrenzung und Vernichtung erfahren haben, um Arbeitslose im Gefüge unerfüllbarer Anforderungen, um einkommensschwache Personen, die von Institutionen abhängig sind, die sich an standardisierte Qualitätskriterien halten. Es geht um Kinder in nicht kindgemäßen Umgebungen, um Menschen, die keine Heimat mehr haben, und um Frauen und Männer, die sich in einer heteronormativen Gesellschaft ihre Rechte erkämpfen müssen. Es geht um verärgerte Jugendliche, die als unkooperativ gelten, und um beeinträchtigte Personen, die kaum Zugang zu Psychotherapie finden. Die Auseinandersetzung mit Themen, die etwa asylsuchende Menschen, Regenbogenfamilien oder alte Menschen in die Therapie einbringen, verlangt, dass Therapeut_innen sich mit den Lebensumständen und den Ausgrenzungserfahrungen dieser Personen befassen. Es sollte daher nicht verwundern, dass einzelne Beiträge gesellschaftskritische Aspekte aufweisen, dass sie einen

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Veränderungsbedarf aufzeigen und benennen, woran es in Gesundheits-, Versorgungs- und Betreuungssystemen krankt. Mit der Vielfalt der in diesem Sammelband aufgenommenen Berichte wollen wir Psychotherapeut_innen und andere interessierte Leser_innen dazu ermutigen, sich mit Eigenartigem und Eigensinnigem zu befassen, die komfortablen Einrichtungen des eigenen Wertekanons kurz zu verlassen und zu riskieren, inspiriert oder gar »infiziert« zu werden. Wien, im Januar 2015

Sabine Klar, Lika Trinkl

Danksagung Wir danken dem Institut für angewandte Menschenkunde (IAM), der Österreichischen Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien (ÖAS) und dem Institut für Paar- und Familientherapie (IPF) für ihre Unterstützung beim Entstehen dieses Buches.

Katja Salomonovic

»Mein Vater ist Auschwitzüberlebender« Bedeutung (familien-)historischer Aspekte für die Identitätsentwicklung von Kindern der Shoa-Überlebenden

Die Klientin, bei unserem Erstgespräch 28 Jahre alt, wirkte intelligent, gebildet und auf den ersten Eindruck sehr selbstbewusst. Sie hatte mich wegen verschiedenster psychosomatischer Beschwerden sowie Albträumen kontaktiert, doch schon im Erstgespräch bei der Genogrammerstellung ihrer Familiengeschichte fiel der Satz: »Mein Vater ist Auschwitzüberlebender.« Wie die Mehrheit der zweiten Generation hatte L. diesen Satz schon unzählige Male gelesen, gehört, gesprochen, gedacht und vor allem gefühlt. Der Satz, mehr freilich noch seine Bedeutung, hatte ihr Leben geprägt. Anhand der Geschichte dieser Klientin L. möchte ich die Bedeutung (familien-)historischer Aspekte auf die Identitätsentwicklung von Kindern der Shoa-Überlebenden beleuchten.

Botschaften an die Klientin in ihrer Kindheit und Jugend Das geheime Geschwisterchen Bereits als Kleinkind spürte sie, dass ihr Vater, der seine Verfolgungsgeschichte weitgehend verschwieg, etwas Besonderes war. Da gab es etwas von großer Wichtigkeit – für ihn, für die Familie und somit auch, oder vor allem, für sie selbst. Was das war, blieb zu jenem Zeitpunkt noch verborgen: »Die Symptome psychischen Leidens bei traumatisierten Menschen weisen auf die Existenz eines unaussprechlichen Geheimnisses hin und lenken gleichzeitig davon ab« (Herman, 2003, S. 10). Die Klientin wuchs mit diesem bedeutsamen Geheimnis auf. Sie verglich dies treffend mit einem zusätzlichen Geschwisterchen, das real  – als Person in Form von Bruder oder Schwester – nicht existierte und doch da war. Ohne Erklärung konnte L. jedoch nicht verstehen, und ohne zu verstehen, konnte sie

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ihre Erfahrungen nicht einordnen. Die Tragweite des Geheimnisses blieb und verunsicherte sie stark. Fühlte sie etwas, das nicht da war? Danach zu fragen, erschien ausgeschlossen. L. wusste von klein auf um die spezielle Empfindlichkeit ihres Vaters. Sie spürte genau, was erlaubt und verboten, erwünscht und unerwünscht war. So wagte sie keine Konfrontation mit Themen der Vergangenheit. Sich zu verschätzen konnte bedeuten, das labile Gleichgewicht des Vaters und/oder der Familie ins Wanken zu bringen. Das galt ebenso für die restlichen Familienmitglieder. Die Mutter stellte sich stets verständnisvoll, selbstlos und aufopfernd vor ihren Mann und erwartete dasselbe von ihren Kindern. Auf einen Menschen, der »so etwas« erleben musste, nimmt man Rücksicht. Was aber bedeutete diese permanente Rücksichtnahme für die Klientin? Sie übernahm schon in sehr jungen Jahren große Verantwortung. Sie beschützte ihre Familie, vor allem ihren Vater. Sie ignorierte ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse oder lernte, sie hintanzustellen. Unabhängig davon, ob oder ob nicht darüber gesprochen wurde, das Thema »Auschwitz« war präsent. Der Vater verschwieg das Meiste seiner Vergangenheit. Kam jedoch Besuch, wurde untereinander, also unter Gleichgesinnten, über »die Zeit im Lager« gesprochen, sogar gescherzt und gelacht – ein Umstand, der bei L. zusätzlich für Unsicherheit sorgte. Als L. lesen gelernt hatte, entdeckte sie die vollen Bücherregale ihrer Eltern, vorwiegend zum Thema »Nationalsozialismus«, »Drittes Reich« und »Judentum«. Sie lauschte, wenn ihre Eltern historische und politische Diskussionen führten, und wusste, dass ihr Vater stündlich Nachrichten hörte währenddessen alle Anwesenden still zu sein hatten. Lebensmittel Sowohl die Klientin als auch deren Geschwister unterlagen dem Verbot, Lebensmittel und Speisen zu kritisieren. Ein unüberlegtes, kindliches »bäh« oder »igitt« wurde keinesfalls geduldet. Der Vater betonte stets, dass er schon Schlimmeres gegessen habe und alle froh und dankbar sein sollten, dass sie sich nicht von Kartoffelschalen ernähren müssten. Essen wegzuwerfen war undenkbar. Das Mädchen versuchte sich beizubringen, dass ihr Nahrungsmittel, die sie eigentlich ablehnte, schmeckten. Als junge Erwachsene hatte sie es geschafft – sie aß so gut wie alles. Steter Begleiter war ein spezifisches schlechtes Gewissen – dabei ertappt zu werden, in einem Moment nicht an die Opfer gedacht zu haben. Die folgende Szene schildert einen solchen Moment. Die Klientin war etwa zehn Jahre alt.

»Mein Vater ist Auschwitzüberlebender«

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Sie kam eines Tages nach Hause und hatte großen Hunger. Dies tat sie lauthals und für alle hörbar kund. Ihr Vater antwortete: »Hunger?! Du weißt doch nicht, was Hunger überhaupt ist!« Noch heute schläft ihr Vater mit einem Stück Brot unter seiner Matratze – eine Überlebensstrategie gegen hungrige nächtliche Diebe aus der Lagerzeit. Nur ein einziges Mal lachte die Klientin deshalb über ihren Vater. Danach dachte sie darüber nach, was sie alles unter ihre eigene Matratze legen sollte, und bestrafte sich für ihren Spott mit tiefen Schuldgefühlen. Das Stück Brot fügt sich folgendem Muster ein: »Sehr viel häufiger wird das Schweigen aufrechterhalten, und die Geschichte des traumatischen Ereignisses taucht nicht als Erzählung auf, sondern als Symptom« (Herman, 2003, S. 9).

Ist Reden Silber und Schweigen Gold? In der Schule begriff die Klientin, dass auch sie eine Zeitzeugin ist, wenngleich eine indirekte. Ohne es selbst erlebt zu haben, vermeinte sie dennoch, die Verfolgungsgeschichte ihrer Familie am eigenen Leib zu spüren. Nun quälte sie sich mit der Frage, ob sie ihre »indirekte Zeitzeugenschaft« ablegen sollte oder nicht. Sollte sie ihrem Drang, sich zu bekennen und zu dokumentieren, folgen, »damit niemals wieder vergessen werden kann«? Sollte sie ihrem Bedürfnis nachgeben, zu erklären, wofür sie selbst jedoch keine Erklärung hatte? Konnte sie das tun oder vielmehr, durfte sie das tun? Aus historischem Verantwortungsgefühl wollte das Mädchen unbedingt verhindern, dass Schicksale wie das ihrer Familie dem Vergessen oder Verdrängen preisgegeben würden.

Wenn ich endlich verstünde, würde alles gut Warum wollen Kinder von Überlebenden so häufig mehr wissen und besser verstehen? Einerseits hegen sie die Hoffnung, dadurch Ruhe zu finden, Unerklärliches erklärbar und dadurch verständlich zu machen. Andererseits sind sie darum bemüht, die oftmals unzugängliche Geschichte ihrer Eltern und Verwandten aufzuklären. Ilany Kogan (2009) gelingt in ihrem Buch »Der stumme Schrei der Kinder. Die zweite Generation der HolocaustOpfer« eine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit diesen Aspekten. Auch

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die Klientin beschrieb, wie getrieben sie sich viele Jahre fühlte. Der Raum für individuelle Entwicklung wird zugunsten von historischem, politischem und intellektuellem, verwertbarem und anerkanntem Wissen klein gehalten. Loyalität und Rücksichtnahme sind von tragender Bedeutung. Den Ängsten davor, ein eigenes Leben gestalten und sich vor allem gestatten zu dürfen, muss in der Psychotherapie mit diesen Menschen daher viel Platz eingeräumt werden. Entscheidet sich L., über ihre Herkunft zu sprechen, heißt das im selben Atemzug, dass sie über die Vergangenheit ihrer Eltern und ihrer Familie spricht, die ihrerseits ihre Herkunft zumeist verschweigen. Wörtlich hörte L. oftmals: »Es muss nicht jeder wissen, dass wir jüdisch sind!« Demzufolge kann sie nicht über sich sprechen, ohne gleichermaßen über andere zu sprechen. Folgt sie ihrem ausgeprägten Schutzbedürfnis und schweigt zur Herkunft ihrer Eltern, muss sie zwangsläufig ihre eigene Geschichte verleugnen. Damit würde sie dem Beispiel ihrer Eltern folgen. Diese spezielle Unsicherheit bezüglich der Familie erstreckte sich auf das gesamte Erleben sozialer Kontakte durch die Klientin. Sie wusste sich gekonnt nach außen als starke Persönlichkeit darzustellen, die sie in ihrem Inneren aber nicht war. Sie fühlte sich in der Folge oftmals nicht oder falsch gesehen und empfand tiefe Einsamkeit, die sich im Jugendalter in einer ausgeprägten Depression manifestierte, welche wiederum  – aus einem Schutzgedanken heraus – verborgen werden musste. Es fiel ihr schwer, vermeintliche Schwächen zu zeigen. An sich selbst stellte sie die höchsten Ansprüche und nahm es sich übel, wenn sie diesen nicht entsprechen konnte. Gesteigertes Bemühen war stets die Strategie, mit diesem Nicht-Entsprechen umzugehen.

Judentum als Glaube, Religion und Tradition In allen Familien von Überlebenden besteht eine sehr spezielle Nähe zum Judentum – unabhängig davon, ob es sich um gläubige, traditionelle oder vollkommen areligiöse Zugänge handelt. Manchen stiftet die Religion Halt und Orientierung, andere lehnen sie bewusst ab. L.s Vater hatte im Lager aufgehört, an Gott zu glauben: »Gäbe es einen Gott, hätte er das nicht zugelassen«, hatte er gesagt. Einige Überlebende wollten keinesfalls Kinder in die Welt setzen, obwohl dies in der jüdischen Religion erwartet wird. Eine Welt, wie sie sie kennengelernt hatten, war unzumutbar. Andere hingegen hegten die Hoffnung, dass die Zeugung von Kindern das Erlittene kompensieren, vielleicht sogar heilen würde. Meist jedoch blieb das Grauen und wurde an die Folgegeneration tradiert.

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Dies beschreibt Grünberg (2007) in einem seiner Artikel über Holocaust-Überlebende und deren Kinder. Auch die israelische Psychotherapeutin Dina Wardi befasst sich seit Jahren mit seelischen Schäden der Kinder von Holocaust-Überlebenden. In ihrem Buch »Siegel der Erinnerung« (1997) prägte sie die mittlerweile allgemein gültigen Begriffe der »Gedenkkerze« und des »Rettungsankers, der in die Wiege gelegt wird«. Viele Kinder wurden gezeugt, um getötete Verwandte zu ersetzen. Diese Kinder tragen oftmals die Namen der Ermordeten und halten sie damit in Ehre und Erinnerung. L. wurde nach einer »netten SS-Frau« benannt. Sie hat den Namen einer Täterin bekommen, weil diese dem Vater gestattet hatte, seine Schuhe vom Schuhberg wieder mitzunehmen.

Das Heilige Land Bekannte der Familie leben in den verschiedensten Teilen der Welt und natürlich auch in Israel. Das Heilige Land ist in dieser und vielerlei anderer Hinsicht von tragender Bedeutung. Israel wird von Juden immer wieder mit einer Lebensversicherung verglichen. Es stellt einen Zufluchtsort dar, einen Ort der Sicherheit, einen Ort der »Unsrigen«. Es ist in diesem Kontext mehr als nur ein Land und steht für ein bestimmtes Prinzip, vor allem auch für eine Schicksalsgemeinschaft. »Wenn eine Jüdin etwas betrifft, betrifft es eben auch mich«, fasste L. dieses Gefühl dieser Schicksalsgemeinschaft einmal zusammen. Viele der zweiten Generation, so auch die Klientin, fühlen sich dem Land verbunden, noch bevor sie zum ersten Mal dort gewesen sind. Israel vermittle ihnen Vertrauen, sagen sie – sie würden sich darin zugehörig empfinden und endlich eine Idee von Sicherheit haben. Was ist das für ein Prinzip, und wie wird es verbal oder gar nonverbal an Folgegenerationen tradiert? Manchmal vollkommen still, sogar wortlos, zum Beispiel durch einen bereit gestellten, gepackten Koffer, einen stets aktualisierten Reisepass und ein Paar guter Schuhe, die unbedingt immer im Haus sein müssen. Manchmal etwas lauter und deutlicher: »Geld wird nicht ausgegeben, sondern für schlechte Zeiten angespart!« Eventuell werden Lebensmittelvorräte gehortet, und weil es »böse Menschen« gibt, hält man sich bezüglich Glaube und Herkunft bedeckt. Vorhänge bleiben am besten geschlossen, nur drinnen ist es, wenn überhaupt, sicher. Noch ein wenig lauter und konkreter finden sich Anteile des Prinzips, wenn es um die Ausbildung der zweiten Generation geht. Gute Noten und Fremdsprachenkenntnisse sind von großer Wichtigkeit. Ein erworbener

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Beruf, bevorzugt ein Studium, soll im Ausland ebenso gut ausgeübt werden können wie im Inland »[d]enn sollte es noch einmal zum Äußersten kommen, ist man dann schließlich vorbereitet« (Korittko u. Pleyer, 2010, S. 41). Das Grundgefühl der Klientin, nicht richtig zu sein, nicht zu genügen, verfestigte sich. In ihrem Selbstbild war sie für ein Universitätsstudium nicht klug genug. Dies schürte ihre Ängste und ihr Katastrophendenken. L., der im Gegensatz zu ihrem Vater alle Möglichkeiten offen standen, konnte diese ihrer Ansicht nach nicht entsprechend nützen und war deshalb sehr beschämt.

Das Trauma der Überlebenden Ich möchte im Folgenden auf einige methodische Aspekte in der psychotherapeutischen Arbeit mit Shoa-Überlebenden und deren Kindern Bezug nehmen und meine Klientin L. als Beispiel dafür heranziehen. Aus der Neurobiologie ist bekannt, dass traumatische Erlebnisse häufig nicht adäquat abgespeichert werden können und demzufolge einem bewussten Erinnern nicht zugänglich sind. In der Arbeit mit Shoa-Überlebenden zeigt sich, dass es um die Entschlüsselung verschiedener Szenen und Verhaltensweisen geht. »Es sind die Kinder der Opfer, denen die Aufgabe obliegt, die ihnen szenisch vermittelten Fragmente des extremen elterlichen Traumas zusammenzufügen. Sie müssen gewissermaßen Konzepte erstellen. mit denen die meist nonverbalen Aussagen ihrer traumatisierten Eltern, die szenisch zum Ausdruck gebrachten fragmentierten Erinnerungsspuren, zu einem sinnvollen Ganzen formiert werden« (Grünberg, 2012, S. 51). Verfolgungserlebnisse drücken sich in Mimik, Gestik und Tonfall aus. Sie finden sich in unterschiedlichen Formen von Traurigkeit, Depression oder in einem Seufzer (»Oij bitter«). Natürliche Abwehrmechanismen wie Aggression, Kampf, Flucht, Erstarrung sowie nächtliches Aufschrecken aus Albträumen und viele mehr ergänzen die lange, leidvolle Liste. In eben diesen Szenen werden jedoch auch Beziehungsmodi tradiert (vgl. Grünberg, 2012, S. 51 ff.). Das häufig anzutreffende Schweigen Überlebender über ihre Verfolgungsgeschichte soll eine Reaktivierung unerträglicher Erinnerungen verhindern und damit sowohl die Person selbst als auch ihre Nachkommen schützen. Manchmal geschieht es, dass sich tief vergrabene Erinnerungen plötzlich einen Weg empor bahnen und hervorbrechen – gleichermaßen erschreckend für die davon Betroffenen wie auch für die Personen in ihrer Umgebung. Menschen, die nach dem Krieg im Triumph des Überlebens ihr Leben gemeistert hatten, entwickelten mit dem

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Beginn des Älterwerdens zunehmend mehr Symptome: »Sie litten und leiden besonders unter Intrusionen, völlig unklaren Unruhezuständen und Schlafstörungen« (Vyssoki, Schürmann-Emanuely, Schneebauer u. Draxl, 2010, S. 6). Am Beispiel der Klientin lässt sich das gut verdeutlichen. Als Mädchen, sie war etwa acht Jahre alt, stritt sie mit ihrem Vater, weil er ihr etwas verboten hatte. Als sie zu verlieren drohte, erhob sie ihre Stimme und schrie ihn an. Er wiederholte immerzu ein- und denselben Satz: »Schrei nicht mit mir!« Zu Beginn fühlte sie sich dadurch angestachelt, ihr Verhalten fortzusetzen, sogar zu steigern, bis sie bemerkte, dass ihr Vater offenbar nicht aufhören konnte. Er schien abwesend, voller Angst, und begann, seinen Oberkörper in rhythmischen Bewegungen vor und zurück zu wiegen. Hierzu erklärt Wardi (1997): »Versteinerung und Robotisierung sind oft diagnostiziert worden als Folgen des Lebens im Lager oder im Versteck« (S. 11). Die Mutter unterbrach die Situation, schickte die Tochter auf ihr Zimmer und wandte sich dem Vater zu. Später erfuhr L., dass sich ihr Vater in die Zeit im Lager mit schreienden, kommandierenden SS-Frauen zurückversetzt gefühlt hatte. Vater und Tochter erschraken über den Moment, als das Mädchen zur Täterin gemacht wurde.

Die transgenerationale Weitergabe von Traumata Das Schweigen der Überlebenden, welches der nachfolgenden Generation Schutz bieten soll, stellt diese vor eine schwierige Aufgabe. Szenische Fragmente einzelner Erzählungen wollen zusammengesetzt werden. Die für die direkten Opfer unerträglichen Erlebnisse und Erinnerungen daran erhalten im Schweigen Platz und Raum zur Entfaltung. Ohne tatsächliches Bewusstsein darüber wissen Angehörige der zweiten Generation, dass das Schweigen ihrer Eltern über die erlebten Gräueltaten spricht. Die Kinder übernehmen Verantwortung für die nicht selbst erlebte Vergangenheit. Wegen der schrecklichen Erfahrungen ihrer Eltern wollen sie diese vor den Erinnerungen daran bewahren. Einerseits müssen die Eltern um jeden Preis geschont werden, andererseits obliegt es der zweiten Generation, das häufig labile Familiengleichgewicht laufend auszubalancieren. Eine besondere Verbundenheit entsteht, und Verletzungen sowie potenzielle Enttäuschungen werden vermieden. L. beschrieb dies treffend mit einer »Beißhemmung« vor allem ihrem Vater gegenüber. »Beißhemmung« ist ein ethologischer Begriff für die Hemmung, die sich bei manchen aggressiven Lebewesen einstellt, wenn sie mit Schwächeren konfrontiert sind, die sich unterwerfen und –

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wie bei Hunden und Wölfen – »ihre Kehle zeigen«. Eine eigene Identitätsentwicklung wird der Aufrechterhaltung dieses Beziehungskonstrukts unterworfen. Die intensiven Bemühungen der Kinder von Shoa-Überlebenden konzentrieren sich auf die enge emotionale Verbundenheit ihres Gefühlslebens mit dem der Eltern. Ablösungswünsche erzeugen Schuldgefühle und werden häufig rasch wieder verworfen zugunsten des bisher gelebten, symbiotischen Beziehungsmodells (vgl. Müller-Hohagen, 2005, S. 22). Traumatische Erfahrungen von Überlebenden setzen sich bei fehlender Bearbeitung fort. Sie enden weder mit dem Kriegsende, der Befreiung oder Rückkehr, noch mit der Auswanderung. Sie werden ins »Leben danach«, bis in den Tod und auch in die nächste Generation mitgenommen bzw. weitergegeben. Die Nachkommen sehen sich mit einer Vergangenheit konfrontiert, die nicht ihre eigne ist, eine, die sie selbst nie erlebt haben. Der israelische Psychoanalytiker Yossi Hadar beschreibt dieses Phänomen mit »in den Holocaust geboren« (Hadar, 1991, S. 163). Unausgesprochene sowie unbewusste Botschaften über das immer Präsente formen die Art der zweiten Generation, zu denken, zu fühlen und zu handeln (vgl. Korittko u. Pleyer, 2010, S. 41) Das Trauma der ersten Generation wird so zum Trauma der zweiten (vgl. Vyssoki et al., 2010, S. 11). In L.s Familiengeschichte war es nicht nur sie, die die väterlichen bzw. elterlichen Delegationen annahm. Ihre Geschwister vollzogen diese ebenso, wenn auch in sehr unterschiedlicher Form. Die Schwester entschied sich unter anderem für die aktive Teilnahme an einem groß angelegten Fachsymposium über transgenerationale Traumaweitergabe. Der Vater wusste davon, gesprochen wurde allerdings nicht darüber. Der Bruder wurde mit Leib und Seele Punk.

Distanzierung und Ablösung vom weitergegebenen Trauma Ein Entwicklungstrauma führt zu einem verqueren Weltbild. Unter solchen Umständen kann kaum mehr von einer »gut aufgestellten Person« gesprochen werden. Eine solche muss erst entwickelt werden. Dabei ist eine Distanzierung von den Vorerfahrungen unerlässliche Voraussetzung für die Entwicklung der Selbstloyalität (vgl. Müller-Hohagen, 2005). Die Empfindlichkeit gegenüber Trennungserfahrungen, Trauer- und Schuldgefühle, die belastende Tendenz der Eltern zur übertriebenen Besorgnis sowie der Wunsch, die eigenen Eltern und leidende Menschen überhaupt zu beschützen, ziehen sich wie ein roter Faden durch das Leben aller Kinder von Shoa-Überlebenden (vgl. Wardi, 1997).

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Die Klientin erkannte erst spät, wie sie ihre Eltern immer wieder entschuldigte und aus der Verantwortung nahm: »Sie haben es doch (nur) gut gemeint!«, erklärte sie. Diese Art zu denken, zu fühlen und zu handeln zeugt deutlich von L.s Selbstüberforderung, die von der Familie in Form von bestimmten Verhaltensweisen teilweise auch erwartet wurde. Schon als Mädchen hatte sie nahezu perfekt gelernt, es allen recht zu machen und sich selbst dabei zu vergessen. Sie war Meisterin darin, sich zu beherrschen, zurückzunehmen und ihre eigenen Bedürfnisse zu übergehen. Der Weg zur Einsicht »gut gemeint, aber nicht gut gemacht« war weit. Bis dato hatte die Klientin ihr Leid negiert, bagatellisiert oder unterdrückt. Zu sich selbst zu stehen, eigene Wünsche wahrzunehmen und dafür einzutreten, war neu, ungewohnt und fremd. Noch schwieriger erschien ihr, eigene, aufkeimende negative Emotionen nicht mehr automatisch einer Gegenüberstellung der Verfolgungsgeschichte ihres Vaters auszusetzen. Derartige Leidensdruck-Vergleiche konnte sie schließlich unmöglich bestehen. Nichts von dem, was sie erlebt hatte und noch erleben würde, könnte je an das erlittene Leid des Vaters heranreichen. Im jungen Erwachsenenalter war L. darum bemüht, Mut zum Widerspruch zu finden. Später, im Rahmen ihrer Psychotherapie, konnte sie eine Verbindung zu den Erfahrungen ihres Vaters erkennen. Nicht zuletzt waren es auch seine Hoffnungen gewesen, die sie als Tochter zu erfüllen versuchte. Widerspruch wagen berührt für die zweite Generation auch immer wieder die Frage nach der eigenen Identität: Wie authentisch kann ich leben?

Vom Einzeltrauma zum Familientrauma Im Unterschied zum Einzelsetting bietet die Familientherapie breitere Möglichkeiten. Vor allem geht es dabei um die »Erinnerungsarbeit«. Belastungen und Ängste werden in Trauerarbeit verwandelt. Die Fähigkeit, den Schmerz zu spüren, der sich in der Familiengeschichte verbirgt, ist gleichbedeutend mit der Fähigkeit zu einem Gefühlsleben, in dem nicht mehr ganze Bereiche ausgespart bleiben (vgl. Wardi, 1997, S. 295). Die Kinder können mit und gleichermaßen für ihre Eltern trauern und das bisher ausgebliebene Trauern nun gemeinsam als Familie nachholen. Das Trauma wird als Familientrauma bearbeitet. Oftmals sind dies erste Momente, in denen der ersten Generation das Leid der zweiten bewusst wird. Dina Wardi (1997) beschreibt, dass die Kinder nun ihre »Funktion als Gedenkkerze« (S. 295) zurücklegen können und sie von ihren Eltern entbunden werden. Diese parallele, gemeinsame Entwicklung und Reifung ist am ehesten durch ein familientherapeutisches Setting zu erreichen. Sowohl Leid als

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auch Unterstützung werden gemeinsam erfahren. Wie in jeder Psychotherapie ist es wichtig, Gefühle auszudrücken. Dabei gibt es oft Schwierigkeiten im Umgang mit diesen Emotionen, insbesondere mit aggressiven Gefühlen. »Es gibt entweder ein ›Zuviel‹ oder ein ›Zuwenig‹ an aggressiven Äußerungen innerhalb der Familie. Für die Kinder ist es oft schwierig, ihre Wut oder ihren Ärger spontan zu äußern …« (Lansen u. Rosberg, 2003, S. 253). Gelingt dies den Eltern im Beisein der Kinder, kann deren erforderliche Normalisierung beginnen. Die parallel auftauchende Angst, die Eltern dadurch zu verraten, stellt ein bedeutsames Thema für die Einzeltherapie der Kinder dar.

Neupositionierung der Vergangenheit Die Vergangenheit hat weniger Zugriff auf Gegenwart und Zukunft, wenn ihr ein Raum eröffnet wird. Die Therapeut_in spricht Einladungen aus, Familienregeln, -muster und -mythen zu veröffentlichen. Koalitionen einzelner Familienmitglieder und Vermächtnisse sowie Außenansichten auf die Familie verdeutlichen die Werte, die dort gelebt, gewünscht und abgelehnt werden. Altes, ehemals Gültiges zu verabschieden schafft Platz für Neues. Die einzelnen Familienmitglieder veröffentlichen, wovon sie sich lösen wollen und wofür diese Werte einst wichtig waren. Die daraus resultierende Würdigung vergangener Werte erleichtert das Verabschieden an sich oder ermöglicht es mitunter sogar erst. Sowohl die erste als auch die zweite Generation haben einen ausgeprägten Blick auf das Negative und konzentrieren sich tendenziell wesentlich mehr auf das Abwesende als auf das Anwesende. In der Familientherapie werden ungenutzte, brachliegende Ressourcen reaktiviert und ermöglichen oder erleichtern die Sicht auf das bereits Vorhandene. Neben all dem Leid, das in diesen Familien so allgegenwärtig und unüberwindbar scheint, ist auch der Blick auf die familiären Talente und Ressourcen für alle Beteiligten, auch für die Therapeut_in, von tragender Bedeutung. Manchmal müssen sie erst aufgebaut werden, manchmal wird die Therapie hauptsächlich für die Erarbeitung von Zugängen genutzt, und selbstverständlich ist der Kreativität aller, Neues zu erfinden und auszuprobieren, keine Grenzen gesetzt. Positives und lieb Gewonnenes, das einzelne oder mehrere Mitglieder zusammen in die Familie eingebracht haben, verdient besondere Aufmerksamkeit. Wertvolles erfährt dadurch Anerkennung und wird ins Bewusstsein gerufen und erinnert. Gelingt dies, rücken die Familienmitglieder näher zueinander, schwelgen in Erinnerungen und finden zumindest momenthaft in eine Unbeschwertheit zurück.

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All das beeinflusst auch den Selbstwert der einzelnen Familienmitglieder, vor allem jedoch den der gesamten Familie, und dieser Selbstwert will unbedingt weiter genutzt werden. Er dient als Basis für Herausforderungen, die Mut abverlangen. Als Faustregel, um sich einer Herausforderung zu stellen, empfiehlt sich folgende Mixtur: ein Drittel Altes (im Sinne von »ist mir vertraut«), ein Drittel Neues (im Sinne von »fremd«) und ein Drittel Verwirrung (»noch unklar«). Es wird festgehalten, ob die Herausforderung für einzelne Mitglieder oder für die gesamte Familie gilt bzw. gelten soll. Der Erarbeitung des zu erwartenden Gewinns wird viel Platz eingeräumt. Auch die Risiken dürfen keinesfalls zu kurz kommen, waren doch die Familienmitglieder über lange Zeiträume Hilflosigkeit, Ängsten und Ohnmacht ausgesetzt. Fragen zur Identität jedes Familienmitglieds sind fixer Bestandteil der Familientherapie mit Holocaust-Überlebenden und deren Angehörigen. Was von dem, wie sie sind und wie sich selbst wahrnehmen, können sie in der Familie leben? Was hat keinen Platz und warum? Diese Fragen eignen sich hervorragend für eine zirkuläre Anwendung. Jeder Mensch schlüpft – mal freiwillig, mal gezwungen – in verschiedene Rollen. Solche, die vor allem die Familie tangieren, sind hier von besonderem Interesse. Welche Rollen werden gern/ungern eingenommen? Welche empfindet wer als zugeschrieben und wo fühlt sich wer dazu verführt, in eine bestimmte Rolle zu schlüpfen? Gemeinsam kann danach erarbeitet werden, welche Rollen wofür förderlich/hinderlich sind und wo man selbst künftig eine Nebenrolle bevorzugen würde.

Familientherapie ohne Familie Mehrheitlich werden familientherapeutische Settings von der ersten Generation strikt abgelehnt. Somit stellt sich die Frage, ob es Familientherapie auch ohne physisch anwesende Familienmitglieder geben kann. Die Antwort lautet ja, denn der Fundus der Systemischen Therapie ermöglicht uns eine mehrgenerationale Einzeltherapie. Hypothetisieren, Visualisieren, allen voran jedoch das Probehandeln (so tun als ob) erweitern und vergrößern den Handlungsspielraum für Klient_in und Therapeut_in. Die physisch anwesende Klient_in beschreibt ihre Erfahrungen zu gewählten Themen. Es entsteht ein Hin- und Abwenden, ein Sich-Nähern und Distanzieren, ein Ausprobieren, eventuell auch ein Rollenspiel. Von der Therapeut_in wird achtsam begleitet, was da ist. Das in der Sitzung neu Entstandene fließt ins Leben der Klient_innen und in ihre realen Beziehungen ein. Dabei helfen therapeutische Fragen, die eigene Sichtweisen und die von einzelnen Familienmitgliedern ins Zentrum zu stellen, etwa:

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Wie werden Fragen von der Klient_in beantwortet, und wie, denkt sie, würden die Fragen von anderen Beteiligten beantwortet werden? Was könnte jedes Familienmitglied tun, um sich dem jeweiligen Wunschzustand anzunähern? Wären die Betreffenden dazu bereit bzw. was würden sie dazu benötigen? Wie kann eine Person eine andere darin unterstützen bzw. behindern? Außerdem wird Klarheit darüber angestrebt, was vom Status quo beibehalten und akzeptiert werden könnte, obwohl dieser nicht hundertprozentig den eigenen Vorstellungen entspricht. Wo sollen Kompromisse angestrebt werden, wie könnten diese aussehen, und was muss unbedingt verändert werden? Hierbei geht es vorrangig um konkrete Verhaltensweisen sowie in der Folge um Interventionsmöglichkeiten, die Muster unterbrechen sollen. Kann sich eine Familie oder eine Person daraus nicht zu einer Familientherapie bereit erklären, besteht für Klient_innen die Möglichkeit einer Familientherapie mit Abwesenden. Mit Hilfe der »Spinnennetzübung« gelangen rasch alle an einem Thema beteiligten Personen (im Ausland lebende, aus der Familie Verstoßene, Personen, zu denen der Kontakt abgebrochen wurde, Verstorbene, aktiv oder passiv am Problem Beteiligte etc.) in den Therapieraum. Ohne physische Anwesenheit werden die Abwesenden so Teil des therapeutischen Prozesses. Für alle Personen, die für die Problemstellung bedeutsam erscheinen, wird ein Namenskärtchen erstellt, die physisch Anwesenden erhalten je ein Wollknäuel in unterschiedlichen Farben. Mit Sesseln und den Namenskärtchen darauf werden die Abwesenden symbolisiert. Die Wollfäden dienen der Darstellung der Verbindungen und Verknüpfungen. Ist eine Verbindung besonders stark, kann die Schnur doppelt oder dreifach gelegt werden. Meist beginnt ein Angehöriger der zweiten Generation damit, die dargestellten Positionen einzunehmen (bei Bedarf können auch alle ihr Bild darstellen). Sich physisch an Ort und Stelle zu begeben und ebendort therapeutische Fragen zum Kontext zu beantworten, erleichtert ein Sich-Einfühlen in fremde Standpunkte. Ein solches »Spinnennetz« verdeutlicht, wer aus der Sicht unterschiedlicher Beteiligter zum System gehört und wer wie zu wem steht. Außerdem können mit Hilfe von kurzen, klaren, symbolisierenden Sätzen Gefühle und Gedanken zugeordnet werden. Diese Technik lässt sich mit systemischen Fragetechniken kombinieren, allen voran den zirkulären Fragen und solchen nach Möglichkeits- und Wirklichkeitskonstruktionen. Aus der Therapeut_innenrolle heraus können auch leichter Fragen zu tabuisierten Themen gestellt werden. Es wird eine Choreografie im Raum entwickelt. L.s Vater zum Beispiel verweigerte eine Familientherapie nachhaltig. Dennoch konnte er sich nach vielen Gesprächen mit seiner Tochter zu zwei für sie wichtigen Dingen durchringen, die letztendlich auch seiner eigenen

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Entwicklung gut taten. Ihrer Bitte, seine Geschichte zu erzählen, konnte er in dieser Form nicht nachkommen, aber er schrieb sie nach über sechzig Jahren erstmals auf – für seine Tochter. Etwa drei Jahre später besuchten sie gemeinsam die berühmte israelische Gedenkstätte Yad Vashem. Nach Auschwitz konnte er niemals wieder einen Fuß setzen. Die Tochter respektierte, dass ihr Vater nicht über seine Vergangenheit sprechen wollte bzw. konnte, und der Vater akzeptierte ihr Bedürfnis nach diesbezüglichem Wissen. Beide konnten sich ihrem Wunschzustand annähern und Kompromisse schließen. Die Mutter erklärte sich zu einigen Familientherapiesitzungen mit ihrer erwachsenen Tochter bereit – geheim, denn der Vater durfte davon nichts erfahren. Aktive Teilnahme an der Psychotherapie mit der Tochter bedeutete ebenso Loyalität dieser gegenüber wie auch die Geheimhaltung gegenüber dem Ehemann. Und da war es wieder, das Schweigen in sozusagen neuem Gewand. Beides hatte zur Identitätsfindung der Klientin viel beigetragen. Sie konnte in weiterer Folge auch einen neuen Zugang zu ihren Eltern finden. Ein Teil ihrer Getriebenheit machte der ersehnten Gelassenheit Platz. Kränkungen gab es weiterhin, so wie in jedem Leben – doch sie kerbten sich nicht mehr so tief ein, und es gelang L., sich endlich mehr ihrem eigenen Dasein zu widmen. Anstatt sich zu fragen, wie sie anderen besser gefallen und entsprechen könnte, legte sie den Fokus auf ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse und deren Erfüllung. Sie lernte, sich gegen die Erwartungen ihrer Eltern zu wehren, und verabschiedete sich von ihrer Rolle als Beschützerin von Vater und Mutter. Diese Entwicklungen ermöglichten L., ihre sozialen Kontakte und auch ihre Liebesbeziehungen freier, unbefangener und aktiver zu gestalten. »Trigger« im Hier und Jetzt konnten identifiziert werden. Es ermöglichte ihr beispielsweise, wieder auszudrücken, dass sie »am Verhungern« sei. Anfänglich stellte sich dabei noch schlechtes Gewissen ein, das es zu beruhigen galt. Ein erster Lernschritt bestand darin, sich dies zu gestatten, ein weiterer, den Schuldgefühlen zu sagen, dass sie nun nicht mehr gebraucht würden. Anstatt ihre Eltern zu entschuldigen, lernte L., sich ihre eigenen Gefühle zu erlauben und diese in den Vordergrund zu stellen. Sie löste sich aus ihrer Opferhaltung und wurde eine tätige, reife Frau. Das Bedürfnis nach Sicherheit und Orientierung ist geblieben, doch hat L. erkannt, dass dies ein Teil von ihr ist. »Wer näher mit mir zu tun haben will, wird es akzeptieren müssen« – so brachte sie es auf den Punkt.

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Zusammenfassende methodische Hinweise für die Arbeit mit Kindern von Shoa-Überlebenden Neben den allgemein gültigen und notwendigen psychotherapeutischen An­ forderungen geht es in der Arbeit mit der ersten und zweiten Generation nach der Shoa vor allem um Identitätsarbeit. Parallel dazu kommt der Selbstfürsorge besondere Wichtigkeit zu, um einer etwaigen sekundären Traumatisierung zu entgehen. Unerlässlich ist auch interkulturelle Kompetenz. Klient_innen befürchten, aufgrund ihrer zahlreichen und negativen Vorerfahrungen ausgegrenzt, abgelehnt und nicht verstanden zu werden. Nicht zuletzt hat die Öffentlichkeit lange, zum Teil bis heute, über psychische Folgen des Holocaust geschwiegen. Die Arbeit mit Holocaust-Opfern und deren Folgegenerationen erfordert deshalb besonderes Verständnis und hohe Sensibilität gegenüber den Gefühlen und Problematiken der Überlebenden. Es liegt in der Verantwortung der Therapeut_in, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich Überlebende und ihre Familien sicher und verstanden fühlen. Das heißt, unter anderem Geborgenheit und eine verständnisvolle Atmosphäre entstehen zu lassen, die eine grundsätzliche Voraussetzung dafür darstellt, verdrängte Erinnerungen und den immer wieder gefühlten Schmerz zum Ausdruck bringen zu können. Eine bewusste Erinnerungsarbeit kann Wege aus der Hilflosigkeit aufzeigen und Schmerzbewältigung ermöglichen. Befriedigende familiäre und soziale Kontakte sollen wieder hergestellt werden. Einzeltherapie der Kinder Auf die häufig sehr engen bis symbiotischen Beziehungsmodi der Kinder zu ihren Eltern wurde bereits eingegangen. Die Kinder kämpfen mit dem Dilemma zwischen Symbiose einerseits und Bestrebungen nach Selbständigkeit andererseits. Nicht selten spüren sie, einziger Lebensinhalt zumindest eines Elternteils zu sein. Autonomiewünsche lösen hier umgehend Schulddiskurse aus. In der Einzeltherapie findet die zweite Generation oft erstmals die Möglichkeit und den Mut, Aggressionen gegen ihre Eltern wahrzunehmen, zuzulassen und zum Ausdruck zu bringen. Seit Jahren wurden diese ignoriert oder zurückgehalten. Was könnte geschehen, wenn die ersehnten Autonomiebestrebungen realisiert werden? Was, wenn als Reaktion darauf Bindung vonseiten der Eltern wiederholt eingefordert wird? Eine detaillierte Prüfung, welche Formen von Autonomie tatsächlich gewünscht werden, wie sie erreicht und in den spezifischen Kontext integriert werden können, ist hilfreich.

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Gelingt dies, können noch nicht geführte, jedoch (im Sinne einer Legi­ ti­mation) umso nötigere Auseinandersetzungen stattfinden bzw. nachgeholt werden. Dahingehend wird die Einzeltherapie der Kinder zu einem großen Teil als zutragende Vorarbeit für die Familiensettings genützt. In welchen Situationen finden beispielsweise die Gefühle der Kinder ihren Eltern gegenüber kein Gehör bzw. keine Anerkennung? Was passiert in weiterer Folge mit eben diesen nicht gehörten/nicht anerkannten Gefühlen? Was soll damit passieren und was wird dazu benötigt? Die überwiegende Mehrheit der zweiten Generation leidet unter geringem Selbstwert. In der Einzeltherapie wird im Hinblick auf die Familiensitzungen der Selbstwert (wie er in Anwesenheit der Eltern gefühlt wird) thematisiert. Wo läuft die Klient_in Gefahr, dass ihr Selbstwert verletzt wird oder gar verlustig geht? Etliche Klient_innen erzählen an dieser Stelle vom elterlichen Blick auf sich als Sohn/Tochter und beschreiben ihn als einen ständig prüfenden und bewertenden, einen eindringlichen Blick, von Verachtung und bitterer Enttäuschung gezeichnet. Einzeltherapie der Eltern Der für eine gesunde Entwicklung notwendige Ablösungsprozess der Kinder von den Eltern wird von Elternteilen der ersten Generation keineswegs als etwas Positives bewertet. Im Gegenteil, sie erleben es als massive Kränkung, Zurückweisung und reagieren mit Ablehnung. So etwa L.s Vater, als L. als Jugendliche und junge Erwachsene begann, sich für Asien und Fernreisen dorthin zu interessieren. Sie war fasziniert von der Andersartigkeit und genoss die historische Distanz zu ihrer eigenen Geschichte. Ihr Vater reagierte irritiert und versuchte immer wieder, sie dazu zu überreden, doch besser Reisen zu näheren und ferneren Verwandten in Europa und den USA zu unternehmen. Er verstand nicht, wieso seine Tochter das Fremde den »Unsrigen«, der Familie vorzog, und reagierte mit tiefer Enttäuschung. Das Einzelsetting der Eltern ermöglicht eine Auseinandersetzung mit der Kränkung auf inhaltlicher Basis – wie kommt es innerhalb der Familie zu einer Kränkung und was genau ist das Kränkende? Und es eröffnet Raum, sich dem zu widmen, wie der Gekränkte damit umgeht. Bewusste wie unbewusste Erwartungshaltungen an die eigenen Kinder können in der Einzeltherapie identifiziert und genau beleuchtet werden – eine Auseinandersetzung, die bis zu jenem Zeitpunkt meist noch nicht stattgefunden hat. Persönliche Erfahrungen und Bewertungen zu Autonomie und Bindung werden erfragt. Wieso erfährt der eine Pol die Bevorzugung gegenüber dem anderen? Was hindert die Eltern daran, sich mit beiden Aspekten sozialen Lebens wohlzufühlen?

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Jahrelanges Schweigen über die Vergangenheit und Reden darüber in der Psychotherapie – wie passt das zusammen, oder ist beides Kommunikation? Die zweite Generation bewertet und empfindet das Schweigen oftmals als Strafe, die erste Generation hingegen als Schutz. Die Therapeut_in kann sich im Einzelsetting danach erkundigen, worüber uneingeschränkt bzw. eingeschränkt gesprochen und worüber geschwiegen wird. Deutlich kann werden, ob daraus Regeln entstehen, wie sie sich auswirken und welche Emotionen und Erwartungen damit verbunden sind. Für die Verknüpfung der Einzel- mit der Familientherapie eignen sich zir­ kuläre Fragen, die sich nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden er­ kundigen. Eine Übereinkunft zwischen Eltern und Kindern kann angedacht und in der Familiensitzung weiterentwickelt werden. Für die zweite Generation bedeutet Einzeltherapie der Eltern häufig große Entlastung, da zumindest ein Teil der Verantwortungen an die Therapeut_innen übertragen werden kann. Ist eine Familientherapie im klassischen Setting nicht möglich oder nicht ausreichend, finden sich in der Familientherapie mit Abwesenden und der mehrgenerationalen Einzeltherapie kreative und hilfreiche Möglichkeiten und/oder Ergänzungen. Literatur Grünberg, K. (2012). Szenisches Erinnern der Shoah. Über transgenerationale Tradierung extremen Traumas. Psychoanalyse, Heft 1 (Nr. 28), 47–63. Grünberg, K. (2007). Contaminated generativity: Holocaust survivors and their children in Germany. The American Journal of Psychoanalysis, 67, 82–96. Hadar, Y. (1991). Existenzielle Erfahrung oder Krankheitssyndrom? Überlegungen zum Begriff der »Zweiten Generation«. In H. Stoffels (Hrsg.), Schicksale der Verfolgten. Psychische und somatische Auswirkungen von Terrorherrschaft. Berlin u. a.: Springer. Herman, J. (2003). Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Paderborn: Junfermann. Kogan, I. (2009). Der stumme Schrei der Kinder. Die zweite Generation der Holocaust-Opfer. Gießen: Psychosozial. Korittko, A., Pleyer, K. H. (2010). Traumatischer Stress in der Familie. Systemtherapeutische Lösungswege. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Lansen, J., Rossberg, A. (2003). Das Schweigen brechen. Berliner Lektionen zu Spätfolgen der Shoa. Bern: Peter Lang. Müller-Hohagen, J. (2005). Verleugnet, Verdrängt, Verschwiegen. Seelische Nachwirkungen der NS-Zeit und Wege zu ihrer Überwindung. München: Kösel. Vyssoki, D., Schürmann-Emanuely, A., Schneebauer, W., Draxl, K.: Psychosoziales Zentrum ESRA (Wien, 1020). Leitfaden für den Umgang mit Folgen traumatischer Erlebnisse. Salutogenetische Faktoren im Leben schwer traumatisierter Menschen. Prävention bei PTSD. Wardi, D. (1997). Siegel der Erinnerung: Das Trauma des Holocaust. Psychotherapie mit Kindern der Überlebenden. Stuttgart: Klett-Cotta.

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Literaturempfehlungen Baer, U. (2000). Niemand zeugt von den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Becker, S. (2009). Traumatherapie mit Holocaustüberlebenden. Der Beitrag von Nathan Durst. Diplomarbeit, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen. Biermann, G., Endres, M. (1998). Traumatisierung in Kindheit und Jugend. München: Reinhardt. Bode, S. (2006). Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart: Klett-Cotta. Grünberg, K. (1997). Schweigen und Ver-Schweigen. NS-Vergangenheit in Familien von Opfern und Tätern oder Mitläufern. Psychosozial, 20, Heft 2 (Nr. 68), 9–22. Herzka, H. S., Schumacher, A. von, Tyrrangiel, S. (1989). Die Kinder der Verfolgten. Die Nachkommen der Naziopfer und Flüchtlingskinder heute. Göttingen: Verlag für Medizinische Psychologie im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. Rosenthal, G. (1997). Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern. Gießen: Psychosozial. Schmidbauer, W. (1998): Ich wusste nie, was mit Vater ist. Das Trauma des Krieges. Reinbek: Rowohlt. Van Kampenhout, D. (2008). Die Tränen der Ahnen. Opfer und Täter in der kollektiven Seele. Heidelberg: Carl-Auer. Yehuda, R., Schmeidler, J., Giller, E., Siever, L., Binder-Brynes, K. (1998). Relationship between PTSD characteristics of Holocaust survivors and their offspring. American Journal of Psychiatry, 155 (6), 841–3.

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Ent-Fremdungen Transkulturelle Aspekte in der psychotherapeutischen Betreuung und Begleitung von türkischsprachigen Migrant_innen in Österreich

In den frühen 1960er Jahren begann in Österreich eine Einwanderungswelle von Arbeitskräften aus der Türkei und aus dem heutigen Ex-Jugoslawien. Im Jahr 1963 wurde das Assoziationsabkommen zwischen Österreich und der Türkei abgeschlossen. Ein Jahr später wurden die ersten »Gastarbeiter_innen« aus der Türkei nach Österreich geholt. Zu Beginn migrierten ausschließlich junge, gesunde, männliche Gastarbeiter ein, die zuvor einer strengen Gesundheitsuntersuchung unterzogen wurden (Hofbauer et al., 2004). Mitte der 1970er Jahre stieg der Bedarf an weiblichen Arbeitskräften. Infolgedessen kamen durch »Familienzusammenführungen« die Frauen der bereits ansässigen Gastarbeiter nach Österreich. Mittlerweile lebt die vierte Generation türkischsprachiger Migrant_innen in Österreich (Statistik Austria, 2012). Rund 3,1 % der Weltbevölkerung sind Migrant_innen (International Organisation for Migration, 2012). In Europa stellen Menschen mit Migrationshintergrund einen bedeutenden Anteil der Gesamtpopulation dar. Im Jahr 2010 lebten insgesamt 32,5 Millionen ausländische Staatsangehörige in den 27 Mitgliedstaaten der EU und bildeten damit einen Anteil von 10,4 % der Gesamtbevölkerung. Der Großteil (6,5 %) dieser Migrant_innen waren Staatsangehörige eines Drittstaates und 3,9 % waren Staatsangehörige eines anderen EU-Mitgliedsstaates (Eurostat, 2011). Im Jahr 2012 lebten etwa 1,579 Millionen Personen mit Migrationshintergrund in Österreich, was einem Bevölkerungsanteil von 18,9 % entspricht. Davon leben 658.300 Personen in Wien, was einem Anteil von 38,4 % entspricht. 44.256 dieser Personen kommen aus der Türkei, was wiederum 6,7 % des Mig­rant_innenanteils in Wien ausmacht. Somit stellt die türkischsprachige Community nach den Migrant_innen aus Ex-Jugoslawien die zweitgrößte Gruppe unter den Drittstaatsangehörigen dar (Statistik Austria, 2011, 2012).

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Psychologische Phasen der Migration Ende der 1980er Jahre beschrieb Sluzki (2001) die psychologischen Phasen der Migration. Sie sind kulturübergreifend und werden in fünf Abschnitte untergeteilt. In der Vorbereitungsphase findet die mentale Auseinandersetzung mit der geplanten Migration statt. Hierbei werden kognitive Schemata gebildet, die meist aus positiven Erwartungen bestehen. Nach dem darauffolgenden, eigentlichen Migrationsakt ist zumeist eine Phase der Überkompensierung zu bemerken, in der das Verlassene (das Heimatland) häufig übertrieben negativ und das Neue (das Aufnahmeland) sehr positiv bewertet wird. Die ersten drei Phasen werden auch als »Honeymoon-Phase« bezeichnet, was darauf hindeutet, dass während dieser Zeit selten psychosoziale Betreuung oder Behandlung benötigt wird. Die Dekompensationsphase ist zeitlich die längste und qualitativ die tiefgreifendste Phase. Sie ist für die Erlangung der inneren Balance notwendig, da die ausschließlich positive Sichtweise nicht dauerhaft aufrechterhalten werden kann. In diesem Stadium machen sich die zuvor verdrängten, negativen Aspekte der Migration wie Risiken, Belastungen und Trennungserfahrungen bemerkbar. Als Reaktion können in der Folge psychiatrische sowie psychosomatische Erkrankungen, Suchtproblematiken sowie Herz-/Kreislauferkrankungen auftreten. In der Dekompensationsphase werden die Probleme der Migration, wie Entwurzelung und Akkulturation, Rollendiffusion und Rollenverlust verarbeitet, was zu Depressionen führen kann. Es dauert im Schnitt etwa sieben Jahre, bis Migrant_innen in die Phase der Dekompensation treten und sich an das Gesundheitssystem des Aufnahmelandes wenden. Meist werden hierbei Hausärzt_innen als erste Instanz konsultiert. Wesentlich seltener wenden sich betroffene Personen an Psychiater_innen, Psycholog_innen und Psychotherapeut_innen (Haasen, Toprak, Yagdiran u. Kleinemeier, 2001). Die Phase der generationsübergreifenden Anpassung schließt in Sluzkis Darstellung den Migrationsprozess ab (2001). In dieser Zeit können Migrant_innen besser mit den Folgen der Migration umgehen und entwickeln individuelle Anpassungsstrategien hinsichtlich der migrationsbedingten Gegebenheiten.

Psychische Gesundheit und Migration Die soziokulturelle Diversität im europäischen Gesundheitssystem ist aufgrund der internationalen Migration in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Migrationsbedingte Veränderungen können wiederum zu einer verstärkten

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Vulnerabilität für psychische Erkrankungen führen (Lindert, Schouler-Ocak, Heinz u. Priebe, 2008; Rezapour u. Zapp, 2011). Die Daten der Statistik Austria aus dem Jahr 2011 zeigen auf, dass Mig­rant_innen aus der Türkei häufiger an physischen und psychischen Krankheiten leiden als Personen ohne Migrationshintergrund. Gewisse physische Erkrankungen wie Bluthochdruck, Magen-Darm-Beschwerden, Diabetes, Adipositas etc. sowie bestimmte psychiatrische Erkrankungen wie Angstzustände und Depressionen treten bei Personen mit Migrationshintergrund vergleichsweise häufiger auf als bei Österreicher_innen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Migrant_innen an Angstzuständen oder Depressionen leiden, ist 2,6 Mal höher als bei Vergleichspersonen ohne Migrationshintergrund. Außerdem sind Migrant_innen zusätzlichen psychosozialen Stressfaktoren ausgesetzt, die das Risiko für psychische Störungen erhöhen (Lindert et al., 2008). Zu den migrationsbedingten Stressfaktoren zählen unter anderen aufenthalts- und arbeitsrechtliche Erschwernisse, das Erleben von Ausgrenzung, wenig planbare Zukunftsperspektiven, Verlusterfahrungen, ungünstige Wohnund Arbeitsbedingungen sowie eine drohende Isolation durch die Auflösung von Familienverbänden. Kommunikationsschwierigkeiten können zu Insuffizienzgefühlen, einer geringeren Anteilnahme an gesellschaftlichen Ereignissen der Mehrheitsbevölkerung und im Weiteren zu Rollenverlusten bzw. -diffusionen führen (Schouler-Ocak, 2003).

Kulturdimension Kollektivismus »Kultur bezeichnet ein System von Werten, Symbolen, Ritualen, Bräuchen, Verfahrens- und Verhaltensweisen, das eine Gruppe von Menschen durch Lernprozesse verinnerlicht hat, und das diese Gruppe von anderen Gemeinschaften unterscheidet« (Hofstede, 1993, S. 23). Mit dieser Definition weist Hofstede (1993) auf kulturelle Dimensionen hin, die wesentlich für das Verständnis von Diversitäten sind. Es geht hierbei um Kategorien wie etwa Machtdistanz, Maskulinität versus Femininität oder Kollektivismus versus Individualismus. Hofstede untersuchte in den Jahren 1968 bis 1972 über 116.000 IBM-Mitarbeiter_innen aus insgesamt 64 Ländern zu kulturellen Aspekten. Aus dieser Untersuchung wurden die Dimensionen für Kulturen definiert. Für die Nachvollziehbarkeit der in der türkischen Community gebräuchlichen Denk- und Verhaltensweisen scheint mir vor allem die Tatsache wichtig

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zu sein, dass im Ländervergleich die Gesellschaft in der Türkei mehrheitlich kollektivistisch, in Österreich hingegen individualistisch geprägt ist. Kollektivismus als hier unterscheidende, gesellschaftliche und kulturelle Dimension bedeutet zum Beispiel, dass Harmonie und Sicherheit in der Familie wichtiger sind als Individualität und Autonomie. Jedes Mitglied der Gemeinschaft ist von Geburt an in geschlossene »Wir-Gruppen« integriert, die die Einzelnen ein Leben lang schützen, dafür jedoch Loyalität einfordern können. Kinder lernen von Anfang an, in dieser »Wir-Form« zu denken und zu handeln. Das individuelle Mitglied ist Teil einer Gemeinschaft mit entsprechenden Aufgaben und Pflichten. Die Hauptaufgabe der einzelnen Personen ist die Bewahrung der Ehre und der Schutz der Familie. Die Familie sollte nicht belastet werden, daher werden persönliche Gefühle und Beschwerden meist nicht erwähnt oder bagatellisiert. Die Anpassung an das soziale Umfeld gilt als persönliche Reife. Für die psychotherapeutische Arbeit mit türkischen Migrant_innen ist es wichtig einzubeziehen, dass aus Angst vor dem Verlust der Ehre Klient_innen mitunter dazu neigen, bestimmte Erlebnisse wie sexuellen Missbrauch, Vergewaltigung oder Folter zu verheimlichen. Werden kulturelle oder religiöse Regeln überschritten, führt dies meist zu einem Gesichtsverlust – und zwar nicht nur der Person selbst, sondern der gesamten Familie/Verwandtschaft. Oft besteht auch die Angst, von der eigenen Community abgelehnt zu werden. Dem Körper ist gestattet, eine Krankheit vorzuweisen, daher werden primär die körperlichen Symptome betont und Konflikte oder Traumata als physisches Symptom zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel Kopfschmerzen, Magenschmerzen etc. In individualistischen Kulturkreisen hingegen stehen individuelle Bedürfnisse und Wünsche im Vordergrund. Die Autonomie von Kindern wird gefördert, sie lernen schnell, auf eigenen Beinen zu stehen und in der »IchForm« zu denken. Eine eigene Meinung zu entwickeln und sie auch kritisch zu äußern, gilt als Zeichen einer gefestigten Persönlichkeit. In individualistischen Systemen wird von Einzelnen erwartet, dass sie für sich selbst verantwortlich sind und für sich sorgen (Hofstede, 1997).

Glaube und Gesundheit Die Mehrheit der Migrant_innen aus der Türkei sind Muslime. Der Islam bestimmt kulturelle Normen, Sitten und Gebräuche und bildet die Basis für Familien-, Erb- und Strafrecht. Er regelt unterschiedliche Aspekte des Lebens, wie Familienleben, Sozialverhalten, Kleidung, Ernährung etc.

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Es existieren erhebliche Unterschiede im Verständnis von Gesundheit und Krankheit zwischen der einheimischen Population und den türkischsprachigen Migrant_innen. Das muslimische Gesundheits- und Krankheitsverständnis geht davon aus, dass Körper und Gesundheit Geschenke Gottes und von den Menschen daher zu erhalten sind. Nur gesunde Menschen können ihren sozialen und religiösen Pflichten nachgehen, etwa dem Beten und Fasten. »Kadar« bedeutet Vorherbestimmung. Da Krankheiten als extern verursacht und von Gott gegeben betrachtet werden, erleben Klient_innen zumeist wenig persönliche Kontrolle über Symptome und Behandlung. Der Begriff »Sabır« ist mit dem deutschen Wort »Geduld« zu übersetzen und in diesem Kontext dahingehend zu verstehen, dass eine Person die Krankheit zu akzeptieren und zu tragen hat. Unter Umständen werden Erkrankungen daher auch als »Sınav«, also als Prüfung erachtet, die Gott auferlegt, um die Treue der Muslime zu testen. Besonders was den Bereich Körper und Gesundheit betrifft, sind magische Vorstellungen noch weit verbreitet. Traditionell-religiöse Personen glauben zumeist, Schaden durch den »bösen Blick«, den »Nazar« zu erleiden. Schwarze und weiße Magie (»Büyü« und »Nuska«) fließen ebenso in manche Vorstellungswelten ein. »Cin« oder »Dschinnen« sind Dämonen, die vor allem zur Erklärung vieler psychiatrischer Symptomatiken herangezogen werden. Speziell beim Auftreten von Epilepsie oder dissoziativen Symptomen existiert die Angst, von »Dschinnen« besessen zu sein. In diesen Fällen werden oft muslimische Geistliche (»Hoca«) konsultiert (Machleidt, 2005). Hinsichtlich des Umgangs mit Fachpersonen im Gesundheitsbereich ist festzustellen, dass Migrant_innen türkischer Herkunft traditionellerweise Exper­t_innen als Autoritätspersonen betrachten, selbst eine passive, akzeptierende Haltung einnehmen und aktive Hilfe erwarten. Gelegentlich werden sie als Wissende und Lehrende betrachtet. Daher ist das Konzept »Hilfe zur Selbsthilfe« meist schwer umzusetzen. Die Sprache ist zumeist sehr persönlich, und Erlebnisse werden gewöhnlich bildhaft beschrieben. Sensible Themen, wie zum Beispiel sexuelle Probleme, werden indirekt übermittelt. Mimik, Gestik, Körperhaltung und Intonation der Klient_innen sind daher als wichtige In­for­mationen zu erachten (Machleidt, 2005).

Migrationsbedingte Phänomene Soziale sowie religiöse Normen werden in der Migration wesentlich intensiver ausgelebt als in der Heimat. Im Aufnahmeland entwickeln viele Migrant_innen eine ausgeprägte Kulturbetonung (Religion, Aufrechterhaltung von Traditionen

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etc.). Insbesondere in Krisensituationen vermitteln Traditionen ein Gefühl von Sicherheit. So gesehen kann die Kulturbetonung als Strategie verstanden werden, mit überfordernden neuen Einflüssen und mitunter diskriminierenden Bedingungen umzugehen (Rückbesinnung und Rückzug auf traditionelle Bezugsmuster). Dies schützt Migrant_innen auch vor dem Verlust kultureller Identität und Assimilation (Machleidt, 2005). Nach Gaitanides (2001) sind Migrant_innen durch die Gegebenheiten des Aufnahmelandes viel häufiger mit innerfamiliären Konflikten (zum Beispiel widersprüchlichen Geschlechts- und Generationsrollen) konfrontiert. Vor allem Frauen sind oftmals gezwungen, die durch eine neue Rollenverteilung entstandene autoritäre Entmachtung der Eltern gegenüber ihren Kindern zu kompensieren. Beim Auftreten innerfamiliärer Probleme müssen sie oftmals die Rolle der »Familientherapeutin« übernehmen. Diese zusätzlichen Beanspruchungen und Belastungen können eine Ursache für die erhöhte Prävalenz bei psychosomatischen und Schmerzsymptomen sein (Aranda u. Knight, 1997). Studien zufolge tritt ein Schmerzmittelabusus bei türkischsprachigen Patient_innen besonders häufig auf (Brucks, Salisch u. Wahl, 1987; Lindert et al., 2008). Bei jugendlichen Migrant_innen sind häufig sprachliche Defizite festzustellen. In Österreich lebende Jugendliche lernen in ihren Familien Türkisch, in der Schule hingegen Deutsch, was zur »Semilingualiät« (doppelseitige Halbsprachigkeit mit signifikanten Mängeln in beiden Sprachen, vgl. De Cillia, 2005) oder zum »Code-switching« (dem Phänomen der Mischsprache, vgl. Czycholl, 2002) führen kann. Wenn Kinder in beiden Sprachen gefördert werden, kann eine optimale Sprachentwicklung stattfinden (Kienbaum u. Schuhrke, 2010). In Migrantenfamilien kommt es aufgrund örtlicher Distanz oft zur »EntFremdung« und folglich zu Konflikten zwischen migrierten Eltern(-teilen) und Kindern. Die unterschiedlichen Einstellungen zu Geschlechterrollen in der Herkunfts- und Aufnahmekultur kann zu intrafamiliären Spannungen sowie zu Problemen in der Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen führen (Michel u. Sattler, 2007). Bei ungenügenden Sprachkenntnissen der Eltern fungieren Kinder häufig als Dolmetscher_innen in der Öffentlichkeit und werden dadurch in der Familienhierarchie aufgewertet. Dieser Autoritätswechsel innerhalb der Familie kann jedoch zu einem belastenden Verantwortungsdruck für Kinder mit Migrationshintergrund führen (Michel u. Sattler, 2007). Vor allem in der Pubertät treten häufig Generationenkonflikte auf, da die Kinder sowohl von der Herkunftsfamilie (kollektivistisch) als auch von der Auf-

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nahmekultur (individualistisch) beeinflusst werden. Diese unterschiedlichen kulturellen Prägungen können innere Ambivalenzen auslösen (Gapp, 2007). Hingegen kann in der Migration der familiäre Zusammenhalt auch stärkend wirken und Unterstützung und Geborgenheit vermitteln. Dies kann in der psychotherapeutischen Behandlung und Betreuung als Ressource genutzt werden.

Migrant_innen und das System Das österreichische Gesundheitssystem ist noch nicht ausreichend auf Klient_innen und Patient_innen mit Migrationshintergrund eingestellt. Viele Einrichtungen im Gesundheitssystem verfügen nach wie vor über keine sprachund kultursensiblen Angebote für Migrant_innen, was zu einer Ungleichheit bei der Inanspruchnahme führt. Da Migrant_innen die notwendige medizinische sowie psychosoziale Be­ handlung aufgrund der fehlenden Diversity-Care-Angebote zumeist nicht zeitgerecht in Anspruch nehmen können, sind sie insbesondere in der Akutpsychiatrie überrepräsentiert (Lindert et al., 2008; Schouler-Ocak, 2003). Vor allem in der psychotherapeutischen Betreuung und Behandlung ist es wichtig, die kulturellen und religiösen Normen der Klient_innen zu kennen, sie wertzuschätzen und als Ressource zu erkennen. Nicht selten werden psychiatrische und psychotherapeutische Angebote im Heimatort in der Türkei in Anspruch genommen. Als Gründe dafür sind sowohl kulturelle und sprachliche Barrieren seitens der Klient_innen als auch der Mangel an Diversity-Care-Angeboten im österreichischen Gesundheitssystem festzustellen. Da die Urlaubsaufenthalte in der Türkei zeitlich befristet sind, ist eine notwendige kontinuierliche und daher zielführende Behandlung nicht gewährleistet. Durch sprach- und kultursensible Maßnahmen könnten medizinische und psychosoziale Behandlungen optimiert, Fehldiagnosen reduziert und inadäquate Behandlungen vermieden werden – was letztlich die finanzielle Belastung des Gesundheitssystems senken würde. Aber nicht nur im Gesundheitssystem, auch in anderen Lebensbereichen wie Bildung, Arbeit, Wohnen etc. ist es erforderlich, eine soziale Gleichstellung für alle in Österreich lebenden Personen sicherzustellen. Was in der Psychotherapie hinsichtlich migrationsbedingter Konflikte zu tun ist bzw. welche Aspekte berücksichtigt werden müssen, damit Psychotherapie als hilfreiches Angebot genutzt werden kann, möchte ich anhand einer Fallgeschichte darstellen.

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Respektieren von Werten Familie Ö. kam zu mir in die psychotherapeutische Praxis. Beim Erstgespräch machte ich eine ausführliche Anamnese, wobei sich bereits herauskristallisierte, dass die Familie eine äußerst schwierige Migrationsgeschichte hatte. Der Vater lebte seit 25 Jahren in Wien, die drei jüngsten Kinder und deren Mutter erst rund fünf Jahre. Insgesamt hatte das Paar sieben Kinder, wobei zwei Kinder in der Türkei lebten und ein Sohn in einem anderen österreichischen Bundesland studierte. Eine Tochter war verheiratet und lebte in Deutschland. Aufgrund des Lebensstils der mit den Eltern lebenden Tochter (Kleidung, Freund_innen, Ausgehen usw.) kam es immer wieder zu intrafamiliären Konflikten, insbesondere traten Divergenzen zwischen dem Vater und der Tochter auf. Der Vater fand, dass sie sich zu freizügig kleidet, sich zu auffällig schminkt und vor allem von Freund_innen, die nicht muslimisch sind, beeinflusst wird. Die Familie war in der Nachbarschaft auffällig geworden. Während eines Streits hatten Nachbarn die Polizei alarmiert. Die Familie war mit dieser Situation völlig überfordert, da keines der Familienmitglieder über perfekte Deutschkenntnisse verfügte. Der Vater war traditionell islamisch geprägt und verlangte deshalb von der Tochter Anpassung an die sozialen und religiösen Normen. Er erwartete als Autoritätsfigur in der Familie Gehorsamkeit und Respekt von der Tochter. Gerontokratie ist ein wichtiges Merkmal der kollektivistischen türkischen Kultur und wurde vom Vater mehrmals angesprochen. Die Tochter ist aufgrund der Gegebenheiten des Aufnahmelandes zum Teil individualistisch geprägt, kann die sozialen Normen ihrer Herkunftskultur nicht gänzlich nachvollziehen und empfindet sie als unzeitgemäß. Würde die Familie in der Heimatprovinz leben, gäbe es die Konfliktsituation höchstwahrscheinlich nicht, da dort keine Ausgehmöglichkeiten wie Lokale, Bars, Diskotheken usw. existieren. In der Psychotherapie wurde besprochen, was die einzelnen Familienmitglieder bedrückt und was sie voneinander erwarten, damit das Familienleben besser gestaltet werden kann. Durch die Darstellungen der Einzelpersonen wurde die Unvereinbarkeit kultureller Vorstellungen schon im Erstgespräch deutlich sichtbar. Diese Schilderungen ermöglichten mir als Psychotherapeutin, darüber zu sprechen, was Generationenkonflikte in der Migration bedeuten. Durch Migration können Veränderungen in der Familienstruktur entstehen. Vor allem bewirkt sie Veränderungen der familiären Verpflichtungen, der Geschlechterrollen, des Generationenvertrages und der Einstellungen, Traditionen und Werte – sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmeland. In der ersten Sitzung wurde daher besprochen, welche Veränderungen in der Familie Ö. aufgrund der Migration stattgefunden haben, und anhand konkreter Beispiele diskutiert.

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Außerdem konfrontierte ich den Vater mit dem Zeitenwandel in der Türkei, wies darauf hin, dass sich auch in seiner ursprünglichen Heimat gesellschaftliche Normen teilweise verändert haben, liberaler geworden sind. Viele Personen der ersten Generation, die im Erwachsenenalter nach Österreich migriert sind, behalten jene Lebensweise in Erinnerung, die sie damals zurückgelassen haben, und halten weiterhin daran fest. Ich sprach auch die Angst vor der Assimilation der Kinder an. Nicht selten kommt es vor, dass Eltern aus dieser Angst heraus strenger und traditionsverbundener agieren, als es ihnen eigentlich entspricht. In der Psychotherapie wurden gemeinsam Lösungsstrategien besprochen, die für alle Beteiligten annehmbar sein könnten. In einer derartigen Situation wäre die Überlegung, dass die Tochter ausziehen könnte, eine völlig unangemessene, den kulturellen Normen nicht entsprechende Idee, da es in der kollektivistisch geprägten türkischen Kultur nicht üblich ist, dass Kinder vor einer Eheschließung aus dem Elternhaus ausziehen. Hierbei spielt das Geschlecht keine Rolle. In der Therapie wurde daher gemeinsam nachgeforscht, in welchen Bereichen des Lebens Übereinstimmungen in der Denk- und Handlungsweise zu finden sind. Erst danach sammelten wir Ideen, wie das Zusammenleben in der Zukunft harmonischer gestaltet werden könnte. Die 18-jährige Tochter hatte bis vor fünf Jahren ihren Vater nur während der kurzen Urlaubsaufenthalte in der Heimatprovinz gesehen. Die Mutter hatte mit den Kindern und Verwandten im Heimatort gelebt, wo eine sehr konservative und traditionelle Lebensweise vorherrschte. Meinem Eindruck nach führte die Migration des Vaters zu einer »Entfremdung« zwischen ihm und der Tochter, weshalb es für beide besonders schwierig ist, Kompromisse einzugehen. Meines Erachtens war der Vater gekränkt darüber, dass die Tochter seine Werte und seinen Lebensstil infrage stellte. Er betonte mehrmals, dass er seinem Vater gegenüber immer gehorsam und respektvoll war. Dieses Verhalten erwartete er nun von seiner Tochter, die wiederum ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche betonte und mehr Entscheidungs- und Handlungsspielraum einforderte. Die Tochter hob hervor, dass das Leben in Wien anders sei und dass sie sich nicht außergewöhnlich verhielt. Kollektivismus als gesellschaftliche Dimension beeinflusst auch die Haltung hinsichtlich der Beziehungen zu anderen Menschen. Eigenständig Freundschaften zu schließen wird nicht als wirklich notwendig erachtet, da meist durch die Großfamilie vorbestimmt wird, welche Freund_innen infrage kommen. Meistens sind dies Verwandte zweiten und dritten Grades. Ich denke, dass sich der Vater aus diesem Grund dagegen aussprach, dass die Tochter auch Kontakt zu nicht-muslimischen Freund_innen sucht. Die Mutter war flexibler in ihren Auffassungen und empfand die unveränderbaren Regeln des Vaters als zu streng. Sie zeigte der Tochter gegenüber auch mehr Empathie und versuchte, zwischen Ehemann und Tochter zu vermitteln,

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was sie häufig in eine äußerst schwierige Position innerhalb der Familie brachte. Die Mutter nahm viel Verantwortung auf sich, was sie offenbar sehr belastete. Für mich als Psychotherapeutin war es nicht einfach, mit der Familie zu arbeiten, da die Sichtweisen sehr konträr waren und vor allem der Vater kaum von seiner Haltung abwich. Er beharrte darauf, dass ihm die Tochter zu gehorchen habe und ein traditionell islamisches Leben – wie er es gewohnt ist – führe. Beide, Vater und Tochter, vermittelten aber auch den Wunsch nach Anerkennung: Der Vater hatte jahrelang in der Migration ohne Familie gelebt, im Bauwesen gearbeitet und Geld nach Hause geschickt. Die Tochter betonte, dass sie ohne Vater aufgewachsen sei, dass er nicht oft zuhause war und sich immateriell nicht um die Familie gekümmert hat. Die Psychotherapiesitzungen ermöglichten sowohl dem Vater als auch der Tochter, ihre Kränkungen, Verluste und Sehnsüchte offen anzusprechen und gemeinsam an einem besseren Zusammenleben zu arbeiten. Meines Erachtens war dies vor allem dadurch möglich, da der systemische Zugang ressourcenorientiert ist. So konnten die jeweiligen »Leistungen« der Familienmitglieder benannt, anerkannt und wertgeschätzt werden, konnte der Fokus darauf gelegt werden, wie diese Stärken und Fähigkeiten einsetzbar sind, um dem gemeinsamen Ziel, nämlich einem reibungsloseren und einander zugewandten Zusammenleben, näherzukommen.

Literatur Aranda, M. P., Knight, B. G. (1997). The influence of ethnicity and culture on the caregiver stress and coping process: A sociocultural review and analysis. Gerontol, 37, 342–54. Brucks, U., Salisch, E., Wahl, W. B. (1987). Soziale Lage und ärztliche Sprechstunde – Deutsche und ausländische Patienten in der ambulanten Versorgung. Hamburg: EB. Czycholl, D. (2002). Jugendliche Aussiedler im System der Suchthilfe. In W. Barth, C. Schubert (Hrsg.), Migration-Sucht-Hilfe. Junge Migranten aus der GUS in den Systemen Suchthilfe und Migrationsberatung. Nürnberg: Emwe. De Cillia, R. (2005). Internationale Sprachenpolitik. Europäische Aspekte der Migration. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Erziehungswissenschaften. Universität Wien. Gaitanides, S. (2001). Zugangsbarrieren von Migrantinnen zu den sozialen und psychosozialen Diensten und Strategien interkultureller Öffnung. In G. Auerheimer (Hrsg.), Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen (S. 181–194). Opladen: Leske & Budrich. Gapp, P. (2007). Konflikte zwischen den Generationen? Familiäre Beziehungen in Migrantenfamilien. In H. Weiss (Hrsg.), Leben in zwei Welten. Zur sozialen Integration ausländischer Jugendlicher der zweiten Generation (S. 131–153). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Haasen, C., Toprak, M. A., Yagdiran, O., Kleinemeier, E. (2001). Psychosoziale Aspekte der Sucht bei Migranten. Suchtprävention, 2, 161–165. Hofbauer, S., Schütz, B., Biffl, G., John, M., Perchinig, B., Bock-Shappelwein, J., Ferreri, C., Carl, Y., Moongananiyil, S., Diaz, N. (2004). Der Einfluss von Immigration auf die österreichische Gesellschaft. Österreichischer Beitrag im Rahmen der europaweiten Pilotstudie »The Impact of Immigration on Europe’s Societies«. Wien: IOM – International Organisation for Migration.

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Hofstede, G. (1993). Interkulturelle Zusammenarbeit. Kulturen–Organisationen–Management. Wiesbaden: Gabler. Hofstede, G. (1997). Lokales Denken, globales Handeln. Kulturen, Zusammenarbeit und Management. München: Beck. International Organisation for Migration. (2012). Fact and Figures. Verfügbar unter: http://www.iom.int/jahia/Jahia/about-migration/facts-and-figures/lang/en Kienbaum, J., Schuhrke, B. (2010). Entwicklungspsychologie der Kindheit. Stuttgart: Kohlhammer. Lindert, J., Schouler-Ocak, M., Heinz, A., Priebe, S. (2008). Mental health, health care utilisation of migrants in Europe. Eur. Psychiatry, 23 (1), 14–20. Machleidt, W. (2005). Migration, Integration und psychische Gesundheit. Psychiatrische Praxis, 32, 55–57. Michel, A., Sattler, T. (2007). Was Kinder und Jugendliche stark macht. Resilienz von jungen Menschen mit Migrationshintergrund. Interdisziplinäre Fachzeitschrift der DggKV, 10 (1), 90–107. Rezapour, H., Zapp, M. (2011). Muslime in der Psychotherapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schouler-Ocak, M. (2003). Psychiatrische Regeldienste und multikulturelle Realität. Psychoneuro, 29 (12), 582–585. Sluzki, C. E. (2001). Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. In T. Hegemann, R. Salman (Hrsg.), Transkulturelle Psychiatrie. Konzepte für die Arbeit mit Menschen aus anderen Kulturen. Bonn: Psychiatrie Verlag. Statistik Austria (Wien, 2011). Migration & Integration. Wien: Kommission für Migrations- und Integrationsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Statistik Austria (2012). Statistisches Jahrbuch für Migration & Integration 2012. Wien: Bundesanstalt Statistik Österreich.

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Regenbogenfamilien/Queere Familien Gleich und doch anders

Zu Beginn des 21.  Jahrhunderts verändern sich Familien, neue »Lebens-, Liebes- und Beziehungsformen« (vgl. Funcke u. Thorn, 2010b), neue Familienmodelle und verwandtschaftliche Bezugssysteme bilden sich heraus und werden zunehmend diskutiert (Irle, 2014; Gerlach, 2013; Funcke u. Thorn, 2010a; Goldberg, 2010; D’Amore, 2010; Nave-Herz, 2009; Zetterqvist Nelson, 2007; Rauchfleisch, 1997 u. 2011). Als eine dieser neuen Familienformen rücken Regenbogenfamilien/queere Familien, das heißt Familien, in denen sich zumindest ein Elternteil als lesbisch, schwul, bisexuell, transgender oder intersex (englisch abgekürzt: LGBTI) versteht, in den Fokus. Die Bezeichnung »Regenbogenfamilie« leitet sich von der Regenbogenflagge ab – weltweit Symbol von LGBTI-Personen – die sich selbstbewusst zu ihrer sexuellen Orientierung bekennen. Eine der ersten, die den Begriff »Regenbogenkinder« verwendete, war die Tänzerin und Bürgerrechtlerin Josephine Baker (1906–1975), die Mädchen und Jungen unterschiedlicher Hautfarbe adoptierte. Baker, die Diskriminierungen und 1917 ein Pogrom gegen Afro-Amerikaner erlebte, wollte auf diese Weise ein Zeichen gegen Rassismus setzen (vgl. Gerlach, 2013, S. 18; Irle, 2014, S. 27–34).

Zahlen und Strukturen In Österreich, Deutschland und in der Schweiz existieren keine offiziellen Statistiken zu Regenbogenfamilien/queeren Familien. Daher können lediglich Schätzungen vorgenommen werden, die sich auf Zahlen des Mikrozensus einer repräsentativen und europaweit größten Bevölkerungsstichprobe mit über 800.000 Personen in Deutschland stützen. Demnach beträgt die Anzahl der Kinder mit LGBTI-Eltern ȤȤ in Deutschland 18.000 bis 21.000, ȤȤ in der Schweiz 6.000

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ȤȤ und in Österreich demnach mindestens 2.100 (vgl. Eggen, 2010) bzw. laut ÖGS (Österreichische Gesellschaft für Sexualforschung, 2004) 5.000. Allerdings ergibt eine Hochrechnung der Association des Parents Gays et Lesbians (APGL, vgl. Literatur) aus dem Jahr 2007 für die Schweiz die eklatant höhere Anzahl von 30.000 Kindern, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern leben. Die Etablierung queerer Familien vollzieht sich im Zuge eines sozialen Wandels, der auch mit Veränderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen zu tun hat, wobei gegenwärtig institutionalisierte Formen von Heterosexismus die rechtliche Gleichstellung von LGBTI-Einzelpersonen, -Paaren und -Familien und ihren Kindern verhindern und die Grundrechte nach wie vor verletzt werden (vgl. Goldberg, 2010).

Die rechtliche Situation von Regenbogenfamilien im internationalen Vergleich (Stand Mai 2014) Die rechtliche Gleichstellung von Regenbogenfamilien/queeren Familien steht in vielen europäischen Ländern noch aus, bzw. wurde erst in den letzten Jahren durchgesetzt. Der Kurzfilm »Invisible parents« des Filmemachers Mike Buonaiuto setzt sich mit der Ungleichbehandlung von Kindern aus Regenbogenfamilien auseinander. Der Film wurde für die UK’s National Adoption Week erstmals am 5. November 2012 gezeigt und ist eine gemeinsame Produktion der OnlineOrganisation All Out und des Produzenten Mike Buonaiuto. Die ILGA-Europe Rainbow Map vom Mai 2014 (vgl. ILGA – International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) zeigt in einem Index den Stand der Gesetzgebung und Politik in 49 europäischen Ländern und deren Auswirkung auf das Leben von LGBTI-Personen auf: Gemeinsame Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare ist in folgenden europäischen Ländern möglich: Belgien, Dänemark, Frankreich, in Teilen Großbritanniens, Island, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Schweden, Slowenien und Spanien. Weltweit: Argentinien, in Teilen Australiens, Brasilien (derzeit nur São Paulo), Israel, in Teilen Kanadas, in Teilen Mexikos, Neuseeland, Uruguay, in Teilen der USA und Südafrika. Die Stiefkindadoption bzw. Elternschaft durch Anerkennung der Partner_innenschaft ist in folgenden europäischen Ländern möglich: Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Finnland, Großbritannien, Island, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, Slowenien, Spanien und Österreich. Weltweit:

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Argentinien, Australien, Brasilien, Israel, in Teilen Kanadas, in Teilen Mexikos, Uruguay, in Teilen der USA, sowie in Südafrika. LGBTI-Paare, die in Europa leben, haben derzeit in Belgien, Dänemark, Teilen Großbritanniens, den Niederlanden, Norwegen, Island, Schweden und Spanien Zugang zu Samenbanken und Inseminationskliniken und das Recht auf eine gemeinschaftliche Adoption. In Österreich sind Regenbogenfamilien heterosexuellen Familien rechtlich nicht gleichgestellt, wiewohl sich die rechtliche Situation insofern verbessert hat, als eine Stiefkindadoption für gleichgeschlechtliche Paare seit 1. August 2013 möglich ist. Vorangegangen ist diesem Beschluss eine Verurteilung Österreichs durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR). Der Wiener Rechtsanwalt Helmut Graupner reichte 2006 für eine Familie jene Klage ein, die bis zum EGMR wandern musste, ehe die bestehende Diskriminierung aufgehoben wurde. Umgesetzt wurden allerdings lediglich jene Punkte, die in der Verurteilung angeführt wurden. »Mit der Einführung der Stiefkindadoption wird ein weiterer großer Schritt in Richtung Gleichberechtigung gesetzt. Im täglichen Leben sind Regenbogenfamilien integriert und akzeptiert. Vorurteile und Unwissen finden sich vor allem in kirchlichen Kreisen und zum Teil in Ministerien und in der Politik. Vor allem im Vorfeld dieser Gesetzesänderung gab es zahlreiche verletzende und menschenverachtende Meinungsäußerungen, die nicht im Sinne und zum Schutze der Kinder und Familien, sondern rein ideologisch motiviert waren« (FAmOS, 2013). Ähnlich mühsam ist der gleichberechtigte Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzungsmedizin: »Ausgehend von der Klage eines lesbischen Paares hat der Oberste Gerichtshof (OGH) 2012 den Verfassungsgerichtshof (VfGH) beauftragt, zu prüfen, ob es gegen die Verfassung sei, lesbischen Paaren und alleinstehenden Frauen medizinische Unterstützung bei bestehendem Kinderwunsch zu versagen. Das Verbot war im Zuge der eingetragenen Partner_innenschaft ins Fortpflanzungsmedizingesetz geschrieben worden, um zu verhindern, dass gleichgeschlechtliche Paare davon Gebrauch machen könnten. Im Januar 2014 kam das langersehnte positive Urteil des Verfassungsgerichtshofs. Österreich diskriminiert lesbische Paare, indem es ihnen den Zugang zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung verbietet und hat nun ein Jahr Zeit, um das Gesetz zu ändern« (FAmOS, 2014).

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Darüber hinaus wird es gleichgeschlechtlich liebenden Menschen in Österreich fast unmöglich gemacht, rechtskonform eine Familie zu gründen. Lesbische und schwule Paare können nur in einigen Bundesländern Pflegeeltern werden: derzeit in Wien, Oberösterreich, Salzburg, der Steiermark und Tirol. In anderen Bundesländern ist homosexuellen Menschen eine Pflegeelternschaft nur als Einzelperson möglich. Es bestehen also weiterhin zahlreiche Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen (vgl. FAmOS, 2014). Das generelle Adoptionsverbot für gleichgeschlechtliche Paare muss bis Ende 2015 aufgehoben werden. Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat in einem am 14. Januar 2015 veröffentlichten Urteil die Verfassungswidrigkeit festgestellt. Das bestehende Adoptionsverbot für homosexuelle Paare widerspricht laut den Verfassungsrichter_innen dem Gleichheitsgrundgesetz und Artikel acht der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), also dem Recht auf Achtung des Familienlebens. Der Artikel begründet an sich zwar kein Recht auf eine Adoption, gibt es aber ein solches auf nationaler Ebene, so müsse es »gleichheitskonform und diskriminierungsfrei« formuliert werden. Das war bisher nicht der Fall, sagte VfGH-Präsident Gerhard Holzinger (vgl. Matzenberger, 2015, S. 2).

Kinderwunsch und gleichgeschlechtliche Elternschaft(en) Nach Heenen-Wolff (2011, S. 17 f.) kann der Kinderwunsch eines lesbischen oder schwulen Paares für Menschen mit heteronormativen Sichtweisen möglicherweise verwirrend sein, da diese es in der Regel noch nicht gewohnt sind, andere als ihre eigenen Lebensrealitäten mitzudenken. Der Wunsch nach einem Kind entsteht oft durch den Beziehungsprozess eines Paares. Ein Kind symbolisiert die Übereinkunft des Paares und repräsentiert ein verbindendes Lebensprojekt. Die Elternschaft gleichgeschlechtlicher Paare wird – zumindest durch die Möglichkeit, sich zu verpartnern – durch einen gesellschaftlichen Wertewandel unterstützt. Die vier Hauptmotive eines Paares oder einer Einzelperson für ein Kind sind nach Heenen-Wolff (2011, S. 22): ȤȤ der Wunsch nach gemeinsamer Teilhabe, ȤȤ der Wunsch nach transgenerativer Weitergabe, ȤȤ ein »existenzieller« Wunsch nach Fortpflanzung und das Kind aufwachsen zu sehen, ȤȤ das »Ausschöpfen« des Frau- oder Mannseins im Sinne einer Elternschaft.

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Unterscheidungen zu heterosexuellen Paaren lassen sich wohl nur hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung und in den Formen der Elternschaft treffen (Heenen-Wolff, S. 23 f.). Eine Studie zu Regenbogenfamilien/queeren Familien erarbeitet die Sozialwissenschaftlerin Eveline Y. Nay an der Universität Basel, Zentrum Gender Studies. Das Projekt ist vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert mit einer Laufzeit von Oktober 2010 bis Oktober 2013. Erste Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Strukturen in benachbarten Ländern wie Deutschland bzw. Österreich ähnlich sind (dies bestätigt sich auch unter Berücksichtigung der französischsprachigen Fachliteratur: Gross, 2012b, S. 19–30; Heenen-Wolff, 2011, S. 17–22; Garnier, 2012, S. 16–27). Unter anderem bestehen folgende Familienformen: ȤȤ Kinder mit einem Elternteil, der nach einer heterosexuellen Beziehung gleichgeschlechtlich lebt; ȤȤ zwei lesbische Mütter mit einem oder mehreren Kindern von bekannten oder unbekannten Samenspendern; ȤȤ Kinder mit zwei lesbischen Müttern und einem heterosexuellen oder homosexuellen Vater; ȤȤ Kinder mit heterosexueller Mutter und einem schwulen Vater bzw. zwei Vätern; ȤȤ zwei lesbische Mütter und zwei schwule Väter, die zu viert für das Kind aufkommen; ȤȤ Transgenderpersonen in einer schwulen, lesbischen oder heterosexuellen Beziehung, deren Kinder vor einer Geschlechtsanpassung geboren wurden oder von einer intersexuellen Person gezeugt oder geboren wurden; ȤȤ schwule Väter/lesbische Mütter mit adoptiertem Kind oder Kindern; ȤȤ schwule Väter/lesbische Mütter mit einem Pflegekind oder Pflegekindern; ȤȤ schwule Väter mit einem adoptierten Kind, geboren mit Hilfe einer Leihmutter. Zur LGBTI-Elternschaft ist festzuhalten, dass es sich um kein neues Thema handelt, da es immer schon LGBTI-Einzelpersonen oder Paare mit Kindern gab.

Reproduktionsmedizinische Unterstützung für homound heterosexuelle Paare Frauen und Männer müssen unabhängig von ihrer Beziehungsform ein Recht auf Verwirklichung ihres Wunsches nach Elternschaft haben, ohne infrage gestellt zu werden.

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Der Zugang zur Reproduktionsmedizin unterliegt in den meisten euro­ päischen Staaten ausschließlich heteronormativen Vorstellungen, die in Frankreich einer Witwe sogar die Einpflanzung eines Embryos, gezeugt mit dem Samen ihres verstorbenen Ehemannes, erlauben. Der Gesetzgeber bevorzugt hier also einen verstorbenen (heterosexuellen) Vater gegenüber zwei lebenden (lesbischen) Müttern bzw. zwei lebenden (schwulen) Vätern. Die Trennung von Sexualität und Elternschaft ist jedenfalls nicht nur bei homosexuellen Paaren inzwischen eine Notwendigkeit: Unfruchtbarkeit, mangelnde Samenqualität, Zunahme des Alters von Erstgebärenden, spätere Mutterschaft/Vaterschaft sind einige Gründe dafür. Lucia T. und Nadja F.: (Die Namen wurden geändert. Herzlichen Dank an Lucia T. und Nadja F. für die freundliche Unterstützung.) Lucia T. und Nadja F. sind seit fünf Jahren ein Paar. Lucia T. kam vor sechs Jahren aus Spanien nach Wien, wo sich beide kennen und lieben lernten. Nadja F. hegte bereits seit mehreren Jahren den Wunsch, eine Familie zu gründen und Kinder zu bekommen und fand in Lucia T. die ideale Partnerin dafür, denn beide hatten dieselben Lebensvorstellungen. Der Prozess vom Kinderwunsch zur konkreten Umsetzung des Vorhabens dauerte insgesamt mehr als zwei Jahre. Der Entscheidung ging eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema »(gemeinsam) Kinder kriegen« voraus. Folgende Fragen standen dabei im Mittelpunkt: Warum habe ich einen Kinderwunsch? Wie wichtig ist dieser für mich? Was bedeuten für mich »Familie« und »Kinder kriegen«? Welches Modell soll gewählt werden (anonyme oder nicht-anonyme Samenspende, eine Dreier-Konstellation mit einem Freund, der als Spender und/oder Vater fungiert, Co-Elternschaft oder die Aufnahme eines Pflegekinds)? Wer soll das Kind austragen und wie? Was bedeutet dies für die Paarbeziehung? Wie wird das soziale Umfeld/die Gesellschaft darauf reagieren? Beide Frauen setzten sich intensiv mit diesen Fragen/ Ängsten/Hoffnungen auseinander. Es wurde offen darüber geredet – auch im Familien- und Freundeskreis. Das soziale Umfeld reagierte auf die Kinderpläne überaus positiv und sehr unterstützend. Ein heterosexueller Freund des Paares bot sich als Spender an – auch mit dem Wunsch, später eine Vaterrolle für das Kind einzunehmen. Lucia T. und Nadja F. waren jedoch nicht davon überzeugt, dass dieses Modell für sie das adäquateste sei. Von einer lesbischen Freundin wussten sie, dass die Co-Elternschaft auch einige Schwierigkeiten bzw. Herausforderungen in sich barg, die vor allem in den Fällen oder Situationen auftraten, in denen sich die verschiedenen Elternteile über die Erziehung oder die Entscheidungen, die das Kind betrafen, nicht einig waren.

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Die beiden Frauen entschieden sich letztendlich für eine künstliche Insemination mit Samenspende. Nadja F. würde das Kind austragen. Sie informierte sich in diversen Internetforen über Kliniken in Europa, die Inseminationen bei lesbischen Frauen durchführten. Folgende Länder kamen für das Paar infrage: Spanien, Belgien oder Dänemark. Da Lucia T. Spanierin ist, entschieden sie sich zuerst für Spanien und nahmen Kontakt mit einer Klinik in Barcelona auf. Sie wurden sehr professionell von der Klinik betreut und konnten auch bald mit dem ersten Inseminationsversuch starten (im Gegensatz etwa zu Belgien, wo man rund ein halbes Jahr auf einen Termin warten musste). Beide waren sehr aufgeregt. Leider war der erste Versuch jedoch erfolglos. Die Klinik informierte sie darüber, dass durchschnittlich drei bis vier Inseminationsversuche notwendig seien, bevor es zu einer Schwangerschaft käme. Da die Insemination in Spanien recht kostspielig war und einen hohen Grad an zeitlicher Flexibilität verlangte, überlegten Lucia T. und Nadja F., sich an eine andere Klinik zu wenden, und zwar an die Storkklinik in Kopenhagen. Die Besonderheit dieser dänischen Klinik ist, dass sie von Hebammen geführt wird. Dort bestand die Möglichkeit, einen nicht-anonymen Spender zu wählen, was dem Kind ermöglichen würde, falls es dies wünscht, mit 18 Jahren zu erfahren, wer sein biologischer Vater ist. Dieser Umstand war für das Paar sehr wichtig. Dies wäre in Spanien nicht möglich gewesen, da dort – wie in den meisten Ländern – zu diesem Zeitpunkt nur anonyme Spender erlaubt waren. Nach zwei Versuchen klappte es endlich und Nadja F. wurde schwanger. Aufgrund der Gesetzesänderung der Stiefkindadoption für homosexuelle Paare in Österreich wird nun auch Lucia T. nach der Geburt des Kindes dieses adoptieren können. Für beide Frauen bedeutet dies eine erhöhte Rechtssicherheit für ihr Kind und ermöglicht ihnen, auch vor dem Gesetz (und der Gesellschaft) offiziell als Familie zu gelten. Nadja F. brachte Ende 2013 ihr Kind zur Welt und verpartnerte sich Mitte 2014. Die Partnerin leitete die Stiefkindadoption für das Kind ein.

Bernhard F. und Yvon C.: (Die Namen wurden geändert. Herzlichen Dank an Bernhard F. und Yvon C. für die freundliche Unterstützung.) Das binationale Männerpaar Bernhard F. und Yvon C., beide Mitte 40, lebt seit 2005 in Wien in einem gemeinsamen Haushalt. Sie haben einen akademischen Hintergrund und sind beruflich sehr engagiert. Schon zu Beginn ihrer Beziehung thematisierten sie einen Kinderwunsch, der in den folgenden Jahren immer wieder in unterschiedlicher Intensität auftauchte. In der gemeinsamen Diskussion überwog zunächst Bernhard F.s Idee, ein Pflegekind aufzunehmen. Yvon C. wollte dann

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jedoch lieber ein leibliches Kind und favorisierte aus diesem Grund eine Leihmutterschaft. Die gemeinsame Adoption eines Kindes wurde gedanklich durchgespielt, war aber aufgrund der damaligen rechtlichen Situation nicht möglich. Eine Adoption als Einzelperson kam für sie als Paar nicht infrage. Bernhard F. pflegte regen Kontakt zu seinen Patenkindern, die 1990 und 2006 geboren wurden und im Alltagsleben des Paares eine wichtige Rolle einnahmen. Es fanden regelmäßige gemeinsame Unternehmungen und Urlaube mit den Kindern aus den befreundeten Familien bzw. auch mit den Neffen und Nichten Yvon C.s statt. 2010 verfolgten beide über französischsprachige Medien die Geschichte des kleinen Samuel Ghilain, ausgetragen von einer ukrainischen Leihmutter und Sohn der belgischen Väter Laurent Ghilain und Peter Meurrens. Die Probleme begannen, als Samuel nach der Geburt keinen belgischen Pass erhielt. Aufgrund der unterschiedlichen rechtlichen Situation beider Länder wurde Samuel vorerst bei einer ukrainischen Pflegefamilie untergebracht. Nach vergeblichen Versuchen einen Pass zu bekommen, wollten die Väter mit Samuel ausreisen, was jedoch an der Grenze verhindert wurde. Samuel wurde daraufhin in ein Waisenhaus in Lwiw/Lemberg gebracht und konnte erst nach medialem Druck im Februar 2011 zu seinen Vätern zurück. Die Familie lebt mittlerweile in Frankreich. Die unsichere rechtliche Lage war auch der Hauptgrund dafür, dass Bernhard F. und Yvon C. die Idee einer Leihmutterschaft aufgaben. Kurz dachten beide noch an die Möglichkeit, in einem Bundesstaat der USA, zum Beispiel in Kalifornien, ein leibliches Kind bekommen zu können, da dieses für die Ausreise einen amerikanischen Pass erhalten würde. Aber aufgrund der hohen Kosten wurde diese Option aufgegeben. Die Teilnahme an einer schwul-lesbischen Kinderwunschgruppe in Wien eröffnete dem Männerpaar neue Impulse, um ihre Elternschaft zu verwirklichen. Die Idee eines Pflegekindes wurde verworfen, und beide entschieden sich für das Modell der Co-Elternschaft mit einem Frauenpaar. Sie lernten auch bald zwei Frauen über ihren Freundeskreis kennen. Das gemeinsame Projekt scheiterte letztendlich an den sehr unterschiedlichen Vorstellungen über Erziehungsteilhabe sowie den Konkurrenzsituationen, die innerhalb des Männerpaares, aber auch des ebenfalls binationalen Frauenpaares auftraten. Vor allem Yvon C. wollte eine Art Halbe-Halbe-Modell und geriet darüber in Konflikt mit seinem Partner. Über gemeinsame Freunde lernten Bernhard F. und Yvon C. 2012 bei einem Geburtstagsfest ein anderes Frauenpaar kennen und beschlossen, Teile ihres Urlaubes gemeinsam zu verbringen. Anna W. und Valeria E., beide seit zwanzig Jahren ein Paar, wollten Bernhard F. und Yvon C. die Entscheidung überlassen, wer von beiden leiblicher Vater werden sollte. Im darauffolgenden Entscheidungsprozess einigen sich die beiden Männer auf Bernhard F. Über eine gemeinsame Freundin hören sie von der Beendigung des ursprünglichen Vorhabens durch das Frauenpaar, da diesem

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Bernhard F. und Yvon C. »zu dominant« seien. 2014 lernen Bernhard F. und Yvon C. bei der Verpartnerungsfeier eines befreundeten Frauenpaares Sophie H. kennen. Die alleinstehende, heterosexuelle Freiberuflerin kommt von sich aus mit ihrem Kinderwunsch auf die beiden Männer zu und kann sich das Modell der geteilten Elternschaft gut vorstellen. Nach der Kennenlernphase sind die drei heute an der Umsetzung des gemeinsamen Wunsches.

Entwicklung der Kinder in Regenbogenfamilien Eine der weltweit größten und aktuellsten Studien zur Entwicklung von Kindern in Regenbogenfamilien ist The Australian Study of Child Health in Same-Sex Families (ACHESS) (2014) im Rahmen des Jack Brockhoff Child Health and Wellbeing Program der University of Melbourne. Wissenschaftler_innen der Universität untersuchten rund 500 Kinder im Alter von 0–17 Jahren in 315 Regenbogenfamilien und bewerteten deren Selbstbewusstsein, emotionale Stabilität sowie den familiären Zusammenhalt als sehr positiv. Die Studie wird derzeit noch ausgewertet, und weitere Ergebnisse werden erwartet. Die Langzeitstudie von Nanette Gartrell und Henny Bos, USA National Longitudinal Lesbian Family Study (NLLFS), hat lesbische Mütter und ihre Kinder, die in den 1980er Jahren mithilfe von Spendersamen gezeugt wurden, begleitet und erstreckt sich über einen Zeitraum von 25 Jahren. Die NLLFS untersucht sowohl die soziale, psychologische und emotionale Entwicklung der Kinder als auch die Dynamik von geplanten, lesbischen Familien. Es ist die weltweit am längsten laufende und am weitesten vorausblickende Studie über lesbische Mütter und ihre Kinder. Homosexuelle Elternpaare sind immer noch häufig Vorurteilen ausgesetzt. Die amerikanischen Forscherinnen Gartrell und Bos untersuchten in einer Langzeitstudie (2010, National Longitudinal Lesbian Family Study, NLLFS) lesbische Paare und ihre Kinder, und zwar schon ab der Schwangerschaft. Diese Kinder (jeweils zur Hälfte Jungen und Mädchen) und ihre Mütter wurden befragt als die Kinder 10 und 17 Jahre alt waren. Die Ergebnisse wurden im Juni 2010 in »Pediatrics« veröffentlicht.
Laut der Studie leben etwa 270.000 Kinder in den USA in Haushalten mit LGBTI-Elternpaaren, und noch einmal doppelt so viele bei einem alleinerziehenden LGBTI-Elternteil.
Die meisten wurden allerdings in einer heterosexuellen Beziehung geboren – im Gegensatz zu den 78 Jugendlichen, die für diese Studie untersucht wurden: diese waren in einer bestehenden lesbischen Beziehung mit Samenspenden (donor insemination) gezeugt worden. Als Vergleichsgruppe dienten Jugendliche mit heterosexuellen Eltern.

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»Contrast analyses found that the 17-year-old NLLFS girls
and boys were rated significantly higher in social, school/academic,
and total competence and significantly lower in social, rule-breaking,
aggressive, and externalizing problem behavior than the comparison
group« (Gartrell u. Bos, 2010, S. 7). Sie schnitten also in allen Punkten besser ab! Das war sogar unabhängig davon, ob die Kinder ihre genetischen Väter
kannten, ob sie zumindest die Möglichkeit haben würden, die Identität
dieser Väter zu erfahren, oder ob die Spende gänzlich anonym erfolgt
war. Außerdem änderte sich nichts an dem guten Ergebnis, wenn die Mütter sich getrennt hatten. Ja, es gab noch nicht einmal dann einen Einfluss auf die Entwicklung, wenn die Kinder wegen ihrer Mütter Vorurteile, Anfeindungen und Ausgrenzung erfahren mussten. Gartrell, eine der Autorinnen, fasst zusammen: »The
outcomes here were very clear. These are families in which the mo­thers
were very committed, involved and loving. The 17-year-old adolescents
are healthy, happy and high-functioning.« (Gartrell u. Bos, 2010, S. 1). Die erste deutschsprachige Studie, die die Lebenssituation von Kindern in gleichgeschlechtlichen Lebenspartner_innenschaften untersuchte, wurde 2009 von Marina Rupp im Auftrag des Bundesjustizministeriums (BMJ) am Staatsinstitut für Familienforschung an der Universität Bamberg (ifb) erstellt und ergänzt durch eine psychologische Kinderstudie vom Staatsinstitut für Frühpädagogik in München (vgl. http://www.ifb.bayern.de/projekte/neue/27259/index.php). Sie steht auf einer sehr breiten empirischen und somit repräsentativen Basis: 2007 und 2008 wurden 1.059 Eltern befragt, die Teil einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft mit Kindern sind. 866 dieser Eltern lebten in einer Eingetragenen Lebenspartner_innenschaft (ELP). Bei den Befragten handelt es sich mehrheitlich um Mütterpaare. Der Anteil der schwulen Väter ist mit 7 % auf die derzeit geringe Anzahl von Kindern zurückzuführen, die ihren Lebensmittelpunkt im Haushalt ihres/ihrer schwulen Vaters/Väter haben. Die meisten dieser Kinder wachsen bei ihren Müttern auf. Die lesbischen Mütter und schwulen Väter gaben Auskunft über die Genese ihrer Familien und die Entwicklung ihrer insgesamt 693 Kinder. Sie berichteten über das erzieherische Engagement beider Elternteile und die alltägliche Aufgabenteilung in ihrer Partner_innenschaft, über die Außendarstellung des Regenbogens in der Familie und ihre Erfahrungen im Umgang mit Diskriminierungen. Sie beschrieben die Beziehungen zu etwaigen, außerhalb der gleichgeschlechtlichen Partner_innenschaft lebenden Elternteilen. Abschließend bewerteten sie die rechtlichen Regelungen, sowie die rechtliche Stellung von Regenbogen-

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familien und formulierten den aus ihrer Sicht notwendigen Änderungsbedarf. Es folgt eine Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse: ȤȤ In Deutschland lebten 2007/2008 etwa 2.200 Kinder mit Eltern in Eingetragenen Lebenspartner_innenschaften (EPL). ȤȤ Die Kinder stammen etwa gleich häufig aus früheren heterosexuellen Beziehungen (44 %) oder sind in die aktuelle gleichgeschlechtliche Beziehung hineingeboren worden (45 %). Adoptiv- und Pflegekinder sind mit 1,9 % bzw. 6 % vertreten. ȤȤ 23 % der Kinder wurden von Partner_innen als Stiefkind adoptiert. Fast alle dieser Kinder wurden als Wunschkind der Mütter in die aktuelle Partner_innenschaft hineingeboren. ȤȤ Die Erziehungskompetenz gleichgeschlechtlicher Eltern ist genauso hoch wie die der heterosexuellen Vergleichsgruppe. Lesbische Mütter und schwule Väter haben eine zugewandte und fürsorgliche Beziehung zu ihren Kindern, das Familienklima ist positiv und in der Regel entspannt. ȤȤ Die Aufteilung von Erwerbs-, Haus- und Familienarbeit ist bei gleichgeschlechtlichen Elternpaaren flexibler und demokratischer als bei heterosexuellen Familien. Bei der Kinderbetreuung wechseln sich beide Mütter bzw. Väter ab. ȤȤ Lesbische bzw. schwule Elternpaare achten darauf, dass ihre Kinder regelmäßigen Kontakt zu Bezugspersonen des anderen Geschlechts haben. ȤȤ Kinder aus Regenbogenfamilien entwickeln sich gut, zum Teil sogar besser als Kinder aus anderen Familien. Sie verfügen über ein höheres Selbstwertgefühl und entwickeln mehr Autonomie bei gleichzeitiger hoher Bindung zu beiden Elternteilen. Sie haben ein realistisches Selbstbild und lösen altersspezifische Aufgaben genauso gut wie Kinder aus anderen Familien. ȤȤ Entscheidend für die Entwicklung der Kinder ist nicht die sexuelle Orientierung der Eltern, sondern die Beziehungsqualität und das Familienklima. ȤȤ Die Kinder selbst schätzen ihr Aufwachsen in einer Regenbogenfamilie positiv ein, trotz möglichen Erlebens von Diskriminierung. Sie beschreiben positive Reaktionen aus ihrem Umfeld. Manche haben Sorge, wie andere damit umgehen. Meist klären die Kinder Freund_innen vor dem ersten Besuch auf. ȤȤ Die meisten der untersuchten gleichgeschlechtlichen Familien gehen offen mit ihrer Lebensform um. ȤȤ Weniger als die Hälfte der Kinder hat bisher Diskriminierungen durch Gleichaltrige in Form von Hänseleien oder Beschimpfungen aufgrund der Familiensituation erlebt (47 %). Fast alle Kinder konnten mit Unter-

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stützung der Eltern gut damit umgehen. Sticheleien bleiben bei den Kindern meist ohne Wirkung. Ihr hohes Selbstwertgefühl und die vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern schützen sie gut. ȤȤ Die meisten lesbischen Mütter und schwulen Väter erleben, dass die Umwelt umso offener auf sie reagiert, je offener sie mit ihrer Lebensform umgehen. ȤȤ Mit pädagogischen Einrichtungen gab es positive wie auch negative Erfahrungen. Neben vorurteilsfreier Darstellung gleichgeschlechtlicher Lebensformen berichteten 16 % der Eltern, in der Schule bzw. Kindertagesstätte seien Lesben und Schwule bzw. Regenbogenfamilien kein Thema. ȤȤ Expert_innen sehen Handlungsbedarf für Lebenspartner_innenschaften mit Kindern: Über zwei Drittel von ihnen machen sich für verschiedene rechtliche Änderungen stark, wie zum Beispiel ein gemeinsames Adoptionsrecht oder die Gleichstellung im Einkommensteuerrecht bis hin zur kompletten Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren mit heterosexuellen Paaren (vgl. Rupp, 2009; Gerlach, 2013, S. 360–370). Die Dissertation von Ina Carapacchio (2008) beschäftigte sich mit Diskriminierungserfahrungen von Kindern aus Regenbogenfamilien. Die Ergebnisse deuten an, dass Kinder mit schwulen Vätern in ihrem Umfeld größere Schwierigkeiten haben als Kinder lesbischer Mütter (vgl. Carapacchio, 2008; Gerlach, 2013, S. 368). Lisa Herrmann-Green thematisierte in ihrer Dissertation Familienplanung und -bildung von lesbischen Inseminationsfamilien (Herrmann-Green u. Herrmann-Green, 2008, S. 319–340). Eine weitere Studie ist die von Dominic Frohn, Michaela Herbertz-Floßdorf und Tom Wirth (2011) über Kölner Regenbogenfamilien, im Auftrag der Stadt Köln mit den Kooperationspartnern LSVD – Lesben-und Schwulenverband in Deutschland und Rubicon Beratungszentrum. Es nahmen 114 Familien, in denen 169 Kinder groß werden, an der Online-Befragung teil. Dominic Frohn war Vortragender bei der Wiener Fachkonferenz »Regenbogenfamilien – Kinder in gleichgeschlechtlichen Familien« im November 2011 und stellte unter anderen die Kölner Studie vor. Die vergleichende Studie »Erfahrungen von Kindern aus Regenbogenfamilien in der Schule« wurde in Deutschland, Slowenien und Schweden 2010–2011 durchgeführt und legt den Fokus auf die Perspektive der Kinder. Für die Teilstudie Deutschland von Uli Streib-Brzič und Christiane Quadflieg (2011) wurden insgesamt 124 offene, leitfadengestützte Interviews mit Kindern und Jugendlichen, Eltern und pädagogischen Expert_innen geführt (vgl. auch Gerlach, 2013, S. 369 f.). Danach berichteten die Kinder zwar von Hänseleien, Mobbing aufgrund der Familiensituation findet aber eher nicht statt. Dennoch

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fühlte sich eine Reihe von Kindern und Jugendlichen diskriminiert. Folgende Erfahrungen wurden als diskriminierend beschrieben: ȤȤ andauerndes Nachfragen ohne echtes Interesse, ȤȤ Infragestellen biologischer Entstehung, ȤȤ Verschweigen von LGBTI-Lebensformen im Unterricht sowie ȤȤ als »Anschauungsobjekt« vor der Klasse in den Mittelpunkt gestellt zu werden. Diskriminierungen geschehen subtil, häufig geht es darum, dass die Lebensform der Eltern das heteronormative Familienbild infrage stellt und aufgrund dessen Töchter und Söhne befürchten, viktimisiert zu werden. Keines der Kinder oder Jugendlichen gab an, wegen der Familienverhältnisse Opfer physischer oder psychischer Gewalt geworden zu sein. Die Unterstützung der Eltern bei gleichzeitigen Freiräumen im Umgang mit LGBTI-Themen wurde positiv genannt. Die Kinder und Jugendlichen berichten von ganz unterschiedlichen Strategien, wie sie sich in Situationen verhalten, in denen die Peergroup ihre Familie und damit sie selbst als nicht normal bezeichnet. Die meisten Kinder wünschen sich, dass nicht-heteronormative Familienformen in der Schule mehr thematisiert werden. Allerdings nicht anhand von einzelnen Schüler_innen, da dies einem Outing gleichkommt und eine Zuständigkeit für diesen Bereich unterstellt. Zusammenfassend kann aufgrund der Untersuchungsergebnisse festgehalten werden: Kinder mit einem oder mehreren LGBTI-Elternteilen entwickeln sich nicht anders als Kinder mit heterosexuellen Eltern. Studien aus Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und den USA stimmen in folgenden Ergebnissen überein: ȤȤ Persönlichkeitsentwicklung, schulische und berufliche Entwicklung sowie emotionale und soziale Kompetenz verlaufen nicht anders als bei Kindern mit heterosexuellen Eltern. ȤȤ Es gibt keine erhöhte Depressionsneigung, eher ein höheres Selbstwertgefühl und mehr Autonomie in der Beziehung zu beiden Elternteilen als bei Gleichaltrigen mit heterosexuellen Eltern. ȤȤ Freundschaften und intime Beziehungen, Umgang mit körperlichen Veränderungen in der Pubertät werden von Kindern aus Regenbogenfamilien nicht anders gestaltet als von Gleichaltrigen aus heterosexuellen Familienkonstellationen. ȤȤ Im Vergleich zu Kindern mit heterosexuellen Eltern sind Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern nicht öfter oder seltener homosexuell, und sie entwickeln gleichermaßen eine Geschlechtsidentität innerhalb der üblichen Geschlechterrollen.

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Die Untersuchungen ziehen das Fazit: Nicht die sexuelle Orientierung der Eltern ist entscheidend für das Wohlergehen und die Entwicklung der Kinder, sondern die Beziehungsqualität und das Klima in der Familie. Keine der bisherigen Studien, weder im englisch-, französisch- noch im deutschsprachigen Raum hat gezeigt, dass Kinder von Lesben und Schwulen signifikante Nachteile im Vergleich zu Kindern heterosexueller Eltern hätten (Nay, 2011; Heenen-Wolff, 2011, S. 31–34; Gross, 2012b, S. 113–126).

Soziales Umfeld und öffentliche Reaktionen Regenbogenfamilien pflegen Kontakte zu Menschen beiderlei Geschlechts, die sowohl hetero- als auch homosexuell leben. Meist sind sie in einem intensiven Austausch mit der sozialen Umgebung wie Nachbarschaft, Freundeskreis, pädagogischen Institutionen usw., in denen Bilder und Bezugspersonen beiderlei Geschlechts vorhanden sind. Entwicklungspsychologisch wird postuliert, dass für das emotionale Wohlbefinden eines Kindes stabile Bezugspersonen von zentraler Bedeutung sind, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Eine Studie der Universität Bamberg (Rupp, 2009) zeigt auf, dass weniger als die Hälfte der Kinder aus Regenbogenfamilien Diskriminierungserfahrungen machen müssen. Betroffene Kinder berichten, dass diese Erlebnisse Wut, Ärger, Traurigkeit, Einsamkeit und Selbstvertrauenseinbußen auslösen. Kinder schwuler Väter erleben außerdem mehr Angst vor Stigmatisierung als jene lesbischer Mütter. Als hilfreich für die Bewältigung drohender Stigmatisierungen und Diskriminierungen kann eine möglichst frühe Aufklärung und der Kontakt zu anderen »Regenbogenkindern« erachtet werden. Zu den Auswirkungen der vermehrt entstehenden Gruppierungen von und für Regenbogenkinder existieren jedoch noch keine Untersuchungsergebnisse. Die Tatsache, dass weniger als die Hälfte der befragten Regenbogenkinder über Diskriminierungserfahrungen berichtet, wird in der erwähnten BambergStudie so interpretiert, dass gleichgeschlechtliche Eltern bewusst und reflektiert mit ihrer Familiensituation umgehen und mögliche Herausforderungen gemeinsam mit den Kindern thematisiert werden. Psycholog_innen führen an, dass die erfolgreiche Bewältigung dieser Herausforderungen meist mit einer Stärkung des Selbstvertrauens der Kinder einhergeht (Rupp, 2009).

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Beratung und Therapie von Regenbogenfamilien und lesbischen/schwulen Paaren mit Kinderwunsch In der Beratung von Kinderwunschpaaren sind folgende Aspekte wesentlich: ȤȤ die Legitimität ihres Kinderwunsches, ȤȤ die Entwicklung einer stimmigen Identität als Familie unter Berücksichtigung des/der »Dritten« •• bei lesbischen Paaren damit einhergehend die Rollenklärung des Samenspenders bzw. möglicher Väter und Co-Väter, •• bei schwulen Paaren die Rollenklärung der leiblichen Mutter bzw. der Eizellspenderin und der »sozialen« Mutter bei Co-Elternschaft eines schwullesbischen Elternpaares, sowie die des biologischen und »sozialen« Vaters, ȤȤ die Frage nach den Bedürfnissen von Kindern, die in eine Regenbogenfamilie hineingeboren werden. Legitimität des Kinderwunsches Noch Mitte der 1990er Jahre herrschte innerhalb der schwul-lesbischen Community, aber auch in der breiten Öffentlichkeit ein großer Vorbehalt gegenüber Frauen und Männern, die ihren Kinderwunsch in der Partner_innenschaft verwirklichen wollten. Es wurde unter anderem geargwöhnt, dass sich Lesben und Schwule unkritisch am Modell der »Hetero-Kleinfamilie« orientieren, anstatt sich um Alternativen im Zusammenleben von Erwachsenen und Kindern zu bemühen, und lieber das »traute Heim« in der »Heterokiste« suchten. Der Kinderwunsch wurde als eine Art Verrat an der schwul-lesbischen Community gesehen und führte so auch zu Abwertung und Ausgrenzung. Schwulen mit Kinderwunsch wurde zudem ihre Identität als Mann abgesprochen. Schwule Männer mit Kindern aus früheren heterosexuellen Beziehungen verheimlichten oft ihre Vaterschaft und blieben unsichtbar. »Es war ein langer, kontroverser und für die Betroffenen oft schmerzhafter Weg, der sich durch die gesellschaftliche wie rechtliche Entwicklung schlängelte, bis Regenbogenfamilien den heutigen Status erreichten. Angestoßen von einer Individualisierung von Lebensentwürfen […] und daraus folgenden rechtlichen Rahmenbedingungen, ist aus der einzelnen ›Säule‹ der klassischen Familie ein Fächer an Familienformen geworden. Die Regenbogenfamilie ist eine dieser Formen« (Thorn, 2010, S. 369–715). Diese gesellschaftlichen Prozesse sind nicht abgeschlossen, und es ergeben sich für schwul-lesbische Paare Unsicherheiten, die auch in der Beratung/Therapie

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zum Ausdruck kommen und die Legitimität des Kinderwunsches infrage stellen. Im Sinn einer positiven Konnotation kann »der Wunsch nach einem Kind als menschliches Bedürfnis beschrieben werden. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, den Kinderwunsch nicht nur abwertend als ›Heterobedürfnis‹, sondern als ein grundsätzliches Bedürfnis vieler Menschen unabhängig von ihrer sexuellen Ausrichtung wertzuschätzen. Der Kinderwunsch erfährt somit eine Legitimität, unabhängig von welcher Personengruppe er geäußert wird. Darüber hinaus kann exploriert werden, inwieweit fest gefügte innere Wertvorstellungen bislang unreflektiert blieben und Handlungspositionen einschränkten« (Thorn, 2010, S. 375). Entwicklung einer stimmigen Identität als Familie unter Berücksichtigung des/der »Dritten« Regenbogenfamilien haben unterschiedliche Entstehungszusammenhänge. Bislang stammte ein großer Teil der Kinder aus einer früheren heterosexuellen Partner_innenschaft und es handelte sich meist um komplexe StieffamilienKonstellationen mit einem extern lebenden leiblichen Elternteil. Es wachsen aber zunehmend Kinder in Regenbogenfamilien auf, die von den Partner_innen gemeinsam gewünscht und im Rahmen ihrer Beziehung geboren bzw. aufgenommen wurden. Die Bandbreite der Beziehungen zum leiblichen Elternteil kann von »nicht vorhanden« bis zu regelmäßigen Kontakten und einer Beteiligung an der Erziehungsverantwortung reichen. Leibliche Elternschaft ist immer nur unter Einbeziehung eines oder einer Dritten möglich. Sei es bei schwulen Männern die Bereitschaft einer Frau, das Kind auszutragen, bzw. bei lesbischen Frauen die zur Samenspende. Eine Möglichkeit für schwul-lesbische Paare besteht auch in der Gründung einer »Queer Family«, in der sich lesbische Frauen(paare) und schwule Männer(paare) dazu entschließen, gemeinsam ein Kind zu bekommen und großzuziehen. Im Unterschied zu heterosexuellen Paaren ist der Weg zur Familiengründung für gleichgeschlechtliche Paare mit vielfältigen Entscheidungen und einem weitaus höheren Planungsaufwand verbunden. Es braucht bei der Gründung einer »Queer Family« beispielsweise die Entscheidung, welche der Frauen das Kind austrägt und welcher der Männer der leibliche Vater sein soll, oder in welchem Maß die Erziehungsverantwortung der Frauen(paare) und Männer(paare) aufgeteilt sein soll (vgl. Rupp u. Dürnberger, 2010, S. 61–67). »Manche Regenbogenfamilien wünschen sich deshalb, mehrere Sorgeberechtigte für das Kind eintragen zu können. […] denn es würde die Abkehr vom Zwei-Eltern-Prinzip bedeuten« (Irle, 2014, S. 131 f.).

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Diese Paare stehen vor der Aufgabe, ein übereinstimmendes Verständnis ihrer Familienkonstellationen und ihre Identität als Regenbogenfamilie zu entwickeln, Bedeutungen und Zuschreibungen biologischer Elternschaft zu hinterfragen und Rollendefinitionen zu erarbeiten und zu reflektieren. Dazu gehören auch folgende Fragen (vgl. Thorn, 2010, S. 378–386): ȤȤ Wie ausführlich will ich Familiensituationen erklären, wenn sich Außenstehende an heteronormativen Vorstellungen orientieren? ȤȤ Wann gehe ich offen und proaktiv auf andere zu, und wann ziehe ich Grenzen? ȤȤ Inwieweit ist ein Erklären der Familiensituation für das Selbstverständnis des Kindes und der Eltern wichtig? Bedürfnisse der Kinder in Regenbogenfamilien Alle Kinder haben ähnliche Grundbedürfnisse und benötigen Liebe, Geborgenheit, Zuwendung und Stabilität. In Regenbogenfamilien stellen sich jedoch Fragen wie: ȤȤ Wie kann ein Kind entwicklungspsychologisch adäquat über seine Zeugungsart aufgeklärt werden? ȤȤ Welche Bedeutung hat der Samenspender? ȤȤ Wie wirken sich ein Kontakt des Spenders oder eine freundschaftliche Beziehung zwischen Kind und Spender auf die Familiendynamik aus? ȤȤ Wie sollen Co-Elternschaft und der Familienalltag bei schwul-lesbischen Paaren funktionieren? ȤȤ Wie kann ich mein Kind vor möglicher Diskriminierung schützen? ȤȤ Wie sind die Beziehungen zu den Großeltern zu gestalten? ȤȤ Wie kann es zu Begegnungen und Treffen von Kindern und Jugendlichen aus Regenbogenfamilien untereinander kommen? (Der Verein FAmOS – Familien Andersrum Österreich – bietet eigene Foren für Kids bzw. Treffen für Regenbogenfamilien an.) Für eine stabile Identitätsentwicklung wird die frühzeitige Aufklärung zwischen dem dritten und sechsten Lebensjahr empfohlen. Kinder sollen ein stimmiges Bild von sich und ihrer Familie entwickeln können, das sie später – um Identitätsbrüche zu vermeiden – nicht revidieren müssen. So können sie mit ihrer Zeugungsart unbelasteter und souveräner umgehen. Eltern entwickeln für ihren Nachwuchs eine Geschichte, die immer wieder erzählt wird und sich dem Entwicklungsstand und den Fragen des Kindes anpasst. Dies hat zur Folge, dass die Entstehungsgeschichte der Familie als Normalität erlebt werden kann, die einen selbstbewussten Umgang der Eltern und damit das Selbstwertgefühl der Kinder positiv unterstützt.

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»Bei der Wahl der Bezeichnung für den Spender verdeutlichen die Eltern nochmals die Grenzen zwischen ihrer Familie und dem Spender. Bezeichnungen […] können emotionale Nähe (z. B. ›biologischer Vater‹) oder große Distanz z. B. ›Samenspender‹, oder ›Erzeuger‹) symbolisieren oder sie können zum Ausdruck bringen, dass der Spender zwar kein Familienmitglied ist, aber durchaus eine geschätzte Person, die einen mehr oder weniger engen Kontakt zur Familie hat (z. B. ›Ulrich, der uns den Samen schenkte‹)« (Thorn, 2010, S. 391). Der Kontakt zum Spender kann auch bei lesbischen Müttern, die sich intensiv mit ihrer Familienbildung auseinandergesetzt haben, Irritationen und Ängste auslösen. »Bin ich als soziale Mutter dann nicht mehr wichtig?« Hier gilt es, ein Verständnis für die Familienzusammensetzung zu entwerfen, das vor allem die Bedürfnisse der Kinder, aber auch die der Mütter und des Samenspenders bestmöglich berücksichtigt (vgl. Thorn, 2010, S. 386–398).

Fragestellungen und Selbstreflexionen für Therapeut_innen nach Carlson und McGeorge (2012) Folgende Fragestellungen und Selbstreflexionen für Therapeut_innen, die mit LGBTI-Personen und deren Systemen arbeiten, erachten wir als wichtig: ȤȤ Wurde in meiner Herkunftsfamilie über gleichgeschlechtliche und bisexuelle Partner_innenschaften gesprochen? Wenn ja, wie wurde darüber gesprochen? Falls darüber nicht gesprochen wurde, was wurde durch das Nicht-darüberSprechen ausgesagt? ȤȤ Was sind meine eigenen Glaubenssätze darüber, wie bzw. warum eine Person schwul, lesbisch oder bisexuell »wird«? ȤȤ Wenn ich eine Person kennenlerne, wie oft nehme ich an, dass diese Person heterosexuell ist? Welche Werte und Überzeugungen nährt diese Annahme? Heterosexuell orientierten Therapeut_innen können diese Reflexionen bewusst machen, welchen Einfluss heteronormative Glaubenssätze und Vorannahmen auf ihre privaten und professionellen Sichtweisen haben. Um die privilegierte Stellung von Heterosexualität in der Gesellschaft deutlich zu machen, eignen sich folgende Fragestellungen: ȤȤ Wie wurde Ihr Engagement für heterosexuelle Beziehungen von Ihrer Familie, ihren Freund_innen und der Gesellschaft gefördert, ermutigt und belohnt?

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ȤȤ Hatten Sie jemals Sorge, dass sie aufgrund ihrer heterosexuellen Orientierung aus ihrer religiösen Gemeinschaft, ihrem Unternehmen oder einem Verein ausgeschlossen werden könnten? ȤȤ Hatten Sie jemals Sorge, dass ein_e Therapeut_in sie aufgrund ihrer heterosexuellen Orientierung nicht behandeln würde, oder dass er oder sie versuchen würde, Ihre Heterosexualität zu behandeln? ȤȤ Wie erklären Sie es sich, dass Sie sich als heterosexuell erkennen? Welche Faktoren waren für die Ausbildung Ihrer heterosexuellen Identität wichtig und beeinflussend? ȤȤ Haben Sie jemals die Erfahrung gemacht, sich zu einer Person des gleichen Geschlechts hingezogen zu fühlen? Wenn ja, wie erklären Sie sich diese Anziehung? Wenn nicht, wie erklären Sie sich, dass Sie sich nicht angezogen fühlten? ȤȤ Wie beeinflusst Ihr persönliches Heterosexuell-Werden den Prozess einer Person, die ihre LGBTI-Identität für sich entdeckt? Alle diese Fragen können Erkenntnisprozesse anregen. Sie veranschaulichen eines der wichtigsten Statements des aktuellen Diskurses (vgl. Carlson u. McGeorge, 2012): dass Heterosexualität keine Vorgabe ist, sondern ebenso entwickelt wird wie schwule, lesbische oder andere Identität(en). Literatur APGL – Association des Parents et futurs parents Gays et Lesbiens. Zugriff am 29.03.2015 unter http://apgl.fr/ The Australian Study of Child Health in Same-Sex Families (ACHESS) (2014). University of Melbourne. Zugriff am 23.06.2014 unter http://www.achess.org.au/7801.html Bigner, J. J., Wetchler, J. L. (2012). Handbook of LGBT-affirmative Couple and Family Therapy. New York: Routledge. Carapacchio, I. (2008). Kinder in Regenbogenfamilien: Eine Studie zur Diskriminierung von Kindern Homosexueller und zum Vergleich von Regenbogenfamilien mit heterosexuellen Familien. Dissertation. München: Ludwig-Maximilians-Universität. Carlson, T. S., McGeorge, C. R. (2012). LGB-Affirmative Training Strategies for Couple and Family Therapist Faculty. Preparing Heterosexual Students to Work With LGB Clients. In J. J. Bigner, J. L. Wetchler (Eds.), Handbook of LGBT-Affirmative Couple and Family Therapy (395–408). New York: Routledge. D’Amore, S. (2010). Les nouvelles familles. Approches cliniques. Bruxelles: De Boeck. Dachverband Regenbogenfamilien: Zürich u. Genf. Zugriff am 24.06.2014 unter http://www. regenbogenfamilien.ch/ Eggen, B. (2010). Gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften ohne und mit Kindern. Soziale Strukturen und künftige Entwicklungen. In D. Funcke, P. Thorn (Hrsg.), Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern. Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform (S. 37–61). Bielefeld: transcript.

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Guido Ebi und Leo E. Walkner

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Regenbogenfamilien/Queere Familien

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Katerina Albrechtowitz

Am Ende wird alles gut … Gerontopsychosoziale Aspekte in der systemischen psychotherapeutischen Praxis und Beratung

»Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, dann ist es noch nicht das Ende.« (Oscar Wilde)

Vor etwa drei Jahren begann ich als Psychotherapeutin (in Ausbildung unter Supervision) mit alten Menschen zu arbeiten. Ein erster Zugang entwickelte sich im Rahmen eines Praktikums, das ich über einen Zeitraum von einem Jahr in zwei Landespflegeheimen in Niederösterreich absolvierte. Inzwischen biete ich sowohl in der Therapeut_inneninitiative TIRAM (sie ermöglicht ökonomisch benachteiligten Personen den Zugang zu Psychotherapie, vgl. Beitrag A. Schmidbauer in diesem Band) als auch in freier Praxis Settings für alte Menschen und deren Angehörige sowie aufsuchende Psychotherapie an. Anhand zweier Fallverlaufsprotokolle möchte ich darstellen, welche Aspekte in der Arbeit mit alten und dementen Personen wesentlich sind, und die Rahmenbedingungen, unter denen Psychotherapie mit dieser Zielgruppe stattfinden kann, erläutern.

Kommunikation mit Bildern Landespflegeheim Gloggnitz, Herr H., 79 Jahre alt; Setting: zwei Mal dreißig Minuten wöchentlich aufgrund der kurzen Aufmerksamkeitsspanne; Diagnose: Parkinson mit demenziellen Ausprägungen; hat beim Pflegepersonal den Ruf, schwierig und manchmal tätlich aggressiv zu sein (zu beißen).

Ich brauche einige Zeit, um mich in Herrn H.s Sprache einzuhören, die aufgrund der parkinsonschen-cerebralen Einschränkungen schwer verständlich ist. Den Kontaktaufbau beginne ich mit dem gemeinsamen Betrachten historischer Bildbände über Wien und Wiener Neustadt. Sehr bald ist zu bemerken, dass sich Herrn H.s Sprachkompetenz und Motorik kurzfristig stark verbessern, wenn sein Interesse geweckt ist. Aggressive oder suizidale Phasen – wie in der

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Dokumentation vermerkt – kann ich nicht beobachten. Er lehnt zwar manchmal Angebote ab und wirkt verstimmt und schwer motivierbar, solange er im Rollstuhl sitzt und ich noch stehe, um das Setting abzuklären. Sobald ich mich jedoch auf Augenhöhe begebe und ihn nach seinen Wünschen und Anliegen frage, entspannt er sich. Eingehend auf seine Verfassung und je nach Wetterlage findet das Setting im Garten, auf dem Zimmer oder in anderen Räumen der Einrichtung statt. Auch der zeitliche Umfang der jeweiligen Einheiten wird Herrn H.s Bedürfnissen angepasst. Er kann akzeptieren, wenn ich auf einige seiner Wünsche nicht eingehe, weil sie nicht in meinen Aufgabenbereich fallen. Hierbei ist es wichtig, in der Therapeut_innenrolle zu bleiben und trotzdem die Wünsche der Klient_innen ernst zu nehmen. Herr H. wollte beispielsweise frisiert werden, bevor wir das Setting im Garten fortsetzten. Ich ermutigte ihn also, den Kamm selbst zu suchen, ihn zum Pflegepersonal mitzunehmen und unterstützte ihn dabei, seinen Wunsch und dessen Dringlichkeit mit dem erforderlichen Feingefühl zu formulieren. Auch wenn das Pflegepersonal unter großem Zeitdruck steht, kann dieser zweiminütige Aufwand sinnvoll sein: ein zufriedener Herr H. lässt sich schließlich im eng strukturierten Pflegeplan zeitsparender betreuen. Der würdigende Einsatz von zwei Minuten führt zu einer Win-win-Situation für alle Beteiligten. Als Psychotherapeutin/Beraterin kann ich hier positiv verstärkend intervenieren. Ich nehme in diesem Kontext ähnliche Strukturen wie in Paar- oder Familientherapien wahr. Das Personal und die Heimbewoh­ner_innen kommen einander sehr nahe, haben Kontakt in intimen Bereichen wie Essen, Waschen und WC-Gängen. Die Pfleger_innen werden zu Vertrauten der Bewohner_innen und können sich persönlich angegriffen fühlen, wenn sie Ablehnung von Hilfeleistungen oder Aggression erfahren. Im konkreten Fall des Herrn H. konnte ich feststellen, dass er sich rasch ausgeliefert fühlt, wenn nicht auf Augenhöhe mit ihm kommuniziert wird. Er hat dann den Eindruck, dass über ihn hinweg gesprochen wird. Dieses Empfinden von Fremdbestimmung, der Eindruck, dass er nicht verstanden oder nicht auf ihn eingegangen wird, macht ihn aggressiv. Obwohl diese Dynamiken den meisten Pfleger_innen bewusst sind, wird in Stresssituationen immer wieder außer Acht gelassen, dass Patient_innen, die »widerständig agieren«, die als schwierig und unangepasst wahrgenommen werden, wesentlich mehr Zeit in Anspruch nehmen als einigermaßen zufriedene Personen. Die Aufgabe der Psychotherapeut_innen/ Berater_innen kann dementsprechend nicht darin liegen, Patient_innen wieder »pflegeleichter zu machen«, sondern problematische Abläufe aufzuzeigen und beziehungsförderliche Interventionen zu setzen. Ein Teil des enormen Zeitdrucks kommt durch die Dokumentationspflicht zustande. Auch als Psychotherapeutin hatte ich Zugang zum EDV-Programm und

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die Pflicht, meine Arbeit zu dokumentieren. Ich nahm jedoch trotz des zeitlichen Aufwands auch die Vorteile dieses Systems wahr, die darin lagen, dass ich mich auf die jeweiligen Einheiten mit den Klient_innen vorbereiten konnte. So konnte ich besser nachvollziehen, wenn Herr H. beispielsweise aufgrund einer Medikationsänderung ein anderes Verhalten zeigte oder nach einer unruhigen Nacht in keiner guten Verfassung war. Dies war der therapeutischen Beziehung vor allem deshalb zuträglich, weil Herr H. nicht immer artikulieren konnte, was ihn belastete – vor allem dann nicht, wenn er sich in einer schlechten Verfassung befand. Mein Wissen ermöglichte hier ein direkteres Nachfragen und erleichterte die Kommunikation. Diese wiederum erachte ich als Voraussetzung, um Herrn H. in seiner Selbstbestimmung bestmöglich unterstützen zu können, ihn zur Reflexion seiner Bedürfnisse zu motivieren und mit ihm Wege zu finden, die noch vorhandenen Freiräume zu nutzen. Wenn die Gespräche im Garten stattfinden, genießt Herr H. die Klänge des Windspiels und wird gern selbst aktiv. Wir trainieren beispielsweise die Sinne, riechen an Blumen und Kräutern, ertasten deren Oberfläche, stellen Bezug zu den Jahreszeiten her und kommen so ins Gespräch. Herrn H. ist es in der Folge leichter möglich, soziale Kontakte zu pflegen. An guten Tagen verhält er sich dann wie ein Gentleman und scherzt mit anderen Bewohner_innen oder dem Personal. Er macht gern Witze. Bei Schlechtwetter gehen wir durchs Haus, und Herr H. zeigt meist Interesse an seiner Umgebung. Konflikte mit dem Personal entstehen beim Thema Naschen. Herr H. ist nicht übergewichtig, und Naschen gefährdet meines Erachtens seinen Gesundheitszustand nicht. Dennoch äußern Pfleger_innen die Sorge, dass er zunehmen und an Diabetes erkranken könnte. Der Klient hat bei Aktivitäten und während der Settings keinerlei Bedürfnis nach Süßigkeiten, weshalb wir uns im Rahmen der Therapie nicht mit diesem Thema beschäftigen müssen. Gegenüber den Mitarbeiter_innen des Heimes versuche ich, eine neutrale Haltung einzunehmen, oder ich informiere sie über meine Wahrnehmungen. Herr H. zeigt mir gern, was er selbständig kann, zum Beispiel Schuhe anund ausziehen, essen, trinken. Was er nicht mag, sind Gedächtnisübungen mit Arbeitsblättern. Weil das Training der Gedächtnisleistung jedoch seinem Auftrag zur Unterstützung der Kompetenzerhaltung entspricht, integriere ich Teile dieser Übungen in die gemeinsamen Rundgänge durchs Haus oder den Garten, sodass sie im natürlichen Verlauf eines Gesprächs Platz finden. Das bedeutet beispielsweise, dass ich unsere Gespräche nur teilweise zusammenfasse oder wiederhole und ihn ergänzen lasse. Biografiearbeit ist mit Herrn H. nur eingeschränkt möglich. Er hat zwei Söhne, erzählt aber nur von einem. Die Pflege und der Tod seiner Frau sowie

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der allmähliche Verlust seiner Kompetenzen sind nach wie vor schwer für ihn zu verkraften, er kann diese Belastungen jedoch gut reflektieren. Etwa alle sechs Wochen hat Herr H. das Bedürfnis, einen Tag im Bett zu verbringen. Es gelingt ihm, sich diesen Freiraum zu erobern, und er genießt es, sich dabei vom Pflegepersonal mit Keksen versorgen zu lassen. An diesen Tagen ist er auch der Arbeit mit den Bildbänden und den damit verbundenen Gedächtnistrainings sehr zugänglich. Mit der fortschreitenden Demenz kann der Klient die Abbildungen allerdings teilweise nicht mehr real zuordnen. Ein Abbau des Kurzzeitgedächtnisses und die verminderte Konzentrationsfähigkeit erschweren auch die Durchführung der Gedächtnisübungen. Herr H. nutzt die Angebote jedoch sehr kreativ und lässt sich von den Bildern zum Witzeerzählen inspirieren. Die Arbeit mit Herrn H., die sich insgesamt über einen Zeitraum von einem halben Jahr erstreckte, nahm ich als sehr produktiv und gelungen wahr. Ich empfand es als eine wertvolle Aufgabe, den Klienten nach seinem Einzug in das Pflegeheim bei der Entwicklung eines neuen Lebenskonzeptes unterstützen zu dürfen.

Vorsichtige Annäherung Landespflegeheim Berndorf, Frau M., 82 Jahre alt, kommt ursprünglich aus Bosnien; Setting: einmal 50 Minuten wöchentlich; Diagnosen: chronische vaskuläre Enzephalopathie (gefäßbedingte Demenzform) mit Mischdemenz, Glaukom (Grüner Star) beidseitig, mit Amaurose links (keinerlei Lichtwahrnehmung, Pupillenstarre), nicht operabel, führt zu Erblindung; gilt beim Pflegepersonal als schwierig, aggressiv nörgelnd und schwer motivierbar, verlässt kaum das Zimmer.

Ich begleite Frau M. ein ganzes Jahr lang. Anfangs wirkt sie auf mich sehr unsicher und traurig. Sie kategorisiert Menschen vermeintlich danach, ob sie »für oder gegen sie« sind, und reagiert rasch gekränkt oder verärgert. Da sie das Zimmer ungern verlässt, finden unsere ersten Gespräche im Raum statt, den sie mit einer anderen Bewohnerin, Frau O., teilt. Als ein Schlüsselerlebnis in der therapeutischen Beziehung erachte ich folgende Situation: Ich befinde mich im Gespräch mit Frau M., als uns das Pflegepersonal mitteilt, dass wir den Raum verlassen müssen, weil Frau O. nun gewaschen wird. Frau M. fehlt trotz ausführlicher und behutsamer Erklärungsversuche die Einsicht für die notwendige Veränderung unseres Settings. Sie lehnt das Angebot ab, mit mir gemeinsam das Zimmer zu verlassen und unser Gespräch an einem

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anderen Ort fortzusetzen, wirkt gekränkt und hat offenbar den Eindruck, dass Frau O.s Bedürfnisse in diesem Moment wichtiger sind als ihre eigenen. Sie meint, dass ich später wiederkommen könne, sie aber keinesfalls das Zimmer verlassen werde. Ich lehne diesen Vorschlag ab, da die Betreuung der anderen Klient_innen und die fixe zeitliche Struktur dies nicht zulassen und ich mich außerdem hinsichtlich meiner Arbeitsfähigkeit auf keine »Machtspiele« einlassen möchte. Dies würde die Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung gefährden. Sie meint, dann brauche ich gar nicht mehr zu kommen. Ich lege Wert darauf, zu vermitteln, dass ich ihr Bedürfnis, unser Gespräch im Zimmer ungestört fortzusetzen, verstehe und akzeptiere, dass dies aber jetzt leider nicht möglich sei. Seit dieser Begebenheit treffe ich Frau M. viel seltener schlafend an, sie wartet meist schon auf mich und unsere Gespräche vertiefen sich zusehends. Frau M. wird im Laufe der Zeit aktiver, dreht sich die Haare selbst ein, setzt sich mit Themen wie Putzen, Wäsche waschen, Körperpflege und Hygiene im Heim auseinander. Sie holt sich selbständig Obst aus der Küche und geht gemeinsam mit anderen Bewohner_innen in den Garten. Nach etwa einem halben Jahr nimmt Frau M. regelmäßig Mobilisationsangebote an und baut dabei Ambivalenzen ab. Wichtig ist ihr, die »Atmosphäre der Straße«, also eine Form von Außenwelt mitzubekommen und das geschäftige Tun anderer Menschen – beispielsweise in der Heimküche – zu beobachten. Wir nutzen die »Außengesprächstermine« mitunter auch dazu, kleine Besorgungen zu erledigen. Frau M. zeigt inzwischen keine eifersüchtigen Reaktionen mehr, wenn ich andere Personen grüße, verzichtet auf abwertende Gesten und nickt manchmal sogar selbst zum Gruß. Immer öfter äußert sie, dass sie nicht im Zimmer »versauern will«, und nimmt das Angebot organisierter Spaziergänge wahr. Hier scheint der Transfer von den Spaziergängen als Form des Settings zur autonomen Gestaltung des Tagesablaufs gelungen zu sein. Parallel dazu kann Frau M. das Heim zunehmend als neues Zuhause akzeptieren – sie bezeichnet es immer seltener als Gefängnis. Ich erweitere mein Angebot um eine zusätzliche halbe Stunde pro Woche, da ich den Eindruck habe, dass dies Frau M. beim weiteren Aufbau sozialer Kontakte unterstützen kann. Außerdem ist es dadurch möglich, sie trotz der fortschreitenden Erblindung darin zu bestärken, Freiräume zu suchen und zu nutzen und damit ihr allgemeines Wohlbefinden zu fördern. Die Klientin nimmt das Angebot freudig an. Wir führen Entlastungsgespräche, sie baut allmählich Kontakte zu den ehrenamtlichen Betreuer_innen auf – die sie bislang ablehnte – und nimmt den unvermeidlichen Aufenthalt im Heim allmählich als akzeptable Realität wahr. Je nach aktuellem Tagesbedürfnis nimmt sie inzwischen auch an den Hausmessen teil und wirkt offener und lebendiger. Sie äußert, dass sie sich

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immer mehr als selbstbestimmt empfindet und dass sie unsere Termine mittlerweile »anders« wahrnehmen kann. Anfangs habe sie die Settings zwar als »Highlights« erlebt, sei aber nachträglich gestresst gewesen, weil sie dann wieder eine Woche warten musste, was sie ärgerte oder traurig machte. Das erweiterte Setting trägt auch dazu bei, dass Frau M. über mehr Auswahlmöglichkeiten verfügt und Prioritäten setzen kann. Sie nimmt es zum Anlass, um nun auch mit einer Heimbewohnerin Gespräche in ihrer Muttersprache zu führen. Die Therapien bestärken Frau M. in ihrem Selbstwert und dem Bewusstsein, eigenständig agieren zu können. Sie genießt es, unterschiedliche Sinneserfahrungen zu machen, etwa Gemüse und Früchte in die Hand zu nehmen, daran zu riechen, im Supermarkt Produkte auszuwählen und sich selbst wieder vermehrt in Interaktionen zu erleben. Der Erwerb einer speziellen Zeitung ermöglicht ihr, ihr Interesse am Weltgeschehen abzudecken. Ressourcenerinnerung sowie deren Transfer in die Gegenwart können stattfinden. Frau M. beschäftigt sich wieder mit der Sammlung und dem Erstellen von Sprüchen und Comics und gestaltet Weihnachtskarten für ihre Angehörigen, was wiederum dazu führt, dass sie angerufen wird und dass sich Menschen bei ihr bedanken. Die Zusammenarbeit mit der Stationsleitung und deren Kontakt zur Sachwalterin funktioniert nun besser. So kann endlich bewirkt werden, dass Frau M. wieder frei über ihr Taschengeld verfügen und einen Teil davon verwenden kann, um Lotto zu spielen. Diese kleine Freude hilft ihr, Wünsche wieder wahrzunehmen und Lebenssinn zu entwickeln. Sie denkt darüber nach, wofür sie im Fall eines Gewinns das Geld verwenden möchte, und spricht vom Kauf eines Hauses in Bosnien oder einem Leben in Österreich, in dem sie sich eine private Betreuerin leisten könnte. Die Beschäftigung mit diesen Inhalten trägt dazu bei, eine Akzeptanz dafür zu schaffen, dass Hilfe im Alltag gut tun kann. Die Erblindung des linken Auges möchte Frau M. bislang als Folge einer medizinischen Fehlbehandlung erkennen. Sie hofft nach wie vor, dass sie – wenn Gott es gut mit ihr meint – wieder gesunden kann, damit sie ihre Schwiegertochter als Sachwalterin nicht mehr braucht. Ich empfand es als besondere Herausforderung, Frau M. in ihrer Realität zu belassen, ihr nicht die Hoffnung zu nehmen und sie trotzdem darin zu bestärken, alternative Pläne zu entwickeln. Ihrer Wahrnehmung nach kann sie nach dem Genuss energiereicher Nahrung wie Sauerkraut oder Knoblauch wieder besser lesen und wir sprechen darüber, dass eine Verbesserung der Durchblutung durch entsprechende Ernährung und Bewegung in jedem Fall gesundheitsförderlich sei. Wir thematisieren jedoch auch, wie und mit welcher Unterstützung sie leben möchte, wenn sie nicht im Lotto gewinnt.

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Nach einem Jahr der Begleitung lässt sich feststellen, dass sich Frau M. weitestgehend stabil und auch zunehmend wohl fühlt. Gemeinsam mit der Seniorenbetreuerin kann der Kontakt zu einem ehrenamtlichen Mitarbeiter aufgebaut werden, den die Klientin inzwischen nicht nur akzeptiert, sondern auch gern mag. Mit einer neuen Betreuerin kann Frau M. nun auch in ihrer Erstsprache reden, was ihr ermöglicht, über traumatische Kriegserfahrungen zu sprechen. Ich denke, dass es ihr gelungen ist, (wieder) Vertrauen aufzubauen, und zwar in sich und ihre sozialen Kompetenzen, was zur Folge hat, dass auch Begegnungen mit anderen weniger bedrohlich sind.

Mein Arbeits- und Erkenntnisprozess Das einjährige Praktikum in den Pflegeheimen Gloggnitz und Berndorf erlebte ich in jeder Begegnung und thematischen Auseinandersetzung als Bereicherung. Das gilt gleichermaßen für Heimbewohner_innen und Mitarbeiter_innen. Ich war aufgefordert, mich nicht mit Offensichtlichem zufriedenzugeben, sondern Anliegen und Grenzen zu prüfen und offen zu bleiben. Diese Offenheit verlangte mir allerdings auch viel Organisationstalent ab. Zeitweise waren die flexiblen Settings schwer zu koordinieren. Wenn beispielsweise an manchen Tagen Teamsitzungen stattfanden, an denen ich beteiligt war, oder wenn ich Heimbewoh­ ner_innen aufgrund von Pflegemaßnahmen nicht zur vereinbarten Zeit antreffen konnte, waren organisatorisch aufwändige Umstrukturierungen notwendig. Ich möchte diese Erfahrungen jedoch nicht missen, weil ich dadurch Klient_innen in ihrem Alltag und Umfeld kennenlernen konnte. Ich durfte unmittelbar erfahren, wie sie den Kontakt mit anderen erleben, was sie belastet und was ihnen gut tut, und konnte diese Aspekte in die Therapien einfließen lassen. Die Tatsache, dass auch ich mich an den Rahmenbedingungen und Abläufen orientieren musste, bewirkte, dass ich gut nachvollziehen konnte, wie schwierig es ist, in diesem Kontext eigene Bedürfnisse zu erkennen, zu artikulieren und durchzusetzen. Als systemische Psychotherapeutin empfand ich es zudem als eine sehr wertvolle Erfahrung, in einem Mehrpersonensetting zu arbeiten, das sich von herkömmlichen Settings unterscheidet. Aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit in einer Familienberatungsstelle waren mir Dynamiken und Hierarchien, die durch unterschiedliche Bedürfnisse und soziale oder emotionale Abhängigkeiten entstehen, durchaus geläufig. Im gerontopsychosozialen Kontext allerdings verschieben sich meines Erachtens die Ebenen. Zum einen, weil höchst erwachsene Personen (wieder) in die Situation geraten, dauerhaft Versorgung zu benötigen. Zum anderen entstehen in Pflegeeinrichtungen Konstellationen, in denen

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professionelle und emotionale Interaktionen in einer besonderen Intensität aufeinandertreffen. Der Aufenthalt in einem Pflegeheim ist für die Bewoh­ ner_innen keine vorübergehende Situation, sondern ein Lebensabschnitt, in dem sie sich (auch) mit dem Tod auseinandersetzen müssen – dadurch erlangt er besondere Bedeutung. Dieser Bedeutung Rechnung zu tragen, ist jedoch ein schwieriges Unterfangen, da andere existenzielle Bedürfnisse wie Pflege, Ernährung oder medizinische Versorgung ebenfalls abzudecken sind und daher mitunter prioritär behandelt werden. Der Umstand, dass Selbstbestimmung und psychisches Gleichgewicht demzufolge als Sekundärbedürfnisse angesehen werden, ist meines Erachtens problematisch, da er unberücksichtigt lässt, dass psychische und physische Prozesse einander wechselwirksam beeinflussen. Die Themen Abschied und Verlust sind in Pflegeheimen nicht nur für Klien­t_innen präsent. Es ist unumgänglich, dass sich auch Therapeut_innen – sowie alle anderen Mitarbeiter_innen der Einrichtung – mit dem Tod und damit auch mit der eigenen Endlichkeit auseinandersetzen. Die Arbeit mit alten und dementen Menschen war für mich in vielerlei Hinsicht ein Erkenntnisprozess. Meine Hypothese, dass Therapie auch dann psychotherapeutisch sein kann, wenn sie in begleitende Maßnahmen eingebettet ist, hat sich bestätigt. Dazu bedarf es der Offenheit für den Prozess, der Hellhörigkeit für das Implizite, aber Abwesende, der Bereitschaft zur Entschleunigung und einer besonderen Achtsamkeit im Hinblick auf die eigene Arbeitsfähigkeit. Für mich bedeutete dies: striktes Einhalten der Rahmenbedingungen des Settings, respektvolle Abschiede und die Entwicklung individueller Rituale beim Betreten und Verlassen eines Zimmers. Solche Rituale können dabei helfen, sich abzugrenzen, zu zentrieren und wieder offen zu sein für den nächsten Menschen. Selbst wenn das Sprachvermögen dementer Menschen abnimmt oder gar nicht mehr vorhanden ist, kann therapeutische Kommunikation stattfinden und dabei unterstützen, die verbleibenden Lebensaufgaben zu bewältigen. Zu diesen Aufgaben gehört nicht nur, in Frieden sterben zu können, sondern beispielsweise auch, fehlende Abschiede nachzuholen  – etwa vom letzten Zuhause – oder sich mit Unerledigtem zu befassen. Hier kann stellvertretend mit Symbolen, Zeichnungen und Fotos gearbeitet werden.

Wozu Psychotherapie im Pflegeheim? Landespflegeheime verfügen im Durchschnitt über drei Stationen, in denen jeweils etwa dreißig bis vierzig Personen leben. Sie sind zumeist in Doppelzimmern untergebracht, die sowohl für Paare, aber auch für einander fremde

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Personen gleichen Geschlechts vorgesehen sind. Wenn Bewohner_innen ein Einzelzimmer haben möchten, müssen sie für die Mehrkosten selbst aufkommen (etwa 3,00 Euro pro Tag). Den Bewohner_innen bleiben nach Abzug der Heimkosten 20 % ihrer Pension als sogenanntes »Taschengeld«. Davon müssen sie – oder ihre Sachwalter_innen – notwendige Anschaffungen wie Kleidung, Selbstbehalte bei medizinischen Leistungen und Sachleistungen, wie Hörgeräte, Stützkorsette, Sehhilfen usw. finanzieren. Den meisten Heimbewohner_innen bleibt daher nicht viel Geld übrig, über das sie tatsächlich frei verfügen können, in manchen Fällen handelt es sich lediglich um 10,00 Euro im Monat. In etwa zwei Dritteln der Fälle konnten sich die alten Menschen nicht auf den Umzug in ein Pflegeheim vorbereiten. Meist wurden sie aus ihrem vertrauten Umfeld »herausgerissen«, kamen nach einem Sturz, einer Oberschenkelhalsoperation oder aufgrund anderer schwerer Erkrankungen direkt vom Klinikum ins Heim, ohne noch einmal zu Hause gewesen zu sein. Die Pflegeeinrichtung dann als neues und letztes Zuhause akzeptieren zu lernen, erfordert eine enorm hohe Anpassungsleistung, die in den ersten Tagen und Wochen unmöglich erscheint. Deshalb wird eine psychosoziale Intensivbetreuung angeboten, um den Prozess zu erleichtern, den Schock zu verarbeiten und das mögliche Abgleiten in eine chronische Depression aufzufangen. Die psychosoziale Betreuung wird von »agenetwork« angeboten, einer Gesellschaft, die sich an entsprechende Institutionen wendet und mit Ausbildungskandidat_innen aus den Fachprofessionen Psychotherapie, Beratung und Psychologie zusammenarbeitet. Neu hinzugekommene Heimbewoh­ner_innen werden – auch gemeinsam mit ihren Angehörigen – zu einem Ge­ spräch eingeladen, in dem eine Erstbiografie erstellt wird. Die Intensivbetreuung in den ersten beiden Wochen beinhaltet sowohl beratende als auch psychotherapeutische Gespräche. Etwa 60–70 % der Klient_innen nehmen eine anschließende Therapie gern an. Psychotherapie kann jedoch nicht nur dabei unterstützen, dass alte Menschen einen besseren Umgang mit Verlusten, Ängsten und Erkrankungen finden, sondern auch in Konflikten zwischen Pflegepersonal, Angehörigen und Heimbewohner_innen hilfreich sein. Aufgrund der Belastung für alle Beteiligten kommt es hier nicht selten zu entwürdigenden und demütigenden Situationen. Wenn jedoch Wut, Angst, Scham oder Resignation unausgesprochen bleiben, entwickeln sich meist psychosomatische Phänomene. Die Sehnsucht nach Würde und Zuwendung ist ebenso Therapiethema wie Widerstand, Aussöhnung mit dem Unveränderbaren und Autonomie. Auch das Bedürfnis nach Mobilität und selbst ausgewählten Freizeitaktivitäten wurde von meinen Klient_innen häufig angesprochen. Selbst »gut gemeinter« und

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sanft ausgeübter Druck von Seiten des Personals oder der Angehörigen führt in diesem Zusammenhang meist zu Aggressionen. Mit dem Verlust physischer und kognitiver Fähigkeiten verringern sich zwar die umsetzbaren Möglichkeiten an Mobilität und Autonomie, nicht aber der Wunsch danach. Es ist also wichtig, alten oder dementen Personen ihre Selbständigkeit zum Beispiel beim Waschen, Essen oder bei WC-Gängen nicht voreilig abzuerkennen. Da alte und demente Personen zumeist nicht nur unter Verlusten leiden, sondern auch an altersbedingter Multimorbidität und einer erhöhten Vulnerabilität, ist es umso notwendiger, dass sie in ihrer Autonomie bestärkt werden. Dies kann durch psychotherapeutische Maßnahmen gelingen, die neben einer Steigerung der Lebensqualität und des Wohlbefindens auch dem Erhalt des Selbsthilfestatus förderlich sind und so gesehen dem Empfinden von Ohnmacht und Hilflosigkeit entgegenwirken. Meines Erachtens brauchen alte Menschen mehr Wertschätzung als Rücksichtnahme, mehr Respekt als Toleranz. Das Recht auf ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben ist schließlich keines, das bei Eintritt in eine bestimmte Altersstufe oder beim Auftreten spezieller Erkrankungen und Einschränkungen abzugeben ist. Literaturempfehlungen Feil, N. (1991). Validation. Ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen. Wien: Verlag Altern & Kultur. Frank, J. D. (1981). Die Heiler. Wirkungsweisen psychotherapeutischer Beeinflussung. Vom Schamanismus bis zu modernen Therapien. Stuttgart: Klett-Cotta. Gatterer, G., Croy, A. (2005). Leben mit Demenz. Praxisbezogener Ratgeber für Pflege und Betreuung. Wien: Springer. Gatterer, G. (2003, 2007). Multiprofessionelle Altenbetreuung. Ein praxisbezogenes Handbuch. Wien: Springer. Gatterer, G., Croy, A. (2000). Nimm dir Zeit für Oma und Opa. Geistig fit ins Alter, Gedächtnisübungen für ältere Menschen. Wien: Springer. Hett, T.-F. (2007). Positives Altern. Neue Perspektiven in Beratung und Therapie älterer Menschen. Bielefeld: transcript. Jacobsen, E. (1938). Progressive Relaxation. Chicago: University of Chicago Press. Jacobsen, E. (1990). Entspannung als Therapie: progressive Relaxation in Theorie und Praxis. Mit einem Vorwort von Hinderk Emrich und einem Beitrag von Richard Höfler zur Weiterentwicklung der »progressiven Relaxation« nach Jacobson. München: Pfeiffer. Metha, G., Rückert, K., Manfredini, I. (2002). Bindungen. Brüche. Übergänge. Beziehungen und ihre Veränderungen in unterschiedlichen Lebensphasen. Wien: Falter.

Lika Trinkl im Gespräch mit Ferdinand Wolf

Systemische Therapie und Kleinkinder – ein Widerspruch?

Wir Herausgeberinnen wollten das Thema »Psychotherapie mit Kleinkindern« unbedingt in dieses Buch aufnehmen und auch nicht davon abrücken, als sich abzeichnete, dass Ferdinand Wolf aus zeitlichen Gründen keinen Artikel »beisteuern« kann. So entstand die Idee, dass ich eines seiner Seminare besuche und einen Bericht darüber schreibe. Der folgende Beitrag ist also eine Zusammenstellung aus den Seminarinhalten und einem Online-Interview. Wolf legt dar, worauf in der psychotherapeutischen Arbeit mit Kleinkindern zu achten ist, und beleuchtet Kongruenzen und Widersprüche im Hinblick auf systemische Denkansätze.

Kommunikationsebenen Kinder sind Mitglieder von Problemsystemen, die von Erwachsenen definiert werden. Dies führt zunächst zu der Frage, wie Kleinkinder in den Fokus eines therapeutischen Auftrags geraten können, den sie selbst nicht formulieren. Dazu ist es nützlich, sich als Therapeut_in in die Rolle des Kindes hineinzuversetzen und nachzuforschen, was ihm hinsichtlich seiner Möglichkeiten zumutbar ist. Mit Zumutbarkeit ist hier nicht Belastbarkeit gemeint, sondern das Hinterfragen unserer Vorstellungen und Vorannahmen, welche Rolle ein Kind in den jeweiligen Problemsystemen einnimmt bzw. überhaupt einnehmen kann. Wichtig ist, zu erkennen, welche Ideen wir davon haben, was ein Kind beispielsweise wahrzunehmen vermag. Oder was wir glauben, dass das Kind zu denken oder körperlich zu leisten vermag. Unsere jeweiligen Vorannahmen spielen eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, dass Kleinkinder sinnvoll »integriert« und »gehört« werden können, und darum, die Erwartungen von Seiten der Überweiser_innen, der Eltern, des Kleinkindes, der Therapeut_innen an sich selbst – also aller am System Beteiligten – zu identifizieren. Zur Identifizierung der Erwartungen ist wiederum Kommunikation erforderlich.

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Bedeutsam an der Kommunikation mit Kleinkindern ist, dass sie sich größtenteils außersprachlich mitteilen. Sie drücken ihre Emotionen und Gedanken vorrangig über Bewegung aus. Informationen sind daher vor allem über Beobachtungen zu erhalten. Die Beobachtung der Sensomotorik gibt Aufschluss darüber, was das Kind »kann« und wofür es sich interessiert. Entscheidungen des Kindes bezüglich der Auswahl vorhandenen Materials teilen mit, welche eigenen (Lösungs-)Ideen es hat. Die Art und Weise, wie sich ein Kleinkind Objekten nähert, kommuniziert Interesse und den Grad an Bereitschaft, sich diversen »Aufgaben« zu stellen. Beobachtbar sind auf diese Weise auch das Erleben von Spannung, Ärger und Spaß sowie der Umgang mit anderen Kindern und Erwachsenen. Um diese Form der Verständigung möglichst paritätisch gestalten zu können, ist es sinnvoll, beispielsweise Bewegungsangebote zu machen anstatt Bewegungsaufforderungen zu formulieren, weil dadurch die Entscheidungen und Anliegen des Kindes und auch seine Erfahrungen von Selbstwirksamkeit erkennbar werden. Die Beobachtung von Kindern ist allerdings kaum von der Beobachtung ihrer Entwicklung bzw. ihres Entwicklungsstands zu trennen. Zwar gibt es keine »Normkinder«, dennoch existieren Richtwerte, bis zu oder ab welchem Lebensalter Kinder üblicherweise welche Entwicklungsstufe erreicht haben sollten. Hinsichtlich der Sprachentwicklung existieren ziemlich klare Richtlinien, die darüber Auskunft geben sollen, ob sich ein Kind adäquat entwickelt. Hier wird zwischen holistischem und analytischem Spracherwerb unterschieden, werden »Late Talker« als solche erkannt und ein altersgemäßer Wortschatz festgestellt. Dies birgt die Gefahr, dass Eltern und Pädagog_innen, aber auch Therapeut_innen zu sehr darauf achten, wie ein Kind spricht, und weniger darauf, was es mitteilen will. Es lässt sich annehmen, dass einerseits spezielle Zugangsweisen bzw. eine besondere Offenheit erforderlich ist, um eine Kommunikationsebene mit Kleinkindern herstellen zu können, andererseits nicht unbedingt ein »Expert_innenwissen« oder eine spezifische Ausbildung notwendig ist, weil Offenheit vermutlich nur bedingt gelehrt werden kann und ohnehin als Voraussetzung für Therapie mit Menschen aller Altersgruppen zu sehen ist. Lika Trinkl: Inwieweit ist die Unterscheidung Psychotherapie mit Kleinkindern von Psychotherapie mit Menschen anderer Altersgruppen wichtig? Wie würden Sie die Eignungskriterien für Psychotherapeut_innen, die mit Kleinkindern arbeiten wollen, beschreiben? Gibt es sie Ihrer Erfahrung nach? Ferdinand Wolf: Ich glaube, dass im Prinzip Therapie mit Kleinkindern den generellen Regeln der Therapie mit Menschen aller anderen Altersgruppen durchaus entspricht

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bzw. vergleichbar ist (siehe hierzu Wolf, 1999). Das wesentlichste Moment ist in einer genauen und disziplinierten Beobachtung unter Hintanstellung eigener Hypothesen der Therapeut_innen zu sehen (Anm. LT: In Anlehnung an Steve de Shazer: »Don’t think, but observe!«, vgl. de Shazer, 2009). Das heißt, es geht darum, zu erkunden, was das Kind in der gegebenen Situation tut, wem es sich wie zuwendet und in welcher Form es zu kommunizieren trachtet. Natürlich ist es vorteilhaft, Grundzüge der Entwicklungspsychologie (Entwicklung der Motorik, der Kognition, der Sprache) zu kennen. Trotzdem sollte immer auf die Einzigartigkeit der Ausdrucksformen des jeweiligen Kindes (ob durch Gestik, Mimik, Motorik und/oder Sprache) geachtet werden, um auch einen Zugang zu ihm fern aller Hypothesen, die sich aus einem direkten Vergleich mit den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie ergeben würden, zu finden. Das wesentliche Eignungskriterium für die Arbeit mit Kleinkindern ist meines Erachtens das erklärte Bedürfnis, auch mit dieser Klient_innengruppe arbeiten zu wollen. Natürlich sollte eine entsprechende Möglichkeit vorhanden sein, dieses Interesse zu erproben und entsprechende Erfahrungen sammeln zu können, um dann letztlich sicherzugehen, dass es der Bereich ist, dem man/frau sich mit all seiner/ihrer Energie widmen will. Wichtig ist, dass Therapeut_innen bereit sind, sich mit verschiedenen, auch außersprachlichen Kommunikationskanälen auseinanderzusetzen. Das heißt, dass Sprache oft weg vom Erwachsenenduktus hin zu kindorientierten, auf mehreren Ebenen laufenden Kommunikationsschienen gedacht und geformt werden muss.

Arbeit mit den Eltern Eine wesentliche Bedeutung in der Therapie mit Kleinkindern haben die Eltern. Sie sind oft in mehrerlei Hinsicht gestresst. Das Bewusstsein, für die Entwicklung des Kindes (mit-)verantwortlich zu sein, kann bei Verhaltens- oder Entwicklungsauffälligkeiten großen Druck erzeugen und zu Schuldgefühlen sowie Schuldzuweisungen führen. Erziehungsratgeber aller Art verleiten zu der Annahme, dass es sowohl richtiges als auch falsches Verhalten von Eltern und Kindern gibt. Die Angst, mit den Kindern »mitdiagnostiziert« zu werden, kann mitunter dazu führen, dass im Kontext der Therapie Eltern entweder selbst in einen Klient_innenstatus geraten oder aber die Kooperation gefährdet wird. Empfehlenswert ist hier vor allem Ermutigung. Wie Ermutigung gelingen kann, hängt davon ab, welche Haltungen wir als Therapeut_innen einnehmen (siehe hierzu u. a. Wolf, 1999 und Mahlberg u. Sjöblom, 2004). Hier scheint die systemische Haltung des Nichtwissens weniger

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anwendbar zu sein als die »positive Unterstellung«. Als hilfreich können in diesem Kontext die Arbeitshypothesen nach Insoo Kim Berg erachtet werden (Berg u. Steiner, 2003), die besagen, dass Eltern üblicherweise gern auf ihre Kinder stolz sein möchten, grundsätzlich einen positiven Einfluss auf sie haben und gute Neuigkeiten über ihre Kinder hören möchten, ihnen zu einer guten Basis für ein erfolgreiches Leben verhelfen wollen, die Zukunft ihrer Kinder gern hoffnungsvoll und besser als ihre eigene sehen möchten, dass sie eine liebevolle Beziehung zu ihren Kindern haben und gute Eltern sein wollen. Ähnliches gilt für die Vorannahmen im Hinblick auf Kinder und auf Pädago­g_innen. Als therapeutisches Vorgehen empfiehlt sich, nur manches zum ohnehin Bestehenden, Vorhandenen hinzuzufügen (siehe hierzu auch die unterschiedlichen Beiträge in Vogt, 2014). Lika Trinkl: Sie vergleichen in diesem Zusammenhang Therapie mit Eltern und Kindern mit den Ansätzen der Paartherapie. In Paartherapien werden Trennungen durchaus optional mitgedacht. Wie lässt sich eine raumgebende therapeutische Haltung trotz des Umstandes einnehmen, dass Kleinkinder ihre Familien und ihr Umfeld nicht freiwillig wählen? Oder anders gefragt: Wie ist Allparteilichkeit denkbar mit dem Wissen darum, dass Kleinkinder nicht gleichberechtigt sind? Ferdinand Wolf: Ich verwende das Wort Allparteilichkeit nicht mehr, weil ich denke, dass es ein Ideal darstellt, das in der therapeutischen Realität nicht wirklich erreicht werden kann. Ich spreche da in Anlehnung an den Heidelberger Psychologen und Mediationsexperten Reiner Bastine (vgl. Haynes, Bastine u. Mecke, 2002) lieber von »balancierter Parteilichkeit«, was bedeutet, dass es Phasen gibt, in denen ich unbedingt dem Kind und seinen Äußerungen Gewicht geben muss, damit es von den anderen involvierten Personen manchmal überhaupt erst in seiner Erlebnisrealität wahrgenommen wird. Dann ist allerdings auch den Äußerungen der Elternteile, die beispielsweise unter den Wut- und Schreianfällen eines Kleinkindes leiden, ebenfalls entsprechend Raum und damit Gewicht zu geben, um schließlich deren Versuche, diese Situation im Alltag zu bewältigen, kennenzulernen und allenfalls modifizierend auszubauen.

Ein Rollenspiel als Fallbeispiel Was einer Systemischen Haltung widersprechen könnte, wäre, dass es zunächst schwierig zu sein scheint, Kleinkinder als »Expert_innen« wahrzunehmen. Zum einen, weil sie in unserer Gesellschaft nicht als gleichberechtigte Personen

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anerkannt und behandelt werden, und zum anderen, weil die Auftraggebe­r_innen Eltern, Pädagog_innen oder Sozialarbeiter_innen sind, weil also viele Personen, Institutionen mitreden, wohingegen das Kleinkind der Sprache als Kommunikationsmittel nicht im gleichen Ausmaß mächtig ist. Anhand eines Fallbeispiels, das von den Teilnehmer_innen des Seminars eingebracht wurde, konnte dargestellt werden, wie Psychotherapie mit Kleinkindern stattfinden könnte. Im konkreten Fall handelte es sich um einen etwa dreijährigen Jungen, der im Kindergarten andere Kinder biss. Die Mutter eines »Opferkindes« hatte geäußert, dass er »psychiatrische Behandlung« brauche. Der Mutter des »bissigen« Buben wurde nahegelegt, Therapie in Anspruch zu nehmen. Im Setting des Rollenspiels traten also die Mutter, das Kind (beide Rollen wurden von erwachsenen Teilnehmer_innen »gespielt«) und der Therapeut (Ferdinand Wolf) auf. Rollenspiele sind in der Ausbildung zur systemischen Psychotherapeut_in eine gängige Form, um sich in die Gefühls- und Gedankenwelt der Klient_innen hineinversetzen zu können und zu erkennen, wie sich Äußerungen und Verhaltensweisen auf die anderen Personen und deren Reaktionen auswirken. In dieser »Inszenierung« nahm der Therapeut das Verhalten des Kindes, seine Bewegungen, das Verwenden von vorhandenem Material, Interaktionen und Zeitabläufe in den Blick. Damit wurde den Kommunikationsmitteln des Kleinkindes zumindest gleich viel Platz eingeräumt wie den verbalen Äußerungen der Mutter. Beeindruckend war, dass es gelungen ist, dem Anliegen der Mutter  – ihr Wunsch war, dass herausgefunden wird, dass ihr Kind »normal« ist – Raum zu geben. Sie wurde in ihren verbalen Beschreibungen und Erklärungen gestoppt, um selbst beobachten zu können, welche »Leistungen« ihr Kind in der gegenwärtigen Situation erbringt. Die Mutter wurde demnach als eine der Auftraggeber_innen in die Beobachtungsrolle »hereingeholt«, was dem Element lösungsfokussierter systemischer Betrachtung »Don’t think, observe!« (vgl. Steve de Shazer, 2009) entspricht. Ich gehe davon aus, dass die veranschaulichte Vorgehensweise beispielhaft für psychotherapeutisches Arbeiten mit Kleinkindern ist und Therapie mit ihnen vor allem dann zielführend ist, wenn eine – wie ich es wahrnehme – Verlangsamung bzw. Konzentration auf das Wesentliche stattfindet. Verlangsamung oder Entschleunigung war unter anderem dadurch spürbar, dass der Therapeut dem Kind viel Zeit gelassen hat, um eine »Aufgabe« in seinem Tempo und in Verbindung mit lustvollem Spielen und Experimentieren zu bewerkstelligen. Lika Trinkl: Entsprechen Sie damit dem Tempo, das von Kindergärten, Jugendämtern, Erziehungsberechtigten im Hinblick auf Lösungen erwartet wird? Führt eine Verlang-

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samung – wenn es denn eine ist – zu rascheren Lösungsergebnissen? Wie gehen Sie mit dem Faktor Zeit um? Ist Zeit für Sie überhaupt ein maßgeblicher Faktor im Rahmen Ihrer Arbeit? Ferdinand Wolf: Zeit ist für mich natürlich ein wesentlicher Faktor, und zwar in Anlehnung an das Zeiterleben des Kleinkindes. So ist davon auszugehen, dass eine therapeutische Konversation in Gegenwart eines Kleinkindes maximal dreißig Minuten dauern sollte, weil sonst das Kind vom Zeitrahmen her überfordert ist. Man braucht sich nur zu erinnern, wie lange für jeden von uns erlebensmäßig ein Schuljahr in der Volksschulzeit gedauert hat und wie kurz in unserem Erleben jetzt ein Arbeitsjahr dauert. Das Tempo, das die in der Frage angesprochenen Institutionen vorgeben, ist nicht am Kind, sondern an den beteiligten Erwachsenen gemessen. Daher ist es notwendig, auch in Entscheidungsprozessen (außer bei unmittelbarer Gefährdung) mehrere Beobachtungszeitpunkte einzuplanen, um einigermaßen brauchbare Einschätzungen hinsichtlich eines Therapieplans treffen zu können. Es geht mehr um eine begleitende Prozessanalyse, auch im systemischen Vorgehen, als um eine Akuteinschätzung, die von zu vielen Zufallsvariablen dominiert wird und damit kaum dem nahekommen kann, was dem Kind entspricht.

Vorstellungen und Werte Anzunehmen ist, dass förderliche Haltungen von Psychotherapeut_innen mit Wertigkeiten zu tun haben. Als Therapeut_innen lernen wir, unsere eigenen und die Werte anderer zu hinterfragen. Nun existieren aber entwicklungspsychologische und pädagogische Richtlinien, die Einfluss darauf haben, welche Kriterien wir für ein gesundes – um nicht zu sagen »normales« – Verhalten von Kindern und deren Entwicklung heranziehen. Der Umstand, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben, bedeutet zudem, dass Leistungstests zur kindergarten- oder schulpädagogischen Tagesordnung gehören. Sie geben jedoch lediglich Auskunft darüber, wie stressresistent ein Kind ist, und kaum darüber, welche Leistungen es zu bringen vermag. Ein weiterer, wesentlicher Aspekt ist, dass Ermunterung und Ermutigung geeigneter sind, ein Kind zu fördern, als Lob, das an Bedingungen geknüpft ist und dazu führt, dass ein Erfolg beurteilt wird und dadurch der Prozess einer Aktion aus dem Blick gerät. Lob produziert außerdem die Erwartung von Lob – somit ist nicht mehr die eigene Wahrnehmung oder Bewertung relevant, sondern die einer anderen Person. Als sehr ansprechend empfand ich in diesem Seminar diverse Vorschläge zur Verwendung von Bezeichnungen, die Wertungen implizieren können. So

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lässt sich zwischen »reizsuchenden« und »reizvermeidenden« Kindern unterscheiden, und es kann der Begriff »zuwendungsorientiert« anstelle von »distanzlos« gedacht und damit empfunden werden. Ebenso lässt sich besser von »anregungsarmen« statt »bildungsfernen« Familien sprechen. Lika Trinkl: Überträgt sich der Leistungsdruck, dem Eltern und Kinder ausgesetzt sind, auch auf Therapeut_innen? Wie kann darauf geachtet werden, Erwartungen an sich selbst und an die anderen nicht zu hoch anzusetzen um eine möglichst wertfreie bzw. nicht bewertende Therapiesituation zu schaffen? Ferdinand Wolf: Natürlich überträgt sich der Leistungsdruck auf Therapeut_innen, zumal Eltern oft mit dem Wunsch einer möglichst raschen »Reparatur« ihres Kindes zur Therapie kommen und aufgrund der »studierten« Expert_innenschaft der Therapeut_innen entsprechende Patentrezepte zur Beseitigung des präsentierten Problems erwarten. Die einzige Form, diesem Leistungsdruck entgegenzutreten, ist meines Erachtens die Entschleunigung des Geschehens in der Therapiesituation. Also dem Kind erst mal Raum für seine Erkundungsoperationen in der Akutsituation zu geben (Wie reagiert das Kind beim Eintritt in den Therapieraum? Was macht es mit dem vorhandenen Spiel- oder Aktionsangebot? Wie ist es in der Lage, sich von den Eltern zeitweilig zu lösen? etc.), um diese Prozesse sofort mit den Eltern zu reflektieren und eventuelle Unterschiede zu erwarteten oder bisher erlebten Situationen im Sinne einer Weiterentwicklung herauszuarbeiten. Ein wesentliches Moment zur Entschärfung der Situation kann die Betonung der bereits beobachtbaren Entwicklungsfortschritte sein. Diese Fortschritte können als Resultat elterlicher Bemühungen zur Förderung des Kindes erkannt werden, wobei auch festgehalten werden kann, was noch an Entwicklungsarbeit bevorsteht.

Rahmenbedingungen Sicherheit kann sich im Falle einer Psychotherapie mit Kleinkindern sowohl auf die Praxisräumlichkeiten beziehen als auch darauf, dass sich Kinder, Eltern und Therapeut_innen sicher fühlen können. Hinsichtlich des Sicherheitsgefühls der Therapeut_innen ist es hilfreich, über ein starkes Netz von Personen zu verfügen, an die gegebenenfalls verwiesen werden kann – beispielsweise bei rechtlichen, sozialarbeiterischen oder medizinischen Fragen. Als sicherheitsstiftend kann auch erachtet werden, dass Entscheidungen nicht richtig oder falsch sein, sondern nur getroffen werden können und müssen. Es nutzt wenig und hilft niemandem, hinsichtlich bereits getroffener Entscheidungen zu hadern.

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Zur Veranschaulichung diente den Teilnehmenden des Seminars ein Experiment: Sie sollten jeweils zu zweit einen Schreibstift in Händen halten und ohne zu kommunizieren gemeinsam auf einem Blatt Papier jeweils ein Haus, einen Baum und zuletzt einen Hund zeichnen. Abgesehen davon, dass bei dieser »Übung« viel gelacht wurde, ermöglichte sie die spürbare Erfahrung, dass wir – auch ohne darüber zu kommunizieren – ständig Entscheidungen treffen. In diesem Fall übernahmen die Teilnehmer_innen oder überließen einander jeweils die Führung, entschieden wahlweise, wie ein Hund auszusehen hat und in welche Richtung er schaut, ob der Baum ein Obst- oder vielleicht ein Nadelbaum ist usw. Lika Trinkl: Es ist mit dem Seminar gelungen, die Scheu vor dem Thema »Psychotherapie mit Kleinkindern« zu nehmen – jedenfalls was mich betrifft, wiewohl ich nach wie vor großen Respekt gegenüber diesem Tätigkeitsbereich habe. Ihr Seminar hat meine Freude am Ausprobieren und Tun geweckt. Vielleicht auch deshalb, weil für mich die Begeisterung wahrnehmbar war, mit der Sie über Kleinkinder, deren Umfeld und über die Therapie mit ihnen sprechen. Denken Sie, dass es mehr Psychotherapeut_innen geben sollte, die gern mit Kleinkindern arbeiten? Was könnte (angehende) Therapeut_innen dazu motivieren? Fällt Ihnen ein Satz ein, den Sie Psychotherapeut_innen auf den Weg mitgeben könnten? Ferdinand Wolf: Aus meiner Sicht ist es unumgänglich, dass sich künftig mehr Therapeut_innen mit der Therapie von Familien mit Kleinkindern befassen müssen, vor allem wenn man/frau sich die gesellschaftlichen und siedlungspolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte vor Augen führt. Wien hat beispielsweise aufgrund der Arbeitssituation in den strukturschwachen Gebieten Niederösterreichs, des Burgenlands und der Steiermark, aber auch aus Ländern, aus denen schon bisher ein hoher Migrant_innenanteil zu registrieren war (zum Beispiel Türkei, Serbien, Kroatien, Kosovo, Bosnien, Ungarn, Slowakei, Polen, Rumänien, Bulgarien, Ukraine, Tschetschenien, Afghanistan, Syrien, Ägypten, Nigeria, Bangladesch, Indien, etc.), einen enormen Zuzug an jungen Menschen bzw. Jungfamilien zu verzeichnen. Dieser ist oftmals durch einen Wegfall der bisherigen familiären Wurzeln gekennzeichnet und in vielen Fällen auch von existenziellen Nöten begleitet. Das ruft Problemsituationen hervor, die dann bei Kinderärzt_innen, im Kindergarten oder beim Jugendamt anfallen und in der Regel einer psychotherapeutischen Behandlung bedürfen. Dies vor allem auch eingedenk der Tatsache, dass viele dieser Kinder mit Eltern aus (Bürger-)Kriegsgebieten geflüchtet sind bzw. die Eltern aufgrund derartiger Erlebnisse unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden und diese sich oft im Rahmen des Erziehungsgeschehens – auch wenn die Kinder in Österreich geboren wurden – auf die Kinder übertragen können.

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Auch können im Zuge der Besiedelung von Neubaugebieten oder durch Veränderungen der Bevölkerungsstruktur in sogenannten »Gemeindebauten« in Großstädten Problemzonen (»soziale Brennpunkte«) entstehen, die oftmals dadurch charakterisiert sind, dass Kleinkinder als »Symptomträger« für massivere Konflikte in und zwischen Familien aufscheinen und so als Ansatzpunkt für therapeutische Vorgehensweisen und Interventionen zu begreifen sind. Wenn man bedenkt, wie dünn gesät Plätze für Therapien jeglicher Art mit Kleinkindern (ablesbar anhand der oft ungemein langen Wartezeiten in Ambulanzen oder Kliniken) sind, lässt sich erahnen, wie dringlich der Bedarf an qualifizierten Psychotherapeut_innen für die Arbeit mit Familien mit Kleinkindern in den Großstädten ist, von der Situation in ländlichen Gebieten ganz zu schweigen. Neben einer äußerst anregenden Tätigkeit im Erkunden vielfältigster und oft ungewohnt mehrdeutiger Ausdrucksformen von Kleinkindern könnte die Aktivierung kreativer nichtsprachlicher (rhythmisch-musikalischer, aber auch szenischer und grafischer) Elemente eine besondere Herausforderung abseits des Mainstreams psychotherapeutischer Vorgehensweisen darstellen. Zudem bietet das Thema von Bindung und Interaktion zwischen den Generationen im frühesten Entwicklungsalter einen besonderen, urwüchsig anmutenden, aber auch unerschöpflichen Fundus von Ausdrucksformen der menschlichen Daseinsbewältigung an, wie er sich sonst nur ansatzweise in Romanen oder Filmen finden lässt. Angehenden Psychotherapeut_innen – egal mit welcher Personengruppe sie sich beschäftigen werden – möchte ich einen Satz von Sokrates mitgeben: »Nicht das Hinfallen ist schlimm, sondern es ist schlimm, wenn man dort liegen bleibt, wo man hingefallen ist!«

Literatur Berg, I. K., Steiner, T. (2003). Children’s Solution Work. New York u. London: Norton & Comp. Haynes, J. M., Bastine, R., Link, G., Mecke, A. (2002). Scheidung ohne Verlierer. Mediation in der Praxis. München: Kösel. Mahlberg, K., Sjöblom, M. (2004). Solution Focused Education. Stockholm: Eigenverlag Mahlberg & Sjöblom. Shazer, S. de (2009). Don’t think, but observe! What is the importance of the work of Ludwig Wittgenstein for solution-focused brief therapy? Zugriff am 24.3.2015 unter http://www.sfbta.org/ bftc/steve&insoo_pdfs/dont_think_but_observe.pdf Vogt, M. (Hrsg.) (2014): WOWW in Aktion. Dortmund: Verlag Modernes Lernen. Wolf, F. (1999). Persönliche Betrachtungen zum Thema Haltungen und Interventionen in der lösungsorientierten Kurztherapie. Systeme, 13 (1), 15–23.

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Literaturempfehlungen Ayres, A. J. (2002). Bausteine der kindlichen Entwicklung. Störungen erkennen und verstehen. Ganzheitliche Frühförderung und Therapie. Praktische Hilfen für Eltern. Berlin u. a.: Springer. Berg, I. K. (1992). Familien-Zusammenhalt(en). Dortmund: Modernes Lernen. Brandl-Nebehay, A., Russinger, U. (1995). Systemische Ansätze im Jugendamt – Pfade zwischen Beratung, Hilfe und Kontrolle. Zeitschrift für systemische Therapie, 13 (2), 90–104. Bruner, J. (2002). Wie das Kind sprechen lernt. Bern: Huber. Molnar, A., Lindquist, B. (1990). Verhaltensprobleme in der Schule. Dortmund: Borgmann. Orban, R., Wiegel, G. (2009). Ein Pfirsich ist ein Apfel mit Teppich drauf. Systemisch Arbeiten im Kindergarten. Heidelberg: Carl-Auer. Tomm, K. (2009). Die Fragen des Beobachters. Schritte zur Kybernetik zweiter Ordnung in der systemischen Therapie (5. Aufl.). Heidelberg: Carl-Auer. Völkel, P. (2009). Fühlen, bewegen, sprechen und lernen. Meilensteine der Entwicklung bei Kleinstkindern. Troisdorf: Bildungsverlag EINS. Zimmer, R. (2005). Handbuch der Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer ganzheitlichen Bildung und Erziehung. Freiburg: Herder.

Regina Klambauer

Ich sehe was, was du nicht siehst … Systemische Psychotherapie mit sehbeeinträchtigten und blinden Personen

Seit vielen Jahren arbeite ich mit sehbehinderten und blinden Personen im Rahmen beruflicher Rehabilitation. Ich spreche im psychotherapeutischen Kontext lieber von Personen, weil dies mehr Individualität vermittelt als der Begriff »Menschen«. Personen verfügen über eine Geschichte, machen eigene Erfahrungen und haben Handlungsoptionen. Persönliche Geschichten erzählen etwas; menschliche sprechen allgemein Gültiges an. Psychotherapie liegt die Annahme zugrunde, dass es Personen möglich ist, »ihren individuellen Erfahrungs- und Lebensraum zu erweitern, dass wir über Wahlmöglichkeiten verfügen und diese auch bewusst nutzen können. Ohne diese Grundannahmen wäre jedes therapeutische Verfahren sinnlos« (Lassnig, 2009, S. 9). In meiner beruflichen Tätigkeit begegne ich Personen, die aufgrund ihrer Seheinschränkung oder Erblindung den erlernten, ursprünglichen Beruf nicht mehr ausüben können und neue Perspektiven entwickeln (müssen). Ich begleite sie in ihrem Orientierungsprozess und unterstütze sie darin, diesen Prozess als Option wahrnehmen zu können. In meinem beruflichen Umfeld ist es für mich »normal«, wenn jemand schlecht sieht, und ich empfinde das damit einhergehende, »normalerweise« als auffällig betrachtete Verhalten – wie beispielsweise nahes körperliches Herangehen, um etwas erkennen zu können – als adäquates Verhalten von Personen mit Seheinschränkungen. Das Besondere an sehbeeinträchtigten und blinden Personen ist für mich ihre Art der Wahrnehmung von Umwelten und ihre Konfrontation bzw. ihr Umgang mit gesellschaftlichen Barrieren und den daraus resultierenden Diskriminierungen. In der Begegnung mit Klient_innen ist Sprache der zentrale Faktor. Sehbeeinträchtigte und blinde Personen benötigen mehr Beschreibungen von der Umgebung oder von Ereignissen. Dadurch wird für mich wiederum Gewohntes und Selbstverständliches zum Besonderen. Ich bin aufgefordert, nicht nur die

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Beschaffenheit von Räumen oder Gegenständen zu erklären, sondern auch Nonverbales zu erläutern und durch das Aus- bzw. Ansprechen innerer Monologe das notwendige Maß an Transparenz und Vermittlung zu gewährleisten. Im Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit stehen aktuelle Handlungsoptionen sehbeeinträchtigter oder blinder Personen sowie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Leben dieser Personen erschweren oder einschränken. Es ist allerdings – wie auch bei allen anderen Klient_innen, die Psychotherapie in Anspruch nehmen – ebenso bedeutsam, in welcher Lebenssituation sie sich befinden, ob sie allein oder mit einer oder mehreren Personen zusammenleben, über welches Einkommen sie verfügen, ob sie migriert sind etc.

Dominante Diskurse Wir leben in einer Welt der Bilder. Wie wir diese Welt wahrnehmen, bestimmt vorwiegend das Sinnesorgan Auge. Wir sind es gewohnt, uns ein Bild von der Welt zu machen. Sehen ist der dominante Wahrnehmungskanal in unserer Kultur. Wir erhalten »mehr als 80 % der Umwelteindrücke durch das Sehen, den Gesichtssinn. Andere Sinneseindrücke werden dadurch zurückgedrängt […]. Durch das heutzutage übertriebene Gewichten des Gesehenen wird die Problematik des Nicht-Sehen-Könnens noch verstärkt« (Königsmayr, 2010, S. 3). Gesellschaftlich anerkannte Organisationen wie »Licht ins Dunkel« und »Licht für die Welt« (Homepages vgl. Literaturliste) legen sehenden Personen nahe, »Armen« und »Behinderten« Mitleid und Geld zu spenden. Nicht zu sehen, wird in dominanten Diskursen äußerst negativ bewertet. Was bedeutet es für Personen, deren Sehfunktion eingeschränkt oder nicht mehr vorhanden ist, in einer Gesellschaft zu leben, die sich vermehrt über Bilder und Symbole definiert, die über Bilder kommuniziert und in der das Sehen über einen extrem hohen Status verfügt? Es bedeutet oftmals Diskriminierung oder gar Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe. Der Grad der Ungleichbehandlung steigert sich mit dem Vorhandensein anderer Faktoren, die zu Ausgrenzungen führen können, wie zum Beispiel Migrationserfahrungen, niederes Bildungsniveau, psychische oder physische Beeinträchtigungen etc. Es macht auch einen wesentlichen Unterschied, ob es sich um sehbeeinträchtigte Frauen oder Männer handelt. Die Begriffe »Frauen« und »Männer« beinhalten Personen, die als solche in gesellschaftlich dominanten Diskursen

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bezeichnet werden bzw. sich selbst als solche definieren. Die Frauenforschung in der Behindertenpädagogik hat den Begriff der »doppelten Diskriminierung« bzw. »potenzierten Diskriminierung« geprägt. Frauen mit körperlichen Einschränkungen müssen als Frauen und als physisch beeinträchtigte Personen erfahren, dass sie hinsichtlich ihrer Ausbildungsmöglichkeiten, Erwerbstätigkeit und ihres Einkommens benachteiligt werden. Insofern werden auch blinde und hochgradig sehbeeinträchtigte Frauen mehrfach diskriminiert, nämlich sowohl im Vergleich zu sehenden Frauen und Männern als auch verglichen mit blinden und hochgradig sehbeeinträchtigten Männern. Frauen und Mädchen mit Beeinträchtigungen sind doppelt so oft von Gewalt betroffen wie nicht beeinträchtigte Frauen und Mädchen. Nicht erwünschte und fehlgeleitete Hilfestellungen – beispielsweise bei Straßenüberquerungen – gehören zur Erfahrung beinahe jeder blinden Frau. »Die Grenzen zu körperlichen Übergriffen sind dabei oft fließend« (Witt-Löw u. Breiter, 2005). Deshalb ist es wichtig, blinde Personen zuerst zu fragen, ob sie Hilfe benötigen – wenn ja, genügt etwa bei Straßenüberquerungen das Anbieten eines Armes.

Alltag ohne Bilder Sehbeeinträchtigte und blinde Personen sind mit einer Umgebung konfrontiert, die nicht auf ihre Bedürfnisse und die jeweiligen Erfordernisse abgestimmt ist. Bereits alltägliche Handlungen sind mit einem wesentlich höheren Aufwand verbunden, als dies für Sehende der Fall ist. Blindheit oder eine hochgradige Seheinschränkung erfordert bei der Verrichtung der meisten Tätigkeiten mehr Zeitaufwand und Konzentration. Sehenden ist meist nicht bewusst, wie selbstverständlich das Sehen Voraussetzung für viele Aufgaben ist. »Nicht nur der Verlust der optischen Wahrnehmung selbst führt zu einem Mangelerlebnis. Erblindung bedeutet den Verlust der Selbständigkeit, auch in elementarsten Bereichen und bei einfachsten Tätigkeiten. Es bedeutet, ständig auf Hilfe angewiesen zu sein, keine Orientierung und keinen Überblick mehr zu haben, die Kontrolle über sich und seine Umgebung zu verlieren« (Kuttner, 2010, S. 4). Jeder Tag beginnt damit, Frühstück zuzubereiten, Haushaltsgeräte zu bedienen, sich anzukleiden, die Morgentoilette zu verrichten etc. Selbständiges Essen, Kochen, Haushalts- und Körperpflege müssen jedoch bei geringem oder kaum vorhandenem Sehvermögen spezifisch erlernt werden. Die Umsetzung dieser erlernten lebenspraktischen Fertigkeiten erfordert allerdings viel Aufwand. Die

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Tages- und Lebensgestaltung bedarf aus diesem Grund ungleich mehr Energie, als dies bei Sehenden der Fall ist. Hochgradige Sehbeeinträchtigung oder Blindheit bedeutet auch den Verlust der Lese- und Schreibfähigkeit. Dies beeinträchtigt oder verhindert den Zugang zu vielen Informationen und beschränkt zwischenmenschliche Kommunikation. Hilfsmittel wie Lesegeräte, Computer mit Vergrößerungssoftware oder Sprachausgabe sind daher essenziell, um den Alltag ohne fremde Hilfe bewältigen zu können. Computer und Internet erleichtern also speziell blinden Personen den Kontakt mit der Außenwelt – vorausgesetzt, die notwendige Ausrüstung ist vorhanden und der Umgang damit wurde erlernt. Blinde Personen müssen sich zunächst einmal eine neue Schriftform – die Braille- oder Blindenschrift – aneignen. Das setzt einen gut funktionierenden Tastsinn, also im Wortsinn Fingerspitzengefühl voraus. Manche Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes mellitus können allerdings den Tastsinn beeinträchtigen. Personen, die davon betroffen sind, benötigen daher Sprachausgabeprogramme, um den Computer als Kommunikationsmittel nutzen zu können. Braillezeilen, Sprachausgaben und Vorleseprogramme ermöglichen blinden und hochgradig sehbeeinträchtigten Personen die Verwendung aktueller Kommunikationstechnologien. Telefonieren und die Kommunikation per SMS sind mit entsprechenden Hilfsmitteln ebenfalls möglich. Dies alles erfordert jedoch ein hohes Maß an Lernbereitschaft und entsprechende Mittel. Je stärker die Seheinschränkung ist, desto mehr Zeit müssen Betroffene aufwenden, um über die zuvor gewohnten, elementaren Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben verfügen zu können. Sobald sehbeeinträchtigte und blinde Personen ihre Wohnung verlassen, sind sie mit eingeschränkter Mobilität und erschwerten Orientierungsmöglichkeiten konfrontiert. Wege müssen erprobt werden, um sich eigenständig und vor allem sicher fortbewegen zu können. Im öffentlichen Raum unterwegs zu sein, die Inanspruchnahme von Verkehrsmitteln, das Erkennen von Hindernissen – all das erfordert viel Übung und die Bereitschaft, Neues zu lernen. Für Sehende unwesentliche Faktoren, wie beispielsweise nicht markierte erste und letzte Stufen, stellen hierbei massive Behinderungen dar. Um erwerbstätig sein zu können, müssen die genannten Grundlagen, wie lebenspraktische Fertigkeiten, Orientierung, Mobilität und Kommunikationsfähigkeit bereits gut umsetzbar sein. Eine eklatantere Schwierigkeit stellen jedoch diesbezüglich existierende Vorurteile dar. Die Auffassung, dass blinde Personen nicht dazu in der Lage sind, vollwertig am ersten Arbeitsmarkt tätig zu sein, Vorstellungen (Bilder) davon, dass sie etwa als Korbflechter_innen oder Bürstenbinder_innen in geschützten Einrichtungen arbeiten könnten,

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sowie Vorurteile hinsichtlich ihrer besonderen Begabungen – hohe Sensibilität oder Musikalität – sind weit verbreitet. Berührungsängste führen dazu, dass in Restaurants oder auf Ämtern Sehende meist nur mit den Begleitpersonen kommunizieren. Sehbeeinträchtigte Personen müssen demnach eine enorme Anpassungsleistung erbringen, um in der Welt der sehenden Menschen bestehen und sich behaupten zu können. Durch maximale Kompensation und Konzentration beschaffen sich Personen mit Seheinschränkungen die nötigen Informationen, um sich entsprechend verhalten zu können. Für diese Leistung erhalten sie jedoch üblicherweise wenig Anerkennung, da sie von sehenden Personen kaum bemerkt wird. Ein beginnender Verlust des Sehvermögens wird daher oft lange Zeit überspielt und verheimlicht. Betroffene Personen verleugnen ihre Beeinträchtigungen meist so lange, bis eine erhebliche Einschränkung der Sehkraft eingetreten ist, was die notwendigen Umstellungsmaßnahmen erschwert.

Psychotherapie für sehbeeinträchtigte und blinde Personen Bereits nach der erstmaligen Diagnostizierung einer Seheinschränkung kann therapeutische Begleitung stabilisierend wirksam sein. In dieser Phase – und darüber hinaus – ist es wesentlich, Bewältigungsstrategien im Umgang mit der neuen Lebenssituation zu entwickeln. Psychotherapie mit sehbeeinträchtigten und blinden Personen besteht einerseits in der fortwährenden Erarbeitung der Akzeptanz einer Einschränkung und andererseits in der Bündelung der Kräfte und der Konzentration auf Veränderungen, die trotzdem (noch) möglich sind. Erzählungen des Leids, der Diskriminierungen und des mühevollen Alltags sollten ebenso Platz finden wie die Suche nach neuen Erzählweisen, die eine selbstbestimmte Lebensgestaltung begünstigen. Sehbeeinträchtigte oder blinde Personen, die Psychotherapie aufsuchen, erleben sich oftmals als defizitär und wenig wertvoll. Sie fallen auf, ecken an und passen nicht so recht in die sehende Welt. Die Sehnsucht nach »Normalität« ist groß. Oftmals äußern Klient_innen den nachvollziehbaren Wunsch, wieder sehen zu können. Medizinische Versprechungen tragen wesentlich dazu bei, dass sehbeeinträchtigte und blinde Personen auf Heilung hoffen und in Behandlungen und Operationen investieren, deren Ausgang ungewiss ist. Hier gilt es, einen therapeutischen Rahmen zu bieten, in welchem Vor- und Nachteile von geplanten medizinischen Eingriffen absichtslos abgewogen werden können.

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Sehbeeinträchtigung und Blindheit werden unterschiedlich erlebt und unterliegen täglichen Schwankungen. Es ist daher förderlich, im Hier und Jetzt zu bleiben, die Person in ihren Entscheidungen zu stärken und Situationen zu schaffen, in denen hinderliche Annahmen über sich selbst infrage gestellt werden können. Alternative Erzählungen entwickeln sich manchmal daraus, dass sehbeeinträchtigte und blinde Personen akzeptieren, dass »es ist, was es ist«, und sich in der Folge vermehrt darauf konzentrieren, wie sie sich dazu verhalten (können). Dekonstruktionen helfen dabei, gewohnte Denkweisen aufzugeben und andere Perspektiven einzunehmen. Ebenso wesentlich ist jedoch die fortwährende Anerkennung und Hervorhebung der aufwändigen Alltagsbewältigung. In der therapeutischen Praxis hat sich das Element Schreiben als gut anwendbare Methode erwiesen (vgl. Klambauer, 2014; White, 2010). Hierbei handelt es sich sowohl um die Verschriftlichung von Fragen und Problemstellungen als auch um die Nutzung literarischer Genres. Die Arbeit mit Texten ist als »Tool« zu verstehen, dessen Einsatz zu neuen Betrachtungsweisen führen kann.

Worte finden Herr M. – ein zwanzigjähriger, erblindeter Mann – befürchtete, das bevorstehende Wochenende ausschließlich in seinem Zimmer zu verbringen. Er empfand sich als nicht ausreichend mobil, um selbständig etwas unternehmen zu können. Auf meinen Vorschlag hin notierte er, was schlimmsten- bzw. bestenfalls eintreten könnte. Dann verfasste Herr M. einen Text, in dem er in aller Ausführlichkeit ein besonders unerfreuliches Wochenende beschrieb. In der darauffolgenden Therapiesitzung konnte er den »Befürchtungstext« heranziehen, um darüber zu reflektieren, welche Annahmen tatsächlich eingetroffen waren und was anders verlaufen war. Dies versetzte ihn in die Lage, zu erkennen, was ihm wodurch gelingt. Im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Thema »Wochenendgestaltung« entwickelte Herr M. individuelle Strategien, die ihm schließlich ermöglichten, selbständig und ohne Begleitung mit dem Taxi in ein Lokal zu fahren und – wie sehende junge Männer auch – einen Abend bei Musik und mit anderen Leuten zu verbringen.

Die Arbeit mit Texten und literarischen Genres eignet sich auch dafür, Am­bi­ va­lenzen erkennbar zu machen. Herr L., ein blinder junger Mann, thematisierte in der Therapie sein »Verhältnis zum Rauchen«. Er hatte mit dem Wegfall der elterlichen Kontrolle zu rauchen begonnen. Einerseits fand er es »cool«, Zigaretten zu rauchen, andererseits wollte er die (noch

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Regina Klambauer

neue) Eigenverantwortlichkeit nutzen, um sich intensiv mit den Folgen und Auswirkungen seines Tuns auseinanderzusetzen. In einem von ihm verfassten, ersten Text markierte er zunächst die Stellen, die vermutliche Gründe für das Rauchen aufzeigten. Durch diesen Vorgang kristallisierte sich heraus, dass »Rauchen« dem Bedürfnis nach entspanntem und selbstsicherem Auftreten entspricht. In einem zweiten Text gelang es Herrn L. zu formulieren, welche Aspekte ihm hinsichtlich seines Selbstbewusstseins wichtig sind. Unter dem Titel »Meine Gedanken zum Thema ›Lockerheit‹« entstand ein Vierzeiler. Durch die Textreduktion konnten die Kerngedanken zum Vorschein kommen: »Ich bin am lockersten, wenn ich in einer Gesellschaftsgruppe sitze, in der ich mich wohl fühle. Angespannt bin ich, wenn ich mit einer Frau zusammen bin, die mir gefällt. Dann weiß ich oft nicht, was ich ihr erzählen soll. Am lockersten bin ich, wenn ich in einer Gesellschaftsgruppe sitze, in der ich mich wohlfühle.« Die so entstandene »Essenz« ermöglichte therapeutische Gespräche über Blindheit, über das Thema »soziale Kontakte« und den Wunsch nach einer sexuellen Beziehung. »Normale« Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen konnten der besonderen Thematik »Blindsein« gegenübergestellt werden. So ließen sich Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausarbeiten, die Herrn L. neue Denk- und Handlungsspielräume eröffneten.

Sehbeeinträchtigte und blinde Personen müssen für die Alltagsbewältigung und im Hinblick auf gesellschaftliche Akzeptanz ein hohes Maß an Motivation, Geduld und Leistungsfähigkeit aufbringen. Dementsprechend hoch ist die Gefahr, dass sie an sich zweifeln und in Krisen geraten, vor allem deshalb, weil sie für diesen Aufwand wenig oder gar keine Anerkennung erhalten. Psychotherapie kann in diesem Kontext als Option verstanden werden, die Begrifflichkeit Behinderung dahingehend zu dekonstruieren, dass sie nicht ausschließlich als individueller Makel zu erachten ist, mit dem einzelne Personen behaftet sind, sondern die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass Personen aufgrund von Normierungen behindert werden. Psychische bzw. individuelle Problematiken sind meines Erachtens niemals losgelöst von gesellschaftlichen Konstrukten zu betrachten. Demgemäß findet psychotherapeutisches Handeln nicht in wertfreien, unpolitischen Räumen statt. »Außerdem sollten wir nicht dem Glauben erliegen, Therapie habe nichts mit sozialer Kontrolle zu tun, sondern eher davon ausgehen, dass dies

Ich sehe was, was du nicht siehst …

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sehr wohl immer der Fall gewesen sein könnte. Das würde uns ermöglichen, unsere Arbeit daraufhin zu befragen, ob und wie weit sie mit sozialer Kontrolle zu tun hat. […] Die Externalisierung von Problemen […] hilft Menschen, die beschriebenen Spielarten des einheitlichen Wissens und der sie beherrschenden ›Wahrheiten‹ zu erkennen und sich davon zu lösen. […] Die Unterwerfung unter die besagten ›Wahrheiten‹ bezeugt sich in der Regel in einem Gefühl des Unvermögens gegenüber bestimmten Erwartungen, Spezifizierungen und Normen« (White u. Epston, 1998, S. 47). Psychotherapie mit sehbeeinträchtigten und blinden Personen setzt meiner Erfahrung nach voraus, dass sogenannte innerpsychische Thematiken nicht isoliert als solche behandelt, sondern in den Kontext eines gesellschaftlichen Diskurses gestellt werden müssen. Ich denke nicht, dass dazu spezielle Zusatzausbildungen – die dem aktuellen Trend entsprechen und »störungsspezifisches« Wissen vermitteln sollen – vonnöten sind. Vielmehr mache ich die Erfahrung, dass therapeutische Wege, die abseits einer ICD-10-Diagnostik und gesellschaftlicher Normierungen gegangen werden, zwar sehr herausfordernd und immer wieder experimentell sind, Klient_innen und mir als Therapeutin jedoch den erforderlichen (Spiel-)Raum geben, um Veränderungen zu bewirken, die der Idee einer Salutogenese entsprechen. Literatur Foucault, M. (1991). Sexualität und Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Klambauer, R. (2014). »Schreiben ist wie reden, nur langsamer …« Narrative Therapie und therapeutisches Schreiben inklusive der Arbeit mit Texten. Systemische Notizen 01/2014, 10–21. Königsmayr, G. (2010): Die Individualität des funktionalen Sehvermögens. Wie können sehbehinderte Menschen ihre Umwelt wahrnehmen? Unveröffentlichte Projektarbeit. Kuttner, E. M. (2010). Der Bereich der Lebenspraktischen Fertigkeiten (LPF) in der Sozialen Rehabilitation blinder und sehbehinderter Menschen im RISS (Rehabilitation und Integration für späterblindete und sehbehinderte Personen) – als Grundstein für den Erwerb sozialer Kompetenz. Unveröffentlichte Projektarbeit. Lassnig, B. (2009). Das erforschte Gehirn – eine neue Landkarte? Systemische Notizen 02/2009, 6–12. »Licht ins Dunkel« – Caritativer Verein für soziale-, körper- und geistig behinderte Mitmenschen. Zugriff am 24.3.2015 unter http://lichtinsdunkel.orf.at »Licht für die Welt« – Christoffel Entwicklungszusammenarbeit. Zugriff am 24.3.2015 unter www. lichtfuerdiewelt.at White, M. (2010). Landkarten narrativer Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. White, M., Epston, D. (1998). Die Zähmung der Monster. Heidelberg: Carl-Auer. Witt-Löw, K., Breiter, M. (2005). »Nicht Mitleid, sondern faire Chancen!« Perspektiva – Erkundungsstudie zur Lebens- und Berufssituation blinder und hochgradig sehbehinderter Frauen in Wien. Wien u. Mülheim/Ruhr: Guthmann-Peterson.

Johannes Schneller

»Bitte nicht helfen – es ist auch so schon schwer genug«1 Das Auftragsdilemma zwischen Betreuung, Beratung und Psychotherapie

»Systemische Betreuung, Beratung und Therapie mit einfach strukturierten Menschen« – so ließe sich zusammenfassen, was seit mehreren Jahren meinen Arbeitsalltag ausmacht. Die Problematik dieser Zusammenfassung bzw. die Schwierigkeit, die sich überschneidenden Bereiche meiner Tätigkeit auseinanderzuhalten, beschäftigt mich schon lange. Das Thema lag also in der Luft, schwebte sozusagen über mir in den Jahren meiner psychotherapeutischen Ausbildung und während meiner beginnenden beruflichen Tätigkeit als Psychotherapeut. Es musste nur noch eingefangen und in Worte gefasst werden. In diesem Beitrag möchte ich anhand eines Fallbeispiels beschreiben, wie sich unterschiedliche, psychosoziale Aufgaben im Kontakt mit Menschen im Rahmen des Teilbetreuten Wohnens ergänzen bzw. aneinander reiben und worauf dabei aus systemischer Sicht zu achten ist. Ich beziehe mich in meiner Darstellung auf meine Erfahrungen als systemischer Psychotherapeut in einer Institution, die es sich zum Auftrag macht, Personen mit psychosozialen Beeinträchtigungen und/oder Behinderungen in ihrem Lebensalltag zu begleiten.

Teilbetreutes Wohnen In diesem Betreuungsmodell leben Menschen mit Beeinträchtigungen selbständig in eigenen Wohnungen oder Wohngemeinschaften, die von Trägerorganisationen zur Verfügung gestellt werden. Je nach Bedarf werden die Bewohner und Bewohnerinnen dabei im Rahmen eines individuellen Betreuungskonzepts in der Alltagsbewältigung unterstützt. Jeder Klient und jede Klientin hat eine fixe Betreuungsperson als Ansprechperson und bekommt die Unterstützung, die sie benötigt, um ein möglichst selbstbestimmtes und selbständiges Leben zu führen. 1

(Hargens, 2000).

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Der Fonds Soziales Wien (vgl. Website), im Folgenden FSW genannt, ist über den Trägerverein Fördergeber der im Fallbeispiel genannten Lebens- und Bedarfsgemeinschaft. Die Betreuungsinhalte werden vom Trägerverein in seinem pädagogischen Rahmenkonzept (vgl. 2002, 2005) wie folgt ausgeführt: ȤȤ Regelung finanzieller Angelegenheiten, Kontakte zu Behörden, Ämtern, Institutionen und Sachwaltern, ȤȤ Arbeit und Tagesstruktur, ȤȤ Wohnungsbelange, ȤȤ Ausbau der sozialen Kompetenz, ȤȤ Freizeitgestaltung, ȤȤ gesundheitliche Belange und ȤȤ die Begleitung bei Krisen. Unter Krisenmanagement wird vom FSW das Organisieren von zusätzlichen Ressourcen verstanden, worunter auch Psychotherapie fallen kann. Ist der Betreuer gleichzeitig Psychotherapeut, fließen immer wieder auch therapeutische Perspektiven und Herangehensweisen in die professionelle Beziehung mit ein, auch wenn es sich dabei nicht um eine Psychotherapie im engeren Sinn handelt.

Zur Auftragslage Wenn ich meine Betreuungstätigkeit mit psychotherapeutischen Perspektiven und Herangehensweisen verbinde, so sind gemäß österreichischem Psychotherapiegesetz unter anderem folgende Berufspflichten zu beachten: Der Klient und die Klientin müssen in die Psychotherapie einwilligen (also auch darüber informiert sein, dass sie gerade stattfindet), und die vorgeschriebene Pflicht zur Verschwiegenheit muss bezüglich aller während des psychotherapeutischen Tuns entstandenen Geheimnisse gewahrt bleiben (Bundesgesetz über die Ausübung der Psychotherapie, 1990, § 14.3 u. 15). Bei meiner Aufgabe handelt es sich um eine Mischung aus unterschiedlichen sozialarbeiterischen Handlungsweisen (zum Beispiel Betreuung, Vertretung, Intervention, Vermittlung, Beratung, Beschaffung), in denen Psychotherapeutisches nur phasenweise Platz bekommen kann bzw. darf. Die gegebene Auftragslage steht zuweilen im Widerspruch zu einer Rolle als Psychotherapeut, worauf ich in jedem einzelnen Fall gut achten muss. Außerdem kann ich mein Tun den Klient_innen gegenüber oft nicht als eigentlich »psychotherapeutisch« bezeichnen, weil es auch nicht meine Haupt-

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aufgabe in der Institution darstellt. Die Klient_innen wissen aber, dass ich Psychotherapeut bin und dass »Psychotherapeutisches« manchmal in unsere Gespräche einfließen kann. Trotzdem möchte ich im Folgenden zeigen, dass eine Haltung und Herangehensweise, die durch Leitgedanken der systemischen Psychotherapie begleitet wird, in der Rolle des Betreuers für einfach strukturierte Menschen im Teilbetreuten Wohnen sehr hilfreich sein kann. Die durch das Psychotherapiegesetz vorgeschriebenen Rahmenbedingungen müssen dabei natürlich beachtet werden.

»Meine Menschen« Die von mir betreuten und begleiteten Personen kommen aus unterschiedlichsten Kontexten: aus dem vollbetreuten Wohnen, obdachlos auf der Straße lebend, auf Vermittlung von Sachwaltern oder aus dem Elternhaus, weil es Zeit ist, auszuziehen. Allen gemeinsam ist, dass sie im Rahmen der Behindertenhilfe des FSW eine sogenannte Bewilligung bekommen. Alle leben demnach mit dem gesellschaftlichen Konstrukt der Behinderung, des Behindert-Seins. Das jeweilige Lebensalter reicht von 26 bis 62, sie leben allein oder in Beziehung. Meine Klient_innen wohnen in Gemeindewohnungen und haben individuell gestaltete Betreuungsvereinbarungen. Die Elemente der Betreuung reichen von lebenspraktischen Fragen der Haushaltsführung über Kriseninterventionen bis hin zu Lebensberatung mit Elementen einer therapeutischen Behandlung. Meine Klient_innen verstehen sich größtenteils selbst nicht als behindert oder als beeinträchtigt im Sinne der gesellschaftlichen Konstruktion, obwohl ihnen der Fördergeber FSW die Unterstützung im Rahmen der Behindertenhilfe zugesteht. Behindert sein wird ihnen von der Gesellschaft zugeschrieben, während für sie selbst das höchste Ziel ist, möglichst normal zu sein. Der Begriff und das Konstrukt »Behinderung« wird daher absurderweise am meisten bei amtlichen Begutachtungen durch das Bundessozialamt, die Pflegegeldfeststellung und ähnlichem verwendet, im Sinn von, jetzt ist es wichtig, sehr behindert zu wirken, damit die finanzielle Unterstützung weiterhin gewährt wird.

Zum Begriff »einfach strukturierte Menschen« Diese Bezeichnung wird hier als Hilfskonstrukt verwendet, um den meist diskriminierend empfundenen Begriff »Behinderung« zu vermeiden. Um ihn mit Inhalt zu füllen, habe ich circa sechzig Studierende im ersten Semester des

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Psychotherapeutischen Propädeutikums (das ist in Österreich der zwei Jahre dauernde erste Teil der Psychotherapieausbildung) im Rahmen eines Workshops gebeten, folgende Fragen zu beantworten: ȤȤ Wie schauen mögliche Lebenswelten eines einfach strukturierten Menschen in Bezug auf Wohnung, Berufsausbildung, Beziehungen, Freundschaften und soziale Netzwerke aus? ȤȤ Welche Ressourcen und Fähigkeiten sind vorhanden? ȤȤ Welches Weltbild könnte es geben, politisch, gesellschaftlich und religiös? ȤȤ Gibt es eine spezifische Einstellung zu Beratung und Psychotherapie? Nach einer ausführlichen Diskussion der Fragestellungen in Kleingruppen wurden die Ergebnisse präsentiert. Aus den Annahmen und Beobachtungen der Studierenden kann sich zwar keine eindeutige Definition ergeben, da es sich bloß um subjektive Bilder und Klischees handelt, es lassen sich aber doch einige typologische Zuschreibungen festhalten. Generell wurde festgestellt, dass es einfach strukturierte Menschen in allen sozialen Schichten geben kann, sie wahrscheinlich aber eher in den unteren anzutreffen sind. Der einfach strukturierte Mensch scheint in beengten Wohnverhältnissen zu leben, er hat kaum oder keine Berufsausbildung, möglicherweise keinen Schulabschluss. Es gibt wenig Drang nach Veränderung, gewohnte Verhältnisse schaffen Sicherheit. Als Ressource wird eine einfache, genügsame Lebensweise betrachtet. Wichtig ist die Verwurzelung im sozialen Umfeld, die Beziehungen werden in der unmittelbaren räumlichen und sozialen Umgebung gelebt. Ein mögliches Weltbild ist aus der Sicht der Studierenden geprägt von Schwarz-Weiß-Denken, Misstrauen gegenüber Fremdem, wenig Toleranz und Offenheit. Die Annahme ist, dass Psychotherapie selten in Anspruch genommen wird und mit Vorurteilen behaftet ist, was mit sich bringen würde, dass diese Ressource einfach strukturierten Menschen weniger leicht zugänglich ist.

Leitgedanken für die Psychotherapie mit »einfach strukturierten Menschen« Die Arbeit im Teilbetreuten Wohnen erfordert ein permanentes Wechseln zwischen den Tätigkeitsbereichen der Anleitung, Beratung, Begleitung und Therapie (vgl. Ludewig, 2005, S. 114 ff.). Im Zuge meiner Arbeit mit dieser Gruppe von Klient_innen sind mir folgende systemisch orientierte Leitgedanken wichtig geworden, auf denen meine therapeutische Haltung basiert und die mir

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im Zugang zu einfach strukturieren Menschen auch dann helfen, wenn ich ihnen in einer Rollenmischung begegnen muss. Selbstwert und Selbstvertrauen In ihrem Buch »Selbstwert und Kommunikation« verwendet Virginia Satir (1975) das Bild des »Potts« (Topfes). Um die momentane Größe des eigenen Selbstwertes zu beschreiben, wird der Topf eher leer oder eher voll genannt. Dieser Pott muss aber gehegt und versorgt werden, denn sonst ist er eines Tages leer, und der Selbstwert liegt darnieder (vgl. Satir, 1975, S. 29 ff.). Ich denke, einfach strukturierte Menschen, die sich in Psychotherapie wagen, leiden oft unter jahrelanger, wenn nicht sogar lebenslanger Leere ihres Selbstwertpotts. Ein wesentlicher Inhalt therapeutischer Interventionen wird aus systemischer Sicht daher immer sein, den Selbstwerttopf zu befüllen. Ressourcenorientierung und Ressourcenaktivierung Klaus Grawe beschreibt fünf Wirkfaktoren der Psychotherapie, nämlich die therapeutische Beziehung, die Problemaktualisierung und -bewältigung, die motivationale Klärung und die Ressourcenaktivierung (vgl. Grawe, 2005, S. 4 ff.). Unter Ressourcenaktivierung versteht Grawe die Förderung der Eigenarten, die Klient_innen in die Therapie mitbringen; diese werden als positive Ressource für das therapeutische Vorgehen genutzt und betreffen Sehnsüchte, Ziele, Bereitschaften, Fähigkeiten und Interessen der Personen. Im Zusammenhang mit der Steigerung des Selbstwertes ist es aus systemischer Sicht wichtig, sich mit den Klient_innen auf die Suche nach ihren eigenen Fähigkeiten, Stärken und Handlungsmöglichkeiten zu machen. Sie sind die Expert_innen für ihr eigenes Leben und entwickeln selbst die passenden Tools für ihre Lebenssituation. Therapeutische Beziehung Die Qualität der Beziehung zwischen Psychotherapeut und Klient_in trägt signifikant zu einem besseren oder schlechteren Therapieergebnis bei, meint Grawe (2005). Bei einfach strukturierten Menschen muss der Wirkfaktor der therapeutischen Beziehung noch stärker eingeschätzt werden. Oft sind Sprache und sprachlicher Ausdruck Hemmnisse, und in Verbindung mit vorurteilshaften Vorbehalten gegenüber (vermutet) besser gestellten und studierten »Psychos« macht dies den Zugang zu Psychotherapie nicht leicht. Dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung ist daher oberste Priorität zu geben. Dazu gehören

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auch Achtsamkeit in der Wortwahl und das Bemühen um eine Passung von Satzbau und Sprachstruktur. Das Konstrukt des Konstruktivismus Ich habe im Laufe der Ausbildung meine eigene konstruktivistische Wende erlebt, mich unter großen Mühen von einer absoluten Wirklichkeit verabschiedet und als Gegenleistung eine Befreiung des Denkens erlebt. Nun muss ich nicht mehr zwischen normal und verrückt unterscheiden und kann in meinem professionellen Tun die Verantwortung in die Hände meiner Klient_innen legen, die manchmal in einer ganz anderen Wirklichkeit leben und handeln als ich. Einfach strukturierte Menschen neigen zu klar geordneten Denkmustern, oft wird dies als Schwarz-Weiß-Sicht oder Entweder-oder-Denken bezeichnet. Perspektiven einer Sowohl-als auch-Sicht oder abgestufter Grautöne zwischen den Schwarz–Weiß-Extremen zu entwickeln, ist für manche Menschen eine große Herausforderung und ein Entwicklungsschritt. Erst mit einem gestärkten Selbstwert und dem sicheren Gefühl für das Vorhandensein eigener Ressourcen ist es möglich, andere Konstruktionen von Wirklichkeit zuzulassen. Aus systemischer Sicht ist es jedenfalls nicht sinnvoll, andere Menschen direkt und vor allem gegen ihren Willen beeinflussen zu wollen. Lösungsorientierte Haltung Problemtrance, nicht mehr weiterwissen, festgefahren sein, Ohnmachtsgefühle, ausgeliefert und abhängig sein – all das ist auch einfach strukturierten Menschen bestens bekannt. Ständiges Wiederholen und Aufzählen von Problemsituationen und -beschreibungen­­, auch seitens der professionellen Helfer_innen, verstärkt oft die Hoffnungs- und Aussichtslosigkeit und verstellt den Blick auf Veränderungsmöglichkeiten. Durch eine lösungsorientierte Haltung, die neben allem Problematischen auch das bemerkt, was trotzdem gut läuft, gelingt es, zu erforschen, wie es besser oder anders gehen kann. Veränderung passiert auch in komplexen Situationen durch kleine Unterschiede, die es zu finden und zu würdigen gilt. Für einfach strukturierte Menschen können Perspektiven und Anregungen, die aus der lösungsorientierten Richtung der systemischen Therapie stammen, sehr hilfreich sein, diese ermöglichen es, ohne viel nachdenken und besprechen zu müssen, einen anderen Blickwinkel auf sich und die eigenen Möglichkeiten einzunehmen. Solche Anregungen überfordern nicht, sondern fördern das, was bereits (be)greifbar ist. Der außerirdische Protagonist Alf der 1980er-Fernsehserie ALF hat einmal in einer Folge gemeint, »was sich

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nicht reparieren lässt, ist auch nicht kaputt«. Obwohl diese Haltung nicht als eine systemische deklariert werden kann, muss ich doch zugeben, dass sie mich in meiner Arbeit manchmal dabei unterstützt, Unveränderliches besser akzeptieren zu können. Die systemischen Leitgedanken eröffnen mir in der Arbeit mit meinen Klient_innen ein weites Handlungsfeld, sowohl in meinen eher sozialarbeiterischen oder sozialpädagogischen Funktionen als auch in der Rolle als Psychotherapeut, die ich in einzelnen Phasen als Ressource in die Betreuung einbringe. Sie sind für mich die Basis, auf der Selbstwert gedeihen und das Entdecken von Ressourcen stattfinden kann. Hier dürfen unterschiedliche Wirklichkeiten existieren und können Lösungen gemeinsam gefunden werden. Das ermöglicht eine tragfähige professionelle Beziehung, die einen sicheren Rahmen bietet und in der dennoch viel Menschliches Platz bekommt.

Eine Fallgeschichte Ich möchte nun anhand eines exemplarischen Falles erzählen, wie ich Klient_innen, die vielen »ver-rückt« erschienen, mit Hilfe systemischer Haltungen und Herangehensweisen in einer schwierigen Lebensphase betreut und phasenweise auch in einer psychotherapeutischen Rolle begleitet habe. Die Geschichte ist in der Gegenwart geschrieben und mit Protokollausschnitten ergänzt, um sie unmittelbarer erlebbar zu machen. Frau E. ist 52 Jahre alt, besachwaltet und lebt seit fast dreißig Jahren mit Herrn E. in einer Lebensgemeinschaft. Die beiden wohnen in Wien in einer SubstandardWohnung. Das bedeutet, dass sich keine Heizung, kein Bad und keine Dusche in der Wohnung befinden, lediglich ein Fünf-Liter-Durchlauferhitzer für das Warmwasser. Vor allem in den kälteren Wintermonaten ist die Körperhygiene somit eine echte Herausforderung. Es gibt eine Brause, die bei Bedarf in der Küche an die Armatur angeschlossen wird. So ist eine behelfsmäßige Katzenwäsche möglich. Frau E. befindet sich seit 2007 im Teilbetreuten Wohnen und wird durchgehend von mir begleitet. Zu Beginn unserer Zusammenarbeit war Frau E. noch beim Arbeitsmarktservice AMS gemeldet. In dieser Zeit wurde sie immer wieder zu Kursmaßnahmen eingeladen, die sie unter großen Demütigungen bezüglich ihrer Körperhygiene durchgestanden hat. Seit dem Tod ihrer Mutter und aufgrund einer durch das Berufliche Bildungsund Rehabilitationszentrum BBRZ diagnostizierten Arbeitsunfähigkeit kann sie nun Waisenpension beziehen und ist nicht mehr vermittlungsfähig. Die stabilen Phasen wurden im Lauf der Jahre immer wieder von ein- bis zweiwöchigen Krisen unter-

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brochen, die für Frau E. durch die Umwelt, die Welt da draußen, die andere Wirklichkeit hereinbrachen. Sie kann sich dann nur noch schreiend artikulieren, besucht die Beschäftigungstherapie nicht mehr und zieht sich vollkommen ins Bett zurück. Herr E. ist 62 Jahre alt und gelernter Schuster. Jahrzehntelang hat er am Bau gearbeitet. Er ist seit ungefähr 15 Jahren arbeitslos und wird vom AMS noch als vermittelbar geführt. Jedes Jahr muss er sich vom Amtsarzt aufgrund seines Alkoholismus und seiner Wirbelsäulenschmerzen arbeitsunfähig erklären lassen. Sein Antrag auf Erwerbsunfähigkeitspension wurde bereits dreimal abgelehnt. Herr E. ist nicht in Betreuung, er läuft sozusagen im Anlassfall mit. Die beiden bilden zwar noch eine Lebensgemeinschaft, teilen aber nicht mehr das Bett. Frau E. wohnt im Wohnzimmer, Herr E. im kleinen Nebenzimmer. Vor mittlerweile 27 Jahren wurden die beiden Kinder von Frau E. und Herrn E. – damals ein halbes und zwei Jahre alt – vom Jugendamt fremduntergebracht und die zwei Jahre später geborenen Zwillinge sofort bei der Geburt in Pflege gegeben. Seit diesem Zeitpunkt ist der Zustand der Wohnung sozusagen schockgefroren, es gibt keine Veränderungen, keine Instandhaltungsarbeiten, um nicht zu sagen keinerlei Lebensentwicklung. Dementsprechend verwahrlost und heruntergekommen wirkt sie, völlig verstaubt, jeder freie Platz mit Säcken voller Kleidung und Habseligkeiten verstellt. Auf den Möbeln stapeln sich alte, gebrauchte Gerätschaften wie Plattenspieler, Kaffee- und Werkzeugmaschinen. In den Jahren meiner Betreuung wurde die Wohnung dreimal unter größtem Protest und Widerstand im Auftrag der Sachwalterin durch die Soziale Hilfe der Adventmission entrümpelt und gereinigt. Diese Zwangshandlungen haben bei Frau E. jeweils längere Verzweiflungsphasen und sogar Suizidgedanken ausgelöst. Frau E.’s Denkstruktur lässt sich möglicherweise anhand folgenden Beispiels besser darstellen. Seit Jahren versuche ich, sie im Rahmen meiner Betreuungsfunktion zu einem anderen Handyvertrag zu bewegen. Sie bezahlt für 300 Freiminuten derzeit circa 25,00 Euro, und wenn sie diesen Rahmen überschreitet, kommt entsprechend mehr dazu. Eine Wertkarte um 9,90 Euro, die 1000 Freiminuten inkludiert, verweigert Frau E. mit der Begründung, sie brauche nicht so viel und sie wolle nicht so viele Freiminuten verschenken. Die Treffen mit ihr finden alle 14 Tage statt, abwechselnd in der Wohnung und in der Beratungsstelle, bei Bedarf mit entsprechend höherer Frequenz. Am Beginn wollte ich immer wieder den Zustand der Wohnung thematisieren, konnte jedoch keinen Veränderungswunsch bei ihr entdecken, in Frau E.’s Wirklichkeit bestand keinerlei Handlungsbedarf. Daher wird das Thema Wohnung nur anlassbezogen besprochen, und stattdessen begleite ich sie in ihrem Zustand der Verzweiflung, Ohnmacht, ihrem Aufbegehren und ihrer Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben, greife immer wieder ihre Fähigkeiten, Stärken und Ressourcen auf

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und würdige ihre Bemühungen um Gestaltung und Veränderung – insofern gewinnt die Betreuung auch therapeutischen Charakter. Das reicht jedoch nicht aus, diese Lebensbegleitung erfordert den Einsatz einer großen Bandbreite psychosozialer Handlungsarten, ein permanentes Wechseln zwischen den ludewigschen Grundarten des Helfens und eine ständige Reflexion der jeweils nötigen professionellen Rolle (vgl. Ludewig, 2005, S. 114 ff.). Für Herrn und Frau E. bin ich dadurch zu einer der stabilsten helfenden Bezugspersonen geworden. Zur Erläuterung möchte ich die letzte Krisenphase im Mai/Juni 2013 anhand meiner Protokolle genauer beschreiben. »Im Haus gibt es Ungeziefer – Schaben und Kakerlaken – und es stellt sich die Frage, ob es aus ihrer Wohnung kommt. Die Hausmeisterin meint, dass es nicht nur Herrn und Frau E. alleine betrifft und dass sie keinesfalls die ›Verdächtigen‹ sind. Mit großer Kraft wurde die Mindestsicherung geschafft, jetzt folgt eine Wohnungsbesichtigung durch einen Kammerjäger, beauftragt von Wiener Wohnen, das ist die Hausverwaltung der Mietwohnungen der Gemeinde Wien. Ich habe die starke Vermutung, dass da noch was nachkommt. An der Wohnung ist offensichtlich nichts zu beschönigen, für jeden Außenstehenden ist sie eine Katastrophe. Frau E. ist sehr beunruhigt – ich kann sie nur durch den aufkeimenden Prozess begleiten.« Hier kündigt sich das Unheil bereits an, obwohl Frau E. noch in ihrer Realität bleibt, nämlich, dass das Ungeziefer aus anderen Wohnungen stammt und überhaupt nichts mit dem Zustand ihrer eigenen Wohnung zu tun hat. Die Herausforderung ist nun, anschlussfähig zu bleiben. In der auf mich zukommenden Aufgabe sehe ich mich sowohl als Mittler als auch als Übersetzer und notgedrungen auch als Puffer zwischen den rasant aufeinander zusteuernden Wirklichkeiten. Zwei Tage später ist es dann so weit, ich zitiere aus dem Protokoll: »Frau E. ist komplett außer sich und verzweifelt, denn der Kammerjäger hat Kakerlaken und anderes Ungeziefer in der Wohnung festgestellt – dabei habe sie doch immer den Boden aufgewischt. Der Kammerjäger hat außerdem seine Arbeit abgebrochen, da er kaum Zugang zu den Wänden und Ecken in den Räumen hat. Und er wird eine Hygienemeldung an Wiener Wohnen veranlassen. Frau E. befürchtet das Schlimmste, versucht es sich aber noch schönzureden und eine mögliche Verantwortung und Zuständigkeit abzulehnen.« Eine Woche später erhält Frau E. einen Brief von ihrer Sachwalterin (SW), Wiener Wohnen und das Gesundheitsamt würden die Wohnung überprüfen. Im Protokoll habe ich folgendes festgehalten: »Nun ist es passiert, und damit schaut es schlecht aus. Wiener Wohnen will sich selbst ein Bild machen und gegebenenfalls das Gesundheitsamt einschalten. Die Sachwalterin hat Frau E. drei Möglichkeiten vorgeschlagen: selbst zusammenräumen, durch Polizei und Amtsarzt gezwungen werden oder es das Gesundheitsamt machen lassen – das wäre die teuerste Variante. Frau E. meint, sie könne nichts

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weggeben, weil sie nicht wisse, wohin, außerdem habe sie ja ohnehin immer aufgeräumt. Es sei ihr alles egal. Schwierig. Ich versuche, Frau E. zu vermitteln, dass sie es noch in der Hand hat, alles noch selbst gestalten kann, bevor es andere übernehmen. Noch kann sie mitbestimmen. Wenn das Gesundheitsamt kommt, wird ausgeräumt oder sie verliert die Wohnung. Kann Frau E. ihren restlichen Spielraum, ihre restliche Handlungsfreiheit nutzen? Muss ich wissen, was richtig ist, und eingreifen? Entspricht das meiner systemischen Haltung?« Das Gesundheitsamt und Wiener Wohnen geben nun ihre Wirklichkeit, ihre Normalität und ihre Richtlinien vor – und diese sind bindend. Aufgrund des drohenden Wohnungsverlusts und aufbauend auf unsere hoffentlich tragfähige Beziehung entscheide ich mich, im Sinne meiner Betreuungsfunktion Position zu beziehen, zu intervenieren und gleichzeitig entsprechend meiner psychotherapeutischen Haltung der Klientin nichts vorzugeben, sondern sie auf ihre eigenen Optionen hinzuweisen. Ich schicke Herrn und Frau E. umgehend einen eingeschriebenen Brief, damit der Ernst der Lage ersichtlich wird, und erläutere ihnen ihre noch vorhandenen Handlungsmöglichkeiten, die darin bestehen, die Wohnung selbst so weit in Ordnung zu bringen, dass keine Räumung durch das Gesundheitsamt notwendig erscheint. Aus meinem Brief: »Es droht also die Gefahr, die Wohnung zu verlieren, wenn sich der Zustand nicht ändert. Dazu gibt es nach Rücksprache mit Frau Sachwalterin B. drei Möglichkeiten: 1) die sanfte Möglichkeit: Herr E. und Frau E. befreien die Wohnung eigenständig von Dingen, für die es keine Verwendung gibt. ›Ein ordentliches Ausmisten‹ besteht darin, dass alle Wände und Ecken zugänglich sind und alles in den Kästen verstaut ist. Ich kann gerne unterstützend mithelfen, stelle mich auch tageweise zur Verfügung. 2) Die zwangsweise Möglichkeit durch das Gesundheitsamt: Herrn E. und Frau E. ist diese Gefahr egal, sie ›sch…‹ auf alles und lassen alles unverändert. Dann wird Wiener Wohnen das Gesundheitsamt verständigen und eine Zwangsräumung veranlassen. Die hohen Kosten sind von Herrn und Frau E. zu bezahlen. Hier droht ein Wohnungsverlust. 3) Der freiwillige Zwang durch die SW: Um einen drohenden Wohnungsverlust abzuwenden, sieht sich die Sachwalterin gezwungen, auch gegen den Willen von Herrn und Frau E. eine Wohnungsräumung zu veranlassen. Notfalls muss bei Widerstand die Polizei und der Amtsarzt hinzugezogen werden. Lieber Herr E., liebe Frau E., ich bitte euch wirklich, eine drohende Zwangsräumung durch das Gesundheitsamt abzuwenden. Entscheidet euch für das eigenständige Ausmisten, damit ihr

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bestimmen könnt, was passiert und welche Dinge ihr weggeben wollt. Ich kann euch gerne dabei unterstützen.« Am nächsten Tag ruft mich überraschenderweise Herr E. an und meint, er werde alles regeln und ich könne mich darauf verlassen, er werde es auch Frau E. beibringen. Ich bin nach diesem Anruf vollkommen verblüfft und dankbar dafür, dass die Beziehung so tragfähig ist, dass direktive Eingreifen aushält und dass ich Worte gefunden habe, die den Ernst der Lage erklären. Worte, die anschlussfähig sind und in dieser Situation keinen unnötigen Widerstand auslösen. Tags darauf besuche ich die beiden in der Wohnung, im Treppenhaus kommt mir bereits ein junger Mann mit zwei großen Müllsäcken entgegen. Herr E. erzählt mir, dass er sich einen Hawara (wienerischer Ausdruck für Kumpel, Kollege, Freund) organisiert hat, der gegen Bezahlung mit einigen Bieren die schweren Sachen hinausträgt. Damals habe ich unter anderem Folgendes festgehalten: »Dramatische Entwicklungen: offensichtlich hat Herr E. die Lage erkannt und die Räumung in Angriff genommen. Frau E. wirkt halbherzig, sie erzählt, dass ihr Lebensgefährte entschieden habe, dass sie entrümpeln muss – er habe sein Kabinett wirklich ordentlich ausgeräumt. Sie selbst sei bereits jetzt erschöpft und spüre ihren Bauch. Sie sei da ja verletzt. Sie werde nicht mehr viel machen bei dieser Räumaktion und es sei ihr egal, ob sie aus der Wohnung geworfen wird. Dann beginnt sie zu weinen und erzählt, dass sie ohnehin alles versuche, was geht, immer putze und daher nicht mehr wisse, was noch alles zu tun sei. Nach weiterem Weinen meint sie, sie schäme sich so sehr. Alles was sie sonst wegschieben und wegreden kann, bricht durch. Sie erhascht einen Blick auf ihr Leben von außen. Ich bestärke sie dennoch in ihrem Entschluss, auszuräumen und Ordnung zu machen.« Die Nerven liegen blank, und die Situation spitzt sich kurzfristig noch zu, denn die Sachwalterin entscheidet, dass trotz der erfolgreichen Bemühungen noch am Freitag vor dem Besichtigungstermin ein Putztrupp der Sozialdienste der Advent­ mission kommen soll. Sie ruft an und meint, ich solle zum Reinigungstermin unbedingt anwesend sein, die Adventmission würde sonst den Auftrag nicht übernehmen, da Herr E. immer so aggressiv reagiere und es in der Vergangenheit bereits zu Übergriffen gekommen sei. Auch der Leiter der Sozialen Dienste der Adventmission macht in einem Telefonat den Auftrag von meiner Anwesenheit abhängig. Nun bin ich in einer Situation, die ich abwenden wollte, komme als Puffer zwischen den unterschiedlichsten Erwartungen zum Einsatz, als Schmiermittel, welches das »Werkl« ordentlich laufen lassen soll. Die Vertrauensbeziehung, die sich zwischen mir und der Klientin entwickelt hat, wird als Mittel im Dienst der Durchsetzung gesellschaftlicher Vorstellungen benutzt, ihr Intimbereich gestört, was sie entmachtet, ihre Identität gefährdet und vielleicht zu weiteren Krisen führt. Ich kann mich der

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Teilnahme an diesem Gewaltakt aber auch nicht entziehen, weil die Klientin mich als Stütze erlebt und das auch meinem Auftrag entspricht. Frau E. scheint endgültig alles wegwerfen und aufgeben zu wollen. Sie kann bei ihrer Sachwalterin noch erreichen, dass ihren Bemühungen insofern Rechnung getragen wird, als nur geputzt und nicht ausgeräumt wird, denn das habe sie bereits erledigt. Die Wohnungsreinigung in meiner Anwesenheit ist ein Erlebnis der besonderen Art. Herr E. hat mir per Handschlag zugesichert, dass alles in Ordnung sei, dass ich mich auf ihn verlassen könne, er mache keine Schwierigkeiten. Dann kommen fünf aus Afrika stammende Mitarbeiter_innen der Adventmission, ziehen sich im für alle Mitbewohner zugängigen und einsichtigen Treppenhaus weiße Schutzanzüge an, verkleben die Handschuhe mit den Anzügen und marschieren in die Wohnung. Fünf schwarze Menschen mit weißen Schutzanzügen, weißen Handschuhen und weißem Mundschutz – das hat etwas Absurdes an sich. Frau E. bricht in Tränen aus und sitzt als Häufchen Elend auf ihrem Bett, versucht einen Rest an Würde zu wahren und erklärt unter Schluchzen, dass sie ja bereits alles geputzt habe, dass diese Aktion nicht notwendig sei. Herr E. verzieht sich in die Kneipe auf ein paar Bier. Der Leiter der Adventmission und ich verlassen nach einer Stunde fluchtartig den Ort des Geschehens. Jetzt soll noch die Begehung durch Wiener Wohnen stattfinden, dann kehrt hoffentlich wieder Ruhe ein. Im Protokoll halte ich fest: »Frau E. kommt freudestrahlend. Es ist geschafft. Wiener Wohnen war da, und wenn die Wohnung auf diesem Niveau bleibt, dann gibt es weiterhin keinerlei Schwierigkeiten und der Zustand wird akzeptiert. Wichtig ist, dass Lebensmittel verschlossen aufbewahrt werden. Wiener Wohnen behält sich aber vor, weiterhin Besichtigungen abzuhalten. Frau E. ist überglücklich und Herr E. ebenfalls. Nach dem beschämenden Rückschlag, dass trotz eigenem Reinigen noch ein Putztrupp kommen musste, hat es nun funktioniert – das ist ein großer Erfolg für beide. Toll, wie sie sich Hilfe organisiert haben, eine wirkliche Entwicklung.« Geschafft. Anfang Juni kehrt wieder Ruhe ein. Ich schicke den beiden ein Glückwunschbillett, gratuliere ihnen noch einmal dezidiert zu den geleisteten Aufräumungsarbeiten und betone, dass sie durch diese Initiative ihre Handlungsmöglichkeiten gut genutzt haben. In einer Situation des Ausgeliefertseins noch zu agieren und sich nicht treiben zu lassen, darauf können sie wirklich stolz sein. Ich bedanke mich auch für das Vertrauen in mich und formuliere meine Freude darüber, dass unsere Betreuungsbeziehung gehalten hat. Die Geschehnisse, das gemeinsame Aufräumen und die vielen Gespräche darüber haben mich die beiden besser verstehen lassen. Unter anderem ist mir die Bedeutung der jahrelang im gleichen Zustand belassenen Wohnung stärker bewusst worden. Das traumatisierende Erlebnis der Kinderabnahme hat die beiden alles konservieren lassen. Die Tapeten, Poster, Setzkästen, Bilder, sämtliche Plüsch-

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Johannes Schneller

tiere, die getrockneten Blumensträuße voller Staub und Spinnweben und die noch mit Kinderkleidung gefüllten Schränke sind eine Erinnerung an vergangene Zeiten, als Frau E. noch Mutter war, eine Frau mit einer Aufgabe, mit einem Lebenssinn. Herr E. ist damals noch seiner Arbeit nachgegangen, Freunde und Bekannte sind zu Besuch gekommen. Ein völlig anderes Leben hatte stattgefunden, und diese Identität sollte erhalten werden. Trotzdem ist mir besonders anhand dieses Falles bewusst geworden, wie viele unerwartete Ressourcen vor allem in problematischen Situationen bei den Klient_innen zu entdecken sind. Die Verlässlichkeit und Transparenz des Kontakts zu den Betreuer_innen scheint, wie in vielen anderen Fällen, in der Praxis einer der wichtigsten Wirkfaktoren zu sein.

Ausblick Wir systemische Psychotherapeut_innen haben mit unserer Ausbildung das Handwerkszeug erhalten, um mit allen Personengruppen, die mit ihren Anliegen, Problemstellungen und Leiden zu uns kommen, zu arbeiten und sie bei Lösungsbewegungen zu begleiten. Es braucht dazu ein Eintauchen in ihre Welten, ihre Lebenswirklichkeiten und in ihre Konstrukte. Jürgen Hargens meint dazu: »Wenn Klienten mit uns sprechen, dann erzählen sie uns ihre Geschichte – sie laden uns gewissermaßen ein, bei ihnen und ihren Geschichten zu Gast zu sein. […] Und entsprechend sollten wir uns verhalten. Wir besuchen sie gleichsam in ihren Geschichten – und wir sind nicht die Experten, denen es um richtige Erzählungen, um Wahrheiten geht« (Hargens, 2007, S. 57). Dem kann ich hinsichtlich der psychotherapeutischen Arbeit mit »einfach strukturierten Menschen« nur zustimmen. Zum einen ist aufgrund der Vermischung mit anderen Aufgaben, die etwa im Teilbetreuten Wohnen nötig sind, ein klarer psychotherapeutischer Rahmen gar nicht herstellbar, zum anderen ist aber eine psychotherapeutische Haltung und Herangehensweise wichtig, um Selbstwert und Selbstvertrauen stärken, Ressourcen zu aktivieren und zu einer tragfähigen und anschlussfähigen therapeutischen Beziehung beitragen zu können. Um Zugang zu finden ist es notwendig, andere Wirklichkeiten wahrzunehmen und anzuerkennen. Außerdem dürfen die professionelle Rolle und gewisse damit einhergehende Vorannahmen nicht wichtiger sein als die Menschen, denen sie dienen sollen. Die systemisch-psychotherapeutische Haltung vermittelt vor allem auch Respekt. Erklären kann das wiederum niemand besser als Jürgen Hargens:

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»Respektieren drückt für mich das uneingeschränkte Wertschätzen der Klient_in aus, das ich ihr entgegenbringe – und zwar unabhängig von dem, was sie sagt oder tut. Dabei hilft mir die bereits genannte konstruktivistische Idee, dass jeder Mensch für seine/ihre Konstruktionen immer auch gute Gründe hat – selbst wenn diese manchmal schwer erkennbar sind« (Hargens, 2007, S. 62). Literatur Bundeskanzleramt [Wien], Rechtsinformationssystem. Gesamte Rechtsvorschrift für Psychotherapiegesetz, Fassung 28.03.2015. Zugriff am 28.03.2015 unter http://www.ris.bka.gv.at Fonds Soziales Wien. Leben mit Behinderung, Teilbetreutes Wohnen. Wien. Zugriff am 28.03.2015 unter http://www.fsw.at Grawe, K. (2005). (Wie) kann Psychotherapie durch empirische Validierung wirksamer werden? Psychotherapeutenjournal 1/2005, 4–11. Hargens, J. (2000). Bitte nicht helfen! Es ist auch so schon schwer genug. (K)ein Selbsthilfebuch. Heidelberg: Carl–Auer. Hargens, J. (2007). Lösungsorientierte Therapie … was hilft, wenn nichts hilft … Dortmund: Borgmann. Ludewig, K. (2005). Einführung in die theoretischen Grundlagen der systemischen Therapie. Heidelberg: Carl-Auer. Satir, V. (1975). Selbstwert und Kommunikation. Familientherapie für Berater und zur Selbsthilfe. Stuttgart: Klett-Cotta. Trägerverein (2005). Konzept Begleitetes Wohnen. Wien: Eigenverlag. Trägerverein (2002). Pädagogisches Rahmenkonzept. Wien: Eigenverlag. Watzlawick, P. (1988). Anleitung zum Unglücklichsein. München: Piper.

Literaturempfehlungen Conen, M. (2002). Wo keine Hoffnung ist, muss man sie erfinden. Aufsuchende Familientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Enderlin-Welter, R., Hildenbrand, B. (Hrsg.) (2006). Resilienz – Gedeihen trotz widriger Umstände. Heidelberg: Carl-Auer. Grawe, K., Donati, R., Bernauer, F. (1994). Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe. Klein, R. (2002). Berauschte Sehnsucht. Zur ambulanten systemischen Therapie süchtigen Trinkens. Heidelberg: Carl-Auer. Liechti, J. (2009). Dann komm ich halt, sag aber nichts. Motivierung Jugendlicher in Therapie und Beratung. Heidelberg: Carl-Auer. Retzlaff, R. (2010). Familien-Stärken: Behinderung, Resilienz und Systemische Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. Rufer, M. (2012). Erfasse komplex, handle einfach. Systemische Psychotherapie als Praxis der Selbstorganisation – ein Lernbuch. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Ulrike Wögerer

Und wenn meine Fesseln mich hindern, meines Glückes Schmied zu sein? Psychotherapeutische Aspekte im Rahmen des Trainings mit arbeitsuchenden Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden

»Arbeitsuchende Menschen« beschäftigen mich seit nunmehr etwa dreißig Jahren, und zwar in unterschiedlichen Rollen und Funktionen – zuerst als Sozialarbeiterin und Trainerin und aktuell auch als Psychotherapeutin. Ich möchte in diesem Beitrag über meine Erfahrungen mit dieser Zielgruppe im Kontext arbeitsmarktbezogener Maßnahmen erzählen und darüber berichten, wie es gelingen könnte, mit Hilfe psychotherapeutischer Haltungen und Herangehensweisen gemeinsam ein persönliches Entwicklungsinteresse zu erarbeiten, das auch zur Grundlage für eine anschließende Psychotherapie werden kann.

Bestandsaufnahme Veränderungen in der Arbeitswelt Entwicklungen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt lassen für die Zukunft eine Verschärfung der psychosozialen Belastungsdimension in der Arbeitswelt befürchten. Die Risikofaktoren sind mit Veränderungsprozessen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt in Verbindung zu bringen – mit einer höheren Arbeitsintensität, einem vermehrten Zeitdruck auf dem Arbeitsmarkt, der Zunahme von prekären Beschäftigungsformen sowie Arbeitsplatzunsicherheit und der Forderung nach Mobilität. Im Zusammenwirken dieser Risikofaktoren mit dem Altern der Erwerbsbevölkerung, der Zunahme von emotionalen Anforderungen bei der Arbeit – immer mehr Menschen leiden unter Stresssymptomen – und der unzureichenden Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben ist außerdem mit erheblichen Kostensteigerungen im Gesundheitssystem zu rechnen. Die Anforderungen an Mitarbeiter_innen in den Betrieben verändern sich. Es wird eine höhere Qualifizierung, aber auch eine vermehrte zeitliche und räumliche Flexibilität verlangt. Damit entstehen immer mehr atypische Arbeitsverhältnisse, geprägt von Teilzeitarbeit, geringfügigen

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Beschäftigungen, befristeten Dienstverhältnissen, neuen Selbständigen und Leiharbeiter_innen. Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigungen betreffen in einem hohen Ausmaß Frauen, was sich in einer mangelnden sozialen Absicherung (duch Arbeitslosengeld, Pension etc.) niederschlägt. Erwerbsarbeit sichert nicht mehr automatisch auch den Lebensunterhalt der Familie. Unterbrechungen in der Erwerbsbiografie gehören fast schon zur Selbstverständlichkeit – was aber das Finden eines Arbeitsplatzes immer noch sehr erschwert. Geringfügige Beschäftigungen oder Teilzeitarbeit mit einem geringen Einkommen werden aber nicht als Vollerwerbstätigkeit im Sinne des Arbeitsmarktservices gesehen. Verändert hat sich auch das Bild des arbeitsuchenden Menschen in der Gesellschaft. War es vor dreißig Jahren ungewöhnlich und mit Vorurteilen behaftet, keine Erwerbsarbeit zu haben – »der will ja nicht arbeiten« – so ist es heute bereits viel selbstverständlicher, zumindest eine Zeit lang arbeitslos zu sein. Auch das Selbstbild der Betroffenen hat sich gewandelt: War es früher schambesetzt, arbeitslos zu sein, sind heute vermehrt Frustration oder Wut über »die Gesellschaft«, »die Unternehmer« oder »die Politik« feststellbar. Das Ohnmachtsgefühl, der Eindruck, dass das eigene Leben dem eigenen Einflussbereich entgleitet, wird immer stärker. Arbeitsmarktservice Durch die Veränderung in der Arbeitswelt haben sich auch die Aufgaben der Mitarbeiter_innen des Arbeitsmarktservices (hier am Beispiel Österreich) und der Trainer_innen der Kursinstitute verändert. Die sogenannten »working poor« werden immer mehr und stellen eine neue Herausforderung dar. Zum besseren Verständnis hier eine kurze Erläuterung zur Struktur des AMS und der Kursinstitute bzw. deren Aufgabenstellungen: Jedes österreichische Bundesland besitzt eine Landesgeschäftsstelle (LGS) des Arbeitsmarktservices (AMS) und außerdem regionale Geschäftsstellen (RGS). Die regionalen Geschäftsstellen entsprechen zumeist den politischen Bezirken des Bundeslandes und haben nur geringe Budgetmittel zur regionalen Gestaltung arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen zur Verfügung. Im Lauf der Zeit und im Zuge der EUVorschriften müssen immer mehr arbeitsmarktpolitische Maßnahmen (in der Regel Kurse oder Einzelcoachings) überregional ausgeschrieben werden. Das bedeutet zum einen, dass auf die Besonderheiten der Region und die Bedürfnisse der Menschen, die dort leben und arbeiten, immer weniger Rücksicht genommen wird, und zum anderen, dass kleine Trägerorganisationen, die mit den regionalen Bedingungen vertraut waren, keine Chance mehr haben, sich

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gegen den übermächtigen Druck großer Organisationen zu behaupten. Auch hier steigt der Wettbewerb, der Kostenfaktor gewinnt zusehends an Bedeutung, die Qualität im Sinne der individuellen Betreuung der Arbeitsuchenden geht immer mehr zurück. Vor zwanzig Jahren konnten noch gemeinsam mit den Mitarbeiter_innen der regionalen Geschäftsstellen spezielle Angebote für die Teilnehmer_innen maßgeschneidert werden, die Trainer_innen und die Betreuer_innen waren in den RGS einander noch persönlich bekannt, konnten Probleme und Schwierigkeiten einzelner, arbeitsuchender Menschen individuell besprechen und klären. Daran ist heute nicht mehr zu denken – der zeitliche und psychische Druck auf die Menschen, die mit Arbeitssuchenden arbeiten, ist immens angestiegen. Das führt zu der schwierigen Situation, dass sowohl Arbeitsuchende als auch deren Betreuer_innen zunehmend mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Der Druck nimmt auch für Mitarbeiter_innen des AMS zu, die sich mit immer mehr Arbeitslosen und zum Teil unerfüllbaren Ansprüchen von Vorgesetzten und Politik konfrontiert sehen (»Die Statistiken müssen stimmen«). Kursinstitute und deren Trainer_innen stehen ebenfalls in diesem Spannungsfeld. Sie müssen einerseits den Druck des AMS (50–75 % Erfolgsquote – das bedeutet, dass 50–75 % der Teilnehmer_innen drei Monate nach Beendigung der Maßnahme nicht mehr als arbeitslos gelten sollen) und andererseits die Unsicherheit des eigenen Arbeitsplatzes aushalten. Üblicherweise werden AMSMaßnahmen nur für ein Jahr vergeben. Was danach passiert, wird oft erst gegen Ende des Jahres von der LGS nach aufwändigen Ausschreibungsverfahren entschieden. Viele Trainer_innen sind entweder selbständig mit Gewerbeschein oder als »neue Selbständige« tätig. Doch auch wenn sie angestellt sind, gilt dies oft nur für die Dauer des Projektes – sie befinden sich also in ähnlich prekären Beschäftigungsverhältnissen, wie sie auch ihren Teilnehmer_innen drohen.

Training oder Psychotherapie? Je nach Trägerorganisation und Auftrag müssen die Trainer_innen sehr unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden. Üblicherweise sollen sie eine psychosoziale Ausbildung nachweisen können, am besten im akademischen Bereich. Es finden sich hier Pädagog_innen, Lebens- und Sozialberater_innen, Menschen mit einer Trainer_innenausbildung, … und auch Psychotherapeut_innen. Die vorzeigbare Qualifikation der Trainer_innen ist ein Kriterium bei der Vergabe von Aufträgen der LGS – letztlich ist jedoch meist die Erfahrung der

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jeweiligen Trainer_in entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg einer Maßnahme im Sinne der Klient_innen. Grundsätzlich stellen Training und Psychotherapie zwei sehr unterschiedliche Konzepte psychosozialer Arbeit dar. Im Training wird  – vor einem pädagogischen Hintergrund – etwas vermittelt oder geübt. In der Psychotherapie wird eine Person bei ihren eigenen Bewegungen, Wegen und Zielen gefördert, gestützt und begleitet – es gibt im Allgemeinen keine von außen bestimmten Zielsetzungen. Die Rolle einer Trainerin ist also eine ganz andere als die einer Psychotherapeutin. Wenn man als Psychotherapeutin in AMS-bezogenen Maßnahmen tätig ist, kann es jedoch phasenweise zu einer Mischung der Rollen kommen – etwa wenn das Einzelcoaching beratenden Charakter bekommt und sich die Teilnehmer_innen gleichzeitig psychosozial beeinträchtigt bzw. behandlungsbedürftig zeigen. Gerade langzeitarbeitslose Personen befinden sich oft in einem schlechten persönlichen Zustand. Sie haben gesundheitliche, psychische und soziale Probleme und scheinen zuweilen nicht ganz »bei sich« zu sein. Viele leiden immer noch unter belastenden Erfahrungen in ihrer Vergangenheit. Um mit solchen Menschen arbeiten zu können, muss erst ein Boden geschaffen werden, auf dem sie sich aufrichten können sowie gestärkt und in guter Weise sozial eingebunden werden. Einzelberatung ist in solchen Fällen unerlässlich – wenn diese psychotherapeutischen Charakter gewinnt, muss allerdings beachtet werden, dass die beratenden Trainer_innen sich nicht nur an den Anliegen der Teilnehmer_innen, sondern auch an bürokratischen oder juristischen Regeln der Auftrag gebenden Einrichtung zu orientieren haben. Sie werden von den Teilnehmer_innen manchmal nicht nur als Unterstützung, sondern auch als Vertreter_innen einer kontrollierenden Institution wahrgenommen. Die Situation wird als unpersönlich, vielleicht sogar unangenehm erlebt, sodass sich entsprechende Abwehrreaktionen entwickeln. Freiwilligkeit und ein durch Verschwiegenheit geschützter Raum im Sinne der Berufspflichten einer Psychotherapeutin sind nicht ausreichend gegeben Diese benennt das österreichische Psychotherapiegesetz wie folgt: § 14 (3): Der Psychotherapeut darf nur mit Zustimmung des Behandelten oder seines gesetzlichen Vertreters Psychotherapie ausüben. § 15: Der Psychotherapeut sowie seine Hilfspersonen sind zur Verschwiegenheit über alle ihnen in Ausübung ihres Berufes anvertrauten oder bekannt gewordenen Geheimnisse verpflichtet. Manche Umgangsformen in Organisationen und Trainingsmaßnahmen bewirken, dass sich Menschen an emotional unangenehme Beziehungsphänomene aus dem privaten Bereich erinnert fühlen und entsprechend persön-

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lich reagieren. Trotz aller angestrebten Sachlichkeit spielen Gefühle wie Angst, Wut, Kränkung und die Sehnsucht nach der eigenen Würde auch in diesem Kontext eine große Rolle.

Die Betroffenen Auch wenn die Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« von Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel (1975) bereits 1933 durchgeführt wurde, hat sie bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Anhand ihrer Beobachtungen erarbeitete die Forschungsgruppe vier Haltungstypen, die sich in der Situation der Arbeitslosigkeit entwickeln können – diese Kategorien können dabei helfen, die Teilnehmer_innen besser zu verstehen und sie dort abzuholen, wo sie sich mit ihrem Erleben gerade befinden. ȤȤ Der ungebrochene Haltungstyp: Zuordnungskriterien für diese Verhaltenskategorie sind unter anderem subjektives Wohlbefinden, Lebenslust und Aktivität, Aufrechterhaltung von Zukunftsperspektiven und permanente Arbeitsplatzsuche. ȤȤ Der verzweifelte Haltungstyp: Dieser Typus strebt nach geordneten Strukturen und ist zugleich durch Hoffnungslosigkeit, Depression und Verzweiflung gekennzeichnet. Bemühungen, die bedrückende Situation durch die Arbeitsplatzsuche zu verbessern, wurden aus Sorge vor erneuten Rückschlägen aufgegeben. ȤȤ Der resignierte Haltungstyp zeichnet sich durch eine gleichgültige, erwartungs­ lose Grundhaltung und die Einstellung aus, man könne nichts gegen die Arbeitslosigkeit ausrichten. Zukunftspläne und Hoffnungen wurden aufgegeben, die eigenen Bedürfnisse eingeschränkt. Jedoch verfügt dieser Typus über ein relatives Gefühl des Wohlbefindens, das sich auch in einem nach wie vor geordneten und strukturierten Haushalt kenntlich macht. ȤȤ Der apathische Haltungstyp: Als apathisch gelten Arbeitslose, deren äußere und innere Strukturen völlig aus dem Gleichgewicht geraten sind. Verwahrlosung des Haushalts, energie- und tatenlose Akzeptanz der Situation, zwischenmenschliche Streitigkeiten sowie erhöhter Alkoholkonsum und kriminelle Verhaltensweisen sind charakteristisch für diesen Typus. Arbeitslosigkeit hat aber auch Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit. Symptome, die in den verschiedenen Studien (Kritzinger, 2009; Kieselbach, 1994; Büssing, 1993 u.v.m.) erwähnt werden, sind Depression, Angstzustände, psychosomatische Störungen, Auswirkungen auf das Selbst-

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wertgefühl und das Gefühl, überflüssig zu sein. Ein weiterer Stressfaktor sind die abnehmenden Sozialkontakte, wenn die nicht arbeitslosen Freunde in einem anderen Zeitrahmen und damit in einer anderen Welt leben. Als eine der Hauptauswirkungen berichten Arbeitslose von permanentem Unwohlsein. Dies betrifft sie nahezu alle, unabhängig von anderen Faktoren wie Geschlecht, Alter, kulturellem Hintergrund und familiärer Situation. Ein allgemeines Empfinden von Nutzlosigkeit führt bei manchen Personen dazu, sich als handlungsunfähig zu fühlen und an Selbstachtung zu verlieren. Viele Menschen, mit denen ich in unterschiedlichen Kursmaßnahmen in ganz Niederösterreich zu tun bekam, verstanden ihre Welt nicht mehr, waren extrem enttäuscht, fühlten sich ausgeliefert und ohnmächtig, sahen keine Zukunft und standen unter hohem Druck. Manche von ihnen gehörten plötzlich zu einer Gruppe von Personen, auf die sie und ihre soziale Umgebung insgeheim etwas verächtlich herabgeschaut hatten. Andere litten unter existenzieller Not, Schwierigkeiten mit der Kinderbetreuung und massiven Selbstwertproblemen. In einigen Kursen fanden sich Menschen, die seit Jahren arbeitslos waren bzw. Notstandshilfe bezogen und teilweise nicht lesen oder schreiben konnten – für etliche war es der erste Kontakt zur Außenwelt seit langer Zeit. Sie lebten in kleinen Dörfern ohne jegliche Infrastruktur – das Erreichen der Stadt stellte sie vor eine große Aufgabe. Zumeist hielten die Frauen den Kontakt zu Ämtern und Behörden aufrecht und dolmetschten auch während des Kurses, da der Dialekt, den die Männer sprachen, manchmal einfach nicht verständlich war. Bei vielen Teilnehmer_innen schien der Alkoholismus ein ständiger zusätzlicher Kursbegleiter zu sein. An eine Beschäftigung, auch im geschützten Bereich, war nicht zu denken – schon die regelmäßige Anwesenheit, die Auseinandersetzung mit anderen Menschen, die Beschäftigung mit sich und den vorgesehenen Themen schienen sehr schwierig für sie zu sein.

Rollen und Aufgaben – Die Quadratur des Kreises Das Idealbild, das von den zuweisenden Institutionen implizit oft vorausgesetzt wird, sind motivierte Arbeitslose im Sinne des ungebrochenen Haltungstyps, die lern- und entwicklungseifrig in den Kurs kommen. Die häufige Realität sind jedoch Teilnehmer_innen, die »geschickt« oder »zugewiesen« werden. Es sind Personen, die alles andere als freiwillig kommen und gar nicht wissen, was sie erwartet und warum sie die Maßnahme brauchen, gibt es doch in ihrer Perspektive kein Problem oder Anliegen, bei dem ihnen der Kurs helfen könnte. Gemäß dem Auftrag des AMS soll auch unwilligen Teilnehmer_innen etwas ihnen Entsprechendes angeboten werden, ohne sie jedoch zum Annehmen zu

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zwingen. Als Trainerin in einer vom AMS finanzierten Maßnahme muss ich Zugang zu den oft wenig motivierten Teilnehmer_innen gewinnen, um mit ihnen arbeiten zu können – und deshalb ihren Wünschen, Interessen und Aufträgen entgegenkommen. Ich muss das aber auf eine Weise tun, die auch den Interessen des AMS entspricht. Daraus ergibt sich ein schwer lösbares Spannungsfeld. Je erfahrener die Trainer_innen sind, desto größer sind die Chancen, gemeinsam individuelle und konstruktive Lösungsvorschläge zu erarbeiten. In den genannten Kursen sind die Trainer_innen am häufigsten mit Teilnehmer_innen konfrontiert, die sich in irgendeiner Phase einer Veränderungskrise befinden, seltener begegnet man hier Personen in akuten traumatischen Krisen. Sollte das dennoch der Fall sein, muss in jedem Fall eine Bearbeitung des Traumas unterlassen und an psychotherapeutische und/oder psychiatrische Kolleg_innen überwiesen werden. Es ist außerdem davon auszugehen, dass manche der Teilnehmer_innen in ihrer Lebensgeschichte Traumata erlebten, die sie noch nicht erkannt oder bearbeitet haben. Aufdeckende Arbeit ist in diesem Kontext keinesfalls angebracht – eine Stabilisierung des Selbstwerts und der existenziellen Lebenssituation, die sich über Beratung eröffnen kann, stellt aber eine wesentliche Ressource dar und schafft oft erst die Voraussetzungen, um die vergleichsweise eher hochschwellige Psychotherapie in Anspruch nehmen zu können. Als Schwierigkeit erweist sich hier in der Praxis die Zuschreibung, ob jemand arbeitsfähig (also »gesund«) ist oder nicht. Menschen, die »nicht arbeitsfähig« sind, dürfen streng genommen vom AMS nicht betreut werden, da dies die Voraussetzung für eine Vermittlungstätigkeit ist. Allerdings verlieren die Betroffenen dann den Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe (da sie »dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen«). Aus diesem Grund werden psychisch kranke Menschen vom AMS trotzdem mitbetreut, obwohl dies oft sogar hinderlich für deren Gesundung ist, da sie vielleicht einfach nur Zeit und die entsprechende psychotherapeutische Betreuung benötigen, um überhaupt wieder arbeitsfähig zu werden. Wenn sie sich gegen eine Maßnahme wehren und nicht ausreichend kooperieren, gelten sie schnell als demotiviert und schließlich unvermittelbar. Bei allen wohlwollenden Intentionen tendieren »unterstützende Maßnahmen« dazu, Menschen »in Ordnung zu bringen« bzw. ihre Defizite ausgleichen zu wollen. Stärken werden ausschließlich über erfolgreiche Anpassung an bestehende Strukturen sichtbar und nicht in der kreativen Abweichung davon. Misserfolge werden eher der Inkompetenz der Rat Suchenden zugeschrieben als den Gegebenheiten und Rahmenbedingungen, mit denen sich diese konfrontiert sahen. Letztlich schließen sich Menschen, die sich in der Ausbildung oder auf dem Arbeitsmarkt unerwünscht erleben, oft den Beschreibungsformen

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an, die sie entwerten. Sie ziehen sich zurück und verlieren jegliche Motivation, Situationen und Prozesse eigenständig zu gestalten. Das Thema »Arbeit« wird unter solchen Bedingungen begleitet von der Angst, zu versagen, nicht zu entsprechen, nicht wahrgenommen zu werden und in der Folge aus dem Netz wirtschaftlicher und sozialer Akzeptanz herauszufallen. Auf Dauer keine Arbeit zu haben, bedeutet oft tiefe existenzielle Verunsicherung und soziale Isolation. Der »Erfolg« meiner Tätigkeit als Trainerin bestand in diesen »schwierigen« Fällen nicht primär in einer Arbeitsaufnahme der Klient_innen, sondern darin, dass sie am sozialen Geschehen mehr Anteil nehmen konnten, Interesse an anderen Menschen entwickelten und regelmäßig zu den Gesprächsterminen bzw. zum Kurs kamen. Wenn jemand einen Arbeitsplatz fand, hatte das zwar für das AMS und somit auch für die Trägerorganisation als »Erfolg« zu gelten, schien für mich aber fragwürdig, wenn die Klient_innen an diesem Arbeitsplatz unglücklich waren oder den Job nur angenommen hatten, um dem Druck des AMS und auch der Trainer_innen zu entgehen. Im Zweifelsfall entschied ich mich deshalb im Sinn einer eher sozialarbeiterischen Rolle für die betroffenen Menschen und deren Sicht von »Erfolg« – um den Preis, dass ich die Diskrepanz zwischen den Interessen der Auftraggeber_innen und meinem persönlichen Wertesystem bzw. meiner professionellen Haltung aushalten musste. Außerdem trachtete ich meinem psychotherapeutischen Vorwissen entsprechend auch in arbeitsbezogenen Maßnahmen immer danach, einen Auftrag von den Betroffenen selbst zu bekommen, weil ich davon ausgehe, dass erst dann eine für sie hilfreiche Arbeit an Veränderungen möglich ist. Das bedeutet für mich letztlich, »den systemischen Ansatz zu leben«, den ich im Folgenden genauer beschreiben möchte.

Systemische Perspektiven Ein wesentlicher Aspekt des systemischen Ansatzes ist, dass er tendenziell zu Stärkung und Angstminderung beitragen will. Grundsätzlich wird jede Problemsituation als einzigartig betrachtet – man kann nicht gemäß irgendwelcher Schemata an sie herangehen. Es ist wichtig, die Selbständigkeit der Beteiligten zu achten und zu schützen und die Mitarbeit an der Problemlösung zu fördern (Kompetenzvermutung). Prinzip der Helfer_innen sollte sein, möglichst wenig selbst zu tun und eher Anleitungen und Hilfen für das Selbst-Tun zu geben. Eine Idee im Zusammenhang mit systemischen Beratungs- und Psychotherapiekonzepten besteht darin, dass Menschen sich interessieren und interessant werden können, wenn sie weniger von Angst als von Neugier und Gestaltungs-

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lust bestimmt sind. Personen, die unter eingeengten und diskriminierenden Rahmenbedingungen leben und arbeiten müssen, genießen es meist sehr, sich und ihre Welt auf eine andere Weise begreifen, ihre Möglichkeiten entdecken und ihr Leben selbst bestimmen zu können. Gerade eigenartige und eigensinnige Menschen besitzen die Fähigkeit, sich dem allzu Selbstverständlichen zu entziehen und es infrage zu stellen. Sie haben einen »schrägen« Zugang zur Welt und bewegen sich grenzgängerisch über etablierte Vorstellungen hinaus. Ihr Unvermögen im Bereich normativer Anpassung stellt gleichzeitig auch eine Stärke dar, die unter Umständen kreativ und produktiv umgesetzt werden kann. Die eigenen Perspektiven und Talente entfalten und nutzen zu können, hilft dem Selbstwert, verbessert die psychosoziale Befindlichkeit und dadurch auch die Arbeitsfähigkeit und motiviert dazu, sich auch im Sinn der Aufgabenerfüllung anzustrengen. Wenn sich ein Mensch mit sich und dem was er tut identifizieren kann, wird er eher bereit sein, zu kooperieren. Wenn er von anderen unabhängiger wird, selbst für seine jeweiligen Bedürfnisse sorgen kann und sich in der Folge weniger fürchtet, wird er von seiner Umgebung angenehmer, verträglicher und entspannter erlebt, besser behandelt werden und mehr Anklang finden. Wenn ein guter sozialer Umgang oder die Erfüllung mancher Aufgaben Freude bereiten, könnte sich auch ein neues Verständnis von Arbeit entwickeln, das sich weniger aufgezwungen und pflichtgemäß zeigt. Die reale Arbeitsmarktsituation lässt strukturell jedoch leider überhaupt keine Bewegung in diese Richtung zu. Es liegt an den persönlichen Fähigkeiten der Trainer_innen und deren Vorgesetzten in den Trägerorganisationen, trotzdem Raum für Eigenart zu schaffen, wo immer es möglich ist. »Raum schaffen« kann in diesem Zusammenhang auch heißen, gedankliche Engführungen, überkommene oder unnötige Deutungen und Mythen auflösen zu helfen.

Psychische Erkrankungen und »Krankheitseinsicht« In den letzten Jahren gibt das AMS den Trainingseinrichtungen immer öfter den Auftrag, den oder die Kund_in »psychisch zu stabilisieren«. Außerdem wird es immer häufiger nötig, Teilnehmer_innen aufgrund psychischer Einschränkungen und Belastungen als nicht kursfähig einzustufen, sie in Einzelgesprächen zu unterstützen und fallweise auch zu Fachärzt_innen zu begleiten. In den Kursen selbst gingen wir deshalb dazu über, das Thema »psychische Erkrankung« generell anzusprechen. Auf diese Weise setzten sich die Teilnehmer_innen grundsätzlich mit der Thematik auseinander und lernten, dass es keine Schande ist, in diesem Bereich Hilfe zu benötigen. Wir konnten ihnen

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allgemeine Informationen (beispielsweise über Einrichtungen, an die sie sich wenden können) geben, ohne dass sie sich vor sich selbst oder der Gruppe »outen« mussten. Häufig sprachen sie uns dann in Einzelgesprächen auf die Thematik an, meinten, sie seien betroffen und baten um Hilfe. Doch obwohl die diagnostizierten Erkrankungen unserer arbeitssuchenden Kund_innen zunehmen, betreuen wir nach wie vor viele, die offiziell nicht als »krank« gelten und sich selbst auch nicht so bezeichnen würden, auch wenn diese (Selbst)Beschreibung als »krank« möglicherweise neue Perspektiven von Entlastung und adäquater Unterstützung eröffnen könnte. Ein gutes Beispiel dafür ist Herr B., den ich etwa zwei Jahre im Rahmen der Einzelberatung betreute: Herr B. war damals 58 Jahre alt und wurde von der AMS-Betreuer_in mit dem Auftrag »psychische Stabilisierung« zugewiesen. Es stellte sich heraus, dass er im Job zunehmend überfordert war, sich dies aber nicht eingestehen konnte. Er nahm immer mehr Arbeit mit nach Hause, bis dann der psychische Zusammenbruch mit längerem stationärem Aufenthalt folgte. Seine Frau ist psychisch schwer krank, und auch seine erwachsenen Kinder sind psychisch instabil. Herr B. fühlte sich für alle zuständig und hatte keine Zeit, auf sich zu achten. Am Beginn der Beratung schien er auch körperlich verfallen zu sein. Er klagte über Unkonzentriertheit, dass er so wenig schaffe, dass es zu Hause so schlimm ausschaue – gleichzeitig war er aber der Meinung, dass er gesund und arbeitsfähig sei. Es stellte sich heraus, dass er seine Medikamente nicht nahm und schon länger nicht mehr bei seinem Psychiater war. Es dauerte viele Stunden, ihn dazu zu bewegen, wieder zum Arzt zu gehen, den er im Übrigen sehr mochte. Für mich war durch sein Verhalten offensichtlich, wann er Medikamente nahm und wann nicht – doch alle Versuche, etwas zu verändern, andere Einrichtungen zu involvieren, scheiterten letztlich daran, dass Herr B. davon überzeugt war, dass er nicht krank sei und das alles ohnehin schaffen müsse. Früher sei es ja auch gegangen.

Was die Arbeit mit diesen Teilnehmer_innen sehr erschwerte, war, dass die Betroffenen keinerlei »Krankheitseinsicht« hatten, ihre psychische Beeinträchtigung also nicht wahrnehmen konnten oder wollten. Wenn sie aufgrund ihrer Verhaltensweisen keinen Arbeitsplatz fanden, so lag es aus ihrer Sicht vor allem an den anderen – am Arbeitsmarkt, an den unverschämten Arbeitgeber_innen, den Rahmenbedingungen – aber nicht an ihnen selbst oder ihrer psychischen Einschränkung bzw. Belastung. Sofern es möglich war, diese etwas einseitige Sichtweise behutsam aufzuweichen und andere Perspektiven einfließen zu lassen, konnte Bewegung in das Leben der Betroffenen kommen. Wo uns das nicht gelang, konnten wir letztlich keinen Auftrag von den Teil-

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nehmer_innen erhalten, der sich auf ihre eigenen Veränderungsmöglichkeiten bezog, und mussten dies akzeptieren. Da wir aber an der von ihnen so negativ beschriebenen Lebenssituation und Umgebung nichts verändern konnten, stand im Abschlussbericht für die einzelnen Kursteilnehmer_innen dann meist unter der Rubrik »Vorschläge zur Weiterarbeit« das Wort »Existenzsicherung«. Das bedeutete, dass die Person unserer Meinung nach nicht vermittelbar war (auch nicht auf einen geschützten Arbeitsplatz in einem Beschäftigungsprojekt). Damit gab es von Seiten des AMS natürlich auch keine aktive Unterstützung mehr. Hier zeigt sich ein grundlegendes Dilemma. Sich selbst als »psychisch krank« bezeichnen zu können eröffnet einerseits Veränderungsmöglichkeiten, bringt Ressourcen mit sich, schützt vor dem Stress, sich bewerben zu müssen und dem Druck schädlicher, leistungsorientierter Diskurse (beispielsweise »jeder ist seines Glückes Schmied«). Es ermöglicht (etwa psychiatrische oder psychotherapeutische) Behandlungen, die die Voraussetzungen für weitere Förderung und Unterstützung schaffen. Andererseits dringt eine weitere, unter Umständen kränkende und schwächende Fremdbeschreibung in das eigene Gefüge ein, man wird klassifiziert und anhand diagnostischer Schemata beurteilt, von den angeblich »Normalen« schief angesehen, belächelt und ausgeschlossen. Die Befindlichkeit der eigenen Psyche ist einerseits ein Ergebnis multifaktorieller Einflüsse – unter anderem auch der eigenen Lebensgeschichte, zu der auch langjährige Frustrationen im Zusammenhang mit dem Thema Arbeit und Arbeitssuche gehören. Andererseits verhindert der aktuelle psychische Zustand auch, dass überhaupt neue Erfahrungen mit anderen Menschen (auch im Arbeitskontext) gemacht werden können. Als Trainerin muss ich anregen und fördern, dass Menschen sich wieder in Arbeitskontexte hineinbewegen – damit das möglich ist, braucht es eine Behandlung und im optimalen Fall eine Beseitigung psychischer Hindernisse. Als Sozialarbeiterin versuche ich, meinen Klient_innen ein förderliches Umfeld und andere Ressourcen zu erschließen, mit der Idee, dass bessere Umgebungsbedingungen auch zu einem veränderten Verhalten führen können – die Behandlung psychosozialer Störungen stellt eine dieser Ressourcen dar. Gerade Klient_innen, die dazu schwer Zugang finden, haben sozusagen ein Recht darauf. In meiner Rolle als Psychotherapeutin, die mitschwingt, auch wenn ich im Trainingsbereich arbeite, behalte ich beide Seiten im Auge und helfe meinen Klient_innen, sich ihr eigenes Bild über sich selbst zu machen und ihre eigenen Wege in der jeweiligen Lebenslage zu finden – ich muss sie aber auch mit anderen, unterstützenden Berufen in Kontakt bringen und mit ihnen klären, inwiefern eine Selbstbeschreibung als »psychisch krank« für sie nützlich bzw. erhellend oder auch hinderlich sein kann. Voraussetzung, um die eigene psychische Einschränkung bzw. Belastung wahrnehmen und akzeptieren

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zu können, ist jedenfalls, dass man sich ihrer nicht mehr schämen bzw. weitere, durch die Diagnosestellung bedingte, negative Konsequenzen befürchten muss.

Wer ist zuständig? Mit einem Klienten wie Herrn B. zu arbeiten, geht natürlich weit über den arbeitsmarktpolitischen Auftrag hinaus (Voraussetzungen schaffen und Hindernisse beseitigen, damit die Klient_innen arbeits- bzw. zumindest kursfähig werden). Doch wer ist zuständig? Er gilt als arbeitssuchend, ist jedoch definitiv nicht arbeitsfähig. Wenn er zu lange im Krankenstand ist, wird er von der Krankenkasse ausgesteuert und hat in der Folge weder Versicherungsschutz noch eine Geldleistung. Anträge auf Invaliditätspension werden in einem ersten Anlauf oft abgelehnt, eine weitere Antragstellung ist gerade für Menschen mit psychischen Störungen schwierig. Es müsste dann die Grundsicherung greifen, diese ist aber meist viel geringer als das Arbeitslosengeld. Außerdem bekommt der Klient/ die Klientin Grundsicherung nur, wenn er bzw. sie arbeitswillig ist. Das muss er durch seine Meldung am AMS unter Beweis stellen, dann muss das AMS »etwas mit ihm machen« – ihn in Kurse oder ins Einzelcoaching schicken, denn es kann jemanden nur betreuen, wenn dieser auch arbeitsfähig, also vermittelbar ist. Grundsicherung bedeutet außerdem eine Meldung an die Gemeinde, was vor allem im ländlichen Bereich durch den Wegfall der Anonymität als Katastrophe erlebt wird. Der Druck erhöht sich um ein Vielfaches und manövriert Menschen in einer schwierigen psychischen Situation weiter in ihre Krankheit hinein. Depressionen und Suizidgedanken bzw. -versuche nehmen zu. Eine Situation, die ohnehin belastend für die Betroffenen ist, wird damit eigentlich unaushaltbar. Das wissen engagierte Berater_innen am AMS und Trainer_innen natürlich auch und versuchen im günstigsten Fall gemeinsam, individuelle Lösungen zu finden. Wie lange das angesichts der Einsparungen und Bürokratisierungstrends noch möglich sein wird, ist allerdings fraglich.

Das Einzelcoaching – eine Schnittstelle zwischen Training und Psychotherapie an den Grenzen des Sozialsystems Da sich in den Kursmaßnahmen in den Folgejahren immer mehr Menschen fanden, die wir (aber auch andere Trägerorganisationen) als »nicht kursfähig« einstufen mussten, führte das AMS 2000 die sogenannten »Einzelcoachings«

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ein. Vor allem in Krems wird diese Möglichkeit von den AMS-Betreuer_innen dazu genutzt, um Kund_innen gezielt begleiten zu lassen, bei denen unklar ist, was für sie jeweils hilfreich sein könnte. Der Auftrag als Trainer_in besteht in diesen Fällen darin, eine gründliche Anamnese zu erstellen und weiterführende Schritte einzuleiten. Gut erinnere ich mich zum Beipsiel an den Anruf einer AMS-Beraterin in Krems: »Ich hab’ hier Herrn Z. sitzen. Es geht ihm nicht gut, und er braucht dringend Unterstützung. Kann ich ihn dir gleich schicken?« Ich möchte anhand dieses Beispiels schildern, welche Aufgaben das Einzelcoaching in so einem Fall zu erfüllen hat und wie psychotherapeutische Aspekte darin einfließen. Es ist für viele andere Menschen zu einer Art sozialen Anlaufstelle geworden für Probleme aller Art. Herr Z. ist gelernter Einzelhandelskaufmann. Früher war er mit öffentlichen Verkehrsmitteln täglich aus einem kleinen Ort nach Wien gependelt. Nachdem sein Arbeitgeber in Konkurs gegangen war, fand er keine Arbeit mehr und schämte sich so sehr dafür, dass er sich nicht beim AMS meldete. Er wohnte im kleinen Haus seiner Schwester, musste also keine Miete zahlen, arbeitete in den Weingärten der Nachbarn und verdiente sich so sein Essen. Eine Bekannte, die in einer Apotheke angestellt war, versorgte ihn mit Medikamenten, wenn er krank war. Das ging etliche Jahre so dahin, bis seine Nachbarn nicht mehr zuschauen konnte und ihn zum AMS brachten (anstellen wollte sie ihn allerdings auch nicht, das hätte seine Probleme rasch gelöst!). Der Betreuerin im AMS war sofort klar, dass er, obwohl er noch nie eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung bezogen hatte, keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hatte, da zu viel Zeit seit seinem letzten Angestelltenverhältnis verstrichen war. Sie konnte nichts für ihn tun und schickte ihn zu mir. In meiner sozialarbeiterischen Funktion musste ich zuerst die soziale Notsituation klären bzw. mildern – daher nahm ich ihn in einen Kurs bei uns auf, damit er DLU beziehen konnte. (»Deckung zum Lebensunterhalt« ist ein fixer Tagessatz, der vom AMS für Teilnehmer_innen an Kursmaßnahmen bezahlt wird, die sonst keinerlei Anspruch auf Leistungen vom AMS haben. Damit verbunden ist auch die Krankenversicherung, was gerade bei Herrn Z. ebenfalls sehr wesentlich war.) Da er sehr menschenscheu schien, vereinbarte ich mit ihm, dass er einstweilen nur zu Einzelgesprächen kommen sollte. In dieser Zeit organisierte ich mit ihm die Sozialhilfe. Das war nicht so einfach für ihn, da er in einem kleinen Ort lebt, was bedeutet, dass die Gemeinde einen Teil der Kosten der finanziellen Unterstützung übernehmen muss. Das wird naturgemäß nicht gern gesehen und bleibt nicht anonym. Hier zeigt sich auch, wie bestimmte bürokratische Regelungen sich diskriminierend auf hilfsbedürftige Menschen auswirken können. In langen Gesprächen – die in diesem Fall auch psychotherapeutischen Charakter gewannen – fasste er wieder Zutrauen und erkannte, dass es nichts gab, für

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das er sich genieren müsste. Langsam konnte er auch von sich aus an Gruppenangeboten teilnehmen und ging mehr und mehr aus sich heraus. Auch heute – viele Jahre später – kommt er immer wieder, wenn er etwas braucht.

Psychotherapie mit arbeitsuchenden Menschen Arbeitssuchende Menschen kommen nicht primär in Psychotherapie, weil sie arbeitslos sind, sondern weil sie zusätzlich noch ein psychisches Problem haben. Allein den Schritt zu machen und um Hilfe zu bitten, ist für die meisten sehr schwierig. Die Erkenntnis, ein psychisches Problem zu haben, ja psychisch krank zu sein, belastet viele Arbeitsuchende. Das Gefühl, persönlich versagt zu haben, ihr Leben nicht in den Griff zu bekommen und nicht mehr arbeiten zu können, stellt eine große Hürde dar. Auch wenn nach den geltenden ICD-10Richtlinien meiner Einschätzung nach zwei Drittel der Teilnehmer_innen an den Trainingsmaßnahmen, an denen ich beteiligt war, als psychisch krank oder zumindest auffällig diagnostiziert worden wären, empfanden die Betroffenen sich nicht als krank und hatten ihren Platz in einer Gemeinschaft gefunden – auch wenn diese nur aus ihnen und dem Nachbarshund bestand. Sie konnten irgendwie überleben und sahen keinen Grund, etwas an sich selbst zu verändern. Dass die offizielle Behörde, das Arbeitsmarktservice, dies anders sah, war bloß ein Ärgernis, mit dem sie zu leben gelernt hatten. Zu Beginn der Arbeitslosigkeit sehen die meisten psychisch kranken Menschen die Ursache in den Arbeitsbedingungen: zu viel Arbeit, Stress und Mobbing werden hier als häufigste Ursache für den Verlust des Arbeitsplatzes genannt. Doch auch wenn sich eine negativ erlebte Arbeitssituation psychisch sicher ungünstig auswirkt, zeigt sich in den Tiefeninterviews zu meiner Dissertation (Wögerer, 2015), dass nach länger dauerndem Krankenstand und psychotherapeutischer Behandlung die meisten Betroffenen feststellen, dass die Ursache, die Wurzel der Erkrankung schon viel früher gelegt wurde und erst jetzt durch spezielle Auslöser zum Ausbruch kam. Bis diese Menschen zur Psychotherapie gelangen, steht ihnen aber oft ein langer Weg bevor: den Anforderungen des AMS »genügen« sie nicht, trotz aller möglicher Maßnahmen verschlechtert sich ihre Situation, sie finden keine Arbeit und sind immer weniger arbeitsfähig. Krankenstand reiht sich an Krankenstand, Hausärzt_innen verschreiben Psychopharmaka – und immer noch ist die Idee in den Köpfen der Betroffenen, dass sie ja nicht krank sind (sobald sie eine Arbeit haben, wird alles wieder wie früher sein). Doch diese Arbeit findet sich nicht. In Arbeitstrainingszentren und diversen Sozialprojekten oder auch bei der arbeitsdiagnostischen Abklärung

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stellt sich dann heraus, dass auch die Tätigkeit in einem geschützten Rahmen nicht mehr möglich ist. Irgendwann geht es den Betroffenen so schlecht, dass sie doch in der Psychiatrie oder in einer speziellen Rehabilitationsanstalt landen. Dort kommen viele von ihnen das erste Mal mit Psychotherapie in Kontakt – und sie gestehen sich zu, dass sie krank sind und dass dies keine Schande ist, sondern einer Unterstützung bedarf, die sie auch bekommen können. Was derzeit in diesem Arbeitsfeld zusätzlich erschwerend hinzukommt, ist das »Verordnen« von Psychotherapie durch die Krankenkasse. Hier sehe ich den Versuch, Psychotherapie – gegen den gesetzlichen Auftrag – im Dienst der Geldgeber und der Sozialversicherungen zu instrumentalisieren. Die Psychotherapeut_innen sollen psychisch kranke Menschen »reparieren«, damit sie dem Arbeitsmarkt wieder zur Verfügung stehen. Das ist zum einen gegen den Grundsatz der Freiwilligkeit als auch gegen den Grundsatz, dass in diesem Rahmen primär die Klient_innen ihre Ziele und Aufträge bestimmen dürfen. Diesbezüglich wird es vermutlich sehr bald zu intensiven Auseinandersetzungen mit der Ethikkommission kommen müssen.

Wie Betroffene ihre Situation sehen Für meine Dissertation zu der Frage, was arbeitslose Menschen mit psychischen Erkrankungen bei ihrer Gesundwerdung unterstützen kann (Wögerer, 2015), führte ich mit Betroffenen Tiefeninterviews durch. Ich möchte an dieser Stelle auszugsweise einige Beispiele anführen, um die subjektiv erlebte und beschriebene Situation arbeitsloser psychisch Erkrankter zu verdeutlichen. Schleichender Beginn: Bei allen Befragten begann die Erkrankung langsam, schleichend – sie wurde am Anfang meist ignoriert, oft aus der Motivation heraus, den Job nicht zu gefährden. Die Belastung am Arbeitsplatz schien für die Betroffenen eine große Rolle in Hinblick auf ihre Befindlichkeit zu spielen. »Es hat sich schon angekündigt. Der Druck in der Firma ist immer größer geworden. Wir sollten immer mehr und schneller arbeiten. Dann hat es auch noch einen Wechsel in der Geschäftsführung gegeben …«; »… ich hab’ immer mehr Verantwortung übernehmen müssen … aber es hat eh alles nix genützt.«; »Ich hab’ schon bemerkt, dass ich den Druck in der Firma immer schlechter ausgehalten hab’. Die

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vielen Leute, jeder wollte etwas von mir …« (Dieses und alle nachfolgenden Zitate des Beitrags entstammen den Interviews aus Wögerer, 2015).

Familiäre Belastungen und berufliche Anforderungen waren bei den meisten Befragten sehr hoch. Pflege naher Angehöriger, Pendeln, Überstunden, Mobbing, aber auch der Wiedereinstieg ins Berufsleben nach der Kinderbetreuung verursachten Stress, den die Betroffenen irgendwann nicht mehr ausgleichen konnten. Existenzängste und, damit verbunden, einen Beruf auszuüben, der nicht wirklich Freude macht, wurden ebenfalls als Verursacher gesehen. Außerdem standen schwierige Beziehungen bzw. die Scheidung aus der Sicht der Betroffenen am Beginn der Erkrankung. In einigen Fällen schien der Druck am Arbeitsplatz die Krise bzw. die Trennung von Partner­_innen herbeigeführt zu haben. Dies führte zu einer zusätzlichen Belastung, der Druck am Arbeitsplatz wurde noch weniger ausgehalten. »Ich bin verheiratet, meine ältere Tochter ist schon ausgezogen, der jüngere Sohn wohnt noch zu Hause, er studiert. Meine Frau und ich haben uns schon lange auseinandergelebt. Sie ist im Pflegedienst, arbeitet viel, ist oft müde. Reden können wir schon lang nicht mehr miteinander …«

Hier gäbe es für uns Psychotherapeut_innen ein großes Betätigungsfeld – auch unabhängig von der Arbeitssituation der Betroffenen. Bei diesen steht eher die Idee im Vordergrund: »Wenn ich wieder funktioniere, kann ich wieder arbeiten – dann ist meine Welt wieder in Ordnung …« Drohende Eskalation Die berufliche Situation war für viele ebenfalls sehr schwierig und aus meiner Sicht ebenfalls ein Gebiet, wo Psychotherapie hilfreich (gewesen) wäre. Mobbingerfahrungen waren bei den meisten vorherrschend. Die Betroffenen schilderten, dass sie immer mehr arbeiteten, um den Job zu behalten, zum Teil unter schwierigsten psychischen Bedingungen. »Ja, Zukunftsängste … und ich war mir nicht zu gut … ich hab’s einfach durchgedrückt … ich hab’ mir gedacht, ich probier’s … ich bin mir auch nicht zu gut für niedere Arbeiten … zum Schluss durfte ich nur mehr Rechnungen lochen, einheften … und da ist mir gesagt worden, welcher Locher … Und vorher hab’ ich das Finanzcontrolling gemacht, hab’ selbständig gearbeitet, war zuständig für alles …«

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Ein anderer Faktor war die wirtschaftliche Lage. Trotz äußerstem Arbeitseinsatz, zum Teil auch unbezahlt, konnte die Kündigung nicht verhindert werden. Und manchmal führte auch die Sparpolitik zu großem Druck. »Ich bin arbeitslos geworden, weil die Firma in Konkurs gegangen ist. Dann hab’ ich aber wieder einen neuen Job gefunden. Ich hab’ mich total hinein gearbeitet, war für ziemlich viele Bereiche zuständig. Ich bin oft länger geblieben, weil es irgendwelche Probleme gegeben hat. Ich hab’ die Jungen eingeschult – Insgesamt war ich acht Jahre bei der Firma. Dann haben sie mich einfach gekündigt. Ich bin zu alt, zu teuer … haben sie gesagt. Sie haben gar nicht gesehen, was ich alles geleistet hab’! … Ich hab’ mich immer mehr angestrengt, hab’ immer mehr Überstunden gemacht – auch unbezahlt, damit ich mit der Arbeit nachkomme … es hat sich schon angekündigt. Ich hab’ halt geglaubt, dass ich das mit viel Leistung kompensieren kann.«

Interessant ist, dass jedes Ereignis für sich genommen »noch nicht so schlimm« gewesen wäre – die jeweilige berufliche Situation, gepaart mit der Lebenssituation, führte aus der Sicht der Betroffenen dann letztlich zum Ausbruch der Erkrankung. Zusammenbruch Die Auslöser für einen langen Krankenstand und in der Folge dann die Arbeitslosigkeit waren entweder der körperliche Zusammenbruch oder die Kündigung durch den Dienstgeber. Von sich aus hat niemand der Befragten das Dienstverhältnis beendet, Konsequenzen aus der schwierigen Situation gezogen oder sich gar Hilfe von außen geholt, etwa bei einem/einer Psychotherapeut_in. »Nein – ich hab’ halt immer so weiter gemacht. Erst der Zusammenbruch und was dann passiert ist, haben mich wach gerüttelt. Wobei der Zusammenbruch damals nicht so tragisch war für mich. Ich hab’ mir gedacht, der Körper mag halt nicht mehr. Das ist in ein paar Tagen wieder erledigt. Ich hab’ halt wenig geschlafen in der Zeit – ich hab’ immer an die Leute gedacht, was die über mich reden in der Firma und die Nachbarn, … wegen meiner Frau und so …«

Immer wieder waren es auch die Hausärzt_innen, die die »Notbremse« zogen und die Betroffenen zu einer Rehabilitationsmaßnahme anmeldeten. »Mein Hausarzt hat mich immer wieder drauf angesprochen. Der hat gesehen, dass es mir nicht gut geht. Ich hab’ ja auch große Schlafstörungen. Und dann halt

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immer wieder so körperliche Beschwerden … Atemnot, Herzrasen … Irgendwann hat mein Arzt nicht mehr zuschauen wollen. Er hat mich für eine Reha angemeldet.«

Der Verlust des Arbeitsplatzes wurde manchmal auch als eine Art Erlösung erlebt – erst dadurch konnte eine unerträgliche Situation beendet werden. Interessant ist, dass niemand dies aus eigenem Antrieb geschafft hat, sondern es aus der passiven Rolle heraus über sich ergehen lassen musste. »Ich hab’ immer öfter Schweißausbrüche bekommen, so ein Herzrasen, als ob ich keine Luft mehr bekäme. Ich hab’ dann immer schnell raus müssen, dann ist es besser geworden. Das geht natürlich gar nicht vor den Kunden. Ich hab’ aber nichts machen können dagegen. Der Chef hat mich dann immer öfter heimgeschickt. Der Hausarzt hat mir eh Medikamente verschrieben, aber die haben nicht wirklich genützt … Der Arzt hat mich dann zu allen möglichen Untersuchungen geschickt – aber die haben nichts gefunden, haben gesagt, ich bin gesund. Aber ich hab’ mich immer schlechter gefühlt. Wenn ich gewusst hab, ich muss am nächsten Tag arbeiten gehen, ist mir dann schon schlecht geworden, ich hab’ nicht mehr schlafen können … Nach etlichen Monaten, nachdem das immer schlimmer geworden ist, hat der Chef dann gesagt, dass das so nicht weitergehen kann. Er hat mich dann gekündigt. Aber ich hab’s eh verstanden. Es ging wirklich nicht mehr.«

Verschlimmert wurde die Situation aus der Sicht der Betroffenen durch den Druck von Institutionen (wie Krankenkasse und AMS) und durch das NichtErnstnehmen der Erkrankung seitens der Umgebung – außerdem durch die Kündigung bzw. das Weiterführen der krankheitsauslösenden Faktoren wie Mobbing und erhöhte Arbeitsbelastung.

»Gesund sein?« Schwierig für mich als systemische Psychotherapeutin ist es, diese vielen Faktoren, diese vielen Belastungen wahrzunehmen, die auf den einzelnen Menschen lasten. Oft ist nur ein einziger Wunsch für mich spürbar: »Ich will wieder funktionieren, und es soll wieder alles so werden, wie es früher war.« Doch diese Illusion muss ich meinen Klient_innen leider rauben: Die vielen Kränkungen, Verletzungen, Belastungen … Das viele Schweigen, das NichtHinschauen und Nicht-Hinspüren zum eigenen Körper, der eigenen Befindlichkeit, hat letztlich zum Ausbruch der Erkrankung geführt. Würde »alles wieder funktionieren«, würde sich nichts verändern – die Menschen wären ganz rasch

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wieder dort, wo sie zu Beginn der Erkrankung waren. Es erfordert von den Betroffenen viel Mut, die Wirkungen der eigenen Lebensgeschichte zu erfassen, alte Werte und Normen zu hinterfragen, letztlich auch sich selbst infrage zu stellen, um sein Leben in die Hand zu nehmen und selbst gestalten zu können – unabhängig von tradierten Normen und Werten. Als Psychotherapeutin in freier Praxis darf ich meine Klient_innen auf diesem Weg begleiten. Als Beraterin und Trainerin einer Trägerorganisation im AMS-Kontext habe ich dies zwar auch immer getan, befand mich damit aber oft im Widerspruch zum Auftrag meines Geldgebers, der will, dass Arbeitssuchende rasch wieder in den Arbeitsmarkt »eingegliedert« werden. Ob ihnen das gut tut, ob das wirklich hilfreich ist, ist nicht die Frage, die der Auftraggeber – der AMS, also letztlich der Staat – stellt. Letztlich geht es doch wieder darum, dass die Betroffenen wieder gesund werden. Doch was bedeutet für diese »gesund sein« überhaupt? Ich möchte hier wieder exemplarisch einige Aussagen aus den Interviews zitieren: »Ob Sie es glauben oder nicht, aber ich glaube, dass ich jetzt irgendwo gesund bin …. solang ich die Situation so halten kann wie sie jetzt ist, dass ich in Ruhe irgendwie etwas machen kann … dass ich mich niederlegen kann. Für mich ist ›gesund sein‹ das, wo ich mich irgendwo wohlfühlen kann. Ich habe so viele Komponenten des ›Gesundseins‹ gesehen. Die haben auch interessanterweise mit Sterben zu tun. Man kann mich da für blöd halten, aber es gibt Menschen, die sind für mich gesund gestorben … für die war vollkommen klar, sie gehen jetzt. Wo auch immer hin. Das ist ok so. Da denk’ ich mir einfach: Das ist für mich gesund … irgendwo …« »Gesund sein … also durch die Reha und die vielen Gespräche dort … auch mit anderen Betroffenen … sehe ich jetzt manches anders. Für mich hat Arbeit nicht mehr den Stellenwert wie früher. Ich möchte auch noch in der Lage sein, mein Leben zu genießen. Ich hab’ jetzt wieder eine Partnerin … möchte den gleichen Fehler nicht wieder machen und der Arbeit alles unterordnen … für nichts … nicht einmal ein Dankeschön. ›Gesund sein‹ heißt für mich, das Leben genießen können, gut schlafen können, nicht mich im Bett herumwälzen und an die Firma denken müssen, keine körperlichen Beschwerden haben, am Leben wieder teilhaben können. Ja, eine sinnvolle Arbeit, die mich nicht überfordert, wäre auch schön …« »Gesund sein …. das hab’ ich mir noch gar nicht überlegt …. wieder lachen können, Freude haben, genießen können, Menschen zum Reden haben, keine düsteren Gedanken haben … gut schlafen können …« »Gesund sein heißt für mich, wieder angstfrei leben zu können. Aber es ist immer noch schwer für mich, unter Menschen zu gehen. Also ans Arbeitengehen denke ich noch gar nicht … Vielleicht heißt gesund sein momentan für mich, auch mal

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ohne Medikamente leben zu können, mich frei und ungezwungen unter Menschen bewegen zu können. Ja, das wäre ein großer Schritt für mich.«

Die Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit ist also nicht notwendigerweise ein Zeichen der Gesundheit für die Betroffenen, obwohl der gesellschaftliche Druck in diese Richtung recht groß ist. Menschen bei ihrem sehr individuellen Prozess in ihre eigene psychische Gesundheit begleiten zu dürfen, heißt für mich Psychotherapie.

Resümee Ich möchte zum Schluss zusammenfassen, was mich als systemische Psychotherapeutin dazu motiviert, mich mit psychisch kranken Menschen zu beschäftigen, die arbeitslos sind. Ich mag die Verletzlichkeit, aber auch ungeschminkte Ehrlichkeit dieser Menschen. Sie mussten oder müssen mit so vielen Widerständen kämpfen  – im Außen (Behörden, Krankenkassen, AMS, Bekannte und Familie, …) genauso wie auch im Inneren (verinnerlichte gesellschaftliche Rahmenbedingungen, was »nützliche Mitglieder der Gesellschaft« zu tun oder zu lassen haben). Es sind Menschen, die durch ihre Arbeitslosigkeit, aber auch durch ihre psychische Erkrankung am Rande der Gesellschaft stehen. So vieles ist in ihrem Leben einfach weggebrochen: Der Job, oft die Freund_innen und in gewisser Weise ihre Seele, auf die sie sich nicht mehr verlassen können, was sie empfindsamer macht. Bis diese Menschen zur Psychotherapie kommen, haben sie meist einen sehr langen Leidensweg hinter sich. Sie fühlen sich gedemütigt – von den Arbeitgeber_innen, den Kolleg_innen, Beamt_innen, Freund_innen und Familienangehörigen, die ihnen ihr Leiden nicht glauben, sie nicht verstehen. Bis sie darauf vertrauen, dass sie im Rahmen eines von psychotherapeutischen Haltungen und Herangehensweisen geprägten Gespräches nicht bewertet werden, nichts leisten müssen, sondern einfach sie selbst sein dürfen, vergeht oft viel Zeit. Sie merken sofort, wenn ihr Gegenüber – also auch ich als Psychotherapeutin – ihnen etwas vorspielt, so tut als ob, nicht authentisch ist. Sie geben mir die Gelegenheit, mich selbst, meine Haltung und meine Werte ständig neu zu überprüfen und mir folgende Fragen zu stellen: Kann ich meine Klient_innen wirklich so nehmen, wie sie sind? Oder versuche auch ich, an ihnen »herumzuerziehen«, sie in eine bestimmte Richtung zu drängen? Kann ich ihnen offen und vorurteilsfrei zuhören, oder bewerte ich ihr Verhalten insgeheim doch? Bin ich bereit, sie auf ihren Wegen und Umwegen zu begleiten – auch wenn diese

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anders sind, als es viele (Ämter, Freund_innen, Familie, …) wollen? Kann ich die Zusammenhänge, die Verstrickungen und verschiedenen Systeme sehen, in denen meine Klient_innen gefangen sind, oder beziehe ich auch Position, bewerte und verurteile ich sie – so wie die meisten Menschen, mit denen sie in Kontakt kommen? Ich genieße es, wenn es ihnen besser geht, sie Perspektiven für sich entdecken, und ich bewundere oft ihre Kreativität, ihren Mut für unkonventionelle Ideen und Wege. Ich freue mich mit ihnen, wenn sich ganz andere Möglichkeiten zeigen und Leben wieder Sinn und Freude macht. Ich bin meinen Klien­t_innen sehr dankbar für die vielen berührenden Begegnungen und die Herausforderungen, vor die sie mich durch ihre Art stellen. So kann auch ich weiter wachsen. Literatur Büssing, A. (1993). Arbeitslosigkeit – Differentielle Folgen aus psychologischer Sicht. Arbeit, (2) 1, 5–19. Jahoda, M., Lazarsfeld, P. F., Zeisel, H. (1975). Die Arbeitslosen von Marienthal. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kieselbach, T. (1994). Arbeitslosigkeit als psychologisches Problem  – auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. In L. Montada (Hrsg.), Arbeitslosigkeit und soziale Gerechtigkeit (S. 233–263). Frankfurt a. M.: Campus. Kritzinger, S. (2009). »Pilotprojekt Effekte der Arbeitslosigkeit«. Endbericht. Universität Wien: Fakultätszentrum für Methoden der Sozialwissenschaften. Zugriff am 25.3.2015 unter http:// www.sozialministerium.at/cms/site/attachments/0/0/9/CH2247/CMS1318326022365/effekte_ der_arbeitslosigkeit-endbericht.pdf Wögerer, U. (2015). Was kann arbeitslose Menschen mit psychischen Erkrankungen bei ihrer Gesundwerdung unterstützen? Eine Untersuchung am Beispiel des Arbeitsmarktbezirkes Krems/Donau. Sigmund Freud Universität Wien: Dissertation, unveröffentlichtes Manuskript.

Literaturempfehlungen Biffl, G. (2009). Arbeitsplatzbelastungen, arbeitsbedingte Krankheiten und Invalidität. Präsentation der Studie anlässlich der gleichnamigen Fachtagung der Arbeiterkammer Wien, Bildungszentrum. Zugriff am 24.3.2015 unter http://media.arbeiterkammer.at/wien/PDF/studien/ Praesetation_Arbeitsplatzbelastung.pdf Biffl, G., Leoni, T., Mayrhuber, C. (2008). Arbeitsplatzbelastungen, arbeitsbedingte Krankheiten und Invalidität. Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung. Zugriff am 19.05.2015 unter http://media.arbeiterkammer.at/wien/PDF/studien/StudieArbeitsbelastungen.pdf Ebber, I. (2007). Arbeitslosigkeit und psychische Gesundheit – Eine kritische Lebenssituation und ihre Bewältigung. München: GRIN. Eikelmann, B., Zacharias-Eikelmann, B., Richter, D., Reker, T. (2005). Integration psychisch Kranker – Ziel ist Teilnahme am »wirklichen« Leben. Zugriff am 24.3.15 unter http://www. aerzteblatt.de/archiv/46718/Integration-psychisch-Kranker-Ziel-ist-Teilnahme-am-wirklichen-Leben Kollmann, I., Fock-Putschi, F., Müller, R., Haberfellner, E. M., Hochfellner, S. M. (2006).

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Medizinische Rehabilitation psychisch Erkrankter in Österreich – Bericht über ein Pilotprojekt der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) in den Jahren 2002–2006 mit den Vertragseinrichtungen RZ »Sonnenpark«, Rehabilitationszentrum für psychosoziale Gesundheit, Bad Ball (H) und Rehabilitationsklinik für seelische Gesundheit, Klagenfurt (K). Zugriff am 19.05.2015 unter https://www.sozialversicherung.at/portal27/portal/esvportal/content/contentWindow? &contentid=10008.555173&action=b&cacheability=PAGE Müller, R. (2012). Die Marienthal-Studie. Zugriff am 24.3.15 unter http://agso.uni-graz.at/marienthal/studie/00.htm Schneider, W. (2010). Psychische Gesundheit und Arbeit. Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin, 45 (2), 55–63.

Lika Trinkl

»It’s a jungle out there …« Über die Besonderheit psychotherapeutischer Arbeit mit obdachlosen Menschen

… disorder and confusion everywhere. No one seems to care …« (Randy Newman – Titelsong der Krimiserie Monk)

Seit etwa drei Jahren biete ich psychotherapeutische Settings in zwei Tageseinrichtungen für obdachlose Menschen in Wien an. »JOSI« und »ESTER« sind beides Tagesstätten des Fonds Soziales Wien. Bevor ich auf die Rahmenbedingungen und Herausforderungen dieser Tätigkeit eingehe, stelle ich dar, unter welchen Voraussetzungen wohnungslose Personen leben, womit sie konfrontiert sind und welche Unterstützungsangebote für sie existieren, um mich in der Folge der Frage anzunähern, welche Rolle Psychotherapie im Obdachlosenbereich einnehmen kann.

»Obdachlos« Um über etwas sprechen oder schreiben zu können, braucht es Begriffe. Für Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, existieren im deutschsprachigen Raum mehrere davon, wobei es nach meinen Recherchen keine gibt, die von den Betroffenen positiv besetzt zur Selbstdefinition verwendet werden. Das mag unter anderem daran liegen, dass Menschen ohne festen Wohnsitz sich nicht als Gruppe begreifen (wollen), in der oder mithilfe derer sie für ihre Rechte eintreten können. Der quasi offizielle politische und soziale Diskurs fasst sie summarisch als »Obdachlose« zusammen, und unter diesem Sammelbegriff treten sie auch in der Tageseinrichtung auf, die durch ihr Hilfsangebot die unterstellte Gleichheit erst herstellt. Gäbe es die Einrichtung nicht, so gäbe es wenige Gemeinsamkeiten – womit ich keinesfalls zum Ausdruck bringen möchte, dass ich deren Notwendigkeit infrage stelle.

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Diese von außen auferlegte Einheit entspricht allerdings nicht dem, was wohnungslose Menschen erleben und worüber sie berichten. Wohnungs- oder Obdachlosigkeit ist in ihren Erzählungen nur ein Teil dessen, was sie als schwer erträgliche Problemthemen beschreiben und worunter sie leiden, mitunter nicht einmal der belastendste.

Meine Arbeit in der JOSI Das Angebot der JOSI richtet sich an alle volljährigen und wohnungslosen Personen, die den Kriterien und Durchführungsbestimmungen des Wiener Sozialhilfegesetzes entsprechen. Klient_innen haben die Möglichkeit, in der JOSI zu duschen – Hygieneartikel werden kostenlos ausgegeben –, ihre Wäsche zu waschen und zu trocknen und im Notfall Kleidung, Decken und Schlafsäcke zu erhalten. Wenn sie selbst kochen möchten, stehen eine Küche, Geschirr, Grundnahrungsmittel und Gewürze zur Verfügung. Kaffee, Tee, Milch und Saft sowie Obst, Brot und Aufstriche können gratis oder gegen geringes Entgelt konsumiert werden. Die Klient_innen erhalten außerdem die Möglichkeit, sich tagsüber in einem Ruheraum mit Schlafplätzen aufzuhalten, mit Sozialarbeiter_innen zu sprechen oder medizinische Betreuung in Anspruch zu nehmen. »Lokalverbote« werden lediglich ausgesprochen, wenn Personen bewaffnet sind, höchst aggressives Verhalten zeigen oder jemanden tätlich angreifen. Je nach Schweregrad gilt der Ausschluss in der Folge für einige Stunden oder Tage. An Tagesprogramm existieren Besuche von kulturellen Veranstaltungen, diverse Workshops, Fußballtrainings und Ausflüge. Wenn möglich, werden Klient_innen hinsichtlich der Erlangung einer Übergangswohnung unterstützt und im Prozess des »Wieder Wohnens« begleitet. Außerdem wird eine Postadresse zur Verfügung gestellt, was etwa für den Bezug von Arbeitsunfähigkeitspensionen und für die Erlangung einer Erwerbsarbeit erforderlich ist. Die Idee, Psychotherapie in einer Tageseinrichtung für obdachlose Menschen anzubieten, entstand in Gesprächen mit einzelnen Mitarbeiter_innen, Teamgesprächen und der Evaluation des Bedarfs. Etwa 70–80 % der Mitarbeiter_innen gaben an, dass ihnen sofort mindestens je zwei Klient_innen einfallen, die ihrer Meinung nach dringenden Bedarf an psychotherapeutischer Begleitung oder Unterstützung hätten. Hierbei handelte es sich sowohl um Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, Suchtproblematiken, Verhaltensauffälligkeiten, Traumatisierungen, Depressionen, Angstzuständen oder anderen psychischen Problemen als auch um Personen, die begleitende Unterstützung in der Alltagsbewältigung oder Psychotherapie als eine Option kommunikativen Austauschs

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brauchen konnten. Klar war auch, dass ich als Psychotherapeutin Zeit anbieten kann, die den Betreuer_innen und Sozialarbeiter_innen in ihrem ausgefüllten Arbeitsalltag nicht zur Verfügung steht. Mein psychotherapeutisches Angebot gilt für alle Menschen, die in diesem Tageszentrum unterstützt werden bzw. die sich als Klient_innen dort aufhalten – unabhängig davon, ob sie »anspruchsberechtigt« sind, das heißt ein gesetzlich formuliertes Anrecht auf Sozialleistungen haben, oder nicht –, und umfasst psychotherapeutische Einzelgespräche, bei Bedarf Paartherapien und das Angebot von Gruppengesprächen. Die Klient_innen werden sowohl von den Sozialarbeiter_innen und Betreuer_innen als auch über aufliegende Flyer und Aushänge darüber informiert. Manchmal wird Besucher_innen ein therapeutisches Gespräch empfohlen, manche kommen von selbst auf mich zu oder geben bekannt, dass sie einen Termin wünschen. Ich bin einmal wöchentlich ein bis drei Stunden anwesend und stehe für vereinbarte Termine und spontane Entlastungs- oder Erstgespräche zur Verfügung. In diesen Zeiten halte ich mich auch im Theken- oder Kochbereich auf, wodurch ich akuten Bedarf erkennen, bei Deeskalationen mitwirken oder einfach in Kontakt mit Klient_innen sein kann. Die Themen der psychotherapeutischen Gespräche mit obdachlosen Menschen sind oft keine anderen als in einer freien Praxis, beispielsweise Persönlichkeitsentwicklung, Beziehungen, Ängste, Zwänge, Drogenkonsum usw. Zudem berichten sie aber auch von spezifischen Belastungen und Problematiken, die sich aus der ihnen gemeinsamen Erfahrung der Obdachlosigkeit ergeben, zum Beispiel Gewalterfahrungen, Mangel an sozialen Bezügen, Ausgrenzung, Erwerbsarbeitslosigkeit etc. So entstand die Idee, in der Tageseinrichtung auch Gruppengespräche anzubieten. In regelmäßig stattfindenden Gesprächsrunden sollte gewährleistet sein, dass ein Austausch der sich üblicherweise separierenden, wenn nicht gar anfeindenden Personen oder Gruppen mit ähnlicher Problemlage stattfinden kann – niederschwellig, experimentell und als offene Gruppe konzipiert. Ich sorgte für entsprechende Aushänge in der Einrichtung, informierte die Kolleg_innen und nannte diese Montagsrunde »Jetzt passiert was!« – was allerdings bislang noch kein einziges Mal der Fall war. Gründe dafür, dass das Gruppenangebot nicht in Anspruch genommen wurde und wird, könnten Sprachbarrieren sein, die Angst, sich vor anderen zu »outen«, Geschlechterdifferenzen oder negative Erfahrungen in psychiatrischen Einrichtungen. Zumindest wurde mir dies in Einzelgesprächen vermittelt, wiewohl in ebendiesen Gesprächen das Angebot als grundsätzlich interessant und bereichernd bezeichnet wurde. Der Austausch mit Kolleg_innen legt außerdem die Vermutung nahe, dass es sich die meisten Besucher_innen nicht leisten

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können, vor anderen obdachlosen Menschen etwas über sich preiszugeben und danach wieder miteinander zu tun zu haben. Die Machtkämpfe und Hackordnungen der Straße lassen dies wohl nicht zu.

Das Leben auf der Straße Wie bereits erwähnt, stellt das Fehlen eines Wohnsitzes nicht immer das dringendste Problem im Leben meiner obdachlosen Klient_innen dar. Jedoch habe ich in zahlreichen Gesprächen erfahren, dass Obdachlosigkeit viel mehr bedeutet als bloße Wohnungslosigkeit. Keine Wohnung zu haben, ist ein Umstand, der sämtliche Lebensbereiche beeinträchtigt: Dazu gehört nicht nur Schutz vor Kälte und anderen Witterungseinflüssen, sondern auch die Möglichkeit, die Kleidung und sich selbst sauber zu halten, ungestört zu schlafen und sich ausgewogen zu ernähren oder über einen Rückzugsort zu verfügen. Hinzu kommt, dass Menschen, die auf der Straße Leben, vielfach Opfer von Anfeindungen, körperlicher und sexualisierter Gewalt und Raubüberfällen werden. Es gibt zwar Einrichtungen, die Schlafplätze bereitstellen, aber zum einen bieten auch sie nur begrenzte Unterkunft, weil sie am Morgen wieder verlassen werden müssen, und zum anderen ertragen manche Menschen die dortigen Verhältnisse nicht. So erzählte mir ein Klient, der die Nähe von anderen nur sehr bedingt aushält, wie glücklich er darüber ist, einen Schlafplatz in einer öffentlichen WC-Anlage entdeckt zu haben, die nachts nicht kontrolliert wird. Um einen Schlafplatz, einen sogenannten »Nächtiger«, zu bekommen, müssen obdachlose Menschen zumindest zwei Euro am Tag bezahlen können oder für eine Übergangswohnung angemeldet sein und dürfen weder unter Alkohol- noch unter anderem Drogeneinfluss stehen. Außerdem existieren unterschiedliche Ansprüche auf Nächtigungsplätze, je nachdem, ob Menschen EU- oder EWRBürger_innen sind, einen Aufenthaltstitel oder eine Anmeldebescheinigung haben. Ein Klient hat sein Anrecht auf einen Schlafplatz in einer Nächtigungseinrichtung wieder verloren, weil er ihn nicht regelmäßig genug nutzt. Er arbeitet manchmal nachts für die Abfallbeseitigung und Straßenreinigung der Gemeinde Wien – Geld, das er für eine Netzkarte der Verkehrsbetriebe benötigt, um sich nicht wegen »Schwarzfahrens« strafbar zu machen. Ein Leben ohne finanziellen und sozialen Rückhalt hat auch zur Folge, dass Menschen eher kriminalisiert werden. Gesetzesübertretungen, für die andere Bürger_innen eine Verwaltungsstrafe bezahlen, haben bei obdachlosen Menschen mangels Zahlungsfähigkeit Ersatzfreiheitsstrafen zur Folge, mit allen unproduktiven und wenig hilfreichen Begleiterscheinungen. Hinzu

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kommt, dass der Status der Obdachlosigkeit selbst kriminalisiert wird, weil Stadtverwaltungen zunehmend versuchen, »Obdachlose« aus dem Stadtbild zu entfernen. Mittlerweile werden nicht nur öffentliche Sitzgelegenheiten so konstruiert, dass es unmöglich ist, darauf zu schlafen, sondern die Stadt Wien untersagt das »Benützen von Schlafsäcken an im Freien gelegenen öffentlichen Orten« (vgl. »Kampierverordnung«, §§ 76 und 108 der Wiener Stadtverfassung. »Kampieren« wird mit einer Verwaltungsstrafe geahndet). Die Stadt Salzburg erhöhte die Geldstrafe für »unerlaubtes Kampieren« auf absurde 10.000,– Euro (vgl. »Was Wohnungslosigkeit in Österreich bedeutet«, 2013). Aufgrund der psychischen und physischen Extrembelastungen, denen Menschen, die auf der Straße leben, ausgesetzt sind, haben sie einen erhöhten Bedarf an medizinischer Betreuung und psychosozialer Unterstützung. Zwar existieren niederschwellige Angebote wie der Louise-Bus der Caritas, AMBERMED oder das Neunerhaus, die auch ohne Geld und Krankenschein medizinische und psychosoziale Versorgung gewährleisten, dennoch finden aufgrund der Unregelmäßigkeit des Lebens auf der Straße Chronifizierungen statt, die ohne Veränderung der Lebenssituation und regelmäßige, länger andauernde Behandlung kaum wirklich heilbar sind. Hinzu kommt, dass die Inanspruchnahme dieser Hilfen häufig mit Scham verbunden ist oder dass ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Medikamenten oder medizinischen Einrichtungen besteht. Stationäre Entzugsprogramme für alkohol- und drogenabhängige Personen sind begrenzt und häufig daran gebunden, dass die Betroffenen sozialversichert sind – was bei Menschen, die auf der Straße leben, zumeist nicht der Fall ist. Besonders schwierig ist die Situation für jene meiner obdachlosen Klient_innen, die an psychiatrischen Erkrankungen leiden und unter anderem deshalb obdachlos sind, weil es für sie kein geeignetes, stationäres Angebot gibt. Die mit manchen Krankheiten einhergehenden Verhaltensauffälligkeiten erschweren ihnen den Zugang zu Tages- oder Nächtigungseinrichtungen, weil sie dort häufig mit anderen Besucher_innen in Konflikt geraten oder weil sie Menschenansammlungen und Reglementierungen nicht ertragen.

Kein Setting ist auch ein Setting Die Besonderheit psychotherapeutischer Arbeit mit obdachlosen Menschen wird zunächst dadurch deutlich, dass es kaum möglich ist, Termine zu vereinbaren. Ob und wie kontinuierliche Psychotherapie stattfinden kann, hängt von einer Vielzahl an Faktoren ab und erfordert ein hohes Maß an Bedarfsorientierung. Menschen, die obdachlos sind, wissen oft nicht, wo sie am nächsten

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Tag sein werden und schon gar nicht, was in einer Woche für sie Priorität haben wird. Ich musste meine Erwartungshaltung und meine bisherigen Vorstellungen davon, was die Voraussetzungen für Psychotherapie zu sein haben, daher zu allererst grundlegend überdenken. Psychotherapie im Obdachlosenbereich gliedert sich auch nicht in die Elemente Erstgespräch, Therapieverlauf und Abschluss der Therapie. Manchmal findet nur ein sogenanntes Erstgespräch statt, manchmal lässt sich Kontinuität nur mit monatelangen Abständen herstellen. Hin und wieder ist es auch angebracht, Klient_innen nach einem einzigen, intensiven Gespräch für eine Weile nur in den Aufenthaltsräumen zu begegnen und zu signalisieren, dass sie willkommen sind, ich aber akzeptiere, wenn sie nicht ins Therapiezimmer kommen wollen, sondern an der Theke ein paar Worte mit mir wechseln. Mein Zugang ist daher: Reden wir, wenn Sie möchten, egal worüber, egal wo. Als einen wesentlichen Unterschied dieser Gespräche zu Therapiestunden in meiner Praxis nehme ich auch wahr, dass die Gesprächssituationen nicht aufgrund einer vorher getroffenen Vereinbarung stattfinden. Sowohl Klient_innen als auch ich selbst »starten« unvorbereitet, eröffnen das Gespräch spontan, stellen währenddessen erst fest, was akute oder längerfristige Themen sein werden, wie und ob wir überhaupt miteinander reden können und wann oder womit ein Gespräch endet. Nun ließe sich vielleicht einwenden, dass Psychotherapie auch in freier Praxis im Grunde ein Prozess ist, dessen Verlauf nicht absehbar ist. Das sehe ich auch so. Allerdings liegt die Besonderheit therapeutischer Settings im Obdachlosenbereich für mich darin, dass vor, während und nach den Gesprächen permanent ein Konsens darüber hergestellt werden muss, was hier überhaupt stattfindet oder stattfinden soll – ein Aufwand, den ich in meiner Praxis zumindest nicht in diesem Ausmaß betreiben muss und der, wie ich feststellen kann, eine Qualität mit sich bringt, die ich nicht missen möchte. Diese Form der ständigen Aufmerksamkeit ist durch ihre Notwendigkeit intensiv erlebbar und macht sowohl erforderlich als auch möglich, dass Dialog – so nehme ich es zumindest wahr – eine sehr umfassende und vielschichtige Dimension annimmt.

Eine Begegnung der anderen Art Ein Sozialarbeiter äußerte den Wunsch, dass ich mit Herrn K. ein Gespräch führe, weil er ab und zu »ausrastet«, andere Klient_innen mit dem Messer bedroht. Ich setze mich also – mit seiner Erlaubnis – zu Herrn K. an den Tisch im Aufenthaltsraum, und nachdem ich mich vorgestellt habe, ist er bereit, mit mir ins Therapiezimmer zu gehen und mir von sich zu erzählen.

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Er ist 31 Jahre alt, erzählt zunächst, dass er drei psychiatrische Diagnosen »bekommen« hat, über die er aber nicht sprechen will. Medikamente nimmt er keine mehr, weil sie ihm nicht guttun. Er meint, dass er traumatisiert ist. Er musste, als er 15 Jahre alt war, einen Mord beobachten. Seither kann er es nicht aushalten, wenn zu viele Menschen in einem Raum sind bzw. ihm zu nahe kommen. Er erzählt von mehreren Psychiatrieaufenthalten und Selbstmordversuchen. Er denkt, dass er den Mord hätte verhindern sollen. Weil er das nicht konnte, musste er drei Jahre lang auf jemanden »aufpassen«, was ihm aber nicht gelungen ist. Danach war sein Auftrag, sieben Jahre lang Unglück zu verhindern. Auch das konnte er nicht bewerkstelligen. Nun hat er einen kleinen Hund. Für ihn wird er für den Rest seines Lebens – oder des Lebens des Hundes – sorgen müssen. Wir können gemeinsam feststellen, dass das ein schöner Auftrag ist. In den Folgegesprächen erzählt er von UFOs, zeigt mir Fotos und Filme, die er mit seinem Handy aufgenommen hat. Er begegnet Außerirdischen, zeichnet auf, wie sie aussehen, sagt, dass sie Zivilisationen finden wollen, die im Universum Frieden schaffen, dass aber nur zwölf Zivilisationen dafür geeignet sind. Er meint, dass manchmal ein Außerirdischer neben ihm steht und auf einen Menschen zeigt, den er vielleicht töten sollte. Ich frage ihn, was der Außerirdische zu ihm sagt und erfahre, dass er nicht spricht, Herr K. ihn aber trotzdem verstehen kann. Wir können miteinander die Vermutung anstellen, dass – da die Außerirdischen ja universellen Frieden schaffen wollen und er außerdem den Auftrag hat, ein Leben lang auf jemanden aufzupassen und Unglück zu verhindern – wohl gemeint ist, dass das außerirdische Wesen auf »auserwählte« Menschen zeigt, die für dieses Friedensunternehmen geeignet sind. Herr K. wirkt erleichtert nach diesem Gespräch. Bevor er geht, vernichtet er noch meine Mitschriften, weil sich auf ihnen auch seine Zeichnungen befinden, und vermittelt mir, dass er gern wieder einmal mit mir sprechen möchte. Er ist seither allerdings zu keinem weiteren Gespräch erschienen, hat aber in der Tageseinrichtung auch niemanden mehr tätlich angegriffen. Fast ein Jahr später begegne ich ihm wieder. Er erkennt mich nicht, aber seinen kleinen Hund hat er immer noch bei sich, putzt ihm die Zähne, sorgt für ihn. In der Zeit, in der er nicht da war – ein Besucher meinte, dass sich Herr K. wohl in Haft befindet, weil er Drogen »vertickt« – konnte ich sehen, dass jemand anders auf den Hund »aufpasste«.

Herrn K.s Mut, mit Außerirdischen zu kommunizieren, sein Wunsch, einen »Auftrag« zu erfüllen – was als ein Wunsch nach Orientierung verstanden werden kann –, verhalf ihm möglicherweise dazu, mit seiner Angst so umzugehen, dass sie ihn handlungsfähig bleiben lässt. Der »therapeutische« Dialog, der Konsens, der hier hergestellt werden konnte, lässt sich demnach als ein Bei-

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spiel dafür sehen, dass das Annehmen von Wirklichkeiten Ohnmachtsgefühlen entgegenwirkt.

Scham und Schuld Nach meinem Eindruck zeigen die Besucher_innen der JOSI aufgrund ihrer Diskriminierungserfahrungen und erlebter Stigmatisierung gegenüber Personen oder Einrichtungen, die unterstützend tätig sind, große Skepsis. Anzunehmen ist, dass dies daher rührt, dass viele Hilfesysteme dem Vorurteil unterliegen, zu wissen, was Hilfsbedürftige – in diesem Fall obdachlose Menschen – brauchen und ihre Angebote an Bedingungen knüpfen. Nach meiner Erfahrung im Obdachlosenbereich ist dies ein Aspekt, den wenige Klient_innen für sich als passend empfinden. Sie können oder wollen die geforderten Bedingungen nicht erfüllen, die ihnen im Regelfall zumindest ein gewisses Maß an Anpassung abverlangen. Das gilt insbesondere für jene Personen, für die das Leben auf der Straße auch eine Form von Ausstieg aus einem System ist, das ihnen nicht entspricht, weil es ihnen keinen Platz einräumt. Hinzu kommt meines Erachtens in vielen Fällen auch das Leiden an Schamund Schuldgefühlen. Gesellschaftlich wird Obdachlosigkeit als Bedrohungsfaktor wahrgenommen, als etwas, das nicht eintreten soll und darf. Im Zuge der Vermei­dung bzw. Abwendung dieses Bedrohungsgefühls ist es naheliegend und wesentlich einfacher, Obdachlosigkeit bestimmten Personen zuzuordnen und in der Folge mit selbst verschuldetem Verhalten in Zusammenhang zu bringen, als Ursachenforschung zu betreiben. Was gesamtgesellschaftlich funktioniert, wirkt fatalerweise auch dann noch, wenn Menschen selbst von Obdachlosigkeit bedroht oder betroffen sind. Das Stigma »obdachlos« bleibt mit dem Stigma »schuldig« verbunden. Diese Zuschreibung hat einen konkreten historischen Hintergrund. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war es nicht ungewöhnlich, dass sich Menschen keine eigene Unterkunft leisten konnten, dieser Umstand wurde aber nicht als einheitliches Phänomen thematisiert und demgemäß auch nicht mit einem eigenen Begriff belegt. Erst etwa dreißig Jahre nach der Entstehung von Asylen taucht der Begriff »obdachlos« in den damaligen Enzyklopädien und Lexika auf, hat aber noch deskriptiven Charakter: »Anhand dieser zeitgenössischen Definition erkennt man, dass obdachlosen Menschen zu dieser Zeit keine stigmatisierenden Charakterzüge zugeschrieben wurden« (Ofner, 2010, S. 25).

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Etwas später (1885) hat sich die Definition im Brockhaus bereits erheblich verschoben, indem Obdachlosigkeit bestimmten Randgruppen zugeschrieben wird: »entlassene Sträflinge«, »Trunkenbolde« und »Prostituierte« werden hier beispielhaft erwähnt. Ein »Verfall der Sitten« wird heraufbeschworen. Die Frage nach dem eigenen Verschulden taucht auf und verschwindet nicht wieder. Sie findet sich bis heute sogar im wissenschaftlichen Diskurs des 21. Jahrhunderts, wenn etwa ein Wörterbuch der Soziologie noch im Jahr 2007 feststellt: »… angesichts der komplexen Verursachung ist es schwierig festzustellen, inwieweit Obdachlosigkeit selbst verschuldet wurde« (Hillmann, 2007, S. 632). Mit dem gesellschaftlichen Wandel hat sich also im Laufe der Zeit eine Entwicklung vollzogen, die von der Beschreibung einer Notsituation zu ihrer Bewertung geführt hat. Wurden zunächst noch Erklärungen für Obdachlosigkeit angeführt – wie etwa die Wohnungsnot in Städten oder die Konzentration von Erwerbsarbeitsmöglichkeiten in bestimmten Gebieten –, so fanden wenige Jahrzehnte später bereits Zuschreibungen und Klassifizierungen statt, die Obdachlosigkeit in einen Zusammenhang mit selbst verschuldetem Verhalten und bestimmten Personengruppen stellten. An dieser Stelle sei angemerkt, dass ich auch in der aktuellen Literatur kaum Diskurse oder Artikel zum Thema Obdachlosigkeit gefunden habe, die sich mit Erklärungsmodellen und Gründen für bzw. Hilfe gegen Wohnungslosigkeit auseinandersetzen.

Wozu das Ganze? Was halten obdachlose Personen von Psychotherapie, also Menschen in Lebenslagen, die augenscheinlich von extremen materiellen Problemen dominiert werden? Nun, tendenziell und anfangs  – nichts, weil ihnen alles, was mit »Psycho« beginnt, einigermaßen verdächtig ist. Viele therapeutische Erstgespräche in der Tageseinrichtung begannen mit Einstiegssätzen wie: »Mir kann kein Mensch helfen.« Oder: »Wozu reden? Das verändert ja doch nichts an der ganzen Scheiße.« Oder, quasi aus Mitleid mit mir: »Wir können gerne reden, wenn Sie wollen, aber ehrlich gesagt, ich glaub’ nicht, dass das was bringt.« Doppelt verdächtig, als Helferin und als Psychotherapeutin, stehe ich vor der paradoxen Aufgabe, hilfreich zu sein, ohne Hilfe anzubieten. In dieser Situation bleibt nur, ohne konkrete Absicht auf die Menschen zuzugehen und offen für das zu sein, was sie mir erzählen wollen. So können Dialoge entstehen.

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Ein Gespräch auf Augenhöhe ist nur möglich, wenn ich Klient_innen nicht als Opfer und Scheiternde wahrnehme, sondern als Personen, denen es gelingt, trotz oder wegen existenzieller und sozialer Bedrohungen möglichst selbstbestimmt zu leben. Zu dieser Selbstbestimmung gehört auch die Definitionsmacht darüber, was »das Problem« ist. In meiner therapeutischen Arbeit ist es notwendig, raumgebende, Ichstärkende Zugänge zu finden. Der Ansatz der Systemischen Psychotherapie, die Haltung des Nicht-Wissens und die »Unterstellung« eines Expert_innentums auf Seiten der Klient_innen ermöglicht mir das und ist eine gute Voraussetzung dafür, in den sehr unregelmäßig stattfindenden Therapieeinheiten spontan und der akuten Situation entsprechend Akzente entdecken bzw. setzen zu können. Wenn die Frage nach dem Sinn von Psychotherapie für obdachlose Menschen in der Öffentlichkeit gestellt wird, steht im allgemeinen die Frage nach ihrem Nutzen dahinter, die sich allerdings nicht beantworten lässt, ohne zunächst präzise zu fassen, was therapeutischer Erfolg wäre. Die verschiedenen Hilfseinrichtungen haben unterschiedliche Vorstellungen davon, und diese lassen sich nicht immer in der Lebenswirklichkeit von Klient_innen unterbringen. »Ziele« oder »Lösungen«, an denen in der Psychotherapie gearbeitet wird, müssen sich selbstredend aus den Anliegen der Klient_innen herauskristallisieren. Es kann sich hierbei nicht in erster Linie um gesellschaftlich nützliche Ziele wie Arbeitsfähigkeit, Anpassung oder – neuerdings ein Kriterium für die Kostenrückerstattung durch die Krankenkassen – die Anhebung des »Funktionsniveaus« handeln. Vielmehr ist darauf zu achten, dass der Schutz der therapeutischen Beziehung insofern gewährleistet ist, als es sich im Kontext Obdachlosigkeit um Menschen handelt, denen allzu oft vermittelt wird, was sie zu tun haben. Was Psychotherapie bewirkt, lässt sich demnach kaum in messbaren Größen wiedergeben und evaluieren. Dennoch gibt es zahlreiche »kleine« Veränderungen, die mit spontaner Aufmerksamkeit bemerkt werden können: Klient_innen verhalten sich entspannter und ruhiger; es kommt in der Tageseinrichtung seltener zu Konfrontationen und Eskalationen; oder Klient_innen kommen deshalb nicht wieder, weil es ihnen besser geht und sie aktuell keinen Gesprächsbedarf haben. Definitiv erfolgreich ist dieses Angebot jedoch auch auf einer anderen Ebene: die Sozialarbeiter_innen und Betreuer_innen werden entlastet, weil ich mich manchen Anliegen der Klient_innen widmen kann. Ich denke, dass der Respekt vor individuellen Lebenssituationen verlangt, den Erfolg von Psychotherapie nicht an Maßstäben zu messen, die ihnen nicht entsprechen. Die Wirksamkeit von Psychotherapie ist in diesen Fällen nicht systematisch erfassbar, aber sie ist erlebbar in der Lebensqualität der Betroffenen.

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Meines Erachtens steht jedenfalls außer Frage, dass ein psychotherapeutisches Angebot für obdachlose Personen nicht erst dann ein selbstverständliches Anrecht darstellt, wenn die sogenannten Grundbedürfnisse wie Unterkunft, Nahrung, Kleidung etc. abgedeckt sind, und dass es hilfreich ist, wenn es um die Wiedererlangung von Autonomie und Lebensqualität geht. Inzwischen kennen mich zahlreiche Besucher_innen der Einrichtung, zeigen keinerlei Befangenheit, grüßen mich, sprechen mich an und bezeichnen mich anderen gegenüber als »ihre« Therapeutin. Manche Klient_innen wirken befangen, wenn sie mich nach einer Therapiestunde, in der sie sehr offen über sich erzählen konnten, im Aufenthaltsraum oder hinter der Theke wiedersehen. Ein Klient, der sich zu einem Gesprächstermin mit mir überreden ließ, wollte danach kein Einzelsetting mehr in Anspruch nehmen, obwohl oder eben weil er in der Stunde sehr viel von sich erzählt, mir Fotos von seiner Familie, den inzwischen erwachsenen Kindern, seinen Segelbooten und Häusern, seinem nicht mehr vorhandenen Besitz gezeigt hat. Allein die Begegnung mit mir im Aufenthaltsraum bringt ihn seither dazu, beinahe zu weinen. Wir signalisieren einander also nur noch nonverbal, dass wir da sind. Und dies ist meinem Empfinden nach ein schöner, beruhigender Dialog, weil er vermittelt, dass Schmerz und Trauer existieren dürfen, dass diese Gefühle erlaubt sind, aber behütet werden müssen.

Irgendwas geht immer … Ein 26-jähriger Besucher des Tageszentrums machte auf den für ihn zuständigen Sozialarbeiter den Eindruck, dass er psychotherapeutische Begleitung oder Unterstützung benötigen könnte, weil er phasenweise sehr depressiv oder verwirrt wirkte und daher das sozialarbeiterische Hilfsangebot nur partiell in Anspruch nehmen konnte. Der Klient hatte jedoch kein Interesse daran, ein psychotherapeutisches Gespräch zu führen, sondern gab an, sich ausschließlich für Hypnose zu interessieren. In einem abklärenden Gespräch mit dem Kollegen teilte ich mit, dass ich zwar keine Hypnose anbiete, aber durchaus hypnosystemische Elemente einfließen lassen kann, wenn dies dem Bedarf des Klienten entspricht und sinnvoll sein sollte. Ein erster Kontakt ließ sich also darüber herstellen, dass der Klient, Herr L., zu mir kam, um über Hypnose zu sprechen und zu erzählen, was ihn daran interessiert. Er meinte dazu, dass er durch Hypnose etwas über sein früheres Leben erfahren und dadurch einen anderen Blick auf sein derzeitiges werfen könnte, dessen Verlauf ihn sehr beunruhigt.

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Ich bat den Klienten, für ein nächstes Gespräch Fragen zu sammeln, die für mich klarer machen könnten, welchen Unterstützungsbedarf er hat, bzw. Themen zu überlegen, die er auch gegenüber einer Hypnotiseurin, einem Hypnotiseur als Gründe für eine gewünschte Behandlung angeben könnte. Herr L. tat dies bis zum nächsten Gespräch nicht, weshalb ich ihm vorschlug, mir einfach von seinem derzeitigen Leben, das ihn beunruhigt, zu erzählen. Er kommt ursprünglich aus Ungarn, ist zunächst in einem Kinderheim aufgewachsen und wurde vor dem Schuleintritt von Adoptiveltern aufgenommen, die aus Dresden kamen und in Ungarn lebten. Bis zum 18. Lebensjahr wohnte er bei den Adoptiveltern und er beschreibt diese Zeit als eine von Gewalterfahrungen und Angst geprägte, an die er sich nicht gern erinnert. Die Eltern brachten ihn zu seinem 18. Geburtstag ohne Vorwarnung wieder in ein Heim. Er erhielt dort eine Gärtnerausbildung und wurde nach seinen Angaben relativ gut betreut. Seinen leiblichen Vater kennt er nicht, er ist inzwischen verstorben, seine biologische Mutter hat er auf Anraten eines Heimbetreuers aufgesucht. Sie dürfte seinen Beschreibungen nach an psychischen und intellektuellen Beeinträchtigungen leiden. Als eine gute Erfahrung in seinem Leben beschreibt er, dass er Deutsch gelernt hat und die Ferien immer wieder in Dresden verbringen konnte. Er leidet an Epilepsie, nimmt jedoch Medikamente, wodurch er maximal einen epileptischen Anfall im Jahr hat, der auch nur dann auftritt, wenn er großen Stress hat. Allmählich entstand eine Vertrauensbasis, und Herr L. kam des Öfteren zu therapeutischen Gesprächen. Mehrmals erwähnte er den Film »Donnie Darko«, sagte, dass er wie Donnie sei, dass er weinen musste, als er den Film zum ersten Mal sah, und dass ich ihn mir unbedingt ansehen müsse. Erst als ich mir den Film tatsächlich angesehen hatte und mit ihm über die einzelnen Szenen, die Filmmusik und Fragen, die der Film offen lässt, sprechen konnte, akzeptierte er mich als seine Therapeutin und wollte sich auf hypnosystemische Interventionen einlassen. Herr L., der eben nicht über seine Lebensgeschichte und seine Ängste sprechen wollte, konnte sich in der Folge darauf einlassen, mit inneren Bildern zu arbeiten, was sein Selbstvertrauen stärkte. Im bislang letzten Gespräch erzählte er von einer Vorahnung, die ihm Sorgen macht, gab an, dass diese Ahnung zu 70 % darauf hinweist, dass etwas Schlimmes passieren wird und zu 30 % darauf, dass etwas Erfreuliches eintritt. Er meinte, dass ihn der Umstand stresst, dass er nicht weiß, was die Vorahnung bedeutet und wie er sich schützen kann. Gemeinsam ließen sich Bereiche herausarbeiten, auf die unbekannte künftige Ereignisse Auswirkungen haben könnten, beispielsweise auf seine neue Beziehung oder seine Suche nach einer Erwerbsarbeit. Aus dieser Stunde nahm sich der Klient

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Strategien mit, wie er in den jeweiligen Bereichen dafür sorgen kann, dass möglichst positive Entwicklungen stattfinden und er dadurch auf die 30 %ige Chance, dass ein angenehmes Ereignis eintreten wird, selbst zusteuern kann.

Der Umgang mit Klischees Zu den gängigen Vorstellungen hinsichtlich obdachloser Personen gehört die Assoziation Alkoholkonsum  – daran hat sich seit Brockhausens »Trunkenbolden« nichts geändert. Neue Nahrung erhält dieses Klischee natürlich von gelegentlichen, einschlägigen Beobachtungen in der Öffentlichkeit, wie sie etwa an Bahnhöfen, in U-Bahn-Stationen oder in Parkanlagen kaum ausbleiben können. Übersehen wird hierbei allerdings, dass nur beobachtet oder »erkannt« wird, was augenfällig ist. Vielen obdachlosen Personen ist nicht anzusehen, dass sie keine eigene Wohnung haben. Einigen wohnungslosen Menschen fällt es jedoch tatsächlich schwer, auf den gesundheitsschädlichen Konsum von legalen oder illegalen Drogen zu verzichten, weil er das Leben auf der Straße für sie psychisch und physisch erträglich macht. Im öffentlichen Diskurs wird das durchweg als Problem gesehen und somit als grundsätzlich veränderungsbedürftig erachtet. Die Betroffenen selbst formulieren – wenig überraschend – ihre Bedürfnisse anders. Alkohol und andere Drogen sind kein häufiges Thema in den Therapien, allerdings wird gelegentlich unkontrollierter oder übermäßiger Konsum zur Sprache gebracht. Da ich selbst keine Gesprächsinhalte vorgebe oder ablehne, gehe ich davon aus, dass diese Häufigkeit durchaus die Problemperspektive meiner Klient_innen widerspiegelt. Ich möchte anhand eines Beispiels veranschaulichen, inwieweit Psychotherapie hier als sinnvolles Angebot wahrgenommen werden kann. Das Anliegen eines Besuchers der Tageseinrichtung bezog sich darauf, dass er von harten Spirituosen »wegkommen« wollte. Herr R. ist dreißig Jahre alt, leidet unter schweren Depressionen und sagt, dass er zu viel trinkt. Vor allem macht ihm die Kombination von Antidepressiva und Wodka zu schaffen. Er lebt zum Zeitpunkt des Erstgesprächs seit einigen Tagen auf der Straße, weil er wegen aggressiven Verhaltens die Nächtigungseinrichtung nicht mehr nutzen durfte. Er ist gelernter Koch und sucht Arbeit. Die Arbeitssuche gestaltet sich allerdings schwierig, solange Herr R. keinen Schlafplatz hat und nicht ausgeruht und gepflegt zu Vorstellungsgesprächen gehen kann. Die Tatsache, dass er offen über sein Konsumverhalten sprechen kann, macht es ihm grundsätzlich möglich, zu weiteren Gesprächen zu kommen. Bei einem

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Termin erzählt er, dass ihm seine Medikamente gestohlen wurden, bei einem anderen, dass er sich im kalten Entzug befindet und starke Schmerzen hat. Wir sprechen darüber, wie er trotz Entzugserscheinungen seine Aggressionen abbauen kann – er versucht, soweit es ihm möglich ist, mit einem Sandsack zu trainieren. Im Therapieverlauf entsteht der Plan, auf neue Medikamente zu verzichten und den kalten Entzug mit geringem Bierkonsum abzuschwächen, damit er einigermaßen handlungsfähig bleiben kann. Eines der Gespräche führen wir im Hof. Es ist ihm nicht unangenehm, eine Bierdose in der Hand zu halten. Im Gegenteil, er ist stolz darauf, und ich kann ihn darin bestärken, auf einem für ihn passenden Weg zu sein. Wochen später erzählt mir Herr R. dass er wieder Wodka getrunken hat und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Wir versuchen gemeinsam herauszufinden, welche Umstände dazu geführt haben, sprechen aber vor allem über die Thematiken, die ihn belasten. Beispielsweise, dass er seine Kinder nicht sehen und auch die Alimente für sie nicht bezahlen kann. Auch darüber, dass seine Freundin keinen Kontakt mit ihm haben will, solange er sich nicht unter Kontrolle hat. Ich sehe Herrn R. dann einige Monate nicht, erfahre, dass er mit epileptischen Anfällen mehrmals im Spital war. Nach etwa einem halben Jahr gelingt es Herrn R. wieder, den Alkoholkonsum soweit zu steuern, dass er in therapeutische Gespräche kommen kann. Es geht ihm nun besser, und er erzählt mir, dass er vielleicht einen Job in Aussicht hat. Ich denke, dass hier eine Vertrauensbasis – nämlich das Vertrauen des Klienten in sich selbst  – entstehen konnte, weil keine Annahmen über »richtiges« Konsumverhalten getroffen wurden. Herr R. musste keine Schuldgefühle haben, weil er wieder Wodka getrunken hatte. Der Konsum wurde nicht als »Versagen« bewertet, und das Verhalten musste daher nicht gerechtfertigt werden. Dies hat ihm den Spielraum eröffnet, etwas zu verändern, im Wortsinn mit Verhaltensvarianten zu spielen, sie auszuprobieren, so lange, bis sie »passender« wurden.

Aggressionspotenziale Insgesamt lässt sich sagen, dass das Leben auf der Straße Menschen Härte abverlangt und sie hart macht. Diskriminierungserfahrungen, Anfeindungen und Gewalterlebnisse führen dazu, dass obdachlose Menschen manchmal selbst aggressives Verhalten zeigen, weil dies für sie hilfreicher ist, als Angst oder Bedürftigkeit erkennen zu lassen.

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Diese latente Aggressivität – die unserer Gesellschaft auch sonst nicht fremd ist –, die Bereitschaft zum Kampf, zum (Gegen-)Angriff scheint eine Überlebensstrategie zu sein, die obdachlosen Personen angesichts ihrer Erlebnisse von Ohnmacht und Ausgrenzung bzw. Diskriminierung einen Rest von Selbstbestimmtheit ermöglicht. So wird der gesellschaftliche »Underdog« zumindest vorübergehend und lokal zum »Topdog«, und ein im Allgemeinen negativ bewertetes Verhalten trägt zur (Lebens-)Qualität bei. Neben Auseinandersetzungen und Anfeindungen innerhalb bzw. zwischen konkurrierenden Gruppierungen kommt es durchaus auch zu Konfrontationen mit der Exekutive, welche Menschen, die sie als obdachlos erkennt, nicht gerade vorurteilsfrei und vor allem nicht immer gewaltfrei begegnet. Einem meiner Klienten wurde von einem Polizisten explizit gesagt: »Obdachlose haben keine Rechte.« Das entspricht zwar keineswegs dem Buchstaben des Gesetzes, aber dem Erleben vieler Betroffener. Ein (einzel-)kämpferischer Klient hat seinen ganz eigenen Umgang mit seinen Frustrationen und Aggressionen in Bezug auf die Staatsgewalt entwickelt: Ich befand mich vor dem Eingang der Tageseinrichtung in einem Gespräch mit einem Kollegen, als sich ein Klient, den ich noch nicht kannte, zu uns stellte. Er erzählte von äußerst negativen Erlebnissen mit der Polizei, gab an, »gefoltert« und menschenverachtend behandelt worden zu sein. Der Klient wusste nicht, dass ich als Psychotherapeutin in der Einrichtung arbeite, mein Kollege jedoch wollte ihm »eine Brücke bauen«, indem er meinte: »Das sind ja schreckliche Erfahrungen, wie konnten Sie die überhaupt verarbeiten?« Der Mann antwortete: »Gar nicht. Aber ich regle das auf meine Weise.« Und nicht ohne Stolz erzählte er, wie es ihm gelungen war, Autoreifen von Polizeifahrzeugen aufzustechen oder andere Einrichtungen der Exekutive zu beschädigen, ohne (bisher) dafür belangt zu werden. Zur Klarstellung sei angemerkt, dass ich dieses Verhalten weder begrüße noch empfehle – es geht hier vielmehr darum, etwas zu beschreiben und dadurch vielleicht begreiflicher zu machen. In meiner Arbeit habe ich erkannt, dass es im Sinn eines gelingenden Gesprächs nicht unbedingt zielführend ist, das Thema Aggressionsabbau zu forcieren, solange keine alternativen Überlebensstrategien erkennbar und umsetzbar sind.

Gesellige Wölf_innen und einsame Schafe? Einmal konnte ein engagierter Kollege zwei Besucher_innen dazu motivieren, ein Gespräch mit mir zu führen. Ich traf im Aufenthaltsraum ein ungleiches Paar,

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das gern an einer »Montagsrunde« teilnehmen wollte. Frau S., 52, und Herr M., 28 Jahre alt, unterstützten einander, soweit es ihnen möglich war. Herr M. erzählte von seinem Drogenentzug und dem Ablösungsprozess von den Eltern, Frau S. von langjährigen Gewalterfahrungen in Beziehungen und sexuellen Übergriffen in Nächtigungseinrichtungen. Als wir in den Hof gehen, um eine Zigarette zu rauchen, zeigt Frau S. auf einen Mann, der sie belästigt hat. Herr M. ist sofort bereit, ihn zur Rede zu stellen, die Frau zu verteidigen und den Mann zu attackieren. Aufgrund sprachlicher Barrieren und auch, weil die Frau nicht möchte, dass Herr M. ihretwegen in eine Schlägerei verwickelt wird, kommt es zu keiner Eskalation, aber auch zu keinerlei Konsequenzen für den mutmaßlichen Täter. Später, als Frau S. mit mir allein spricht, vertraut sie mir an, dass sie sich in Herrn M. verliebt hat, ihr dies jedoch, auch aufgrund des Altersunterschieds, peinlich ist. Sie weiß nicht, ob sie es ihm sagen soll, fürchtet, ihn als Freund zu verlieren. Wir sprechen also über Sehnsüchte und das Bedürfnis nach Schutz, Nähe und Zugehörigkeit. Ich habe die beiden seither weder zusammen noch einzeln wiedergesehen. Zur Obdachlosigkeit von Frauen existieren kaum Untersuchungen. Die Situation lässt sich nur anhand der insgesamt in Anspruch genommenen Hilfsleistungen schätzen, eine Unterscheidung in Frauen und Männer findet sich in diesen Daten zumeist nicht. Hinzu kommt, dass die faktische Wohnungslosigkeit von Frauen oft dadurch kaschiert wird, dass sie Unterkunfts- oder Wohnmöglichkeiten bei Männern auf der Basis »Unterschlupf gegen Sex« dem Leben auf der Straße vorziehen. Dennoch nimmt die Anzahl der Frauen, die auf der Straße leben, absolut und anteilsmäßig zu. Nach einer Hochrechnung aus vorhandenem Datenmaterial stellen Frauen bereits eine knappe Mehrheit der Obdachlosen in Österreich (vgl. Riedmann, 2009), was aber zum Teil darauf zurückgeführt wird, dass Frauen vermehrt Eingang in die Statistiken finden, weil sie in zunehmendem Maße Gebrauch von offiziellen Hilfsangeboten machen. Dieses offizielle Angebot ist ohnehin bescheiden. Da diese Frauen vielfach Gewalt durch Männer erfahren haben, suchen sie Einrichtungen für sogenannte Obdachlose ungern und nur selten auf, weil dort der Männeranteil tendenziell hoch ist. Es bedarf daher der Einrichtung von eigenen »Schutzräumen«, die ausnahmslos Frauen zur Verfügung stehen und auch von Frauen betreut werden. Das »FrauenWohnZimmer« der Caritas gilt als erste Tageseinrichtung für wohnungslose Frauen in Wien. Im August 2013 wurde das Tageszentrum ESTER für obdachlose Frauen eröffnet, in dem ich ebenfalls als Psychotherapeutin arbeite. Einstweilen kann ich noch keine fundierten Aussagen darüber treffen, inwiefern sich psychotherapeutische Arbeit mit obdachlosen Frauen von der

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mit Männern unterscheidet. Aber ich konnte bereits feststellen, dass Frauen das therapeutische Angebot intensiver beanspruchen, offener über ihre Themen sprechen und dass kontinuierlichere therapeutische Prozesse entstehen. Genderspezifische Unterschiede bestehen nicht nur, sondern sollten infolgedessen auch gemacht werden, wenn es um Unterstützungsangebote geht. Literatur Hillmann, K.-H. (2007): Wörterbuch der Soziologie (5., vollst. überarb. u. erw. Aufl.). Stuttgart: Kröner. Kampierverordnung 1985. Verordnung des Magistrats der Stadt Wien betreffend das Verbot des Kampierens. Zugriff am 25.03.2015 unter https://www.wien.gv.at/recht/landesrecht-wien/ rechtsvorschriften/html/i4550000.htm Ofner, M. (2010). Am Rand der Gesellschaft. Obdachlosigkeit im historischen Kontext und eine Analyse der Gegenwart. Diplomarbeit. Universität Wien. Riedmann, E. (2009). Frauenlos: obdachlos. In economyaustria, 19.11.2009. Zugriff am 25.03.2015 unter http://www.economyaustria.at/dossier/frauenlos-obdachlos Was Wohnungslosigkeit in Österreich bedeutet. Wien: Der Standard, 22.10.2013. Zugriff am 25.03.15 unter http://derstandard.at/1381369340202/Wohnungslos-in-Oesterreich

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Emily Bono

Sichergehen – wohin? Systemische Psychotherapie mit Asylsuchenden und Flüchtlingen

»Das Wort, das dich tröstet, kannst du dir nicht selber sagen.« (Äthiopisches Sprichwort)

In den Jahren 2009 bis 2011 war ich ehrenamtlich als Psychotherapeutin bei AMBER MED – ambulant-medizinische Versorgung, soziale Beratung und Medikamentenhilfe für Menschen ohne Versicherungsschutz – tätig, einer Ambulanz, in der Menschen behandelt werden, die vom Gesundheitssystem ausgeschlossen sind (vgl. AMBER MED, 2009). Zielgruppe waren unter anderem asylsuchende Personen und Flüchtlinge. Mein Beitrag soll die Besonderheiten der Arbeit in diesem Kontext und hilfreiche therapeutische Möglichkeiten aufzeigen. Einen Schwerpunkt des ambulanten Angebots stellt die psychothe­ra­peu­ tische Krisenintervention dar. Patient_innen werden in der Regel von Ärzt_innen oder der Sozialberatung überwiesen, wenn traumatische Erlebnisse und/oder psychische Probleme und/oder psychosomatische Beschwerden festgestellt werden. Psychotherapie wird im Sinne einer Krisenintervention und als Kurzzeittherapie durchgeführt. Ein Großteil der psychotherapeutisch behandelten Personen musste aufgrund von (Bürger-)Kriegserlebnissen über einen längeren Zeitraum traumatische Erfahrungen machen. Besonders Frauen leiden unter fehlender Rechtssicherheit, auch in nicht-bürgerkriegsähnlichen Situationen. Alle meine Klient_innen erlebten belastende Situationen, die sie in einen Zustand der Hilflosigkeit versetzten und über einen längeren Zeitraum andauerten. Fast alle Klient_innen, die von mir begleitet wurden, zeigten Symptome Posttraumatischer Belastungsstörungen aufgrund sich wiederholender, traumatisierender Ereignisse und einen eklatanten Mangel an Erholungsphasen. Kaum eine Klient_in erfuhr rechtzeitig therapeutische Behandlung. Lueger-Schuster (2002) betont, dass neben vielfältigen Reaktionen auf traumatische Ereignisse eine Reihe von Komorbiditäten in Zusammenhang mit PTBS auftreten und dass die Gefahr einer Chronifizierung steigt, wenn

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keine Hilfe erfahren wird. Zahlreiche Studien belegen ihr zufolge, dass circa 80 % der Personen, die an PTBS leiden, auch an anderen Erkrankungen leiden. In allen therapeutischen Erstgesprächen, die ich mit Flüchtlingen geführt habe, wurden Schlafstörungen, Kopfschmerzen oder andere körperliche Symptome, Unsicherheit und Angst hinsichtlich des Asylverfahrens, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme thematisiert. Die vielfältigen Beschwerden, die diese Klient_innen präsentieren, sind im Rahmen einer Chronifizierung der PTBS mit auftretenden komorbiden Störungen zu sehen. Prekäre existenzielle Verhältnisse erschweren außerdem den Zugang zum Gesundheitswesen, was bedeutet, dass sie Hilfeleistungen kaum in Anspruch nehmen können. Die meisten Klien­t_innen, die von mir betreut wurden, berichteten über traumatische Erfahrungen und litten zudem an psychosomatischen Erkrankungen, Depressionen, Angstzuständen oder Panikattacken. Der Zusammenhang zwischen unbehandelten Traumata und anderen Krankheitsbildern wird auch von Fischer (2008) hervorgehoben. Die gemeinsame Erarbeitung der Therapieziele, verbunden mit einer Er­klä­ rung der Vorgehensweisen, ermöglicht den Klient_innen, selbst Entscheidungen zu treffen und Kontrolle auszuüben. Die Klient_innen, die ich betreute, definierten als Therapieziele einen besserem Umgang mit ihrer Erkrankung und Linderung der Symptome, zum Beispiel Schlaflosigkeit, Panikattacken oder Schmerzen, und wünschten sich Lösungen hinsichtlich ihrer sozialen Probleme. Preitler (1996) definiert diese Ziele als sinnvoll und realistisch für die Therapie mit Flüchtlingen unter unsicheren Bedingungen. Schweitzer und von Schlippe (2007) stellen die Entstehung von Angst und Panik mit dramatischen Verlusten in der Familie oder im eigenen Leben und mit dem Erleben von Gewalt in Zusammenhang. Dadurch wird ein klarer Bezug zwischen PTBS und Angst bzw. Panik hergestellt. Schweitzer und von Schlippe erklären Panik als eine Möglichkeit, Wut und Aggression sowie Angst zu stoppen, und bemerken, dass sowohl mit Angst als auch mit Wut ähnliche körperliche Signale einhergehen. Klient_innen thematisierten Angst, Panikattacken und andere körperlichen Symptome weit häufiger als Ärger oder Wut. So sagte ein 21-jähriger Tschetschene, obwohl er seine Kindheit größtenteils im Keller versteckt verbringen musste und dort einen jüngeren Bruder verlor, dass er keine Wut und keinen Hass auf die Täter verspüre. Er sagte, er habe die Destruktivität dieser Gefühle erlebt und will sie nicht selbst spüren. Die Symptome der PTBS und anderer damit zusammenhängender Erkrankungen waren bei allen Klient_innen, die ich therapeutisch betreute, so stark, dass eine medikamentöse Behandlung notwendig war. Besonders zu Beginn der Therapie war es geboten, die Symptomatik psychiatrisch und all-

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gemeinmedizinisch abzuklären und zu behandeln. Hier war die Einbettung in das Team und das Case Management der Ambulanzleitung besonders wichtig, um Klient_innen unkompliziert weitervermitteln sowie wichtige Informationen austauschen zu können. Seit es Studien über Klient_innen mit Migrationshintergrund gibt, weisen sie auf das gehäufte Auftreten von psychosomatischen Beschwerden hin. Sie können mit sozialer Isolation in Zusammenhang gebracht werden, da der Körper aufgrund fehlender Mitteilungsmöglichkeiten eine eigene Sprache des Schmerzes findet. Ein Mangel an Rückhalt und der Verlust der »schützenden Hülle« durch die eigene Kultur erhöhen die Gefahr, dass somatische Symptome auftreten (Saller, 2008). Psychosoziale Dimensionen sind stärker an das Erleben von Schmerzen gekoppelt als körperlich-sensorische Empfindungen (Piralic Spitzl, Friedmann, Lenz u. Aigner, 2008). Somatisierung ist als Prozess zu verstehen, durch den psychosoziale Belastungen zumindest wahrgenommen werden, indem medizinische Hilfe in Anspruch genommen wird. Es kommt jedoch häufig zu einem Teufelskreis, da die Sorge, ernsthaft erkrankt zu sein, Erregung und Angst steigern, die wiederum somatische Beschwerden fördern (Saller, 2008; Piralic Spitzl et al., 2008). Darüber hinaus wird Schmerz mitunter kulturspezifisch unterschiedlich kommuniziert. Eine vorbehaltslose und positive therapeutische Haltung, durch die sich Klient_innen angenommen fühlen, zeigt sich hier als hilfreich (Neuhauser-Onyejiaka, Saurwein u. Bösch, 2008). Zudem sind auch psychoedukative Maßnahmen, das Erarbeiten individueller Möglichkeiten zur Schmerzbewältigung und Informationen hinsichtlich des Umgangs mit Schmerzmitteln zielführend (Piralic Spitzl et al., 2008). Indira, eine 34-jährige Klientin aus Indien, gehörte als Muslimin einer Minderheit in ihrem Heimatort an, in dem mehrheitlich Hindus lebten. Als junges Mädchen wurde sie in ein arabisches Land geschickt, um dort zu arbeiten und damit ihre Familie zu unterstützen. Indira hat dadurch keinerlei Schulbildung erfahren und blieb Analphabetin. Sie wurde in der Familie, in der sie als Haushaltshilfe arbeitete, missbraucht und beging in dieser Zeit zwei Selbstmordversuche. Als diese Familie in Österreich auf Urlaub war und sie als Arbeitskraft mitgenommen wurde, gelang es ihr zu flüchten. Sie litt unter starken Kopfschmerzen. In den ersten Stunden erarbeiteten wir ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Flucht, und ich nutzte positive Konnotationen (also das Umdeuten der Symptome), um ihren Mut zur Flucht und ihre Fähigkeit, das Erlebte zu bewältigen, aufzuzeigen. Im dritten Gespräch thematisierten wir die Kopfschmerzen und forschten nach, inwieweit es einen Zusammenhang zwischen den Schmerzen und anderen Ereignissen gibt. Es stellte sich heraus, dass sie sehr viele Schmerzmittel nahm, und ich informierte sie darüber, dass der behandelnde

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Arzt der Ambulanz vermutet, dass sie ein Suchtverhalten zeigt. Wir besprachen mögliche Gründe für diese Annahme und ihre eigene Meinung dazu. Ich teilte ihr auch mit, dass Schmerzmittel ab einer bestimmten Dosis Schmerzen verstärken können, und wir besprachen, inwieweit das zu ihrem Erleben passt. In der letzten Stunde, fünf Monate nach unserem ersten Gespräch, hatte sie es geschafft, ihren Schmerzmittelkonsum erheblich zu reduzieren. Sie litt auch weniger unter Kopfschmerzen. Wir erarbeiteten die Hypothese, dass die Kopfschmerzen Ausdruck all ihrer seelischen Schmerzen sind – die Seele gibt quasi die Schmerzen an den Körper weiter, wenn es zu viele sind. Die Klientin war aufgrund dieser Erklärung sehr erleichtert.

Hier zeigt sich die Wichtigkeit einer positiven Akzeptanz, in der viel Raum für individuelle Geschichten gegeben und aufklärend vorgegangen werden kann. Die Zusammenarbeit mit der Allgemeinmedizin war ebenfalls sehr hilfreich. Wesentlich war auch, die Sprache an den geringen Grad der formellen Bildung der Klientin anzupassen. Signer (2002) bemerkt im Rahmen seiner therapeutischen Arbeit mit Asylant_innen, dass Probleme tendenziell als medizinisch, sozial oder rechtlich präsentiert werden. Er beschreibt, dass es sich bewährt, hier »vom Gegebenen auszugehen« und sich den Themen zu widmen, die Klient_innen als Problem benennen. Die Lebenssituation asylsuchender Klient_innen kann als umfassend belastend erachtet werden. Ihre Anliegen sind kaum danach trennbar, ob sie damit zu einer Therapeutin, einer Anwältin oder einer Ärztin gehen, sondern greifen ineinander. Auch Preitler (1996) stellt dar, dass die Situationen, in denen sich kriegsüberlebende Klient_innen befinden, großen Einfluss auf die Themen der psychotherapeutischen Sitzungen haben und Alltagsprobleme oft viel Raum einnehmen. Dies könnte den Eindruck entstehen lassen, dass Alltagsthemen den Weg zu den »eigentlichen« Themen versperren. Meiner Erfahrung nach kann das Erstgespräch über körperliche Beschwerden und andere Probleme im Sinne eines therapeutischen »joinings« sehr gut genutzt werden. Das sorgfältige Erfragen der Symptome, des erstmaligen Auftretens und des Verlaufs bzw. der Veränderung, die Frage nach Medikamenten oder anderen schmerzlindernden Maßnahmen können die Zusammenhänge mit anderen Ereignissen sichtbar machen. Für eine zusätzliche medizinische Abklärung und die Koordination unterstützender Angebote ist die Einbettung in ein multiprofessionelles Team sehr hilfreich. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich Klient_innen durch diese Vorgehensweise ernst genommen fühlen und langsam damit beginnen können, eine vertrauensvolle Beziehung zur Therapeutin aufzubauen. Im Rahmen der Sitzungen konnte ich beobachten, dass das Erörtern körperlicher Beschwerden in den Folgegesprächen abnahm und andere Themen in den Vordergrund rückten.

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Viele der Menschen, die sich an AMBER MED wenden, befinden sich in extrem belastenden Lebenssituationen, leiden an psychiatrischen Erkrankungen und sind suizidgefährdet. Die Suizidgedanken stehen hier für den Wunsch nach Ruhe, für ein Gefühl der Überforderung, die nur durch den Tod beendet werden kann, oder werden als Möglichkeit erachtet, sich in einer ausweglosen Situation einen Rest von Autonomie und Handlungsfreiheit zu bewahren (Wetli, 2002). Fast jeder Mensch mit einer Traumafolgestörung hat Selbsttötungsgedanken und hat auch Selbsttötungsversuche unternommen (Reddemann u. DehnerRau, 2008).

Psychotraumatherapie mit Flüchtlingen In der Traumatherapie ist schulenübergreifendes und integratives Arbeiten sinnvoll (Egger, 2002). Beispielsweise existieren Kombinationen aus systemischer und hypnotherapeutischer Psychotherapie, werden spezielle Imaginationstechniken angewandt und Elemente aus der Verhaltenstherapie, der Psychoanalyse, dem Psychodrama und körpertherapeutische Ansätzen miteinbezogen. Es gibt auch eigens entwickelte Modelle wie das Debriefing nach Perren-Klingler (2007) zur frühen Intervention, Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) oder die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie von Luise Reddemann (vgl. 2008). Jedoch sind Wirkungsweise und Effektivität einzelner Methoden nicht unumstritten. Allen Modellen liegt die Überzeugung zugrunde, dass Menschen über Ressourcen verfügen, die zur Selbstheilung aktiviert werden können. Alle traumazentrierten Behandlungsansätze gliedern sich in drei Phasen und setzen sich aus der Stabilisierungsphase, der Traumakonfrontationsphase und der Phase der Trauer und Neuorientierung zusammen. Als besonders bedeutsam wird die Phase der Stabilisierung erachtet, in der ein tragfähiges Arbeitsbündnis entstehen und der Vertrauensaufbau stattfinden soll. Stabilität und das Schaffen äußerer Sicherheit gelten bei Reddemann (2001) als wichtigster Teil der Therapie, der während der gesamten Dauer der Behandlung bedeutsam bleibt und Voraussetzung für die Traumakonfrontation ist. Die Bedeutung der Traumakonfrontation selbst wird in den letzten Jahren kontrovers diskutiert. Eine erreichte Stabilisierung wird in vielen Fällen als ausreichendes Therapieziel erachtet, und Klient_innen, denen es im Alltag wieder besser geht, wünschen sich oft keine weiteren Belastungen durch eine Konfrontation mit dem Erlebten (Hanswille u. Kissenbeck, 2010). Die von Reddemann und Dehner-Rau (2008) als besonders wichtig beschriebene Stabilität ist im Rahmen der Arbeit mit Asylwerber_innen kaum

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möglich. Flüchtlinge und Asylsuchende, besonders jene, die keine Aufenthaltsdokumente besitzen, sind ständig vom Scheitern des Asylverfahrens, einer Inhaftnahme und von Abschiebung bedroht. Die meisten leben in unzureichend ausgestatteten Unterkünften und haben kaum die Möglichkeit, ihren Tagesablauf und ihr unmittelbares, persönliches Umfeld selbst zu gestalten. Oftmals ist ihnen das Asylverfahren selbst unverständlich, es gibt kein Vertrauen in die rechtliche Beratung und in das österreichische Rechtssystem, von dem jedoch ihr Schicksal abhängt. Die Kommunikation mit Familienmitgliedern, die in andere Länder geflüchtet oder zu Hause geblieben sind, fehlt. Informationen über deren Aufenthalt und Befinden sind oft schwer zu erhalten. Eine Klientin aus Tschetschenien vermied, Kontakt zu ihren Schwestern im Ausland aufzunehmen, da sie befürchtete, dass dadurch Dritte ihren Aufenthaltsort in Österreich erfahren könnten. Eine andere Klientin, ebenfalls aus Tschetschenien, erfuhr, dass eine Schwester versucht hatte, sie zu kontaktieren. Dies löste bei ihr einen Schockzustand aus. Die Sorge, dass »etwas passiert« sein könnte, bewirkte, dass sie mehrere Tage lang nicht imstande war, die Schwester zurückzurufen. Dies sind Beispiele für Faktoren, die die weitgreifende psychosoziale und rechtliche Unsicherheit der Klient_innen sichtbar machen und verdeutlichen, mit welchen Schwierigkeiten und Ängsten der Kontakt mit nahestehenden Personen verbunden sein kann. Spürbar ist auch die Isolation der Klient_innen, die einerseits durch das Desinteresse der Mehrheitsbevölkerung entsteht, aber auch durch Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld, die ein ähnliches Schicksal teilen. Flüchtlinge vermeiden oftmals den Kontakt zueinander, um sich von ihren eigenen schmerzlichen Erlebnissen zu distanzieren (LuegerSchuster, 1996). Dies begünstigt Konflikte untereinander und verstärkt somit die Gefahr des sozialen Rückzugs und der Vereinsamung. Nach Kronsteiner (2005) ist Isolation ein Bestandteil der Migrationskrise, die alle Flüchtlinge oder Migrant_innen erleben. Dies hängt mit den auftretenden Verlustgefühlen zusammen, und Rückzugstendenzen dienen mitunter dem Schutz und der Verteidigung der eigenen Identität. Dies kann auch als ein Prozess der Trauer um das Verlorene, Verlassene erachtet werden (Kronsteiner, 2005; Preitler, 2002). Ein 31-jähriger Klient, der ohne Familie in Österreich war, erzählte, dass er eigentlich gern verheiratet sein möchte, dies jedoch aufgrund seiner Lebensumstände nicht möglich sei. Seine Flucht erschien ihm als ein Bruch, der verunmöglichte, je wieder ein »normales« Leben zu führen. Trotz des Mangels an Stabilität ist es Klient_innen im Rahmen der Psychotherapiesitzungen manchmal möglich, plötzlich von dramatischen Erfahrungen zu erzählen, auch wenn sie scheinbar in keinem Zusammenhang mit dem

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momentanen Gesprächsinhalt stehen. Zahlreiche Studien zeigen auf, dass mit der zunehmenden sprachlichen Organisation traumatischer Erinnerungen die PTBS-Symptomatik abnimmt (Egger, 2002). Es ist daher wichtig, diesen Erzählungen behutsam zu begegnen und sie therapeutisch zu begleiten. Unterstützend ist, die Erzählung gemeinsam mit den Klient_innen in eine organisierte und zusammenhängende Form zu bringen, in der auch Gedanken und Gefühle enthalten sind. Dieses Ordnungschaffen in einer chaotischen Gedanken- und Gefühlswelt stellt einen der Wirkfaktoren des Debriefing nach Perren-Klingler dar, und ist eine Möglichkeit, Flüchtlinge auch ohne lange therapeutische Prozesse in der Bewältigung ihrer Erlebnisse zu begleiten (Egger, 2002). Im konkreten Umgang mit Klient_innen ist es wichtig, dass sie in einem begrenzten Erregungszustand bleiben, was sicherstellt, dass sie im therapeutischen Setting im Hier und Jetzt gut erreichbar sind (Hantke, 2008). Dieser Umgang mit den Erzählungen über belastende Ereignisse unterstützt den Prozess der Stabilisierung.

Systemische Gedanken zur Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen Systemtheoretische Ansätze werden in der »Traumafachwelt« erst seit kurzer Zeit berücksichtigt (Hanswille u. Kissenbeck, 2010). Ich möchte in diesem Beitrag auf systemische Interventionen eingehen und hervorheben, dass das Besondere der therapeutischen Tätigkeit mit Flüchtlingen und asylsuchenden Menschen darin besteht, dass sie unter Zuhilfenahme von Dolmetscher_innen stattfindet. Die Klient_innen kommen aus anderen Kulturen, mussten extrem belastende Erfahrungen machen und leben in prekären Verhältnissen. Durch die spezifische Intensität und das Timing der Therapien verändert sich der Fokus. Es scheint, als ob Therapie in diesem Kontext auf wenige Elemente beschränkt ist und durch ebendiese Beschränkung eine Erweiterung bzw. Intensivierung erfährt. Wie bei allen anderen Psychotherapien ist die therapeutische Beziehung auch in der Arbeit mit Flüchtlingen eine wesentliche Grundlage. Die Möglichkeit, aktiv der Therapie zustimmen zu können, eröffnet einen ersten – und im Leben von Asylsuchenden eher seltenen – Handlungsspielraum. Verlangsamung ist in der ersten Sitzung eine wichtige Intervention, da Klient_innen oft mit der Erwartung zu kommen scheinen, sie müssten jetzt »alles sagen«, und dadurch großem inneren Druck ausgesetzt sind. Auch Ottomeyer (2002) thematisiert die Entschleunigung und warnt speziell in der Arbeit mit Flüchtlingen vor zu schnellem Verstehen und zu rascher Bekundung von Einfühlung, da dies Klien-

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t_innen emotional isolieren kann. Darüber hinaus muss beachtet werden, dass viele alltägliche Vorkommnisse bei Menschen mit Extremerfahrungen Stress oder gar Krisen auslösen können. Es ist wichtig, diesen Ereignissen, scheinen sie auch noch so unbedeutend oder unpassend für die Therapie zu sein, Raum zu geben und damit Klient_innen die Kontrolle über das Geschehen und die Reihung von Prioritäten zu überlassen. So gesehen werden Beziehung und Arbeitsbündnis in jeder Stunde neu konstituiert und bestätigt. Klient_innen, die ich fragen konnte, was sie in der Therapie als hilfreich erlebt haben, sagten, dass sie es genossen haben, erzählen zu können und gehört zu werden, und betonten hierbei das für sie Außergewöhnliche an dieser Situation. Zwei Personen erwähnten auch, dass ihnen die ruhige Atmosphäre des Gesprächs gut getan hat, und ein Klient empfand es als hilfreich, dass mich seine Erzählungen nicht beunruhigt haben und ich ihm weiter zuhören konnte. Klient_innen müssen schmerzhafte Erlebnisse, seien es die täglichen Erlebnisse des Fremd- und Unwillkommenseins oder traumatische Erfahrungen, aussprechen können. Die Aufgabe der Therapeut_innen ist es, das Gehörte auszuhalten und somit gemeinsam mit den Klient_innen zu tragen. Preitler (1996) betont, dass in diesem Kontext ein Schweigen der Therapeut_innen unangebracht sein kann. Stattdessen sollte in dem Sinne »Stellung bezogen« werden, als aktiv vermittelt wird, dass Klient_innen geglaubt wird, und darüber hinaus gegebenenfalls benannt werden, dass Unrecht geschehen ist und Menschenrechte verletzt wurden. Auch in zahlreichen anderen Publikationen wird auf die entscheidende Bedeutung der Anerkennung erlittenen Unrechts – nicht nur eines Unglücks – hingewiesen. Dies fördert nicht nur das Vertrauen und die therapeutische Beziehung als Grundlage der Behandlung, sondern reduziert auch Angst und Scham. Das Anerkennen und direkte Ansprechen von Verletzungen ermöglicht Klient_innen, Symptome als Reaktion auf Ausnahmezustände zu erkennen. Das Erleben eines Gesprächs über das Unaussprechliche vermindert außerdem Gefühle der Isolation (Stupnig u. Lackner, 2007; Scheffler u. Büchele, 1996). Die Anerkennung des Unrechts ist gleichzusetzen mit einer Würdigung der Klient_innen. Diese Würdigung kann im Rahmen der Therapie ein Gefühl der Wiederherstellung von Gerechtigkeit geben (Stupnig u. Lackner, 2007). Die Würdigung und damit einhergehende Bestätigung der Erlebnisse steht in einem direkten Zusammenhang mit der Würdigung der Person und ihrer Leistung, überlebt zu haben, und stellt somit die Basis für eine weiterführende, ressourcenorientierte Arbeit dar. Die Momente, in denen es mir gelang, die besondere Leistung meiner Klient_innen hervorzuheben, waren für mich – und ich denke auch für mein Gegenüber – besonders berührende Momente.

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So suchte eine Klientin direkten Augenkontakt mit mir und richtete sich auf, während ich mit ihr über ihre Leistungen sprach. Sie hielt den Augenkontakt auch, während die Dolmetscherin meine Worte in ihre Sprache übertrug, was ungewöhnlich ist, da die meisten Klient_innen die Dolmetscher_innen anschauen, wenn meine Worte übersetzt werden. Auch wenn sich aus dieser Situation keine allgemeingültigen Schlüsse ziehen lassen, so war es doch eine sehr intensive menschliche Begegnung über alle Unterschiede und Sprachbarrieren hinweg. Ressourcenorientiertes Vorgehen hilft, wenn es darum geht, Strategien zu entwickeln, um Schwierigkeiten in der Alltagsbewältigung zu meistern oder mit physischen und psychischen Symptomen umzugehen. Dies ist aufgrund des Settings innerhalb der Ambulanz oftmals sehr konkret möglich. Beispielsweise kann besprochen werden, am Ende der Stunde einen Termin mit einer Ärztin, einem Arzt oder mit der Sozialberatung zu vereinbaren, oder es wird geplant, wie warme Kleidung, eine Rechtsberatung oder ein Deutschkurs organisiert werden könnte. Hier wird es möglich, Klient_innen im Sinne eines Empowerments unmittelbar zu unterstützen. Durch positive Konnotation kann auch immer wieder aufgezeigt werden, was alles schon geleistet wurde. Trotz der durchaus schwierigen Situation liegt es auf der Hand, dass Menschen, denen es gelingt, in ein anderes Land zu flüchten, die Fähigkeit haben, etwas, das sie dringend brauchen, für sich selbst zu organisieren. Kronsteiner (2005) bezeichnet dies auch als »Migrationsleistung.« Einer meiner tschetschenischen Klientinnen wurde auf diese Weise bewusst, dass sie die älteste von sieben Geschwistern ist, wodurch sie eine sehr bedeutsame Rolle in ihrer Herkunftsfamilie hatte, die sie bis heute einnimmt. Sie erkannte, dass sie aufgrund dieser verantwortungsvollen Position ein Recht darauf hat, dass ihr die jüngeren Brüder helfen, und konnte dafür viele Beispiele nennen. Der Respekt und die Liebe ihrer Brüder spendete ihr Trost und Kraft. In der ressourcenorientierten Therapie muss jedoch auch sehr feinfühlig und individuell vorgegangen werden. Insistierende Fragen nach Ressourcen können Klient_innen das Gefühl vermitteln, sie müssten allein zurechtkommen. Dies kann zu Überforderungen, Kränkungen und Schuldgefühlen führen. Zu früh gestellte Fragen können auch als Negieren des individuellen und kollektiven Leids, das zur Flucht geführt hat, empfunden werden (Joksimovic u. Bierwirth, 2008). Durch das Aufspüren von Ressourcen kann es jedoch gelingen, an positive Erinnerungen und Tatsachen aus dem Leben vor dem Trauma anzuknüpfen und somit wieder einen Zugang zum Selbst-Konzept, das vor dem traumatischen Ereignis bestand, herzustellen (Egger, 2002). Es ist immer wichtig, mit Klient_innen an den Themen zu arbeiten, die sie »mitbringen«. In der therapeutischen Arbeit mit Flüchtlingen hat dies jedoch

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einen besonderen Stellenwert, da Klient_innen mit Themen konfrontieren, die zunächst nicht therapierelevant zu sein scheinen. So habe ich mit einer Klientin, die über einen Brief sehr beunruhigt war, fast eine ganze Therapieeinheit lang ihre Möglichkeiten, mit diesem Brief umzugehen, besprochen. Wir haben die Kopien aller Unterlagen, die sie an ihren Anwalt weitergegeben hatte, gesichtet, in Teilen hat die Dolmetscherin diese für sie übersetzt. Im Laufe der Stunde beruhigte sie sich und hatte allmählich das Gefühl der Kontrolle, da sie nun verstand, was die Unterlagen beinhalteten, und sich versichern konnte, dass die Aussagen, auf die sie Wert legte, enthalten waren. Am Ende der Stunde konnte sie ein Thema, an dem sie in der Therapie arbeiten wollte, formulieren. Alltägliche Situationen haben für asylsuchende Menschen mitunter besondere Relevanz, da es aufgrund der Unterschiedlichkeit der Kulturen, der Unkenntnis lokaler Begebenheiten und vor dem Hintergrund traumatischer Erfahrungen immer wieder zu Fehlinterpretationen kommen kann. Stupnig und Lackner (2007) beschreiben anhand eines Fallbeispiels, wie ein Klient davon profitierte konnte, dass scheinbar harmlose Alltagssituationen, die ihn sehr beängstigten, unzählige Male besprochen werden konnten. Einer meiner Klienten thematisierte in einer Stunde den Vorfall, dass sein Vorgesetzter zu ihm gesagt hatte: »Guten Morgen, ist alles in Ordnung bei Ihnen?« Dies hatte beim Klienten den Verdacht ausgelöst, dass der Chef ihn verhaften lassen wollte. Eine genaue Analyse der Situation, Vergleiche mit dem Verhalten anderer Personen, das Aufzeigen und Sammeln alternativer Möglichkeiten, die der Chef hätte, wenn er ihn wirklich verhaften lassen wollte – all das führte im Lauf der Stunde dazu, dass der Klient den Verdacht relativieren konnte. Für die Wiedererlangung des Gefühls der Selbstwirksamkeit sind In­for­ma­ tionen und Aufklärung wichtig (Reddemann, 2001). Dies kann zunächst durch allgemeine Erläuterungen über die Psychotherapie stattfinden und anhand psychoedukativer Vorgehensweisen und Erklärungen zu Diagnosen und Symptomen psychischer Erkrankungen fortgesetzt werden. Diese Erklärungen sollten vor allem im Sinne einer Normalisierung erfolgen, wonach nicht die Betroffenen »verrückt« sind, sondern vielmehr die Situationen und Lebensumstände, in denen sie sich befanden (Fischer, 2008). Dann können Symptome als grundsätzlich gesunde Reaktionen auf Extremerfahrungen und als Prozess der Selbstheilung verstanden werden. Auch Informationen über notwendige Trauerprozesse können unterstützend sein. Unter Information ist in diesem Zusammenhang keine Präsentation zu verstehen, sondern individuelle Information, die gemeinsam mit Klient_innen erarbeitet wird und in den Stabilisierungsprozess einfließt. Klienten benötigen persönliche und passende Erklärungsmodelle für

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ihr Empfinden (Schweitzer u. von Schlippe, 2007). Dadurch wird jeder Weg der Besserung zu einem sehr individuellen Weg. Die meisten Menschen, die Traumata erleben mussten, stellen sich Fragen über den Sinn dieser Erlebnisse und suchen nach Gründen. Dies sind oft auch spirituelle Fragen, die stark mit dem Glauben und den Werten der Person zusammenhängen. Reddemann und Dehner-Rau (2008) empfehlen Betroffenen, diesen Fragen nicht auszuweichen, sondern den Mut zu haben, darüber nachzudenken. Die systemische Annahme, dass die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft in zirkulärer Weise die Bedeutung verändert, die Klient_innen der Vergangenheit zuschreiben, ist für die Arbeit an Sinnfragen besonders förderlich. Menschen reagieren nicht auf eine objektive Realität, sondern auf ihre individuelle Bedeutungszuschreibung. Unter Zuhilfenahme dieser »Inneren Landkarte« können selbst schmerzhafte Erlebnisse so in die Biografie einer Person integriert werden, dass sie nicht nur Verluste darstellen, sondern Ereignisse, die neue Entdeckungen ermöglichten. Hierbei ist es wesentlich, das SelbstKonzept einer Person zu beachten (Egger, 2002). Die Interaktion mit der Außenwelt und die dabei entstehenden individuellen Bedeutungszuschreibungen sowie das Erleben von sich selbst als handelnde Person in dieser Welt definieren das Selbstbild. Im Rahmen der therapeutischen Arbeit kann es gelingen, an ein früheres, nicht-traumatisiertes Selbstbild anzuknüpfen und dem traumatischen Erlebnis einen eher fest umrissenen und weniger ausufernden Platz im Leben zu geben. Frauen, die mit ihren Kindern nach Österreich geflüchtet sind, betonen immer wieder, dass sie Sinn darin sehen, ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, als sie selbst es hatten. Eine Klientin erzählte, wie ihre eigene Mutter dies ebenfalls für sie getan habe. Die Verantwortung für ihre Kinder, das Mutter-Sein, war für sie sowohl Anstrengung als auch Motivation und bestärkte sie darin, eine kämpferische Haltung einzunehmen. In diesem Fall konnte die Arbeit an der Sinnfrage zur Stabilisierung der Klientin beitragen. Fähigkeiten, die zum Überleben entwickelt wurden, stellen einen »besonderen inneren Reichtum« (Kronsteiner, 2005, S. 12) dar, der in der Therapie mit Flüchtlingen erarbeitet, bewusst gemacht und gewürdigt werden kann. Der Grundgedanke, dass Menschen in Systemen agieren und Symptome innerhalb von Beziehungsgeflechten entwickeln, sowie die Annahme, dass diese Symptome somit eine Funktion haben und nicht ohne Veränderungen aller am System Beteiligten beeinflusst werden können, sind auch in der Arbeit mit Flüchtlingen relevant. Diese Ideen berücksichtigen, dass in einer Familie oder einer Gruppe sich nahestehender Personen im Fall eines Traumas alle betroffen

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sind – entweder selbst (durch gleiche oder unterschiedliche Ereignisse) oder durch Beobachten und Mitfühlen mit der traumatisierten Person. Ein Trauma impliziert den stärksten Eingriff in ein System, und das System orientiert sich an der traumatisierten Person, wodurch alle Interaktionen massiv beeinflusst werden (Hannswille u. Kissenbeck, 2010). Die Arbeit mit dem (Familien-)System ist daher wesentlich für den Erfolg einer Therapie. Die Arbeit mit dem »Inneren System« ist ebenfalls ein wichtiger Faktor in der Traumatherapie. Sie hilft, Ressourcen zu finden und mit den Traumafolgen umgehen zu lernen. Hierbei ist das Einnehmen der Beobachter_innenposition und das Erkennen der Wirklichkeitskonstruktionen bedeutsam, um Unterscheidungen treffen zu können (Hannswille u. Kissenbeck, 2010). Klient_innen, die die Einrichtung AMBER MED aufsuchen, befinden sich allerdings in einer Situation, die eine Überwindung des Traumas erheblich erschwert. Abgesehen von der Unsicherheit, in der sie leben, »brauchen« sie die Erkrankung auch, um in Österreich bleiben zu können. Eine vollständige Genesung hätte für sie unter Umständen die Konsequenz, einer drohenden Abschiebung nichts mehr entgegenhalten zu können.

Kulturen und Sprachen Die Arbeit mit Flüchtlingen und asylsuchenden Menschen konfrontiert nicht nur mit extrem belastenden Erfahrungen und unsicheren, instabilen psychosozialen und rechtlichen Bedingungen, sondern macht auch die Auseinandersetzung mit kulturellen und sprachlichen Unterschieden und der Frage notwendig, wie diesen zu begegnen ist. Meiner Erfahrung nach sollte nicht von einer grundlegenden »Andersartigkeit« der Kulturen ausgegangen werden, sondern auch das menschlich Verbindende, beispielsweise das Bedürfnis nach Schutz, Respekt, Autonomie und Würde ins Zentrum gerückt werden. Auch in einigen Fachpublikationen wird davor gewarnt, kulturelle Unterschiede überbewertend zu fokussieren. Besonders im Praxisfeld psychosozialer Gesundheit scheint mir der Blick auf individuelle Bedürfnisse wichtiger zu sein als der Blick auf Kultur und Herkunft. In diesem Feld ist eine erweiterte soziale Kompetenz nötig, welche Selbstreflexion, Hintergrundwissen und Erfahrung im Umgang mit Migrant_innen voraussetzt. Durch diese Kompetenz ist es möglich, individuelle Lebenswelten zu erfassen und daraus entsprechende Handlungsweisen abzuleiten. Der Kulturbegriff, der einer solchen Verständigung von Menschen unterschiedlicher Kulturen zugrunde liegt, ist der einer dynamischen Kultur, die sich aus verschiedenen Aspekten

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zusammensetzt und sich mit denen anderer Kulturen vermischt (Preitler, 1996; Pfabigan, 2009). Die Betonung des Verbindenden zwischen Therapeut_in und Klient_in soll jedoch nicht die Wahrnehmung der Differenz verhindern, sondern ermöglichen, dass von einer grundsätzlichen Vielfalt der Kulturen, psychologischer und medizinischer Konzepte ausgegangen werden kann (Eberding u. von Schlippe, 2001). Für die Balance zwischen Ähnlichkeit und Unterschiedlichkeit ist die systemische Haltung des Nicht-Wissens und der wohlwollenden Neugier besonders nützlich. Einige Autor_innen (Signer, 2002; Pfabigan, 2009) warnen davor, Wissen über Kulturen als gegeben anzunehmen und plädieren für eine offene Haltung, die aktiv die Erklärungen des Gegenübers sucht, statt »Information« zu nutzen, die kaum mehr als eine Ansammlung von Stereotypen und Vorurteilen ist. Wissen und Vorerfahrung im Hinblick auf Kulturen kann Kommunikation über die Kultur nicht ersetzen (Signer, 2002). Eine bewusste Rückbesinnung auf Gewohnheiten und Rituale kann Menschen wiederum dabei unterstützen, ihr Verhalten zu steuern und mit anderen in Kontakt zu treten. Insofern kann Kultur per se eine wesentliche therapeutische Rolle spielen. Ein Klient, den ich im Rahmen von AMBER MED therapeutisch begleitete, hatte die Nachricht erhalten, dass sein Vater im Herkunftsland verstorben war. Der Klient litt nicht nur an der Trauer über den Verlust, sondern auch an der Tatsache, dass er durch seine Abwesenheit weder seine Aufgaben als Sohn erfüllen noch die Trauerzeremonien gemeinsam mit der Familie abhalten konnte. In der Therapie beschrieb er die Zeremonien, die seine Religion vorschrieb, und wir besprachen, wie er trotz der Entfernung einen Beitrag leisten und die Rituale in abgewandelter Form auch hier, mit Freund_innen statt mit der Familie, durchführen könnte. Diese kulturellen Anker halfen ihm, mit der Trauer umzugehen und Unterstützung zu erfahren. Ein weiterer Aspekt in der Arbeit mit asylsuchenden Menschen ist die Sprache. Oftmals findet Therapie mit Dolmetscher_innen statt, die Klient_innen entweder nicht kennen oder selbst mitbringen. Im Fall von mitgebrachten Übersetzer_innen ist es wichtig, die Rollen klar zu definieren, um Verwechselungen und Verwirrungen zu vermeiden. Die Steuerung dieses Settings obliegt den Therapeut_innen (Ghaderi u. Van Keuk, 2008). Wesentlich ist auch, etwas über die Beziehung zwischen den Klient_innen und mitgebrachten Dolmetscher_innen zu erfahren, da die professionelle Verschwiegenheit nicht gegeben ist und damit der Themenkreis, der in Therapie besprochen werden kann, stark eingeschränkt ist. Obwohl viele Schwierigkeiten in der therapeutischen Arbeit unter Beisein von Dolmetscher_innen auftreten können – Zeitverzögerung, potenzielle Missverständnisse, Verzerrungen in der therapeutischen Beziehung durch Anwesenheit einer zusätzlichen Person, Aggressivität gegenüber Therapeu-

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t_innen (Eberding u. von Schlippe, 2001) – überwiegen im Allgemeinen positive Erfahrungen mit diesem Setting (Preitler, 1996). Das Gesprochene bekommt durch die Anwesenheit einer dritten Person und die Wiederholung des von Klient_innen Gesagten durch die Übersetzer_innen zusätzliches Gewicht, und dem Gespräch wird wesentlich mehr Zeit und Raum gegeben, da es auch öfter zu Rückfragen kommt (Signer, 2002). Dolmetscher_innen sind daher nicht als »Störfaktoren« zu betrachten, die notwendigerweise in Kauf zu nehmen sind, sondern können ein Beispiel dafür verkörpern, dass die Herausforderungen des »Fremdseins« bewältigt werden können, und somit Hoffnung vermitteln. Die Zeitverzögerung bzw. -verschiebung im Gespräch kann von Therapeut_innen genutzt werden, um nächste Schritte zu überlegen, sich des eigenen inneren Dialogs bewusst zu werden und Stimmlage, Mimik und Gestik der Klient_innen wahrzunehmen. Es ist in diesem Setting durchaus möglich, Worte, die oft wiederkehren, zu erkennen, zu lernen und somit auch ein Gefühl für die Botschaften zu entwickeln. Als eine besondere Herausforderung empfinde ich, mit meiner Aufmerksamkeit bei den Klient_innen zu bleiben, während deren Wortmeldungen übersetzt werden. Diese Zeit bedeutet für Klient_innen eine Pause, für mich als Therapeutin jedoch Konzentration auf die Dolmetscher_innen, die Sprache und den Inhalt. Klient_innen können sich in diesen – und sei es noch so kurzen – Momenten machtlos und ausgeschlossen fühlen. Es ist sehr wichtig, hier transparent zu bleiben und alles, auch Rückfragen an die Dolmetscher_innen, wieder zu übersetzen. Hier ist es notwendig, Aufgaben und Rollen klar zu definieren (Preitler, 1996). Eine besonders komplexe Situation entstand, als eine tschetschenische Frau ihren zehnjährigen Sohn wegen seiner Angst und Schlaflosigkeit zur Therapie bringen wollte. Sie sprach mit ihm auf Tschetschenisch, was die Dolmetscherin jedoch nicht übersetzen konnte. Die Dolmetscherin übersetzte meine Wortmeldungen für die Frau in die russische Sprache, was der Sohn wiederum nicht verstand. Ich konnte zwar mit dem Sohn Deutsch sprechen, dann jedoch konnte uns die Mutter nicht verstehen. Es bedurfte aufwändiger Absprachen darüber, wer mit wem spricht und was davon übersetzt werden soll. Die Mutter konnte für diesen Aufwand offenbar keine Geduld aufbringen und wurde ungehalten, wenn ich ihren Sohn auf Deutsch ansprach. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich dadurch machtlos fühlte, und identifizierte sie als die eigentliche Klientin in dieser Stunde. Daher schlug ich vor, dass es zunächst um sie geht, wir zu zweit mit der Dolmetscherin sprechen und der Sohn einstweilen draußen wartet. Damit war sie einverstanden, und es ergab sich in der Folge ein wesentlich besserer Kontakt.

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Als Therapeut_in handlungsfähig bleiben Die Arbeit mit Menschen, die Extremerfahrungen durchlebt haben und die aufgrund von gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen nicht zur Ruhe kommen können, kann bei Helfenden ein Gefühl der Ohnmacht auslösen. Eine offene und wohlwollend neugierige Haltung gegenüber Anderem bzw. Fremdem und die Bereitschaft zu ständiger Reflexion der eigenen Gedanken und Gefühle muss daher als wichtige Voraussetzung erachtet werden, um in diesem Kontext psychotherapeutisch arbeiten zu können. Ottomeyer (2002) beschreibt Reaktionsstile von Therapeut_innen, die unter »Empathie-Stress« leiden, und bildet dafür vier Kategorien: ein gestörtes psychophysisches Gleichgewicht, Rückzug, Verstrickung und Verdrängung. Er empfiehlt, die eigenen Positionen fortwährend zu reflektieren, um sich der Reaktionsmuster bewusst zu werden. Besonders der gesellschaftliche und politische Druck kann zu Verstrickungen oder auch zur Überlebensschuld führen (Ottomeyer, 2002). Da Flüchtlinge auf vielen Ebenen gesellschaftlich diskreditiert werden, geraten Therapeut_innen leicht die Rolle der »Retter_innen« oder »Gutmenschen« und werden ebenso diskreditiert. Diese gemeinsame Position verstärkt wiederum die Gefahr der Verstrickung und fördert übergroße Nähe. Ottomeyer schlägt eine Art Flucht nach vorne vor, also in noch mehr gesellschaftliches Engagement für Flüchtlinge. Kronsteiner (2005) empfiehlt diesbezüglich, möglichst viele Ressourcen durch den Zugang zur eigenen Migrationsgeschichte der Therapeutin zu aktivieren, um die Arbeit mit Asylsuchenden gut zu bewältigen. Macht ist ein weiterer wesentlicher Faktor, der in der Psychotherapie mit asylsuchenden Menschen berücksichtigt werden sollte. Flüchtlinge können Therapeut_innen als Vertreter_innen der mächtigeren Mehrheitsgesellschaft wahrnehmen und damit unterschiedlich umgehen. Oftmals wird von Therapeut_innen eine autoritäre Expert_innenrolle eingefordert. Das Wahrnehmen dieser Dynamik ist Voraussetzung, um in der Haltung der Nicht-Wissenden, die vorsichtig und einfühlsam weiterfragen, bleiben und mit dem Gegenüber trotz vordergründiger Fremdheit in eine stabile therapeutische Beziehung treten zu können. Beschließen Klient_innen, dass eine Therapie nicht das Richtige für sie ist, so stellt dies eine wichtige Erfahrung der Selbstwirksamkeit und ein Ausüben von Kontrolle dar. Diese Sichtweise kann Therapeut_innen davor bewahren, die Entscheidungen von Klient_innen als eigenes Scheitern zu empfinden. Eine Klientin reagierte sehr vorwurfsvoll, als sie eine spezielle Bestätigung, die ich ihr nicht ausstellen konnte, von mir verlangte und dachte, dass ich ihr

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nicht helfen wolle. Ich hätte gern mehr für sie getan, nur war es mir leider nicht möglich – ich konnte sie nur an ihre Rechtsberaterin verweisen. Es war notwendig, mich innerlich von dem enormen Druck zu distanzieren, den sie auf mich ausübte, und dennoch mit ihr in Kontakt zu bleiben. Als deutlich wurde, dass ich ihre Unzufriedenheit aushalte und ihr dabei helfen will, einen Plan zu machen, um die erforderlichen Informationen und Unterlagen zu bekommen, konnte sie akzeptieren, dass mein Angebot ein anderes als das von ihr erwünschte war, und es annehmen. Es ist wichtig, Klarheit über Beziehungsangebote zu vermitteln, eigene Grenzen zu erkennen und sich vor Überforderung zu schützen (Egger, 2002). Ottomeyer (2002) betont, dass es nicht so sehr darauf ankommt, die »richtige« Haltung zu finden, sondern die Haltung, die eingenommen wird, immer wieder zu reflektieren. In meiner persönlichen Reflexion kann ich feststellen, dass mich die österreichischen Asylgesetze immer wieder ärgern und dass ich sie als unnötig hart und unsinnig empfinde. Auch erscheint mir das, was ich Klient_innen anbieten kann, angesichts der Tatsache, dass sie so vieles dringend brauchen und nicht bekommen, manchmal unbedeutend. Dennoch denke ich, dass Psychotherapie ein wichtiges und notwendiges Angebot für asylsuchende Menschen und Flüchtlinge ist – nicht nur aufgrund der Traumata, die sie erleben mussten, sondern auch im Hinblick darauf, dass ihr Kampf um Schutz und Sicherheit, um das Gewähren von Asyl, hier nicht zu Ende ist. Literatur Eberding, A., Schlippe, A. von (2001). Konzepte der multikulturellen Beratung und Behandlung von Migranten. In P. Marschalek, K. Wiedl (Hrsg.), Migration und Krankheit (S. 261–282). Osnabrück: Rasch. Egger, I. (2002). Die letzte Metro? Von der Zerstörung der bewohnbaren Welt und Versuch eines Wiederaufbaus – Psychotherapeutische Arbeit mit Flüchtlingen im Verein Zebra. In K. Ottomeyer (Hrsg.), Überleben am Abgrund. Psychotrauma und Menschenrechte (S. 187– 212). Klagenfurt: Drava. Fischer, G. (2008). Neue Wege aus dem Trauma. Erste Hilfe bei schweren seelischen Belastungen. Düsseldorf: Patmos. Ghaderi, C., van Keuk, E. (2008). Transkulturelle Psychotherapie mit traumatisierten Flüchtlingen unter Mitwirkung von DolmetscherInnen. In S. Golsabahi-Broclawski (Hrsg.), Von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. 1. Kongress der transkulturellen Psychiatrie im deutschsprachigen Raum, 6.–9. September 2007 (S. 177–186). Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung. Hannswille, R., Kissenbeck, A. (2010). Systemische Traumatherapie: Konzepte und Methoden für die Praxis. Heidelberg: Carl-Auer. Hantke, L. (2008). Zur Kontextoffenheit der neueren Traumatheorie. In S. Golsabahi-Broclawski (Hrsg.), Von Gemeinsamkeiten und Unterschieden. 1. Kongress der transkulturellen Psy-

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Scheffler, S., Büchele, A. (1996). Nichts wird wieder so sein wie es vorher war… Ein Multi­pli­ka­ tor­Innentraining für die Arbeit mit Kriegsopfern. In Lueger-Schuster, B. (Hrsg.), Leben im Transit: Über die psychosoziale Situation von Flüchtlingen und Vertriebenen (S. 145–154). Wien: WUV Universitätsverlag. Schweitzer, J., Schlippe, A. von (2007). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung II. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Signer, D. (2002). Raum geben. Die Arbeit mit Asylsuchenden mit psychischen Schwierigkeiten in den Foyers. In D. Ninck Gbeassor, H. Schär Sall, D. Signer, D. Stutz, E. Wetli (Hrsg.), Überlebenskunst in Übergangswelten. Ethnopsychologische Betreuung von Asylsuchenden (S. 13–32). Berlin: Reimer. Stupnig, S., Lackner, G. (2007). Psychotherapeutische und soziale Arbeit mit Flüchtlingen in Kärnten. In G. Knapp, S. Sting (Hrsg.), Soziale Arbeit und Professionalität im Alpen-AdriaRaum (S. 317–331). Klagenfurt: Mohorjeva. Wetli, E. (2002). Gestern wollte ich sterben, heute will ich leben. Krisenintervention bei psychisch kranken Asylsuchenden. In D. Ninck Gbeassor, H. Schär Sall, D. Signer, D. Stutz, E. Wetli (Hrsg.), Überlebenskunst in Übergangswelten. Ethnopsychologische Betreuung von Asylsuchenden (S. 33–60). Berlin: Reimer.

Literaturempfehlungen AMBER MED: Jahresbericht 2009. Zugriff am 26.3.2015 unter http://www.roteskreuz.at/fileadmin/ user_upload/PDF/GSD/Jahresbericht_Amber-Med_2009.pdf MacLachlan, M. (2002). Die Arbeit mit Psychotrauma: Persönliche, kulturelle und kontextuelle Probleme. In K. Ottomeyer (Hrsg.), Überleben am Abgrund. Psychotrauma und Menschenrechte (S. 231–244). Klagenfurt: Drava. Ottomeyer, K., Peltzer, K. (2002). Einleitung. In K. Ottomeyer (Hrsg.), Überleben am Abgrund. Psychotrauma und Menschenrechte (S. 7–21). Klagenfurt: Drava. Punamäki, R. (2002). Therapie mit Traumaopfern – Theoretische Überlegungen zu Persönlichkeit und kognitiv-emotionaler Verarbeitung. In K. Ottomeyer (Hrsg.), Überleben am Abgrund. Psychotrauma und Menschenrechte (S. 319–332). Klagenfurt: Drava. Riener, E. (2009). AMBER MED: AMbulant Medizinische Versorgung, soziale BERatung und MEDikamentenhilfe für Menschen ohne Versicherungsschutz. In E. Raszky (Hrsg.), Gesundheit hat Bleiberecht: Migration und Gesundheit (S. 311–314). Wien: Facultas.

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»Probleme, nichts als Probleme!« Niederschwellige Psychotherapie für mehrfach belastete Menschen im Kontext der ambulanten Drogenhilfe

»Probleme, ich sag’s Ihnen, nichts als Probleme!« So beschreibt eine unserer Klient_innen ihren Alltag. Ähnlich erleben wir die Lebenssituation vieler Menschen, die eine ambulante Drogentherapieeinrichtung aufsuchen. In unserer Arbeit erkennen wir vier Belastungsfaktoren, die durchaus einzeln, aber vor allem in ihrer Wechselwirksamkeit eine große Herausforderung an eine Psychotherapie stellen: ȤȤ eine hochgradige Suchtmittelabhängigkeit, ȤȤ eine als psychiatrisch definierte Problematik, ȤȤ komplexe Traumaerfahrungen, ȤȤ eine besonders prekäre soziale Lage. Unserer Erfahrung nach ist die Kombination dieser vier Faktoren eine durchaus häufige Konstellation in der Arbeit mit Menschen im Kontext einer Drogenabhängigkeit. Zahlreiche Studien stärken diese Annahme. Paradoxerweise wird allerdings diesen besonders belasteten Klient_innen psychotherapeutische Behandlung zumeist vorenthalten. Und zwar deshalb, weil sie vorgebliche Mindestanforderungen nicht erfüllen können und somit als (noch) nicht therapiefähig gelten. Mit dem vorliegenden Artikel wollen wir dieser – unserer Erfahrung nach weit verbreiteten – Haltung eine alternative Sichtweise entgegenstellen. Wir verstehen das Scheitern an klassischen Therapievoraussetzungen als symptomimmanenten und an sich schon behandlungswürdigen Aspekt der bestehenden Problematiken. Wir wollen aufzeigen, dass Psychotherapie gerade für diese Klient_innengruppe nicht nur dringend indiziert, sondern auch möglich ist. Dazu braucht es Adaptierungen und einen Zugang, den wir »niederschwellige Psychotherapie« nennen wollen. Trotz aller Schwierigkeiten, auf die psychotherapeutische Arbeit in diesem Kontext stößt, regen wir dazu an, unkonventionelle Wege in der Behandlung dieser speziellen Klient_innengruppe einzuschlagen.

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Spezielle Herausforderungen Als besondere Herausforderung unserer Arbeit erleben wir, dass diese Klient_innen Schwierigkeiten haben zu vertrauen und sich auf eine (therapeutische) Beziehung oder auf Herausforderungen einzulassen. Es lässt sich ein generell ängstlich vermeidendes Verhalten beschreiben, dass sich vordergründig auch durch Aggressionen äußert. Aufgrund der vielfachen Belastungen kann selbst die Bewältigung des Alltags überfordern. Auch scheinbar nichtige Anlässe auf der sozialen, psychischen oder körperlichen Ebene können das fragile Gleichgewicht sehr verstören und teilweise massiv krisenhafte Zustände auslösen. Uns begegnen häufig Impulsdurchbrüche, Übererregtheit, dissoziative Zustände und selbstschädigendes Verhalten (wie hochriskante Konsumformen bis hin zu lebensgefährlichen Überdosierungen, Suizidversuche, parasuizidale Handlungen, Ritzen, Schneiden und Beziehungsabbrüche). Längere Rückzugsphasen führen immer wieder zu unzureichender Versorgung mit Nahrung, Medikamenten und Drogenersatzstoffen, zu Arbeitsplatz- oder Wohnplatzverlust, zu finanziellen Engpässen und zu steigendem sozialen Druck (beispielsweise vonseiten der Behörden). Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese Klient_innengruppe mitunter sehr isoliert und unter Bedingungen lebt, die das Stressniveau sowohl körperlich, sozial, als auch psychisch chronisch hoch halten. Im Kontakt mit professionellen Helfer_innen werden diese Klient_innen deshalb oft als besonders anstrengend, mäßig sympathisch, unverlässlich, wenig Erfolg versprechend und als nicht »compliant« erlebt. Die Potenziale dieser Menschen, beispielsweise eine außergewöhnliche Feinfühligkeit, werden oftmals erst im Laufe der Behandlung offenkundig. Psychiatrische Diagnosen verstehen wir als Etikettierungen, die in einem in unserer Kultur traditionellen medizinischen Verständnis von Krankenbehandlung unerlässlich erscheinen, die die Kommunikation im fachlichen Diskurs erleichtern können und verwaltungstechnisch eine notwendige Vereinfachung darstellen. Psychotherapie (vor allem mit einem systemischen Hintergrund) sollte allerdings dieser Zuschreibung gegenüber kritisch distanziert bleiben. Auch wenn viele aktuelle Forschungsarbeiten die biologische Ebene in den Mittelpunkt ihres Interesses stellen, sollte nicht der soziale Kontext psychiatrischer Auffälligkeiten ausgeblendet werden. Keupp (2013) spricht in diesem Zusammenhang von der »Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Gesellschaftsdiagnostik« (S. 6). Da unsere Klient_innen meist »diagnostiziert« wurden, sozusagen bereits psychiatrische Diagnosen »mitbringen«, möchten wir die am häufigsten vorkommenden nach ICD-10 (Dilling et al., 2000) dennoch anführen:

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Alle Klient_innen werden mit einer und meistens mehreren Diagnosen aus der Gruppe »Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen« klassifiziert. In der Regel wird diagnostisch eine Abhängigkeit von Opiaten (F11) und zusätzlich die Abhängigkeit oder zumindest der schädliche Gebrauch weiterer Substanzen beschrieben (häufig Benzodiazepine F13, Alkohol F10, Cannabis F12 und Kokain F14). Gehäuft lassen sich zusätzliche Diagnosen aus folgenden Klassifizierungsgruppen finden: »Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen« (vor allem F60.3: Emotional instabile Persönlichkeitsstörung), »affektive Störungen« (F32.1: mittelgradige depressive Episode) »neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen« (F40: phobische Störungen oder F43.1: Posttraumatische Belastungsstörung). Seltener vorkommend sind Störungen des Sozialverhaltens (F91), »Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren«, wie Essstörungen (F50) oder nichtorganische Schlafstörungen (F51), sowie »Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen« (F20.0: paranoide Schizophrenie).

Es zeigt sich, dass die Klient_innengruppe, die wir hier beschreiben, im Hinblick auf ICD-Diagnosen sehr heterogen ist. Diese Klassifizierung erweist sich daher in unserer Arbeit als nicht besonders klärend. Feststellbar ist lediglich, dass Abhängigkeitsdiagnosen kombiniert mit psychiatrischen Diagnosen erstellt wurden und davon auszugehen ist, dass sich die meisten unserer Klient_innen in medikamentöser Behandlung befinden oder diese aus fachärztlicher Sicht zumindest angezeigt wäre. Eine weitere, verbindende Gemeinsamkeit scheint unseres Erachtens zu sein, dass diese hochgradig drogenabhängigen Klient_innen sehr häufig mehrfache und komplexe Traumata überlebt haben. Auffallend viele Klient_innen berichten von massiven Gewalterfahrungen, sexuellen Übergriffen oder Vernachlässigung – oft über viele Jahre hinweg. Die Vermutung liegt nahe, dass diese komplexen Traumata vielfach sowohl in der Suchtentwicklung als auch in Bezug auf die psychiatrischen Auffälligkeiten eine bedeutsame Rolle spielen. Bestehende Symptome sind daher teilweise nicht eindeutig den einzelnen Belastungsfaktoren zuzuordnen. Sind beispielsweise massive Schlafstörungen oder eine Schwierigkeit, im aktuellen Gespräch präsent zu sein, nun Folge eines Substanzkonsums, ein Hinweis auf eine psychiatrische Problematik oder eine Traumafolge? (Damit könnte übrigens mitunter zu tun haben, dass die Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« bei diesen Klient_innen unserer Erfahrung nach relativ selten vergeben wird, obwohl fast durchgängig komplexe Traumata zu finden sind und bestehende Symptome auch in diese Richtung interpretierbar wären.) Hinzu kommt zumeist eine äußerst prekäre soziale Lage, die bestehende Problematiken noch weiter verschärft.

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Was die hier beschriebene Klient_innengruppe vereint, ist also keine spezifische Diagnose, sondern eine mehrschichtige Problematik, die sich dadurch auszeichnet, dass die Vielfalt der auftretenden Symptome selbst eine Behandlung laufend in Frage stellt.

Voraussetzungen und Hindernisse Häufige Fehltermine, wiederkehrende Unterbrechungen und Abbrüche der Behandlung, extreme Schwankungen in der Therapiemotivation und der Arbeitsfähigkeit, Überforderung mit gewissen Therapiemethoden und Rahmenbedingungen (wie Einhaltung der Hausordnung und Öffnungszeiten, pünktliches Erscheinen zu den Behandlungseinheiten, Durchhaltefähigkeit für die vorgegebene Dauer der Einheiten …), Schwierigkeiten in der Umsetzung therapierelevanter Schritte im Alltag und so fort erscheinen uns aufgrund der beschriebenen Belastungen wenig überraschend. Sie begründen allerdings auch die Einschätzung vieler professioneller Helfer_innen unterschiedlichster Berufsgruppen: »Dieser Klient (diese Klientin) ist nicht therapiefähig!« Unserer Erfahrung nach ist damit oft die Vorstellung verbunden, dass vor allem Motivation, Durchhaltevermögen, Verlässlichkeit, Konzentrations-, Merkund Reflexionsfähigkeit, Impulskontrolle und Erlebnisfähigkeit unabdingbare Voraussetzungen für eine Psychotherapie darstellen. Substanzinduzierte Beeinträchtigungen werden generell sehr häufig als Kontraindikation für eine psychotherapeutische Behandlung gesehen. Natürlich gibt es nachvollziehbare Gründe für diese verbreitete Sichtweise. Gleichzeitig bedeutet dies streng genommen, dass eine bestimmte Klient_innengruppe per se von psychotherapeutischer Behandlung ausgeschlossen ist – jene Gruppe nämlich, die besonders und mehrfach belastet ist. Die beschriebenen Belastungsfaktoren liegen der »Therapieunfähigkeit« zugrunde und nicht grundsätzlich Unwillen, Charakterschwäche oder gar bewusste Bösartigkeit der Betroffenen (wie unserer Erfahrung nach noch immer häufig – zumindest implizit – unterstellt). Die Mindestvoraussetzungen einer Therapie nicht erfüllen zu können, ist in diesem Fall an sich schon ein behandlungswürdiges Symptom. Wir möchten unseren Klient_innen nicht ihre Selbstverantwortung, Entscheidungsfreiheit und einen gewissen Gestaltungsspielraum absprechen. Dies wird individuell unterschiedlich zu bewerten sein. Wir möchten aber deutlich auf jene behandlungsrelevanten Aspekte hinweisen, die sich aus den beschriebenen Belastungsfaktoren ergeben. Die Konzepte »psychiatrische Störung«, »Sucht« und »traumabedingte Belastungstörung« bzw. »Stressverarbeitungsstörung«

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machen aus unserer Sicht nur dann Sinn, wenn den Betroffenen – analog zu somatischen Dysfunktionen – zugestanden wird, die damit zusammenhängenden Symptome (noch) nicht oder nur bedingt beeinflussen zu können. Der Definition des Abhängigkeitssyndroms der WHO folgend (ICD-10), spricht man erst dann von Sucht, wenn die Klient_innen nicht mehr in der Lage sind, ihren Konsum ausreichend zu kontrollieren. Bei Vorliegen einer schweren Suchtproblematik kann man also davon ausgehen, dass diese Klient_innen nahezu durchgängig aufgrund der Beeinträchtigung infolge ihres Substanzkonsums oder dessen Nachwirkungen (wie etwa Entzugserscheinungen) die klassischen Voraussetzungen einer Therapie nicht erfüllen und dass sie diesen Umstand von sich aus aktuell nicht ändern können. Beim besten Willen wird es diesen Klient_innen beispielsweise nicht möglich sein, völlig nüchtern in der Therapiestunde zu erscheinen. Die Symptome der weiteren, diese Abhängigkeit begleitenden psychiatrischen Auffälligkeiten und einer komplexen Traumafolgestörung wirken ebenso negativ auf die Gestaltung sozialer Beziehungen und somit auf die therapeutische Arbeit. Oftmals ist es für Klient_innen etwa schwierig, das Nähe- und Distanzverhältnis auszubalancieren oder sich überhaupt auf eine als bedrohlich erlebte Beziehung oder auf belastende Themen einzulassen. Therapeutische Angebote werden häufig äußerst ambivalent erlebt. Stationäre Aufenthalte wären möglicherweise hilfreich, werden aber von dieser Klient_innengruppe oftmals kategorisch abgelehnt oder sehr schnell abgebrochen. Auch bei anfänglich sehr großer Veränderungsmotivation können die vielfältigen Herausforderungen, welchen diese Menschen im Zuge einer Therapie begegnen, Resignation und Fluchttendenzen auslösen. Auch hier macht ein Krankheitskonzept aus unserer Sicht nur dann Sinn, wenn man davon ausgeht, dass diese Klient_innen bestimmte psychische Zustände und ihr Sozialverhalten in speziellen Kontexten nur bedingt steuern können. Auch sozioökonomische Umweltbedingungen können den Handlungsspielraum einengen und dem Erfüllen der klassischen Therapievoraussetzungen entgegenstehen. Psychotherapie ist für mittellose Bürger_innen nur bedingt zugänglich und oftmals ausschließlich über zusätzliche Hürden erreichbar (lange Wartezeiten, erhöhter Bürokratieaufwand, Verbindung mit behördlicher Kontrolle und Steuerung, Notwendigkeit von Datenpreisgabe …). Diese Hürden sind für Klient_innen, die Schwierigkeiten im Sozialkontakt und in der Impulskontrolle zeigen, ohne Unterstützung oftmals kaum zu nehmen. Da Armut durchaus auch »vererbt« wird, leiden viele Klient_innen bereits von Kindheit an unter den Folgen existenzieller Not und gesellschaftlicher Exklusion. Manchen fällt es aufgrund massiver Deprivation schwer, soziale Bindungen ein-

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zugehen. Andere müssen erst an den für sie völlig ungewohnten Zugang von Psychotherapie herangeführt werden und diese Art der Problembearbeitung umfassend neu erlernen. Wenn die Sicherung der Existenz chronisch bedroht ist, leidet in weiterer Folge ebenso auch der Therapieverlauf. Ein Termin bei einer Behörde oder die Verhinderung einer Zwangsräumung kann wohl kurzfristig wichtiger sein als ein Psychotherapietermin oder die Bearbeitung grundlegender psychischer Dynamiken. Wie sollen nun diese mehrfach belastete Klient_innen ihre massiven psychosozialen Belastungen in den Griff bekommen und »therapiefähiger« werden, wenn ihnen der Zugang zur Psychotherapie von vornherein verwehrt wird? In der Suchtbehandlung ist der Ansatz eines Stufenaufbaus weit verbreitet, zum Beispiel bei der Zielhierarchie nach Degkwitz (1998). Durch sozialarbeiterische und/oder medizinische Interventionen soll jene Stabilisierung erreicht werden, die als Voraussetzung für die nächste Stufe – die Veränderung grundlegender, destruktiver psychischer Muster und sozialer Verhaltensweisen – angesehen wird. Problematisch daran ist, dass die hier vorgestellte Klient_innengruppe aufgrund der multifaktoriellen Symptomatik mit rein medizinischen und sozialen Angeboten über die basale Stufe der Überlebenssicherung unserer Erfahrung nach nicht hinauskommt, aber psychotherapeutische Unterstützung erst an späteren Stufen einsetzt. Wir betrachten Psychotherapie selbstverständlich nicht als einzig wirksame Behandlungsform, sind jedoch davon überzeugt, dass sie Ansätze zur Verfügung stellt, die hilfreich sind, wenn es um eine Veränderung der psychischen Grundproblematiken und des Sozialverhaltens gehen soll. Wir finden es bedauerlich, wenn diese Ressourcen nicht genutzt werden und ausgerechnet einer Gruppe von Menschen unzugänglich bleiben, die besonders belastet und gefährdet ist. Als ärgerlich empfinden wir, dass diese Zugangsbarrieren vorrangig damit gerechtfertigt werden, dass Klient_innen über einen Mangel an Motivation, Fähigkeiten und »compliance« verfügen sollen. Wir erlauben uns daher, die Frage zu stellen, ob diese Klient_innen wirklich nicht therapiefähig sind oder ob die klassische Psychotherapie in diesem Fall nicht klient_innenfähig ist?

Gedanken zu Ab- und Ausgrenzungsdynamiken Die beschriebenen Lebenssituationen führen unseren Klient_innen ihre eigene Ohnmacht, Überforderung und Begrenztheit vor Augen. Nicht selten resultieren daraus Hoffnungslosigkeit und Resignation. Davon sind allerdings nicht nur Klient_innen und deren Umfeld betroffen, sondern auch Therapeut_innen.

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Dies wirft die Frage auf, ob der Ausschluss dieser Klient_innengruppe von psychotherapeutischer Behandlung auch damit zu tun haben könnte, dass die Konfrontation mit chronischem Scheitern an den Ängsten, Ohnmachtsgefühlen und Grenzen der Therapeut_innen und deren Therapieschulen rührt. Die Schwere existenzieller Bedrohungen kann auch professionelle Helfer_innen bedrücken. Selbstverständlich ist es notwendig, sich als Psychotherapeut_in konsequent vor destruktiven Dynamiken zu schützen. Eine zu rigide und generelle Abgrenzung verhindert allerdings ein In-Kontakt-kommen und -blei­ben mit diesen Klient_innen und ihren Themen. Es sollte in diesem Fall zumindest nicht vorschnell damit argumentiert werden, dass bestimmte Klient_innen nicht »therapiefähig« seien – ohne gleichzeitig die eigene Beteiligung an dieser Situation kritisch zu reflektieren. Wenn sich Psychotherapie trendgemäß über Erfolg, Fortschritt und Effizienz definiert, können scheinbare Nichtveränderungen, chronische Verläufe mit Rückfällen oder gar teilweise auftretende Verschlechterungen irritieren. Medikamentöse Therapie, die sich im Kontext Drogenabhängigkeit über viele Jahre erstrecken oder lebenslang indiziert sein kann, ist mittlerweile durchaus als notwendig anerkannt, auch in jenen Fällen, wo sich dadurch an der Grundproblematik wenig oder auch gar nichts ändert. Eine mehrjährige psychotherapeutische Behandlung hingegen wird tendenziell noch immer in Frage gestellt, wenn nicht ähnliche Erfolge nachgewiesen werden können wie in der Arbeit mit anderen therapeutischen Zielgruppen. Hier sehen wir die Notwendigkeit, Zielsetzungen entsprechend anzupassen: ȤȤ Die Reduktion der Gefahr irreversibler psychischer, sozialer und körperlicher Schädigungen, ȤȤ die Verhinderung oder auch bloß Verzögerung einer fortschreitenden Verschlechterung, ȤȤ die Sicherung des Überlebens, ȤȤ der Rückgang selbst- und fremdgefährdenden Verhaltens und ȤȤ eine Steigerung subjektiv empfundener Lebensqualität sollten neben Abstinenz mittlerweile ebenso als berechtigte Zielsetzungen psychotherapeutischer Behandlung anerkannt sein. Wir finden, dass die bestehenden Rahmenbedingungen vieler psychoso­ zialer Einrichtungen nach teilweise jahrzehntelanger Einsparungspolitik zunehmend die (psychische) Gesundheit der Mitarbeiter_innen gefährden. Abgrenzungstendenzen könnten auch als eine Art Selbstschutz des häufig kapazitätsmäßig und emotionell überlasteten Personals gedeutet werden. Die Exklusion bestimmter Bevölkerungsgruppen reproduziert sich so auch auf

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institutioneller Ebene. Betriebswirtschaftliche Notwendigkeiten haben oftmals fachliche Überlegungen weitgehend an den Rand gedrängt. Als besonders problematisch erachten wir dabei, wie politische und ökonomische Interessen mit fachlicher Argumentation verschleiert werden (vgl. Reininger, 2006). Aufgabe einer Profession wie der Psychotherapie sollte es unserer Meinung nach sein, aufzuzeigen, was fachlich notwendig und umsetzbar wäre. Ob für dieses Angebot auch der finanziell notwendige Rahmen zur Verfügung gestellt wird, ist dann eine wirtschaftliche und politische Entscheidung. Es sollte aber deutlich benannt werden können, dass eine fachlich indizierte und mögliche Behandlung für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe nicht an dieser Gruppe selbst (wie so oft unterstellt) scheitert, sondern am mangelnden Willen der politischen Entscheidungsträger_innen, eine adäquate Behandlung zu finanzieren.

Forschungsergebnisse Zahlreiche Studien belegen die Korrelation von Sucht und psychiatrischen Diagnosen, von komplexen Traumata und Sucht sowie von Armut und Sucht. Ebenso gut belegt sind besonders ungünstige Behandlungsprognosen beim Aufeinandertreffen mehrerer der genannten Belastungsfaktoren. Überblicksmäßig und daher stark vereinfacht könnte man diese Ergebnisse wie folgt zusammenfassen – dabei beziehen wir uns vor allem auf Resumees bei Lüdecke, Sachsse und Faure (2010) und Reininger (2010): Je nach Studie leiden 47 bis 97 % der Personen mit einer Drogenabhängigkeit im Laufe ihres Lebens an mindestens einer weiteren psychiatrischen Störung (vgl. Regier et al., 1990; Frei u. Rehm, 2002; Wittchen, Bühringer u. Rehm, 2011). 70–90 % der drogenabhängigen Menschen haben schwere Traumatisierungen erlitten (vgl. Brown, 1994; Giakonia et al., 1995; Günthner et al., 2000; Langenland, 2003; Driessen, 2008, zit. nach Lüdecke et al., 2010). Bei 80 % der Personen mit Diagnose »Borderline-Persönlichkeitsstörung« konnten kindliche Traumatisierungen gefunden werden (vgl. Driessen, 2008; zit. nach Lüdecke et al., 2010). Bei über einem Drittel der Personen mit Mehrfachabhängigkeit von Alkohol und Drogen des Opiattyps besteht zusätzlich zur Abhängigkeit aktuell nach wie vor eine posttraumatische Belastungsstörung (vgl. Hellmer, 2009). Klient_innen, die eine Betreuung in Einrichtungen der öffentlichen Suchthilfe in Wien aufsuchen, zeigen bei gängigen Indizien für Armutsgefährdung durchgängig äußerst problematische Werte. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung schneiden sie in den Bereichen Ausbildung, Erwerbsarbeit, Einkommenssituation, Schulden, Wohnsituation bzw. Obdachlosigkeit,

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gerichtliche Verurteilungen oder gesundheitliche Problemen eklatant schlechter ab (vgl. IFES, 2009). Menschen im unteren Einkommensviertel (und dazu zählt die hier beschriebene Klient_innengruppe) sind einem stärkeren Problemdruck (Lebensmittel einzukaufen, die Wohnungsmiete zu bezahlen etc.) ausgesetzt, haben ein erhöhtes Risiko für soziale Isolation, müssen häufig auf potenzielle Hilfe im nahen Umfeld verzichten, leiden öfter unter dem Verfall ihres Wohnumfeldes und Ausgrenzungserfahrungen und sind generell mit ihrem Sozialleben unzufriedener (vgl. Gallie u. Paugam, 2002). Eine planmäßige Beendigung einer Therapie und längere Therapiedauer dürfte die Wahrscheinlichkeit eines langfristigen Therapieerfolges erhöhen (vgl. Roch, Küfner, Arzt, Böhmer u. Denis, 1992; Simpson, Joe u. Brown, 1997; Stark, 1992; Sonntag u. Künzel, 2000). Generell sind allerdings sehr hohe Abbruchsquoten und gehäuft frühe Zeitpunkte der Therapiebeendigung in der Drogentherapie beschrieben (vgl. Baekeland u. Lundwall, 1975; Roch et al., 1992; Sonntag, Hellwich u. Bauer, 2008). Ebenso kommt es im ambulanten Setting häufig zu Fehlterminen im Laufe der Behandlung, signifikant gehäuft in der Gruppe jener, die später der Betreuung gänzlich fernbleiben (vgl. Reininger, 2010). Klient_innen mit einer oder mehreren psychischen Störungen sind in der ambulanten Substitutionsbehandlung öfter bei der Gruppe der Abbrecher_innen zu finden (vgl. Günthner et al., 2000). Patient_innen mit der Doppeldiagnose »Posttraumatische Belastungsstörung und Sucht« weisen weniger abstinente Zeiten und schwerere Suchtverläufe auf (vgl. Lüdecke et al., 2010). Besteht die Symptomatik einer posttraumatischen Belastungstörung nach einer stationären Therapie weiterhin, hat dies vermehrt Rückfälle zur Folge (vgl. Read, Brown u. Kahler, 2004). Jener Teil dieser Klient_innen, der sich in einer besonders prekären sozialen Situation zu Beginn einer ambulanten Behandlung befindet, gelangt seltener zu planmäßigen Abschlüssen. Ähnliches lässt sich auch hinsichtlich besonders riskanter Konsummuster (etwa bei Mehrfachabhängigkeit und intravenösem Konsum) vermuten (vgl. Reininger, 2010). Diese Ergebnisse spiegeln die Erfahrungen in unserer Arbeit wider. Es kann davon ausgegangen werden, dass bei einer zahlenmäßig großen Gruppe von Drogenabhängigen, zusätzlich zu einer Mehrfachabhängigkeit, auch psychiatrische Problematiken und/oder Traumatisierungen vorliegen. Zumindest bei Personen, die von der öffentlichen Suchthilfe betreut werden, ist überwiegend von Armutsgefährdung oder sogar manifester Armut auszugehen. Die Arbeit mit substanz- und zusätzlich auch ökonomisch und sozial höchst abhängigen Menschen als apolitisch zu begreifen, erscheint uns daher undenkbar. Studien darüber, wie häufig alle vier Belastungsfaktoren bei einer Person gleichzeitig auftreten, sind uns nicht bekannt. Da die einzelnen Faktoren an

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sich genommen schon jeweils negative Auswirkungen auf den Therapieerfolg zu haben scheinen, kann bei kombiniertem Auftreten eine besonders ungünstige Behandlungsprognose angenommen werden. Mit gängigen Angeboten scheint diese zahlenmäßig vermutlich nicht kleine Zielgruppe mehrfach belasteter Personen demnach nur unzulänglich erreichbar zu sein. Inwieweit könnten die Behandlungschancen für diese Klient_innen verbessert werden?

Niederschwellige Psychotherapie Im Bereich der Sozialarbeit haben sich niederschwellige Angebote bereits etabliert, da erkannt wurde, dass die herkömmlichen Anspruchsvoraussetzungen für bestimmte Klient_innen eine zu große Barriere darstellen, und zwar vor allem für jene, die sozialer Unterstützung am dringendsten bedürfen. Hierzu war es notwendig, die gängige Praxis zu erweitern und Angebote zu schaffen, welche die Anforderungen an die Zielgruppe reduzieren. Daraus entwickelten sich die aufsuchende mobile Sozialarbeit und viele andere offene Angebote. Der Erfolg dieser Entwicklung steht fachlich außer Frage und zeigt sich auch anhand der fortschreitenden Erweiterung dieses Ansatzes in den vergangenen Jahrzehnten (vgl. Nydegger Lory, Meier Kressig, Schumacher u. Uchtenhagen, 2000). Mayerhofer (2012) unterscheidet folgende Dimensionen niederschwelliger Sozialarbeit: ȤȤ Zeitliche Dimension: Möglichst wenig zeitliche Vorgaben und Anforderungen in Hinblick auf die Zeitdisziplin der Klient_innen (konkret: 24-StundenVerfügbarkeit, keine Terminvereinbarung, flexible Dauer) ȤȤ Räumliche Dimension: Keine oder sehr geringe Schwellen für den räumlichen Zutritt und Aufenthalt (also aufsuchende soziale Arbeit im Lebensumfeld der Zielgruppe, sogenannte »Straßenlokale«) ȤȤ Inhaltliche bzw. sachliche Dimension: Keine hohen Erfolgs- und Zielanforderungen, möglichst wenig inhaltliche Begrenzung auf ausgewählte Problemlagen ȤȤ Soziale Dimension: die Beziehung zwischen Klient_innen und Unterstützer_innen stehen im Mittelpunkt, vor allem der Kontakt- und Vertrauensaufbau; Veränderungsarbeit und Problembearbeitung erfolgen gegebenenfalls zu einem späteren Zeitpunkt, Freiwilligkeit und Anonymität sind wichtig. Wir sind der Meinung, dass auch Psychotherapie die Anspruchsvoraussetzungen dementsprechend reduzieren kann, ohne ihre Wirksamkeit einzubüßen. Wie

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dies in der Praxis aussehen kann, werden wir an späterer Stelle anhand einiger Fallbeispiele konkretisieren. Um die Idee niederschwelliger Psychotherapie zu illustrieren, lässt sich Meilis Zielpyramide der Suchtbehandlung heranziehen – an der Basis zuerst Überlebenssicherung, darüber Schadensminimierung, dann Stabilisierung und schließlich Ausbau von Fähigkeiten (vgl. Meili, 2004). Dem Verständnis eines Stufenaufbaus folgend, stellt sie die aufeinander aufbauenden Schritte in diesem Arbeitsfeld dar. Zunächst setzt die Behandlung im untersten Bereich an, um nach Erreichen dieses Ziels die Themen der nächsten Stufe zu bearbeiten. An der Spitze der Pyramide, die dem Behandlungsabschluss entspricht, muss allerdings nicht mehr zwangsläufig Abstinenz stehen. In der Suchtarbeit sind in den basalen Behandlungsstufen Sozialarbeit und Medizin am stärksten vertreten. Klassische Psychotherapie wird nach unserer Erfahrung üblicherweise erst in der letzten Stufe angesiedelt und nur punktuell in den anderen eingesetzt. Bei manchen Klient_innen reichen medizinische Interventionen aus, um das Überleben zu sichern, Schaden zu minimieren und eine Stabilisierung zu erlangen. Die Aufnahme in das Drogenersatzprogramm, die Verschreibung von Psychopharmaka, Safer Use/Safer Sex- und Spritzentauschprogramme sind hier beispielhaft zu erwähnen. Anderen helfen konkrete soziale Maßnahmen bei der Überwindung der drei basalen Stufen. Hierzu gehören Angebote, die existenzielle Bedürfnisse abzudecken versuchen (Schlafplatz, Duschmöglichkeit, Wärmestube, sicherer Rückzugsraum, Essen etc.), die Vermittlung einer Wohnung bzw. die Abwendung eines Wohnplatzverlustes oder die Organisation finanzieller Unterstützung. Medizin und Sozialarbeit schließen die Psyche in ihrer Arbeit natürlich nicht aus. Dennoch kann Psychotherapie als eigenständiges Unterstützungsangebot von Anfang an wesentlich dazu beitragen, dass Klient_innen ihre Lebenssituation verbessern. Besonders für jene Klient_innengruppe, die aufgrund ihrer speziellen psychischen Dynamiken von medizinischen und sozialen Angeboten oft nicht ausreichend profitiert, um aus einer permanenten Gefährdungssituation und Labilität herauszufinden, kann sie eine notwendige Ergänzung darstellen. Bedeutende Vertreter_innen der Traumatherapie (Huber, 2003a u. 2003b, 2011; Reddemann, 2001) betonen die zentrale Bedeutung einer Stabilisierung der Klient_innen und ihres Lebensumfeldes für die Behandlung: »Traumatherapie hat sechs Phasen: Stabilisierung, Stabilisierung, Sta­bi­ li­sierung, Stabilisierung, Traumakonfrontation sowie Trauern und Neubeginn« (Hofman, zit. nach Reddemann, 2001, S. 23).

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Ein sicherer, verlässlicher therapeutischer Rahmen wäre für viele eine wichtige Stütze, um das Überleben zu sichern und diese Lebensphase und ihre Krisen möglichst unbeschadet zu überstehen. Niederschwellige Psychotherapie verlagert die Spitze der Zielpyramide bewusst in Richtung Fundament: Der »Ausbau von Fähigkeiten« kann sich bereits auf die Zielsetzungen der grundlegenden Stufen sowie auf die Therapiefähigkeit selbst beziehen. Voraussetzung dafür ist ein entsprechender Vertrauens- und Beziehungsaufbau. Bis eine tragfähige therapeutische Beziehung zustandekommen kann, braucht es mitunter viel Zeit und Geduld. Für manche Klient_innen stellt sie die erste stabile Beziehung in ihrem Leben dar. Mit Phasen des Rückzugs und der Abwehr ist daher zu rechnen. Hart, Nijenhuis und Steele (2006) betonen: »Eines der ersten und größten Probleme, die in einer Therapie mit chronisch Traumatisierten auftauchen, sind die großen und kaum überwundenen Schwierigkeiten solcher Menschen mit sozialem Kontakt und Bindung« (S. 308). Nach Lambert (1992) tragen vier bedeutsame Wirkfaktoren zu einem positiven Therapieergebnis bei: ȤȤ Klient_innen- bzw. extratherapeutische Faktoren (zu 40 %), ȤȤ allgemeine Wirkfaktoren wie die therapeutische Beziehung (zu 30 %), ȤȤ Placeboeffekte, Hoffnung und Erwartung (zu 15 %) sowie ȤȤ Modell- oder Technikfaktoren (ebenfalls zu 15 %). Da die beschriebene Klient_innengruppe meist über sehr begrenzte Ressourcen verfügt und externe Einflüsse immer wieder zu Belastungen oder Unterbrechungen des therapeutischen Prozesses führen, fällt es oft schwer, diesen Bereich zu fördern. Die Faktoren Hoffnung und positive Erwartungshaltung sind wohl ebenfalls nur in abgeschwächter Form wirksam, weil mehrfach belastete Klient_innen sich und ihr Umfeld oftmals als »chronisch scheiternd« erleben. Andernorts bewährte Techniken und Methoden lassen sich meist aufgrund der bestehenden Belastungen der Klient_innen nicht im herkömmlichen Sinn anwenden. Niederschwellige Psychotherapie im Kontext Drogenabhängigkeit muss sich daher unserer Erfahrung nach zunächst auf den Faktor therapeutische Beziehung konzentrieren. Hier liegt für alle Beteiligten eine große Herausforderung (in Kontakt zu kommen und es trotz Widrigkeiten auch zu bleiben), ein weites Arbeitsfeld (hier weisen Klient_innen mehrfache und teils sehr komplexe Schwierigkeiten auf), aber auch ein unmittelbar zugängliches und

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großes Veränderungspotenzial. Psychotherapie im herkömmlichen Setting genügt bei dieser ausgeprägten Form von Beziehungsarbeit nicht – es braucht mitunter ungewöhnliche Wege, um den erforderlichen Kontakt herstellen und aufrechterhalten zu können. Für die Stabilität der Beziehung sind in erster Linie die Therapeut_innen verantwortlich. Das bedeutet auch, sich von Misserfolgen, Rückschlägen, Nichtveränderung, Katastrophen, Fehlterminen etc. nicht verunsichern zu lassen. Der Schwerpunkt niederschwelliger Psychotherapie liegt also zunächst in basalen Zielsetzungen – im Zentrum steht die Ermöglichung der Behandlung. Gemeinsam mit den Klient_innen wird laufend an den Voraussetzungen gearbeitet, damit sie überhaupt weitergeführt werden kann. Diese Arbeit dient nicht nur der Therapie als Selbstzweck, sondern stellt in vielen Fällen bereits eine hilfreiche erste Musterunterbrechung dar. Auf dieser Basis können im Lauf der Zeit andere therapeutische Interventionen wirksam werden. Destruktive Dynamiken können in der Folge benannt, reflektiert und schrittweise verändert werden. Ressourcen lassen sich (wieder-)entdecken, und Hoffnung sowie eine positive Erwartungshaltung können »wiederbelebt« werden. Niederschwellige Psychotherapie agiert demnach im nahen Umfeld sozialarbeiterischer Ansätze, fokussiert jedoch auf das psychische System. Das spezielle Verständnis von psychischen Vorgängen, Erklärungsmodelle für Problementstehung und -aufrechterhaltung sowie sich daraus entwickelnde Veränderungsmöglichkeiten, die Methodik zur Anregung und Begleitung von Prozessen, Haltung und Techniken – all diese psychotherapeutischen Elemente können Sozialarbeit ergänzen und erleichtern. Aufgrund ihrer problematischen psychischen Dynamiken profitieren diese Klient_innen oft nicht ausreichend von sozialarbeiterischen Angeboten. Klassische Psychotherapie wiederum stellt für viele dieser Klient_innen keine erreichbare Option dar. Niederschwellige Psychotherapie vermag so gesehen eine bestehende Lücke zu schließen. Klient_innen kommen auf diese Weise frühzeitiger mit psychotherapeutischen Zugängen in Berührung und können beispielsweise Techniken zur Regulation belastender emotionaler Zustände erlernen, Notfallpläne erarbeiten oder ihre Handlungsmöglichkeiten zur Schadensminimierung erweitern. Sie erhalten intensive Unterstützung in der Überlebenssicherung, werden durch wiederkehrende suizidale Krisen begleitet, die dadurch weniger schädigend verlaufen. Das gemeinsame Durchstehen dieser Phasen fördert auch den notwendigen Beziehungsaufbau. Die Klient_innen gewinnen somit wertvolle Zeit. Für die meisten ist dieser Zeitfaktor überlebenswichtig und beugt zumindest schweren Schädigungen vor. In der Substitutionsbehandlung gilt als eine inzwischen anerkannte Zielsetzung, dass Klient_innen im Sinne der Schadensminimierung

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und Stabilisierung möglichst frühzeitig in das Programm aufgenommen werden (vgl. Konsensus-Statement der Österreichischen Gesellschaft für arzneimittelgestützte Behandlung von Haltmayr, Rechberger, Skriboth, Springer u. Werner, 2009). Es ist daher nicht einzusehen, weshalb – nahezu fahrlässig – viele Jahre vergehen müssen, bis eine notwendige und adäquate psychotherapeutische Behandlung beginnen kann.

Ideen zur Umsetzung in der therapeutischen Praxis Wie bereits erläutert, wurden in der niederschwelligen Sozialarbeit Konzepte entwickelt, die den Bedürfnissen besonders belasteter Klient_innengruppen gerecht werden, indem sie die Anforderungsdimensionen reduzieren. Wie lassen sich diese Ansätze für die Idee niederschwelliger Psychotherapie adaptieren? Wir möchten anhand einiger Fallbeispiele und unter Heranziehung der erwähnten Komponenten nach Mayerhofer (2012) darlegen, was in der Umsetzung niederschwelliger Psychotherapie für drogenabhängige Klient_innen notwendig ist, und von unseren Erfahrungen in dieser Arbeit berichten.

Flexibilität in der sozialen Dimension Viele unserer Klient_innen berichten über Gewalterfahrungen, Vernach­läs­ sigungen, massive Grenzüberschreitungen durch wichtige Bezugspersonen und über Beziehungsabbrüche. Dies hat zur Folge, dass Beziehungen – auch die therapeutische – durchaus als potenziell gefährlich wahrgenommen werden. »Ich habe viele Jahre gebraucht, um mich überhaupt in Psychotherapie zu trauen und ich merke, je besser wir uns kennen und umso wichtiger Sie für mich werden, desto mehr bekomme ich Angst und möchte abtauchen. Ich werte Sie dann massiv ab und schäme mich danach.« So beschreibt eine polytox konsumierende, sehr reflektierte junge Erwachsene ihre Ambivalenz bezüglich der therapeutischen Beziehung nach eineinhalb Jahren der Betreuung. Aber nicht alle Klient_innen haben schon Worte für ihr ambivalentes oder gar multivalentes Erleben der Helfer_innenbeziehung. Häufig werden Kontaktangebote seitens der Therapeut_innen von Klient_innen zunächst (verbal oder nonverbal) einfach abgelehnt. Diese Ablehnung kann jedoch auch als eine wichtige Ressource verstanden werden, als ein eingehendes Prüfen, ob es sich

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lohnen könnte, sich auf das Angebot einzulassen. Therapeut_innen wiederum brauchen viel Geduld, Ausdauer und Zuversicht, da sich das Vertrauen nur sehr langsam entwickelt. Die Haltung des »sympathischen Lästigseins« könnte helfen, Klient_innen zu vermitteln, dass sie wichtig sind und Therapeut_innen tatsächlich mit ihnen arbeiten möchten (vgl. Herbert, 2011). Eine 22-jährige Klientin reflektiert nach sechs Jahren Begleitung über ihre anfängliche Vorsicht: »Nur dadurch, dass du dich so um mich bemüht hast – und das so lange – war es mir möglich, mich einzulassen. Ich habe gespürt, dass du dich wirklich für mich interessierst, nicht nur einfach deinen Job machst, aber gerade das hat mich auch irritiert, da ich selbst dachte, dass ich es eigentlich gar nicht wert bin, dass sich irgendjemand für mich interessiert. Zuhause war das nie so.« Das Ermöglichen neuer Beziehungserfahrungen kann als Grundvoraussetzung erachtet werden, mit Psychotherapie überhaupt beginnen zu können. »Psychotherapie ist sowieso sinnlos! Was soll dieses Psycho-Blabla schon bringen?« Dieses Statement bzw. diese Haltung behielt ein Klient auch nach Jahren der Therapie bei – einer Therapie, zu der er zuverlässig Woche für Woche freiwillig erschien. Hinter der vordergründigen Entwertung waren stets seine Ambivalenzen zwischen Hoffnung und Resignation, zwischen Kontakt und Abwehr spürbar. Auch wenn wir im Laufe der Zeit gemeinsam darüber schmunzeln konnten, blieb die Artikulation der Skepsis weiterhin wichtig. Nachvollziehbar wurde sie erst, als sich herauskristallisierte, dass er sexuelle Gewalt (in Autoritätsverhältnissen und auch in einer Therapie) erleben musste. Aufgrund häufig extrem verletzender zwischenmenschlicher Erlebnisse ist es für Klient_innen besonders wichtig, nicht die Kontrolle über den Beziehungsprozess zu verlieren und die Würde zu bewahren. Dafür kann die Abwertung der Therapie bzw. der Therapeut_in durchaus nützlich sein. Herr St., 24 Jahre alt, weist extrem viele Fehltermine auf und vermittelt widersprüchliche Botschaften. Mit ihm getroffene Vereinbarungen halten selten, obwohl er angibt, unbedingt in die Therapie kommen zu wollen. Erst nach jahrelanger Behandlung beginnt er offener über seine massiven Ängste und Zwänge zu sprechen und beschreibt, woran viele seiner Vorhaben (auch das, in die Therapie zu kommen) scheitern. Seither kann therapeutisch an diesen bis dahin tabuisierten Themen gearbeitet werden – obwohl nach wie vor Rückzugsphasen und Fehltermine den

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therapeutischen Prozess begleiten, weil er trotz großer Kraftanstrengung oftmals nicht in der Lage ist, seine Wohnung zu verlassen.

Es ist nicht immer einfach, sich von Unruhe und Krisenhaftigkeit, von Niedergeschlagenheit und Ohnmacht nicht anstecken zu lassen. Hoffnung und Mut zu vermitteln, hilft nicht nur Klient_innen, sondern auch Therapeut_innen dabei, schwierige Phasen zu bewältigen. Eine junge Erwachsene, die als Jugendliche hochriskant polytox konsumierte und zahlreiche suizidale Krisen durchlebte, meinte nach sieben Jahren Betreuung und Stabilisierung: »Ich hatte leider sehr viele Höhen und Tiefen, aber du warst immer an meiner Seite und hast an mich geglaubt, sogar als ich es selbst nicht mehr tat, und wie du siehst, hat es sogar etwas gebracht, und auch daraus habe ich etwas gelernt. Es gibt immer Hoffnung.« Solange die Gefahr von (Re-)Traumatisierungen im Leben der Klient_innen (innerhalb der Familie oder der Drogenszene) weiterhin gegeben ist, scheint klassische Psychotherapie nicht möglich zu sein. Allerdings kann an den Voraussetzungen dafür gearbeitet werden. Die Kontinuität der Betreuung muss durch Psychotherapeut_innen gewährleistet werden – nicht von Klient_innen. Das bedeutet, dass in Absprache mit den Klient_innen nachgehend gearbeitet wird. Manche unserer Klient_innen schätzen es zum Beispiel sehr, wenn sie vor ihrem Termin ein Erinnerungs-SMS erhalten. Herr M. wohnt trotz schwerer Traumatisierungen in der Vergangenheit und einem auch aktuell höchst aggressiven Klima weiterhin mit seiner Herkunftsfamilie zusammen. Sein Leben ist geprägt von Gewalt, sozialem Rückzug, Überdosierungen, somatischen Problemen und psychotischen Zuständen. Konkrete Veränderungsschritte und Unterstützungsmöglichkeiten durch andere Einrichtungen verweigert er konsequent. Mit nachgehender Arbeit kann, trotz besonders schwieriger Phasen, zumindest der Kontakt gehalten werden. An seinen psychotischen Zuständen ändert sich trotz Medikation und Psychotherapie nichts. Der Drogenkonsum allerdings reduziert und stabilisiert sich.

Wie sollen Klient_innen die Hoffnung auf Veränderung nicht verlieren und sich selbst aushalten, wenn die professionelle Helfer_innen sie und ihr eigenes, professionelles Scheitern nicht aushalten? »Das ist ›ein hoffnungsloser Fall‹: Wer den Balken im eigenen Auge nicht sieht, kann den Splitter beim anderen Menschen für tödlich halten« (Huber, 2003b, S. 286).

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Oft braucht es Jahre der Unterstützung, bis sich kleine Veränderungen oder Verbesserungen einstellen. Wir haben die Hypothese entwickelt, dass das (gemeinsame) Scheitern als König_innenweg für die Beziehung genutzt werden kann. Auf diesem Weg erkennen sich Therapeut_innen nicht als Expert_innen, sondern solidarisieren sich mit den Klient_innen über die Hilflosigkeit. Sich in der Hilflosigkeit zu solidarisieren meint jedoch keinesfalls, in eine resignative Haltung zu verfallen (»Da kann man nichts machen!«), sondern vielmehr den Gedanken festzuhalten: »Wir haben zwar noch keine Lösung, aber wir bemühen uns weiter!« Die eigene Ratlosigkeit transparent zu machen und sich damit von der eigenen Effizienz- und Zielorientierung zu entfernen, ohne aufzugeben, könnte (auf Klient_innen- und Therapeut_innenseite) von gesellschaftlich dominanten Leistungsdiskursen befreien und den therapeutischen Prozess fördern.

Flexibilität in der zeitlichen Dimension Unserer Erfahrung nach fällt es vielen Klient_innen schwer, Termine verlässlich oder gar pünktlich wahrzunehmen. Daher »dürfen« sie selbstverständlich zu spät (oder zu früh) kommen, und wir vermitteln unsere besondere Wertschätzung dafür, dass sie überhaupt da sind. Eine hilfreiche Haltung könnte sich etwa durch folgende Worte ausdrücken: »Ich freue mich, dass Sie es hierher geschafft haben. Mit dem Termin ist etwas ein bisschen durcheinandergeraten, ich hatte mir etwas anderes notiert – aber schauen wir einmal, wie sich jetzt alles ausgehen wird, da bin ich auf Ihre Geduld angewiesen.« Erfahrungsgemäß sind Klient_innen durchaus bereit, gegebenenfalls zu warten, bis sich ein Zeitfenster auftut, wenn ihnen etwas wichtig ist. Jessica ist 15 Jahre alt und konsumiert Cannabis, Speed, Kokain und MMC. Ihre immer wieder auftretenden Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle lösen enorme Schwierigkeiten in ihrem sozialen Umfeld aus. An einem Tag kommt sie fünfzig Minuten früher als vereinbart und läutet somit in die Stunde einer anderen Klientin hinein. Sie hätte gedacht, der Termin sei für 16 Uhr vereinbart (statt 17 Uhr). Jessica reagiert verärgert und dysphorisch und meint, dass sie »so a scheiss Warterei jetzt fix ned dazaht« (nicht durchhält). Es gelingt, sie dennoch zum Warten zu überreden, ein Energydrink (aus dem Praxiskühlschrank) und ein Stück Kuchen, das ihr von der anwesenden Klientin angeboten wird, scheinen dabei zu helfen. Zusätzlich schlägt die terminkompetentere Klientin vor, einfach den Termin zu tauschen, ihr

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mache das Warten nichts aus und sie habe Zeit. Jessica beruhigt sich allmählich und ist schließlich doch bereit, bis 17 Uhr zu warten. Somit hat sie auch die positive Erfahrung der Impulskontrolle gemacht.

Zeitliche Flexibilität bedeutet auch, dass eine Therapieeinheit nicht immer fünfzig Minuten dauern muss. Es hat sich bewährt, mit Klient_innen, die bereits einigermaßen über ihr Erleben reflektieren können, zu Beginn der Stunde zu besprechen, wie sie »heute da sind«, bzw. ob sie denken, dass sie eine ganze Einheit »aushalten«, mehr Zeit brauchen oder einen kürzeren Kontakt bevorzugen. Selbst wenn sie ohne Termin kommen, finden sich zumindest fünf Minuten Zeit, um zu hören, was im Moment besonders wichtig ist. Im Rahmen einer Institution begegnen wir Klient_innen manchmal auch ungeplant, beispielsweise wenn sie Arzttermine wahrnehmen. Diese informellen und wenig bedrohlichen Kurzkontakte außerhalb des Therapiezimmers sind oftmals sehr bedeutsam, um in Kontakt zu kommen und zu bleiben. Ebenso wichtig sind in dieser Hinsicht Telefon-, SMS- oder auch E-Mailkontakte. Phasenweise stellen diese Medien die einzige Möglichkeit dar, um die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Fehltermine und Kontaktabbrüche sind unserer Ansicht nach als Teil der Symptomatik zu verstehen, mit dem gearbeitet werden kann. Wie bereits ausgeführt, löst Nähe manchmal auch Angst aus (etwa vor Kontrollverlust) oder wird als bedrohlich erlebt (weil sie Verlust- oder Übergriffserfahrungen reaktiviert). Manchmal sind aber auch die Alltagsbelastungen einfach zu groß, ist der Überlebenskampf zu beschwerlich, um Begegnungen zuzulassen. Eine Klientin beschreibt das folgendermaßen: »Manchmal kämpfe ich von Stunde zu Stunde, um durch den Tag zu kommen. Die anderen sagen dann, dass ich eh nichts mache und nicht mal meine wenigen Termine schaffe. Mir geht es in solchen Phasen aber so schlecht, dass ich nicht einmal absagen kann. Ich möchte mich dann nur noch in meiner Höhle verkriechen.« Ein anderer Klient meint beim Abschlussgespräch einer langjährigen Therapie: »Es war für mich so wichtig, nach Phasen meines Rückzugs einfach wiederkommen zu dürfen. Das war mir sowieso schon so peinlich und unangenehm. Ich war so wütend auf mich selbst. Hätten Sie mich bestraft, dann wäre das das ideale Futter für meinen weiteren Kampf gegen die Welt gewesen. Genauso wichtig war es aber auch zu wissen, auch mal nicht kommen zu können.« Wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht, bereits zu Beginn der Therapie gemeinsam mit Klient_innen den Erlaubnisraum zu schaffen, in Phasen des

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Rückzuges nachgehend Kontakt halten zu dürfen. Denn oft verhindert die Scham, dass Klient_innen sich wieder melden: »Ich weiß nicht, wie das bei Ihnen ist, manche beschreiben, dass sie sich immer wieder zurückziehen, eine Auszeit von der Betreuung brauchen oder einfach abtauchen wollen. Dürfte ich Ihnen dann zum Beispiel einmal in der Woche ein SMS oder Mail schreiben, ohne aufdringlich zu wirken? Oder Sie anrufen? Oder ist einmal in der Woche zu viel, besser 14-tägig?« Selbstverständlich führen unentschuldigte Fehltermine bei der niederschwelligen Psychotherapie zu keiner Betreuungsbeendigung. Gelingt es mit Klient_innen in Kontakt zu bleiben und nach einem temporären Abbruch wieder weiterzuarbeiten, kann dies bereits eine Musterunterbrechung auf der Beziehungsebene darstellen. Gemeinsam erarbeitete Metaphern – wie »Ich bin in der Höhle« oder »im Bunker«, »Ich mach’ auf Präsidentenerreichbarkeit« – lassen sich gut für die therapeutische Arbeit nutzen. Fragen wie: »Was brauchen Sie in der Höhle?«, »Was gehört dort nicht hin?«, »Im Bunker ist es sicher, aber vielleicht auch manchmal einsam – möchten Sie daran etwas verändern, oder ist das Risiko noch zu groß?«, »Ein Präsident hat viel Arbeit, hoffentlich auch genügend Zeit für Erholung?« etc. können dazu beitragen, dass Klient_innen ihre Strategien auch als Ressource wahrnehmen und so den Fokus vom Gefühl permanenten Scheiterns auf ihre Handlungsfähigkeit verlagern. Sylvia, 22 Jahre alt, konsumiert Alkohol, Cannabis, Kokain und Partydrogen und weist viele familiäre Belastungsfaktoren auf. »In einem Auszucker« hat sie die Simkarte ihres Handys zerstört. »Weil mir die Leute alle am Arsch gehen und ich niemanden mehr packe«, lautet ihre Antwort auf eine nachgehende E-Mail nach einem unentschuldigten Fehltermin. Wir bleiben in E-Mailkontakt. Nach zwei Monaten ist es Sylvia wieder möglich, persönlich zur Therapie zu kommen. Wir sprechen über ihre Verletzlichkeit (»Ja, bei mir hat man schnell ausgeschissen!«) und über den Wunsch, Kontrolle in Beziehungen zu haben, allerdings um den Preis, dass sie sich nur schwer einlassen kann, weil sie Verletzungen vermeiden will. Wir sprechen auch darüber, dass es Zeit braucht, um zu vertrauen, denn ihre Vorsicht hat gute Gründe. Sylvia beschreibt, dass es immer wieder eine Herausforderung ist, sich bei Freund_innen nach längerer Zeit des Rückzuges wieder zu melden, da viele mit Unverständnis reagieren. Beim Verabschieden bedankt sich Sylvia »ganz nebenbei«

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dafür, dass sie weiterhin kommen darf. Nach vier Jahren fällt es immer leichter, mit den temporären Rückzügen umzugehen. Wir »üben« sozusagen Beziehung in einem geschützten therapeutischen Rahmen – Humor hilft uns dabei sehr.

Was brauchen Therapeut_innen, damit dieses flexible Arbeiten trotz des hohen Aufwands und des entstehenden Durcheinanders lustvoll bleibt? Um unsere Arbeitsfähigkeit zu prüfen, stellen wir uns regelmäßig folgende selbstreflexive Fragen: ȤȤ Werde ich allmählich ärgerlich auf die Klientin/den Klienten aufgrund des Terminchaos oder der »Unverlässlichkeit«? ȤȤ Wenn ja, was ärgert/verletzt mich? Wie kann ich wieder in eine gelassenere Haltung kommen? ȤȤ Fühle ich mich durch das Nicht-Einhalten der Vereinbarungen in meiner Arbeit abgewertet? ȤȤ Wie kann ich meine Zeitstruktur so gestalten, dass gilt: Die Klient_in kann nichts falsch machen: Bei Erscheinen arbeite ich gerne, bei Fernbleiben nütze ich die Zeit für mich sinnvoll.

Flexibilität in der räumlichen Dimension Für manche Klient_innen sind Haustiere, vor allem Hunde, oft die einzigen stabilen Bezugslebewesen. Eine Klientin beschreibt das sehr berührend: »Ohne meinen Hund hätte ich mich schon längst umgebracht. Er tröstet mich, wenn ich weine – arg, wie der alles spürt. Und wenn ich schon nicht für mich selbst sorgen kann, dann ist mir wichtig, dass es meinem Hund gut geht. Das lässt mich jeden Tag weiterkämpfen. Klingt vielleicht komisch, ist aber so.« Es ist daher naheliegend, dass in den Therapiestunden auch mit dem Hund (dem etwa in Ambulanzen der Eintritt verwehrt ist) spazieren gegangen wird, falls Klient_innen in Hundebegleitung kommen. Anderen erscheint das Face-to-Face-Setting zu bedrohlich. Spazieren gehen oder nebeneinander anstatt einander gegenüber zu sitzen sind praktikable Möglichkeiten, um den möglicherweise noch als unangenehm empfundenen Blickkontakt zu vermeiden. Für sehr empfindsame Menschen muss manchmal auch ein ungewöhnlicher, aber dafür besonders geschützter Rahmen für die Gespräche gefunden werden.

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Herr M., 27 Jahre alt, hat die Diagnose »paranoide Schizophrenie« erhalten. Er bezieht die Geräusche im Wartebereich laufend auf sich und fühlt sich durch diese Stimmen persönlich massiv attackiert und bedroht. Die Verlagerung des Gesprächs auf eine nahegelegene, abgeschiedene Parkbank macht es ihm möglich, sich etwas zu entspannen und sich besser auf unser Gespräch einzulassen. »Hier greifen mich die Stimmen nicht so an!«

Häufig auftretende Krisen gehören zum Alltag unserer Klient_innen, daher kommt der Krisenintervention ein sehr hoher Stellenwert zu. Unbürokratische, interdisziplinäre Zusammenarbeit (Sozialarbeit, Suchtmedizin, Psychiatrie, Psychologie etc.) erleichtern die Krisenbewältigung. Aber auch aufsuchende Psychotherapie mit der Möglichkeit, bei Bedarf auch im Lebensfeld der Klient_innen zu intervenieren, kann entlastend und heilsam wirken. Vielen Klient_innen fällt es schwer, auf Ämtern und Behörden ruhig und sympathisch vorzusprechen, wenn es um existenzielle Belange geht. Manchmal wird es daher auch nötig sein, Klient_innen vor Ort zu begleiten, um deeskalierend und unterstützend zu wirken. Eine junge Erwachsene formuliert das folgendermaßen: »Könntest du mich bitte auf’s Sozi begleiten? Die sind dort immer so von oben herab, und wenn mir dann wieder irgend so ein Scheißzettel fehlt und die mich wegschicken, zuck ich aus.« Die soziale Realität kann ein gutes Übungsfeld für die Aneignung sozialer Fertigkeiten darstellen, wenn diese nicht chronisch überfordern. Mit Unterstützung kann erlernt werden, wichtige Amtsgänge konstruktiver über die Bühne zu bringen (vgl. dazu auch Konzepte der Multifamilientherapie, Asen u. Scholz, 2009). Da es hier meistens um die Sicherung existenzieller Grundlagen geht, entscheiden manche Termine auch darüber, ob die Therapie fortgesetzt werden kann. Auch aus diesem Grund erscheint es uns sinnvoll, wenn Therapeut_innen hier unterstützend tätig sind.

Flexibilität in der inhaltlichen Dimension Da es höchst unwahrscheinlich ist, dass drogenabhängige Klient_innen stets nüchtern zur Therapie erscheinen, scheint es uns zweckmäßig, trotz ihrer Beeinträchtigung mit ihnen zu arbeiten. Der Umgang mit der Beeinträchtigung kann so im Rahmen des Gesprächs thematisiert werden. So ein Klient:

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»Ich weiß gar nicht mehr, was wir letzte Woche besprochen haben … Mmh … Vielleicht sollten wir die Termine etwas früher ansetzen, wenn ich noch weniger intus habe!« Erwartungen an Erfolge und Ziele der Therapie sollten nicht zu hoch angesetzt werden, da das Arbeiten an Veränderungen oft erst nach einer langen »Vorlaufzeit« möglich ist, in der es um Stabilisierung, Krisenbewältigung und Vertrauen geht. Dazu ein Beispiel aus dem institutionellen Kontext: Andrea, 16 Jahre alt, polytoxer, hochriskanter Konsum (Opiate intravenös, Benzodiazepine, Alkohol, Cannabis und Kokain) kam zwei bis drei Mal wöchentlich in hoch beeinträchtigtem Zustand, ohne konkrete Anliegen zu formulieren. Aufgrund des hochriskanten Konsummusters und der ständigen Beeinträchtigung war eine Substitutionsbehandlung zunächst nicht induziert. Die Jugendliche formulierte selbst: »Keine Ahnung, warum ich hergekommen bin, aber da bin ich jetzt.« Wir setzten uns dann zusammen, manchmal wollte Andrea Tee trinken oder etwas essen, manchmal mit ihren Eltern telefonieren. Erst nach einem mehrmonatigen Haftaufenthalt stabilisierte sich allmählich ihr Konsum. Ab diesem Zeitpunkt waren wöchentliche Termine im klassischen Setting möglich. Wir reflektieren rückwirkend über ihre »High Risk Low Fun-Phase«, Andrea ist froh, dass sie sich stabilisiert und diese Zeit überlebt hat. Sie meint, dass es »damals gut war, einfach wohin kommen zu können, wo ich erwünscht war.« Im klassischen Verständnis würden die anfänglichen, niederschwelligen Kontaktangebote wohl nicht als Psychotherapie bezeichnet werden, scheinen aber eine wichtige Intervention auf der Beziehungsebene zu sein, damit psychotherapeutisches Arbeiten überhaupt möglich ist.

Es hat sich bewährt, bei Bedarf Familienmitglieder, Partner_innen und andere wichtige Bezugspersonen miteinzubeziehen und somit das Setting zu erweitern (persönliche Mitteilung Mehta, vgl. auch Mehta, 2003). Dabei sollte transparent gemacht werden, dass es sich um eine Einzeltherapie unter Einbezug wichtiger Bezugspersonen handelt (und nicht um den Wechsel zwischen Paartherapie, Familientherapie und Einzeltherapie), um Missverständnissen und Unklarheiten hinsichtlich des Auftrags entgegenzuwirken. Herr A., 30 Jahre alt, leidet sehr unter den bestehenden Paarkonflikten, die unter anderem auch daher rühren, dass seine Partnerin darauf besteht, er solle die Substitutionsbehandlung beenden, da diese ihrer Meinung nach nichts verbessere. Die Einladung der Partnerin zu einem Gespräch, in dem fehlende Informationen zur Substitution vermittelt werden, reduziert diesen Druck spürbar. Vor allem aber

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»Probleme, nichts als Probleme!«

führt dieses Gespräch sehr rasch und intensiv zu neuen, wichtigen Themen in der Psychotherapie (fehlendes Vertrauen, unrealistische Erwartungshaltung, Tabuisierung von Rückfällen, destruktiver Umgang mit Druck und Misserfolgserlebnissen, Kommunikationsmuster etc.).

Manchmal ist ein deklarierter Wechsel zu sozialarbeiterischen Interventionen zielführend, wenn diese akut notwendig sind. Im Fall des Herrn S., 45 Jahre alt, sind schwerste Traumatisierungen bekannt. Kurze Phasen, in denen intensiv mit klassischen Psychotherapiemethoden im Sinne einer Stabilisierung gearbeitet werden kann, werden regelmäßig durch wiederkehrende psychosoziale Krisen unterbrochen (Trennung, Gewaltvorfälle, Wohnungsverlust, finanzielle Probleme, Rückzug, Verlust der Sozialversicherung etc.). Ein deklarierter Umstieg auf sozialarbeiterische Betreuung, in der er eine ausreichende sozioökonomische Stabilität wiedererlangen kann, unterstützt ihn sehr. Danach kann an der psychischen Stabilität weitergearbeitet und auch die vorangegangene Phase im Hinblick auf die Psychodynamik reflektiert werden. Das chronische Wechselspiel zwischen Scheitern und Rückzug kann mit der Zeit von ihm benannt und verändert werden.

»Ich fühl’ mich dann so scheiße. Mich drückt es regelrecht in die Couch. Ich komme nicht mehr hoch und schaffe gar nichts mehr. Wie ich das hasse! Und wie ich mich dann dafür hasse! So ein Versager. Ich sehe es schon kommen, aber ich kann gar nichts dagegen machen. Ich gehe nicht mehr aus dem Haus, obwohl ich genau weiß, dass das wieder in die Katastrophe führt. Auch hierher komme ich dann zu diesen Zeiten nicht mehr, obwohl es mir helfen würde.« Manchmal muss die Wiederholung des Scheiterns zuerst einmal von außen unterbrochen und der aufgebaute Druck aus der Situation genommen werden, damit es von Klient_innen reflektiert und strukturell bearbeitet werden kann.

Aktive Selbstfürsorge der Psychotherapeut_innen »Wenn’s todernst wird, braucht’s einen Mordsspaß.«

Da in der Arbeit mit der beschriebenen Klient_innengruppe der Beziehungsebene ein zentraler Stellenwert zukommt, scheint es vor allem wichtig zu sein, sich auf die Klient_innen und somit auf Leid und drohendes Scheitern einzu-

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Marion Herbert und Christian Reininger

lassen, aber nicht davon »angesteckt« zu werden. Anders ausgedrückt: Hinsehen, aber auch wieder wegschauen können, um erfreuliche Dinge in den Blick zu bekommen. Therapeutisches Tun lässt sich also als eine Gratwanderung zwischen Mitfühlen und Distanznahme verstehen. Eine Überlebende jahrelanger, sadistischer sexueller Gewalt mit hochdissoziativem Erleben hat im Rahmen eines Workshops, den sie gemeinsam mit ihrem Psychotherapeuten leitete und der sich an Traumatherapeut_innen richtete, appelliert: »Das Wichtigste ist, dass Sie auf sich selbst achten! Wie sollen wir (Anm.: Überlebende von Gewalt) es lernen, wenn Sie es uns nicht vormachen?« Das wirkt verständlich, ist aber in der Praxis nicht immer so leicht umsetzbar. Zeitdruck und Stress sind im Allgemeinen keine förderlichen Faktoren, in der Arbeit mit der beschriebenen Klient_innengruppe sind sie allerdings höchst kontraindiziert. Pausen, genügend Zeit nach den Gesprächen, um das eigene Erleben zu reflektieren bzw. zu ordnen, und regelmäßiger fachlicher Austausch mit Kolleg_innen (Teambesprechungen, Intervision, Supervision, Fortbildungen) sind unserer Erfahrung nach unerlässlich. Um inhaltlich, zeitlich und räumlich flexibel sowie kontinuierlich und zuverlässig arbeiten zu können, braucht es einen gesicherten Rahmen für Psychotherapeut_innen. Psychotherapie erscheint uns in der Drogentherapie auch mit dieser Zielgruppe als dringend indiziert und trotz bestehender Schwierigkeiten durchführbar. Dazu muss sich allerdings auch die Psychotherapie bewegen und konventionelle Wege verlassen, um diese isolationsgefährdete Personengruppe überhaupt erreichen und mit ihr in Kontakt bleiben zu können. Flexibilität, Geduld und Kreativität sind gefordert und werden durch die Begegnung mit besonders feinfühligen Menschen und durch lebendige Therapieprozesse belohnt. Das Scheitern aller Akteure muss enttabuisiert und als Symptom zur Kenntnis genommen werden, mit dem zu arbeiten ist. Verlässliche, aber auch flexible Rahmenbedingungen sind erforderlich, um den Anforderungen und Bedürfnissen dieser extrem belasteten Klient_innengruppe gerecht zu werden. Voraussetzung dafür ist allerdings der Grundsatz, dass auch mittellose Mitglieder der Gesellschaft ein Recht auf adäquate Behandlung haben. Literatur Asen, E., Scholz, M. (2009). Praxis der Multifamilientherapie. Heidelberg: Carl-Auer. Baekeland, F., Lundwall, L. (1975). Dropping out of treatment: A critical review. Psychological Bulletin, 82, 738–783.

»Probleme, nichts als Probleme!«

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Karoline Schober

Ein Treffpunkt für Berge und Prophet_innen Anlässe und Rahmenbedingungen für mobile Psychotherapie

In diesem Beitrag möchte ich von den Erfahrungen berichten, die ich in meiner zweijährigen Tätigkeit als Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision gemacht habe. In dieser Zeit entwickelte ich ein Modell mobiler Psychotherapie, das sich von existierenden Modellen aufsuchender therapeutischer Arbeit insofern unterscheidet, als es sich um Einzeltherapie mit Personen handelt, die aus unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sind, Psychotherapie im herkömmlichen Setting in Anspruch zu nehmen. Meiner persönlichen Definition nach handelt es hierbei um Psychotherapie abseits eines eigens dafür eingerichteten Raumes. Aufgrund meiner mehrjährigen Erfahrung im Bereich Streetwork (Beratung, Begleitung und Betreuung Jugendlicher im öffentlichen Raum) war es für mich nichts Ungewöhnliches, außerhalb der Räumlichkeiten einer Institution tätig zu sein. Die Idee, nun auch Psychotherapie mobil anzubieten, entwickelte sich also aus meinen beruflichen Kenntnissen sowie daraus, dass ich als Psychotherapeutin auf Klient_innen traf, die einen Bedarf an aufsuchender Therapie erkennen ließen. Für die Umsetzung der Idee war es erforderlich, ein individuelles Konzept zu entwickeln, das weder auf vorhandene Methoden zurückgreifen noch unabhängig von der Person der Therapeutin oder des Therapeuten erstellt werden konnte. So gesehen handelt es sich bei dem Modell »Mobile Psychotherapie« um ein Angebot, das nicht nur auf die Persönlichkeit potenzieller Klient_innen, sondern auch auf jene der Therapeut_innen zugeschnitten werden muss, weil es sich nach dem Bedarf orientiert. Wichtig ist meines Erachtens auch, dass mobile Psychotherapie als Ergänzung zum klassischen Setting zu betrachten ist und keinen Ersatz für die Arbeit in Institutionen oder Praxisräumlichkeiten darstellt. Dies vor allem deshalb, weil sie keine »bequeme« Alternative sein sollte, sondern eine Behandlungsform, die Notwendigkeiten fokussiert.

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Karoline Schober

Wozu dieser Aufwand? Nach achtjähriger Tätigkeit im psychosozialen Arbeitsfeld erhielt ich im Herbst 2009 den Status als Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision. In Österreich umfasst die Psychotherapieausbildung die Abschnitte Propädeutikum (mind. zwei Jahre) und Fachspezifikum (mind. vier Jahre). Im letzten Abschnitt des Fachspezifikums kommen Therapeut_innen in den sogenannten Status »in Ausbildung unter Supervision«. Ab diesem Zeitpunkt dürfen sie therapieren und müssen entsprechende praktische Arbeitserfahrungen sammeln. Zu diesem Zeitpunkt beschloss ich, ein Jahr Bildungskarenz in Anspruch zu nehmen, um mich im zweiten Abschnitt meiner Ausbildung ausschließlich der Psychotherapie widmen zu können. Ich begann mit meinem klinischen Praktikum im Institut für Paar- und Familientherapie in Wien und arbeitete zudem zehn Wochenstunden ehrenamtlich als Psychotherapeutin in der »Gruft«, einer Einrichtung der Caritas für obdachlose Menschen in Wien. Außerdem mietete ich für drei halbe Tage pro Woche einen Therapieraum in einer Praxisgemeinschaft. Klient_innen für die freie Praxis wurden mir von anderen Therapeut_innen sowie von Kolleg_innen aus dem sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Kontext (Einrichtungen für langzeitwohnungslose Menschen, Tageskliniken, Krankenhäuser) überwiesen. Zusätzlich meldete ich mich beim Projekt TIRAM an, einem Projekt, in dem Psychotherapeut_innen in Ausbildung unter Supervision Therapie für ökonomisch benachteiligte Menschen anbieten (ausführlich: Beitrag A. Schmidbauer in diesem Band). Am Ende der einjährigen Bildungskarenz beschloss ich, nun ausschließlich selbständig als Psychotherapeutin zu arbeiten. Die meisten Klient_innen, mit denen ich arbeiten durfte und darf, kommen über Projekte und Einrichtungen für obdachlose oder ökonomisch benachteiligte Menschen zu mir in die Therapie. Sie können trotz aller Unterschiede und Individualität als mehrfachbeeinträchtigt oder multifaktoriell belastet bezeichnet werden. Viele Klient_innen berichten von problematischen Situationen in ihren Herkunftsfamilien (Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung etc.), oft erlebten oder führen sie instabile Beziehungen, klagen über Schwierigkeiten im Umgang mit Behörden und Ämtern (Kriminalität, Missbrauch legaler und illegaler Substanzen, Armut etc.) und befinden sich zumindest zu Beginn der Therapie mitunter in selbstschädigenden Systemen. Obwohl ich die Menschen, mit denen ich arbeite, ungern kategorisieren möchte, macht es Sinn, ihre Gemeinsamkeiten hervorzuheben und damit darzustellen, mit welcher Vielzahl an Problematiken diese Zielgruppe konfrontiert

Ein Treffpunkt für Berge und Prophet_innen

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ist. Schließlich haben die besonders belastenden Lebenssituationen meiner Klient_innen entscheidend dazu beigetragen, dass das Modell »mobile Psychotherapie« überhaupt entstanden ist. Aufgrund meiner Berufserfahrung im psychosozialen Feld – vor allem im Streetwork-Bereich – war mir die Klientel vertraut. So konnte ich individuell zugeschnittene Instrumente entwickeln, die die vermeintliche Einschränkung von Ressourcen (beispielsweise eine verminderte Fähigkeit, Vereinbarungen und Termine einzuhalten, etc.) berücksichtigten. Neu war mir aber, dass meine Rolle im Helfer_innensystem nun ausschließlich die der Psychotherapeutin war. Ich erlebte dies jedoch als große Entlastung, da ich hinsichtlich des Auftrags für viele Bereiche nicht mehr zuständig war und mich dadurch den Themen der Klient_innen viel offener und intensiver widmen konnte. Folgender Gedanke prägte meine therapeutische Haltung von Beginn an: »Die Behandlung sollte so zugeschnitten sein, dass sie zu der jeweiligen Person passt, statt dass sie von der jeweiligen Person verlangt, zur Behandlung zu passen …« (Berg u. Miller, 2003, S. 30). Im Laufe der praktischen Arbeit konnte ich häufig den Bedarf nach einem Angebot abseits konventioneller Unterstützungsmöglichkeiten erkennen. So bemerkte ich beispielsweise bei einigen Klient_innen der »Gruft«, dass sie sich in geschlossenen Räumen per se nicht wohl fühlten und dass in den Gesprächen eine spürbar unangenehme Nervosität auftrat. Sobald wir das Setting verändert und uns an einen ruhigeren Ort im Freien begeben hatten, war der Rahmen für therapeutische Prozesse geschaffen. Ein Klient, der seinen Alkoholkonsum als Problem thematisierte, antwortete auf die Frage, was im Augenblick zu seiner Entspannung beitragen könnte: »Ein Spaziergang und eine Zigarette.« Ein Jugendlicher, der vom Allgemeinen Krankenhaus Wien als »Schulverweigerer« überwiesen wurde, schaffte es – nachdem das Erstgespräch mit einer Sozialpädagogin stattgefunden hatte – dreimal hintereinander nicht, selbständig zum nächsten Termin in die Praxis zu kommen. Es fiel ihm offenbar schwer, Termine einzuhalten. Bei den in der Folge stattfindenden Hausbesuchen war er hingegen immer sehr motiviert anzutreffen. Die Idee, Psychotherapie auch mobil anzubieten, entstand also aus einem erkennbaren Bedarf heraus und war sowohl für mich als auch für meine Klient_innen ein »learning by doing«, das sich auf der Basis von »Versuch und Irrtum« stetig weiterentwickeln konnte. Voraussetzung für diese Entwicklung war, den Wunsch der Klient_innen nach Psychotherapie bzw. den Bedarf dafür zu erkennen und davon auszugehen, dass es ihnen zwar möglicherweise an Ressourcen, nicht aber am Willen fehlt.

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Es ging hier also um eine Kontextveränderung, die oftmals Positives bewirkte: Die Klient_innen fühlten sich durch das Eingehen auf ihre Bedürfnisse und ihre derzeitige Verfassung ernstgenommen, und ein psychotherapeutischer Prozess wurde erst durch das mobile Angebot ermöglicht. Aufgrund meiner Tätigkeit als Streetworkerin konnte die Routine, vertrauliche Gespräche außerhalb entsprechender Räumlichkeiten zu führen, in die therapeutische Arbeit einfließen. In der Folge entstand die Idee, mobile Psychotherapie nicht nur situativ zu ermöglichen, sondern als eigenständiges Angebot zu formulieren. Das sprach sich im Kolleg_innenkreis rasch herum, und ich konnte innerhalb kürzester Zeit eine große Menge an Erfahrungen in der Arbeit mit Klient_innen sammeln, die meine Praxis nie betreten haben.

Fachlich, rechtlich, ethisch – ist denn das erlaubt? Die Frage »Darf ich das eigentlich?« wurde zum zentralen Thema in der Supervision. Eingehende Reflexionen und Auseinandersetzungen auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen waren zunächst vor allem dem »Wie« gewidmet. Leider existierte zu diesem Zeitpunkt wenig bis gar keine Fachliteratur zur mobilen psychotherapeutischen Arbeit. Ich fand Bücher über aufsuchende beziehungsweise mobile Familienarbeit, zum Beispiel von Jürgen Hargens oder von Kolleg_innen aus der ÖAS (Österreichische Arbeitsgemeinschaft für Systemische Therapie und Systemische Studien). Ein wesentlicher Unterschied zu meinem Modell bestand jedoch darin, dass aufsuchende Familienarbeit meist auf Anweisung des Jugendamtes erfolgt und daher sozusagen in einem Zwangskontext in den Wohnräumen der Familien stattfindet. Die Voraussetzungen für psychotherapeutische Tätigkeit, die Berufspflichten und damit die Berufsumschreibung sind im Österreichischen Psychotherapiegesetz geregelt und lauten wie folgt: § 1. (1) Die Ausübung der Psychotherapie im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die nach einer allgemeinen und besonderen Ausbildung erlernte, umfassende, bewusste und geplante Behandlung von psychosozial oder auch psychosomatisch bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen mit wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden in einer Interaktion zwischen einem oder mehreren Behandelten und einem oder mehreren Psychotherapeuten mit dem Ziel, bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern und die Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern.

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(2) Die selbständige Ausübung der Psychotherapie besteht in der eigenverantwortlichen Ausführung der im Abs. 1 umschriebenen Tätigkeiten, unabhängig davon, ob diese Tätigkeiten freiberuflich oder im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses ausgeübt werden. Zu den Berufspflichten von Psychotherapeut_innen ist zu lesen: § 14 (1) Der Psychotherapeut hat seinen Beruf nach bestem Wissen und Gewissen und unter Beachtung der Entwicklung der Erkenntnisse der Wissenschaft auszuüben. Im Gesetzestext wird also nicht auf einen eigens für Psychotherapie vorgesehenen Raum, sondern vor allem auf eigenverantwortliches Handeln der Therapeut_innen und eine prinzipiell entwicklungs- und gesundheitsfördernde Behandlung hingewiesen. Was ist demnach an Überlegungen in Bezug auf das veränderte Setting mobiler Psychotherapie erforderlich, damit Gesetzeskonformität gewährleistet ist? Worin können Handlungsansätze eingebettet oder womit können sie begründet werden, um sicherzugehen, dass diese Form der Therapie fachlich und ethisch vertretbar ist? Von zentraler Bedeutung scheint mir vor allem zu sein, dass sowohl die Motivation als auch die Ausführung hinsichtlich psychotherapeutischer Professionalität überprüft werden muss. Oberflächlich betrachtet kann mobile Psychotherapie nämlich zunächst erleichternd und bequem wirken: Therapeut_innen begeben sich während ihrer Arbeitszeit auf einen Spaziergang oder sitzen im Kaffeehaus; Klient_innen sparen sich den Weg in die Praxis oder eine Institution, müssen ihre Bereitschaft, sich auf Psychotherapie einzulassen, nicht dadurch bekunden, dass sie vereinbarte Termine einhalten können oder in der Lage sind, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Tatsächlich stellt der flexible Arbeitsort mitunter eine Erleichterung dar, indem er dazu beiträgt, therapeutische Prozesse überhaupt in Gang zu bringen. Gleichzeitig ist mobile Psychotherapie aber auch wesentlich aufwändiger als unter herkömmlichen Rahmenbedingungen. Sie erfordert ein höheres Maß an Zeitmanagement, setzt voraus, dass das Befinden von Therapeut_in und Klient_in hinterfragt und transparent gemacht wird, damit die jeweils passenden Rahmenbedingungen hergestellt werden können, und führt dazu, dass die jeweiligen Voraussetzungen für die gemeinsame Arbeitsfähigkeit Thema des therapeutischen Prozesses werden. Jürgen Hargens schreibt unter anderem in zwei Aufsätzen (1993 u. 2000) über die erweiternden Möglichkeiten und etwaigen Risiken, die durch das Wegfallen des klassischen Psychotherapie-Settings in Praxisräumlichkeiten entstehen können:

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»Mobile Arbeit macht es einem weder leichter noch schwerer« (Hargens, 1993, S. 241). Durch die Erweiterung des Kontextes – wo begegnen sich Psychotherapeut_in und Klient_in? – fließen Zusatzinformationen ein, die Bilder und Assoziationen auslösen können. Wie ist eine Wohnung eingerichtet? Welches Getränk wird gewählt? Welcher Ort wird ausgesucht, wird Sitzen oder Gehen bevorzugt? All diese beispielhaften Fragen weisen darauf hin, dass ein »Mehr« an Informationen zu Rückschlüssen führen, Konstrukte anregen kann. Es gilt daher, diese hinzukommende Möglichkeit der Konstruktbildung zu erkennen, und sie in den Therapieprozess einfließen zu lassen und zu reflektieren. Der veränderte und vielleicht sogar variable Ort ist also ein Element in der mobilen Psychotherapie, das weiterführende Veränderungen bewirkt, deren sich Therapeut_innen bewusst sein sollten. Andere – vom Ort unabhängige – Rahmenbedingungen und Vereinbarungen wie Zeitpunkt, Kosten, teilnehmende Personen, Intervall, Dauer etc. unterscheiden sich nicht von jenen gängiger psychotherapeutischer Praxis.

Das Gespräch war produktiv, der Kellner hingegen unfreundlich … Eine zentrale Frage, die im Kontext dieser speziellen Form psychotherapeutischer Tätigkeit auftaucht, ist: Was ist zu tun, damit eine Therapiestunde, die beispielsweise in einem Kaffeehaus stattfindet, nicht in eine Plauderei abgleitet? Um Psychotherapie anbieten und einen professionellen Rahmen schaffen zu können, der den Richtlinien von Therapie gemäß Psychotherapiegesetz gerecht wird, ist es notwendig, sehr genau zu überlegen, welche Voraussetzungen Therapeut_innen brauchen, um arbeitsfähig zu sein. Setting, Ort und Inhalt des Prozesses ist wiederum Sache des Kontraktes, der zu Beginn und auch im weiteren Verlauf der Therapie zwischen Klient_in und Therapeut_in geschlossen wird. Es liegt also an den Therapeut_innen, für die ihre Professionalität gewährleistenden Rahmenbedingungen zu sorgen und diese durch möglichst exakte und transparente Definitionen erkennbar zu machen. Dies dient sowohl der Orientierung der Klient_innen (»Was bekomme ich hier?«) als auch der immer wieder zu überprüfenden Eigendefinition der Psychotherapeut_innen (»Wie arbeite ich?«). Bevor ich auf die speziellen Rahmenbedingungen mobiler Psychotherapie detaillierter eingehe, möchte ich auf einen Ansatz von Kurt Ludewig verweisen,

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der Psychotherapie als Kommunikation zwischen Psychotherapeut_innen und Hilfesuchenden bezeichnet (vgl. Ludewig, 1991). Diese Rollen sind klar definiert und beruhen auf beiderseitigem Einverständnis. Die Fragestellung, ab wann Kommunikation als Psychotherapie betrachtet werden kann, legt er auf eine mir sehr willkommene – weil gut nachvollziehbare – Weise dar. Ludewig unterscheidet vier Hilfesysteme: Hilfe im Sinne von Behandlung, Erziehung/Anleitung, Begleitung und Beratung. Je nach Art der Hilfesuche (Appell der Klient_innen) sorgt die Therapeutin oder der Therapeut für eine Kommunikation, die entsprechend dem aktuellen Anliegen als hilfreich erachtet wird. Alle vier Formen der Hilfeleistung können im Rahmen der Psychotherapie Platz finden, wichtig ist jedoch, die unterschiedlichen Appelle zu erkennen: 1. Hilf mir, mein Leiden zu beenden! (Therapie) 2. Hilf mir, mein Wissen zu erweitern! (Erziehung/Anleitung) 3. Hilf mir, meine Lage zu ertragen! (Begleitung) 4. Hilf mir, meine Lage zu verbessern! (Beratung) Diese Differenzierung hilft meiner Ansicht nach Therapeut_innen, die für jedes Anliegen förderlichste Art der Kommunikation führen zu können und durch das Bemühen um Kongruenz Dilemmata zu vermeiden. Ein auftretendes Dilemma könnte beispielsweise sein: Der Klient berichtet von einem frustrierenden Erlebnis, das nicht direkt mit der eigentlichen Problemstellung (oder der angestrebten, übergeordneten Lösung) zu tun hat. Die Rolle der Therapeutin ist demnach – für diese Episode der Sitzung – als jene der Begleiterin definiert. Hier gilt es, Zeugin der Geschehnisse und der damit verbundenen Emotionen zu sein und zuzuhören, statt ziel- und lösungsorientiert zu kommunizieren. Ich empfinde es als sehr unterstützend, mir bewusst zu machen, welche »situativ verlangte« Rolle ich innerhalb einer Therapiesitzung einnehme. Ich fühle mich dadurch sicherer und gerate nicht so leicht in die Gefahr, von einer diffusen Auftragssituation auszugehen und damit eine konfliktträchtige, weil missverständliche Kommunikationsform zu wählen. Speziell in der mobilen Psychotherapie ist hinsichtlich des Sicherheitsempfindens von Therapeut_innen besondere Achtsamkeit vonnöten, da das sich ständig verändernde Setting keine verlässlichen und routinierten Abläufe zulässt. Psychotherapie wird so gesehen durch die Haltung der Therapeut_innen im Gespräch definiert. Ob mobile oder Praxis-Psychotherapie – Haltung, Grundwerte und Grundannahmen ändern sich dadurch nicht. Es gibt jedoch einige Aspekte, auf die in der mobilen Arbeit besonders zu achten ist. Auf sie möchte

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ich nach der folgenden Beschreibung meiner grundsätzlichen therapeutischen Haltung und meines Zugangs näher eingehen. Meine Haltung gegenüber Klient_innen kann ich als eindeutig systemisch bezeichnen. Das bedeutet, dass ich mich als professionelle Gesprächspartnerin innerhalb des Systems Psychotherapie sehe, als Verantwortliche für die richtungsgebende Steuerung der Kommunikation, nicht aber für deren Inhalt. Meine Klient_innen sind die Expert_innen für die Bewältigung ihrer Lebenssituationen. Probleme sehe ich als Lösungsstrategien, die (bisher) nicht zum Ziel geführt haben, und daher betrachte ich es als meine Aufgabe, gemeinsam mit den Klient_innen neue, andere Lösungswege zu entdecken. Fragen, Hypothesen und das Beziehungsangebot sind die Instrumente meiner psychotherapeutischen Arbeit.

Das »Wo« ist weniger maßgeblich als das »Wie« Alle Klient_innen sind einzigartig, und jede Therapie verläuft daher anders. Individuelle Ressourcen und unterschiedliche Systemkonstellationen führen zu variierenden Fragestellungen – so wie jede hilfesuchende Person unterschiedliche Gefühle, Assoziationen und Lösungsideen in mir auslöst. Meines Erachtens sind Psychotherapeut_innen als »Resonanzkörper« selbst ein wichtiges Werkzeug in der Therapie, mit dem auch sehr verantwortungsvoll umgegangen werden sollte. Annahmen, die ich in Bezug auf Klient_innen entwickle, betrachte ich als handlungsleitende Konstrukte für Fragen und Interventionen im Gespräch, nicht als gültige Wahrheiten. Die Wirklichkeiten meiner Klient_innen und die daran gekoppelten Emotionen, Gedanken und Perspektiven sind mein Arbeitsmaterial. Mein Anliegen ist nicht, Realitäten zu hinterfragen, sondern das »subjektive Konstrukt Wirklichkeit« in den Fokus zu nehmen, das wenig oder gar nichts mit der Wirklichkeit anderer zu tun hat. Ich habe also eine konstruktivistische Lebens- und Arbeitshaltung, was sich in der Therapie beispielsweise durch die Ermutigung, andere Perspektiven einzunehmen, niederschlägt. Mein beruflicher Werdegang und meine Erfahrungen in unterschiedlichsten Arbeitskontexten wirken sich nach wie vor auch auf meine Tätigkeit als Psychotherapeutin aus. Immer wieder gibt es Situationen, in denen sich beispielsweise die versorgende Streetworkerin in mir meldet. Da ich mir dessen bewusst bin, versuche ich genau hinzuhören, welcher Part meines »inneren Teams« gerade das Wort ergreift oder Stimmungen verursacht. Solange die Psychotherapeutin in mir das Gespräch leitet, empfinde ich die Anteile, die mitsprechen, nicht als störend, sondern erkenne sie als Ressource und Erweiterung, als ein Pool an Helfer_innen.

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Eine der Grundannahmen, die mich durch die psychosoziale Arbeit mit Menschen begleitet, ist, dass alle Menschen (also auch meine Klient_innen) über ein solches inneres Team verfügen. Das ermöglicht mir, Ressourcen aufzuspüren und bewusst zu machen. Diese Haltung trägt auch dazu bei, dass ich Menschen in ihren vielschichtigen Gefühlswelten, Wahrnehmungen und Wünschen wertschätzen kann. Respekt vor jeder Lebensgeschichte und den daraus hervorgegangenen Lösungsideen (so schädigend sie auch erscheinen mögen) sowie ein aufrichtiges Interesse an der Person, die sich mir anvertraut, sind meines Erachtens selbstverständliche Voraussetzungen für psychotherapeutisches Handeln. Unentbehrlich für mich als Therapeutin sind zwei weitere Elemente, nämlich eine positive, offene Lebenshaltung und Humor – wobei ich diese beiden nicht als Arbeitsinstrumente, sondern als Teile meiner Persönlichkeit betrachte, die mir liebgewonnene und unterstützende Begleiterinnen geworden sind. Grundsätzlich lässt sich meine Arbeitsweise als bedarfsorientiert beschreiben. Ich beziehe mich hierbei in erster Linie auf die »10+1 Leitsätze« nach Kurt Ludewig (1987). Für mich als Therapeutin hilfreiche Fragestellungen sind beispielsweise: »Stelle ich Fragen, die weiterführen?« oder »Verstöre ich behutsam?«. Im Zuge dieser Überlegungen ging ich tendenziell dazu über, Komplexität aus meinen Fragen zu nehmen und sie zu vereinfachen. Als einen ebenfalls sehr bedeutsamen Arbeitsansatz betrachte ich die Transparenz hinsichtlich meines Vorgehens. Die bewusste »Entzauberung« von Interventionen schafft eine Situation, in der sich Klient_innen als autonom und entscheidungsfähig wahrnehmen können. Transparenz ist für mich auch auf der therapeutischen Beziehungsebene bedeutsam. Wenn ich wahrnehmen kann, dass während eines Gesprächs in mir starke Emotionen auftreten – etwa das Gefühl Platz greift, Klient_innen beschützen zu wollen –, so spreche ich das in einer externalisierten Art und Weise an: »Ein Teil von mir hat gerade das Bedürfnis, Sie zu beschützen, ein anderer Teil – vielleicht der der Therapeutin? – findet es gut, dass Sie so genau wissen, was Sie sich erlauben können und was nicht …«

Was es braucht, um sich auf den Weg zu machen Die Gründe, warum Klient_innen nicht in einem Praxisraum kommen können, sind ebenso vielfältig wie jene, warum sie sich für Psychotherapie entscheiden. Die systemische Haltung, Klient_innen als Expert_innen anzuerkennen, ist für die Abklärung des Bedarfs besonders hilfreich, weil sie nicht nur zulässt, sondern sogar einfordert, auf die jeweilige Lebenssituation und die damit verbundenen

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Möglichkeiten einzugehen. Dennoch muss die Motivation der Klient_innen mit jener der Therapeut_innen abgestimmt werden, und auch in diesem Zusammenhang erleichtert Transparenz es, zu einer tragfähigen Vereinbarung zu gelangen. Obwohl oder vielleicht besonders weil mobile Psychotherapie ein hohes Maß an Flexibilität erfordert, sind klar festgelegte Rahmenbedingungen wichtig für die Orientierung aller Beteiligten. Regelungen, die den Kontakt, das Absagen vereinbarter Termine, das Honorar etc. betreffen, unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen, die auch in der Praxis abgesprochen werden müssen. Scheinbar banale Regeln – wie das Ausschalten von Mobiltelefonen während des Gesprächs – sind auch in diesem Kontext zu treffen, müssen aber unter Umständen klarer hervorgehoben werden, weil Therapeut_in und Klient_in unterwegs sind. Nicht im Praxisraum zu arbeiten, bedeutet für Therapeut_innen, dafür Sorge zu tragen, dass sie trotz der variablen Umgebung gut auf Klient_innen eingehen können, was wiederum voraussetzt, dass sie sich selbst einigermaßen wohl fühlen, dass es sich um einen dementsprechend geschützten Rahmen handelt. Ich unterscheide in diesem Zusammenhang zwischen zwei Gründen für mobile Psychotherapie. Es handelt sich um a) Personen, die physisch nicht in der Lage sind, Praxis-Psychotherapie in Anspruch zu nehmen; etwa durch Bettlägerigkeit, Spitals- oder Gefängnisaufenthalte etc. b) Personen, die aufgrund ihrer (derzeitigen) psychosozialen Ressourcen Praxis-Psychotherapie nicht nutzen können; zum Beispiel aufgrund von Angstzuständen, einer Sozialphobie, starker Depressionen, etc. Meiner Erfahrung nach ändert sich bei der ersten Klient_innengruppe zwar der Arbeitsort, Therapien können aber in einem Innenraum und inhaltlich entsprechend der jeweiligen Anliegen ähnlich wie in Praxisräumlichkeiten stattfinden und verlaufen. Die Klient_innen bringen üblicherweise klare Anliegen mit, und das Erarbeiten eines Auftrages ist möglich. Klient_innen, die aufgrund ihrer psychischen Verfassung das klassische Therapieangebot nicht in Anspruch nehmen können, zeichnen sich manchmal durch eingeschränkte Paktfähigkeit aus. Einigen fällt es schwer, Termine einzuhalten. Sich auf vereinbarte Gesprächssituationen einzulassen, kann für manche Menschen bereits eine große Belastung darstellen und überfordernd sein. Auch der Umstand, dass viele meiner Klient_innen sich in sozialarbeiterischer Betreuung befinden, hat Einfluss darauf, wie ich mit ihnen arbeiten kann, wer sozusagen alles mitspricht. Es empfiehlt sich daher, jede Stunde als eigene, in sich (ab-)geschlossene Therapie zu sehen, die stark prozessorientiert geführt

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wird. In diesen mobilen Therapien nehme ich mich vermehrt in der Rolle der Begleiterin wahr, die mit dem Erarbeiten kleiner Ziele und dem Platz für viele unterschiedliche Anliegen dabei hilft, den Alltag besser ertragen zu können. Zu achten ist in jedem Fall auf das Umfeld, in dem mobile Psychotherapie stattfinden kann. Grundsätzlich ist es wichtig, Klient_innen nach der Wahl des Ortes zu fragen und damit auch etwas über die Problemsituation zu erfahren. So können erste Informationen darüber gesammelt werden, wo oder wie sich Klient_innen wohlfühlen. Ebenso wichtig ist es aber auch, abzuklären, ob ich als Psychotherapeutin an den gewünschten Orten arbeiten kann, ob Hinderungsgründe wie Schmutz, Lärmbelästigung etc. existieren.

Voraussetzungen für die Umsetzbarkeit mobiler Psychotherapie Folgende Kriterien haben sich im Laufe meiner Arbeit in der mobilen Psychotherapie entwickelt. Sie leiten sich also direkt aus Praxiserfahrungen ab und werden zum Teil anhand kurzer Fallbeispiele erläutert. 1. Ein geschützter Rahmen Ein geschützter Rahmen ist Voraussetzung dafür, sich für einen Therapieprozess öffnen zu können. Es obliegt den Therapeut_innen, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Die Atmosphäre, in der sich Klient_innen wohlfühlen können, sollte von Vertrauen geprägt sein: in die Situation (»Hier kann mir nichts passieren«), in die Person (»Ihr/ihm kann ich alles erzählen«) und in die Therapie allgemein (»Hier wird mir geholfen«). Um Sicherheit im Kontakt und in der Umgebung zu vermitteln, ist es jedoch auch notwendig, dass sich Therapeut_innen arbeitsfähig fühlen. Herr M. wurde mir von einer Kollegin aus dem sozialarbeiterischen Kontext überwiesen. Seine Angst vor öffentlichen Verkehrsmitteln und fremden Orten im Allgemeinen machte eine Weiterführung der Psychotherapie in ihrer Praxis unmöglich. Er hatte Panikattacken wie auch Probleme mit seinem Alkoholkonsum, und er beschrieb sich selbst als depressiv und orientierungslos. Es galt daher, Herrn M. in seinem Umfeld aufzusuchen. Besuche zu Hause kamen für mich nicht in Frage, da ich als Therapeutin männliche Klienten nicht in ihren Wohnungen aufsuche. Der Erstkontakt erfolgte am Telefon, der erste Gesprächstermin fand in der Umgebung eines Bahnhofs vor einer

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Bäckerei statt. Anders als in der Praxis befanden wir uns auf neutralem Terrain, und niemand war in der Gastgeber_innenrolle. Es gab keine räumlichen Besonderheiten, auf die hingewiesen werden musste. Beide kannten wir diesen Ort. Trotzdem war es meine Aufgabe, für eine sichere und angenehme Atmosphäre zu sorgen und die Begegnung in den ersten Momenten anzuleiten. Ich konzentrierte mich zunächst trotz der großen Menschenmenge voll und ganz auf den Klienten, hielt Augenkontakt und versuchte, so viel Sicherheit wie möglich auszustrahlen. Da ich bald feststellen konnte, dass die Rahmenbedingungen für mich auf die Dauer nicht tragbar waren, schlug ich vor, den Bahnhof zu verlassen. Wir einigten uns auf einen ruhigeren Ort in der Nähe. Den ersten Kontakt erlebte ich hier – wie in der Praxis – als eine Art Abholen, ein kurzes »An der Hand nehmen« und »Willkommen heißen«.

2. Kontextbezogene Vereinbarungen Das gemeinsame Bewegen in der Öffentlichkeit bringt Gegebenheiten mit sich, die vorzugsweise im Vorhinein von Therapeut_innen thematisiert werden sollten. Zu klären sind Fragen wie: ȤȤ Was ist bei zufälligen Begegnungen mit jeweils bekannten Personen zu tun? ȤȤ Wie wird die Therapeutin vorgestellt? ȤȤ Wie der Klient? ȤȤ Was passiert bei einer plötzlichen Veränderung der Wetterlage? ȤȤ Wie wird das Honorar übergeben? 3. Klärung des Bedarfs an mobiler Psychotherapie Mobile Psychotherapie findet nur statt, wenn es Klient_innen nicht möglich ist, in die Praxisräumlichkeiten zu kommen. Hier muss zumindest einer der bereits erwähnten Gründe vorliegen: physische oder psychische Beeinträchtigungen. Es kam bereits vor, dass um mobile Therapie angefragt wurde, sich auf Nachfrage jedoch herausstellte, dass der Klient die Option, zuhause therapiert zu werden, einfach als angenehmer empfand. Solche Anfragen sind in jedem Fall abzulehnen, da das Angebot mobiler Psychotherapie nicht als beliebige Alternative zu verstehen ist, sondern nur jenen zur Verfügung stehen soll, die sonst keinen Zugang zu Psychotherapie haben. 4. Die Gastgeber_innenrolle der Therapeut_innen Frau S., 72 Jahre alt, fragte um mobile Psychotherapie an, da sie ihren bettlägerigen Ehemann pflegte und kaum außer Haus gehen konnte. Ich betrat also einen

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sehr intimen Bereich der Klientin: ihr Zuhause. Die Wahl, wo unsere Gespräche stattfinden sollen, fiel auf das Esszimmer. Sie bot mir Kaffee und Kuchen an, was ich dankend ablehnte. Daraufhin ließ sie es sich nicht nehmen, das Glas Wasser, das ich gern annahm, aufwändig zu servieren. Ich bemerkte, dass sie eine gute Gastgeberin sein wollte.

Die Gastgeberinnenrolle im Therapiegespräch sollte ich als Therapeutin einnehmen. Es kostete mich viel Konzentration, diese Rolle zu finden und zu behalten. Mir ist insbesondere im Erstgespräch das »Willkommen heißen« einer neuen Klientin sehr wichtig, was in diesem Fall schwieriger war als üblich. Eine Wohnung verrät viel über einen Menschen. Bilder, Möbelstücke, Gebrauchsgegenstände – all das bietet Informationen an, die ich üblicherweise erfragen müsste und nicht vor Augen hätte. Sofort entstanden Assoziationen, die die Klientin jedoch nicht freiwillig anregte. Anfangs fühlte ich mich wie ein Eindringling und wusste nicht recht, ob ich mich genauer umsehen oder den Ort des Geschehens möglichst ausklammern sollte. Ich entschied mich für Ersteres, da ich die Klientin auch mit den Gegebenheiten meiner Praxisräumlichkeiten vertraut gemacht hätte. Das Gespräch dauerte dadurch zwar länger als vorgesehen, trug aber dazu bei, dass eine vertrauensvolle Arbeitsgrundlage hergestellt werden konnte.

5. Vermeiden privater Handlungen und Ebenen Frau C., 22 Jahre alt, war eine meiner ersten Klientinnen im Obdachlosenbereich und die Erste, mit der ich spontan den öffentlichen Raum aufsuchte, da sie sich im Beratungszimmer eingeengt fühlte. Wir trafen uns regelmäßig in einem Park, und eines Tages bei Schlechtwetter gingen wir in ein Kaffeehaus. Frau C. bestellte sich eine Suppe, und da ich ebenfalls Hunger hatte, schloss ich mich an. Während wir die Suppe löffelten, bemerkte ich, dass das Gespräch plötzlich in einen Plauderton verfiel. Ich hatte ganz offenbar unterschätzt, dass gemeinsames Essen eine unangebracht verbindende Tätigkeit ist und den Kontakt auf eine andere, fast freundschaftliche oder zumindest privatere Ebene bringt.

Zusammenfassend ist in der mobilen psychotherapeutischen Arbeit zu jedem Zeitpunkt mit Unvorhergesehenem zu rechnen – sowohl aufgrund der meist multifaktoriellen Belastung der Klient_innen als auch wegen der sich verändernden Umgebung. Umso wichtiger ist die ständige Abklärung der genannten

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Voraussetzungen. Nur so kann ein stabiler und professioneller therapeutischer Prozess gewährleistet werden. Wenn sich Berge und Prophet_innen an anderen Orten treffen können, werden Muster unterbrochen und neue Wege aufgezeigt. Mit der Entwicklung eines mobilen psychotherapeutischen Angebots wurde demgemäß eine Unmöglichkeit zur Möglichkeit. Literatur Berg, I. K., Miller, S. D. (2003). Die Wunder-Methode. Ein völlig neuer Ansatz bei Alkoholproblemen. Dortmund: Modernes Lernen. Bundesgesetz vom 7. Juni 1990 über die Ausübung der Psychotherapie (Psychotherapiegesetz). Wien: Bundeskanzleramt Österreich. Hargens, J. (1993). Haus und Wohnung der KundIn. Spielfeld oder Feindesland? Erste Reflexionen über Hausbesuche. Zeitschrift für systemische Therapie 11 (4), 238–244. Hargens, J., Richter, A., Zettler, H. (2000). Sozialarbeit, Psychotherapie, systemisches Arbeiten. Kontext, 31 (1), 5–17. Ludewig, K. (1987). 10 + 1 Leitsätze bzw. Leitfragen. Zeitschrift für systemische Therapie, 5, 178–191. Ludewig, K. (1991). Grundarten des Helfens, Ein Schema zur Orientierung der Helfer und der Helfer der Helfer. In H. Brandau (Hrsg.), Supervision aus systemischer Sicht (S. 54–68). Salzburg: Otto Müller.

Literaturempfehlungen Furman, B. (1999). Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben. Dortmund: Borgmann. Furman, B., Ahola, T. (1996). Die Kunst, Nackten in die Tasche zu greifen. Systemische Therapie: Vom Problem zur Lösung. Dortmund: Borgmann. Schwing, R., Fryszer, A. (2006). Systemisches Handwerk. Werkzeug für die Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Shazer, S. de, Dolan, Y. (2008). Mehr als ein Wunder. Lösungsfokussierte Kurztherapie heute. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme.

Andrea Schmidbauer

Mit dem Mut der Verzweiflung und der Begeisterung von Pionier_innen Ein Erfahrungsbericht über die Arbeit im Psychotherapieprojekt TIRAM

Ich erinnere mich genau: Es war in einem Abendseminar des systemischen Fachspezifikums gegen Ende des Jahres 2003. Mein Ausbildungslehrgang näherte sich dem Ende des ersten Abschnitts und der damit verbundenen Erteilung der Berechtigung zur Ausübung von Psychotherapie »in Ausbildung unter Supervision«. Wir erfuhren an diesem Abend, was wir ohnehin bereits ahnten, nämlich dass diese Berechtigung auch eine Verpflichtung sein würde – und zwar jene, nunmehr auch mit »echten« Klient_innen eigenverantwortlich und außerhalb des schützenden Ausbildungsrahmens therapeutisch zu arbeiten. Anderenfalls wäre die Fortsetzung des Fachspezifikums nicht möglich. Ab jetzt müssten die Studierenden eigene »Fälle« einbringen können. Viel Begeisterung, aber auch Zeit, Geld und Energie waren bisher von allen Curriculumsteilnehmer_innen in die berufsbegleitende Psychotherapieausbildung investiert worden. Es war klar, dass die meisten von uns im Rahmen der Erwerbsarbeit keine Gelegenheit zu psychotherapeutischer Tätigkeit und nur wenige Kolleg_innen Zugang zu potenziellen Klient_innen haben würden. Ein Raunen ging durch die Gruppe. Wir waren aufgeregt und diskutierten in den Seminarpausen darüber, wie wir zu Klient_innen kommen und die sehr aufwändige Psychotherapieausbildung im vorgesehenen Zeitraum fortsetzen und abschließen könnten. Abgesehen davon kam eine neue Herausforderung auf uns zu, nämlich das Gelernte nun anwenden und erstmals autonom psychotherapeutisch tätig werden zu dürfen, zu sollen und letztendlich zu müssen. Ich war zu diesem Zeitpunkt Ende dreißig und dabei, mir mit der Psychotherapieausbildung einen lang gehegten beruflichen Wunsch zu erfüllen. Ich arbeitete bereits seit vielen Jahren im beratenden und begleitenden Sozialbereich, konnte immer wieder wahrnehmen, dass vielen der von mir betreuten Menschen Psychotherapie helfen könnte, und hatte mich danach gesehnt, diese Tätigkeit endlich selbst ausüben zu dürfen. Denn der Rahmen, in dem ich bis dahin gearbeitet hatte, zeigte mir zwar die oft sehr große psychische Bedrängnis meiner Klient_innen, bot aber keine Gelegenheit, mich damit intensiver zu

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befassen. Mein berufliches Interesse galt im Laufe der Zeit immer mehr dem psychischen Befinden der Menschen, mit denen ich arbeitete, und den Möglichkeiten, hier unterstützend tätig zu sein. Ich stand also kurz davor, meinen Traum endlich Wirklichkeit werden zu lassen, wobei mir gleichzeitig völlig unklar war, unter welchen Bedingungen dies stattfinden sollte. Denn in meiner damaligen Tätigkeit als Arbeitsassistentin war mein Auftrag, Menschen mit Behinderungen in der beruflichen Integration zu begleiten, was in erster Linie die Vermittlung geeigneter sowie die Sicherung vorhandener Arbeitsplätze beinhaltete. Ebenso betreute ich die Seite der Dienstgeber_innen in Fragen der beruflichen Integration beeinträchtigter Menschen. Für psychotherapeutische Arbeit war hier im Sinne des Arbeitsauftrags kein Raum. Ich würde mich also anderweitig um Klient_innen bemühen müssen – und das neben der eigentlichen Berufstätigkeit. Wie konnte das gelingen? Ich hatte, wie viele meiner Kolleg_innen, keine konkrete Vorstellung davon. In diese aufgewühlte und verunsicherte Stimmung hinein warf eine meiner Ausbildungsleiterinnen gleichsam einen Rettungsring: Sie bot an, unter dem Dach des gemeinnützigen Vereins »Institut für Angewandte Menschenkunde«, kurz IAM, zu dessen Vorstand sie gehörte, ein Psychotherapieprojekt für sozial bedürftige Menschen zu gründen. Interessierte Psychotherapeut_innen in Ausbildung unter Supervision könnten in einem solchen Rahmen systemische Psychotherapie zu sozial gestaffelten Tarifen anbieten und so an Klient_innen kommen. Damit würde eine Win-win-Situation entstehen: Wir Student_innen könnten therapeutisch unter Supervision arbeiten, und ökonomisch benachteiligte Personen, die andernfalls aufgrund der Unterversorgung mit Kassentherapieplätzen möglicherweise keinen Zugang zu Psychotherapie hätten, könnten versorgt werden.

Aus der Idee wird ein Projekt Es fanden sich einige Kolleg_innen, die diese vielversprechende Chance nützen und aktiv am Zustandekommen des Projektes mitarbeiten wollten. Rasch entwickelte sich ein relativ fixes Gründerinnen-Team von fünf bis sechs Kolleginnen meines Ausbildungsjahrgangs. Unter fachkundiger und hilfreicher Anleitung begannen wir in regelmäßigen Sitzungen mit der Ausarbeitung der Rahmenbedingungen des Projekts. Aus der inhaltlichen Basis des geplanten Therapieangebots für Randgruppen bzw. sozial bedürftige Menschen entwickelte sich in lustvollen und intensiven Diskussionen der Projektname »TIRAM« –»Therapeut_innen-Initiative für Randgruppen und andere Menschen«. Den rechtlichen

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Rahmen würden Mitgliedschaften der für TIRAM tätigen Psychotherapeut_innen (in Ausbildung unter Supervision) und ihrer Klient_innen beim Verein bieten, die Psychotherapien würden in den Praxisräumen der jeweiligen Therapeut_innen stattfinden und sozial gestaffelte Tarife, beginnend bei einem Unkostenbeitrag von 10,00 Euro pro Psychotherapiestunde, sollten den meist prekären Einkommensverhältnissen der Klient_innen Rechnung tragen. Ein Informationsblatt für potenzielle Zuweiser_innen sowie für psychotherapieinteressierte Betroffene wurde entworfen und sollte für die Öffentlichkeitsarbeit in Institutionen sowie Beratungs- und Betreuungseinrichtungen verwendet werden. Eingehende Anfragen sollten in regelmäßigen Teamsitzungen besprochen und unter den beteiligten Therapeutinnen aufgeteilt werden. Außerdem würden die am Aufbau des Projekts beteiligten Kolleginnen ein gewisses Ausmaß an kostenloser Supervision durch das Institut IAM erhalten.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne Ende Februar 2004 wurde mir und meinen Curriculumskolleg_innen schließlich der Status »Psychotherapeut_in in Ausbildung unter Supervision« zuerkannt, und nahezu zeitgleich startete das Projekt TIRAM. Es fand gezielte Öffentlichkeitsarbeit in Form von persönlichen Gesprächen mit Ansprechpartner_innen potenzieller Zuweisungsorganisationen statt, an die zuvor unsere Informationsunterlagen ergangen waren. Das Interesse der angesprochenen Personen war durchaus groß, dennoch gingen Therapie-Anfragen anfangs nur sehr zögerlich ein. Wir ließen uns dadurch nicht entmutigen, schließlich braucht es Zeit, um ein neues Angebot im Psychosozialbereich zu etablieren. Obwohl in manchen TIRAM-Sitzungen mehr Therapeut_innen anwesend als potenzielle Klient_innen zuzuteilen waren, hatte jede von uns bald zumindest ein, zwei eigene Psychotherapien laufen. Die Ausbildung konnte also fortgesetzt werden. Unsere Stimmung war nahezu euphorisch, denn wir wussten, dass wir für eine gute Sache tätig waren, die zudem noch so neu und herausfordernd war, dass sich vieles erst entwickeln musste und gestaltet werden konnte. Trotz unser Hauptberufe, die existenzsichernd waren und die Finanzierung der Psychotherapieausbildung ermöglichten, arbeiteten wir angehenden Psychotherapeutinnen mit großer Begeisterung in unserer Freizeit in und an TIRAM. Mit der Zeit kristallisierten sich auch Schwerpunkte hinsichtlich der Zuweise­r_innen-Kontakte heraus: Jede von uns hatte ihren spezifischen beruflichen Hintergrund – beispielsweise als Lehrerin, Sozialpädagogin oder Coach im arbeitsmarktnahen Vermittlungsbereich  – und ihre Netzwerke in diesem

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Kontext. Nichts war also naheliegender, als diesen Netzwerken das Angebot von TIRAM nahezubringen oder nach persönlichem Interesse Kontakte zu psychosozialen Organisationen und Institutionen des Gesundheitswesens herzustellen, mit denen wir gern zusammenarbeiten würden. Allmählich stiegen die Anzahl der Zuweisungen und der Bekanntheitsgrad des Projekts. Einzelne Zuweisungspartner_innen erwiesen sich als besonders ergiebig, andere schienen ein weiteres Engagement nicht zu rechtfertigen. Stets besprachen wir unsere Strategien für die Öffentlichkeitsarbeit in den Teamsitzungen und versuchten so, zu einer möglichst guten Passung zwischen unserem Bedarf an Klient_innen und jenem an Therapieplätzen zu gelangen. Für mich persönlich bedeutete das Projekt eine wunderbare Chance, erste Erfahrungen als eigenverantwortlich arbeitende, systemische Familientherapeutin zu sammeln und im Rahmen der Praxisseminare und Supervisionen zu reflektieren. Als bisher stets unselbständig und sozusagen im Schutz sozialer Organisationen Arbeitende hätte ich wohl nicht die nötige Selbstsicherheit aufgebracht, als Anfängerin im psychotherapeutischen Tätigkeitsbereich in eigener Sache für mein Therapieangebot zu werben. Mit dem Verein IAM im Hintergrund und eingebettet in ein Kolleg_innenteam sowie rechtlich und fachlich unterstützt und angeleitet, war es mir bald gut möglich, in der Öffentlichkeitsarbeit überzeugend und erfolgreich für TIRAM tätig zu werden und auch eigenständig Therapien abzuhalten. Ganz ähnlich ging es wohl meinen am Projekt beteiligten Kolleginnen, mit denen ich in einer sehr angenehmen und freudvoll erlebten Weise zusammenarbeitete. Die Arbeit wurde von einer Stimmung des Aufbruchs getragen, und auch von der Erleichterung, das drängende Problem des Klient_innen-Zugangs auf sinnvolle und kreative Art lösen und einen Rahmen gestalten zu können, in dem wir endlich therapeutisch arbeiten konnten.

Arbeits- und Lebenssituationen Für mich persönlich bedeutete die Mitarbeit im Projekt zunächst einmal die Anmietung eines kostengünstigen Praxisraumes für einen Nachmittag der Woche. Ich ging allerdings davon aus, dass ich zeitlich flexibler sein musste, da nicht alle Klient_innen an einem festgelegten Tag Zeit haben würden. Zusätzlich konnte ich erfreulicherweise meine Dienststelle dafür gewinnen, mir mein Beratungszimmer, in dem ich dreißig Wochenstunden als Arbeitsassistentin tätig war, außerhalb dieser Dienstzeiten auch für eventuelle Therapiestunden mit TIRAM-Klient_innen kostenlos zur Verfügung zu stellen. Schließlich ging

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es nicht um einen ertragreichen Zusatzjob, sondern um die Mitarbeit in einem sozialen Therapieprojekt und um den Abschluss einer Ausbildung, wovon meine Dienststelle voraussichtlich ebenfalls profitieren würde. So war es schließlich auch: Denn manche der arbeitsuchenden Menschen im Arbeitsassistenzprojekt hatten durchaus auch Psychotherapiebedarf und wurden mir später von Kolleg_innen zugewiesen. Durch meine Vorerfahrungen in der Betreuungsarbeit von Menschen mit körperlichen, psychischen, geistigen und Mehrfachbeeinträchtigungen sowie chronischen körperlichen Erkrankungen ergab sich für mich im Rahmen von TIRAM eine Art Spezialisierung auf diese Zielgruppe. Zuweiser_innen waren hier beispielsweise ȤȤ Werkstätten für Beschäftigungstherapie und betreute Wohngemeinschaften, ȤȤ vom Arbeitsmarktservice finanzierte Beschäftigungsprojekte und Beratungseinrichtungen für Arbeit suchende bzw. langzeitarbeitslose Personen, ȤȤ psychiatrische Abteilungen von Krankenhäusern, ȤȤ sonderpädagogische Zentren und Beratungseinrichtungen für Menschen mit schwerwiegenden chronischen Erkrankungen. In der Projektarbeit hatte sich herausgestellt, dass es in vielen Fällen sinnvoll war, wenn die jeweiligen Psychotherapeut_innen den von ihnen angesprochenen Zuweisungspartner_innen persönlich als Kontaktperson zur Verfügung standen. Für mich bedeutete das, dass ich von den mir beruflich nahestehenden Organisationen im Laufe der Zeit vermehrt kontaktiert wurde, wenn für sozial bedürftige Klient_innen ein Psychotherapie-Platz zu sehr günstigen Tarifen erforderlich war. Einen Teil dieser über mich zugewiesenen Klient_innen, deren Anfragen dann bei TIRAM-Sitzungen besprochen wurden, konnte ich selbst in Therapie übernehmen, andere fanden Therapieplätze bei den im Projekt tätigen Kolleg_innen. Häufig kam es vor, dass engagierte Betreuungspersonen bzw. Berater_innen einen dringenden Bedarf an Psychotherapie erkannten und Erstgesprächstermine für Klient_innen vereinbarten, diese jedoch dann nicht erschienen bzw. nach einem gemeinsamen Erstgespräch mit der Betreuungsperson die Folgetermine nicht mehr wahrnahmen. Auf Nachfrage stellte sich heraus, dass die Motivation für eine kontinuierliche Psychotherapie (noch) nicht ausreichte und/oder selbst der Jahresmitgliedsbeitrag von 20,00 Euro sowie der MinimalUnkostenbeitrag von 10,00 Euro pro Psychotherapiesitzung die meist desolate Einkommenssituation zu sehr belasten würde. Einzelne Klient_innen waren dann auch schlichtweg nicht mehr erreichbar. Solche Erlebnisse empfand ich zunächst als sehr enttäuschend. Der Austausch mit Kolleginnen, die ähnliche

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Erfahrungen machten, wirkte jedoch entlastend. Im Weiteren stellte sich heraus, dass TIRAM-Klient_innen aufgrund von Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit und/oder Schuldenbelastungen bzw. wegen geringen Einkommens nur selten mehr als den Mindestbeitrag aufbringen konnten. Und selbst dieser Betrag schien bei der oft notwendigen wöchentlichen Frequenz den finanziellen Spielraum bereits beträchtlich zu belasten. Für mich ergab sich daraus, dass die Summe der erhaltenen Unkostenbeiträge zumeist nur die Miete für den Praxisraum abdeckte. Viele der TIRAM-Klient_innen lebten an der Armutsgrenze und in räumlich beengten Verhältnissen, in denen sich Familien mitunter einen einzigen Wohn-Schlafraum teilen mussten, manchmal auch in Wohnungen, die sich in einem desolaten Zustand befanden. Bei einigen Personen war ein gewisses Maß an körperlicher Verwahrlosung bzw. Selbst-Vernachlässigung wie mangelnde Körperhygiene, nicht sanierte Gebisse und nikotinfleckige Finger feststellbar. Gewalttätigkeit, Alkohol- und Nikotinabusus, Kindesabnahmen durch das Jugendamt, Vorstrafen und Haftaufenthalte, Prostitution, sekundärer Analphabetismus, geringe Schulbildung und nicht bzw. nur in minimalem Ausmaß vorhandene berufliche Qualifikationen kamen bei den Klient_innen bzw. in deren familiären Umfeld häufig vor, ebenso wie starkes Übergewicht, schwere, zum Teil chronische körperliche sowie psychiatrische Erkrankungen und in der Folge wiederkehrende Hospitalisierungen von Klient_innen oder deren Familienmitgliedern. Kurz gesagt, handelte es sich bei unseren Klient_innen sehr oft um Personen mit schwerwiegenden Multiproblemstellungen, die darauf hinwiesen, dass psychische Problematiken in vielen Fällen eng mit gesellschaftlicher Randgruppenzugehörigkeit sowie mit sozialer Isolation und Prekarität verbunden waren. Immer wieder traf ich auf Klient_innen, denen es offensichtlich schwerfiel, sich zeitlich so zu organisieren, dass die Einhaltung vereinbarter Termine möglich war. Manche von ihnen nahmen Termine mehrfach einfach nicht wahr, ohne mich darüber zu informieren, bzw. trafen mitunter erst eine Viertel- oder halbe Stunde später als vereinbart ein. Die geschlechtsspezifischen Rollenbilder der TIRAM-Klient_innen waren meiner Wahrnehmung nach häufig sehr konservativ, wobei die jeweiligen Rollen (die »starken Männer« als tonangebende Familienerhalter sowie die »Hausfrauen«, die für Küche und Kinder zuständig waren) meist mehr phantasiert als gelebt wurden. Denn häufig waren die Frauen Alleinerzieherinnen bzw. mehrfach belastet durch Berufs- und Familienarbeit, oder aber ganze Familien waren arbeitslos. Wenn Klient_innen aus religiösen Gründen an traditionellen Geschlechterrollen festhielten, war es für mich manchmal kein leichtes Unter-

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fangen, in mir aufsteigende Missionierungsimpulse zu bezähmen und zu lernen, die Wertvorstellungen meiner Klient_innen zu achten und nur insofern zu hinterfragen, als es einer hilfreichen, psychotherapeutischen Dekonstruktion entspricht.

Nicht nur TIRAM entwickelt sich Mit großem Tatendrang, viel Begeisterung sowie der Überzeugung, dass sozial und ökonomisch benachteiligten Personen Unterstützung zusteht und ich diese auch anbieten kann, begann ich mit meiner therapeutischen Arbeit im Projekt. Aufgrund meiner langjährigen Erfahrung im sozialarbeiterischen Kontext war mir der Umgang mit Menschen, deren Bedürfnisse nicht ausreichend abgedeckt sind, nicht fremd. Neu war für mich jedoch, als Psychotherapeutin zu arbeiten und in dieser Rolle verantwortungsvoll zu agieren. Als entlastend nahm ich hier wahr, dass ich für ein äußerst geringes Honorar – nach Abzug der Praxismiete sogar weitgehend gratis – arbeitete. So konnte ich einerseits die wertvollen Erfahrungen, die ich im Projekt machen durfte, als Entgelt für meine geleistete Arbeit betrachten und andererseits vertreten, dass mir die Berufserfahrungen als Psychotherapeutin noch fehlten. Sehr bald stellte ich fest, dass ich meine Vorstellungen von »tiefgehender« Psychotherapie korrigieren musste. Viele TIRAM-Klient_innen erzählten von schwerwiegenden sozialen, gesundheitlichen und finanziellen Problemen, sodass es sinnvoll und wichtig war, über ganz konkrete (Alltags-)Belastungen zu sprechen und deren Bewältigung zu fokussieren. Oft handelte es sich aber auch um Leiden und Sorgen, die nicht veränderbar waren, sondern erforderlich machten, einen zumindest weniger belastenden Umgang mit ihnen zu finden. So ist zum Beispiel nicht zu leugnen, dass ein Leben an der Armutsgrenze ohne konkrete, absehbare Veränderungsperspektiven einen Sachverhalt darstellt, der depressiv machen oder zu organischen Erkrankungen führen kann. Unabdingbar war für mich, darauf zu achten, dass mich die Fülle an Belastungen nicht selbst einschüchterte. Dies gelang mir unter anderem dadurch, dass ich großen Respekt vor den Coping-Strategien meiner Klient_innen entwickelte und sie in ihrer Selbstwirksamkeit bestärken konnte. Für meine Klient_innen bedeutete mein unbeirrbares Vorgehen, dass ihnen zumindest in der therapeutischen Begegnung ein würdevolles Selbsterleben gestattet wurde und sie sich ernstgenommen fühlten. Häufig sprachen TIRAM-Klient_innen eine einfache, vom Wiener Dialekt geprägte, deftige Sprache, die für mich durchaus gewöhnungsbedürftig war.

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Nach anfänglicher Verunsicherung lernte ich jedoch die Direktheit und die treffenden Beschreibungen des breiten Dialekts zu schätzen. Es war sehr hilfreich für mich, diesen »Sprachunterricht« als Erweiterung meines Horizonts zu begreifen und mich in der Sprache und Ausdrucksweise meiner Klient_innen allmählich orientieren und bewegen zu können. Auch in anderen Belangen konnte ich Aspekte des »Fremdseins« wahrnehmen. Es bedurfte keiner kulturellen Unterschiede, um zu bemerken, dass mir viele Gegebenheiten und Gesetzmäßigkeiten, von denen meine Klient_innen berichteten, zumindest bis dahin völlig unbekannt waren. Besonders nahe gingen mir die Lebensgeschichten von Kindern und Jugendlichen, denen ich in Einzel- und Familientherapien begegnete. Sie lösten in mir manchmal den intensiven und irrationalen Wunsch aus, Kinder in ein anderes, förderlicheres Umfeld verpflanzen zu können. Auch diesbezüglich hatte ich viel zu lernen. Denn trotz aller Ambivalenz und negativer Erlebnisse existierte zumeist eine enorme emotionale Gebundenheit und Zugehörigkeit in den jeweiligen Familien, die spürbar war und nicht zerstört werden durfte. Meine anfänglich überhöhte Erwartung, vor allem jungen Menschen in meiner neuen Rolle als Psychotherapeutin zu einem besseren Leben verhelfen zu können, wurde herb enttäuscht. Ich lernte im Laufe der Zeit und mit Unterstützung der Supervision zu verstehen, dass ich als Psychotherapeutin für Kinder, Jugendliche und deren Eltern als Geländer fungiere, das beim Überbrücken besonders gefährlicher Abgründe sicherheitshalber angebracht ist.

Coping-Strategien für die Therapeutin Ich hatte innerhalb des Projekts TIRAM mit Menschen zu tun, deren Lebensgeschichten von chronisch auftretenden Krisen und wiederkehrenden Katastrophen so durchsetzt waren, dass sie geradezu zum Alltag zu gehören schienen. Mit Selbstdisziplin, gestärkt durch die praxisbegleitende Supervision und kollegialen Intervisionsgespräche und immer entschlossener, die anstrengende Therapieausbildung möglichst bald abzuschließen, gelang es mir dann doch zumeist, zu einer neugierigen, forschenden Haltung zu gelangen. Ohne sie hätte ich die therapeutische Arbeit in diesem Projekt wohl nicht bewältigen können. Mit ihr jedoch und mit wachsender Erfahrung gelang es mir im Lauf der Zeit durchaus, kleinere und manchmal sogar größere therapeutische Erfolge – beispielsweise eine zunehmende Selbstachtung oder das Erstarken von Veränderungsimpulsen sowie tatsächlich umgesetzte Veränderungen – zu erzielen. Allerdings war eine hohe Frustrationstoleranz nötig hinsichtlich der oft chronisch gewordenen

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psychischen Leidenszustände und der daraus resultierenden Rückschläge und Therapieabbrüche. Gelegentlich überkam mich ein Gefühl großer Dankbarkeit und Erleichterung darüber, dass ich selbst in materiell, sozial und psychisch relativ stabilen und weitgehend gesicherten Verhältnissen lebte. Dabei stellten sich mir die unangenehmen Fragen, ob es nicht überheblich sei, aus meiner Position heraus zu speziellen Problematiken überhaupt etwas meinen zu wollen und inwieweit ich die Schicksale meiner Klient_innen sogar zur Selbstaufwertung heranzog. Auch war mir manchmal nicht eindeutig klar, ob meine Neugier Klient_innen im therapeutischen Prozess professionell unterstützt oder ob sie voyeuristisch motiviert war. Die Grenzen schienen mir fließend und im Einzelfall unterschiedlich zu bewerten zu sein. In jedem Fall hätte ich die Arbeit im Projekt TIRAM nicht ohne große Bereitschaft zur Selbstkritik und der nicht sehr schmeichelhaften Konfrontation mit den Erkenntnissen meiner Selbstreflexion bewältigen können. Mitunter fühlte ich mich innerlich nahezu abgestoßen, verspürte Ekel und Empörung darüber, dass Menschen in Österreich auf eine solch verarmte und an Wahlmöglichkeiten reduzierte Weise leben müssen. Hin und wieder lösten Klient_innen mit direkt ausgedrückten oder aber unterschwellig für mich spürbaren Aggressionen großes Unbehagen und sogar Angst aus, sodass ich froh darüber war, mich nicht mit ihnen allein in der Praxis zu wissen. Die Anwesenheit anderer Kolleg_innen, die nebenan arbeiteten, gab mir das Gefühl von Sicherheit. Ich konnte notfalls mit Unterstützung rechnen, wenn einmal eine Situation eskalieren sollte. Tatsächlich trat dieser Fall nie ein. Mit der Zeit wurde mir jedoch klar, dass ich Klient_innen, deren Geschichten und Persönlichkeiten auf mich derart bedrohlich wirkten, dass ich um meine Sicherheit zu fürchten begann, besser an andere Therapeut_innen überwies. Denn mir wurde bewusst, dass ich mich auch als Psychotherapeutin nicht jeder Art von Belastung aussetzen muss. Außerdem stellt eine große persönliche Verunsicherung ohnehin keine günstige Voraussetzung für den Therapieprozess dar. So stellte sich beispielsweise heraus, dass ich mit männlichen Gewalttätern, aber auch mit Menschen, die ausgeprägte Substanzabhängigkeiten zeigten, nicht unbefangen arbeiten konnte. Vor allem in den Einzeltherapien wurde mir bewusst, wie enorm wichtig und mitunter extrem schwierig die Arbeit an der therapeutischen Beziehung ist. Gelang es Klient_innen, ein gewisses Vertrauen in mich als Therapeutin und als Person zu fassen, schienen sich die Chancen auf eine kontinuierliche, gelingende Zusammenarbeit zu erhöhen. Das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, die Traumatisierungen, Enttäuschungen und Fehlschläge erleben

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mussten, erwies sich jedoch häufig als ein gefährdetes Unterfangen. Gerade dann, wenn es am dringendsten nötig erschien, dass sich – vielleicht erstmals im Leben – Vertrauen bilden konnte, kam es nicht selten zum Therapieabbruch. Die Chancen auf einen längerfristigen Therapieprozess schienen sich manchmal zu verbessern, wenn es ein unterstützendes und Struktur gebendes Umfeld – engagierte Betreuungspersonen, Sozialarbeiter_innen, Lebenspartner_innen oder sonstige Angehörige – gab, das der Psychotherapie positiv gegenüberstand oder sie sogar aktiv förderte. Es war daher oft hilfreich und mitunter sogar notwendig, diese Personen zumindest zeitweilig in den therapeutischen Prozess einzubinden.

Abschlüsse, Rückblicke und Perspektiven In den etwa zweieinhalb Jahren meiner Mitarbeit im Projekt TIRAM gelang es mir und meinen Kolleginnen des Gründerinnen-Teams tatsächlich, die für den Abschluss des systemischen Fachspezifikums erforderliche Anzahl von Psychotherapiestunden zu absolvieren und die Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Mit der Eintragung in die vom Gesundheitsministerium geführte Liste der in Österreich anerkannten Psychotherapeut_innen gegen Ende des Jahres 2006 beendete ich meine Arbeit im Projekt. Einige noch laufende Therapien führte ich bis zu ihrem Abschluss fort, andere übergab ich an neu im Projekt tätige Kolleg_innen. Das Projekt hat sich seither in mancherlei Hinsicht weiterentwickelt und verändert. Beispielsweise wurde es auch für Psychotherapeut_innen anderer fachspezifischer Richtungen geöffnet und um Projekt-Dependancen in einigen Bundesländern erweitert. In der Grundstruktur und den Intentionen ist sich TIRAM jedoch unverändert treu geblieben. Inzwischen ist das Projekt in vielen psychosozialen Einrichtungen bekannt und nahezu ein Markenbegriff für Psychotherapie zu Sozialtarifen für ökonomisch und sozial benachteiligte Menschen. Es entwickelten sich nach und nach auch andere, ähnliche Projekte in Wien, was ebenfalls für eine gelungene Etablierung, für den Bedarf und ein künftiges Weiterbestehen spricht. Seit meinem Ausstieg aus dem Projekt sind mittlerweile mehr als sieben Jahre vergangen. Ich bin nunmehr Ende vierzig und habe mich sowohl beruflich als auch persönlich verändert und weiterentwickelt. Ich konnte meine therapeutische Identität durch die Arbeit in freier Praxis und durch die wissenschaftliche Auseinandersetzung in Form eines Masterstudiums erproben, überprüfen und festigen.

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Ich durfte erfahren, wie sehr sich psychotherapeutische Arbeit mit ressourcenreichen, gut abgesicherten und gesellschaftlich etablierten Klient_innen von jener mit den von mir über TIRAM begleiteten Menschen unterscheiden kann. Im Vergleich erschien mir die therapeutische Arbeit mit der oft eloquenten und zahlungskräftigen Klientel anfangs sehr einfach und mehr im Bereich der Selbsterfahrung als dem einer Heilbehandlung angesiedelt. Allerdings hat sich auch diese Wahrnehmung mit der Zeit relativiert. Ich lernte zu erkennen, dass Menschen, die Psychotherapie in Anspruch nehmen, immer unter Belastungen leiden und es für niemanden förderlich ist, Problemthemen bewertend einzustufen. Aus heutiger Perspektive stehe ich dem Projekt TIRAM ambivalent gegenüber. Ich blicke mit großer Dankbarkeit auf die wertvollen therapeutischen Er­ fahrungen und Herausforderungen zurück. Fachlich profitiere ich heute noch von den damals notwendigen Reflexionen und der Auseinandersetzung mit extrem belastenden Situationen. Die Qualität der von uns Therapeut_innen geleisteten Arbeit erachte ich rückblickend als sehr hochwertig. Einerseits waren wir alle sehr motiviert, nach der langen theoretischen Ausbildungszeit endlich eigenständig psychotherapeutisch tätig zu werden, und brachten zudem aufgrund des Lebensalters ein beträchtliches Maß an Lebenserfahrung und beruflichen Vorkenntnissen mit. Andererseits ermöglichte uns die fehlende Routine vielleicht einen frischen und kreativeren Zugang, als dies nach langjähriger therapeutischer Berufserfahrung der Fall gewesen wäre. Die verpflichtende, begleitende Supervision trug gewiss nicht unbeträchtlich zur Qualitätssicherung der geleisteten Arbeit bei. Besonders erfreulich erscheint es mir, dass sich gerade bedürftigen und in mehrerlei Hinsicht benachteiligten Personen die Gelegenheit bot, von engagierten und noch unverbrauchten Psychotherapeut_innen begleitet und behandelt zu werden. Ich persönlich durfte durch die Arbeit mit TIRAM-Klient_innen eine enorme Erweiterung meines therapeutischen und menschlichen Horizonts erfahren, die ich nicht missen möchte. In anderer Hinsicht jedoch empfinde ich die Arbeit mit extrem belasteten Personen als eine nicht ungefährliche Gratwanderung, die ich mit Glück – und natürlich adäquater fachlicher und kollegialer Unterstützung – letztendlich gut überstanden habe und die zu einem erfolgreichen Abschluss meiner Ausbildung geführt hat. Es erscheint mir aus heutiger Sicht nahezu empörend, dass ein Gesundheitssystem derartige Versorgungslücken aufweist, dass Projekte wie dieses gegründet werden müssen, um bedürftigen Menschen psychotherapeutische Behandlung überhaupt zu ermöglichen. Gleichermaßen kritisch betrachte ich rückblickend auch, dass in diesen Projekten völlig unerfahrene Psychotherapeut_innen (in Ausbildung unter Supervision) mehr oder weniger

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gratis oder um minimale Honorare mit Klient_innen arbeiten, die sich in extrem schwierigen Lebenssituationen befinden – und dies, um ihre Ausbildung überhaupt fortsetzen bzw. abschließen zu können. Dies stellt neben der hauptberuflichen Erwerbstätigkeit eine enorme Anforderung dar, die an die Grenzen persönlicher Belastbarkeit gehen kann. Ich selbst erlebte nach Abschluss der Therapieausbildung wohl auch aus diesem Grund eine längere Phase psychischer Erschöpfung. Auch nahm ich erst nachträglich wahr, dass es eine Dissonanz für mich darstellte, qualifizierte psychotherapeutische Arbeit unter prekären (finanziellen) Bedingungen geleistet zu haben. Ich fühlte den Wert meiner Arbeit dadurch infrage gestellt und empfand die gemachten Erfahrungen als Honorar dann doch etwas zu gering. Obwohl mir – und hoffentlich auch meinen Klient_innen – die Arbeit im Projekt letztendlich wirklich gute Dienste geleistet hat, erscheint es mir aus heutiger Sicht wünschenswert, dass die Rahmenbedingungen therapeutischer Arbeit umso mehr gesichert sein sollten, je schwieriger und herausfordernder sie ist. Dazu wären grundlegende Veränderungen des Gesundheitssystems, aber wahrscheinlich auch gesellschaftspolitische Umdenkprozesse erforderlich. Prekäre Arbeitsbedingungen für Psychotherapeut_innen, die sich noch in Ausbildung befinden, könnten dann der Vergangenheit angehören. Hinweis www.iam.or.at TIRAM (Therapeut_innen-Initiative für Randgruppen und andere Menschen) eine Initiative des Instituts für angewandte Menschenkunde

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Zugang zu Menschen finden Eigenarten in den Blick bekommen

Dieses Buch ist den therapeutischen Möglichkeiten für Klient_innen in besonderen Lebenslagen gewidmet, eigenartigen und eingeschränkten, die nicht mit üblichen Maßstäben zu messen sind. Eigentlich gilt das ja grundsätzlich für alle Menschen – die jeweilige Situation ist bei jedem besonders, genauso wie die Bedürfnisse und Impulse, die geistige und soziale Welt, die spezifische Form des Selbstverhältnisses, das Fühlen, Sehnen, Wollen und das eigene Gute. Das scheinbar Ungewöhnliche bestimmter Verhaltensweisen und Situationen macht es nur bewusster, weil das Übliche da so gar nicht greift und begreifen lässt. In einer Psychotherapie, wie dieses Buch sie versteht, wird jedes Besondere in seiner jeweiligen Eigenart normal – und das heißt auch ihm entsprechend und damit besonders – behandelt. Aus meiner Sicht ist sie in unserem gesellschaftlichen Umfeld eine der letzten Residuen, wo dem einzelnen Wesen Raum gegeben wird, indem ein Mensch von einem anderen Menschen jenseits aller normativen Vorstellungen gefragt wird, was er wahrnimmt, empfindet, denkt, braucht und will bzw. nicht (mehr) will. In diesem Bereich ist es sozusagen normal, besonders zu sein. Ich erlaube mir deshalb zum Abschluss dieser Beschäftigung mit dem »Besonderen« in der Psychotherapie ein paar allgemeine Bemerkungen über den Zugang zu Menschen. Basis dafür ist meine eigene therapeutische Arbeit. Ich habe mit dem üblichen Klientel unter ganz normalen Rahmenbedingungen zu tun, werde trotzdem andauernd mit Ungewöhnlichem konfrontiert und lerne von den Menschen am meisten, die meinen Vorstellungen am wenigsten entsprechen. Da breche ich dann Regeln, lote die Grenzen gesetzlicher Vorgaben aus, überrasche mich selbst und spreche so manches vor meinen Kolleg_innen nicht aus. Die Klient_innen, die mir die größten Schwierigkeiten machen, behalte ich meist am längsten im Gedächtnis – wahrscheinlich, weil ich gesamtmenschlich mit ihnen konfrontiert war. Wenn ich in meiner psychotherapeutischen Arbeit auf den Begriff »Mensch« stoße, dann fallen manchmal Sätze wie: »Da werd’ ich wie ein Mensch behandelt«;

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»Da geht’s noch menschlich zu«; »Der ist halt ein Mensch«; »Da bin ich dann kein Mensch mehr«. Der Ausdruck »da menschelt’s« bringt es auf den Punkt: »sich menschlich zeigen, nicht besser sein als die Menschen gewöhnlich sind, menschliche Gebrechlichkeiten an sich haben und äußern, fehlerhaft handeln, nach Menschen riechen« (Grimm, 2011). Solche Beschreibungsformen wecken eine Fülle von Assoziationen und verweisen auf ein Verständnis, das mit dem unmittelbaren Erleben zu tun hat und mit Wünschen, mit Sehnsucht nach einem der jeweiligen Eigenart gemäßen Umgang, der oft schmerzlich vermisst wird. Da sitzt dann ein unglückliches Lebewesen vor mir und redet von seinen Empfindungen und Zuständen. Sein Gesicht, seine Haltung sprechen mit. Es erzählt von seinen Schwierigkeiten, Bedürfnissen und von all dem, was ihm sonst noch wichtig ist. Es will von etwas weg und zu etwas hin. Es versteht sein Leben und sich selbst nicht mehr. Und in seinem Kopf gibt es jede Menge Ideen darüber, wie Menschen sind und sein sollen. Diese Bilder und Vorstellungen verstellen manchmal auch den Zugang zu sich selbst und zu den anderen. Sie machen die Situationen komplizierter und hindern an eigenständigen Gedanken und Bewegungen. Sie fordern ein Reden und Tun, das den eigenen Lebensimpulsen und Bedürfnissen nicht entspricht, und verfremden den Menschen sich selbst. Er gerät in Bewusstseinszustände und Lebenszugänge hinein, die ihn geduckt, misstrauisch, strategisch, gewaltsam, ängstlich agieren lassen und ihm den Kontakt zu anderen erschweren. Menschen sind beeinflusst von ihrer geistigen und sozialen Welt – ihre eigene Psyche und ihr soziales Umfeld umgeben sie mit Vorstellungen, sozialen Regeln und sprachlichen Zuschreibungen, die ihr Verhalten beobachten, interpretieren und kommentieren. Die geistige und soziale Welt eines Menschen besteht aus Gedanken, sozialen Diskursen und Handlungen. Sie erzeugt einen Verstehens- und Bewertungsrahmen für Urteile und erhält sich selbst aufrecht. Auch Verhaltensmuster werden ritualisiert und tradiert. Sie produzieren Vorhersagbarkeit und Vertrautheit, reduzieren Komplexität und beschränken die mentalen und sozialen Möglichkeiten, indem sie sich an den immer gleichen Strukturen, Abläufen, Erwartungen, Ideen, Sprachspielen orientieren. Das vertraute Eigene wird erhalten, das als fremd Erlebte im eigenen Dienst verdaut, abgekapselt, angegriffen, ausgeschieden. Im Ge-wohnt-en ist man daheim, Fremdes ist gewöhnungsbedürftig. Die im Gedächtnis eingefrorenen Eindrücke lassen das Erleben von damals wieder auferstehen – bestimmte Auslöser rufen die immer wieder gleichen Reaktionen hervor. Zurückweisungen und Verletzungen erinnern erneut an Situationen, in denen man als Kind verzweifelt war, traurig, wütend oder einsam. Der betroffene Mensch ist davon immer noch

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geprägt, handelt reflexartig, zuweilen äußerst unvernünftig, und bringt damit sich und andere in Gefahr. Die geistige Welt reagiert auf diese Vorstellungen, Mythen und Strafandrohungen im sozialen Umfeld und kommt ihnen entgegen. Das Gehirn produziert kritische Beobachterstimmen, die alles Mögliche bzw. Unmögliche abverlangen, unmittelbare, spontane Lebensäußerungen gar nicht erst aufkommen lassen und dabei helfen, sich an Normen und zwingende bzw. urteilende Mächte anzupassen. Sie legen nahe, sich unterwürfig zu verhalten, sich loben und strafen, begünstigen, entwerten und ablenken zu lassen und andere Menschen misstrauisch zu beäugen. All das bestärkt darin, sich fürchten zu müssen. Wenn die üblichen gedanklichen Verarbeitungsformen und Handlungsmuster, die auf den gewohnten Vorstellungen beruhen, nicht mehr funktionieren, werden Selbstbild und Befindlichkeit immer schlechter, die erlebte Ohnmacht immer größer – der Mensch wird von der Welt überrollt und leidet an Körper und Seele. Dann gewinnen Gedanken Raum, die dabei helfen, nichts mehr vom Leben zu erwarten und sich ganz allein in der Welt zu fühlen. Andere Menschen, die trösten und gut zureden wollen, werden zurückgewiesen. Das anscheinend heillose Unglück produziert Angst, Wut und Vereinsamung. Diese Entwicklung kann in völliger Lähmung oder im Suizid enden, aber auch dazu führen, dass man sich ein weniger »liebes« und handzahmes Verhalten zugesteht, was zumindest andere Reaktionsmöglichkeiten eröffnet und dazu führt, sich nichts mehr vormachen zu lassen. Man sieht sich, wie man etwas tut bzw. was die Situation mit einem tut, und irgendetwas missfällt einem. Man will etwas anders haben oder sich selbst anders haben – und genau das eröffnet einen kleinen Freiraum. Es ist in jeder Lebenslage möglich, Unterschiedliches zu denken und zu sprechen. Es ist möglich, ein wenig anders mit sich selbst und anderen umzugehen. Es ist möglich, sich mit manchen Impulsen, Eindrücken und Gedanken zu identifizieren und mit anderen nicht. Sich selbst zu behüten, führt jedenfalls zum Erleben von Beheimatung und Zugehörigkeit zu sich und zu manchen anderen. Dabei ist es sinnvoll, herauszufinden, welche Impulse, Gedanken, Blicke, welcher Weltund Menschenzugang und welches Gerede in der jeweiligen Situation schaden – und diese aus dem Ich-Bereich auszuschließen bzw. auf Distanz zu halten. Außerdem ist es gut, zu erspüren, welche inneren und äußeren Diskurse vertrauenswürdig sind, womit man sich identifizieren und welchen der Gedanken man dabei den Ehrentitel »ich« geben (sprich, als sich selbst zugehörig erkennen und mit »Ich-Energie« füttern) will. Ein solches frei gewähltes und gestaltetes »Ich« wird zum behütenden geistigen Lebensraum und auch zum Entfaltungsraum für das »innere Kind« (also die jungen Persönlichkeitsanteile), das darin

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gesunden, sich im positiven Sinn als besonders erleben – und deshalb auch entspannen kann. Für Menschen mit besonderen Eigenheiten und Lebenslagen ist eine in diesem Sinn förderliche soziale und geistige Umgebung leider keine Selbstverständlichkeit. Sie sind mit einengenden und schädigenden Interpretationen und Bewertungen konfrontiert, etwa mit unrealistischen Selbstbildern, Beziehungsbildern, Leistungs- und Normalitätsvorstellungen, unerfüllbaren Hoffnungen bzw. unerreichbaren Zielen, die ihnen nahelegen, in Zukunft weniger aufzufallen oder lästig zu sein. Sie sollen die zugewiesenen Rollen und Aufgaben erfüllen und den Erwartungen mächtiger Personengruppen entsprechen. Sorge- und Hoffnungsgeschichten (Mythen) lassen die Anpassung an die Normen schmackhaft und die Abweichung von ihnen bedrohlich erscheinen. Werden die Vorgaben nicht erfüllt, so drohen Sanktionen, die beispielsweise darin bestehen, dass Anerkennung, Sicherheit und Geld – und manchmal auch ein PsychotherapiePlatz – entzogen wird. Wenn man sich nicht gut benimmt, darf man halt nicht mehr überall mitmachen und mitreden. Sparzwänge und Standardisierungstrends bedingen, dass die Rahmenbedingungen, unter denen Klient_innen psychosoziale Ressourcen in Anspruch nehmen können, immer enger werden. Verhalten sie sich nicht gemäß der Vorgaben, geraten sie in ein kraftraubendes Wechselspiel aus mehr oder minder freundlich gemeinter Zudringlichkeit und drohender Ausstoßung hinein. Und sie reagieren entsprechend – lassen sich nicht helfen, verweigern Integrationsversuche, verhalten sich unkooperativ, undankbar, versacken in Depression, lenken sich mit Süchten und selbstschädigendem Verhalten ab und vieles mehr. Viele haben außerdem keine gute Beziehung zu sich selbst und tun sich oft mehr Leid an als anderen, wenn sie sich für die misslichen Lagen prügeln und quälen, in die sie geraten sind. Manche verweigern das Ducken und sind deshalb natürlich schuld an ihrer ausweglosen Lage (Motto: Wenn du von uns etwas haben willst, musst du dich halt so geben, wie wir uns das vorstellen). Kein Wunder, wenn sie dann kein freundliches Gesicht dazu machen. Allerdings ist es gerade in schmerzlichen, bedrückenden und beängstigenden Lebenslagen mühsam, herauszufinden, was man – unabhängig von allem, was da so mitredet – für sich selbst als »gut« empfindet. In der Psychotherapie ist es aus meiner Sicht grundsätzlich schwierig, einem unglücklichen Menschen zu helfen. Gibt man ihm Ratschläge, konstituiert man gleichzeitig eine soziale Norm, der er folgen könnte – und fordert damit zur Unterwerfung unter diese Norm auf, also zu einer Fremdbestimmung, in der er sich wieder abhängig und unterdrückt erlebt. Man kann ihm eine Art strategisches Bemühen um die Verbesserung seiner Befindlichkeit nahelegen (nach dem Motto »du schaffst es«), das aber

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angesichts des erlebten Unglücks nur ein »so tun als ob« sein könnte. Der Widerstand gegen die Ideen, die ein angeblich gutes Lebens versprechen, ist heute angesichts verbreiteter »Machbarkeitsideologien« problematisch geworden, weil man dann ja seine angeblichen Ressourcen nicht nutzt und den Verdacht weckt, das Unglück mittels des eigenen, widerborstig elenden Unwillens geradezu heraufzubeschwören. Wenn es einem unglücklichen Menschen nicht möglich ist, sein Leben so zu führen, dass es für ihn bzw. für andere passt, und ihm ständig etwas nicht so gerät, wie er selbst oder andere wollen, ist er unzufrieden mit seiner Welt. Ihm beweisen zu wollen, dass seine Welt gar nicht so ungenügend sei, wie er meint, führt bloß dazu, dass er schließlich auf sich selbst böse wird und sich als defizitär und reparaturbedürftig sieht. Man unterstellt ihm, dass er anders könnte, als er tut und will, und möchte, dass er einer der vom Zeitgeist transportierten Geschichten Glauben schenkt – jener, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Wenn es Psychotherapeut_innen gelingt, ihr eigenes strategisches oder auch methodisches Denken und Handeln zu hinterfragen, wird es vielleicht möglich, die Lage eines anderen leibhaftig zu erfassen, bei ihm auszuharren und ihm mit den eigenen Vorstellungen zumindest nicht mehr zu schaden.

Die Metapher des »Viechs« Beim Verstehen von Menschen in schwierigen Lebenslagen ist es wichtig, jene oft schwer begreifbaren Impulse und physiologischen Zustände zu begreifen, die sich gegen das angeblich Vernünftige sträuben, Motivation rauben und zu diversen, am sozialen Kontext und am eigenen Lebenskonzept gemessenen Störungen, Verrücktheiten und scheinbaren Abartigkeiten führen. Dabei steht paradoxerweise oft gerade dasjenige im Weg, was den Menschen als bewusstes und reflexionsfähiges Wesen gegenüber allen anderen auszeichnet: die Fähigkeit zum begrifflichen Denken, zum Abwägen von Gedanken, zum Begreifen von Welt. Menschen gehen sich sozusagen in ihrer geistigen Umwelt selbst verloren. Sie wissen dann, wie andere ihr Verhalten beurteilen (und übernehmen damit auch zuschreibende, abwertende Gedanken darüber), sie wissen, was andere empfehlen (Verwandte, Freunde, Bekannte, Lebenshilfebücher, Ideologien, Glaubensvorstellungen …), sie wissen oft sogar, was man »richtigerweise« in einer solchen Situation tun soll. Dieser letzte Punkt wird sehr oft im Konjunktiv präsentiert: ich sollte … Dieser Konjunktiv verweist auf einen Bruch, denn der Satz muss geradezu mit einem »aber« fortgesetzt werden, also mit einem Einwand. Diesem Einwand nachzugehen lohnt sich, denn er kommt nicht von einem reflektierten Verstand, der »wüsste, was zu tun wäre«, sondern reflektiert das

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unmittelbare, authentische Empfinden eines Organismus. Ausgehend von meiner humanethologischen Vergangenheit (ich habe in den 1980er Jahren ein Studium irregulare aus Zoologie, Psychologie, Völkerkunde, Neuro- und Sinnesphysiologie absolviert) habe ich in den letzten Jahren gemeinsam mit dem Philosophen Franz Reithmayr am Institut für Angewandte Menschenkunde (www.iam.or.at) ein Konzept entwickelt, das sich vor allem um einen Zugang zu diesem Erleben bemüht. Eine Möglichkeit, sich und andere als biologische Lebewesen zu akzeptieren und gleichzeitig den geistigen und sozialen Einflüssen, denen sie ausgesetzt sind, gerecht zu werden, besteht darin, das Animalische als Persönlichkeitsanteil zu externalisieren – im systemischen Sinn: als mitredenden Faktor einzuführen. Wir verwenden in diesem Zusammenhang den vielleicht derb klingenden, aber sehr liebevoll gemeinten Begriff »Viech« für all das am Menschen, das unverständlich bleibt, wenn man ihn nur auf der Basis seiner eigenen Selbstdefinition als vernunftbegabte und sprechende Person betrachtet. Im Unterschied zu den gängigen Metaphern »Bauch«, »Körper« oder »Hirn« ist damit ein vollständiges Lebewesen gemeint, das man mögen und kennenlernen kann – eine eigenständige Lebensform, die keiner gesellschaftlichen Norm unterliegt. Der Begriff »Tier« wirkt sprachlich neutral, »Viech« vermittelt demgegenüber einen persönlicheren Zugang. »Viecher« können faszinieren, nerven, anekeln, bedrohen und vieles mehr. Man kann sie beobachten, essen, mögen, zähmen, nutzen, prügeln, pflegen und Beziehung zu ihnen gewinnen. Die Metapher des »Viechs« hilft dabei, sich selbst und andere auf eine einfache und praktische Weise zu begreifen. Davon ausgehend wird leichter begreifbar, wonach Menschen ist, wo sie hinstreben und weg wollen, was sie nötig haben, weshalb sie sich in manchen Umgebungen nicht wohl fühlen und gestresst, aggressiv oder abweisend reagieren. Zur Erläuterung dieses Zugangs werden hier exemplarisch einige Perspektiven beschrieben, die in der therapeutischen Beziehung relevant sein können, wenn es zum Beispiel um Themen wie Selbstbestimmung, Selbstliebe, Beheimatung, Eigenraum, Würde und Akzeptanz geht. Die Hinweise sollen dabei helfen, Menschen in ihren Bedürfnissen zu verstehen und sie auch als animalische Wesen in den Blick zu bekommen.

Ausdruck Wegen der bewussten Formbarkeit ihrer Verhaltensweisen haben Menschen eine große Fähigkeit, zu lügen und zu verbergen. Sie können willentlich bestimmen,

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welche Körperhaltung sie einnehmen, welches Gesicht sie »aufsetzen«, wie sie sprechen und wirken wollen. In manchen sozialen Zusammenhängen wird nur gelächelt, in anderen nur grimmig oder traurig geblickt. Manchmal maskiert man sich auch und produziert nach außen einen gesellschaftlich angepassten, neutralen Ausdruck, der dazu dient, sich dahinter mit seinen Emotionen, Zuständen und Impulsen zu verbergen. In der Psychotherapie verhalten sich dann freundlich blickende Klient_innen bloß angepasst und wollen etwas ganz anderes als sie behaupten, während finster aussehenden eigentlich nach sozialem Kontakt ist, obwohl sie so wirken, als sollte man sie in Ruhe lassen. Therapeut_ innen und Klient_innen tun oft nur so, als ob sie akzeptierend, wohlwollend und lernbereit wären – oder unberührt, überlegen bzw. zurückweisend. Diese Fähigkeit führt zu einer Menge Verwirrung und Missverständnissen. Kopfschüttelnde Klient_innen, die die Augenbauen zusammenziehen und die Stirn runzeln, zu Boden sehen, die Lippen zusammenkneifen, sich mürrisch abwenden, lassen das, worum es ihnen eigentlich geht, oft besser verstehen als ihre Worte vermitteln könnten. Der unmittelbare Impuls, der nonverbale Ausdruck, der unartikulierte Laut, das hervorbrechende Lachen, Schreien, Stöhnen, Weinen, die gegenwärtige Bedürfnislage sagen manchmal mehr über das aus, was ein Mensch will, als all jenes, was er gedacht, mit anderen besprochen und erinnert hat. Zuweilen ist der Inhalt des Gesagten weniger relevant als der verwendete Tonfall. Therapeut_innen können kurz die Augen schließen und den Stimmen der Klient_innen lauschen. Wenn sie die Laute der menschlichen »Viecher«, die sich hinter den Worten und Sätzen verstecken, wahrnehmen, dann fällt es ihnen leichter, sich mittels ihrer Stimmlage auch an ängstliche und unwillige Klient_innen heranzuschnuppern und sie zu entspannter sozialer Nähe zu verführen. Sprechen kann allerdings auch Unruhe und Spannung produzieren, etwa wenn Angst, Wut, Sehnsucht und Empörung artikuliert werden. Die anderen reagieren entsprechend gestresst darauf, verwehren sich dagegen, wischen die Unmutsäußerungen vom Tisch oder nehmen sie auf und machen das Problem zu ihrem eigenen. Manche (auch professionellen) Bezugspersonen, denen man sein Unglück klagt, sind empörter als man selbst, fordern Entscheidungen, machen ein schlechtes Gewissen und reden von Defiziten und Mängeln, wenn man sie nicht gleich trifft. Andere beginnen selbst zu leiden und einem aufgrund dessen Vorwürfe zu machen, was zusätzlich schwächt und ohnmächtig werden lässt. Innere und äußere Stimmen, kulturelle Vorgaben, Sprachspiele und Umgangsformen regeln, was als höflich, freundlich, angemessen, beschämend usw. gelten soll. Erzählungen wirken wie Filme auf das menschliche Lebewesen: Manche regen auf, machen Angst, andere beruhigen. Die ständig wechselnden Zustände und Stimmungen lassen sich damit konservieren und jederzeit wieder

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von neuem hervorrufen. Schließlich zappelt der Mensch, der sich durch das Reden beruhigen und verstanden fühlen wollte, mehr als zuvor. Er ist durch das bestimmt, was er gesagt und gehört hat, und muss in der Folge neben dem Rucksack seiner eigenen, unklaren Gedanken über sich und seine Welt auch die Aussagen der anderen und seine eigenen, im Gespräch getroffenen sprachlichen Festlegungen mitschleppen, die ihn womöglich verpflichten und schwer bzw. unbeweglich werden lassen. Personen in besonderen Lebenslagen haben es besonders schwer, sich von diesen bedrängenden Einflüssen abzugrenzen. Sie sind häufig den interpretierenden, urteilenden Blicken und unbewussten, nonverbalen Abwehrreaktionen der anderen ausgesetzt. Man starrt sie an und schaut abschätzig, rümpft die Nase, schüttelt den Kopf über sie, lacht sie aus. Schädliche Blicke, Diskurse und Perspektiven wiederum erleben manche Klient_innen als »bösen Blick« – das ist ein Begriff für einen sogenannten Schadenzauber, einen Volksglauben, wonach allein durch Blickkontakt Tod oder Unheil ausgelöst werden können. Konfrontiert mit einem »bösen Blick«, nehmen sie ihn vorauseilend selbst ein, um sich zu schützen, und blicken ihre gutmeinenden therapeutischen Gegenüber dann grimmig oder überheblich an. Es ist wichtig, sich davon nicht abschrecken zu lassen.

Identität Menschliche Identität konstituiert sich über ständige Unterscheidungen zwischen »innen« und »außen«. Hier kommt der ethologische Begriff der Individualdistanz ins Spiel: diese erweitert die eigenen Außengrenzen um den Raum, den ein Lebewesen rund um die eigene Haut herum beansprucht. Überschreitungen der Individualdistanz sind potenzielle Identitätsverletzungen und werden kränkend und übergriffig erlebt. Gerade marginalisierte Menschen sind häufig einer Unterschreitung der Individualdistanz ausgesetzt, welche die Gesellschaft sanktioniert. Staatliche Einrichtungen, deren Aufgabe es ist, zu integrieren, zu sozialisieren oder zu normalisieren, neigen zu Eindringlichkeit – etwa durch die Obszönität von Fragen und durch andere Kontroll- bzw. Disziplinierungsmaßnahmen. Ein Überwachungsstaat, aber auch eine alles aufzeichnende, kategorisierende und bewertende Bürokratie überschreiten mit ihrem Beobachterblick und Dokumentationswahn Intimzonen und rufen damit die entsprechenden Reaktionen hervor (depressiven Rückzug, passive Resistenz, Aggressivität, Verweigerung). Dabei können auch Probleme mit dem Ich entstehen, zum Beispiel, wenn Körperempfindungen nicht ausreichend klar wahr-

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genommen werden oder der Bezug zu diesem Körper aus anderen Gründen uneindeutig wird (man fühlt sich nicht wohl in seiner Haut, ist bei sich nicht zuhause). Üblicherweise treten Ich-Diffusitäten und Ich-Unklarheiten unterschiedlichster Art auf, sobald die umgebende Welt ihre Eindeutigkeit bzw. Handhabbarkeit verliert. Es ist nicht ganz klar, was innen und außen, was fremd und vertraut, was freundlich und feindlich ist. Das Ich beginnt dann, an sich selbst und seiner Welt zu zweifeln. Das bedeutet, dass Probleme mit dem Ich immer auch auf Probleme mit der Welt hinweisen. Der ich-konstituierende Prozess, der es im Normalfall trotz aller inneren Unklarheiten schafft, sich einer ebenso unklaren Welt gegenüberzustellen und sie zu gestalten, wird gestört. Die mit Überschreitungen der Individualdistanz einhergehenden Abwehrbewegungen können unter geeigneten sozialen Rahmenbedingungen auch zu einer stärkeren Selbstkonstitution als eigenständiges Individuum führen, so wie es unter anderem in der Trotzphase, der Pubertät und Adoleszenz zwischen Eltern und ihren heranwachsenden Kindern geschieht. »Ich« entsteht sukzessive im Wechselspiel aus Abstoßung und Annäherung, konfrontiert sich mit dem Fremden und benutzt es als Antigen für die Stärkung der eigenen Immunität. Es scheint wichtig, dass Menschen in der Psychotherapie Raum finden, um sich reiben und abgrenzen zu können und dass gleichzeitig ein guter Kontakt aufrechterhalten wird. Wenn man ihm zu nahe tritt, will das »Viech« (von Klient_innen wie Therapeut_innen) meist etwas sehr Direktes und Unmittelbares tun: fauchen und die Zähne fletschen, knurren und beißen. Der betroffene Mensch gesteht sich solche klaren Signale aber oft nicht zu, weil diverse Rollen, Diskurse und Vorgaben andere Vorstellungen vertreten – etwa dass man alles methodisch begründen, wohlwollend und wertschätzend sein, eine bestimmte Umgangsform oder sein Gesicht wahren müsse. Er fürchtet – oft zu Recht – Sanktionen, wenn er andere unverblümt in ihre Schranken weist. Klient_innen, die aufgrund ihrer Lebenslage sowieso schon dauernden Grenzüberschreitungen ausgesetzt sind, brauchen besonders viel Verständnis für den Respektsabstand, den ihr »Viech« rund um seine Haut nötig hat, und für die zuweilen sehr unwilligen Ausdrucksweisen, mit denen es das zeigt. Den Klient_innen ausreichend vom Leib zu bleiben, hat viel mit der Wahrung ihrer Würde zu tun. Der Abstand, der sie umhüllt, schont sie, lässt sie »schön« sein und erhält sie in ihrem So-Sein am Leben. Genauso wichtig ist es, als Therapeut_in auf seine Grenzen zu achten und sie im Sinne der eigenen Arbeitsfähigkeit selbst zu bestimmen.

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Raum Die Herrschafts- und Gestaltungsmacht über die eigene Haut und über den Raum um sie herum – der eigene Bereich, das Heim erster Ordnung, in dem man zu Hause ist und sich ganz sicher fühlt – wird als Besitz erlebt und markiert. Der Begriff macht deutlich, was damit gemeint ist – man besetzt etwas, setzt sich darauf, bezeichnet es als Eigentum, um Macht darüber zu haben und sich vor seinem Verlust zu schützen. Menschen bezeichnen ihren »Besitz« mittels unterschiedlicher Signale (Zäune, Türen, Schlösser, Schilder, Labels, Logos), aber auch dadurch, dass sie sich deutlich sichtbar und hörbar in seiner Nähe aufhalten, die eigene Macht darüber demonstrieren, ihn mit Gegenständen (Zigarettenschachteln, Gläsern, Spielzeug, Kleidungsstücken, Imagesymbolen) kennzeichnen, ihn sozusagen mit ihrem »Geruch« überziehen. Die Größe von Territorien hängt von der jeweiligen Position in der sozialen Gruppe ab. Bankhäuser, Villen, Hotellobbies, Chefzimmer bieten dem jeweiligen »Viech« mit ihrem Raum und dem entsprechend großzügigen Mobiliar darin ein ganz anderes Ambiente als Räume von Arbeitern, Kinderzimmer im Sozialbau, Schulklassen, Krankenhäuser, Gefängnisse, Alters-, Obdachlosen-, Behindertenund Asylheime. In Wohnungen gibt es meist Bereiche mit gestufter Privatheit – Zonen, in die Fremde hineindürfen, solche, die für Besucher vorgesehen sind, sowie persönliche Residuen (Schlafzimmer, Inhalte von Kästen, Laden, Handys, Tagebüchern, Handtaschen und Rucksäcken), zu denen nur die jeweiligen Besitzer Zugang finden. Gruppen markieren Territorien auch dadurch, dass sie sich nach außen besonders laut und auffällig geben. Außerdem steht menschliches Territorialverhalten natürlich auch in Zusammenhang mit größeren Konflikten, Kriegen etwa. Grundsätzlich geht es dabei immer um den Gewinn von Einflussmacht in bestimmten, bevorzugten Bereichen (Regionen, Ressourcen). Über all diese Bereiche hinaus konstituieren Menschen aber auch in nicht-materiellen, beispielsweise geistigen Bereichen Territorien (Einflussbereiche, Spezialgebiete, Patente, Copyright, besondere Freundschaften und Beziehungen usw.) und versehen diese mit Schildern (Namen für das »Eigene«). Ähnlich wie bei der Individualdistanz zeigen sich die Grenzen dieser Bereiche oft erst dann, wenn man sie überschreitet. Heranwachsende und marginalisierte Menschen, die nach Raum für ihr besonderes Leben verlangen, werden – solange sie es noch können – ihre Verantwortungs-, Besitz- und Bestimmungsbereiche sukzessive zu erweitern suchen. Die damit einhergehenden Reibereien mit anderen dienen der Klärung und gegenseitigen Orientierung. Verletzung der Grenzen des Intimbereichs kann auch verbal geschehen, durch Vorwürfe, Entwertungen, Einmischungen, Kritik, sogar durch unan-

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gebrachtes Lob. Auch professionelle Helfer_innen tun das zuweilen – vor allem, wenn es sich um sehr junge, sehr alte, eingeschränkte, abhängige, sozial am gesellschaftlichen Rand stehende oder »andersartige« Personen handelt. Sie mischen sich in Bereiche ein, die sie nichts angehen, und beschäftigen sich mit privaten Besitztümern wie Wohnung, Kleidung, Haut, Essen, Trinken, Geld, Geschlechtsorientierung, Liebesleben und vielem mehr. Hier schätze ich immer wieder den eher zurückhaltenden Zugang der systemischen Psychotherapie – wir akzeptieren die Eigenbewegungen, die menschliche Wesen in ihren Lebensräumen vollziehen, folgen ihnen interessiert, bleiben aber immer darauf bedacht, die Selbstbestimmung der Klient_innen über ihre Welt zu wahren und ihnen möglichst wenige zusätzliche Störungen und Übergriffe zu bereiten. Wir können gemeinsam mit den Klient_innen herausfinden, wo es gut ist, etwas zu haben und es sich zu erhalten – und wo nicht – und ihnen dabei helfen, sich Rückzugsräume, sichere Orte, ein eigenes Territorium zumindest im eigenen Inneren zu schaffen.

Imponieren und Beschwichtigen Imponieren und Beschwichtigen sind zwei einander ergänzende Seiten sozialer Kooperation unter der Ausgangsvoraussetzung unterschiedlicher Stärke und Bestimmungsmacht. Sie sind Signale, die nur wirken können, wenn derjenige, an den sie gerichtet sind, sie auch versteht. Sie fordern zu etwas auf, legen etwas nahe (zum Beispiel, sich zu unterwerfen, den Angriff bleiben zu lassen, es noch einmal zu versuchen) – aber sie erzwingen es nicht. Ein ausreichend motiviertes, wenn auch schwächeres Lebewesen kann, etwa im Zuge der Verteidigung seines Status, Eigenbereichs oder Reviers, weiter imponieren und damit unter Umständen bewirken, dass die Auseinandersetzung dem stärkeren zu anstrengend oder zu mühsam wird und es deshalb davon ablässt oder sich entfernt – worauf etwa einem rebellischen Jugendlichen oder einem auf seine Ehre bedachten Arbeitslosen dann auch die damit verbundenen Ressourcen entgehen. Ein stärkeres Lebewesen kann das Imponieren eines schwächeren als Spielaufforderung begreifen und mit ihm herumtollen. Der therapeutische Kontext fördert, dass Menschen, deren man sich auf unterschiedliche Weise bemächtigt hat, sich Gestaltungmöglichkeiten über sich und ihr Leben eröffnen. Deshalb ist es gut, wenn er auch für das »Viech« der Klient_innen Spielraum schafft, das im Zuge seiner Bemächtigungsversuche immer wieder auch mit den Therapeut_innen raufen, sich vor ihnen präsentieren und aufblähen bzw. auch klein machen will.

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Schwierige Lebenslagen bringen beide Verhaltensweisen mit sich – man duckt im Dienst des Überlebens nach oben und versucht dort, wo es möglich ist, sich ein wenig Beachtung und Mächtigkeit zu verschaffen – zumindest indem man andere Wesen (Tauben, Hunde, Kinder und hilfsbedürftige Menschen) füttern und pflegen möchte.

Macht und Ohnmacht Von ranghohen Individuen wird unter anderem Lebenserfahrung, Klugheit, Kenntnis und Großzügigkeit erwartet – sie haben Ressourcen, die sie anderen zur Verfügung stellen könnten. Ein menschliches »Viech«, das von professioneller Seite etwas nötig hat, wünscht sich ein starkes Gegenüber, um sich daran anlehnen, sich darauf verlassen zu können und etwas zu bekommen (Futter, Aufmerksamkeit, Wohnraum, Arbeit, freundliche Zuwendung, Infor­ mation, Orientierung usw.). Doch statt diese wohltuende Stärke genießen zu können, wird es oft mit Herrschsucht und Gewalttätigkeit konfrontiert, mit Vorwürfen, Entwertungen, Zielvorgaben, angeblich gut gemeinten Übergriffen, Reparaturversuchen und Integrationsbemühungen zur Unterwerfung gedrängt und – wenn es sich nicht anpasst – im Stich gelassen. Es hat das Verlangen, eine kompetente und präsente Person in ihrer unterstützenden Sicherheit zu genießen – und muss plötzlich zusehen, wie es in ganz anderen Zusammenhängen seine Selbstgestaltungsmöglichkeiten einbüßt – oder wahlweise gar nichts bekommt. Die schwierigste Position in einer sozialen Konstellation haben die Omega-Individuen, weil sie als Letzte in der Rangordnung die potenziellen Sündenböcke darstellen. Marginalisierte Menschen sind oft davon betroffen – Konflikte, die man nicht brauchen kann, werden über sie um- und abgeleitet. Sie werden diagnostiziert, klassifiziert, beurteilt, isoliert, gequält und ausgestoßen und sind zuweilen (noch) gar nicht fähig, zu kooperieren. Auch psychotherapeutische Rahmenbedingungen bieten ihnen oft keinen Raum – sie sind verrückt, schreien herum, haben keine Kontrolle über sich, stinken, halten ihre Termine nicht ein, bleiben das Honorar schuldig, können keine Ziele formulieren, geben vieles nicht preis. Manche sind einfach bloß »anders« oder schwer verstehbar und widersprechen der Moral oder den kulturellen Vorstellungen darüber, wie es angeblich richtig wäre. Professionellen Helfer_innen wird im psychosozialen Kontext, vor allem in Institutionen, im allgemeinen eine ranghöhere Position zugesprochen als ihren Klient_innen (gleichgültig, wo sie sonst im Leben stehen). Sie haben zumeist einen Titel, eine gute Ausbildung, einen Job, Geld. Sie bestimmen die Rahmen-

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bedingungen, ihnen gehören Räume, Mobiliar und Gruppenregeln – sie haben Macht über Terminvergabe und Zeit. Manche Klient_innen, die etwas von ihnen wollen, verhalten sich deshalb höflich und beschwichtigend – andere tun das Gegenteil und versuchen, die Situation zu dominieren und die Regeln zu bestimmen, was ihnen entweder nicht gelingt oder dazu führt, dass man sie hinauswirft. Nur selten behaupten sie sich in ihrer Bedürfnislage, wenn diese nicht den Vorgaben entspricht. Helfendes Verhalten birgt grundsätzlich eine hochbrisante Spannung: Unterstützungsleistungen konstituieren den Eindruck einer Machtdifferenz (der eine hat und der andere braucht etwas) und können auch mit unterdrücktem Ärger und einer bloß scheinbaren Freundlichkeit einhergehen, die letztlich keinem der Beteiligten guttut. Die Zuschreibung »du kannst mir helfen« bestärkt den Eindruck eigener Schwäche und verführt dazu, sich selbst so zu bewerten (vgl. Hell, 1993). Manche Hilfeempfänger_innen entwerten dann stattdessen die anderen – auch die professionellen Helfer_innen selbst und alle übrigen, die sich dafür eignen. Tiere haben grundsätzlich kein Problem, rangniedere oder ranghohe Positionen einzunehmen – sie hadern nicht damit. Nur Menschen können ihre aktuelle soziale Position an Vorstellungen darüber messen, wie sie es gern hätten und wie es eigentlich – vor dem Hintergrund von »Ehre«, »Image«, »Rolle«, »Familienmythos«, »Lebensziel« usw. – sein sollte. Vor diesem Hintergrund werden dann bestimmte soziale Positionen, die sich in besonderen Lebenszusammenhängen ergeben, als erniedrigend und andere als wertvoll betrachtet, manche werden mit Schuld- und Schamzuschreibungen verknüpft und andere als überlegen aufgewertet. Die einen geben sich ständig groß und mächtig, obwohl sie sich gar nicht so empfinden. Die anderen müssen sich klein machen, obwohl ihnen nach ganz anderem wäre. Beide tun so als ob. In der Psychotherapie können Klient_innen ihr »Viech« von Ansprüchen und Bestrebungen befreien, denen es nicht gewachsen ist. Sie können es bei Auseinandersetzungen anfeuern, die seinen Möglichkeiten, seinem Wollen entsprechen. Sie können es in seiner Selbstbestimmung unterstützen. Ziel dieses Ringens ist es, Lebensressourcen zu gewinnen und in seinem Eigensein akzeptiert zu werden. Es geht darum, eine Balance zu finden zwischen der Stärkung bzw. Ermächtigung der eigenen Besonderheit – und der erwünschten bzw. notwendigen Zugehörigkeit zu anderen Menschen. Außerdem ist es wichtig, jedem Menschen dabei zu helfen, sich selbst gut zu behüten, die Fürsorge anderer in Anspruch zu nehmen und sie dabei nicht zu überfordern.

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Wehrhaftigkeit Aggressive Äußerungen von sozialen Lebewesen ermöglichen die Positionierung in einem sozialen Gefüge, schaffen Klarheit und damit einhergehend Entspannung. Während der Gegner beim »Beschädigungskampf« verletzt oder vernichtet wird, dienen »Kommentkämpfe« (so der ethologische Begriff für ritualisierte Auseinandersetzungen) der Klärung von Konflikten, ohne Selbstund Fremdschaden zu riskieren. Menschen kämpfen auch mit ihren Worten, überschreiten damit Grenzen und lösen Verteidigungsaktionen aus. Dann ringen nicht Themen oder einzelne Aspekte miteinander, sondern die ganze Person mit Haut und Haar und der wilden Bereitschaft, um ihr existenzielles Überleben zu kämpfen. Die eigene Sicht der Dinge wird als die einzige Wahrheit präsentiert, mit dem Selbstwert verknüpft und alles Widersprechende als Angriff auf Würde, Ehre und damit das eigene (soziale und psychische) Leben verstanden. Ein ritualisierter verbaler Schlagabtausch ist demgegenüber durch den Erhalt eines gewissen Umgangstons gekennzeichnet, der kultur- und schichtabhängig ist und vom jeweils gewohnten Sprachspiel abhängt. (Schimpfworte wirken zum Beispiel nicht in jedem Umfeld und nicht in jeder Lage beleidigend.) Er ist auch dadurch charakterisiert, dass zugehört wird, dass es Pausen gibt und der Streit unterbrochen werden kann. Man lässt sich eben Zeit. Es bedeutet einen großen Unterschied, ob die daran beteiligten Menschen sich noch unabhängig von ihrem Streitthema wahrnehmen und mittels Nüchternheit und Humor Entspannung auf der Beziehungsebene schaffen können oder ob sie sich vollständig mit der von ihnen präferierten Meinung identifizieren. Wenn es möglich ist, freiwillig sowohl der eigenen Position als auch der des Gegenübers ausreichend Raum zu geben, werden Platzkämpfe um Positionen und daraus resultierende Eskalationen vermieden. Konflikte sind leichter zu lösen, wenn sie sich auf eine Sache beziehen (auf ein abgegrenztes Verhalten, eine Situation) und direkt angesprochen wird, worum es geht. Es ist dabei günstig, Ziele von Mitteln zu unterscheiden – oft wird in Konflikten um die Mittel gekämpft, die der Erreichung bestimmter Ziele dienen. Wenn man stattdessen über die Ziele (bzw. die Impulse, Bedürfnisse, Sehnsüchte, Träume, Visionen) redet, wird deutlich, dass andere Mittel besser geeignet wären, diese zu erreichen. Konflikte gestalten sich anders, wenn man die prinzipielle Möglichkeit hat, sich räumlich von seinem Konfliktpartner zu distanzieren, als wenn man dauerhaft mit ihm zu tun haben muss. Im zweiten Fall neigen sie eher dazu, verdeckt, unterschwellig und umwegig abzulaufen – einfach deshalb, weil sie bedrohlicher sind. Natürlich ist es auch hilfreich, auf der Ebene des nonverbalen Verhaltens –

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trotz allen Widerspruchs und vielleicht Ärgers – Respekt und Wohlwollen zu signalisieren (um narzisstische Kränkungen zu vermeiden und Eigenraum zu gewähren). Man sollte diesen Respekt und dieses Wohlwollen aber nicht von einem Gegenüber verlangen, das es im Moment nicht aufbringen kann – da ist es eher günstig, auszusprechen, dass hier Ärger, Wut, Ungeduld usw. sichtbar und spürbar sind. Wenn man etwas sagt, zu dem das Gegenüber zustimmen kann (auch wenn es sich dabei nur um ein »Grummeln« handelt), fühlt es sich grundlegend verstanden, »abgeholt« und ist eher bereit, sich dem anderen zu öffnen.

Störungen Verhält sich ein soziales Lebewesen ungewöhnlich, reagieren die Artgenossen oft mit Verhaltensweisen, die durch Furcht, Stress oder Aggressivität gekennzeichnet sind. Der befremdlich Wirkende wird angegriffen, in die Ecke gedrängt, zur Anpassung gezwungen, isoliert, ausgestoßen – zuweilen auch mittels pseudofürsorglicher Handlungen klein gehalten und ruhig gestellt. Wenn er sich nicht unterwirft oder flüchten kann, reagiert er mit sozialem Rückzug, Totstellen, Stereotypien, Zwangshandlungen und aggressiven Ausbrüchen. Solche Verhaltensweisen verunsichern die befremdeten Artgenossen noch mehr und führen zu entsprechenden Eskalationen. Menschen verstehen »gestörte« Verhaltensweisen oft nicht als Ausdruck von Angst, Ambivalenz und Anspannung, sondern deuten sie als mangelnde Selbstbeherrschung bzw. Anpassungsbereitschaft. Umfeld und eigene Gedankenkomplexe konnotieren sie dann als abnormal und veränderungsbedürftig – Anstrengung und Bemühen werden gefordert. Der Fokus liegt üblicherweise auf dem gestörten bzw. störenden Verhalten und nicht auf der entlastenden Funktion, die es im Kontext der gestörten Lebenslage gewinnt. Man versucht es loszuwerden, ohne es begriffen zu haben. Ein Psychotherapieverständnis, das sich primär an gesellschaftlich geförderten und anerkannten Zielen orientiert (Gesundheit, Arbeits- und Beziehungsfähigkeit gemäß bestimmter normativer Vorgaben), verstärkt diese Tendenz. Manchmal ist es nicht nur eine existenziell eingeschränkte Lage selbst, die Stress produziert, sondern die Angst davor, in irgendeine Not zu geraten. Diese wird von den eigenen Gedanken und von der sozialen Umgebung genährt. Manche Diskurse, welche um die Sorge um das eigene Ich kreisen, erzeugen ein bedrohliches und für das »Viech« erschreckendes Szenario in der eigenen geistigen Welt (bildlich gesprochen wird es plötzlich dunkel, die Erde bebt und Sturm und Gewitter ziehen grollend und brüllend herauf). Der »böse Blick«

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macht krank, schwach und abhängig, wirkt beschämend und bewirkt, dass das »Viech« zappelt, sich im Kreis dreht, an sich nagt, sich in dumpfe Teilnahmslosigkeit zurückzieht oder gewalttätig wird. Grundsätzlich ist es gut, ein (auf)gestörtes oder geschwächtes »Viech« zu stärken und ihm Orientierung zu geben, indem man ihm seine Lage begreiflich macht. Das freundliche Zusammensein im gewohnten Rudel und die altbekannte Umgebung helfen dabei. Manchmal ist es auch nötig, dem »Viech« aggressives Verhalten als Ventil für seine Frustration und Anspannung zu erlauben.

Das therapeutische Gespräch als Ort der Beheimatung Die Form der Psychotherapie, die in diesem Buch beschrieben wird, unterstützt dabei, ein Mensch zu sein, der sich seiner Lage bewusst ist. Sie ist ihm dabei behilflich, seinen sozialen Kontexten eigenständig gegenüberzustehen, mit ihnen kompetent umzugehen und ein stärkeres Immunsystem gegen dominantes Gerede, schädliche »Geister« und »böse Blicke« zu entwickeln. Sie macht die mächtigen Hoffnungs- und Sorge-Geschichten sichtbar, die Klient_innen in die Therapie mitbringen – in ihren Auftrags- und Zielformulierungen verpackt – und stellt diese von Fall zu Fall auch infrage. Dadurch schlägt sie da und dort eine Bresche für die Würde der Freiheit und Eigenart bzw. Besonderheit des menschlichen Individuums in dieser allzu eiligen und gierigen Welt. Psychotherapeut_innen haben allerdings auch notwendige Eigeninteressen – sie konstituieren eine soziale Situation, die ihnen ausreichend Sicherheit, Selbstvertrauen und Bestimmungsmacht gibt, um sich ganz auf ihre jeweiligen Gegenüber und deren Interessen konzentrieren zu können. Sie markieren ihren Raum mit Gegenständen, weisen Sitzgelegenheiten zu, spielen die Rolle der Gastgeber_innen und demonstrieren damit, dass sie für den therapeutisch definierten Bereich verantwortlich sind. Sie erkundigen sich nach den Bedürfnissen und Wünschen aller Gesprächsteilnehmer_innen, sorgen für das aktuelle soziale Gefüge, vermeiden aber, sich dort einzumischen, wo es nicht erwünscht, angemessen oder zuträglich ist. Manchmal unterbrechen sie auch, bestimmen im Dienst ihrer Arbeitsfähigkeit und Rolle Gesprächsregeln und Umgangsformen. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben scheint es zu sein, die Grenzen ihrer Klient_innen zu wahren und gleichzeitig Zugang zu ihnen zu finden, damit diese sich auf einen Prozess einlassen können, der Bewegung, Lernen und Veränderung mit sich bringt. Klient_innen, die mit ihren Problemen einen therapeutischen Kontext aufsuchen, sind gleichzeitig mit Rahmenbedingungen konfrontiert, die sie sich

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nicht selbst ausgesucht haben und die ihnen nur teilweise entsprechen. Motive, sich trotzdem darauf einzulassen, finden sich aus meiner Sicht dort, wo es um ihre Sehnsucht und Lebendigkeit geht. Der Bezug auf die animalischen Anteile und der behütende Umgang mit ihnen schaffen in der Vielfalt möglicher Themen und Perspektiven einen von Lust und Selbstliebe bestimmten Fokus, der dabei unterstützt, Ideen und Ziele nicht nur geistig und sprachlich zu reflektieren, sondern als ganzes Wesen umzusetzen. Die in diesem Buch vermittelte Haltung menschlichen Lebewesen gegenüber ist bestimmt von Interesse, Neugier und dem Bestreben, ihnen zumindest in der aktuellen therapeutischen Situation eine ihnen entsprechende, gute Umgebung zu eröffnen. Ziel ist natürlich, dass die Klient_innen schließlich beginnen, sich selbst in ihren animalischen, geistigen und sozialen Aspekten gut zu behüten. Im therapeutischen Geschehen ergeben sich Momente des Zugangs, wo alle im Raum anwesenden Menschen (auch die Therapeut_innen) sich entspannen und in der Folge spielerischer miteineinander und mit den anstehenden Themen umgehen können. In dieser sozusagen »menschelnden« Atmosphäre werden alle daran beteiligten Personen in ihrer körperbezogenen, geistigen und sozialen Identität angenommen und beheimatet – sie können sich dabei besonders fühlen und unbefangener miteinander sein. Dadurch erscheinen die vertrauten Personen und man selbst plötzlich in einem anderen Licht. Literatur Eibl-Eibesfeldt, I. (1984). Die Biologie des menschlichen Verhaltens: Grundriss der Humanethologie. München: Piper. Grammer, K. (2002). Signale der Liebe. Die biologischen Gesetze der Partnerschaft. München: dtv. Grimm, J. u. W. (2011). Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. In Trier Center for Digital Humanities/Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften an der Universität Trier (Hrsg.), Wörterbuchnetz. Zugriff am 02.04.2015 unter http://woerterbuchnetz.de/DWB/ Hell, D. (Hrsg.) (1993). Ethologie der Depression. Familientherapeutische Möglichkeiten. Stuttgart u. Jena: Gustav Fischer. Klar, S. (1986). Aggression und ihre Bewältigung in der Familie. Hinweise zur Gestaltung einer nicht unbedingt zerstörerischen Kraft, ausgehend von Ergebnissen der Ethologie. DIALOG SPEZIAL 3/86, Institut für Ehe und Familie, 1010 Wien. Klar, S. (1989). Zur Stabilität von Paar- und Familienstrukturen – Aspekte und Hinweise aus der Systemtheorie. In M. Liedtke (Hrsg.), Matreier Gespräche 1988: Paarbildung und Ehe. Wien: Jugend und Volk. Klar, S. (2010). Wildgehend das Fremdgehen erkunden – eine Identitätssuche. In A. BrandlNebehay, J. Hinsch (Hrsg.), Paartherapie und Identität. Denkansätze für die Praxis (S. 141– 169). Heidelberg: Carl-Auer. Klar, S. (2015). Materialien zur angewandten Menschenkunde und diverse andere Beiträge. Zugriff am 02.04.2015 unter http://iam.or.at/ (unter »Materialien«).

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Koenig, O. (1975). Urmotiv Auge. Neuentdeckte Grundzüge menschlichen Verhaltens. München: Piper. Nietzsche, F. (1980). Sämtliche Werke. KSA (Kritische Studienausgabe), hg. von Giorgo Colli und Mazzino Montinari. München: dtv. Schindler, R. (1957). Grundprinzipien der Psychodynamik in der Gruppe. Psyche, 11, 308–314.

Die Autor_innen

Katerina Albrechtowitz, geb. 1966, Familienberaterin, Psychothe­ra­peu­tin für Systemische Familientherapie, Gerontopsychosozialberaterin, tätig in Praxen in Bad Fischau/Bad Vöslau im Schmerzkompetenzzentrum sowie im Verein Phönix Ostarrichi in der Personalentwicklungs- und Sozialabteilung. Emily Bono, geb. 1964, Master of Social Work (MSW), studierte Afrikanistik, Lateinamerikanistik und soziale Arbeit an der University of Kansas, USA. Seit 2011 ist sie eingetragene Psychotherapeutin (systemische Familientherapie); tätig als Psychotherapeutin in eigener Praxis, Sozialarbeiterin beim »Verein Young« für Kinder und Jugendliche im Bereich Schulsozialarbeit, ferner als Lektorin an der FH St. Pölten, Fachbereich Soziale Arbeit. Guido Ebi, geb. 1967, Sozialpädagoge und Psychotherapeut (Systemische Familientherapie, ÖAS Wien – Arbeitsgemeinschaft für systemische Therapie und systemische Studien), arbeitet am AKH Wien an der Universitätsklinik für Kinder-und Jugendpsychiatrie und in freier Praxis. Davor absolvierte er ein Musik-und Gesangsstudium in Wien, Salzburg und Amsterdam; internationale Opern-und Konzerttätigkeit, CD- Produktionen und Rundfunkaufnahmen bis 2002. Marion Herbert, Mag.a, geb. 1975, ist Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie), Klinische und Gesundheitspsychologin. Sie ist in freier Praxis, in einer Suchtberatungsstelle sowie in der Aus- und Weiterbildung tätig. Sie begleitet seit 1999 Menschen mit sehr großen Belastungen und berichteten psychiatrischen Diagnosen in unterschiedlichen Kontexten (unter anderem im stationären Wohnbereich und in der ambulanten Suchthilfe, Schwerpunkt Jugendliche und junge Erwachsene).

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Die Autor_innen

Regina Klambauer, Mag.a, geb. 1967, im zweiten Bildungsweg Studium der Berufspädagogik und Erwachsenenbildung in Wien, ist seit vielen Jahren in der beruflichen Rehabilitation tätig. Sie ist Systemische Psychotherapeutin im Verein für Prophylaktische Gesundheitsarbeit und in freier Praxis in Linz. Sabine Klar, Dr.a, geb. 1959, Verhaltensforscherin (Zoologie, Humanethologie), Religionspädagogin, Psychotherapeutin (systemische Therapie), Supervisorin, Lehrtherapeutin (ÖAS); tätig am IPF (Institut für Paar- und Familientherapie) und am IAM (Institut für angewandte Menschenkunde), das sie gemeinsam mit dem Philosophen F. Reithmayr gegründet hat. Sie leitet zusammen mit ihm das Projekt TIRAM – Therapeut_inneninitiative für Randgruppen und andere Menschen. Tom Levold, geb. 1953, Lehrtherapeut, Lehrender Supervisor und Lehrender Coach (SG), seit 1989 in freier Praxis für systemische Therapie, Supervision, Coaching und Organisationsberatung in Köln tätig. Er ist Herausgeber von »systemagazin – Online-Journal für systemische Entwicklungen«, Mitbegründer der Systemischen Gesellschaft und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur systemischen Theorie und Praxis. Zeliha Özlü-Erkilic, Mag.a, geb. 1982 in der Türkei, studierte in Salzburg Psychologie und absolvierte in Wien die Ausbildung zur Klinischen und GesundheitsPsychologin und zur Systemischen Familientherapeutin. Sie promoviert an der Medizinischen Universität Wien und arbeitet in der FEM Elternambulanz im Wilhelminenspital auf der Gynäkologischen Station und übernimmt die klinisch psychologische und psychotherapeutische Beratung/Betreuung von türkischsprachigen Migrant_innen. Seit 2012 hat sie eine eigene Praxis für klinisch psychologische und psychotherapeutische Beratung/Betreuung. Christian Reininger, geb. 1974, Diplomierter Sozialarbeiter (DSA), Master of Science (MSc), arbeitet in freier Praxis als Psychotherapeut (Systemische Familientherapie) und in der Aus- und Weiterbildung. Er war lange Jahre in ambulanten und stationären Einrichtungen tätig, die sich mit chronischen psychosozialen Problemen (wie Vernachlässigung und Gewalt, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Problematiken) beschäftigen. Katja Salomonovic, geb. 1973 als Tochter/Enkelin jüdischer Eltern und Großeltern, ausgebildet zur Diplomierten Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie), war lange Jahre im Psychiatrischen Kranken-

Die Autor_innen

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haus tätig, im Suchtbereich sowie beim Verein ESRA – Zentrum für psychosoziale, sozialtherapeutische und soziokulturelle Integration und Ambulanz für Spätfolgen und Erkrankungen des Holocaust- und Migrationssyndroms. Sie arbeitet in freier Praxis, hält Vorträge, leitet Seminare und veröffentlicht Rezensionen und Artikel in Fachzeitschriften. Andrea Schmidbauer, geb. 1965, arbeitete mehrere Jahre beim Arbeitsmarktservice Wien als Berufsberaterin. Sie war als persönliche Assistentin im Wohnund Privatbereich von behinderten Menschen, als Trainerin im Bereich der Erwachsenenbildung und als Arbeitsassistentin in der beruflichen Integration von Menschen mit Behinderungen tätig. Andrea Schmidbauer arbeitet als systemische Familientherapeutin, sie hat ein abgeschlossenes Masterstudium Psychotherapie. Johannes Schneller, geb. 1965, Master of Education Sciences (MEd), verfügt über langjährige Erfahrungen in niederschwelliger, außerschulischer Jugendarbeit mit Lehrlingen und arbeitsuchenden Jugendlichen. Er ist im Bereich des Vollbetreuten und Teilbetreuten Wohnens für Menschen mit physischen, psychischen und psychosozialen Unterstützungsbedarf tätig. Er ist Systemischer Familientherapeut in freier Praxis und arbeitet im Auftrag des Amtes für Jugend und Familie der Gemeinde Wien. Karoline Schober, geb. 1980, Diplom-Sozialpädagogin, arbeitete in unterschiedlichen Einrichtungen der Jugendwohlfahrt. Während ihrer Ausbildung zur systemischen Psychotherapeutin (2005–2011) war sie im Bereich Streetwork tätig und hat nebenbei – für ihre Arbeit im psychosozialen Feld sehr wichtige – Erfahrungen im Bereich der Gastronomie gesammelt. Karoline Schober ist beim Niederösterreichischen Hilfswerk als Familienintensivbegleiterin tätig und arbeitet in eigener Praxis als systemische Psychotherapeutin. Lika Trinkl, geb. 1961, systemische Psychotherapeutin, ist in freier Praxis in zwei Tageseinrichtungen für obdachlose Menschen in Wien und im Verein Hemayat (Psychotherapeutische Unterstützung für Folter- und Kriegsüberlebende) tätig. Sie bietet Gruppenselbsterfahrungsseminare durch kreatives Schreiben an und verfügt über psychosoziale Arbeitserfahrungen mit beeinträchtigten Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie langzeitarbeitslosen Menschen.

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Die Autor_innen

Leo E. Walkner, Mag., geb. 1965, Historiker und Psychotherapeut, ist in freier Praxis und am Institut für Paar- und Familientherapie in Wien sowie als Lehrbeauftragter an der FH Wiener Neustadt und an der SFU Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien tätig. Er verfügt über langjährige Erfahrung im Kinderschutzbereich und in der Leitung eines Kinderschutzzentrums. Ulrike Wögerer, Mag.a, geb. 1962, Diplomierte Sozialarbeiterin (DSA), Studium der Pädagogik und Politikwissenschaft in Wien, konzessionierte Lebens- und Sozialberaterin, eingetragene Mediatorin, BA für Psychotherapie, Psychotherapeutin (Systemische Familientherapie), arbeitet in freier Praxis und im Psychosozialen Zentrum Waldviertel Gars am Kamp. Ulrike Wögerer ist Gründerin des Institut Woge und der AMIMBO GmbH und hat u. a. im Zuge dessen 25 Jahre mit arbeitssuchenden Menschen in ganz Niederösterreich gearbeitet. Ferdinand Wolf, Dr., geb. 1955, Studium der Psychologie und Zeitgeschichte an der Universität Wien, Klinischer Psychologe, Psychotherapeut (Systemische Familientherapie), Lehrtherapeut (ÖAS), Supervisor, Coach (Solution Manage­ ment Center), ist Mitglied des International Board der European Brief Therapy Association und nimmt Lehraufträge wahr am Norddeutschen Institut für Kurzzeittherapie Bremen, am Institut für Systemische Erfahrung Prag und Kosice, am Institut für lösungsorientierte Therapie Lodz und bei TaitoBa Oy Helsinki.