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German Pages 220 Year 2019
Heiner Hastedt (Hg.) Deutungsmacht von Zeitdiagnosen
Edition Kulturwissenschaft | Band 189
Heiner Hastedt (Hg.)
Deutungsmacht von Zeitdiagnosen Interdisziplinäre Perspektiven Unter Mitarbeit von Hanno Depner und Antje Maaser
Die Publikation wurde dankenswerterweise finanziell gefördert aus Mitteln des Rostocker Graduiertenkollegs »Deutungsmacht«.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagmotiv: Antje Maaser, Rostock 2017. Alle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung und Bearbeitung bleiben vorbehalten. Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4592-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4592-1 https://doi.org/10.14361/9783839445921 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Vorwort des Herausgebers | 7
I. W ahrheitsprak tiken für Z eitdiagnosen Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen Einleitende Bemerkungen Heiner Hastedt | 11
Zeitdiagnosen Funktionen und Krisen eines Genres Fran Osrecki | 35
Wahrheitspraktiken Michael Hampe | 49
II. K ritik der » quantitativen B lendung « Ins Erzählen flüchten Jonas Lüscher | 69
Zahltag? Über den Preis der Quantifizierung Steffen Kluck | 89
Spielen als Kritik der instrumentellen Vernunft Christian Klager | 107
III. Z ur F ik tionalität in Z eitdiagnosen Fiktion als Annäherung an die Wirklichkeit Aus der Werkstatt der Geistergespräche Helmut Lethen | 123
Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose Sina Farzin | 137
Zeitdiagnosen als ethisch-politische Strategien »Bilder flut« in Bildwissenschaft und Visual Culture Studies Hanno Depner | 149
IV. W elche Z eitdiagnosen setzen sich durch ? Zeitdiagnosen als Mittel politischer Deutungsmacht und das Problem der vermeidbaren Irrtümer Walter Reese-Schäfer | 167
Postmoderne: vordergründige Ablehnung, untergründiger Erfolg Blick zurück auf eine besonders deutungsmächtige Zeitdiagnose Wolfgang Welsch | 183
Verschwörungs(theorie)panik »Filter Clash« zweier Öffentlichkeiten Michael Butter | 197
Autorinnen und Autoren | 213
Vorwort des Herausgebers
»Zeitdiagnosen spielen eine große Rolle beim Verständnis von Lebenswelt, Kultur, Gesellschaft – vielleicht sogar von Naturentwicklungen. Ihren Einfluss zeigen Gegenwartsdiagnosen in diesen Tagen mit Begriffen wie ›postfaktisch‹ – vor einiger Zeit zum Wort des Jahres gewählt von der ›Gesellschaft für deutsche Sprache‹ – oder den häufig angeführten ›alternativen Fakten‹. Wie Zeitdiagnosen und Deutungsmacht zusammenhängen, ist jedoch weitgehend unerforscht. Was in Hegels Parole ›Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken gefasst‹ noch unproblematisch erscheint, ist heute methodisch nicht nur für die Philosophie umstritten. Zeitdiagnosen nehmen zwar auf Fakten Bezug, gehen darin jedoch nicht auf. Wie werden Deutungen der Zeit mächtig? Welche bedeutenden oder unbedeutenden Funktionen erfüllen Zeitdiagnosen? Lassen sie sich verifizieren oder falsifizieren – und wie unterscheiden sich akzeptable und inakzeptable Diagnosen? Welche Rolle spielen Medien? Gleichen Zeitdiagnosen medizinischen Diagnosen? Wie unterscheiden sie sich von Theorien, etwa der Gesellschaft? Die Tagung setzt sich mit den Herausforderungen des Postfaktischen als Beispiel einer gegenwärtigen Zeitdiagnose ebenso auseinander wie mit wirkmächtigen Zeitdiagnosen früherer Jahrzehnte. Sie versteht sich als Beitrag zur Erforschung von Deutungsmacht.«
Mit dieser Charakterisierung lud die universitäre Veranstaltung »Deutungsmacht von Zeitdiagnosen« Interessierte nach Rostock ein, um vom 25. bis 27. Januar 2018 mit den Angehörigen des Graduiertenkollegs »Deutungsmacht« über Zeitdiagosen nachzudenken. Mit den Beiträgen der auswärtigen Vortragenden entwickelte sich schnell ein inspirierendes Milieu, an dem wir jetzt mit diesem Sammelband auch weitere Leser und Leserinnen teilhaben lassen wollen. Die hier versammelten Beiträge wurden nach der Tagung meist grundlegend überarbeitet und in der jetzigen Buchfassung ergänzt durch einige weitere Texte. Mein Dank richtet sich an meine Mitarbeiter Antje Maaser und Hanno Depner für ihre das Buch ermöglichende Arbeit sowie an Anne Specht für ihre wichtigen Unterstützungsleistungen. Bei der Tagungsorganisation hatte insbesondere Tobias Götze als Koordinator des Graduiertenkollegs eine tragende Rolle; auch ihn möchte ich nochmals dankend erwähnen. Last, but not least lebt dieser Band von seinen Autoren und Autorinnen, denen für ihre Beiträge besonders zu danken ist.
I. Wahrheitspraktiken für Zeitdiagnosen
Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen Einleitende Bemerkungen Heiner Hastedt
Zeitdiagnosen sind wie Scheinwerfer: Sie akzentuieren die jeweilige Umgebung, tauchen sie vielleicht geradezu in ein gleißendes Licht und lassen anderes dabei umso mehr im Dunkeln. So führen sie leicht zu Situationen, wie sie Paul Watzlawick als konstruktivistischer Psychologe gerne erzählt: Ein Mann sucht im Licht der Straßenlaterne nach seinem verlorenen Schlüssel, obwohl er weiß, dass er den Schlüssel woanders verloren hat.1 Einmal formuliert neigen Zeitdiagnosen zur Selbstverifikation, die dem Verstärkereffekt unterliegen – viel gebraucht werden sie immer plausibler. Über kurz oder lang schaffen sie eine Filterblase, in der man nur noch diejenigen Aspekte der zeitgenössischen Wirklichkeit wahrnimmt, die zu der schon etablierten Deutung passen. Zeitdiagnosen sind daher gefährlich. Zugleich können sie wie das fokussierende Licht aber auch von großer Nützlichkeit sein; denn ohne Akzentuierungen unterschiedslos auf alles und nichts gerichtet sieht man schlechter. Zeitdiagnosen unterliegen bei aller Nützlichkeit der Mode: Wenn im Umfeld einer amerikanischen Präsidentenwahl, die für viele gerade in Deutschland nach dem Lieblingspräsidenten Barack Obama nun einen Gottseibeiuns ins Amt gebracht hat, die Rede vom »postfaktischen Zeitalter« Konjunktur bekommt, dann rücken Aspekte ins Zentrum der Aufmerksamkeit, die es auch schon vorher gab und die zugleich auf vieles in der Gegenwart wiederum nicht so gut passen. Hans-Peter Müller hat diesen Sachverhalt in einem wichtigen Essay zur Zeitdiagnostik, auf den noch ausführlicher einzugehen sein wird, mit dem Begriff »Schnellschussdiagnostik« auf den Punkt gebracht.2
1 | Watzlawick, Paul: Anleitung zum Unglücklichsein. München 1983, S. 27. 2 | Müller, Hans-Peter: Sinn deuten. Über soziologische Zeitdiagnostik. In: Merkur 51 (1997), S. 352-357, dort S. 356.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel hatte es mit Zeitdiagnosen und seiner Behauptung, Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken gefasst, noch einfacher als wir, weil er die Begründungslast im Ganzen seiner Systemphilosophie glaubte erbracht zu haben.3 Auf den Trümmern der Hegelschen Philosophie müssen die Empirie und die Plausibilität im Einzelnen bei Zeitdiagnosen ganz anders gewichtet werden. Theoriemontage reicht nicht, sondern Phänomene müssen in aller Vielfalt zu ihrem Recht kommen können. Alexis de Tocqueville liefert, teilweise noch als Zeitgenosse von Hegel, eine erste Probe, wie in einem Reisebericht eine Zeitdiagnose, die auf die Ambivalenz des Demokratischen zielt, entwickelt werden kann.4 Ortega y Gasset greift das gleiche Motiv in seinem stark verbreiteten Buch Aufstand der Massen5 wieder auf – wie überhaupt eine konservative Zeitdiagnostik früh erfolgreich darin ist, Kehrseiten der Modernisierung schonungslos zu benennen.6 Aber steht nicht auch hinter dem Historischen Materialismus von Marx und besonders hinter seiner Entfremdungslehre eine Zeitdiagnose?7 Heute scheinen Zeitdiagnosen eine Domäne der Soziologie zu sein. Viele deutungsmächtige Bücher kommen aus dieser Disziplin: Ulrich Becks Risikogesellschaft fällt einem hier ebenso ein wie Richard Sennetts Erzählungen zum flexiblen Menschen und Hartmut Rosas Untersuchungen zur Beschleunigung.8 Für den Philosophen ist die Frage besonders brennend, ob es nach 3 | Siehe nicht nur die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik, sondern als Zitatbeleg für die zeitdiagnostische Traditionsstelle auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. Mit Hegels eigenhändigen Notizen und den mündlichen Zusätzen. Werke [in 20 Bänden]. Bd. 7. Frankfurt a.M. 1970, S. 26. 4 | Tocqueville, Alexis de: Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart 1985. 5 | Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen. Hamburg 1956. 6 | Freyer, Hans: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955; Gehlen, Arnold: Die Seele im technischen Zeitalter. U.a. wiederabgedruckt unter dem Titel »Sozialpsychologie« in Gehlen, Arnold: Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen. Reinbek 1986, S. 145-266. Vgl. auch schon – ganz anders dimensioniert – Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 1923. 7 | Marx, Karl: [Ökonomisch-philosophische Manuskripte]. Heft I (1844) Arbeitslohn. Profit des Capitals. Grundrente [Die entfremdete Arbeit]. In: Marx, Karl: Philosophische und ökonomische Schriften. Hg. v. Johannes Rohbeck u. Peggy H. Breitenstein. Stuttgart 2008, S. 28-45. 8 | Beck, Ulrich: Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986; Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998; Rosa, Hartmut: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M. 2005. Vgl. auch Bell, Daniel: Die nachindustrielle Gesell-
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Hegel auch spezifisch philosophische Zeitdiagnosen gibt. Jürgen Habermas hat immer betont, dass er neben seiner eigentlichen Theoriearbeit (beispielsweise der Theorie des kommunikativen Handelns) als ein schlichter Bürger ohne eigenen Autoritätsanspruch zu Gegenwartsfragen Stellung nimmt. Dieser sympathische Gestus wirkte allerdings nie ganz überzeugend, weil selbstverständlich Habermas als einfacher Bürger nicht diese Deutungsmacht hätte entfalten können und in Form und Inhalt eben doch der Theoretiker Habermas im Hintergrund steht.9 Philosophen wie Peter Sloterdijk und Byung-Chul Han, die beide in der akademischen Philosophie umstritten sind, haben weniger Skrupel an den Tag gelegt und immer wieder eigene Zeitdiagnosen vorgelegt, die durchaus den Anspruch von philosophischen Zeitdiagnosen erheben.10 Ein jetzt schon etwas älterer Sammelband versucht, die Metaebene einbeziehend, den zeitdiagnostischen Anspruch aufrecht zu erhalten, während andere gegenwärtige Philosophen, mit empirischen Implikationen arbeitend, Zeitdiagnosen zum Anlass für ethische und sozialphilosophische Erörterungen nehmen.11 Stärker politikwissenschaftlich orientiert haben international die Bücher von Francis Fukuyama, Samuel Huntington, Anthony Giddens, Colin Crouch sowie Michael Hardt und Antonio Negri eine große Deutungsmacht gerade auch für tagespolitische Debatten gewonnen.12 schaft. Frankfurt a.M. 1975; Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1992; Baumann, Zygmunt: Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a.M. 1995; Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003 und jetzt neu in seinen zeitdiagnostischen Anteilen Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2018. 9 | Zwei Beispiele für die gegenwartsbezogenen Interventionen des Autors Jürgen Habermas: Die nachholende Revolution. Frankfurt a.M. 1990; Ders.: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin 2011. Vgl. mit genau anderer inhaltlicher Ausrichtung Enzensberger, Hans M.: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas. Berlin 2011. 10 | Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt a.M. 2005; Han, Byung-Chul: Die Müdigkeitsgesellschaft. Berlin 2010. 11 | Ollig, Hans-Ludwig (Hg.): Philosophie als Zeitdiagnose. Ansätze der Deutschen Gegenwartsphilosophie. Darmstadt 1991; Nida-Rümelin, Julian: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration. Hamburg 2017; Hastedt, Heiner: Moderne Nomaden. Erkundungen. Wien 2009; Wetz, Franz-Josef: Abenteuer des Körpers. Über Sport, Drogen und Sex. In: Volker Steenblock (Hg.): Kolleg Praktische Philosophie. Bd. 3: Zeitdiagnose. Stuttgart 2008, S. 167-205. 12 | Siehe die deutschen Übersetzungen: Fukuyama, Francis: Das Ende der Geschichte. München 1992; Huntington, Samuel: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. München 1998; Giddens, Anthony: Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie. Frankfurt a.M. 1997; Crouch, Colin:
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Fran Osrecki stellt in seinem Beitrag heraus, dass Zeitdiagnosen als Textgattung von der »Behauptung gegenwärtig sich vollziehender, epochaler sozialer Transformationen«13 gekennzeichnet sind, die in ihrem Zeitverständnis jeweils die »Gegenwart als Punkt« und nicht als ausgedehnte Phase verstehen. Typischerweise versuchen sie Diagnosen der Gesamtgesellschaft, auch wenn ebenfalls Zeitdiagnosen mit geringerer Reichweite beispielsweise über die Veränderungen der Hochschulen oder der Liebe handeln. Als eigenständiges Genre sind sie innerhalb der Soziologie oft nicht wohlgelitten, da sie als »übergeneralisiert« sowie geprägt von »Alarmismus« gelten – und so in einem Spannungsverhältnis zur kleinteiligen Sozialforschung stehen. Angesichts dieser Kritik zeichnet Osrecki die Funktionen von Zeitdiagnosen gerade für die Soziologie selbst nach, die dieser zu einer öffentlichen Sichtbarkeit verhelfen, da insbesondere das Qualitätsfeuilleton fast ausschließlich diesen Teil des Faches aufgreift und so verstärkt. Gerade die durch »Digitalisierung beständig schrumpfende Leserschaft der klassischen Meinungspresse« markiert allerdings einen Prozess, an dessen Ende auch Zeitdiagnosen für die Öffentlichkeit an Bedeutung verlieren könnten, wobei sie allerdings nach Ansicht von Osrecki in einer weiterhin multiparadigmatischen Soziologie innerhalb der Disziplin ihre brückenbauenden Aufgaben behalten würden.14 Wenn sich der vorliegende Band mit der Deutungsmacht von Zeitdiagnosen beschäftigt, tritt in den Horizont, dass Zeitdiagnosen unter Einschluss der bereits genannten eine Durchsetzungsdimension haben, die keine Korrelation zu ihrer Wahrheit aufweist. Die Machtdimension der Deutungen dreht sozusagen frei; denn eine im Verbreitungsgrad erfolgreiche Zeitdiagnose kann falsch sein. Diesen Punkt muss man mit Theodor W. Adorno nicht soweit steigern, wonach im Erfolg einer Zeitdiagnose geradezu ein Indiz für ihre Falschheit liegt, so dass nur im Widersprechen ein angemessenes Gegenwartsverständnis erarbeitet werden kann.15 Ich schlage vor, hier neutral zu bleiben und den Durchsetzungserfolg und die Wahrheit einer Zeitdiagnose als zwei unterschiedliche, im Prinzip erst einmal nicht zu überblendende Aspekte zu nehmen. Gedanken über Deutungsmacht sind von einem Diskurs-Sound geprägt, Postdemokratie. Frankfurt a.M. 2008; Hardt, Michael/Negri, Antonio: Empire: Die neue Weltordnung. Frankfurt a.M. 2002. Vgl. den zumindest für Deutschland sehr wirkungsmächtigen Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. Reinbek 2002, der zum Teil wieder aufgreift: Schmitt, Carl: Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen. Berlin 1963. 13 | Die Zitate in diesem Absatz finden sich in Fran Osreckis Beitrag auf den Seiten 35, 36, 43 und 47. 14 | Vgl. Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität. Bielefeld 2011. 15 | Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1966.
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der an Friedrich Nietzsche erinnert und der in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften vor allem von Michel Foucault verbreitet wird: Macht ist allgegenwärtig und keine Deutung bleibt außerhalb dieser Dimension.16 Im Folgenden besteht im Gegensatz zu dem von Nietzsche ausgehenden Macht-Diskurs ein besonderes Interesse, den Gedanken der Deutungsmacht in einer die Wahrheitsfähigkeit von Zeitdiagnosen nicht ausschließenden Form zu thematisieren. Gerade weil viele unangemessene oder schlicht falsche Zeitdiagnosen mächtig werden, ist aus meiner Sicht die Frage dringlich, wie ihnen gegenüber gute Zeitdiagnosen ausgezeichnet werden können. Als Herausgeber des Bandes stelle ich nach und nach nicht nur die einzelnen Beiträge des Bandes vor (wie mit dem von Fran Osrecki schon geschehen), sondern nehme zugleich als Autor Stellung zu einem Verhältnis, bei dem es um Wahrheit und Deutungsmacht und nicht um Deutungsmacht ohne Wahrheitsanspruch geht.
I. D eutungsmacht als philosophisches K onzep t17 Das Konzept der Deutungsmacht ist Gegenstand philosophischer Kontroversen und soll von mir jetzt auf eine vermutlich selbst kontroverse Art und Weise in diesen verortet werden, um den relativistischen Sog des Macht-Diskurses zu vermeiden und so den Weg für die Thematisierung von Wahrheitspraktiken für Zeitdiagnosen frei zu machen. In Zeitdiagnosen sind immer Deutungen enthalten, die sich von anderen möglichen Deutungen abgrenzen. Dementsprechend macht es einen Unterschied, ob wir unsere Gegenwart als postfaktisch oder als »Wissensgesellschaft«18 verstehen. Von Deutungen zu sprechen, heißt nicht, dass diese keinen Bezug auf Tatsachen nehmen oder es sich um reine Konstruktionen handelt. Im Gegenteil! Deutungen implizieren einen Bezug auf die Wirklichkeit, auf die sie sich jeweils richten. Wirklichkeit ist vielfältig, sie schließt sogar Ausgedachtes ein; denn Geschichten sind selbst auch Teil der 16 | Die Machtorientierung zieht sich durch Nietzsches Werk, auch wenn das vermeintliche Nachlasswerk Wille zur Macht mehr das Produkt einer editorischen Konstruktion ist als Ausdruck einer Autorenintention. Zentriert auf die mittlere Werkphase dominiert die Macht als Thema auch die Schriften von Michel Foucault. Siehe unter anderem: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1976. Vgl. einführend: Han, Byung-Chul: Was ist Macht? Stuttgart 2005. 17 | Siehe als Gründungsdokument der »Deutungsmacht«: Stoellger, Philipp (Hg.): Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten. Tübingen 2013, darin auch Hastedt, Heiner: Was ist Deutungsmacht? Philosophische Klärungsversuche, S. 89-102. 18 | Vgl. Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist 2001.
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Wirklichkeit. Gleiches gilt für subjektive Wirklichkeiten, in Emotionen, Wünschen und Träumen beispielsweise. Wichtig ist es, Deutungen nicht in eine Gegenstellung zu den vermeintlich unerschütterlichen Aussagen beispielsweise in den Naturwissenschaften zu bringen. Atome und Elementarteilchen sind ebenfalls Deutungen, insofern sich auf der Basis einer langen Geschichte der Physik diese Kategorien für das Verständnis der Wirklichkeit in Forschergemeinschaften herausgebildet haben. Trotz ihres Deutungscharakters gibt es keinen Grund, sie für bloß konstruiert im Sinne von erfunden zu halten. Deutungen sind allgegenwärtig (selbst in den harten Wissenschaften wie Physik, Ökonomie, Neurobiologie und Medizin). Doch ihre Allgegenwart verweist nicht auf Beliebigkeit (als wenn wir erst dort deuten, wo die Fakten aufhören). Ob die Deutungsvarianten angemessen sind, das hat nachdenkliche Reflexion zu klären. Eine Beliebigkeitsunterstellung ist mit der Verwendung des Begriffes der Deutung jedenfalls nicht verbunden; es gibt gut etablierte Deutungen, die sich als wahr auszeichnen lassen. Im radikalen Konstruktivismus wie bei Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld wird die Wirklichkeit demgegenüber nicht entdeckt, sondern erfunden.19 Sich über Deutungen der Wirklichkeit zu nähern, wird philosophiehistorisch durch die Hermeneutik nahe gelegt, deren frühe Eingrenzung des Verstehens auf Texte beziehungsweise sogar heilige Texte allerdings gegenwärtig gänzlich aufzugeben ist. Der alte Gegensatz, wonach wir in den Geisteswissenschaften (Beliebiges) verstehen und in den Naturwissenschaften (Faktisches) erklären, ist obsolet. Daher eignet sich als Traditionsbezug John Deweys pragmatistisches Programm einer Kritik der »Suche nach Gewissheit« besser als die in manchen Punkten zu Missverständnissen einladende alte Hermeneutik.20 Dewey wirft in Übereinstimmung mit dem späten Wittgenstein der frühneuzeitlichen Erkenntnistheorie eine geradezu besessene Fixierung auf die Sicherheit der Erkenntnis vor. Damit begünstige sie theoretische Herangehensweisen in Spezialgebieten, die fern der großen praktischen, Erkenntnis erfordernden Gegenwartsfragen angesiedelt sind. Erkenntnis wird mit Dewey zu einem Prozess des Alternativen erwägenden Suchens nach Wirklichkeit. So versucht er, ebenso wie das Arbeiten mit Deutungen, unter Aufrechterhaltung der Wahrheitsfrage Grund zu finden zwischen der letztlich nicht überzeugenden Korrespondenztheorie der Wahrheit und dem latent relativistischen Konstruktivismus. Theorien und Hypothesen müssen nicht nur im Sinne von Karl Raimund Popper prinzipiell falsifizierbar sein, sondern benötigen wie alle Deutungen in ihrem Versuch der Realitätserschließung ein Grenzbewusst19 | Vgl. die verbreitete Aufsatzsammlung mit Beiträgen der beiden: Glasersfeld, Ernst von u.a.: Einführung in den Konstruktivismus. München 1992. 20 | Dewey, John: Die Suche nach Gewissheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln. Frankfurt a.M. 3 2013.
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sein. Jenseits von Realismus und Anti-Realismus formuliert Bruno Latour: »Trotz meines Tons versuche ich nicht, kehrtzumachen, reaktionär zu werden, zu bereuen, was ich tat, zu schwören, dass ich nie wieder ein Konstruktivist sein will. […] Die Frage war nie, von den Fakten loszukommen, sondern näher an sie heranzukommen, den Empirismus nicht zu bekämpfen, sondern ihn im Gegenteil zu erneuern.«21 Je nach Auseinandersetzungsrichtung wäre demnach das Relativierende zu betonen, wenn es gegen den Fanatiker, den traditionellen Metaphysiker oder den (Natur-)Wissenschaftsgläubigen geht, und das Verbindliche, wenn die Gleichgültigkeit aller Deutungen im konstruktivistischen Milieu droht.22 Das Nachdenken über Macht beginnt oft mit dem Verweis auf Max Weber, der diese positiv umschreibt als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«.23 Demnach würde der Verfasser oder die Verfasserin einer Zeitdiagnose darauf abzielen, die eigene zeitdiagnostische Deutung gegen andere durchzusetzen. Ein genaueres Nachdenken verweist aber darauf, dass das positive Machtverständnis, auf Personen bezogen, nur eine der möglichen Deutungen des Machtbegriffes erschließt. Zeitdiagnosen können sich auch ohne sie formulierende Personen verbreiten und dabei auch lediglich in Deutungen anderer Themengebiete impliziert sein. Politische Programme beispielsweise, die den Ausbau des Wissenschaftssystems betreiben, können die Zeitdiagnose der Wissensgesellschaft implizit und oft auch nur vage enthalten, ohne dass diese als solche von einem Autor profiliert worden ist. Im Alltagsverständnis ist der negative Aspekt von Macht als Unterdrückung von außen besonders verbreitet. Nach diesem Modell würden sich böse Mächte verabreden, um zur Unterdrückung von Menschen beispielsweise die Zeitdiagnose durchzusetzen, dass nur eine deregulierte Wirtschaft eine gute sein kann. Solche Machtverständnisse bleiben personenorientiert, die die 21 | Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich, Berlin 2007, S. 20f. 22 | Vgl. Michel Foucaults kulturalistische Ablehnung der fundamentalistischen Metaphysik und seine Öffnung des Deutungsbegriffes: »Wenn Deuten hieße, eine im Ursprung verborgene Bedeutung langsam ans Licht zu holen, dann könnte nur die Metaphysik das Werden der Menschheit deuten. Wenn aber Deuten heißt, sich mit Gewalt und List eines Regelsystems zu bemächtigen, das in sich keine Wesensbedeutung trägt, und es in den Dienst eines neuen Willens zu stellen, in ein anderes Spiel einzubringen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Abfolge von Deutungen.« (Foucault, Michel: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. II: 1970-1975. Frankfurt a.M. 2002, S. 166-191, dort S. 178.) 23 | Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 51980. §16, S. 28.
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nicht-personale, oft modal genannte Machttheorie noch nicht beinhalten. Im Sinne des modalen Begriffs von Macht, der zugleich die Tradition der potentia als Ermöglichung aufgreift und sich vom Begriff realer Macht besonders von Machthabern (potestas) absetzt, untersucht Michel Foucault in seinem positiven Machtbegriff den »Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten«.24 Es müssen keine Personen sein, die einen Politiker von der Richtigkeit der Deregulierung überzeugen; wahrscheinlich sind es im Sinne von Foucault sogar eher nicht personal zu beschreibende Mächte, die als Dispositive die Verhaltenswahrscheinlichkeit nicht unbedingt determinieren, aber doch Geneigtheiten schaffen und so Einstellungen und Handlungen ermöglichen. In der neueren Forschung dominieren insgesamt überpersonale, medialisierte und systemtheoretische Machtbegriffe.25 Entgegen der Tendenz zu einer einseitig modalen Ausrichtung lässt sich Macht weiterhin zugleich verstehen als personal oder nicht-personal gedachte Ermöglichung (potentia) und als reale Macht von Personen und Institutionen (potestas). Der modale Machtbegriff allein läuft Gefahr, alle Katzen grau werden zu lassen, auch wenn er ausgehend von der potentia intellektuell besonders attraktiv sein mag. Allerdings neigt ein solcher modaler Machtbegriff dazu, das Leben im Totalitarismus mit seinen grausamen Erscheinungsformen zu verharmlosen, wenn alles gleichermaßen unter die Überschrift der Macht gestellt wird. Handfestere Machtbegriffe, ausgehend von der potestas, tendieren jedoch in ihrer Anknüpfung an spezifische Herrschaftsverhältnisse zur begrifflichen Einseitigkeit. Auf jeden Fall ist klar: Auch Machtbegriffe – seien sie negativ oder positiv, personal oder nicht-personal, modal oder nicht-modal, an potentia oder potestas ausgerichtet – sind selbst nicht neutral, sondern deutungsabhängig und bedürfen in ihren sich überlagernden Polaritäten der Reflexion.26 Deutungen können wie Gründe zu Ursachen werden; ihr machtvolles Eingreifen in die Welt ist daher prinzipiell kein Rätsel (mögen auch manche Gründe nur vorgeschoben sein). Menschen sind Wesen, die selbst- und 24 | Foucault, Michel: Die Maschen der Macht. In: ders.: Die Analytik der Macht. Frankfurt a.M. 2005, S. 220-239, hier S. 224 und S. 256. 25 | Siehe besonders Röttgers, Kurt: Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. München 1990 sowie Luhmann, Niklas: Macht. Konstanz, München 4 2012. Vgl. als Ausnahme eines weiterhin vertretenen personalen Machtbegriffes Popitz, Heinrich: Phänomene der Macht. Tübingen 21992 sowie den Popitz-Schüler Anter, Andreas: Theorien der Macht zur Einführung. Hamburg 2014. 26 | Der vorherige Absatz und einzelne Sätze davor und danach sind übernommen aus Hastedt, Heiner: Reflexion der Macht und Macht der Reflexion. Einleitende Bemerkungen. In: ders. (Hg.): Macht und Reflexion. Deutsches Jahrbuch Philosophie. Bd. 6. Hamburg 2016, S. 17-40. Siehe dort auch Gehring, Petra: Macht und Kritik. Über Machtanalyse als Kritikform, S. 83-104.
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fremdregulierend durch Deutungen und Gründe Wirkungen erzielen können. Deutungen sind dann mächtig, wenn sie einen Unterschied bewirken. Isaiah Berlin hat in diesem Zusammenhang zu Recht einige seiner ins Deutsche übersetzten Aufsätze unter der Überschrift »Die Macht der Ideen« publizieren lassen.27 Demnach erfüllen Ideen – entgegen der von Marx eigentlich intendierten materialistischen Ausrichtung – durchaus das Kriterium seiner 11. These über Ludwig Feuerbach, wenn sie die Welt verändern und in diesem Sinne deutungsmächtig sind. Nicht nur Geld (ökonomisch eng gefasst) lässt die Welt rotieren, sondern durchaus auch Deutungen. Hermeneutik und Kritische Theorie haben in ihrer Wirkungsgeschichte mit gegensätzlichen Gefahren zu kämpfen: Die Hermeneutik steht im Relativismus-Sog und die Kritische Theorie wird leicht zur »Wacht am Nein«28. Im Konzept der Deutungsmacht lassen sich die beiden Traditionen zusammendenken: Verstehen ist kein Selbstzweck, sondern Erfordernis von normativ erwünschter Veränderung – wie auch die Machtanalyse nicht für sich steht, sondern auf Veränderung zielt. Gelegentlich wird behauptet, dass das Konzept der Deutungsmacht der Postmoderne nachfolge und sich so in einer Gegenstellung zur Aufklärung befinde. Dies ist jedenfalls für das hier skizzierte Konzept falsch, und zwar sowohl von der Seite der Postmoderne her gedacht als auch von der Aufklärungsseite. Mit Wolfgang Welsch ist die Postmoderne als Fortsetzung der Moderne zu verstehen, die gerade für Aufklärer nicht zum Fürchten ist, wenn sie das Pluralistische der Moderne stark macht.29 Die den Pluralismus betonende Postmoderne ist eine Version der über sich aufgeklärten Aufklärung, der sich – so gelesen – auch das Konzept der Deutungsmacht verpflichtet fühlt. Umgekehrt ist von der Aufklärung zu erwarten, dass sie die »Dialektik der Aufklärung« gedanklich integriert und zur Selbstaufklärung in der Lage ist, die Einseitigkeiten aus der Epoche der Auf klärung reflexiv überwindet. Pluralismus wird manchmal mit Relativismus verwechselt: Daher ist es wichtig zu verstehen, dass die Postmoderne – jedenfalls in vielen ihrer Vertreter – nicht relativistisch, sondern pluralistisch auftritt. Auch Aufklärung muss heute ganz postmodern heißen, monolithische, gar totalitäre Deutungsansprüche zurückzuweisen und (in Jacques Derridas Jargon) zu dekonstruieren. Dies schließt auch die eigenen Vereinfachungen ein. Aktuell und beispielhaft gewendet, wäre demnach sowohl die reine Ökonomisierung aller Teile der Gesellschaft zurückzuweisen (zumal der schottische Aufklärer Adam Smith nur fehlerhafterweise in diesem Sinne verstanden wird) als auch eine Ökonomieverachtung, 27 | Berlin, Isaiah: Die Macht der Ideen. Berlin 2006. 28 | Marquard, Odo: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien. Stuttgart 1986. 29 | Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1987. Siehe auch seinen Beitrag in diesem Band.
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die meint, moralisierend alle Dimensionen der Suche nach Effektivität überspringen zu können. Ganz analog ist die Reduktion aller anthropologischen Fragen auf neurobiologische ebenso wenig überzeugend wie die in den Kulturwissenschaften gerne gepflegte Verachtung der Neurobiologie, die die großen Veränderungen in den Neurowissenschaften rückwärtsgewandt ignoriert. Wie in anderen Kontexten geht es um das richtige Maß und auch um ein Reagieren auf Kontexte: Wer unter zu viel Vereinheitlichung leidet (in den Künsten, in den Wissenschaften oder in Gesellschaften), der tut gut daran, wider den Stachel zu löcken und möglichst viele Argumente und Strategien gegen die Monopolisierung ins Feld zu führen. In Kontexten, in denen Orientierung und Verständigungsmöglichkeiten sowieso erodiert sind, werden Taktiken der Dekonstruktion schal und verlangen nach einer Umkehrung der Blickrichtung, um neue Gemeinsamkeiten zu entdecken. Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit heißt heute auch, Frau (Herr) zu werden und zu bleiben über die eigenen Deutungen. Wir werden – mit einem modalen Machtbegriff erschließbar – von vielen Deutungsmächten geprägt; personalisiert können wir versuchen, Macht gegenüber diesen Mächten zu gewinnen. Wie eine Therapie im Persönlichen für den Versuch steht, Zugang zu bisher verschlossenen Selbstdeutungen zu finden und so die Macht krankmachender Deutungen zu brechen, so geht es bei der gesellschaftlichen Mündigkeit darum, Freiheit trotz aller behaupteten Alternativlosigkeiten zu ermöglichen. Mit Hans Blumenberg lässt sich auf den evolutionären Vorteil einer solchen Nachdenklichkeit in Freiheit hoffen.30
II. W ahrheitspr ak tiken für Z eitdiagnosen Die Wahrheitsfrage ist selbst eine Deutungsmachtfrage, aber die Frage nach der Deutungsmacht macht die Frage nach der Wahrheit gleichwohl nicht obsolet. Die Deutungsmachtfrage verweist in zweifacher Hinsicht auf einen Wahrheitsanspruch: Zum einen müssen Einschätzungen zur Macht von Deutungen selbst den Anspruch der Wahrheit erheben und zum anderen sind Wahrheitszuschreibungen selbst Deutungen, die wie alle anderen in die Sphäre der Macht gehören. Macht nicht ohne die Wahrheitsfähigkeit von Deutungen zu thematisieren, soll die reduktive Tendenz der Machtfrage vermeiden, wie sie nicht zuletzt im 19. Jahrhundert ausgehend von Karl Marx und Friedrich Nietzsche verbreitet war. Die Macht von Deutungen zu untersuchen, setzt die Frage, ob wir es mit wahren, zustimmungsfähigen und überhaupt akzeptablen Deutungen zu tun haben, nicht außer Kraft. Von der Allgegenwart von 30 | Blumenberg, Hans: Nachdenklichkeit. In: Hastedt (Hg.): Macht und Reflexion, S. 41-45.
Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen
Deutungen und von Macht auszugehen, erspart nicht die (selbst wiederum deutungsmächtige) Differenzierung zwischen legitimer und illegitimer Macht im Umgang mit Deutungen. Daher ist es auch im Hinblick auf Zeitdiagnosen bedeutsam, die in ihnen enthaltenen Deutungen als wahrheitsfähig zu begreifen und sie entsprechend zu diskutieren, um die Risiken von Zeitdiagnosen möglicherweise zu minimieren. Mit Michael Hampe lässt sich von »Wahrheitspraktiken« auch für Zeitdiagnosen sprechen, die sich gerade der Verdummung durch falsche und verabsolutierende Diagnosen widersetzen können und sich in der Tradition der Aufklärung sehen.31 Im Konsens etablierte Wahrheitspraktiken für Zeitdiagnosen gibt es bisher weder in den Wissenschaften noch in der Öffentlichkeit. Im Beitrag von Michael Hampe finden sich unter der aufklärerischen Überschrift »Habe Mut, Deine Wahrheitspraktiken zu entwickeln und zu kultivieren«32 wichtige Fingerzeige auf eine solche Praktik als »Suchbewegung«. Auf den Spuren von pragmatistischen Autoren betont Hampe das Prozedurale der Wahrheit: »Wahrheit ist das, was am Ende einer erfolgreichen Inquiry steht, am Ende einer Untersuchung, die Zweifel ausräumt, Widersprüche beseitigt, Zusammenhanglosigkeiten klärt, Entsprechungen ans Licht bringt oder was auch immer. Das Wort ›Wahrheit‹ hat deshalb mit den Erfolgen zu tun, die am Ende einer Anstrengung stehen können.«
Die Wahrheit von Aussagen kann nicht ein für alle Mal als Übereinstimmung mit der Realität definiert werden, sondern sie bedarf der Praktiken, die die Annäherung an die Wirklichkeit etablieren können: »Eine aufgeklärte Philosophie sollte diese Selbstentwicklung von Wahrheitspraktiken fördern und nicht unter die Fuchtel einer allgemeinen Erkenntnis- und Wahrheitstheorie stellen wollen.« Das Konzept von Wahrheit im Hinblick auf Wahrheitspraktiken zu erschließen, stellt die Wahrheitssuche gegenüber dem zum Dogmatismus neigenden Wahrheitsbesitz heraus und verdeutlicht, dass im Suchen der Wahrheit immer auch Deutungen in ihrer Mächtigkeit unvermeidlich sind. Wer wie Hampe von Wahrheitspraktiken spricht, setzt in der Tradition des Pragmatismus nicht auf einen Set von überzeitlich stabilen Kriterien für Wahrheit, sondern zielt auf einen in der sozialen Praxis etablierten, vernünftigen und Urteilskraft erfordernden Umgang mit Deutungen, der die Dimension der Macht dabei nicht hinter sich lassen kann. Wie können Wahrheitspraktiken, ausgehend von Hampes Überlegungen, für Zeitdiagnosen aussehen? Im Sinne meiner Argumentation scheint es nicht 31 | Siehe jetzt auch Hampe, Michael: Die Dritte Aufklärung. Berlin 2018. 32 | Die Zitate in diesem Absatz finden sich in Michael Hampes Beitrag auf den Seiten 65, 53, 53 und erneut 65.
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ausreichend, für die Etablierung solcher Wahrheitspraktiken eine Zeitdiagnose einfach nur zu formulieren und sich dann mit einer internen Plausibilität und Konsistenz zu begnügen. Dies leisten Verschwörungstheorien genauso. Zeitdiagnosen brauchen Außenhalt, um wahr zu sein. Daher erfordern sie eine Suchbewegung, die ihre Plausibilität angesichts der immer vielfältigen Realität herausarbeitet und dann möglichst auch noch im Angesicht von Alternativen stark macht. Eines der größten Probleme bei Zeitdiagnosen ist, dass an ihnen sehr häufig »irgend etwas« dran ist, aber es nicht leicht zu klären ist, wie relevant und verbreitet ein solcher Ankerpunkt in der Realität ist. Daher lautet die Einstiegseinsicht im Umgang mit ihnen: Zeitdiagnosen können nicht nur falsch, sondern vor allem unzureichend sein! Beispielsweise hat sich die Zeitdiagnose von Daniel Bell aus den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, die eine nachindustrielle Entwicklung und ein weitgehendes Ausbreiten von Dienstleistungen auf Kosten der Industrie diagnostiziert, trotz vieler Indizien zu ihren Gunsten als problematisch erwiesen: Bells Diagnose war besonders in Großbritannien so erfolgreich, dass sie politisch handlungsleitend wurde, indem der Niedergang der alten Industrie billigend in Kauf genommen wurde, weil sie sowieso von gestern sei, und sich besonders in London die industriekapitalistischen Firmen ausbreiteten. In der Finanzkrise 2007/8 rächte sich diese Schwerpunktsetzung, da Britannien so sehr viel größere Schwierigkeiten hatte, die Rezession zu überwinden als beispielsweise Deutschland mit seinem breiten industriebasierten Mittelstand. Bells Diagnose war nicht komplett »falsch«, aber in seinem einseitigen Betonen eines richtigen Aspekts entwickelte sie gleichzeitig prognostische Suggestionen, die sich als falsch herausgestellt haben. Besser wäre es hier, immer den Charakter der Teilwahrheit bei Zeitdiagnosen zu betonen und der oft implizierten Prognose gänzlich zu widerstehen. Autoren und Autorinnen, die selbst Zeitdiagnosen formulieren, scheinen im Ausformulieren einer Diagnose die eigene Arbeit oft für beendet zu halten und sich wenig Mühe zu geben, die eigene Sicht auf die jeweilige Zeit als besonders angemessen auszuweisen. Für das Nachdenken über Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen lassen sich zwei Aufsätze von Hans-Peter Müller und Walter Reese-Schäfer finden, die wichtige Gedanken formulieren.33 Walter Reese-Schäfer hat in einer Antrittsvorlesung als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen ihre Interessantheit, Plausibilität, solide Recherche und innere Stringenz starkgemacht. Er betont das Riskante von Zeitdiagnosen und fordert Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf, nicht in einer Spezialistennische zu verharren, sondern mit dem Mut zum Irrtum, Übergreifendes gut formuliert auf den Punkt zu bringen. Sachlich gleichlautend betont Hans-Peter 33 | Müller: Sinn deuten, S. 352-357; Reese-Schäfer, Walter: Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe. In: Berliner Journal für Soziologie 6 (1996), S. 377-390.
Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen
Müller: »Zeitdiagnostik ist und bleibt Soziologie mit beschränkter Haftung. […] Deutung heißt stets, das analytisch und empirisch gewonnene Wissen zu synthetisieren und die Erkenntnisse interpretativ zu verdichten.«34 Müller profiliert im Detail vier Funktionen von Zeitdiagnosen, deren Berücksichtigung als Indiz für ihre Qualität gelten kann. Nach der konstitutiven Funktion bietet eine Zeitdiagnose Orientierung; ohne diese Funktion – so lässt sich der Autor verstehen – handelte es sich nicht um eine Zeitdiagnose. Ob die Orientierung allerdings zutrifft, bleibt nach dieser ersten Überlegung noch offen; denn Orientierung können auch Verschwörungstheorien und wenig angemessene Zeitdiagnosen bieten (es sei denn, in den Orientierungsbegriff wird selbst die Komponente des Zutreffenden schon definitorisch aufgenommen). Für Müller ist die kognitive Funktion der Zeitdiagnose besonders hervorzuheben: Falls vorhanden, werden sie durch Theorien und empirische Belege unterstützt, die beide für die Wahrheitsfrage besonders einschlägig sind. Die expressive Funktion, die den Beitrag der Zeitdiagnosen zur Selbstverständigung stark macht, kann demgegenüber unabhängig von der Wahrheit erfüllt werden. Neben der konstitutiven, kognitiven und expressiven spricht Müller noch die evaluative Funktion einer Zeitdiagnose an, die gegenüber dem Diagnostizierten bewertend Stellung nimmt. Interessant ist die weitere Überlegung von Müller, dass Zeitdiagnosen weder zu früh noch zu spät kommen dürfen, da der Zeitbezug eben auch eine Passgenauigkeit im Timing erfordert. Eine Zeitdiagnose, die immer passt, wäre keine. Dementsprechend muss eine Zeitdiagnose das Risiko eingehen, entweder von gestern oder vorschnell zu sein. All diese Vorschläge für Qualitätskriterien verdeutlichen, dass eine gute Zeitdiagnose sowohl deutungsmächtig Orientierung bieten als auch wahr sein sollte. Grundsätzlich können falsche Zeitdiagnosen auch Orientierung bieten, zur Selbstverständigung genutzt werden, die Gegenwart bewerten, durchaus interessant und sogar plausibel sein. In diesem Zusammenhang mag eine Erinnerung an einen zentralen Impuls von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft hilfreich sein: Kant argumentiert, dass bei Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit die spekulative Vernunft jeweils zu Antworten kommt, die in ihrer Gegensätzlichkeit jeweils plausibel sein können. Ohne Bezug auf Erfahrung bleiben diese Plausibilitäten jedoch leer und führen nicht zu wahrer Erkenntnis.35 Analog auf Zeitdiagnosen angewandt, heißt dies, dass die reine spekulative Vernunft als Kompass für die Wahrheit nicht ausreicht. Ohne 34 | Müller: Sinn deuten, S. 357. Vgl. auch die Mahnung von Reese-Schäfer: Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe, S. 379: »Viele Zeitdiagnosen sind nur angeblich Diagnosen. Die Therapie steht schon fest und ihre mehr oder weniger erheblichen Kosten und Nebenwirkungen müssen nur noch durch die passende Diagnosestellung legitimiert werden.« 35 | Vgl. Adorno: Negative Dialektik, S. 52: »Wahrheit ist objektiv und nicht plausibel.«
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empirische Belege hängt eine Zeitdiagnose im spekulativen Himmel fest und kann der Wahrheitsfrage nicht Genüge tun. Empirie muss allerdings nicht enggeführt verstanden werden als quantifizierende Sozialforschung, womöglich noch auf Fragebogenbasis. Auch ein qualitativ arbeitender Sozialforscher, ein Phänomenologe und ein Literat können es schaffen, empirische Belege beizubringen. Wahrheitspraktiken im Umgang mit Zeitdiagnosen stehen insgesamt dafür, dass sie auf der Basis des bestverfügbaren Wissens formuliert werden. Dabei dürfte der Versuchscharakter der Zeitdiagnose eine weitere wichtige Funktion haben, indem sie Gesprächsangebote zum Verständnis der eigenen Zeit bietet. Reflexive Nachdenklichkeit im Umgang mit Zeitdiagnosen hilft, um nicht jedem Schnellschuss sofort zu folgen. Zur Reflexion gehört die Urteilsbildung durch Kenntnisnahme vieler Zeitdiagnosen und deren Diskussion im Hinblick auf Stärken und Schwächen.36 Fragen bei einer solchen Urteilsbildung können sein: Welche Zeitdiagnose wird für welche Gruppe von Menschen genau formuliert? Wie wird die vorgetragene Zeitdiagnose begründet? Gibt es Bemühungen zur Verifikation beziehungsweise zur Falsifikation? Welche empirischen Belege werden beigebracht? Welche nicht-empirischen Begründungen lassen sich erschließen? Werden aus der Diagnose Therapievorschläge abgeleitet? Nach einer solchen fragebasierten Pluralismus-Schulung in urteilskräftiger Ausrichtung dürfte die Holismus-Gefahr von Zeitdiagnosen, die seit Hegel besteht, geringer ausfallen. Eine Zeit als solche lässt sich gar nicht in Gedanken fassen. Vieles passt nicht unter eine Überschrift; einzelne Begebenheiten lassen sich vielleicht gut beschreiben und angemessen verstehen, aber nicht eine ganze Zeit. Gesellschaft als Singular gibt es nicht, sondern nur pluralistische Sichtweisen auf gesellschaftliche Phänomene. Nach dem Starkmachen der Wahrheit gegen Tendenzen der kulturwissenschaftlichen Diskussion, die aus einer falsch verstandenen Postmoderne und aus konstruktivistischen Überlegungen erwachsen, stellt sich die Frage, wie sich das Konzept der Deutungsmacht zu den angesprochenen Vorschlägen für Qualitätskriterien verhält. Ich schlage vor, Deutungsmacht selbst als eines der Qualitätskriterien anzusehen. In den Aufsätzen von Müller und Reese-Schäfer wird der Begriff der Deutungsmacht zwar nicht benutzt, aber bei letzterem noch stärker als bei ersterem wird deutlich, dass es einen Wert darstellt, eine Zeitdiagnose zu entwerfen, die Gehör findet als Angebot auf den »Märkten des
36 | Vgl. ähnlich Reese-Schäfer, Walter: Zeitdiagnose als wissenschaftliche Aufgabe, S. 378: »Ich halte die systematische Durchdringung der besten und herausragenden Zeitdiagnosen für einen Weg, um Kriterien zu erarbeiten, die uns Urteilsgrundlagen an die Hand geben können, um nützliche und brauchbare, erhellende und Einsicht fördernde Zeitdiagnosen scheiden zu können von denen der Propagandisten und Wunderheiler.«
Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen
Deutungsgeschäftes«.37 Eine Zeitdiagnose ohne Deutungsmacht zielt zwar darauf, ihre Funktionen wahrzunehmen, scheitert jedoch an diesem Ziel. Auch wenn Macht verdächtig sein kann und vor allem die Wahrheitsfrage nicht überflüssig macht, sollte Deutungsmacht als Tugend von Zeitdiagnosen angesehen werden. Dies schließt vielleicht nicht immer die medialen Verstärkereffekte ein, wenn der berühmte Autor lieber gehört wird als eine unbekannte Kassandra. Auch wenn Macht immer wieder auf Abwege führt, ist Deutungsmacht prinzipiell ein Qualitätskriterium für Zeitdiagnosen, das neben der Wahrheit als solches verstanden werden kann.
III. K ritik der » quantitativen B lendung « Jonas Lüscher profiliert die »Diagnose einer quantitativen Blendung der Gegenwartsgesellschaft« und kontrastiert das Zählen und Messen als »Antidot« zum Narrativen.38 Die Flucht ins Erzählen hat in seinem Beitrag auch die persönliche Dimension einer Abkehr von der ursprünglich geplanten philosophischen Dissertation zum Leben als (Erfolgs-)Autor. Geblendet vom Quantitativen werden wir blind für die Tugenden des Erzählens. Der Kapitalismus, der hinter der Dominanz des Quantitativen steht, wirkt seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wie ein »adipöser Halbstarker«, der in der »Beziehungsgeschichte des Quantitativen und des Narrativen« die eigentlich sinnvolle Ausgewogenheit einseitig auf die eine Seite drückt. Der Bezug von Lüschers anregenden Überlegungen zum Thema der Zeitdiagnosen ist ein doppelter: Die Rede von der »quantitativen Blendung« enthält selbst eine Zeitdiagnose und sie hilft, Zeitdiagnosen in ihrer eher nicht quantitativ ausgerichteten Form gegenüber den Vorbehalten »harter« Empiriker zu stärken. Dementsprechend setzen reflexiv betriebene Zeitdiagnosen einen Gegenakzent zur quantitativen Blendung, wie umgekehrt die Kritik der »quantitativen Blendung« indirekt auch Zeitdiagnosen verteidigt. Steffen Kluck folgt im Rahmen der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz der Einschätzung, dass gegenwärtig die Erfassung von »Konstellationen«, zu denen auch die Quantifizierung gehört, die Fähigkeit, wirklichen Kontakt zu Situationen aufnehmen zu können, verdrängt: »Nur was quantitativ erfasst werden kann, ist realer und bedenkenswerter Fakt in der Welt.«39 Die ständigen Berichts- und Evaluierungspflichten prägen auch den Bereich 37 | Müller: Sinn deuten, S. 352. 38 | Die Zitate in diesem Absatz finden sich in Jonas Lüschers Beitrag auf den Seiten 73, 73, 75, 77 und 69. 39 | Die Zitate in diesem Absatz finden sich in Steffen Klucks Beitrag auf den Seiten 94, 96 und 105. Vgl. insgesamt Mau, Steffen: Das metrische Wir. Über die Quantifi-
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des Zwischenmenschlichen durch Zahlen. Auch wenn Kluck ebenso wie Lüscher die grundsätzliche Berechtigung des Vermessens gar nicht leugnen will, kritisiert er doch die Dominanz der »blinden Zahlen-Justitia« ganz grundsätzlich und arbeitet heraus, dass auch die Dominanz der Zahlen einen Preis in der Unfähigkeit zur Wahrnehmung von Situationen hat und damit den Möglichkeitsraum der Lebensfülle beschneidet. Situationen sind im Gegensatz zu Quantifizierungen reichhaltig und vieldeutig und werden in der Quantifizierung vereindeutigt und damit verkürzt: »Wenn eine Kultur (und genauso ein Individuum) sich über Zahlen Rechenschaft zu geben versucht, läuft sie Gefahr, sich selbst zu verkennen.« Der Situationsbegriff legt nahe, dass ein Gespür für Situationen dabei hilft, angemessene Zeitdiagnosen zu formulieren. Einzelne Situationen erschließen aber keineswegs eine Zeit oder eine Gesellschaft als Ganze, sondern mahnen in ihrer Vielfalt zur Bescheidenheit in der Reichweite von Zeitdiagnosen. In der Sprache der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule lässt sich die Quantifizierung der instrumentellen Vernunft zuordnen, die Weltverhältnisse einer effizienten Zweck-Mittel-Betrachtung unterwirft. Christian Klager zieht in seinem Beitrag die Linien seiner Dissertation kulturkritisch aus und empfiehlt das Spielen als Gegengewicht zur instrumentellen Vernunft.40 Dabei ist klar, dass auch Spielen selbst zur Effektivitätssteigerung eingesetzt und so Teil der instrumentellen Vernunft werden kann. Klager setzt demgegenüber auf eine spielende Loslösung von der instrumentellen Vernunft, die nicht zuletzt ausgehend von Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen einen kontemplativen Weltzugang erleichtert. Gerade im Bildungszusammenhang bieten sich Alternativen zum rein vernunftgesteuerten Lernen an, die spielend kreative Lösungen und auch Partizipationserfahrungen im Miteinander ermöglichen. Selbst zur Annäherung an Wirklichkeit kann Spielen für Klager beitragen. Damit gehört es erkenntnistheoretisch in den Kontext einer Kritik der »quantitativen Blendung«, weil es ein Gegengewicht zur instrumentellen und rechnenden Vernunft bildet. Bei den meisten in den Kulturwissenschaften Arbeitenden dürfte die Kritik der Quantifizierung auf offene Ohren stoßen. Selbstkritisch sei aber doch gefragt: Gibt es nicht auch Argumente für die Quantifizierung? Begünstigen narrative Zeitdiagnosen womöglich eine kulturkonservative Larmoyanz? Interessante Gesichtspunkte gegen eine überzogene Kritik der Quantifizierung liefern unter anderem Pierre Bourdieu, Steven Pinker und Paul Collier. Bourdieu schätzt Zahlen gerade bei der Leistungsmessung im Wissenschaftsbetrieb, zierung des Sozialen. Berlin 2017 sowie Schlaudt, Oliver: Die politischen Zahlen. Über Quantifizierung im Neoliberalismus. Frankfurt a.M. 2018. 40 | Klager, Christian: Spiel als Weltzugang. Philosophische Dimensionen des Spiels in methodischer Absicht. Weinheim 2016.
Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen
weil sie unabhängig die Autorität und die Selbsttäuschung der Mächtigen unterminiert und sich gut für Rückfragen des Typs »Stimmt das eigentlich?« und »Worauf gründet sich Ihr Renommee?« eignet.41 Steven Pinker hat in zwei Büchern eine Unmenge von Zahlen zusammengetragen, um in dem einen den Rückgang der Gewalt in der Geschichte der Menschheit42 zu dokumentieren und um in dem anderen, allerdings unter der Überschrift eines allzu undifferenzierten Aufklärungsbegriffes, eine optimistische Fortschrittsgeschichte43 nahezulegen, die unter anderem die stetige Zunahme der Lebenserwartung, die Abnahme tödlicher Krankheiten ebenso wie von Kinderarmut im weltweiten Durchschnitt als Grundlage nimmt. Paul Collier vermeidet die großen Polaritäten in der Frage, wie die Armut in der Welt überwunden werden kann; dafür nutzt er diagnostisch Zahlen, um die herrschenden Ideologien und wenig überzeugenden Alternativen in der Frage der Armutsüberwindung in der Welt zu vermeiden.44 Mich selbst beschäftigt die Rolle von Quantifizierungen besonders im Nachdenken über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens, für das aus meiner Sicht im Anschluss an Hannah Arendt durchaus grundsätzliche normative Gründe sprechen.45 In der Frage der Realisierung spielt dann aber der Taschenrechner doch eine wichtige Rolle. Schnell wird bei einfachen Überschlagsrechnungen deutlich (500, 1.000 oder gar 2.000 Euro pro Monat in der Höhe bei 5, 10, 20 oder 30 Millionen Berechtigten eventuell unter Einbeziehung von bedürftigen Kindern und Rentnern in der Bundesrepublik Deutschland), welch gigantisches Unterfangen eine Realisierung des Grundeinkommens bedeutet. Ohne Quantifizierung erschließt sich das Realisierungsproblem nicht so leicht. Ökonomische Fragen ohne ein Gespür für Zahlen traktieren zu wollen, leuchtet demgemäß nicht ein, aber selbstverständlich sind nicht alle gesellschaftlichen Fragen ökonomische. Und auch innerhalb der Ökonomie gibt es seit der Krise 2007/08 41 | Bourdieu, Pierre: Homo academicus. Frankfurt a.M. 1992. 42 | Pinker, Steven: Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt a.M. 2011, dort programmatisch S. 13: »Angesichts [von] Voreingenommenheiten muss ich Überzeugungsarbeit mit Zahlen leisten, die ich aus Datensammlungen entnehme und graphisch darstelle.« 43 | Pinker, Steven: Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt a.M. 2018. Vgl. Deaton, Angus: Der große Aufbruch. Von Armut und Wohlstand der Nationen. Stuttgart 2017 sowie Rosling, Hans u.a.: Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist. Berlin 2018. 44 | Collier, Paul: Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann. München 2008. Vgl. Banerjee, Abhijit V./Duflo, Esther: Poor Economics. A Radical Rethinking of the way to fight global poverty. Philadelphia 2011. 45 | Hastedt, Heiner: Der Wert des Einzelnen. Eine Verteidigung des Individualismus. Frankfurt a.M. 1998, besonders S. 136f.
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zu Recht viele Stimmen, die ihre reine Zahlenfixiertheit kritisieren und einen geschichtlichen Sinn mit Gespür für Situationen gerade zur Abwendung von Krisen fordern.46 Insgesamt scheint die Kritik der »quantitativen Blendung« einen wichtigen zeitdiagnostischen Punkt zu treffen – jedenfalls solange sie die Dominanz des Quantitativen kritisiert und auf eine angemessene Balance mit dem Narrativen setzt. Im Umgang mit der Digitalisierung findet sich heute zeitdiagnostisch vielleicht das wichtigste Anwendungsfeld einer Kritik der »quantitativen Blendung«, in dem sich zugleich studieren lässt, dass eine fundamentale Ablehnung auch keine attraktive Lösung darstellt. Digitalisierung und die damit verbundene Big Data-Orientierung sind insgesamt vermutlich sogar in der Form des virtuellen Spiels ein Teil der gesellschaftlichen Welt, die von instrumenteller Vernunft, »Konstellationen« und der »quantitativen Blendung« geprägt wird. Rund um die Digitalisierung läuft konfliktträchtig ein Ringen um Deutungsmacht, bei dem deren Wert ebenso umstritten ist wie vermeintlich altmodische Tugenden wie die Nachdenklichkeit.47 Quantifizierende Digitalisierung bringt sicher nicht alles Unglück oder Glück neu in die Welt, aber sie kann als Trendverstärker für eine ohnehin laufende Funktionalisierung und Instrumentalisierung gelten, die als Teil einer »Dialektik der Aufklärung« zu verstehen ist. Neben der Zone des immer Exakteren gedeiht die Kehrseite des Irrationalen. Gut informierte Entscheidungen verhindern keinen Dezisionismus an anderer Stelle; noch so gute Planung macht ad-hoc-Reaktionen nicht obsolet. Und gerade mancher, der besonders verstandesorientiert vorgeht, hat ein abergläubisches Eckchen. In freier Variation dessen lässt sich daraus folgern, dass ein Digitalisierungserfolg sofort eine Digitalisierungslücke nach sich zieht. So wird leicht übersehen, dass quantifizierende Digitalisierung eine Scheingenauigkeit schafft, die Situationen unter Einschluss von Subjektivität und Leiblichkeit aber gerade nicht gerecht wird, zumal die Voraussetzungen der Digitalisierung ohnehin oft im Dunkeln bleiben.48 46 | Siehe ähnlich Riedel, Frank: Die Schuld der Ökonomen. Was Ökonomie und Mathematik zur Krise beitrugen. Berlin 2013. 47 | Geiselberger, Heinrich/Moorstedt, Tobias: Big Data. Das neue Versprechen der Allwissenschaft. Berlin 2013; Mainzer, Klaus: Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data. München 2014; Bunz, Mercedes: Die stille Revolution. Wie Algorithmen Wissen, Arbeit, Öffentlichkeit und Politik verändern, ohne dabei viel Lärm zu machen. Berlin 2012; Castells, Manuel: Das Informationszeitalter. Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur. Drei Bände. Opladen 2003; Franck, Georg: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998. 48 | Vgl. im Zusammenhang mit Big Data die weit ausgreifende Zeitdiagnose von Zuboff, Shoshana: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt a.M., New York 2018.
Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen
IV. Z ur F ik tionalität in Z eitdiagnosen In der klassischen Wissenschaftstheorie, die die Entwicklung der Physik als Muster nimmt, wird beispielsweise in Poppers Version davon ausgegangen, dass nach der Formulierung einer Hypothese diese in Experimenten getestet und bei nicht erfolgter Falsifizierung bis auf Weiteres gilt. Dieses gedankliche Motiv ist auch für Zeitdiagnosen wichtig, auch wenn Experimente kaum eine direkte Rolle spielen dürften. Das Grundmotiv der Falsifizierbarkeit fordert von Zeitdiagnosen, dass sie selbst ein Interesse an einer Auseinandersetzung über ihre eigene Richtigkeit hinaus, nämlich auf ihre Angemessenheit, haben. Eine Zeitdiagnose, die so allgemein wie richtig ist, hat keinen Wert, sondern nur eine, die so profiliert auftritt, dass sie riskiert, falsch zu sein. Helmut Lethen erschließt in seinem Beitrag, dass Fiktion als Annäherung an die Wirklichkeit gedacht werden kann. Ist dies ein Widerspruch zur Falsifizierbarkeit, da fiktiv alles ausgedacht werden kann? Auf den Spuren Lethens lässt sich herausarbeiten, dass im Gedankenexperiment der Fiktion vielleicht eine besonders gute Form der Wirklichkeitsannäherung praktiziert werden kann. Anders als die Geschichtswissenschaft, die ihre Begrenzung nicht nur durch die Quellenlage, sondern auch in der Einbildungskraft des Forschenden erfährt und die gerade intellektuelle Auseinandersetzungen in den Personen selbst und zwischen Personen im Kammergespräch nur schwer erfassen kann, können »Geistergespräche«, so der Untertitel des Beitrages von Lethen, experimentell Perspektiven und Motive von Personen subtil erkunden. Verweisungs- und gedankenreich zeigt Lethen in Bezug auf sein eigenes Buch zu den »Staatsräten«49 Carl Schmitt, Gustaf Gründgens, Wilhelm Furtwängler und Ferdinand Sauerbruch, dass Fiktionalität nicht nur der Erschließung der Wirklichkeit nicht entgegensteht, sondern manchmal sogar dazu nötig ist. Dabei ist ihm bewusst, dass eine gestaltschließende Fiktionalität nicht als Selbstverifikation genommen werden darf, sondern in der Fiktion selbst immer wieder auf ihre Brüchigkeit und ihren experimentellen Charakter zu verweisen ist. Die Fiktionalität in Zeitdiagnosen zu verteidigen, knüpft zwanglos an die Kritik der »quantitativen Blendung« an, weil die Zahlenform beispielsweise in den Umfragen oder Statistiken der Sozialwissenschaften nicht von vornherein als die überlegene Form angesehen wird, eigene oder vergangene Zeiten auf den Begriff zu bringen. Im Gegenteil, sie könnten dieser Form sogar überlegen sein, weil die tastende Deutungssuche mit ihrem erwägenden Charakter gegenüber der Scheingenauigkeit der Zahlen von größerem Verständnis geprägt sein kann.
49 | Lethen, Helmut: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt. Berlin 2018.
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Sina Farzin knüpft gedanklich ebenfalls an die Stärkung der Fiktionalität an, wenn sie aufzeigt, dass Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose fungiert. In der Geschichte der Soziologie gibt es lange schon ein Schwanken zwischen einer Nachahmung naturwissenschaftlicher Erfolge als Sozialphysik und dem minutiösen Nachzeichnen von Einzelschicksalen in der Literatur.50 In der gegenwärtigen Soziologie kann der Erfolg von Didier Eribon51 mit seiner Schilderung einer politischen Wanderung ehemals kommunistischer Arbeitermilieus zum Front National für Farzin ebenfalls mit seiner quasi-literarischen Erschließung der eigenen Familiengeschichte erklärt werden, in der die eigene Erfahrung ganz direkt als Verifikation genommen und gegenüber soziologischen Statistiken als überlegen angesehen wird. Die besondere Stärke des Arbeitens mit Fiktionalität in der Soziologie sieht sie in dem, was sie die vertiefte Erschließung der Intersubjektivität nennt, in der die »Befindlichkeit des Individuums, sein Erleben und auch Leiden an den sozialen Zwängen«52 besonders gut analysierbar werden. Zugleich kann mit einem utopischen Überschuss im »abgesicherten Raum des Fiktiven« die vermeintliche Alternativlosigkeit der Gegenwart überwunden werden, so dass die »strikte differenzierungstheoretische Vorstellung einer festen und eindeutigen Grenze zwischen Literatur und Soziologie« aufzugeben ist. Hanno Depner arbeitet heraus, dass Narrativität und Fiktionalität von Zeitdiagnosen – anders als die Suggestionen der Quantifizierung – kritische Rezipienten zu einem autonomen Urteil gerade im Hinblick auf implizierte Bewertungen drängen und so Reflexion begünstigen. Besonders Deutungen, die in zeitdiagnostischen Fiktionen enthalten sind, eröffnen auf diese Weise den Freiraum der Stellungnahme und verhindern anders als bloße Daten in ihrer Stilisierung als Fakten eine wissenschaftskonsumistische Haltung in der Rezeption. Im Fortgang seines Beitrages steht die Auseinandersetzung mit der für ihn mehr verstellenden als erhellenden Zeitdiagnose einer »Bilderflut« im Mittelpunkt, die für ihn empirisch ohnehin auf tönernen Füßen steht. Aufgeklärte Bildtheorie – so seine Akzentsetzung – verdeutlicht die Nicht-Hintergehbarkeit von Bildern: »Der Elfenbeinturm distanzierter und sicherer Erkenntnis ist gleichsam von Bildern geflutet, die ebenfalls den ausschließlich propositional vorgehenden Beobachter weggespült haben.«53 Wie die fiktionale Narration der Literatur, die sich nach Lethen gerade als Vehikel einer Annäherung an die Wirklichkeit erweist, sind auch vermeintlich fiktionale Bilder nicht bloß eine sekundäre Veranschaulichung von Phänomenen der Welt, sondern selbst 50 | So in Bezug auf Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Frankfurt a.M. 2002. 51 | Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Berlin 2016. 52 | Die Zitate finden sich in Sina Farzins Beitrag auf den Seiten 140, 141 und 148. 53 | Dieses Zitat findet sich in Hanno Depners Beitrag auf Seite 158.
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konstitutiv für den Zugang zur Wirklichkeit. So wird sinnfällig, dass Bilder keineswegs nur Gegenstände von Zeitdiagnosen sind, sondern diese selbst prägen. Unterschiedliche Formen der Fiktionalität legen Zeitdiagnosen nahe und bedürfen der Einbeziehung, wenn es um die Entwicklung von Wahrheitspraktiken für Zeitdiagnosen geht.
V. W elche Z eitdiagnosen se t zen sich durch ? Walter Reese-Schäfer knüpft unausgesprochen an die Frage der Wahrheit von Zeitdiagnosen an, indem er sich mit ihrem »Problem der vermeidbaren Irrtümer« konfrontiert. Viele Leser und Leserinnen werden sich durch seine Überlegungen provoziert fühlen, wenn er versucht nachzuzeichnen, dass Ronald Reagan in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts mit seiner harten Konfrontationsstrategie gegen die Sowjetunion, die auf deren Instabilität setzte, vielleicht, anders als oft in Deutschland geurteilt, doch richtig gelegen hat: »Der mainstream der zeitdiagnostischen Literatur hat die Sowjetunion für stabil gehalten. Die nachträglich als zutreffend einzustufenden gegenteiligen Diagnostiken waren Minderheitsmeinungen, die von unseren Vordeutern als absurd und sogar gefährlich eingestuft wurden, sofern unsere Medien damals überhaupt darüber berichtet und solche Analysen nicht einfach verschwiegen haben.« 54
Eine zunächst nicht deutungsmächtige Zeitdiagnose erweist sich im Abstand der Jahre gleichwohl als wahr – und gewinnt so auch zögerlich an Deutungsmacht. In Analogie zu Reagans ursprünglichem Deutungsmisserfolg thematisiert Reese-Schäfer auch Bassam Tibis Diagnose zugunsten eines liberalen und toleranten Euro-Islam, der in der Gegenwart in der Aufmerksamkeit gänzlich hinter der Dominanz des zeitgenössischen Islamismus verschwindet. Angesichts der Irrtumsanfälligkeit von Zeitdiagnosen mit ihrer Tendenz zur political correctness setzt Reese-Schäfer einige Hoffnung in den roman expérimental, der beispielsweise bei Michel Houellebecq literarisch in der Fiktionalität, ganz wie bei Lethen propagiert, ein ausprobierendes Verhältnis zu Zeitdiagnosen entwickeln kann. Ganz deutlich wird für ihn: »Zeitdiagnose ist kein müßiges Spiel, sondern prägt die Koordinaten der Realitätswahrnehmung [und] leitet also die Auswahl und Einschätzung der Faktizität.« Wolfgang Welsch zeichnet das Mächtigwerden der Postmoderne nach, deren Ablehnung wohl bis heute weit verbreitet ist, aber die gleichwohl untergründig erfolgreich war. Ausgehend von einer nordamerikanischen Literatur54 | Die beiden Zitate von Walter Reese-Schäfer finden sich in seinem Beitrag auf den Seiten 168 und 181.
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debatte wurde der Begriff der Postmoderne auf die Architektur übertragen und fand dort eine deutungsmächtige Verbreitung. Als Protagonist der Postmoderne in der Philosophie macht Welsch Jean-François Lyotard stark, der besonders in seinem Widerstreit das Ringen um Übergänge zwischen den Verschiedenheiten akzentuiert. Habermas’ Polemik hält demgegenüber im Kontrast zu Lyotard – so Welsch überzeugend – mit seiner Denunziation der Postmoderne als konservativ und historistisch nicht das Niveau der Debatte und nutzt sie zu einem Rundumschlag, der gleichermaßen Nietzsche, Heidegger, die Dialektik der Auf klärung von Horkheimer und Adorno sowie die französische Philosophie der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts treffen soll. Michael Butter widmet sich dem »Phänomen einer beim Thema Verschwörungen und Verschwörungstheorien vollkommen gespaltenen Öffentlichkeit«.55 So repräsentiert Butter in diesem Band mit dem Verschwörungsthema einen deutungsmächtigen Grenzfall von Zeitdiagnosen. In seinem systematisch-historischen Beitrag zeichnet Butter nach, dass noch im 19. Jahrhundert der Gestus einer Aufdeckung von Verschwörungen zum Standardrepertoire gesellschaftlicher Konflikte gehörte und diese erst im 20. Jahrhundert nach und nach pathologisiert sowie an den Rand des Sagbaren gedrängt wurden. Insofern ist die Verbreitung von Verschwörungstheorien im Internet heute fast eine Wiederherstellung alter Normalität. Die Zurückweisung von Verschwörungstheorien in der offiziellen Publizistik intensiviert bei deren Vertretern das Empfinden, Opfer von Verschwörungen und Unterdrückung zu sein, so dass »sich Verschwörungstheoretiker und diejenigen, die solche Theorien kritisch sehen, permanent gegenseitig beobachten und so in ihren Befürchtungen bestärken«.56 Das Nachdenken über Verschwörungstheorien zeigt erneut, dass die Wahrheitsfrage im Umgang mit Zeitdiagnosen nicht vermieden werden kann. Es könnte ja sein, dass der Verschwörungstheoretiker Wahres und bisher Übersehenes aufdeckt. Insofern besteht gerade bei Verschwörungstheorien im Netz ein fließender Übergang zum traditionellen Aufdeckungsjournalismus. Beide könnten allerdings begünstigt durch mediale Machtmechanismen zu Behauptungen verführt werden, die falsch oder zumindest allzu einseitig sind. Insgesamt bleibt es dabei: Zeitdiagnosen sind prekär und stehen auf wackeligem Grund. Gleichwohl sind sie unvermeidbar – gerade in ihrem Potential zur Handlungsorientierung. Wolfgang Welsch brachte in den Diskussionen unserer Tagung für Handlungen überhaupt die Analogie zum Bergsteigen 55 | Die beiden Zitate von Michael Butter finden sich in seinem Beitrag auf den Seiten 197 und 198. 56 | Siehe auch Butter, Michael: »Nichts ist, wie es scheint«. Über Verschwörungstheorien. Berlin 2018. Vgl. Seidler, John D.: Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse. Bielefeld 2016.
Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen
und Skifahren zur Sprache, wo permanent Entscheidungen zu treffen sind, die auf einer Diagnose in diesen Beispielen im Hinblick auf Risiken basieren. Da in solchen Situationen keine langen Reflexionen möglich sind, entwickeln sich zwar Routinen im Umgang mit Diagnosen, aber sie bestimmen auch als implizite unsere Entscheidungen. Nicht-Handeln ist sowieso keine Option und falsche Diagnosen können gefährlich sein. Die Bedeutung der bewusst reflektierenden und bedächtig abwägenden Zeitdiagnosen dürfte medial und in der Öffentlichkeit nicht zuletzt durch das die Beschleunigung vorantreibende Internet abnehmen. Als ganz subjektive Indizien für diese Einschätzung nehme ich die zunehmende Empörungsbereitschaft ebenso wie die Deutungsmacht von Satire-Shows für die politische Gegenwartsdiskussion wahr: Was freitags in der »heute-show« mit handwerklicher Raffinesse an impliziten oder gar expliziten Deutungen mehr oder weniger lustig in die Welt gesetzt wird, hat einen Einfluss, der über Parlamentsdebatten und ernsthaften Journalismus hinausgehen dürfte. Daher gilt auch hier: Was lustig ist, kann falsch sein! Ein guter Witz eignet sich ebenso wenig wie Empörung zur Sofortverifikation des Implizierten. Das auf klärerische Festhalten an Wahrheitspraktiken und deren Weiterentwicklung und Praktizierung für Zeitdiagnosen bleibt in zahlreichen Anwendungsfeldern eine wichtige Aufgabe. Ob sie gelingt und welche Mächte sich durchgesetzt haben, dürfte in Zukunft selbst wiederum ein Gegenstand für zeitdiagnostische Bemühungen werden.
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Zeitdiagnosen Funktionen und Krisen eines Genres Fran Osrecki
Z eitdiagnosen : E ine kurze B egriffsbestimmung Zeitdiagnosen sind eine Textgattung der Sozial- und Geisteswissenschaften, die sich durch die Behauptung gegenwärtig sich vollziehender, epochaler sozialer Transformationen auszeichnet. Bereits diese knappe Definition macht deutlich, dass es sich hier um ein äußerst eigentümliches Genre handelt. Denn Epochenbrüche, ob nun sozialer oder anderer Art, haben in der Regel Seltenheitswert. Aus dieser Perspektive ist es zunächst erstaunlich, dass Zeitdiagnosen überhaupt eine Textgattung oder ein Genre bilden. Denn damit ist zunächst markiert, dass es mehrere von ihnen gibt, ja so viele, dass man textuelle und argumentative Strukturähnlichkeiten zwischen ihnen feststellen kann. Tatsächlich existieren, zumindest in der modernen Gesellschaft, gleichzeitig unzählige Deutungsangebote, die die Gegenwart als epochalen Bruch mit bisherigen sozialen Strukturen darstellen. So gut wie alle Sozial- und Geisteswissenschaften produzieren zeitdiagnostische Gegenwartsdeutungen. Mit Werken wie Die post-industrielle Gesellschaft,1 Risikogesellschaft,2 Erlebnisgesellschaft,3 Netzwerkgesellschaft,4
1 | Bell, Daniel: The coming of post-industrial society: A venture in social forecasting. New York 1973. 2 | Beck, Ulrich: Die Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986. 3 | Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft: Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M. 1992. 4 | Castells, Manuel: The rise of the network society: The information age: Economy, society, and culture. Oxford 2009.
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Beschleunigung,5 Der flexible Mensch6 oder jüngst Die Gesellschaft der Singularitäten7 oder Das metrische Wir8 gehört die Soziologie zu den Hauptproduzenten von Zeitdiagnosen. Aber auch in anderen Disziplinen finden sich äquivalente Gegenwartsbeschreibungen, so zum Beispiel, um nur einige Beispiele zu nennen, in der Politikwissenschaft,9 der Medien- und Kommunikationswissenschaft10 und der Betriebswirtschaftslehre.11 Dieses gleichzeitige Vorhandensein vieler unterschiedlicher und thematisch diverser Zeitdiagnosen ist dabei allen voran Ausdruck eines genuin modernen Zeitverständnisses. Wie Niklas Luhmann12 und davor Reinhart Koselleck13 festgestellt haben, basieren neuzeitliche Vorstellung von Zeitlichkeit darauf, dass die Gegenwart als Punkt verstanden wird, der eine sich nicht wiederholende Vergangenheit von einer ungewissen Zukunft trennt. Sie ist vorbei, sobald sie begonnen hat und eröffnet neue Handlungsoptionen. Anders als in antiken und mittelalterlichen Konzepten ist die Gegenwart also gerade nicht mehr eine Phase, in der sich bis auf Weiteres nichts ändert, sich Bekanntes bloß wiederholt und auf ein bekanntes Ende sich zubewegt. Im Gegenteil: Die Gegenwart kann nun als Umschlagspunkt gedeutet werden, nach welchem Bisheriges vermutlich durch Unbekanntes ersetzt werden wird. Genau dieser Umstand macht die Gegenwart zu einer Phase, über die sich trotz, ja gerade wegen ihrer äußerst kurzen Dauer trefflich spekulieren lässt. Wo stehen wir im Vergleich zu unserer Vergangenheit? Was ist charakteristisch für »unsere Zeit«? Wohin steuert »unsere Gesellschaft«? All diese Fragen werden, und auch das 5 | Rosa, Hartmut: Beschleunigung: Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt a.M. 2005. 6 | Sennett, Richard: Der flexible Mensch: Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin 1998. 7 | Reckwitz, Andreas: Die Gesellschaft der Singularitäten: Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin 2017. 8 | Mau, Steffen: Das metrische Wir: Über die Quantifizierung des Sozialen. Berlin 2017. 9 | Huntington, Samuel: Kampf der Kulturen: Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Hamburg 1997. 10 | Turner, Fred: From counterculture to cyberculture: Stewart Brand, the Whole Earth Network, and the rise of digital utopianism. Chicago, IL 2006. 11 | Du Gay, Paul: The tyranny of the epochal: Change, epochalism and organizational reform. In: Organization 10/4 (2003), S. 663-684. 12 | Luhmann, Niklas: Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe. In: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1980, S. 235-300. 13 | Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1979.
Zeitdiagnosen
ist typisch für einen modernen Umgang mit Zeit, uneinheitlich beantwortet und konkurrieren um Deutungsmacht. Die fast inflationäre Behauptung von Epochenbrüchen ist somit ein Anzeichen dafür, dass gesellschaftliche Selbstbeschreibungen den Charakter einer »gepflegten Semantik«14 eingebüßt haben. Sie mögen zwar alle mehr oder minder plausibel sein, aber ihnen fehlt die Evidenz einer unhinterfragten Kosmologie, die es in einer gegebenen Gesellschaft nur im Singular geben kann. Aber auch aus einer anderen Perspektive sind Zeitdiagnosen ein interessantes Genre. Gerade wenn man von einer hochgradig arbeitsteiligen, funktional differenzierten Gesellschaft ausgeht, sind die in ihr produzierten wissenschaftlichen Gesellschaftsbeschreibungen wegen ihres Detailgrades, ihres Jargons und damit der Vorbildung, die man braucht, um sie nachvollziehen zu können, für Laien in der Regel unverständlich. Zeitdiagnosen durchbrechen typischerweise diese Verständigungsschwellen zwischen Wissenschaft und öffentlicher Debatte. Sie sind auf der einen Seite für ein interessiertes Laienpublikum rezipierbar und werden auf der anderen Seite auch im wissenschaftlichen Feld ernst genommen. Dies ist eine einzigartige Konstellation, die in der Form vermutlich nur in den Sozial- und Geisteswissenschaften vorkommen dürfte. Zwar existieren zahlreiche Formate der öffentlichen Darstellung wissenschaftlichen Wissens auch in anderen Disziplinen. Gerade in den Naturwissenschaften ist es sogar sehr üblich, durch entsprechende Auf bereitung selbst äußerst anspruchsvoller Erkenntnisse diese einem breiten Publikum verständlich zu machen. Man spricht dann von »public understanding of science« oder von »medialisierter Wissenschaft«15 (in letzterem Falle wird dann in kritischer Absicht darauf hingewiesen, dass es sich hierbei nicht um einen unidirektionalen Diffusionsprozess handelt, sondern im Zuge ihrer öffentlichen Sichtbarmachung wissenschaftliche Erkenntnisse vereinfacht und bisweilen sogar verfälscht werden können). Während aber in den Naturwissenschaften die öffentliche Darstellung von Erkenntnissen relativ klar von wissenschaftsinternen Debatten über ihre Validität getrennt wird, werden in den Sozial- und Geisteswissenschaften viele öffentlich diskutierte Zeitdiagnosen gleichzeitig als wissenschaftliche Beiträge rezipiert. Daher haben viele AutorInnen in den letzten Jahren darauf hingewiesen, dass es sich bei Zeitdiagnosen
14 | Luhmann, Niklas: Gesellschaftliche Struktur und semantische Tradition. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a.M. 1980, S. 9-71, hier S. 49. 15 | Franzen, Martina: Medialisierungstendenzen im wissenschaftlichen Publikationssystem. In: Weingart, Peter/Schulz, Patricia (Hg.): Wissen – Nachricht – Sensation: Zur Kommunikation zwischen Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien. Weilerswist 2014, S. 19-45.
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um ein hybrides Genre16 handelt, welches sowohl der öffentlichen Debatte als auch dem wissenschaftlichen Diskurs zugerechnet werden kann beziehungsweise in einer ungewöhnlichen Doppelrolle zwischen ihnen steht.17
E ine T ypologie der Z eitdiagnostik In den letzten Jahren entstand, insbesondere in der deutschsprachigen Soziologie, eine rege Diskussion um die Besonderheiten zeitdiagnostischen Argumentierens und die Funktionen des Genres für die Sozialwissenschaften. Auslöser für dieses Interesse war die in den frühen 2000er Jahren in den USA und wenig später auch in Deutschland geführte Auseinandersetzung um die vermeintlich abnehmende Sichtbarkeit der Soziologie in der Öffentlichkeit.18 Die Debatte ist mittlerweile zu stark ausdifferenziert, um sie hier in all ihren Verästelungen im Detail darstellen zu können.19 In der folgenden Darstellung beziehe ich mich daher auf meine eigenen Arbeiten zu diesem Thema 20 und schlage dabei zunächst vor, Zeitdiagnosen entsprechend ihres Erklärungsanspruchs zu typologisieren. Die folgende Darstellung bezieht sich dabei der Übersicht zuliebe (a) auf soziologische Zeitdiagnostik und (b) auf Zeitdiagnosen jüngeren Datums. Dies ist letztlich eine pragmatische und keine logisch oder sachlich zwingende Setzung. Denn, wie angemerkt, produzieren viele Disziplinen zeitdiagnostische Gegenwartsbeschreibungen und zudem hat das Genre eine sehr lange Geschichte, die in eine Zeit zurückreicht, in der
16 | Volkmann, Ute: Soziologische Zeitdiagnostik: Eine wissenssoziologische Ortsbestimmung. In: Soziologie 44/2 (2015), S. 139-152. 17 | Kieserling, André: Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung: Beiträge zu einer Soziologie soziologischen Wissens. Frankfurt a.M. 2004; Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft: Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität. Bielefeld 2011; Peters, Bernhard: Der Sinn von Öffentlichkeit. Frankfurt a.M. 2007. 18 | Burawoy, Michael: For public sociology. In: American Sociological Review 70/1 (2005), S. 4-28. 19 | Siehe zum Beispiel Dimbath, Oliver: Soziologische Zeitdiagnostik. Paderborn 2016; Junge, Matthias (Hg.): Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Wiesbaden 2016. 20 | Osrecki: Diagnosegesellschaft; Osrecki, Fran: Constructing epochs: The argumentative structures of sociological epochalisms. In: Cultural Sociology 9/2 (2015), S. 131-146; Osrecki, Fran: Die Geschichte der Gegenwartsdiagnostik in der deutschsprachigen Soziologie. In: Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie. Bd. 1: Geschichte der Soziologie im deutschsprachigen Raum. Hg. v. Andrea Ploder u. Stephan Moebius. Wiesbaden 2018, S. 453-475.
Zeitdiagnosen
moderne wissenschaftliche Disziplinen noch wenig differenziert waren.21 Die folgende Typisierung kategorisiert, um den Gegenstandbereich nicht ausufern zu lassen, somit gegenwärtige soziologische Zeitdiagnostik und dies in einem idealtypischen Sinne, also eingedenk des Umstandes, dass realiter wenige Zeitdiagnosen den einzelnen Kategorien exklusiv zuordenbar sind. Makro-Zeitdiagnostik oder Zeitdiagnosen im engen Sinne. Zeitdiagnostik in ihrer reinsten Form beinhaltet die Behauptung gegenwärtig sich vollziehender Epochenbrüche und dies auf der Ebene der Gesamtgesellschaft. Zur Plausibilisierung solcher Behauptungen bedienen sich Zeitdiagnosen einer Mehrzahl ineinander verzahnter Argumentationsmuster von denen die wichtigsten sind: (a) in der Sachdimension das Herausgreifen eines Aspekts des Sozialen, der als so zentral eingestuft wird, dass dessen Transformation sich automatisch zu einer gesamtgesellschaftlichen Transformation summiert beziehungsweise in alle anderen Bereiche der Gesellschaft ausstrahlt. Die Bandbreite an solchen parspro-toto-Argumenten ist sehr groß: das Aufkommen neuer (Kommunikations-) Technologien, der Wandel oder Trennschärfeverlust sozialer Schichtungskategorien, neue Charaktertypen, der Umweltkontakt der Gesellschaft oder umfassende Veränderungen in einem anderen Teilsystem der Gesellschaft, dessen Dominanz die vermeintliche Kraft besitzt, die Struktur der Gesellschaft im Übrigen radikal zu verändern (üblicher Weise: Wirtschaft, Wissenschaft, Massenmedien oder Politik). (b) In der Zeitdimension die Behauptung eines radikalen Bruchs zwischen der Gegenwartsgesellschaft und ihrer Vergangenheit. Dies geschieht unter Rückgriff auf ein Argumentationsmuster, das als retrospektiver Realismus beschrieben werden kann. Dabei wird die Vergangenheit auf einen Formentypus reduziert, der darauf angelegt ist, die Unterschiede zur Gegenwart besonders drastisch zu betonen: früher Industriegesellschaft, heute post-industrielle Gesellschaft; früher Klassengesellschaft, heute Risikogesellschaft; früher Standardisierung, heute die Betonung der Einzigartigkeit (oder umgekehrt); früher analoge, heute digitalisierte Gesellschaft usw. Die älteren Gesellschaftsbeschreibungen werden dabei realistisch aufgefasst, so als seien sie adäquate und unbestrittene Theorien gewesen, die aber vor dem Hintergrund neuartiger Entwicklungen an Sachangemessenheit verlören. Mit diesem Argumentationsmuster wird zum einen gesellschaftlicher Wandel als abrupter Bruch dargestellt und gleichzeitig den AnhängerInnen angeblich »veralteter« Theorien ein versöhnliches Angebot gemacht: Eure Theorien waren bis vor kurzem richtig, wenn ihr aber neue Entwicklungen nicht verschlafen wollt, so folgt meinem Deutungsangebot! Schließlich beinhalten Makro-Zeitdiagno21 | Man denke zum Beispiel an die geschichtsphilosophische Zeitdiagnostik des frühen 20. Jahrhunderts wie bei Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes. Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit. Wien 1918 oder bei Ortega y Gasset, José: Der Aufstand der Massen. Stuttgart 2 2002.
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sen (c) in der Sozialdimension meist Argumente, mit denen erklärt werden soll, warum ein angeblich gesellschaftsweiter, gegenwärtig sich vollziehender und abrupter Wandel bislang unbemerkt geblieben sein kann und es also der jeweiligen Zeitdiagnose überhaupt bedarf, um diesen zu verstehen. Eine relativ häufig anzutreffende Erklärung ist die Unterstellung einer Latenz des sozialen Wandels. Der soziale Wandel vollziehe sich bis auf weiteres in unsichtbarer Art und dies vor allem, weil die Sozialwissenschaften noch mit veralteten Kategorien operierten und so die Tragweite der neuen Entwicklungen übersehen würden. Die »alte« Gesellschaft verabschiede sich, um Ulrich Becks berühmte Formulierung zu zitieren, »auf leisen Sohlen der Normalität«.22 Meso-Zeitdiagnosen oder Zeitdiagnosen mittlerer Reichweite. Zeitdiagnosen mittlerer Reichweite sind argumentativ den Makro-Zeitdiagnosen sehr ähnlich, bloß etwas bescheidener in ihrem Erklärungsanspruch. Sie behaupten abrupten sozialen Wandel nicht primär auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, sondern auf der Ebene sozialer Felder oder Teilsysteme der Gesellschaft. Dann ist zum Beispiel die Rede von einer »entgrenzten« oder »Modus 2«-Wissenschaft,23 »digitalisierter Wissensproduktion«,24 »neuen Kriegen«25 oder einem »neuen Geist des Kapitalismus«.26 Der etwas engere Zuschnitt dieser Zeitdiagnosen macht sie besonders attraktiv für die Rezeption in der Wissenschaft und nach meinem Eindruck beziehen sich SozialwissenschaftlerInnen besonders gerne auf sie. Dies geschieht jedoch in der Regel nicht durch einen exegetischen oder sonstwie intensiven Zugriff auf die einzelnen vertretenen Thesen, sondern eher in der Übernahme der jeweiligen Generalhypothese, die dann kleinteiligeren empirischen Untersuchungen vorangestellt wird. Zeitdiagnosen mittlerer Reichweite sind in diesem Sinne eine Art »Stichwortgeber« für empirische Sozialforschung, die den Kernthesen folgt und sie zu untermauern (oder zu kritisieren) versucht. Mikro-Zeitdiagnosen. Die Beschreibung epochaler Transformationen kann per definitionem nicht »kleinteilig« sein und Zeitdiagnosen haben daher notgedrungen den Charakter der soziologischen Großspurigkeit. Dennoch gibt es Zeitdiagnosen, die abrupte Formen sozialen Wandels weder auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, noch auf der Ebene ihrer Teilsysteme verorten, sondern auf Phänomene abzielen, die unterhalb dieser Generalisierungsstufen angesie22 | Beck: Risikogesellschaft, S. 305. 23 | Nowotny, Helga/Scott, Peter/Gibbons, Michael: Re-thinking science: Knowledge and the public in an age of uncertainty. Cambridge 2001. 24 | Dickel, Sascha/Franzen, Martina: Digitale Inklusion: Zur sozialen Öffnung des Wissenschaftssystems. In: Zeitschrift für Soziologie 44/5 (2015), S. 330-347. 25 | Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege: Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Frankfurt a.M. 2 2000. 26 | Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2003.
Zeitdiagnosen
delt sind. Solche Zeitdiagnosen würden beispielsweise nicht von einer vollends sich transformierenden Wissenschaft sprechen, sondern vom Aufkommen neuartiger Formen der Steuerung von Universitäten;27 sie würden nicht eine vollkommen neuartige Struktur des politischen Systems unterstellen, sondern einen radikalen Wertewandel in Teilen des Elektorats;28 sie beschreiben nicht völlig neue Formen geselliger Interaktion, sondern beschränken sich zum Beispiel auf neue Formen von Intimbeziehungen.29 Thesen, die die anvisierten Phänomene mit einer makro- oder meso-zeitdiagnostischen Perspektive verknüpfen sind dabei nicht ausgeschlossen und kommen gelegentlich auch vor, bilden aber meist nicht das Hauptaugenmerk der Mikro-Zeitdiagnosen. Pseudo-Zeitdiagnosen oder unechte Zeitdiagnosen. Bisweilen benutzen SoziologInnen Begriffe wie »Organisationsgesellschaft«,30 »Innovationsgesellschaft«,31 »Wissensgesellschaft«32 oder »Migrationsgesellschaft«.33 Auf den ersten Blick suggerieren solche Überschriften eine zeitdiagnostische Perspektive. Allerdings handelt es sich hierbei nur dem Titel nach um Zeitdiagnosen, denn in der praktischen Handhabung solcher Begriffe finden sich nicht so sehr epochale Umbruchsthesen, sondern eher Behauptungen eines allgemeinen Bedeutungszuwachses der jeweils fokussierten Thematik. Wenn Organisationssoziologen von einer »Organisationsgesellschaft« oder Migrationsforscher von einer »Migrationsgesellschaft« sprechen, so meinen sie meist nicht, dass es Organisationen oder Migration erst seit kurzem gibt (und also vorher nicht gab), sondern dass diese Phänomene »heute« wichtiger oder virulenter seien als »jemals zuvor« (viele äquivalente Formulierungen sind dabei möglich). Solche Behauptungen markieren aber, unabhängig von ihrer Angemessenheit, keinen epochalen sozialen Wandel, sondern lediglich die Wichtigkeit des eigenen Forschungsschwerpunktes. Es handelt sich also um keine Zeitdiagnosen, sondern um eine Marketingstrategie, durch welche das eigene Forschungsfeld als primus inter pares der eigenen Disziplin dargestellt werden soll. 27 | Münch, Richard: Akademischer Kapitalismus: Über die politische Ökonomie der Hochschulreform. Berlin 2011. 28 | Russel Hochschild, Arlie: Fremd in ihrem Land: Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt a.M., New York 2017. 29 | Illouz, Eva: Warum Liebe weh tut: Eine soziologische Erklärung. Berlin 4 2011. 30 | Schimank, Uwe/Jäger, Wieland (Hg.): Organisationsgesellschaft: Facetten und Perspektiven. Wiesbaden 2005. 31 | Rammert, Werner/Windeler, Arnold/Knoblauch, Hubert/Hutter, Michael (Hg.): Innovationsgesellschaft heute: Perspektiven, Felder und Fälle. Wiesbaden 2016. 32 | Weingart, Peter: Die Stunde der Wahrheit? Zum Verhältnis der Wissenschaft zu Politik, Wirtschaft und Medien in der Wissensgesellschaft. Weilerswist 2001. 33 | Leiprecht, Rudolf/Steinbach, Anja (Hg.): Schule in der Migrationsgesellschaft: Ein Handbuch. Schwalbach 2015.
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Zwei klärende Anmerkungen müssen dieser Typologie beigefügt werden. Erstens beziehen sich SoziologInnen, ob in distanzierender Absicht oder in der Form des Gebrauchs von Stichworten, oft und gerne auf Zeitdiagnosen, die nicht im engen Sinne soziologisch sind. Das betrifft zum einen Zeitdiagnosen anderer wissenschaftlicher Disziplinen,34 zum anderen aber auch feuilletonistische Zeitdiagnosen, die von JournalistInnen oder »öffentlichen Intellektuellen« (mit oder ohne soziologische Vorbildung) produziert werden. Solche feuilletonistischen Zeitdiagnosen sind in der Regel aus wissenschaftlicher Perspektive unsystematisch, werden in der Soziologie aber dennoch rezipiert – sei es, weil sie mit ähnlichen Begriffen oder Konzepten operieren, sei es, weil sie zu soziologischen Perspektiven in einem weltanschaulichen Naheverhältnis stehen. Bei SoziologInnen besonders beliebt sind (ihrem Selbstverständnis nach) progressive Kulturkritik,35 öffentlich-intellektuelle Abrechnungen mit dem aktuellen Wirtschaftssystem oder der politischen Ordnung 36 sowie Modelle des Generationswandels (»Generation Golf«37 oder Generation X, Y oder Z). In diesem Sinne existiert oft ein fließender Übergang zwischen soziologischer und öffentlich-intellektueller Zeitdiagnostik. Zweitens kann auf einer sehr generellen Ebene eingewandt werden, dass nicht nur der Übergang zwischen soziologischen und öffentlich-intellektuellen Zeitdiagnosen fließend ist, sondern soziologische Analysen stets eine zeitdiagnostische Schlagseite haben – nicht zuletzt deshalb, weil sich die Soziologie als Wissenschaft von der modernen Gesellschaft versteht und Unterschiede zu früheren Gesellschaftstypen also immer mitthematisieren muss. Zeitdiagnosen wären aus dieser Perspektive kein eigenständiges Genre der Soziologie, sondern ihr daily business. Dies ist meines Erachtens eine Fehleinschätzung, die vermutlich daher rührt, dass die öffentliche Wahrnehmung soziologischer Forschung maßgeblich von zeitdiagnostischen Analysen bestimmt ist. Laien, die die Soziologie vornehmlich aus dem Feuilleton kennen, können leicht auf die Idee kommen, dass die Soziologie ausschließlich Zeitdiagnosen produziert – denn auch »Qualitätsmedien« berichten, wenn sie über Soziologie berichten, überdurchschnittlich oft von aktuellen Zeitdiagnosen. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein überwiegender Teil soziologischer Forschung im Feld der empirischen Sozialforschung angesiedelt ist, wo, alleine schon aufgrund der hier üblichen Kleinteiligkeit der verarbeiteten Daten und des Detailgrades der angewandten Methoden, Zeitdiagnosen sehr skeptisch beäugt 34 | Um einen prominenten Fall zu nennen, zum Beispiel Stiglitz, Joseph: The price of inequality: How today’s divided society endangers our future. New York 2013. 35 | Für ein sehr aktuelles Beispiel siehe Wiesböck, Laura: In besserer Gesellschaft: Der selbstgerechte Blick auf die Anderen. Wien 2018. 36 | Crouch, Colin: Ist der Neoliberalismus noch zu retten? Berlin 2018. 37 | Illies, Florian: Generation Golf: Eine Inspektion. Frankfurt a.M. 2000.
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und in der Regel für übergeneralisiert gehalten werden. Ähnliches gilt auch am anderen Ende des Spektrums soziologischer Forschung: den Gesellschaftstheorien. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen hier, wie auch im Falle von Zeitdiagnosen, zwar gesamtgesellschaftliche Transformationsprozesse. Doch diese werden in der Regel nicht als abrupte Brüche, sondern als langwierige, inkrementelle Veränderungen beschrieben. Ein wichtiger Effekt ist, dass sich Neuheitsbehauptungen in Gesellschaftstheorien nicht vorranging auf »gerade eben« stattfindende epochale Transformationen »draußen in der Gesellschaft« beziehen, sondern auf Neu- und Uminterpretationen bestehenden soziologischen Wissens.38 Dies macht Gesellschaftstheorien für Laien nahezu unverständlich und entsprechend selten werden sie in der Öffentlichkeit debattiert. Zwar ist es möglich, auf der Basis gesellschaftstheoretischer Überlegungen Zeitdiagnosen zu formulieren, doch dies geschieht meist in eigenen Formaten, die publikationstechnisch von den gesellschaftstheoretischen Überlegungen getrennt werden.39
K ritik , manifeste und l atente F unk tionen Ich habe im vorigen Abschnitt darauf hingewiesen, dass Zeitdiagnosen, ihrer Sichtbarkeit in öffentlichen Debatten zum Trotz, in der Soziologie selbst einen schweren Stand haben. Sie werden für ihren Alarmismus, ihre Überdramatisierung sozialen Wandels und oft auch für die schwache Datenbasis und die undurchsichtige und anekdotenhafte (oder schlicht nicht vorhandene) Verwendung empirischer Methoden verurteilt. Gerade die besonders sichtbaren Zeitdiagnosen bezahlen daher ihre öffentliche Popularität mit einer umfassenden und nicht selten harschen Kritik seitens akademischer SoziologInnen. Betrachtet man jedoch Zeitdiagnosen nicht bloß als übergeneralisierte und also tendenziell unseriöse soziologische Forschung, sondern als eigenständiges Genre, verschiebt sich die Perspektive von inhaltlicher Kritik hin zur Frage, welche Funktionen dieses Genre für die Soziologie haben könnte. In der entsprechenden Sekundärliteratur wird insbesondere eine Funktion hervorgehoben, auf die ich bereits mehrmals beiläufig hingewiesen habe: die öffentliche Sichtbarkeit soziologischer Forschung. Zeitdiagnosen sind in der Tat dasjenige Genre der Soziologie, das in der nichtakademischen Öffentlichkeit am klarsten mit soziologischer Expertise in Verbindung gebracht wird. Vor dem Hintergrund der für Zeitdiagnosen typischen Argumentationsmuster wird auch klar, weshalb das so ist. Die Betonung abrupter gesamtgesellschaft38 | Osrecki: Diagnosegesellschaft, S. 289-316. 39 | Zum Beispiel Habermas, Jürgen: Zeitdiagnosen: Zwölf Essays 1980-2001. Frankfurt a.M. 2003.
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licher Umbrüche erlaubt es Massenmedien, sozialen Wandel als Nachricht zu behandeln. Inkrementelle soziale Wandlungsprozesse können in der entsprechenden Berichterstattung als Ereignis mit Neuigkeitswert prozessiert werden und dies zudem in einer Sprache, die zwar inhaltliches Interesse, aber keine akademische soziologische Vorbildung voraussetzt. Sowohl die verklausulierte Sprache der Gesellschaftstheorien, als auch die technische Sprache der empirischen Sozialforschung setzen demgegenüber der Rezeption soziologischer Erkenntnisse durch Laien sehr enge Grenzen. Das Vorhandensein eines eigenständigen Genres, das die Rezeption soziologischen Wissens durch die breite Öffentlichkeit ermöglicht, entlastet somit Gesellschaftstheorien und die empirische Sozialforschung von der Aufgabe, in für Laien verständlicher Form zu formulieren. Dies wiederum erlaubt in diesen Bereichen die Verwendung enorm auflösungsstarker, aber hochgradig voraussetzungsvoller Konzepte und Methoden. Diese gleichermaßen popularisierende und entlastende Funktion wird mittlerweile, und deutlicher als noch vor wenigen Jahren, als durchaus begrüßenswerter Nebeneffekt zeitdiagnostischen Argumentierens angesehen. Man könnte auch von einer manifesten Funktion oder von einer allgemein anerkannten und gemeinhin positiv eingeschätzten Leistung von Zeitdiagnostik sprechen, die selbst viele KritikerInnen des Genres zu würdigen wissen – und die VerfasserInnen von Zeitdiagnosen natürlich ebenso. Ein unbeabsichtigter Nebeneffekt der öffentlichen Sichtbarkeit von Zeitdiagnosen ist jedoch, dass sie eine Funktion, die ihnen bisweilen zugeschrieben wird, gerade nicht erfüllen können: die Beantwortung der Frage, in welcher Gesellschaft »wir« gerade leben.40 Denn die permanente Produktion neuer Zeitdiagnosen und die relativ schnelle Abfolge ihrer Rezeption in den Massenmedien muss für Laien ein eher verwirrendes Bild entstehen lassen: eine Gesellschaft, die scheinbar gleichzeitig eine Netzwerk-, Risiko-, Wissens- oder Migrationsgesellschaft ist; eine Gegenwart, in der sich scheinbar gleichzeitig VertreterInnen der »Generation Praktikum«, der »Generation Y« und »Generation Z« tummeln; ein Alltag, der scheinbar gleichzeitig von »postmateriellen Werten«, einem »neuen Konservatismus«, »Neoliberalismus« und einem »neuen Populismus« geprägt ist; eine Welt, die scheinbar gleichzeitig »immer standardisierter« wird und immer mehr die Einzigartigkeit ihrer Individuen und Produkte betont. Neben der manifesten Funktion der Herstellung öffentlicher Sichtbarkeit erfüllen Zeitdiagnosen auch eine Reihe latenter Funktionen, also Leistungen, die weder von den VerfasserInnen noch von den KritikerInnen offen gewür-
40 | Pongs, Armin: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? München 2000.
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digt werden und sich in uneingestandener Weise entfalten.41 Folgende latente Funktionen scheinen mir von besonderer Wichtigkeit zu sein: Kommunikation mit fachfremden ExpertInnen. Die auch für Laien zugängliche Sprache der Zeitdiagnosen macht sie nicht nur in Massenmedien anschlussfähig, sondern befördert auch die Rezeption soziologischen Wissens durch fachfremdes Personal. Die Verwendung zeitdiagnostischer Schlagworte (zum Beispiel »Wissensgesellschaft«) kann beispielsweise die Funktion haben, die Relevanz der eigenen Forschung KollegInnen anderer Disziplinen, Universitätsverwaltungen oder Drittmittelgebern plausibel zu machen. Dafür müssen die jeweiligen Entscheidungsträger nicht zwangsweise über genaue Kenntnisse der konkreten Zeitdiagnose verfügen. Ausreichend ist die glaubhafte Vermittlung des Eindrucks, dass die eigene Forschung an aktuellen und möglicherweise weitreichenden gesellschaftlichen Trends ansetzt. Diese Funktion ist umso wichtiger, je knapper Forschungsbudgets kalkuliert sind und je mehr wissenschaftliche Arbeit unter Legitimationszwang gesetzt wird – beispielsweise durch die Einforderung gesellschaftlicher »Nützlichkeit«.42 Die Entschärfung paradigmatischer Dogmatismen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das für Zeitdiagnosen typische Argumentationsmuster des »retrospektiven Realismus« dazu beiträgt, einen klaren Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu konstruieren. Dieser Zuschnitt ermöglicht darüber hinaus aber auch, den VertreterInnen älterer, konkurrierender Ansätze ein »Friedensangebot« zu machen. ZeitdiagnostikerInnen argumentieren dabei folgendermaßen: »Eure Theorie (beispielsweise, dass wir in einer Klassengesellschaft leben), war bis vor kurzem noch die angemessene Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft. Aber aufgrund neuerer Entwicklungen (und nicht, weil Eure Theorie an sich falsch wäre), ist diese Beschreibung inaktuell geworden. Folgt meiner Diagnose, zum Beispiel, dass wir seit kurzem in einer ›Risikogesellschaft‹ leben, und Ihr könnt Eure früher richtige, mittlerweile aber etwas verstaubte Theorie auf den neuesten Stand bringen.« In einer Disziplin wie der Soziologie, wo unterschiedliche Theorien oder Paradigmen oft in einem harten Konkurrenzverhältnis stehen, ermöglicht dieses Friedensangebot das Überlaufen von einem älteren Paradigma ins neue und dies bei gleichzeitiger Gesichtswahrung: die eigene Theorie war ja bis vor kurzem die richtige und angemessene und man kann also der neuen Theorie folgen, ohne sein intellektuelles Erbe gänzlich zu verraten. Die Funktion solcher zeitdiagnostischen Friedensangebote besteht somit darin, die ansonsten tiefen und oft unüberwindbaren intellektuellen Gräben in einer multiparadigmatischen 41 | Zur Unterscheidung von latenten und manifesten Funktionen siehe Merton, Robert K.: Social theory and social structure. Glencoe, IL 1957, S. 60-69. 42 | Kaldewey, David: Wahrheit und Nützlichkeit: Selbstbeschreibungen der Wissenschaft zwischen Autonomie und gesellschaftlicher Relevanz. Bielefeld 2014.
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Disziplin wie der Soziologie zu überwinden. Dies wiederum erhöht die Chancen für konzeptionelle Innovationen, da Zeitdiagnosen, auch wenn man ihren Thesen nicht zur Gänze folgt, immer Einladungen sind, über den eigenen paradigmatischen Tellerrand zu schauen. Legitimes Vergessen. Wie im Falle der Funktion der Entschärfung paradigmatischer Dogmatismen steht auch die dritte latente Funktion zeitdiagnostischen Argumentierens in engem Zusammenhang mit der multiparadigmatischen Struktur der Soziologie. Existieren in einer Disziplin mehrere konkurrierende und miteinander unverträgliche Deutungsangebote zu den jeweils zentralen Fragen des Faches, bedeutet das in der Regel, dass es zu einem gegebenen Thema nicht den einen konsentierten Forschungsstand gibt, sondern gleich mehrere inkompatible Einschätzungen darüber, welche bisherigen Erkenntnisse forschungsrelevant und welche Forschungsfragen noch offen sind. Das erschwert den wissenschaftlichen Rechercheprozess enorm, denn man hat es mit tendenziell unbewältigbar großen Mengen an Forschungsmaterial zu tun und dies bei gleichzeitig fehlendem Konsens darüber, was davon aktuell rezipiert werden muss und was mittlerweile inaktuell geworden ist. Daher müssen in solchen Disziplinen Hilfsmechanismen eingerichtet werden, die das bewerkstelligen, was in stärker vereinheitlichten Disziplinen der allgemein anerkannte Stand des fachlichen Mainstreams leistet: den höchst selektiven Zugriff auf vorhandene Forschung. In der Soziologie leisten dies, unter anderem, die Zeitdiagnosen.43 Zeitdiagnosen behaupten ja, dass ein vermeintlich epochaler sozialer Wandel auch einen Großteil bisheriger Forschung inaktuell werden lässt. Wenn man die Strukturen der neuartigen Gesellschaft verstehen will, so die Einschätzung der ZeitdiagnostikerInnen, könne man das nicht mit »veralteten« Kategorien machen. Also brauche man zum Verständnis der neuen Gesellschaft auch neue Begriffe und Konzepte – eben die der jeweiligen Zeitdiagnose. In diesem Sinne sind Zeitdiagnosen immer auch Einladungen dazu, einen Teil der bisherigen Forschung zu vergessen – diese sei durch neue Trends inaktuell geworden. Sie legitimieren somit Prozesse des Vergessens in Disziplinen, in denen es aufgrund ihrer multiparadigmatischen Struktur keinen institutionalisierten Prozess für die routinisierte Aussonderung inaktuell gewordener Forschung gibt.44 Gerade deswegen sind Zeitdiagnosen auch in43 | Osrecki, Fran: Glücklich ist, wer vergisst: Wie man mit einer multiparadigmatischen Disziplin umgeht, ohne zu verzweifeln. In: Soziopolis (2018), online verfügbar unter: https://soziopolis.de/verstehen/was-tut-die-wissenschaft/artikel/gluecklichist-wer-vergisst/, zuletzt eingesehen am 2.11.2018. 44 | Osrecki, Fran/Schneider, Wolfgang L.: Erinnern und Vergessen in Funktionssystemen am Beispiel der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin. In: Wissensrelationen: Beiträge und Debatten zum 2. Sektionskongress der Wissenssoziologie. Hg. v. Angelika Poferl u. Michaela Pfadenhauer. Weinheim 2018, S. 669-679.
Zeitdiagnosen
nerhalb der akademischen Soziologie beliebt: sie sind nicht nur massenmediales Aushängeschild, sondern ermöglichen es ForscherInnen im aktuellen Forschungsprozess, mit Verweis auf neue, epochale Transformationen, bisherige Debatten zu umschiffen und sich nicht mehr zu ihnen äußern zu müssen.
A usblick und F a zit Die eben beschriebenen latenten Funktionen zeitdiagnostischen Argumentierens haben eines gemeinsam: Sie betonen die uneingestandenen Funktionen, die Zeitdiagnosen innerhalb der Soziologie erfüllen, während sich die manifeste Funktion auf die Außendarstellung des Faches bezieht. Manifeste und latente Funktionen können auch in eine Beziehung zueinander gesetzt werden, zum Beispiel in der Form einer Trendaussage. Es ist durchaus möglich, dass in den kommenden Jahren und Jahrzehnten die massenmediale Vermittlung soziologischen Wissens, also die manifeste Funktion der Zeitdiagnosen, an Bedeutung einbüßt. Denn wie bereits erörtert, ist der locus classicus der öffentlichen Rezeption von Zeitdiagnostik das Feuilleton der »Qualitätspresse«. Die durch Digitalisierung beständig schrumpfende Leserschaft der klassischen Meinungspresse könnte also auch das Genre der Zeitdiagnostik in eine Rezeptionskrise stürzen. Die Auflagen gegenwärtig diskutierter Zeitdiagnosen sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in der Regel weitaus niedriger als noch vor wenigen Jahrzehnten und das lesebegeisterte Laienpublikum des späten 20. Jahrhunderts45 weicht zunehmend einem Publikum, das sich über eine gezielte Rezeption von Blogs in seinen politischen Ansichten bestätigt finden kann. Sollte diese Zeitdiagnose einer abnehmenden öffentlichen Sichtbarkeit von Zeitdiagnostik stimmen, würde dies jedoch keineswegs zum Verschwinden des Genres führen. Vielmehr wäre ein möglicher Effekt, dass gerade die latenten Funktionen der Gattung in den Vordergrund rücken. Solange Budgets für Forschung knapp sind und die Relevanz soziologischer Forschung einem inhaltlich nicht urteilsfähigen Fachpublikum nahegebracht werden muss, wird es Bedarf nach zeitdiagnostischen Schlagworten geben. Und solange die Soziologie multiparadigmatisch bleibt (und Trends zur Vereinheitlichung sind zurzeit nicht erkennbar), wird es Bedarf nach einem Mechanismus geben, der paradigmatische Streitigkeiten entschärft und das Übermaß an vorhandener Forschung durch einen latent gehaltenen Vergessensprozess reduziert. All dies werden Zeitdiagnosen vermutlich auch in Zukunft leisten – ob sie zusätzlich noch öffentlich breit diskutiert werden, ist weniger gewiss. 45 | Felsch, Philipp: Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte 19601990. München 2015.
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L eiden an U nwahrheit Manchmal leiden Menschen an Widersprüchen. So mag jemand einem Beruf nachgehen, in dem er oder sie vor allem danach zu streben hat, Geld unabhängig von einem konkreten Nutzen zu vermehren, etwa in der Finanzwirtschaft. Die Person interessiert sich jedoch vielleicht gar nicht für Geld, möchte lieber einen Roman schreiben oder Bilder malen. Sie sieht dann, dass das, was sie tut, in einem Widerspruch zu dem steht, was sie sich unter ihrem Leben als einem guten vorgestellt hat. Menschen können aber auch daran leiden, dass etwas nicht gesagt wurde, was in ihren Augen öffentlich festgestellt werden sollte, dass etwas nicht allgemein bekannt wurde, was ihrer Auffassung nach alle wissen sollten. Vielleicht sind Verwandte von ihnen verschwunden oder umgekommen, doch es ist nie darüber gesprochen, nie ein öffentliches Verfahren eröffnet worden. Die Menschen sind vielleicht überzeugt, dass nach vielen Jahren, seit sie ihre Angehörigen verloren haben, diese nicht mehr zurückzubringen sein werden. Trotzdem möchten sie, dass die Tatsache des Verschwindens öffentlich wird, dass »Wahrheitskommissionen« eingerichtet werden. In diesem Zusammenhang wird seit 1987 in internationalen Gremien wie der Parlamentarischen Versammlung des Europarats und den Vereinten Nationen von einem »Recht auf Wahrheit« als einem Menschenrecht gesprochen.1
1 | Vgl. Scheuzger, Stefan: Wahrheitskommissionen: Der nationale Umgang mit historischem Unrecht im Kontext des sich universalisierenden Menschenrechtsdiskurses. Habilitationsschrift aus dem Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Göttingen 2019, S. 594; Vgl. Osladil, Simon: Das Recht auf Wahrheit im internationalen Recht. Nürnberger Menschenrechtszentrum 2012, online verfügbar unter www.menschenrechte.org/wpcontent/uploads/2012/12/Zum-Artikel-als-PDF-Datei1.pdf, zuletzt eingesehen am 5. Januar 2018; Brunner, José/Stahl, Daniel (Hg.): Recht auf Wahrheit: Zur Genese eines
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Menschen können auch darunter leiden, dass das Gegenteil von dem behauptet wird, was der Fall ist. So leidet beispielsweise Iwan Iljitsch in der nach ihm benannten Erzählung von Leo Tolstoi nicht nur, weil ihm in Kürze der Tod bevorsteht, sondern auch, weil seine Angehörigen leugnen, dass er gerade stirbt und ihn stattdessen so behandeln, wie einen »normalen Kranken«, der wieder genesen wird.2 In diesen Beispielen leiden Menschen an Unwahrheiten. Im ersten Beispiel führt eine Person nicht das Leben, das sie eigentlich leben möchte. Sie hat sich über ihre eigenen Interessen geirrt oder vielleicht sogar selbst über diese Interessen aktiv betrogen. Irrtümer und Betrug sind oder führen zu Fällen von Unwahrheit. In diesem Beispiel können wir auch davon sprechen, dass die betreffende Person, die in der Finanzwirtschaft arbeitet, obwohl sie lieber Künstlerin sein will, sich etwas vorgemacht hat, als sie ihren Job angenommen hat. Die Menschen im zweiten Beispiel, die danach streben, dass das Verschwinden ihrer Verwandten öffentlich wird, streben nicht einfach nach Gerechtigkeit, wenn vielleicht auch. Sie wollen darüber hinaus, dass etwas ans Licht kommt, was bisher verborgen geblieben ist. Sie bestehen deshalb auf der Einrichtung von öffentlichen Plenen wie es sie in Südafrika und Südamerika gegeben hat, die nicht unbedingt zu Gerichtsprozessen führen, jedoch für alle sicht- und hörbar feststellen, was passiert ist, damit bezeugt wird, was der Fall ist, Konsens darüber hergestellt wird, was geschehen ist. Iwan Iljitsch fühlt sich grausam behandelt durch das Verhalten seiner Verwandten, sie lassen ihn in seinem Sterben allein, indem sie nicht den Tatsachen entsprechend mit ihm umgehen, sondern so tun, als sei alles nicht so schlimm. Die Vereinsamung, die der Tod für den Sterbenden ohnehin meist mit sich bringt, weil Sterbende in der Regel ja allein in den Tod gehen müssen, wird dadurch noch verschärft. Gemeinsam den Tatsachen ins Auge zu sehen, sie gemeinsam anzuerkennen, mag sie nicht aus der Welt schaffen. Doch wenn Menschen durch die Anerkennung dessen, was der Fall ist, miteinander verbunden bleiben, sind sie schon in einer besseren, weil solidarischeren Situation als wenn sie sich gegenseitig über das schwer Erträgliche betrügen und mit dem, was auf sie zukommt, alleine lassen. Sowohl mit sich selbst wie untereinander in einer Gemeinschaft darüber einig zu sein, was der Fall ist, ist deshalb etwas, was Menschen anstreben. Man kann nun das Leiden an Unwahrheiten, das in diesen drei Beispielen angesprochen wird, mit klassischen philosophischen Konzeptionen der Wahrheit neuen Menschenrechts. In: Schriftenreihe Menschenrechte im 20. Jahrhundert. Göttingen 2016. 2 | Tolstoi, Leo: Der Tod des Iwan Iljitsch. In: ders.: Der Leinwandmesser und andere Erzählungen. Aus dem Russischen von Luther, Arthur/Müller, Erich/Scholz, August. Berlin 1928, S. 158-232.
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in Zusammenhang bringen: mit der Kohärenztheorie der Wahrheit, die unter anderem (nicht nur) die Vermeidung von Widersprüchen als ein Wahrheitskriterium benennt im ersten Fall einer Person, deren tatsächliches Leben dem, was sie sich unter ihrem Leben vorstellt, widerspricht; mit der apophantischen Wahrheitstheorie, die Wahrheit als das Geschehen des Offen-zu-Tage-Tretens begreifen will im zweiten Beispiel der Menschen, die eine ihnen und ihren Angehörigen widerfahrene Grausamkeit öffentlich gemacht sehen wollen und mit der Korrespondenz- oder Adäquationstheorie der Wahrheit, die eine Übereinstimmung annimmt zwischen dem, was der Fall ist und der Art wie wir es repräsentieren, thematisiert bei »Iwan Iljitsch«.3 Philosophen mögen sagen, dass die Zusammenhänge zwischen ihren Theorien und diesen Beispielen rein äußerlich sind. Denn den philosophischen Wahrheitstheorien gehe es ja vor allem um die wissenschaftlichen Wahrheiten, die sich in Aussagezusammenhängen ausdrücken, die widerspruchsfrei, die Wahrheit offenbarend oder den Tatsachen entsprechend sein sollten. In diesen Beispielen habe man es jedoch gar nicht mit wissenschaftlichen Theorien und ihrem Wahrheitswert zu tun, sondern mit Wahrheit in einem existentiellen Sinne, wie dem »wahren Leben«. Philosophische Wahrheitstheorien treten in der Regel mit dem Gestus auf, etwas über die Wahrheit überhaupt zu sagen. Dadurch wird dann manchmal der Anschein erweckt, als könne es da, wo es nicht um Propositionen oder Aussagezusammenhänge und ihre Eigenschaften geht, auch gar nicht um Wahrheit gehen. Doch die Philosophie hat keine Polizeigewalt über die Verwendung von Wörtern, auch nicht über die von so gewichtigen und allgemeinen Begriffswörtern wie »Wahrheit«. Die Aussage »Existentielle Wahrheiten gibt es nicht, weil Wahrheit eine Eigenschaft von Aussagen oder Propositionen ist.« wird keinen Menschen außerhalb eines philosophischen Instituts daran hindern, »Wahrheit« auch in Kontexten zu verwenden, in denen es nicht um Aussagen geht. Philosophinnen und Philosophen können Gebrauchsweisen von Wörtern zwar vorschlagen. Doch sie können diese Gebrauchsweisen in den seltensten Fällen auch steuern. Wenn wir uns Wittgenstein anschließen und glauben, dass der Gebrauch eines Wortes seine Bedeutung ausmacht und der Gebrauch von »Wahrheit« vielfältig ist, dann ist eben auch die Bedeutung dieses Wortes vielfältig.4
3 | Aus den vielen Überblickssammlungen zu diesem Thema seien nur zwei herausgegriffen: Skirbekk, Gunnar (Hg.): Wahrheitstheorien: Eine Auswahl aus den Diskussionen über Wahrheit im 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 1977; Medina, José/Wood, David (Hg.): Truth. Engagements across Philosophical Traditions. Malden, MA 2005. 4 | Vgl. dazu Hampe, Michael: Kollektive Macht und semantische Autonomie: Sprache, Technik und Aufklärung. In: Macht und Reflexion. Hg. v. Heiner Hastedt. Hamburg 2016, S. 121-142.
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Die eben genannten Beispiele sollen daher nicht dazu dienen, klassische Wahrheitstheorien zu illustrieren. Vielmehr geht es mir darum hervorzuheben, dass Menschen ganz unabhängig von wissenschaftlichen Aussagezusammenhängen unter Unwahrheiten leiden können und deshalb nach Wahrheit streben: weil sie sich von der Wahrheit eine Leidminderung erhoffen.5 Nun ist Leiden etwas Wirkliches. Es ist schwer zu behaupten, dass jemand sich irrt und eigentlich nicht leidet, der das Gefühl hat zu leiden. Wenn es aber Leiden gibt und wenn es ein Leiden an Unwahrheiten gibt (was durch diese Beispiele nicht bewiesen wird, vielleicht kann man zeigen, dass die Menschen in den betreffenden Fällen an etwas Anderem leiden als an Unwahrheit, mir scheint das jedoch nicht der Fall zu sein), dann muss es auch Wahrheiten geben. Es muss Wahrheiten in diesem Fall nicht geben, weil jedes Leiden notwendig eine Linderung erfahren muss. Aber die Verwendung des Wortes »Unwahrheit« hat ja nur dann einen Sinn, wenn es auch einen sinnvollen Gebrauch des Wortes »Wahrheit« gibt; denn mit der Verwendung des Begriffs der »Unwahrheit« bringen wir die Abwesenheit von etwas zum Ausdruck. Auf den ersten Blick scheint es vielleicht möglich, dass es sich mit der Unwahrheit wie mit der Gottlosigkeit verhält: Menschen mögen beides beklagen und vielleicht gibt es weder einen Gott noch eine Wahrheit.6 Doch erstens kann man nicht von Gottlosigkeit und Unwahrheit sprechen, wenn man niemals zumindest annahm, dass es einen Gott und Wahrheit gegeben hat. Und zweitens sind die Verhältnisse bei Gottlosigkeit und Unwahrheit nur scheinbar parallel. In Wirklichkeit ist es ja so, dass sich Menschen tatsächlich dadurch besser fühlen, ihr Leid wirklich mindern können, wenn sie Widersprüche aus ihrem Leben entfernen oder diese auflösen, wenn sie Wahrheitskommissionen bilden und über das sprechen, was im Verborgenen geschehen ist, und sich den Tatsachen entsprechend verhalten. Deshalb gibt es auch tatsächlich Wahrheiten in diesem existentiellen Sinne.7 Wahrheiten sind etwas, was Menschen nicht nur anstreben, sondern mit unterschiedlichen Praktiken auch erreichen können und dann erfahren. Nennen wir diese Praktiken »Wahrheitspraktiken«.
5 | Was die unterschiedlichen Formen des Zusammenhangs von Leid und Wahrheit angeht, vgl. dazu: Leid und Wahrheit. In: Guggenheim, Josef Zwi/Hampe, Michael/Schneider, Peter/Strassberg, Daniel: Im Medium des Unbewussten. Zur Theorie der Psychoanalyse. Stuttgart 2016, vor allem S. 154f. 6 | Ich danke Maria-Sibylla Lotter für diesen Gedanken. 7 | William James scheint parallel für den Realitätsgehalt der religiösen Erfahrung zu argumentieren in seinen Varieties of Religious Experience. New York 1985, S. 243ff.
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D as pr agmatistische W ahrheitsverständnis Eine Wahrheitspraktik kann als eine Suchbewegung verstanden werden, die dann, wenn sie erfolgreich abgeschlossen wird, die Wahrheit von etwas findet: das »wahre Leben« ohne Widersprüche, die Offenbarung der Wahrheit über etwas in der Vergangenheit Geschehenes oder die Übereinstimmung zwischen dem, was der Fall ist oder getan wird und dem, was gesagt wird. Dieser Gedanke schließt an das an, was John Dewey »Inquiry« genannt hat und was für das pragmatistische Wahrheitsverständnis zentral ist.8 Wahrheit ist das, was am Ende einer erfolgreichen Inquiry steht, am Ende einer Untersuchung, die Zweifel ausräumt, Widersprüche beseitigt, Zusammenhanglosigkeiten klärt, Entsprechungen ans Licht bringt oder was auch immer. Das Wort »Wahrheit« hat deshalb mit den Erfolgen zu tun, die am Ende einer Anstrengung stehen können. Es ähnelt in dieser Hinsicht Wörtern wie »Sieg« oder »Ziel«. Wanderer, Läufer, Schwimmer, Ruderer, Radfahrer, Segler, Autofahrer, Flugzeuge – sie alle können »ihr Ziel« erreichen und wenn sie sich in einer Wettkampfsituation befinden, können sie ihr Ziel als erste erreichen und deshalb »einen Sieg« erringen. Was ein Ziel oder Sieg ist, wird jedoch nur relativ zu einer bestimmten Praktik verständlich. Gleiches gilt für Wahrheit. Wahrheitspraktiken gibt es nicht nur im existentiell alltäglichen Sinne, sondern auch – und vor allem – in professionellen Kontexten. Chemiker wenden den Lackmustest an, um zu entscheiden, ob es wahr ist, dass eine Flüssigkeit Säure enthält oder dies nicht der Fall ist. Pathologen folgen bestimmten Praktiken, um herauszufinden, ob es wahr ist, dass jemand an Krebs leidet, beispielsweise indem sie die Biopsie eines Tumors unter dem Mikroskop untersuchen. Eine Kriminologin folgt einer bestimmten Praxis, wenn sie herausfinden will, ob es wahr ist, dass ein Projektil, das im Körper einer getöteten Person gefunden wurde, aus einer Waffe abgefeuert worden ist, deren Besitzer man des Mordes angeklagt hat. Ein Journalist folgt einer bestimmten Praktik, um herauszufinden, ob an einem Gerücht etwas dran ist, ob es der Wahrheit entspricht, etwa indem er zwei unabhängige Quellen darauf hin befragt, ob sie Kenntnis von dem im Gerücht geschilderten Sachverhalt haben und ihn bestätigen können usw. Diese professionellen Wahrheitspraktiken sind ebenfalls als Suchbewegungen beschreibbar: Die Chemikerin sucht nach der Säure, der Pathologe sucht nach Krebszellen, die Kriminologin sucht nach Entsprechungen von Schleifspuren auf dem Projektil und Ausbuchtungen in einem Pistolenlauf, der Journalist sucht nach Konsens zwischen voneinander unabhängigen Quellen. All diese Wahrheitspraktiken funktionieren und werden tradiert, weil sie funktionieren, oder sie werden verändert und verbessert, 8 | Vgl. Dewey, John: Logik. Die Theorie der Forschung. Aus dem Englischen von Martin Suhr. Frankfurt a.M. 2002. (Original: Logic. The Theory of Inquiry. New York 1938.)
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wenn sie nicht so wie erwartet funktionieren. Von ihnen allen gilt, dass sie funktionieren, weil sie sich als einzelne bewährt haben und nicht, weil sie mit einer allgemeinen philosophischen Wahrheitstheorie übereinstimmen würden oder gar durch sie begründet worden wären. Das sind sie nicht und das müssen sie auch nicht. Hier liegen die Verhältnisse ähnlich wie in der Medizin. In ihr gibt es verschiedene Praktiken, um die Gesundheit einer Patientin wiederherzustellen: Es gibt die Praxis, einen Bruch zu schienen, damit die Knochen wieder gerade zusammenwachsen können, eine Wunde durch Klammern zu verschließen, damit aus ihr nicht weiter Blut rinnen kann, die Praxis der Verordnung einer Schonkost, um eine Entzündung der Magenschleimhaut abklingen zu lassen, die der Bekämpfung einer Infektion durch Antibiotika, der Bestrahlung eines Tumors usw. All diese Praktiken werden befolgt und tradiert, weil sie sich als Verfahren der Wiederherstellung der Gesundheit bewährt haben beziehungsweise sie werden variiert, wenn sie sich nicht mehr bewähren. Sie werden nicht verfolgt, weil sie einem allgemeinen philosophischen Begriff der Gesundheit oder der Krankheit entsprechen. Solche Begriffe gibt es ja. Viktor von Weizsäcker hat beispielsweise eine allgemeine Krankheitslehre, eine Pathosophie entwickelt.9 Doch die eben genannten und die unzähligen anderen Gesundheitspraktiken der Ärzte sind auf diese Pathosophie so wenig angewiesen wie diejenigen, die in ihrem Leben oder ihrem Beruf bestimmte Wahrheitspraktiken verfolgen, auf philosophische Wahrheitstheorien angewiesen sind. Der Begriff der Wahrheit ist also einerseits ein umgangssprachlicher Begriff, der, wie die meisten umgangssprachlichen Begriffe auch, in Fachsprachen und professionellen Praktiken eine Rolle spielt und als solcher sowohl auf die Begriffe der Unwahrheit und der Lüge, des Irrtums, der Täuschung und des Betrugs, wie auch auf ganz verschiedene Verfahren der professionellen Suche nach Ursachen, Zusammenhängen, Entsprechungen etc. bezogen ist, Praktiken, deren Erfolg mit dem Begriff der Wahrheit in Zusammenhang gebracht werden. Die negativen Phänomene, in denen es an Wahrheit fehlt oder sie verletzt wird, sind ebenso mannigfaltig wie diese Suchpraktiken.10 Die Philosophie hat sich in ihrer Diskussion von Wahrheitstheorien jedoch sehr wenig bis gar nicht um das negative Umfeld des Wahrheitsbegriffs und die genannten konkreten Suchpraktiken in ihrer Vielfalt gekümmert. Auch die vielen nicht-philosophischen positiven Verständnisse von Wahrheit des so genannten »common sense« wurden außer von dem norwegischen Philosophen
9 | Weizsäcker, Viktor von: Pathosophie. Göttingen 1956. 10 | Vgl. dazu Lotter, Maria-Sibylla (Hg.): Die Lüge: Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart 2017.
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Arne Naess,11 in der Philosophie meines Wissens nie empirisch untersucht. Vielmehr wird ein vermeintlich einheitliches Wahrheitsverständnis einfach postuliert. Philosophen sagen dann, der so genannte »Mann auf der Straße« glaube angeblich an die Korrespondenztheorie der Wahrheit, obwohl doch die Kohärenztheorie die eigentlich plausible sei oder er glaube an einen direkten Realismus und die Offenbarungstheorie der Wahrheit, obwohl doch der Konstruktivismus und die Beweistheorie der Wahrheit vermeintlich die richtigen sind usw. Wirkliche Frauen oder Männer auf der Straße werden, anders als bei Naess, nicht befragt, um solche Behauptungen aufzustellen. Diese philosophischen Argumentationsstrategien sind einerseits verbreitet, andererseits, vom Standpunkt der empirischen Sozialforschung, die sehr vorsichtig ist und Untersuchungen anstellt, bevor sie etwas über »den Mann auf der Straße« behauptet, haltlos. Tatsächlich zeigt sich jedoch, wie Naess herausgefunden hat, eine Vielfalt von Wahrheitsverständnissen im alltäglichen Denken, die der Vielfalt der Wahrheitspraktiken entspricht.
D escartes ’ A rchitek tonik und die F olgen Nun hat es sich in der philosophischen Theoriegeschichte zu Erkenntnis und Wahrheit ergeben, dass die so genannte absolute Wahrheit als unerschütterliche Gewissheit, wie sie uns im cartesischen Cogito-Argument als Anspruch begegnet, als etwas angesehen wird, von dem man sich eher zu verabschieden hat. Das cartesische Argument selbst ist komplex. Vereinfachend gesagt, stellt es zunächst fest, dass niemand daran zweifeln kann, dass er als denkendes Wesen existiert. Denn sobald er an diesem Sachverhalt zu zweifeln versucht, denkt er ja und muss deshalb existieren. Weil zweitens Gott nach Descartes kein böser Dämon ist, flößt er uns nicht da absolute Gewissheit ein, wo wir tatsächlich mit einer Falschheit konfrontiert werden. Und schließlich glaubte Descartes drittens, dass sich von einer absoluten Gewissheit und unerschütterlichen Wahrheit ausgehend, architektonisch ein Gebäude des wissenschaftlichen Wissens errichten ließe, in dem man, wenn man nur der richtigen Methode folgt, die er in seinem Discours de la methode und den Regulae ad Directionem Ingenii darzulegen versucht hat, von der einen Grundgewissheit und -wahrheit zu weiteren Wahrheiten gelange.12 11 | Naess, Arne: Common Sense and Truth. In: ders.: The Selected Works of Arne Naess. Bd. 7: Communication and Argument. Elements of Applied Semantics. Hg. v. Harold Glasser. Dordrecht 2005, S. 3-21. 12 | Descartes, René: Meditationes de Prima Philosophia und Discours de la methode sowie Regulae ad Directionem Ingenii. In: ders.: Œuvres de Descartes. Nouvelle présentation. Bde. 6, 7, 10. Hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. Paris 1974-1986.
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Es ist schwer zu sagen, was für ein Text die cartesischen Meditationen, die die erste Ursprungsgewissheit präsentieren wollen, eigentlich sind. Sofern man sie als ein Exerzitium in methodischem Zweifel ansieht, ist ihr existentieller Charakter nicht allzu ernst. Descartes leidet nicht wirklich unter Ungewissheit oder einem Mangel an Wahrheit und sucht dieses Leiden zu lindern. Vielmehr macht er sich methodisch die Gedankenfigur des Zweifels zunutze, um vor dem Hintergrund seiner metaphorischen Vorstellung von einer Architektonik des Wissens im Unbezweifelbaren ein vermeintliches Fundament allen Wissens ausfindig machen zu können. Auch Descartes sucht also etwas, geht einer Inquiry nach: die Basis allen Wissens und glaubt, diese auch zu finden. All die Überzeugungen, die er in diesem Zusammenhang aufgeführt hat, haben sich jedoch wohl als letztlich nicht haltbar erwiesen. Vermutlich gibt es keine absolute Gewissheit, und wenn es sie gibt, dann ist sie kaum Kriterium von Wahrheit überhaupt. Auch kann man von der Tatsache des Zweifels nicht darauf schließen, dass ich als denkendes Einzelwesen existiere, sondern nur darauf, dass es Gedanken gibt, in diesem Fall solche des Zweifels.13 Und auf keinen Fall scheint meines Erachtens das Wissen eine Art Gebäude zu bilden, das auf einem unerschütterlichen Fundament errichtet worden sein muss und das ohne ein solches Fundament gar nicht weiterentwickelt werden könnte. Es wäre, wenn man schon nach Metaphern suchen will, um die Totalität des menschlichen Wissens zu charakterisieren, besser, das Wissen mit einer Sammlung von Überzeugungen und Praktiken zu vergleichen, mit einem (Wunder-)Kabinett und nicht mit einem Gebäude; mit einer Sammlung, die sich so verhält, wie die Gene und Verhaltensweisen in einer Tierpopulation, in der manches reproduziert wird und anderes nicht, in der in jedem Moment ihrer Existenz aber der Eindruck vorherrscht, alles sei sehr gut aufeinander abgestimmt, denn sonst würden die betrachteten Organismen ja gar nicht überleben. (Dieses weniger strenge Bild des Wissens als einer Sammlung oder Population von Ideen und Praktiken stammt von Stephen Toulmin.14) Es kann sein, dass alles, was sich Descartes über Evidenz, Wahrheit und mit seiner Gebäude-Metapher über das Wissen ausgedacht hat, nicht stimmt. Vermutlich hat Descartes mit seinem unerschütterlichen Fundament allen Wissens etwas gesucht, was kein Mensch braucht. Das zeigt sich unter anderem daran, dass Menschen vor und nach Descartes an Unwahrheiten ge13 | Vgl. dazu Lichtenberg: »Wir kennen allein die Existenz unserer Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken. Es denkt sollte man sagen, so wie man sagt es blitzt. Zu sagen cogito ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen … ist praktisches Bedürfnis.« (Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Promies. München 1992, K 76.) 14 | Toulmin, Stephen: Kritik der kollektiven Vernunft. Übersetzt von Hermann Vetter. Frankfurt a.M. 1983, S. 69-107. (Original: Human Understanding. Oxford 1972.)
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litten und nach Wahrheiten gesucht haben, mit und ohne sein Fundament. Das heißt: Das lebensweltliche, alltägliche Leiden an Unwahrheiten wie auch die nicht wissenschaftliche und die wissenschaftliche Suche nach Wahrheiten sind unabhängig von philosophischen Vorstellungen über die Systematik wissenschaftlichen Wissens und ihrer vermeintlichen Fundierung in absoluter Gewissheit. Das wissenschaftliche und philosophische Streben nach Wissen und Wahrheit mag man als eine Fortsetzung des alltäglichen nicht wissenschaftlichen und nicht philosophischen Strebens nach Wissen und Wahrheit ansehen. Doch die Schwierigkeiten, die in einer einzelnen Wissenschaft entstehen, beispielsweise in der der Mathematik durch die Einsichten von Kurt Gödel über die Unmöglichkeit, die Widerspruchsfreiheit eines formalen Systems in diesem selbst zu garantieren, oder der philosophische Zweifel an der Erreichbarkeit einer absoluten Gewissheit à la Descartes müssen nicht auf diese Alltagspraktiken zurückwirken. Die Metapher der Architektonik des Wissens, die Descartes etabliert hat, war ungeheuer folgenreich. Kant hat sie am Schluss seiner Kritik der reinen Vernunft weiter ausgebaut.15 Dadurch ist bei einigen Philosophinnen und Philosophen ein merkwürdiges Selbstverständnis entstanden: So wie manch ein Jäger, der durch die Wälder streift und ab und zu ein Reh oder Wildschwein erlegt, von sich glaubt, er sei der Erhalter des natürlichen Zusammenhangs, durch den er sich bewegt, weil er ja die kranken Tiere tötet und die jungen Bäume vor Verbiss durch zu viel Wild schützt – als hätte der Wald auf die Jäger gewartet, um sich zu erhalten – ebenso scheint es mir, als glaubten manche philosophischen Erkenntnis- und Wahrheitstheoretiker, sie seien die Architekten des menschlichen Wissenssystems, als hätte dieses Wissenssystem auf die Philosophie gewartet, damit es sich strukturieren und entwickeln kann. Als dann der erkenntnistheoretische Fundamentalismus und die Idee absoluter Gewissheit und Wahrheit philosophisch aus der Mode kamen, erschien es diesen Philosophen folgerichtig so, als sei das ganze Wissenssystem gefährdet, so wie ein Gebäude einsturzgefährdet ist, wenn sein Fundament kollabiert. Doch so wenig die Wälder eingehen, wenn menschliche Jäger verschwinden, ebenso wenig ist das menschliche Wissenssystem zusammengebrochen, nachdem die cartesisch-kantische Architekturmetapher und der Gedanke absoluter Gewissheit als Wahrheitskriterium ihren Charme unter den Philosophen eingebüßt hatten. Doch wenn das ganze Wissenssystem zusammenstürzt, weil sein Fundament eingebrochen ist, dann, so meinten einige im Anschluss an Nietzsche, gäbe es gar keine Wahrheit mehr, dann erwiesen sich alle bisherigen Wahrheiten als Illusion, in der Luft hängende subjektive Interpretationen und Konstruktion. 15 | Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Neudruck der von Raymund Schmidt bearbeiteten Ausgabe. Hamburg 1956, B860-B879, S. 748-763.
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All diese Katastrophenmeldungen beruhten auf einer fatalen Selbstüberschätzung der kulturellen Relevanz philosophischer Metareflexionen für die Erkenntnis- und Wahrheitspraktiken der Menschen. Die Wahrheitssuche der Menschen ging weiter, auch nach der Verabschiedung des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus in der Philosophie. Der Lackmustest funktionierte weiterhin, die Pathologen blickten immer noch auf Tumorzellen durch ihre Mikroskope, die Richter entschieden weiterhin aufgrund von Indizien über die Schuld oder Unschuld von Angeklagten. Nichts von alledem war haltlos geworden. Immer noch wollten Menschen nicht angelogen werden und möglichst mit sich selbst in Denken und Handeln übereinstimmen. Die Wahrheitspraktiken trugen sich selbst, wenn man so sagen will, und sie haben sich selbst weitergetragen, sofern sie entsprechend gepflegt wurden, was auch immer in der philosophischen Diskussion über Wahrheit und Gewissheit geschah. Zu bestreiten, dass Wahrheit allein als eine Eigenschaft von Aussagen begriffen werden könne, dass sie eine Art Zielvorstellung für eine Reihe von Praktiken darstellt, bedeutet also nicht einem »wahrheitstheoretischen Nihilismus« das Wort zu reden.16 Weder durch ein solches Wahrheitsverständnis noch durch die Absage an die Vorstellung absoluter Wahrheiten und Gewissheiten ist das menschliche Wissen und das Streben nach Wahrheiten gefährdet worden.
P ostmoderne Doch dieses pragmatistische Wahrheitsverständnis spielte für Jean-François Lyotard keine Rolle, als er von einem ursprünglich narrativen Wissen sprach, am Beispiel des Kopernikus mit Hilfe von Adäquations- und Konsenstheorien der Wahrheit das wissenschaftliche Wissen zu rekonstruieren versuchte und behauptete, es habe einen »Sinnverlust« des Wissens in der »Postmoderne« durch den Zusammenbruch der großen Meta-Narrationen für das wissenschaftliche Wissen gegeben.17 Lyotard ging bei diesen Diagnosen von einer angeblichen ursprünglichen Einheit von philosophischen Wahrheitstheorien, wissenschaftlichem Wissen und nicht wissenschaftlicher Wahrheitssuche aus, einer Einheit, die durch so genannte große Erzählungen zusammengehalten worden sein sollte. Doch so etwas hat es nie gegeben. Nur die philosophische Konstruktion einer – oder sollte man sagen die Narration über eine große – ursprüngliche Einheit des Wissens, und von damit vermeintlich verknüpften 16 | Wolfgang Künne expliziert die von ihm so genannte Position des »truth-theoretical Nihilism« in seinem Buch Conceptions of Truth. Oxford 2003, S. 53-92. 17 | Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1999 (im Folgenden: Das postmoderne Wissen), S. 77, S. 84.
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einheitlichen Wahrheitskonzeptionen, erlaubt es, die Diagnose zu stellen, dass die »große Erzählung […] ihre Glaubwürdigkeit verloren« habe.18 Es ist mit den Diagnosen der Postmoderne zu Wissen und Wahrheit so wie mit dem Paradies: Wenn es nie einen Zustand menschlicher Unschuld gegeben hat, dann sind die Menschen auch nicht irgendwann auf die Abwege der Sünde geraten, sondern immer schon sowohl einander schädigende wie einander unterstützende Wesen gewesen. Die Redeweise von der großen Erzählung ist ein der Paradiesvorstellung vergleichbarer Ursprungsmythos. In Wirklichkeit gab es wohl das alles – das alltägliche, einzelwissenschaftliche und philosophische Wahrheitssuche umspannende und legitimierende Meta-System des narrativen Wissens – nie, sondern nur als philosophisches Phantasma in den Köpfen der Produzenten der großen Systeme des Deutschen Idealismus wie Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Und umgekehrt sind große Erzählungen wie die kantische, hegelsche oder marxsche über die Vernunft, den Geist oder das Kapital, die unterschiedliche, wenn auch nie alle kulturellen Bereiche betrafen, bis heute nicht aus der Geisteswelt verschwunden. Beispielsweise haben die Erzählungen über die Konkurrenz auf dem Markt und die entsprechenden spieltheoretischen Narrative heute eine ähnlich verbreitete legitimierende Funktion, auch wenn sie nicht in der Philosophie oder Religion als universale Legitimationsdiskurse beheimatet sind, sondern in den Wirtschaftswissenschaften.19 Kurz: Die Vergangenheit war nicht so »schön« einheitlich wie es uns die Erzählung von der großen Erzählung weismachen will, sondern sie war in der Vielfalt der Wahrheitspraktiken immer schon viel bunter oder, wenn man will, viel postmoderner als uns die Theoretiker der Postmoderne glauben machen wollen. Das haben vermutlich diejenigen, die historisch genauer hingeschaut haben, auch immer schon gewusst. Und die Gegenwart ist lange nicht so zersplittert, wie es uns postmoderne Diagnostiker nahelegen wollten, sondern von großen Erzählungen wie denen vom alles regulierenden Markt oder dem allgemeinen Vormarsch der Menschenrechte durchzogen. Der Hauptunterschied zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit ist, dass wir die Vielfalt der Phänomene und Theorien in der Gegenwart schärfer wahrnehmen, weil wir noch nicht wissen, was sich aus ihr historisch in der Überlieferung wird erhalten können. Deshalb kommen Gegenwarten ihren »Bewohnern« notorisch unübersichtlich vor. Aus der Vergangenheit ist dagegen das meiste, was in ihr als ehemaliger Gegenwart sichtbar war, verschwunden, in Vergessenheit geraten. Deshalb erscheint sie uns zwangsläufig einfacher und einheitlicher.
18 | Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 112. 19 | Vgl. zu dieser Diagnose Hampe, Michael: Spieltheorie statt Postmoderne. In: ders.: Die Lehren der Philosophie. Berlin 2014, S. 36-44.
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Es gab die großen Erzählungen vor allem in der Philosophie Hegels, in seiner grandiosen Phänomenologie des Geistes und in seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Hegel war der Großmeister in der Verschmelzung von Philosophie- und Kulturgeschichte. Als sich die französische Philosophie vom Einfluss Hegels unter anderem durch Lyotard zu befreien suchte, meinte sie sich nicht von einer bestimmten Spielart philosophischer Systematik zu verabschieden, sondern sie sah auch einen kulturellen Zwangszusammenhang zusammenbrechen. Denn Lyotard betrachtete die großen Erzählungen als Erscheinungsformen der Moderne, die eine ursprüngliche Vielfalt von Sprachspielen, Denk- und Lebensformen, wie er im Anschluss an den späten Wittgenstein und in Übereinstimmung mit Paul Feyerabend meinte, unterdrückten (oder gar, wie Feyerabend meinte, »vernichteten«).20 Mit dem Ende der Moderne war es auch vorbei mit dieser Unterdrückung. Die Postmoderne erschien aus dieser Perspektive als eine Befreiung der Vielfalt und eine Erneuerung der Möglichkeit des Widerstreits zwischen den Elementen dieser Vielfalt in den Augen von Lyotard. Es ist jedoch keine Spezialität der postmodernen Zeitdiagnosen, einen Ursprungszustand zu konstruieren und von dieser Konstruktion aus vermeintliche Brüche in der Gegenwart zu diagnostizieren. Heideggers Seinsvergessenheit oder Spenglers Verlust der euklidischen Anschaulichkeit sind vergleichbare Konstruktionen, die die Postmodernisten teilweise auch direkt beerbt haben. Der Gestus der postmodernen Zeitdiagnose: Wo kommen wir her und wo stehen wir jetzt, ist der Gestus der heideggerschen Philosophie und des spenglerschen Kulturpessimismus.
A ufkl ärung und P ostmoderne In seinem berühmten Traktat über Das postmoderne Wissen handelt Lyotard jedoch nicht allein über den vermeintlichen Zerfall der großen Meta-Erzählungen und die Zerstreuung des Wissens, sondern er identifiziert dort auch die Moderne mit der Auf klärung. Wenn Sender und Empfänger einer Botschaft zu einem Konsens über den Wahrheitswert einer Aussage kommen, weil sie gut begründet ist, dann handeln sie nach Lyotard im Geiste der »Erzählung der Aufklärung«. Diese Erzählung berichtet davon, dass Menschen in der Wissenschaft nach Wahrheit streben und ein ethisch-politisches Ziel verfolgen: den universellen Frieden und die Emanzipation aus Unfreiheiten. Institutionen des Wissens und des Rechts mussten sich nach Lyotard in der Auf klärung 20 | Feyerabend, Paul: Die Vernichtung der Vielfalt. Ein Bericht. Wien 2005. Ich danke Wolfgang Welsch für den Hinweis auf diesen Gedanken, den er mir auf einer Tagung in Rostock am 25. Januar 2018 gegeben hat.
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durch diese »Meta-Erzählung« legitimieren. Wenn die große Meta-Erzählung der Aufklärung wegfällt, dann fällt vermeintlicherweise auch die Legitimation des Strebens nach Wissen, Recht und Emanzipation weg. Was bleibt, sei das Streben nach Stabilisierung von Machtstrukturen.21 Auch diese Diagnose kann angezweifelt werden. Denn Menschen litten und leiden nicht nur unter Unwahrheiten, unter Unrecht und Grausamkeiten vor und nach dem 17. und 18. Jahrhundert, der Epoche der zweiten Aufklärung nach der ersten sokratischen, sondern sie leiden auch weiterhin an diesen Unliebsamkeiten. Die Aufklärung hat dieses Leiden thematisiert und philosophisch reflektiert, aber sie hat es nicht erfunden, sondern intellektuell zu bekämpfen versucht, indem sie Gründe produzierte, warum politische Täuschungsmanöver, Unterdrückungsstrategien, Grausamkeiten, Unfreiheiten und Unrecht bekämpft werden müssen. Ebenso wie Menschen im Alltag oder Journalisten, Juristen und Mediziner in ihren Professionen nicht aufgehört haben, unter Unwahrheiten zu leiden, und bei ihrer Arbeit darauf angewiesen blieben, nach Wahrheiten zu suchen, auch nachdem klar wurde, dass es keine cartesische absolute Gewissheit gibt und keine Wahrheit, die nicht unter bestimmten historischen Bedingungen eingesehen wird, ebenso wenig verschwand das Leiden an Unrecht und Grausamkeit und das Streben nach Recht, Friedfertigkeit und Freiheit, als die philosophischen Diskurse, die dieses Streben einst legitimiert haben, an Überzeugungskraft verloren. Die Leiden und Bedürfnisse der Menschen sind das eine, sind, wenn man so will, »harte Wirklichkeit«. Philosophische Legitimationsdiskurse des Kampfes gegen diese Leiden sind das andere. So wie in der Postmoderne ständig die Repräsentation mit dem Repräsentierten verwechselt worden ist, so ist in ihr das Reflektierte mit der Reflexion vertauscht worden. Die Bewegung der Aufklärung ist philosophisch reflektiert und befeuert worden. Doch sie ist als Bewegung keine rein reflexiv philosophische Veranstaltung gewesen, sondern eine, die das politische System, das Rechtssystem, das Bildungssystem von Gesellschaften betraf, die die absolutistische Monarchie in Frage stellte, die Gewaltenteilung einführte und die Alphabetisierung der allgemeinen Bevölkerung vorantrieb. Doch die Helden postmoderner B-Movies wie Baudrillard verwechselten nicht nur ständig die Repräsentation mit dem Repräsentierten, sondern auch das, was philosophisch und historisch reflektiert wird, mit der Reflexion.22 Die kulturwissenschaftlichen Autoren, die den medientheoretischen wie machthistorischen Einsichten Baudrillards und Foucaults nachfolgen wollten, meinten gelegentlich, weil es historische Bedingungen der Beschreibung von Leid oder Erkenntnissen gäbe, dass das Leid und die Erkenntnisgegenstände selbst historisch konstruiert seien. Alle Zeitskalen igno 21 | Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 35. 22 | Am stärksten bei Jean Baudrillard in: Die Agonie des Realen. Berlin 2016.
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rierend, die in den entsprechenden wissenschaftlichen Wahrheitspraktiken über die Gegenstände der Erkenntnis implizit mitbehauptet werden, kam es zu einem Konstruktivismus, der so absurde idealistische Behauptungen wie die aufstellte, dass beispielsweise der Nordpol von August Petermann erfunden oder die Bakterien von Robert Koch konstruiert worden seien.23 Lange vor Lyotard und der Postmoderne haben William James und John Dewey eingesehen, dass philosophische Wahrheits- und Erkenntnistheorien der tatsächlichen Vielfalt und sozialen Wirklichkeit der Phänomene der Wahrheitssuche und Wahrheitssicherung, des Erkenntnisstrebens und der Erkenntniserlangung nicht gerecht werden. Doch im Unterschied zum postmodernen Denken hat sich die pragmatistische Philosophie nie auf eine zeitdiagnostische Haltung beschränkt, sondern ist eine teilnehmende Veranstaltung gewesen: Der Pragmatismus wollte immer auch einen Beitrag zur Entwicklung der Kultur liefern, über die er nachdachte, an der er glaubte etwas verstanden zu haben. Für Pragmatisten bezeichnet Wahrheit, wie wir gesehen haben, das erfolgreiche Ende eines Such- oder Untersuchungsprozesses, an dem Zweifel, Zusammenhanglosigkeiten, Mangel an Entsprechungen etc. verschwinden. Die Praktiken dieser Such- und Untersuchungsprozesse sind selbst einem Wandel unterworfen. Es steht der Philosophie gut an, die Struktur dieser Praktiken und die Tatsachen ihrer Wandlungen nachzuvollziehen, um zu verstehen, was Erkenntnis und Wahrheit in unterschiedlichen Lebensbereichen und Wissenschaften zu unterschiedlichen Zeiten eigentlich bedeuten. Ein solches historisch informiertes Reflexionswissen hat eine wichtige Funktion. Es macht denen, die bestimmte Erkenntnisstrategien verfolgen und bestimmte Wahrheiten suchen, selbst deutlicher, was sie eigentlich gerade tun. Doch die Philosophie kann mit Erkenntnis- und Wahrheitstheorien Menschen nicht die Ziele ihrer Such- und Untersuchungsbemühungen vorgeben. Diese ergeben sich vielmehr aus den entsprechenden Praktiken und der Lebenssituation, in der Menschen jeweils sind, von selbst. Die Philosophie kann diese Lebenssituationen nicht steuern, es sei denn sie will sich wieder der Phantasie hingeben, Philosophenkönige zu produzieren.
23 | Sarasin, Philipp/Berger, Silvia/Hänseler, Marianne/Spörri, Myriam: Bakteriologie und Moderne. Eine Einleitung. In: Bakteriologie und Moderne. Studien zur Biopolitik des Unsichtbaren 1870-1920. Hg. v. dens. Frankfurt a.M. 2007, S. 26.
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P olitische K onsequenzen Die historische Fehldiagnose, dass es da, wo es kein absolutes Wissensfundament und kein unerschütterliches Wahrheitskriterium gibt, das für alle Wahrheiten gilt, gleich überhaupt keine Wahrheiten mehr gäbe – eine Fehldiagnose, die seit Nietzsche durch die Köpfe geistert – hat allerdings politische Konsequenzen gehabt. Menschen wollten noch nie von ihren Regierungen belogen werden, wurden es aber vermutlich immer und werden es wohl auch in Zukunft. Die Lehre, dass »die Menschen« belogen werden müssen, weil sie die Wahrheit nicht verstehen oder nicht ertragen können, ist eine alte, die den philosophischen Elitismus seit Platons Staat durchzieht. In diesem Buch spricht Platon von der »edlen Täuschung«, die Herrscher anwenden müssen, um im ganzen Staat günstige Effekte zu bewirken.24 Und auch der Aufklärer Spinoza glaubte, dass bei den meisten Menschen die Vernunft nicht ausreicht, um zwischen ihnen ein Band zu stiften, das sie friedlich miteinander zusammenleben lassen lässt. Sie sind, so meinte er, auf die Bilder der Religion angewiesen, die die Obrigkeit zu verwalten und zu verbreiten habe und die ihre Einbildungskraft so ansprechen, dass sie tatsächlich ihren Nächsten zu lieben versuchen und sich mühen, ihm zu helfen. Je nach ihrer geistigen Fassungskraft werden sie dabei entweder durch die einen oder die anderen Bilder angeleitet. Der Wahrheit, wie sie die Vernunft einsieht, entsprechen all diese Bilder freilich nicht.25 Insofern ist die imaginative Täuschung durch die Religion auch für Spinoza eine Notwendigkeit, die sich aus den zu geringen rationalen Vermögen der meisten Menschen im Staat ergibt. Die politischen Folgen der postmodernen Fehldiagnose, dass es gar keine Wahrheiten gebe, sind jedoch nicht einfach die Fortsetzung des philosophischen Elitismus. Ein Teil der Aufklärer glaubte ja sehr wohl, dass durch Bildungsprogramme und Aufrufe zur Mündigkeit auch die Mehrheit der Menschen in die Lage versetzt werden könne, einzusehen, welche Regierungsmaßnahmen vernünftigerweise die richtigen sind. Philosophen wie Lyotard haben nicht an der Bildungsfähigkeit der Mehrheit gezweifelt, sondern an der 24 | Es geht hier um die Verwirklichung des platonischen »Züchtungsprogramms«, die Zusammenführung derer, die viele Nachkommen haben sollten. Vgl. Platon: Politeia. Übersetzt und herausgegeben von Karl Vretska. Stuttgart 1958, 459c, S. 257f. Vgl. dazu Lotter, Maria-Sibylla: Der Staat (Politeia) und Die Lüge in der Politik. In: dies.: Die Lüge. Stuttgart 2017, S. 54-58, S. 290-293. 25 | Vgl. Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat. Hamburg 1976, S. 219. Siehe dazu auch Strauss, Leo: Die Religions-Kritik Spinozas. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1: Die Religionskritik Spinozas und zugehörige Schriften. Stuttgart, Weimar 1996, S. 306-312.
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Fortsetzbarkeit des Emanzipationsprogramms, dessen Teil es war und das darauf abzielte, Menschen aus der Unmündigkeit, dem politischen Paternalismus zu befreien, der mit dem Gedanken verbunden war, dass sie gar nicht in der Lage sind einzusehen, was gut für sie als einzelne und gut für die Gemeinschaft ist. Denn auch im politischen Elitismus und Paternalismus gibt es ja noch Einsichten in die Wahrheit, die die Täuschung der Vielen durch die Mächtigen als eine letztlich wohlwollende Veranstaltung legitimieren. Für Lyotard geht es dagegen darum zu fragen, wer die Macht hat, etwas zu Wissen zu erklären.26 Macht nicht Wahrheit garantiert hier Wissen, weil es Wahrheit »als solche« ja in der lyotardschen Perspektive gar nicht gibt. Doch wenn es gar keine Wahrheiten mehr gibt, dann entfällt natürlich auch die politische Lüge, egal ob sie vermeintlich wohlmeinend ist oder nur zum Zwecke der Machterhaltung der Regierenden geäußert wird. Der Sachverhalt, dass Menschen von Machthabern getäuscht wurden, damit sich diese Machthaber an der Macht halten können, kann, wenn er ans Licht kommt, nur da politisch gegen die Mächtigen gewandt werden, wo es den Unterschied zwischen Täuschung und Wahrheit noch gibt. Wenn dieser bestritten wird, können die so angeklagten Mächtigen sagen: »Ja wisst ihr Naivlinge denn nicht, dass es gar keinen Unterschied zwischen Wahrheit und Täuschung gibt, dass alles Konstruktion ist? Seid ihr von gestern und glaubt noch an die absolute Wahrheit und die Aufklärung? Es ist doch vielmehr so, seitdem die philosophische Theorie der Erkenntnis und der Wahrheit fortgeschritten ist: Ihr habt eure Konstruktionen und wir unsere. Und wenn wir euch eure Konstruktionen lassen, müsst ihr uns auch unsere lassen, ihr seid doch schließlich tolerante Pluralisten, oder? Ihr habt eure Fakten konstruiert und wir haben unsere alternativen Fakten konstruiert.« Dieses Spiel kann man natürlich nur in einem sehr begrenzten politischen Rahmen in einem Staat spielen. Wer die Briefe des Finanzamtes, so wurde kürzlich bemerkt, damit beantwortet, dass er sich ein anderes Einkommen konstruiert und deshalb von alternativen Fakten zu seiner Steuerpflicht ausgehe und darauf hinweist, dass Zahlen doch überhaupt bloße Geisteskonstrukte seien und es über sie keine handfesten Wahrheiten gäbe, dem kann man nur viel Glück wünschen.27 Die Wahrheitspraktiken der Finanzämter sind nämlich von den Fortschritten der Postmoderne ebenso unberührt geblieben wie die der Staatsanwaltschaften. Aber die politischen Lügen, die dem Machterhalt dienen, können, seitdem das Vokabular der Postmoderne bei Leuten wie Steve Bannon angekommen ist, euphemistisch als »Konstruktionen« bezeichnet, kaschiert und auf diese Weise gegen Kritik immunisiert werden. 26 | Lyotard: Das Postmoderne Wissen, S. 35. 27 | So Hans-Peter Schütt in seiner Karlsruher Abschiedsvorlesung »Philosophische Romane« vom 28. April 2017.
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Natürlich hat Lyotard so wenig Steve Bannon hervorgebracht wie Nietzsche mit seinen Reden von der »blonden Bestie« den Nationalsozialismus, auch wenn sich Bannon postmoderner und die Nazis nietzscheanischer Gedanken bedient haben. Philosophien können in politischen Ideologien missbraucht werden. Doch sofern die amerikanische Demokratie gegenwärtig durch plutokratische und autokratische Tendenzen gefährdet ist und die Ideale der Aufklärung auch in den westlichen Demokratien auf dem Spiel zu stehen scheinen, hat eine postmoderne Philosophie dieser Tendenz nichts entgegenzusetzen, weil sie die Aufklärung ja schon längst theoretisch verabschiedet hat, bevor diese wirklich politisch in die Bredouille geriet. Diese Überlegungen sind kein Plädoyer für einen neuen Realismus. Es ist nicht nötig, einen solchen auszurufen. Es geht mir nur darum, darauf hinzuweisen, dass die philosophischen Theorien der Erkenntnis und der Wahrheit Manifestationen einer sekundären Reflexionsanstrengung sind, die eine gewisse Wirkung auf die primären Praktiken, um die es in dieser Reflexion geht, sehr wohl entfalten können, so wie eine Kamera, die als Einparkhilfe neuerdings an der Rückseite von PKWs angebracht ist, einen Einfluss auf das Fahrverhalten des Fahrers haben kann. Solange wir es aber nicht mit einem selbstfahrenden Vehikel zu tun haben, steuert die Kamera nicht das Auto, sondern immer noch der Fahrer. Ebenso lenken die Philosophen nicht die vielfältigen Wahrheitspraktiken der Menschheit, sondern diese entwickeln sich von selbst. Eine aufgeklärte Philosophie sollte diese Selbstentwicklung von Wahrheitspraktiken fördern und nicht unter die Fuchtel einer allgemeinen Erkenntnis- und Wahrheitstheorie stellen wollen. Den kantischen Aufruf, man solle sich seines eigenen Verstandes bedienen, kann man pragmatistisch so umdeuten: Habe Mut, deine Wahrheitspraktiken zu entwickeln und zu kultivieren. Wie alle Praktiken werden auch diese soziale sein, weshalb die pragmatistische Wahrheit zwar pluralistisch, jedoch nicht subjektiv und privat ist. Es sind immer viele, die einer Wahrheitspraktik folgen und sie verbessern, beziehungsweise verändern und die das potentiell positive Ergebnis einer Suchbewegung als »die Wahrheit« jeweils anerkennen. Die Bewegung der Aufklärung hatte auch damit zu tun, dass einzelnen Menschen zugetraut werden sollte, selbst nachzudenken, selbst nach Wahrheiten zu suchen, möglichst auch an der Wissenschaft teilzunehmen und ihr Leben selbst zu gestalten. Nichts lag Aufklärern wie Kant ferner, als alle dazu zu verdonnern, die Wahrheiten einer großen Erzählung einfach unbefragt zu schlucken. Schon Platon schien die ewige Referenz auf Homer, dessen große Erzählungen die Kultur seiner Zeit beherrschten, auf die Nerven zu gehen, und er forderte mit der Stimme des Sokrates die Menschen dazu auf, einmal selbst darüber nachzudenken, was eine fromme Verhaltensweise in einer bestimmten Situation oder das gute Leben sein könnte, statt sich zu fragen, was wohl Achill oder Hektor an ihrer Stelle gemacht hätten. Die Bewegung der Aufklä-
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rung war als ein Aufruf zur Mündigkeit nicht Werbung für das Abonnement auf eine große Erzählung. Insofern kann man nur froh sein, dass die Rede von der großen Erzählung selbst eine Fiktion ist. Doch ist deshalb die Aufklärung nicht vorbei. Sie kann als kulturelle Bewegung wiederbelebt werden.28 Ja, angesichts der Bedrohung der aufklärerischen Kultur und vor allem der Weiterführung ihrer Wahrheitspraktiken durch lügende und zur Autokratie neigende Politiker wie Donald Trump sind zeitdiagnostisch postmoderne Grabreden auf die Aufklärung sehr gefährlich. Hier verhalten sich die betreffenden Zeitdiagnostiker wie größenwahnsinnige Trapper, die den Brand in einem Wald nicht löschen helfen wollen, weil sie die Bäume, seitdem sie den Wald selbst nicht mehr betreten, ohnehin dem Untergang anheimgegeben sehen.
28 | Vgl. dazu Hampe, Michael: Die Dritte Aufklärung. Berlin 2018.
II. Kritik der »quantitativen Blendung«
Ins Erzählen flüchten Jonas Lüscher Der Teil unserer Seele, der ohne Rücksicht auf das Messen urteilt, ist also nicht derselbe wie der, der auf Grund von Messungen urteilt. »Nein, gewiss nicht.« Der Teil aber, der auf Maß und Rechnung vertraut, ist doch wohl der beste Teil der Seele. »Zweifellos.« [Platon: Politeia 603a] Philosopher! A fingering slave One that would peep and botanize Upon his mother’s grave [Wordsworth] The economy, stupid! [James Carville]
Ich muss diesem Vortrag eine Anmerkung vorausschicken. Ich werde Sie, entgegen den akademischen Gepflogenheiten, mit einigen autobiographischen Motiven und Wendungen belästigen. Das erlaube ich mir, weil ich hier heute ganz dezidiert als Schriftsteller, als Autor literarischer Texte, vor Ihnen stehe und nicht als Philosoph, nicht als Wissenschaftler, denn die Philosophie, zumindest die akademische, habe ich vor gut drei Jahren hinter mir gelassen, als ich mein Promotionsprojekt an den Nagel gehängt und mich entschlossen habe, mich ganz dem literarischen Schreiben zu widmen. Man darf also den Titel meines Vortrages, »Ins Erzählen flüchten«, durchaus persönlich lesen, ich war es, der sich ins Erzählen geflüchtet hat. Meine Promotion sollte ein dezidiertes Plädoyer für eine narrative Gesellschaft werden (im Sinne von Richard Rortys literarischer Gesellschaft), ich hatte vor zu zeigen, dass und weshalb wir als Gesellschaft einer quantitativen Blendung erlegen sind und uns bei der Beschreibung von komplexen Problemen mit einer sozialen Dimension vermehrt auf Narrationen verlassen sollten, statt auf Computermodelle oder andere quantitative Methoden. Im Prozess des Nachdenkens darüber drängten
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sich gewisse sprachskeptische Motive in den Vordergrund und ich begann zusehends, mit dem philosophischen Sprechen und Argumentieren zu hadern, schien es mir doch, als zwinge mich selbiges zu oft, möglichst viele Einzelfälle unter eine Beschreibung, eine Theorie oder ein Argument zu subsumieren. (Darauf werde ich später genauer eingehen.) Jedenfalls litt ich zusehends darunter, dem Einzelfall nicht gerecht zu werden und flüchtete mich also zu guter Letzt ganz ins Erzählen – dahin also, wo der Einzelfall zu seinem Recht kommt. Es wäre unredlich, hier zu verschweigen, dass dieser Fluchtweg zu diesem Zeitpunkt ganz offen vor mir lag. Zwei Jahre zuvor war mein literarisches Debüt erschienen, die Novelle Frühling der Barbaren, mit der ich mich als literarischer Autor etablieren konnte, die viel Aufmerksamkeit, sowohl vom Publikum wie auch von der Kritik erhalten hat, und die mir auch in ökonomischer Hinsicht ein Auskommen als Schriftsteller sicherte. Es war also zwingend, dass ich, wenn ich meine eigene These der eminenten Bedeutung der Literatur für unsere Gesellschaft ernst nehme, mich fragen musste, weshalb ich noch einen theoretischen Text zu schreiben versuchte, wenn ich doch offensichtlich die Möglichkeit hatte – und zwar, was meine schriftstellerischen Möglichkeiten betraf (also so etwas wie mein Talent), als auch die äußeren Bedingungen – Literatur zu verfassen: Weshalb also nicht lieber die Zeit nutzen, einen neuen Roman zu schreiben? Das Thema der Bedeutung der Literatur für die Gesellschaft und des autoritativen Wissens der Narration ist also in vielfältiger, sowohl ideeller, wie auch ganz unmittelbarer Art und Weise mit meiner Biographie verwoben, angefangen (irgendwo muss jeder Erzähler einen Anfangspunkt definieren), angefangen also bei einer Magisterarbeit zur diachronen Strukturemergenz und zum Problem der Abwärtskausalität, einer ausgesprochen systematischen Arbeit, die mich mit dem unbefriedigenden Gefühl zurückgelassen hatte, ich sei damit meiner von Kontingenz, Unübersichtlichkeit und Vielfalt geprägten Erfahrungswelt nicht wirklich gerecht geworden, bis zu diesem Moment heute, hier, in dem ich als Schriftsteller für einen akademischen Tagungsband schreibe. Eine biographische Bewegung also, die sich, wie alles Biographische, in Form einer Erzählung präsentieren lässt; auch das, letztendlich, nur konsequent oder schlicht unvermeidlich. Nur konsequent ist es hier aber auch, dem Wesen der Erzählung gerecht zu werden, und zuzugeben, dass sich das alles auch ganz anders erzählen lässt. Eine andere Geschichte als die des skrupulösen Philosophiedoktoranden, der über seiner Arbeit in eine Chandos-artige Krise gerät,1 bis ihm »die abstrakten 1 | Hofmannsthal, Hugo von: Ein Brief. In: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Bd. 7: Erzählungen. Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. Hg. v. Herbert Steiner. Ungekürzte, neu geordnete, um einige Texte erweiterte Ausgabe. Frankfurt a.M. 1979, S. 465.
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Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urtheil an den Tag zu geben, […] im Munde [zerfielen] wie modrige Pilze« und der sich darüber in die Arbeit an einem Roman rettet. Eine viel banalere Geschichte nämlich, die eines Philosophiedoktoranden, der eigentlich schon immer hatte Schriftsteller sein wollen und der das Glück hat, mit seinem literarischen Debüt zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu erscheinen, so dass ihm ein großes Maß an Aufmerksamkeit zuteil wird. Eine öffentliche, bewundernde Aufmerksamkeit, die ihm, das ist ihm klar, als Philosoph kaum zuteil werden wird, eine Leserschaft, unvergleichlich größer als sie für eine philosophische Doktorarbeit je denkbar wäre, Preise, Übersetzungen, Lesereisen in fremde Länder. Und ob all der Annehmlichkeiten beschließt der nicht mehr ganz junge Doktorand, die Philosophie Philosophie sein zu lassen und ganz dem Weg des Literatenruhms zu folgen. Beide Geschichten, so viel ist gewiss, sind nicht ganz falsch und ohne die jeweils andere eben auch nicht ganz wahr. Und ich bin mir sicher, dass Michael Hampe, der als mein Doktorvater das, manchmal sicher zweifelhafte, Vergnügen hatte, meine philosophischen und biographischen Wirren aus nächster Nähe mitzuerleben, an manchen Tagen eher der zweiten Geschichte zuneigte. Dieser Verweis darauf, dass sich die Dinge so und so erzählen lassen – was nicht bedeutet, dass sie sich auf jede Art erzählen lassen – ist mir wichtig, weil er sowohl auf die Tücke, wie auch auf die Stärke der Erzählung hinweist. Nebst der hier vertretenen These, eine erzählende Haltung gegenüber der Welt sei wünschenswert, sowie der offensichtlichen Verknüpfungen von ontologischen, epistemologischen und weltanschaulichen Überzeugungen mit biographischen Motiven, die in meinem Fall evident und für meine Haltung bestimmend sind, gibt es aber noch einen dritten Grund, weshalb es mir geraten scheint, dieses Referat hier zumindest mit einem biographischen, erzählerischen Teil zu beginnen, denn damit verweise ich auf die Gültigkeit im Einzelfall – meinem Fall – und bin nicht gezwungen, meinen Vortrag zu einem konsequenten Ende zu führen und Ihnen allen anzutragen, sich schleunigst von Ihren wissenschaftlichen Texten zu verabschieden und am besten gleich morgen, sich ins Erzählen zu retten und mit dem Schreiben eines Romanes oder dem Verfassen von Sonetten zu beginnen – das wäre nämlich nicht nur hinsichtlich der Konkurrenz, die ich mir damit schaffen würde, ganz ungeschickt, sondern vor allem ausgesprochen vermessen. Nun aber genug der Vorbemerkungen. Hinter der These, wir sollten uns als Gesellschaft, bei der Beschreibung von komplexen Problemen mit einer sozialen Dimension, vermehrt auf das autori-
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tative Wissen der Erzählung verlassen, statt auf Computermodelle, steckt mehr als nur ein Methodenstreit. Der Ökonom John Kay2 bemerkt 2010, angesichts des Versagens der gängigen Modelle der Ökonomie in der Wirtschafts- und Finanzkrise ganz richtig: »Jede andere Art [als die herkömmlichen mathematischen Modelle der Wirtschaftswissenschaften] die Welt zu beschreiben, müsste anerkennen, dass das Verhalten von Menschen von ihren falliblen Überzeugungen und Wahrnehmungen abhängt. Diese andere Art, die Welt zu beschreiben, müsste Unsicherheiten und die Abhängigkeit von Handlungen von sich verändernden sozialen und kulturellen Normen berücksichtigen. Modelle könnten dann nicht universell sein, sie müssten kontextspezifisch werden.«
Hinter diesem Anspruch einer anderen Beschreibung der Welt steckt eine philosophische Grundsatzfrage, die in neuerer Zeit wirkungsmächtig vor allem bei Darwin zum Ausdruck gekommen ist, indem er die essentialistische Typologie der Lebewesen zurückwies und durch ein Populationsdenken ersetzte. Der Biologe Ernst Mayr schreibt dazu, dass er sich zwei unterschiedlichere Wege, die Natur zu beschreiben, nicht vorstellen kann: »Für den Typologen ist der Typus real und die Variation eine Illusion, während für den Populationsdenker der Typus eine Abstraktion und nur die Variation real ist.«3 Zugespitzt lässt sich daraus eine Analogie zur Beschreibung komplexer Systeme formulieren. Quantitative Beschreibungen und narrative Beschreibungen stellen zwei unterschiedliche Weltbetrachtungen dar: Im Modelldenken ist der Durchschnittswert, das Gesetzmäßige und das Allgemeine real, und das Einzelne, Kontingente eine zu vernachlässigende Zufälligkeit; die Narration dagegen handelt vom Einzelnen, vom Kontingenten und Zufälligen, und die Gesetzmäßigkeit und der Durchschnitt stellen nur eine idealisierende Abstraktion dar, die der abkürzenden Verständigung dient, aber nicht eigentlich die Wirklichkeit betrifft. Michael Hampe schreibt dazu, Beschreibungen und Erzählungen würden auf Einzelnes und die Differenzen, die es von anderem unterscheidet, abzielen und unsere Aufmerksamkeit auf Unterschiede lenken.4 Erklären dagegen sei ein Verfahren, die Aufmerksamkeit vom Verschiedenen, der Differenz, zum Identischen, Gleichen, Etablierten, Allgemeinen zu lenken. Erklären sei des-
2 | Kay, John: Economics may be dismal, but it is not a science. In: Financial Times (30. April 2010). 3 | Mayr, Ernst: Evolution und die Vielfalt des Lebens. Berlin, Heidelberg, New York 1979, S. 37. 4 | Hampe, Michael: Eine kurze Geschichte des Naturgesetzbegriffs. Frankfurt a.M. 2007, S. 25.
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halb, so Hampe weiter, »eine spezifische Bewältigung von Kontingenz, indem das Kontingente auf das Gesetzmäßige zurückgeführt wird«. Doch wie können dann Narrationen autoritatives Wissen transportieren, welches für mehr als den Einzelfall Gültigkeit besitzt? In dem wir in der Lage sind, all die Geschichten, die uns von spezifischen Einzelfällen erzählen, zueinander in Bezug zu setzen, Analogien zu bilden und Unterschiede herauszuarbeiten und dadurch ein narratives Netz zu knüpfen, das uns dichte Beschreibungen der Welt liefert. An diesen unterschiedlichen Weltbetrachtungen zeigt sich, dass hinter dem Plädoyer für eine narrative Gesellschaft mehr steckt als nur ein Methodenprinzip. Mehr als nur die Frage nach den Quellen unseres Wissens. Das Bekenntnis zum Narrativen verweist tiefer, auf grundsätzlichere Fragen erkenntnistheoretischer Natur und vor allem auf die ontologische Grundannahme, dass die Wirklichkeit aus kontingenten Individuen und ihren Differenzen und nicht aus Allgemeinheiten aufgebaut ist. Es ist aber genau diese ontologische Annahme, die direkt in die Sprachskepsis führt. Unsere Sprache operiert nun einmal in erster Linie mit Allgemeinbegriffen und gerät damit mit einer solchen Ontologie der Einzelfälle in Konflikt. Wie können wir mit einer solchen Sprache, die in ihrer einfachsten Satzform, »x ist ein y«, bereits ein Urteil spricht, dem jeweiligen Einzelfall gerecht werden? Also verpflichten wir uns zur begrifflichen Präzision, zur genauen Definition, zur argumentativen Schärfe – damit, so scheint uns, würden wir dem Individuum wenigsten nicht mit dem allzu breiten Pinsel zu Leibe rücken. Das Individuum zeichnet sich aber nicht in erster Linie durch sein Spezifischsein aus, sondern durch seine diachrone Fluidität, seine synchrone Mehrdeutigkeit, seine bestimmte Unbestimmtheit und so führt diese Strategie in die Irre. Mir jedenfalls schien es immer, je dichter ich die Maschen meines argumentativen Netzes knüpfte, umso glitschiger werde der Fisch. Oder es geht einem wie Husserl, der mit seiner phänomenologischen Methode ganz konsequent den Weg der wissenschaftlichen Präzision beschritten hatte und im Alter gerne die Anekdote erzählte, wie er als Junge ein Messer geschenkt bekam und dessen Klinge immer und immer schärfer schliff bis sie brach. Wie aber entkommt man dann der Unzulänglichkeit unserer Sprache, der Gewalt der Allgemeinbegriffe? Indem man eben ins Erzählen flüchtet. Dorthin, wo das Vage im Vagen bleiben darf, das Chaos ungeordnet, die Zerrissenheit nicht überwunden, sondern gelebt werden darf, dorthin wo das Schmutzige, das Zweideutige emphatisch begrüßt wird und der Zufall zu seinem Recht kommt. Mein Verzweifeln an den Allgemeinbegriffen und die daraus resultierende Flucht ins Erzählen mag eine einigermaßen idiosynkratische, sprachskeptische Erfahrung sein. Die Diagnose einer quantitativen Blendung der Gegen-
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wartsgesellschaft und die als Antidot verschriebene Hinwendung zur Erzählung sind dagegen von ganz anderer, nämlich politischer und gesellschaftlicher Dimension. Und es ist damit die Klage verbunden, wir verließen uns zu sehr auf das Zählen und Messen; ein mathematisch/naturwissenschaftliches Weltbild des Erklärens nehme überhand und dies auf Kosten des Narrativen, des Epischen, welches die Beschreibung zum Ziel habe.5 Mit dieser Klage bin ich auch bei weitem nicht alleine, sie ist sehr gegenwärtig. Gleichzeitig ist aber auch die Klage zu vernehmen, die Rede vom Narrativen sei ubiquitär, die Erzählung allgegenwärtig, die Metapher vom Leben als Literatur überstrapaziert; »Life is not Literature«, heißt es zum Beispiel bei William Blattner.6 Wir haben es also mit zwei paradoxen Diagnosen für ein und dieselbe Zeit zu tun und genau so unvereinbar scheinen die verordneten Kuren: mehr Daten, genauere Daten, präzisere Modelle werden von den einen empfohlen und sie versprechen uns damit mehr Sicherheit und größere Gewissheit. Die andere Fraktion ist sich sicher, dass das Individuum und die Gesellschaft genau daran krankt und ordnet an, wir sollten uns in Geschichten verstricken und das Wissen der Narration wieder als autoritatives, als verlässliches begreifen; 7 und es schwingt in diesem »wieder« mit: die Möglichkeit der Annäherung an einen unverdorbenen Naturzustand, vertraut doch der gemeine Primitive gerne der mündlichen Überlieferung. In der Tat scheint es, als seien beide Diagnosen richtig. Dass wir also zugleich quantitativ verblendet sind und uns der narrativen Beliebigkeit schuldig machen. Etwas Licht in diese paradoxe Situation lässt sich mit einem Blick in die Geschichte bringen, denn beide Klagen, die der narrativen Verantwortungslosigkeit und die der quantitativen Blendung sind weder neu, noch besonders zeittypisch, sondern teilen in all ihren Variationen eine lange, gemeinsame
5 | Zum Beispiel: Brigitte Kronauer in ihrer Zürcher Poetikvorlesung (Dieselbe: Über die Skepsis beim Schreiben. In: NZZ, 5. November 2012). 6 | Blattner, William: Life is Not Literature. In: The Many Faces of Time. Ed. John Barnett Brough and Lester Embree. Dordrecht 2000, S. 187-201. Oder vgl. auch Strawson, Gael: Gegen die Narrativität. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 53/1 (2005), S. 3-22. 7 | Hinter dem Ruf nach mehr Narration lassen sich grob drei unterschiedliche Thesen ausmachen, die manchmal unabhängig voneinander, manchmal in den unterschiedlichsten Verbindungen vertreten werden: 1. Die These der narrativen Struktur des Subjekts. 2. Die These, Narrationen seien Quellen von autoritativem, das heißt verlässlichem und nützlichem Wissen über die Welt. 3. Die These der Éducation sentimentale, das heißt die Überzeugung, Narrationen würden uns über eine Art Sensibilisierungsprozess zu besseren Menschen machen.
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Geschichte, die sich rekonstruieren lässt, als eine wechselhafte Beziehung, eines Verhältnisses zwischen zwei unterschiedlichen Weltbetrachtungen, die im Verlauf der Geschichte im Gewand wechselnder Begriffspaare daherkommen: Logos und Mythos, das Notwendige und das Kontingente, das Ewige und das Wechselhafte, das Universelle und das Einzelne, das Allgemeine und das Besondere; das Philosophische und das Literarische, das Erklärende und das Beschreibende, das Tragische und das Rationale, das Wissenschaftliche und das Lebensweltliche – die Liste ließe sich weiterführen. Mittels einer Rekonstruktion dieser wechselvollen Beziehung ließe sich zeigen, dass das Verhältnis zwischen jenen, die nach universellen – und nach Möglichkeit auch zeitlosen – Erklärungen suchen und jenen, die sich mit Beschreibungen kontingenter Einzelfälle begnügen, zwar seit jeher ein schwieriges und konfliktbeladenes ist, es aber wie eine Wippe im Sandkasten hin und her schaukelte, mal dem einen, mal dem anderen festen Boden unter den Füßen bescherte, sich insgesamt aber doch eben in einem gewissen Gleichgewicht und gesunder Koexistenz befand, bis sich, irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts, wie ein adipöser Halbstarker, der Kapitalismus auf der einen Seite mit aufs Sitzbrett drängt und seither das Beschreibende, das Narrative zusehends den Boden unter den Füßen verlor und in luftiger Höhe dekorativen Kunstsinn beweisen darf, es sei denn, es betätige sich marktschreierisch und verschaffe sich in der Gestalt der Werbung Gehör. Eine solche Beziehungsgeschichte würde auch von unterschiedlichen, aber immer wiederkehrenden Ängsten und Hoffnungen erzählen: der Hoffnung, man könne mit klaren Methoden und einsichtigen Grundprinzipien dem Terror der bloßen Meinungen und den mächtigen religiösen Dogmen entkommen, es ließen sich damit die Gefahren einer chaotischen, bedrohlichen und unvorhersehbaren Welt in ihre Schranken verweisen und die Widersprüchlichkeiten menschlichen Handelns auflösen. Und der Angst, dies sei nur um den Preis eines schmerzhaften Verlustes zu erreichen, eines Verlustes an Vielfalt und Lebensweltlichkeit; der Angst, der Mensch habe sich dazu unter das Joch einer vorgefundenen Struktur zu beugen. Interessanterweise scheinen genau diese Ängste und Hoffnungen nicht nur unseren Blick auf die Gegenwart zu prägen, sondern auch unsere Sicht auf die Vergangenheit und auf die Ideengeschichte. Sehr anschaulich lässt sich das an der ausgesprochen gegenläufigen Bewertung der Rolle von Parmenides durch Popper und Feyerabend – also durch Lehrer und Schüler – zeigen, die sehr unterschiedliche Geschichten zu erzählen wissen. Für Feyerabend beginnt das Elend des abendländischen Denkens mit Parmenides.
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»Die Odyssee beginnt«, gibt sich Feyerabend überzeugt, »mit Parmenides«.8 Eine Odyssee, die Feyerabend als eine Irrfahrt beschreibt, die sich von der Lebenswelt entfernt und in ein kaltes, trockenes Land der abstrakten und idealen Wesenheiten führt. Mit Parmenides’ Einführung einer deduktiven Argumentationsstruktur und seiner Negation der Veränderung vollzieht sich der Wandel vom Aggregatuniversum Homers zum Substanzuniversum der griechischen Philosophie oder, wie es der zum Slogan gewordene Titel von Wilhelm Nestles einschlägigem Werk etwas simplifizierend auf den Punkt bringt, »vom Mythos zum Logos«.9 Das Beschreibende, das Narrative, das Prozessuale und das Sinnliche verlieren dabei an Bedeutung. Gestärkt wird dafür die begriffliche Erwägung und die theoretische Erfassung. Die Vielfalt, als eine nur scheinbare, verliert ihre Berechtigung in einer einheitlichen und einfachen Welt.10 Parmenides, so Feyerabend, sei »der Mann, der unveränderliche und rein begrifflich formulierte Gesetze anstelle anschaulicher Ereignisfolgen setzt und so Wirklichkeit und Welterfahrung, Denken und Anschauung, Wissen und Handeln entschieden voneinander trennt«. Ihm habe die Mathematik die Erhebung aus einer allgemeinen Theorie der Lebenswelt in eine Theorie idealer Wesenheiten zu verdanken.11 »Der homerische Mensch […] [dagegen war, laut Feyerabend,] auch ideologisch ›sub stanzlos‹. Er duldet einen Eklektizismus in der Religion, fremde Götter und Mythen werden ohne Zögern übernommen, verschiedene Varianten desselben Mythos leben Seite an Seite weiter, ohne einen Versuch zur Beseitigung von Widersprüchen. Es gibt keine Priesterschaft, es gibt keine Dogmen, Toleranz gegen eine Vielfalt von Meinungen über Welt und Götter sind das Kennzeichen der Welt, in der man lebt. […] Einzig Xenophanes [der in Feyerabends Geschichte Parmenides’ partner in crime gibt] rügt, macht lächerlich, verachtet und bereitet damit die intolerante Atmosphäre der späteren Philosophie vor.«12
Es ist nun in Philosophenkreisen eine bekannte Geschichte, dass sich Lehrer und Schüler, Popper und Feyerabend, in dieser Frage – nicht nur in dieser, aber eben auch in dieser –, nämlich der Frage der Bewertung der Rolle des 8 | Feyerabend, Paul: Naturphilosophie. Frankfurt a.M. 2009, S. 186. 9 | Nestle, Wilhelm: Vom Mythos zum Logos. Stuttgart 1940. 10 | So lautet der Titel von Feyerabends Fragment gebliebenem Spätwerk, in dem er sich ein letztes Mal mit diesem Wandel beschäftigte: Die Vernichtung der Vielfalt. Ein Bericht. Wien 2005. Vgl. auch Heit, Helmut/Oberheim, Erich: Einführung. In: Paul Feyer abend: Naturphilosophie. Frankfurt a.M. 2009, S. 31. 11 | Feyerabend, Naturphilosophie, S. 186. 12 | Ebd., S. 135.
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Parmenides, uneins waren. Während Feyerabend Parmenides als Urbösewicht in seiner Genealogie ausmacht,13 stilisiert sein Lehrer Popper genau diesen zum Helden, zum Vater der rationalistischen Tradition,14 zum Entdecker der hypothetisch-deduktiven Methode,15 während er Aristoteles die Rolle des Bösewichts zuweist, der mit seiner induktiven Methode »der kritischen Wissenschaft den Garaus« gemacht habe, »wovon sich die Philosophie unserer Tage noch kaum erholt« habe.16 Es wäre nun zu einfach, dem einen oder dem anderen eine grundsätzlich falsche Sicht auf die Entwicklung der Philosophie zu unterstellen. Zum einen lassen sich Mythos, Philosophie und Wissenschaft nicht scharf trennen und treten auch gemeinsam und nicht immer in dieser Reihenfolge auf.17 Zum andern ist natürlich auch die Philosophiegeschichtsschreibung nicht frei von Gegenwart, und es ist davon abhängig, in welche Richtung die Kritik an dieser Gegenwart zielt, wen man zum Bösewicht macht. Wenn man der Meinung ist, der Gegenwart fehle es an Lebensweltlichkeit und Pluralismus, an »ideologischer Substanzlosigkeit«, macht man Parmenides als Wurzel allen Übels aus, ist man hingegen der Meinung, die Welt genese am ehesten an deduktiver, kritisch-rationalistischer Wissenschaft, so wird Aristoteles diese Rolle übernehmen müssen. Was Parmenides betrifft, sind sich die beiden zumindest einig, dass sein Werk eine Zäsur darstellt. Aber man darf sich fragen, angesichts des zweifellos literarischen und narrativen Charakters, den beide Werke, Homers Epen und Parmenides’ episches Gedicht, teilen, ob diese Zäsur für das Vorhaben, eine Beziehungsgeschichte des Quantitativen und des Narrativen zu erzählen, als gutes Beispiel taugt? Die Antwort liegt wohl in dem, was Popper zweieinhalbtausend Jahre später in der Lage ist, aus Parmenides’ Versen zu destillieren: »(1) Nur was ist, ist. (2) Das Nichts kann nicht sein. (3) Es gibt keinen leeren Raum. 13 | Es soll hier aber auch nicht unerwähnt bleiben, dass Feyerabend in seinem Spätwerk Die Vernichtung der Vielfalt Parmenides nicht mehr ganz so harsch beurteilt und einen etwas versöhnlicheren Ton anschlägt. Beide Werke sind erst posthum und als Fragmente erschienen, die Naturphilosophie 2009, Die Vernichtung der Vielfalt zuerst im englischen Original (The Conquest of Abundance, Chicago 1999). Ersteres hatte Feyerabend allerdings bereits in den 70er Jahren verfasst. An der Vernichtung der Vielfalt arbeitete er bis zu seinem Tod im Jahre 1994. 14 | Popper, Karl R.: Die Welt des Parmenides. Der Ursprung des europäischen Denkens. München 2001, S. 58. 15 | Ebd., S. 47. 16 | Ebd., S. 29f. 17 | Vgl. Feyerabend: Naturphilosophie, S. 26.
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Es steckt also in diesen lyrischen Versen, in Parmenides’ Geschichte einer Reise zu einer Göttin, ein gültiger,19 seiner Form nach deduktiver Beweis und es ist, zumindest nach unserem heutigen Kenntnisstand, einer der ersten Versuche, der Natur oder dem Sein mit einem solchen Beweis auf den Grund zu gehen oder zumindest einer der ältesten überlieferten.20 Und für Feyerabend beginnen damit auch die Versuche, »die anschaulich gegebene Welt und die Wechselwirkungen, Veränderungen, Übergänge in ihr aufgrund von Prinzipien zu verstehen, die auf den ersten Blick nichts mit ihr zu tun haben. »Man tritt«, so beschreibt er den damit verbundenen Vorgang, »von der Welt zurück, man baut das Denken um, man verwandelt es aus einem vielseitigen Anpassungsmechanismus in einen einfachen, glänzenden, leicht durchschaubaren Computer, und man tritt nun mit diesem neuen Denkmittel wieder an die Welt heran.«21 Aber selbst Feyerabend ist gewillt in diesem Vorgang, den man auch als die Trennung zwischen Mensch und Umwelt beschreiben kann, nicht nur Ne18 | Popper: Die Welt des Parmenides, S. 170. Feyerabend formuliert es etwas anschaulicher: »Der fundamentale Bestandteil der Welt schlechthin ist das Seiende; die einzige Eigenschaft des Seienden ist die, dass es ist; die einzige Veränderung, der das Seiende unterworfen werden kann, ist die, aufzuhören zu sein, das heißt in das Nichtseiende überzugehen; das Nichtseiende existiert aber nicht; und somit gibt es keine Veränderung.« (Feyerabend: Die Vernichtung der Vielfalt, S. 233.) Da wir aber in unserer alltäglichen Erfahrung sehr wohl Veränderung erleben, bedeutet das, dass unsere alltägliche Erfahrung trügerisch ist und wir uns bei der Suche nach der Wahrheit besser nicht von ihr leiten lassen. 19 | Zumindest seiner logischen Form nach scheint der Beweis gültig, auch wenn seine Konklusion ganz offensichtlich falsch ist. Doch der Fehler versteckt sich in der Gültigkeit der Prämissen und nicht in der logischen Deduktion. Statt von einem Beweis, lässt sich auch vom vielleicht ersten überlieferten Argument sprechen. 20 | Viel frühere schriftliche Zeugnisse von Beweisen kennen wir aus den Gesetzeswerken des Nahen Ostens, angefangen bei dem sumerischen Gesetzestext von Ur-Nammu (2000 v. Chr.). Dort finden wir Formen wie »wenn …, dann …« und »wenn …, vorausgesetzt, dass …, dann …«. (Vgl. Feyerabend: Die Vernichtung der Vielfalt, S. 75.) Aber auch Homers Helden argumentieren. Allerdings bedeutet ein solches Argumentieren, zu zeigen, dass man selbst auf der Seite der Tradition steht. (Vgl. Feyerabend: Die Vernichtung der Vielfalt, S. 76.) 21 | Feyerabend: Naturphilosophie, S. 187.
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gatives zu sehen.22 Diese Trennung, sie ist auch eine Befreiung. Der Mensch befreit sich damit aus seiner Unmündigkeit, seinem Ausgeliefertsein und erobert sich neue Spielräume des Denkens und Handelns, und die Wippe der Entwicklung unseres Denkens nimmt ihr Schaukeln auf; hin und her zwischen »stabilisierenden« aber »verarmenden und leblos machenden« und »auflockernden«, »bereichernden«, »belebenden« Tendenzen.23 Bereits in diesem ersten Akt dieser Beziehungsgeschichte zeigt sich also, dass die jeweils neuen Weisen der Weltbetrachtung nicht einfach den alten etwas hinzufügen, sie sind keine voraussetzungslosen »Geschenke« an die Menschheit. Mit ihnen geht in der Regel die Erwartung einher, dass die Beschenkten bereit sind, liebgewonnene Gewohnheiten, bewährte Praxen und zentrale Überzeugungen (die natürlich in diesem Moment als verstaubte Gewohnheiten, überholte Praxen und falsche Überzeugungen bezeichnet werden) hinter sich zu lassen. Das, was uns gemeinhin und wahlweise als intellektueller Fortschritt oder Rückkehr ins Lebensweltliche verkauft wird, ist nicht zuletzt auch ein Verdrängungskampf, bei dem mal die eine, dann wieder die andere Seite Boden gut macht.24 Man könnte diese Beziehungsgeschichte von hier aus weitererzählen, bis in unsere Gegenwart. Nur fehlt hier die Zeit dazu. Das nächste Kapitel wäre zweifellos Platon gewidmet, in dessen Werk der Vorwurf der narrativen Beliebigkeit in beispielloser Direktheit auftaucht. Dann Aristoteles, dann das mythengetränkte Mittelalter, der Nominalismusstreit am Ausgang des Mittelalters… Sie entschuldigen meine Siebenmeilenstiefel… Ich führe die Erzählung, dieses philosophische Märchen, wie es Odo Marquard vermutlich genannt hätte – und zwar keineswegs abwertend – mit der Renaissance weiter, die auch als partielle Wiederbelebung bestimmter Aspekte der Antike verstanden werden kann, unter anderem auch der Vorstellung Platons, dass: 1. axiomatische und unveränderliche Wahrheiten existieren, aus denen sich mittels strenger Logik Schlüsse deduzieren lassen, die damit zwingend richtig sind. 2. Einsicht in diese unveränderlichen Wahrheiten durch eine von Platon empfohlene Methode zu erreichen ist. 22 | Vgl. ebd., S. 166. 23 | Vgl. ebd., S. 168. 24 | Vgl. Feyerabend, Paul: Concerning an Appeal for Philosophy. In: Common Knowledge 3 (Winter 1994), S. 10f. Deutsch: Ein Aufruf an die Philosophie. In: ders.: Die Vernichtung der Vielfalt, S. 291-295.
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3. Wir unser Leben an diesen makellosen Erkenntnissen ausrichten können und es sich dann ganz statisch, ohne Veränderung und unter Abwesenheit menschlicher Makel, Zweifeln und Unsicherheiten leben lässt.25 Diese drei Annahmen lassen sich mit Isaiah Berlin als Spezialfall, als Platons individuelle Ausformulierung jener drei Grundannahmen betrachten, auf denen die westliche Tradition wie auf drei Säulen ruht.26 Dass es nämlich, zum einen, auf alle sinnvollen Fragen eine Antwort gibt, dass, zweitens, alle diese Antworten grundsätzlich gefunden werden können, dass es also Techniken gibt, die lern- und lehrbar sind, mittels derer wir in die Lage versetzt werden, diese Antworten zu finden, und drittens, dass all diese gefundenen Antworten miteinander vereinbar und auf einfache Grundprinzipien rückführbar sein werden. Das bedeutet, »dass es die Beschreibung einer idealen Welt gibt – eines Utopia, wenn Sie so wollen –, die nichts anderes ist als das, was von allen wahren Antworten auf alle ernst zu nehmenden Fragen beschrieben wird«.27 Es mag zwar sein, dass wir gegenwärtig nicht in der Lage sind, dieses Utopia zu erreichen, weil wir noch nicht den richtigen Weg zu den nötigen Antworten gefunden haben, aber wir können uns doch zumindest an diesem Ideal ausrichten. Man hat nun, so Berlin, in der Aufklärung aus der Vergangenheit seine Schlüsse gezogen und verstanden, dass die gesuchte Methode weder die Offenbarung sein kann, denn diese offenbart sich unterschiedlichen Menschen ganz unterschiedlich, noch Tradition, die zu häufig in die Irre geführt hat, aber eben auch nicht die Ausrichtung an einer Priesterkaste – wie bei Platon –, denn zu oft haben sich Schwindler dieser Rolle bemächtigt. »Es gibt nur einen Weg, all diese Antworten zu erlangen – nämlich durch den korrekten Gebrauch der Vernunft, deduktiv wie in der Mathematik oder induktiv wie in den Naturwissenschaften.«28 Diese Einsicht aber eröffnet in dieser Beziehungsgeschichte zwischen Quantitativem und Narrativem ein ganz neues Kapitel, in dem der Begriff der quantitativen Blendung vielleicht zum ersten Mal seine Berechtigung hat. Es gibt nun nämlich keinen Grund mehr, daran zu zweifeln, dass die Methode, die sich in Physik und Chemie so erfolgreich zeigt, nicht auch im Gebiet der Politik, der Moral und der Ästhetik die richtigen Antworten liefern wird. In dieser Vorstellung, so schreibt Berlin, stelle sich dem Betrachter die Welt wie ein großer, ungeordneter Haufen Puzzleteile dar. Der Betrachter ist sich aber zumindest gewiss, dass die Teile alle zu ein und demselben Puzzle gehören 25 | Vgl. Berlin, Isaiah: Die Wurzeln der Romantik. Berlin 2004, S. 25. 26 | Vgl. ebd., S. 55ff. 27 | Ebd., S. 57. 28 | Ebd.
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und sich alle irgendwie zu einem vollständigen Bild zusammenfügen lassen werden. Ein Bild, das nicht nur Aufschluss darüber geben wird, wie die Welt beschaffen ist, welchen Gesetzen sie unterworfen ist, wie der Mensch beschaffen ist und in welcher Beziehung er zu dieser Welt steht, sondern auch Antworten auf die normativen Fragen liefern wird. Es ist gerade dieser normative Bereich, der Bereich der Moral und der Politik, in dem ein besonderes Maß an Verwirrung und Uneinigkeit herrscht und die Vorstellung fällt deshalb auf besonders fruchtbaren Boden, dass das, was Newton für die Physik geleistet habe, nämlich das herrschende Chaos und die Uneinigkeit mit einigen eleganten mathematischen Prinzipien zu beseitigen und eine Ordnung herzustellen, die von jedermann, der bereit ist, die Verwendung der notwendigen Werkzeuge zu erlernen, nachvollzogen werden kann, auch im Bereich der Politik, der Moral und der Ästhetik möglich sei, und – wie Berlin schreibt – auch »in der übrigen chaotischen Welt menschlicher Neigungen, in der man sich allem Anschein nach im Namen unvereinbarer Grundsätze gegenseitig bekämpft […], nach dem Leben trachtet […], zerstört […] und demütigt […]«. Es handle sich »augenscheinlich um eine völlig berechtigte Hoffnung und zudem um ein überaus achtbares menschliches Ideal.«29 Auf jeden Fall stelle es genau das Ideal der Aufklärung dar, und dieses komme in der Form eines Versprechens daher. Des Versprechens, es gebe auf alle vernünftigen Fragen entsprechende Antworten, diese ließen sich alle und ausschließlich mit den Methoden der Physik und der Mathematik finden und sie würden sich zu einem bruch- und nahtlosen Gesamtbild fügen. Die Moral wird damit zu einer Frage der richtigen Erkenntnis und – in unserem Zusammenhang vielleicht noch entscheidender – die Kunst wird zu einer Frage der richtigen Abbildung, was aber nicht bedeutet, das Vorgefundene möglichst präzise zu kopieren, sondern »das innere und objektive Ideal zu visualisieren, auf das die Natur und der Mensch zustreben«.30 Auch Kunst ist damit Erkenntnisarbeit, denn es muss das Muster der vernünftigen Beziehungen zwischen den Dingen erkannt werden, in dem sich die ewigen Prinzipien, die Ideale zeigen. Was das für den Künstler, für den Literaten bedeutet, zeigt sich in den Worten des Aufklärers Fontenelle: »Ein politisches Werk, eine moralische Anstrengung oder eine kritische Stellungnahme, ja vielleicht sogar ein literarisches Werk wird, alles in allem, vornehmer sein, wenn der Ausführende ein Geometer ist.«31 29 | Ebd., S. 60. 30 | Ebd., S. 63. 31 | Zitiert nach Berlin: Die Wurzeln der Romantik, S. 64. Im Original: »Un ouvrage de moral, de politique, de critique, peut-être même d’éloquence, en sera plus beau, toutes choses d’ailleurs égales, s’il est fait de main de géomètre.« (Fontenelle, Bernard le Bovier de: Préface sur l’utilité des mathématiques et de la physique 1699. In: Œuvres de Fontenelle. Tome III. Paris 1790-1792, S. 6.) Berlins Übersetzung von »ouvrage d’éloquence«
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In dieser Lage nun, die geprägt ist von einem rationalistischen Vertrauen in die Methoden der Naturwissenschaften und in die ordnende Kraft der Mathematik, kommt es – so die These in Isaiah Berlins Die Wurzeln der Romantik – zu einer massiven Kompensationsbewegung, zu einem Ausschlagen des Pendels ins andere Extrem. Die romantische Bewegung markiere »zumindest in der Geschichte des Abendlandes – den Augenblick, da die Künste erstmals die anderen Aspekte des Lebens dominiert haben.«32 Diese »Tyrannei der Kunst über das Leben«33 stelle in gewisser Weise das Wesen der romantischen Bewegung dar, einer Bewegung, die Berlin als die »umfassendste Bewegung« bezeichnet, die in jüngerer Vergangenheit Lebensweise und Denken der westlichen Welt umgestaltet und die mit Abstand weitreichendsten Veränderungen im westlichen Bewusstsein bewirkt habe.34 Die Romantik greift dabei das zentrale Versprechen der Aufklärung an und bricht ihr damit gleichsam das Rückgrat. Nein, so rufen die Romantiker, wir dürfen nicht hoffen, dass wir auf jede Frage eine Antwort finden und schon gar nicht, dass alle Antworten widerspruchsfrei miteinander zu vereinbaren sind, und überhaupt ist das Buch der Natur nicht in der Sprache der Mathematik geschrieben und die Welt hat auch keine durchgehend rationale Struktur, demnach dürfen wir auch nicht hoffen, die rationalen Methoden der Naturwissenschaften bildeten die Matrix, die sich über das gesamte Leben werfen ließen. Dieser Angriff kommt nicht unvorbereitet, er wurzelt, so zeigt sich Berlin überzeugt, im emphatischen Freiheitsverständnis Kants – der ironischerweise die Romantik vehement ablehnt, ist ihm doch alles Schwärmerische, alles Mystische und Unbestimmte zuwider – und in Herders Gedanken, dass Ideale oft nicht miteinander vereinbar seien.35 In Herders Vorstellung sind Ideale eine lokal und zeitlich begrenzte Angelegenheit. Verschiedene Kulturen, verschiedene Völker und Stämme orientieren sich an ihren je eigenen Idealen, die ihre je eigene Richtigkeit haben. Kulturen sollen zu einem möglichst reichhaltigen Ausdruck ihrer selbst kommen; sie sollen unbehelligt von imperialistischen, von außen aufoktroyierten Einflüssen, das sein können, was sie eigentlich sind. Es kann also, bei Herder, nicht die Rede sein von einer einzigen ideaals »literarisches Werk« (»work of literature« im englischen Original) ist natürlich nicht ganz korrekt und durchaus etwas tendenziös. 32 | Nicht-publizierte einleitende Bemerkungen Berlins zu seinen Romantik-Vorlesungen. Hier zitiert nach Henry Hardys Vorwort in: Berlin: Die Wurzeln der Romantik, S. 12. 33 | Ebd. 34 | Vgl. ebd., S. 24. 35 | Vgl. ebd., S. 109ff. und S. 128ff. Berlin verortet die ersten Wurzeln der Romantik allerdings bereits wesentlich früher, bei Montesquieu und Hume, die beide auf ihre Art am Weltbild der Aufklärung gekratzt hätten und vor allem in Hamanns mystischem Vitalismus, demzufolge Gott kein Geometer und kein Mathematiker, sondern ein Dichter sei.
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len Lebensform und damit natürlich auch nicht von einer allgemeingültigen Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben. Das ist ein Plädoyer für die Vielfalt, welches sich allerdings unterscheidet von jenem Feyerabends, denn wir haben es hier nicht mit einer ideologischen Substanzlosigkeit zu tun, wie sie Feyerabend in Homers Welt zu erkennen glaubt, sondern mit einem Anerkennen der je anderen ideologischen Substanz. Und hierin liegt der Grund, weshalb Herder – und in seinem Gefolge die Romantik – ihr Scherflein zum Populismus und später auch Nationalismus beigetragen haben. Kant, als ihr Vater wider Willen, findet über Schiller Eingang in die Genese der Romantik. Schiller braucht Kants Verständnis von der unbedingten menschlichen Freiheit, der Autonomie, der Selbstbestimmung, des Primats des Willens, für seine Sicht auf das Tragische, denn dieses ist bei Schiller nicht durch die Leidenschaft bestimmt, sondern durch den »Trotz im Namen eines Ideals«,36 den Widerstand des Menschen gegen die Unterdrückung. Tragische Figuren sind also nicht jene, die von ihren Leidenschaften getrieben, sich wie Tiere verhalten. Tragisch, menschlich sind jene, die im Namen eines verpflichtenden Ideals, sich mächtigen, vielleicht sogar übermächtigen Kräften stellen und mit ihnen ringen, notfalls gegen die eigene Natur, Kraft des ureigenen Willens und in Ausübung ihrer Freiheit. Das hat etwas Heroisches, etwas Heldenhaftes, wie jener Karl Moor, der als Anführer von Schillers »Räubern« mordet und plündert, sich aber am Ende stellt und damit seine eigene Hinrichtung in Kauf nimmt. Es ist dies, so zeigt sich Isaiah Berlin überzeugt, das Auftauchen des romantischen Helden und damit gehe eine entscheidende Veränderung einher, »der große Bruch zwischen einerseits dem, was man die rationalistische oder aufklärerische Tradition nennen könnte, nach der den Dingen eine bestimmte Natur zukommt, die erlernt und begriffen werden muss, an die sich die Leute anpassen müssen, und sei es zu dem Preis, sich dafür selbst zu zerstören oder zum Narren zu machen – und andererseits der Tradition, bei der der Mensch sich stattdessen gewissen Werten verpflichtet und, wenn es sein muss, zu deren Verteidigung eines heldenhaften Todes stirbt«.37 Aber die Freiheit, die Schiller propagiert, besteht nicht nur in der freien Verpflichtung auf ein Ideal, sie besteht in der Erschaffung dieser Ideale selbst. Indem wir die Haltung von Spielern einnehmen, das bedeutet, unserem Spieltrieb folgen, werden wir zu Geschöpfen, die nicht eingeschüchtert den Regeln der Mächtigen, sei das die Natur, Gott oder Kant, folgen, sondern ihre Rollen, ihr Spiel, selbst erfinden und sich mit aller Leidenschaft den Regeln dieses Spiels unterwerfen, lustvoll, weil wir es selbst geschaffen haben.38 Das aber, ist, wie Berlin schreibt, eine Wendung in der Geschichte des menschlichen Den36 | Ebd., S. 144. 37 | Ebd., S. 152. 38 | Vgl. ebd., S. 154f.
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kens und es ist vor allem ein Wendepunkt in der Beziehungsgeschichte von quantitativer Blendung und narrativer Beliebigkeit, denn wenn Ideale nicht mehr gefunden, sondern geschaffen werden, dann ist die Frage nach der Moral nicht mehr eine Frage der Erkenntnis, sondern eine der Vorstellungskraft und sie fällt damit aus dem Aufgabenbereich der Wissenschaft wieder hinaus und wird zu einem Auftrag an die Kunst, an die Literatur. Das Bild der Welt als ein Haufen Puzzleteile, den es zu ordnen gilt, ist also obsolet geworden. Welcher Welt sieht sich nun stattdessen der romantische Mensch ausgesetzt? Die Welt, so formuliert es Berlin, ist zu einem Prozess des unbegrenzten Vorwärtsdrängens geworden.39 Man dürfe sie sich nicht als einen festen Bestand an Tatsachen vorstellen; es gibt keine Struktur, kein Muster, das es freizulegen gilt, keine Natur der Dinge, die zu entdecken wäre. Das Vorwärtsdrängen ist ein Akt der permanenten Selbstschöpfung, ein künstlerischer Akt, in dem die Dinge so oder so beschrieben werden können; die Beschreibung aber soll vor allem neu, unerhört und überraschend sein. Und man ist sich gewiss, dass es Dinge gibt, die sich weder verstehen, noch befriedigend beschreiben lassen. Dinge, die sich dem Verstand entziehen, die bedeutungslos oder gar zerstört werden, wenn der Akt des Verstehens danach greift und den Strom der Zeit anhalten will, um die Dinge in voller Schärfe abzubilden. Deswegen arbeitet der Romantiker mit Symbolen; nicht mit solchen, die für etwas stehen, die sich ersetzen ließen, sondern mit solchen, die für sich selbst stehen, weil sie Symbol für etwas Ungreif bares sind, das eben nur durch dieses bestimmte Symbol zum Ausdruck gebracht werden kann. Deswegen kommt es zu einer Wiederbelebung der Mythen, weil die Mythen auch das Unbestimmbare, das Dunkle und Unvernünftige beinhalten, und weil sie mit ihren Wurzeln im Nebel der Vergangenheit stecken und gleichzeitig in die opake Zukunft verweisen, sind sie in ihrer Form selbst prozessual. So wenig, wie sich die Aufklärung darauf beschränken wollte, die geometrisch-mathematische Methode auf die Natur anzuwenden und sich daran machte, diese Erklärungsmuster der Ästhetik, der Politik und der Moral überzustülpen, so wenig begnügt sich die Romantik mit der Domäne des Gefühls und der Ästhetik. Das Wissen um das Unsagbare, das Dunkle und Tragische, der Wunsch nach Tiefe, die Kraft des Willens, dringt in alle Sphären des menschlichen Lebens ein. Politik, Wirtschaftslehre und Recht stellen in Rechnung, dass ein mechanistischer Blick auf die Gesellschaft weder ihrer Diversität, noch ihrer Plastizität gerecht wird und das lebendige, vorwärtsstrebende Ganze in ein Totes, Zergliedertes verwandelt.40
39 | Vgl. ebd., S. 207f. 40 | Vgl. ebd., S. 212ff.
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Wird es nun, dem bislang beschriebenen Muster folgend, zu einer erneuten Kompensationsbewegung kommen, zu einer Erneuerung des abendländisch-rationalistischen Versprechens? Berlin glaubt das nicht, denn die Romantik zeitige längerfristig eine erstaunliche Wirkung, die den ursprünglichen Absichten der Romantiker eigentlich fern gelegen habe. Zwar sei es gelungen, einen Keil in den Vorstellungskomplex des klassischen Ideals zu treiben und die Unvereinbarkeit menschlicher Ideale mit allem Nachdruck zu unterstreichen. »Wenn aber«, so schreibt Berlin, »diese Ideale unvereinbar sind, dann entdecken die Menschen früher oder später, dass sie sich behelfen und Kompromisse anstreben müssen, denn wenn sie andere zu zerstören suchen, werden auch diese sie zu zerstören suchen; somit gelangen wir im Gefolge dieser leidenschaftlichen, fanatischen, halb verrückten Lehre zu der Einsicht, dass wir andere notwendigerweise tolerieren und ein in menschlichen Belangen unvollkommenes Gleichgewicht erhalten müssen; und ebenso gelangen wir zu der Einsicht, dass es unmöglich ist, Menschen so weit in die ihnen zugedachten Konstrukte hineinzutreiben, ihnen die einzige Lösung, von der wir besessen sind, so unerbittlich aufzuerlegen, denn sonst begehren sie zu guter Letzt gegen uns auf oder werden durch unsere Maßnahmen erdrückt. Somit ist der Romantik letzter Schluss Liberalität, Toleranz, Anständigkeit und die Anerkennung aller Unvollkommenheit des Lebens – in gewissem Sinne ein vernünftigeres Verständnis seiner selbst.« 41
Für Richard Rorty, der sich spätestens ab Kontingenz, Ironie und Solidarität 42 teils implizit, teils explizit auf Isaiah Berlin bezieht, ist damit, nach der Religion, nun auch die Philosophie überwunden; sie wird als Übergangsgenre entlarvt und durch die Literatur abgelöst.43 Intellektuelle hoffen längst nicht mehr auf die Erlösung im Jenseits und sie hoffen auch nicht mehr, der Glaube bringe sie in Kontakt mit einer Macht außerhalb von Raum und Zeit, von der zu erfahren wäre, wie zu handeln sei, aber sie hoffen auch nicht mehr auf die ordnende Kraft der Mathematik, darauf, dass sich die Puzzleteile zusammenfügen lassen; was an Hoffnung bleibt, ist, durch Bücher in Kontakt mit möglichst vielen fremden Anderen zu treten. Das scheint jetzt, wo wir verstanden haben, dass verschiedene Vorstellungen vom Guten konkurrieren, dass die unterschiedlichsten Ideale nebeneinander existieren, die richtige Strategie zu sein, denn damit haben wir zumindest eine Chance, etwas von den Wünschen, Hoffnungen und Ängsten dieser anderen zu erfahren. Der philosophische Erbhof der 41 | Ebd., S. 247. 42 | Rorty, Richard: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1989. 43 | Rorty, Richard: Philosophie als Übergangsgenre. In: Philosophie als Kulturpolitik. Frankfurt a.M. 2008, S. 160-185.
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Romantik wird, so erzählt es Rorty, in der Folge von den Pragmatisten bewirtschaftet; beide Bewegungen nähmen den Zusammenstoß des Guten mit dem Guten ernst, die Pragmatisten aber zweifelten an der völligen Hingabe und der leidenschaftlichen Bindung. »Die Pragmatisten«, so Rorty, »sind der Meinung, dass sich Danton und Robespierre – sowie übrigens auch Antigone und Kreon – mehr Mühe hätten geben sollen, um einen Kompromiss zu schließen.«44 Diese liberale Zuversicht, die Vorstellung der Welt als Puzzle, welches sich fertigstellen ließe, sei endgültig ad acta gelegt und Mathematik, Geometrie und Naturwissenschaften hätten damit ihre herausgehobene Erkenntnisposition verloren, riecht aber heute auch bereits wieder nach einer vergangenen Zeit und es ist offensichtlich, dass die Entwicklungen der letzten 25 Jahre diese Hoffnung enttäuscht haben. Die Klage über eine quantitative Blendung ist heute tatsächlich angebracht! Es ist der Kapitalismus, der sich als absolut dominierende Gesellschaftsordnung – um beim bereits verwendeten Bild zu bleiben – mit auf die Wippe geschwungen hat und dort, in Symbiose mit Wissenschaft und Technik, dem Messenden und Quantifizierenden übermächtiges Gewicht verleiht. Der Kapitalismus, der sich seine Begründung selbst verleiht, in dem er die Rationalisierung, das heißt Maximierung des Produkts bei gleichzeitiger Minimierung der Kosten, zum zentralen Postulat erhebt: ein quantitatives Kriterium, dass zum qualitativen wird, indem mit erstaunlicher Hartnäckigkeit behauptet wird, mit der Verwirklichung dieses ökonomischen Optimums, sei für Wohlstand und damit für Wohlergehen gesorgt.45 Die Ereignisse des letzten Jahrhunderts, inklusive des Versagens der praktizierten Alternativen, die zur Hegemonie des Kapitalismus als Gesellschaftsordnung geführt haben, sind wohlbekannt und brauchen hier nicht wiedergegeben zu werden, aber die Tatsache, dass diese Dominanz in der Beziehungsgeschichte zwischen Quantitativem und Narrativem ein neues Kapitel aufgeschlagen hat, scheint mir bislang zu wenig beachtet. Es sind in erster Linie zwei Aspekte, die dazu führen, dass in einer vom Kapitalismus durchdrungenen Gesellschaft, das Quantitativ-Mathematische überhand nimmt. Zum einen führt die Reduzierung der Rationalität auf eine quantitativ formulierte ökonomische Rationalität zu einer Übertragung ökonomischer Kriterien auf alle Tätigkeitsbereiche des Menschen, das bedeutet, dass alles entweder als ökonomische Tätigkeit oder als Produkt oder zumindest als wesentlich
44 | Rorty, Richard: Größe, Tiefe und Endlichkeit. In: Philosophie als Kulturpolitik. Frankfurt a.M. 2008, S. 133-159. 45 | Vgl. Castoriadis, Cornelius: Kapitalismus als imaginäre Institution. Lich in Hessen 2014, S. 318f.
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durch die ökonomische Dimension bestimmt betrachtet wird.46 Diese Durchökonomisierung kann also nur gelingen, wenn alles zu einem Objekt des Marktes wird und dies wiederum gelingt nur für Objekte, die in irgendeiner Weise messbar sind, denn nur das quantitativ Gefasste kann mit einem Preis versehen in den Wettbewerb geschickt werden. Kurz, was sich der Messbarkeit entzieht, entzieht sich der Einpreisung und kann damit nicht unter kapitalistische Kuratel gestellt werden. Dem (fälschlicherweise Galilei zugeschriebenen) Diktum, alles müsse messbar gemacht werden, was zunächst nicht messbar sei, kommt in der kapitalistischen Logik damit eine fundamentale Bedeutung zu.47 Dies führt nun in fast allen Bereichen des Öffentlichen und des Privaten zu Symptomen, die die Rede von einer quantitativen Blendung als wohl begründet erscheinen lassen; seien es die Bemühungen, die Wissenschaften mit den quantifizierenden Instrumenten der Szientometrie und Bibliometrie marktfähig zu machen, sei es der Trend, das Schulsystem mit standardisierten Testverfahren und dem Bemühen, die MINT-Fächer zu stärken, von der humanistischen Idee eines Bildungswesens in ein Ausbildungssystem zu überführen, sei es das Messbarmachen von Glück, Freundschaft, Erfolg und ähnlichem oder die Tendenz, ethische Fragen als Kosten-Nutzen-Rechnung zu behandeln, bis hin zu den beinahe orwellsch anmutenden Versprechen der Quantified-Self-Bewegung, auch noch die leisesten Körperregungen in einen numerischen und damit vergleichbaren Wert zu überführen. Zum anderen ist der Wirtschaftswissenschaft mit ihrer Mathematisierung ein dreifacher Coup gelungen. Erstens legitimiert der Kapitalismus damit sein Platznehmen auf dem Sitzbrett der Wissenschaft, in dem er sich ein theoretisches und methodisches Fundament gibt, das den strengen Ansprüchen der Naturwissenschaften genügt, und macht sich damit gleichzeitig deren autoritatives Gewicht zunutze. Zweitens besteht, wie Justin Fox in seiner Geschichte der Entwicklung der Hypothese des rationalen Marktes gezeigt hat, ein enger Zusammenhang zwischen der fortschreitenden Mathematisierung der Wirtschaftswissenschaft und der Durchsetzung einer Vorstellung selbstgesteuerter, rationaler, optimaler Märkte, deren Geschehen sich in mathematischen Modellen abbilden und prognostizieren lässt.48 Und drittens gelang es den Wirtschaftswissenschaften mit der Mathematisierung eine große Anzahl finanztechnischer Instrumente zu entwickeln, die als Finanzprodukte einen eigenen gigantischen Markt geschaffen haben, der von der Realwirtschaft mehr oder weniger abgekoppelt, diese aber dennoch befeuernd, meistens aber in Mitleidenschaft ziehend, einen Großteil des Wirtschaftsgeschehens aus46 | Vgl. ebd., S. 321. 47 | Kleinert, Andreas: Messen was meßbar ist. Über ein angebliches Galilei-Zitat. In: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 11 (1988), S. 253-255. 48 | Fox, Justin: The Myth of the Rational Market. New York 2009.
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macht. Wobei die Fragilität dieses Markts, das hat die letzte Finanzkrise gezeigt, teilursächlich in den falschen und unterkomplexen Grundannahmen der mathematisierten Ökonomie und den darauf auf bauenden Modellen begründet liegt. Angesichts dieser quantitativen Blendung scheint mir eine Besinnung auf die Möglichkeiten des Narrativen höchst wünschenswert. So wie die Romantiker mit ihren Erzählungen das Versprechen der Aufklärung als unhaltbar entlarvt haben, so sollten wir heute Geschichten erzählen, die das Diktum des Mess- und Einpreisbaren entlarven und die scheinbare Rationalität der Rationalisierung in Frage stellen; Geschichten, die von den Einzelschicksalen erzählen, die in den quantitativen Abstraktionen in Vergessenheit zu geraten drohen. In einer narrativeren Gesellschaft, so meine Hoffnung, ließen sich quantitative Kriterien weniger leicht als qualitative verkaufen. Was aber ist mit dem Vorwurf der narrativen Beliebigkeit? Sicher, auch dieser hat seine Berechtigung, ertrinken wir doch gegenwärtig beinahe in einer Flut an Geschichten und Geschichtchen. Aber auch diese unterwerfen sich der Marktlogik, sind es doch in erster Linie Erzählungen, die uns etwas oder jemanden verkaufen wollen. PR und Marketing funktionieren eben auch nur über Narrative. Damit bleibt die Frage, welches denn die richtigen, die verlässlichen Geschichten sind. Eine Frage, die ich einstweilen offen lassen muss. Aber auf sie, das ist sicher, wird zu sprechen kommen sein.
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K ulturspezifische E igenarten im W elt verhältnis Der Mensch ist das Wesen, welches sich orientieren muss. Das mag zunächst trivial anmuten und in gewisser Weise sind auch andere Lebewesen gezwungen, sich zu orientieren. Allerdings fehlt den Menschen, folgt man der Philosophischen Anthropologie,1 ein stützendes Geländer in Form von Trieben und Instinkten. Struktur herzustellen ist demnach eine wesentliche und schwierige Aufgabe im Menschenleben – für das Individuum wie die Art. Gemäß dem aus Anthropologie und Biologie herkommenden Theorem der Weltoffenheit des Menschen, welches viele Bereich des (kultur-)philosophischen Denkens offen oder verdeckt beeinflusst, ist es humane Leistung, das Begegnende lebbar, also vor allem durch Strukturierung versteh- und beherrschbar zu machen. Der Mensch muss sich zur Welt – verstanden als dem, was dem Menschen umfassend widerfährt – verhalten. Wie aber ist das zu leisten? Die beiden Psychologen Richard Nisbett und Takahiko Masuda sind dem Problemkreis, um den es geht, von einer ganz anderen Seite nähergekommen. Sie untersuchten, wie unterschiedlich Amerikaner und Japaner die Welt wahrnehmen. Dazu gaben sie den Probanden ihrer Tests Bilder eines Aquariums zu sehen. Im Anschluss wurden die Teilnehmer gefragt, was sie gesehen hätten. Dabei stellte sich heraus, dass die japanisch-stämmigen Probanden wesentlich mehr Aspekte des Hintergrundes bemerkt hatten als die amerikanischen, die sich in der Hauptsache auf die Objekte im Aquarium selbst – Fische, Pflanzen – fokussierten. Nisbett und Masuda schließen daraus auf die kulturrelative Natur des Bemerkens: »Finally, the present work provides evidence that attentional differences may well be an important factor contributing to cultural differences in higher cognitive mechanisms. 1 | Vgl. Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Bonn 6 1958, S. 17f., S. 33-48.
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Steffen Kluck The findings help to explain cultural differences in causal attribution and interpersonal perception.« 2
Denkt man diese Beobachtung zusammen mit dem erwähnten anthropologischen Theorem, ergibt sich, dass die japanische Kultur und die amerikanische – was auch immer diese gegebenenfalls konkret sein mögen und ob es sie als Gesamtgebilde überhaupt gibt – das Material der Welt auf unterschiedliche Weise strukturieren und selektieren. Wahrnehmen ist dann zumindest teilweise ein Prozess des erlernten Verhaltens zur Welt, der je nach Lernkontext anders ausfallen kann. Ein anderes Beispiel kommt aus der Musik. Es hat sich seit den wegweisenden Arbeiten des Mönchs Guido von Arezzo im frühen 11. Jahrhundert eingebürgert, Töne als Noten mit Buchstaben zu erfassen. Auf diese Weise wird das akustische Feld im Zusammenhang von musikalischen Praktiken strukturiert. Allerdings zeigen die Diskussionen um die genaue – und historische variable – Frequenz eines Tons, speziell des stimmungsrelevanten Kammertons ›a‹, sowie die Abweichungen etwa zur arabischen Musik, dass diese Strukturierung selbst kontingent ist und außerdem Unterschiede desselben Tons bei verschiedenen Instrumenten durch variierenden Obertonauf bau und so weiter außer Acht lässt. Während zudem im europäischen Raum sowohl in der Musikproduktion als auch Musikrezeption in der Regel mit Halbtonschritten operiert wird – erst im 20. Jahrhundert ändert sich dies mit der Neuen Musik –, greift die arabische Musik zumeist auf Vierteltöne zurück, für die die etablierte europäische Notation lange gar kein Inventar hatte und die für europäische Ohren gleichsam »schräg« klingen. Auch hier lässt sich der empirische Befund wie bei den Experimenten von Nisbett und Masuda dadurch erklären, dass es kulturspezifische unterschiedliche Strukturierungen der Welt und des humanen Weltzugriffs – denn es geht nicht nur um das Hören und Sehen, sondern auch das Hören- und Sehen-Lassen – gibt. Der Philosoph Erich Rothacker ist diesem Phänomen kulturspezifischer Eigenarten des Mensch-Welt-Verhältnisses intensiv nachgegangen. Er ging aus von der Einsicht, dass der Mensch eine riskierte, unpraktische, problematische Lebensform ist, die sich in einer schwierigen Lage gegenüber der anströmenden Welt befindet. Rothacker wählt ein nautisches Gleichnis:
2 | Nisbett, Richard E./Masuda, Takahiko: Attending Holistically Versus Analytically: Comparing the Context Sensitivity of Japanese and Americans. In: Journal of Personality and Social Psychology 81 (2001), S. 922-934, S. 934. Vgl. dazu auch allgemein Nisbett, Richard E.: The Geography of Thought. How Asians and Westerners Think Differently … and Why. New York 2003.
Zahltag? Über den Preis der Quantifizierung »Da ist ein Schiff, dessen Schicksal einmal von Wind und Woge und dann von den Maßnahmen seiner Besatzung abhängt. Die Besatzung aber besteht nicht aus Seeleuten, sie ist nicht nautisch geschult, es sind in den Ozean verschlagene Dilettanten. Und was das furchtbarste ist, sie können sich mitten im Sturm nicht über Kurs und Führung einigen. Dieses mit Dilettanten des Lebens bemannte Schiff ist unsere Erde, die uneinigen Dilettanten sind die Menschen.« 3
Das Bild des vom Geschehen zum Handeln genötigten, mangelhaft bemittelten Menschenwesens ist Gemeinplatz der Philosophischen Anthropologie, aus deren Theorem heraus Rothacker argumentiert.4 Der neue Aspekt liegt versteckt im Motiv der Uneinigkeit der Dilettanten. Rothacker stellt fest, dass die Handlungen und sich daraus durch Iteration und Gewöhnung verfestigende Handlungsstile kulturvariant sind: »In allem Tun und Handeln als solchem steckt noch ein […] Moment von großer Eigenheit: das Leben als solches handelt stets in einer bestimmten Haltung: der Haltung in der gehandelt wird und aus der gehandelt wird. Diese Haltung hat das Leben, hat der Mensch, hat eine historisch gewordene Kulturgemeinschaft immer und notwendig schon inne. […] In diesen Haltungen, die ebenso innerlich wie äußerlich bis ins Leibliche durchgestaltet sind […], steckt der Kern der großen Lebensstile […]. [D]as, was wir hier einen Lebensstil nennen, [ist] ein Stil des öffentlichen Lebens […], etwas, was wesentlich nicht der Privatperson gehört und was, seiner ganzen Dimension nach, gar nicht durch Privatpersonen geschaffen werden konnte, sondern Kulturstil eines ganzen Volkes ist, an dem die Einzelnen nur als Repräsentanten dieses Volkes mitschaffen.« 5
Der Mensch als ein Wesen, das auf vorgefundene und ihm ungefragt und unvorbereitet begegnende Lage und Situationen reagieren muss, bildet kollektive Haltungen und Haltungsstile aus. Rothacker spricht gar von stilistischen 3 | Rothacker, Erich: Geschichtsphilosophie. München, Berlin 1934, S. 46. Es sei am Rande die sachliche wie zeitliche Nähe zur berühmten Schiffer-Metapher Otto Neuraths erwähnt, die noch einer Auswertung harrt (vgl. Neurath, Otto: Protokollsätze. In: Erkenntnis 3 [1932/33], S. 204-214, S. 206). 4 | Vgl. zur Stellung Rothackers in der Philosophischen Anthropologie Fischer, Joachim: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Freiburg, München 2008, S. 254-259. 5 | Rothacker, Erich: Probleme der Kulturanthropologie. Bonn 1948, S. 67ff. Eine Kritik der Position Rothackers, die in mehreren Hinsichten geboten scheint, unterbleibt hier aufgrund eines davon abweichenden Erkenntnisinteresses. Einige, wenn auch mitunter zu weit gehende Kritik findet sich in Böhnigk, Volker: Kulturanthropologie als Rassenlehre. Nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker. Würzburg 2002.
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Physiognomien.6 Deren Stärke besteht darin, dass sie den Weltzugriff strukturieren und organisieren. Auf diese Weise wird dem Menschen eine bestimmte humane Aufgabe, die aus seiner Konstitution folgt, abgenommen. Ganz ähnlich hat Arnold Gehlen diese spezifische Leistung für Institutionen beschrieben.7 Problematisch an diesen pluralen Stilen ist andererseits jedoch die durch sie vorgenommene Bahnung. Die Welt, in der Menschen leben, ist relativ in Bezug auf die jeweiligen Stile: »[D]ie Welt, in der ein Mensch lebt, steht in einer strengen Wechselbeziehung zu seinem Sein. Dieses Sein, das historisch Lebensstil heißt, charakterisiert sich als ein Inbegriff von Interessen, Trieben, Vorlieben, Fragerichtungen, welche je eine bestimmte Auswahl unter möglichen Welten treffen.« 8
Kulturen sind Selektoren des Weltstoffes. Man kann sie sich denken nach dem Vorbild einer Taschenlampe, die einerseits durch ihren Lichtkegel vieles vertiefend und genau sehen lässt, andererseits eine Wahrnehmung des Dunklen, Nicht-Beleuchteten zugleich verhindert. Folgt man dieser Spur, ist zu fragen, welche selektiven Bahnungen Kulturen vornehmen. Dies ist zunächst ganz wertneutral gemeint, denn für einen kulturkritischen Vergleich verschiedener Stile fehlt noch das Tertium comparationis.
Z ur E igenart der gegenwärtigen K ultur oder Ü ber das V ermessen der W elt Helmuth Plessner hat in einer Schrift aus dem Jahre 1923 en passant eine Diagnose seiner Zeit gegeben, die im Folgenden untermauert werden wird. Er stellte fest: »Was in Raum und Zeit dinglich erscheint, glaubt dieses Jahrhundert nur messend, auf Grund physikalischer und psychologischer Experimente verstehen zu können. Die Menschen haben lange gebraucht, bis sie von der Naturgemäßheit dieses Vorgehens überzeugt waren. Immer wieder hat es Rückfälle in die Naturphilosophie gegeben, da sie sich mit quantitativen Erklärungen, mit Berechnungen nicht begnügten. Sie versuchten es mit Deutungen der Welt, die freilich auf die Dauer keinen fesseln konnten. Unweigerlich folgte auf eine naturphilosophische Mode ein Stadium der Ernüchterung und ein nur um so intensiverer Ausbau der exakten Methode. Denn auf die Dauer überzeugt die 6 | Vgl. Rothacker: Geschichtsphilosophie, S. 39. 7 | Vgl. Gehlen, Arnold: Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen. Bonn 1956, S. 37-50. 8 | Rothacker: Geschichtsphilosophie, S. 108f.
Zahltag? Über den Preis der Quantifizierung Menschen nur der Erfolg, der aus Tätigkeit stammt und in Tätigkeit mündet. Praxis ist ihre erste und letzte Bestimmung.« 9
Worauf weist Plessner hin? Am konkreten, hier nicht weiter relevanten Fall der Naturbetrachtung kommt er auf einige Eigenarten des gegenwärtigen, europäischen Weltzugriffes zu sprechen. Erstens betont er den Vorrang der Messung, zweitens die Bedeutung des Experimentes, drittens den vermeintlichen Verlust einer bestimmten (qualitativen) Dimension und viertens die Relevanz der Praxis und des praktischen Erfolgs. Diese Dimensionen lassen sich leicht an einem Beispiel verdeutlichen. In der amerikanischen Profi-Football-Liga werden jährlich die besten Nachwuchsspieler aus den Universitäts-Mannschaften im Rahmen einer Art Schaulaufen, »Scouting Combine« genannt, den Trainern und Verantwortlichen der Profivereine präsentiert. Ziel dieser Veranstaltung ist es, die Spieler auf ihre zukünftige Leistungsfähigkeit im Profisport hin zu begutachten, denn mit der Entscheidung, einen bestimmten Nachwuchsspieler auszuwählen, sind Geld, Erfolg, Prestige beziehungsweise deren Ausbleiben verbunden. Wie erfolgt die Bewertung der Spieler? Es gibt mehrere Tests, die unter ganz standardisierten Bedingungen mit Einsatz kostspieliger modernster Technik durchgeführt werden, zum Beispiel ein 40-Yard-Sprint, ein Standhoch- sowie Standweitsprung, Bankdrücken, Intelligenztest, biometrische Vermessung und vieles mehr. Am Ende stehen zu jedem Spieler eine Unmenge an Zahlen zur Verfügung. Die jeweilige Person wurde in ihren vermeintlich relevanten Dimensionen komplett vermessen. Die Eignung zu einer bestimmten Sache ergibt sich also, wenn man dieses Rekurrieren auf Vermessung als typisches Beispiel nehmen kann, aus dem Erfüllen bestimmter metrischer Bedingungen. Alle vier plessnerschen Merkmale lassen sich wiederfinden: die Tests sind erstens Experimente, im Ergebnis liegt zweitens zahlenmäßige Vermessung vor, drittens hat das Vorgehen unmittelbar praktischen Bezug, denn es werden spielspezifische Situationen durchgeführt und das Prozedere führt letztlich zu praktischen Entscheidungen der Verantwortlichen der Vereine. Die vierte Eigenart, die Plessner erwähnt, findet sich auch, denn immer wieder gibt es kritische Stimmen, die behaupten, dass die ganze Vermessung des Sportlers rein gar nichts über seine potentiellen Leistungen in realen Wettkampfsituationen aussagt. Dafür spricht auch, dass trotz der zahlreichen Vermessungen von den ausgewählten Spielern nicht einmal die Hälfte sich am Ende im Profisport behaupten kann. Im Profisport wird auf eine zahlenmäßige Erfassung der Merkmale eines Menschen gesetzt, um dessen Verhalten in zukünftigen Situationen vorauszu9 | Plessner, Helmuth: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. III. Hg. v. Günter Dux, Odo Marquard u. Elisabeth Ströker. Frankfurt a.M. 1980, S. 22.
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sagen. Entscheidungen werden gefällt auf der Grundlage eines quantitativen Zugriffs auf die Welt. Darin besteht der von Plessner und anderen gesehene Grundzug des europäischen Denkens spätestens seit dem siegreichen Einzug der experimentellen Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert.10 Dieser Zugriff geht in der Gegenwart – etwa seit den 1980er Jahren – verstärkt auf ein Feld über, das ihm bislang entgangen war, nämlich die Sphäre des im weitesten Sinne Zwischenmenschlichen in Abgrenzung zur »bloßen« Naturbehandlung, die noch Plessner besonders hervorhob. Institutionen wie Kindergarten, Schule, Universität, Behörden, aber auch informellere wie Freundschaft und Liebe geraten in den Sog einer umfassenden Vermessung. Zugrunde liegt dem etwas, das man nur als eine Art »Hintergrundideologie«11 verstehen kann. Zahlen werden zum wesentlichen Instrumentarium des Weltzugriffs und damit der eingangs beschriebenen humanen Strukturierungs- und Orientierungsleistung. Zahlen bekommen gleichsam einen Nimbus. Oliver Schlaudt schreibt zutreffend, dass in der Gegenwart »Zahlen die Wucht des Faktischen, Unhintergehbaren [eignet]«.12 Diese Hintergrundideologie liegt vielen verschiedenen Prozessen zugrunde, Schlaudt etwa zeichnet den Zusammenhang mit dem Neoliberalismus und seinen Erscheinungsformen gut nach. Ihre Grundprämisse ließe sich in etwa so fassen: Nur was quantitativ erfasst werden kann, ist realer und bedenkenswerter Fakt in der Welt. Vieles, was sich nicht oder nur methodisch sehr unsauber quantitativ erfassen lässt, kommt damit im Kontext von politischen Entscheidungen, gesellschaftlichen Besinnungsprozessen oder auch individuellen Ratschlägen nicht in den Fokus. Um das Beispiel des Football-Spielers noch einmal aufzugreifen: Seine nicht quantifizierbaren Leistungen, zum Beispiel sein »Gefühl für das Spiel«, sein »Instinkt«, sein »Siegeswille«, können in einem nur auf Zahlen schauenden Prozess der Entscheidungsfindung keinen Eingang finden. Dies wird dabei aber nicht als grundlegendes Defizit gesehen, sondern entweder als Stärke, 10 | Eine wesentlich weitreichendere Herleitung dieses Weltzugangs – nämlich schon von Platon her – bietet Hermann Schmitz (vgl. Schmitz, Hermann: Adolf Hitler in der Geschichte. Bonn 1999, S. 83-376). Diesen historischen Fragen soll im Folgenden aber nicht nachgegangen werden, da es vor allem um die Kulturkritik der Gegenwart gehen wird. 11 | Vgl. dazu Großheim, Michael: Von der Maigret-Kultur zur Sherlock Holmes-Kultur. Oder: Der phänomenologische Situationsbegriff als Grundlage einer Kulturkritik. In: Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung. Hg. v. Michael Großheim u. Steffen Kluck. Freiburg, München 2010, S. 52-84, S. 55. Diesem zur Lektüre sehr empfohlenen Artikel verdankt der Verfasser zahlreiche Anregungen und sieht sich in der Sache mit ihm als völlig übereinstimmend an. 12 | Schlaudt, Oliver: Die politischen Zahlen. Über Quantifizierung im Neoliberalismus. Frankfurt a.M. 2018, S. 7.
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insofern das nicht Messbare auch gar nicht relevant oder sogar gar nicht existent sei, oder als in der Zukunft schließbare Lücke, insofern einfach nur noch die rechte Quantifizierungsstrategie auch für diesen Gegenstand gefunden werden müsse. Ein Symptom dieses Denkens und Handelns ist, wie auch Schlaudt betont,13 das New-Public-Management-Modell der sozialen und unternehmerischen Steuerung. Die Idee hinter dem Modell ist, Institutionen wie Staaten, Behörden, Verwaltung und ähnliches nach dem Modell des Marktes zu betrachten: »Wenn die Verwaltung ein komplexes System ist, das nach ähnlichen Mustern funktioniert wie andere Organisationen, so lässt sich ableiten, dass auch in der Verwaltung ein nach betriebswirtschaftlicher Rationalität funktionierendes Management möglich sein muss.«14
Das meint nun in erster Linie, den Gedanken der Konkurrenz auf sie zu übertragen. Da es aber keine vermeintlich unabhängige, »rationale« Instanz wie den Preis gibt, die über den »Wert« oder den »Erfolg« einer bestimmten Institution entscheidet, werden dafür Surrogate eingeführt in Form von Qualitätsindizes, Rankings, Evaluationen und dergleichen. Diese Surrogate sind von erheblicher Wichtigkeit, denn sie gestatten Bewertungen, Steuerung und Kontrolle. Da sie diesen Ansprüchen genügen sollen, müssen sie präzise sein: »Nur klar ausformulierte, operationalisierte Ziele ermöglichen die Kontrolle der Einhaltung [von] Vereinbarungen.«15 So lässt sich erklären, warum der genannte Bereich des Zwischenmenschlichen immer stärker durch das Hervorbringen von Zahlen geprägt ist, was sich in zunehmender Berichts- und Evaluierungspflicht zeigt. Man kann als sehr wahrscheinliche empirische Hypothese formulieren, dass noch keine Zeit so viele Daten über sich selbst produziert und gesammelt hat wie die heutige.16 Diese in Arbeitsstunden gemessen erhebliche Belastung würde aber nicht hingenommen, wenn sich Menschen und Institutionen davon nicht einen Gewinn versprächen, denn jede menschliche Handlung erstrebt bekanntlich ein 13 | Vgl. ebd., S. 167-179. 14 | Schedler, Kuno/Proeller, Isabelle: New Public Management. Berlin, Stuttgart, Wien 2000, S. 44. 15 | Ebd. 16 | Schlaudt weist zurecht auf das Paradox hin, dass der Neoliberalismus (und mit ihm zusammen das New Public Management) angetreten war, die Bürokratie und die staatliche Verwaltung möglichst abzubauen, jedoch durch Evaluation, Qualitätsmanagement und ähnliche Erscheinungen genau das Gegenteil bewirkt hat (vgl. Schlaudt: Die politischen Zahlen, S. 172f.).
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(mindestens vermeintliches) Gut. Was sind die Motive, die die Vermessung der Welt implizit tragen und stärken? Es lassen sich drei wesentliche Motive ausmachen: Vergleichbarkeit (und damit Gerechtigkeit), Berechnung (und damit effiziente und gute Entscheidungen) sowie Kontrolle (und damit Steuerung). Jedes dieser Anliegen ist per se wertneutral und eine legitime Option menschlichen Handelns. Dies wird im Folgenden kurz thematisiert, um die grundsätzliche Berechtigung des Vermessungs-Theorems aufzuzeigen, bevor eine dezidiert kritische Perspektive Anwendung finden soll. Max Scheler hatte darauf hingewiesen, dass das neuzeitliche Streben nach allgemeiner Quantifizierung sich daraus speise, alles homogen zu machen.17 Warum ist das sozialphilosophisch relevant? Die Homogenisierung durch Quantifizierung verspricht implizit Gleichheit und damit sekundär, so die implizite Prämisse, Gerechtigkeit. Es kommt etwa im Rahmen der Evaluation eines Professors nicht auf dessen Namen, Geschlecht, Alter oder Herkunft an, sondern nur auf dessen Output an Publikationen und dessen Einwerbung von Drittmitteln. Alle stehen als Gleiche vor der blinden Zahlen-Justitia. Zudem gestattet der Rückgriff auf methodisch verlässlich erhobene Zahlen, dass Entscheidungen auf der Grundlage valider Daten getroffen werden können. Damit werden Effizienz, Ressourcenschonung und ein Erreichen des erwünschten Ergebnisses verbunden. In dieser Allgemeinheit bedacht, lässt sich dem Ansinnen kaum widersprechen. Gleiches gilt für den dritten Motivationsaspekt, nämlich Kontrolle und Steuerung. Durch das Erheben von Evaluationsbefunden, das Erstellen von Rankings und ähnlichem gestattet das Vermessen, direkt und zielgerichtet auf Prozesse Einfluss zu nehmen und insofern Fehlentwicklungen frühzeitig zu verhindern. Zudem gewinnt der Mensch als Berechnender gegenüber den »Wogen und Wellen der Welt« gleichsam Halt. Die von Niklas Luhmann geschilderte Differenz von Gefahren und Risiko ist ein Paradebeispiel für den angestrebten Kontrollgewinn des Menschen durch Zahlen, insofern noch das vermeintlich Unwägbare einzuhegen durch Quantifizierung möglich erscheint.18 Es soll möglichst alles durch Zahlen in ein Risiko, das heißt in etwas durch menschliche kontingente Entscheidungen Beeinflusstes umgewandelt werden, denn dadurch würde die Welt wie die menschlichen Verhaltensweisen kontrollierbar und verlässlich. Dieser Exkurs in die aktuelle Lebenswelt ist weder vollständig noch ausreichend argumentativ gestützt. Kulturkritische Zeitdiagnostik steht gerade im Hinblick auf das, was sie in der Welt wahrzunehmen glaubt, auf wackligen Füßen – so auch in diesem Fall. Dennoch scheint die Behauptung plausibel, 17 | Vgl. Scheler, Max: Versuch einer Philosophie des Lebens. Nietzsche – Dilthey – Bergson. In: ders.: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Bern, München 51972, S. 311-339, S. 321. 18 | Vgl. Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos. Berlin, New York 1991, S. 30ff.
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dass die Macht der Zahlen im gegenwärtigen Selbstverständnis der Menschen wie der Gesellschaften nicht zu gering angesetzt werden darf. Ein letztes Indiz dafür mag der Umstand sein, dass die Frage nach dem Lebensglück von politischer wie gesellschaftlicher Seite kaum anders als durch Rekurs auf harte ökonomische Zahlen wie das Bruttoinlandsprodukt beantwortet werden kann.19 Die heutige westliche Gesellschaft kann sich über sich selbst fast ausschließlich in Form von Zahlen Bericht geben und klar werden. Wenn diese Diagnose, die hier an einigen wenigen Streiflichtern induktiv abgeleitet wurde, stimmt, dann wäre nun zu fragen, was daraus folgt. Ist die Quantifizierung mit ihren berechtigten Anliegen problematisch?
M ass der K ulturkritik Eine Bewertung kultureller Zustände bedarf, wie erwähnt, eines Tertium comparationis. Andernfalls kann sie nur zwei Zustände nebeneinanderstellen und darüber hinaus bloß schweigen. Ralf Konersmann scheint diesen Fall für wünschenswert zu erachten,20 allerdings zieht er der Kulturkritik damit gleichsam die Zähne. Nach seinem Modell bliebe nur das »anything goes« des Beliebigen. Andererseits ist ein naiver Rückgriff auf absolute Bezugsrahmen – Gott, Natur, Wesen – ebenfalls keine Option, jedenfalls nicht ohne weiteres. Eine sinnvollere Alternative wäre es vielmehr, die kulturkritische Diskussion dezidiert unter Nennung eines Vergleichsmaßes oder eines Bewertungskriteriums zu führen, das historisch aufgeklärt und empirisch geerdet daherkommt. Ein solches Maß speiste sich aus den Erfahrungen der Menschheitsgeschichte einerseits, böte zudem andererseits überhaupt einen Anhalt zur Verortung – und sei es in Abgrenzung zu ihm. Eine Kulturkritik, die nicht mehr Position beziehen kann und will, verliert die Fähigkeit, Änderungsimpulse zu ermöglichen. Daher kommt es bei der kulturkritischen Betrachtung dessen, was zuvor als Hintergrundideologie der Quantifizierung bezeichnet wurde, darauf an, sich klar zu machen, mit welcher Norm des bisherigen humanen Daseins ein Konflikt entsteht. Nur wenn dieser erhellt wird, kann der Mensch einen reflektierten Standpunkt einnehmen und sich entscheiden. Im Folgenden soll der Blick auf die gegenwärtige Omnipräsenz und Wirkmächtigkeit der Zahlen aus der Perspektive der Phänomenologie gewagt werden. Dies ist keineswegs selbstverständlich, denn es ist höchst fraglich, ob
19 | Vgl. zur Rolle des BIP im Kontext von Glücksbilanzen Schlaudt: Die politischen Zahlen, S. 84-92. 20 | Vgl. Konersmann, Ralf: Kulturkritik. Frankfurt 2008, S. 8ff.
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die Phänomenologie selbst eine Norm überhaupt begründen kann.21 Aber sie gestattet zumindest, die Auswirkungen des Theorems im Vergleich zu anderen Zeiten und Umständen unter Bezugnahme auf das Erleben der Menschen darzustellen. Dabei greift sie zumeist – eine Verallgemeinerung auf alle Phänomenologen wäre sicher falsch – auf die Norm der »Fülle des (Er-)Lebens« zurück. Anders formuliert, bewertet sie kulturelle Erscheinungen danach, inwiefern diese den Lebensspielraum, den humanen Möglichkeitsraum im Vergleich zum bisher bekannten verengen, vereinseitigen, beschneiden. In diesem Sinne ist vermutlich alle Phänomenologie schon immer anti-reduktionistisch gewesen.22 Dieser Impuls, das Leben in einer gewissen Fülle zu seinem Recht kommen zu lassen, findet sich schon früh, zu Beginn der phänomenologischen Bewegung. In blumigen, sachlich aber verständlichen Worten hat Scheler es gegen die naturwissenschaftlich verengende, quantifizierende Perspektive der Zeit so formuliert, dass die Umbildung der Weltanschauung durch die Phänomenologie »sein [wird] wie der erste Tritt eines jahrelang im dunklen Gefängnis Hausenden in einen blühenden Garten. Und dies Gefängnis wird unser durch einen auf das bloß Mechanische und Mechanisierbare gerichteten Verstand umgrenztes Menschenmilieu […] sein.« 23
Was hier im Kontext lebensphilosophischer Pathetik als Befreiung beschworen wird, lässt sich nüchterner als eines der erwähnten Merkmale Plessners fassen – Scheler macht in seiner Zeit eine Defiziterfahrung im Vergleich zu dem, was ihm selbst früher einmal oder anderen Generationen vormals möglich war. Es hat demnach eine Beschneidung des Möglichkeitsraums, der Lebensfülle gegeben, die in ihren Konsequenzen kritisch zu bewerten ist. Diese Spur ist es, der eine phänomenologisch fundierte Kulturkritik nachgehen kann.
21 | Zum Verhältnis von Phänomenologie und Kulturkritik vgl. Böhme, Gernot: Phänomenologie als Kritik. In: Neue Phänomenologie zwischen Praxis und Theorie. Festschrift für Hermann Schmitz. Hg. v. Michael Großheim. Freiburg, München 2008, S. 21-36 und Großheim/Kluck: Phänomenologie und Kulturkritik, S. 9-36. 22 | Vgl. zum Anti-Reduktionismus als wesentlichem Teil der phänomenologischen Bewegung Spiegelberg, Herbert: The phenomenological movement. A historical introduction. Dordrecht, Boston, London 1994, S. 680. 23 | Scheler: Versuch einer Philosophie des Lebens, S. 339.
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S ituation stat t Z ahl – phänomenologisch gespeiste
K ulturkritik
Defizienzerfahrungen im Zusammenhang mit Quantifizierung sind Legion. Viele Artikel im Feuilleton oder Schilderungen aus Arbeitsbereichen – man denke etwa an Ärzte, Pfleger, Hebammen24 – sind voll von ihnen. Es gibt offensichtlich bei Betroffenen ein Leiden an den Konsequenzen, die die Quantifizierung in ihren diversen Erscheinungsformen hat. Beim eingangs behandelten Fall der Football-Spieler leuchtet das vermutlich ein, denn wenn auch zugestanden sein mag, dass eine gewisse Fähigkeit des Laufens, Springens und so weiter essentiell für sportliche Betätigung ist, so bleibt andererseits der kausale Zusammenhang zwischen diesen Faktoren und dem Beitrag zu einem erfolgreichen Spielergebnis unklar. Anders formuliert: Viele Footballer, die heute als großartige Sportler geschätzt werden, dürften den Normen des »Scouting Combine« nicht entsprechen. Ebenso kann ein Universitätslehrer sicher mit guten Gründen behaupten, dass der Output an Seiten kein adäquater Indikator für die Güte seiner Tätigkeit ist. Beide, Sportler wie Universitätslehrer, rekurrieren auf ein nicht artikuliertes und für sie vielleicht gar nicht klares »Mehr«: »Ich bin doch mehr als das Gemessene.« Was steckt aber phänomenologisch dahinter? Hermann Schmitz hat im Rahmen seiner Neuen Phänomenologie, die eine Art Neu-Sehen der Welt zu leisten beabsichtigt, für dieses unklare »Mehr« eine Basis gefunden. Er beobachtet, dass bei vielem, was Menschen in der Welt begegnet, keineswegs gleich von Anfang an klar ist, was es ist. Vielmehr ist humanes Weltbegegnen durch – normativ neutral verstandene – Diffusität und Vagheit geprägt.25 Das, was erlebt wird und die Basis menschlicher Erfahrung ausmacht, nennt er Situationen. Ein einfaches Beispiel mag verdeutlichen, was er vor Augen hat. Wenn jemandem eine Person begegnet, gewinnt man von dieser ganz unmittelbar einen Eindruck. Dieser ist in der Regel noch diffus, wenig gegliedert, besteht oft nur aus einer Art Vorerwartung oder Ahnung. Der Betroffene kann dann mitunter zwar sagen, der andere habe »sym24 | Einige kleinere Bemerkungen finden sich in Burger, Walter: Macht und Ohnmacht in der Arzt-Patienten-Begegnung. In: Zur Legitimierbarkeit von Macht. Hg. v. Hans Jürgen Wendel u. Steffen Kluck. Freiburg, München 2008, S. 151-175 und Dörpinghaus, Sabine: Dem Gespür auf der Spur. Leibphänomenologische Studie zur Hebammenkunde am Beispiel der Unruhe. Freiburg, München 2013, S. 23-36. 25 | Interessanterweise ist zuletzt die analytische Ontologie, die theoriegeschichtlich von der Neuen Phänomenologie sehr weit entfernt steht, auf die Rolle des Vagen gestoßen. Allerdings arbeitet sie zugleich wieder daran, ganz dem Konstellationismus gemäß, diese Vagheit zu überwinden. Vgl. dazu exemplarisch Thomasson, Amie L.: Ordinary Objects. Oxford, New York 2007, S. 87-109.
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pathisch«, »nett« oder vielleicht »verschlossen«, »herb« oder ähnlich gewirkt, aber er kann oft nicht die Augenfarbe, die Farbe der Hose oder das Muster des Hemdes angeben, welches der Gesehene trug. Nach klassischer Vorstellung müsste aber zunächst gerade Einzelnes in der Welt sein, erst dann durch Assoziation oder ähnliche psychische Prozesse so etwas wie ein ganzheitlicher Eindruck entstehen. Schmitz will phänomenologisch darauf hinweisen, dass Situationen primär sind und alle Vereinzelung, deren wohl höchste Form Zahlen darstellen, nur sekundär. Ein anderes Beispiel, auf das Schmitz gerne zurückkommt, ist die Sprache.26 Auch sie stellt für ihn eine Situation dar, denn was in der Sprache alles enthalten ist, liegt dem Menschen nicht einzeln vor. Ein Könner einer Sprache kennt womöglich einige, nicht aber alle Regeln, spricht vermutlich aber oft völlig angemessen und fehlerfrei. Ebenso nützt einem gegebenenfalls nicht die Kenntnis aller möglichen Regeln, um eine Sprache adäquat zu beherrschen, was vor allem beim Fremdsprachenerwerb einsichtig ist. Die Analogie zum ersten Eindruck ist klar – bei beiden Phänomenen spielt die Kenntnis von Einzelheiten eine untergeordnete Rolle und das in der Situation jeweils Liegende ist diffus, nicht letztbestimmt. Dem Menschen begegnen, so die phänomenologische Erkenntnis, lebensweltlich immer Situationen. Was genau zeichnet diese aber nun aus? Einige Aspekte gaben die Bespiele schon her. Schmitz hält definitorisch fest: »Eine Situation im hier gemeinten Sinn ist charakterisiert durch Ganzheit (d.h. Zusammenhalt in sich und Abgehobenheit nach außen), ferner eine integrierende Bedeutsamkeit aus Sachverhalten, Programmen und Problemen und eine Binnendiffusion dieser Bedeutsamkeit in der Weise, daß die in ihr enthaltenen Bedeutungen (d.h. Sachverhalte, Programme, Probleme) nicht sämtlich – im präpersonalen Erleben überhaupt nicht – einzeln sind.« 27
Drei Aspekte werden herausgestellt: Ganzheit, integrierende Bedeutsamkeit und Binnendiffusion der Bedeutsamkeit. Mit dem ersten Merkmal will Schmitz darauf hinweisen, dass sich den Menschen Situationen als abgegrenzt oder unterschieden von anderen geben und sich dabei jeweils als ein Ganzes, als eine zusammengehörige Einheit präsentieren. Es besteht nicht die Gefahr, die eine 26 | Vgl. zum Beispiel Schmitz, Hermann: Situationen und Konstellationen. Wider die Ideologie totaler Vernetzung. Freiburg, München 2005, S. 25f. 27 | Ebd., S. 22. Eine ausführlichere Erläuterung des Situations-Begriffs findet sich in Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, S. 21-31 sowie Schmitz, Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie. Bonn 1990, S. 65-79. Zum Situations-Begriff in der Philosophie vgl. grundlegend Großheim, Michael: Erkennen oder Entscheiden. Der Begriff der »Situation« zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. In: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik 1 (2002), S. 279-300.
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Sprache mit der anderen oder den einen ersten Eindruck mit einem anderen zu verwechseln. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Umrisse der Ganzheit klar zu erkennen sind – das sind sie vermutlich meistens gerade nicht –, sondern nur darauf, dass sich die Situation als eine einheitliche gibt. Mit der integrierenden Bedeutsamkeit ist gemeint, dass Situationen sich thematisch als strukturierte Entität geben. Wie genau diese Struktur dann aussieht, ist variabel, aber eine Situation nimmt in sich in Abhängigkeit von dem leitenden Sachverhalt (Was ist der Fall?) oder Programm (Was soll sein/werden?) oder Problem (Was ist nicht oder soll nicht sein?) Bestände auf und organisiert diese. Deshalb etwa kommt die Augenfarbe der erlebten Person beim ersten Eindruck als Element gar nicht vor, da es für die Bedeutsamkeit der Situation nicht wichtig ist. Schließlich rückt Schmitz die Binnendiffusion der Bedeutsamkeit in den Blick. Damit ist das angesprochen, was zuvor als diffuse oder vage Eigenart schon angesprochen war. In einer Situation liegt gleichsam vieles »drin«, ohne schon einzeln klar hervorzutreten. So weiß man in der Regel nicht, welche Regeln und Programme zur Situation einer bestimmten Freundschaft gehören – muss man beim Umzug unbedingt helfen oder ist das keine Conditio sine qua non der Beziehung zum Freund? Erst in der Praxis werden diese anfangs noch binnendiffusen Bestände gegebenenfalls expliziert, manche aber vermutlich auch nie. Der Situationsbegriff wird in der Neuen Phänomenologie ganz explizit als eine ontologische Kategorie eingeführt und verstanden.28 Nicht nur erlebt der Mensch so Geartetes, sondern die Welt selbst ist so gestaltet. Das ist insofern von Bedeutung, als ein Übersehen der Situationen – und das ist die noch herauszustellende kulturkritische Pointe – letztlich nicht nur interpretatorisch fehlgeht, sondern in der (ontologischen) Sache selbst irreführt. Der Herleitung der ontologischen Dimension der Situationen in Auseinandersetzung mit dem Singularismus und Nominalismus kann hier nicht weiter nachgegangen werden. Auch die von Schmitz geleistete Differenzierung von Arten der Situationen muss außen vor bleiben. Seine Analysen und Unterscheidungen, etwa nach der Dauer von oder der Involviertheit in Situationen,29 verdienen Beachtung, können im Interesse eines allgemeinen kulturkritischen Blicks jedoch zurückgestellt bleiben. Es war zuvor behauptet worden, die Phänomenologie bediene sich eines Reichhaltigkeits-Kriteriums zur Bewertung von Prozessen und Entwicklungen in der Kultur. Wie ist an diesem normativen Scharnier mit dem SituationsBegriff zu agieren? Der Mensch als weltoffenes, zum Handeln, Selektieren, Agieren und so weiter aufgefordertes Wesen sieht sich, wenn das Vorangestell28 | Vgl. Schmitz, Hermann: Neue Grundlagen der Erkenntnistheorie. Bonn 1994, S. 67-84. 29 | Vgl. dazu Schmitz: Adolf Hitler in der Geschichte, S. 22-26.
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te stimmt, Situationen gegenüber. Diese geben ihm auf diffuse Weise etwas zu verstehen, das oft, aber nicht in jedem Fall zum Entscheiden und Agieren ausreicht. Um erneut auf den Football-Spieler zurückzukommen, so kann der jeweilig mit der Beurteilung beauftragte Verantwortliche durch Beobachtung bei Spielen und im Gespräch zu einem Eindruck davon kommen, was denjenigen wohl ausmacht, wie er »tickt«, was er vermutlich kann. Aber es bleibt unsicher, vage, schemenhaft. Genau aus diesem verständlichen Grund sucht er nach präziseren, klareren Entscheidungshilfen – eine sachlich konsequente Option ist dann eben die Vermessung durch Tests. Dahinter steckt generell die Notwendigkeit für den Menschen, die vieldeutigen Situationen in den Griff zu bekommen. Dazu greift er auf eine simple Technik zurück, er expliziert aus der jeweiligen Situation greif bare, stabile Einzelheiten, aus dem Eindruck des Spielers eben durch Tests zum Beispiel dessen messbare Laufgeschwindigkeit. Diese werden dann geschickt kombiniert, vernetzt, arrangiert – etwa in Form von Modellen, Rechnungen, Theorien, Schemata und so weiter –, um die Situation handhabbar und berechenbar zu machen. Schmitz nennt die so aus Situationen geschöpften Netze von Einzelheiten »Konstellationen«: »Die Bedeutsamkeit der Situationen kann von der Explikation nicht ausgeschöpft werden, aber diese hebt aus der Ganzheit einzelne Faktoren heraus, die durch intelligente Vernetzung zu Konstellationen verknüpft werden können, um die unerschöpfliche Situation näherungsweise zu rekonstruieren und von den wesentlichen Zügen her in den Griff zu nehmen.« 30
Im Interesse humaner Selbst- und Weltbehauptung ist ein explizierender und vereinzelnder sowie konstruierender Zugriff auf die Situationen als den Stoff der Welt nicht nur möglich, sondern notwendig. »Der Mensch ist berufen und herausgefordert, so zu konstruieren, aber er soll sich hüten, über den Kon strukten die Situationen zu vergessen.«31 Es kommt darauf an, die Konstruktionen als hilfreiche Stützen, die aber letztlich Notbehelfe sind, zu erkennen. Der Sportler, ist er einmal vermessend erfasst worden, darf nicht mit den gewonnenen Daten, den Konstellationen, verwechselt werden. Er selbst kann immer noch »anders« oder »mehr« sein. Schmitz spricht, wie zitiert, explizit von der Unerschöpflichkeit der Situationen, die schlicht schon daraus folgt, dass in ihnen nichts einzeln ist. Wo die Einzelheit selbst schon sekundär ist, kann jede
30 | Schmitz: Situationen und Konstellationen, S. 9. 31 | Ebd. Über die Parallele zwischen Schmitz’ Situations-Begriff und dem WeltstoffKonzept seines Doktorvaters Rothacker vgl. Kluck, Steffen: Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungslehre und Ontologie der Lebenswelt. Freiburg, München 2014, S. 349-352.
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noch so große Menge an einzelnen Daten das ursprünglich Gegebene nicht erschöpfend explizieren. Daraus speist sich dann, wie leicht zu sehen ist, die Möglichkeit, Kulturen zu kritisieren. Wenn Situationen die Wurzel des Begegnenden in der Welt sind (und zudem auch ontologisch fundamental) und aus ihnen und der Auseinandersetzung mit ihnen die Bestände humaner Lebenswelten stammen, dann läuft eine Kultur, die sich den Konstellationen als vermeintlich »wirklichen«, »harten« Fakten zuwendet, Gefahr, einem Wahn aufzusitzen. Statt der vieldeutigen, reichhaltigen und immer neuer Zuwendung bedürftigen Situationen hat eine solche Kultur nur noch Agglomerate von Zahlen und anderen vermeintlichen harten Fakten zur Verfügung, auf die sie als den scheinbaren Beständen der Welt zurückgreift. Dadurch wird das Mittel der Weltbemächtigung – die Zahlen etwa – zum vermeintlichen Weltbestand selbst, letztlich also zum Ziel. Dass eine Kultur dabei scheitert, ist aus Sicht der Phänomenologie nur zu verständlich. Der Sportler ist, trivial gesprochen, mehr als die Summe seiner vermessenen Merkmale. Die schon zitierte geringe Erfolgsquote spricht Bände. Interessanterweise wird daraus aber gerade in der Regel nicht der Schluss auf die grundsätzliche Fehlerhaftigkeit der Methode geschlossen, sondern vielmehr nur auf deren aktuelle Defizienz. Statt also sich des grundlegend problematischen Weltzugriffs der zahlenmäßigen Vermessung klarzuwerden, wird dieser vielmehr forciert. Eine endlose Spirale droht. Dadurch opfern die Menschen nicht nur Arbeits- und Lebenszeit, erleiden fortwährend Misserfolge, sondern verlieren Lebensmöglichkeiten. Situationen verdienen aufgrund ihrer Vieldeutigkeit fortwährende Besinnung auf sie. Bei Zahlen als vermeintlich beständigen Faktoren der Wirklichkeit hingegen besteht die Möglichkeit, eine einmal erfasste Entität als »erledigt« abzutun. Und ganz prinzipiell erfassen, wie dargelegt, Konstellationen niemals umfassend Situationen. Es bleibt ein Rest, den eine so geartete Kultur mit ihrem spezifisch konstellationistischen Weltzugriff weder thematisieren noch handhaben kann. Die geschilderten Defizienzerfahrungen, die Legion sind in der Gegenwart, kann man als ein Thematisieren genau dieses Restes verstehen, in dem aber nicht nur bloß Übersehenes liegt, sondern eine humanistische Revolte gegen einen übersteigerten und dadurch falschen Zugang auf die Wirklichkeit. Um diesen letzten Zugriff vom berechtigten Interesse des Menschen an Konstellationen zu unterscheiden, nennt Schmitz ihn »Konstellationismus«, worunter er die Ideologie versteht, dass man alles in ein Netz von einzelnen Faktoren restlos und verlustfrei transformieren könne:
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Was oft als bloßes Ressentiment abgetan wird, nämlich ein Auf begehren gegen die Herrschaft der Zahlen, lässt sich philosophisch verständlich machen als ein Insistieren auf die lebensweltliche Relevanz der Situationen. Wenn der Sportler sich hinstellt und behauptet, seine Laufzeiten mögen sein, wie sie sind, er sei dennoch ein herausragender Spieler, so sagt er damit philosophisch, dass die Konstellationen ihn als Situation nicht adäquat erfassen. Wenn der Hochschullehrer dagegen protestiert, durch Messung seines Seitenoutputs bewertet zu werden, ist er Advokat der Situation, die durch Rankings, Zitationsindizes und so weiter gar nicht in den Blick genommen werden kann. Was hier an diesen wenigen Fällen vorgeführt wurde, ist aus phänomenologischer Sicht eine allgemeine Struktur der gegenwärtigen westlichen Kultur (und vermutlich aufgrund von Globalisierungseffekten auch über sie hinaus). Es wäre ein sicher einträgliches und produktives Unterfangen, mit dem Begriffspaar Situation und Konstellation verschiedenste Formen des Protestes in der Gegenwart neu zu lesen. Immer steht der spezifische Zugriff von Kultur auf die Lebenswelt zur Debatte. Dabei geht es nicht nur um die jeweilige Deutung der Welt und deren Wirkmächtigkeit, sondern auch um eine Verteidigung von verdrängten oder bedrohten Lebensmöglichkeiten. Ein situationsgeleiteter Weltzugriff vermag es viel eher – freilich um den Preis von Bestimmtheit und Verwertbarkeit –, Möglichkeitsräume offen zu halten, denn die Vieldeutigkeit erweist sich vor diesem Hintergrund als Stärke, wohingegen Zahlen vorgeben, den vieldeutigen Raum im Hinblick auf das sachlich »Richtige« zu vereindeutigen und festzulegen.33 Daraus folgt dann allerdings zugleich ein anderes humanes Leitbild. Nicht der Gestalter und Macher steht im Vordergrund, sondern der Bemerkende, sich Einlassende. Scheler hatte darauf hingewiesen, dass der Zwang zu Zahlen aus der Angst geboren wird.34 Es sind die Motive der Kontrolle und Sicherheit, die die Vermessung der Welt hervorbringen. Dagegen hält er als Kern eines alternativen Habitus fest:
32 | Schmitz: Situationen und Konstellationen, S. 11. 33 | Schlaudts Plädoyer, die Politik möge sich von der Diktatur der Zahlen befreien und wieder echt politisch – also diskursiv, umkämpft und so weiter – werden (vgl. Schlaudt: Die politischen Zahlen, S. 179-182), geht in dieselbe Richtung. Es geht darum, die vermeintlich eineindeutigen Konstellationen wieder zurückzudrängen und zu entdecken, dass die Welt als Situation Gestaltungsräume bietet, die ausgehandelt sein wollen. 34 | Scheler: Versuch einer Philosophie des Lebens, S. 325.
Zahltag? Über den Preis der Quantifizierung »Nicht der Wille zu ›Beherrschung‹, ›Organisation‹, ›eindeutiger Bestimmung‹ und Fixierung, sondern die Bewegung der Sympathie, des Daseingönnens, des Grußes an das Steigen der Fülle, in der einem erkennend hingegebenen Blick die Inhalte der Welt allem menschlichen Verstandeszugriff immer neu sich entwinden und die Grenzen der Begriffe überfließen, durchseelt […] jeden Gedanken.« 35
Der oft fälschlich eingebrachte Vorwurf, der Mensch würde im Nachgang einer so argumentierenden Phänomenologie zur Passivität verdammt, ist irreführend. Der Mensch muss konstellationistisch auf Situationen zugehen, sie sich handhabbar machen, um sich in der Welt zurechtzufinden. Er muss allerdings nicht im Konstellationismus als einer umfassend vermessenen Welt enden. Täte er dies, würde er vermutlich wie der Mensch im vermessenden, quantifizierenden Neoliberalismus »müde, traurig und einsam«36 enden.
K ulturfolgenbuchführung Jeder Weltzugang muss sich am Ende einen Saldo berechnen lassen. Mit dem durch die Neue Phänomenologie angebotenen Begriff der Situation lässt sich im Hinblick auf die gegenwärtige Kultur, die sich der zahlenmäßigen Erfassung, Bewertung und Steuerung aller Lebensbereiche zugewandt hat, ein solcher ziehen. Es geht darum, den Preis zu ermitteln, den eine Kultur dafür zahlt. Auf der Haben-Seite stehen direkter technisch-planerischer Zugriff, Sicherheitsgefühl, Berechenbarkeit, Übersichtlichkeit. All diese Aspekte werden durch Konstellationen in hohem Maße ermöglicht. Andererseits stehen auf der Soll-Seite Verlust an Reichhaltigkeit, wiederholtes Scheitern und eklatante (Selbst-)Missverständnisse. Jeder dieser Punkte verdiente eine eigene Behandlung und Erläuterung, exemplarisch sei aber nur der letzte herausgegriffen. Wenn eine Kultur (und genauso ein Individuum) sich über Zahlen Rechenschaft zu geben versucht, läuft sie Gefahr, sich selbst zu verkennen. Eine Kultur als Situation kann zwar etwas über sich lernen, wenn sie vermessen ist – ihre Größe, ihre Sozialstruktur, ihre Verteilungsgerechtigkeit und vieles dergleichen –, aber zeichnet sie das als sie selbst aus? Und schlimmer noch wird es, wenn sie sich nur noch so versteht. Der neoliberale Staat, den Schlaudt thematisiert, entpolitisiert sich genau deshalb, weil er glaubt, er sei nichts anderes als ein zu berechnender Homo oeconomicus. Würde er von sich als Situation Rechenschaft ablegen, bemerkte er – diese Anthropomorphisierung sei um des Beispiels willen gestattet – an sich Dimensionen jenseits der Zahlen,
35 | Ebd. 36 | Schlaudt: Die politischen Zahlen, S. 180.
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die vielleicht sogar ganz entscheidend seine Eigenart und seinen Zweck bestimmen. Am Ende steht zu hoffen, dass der phänomenologische Impuls, sich dem Begegnenden »sympathisch« im Sinne Schelers zuzuwenden, die Kulturkritik befruchten mag. Es bliebe dann nämlich nicht bei bloßen Ressentiments, sondern es bestünde die Chance, humane Optionen im Hinblick auf die Konsequenzen in der Lebenswelt abzuwägen. Der Kulturkritik käme dabei nicht die Rolle des Entscheiders zu, die ihr ohnehin schlecht steht, sondern die Rolle des Kassierers, der einer Kultur zu sagen vermag, was eine Entscheidung sie voraussichtlich kosten wird. Das Vorstehende sollte der gegenwärtigen Kultur dabei gleichsam vor Augen geführt haben, dass auch Zahlen einen Preis haben.
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Diese Situation kennt jeder. Eine Gruppe kluger Menschen sitzt zusammen und versucht, etwas besser zu machen – und »besser« heißt hier »einfacher«, »rationaler« und »im Ablauf planbarer«. Ob es dabei um die Produktion von Knäckebrot oder die Reform eines Studiengangs geht, ist zweitranging. Alles gilt dann als besonders gut, wenn es einfacher, lösbarer und planbarer wird – und die Ergebnisse gut vorhersehbar und im Idealfall auch berechenbar sind. Bei einer Studiengangsreform erwartet die Verwaltung einer Universität (mythisch gesprochen ist es jene Verwaltung aus Kafkas Schloss) stets das gleiche: Der neue Studiengang soll für die Studierenden einfacher studierbar, in kürzerer Zeit absolvierbar, in klaren Kompetenzmustern abrechenbar und damit auf den Bologna-Prozess zugeschnitten sein. Erfolge werden an zählbaren Leistungspunkten abgelesen. In Modulbeschreibungen formuliert man noch lange vor dem Seminarplan und der Lektüreliste, welche Kompetenzen die Studierenden nach der Absolvierung des Seminars erworben haben werden – ungeachtet ihrer bisherigen Fähigkeiten oder Vorleistungen. Das Studium führt in kürzester Zeit zu dringend gesuchten Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt, wie zum Beispiel Lehrerinnen und Lehrern. Effizient studieren ist nur ein Beispiel für die Symptomatik einer Sackgasse des Denkens, die sich am leichtesten mit »instrumentelle Vernunft« zusammenfassen lässt. Der Begriff – von Horkheimer geprägt1 – beschreibt im Prinzip nichts anderes als das, was in den letzten drei Jahrhunderten den wesentlichen Fortschritt der westlichen (empirischen) Wissenschaft und auch gesellschaftlichen Entwicklung ausmacht: Die Vermessung der Welt, »begriffen als Klassifikation von Tatsachen und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten«.2 Diese erfolgt technisch mit rationalen Mitteln, ohne genau zu wissen, wozu eigentlich gemessen wird. Der Zweck bestimmt nicht nur die Mittel; über den Zweck wird gar nicht mehr nachgedacht. So folgt aus der Vermessung der Welt 1 | Vgl. Horkheimer, Max: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt a.M. 2007. 2 | Ebd., S. 37.
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in schneller Schrittfolge auch die Beherrschung der Welt durch Vermessungstechniker. »Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig.«3 Instrumentelle Vernunft, strikte Rationalität und Technikvertrauen führen zu einem Machtgefüge, das zum Beispiel in bildungspolitischen und didaktischen Fragen spürbar wird. Das Postulat der Messbarkeit und Objektivität durchzieht alle Forderungen an Bildungsprozesse – in der Schule wie auch Hochschule. Leistung, Kompetenz, Literacy – alles wird gemessen und gemäß einer planbaren Zielvorgabe erworben. Pädagogische und didaktische Bildungssituationen werden zu einem Musterbeispiel für die Anwendung instrumenteller Vernunft: Kompetenzen werden nicht durch Einsicht, sondern ob ihrer Notwendigkeit erworben.4 Woher diese stammt, bleibt wiederum mythisch im Verborgenen. Die Methoden zum Erwerb jener Kompetenzen sind effizient auf das Ergebnis hin ausgerichtet: Um Lesen zu lernen, wird gelesen; um Deuten zu üben, wird gedeutet. Bildungspläne und Studiengangsbeschreibungen deklinieren exakt, was zu welcher Zeit mit welchem Ziel didaktisch wichtig ist. Ein Platz für das Ausprobieren und Scheitern fehlt; Umwege werden abgekürzt und Erkenntnisse zugunsten von Fähigkeiten ausgespart. Das Projekt der Bildung wird unter den Vorzeichen der Instrumentalisierung zur Ausbildung. Wie soll man der instrumentellen Vernunft eines solchen didaktischen Paternalismus entkommen? Welche Leerstellen bleiben Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Schule und Hochschule, um sich frei zu entwickeln und interessengeleitet zu bilden?
E ine spielende L ösung von der instrumentellen V ernunf t Eine mögliche Alternative zum rein konvergenten, vernunftgesteuerten Lernen bilden all die kreativen und divergenten5 Varianten von Bildungssituationen, in denen das Aushandeln von Lösungen und Partizipationserfahrungen im Mittelpunkt stehen. Viele Arten des Spielens – vom Brettspiel über das Konstruktionsspiel bis hin zum Computerspiel – sind geeignet, Eigenschaften zu erwerben, die jenseits der klassischen Kompetenzen stehen. Spieler weisen zum Beispiel bestimmte Eigenschaften auf, die auch im gesellschaftlichen Leben benötigt und im Spiel eingeübt werden. McGonigal 3 | Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 172008, S. 12. 4 | Vgl. Kraus, Andreas: Achtung »Kompetenz!« – Zwischen Paradigma und semantischer Virusinfektion. In: ZDPE 3 (2012), S. 214-220. 5 | Vgl. Siebert, Horst: Vernetztes Lernen. Systemisch-konstruktivistische Methoden der Bildungsarbeit. 2. überarbeitete Auflage. Augsburg 2007.
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betont, dass die meisten Jugendlichen der westlichen Welt etwa die gleiche Zeit mit dem Spielen von Computerspielen zubringen wie mit zeitlichen Aufwendungen für die Schule (inklusive der Stunden, die sie in der Schule zubringen).6 Was Jugendliche beim Spielen insbesondere lernen, sind zwar primär keine Fakten und Inhalte – hierfür sind die PC-Spiele kommerzieller Hersteller nicht ausreichend auf Lerngegenstände ausgerichtet – dafür aber über Partizipationserfahrungen7 eine Form der Kollaboration durch Kooperation im Spiel, Koordination von Handlungen und Kokreation eines gemeinsamen Ergebnisses.8 Menschen werden durch das gemeinsame Spielen zu guten Teamplayern, die bereit und fähig sind, gemeinsam an Zielen zu arbeiten, Einsätze zu synchronisieren, sich gegenseitig Anerkennung zu schenken und das kollektive Engagement als wertvoll zu schätzen.9 Solche Menschen haben nachweislich ein hohes soziales Potenzial und sind bereit sich zu engagieren, um anderen Menschen zu helfen.10 Die entstehende Emergenz der Kollaboration von Spielern nimmt McGonigal zum Anlass, eine gewagte These zu formulieren: Ein wesentlicher Weg, die Welt vor dem durch die Menschheit herbeigeführten Untergang zu retten, ist es mehr zu spielen. Erste amerikanische Schulen reagieren bereits und stellen den Stundenplan auf Spielen um11 und Der Spiegel titelt folgerichtig »Spiel macht klug«.12 Weder dieses Magazin noch McGonigal bemerken indes, dass sie das Spielen allein instrumentell einsetzen, um einen bestimmten Zweck zu erreichen: Wenn Schulen den Stundenplan auf Spielen umstellen, dann ist das Spielen damit zum didaktisch-pädagogischen Instrument des Kompetenzauf baus geworden. McGonigal beschreibt keine Lösung, sondern nur eine weitere Facette der Allmacht der instrumentellen Vernunft; wer jedoch spielt, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, der spielt nicht. Das Spiel ist frei von Zwang und Zweck.13 6 | Vgl. McGonigal, Jane: Besser als die Wirklichkeit! Warum wir von Computerspielen profitieren und wie sie die Welt verändern. Aus dem Amerikanischen von Marina Gaspar. München 2012, S. 350f. 7 | Vgl. Krambrock, Ursula: Computerspiel und jugendliche Nutzer. Frankfurt a.M. 1998, S. 154f. 8 | Vgl. McGonigal: Besser als die Wirklichkeit, S. 352. 9 | Vgl. ebd., S. 353f. 10 | Vgl. ebd., S. 364f. 11 | Vgl. Buse, Uwe/Schröter, Friederike: Du sollst Spielen! In: Der Spiegel Nr. 3 (13.01.2014), S. 60-67. 12 | Der Spiegel Nr. 3 (13.01.2014). 13 | Für eine formale Beschreibung des Spiels vgl. Klager, Christian: Spiel als Weltzugang. Philosophische Dimensionen des Spiels in methodischer Absicht. Weinheim, Basel 2016, S. 21-76.
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In jenem freien Spiel ohne Ziel außerhalb der Spielsphäre besteht indes auch eine von wenigen Möglichkeiten, der Wirkungsmacht der instrumentellen Vernunft zu entkommen und sich mit der Welt jenseits eines Zweckes oder eines Berechnungsschemas auseinanderzusetzen. Das Spiel ermöglicht auf vielfältige Weise einen unverstellten Weltzugang; im Folgenden werden vier Perspektiven eines solchen skizziert.
S pielen als S piegeln des W irklicheren Bereits Platon unterscheidet das Spielen in zwei Kategorien, die beide aufeinander wirken. Zum einen ist das Spiel – wie ein Schatten der eigentlichen Dinge – ein Spiegelbild der Wirklichkeit, wie auch die Schatten in der Höhle von den Gegenständen zeugen. Zum anderen ist das Spiel das Medium, in dem dichterisch über Wahrheit gesprochen wird, und daher Platons immanenten (Schrift-)Kritik ausgesetzt. Wie passt beides zueinander? Zunächst ist Spiel mimesis einer ontologisch echteren Welt – zu jener Welt, die wir als Wirklichkeit begreifen. So ist auch das Geschriebene immer nur ein Abbild des Gesagten.14 Es ist nur ein Widerschein der echten Welt – was ersteres nicht zwangsläufig weniger echt macht, aber letztere zwingend voraussetzt. Trotz dieser epistemischen Verweisstruktur ist das Spiel Mittelpunkt der platonischen Dichter- und Schriftkritik: Die Wahrheit kann allein von der Philosophie im Gespräch erlangt werden, die künstlerisch-spielerische Weltdeutung gilt als unangemessen.15 Das Erspielen der Welt – im Sinne eines Begreifens der Welt – ist bei Platon ebenso ausgeschlossen wie ein Erkennen der Welt allein in der Dimension von Kunst. Ohne Philosophie, ohne Logos und Ratio bleibt die Wahrheit verborgen.16 Doch der Verweischarakter des Spiels ist folgenreicher als es Platon denkt: Das Spiel als Widerschein (Ebene 3) der von uns sinnlichen wahrgenommenen Welt (Ebene 2) ist nur eine Spiegelung der Spiegelung der wahren Ideen (Ebene 1). Obwohl das Spiel dreifach von der Wahrheit entfernt scheint, ist es, wenn es etwas zeigt, das sich in der von uns sinnlich wahrgenommenen Welt nicht wiederfinden lässt, doch offenbar in der Lage, Ideen abzubilden und die mittlere Stufe zu überspringen. Das Spiel ist stets ein Verweis auf etwas, das es sich lohnt anzusehen. Wie ein Gleichnis oder 14 | Vgl. Platon: Phaidros, 275d; vgl. Platon: Politeia, 597e-602b. 15 | Vgl. Platon: Phaidros, 274c-278b; vgl. Fink, Eugen: Spiel als Weltsymbol. In: ders.: Eugen Fink Gesamtausgabe. Bd. 7. Hg. v. Cathrin Nielsen u. Hans Rainer Sepp. Freiburg, München 2010, S. 99f.; vgl. Aichele, Alexander: Philosophie als Spiel. Platon – Kant – Nietzsche. Berlin 2000, S. 37-75. 16 | Vgl. auch Fink: Spiel als Weltsymbol, S. 109-121; vgl. auch Aichele: Philosophie als Spiel, S. 48-52.
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eine Analogie fordert es zur philosophischen und methodischen Betrachtung auf und muss ergründet werden. In diesem Sinne sind auch Platons Schriften selber – zum Beispiel in ihrer Art eines literarisch nicht wenig aufgeladenen Rollenspiels mit sokratischer Ironie – Abbilder, die auf eine andere Form der Wirklichkeit verweisen. Die schriftlichen Dialoge Platons sind mimesis mündlicher Dialoge – sie spielen dem Leser lediglich ein lebendiges Gespräch vor. In diesem Sinne spielt Platon mit selbstreferentiellem und ironischem Augenzwinkern, indem er Schriftkritik in einem geschriebenen Dialog äußert. Das Höhlengleichnis ist keine bloße Abbildung von Menschen in einer Höhle, die dort auf Schatten starren. Das wäre kein Gleichnis. Das Höhlengleichnis ist ein methodischer Verweis auf eine komplexe Wirklichkeit, welche wir als die unsere begreifen und die doch – so zeigt es uns Platon – epistemisch defizitär im Vergleich zu den überdauernden Ideen ist. Wir wundern uns über die Naivität der Menschen in der Höhle – und sind jenseits der literarischen Fiktion ja eben genau jene Menschen, über deren Naivität wir uns wundern und die ein Gleichnis benötigen, um zu begreifen beginnen zu können. Platon hätte auf die literarische Fiktion des Höhlengleichnisses nicht verzichten können, um seine ontologischen Erkenntnisse mitzuteilen – nicht, weil sie nicht auch hätte in einem Traktat hätte erklärt werden können, sondern weil wir sie so besser verstehen können. Platon handelt didaktisch klug, indem er die Verweisstruktur des Spiels verwendet und über das Höhlengleichnis auf eine ontologisch höhere Wirklichkeit verweist. Und so fällt seine Schriftkritik letztlich auch milde aus: »Wunderbar und viel besser als die anderen Spielereien ist das Spiel, […] wenn einer mit Worten spielen kann und erzählt von Gerechtigkeit und anderen Dingen«.17 Da der Dichter jedoch nicht bewusst zur Wahrheit hinarbeitet, muss der Philosoph zu spielen lernen.18 Die methodische Verweisstruktur bleibt auch dann wirksam, wenn man von einem naiveren Modell von Wirklichkeit ausgeht. Da im Spielbegriff eine gewisse Opposition von Spiel und Wirklichkeit immanent ist, verweisen Spiele immer auch auf ein Gegenüber. Allein weil Spiele Spiele sind, muss es noch eine weitere Form von Wirklichkeit geben, so dass sich ihre Untersuchung und Interpretation didaktisch und methodisch lohnt. Spielen ist immer mehr als Spielen.
17 | Platon: Phaidros, 276e. 18 | Vgl. Aichele: Philosophie als Spiel, S. 55-75.
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S pielen als kontempl ativer W elt zugang In den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen untersucht Schiller den Charakter des Menschen in einer Bildungsabsicht und differenziert zwischen einer Sinnlichkeit und Selbsttätigkeit des Geistes.19 Doch wie stehen Geist – »Form und leeres Vermögen«20 – und Materie in Beziehung zueinander? Schiller formuliert zwei Fundamentalgesetze: Zum einen muss der Mensch alles verwirklichen und zur Welt machen, was nur geistige Form ist, zum anderen muss Welt zur Form werden. Beide Gesetze beschreibt er als Triebe (im Sinne eines notwendigen Getriebenwerdens) zur physischen Weltwahrnehmung und zum stofflichen, endlichen Sein (Stofftrieb) sowie zur vernünftigen Reflexion und zum absoluten unendlichen Sein (Formtrieb).21 Nur im angemessenen Ausgleich und im Wechselverhältnis beider Kräfte wird der Mensch überhaupt erst Mensch,22 autonom und frei »und, anstatt sich an die Welt zu verlieren, [wird er] diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit seiner Vernunft unterwerfen«.23 In dieser ausgeglichenen Balance zwischen Form- und Stofftrieb, in welcher der Mensch gleichzeitig verständiger Geist und fühlende Materie ist, erkennt Schiller einen dritten Trieb, den er Spieltrieb24 nennt. Im Spiel ist der Mensch alles: Form und Stoff, Vernunft und Gefühl, Moral und Sinnlichkeit. Er begreift sich, sein Sein und seine Stellung in der Welt. Nicht überraschend erklärt Schiller, dass diese Verbindung identisch mit Schönheit sei und rückt ästhetische Erkenntnis in das Zentrum des Spiels.25 Spielen ist das reine Verstehen, das Erkennen im Schönen; »der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«26 Schiller versteht das Spielen als ein Begreifen und Formen der Welt und in diesem Sinne als anthropologisches Moment, das am besten mit »Methode«, »Kontemplation« oder »Verstehen« beschrieben werden kann: Wir eignen uns die Welt (genau dann) an, wenn wir spielen. Und Schiller versteht dies keineswegs als Metapher oder uneigentliches Sprechen über Spiel, wie
19 | Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen herausgegeben von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2006, Brief 11, S. 45. 20 | Ebd. 21 | Vgl. Schiller: Briefe, Brief 12, S. 46-48. 22 | Vgl. ebd., Brief 14, S. 55. 23 | Ebd., Brief 13, S. 52. 24 | Vgl. ebd., Brief 14, S. 56. 25 | Vgl. ebd., Brief 15, S. 58-60. 26 | Ebd., Brief 15, S. 62f.
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Berg es analysiert.27 Das Spielen macht den Menschen auch historisch zum Menschen. Die Freude am Schein, die Maskierung und das (konkrete) Spielen sind bereits Grundelemente des Menschlichen.28 Spielen als Ästhetik – wie auch Philosophieren – schließt die Lücke zwischen Anthropologie und Epistemologie. Weder die Fähigkeit zum Denken noch zum Schaffen bestimmt den Menschen – sondern die Fähigkeit zum Spielen im Sinne einer ästhetischen Weltaneignung. Der Mensch ist also folgerichtig angemessen als homo ludens29 zu beschreiben.
S pielen mit dem W eltsymbol In Anlehnung an Schiller und in Opposition zu Platon versteht Fink das Spiel als Grundphänomen des menschlichen Lebens, in dem dieses im wahrsten Sinne des Wortes ist. Dieses Sein hat eine zweifache Verweisstruktur, da der Mensch nicht nur einfach ist, sondern sich auch auf sein Dasein bezieht.30 Anders als andere menschliche Grundphänomene wie Tod, Arbeit, Macht, Herrschaft oder Liebe, ist das Spiel nicht auf einen Endzweck oder Sinn ausgerichtet. In der Abgrenzung gegenüber anderen Tätigkeiten des Menschen und in der Ausgrenzung aus der Ontologie eines Endzweckes gerät das Spiel in die Dichotomie von Sein und Schein, in der die Frage nach dem Nur-Scheinen Platons offensichtlich wird. Fink kommt zum Ergebnis, dass das Spiel – selbst als Spielweltschein – nicht einfach nichts sein kann, wenn wir dazu in der Lage sind, darin zu sein, darin zu spielen oder gar darin zu leben.31 Dem Spiel als reiner Spiegelung einer höheren ontologischen Wirklichkeit ist damit jedoch noch nichts entgegengesetzt. Zur Überwindung dieser verweist Fink auf die doppelte Struktur des Spiels, das er als Verweis auf das Weltganze begreift, während das Spiel gleichzeitig in Opposition zum Sein der Welt steht. Dieser Verweis ist als Repräsentation zu verstehen und kann nur unter dem Gebrauch 27 | Vgl. Berg, Stefan: Ein Zwischen denken. Überlegungen zum Spiel in Schillers Über die ästhetische Erziehung. In: Spielzüge. Zur Dialektik des Spiels und seinem metaphorischen Mehrwert. Hg. v. Stefan Berg u. Hartmut von Sass. Freiburg, München 2014, S. 190-195, insbesondere S. 192f. 28 | Vgl. Schiller: Briefe, Brief 26, S. 107f.; vgl. auch Caillois, Roger: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Aus dem Französischen von Sigrid von Massenbach. München, Wien 1958. 29 | Vgl. Huizinga, Johan: Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engster Zusammenarbeit mit dem Verfasser aus dem Niederländischen übertragen von Hans Nachod. Reinbek bei Hamburg 20 2006, S. 7f. und S. 14f. 30 | Vgl. Fink: Spiel als Weltsymbol, S. 15f. 31 | Vgl. ebd., S. 26.
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eines spezifischen Symbolbegriffs gültig sein.32 Ein Symbol ist in diesem Verständnis – ähnlich wie bei Cassirer33 – kein Zeichen, das für etwas anderes steht. Symbole verweisen auf sich selbst.34 Für einen Vergleich mit anderen Zeichen, die zunächst repräsentieren, indem sie auf etwas verweisen, könnte man meinen, dass Symbole in diesem Sinne allein präsentieren müssten; da das Symbol sich jedoch in einer Binnenweltlichkeit 35 auf sich selbst bezieht, ist es stets auch als repräsentativ zu verstehen. Mit etwas metaphysischem Überschuss benennt Fink diesen Unterschied, indem er das Symbol als »welttief«36 kennzeichnet, das in seiner Verweisstruktur auf das Weltganze zu einer »WeltAnschauung«37 führt. Als ein Einzelnes, das auf ein Ganzes verweist, ist jedes Symbol daher stets nur ein Fragment,38 das in seinem Verhältnis zum Ganzen ergänzt und ausgedeutet werden muss. Das Spiel ist in diesem Sinne als Weltsymbol ein Weltfragment, das in einem klar definierten Verhältnis zur Welt statt der Welt gegenüber steht. Der Mensch entledigt sich seiner Welt zugunsten von Möglichkeiten und transzendiert sich im Spiel. Es ermöglicht in anthropologischer Hinsicht einen Spielraum des Ausprobierens, des Entrinnens und der Weltöffnung, die dem Menschen Freiheiten jenseits der Notwendigkeiten der Welt bietet; das Spiel ist Ekstase des Menschen zur Welt.39 Gleichzeitig ist das Spiel in symbolischem Verständnis Welt, in der Sein und Schein in ein untrennbares Verhältnis treten. Über Fink hinaus ist nicht nur der »Rückschein der Welt«40 im Spiel zu beobachten, sondern im Sinne des selbstverweisenden Symbols die Welt selber. Unsere Deutungen von Welt nehmen wir daher zum einen im Spiel vor, was dem Spiel eine epistemisch-methodische Funktion verleiht, und zum anderen als Spiel vor,41 indem wir es als Interpretationsmodell auf die Welt anwenden. Mit Verweis auf die grünen Gläser Kleists42 könnte man gleichsam von einer Spielbrille sprechen, durch welche man die Welt betrachtet und ent-deckt. Im Gegensatz zu den verschleiernden grünen Gläsern sind die Spielgläser methodisch auf- und absetzbar, so dass eine Interpretation der Welt als Spiel möglich 32 | Vgl. ebd., S. 48f. 33 | Vgl. Cassirer, Ernst: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt 81997. 34 | Vgl. Fink: Spiel als Weltsymbol, S. 123. 35 | Vgl. ebd., S. 130. 36 | Ebd., S. 123. 37 | Ebd., S. 126. 38 | Vgl. ebd., S. 129 und S. 137. 39 | Vgl. ebd., S. 214-216. 40 | Ebd., S. 215. 41 | Vgl. ebd., S. 253. 42 | Brief vom 22. März 1801 an Wilhelmine von Zenge; vgl. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 4. Hg. v. Ilse-Marie Barth. Frankfurt a.M. 1997, S. 205.
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wird. Schwieriger fassbar ist die Dimension der Erkenntnis im Spiel. Eine wissenschaftlich-rationale Analyse binnenweltlicher Phänomene im Zustand der fiebrigen Begeisterung für das konkrete Spiel ist kaum denkbar; »[D]er spielende Mensch denkt nicht und der denkende Mensch spielt nicht.«43 Er entdeckt vielmehr kontemplativ Zusammenhänge, erkennt Strategien, gewinnt Einsichten; er hat schöpferische Einfälle und löst einfache und komplexe Probleme. Ein Entdeckungszusammenhang ist eben kein Rechtfertigungszusammenhang.
S pielen als A uflösung Lyotard fasst in seiner Analyse Das postmoderne Wissen 44 die »Lage des Wissens«45 in der Welt und ihrer Gesellschaften zusammen und beschreibt die Beschaffenheit der Postmoderne als »den Zustand der Kultur nach der Transformation, welche die Regeln der Spiele der Wissenschaft, der Literatur und der Künste seit Ende des 19. Jahrhunderts getroffen haben«.46 Für Lyotard führt die Analyse der Sprache zur Analyse der Gesellschaft mit unterschiedlichen Dichotomien und Agonismen,47 die sich durch einen spieltheoretisch-systemischen Blick erklären und interpretieren lassen, indem Sprechakte, Handlungen, Verhaltensweisen und Strategien als »Spielzüge«48 beschrieben werden. Dieses Vorgehen und die Verwendung des Spielbegriffes sind geschickt gewählt. Das Spiel ist in seiner Offenheit ein geduldiges Mittel zur Beschreibung all jener Zustände, die in der Philosophie, Soziologie und Wissenschaft49 im Allgemeinen noch nicht mit eigenen Systematiken durchdrungen wurden, und es deutet doch gleichzeitig immer ein diffuses Chaos an, das als absolute Freiheit der absoluten Ordnung gegenübersteht. In der postmodernen Überwindung überholter Strukturen und Denkmodelle gerät das Spiel zu einem utopischen Begriff, der stets versucht, aber nie getroffen wird und daher besonders geeignet ist. Obwohl sein Einsatz offensichtlich metaphorisch ist, gerät das Spiel in der postmodernen Auflösung starrer Begriffsstrukturen selbstreferenziell zum Inbegriff und Instrument der Sicht auf die Sicht. Nur in der Diffusion verschiedener Wirklichkeiten – wie im Spiel – sind die Probleme 43 | Fink: Spiel als Weltsymbol, S. 76. 44 | Vgl. Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 21993. 45 | Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 13. 46 | Ebd. 47 | Vgl. ebd., S. 42-51. 48 | Vgl. ebd., zum Beispiel S. 41, S. 58f., S. 61, S. 83, S. 128. 49 | Vgl. ebd., S. 76-86.
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unserer Welt erklärbar. In diesem Sinne ist Wissenschaft die Erforschung von Instabilitäten und die Arbeit am Paradoxon,50 die mit althergebrachten Begriffen der Eindeutigkeit und klarer Determiniertheit nicht weiter agieren kann. Die Interessen der offenen Wissenschaft sind Entdeckungen und Hypothesen, die gerade nicht in das Schema und den Erklärungszusammenhang der bisherigen Systeme fallen, sondern quer zu diesen liegen und unerklärbar sind.51 In der Verwendung des Spielbegriffes durch die postmoderne Analyse Lyotards wird das Spiel Modus der Weltbetrachtung und damit auch zum Spiel mit dem Spiel. Der Witz des Spiels ist jedoch, dass dieser Transformationsprozess kein Akt der (Post-)Moderne ist: Das Spiel ist schon von vornherein als eine Transformation angelegt – es ist nie ganz Schein und nie ganz Ernst; es passt nie nicht als Metapher und funktioniert doch nie vollständig ohne Übertragungsverluste. Eine Deutung mit dem Spiel als Instrument einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist auch immer eine Bedeutung des Spiels, das die an ihm angewendeten Interpretationszusammenhänge absorbiert. Nach Wittgenstein und Lyotard ist das Zeichen »Spiel« – trotz einer metaphorischen Verwendung – nie mehr ganz ohne das Denotat »Sprachspiel« zu denken, wodurch das Sprachspiel ein Wirkungsbereich des Spiels wird. Diese fortschreitende Zersplitterung und Dekonstruktion der Sprache und des Spiels als zugehöriges Erklärungsmodell in der Postmoderne findet bei Derrida einen Höhepunkt. »Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährende Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfaßten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert hatten.« 52
Das Spiel der Zeichen löst alle Grenzen und Sinn-Zusammenhänge auf und im Versuch, diesen einen festen Stand, ein Zentrum, zu geben, indem ein Zeichen in Stellvertreterfunktion – wie das Spiel – eingefügt wird, wird auch dieses wieder in das freie Spiel (den Strudel) übernommen, da im Bezeichnen selber ein Bedeutungsüberschuss transportiert wird, der nicht zu kontrollieren ist.53 Die Sinnvarianz von Zeichen führt zur Entfremdung des sprechen50 | Vgl. ebd., S. 157f. 51 | Vgl. ebd., S. 183f. 52 | Derrida, Jaques: Grammatologie. Übersetzt von Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt a.M. 61996, S. 17f. 53 | Vgl. Derrida, Jaques: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: ders.: Die Schrift und die Differenz. Übersetzt von Rodolphe Gasché. Frankfurt a.M. 1994, S. 422-442, hier S. 436f.
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den Subjekts im Spiel der Zeichen und auch das Zeichen »Spiel« verliert seine Bedeutung beziehungsweise gewinnt alle möglichen »flottierend«54 dazu.55 Gleichzeitig wird das Spiel der Zeichen noch in einen universellen Deutungskontext erhoben, wenn Sprache und Wirklichkeit in einer nicht trennbaren Beziehung zueinander stehen. In einem solchen Verständnis wäre in der Tat alles Spiel, würde ein solches Konzept nicht den Spielbegriff vollständig in ein Paradoxon führen. Wenn nämlich alle Bedeutungen des Spiels – und dies ist hier nur ein vergleichsweise einfaches Beispiel – frei flottierend sind, dann ist eine sinnvolle Auseinandersetzung, wie sie Derrida vornimmt und wie sie in diesem Text hier geschieht, ebenso unmöglich wie sinnlos. Wenn das Spiel fließend alles Mögliche vereinnahmen kann, kann es nicht mehr alles Mögliche vereinnahmen. Begrenzt man das Spiel der Zeichen nicht nur auf Sprache und Sprachspiele und nimmt alle Sinn-Zeichen auf, ist auch die sich überwerfende Transformation der Kunst und Musik inbegriffen. Bestes Beispiel für eine sich selbst reflektierende Kunst, die keine Strömung, keine Schule, ja nicht einmal mehr Kunst sein will, ist Dada – auch als Dadaismus bekannt.56 Huelsenbeck, selbst Mitglied der Künstlergruppe, beschreibt Dada als Spiel mit Sinn, mit den Formen, den Traditionen und den Erwartungen an Kunst 57 und vermerkt doch zugleich: »Das Ziel der Kunst ist weder das Ideal noch die Realität, sondern die Wahrheit. – Die Wahrheit ist uns aber nicht durch die Sinne gegeben, sondern ist ein transcendentes Ereignis.«58 Um sie zu erreichen, setzen die Dadaisten alle denkbaren innovativen Formen ein, die sich bis heute in der darstellenden Kunst erhalten haben: Collagen, Montagen, Skulpturen, Malerei, Lyrik, thea trale Aufführungen, Musik usw., wobei der Zufall zu einem konstituierenden Moment des künstlerischen Schaffens wird, indem beispielsweise Textbausteine verdeckt für Gedichte gewählt werden und so Gebilde entstehen, die nur noch aus Sprache und Spiel bestehen.59 Sie »nehmen das Leben wie es ist als ein wahnwitziges Simultankonzert von Morden, Kulturschwindel, Erotik und Kalbsbraten«.60 Anders als die bürgerliche Kunstszene es zu Beginn des 54 | Ebd., S. 437. 55 | Dies widerspricht der Darstellung von Hoffman-Maxis, die weiterhin einen explizierbaren Spielbegriff annimmt – vgl. Hoffmann-Maxis, Angelika: Von der Freiheit zur Beliebigkeit? »Spiel« bei Schiller und in der Postmoderne. In: Spiel. Facetten seiner Ideengeschichte. Hg. v. Michel Henri Kowalewicz. Münster 2013, S. 161-176. 56 | Vgl. Korte, Hermann: Die Dadaisten. Reinbek bei Hamburg 3 2000. 57 | Vgl. Huelsenbeck, Richard: Dada siegt! Eine Bilanz des Dadaismus. Berlin 1920 [Reprint 1983]. 58 | Ebd., S. 17. 59 | Vgl. Korte: Die Dadaisten, S. 57. 60 | Huelsenbeck: Dada siegt! S. 23.
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20. Jahrhunderts aufgefasst hatte, war das Element des Zufalls und des Spiels dabei keineswegs nur ein Versuch, sich über das Publikum lustig zu machen und sich in jeder Hinsicht als Antikunst darzustellen.61 Ball notierte 1916 in seinem Tagebuch, die Formel für Dada, die spezifisch für sein Verständnis von Spiel ist: »Was wir Dada nennen, ist ein Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind; eine Gladiatorengeste; ein Spiel mit den schäbigen Überbleibseln; eine Hinrichtung der posierten Moralität und Fülle.«62 Jenes Narrenspiel charakterisiert das »Zwischen« der Postmoderne, den Übergang und die Auflösung, und zeigt, dass sich Dada selbst nicht ernst nimmt, was nicht bedeutet, dass es im Spiel nicht ernsthaft betrieben wird. Im Motto »Dada ist mehr als Dada«63 ist die Formel der Selbstauflösung und gleichzeitigen Transzendierung enthalten, die auch das Spiel im Spiel mit den Zeichen erfährt. Das Spiel ist in der postmodernen Transformation mehr als Spiel; es spielt mit sich selbst.
S pielen als K ritik der instrumentellen V ernunf t Wie kaum ein anderes Phänomen sperrt sich das Spiel gegen seine Instrumentalisierung. Es hat keinen Zweck und wer Spielen befiehlt, der verneint es bereits. Spielen eignet sich daher nur eingeschränkt für pädagogisch und fachdidaktisch intendierte Bildungssituationen. Wer im Schulunterricht spielen lässt, kann dies nur auf freiwilliger Basis tun und darf nicht erwarten, damit ein bestimmtes Ziel erreichen zu können. Spielen ist ein offener Prozess und die besten (philosophischen) Spiele sind zetetische/forschende Spiele.64 Wer versucht, die Welt über das Spielen zu begreifen, muss methodisch anarchisch bereit sein, traditionelle Verfahren auf die gleiche Stufe zu stellen wie innovative Konzepte. Das Spiel ist ein lustvoller Umweg, die Welt zu verstehen und eröffnet die vielfältigen Dimensionen der Fiktionalität und des Als-ob für eine Bestandsaufnahme des Seienden. Das Spiel überrascht ob seines Perspektivenreichtums: Es ist Welt, Spiegel der Welt, Fragment und Symbol zur Welt und ein Zwischen, welches zu allem Überfluss stets in Auflösung begriffen ist. In ästhetischer Kontemplation ist es kein verlässlicher Partner in Hinsicht auf Erkenntnisse und Ergebnisse, die sich mit anderen Menschen teilen oder sich als Kompetenzen abrechnen lassen. Das Spiel ist stets mehr. Der Spieler kann die instrumentelle Vernunft, mit der die Vermessung der Welt vorangetrieben wird, durch die Spielbrille als eben das erkennen, was 61 | Vgl. ebd., S. 37f.; Vgl. Korte: Die Dadaisten, S. 134f. 62 | Ball, Hugo: Die Flucht aus der Zeit. Luzern 1946, S. 91f. 63 | Korte: Die Dadaisten, S. 7. 64 | Vgl. Klager: Spiel als Weltzugang, S. 302-315.
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sie ist: Nur eine Facette dieser Welt, nur eine unter vielen Möglichkeiten der Weltinterpretation. Spielen selber ist bereits eine Kritik der instrumentellen Vernunft, da es die Vielfalt der Möglichkeiten aufzeigt und sich jenseits von Nützlichkeit und Berechenbarkeit verhält. Wer Weltdeutung und Sinn spielerisch gewinnt oder zerlegt, sperrt sich gegen eine Welt der einfachen Schlüsse und eindimensionalen Perspektiven. »Das Spiel ist überflüssig. […] Es ist keine Aufgabe.«65 Der Spieler widersetzt sich so dem quantitativen Abrechnungskalkül; er produziert nichts und erfüllt keine gesellschaftliche Pflicht. Er flüchtet sich in die Utopie des Als-ob und entflieht den Zwängen der Vernunft und des Alltags. Das Spiel verspricht eine Welt der Eigentlichkeit, in der sich »die Hoffnung auf ein unentfremdetes Leben ausspricht«.66 Hier kann jeder alles sein und noch alles werden. Die Multioptionalität im Spielraum des Als-ob bietet ein Leben jenseits der naturwissenschaftlich-deterministischen Welt, in der sich Wünsche noch erfüllen und die (im wörtlichen Sinne) voller Magie ist.67 Begreift der Spieler die Spielwelt als Perspektive zur Welt, gewinnt die Utopie des Spiels einen emanzipatorischen Stellenwert gegenüber der Weltdeutung der instrumentellen Vernunft. Im spielerischen Blick auf die Welt verändert sich diese zu einer Sphäre der Möglichkeiten und Freiheiten. Der Spieler erkennt: Wer sich die Welt allein durch rationale und instrumentelle Mechanismen aneignen will, der wird allein rationale und instrumentelle Mechanismen in dieser Welt finden; das ist ein Teil jenes Spieles instrumenteller Vernunft. Die Vermessung der Welt führt nur zu mehr Messergebnissen, nicht zu mehr Erkenntnissen. Wer der Welt aber offen gegenübertritt, spielerisch frei, der kann Überraschungen erleben und neue Perspektiven entdecken. Wie sieht in diesem Sinne eine gute Studiengangsreform aus? Ein gutes Studium ist durch viel Freiheit des Ausprobierens gekennzeichnet. Es ermöglicht einen spielerischen und dekonstruierenden Umgang mit Themen, Disziplinen, Texten und Methoden und trägt dabei – unaufdringlich – zur Orientierung bei, weil die Studierenden sich in der Tätigkeit des Studierens weiter und weiter in ein Netz von Bedeutungen und Interdependenzen hineinarbeiten, die sich mal zu konzentrieren, mal frei flottierend aufzulösen scheinen. Im Vergleich zu einem verschulten Studium mit Modul A-E ist so ein Studieren lustvoll, mitunter frustrierend, forschend und bereichernd. Es führt sicher nicht zu vorher schon bekannten Ergebnissen und Kompetenzen – aber zu Bildung.
65 | Huizinga: Homo Ludens, S. 16. 66 | Neuenfeld, Jörg: Alles ist Spiel. Würzburg 2005, S. 13. 67 | Dies beschreibt Bloch als den inneren Topos der Utopie – vgl. Bloch, Ernst: Abschied von der Utopie? Vorträge. Hg. v. Hanna Gekle. Frankfurt a.M. 1980, S. 43-50.
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III. Zur Fiktionalität in Zeitdiagnosen
Fiktion als Annäherung an die Wirklichkeit Aus der Werkstatt der Geistergespräche Helmut Lethen
Mein Buch Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt1 unternimmt einen Grenzgang zwischen historiographischer Rekonstruktion und der Fiktion von sieben Gesprächen der vier Protagonisten der Kollaboration, die nie stattgefunden haben. Diese Arbeit stieß folgerichtig auf Probleme, mit denen Historiker und Schriftsteller mit verschiedenen Mitteln und unter verschiedenen Erwartungshaltungen zu kämpfen haben. Dies sei an fünf Fällen demonstriert.
1. D er S ound der V äter Am 15. Mai 1948 denkt der Staatsrechtler Carl Schmitt, der sich des Rufes, »Kronjurist des Dritten Reiches« gewesen zu sein, immer noch erfreut, darüber nach, wie Adolf Hitler als »fremder Gast« in den Tempel der Bildungselite hatte eindringen können: »Aus dem Dunkel des sozialen und moralischen und intellektuellen Nichts, aus dem reinen Lumpenproletariat, aus dem Asyl der obdachlosen Nichtbildung stieg ein bisher völlig leeres unbekanntes Individuum auf, sog sich voll mit den Worten und Affekten des damaligen gebildeten Deutschland. Es wurde mit H. St. Chamberlain und Wahnfried introduziert und induziert. Damit war es in den Bildungstempel zugelassen. Es machte Ernst mit tierischem Ernst. Womit machte es Ernst? Mit den Affekten und Formeln, die sich ihm boten. Umgekehrt waren diese bisher ziemlich rein gedachten Affekte und Formeln überrascht und glücklich, ernst genommen zu werden. Nun hatte man es, den Ernstnehmer, den Ernstmacher, einen nichts als Realisator, einen nichts als Durch-
1 | Lethen, Helmut: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt. Berlin 2018.
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Helmut Lethen führer und Vollstrecker; den reinen Vollstrecker, der bisher so reinen Ideen, den reinen Schergen.« 2
Die deutungsmächtige Analyse, die sich dieser Kronzeuge in seinem Tagebuch zuschreibt, grenzt an Aufrichtigkeit, auch wenn sie sich einer nachträglichen Fiktion bedient, die Schmitts Position als Beobachter aus dem Abseits markieren soll. Aber immerhin: Schmitts eigene Disposition zum Antisemitismus war von Hitler plötzlich »tierisch ernst« genommen worden, und er selbst, der Spieler, genoss zeitweilig das Glück, in die Kette seiner Vollstreckung eingegliedert zu werden. Vergessen wird, dass Schmitt die Hitler-Parolen einmal auf seine Fahnen geschrieben hatte. Bis 1936 zitierte er zustimmend Passagen aus Mein Kampf. Aber, so seine Klage in den Tagebüchern nach 1945, seine hellsichtigen Diagnosen seien von den »Lautverstärkern« der NS-Presse bis zur Unkenntlichkeit vergröbert, korrumpiert, entstellt, ins Gegenteil verkehrt worden – so Schmitt im Nachhinein. Die Tagebuch-Notiz über Hitlers Aufstieg lässt erkennen, warum ich ein Buch über vier Staatsräte im Dritten Reich, über die Elite im NS-Staat geschrieben habe. Die deutsche Hochkultur erscheint im Miniaturbild von Hitlers Aufstieg als Nährlösung für Barbaren. Schon in jüngeren Jahren ließ mich ein Gedanke von Friedrich Nietzsche nicht los, den ich drehte und wendete, bis er meinen definitiven Wortlaut erhielt: »Die deutsche Bildung ist ein Handbuch der Innerlichkeit für äußere Barbaren!« Das war der Skandal, der mich antrieb, einen tieferen Blick in die geistige Verfassung von Repräsentanten der Hochkultur zu werfen, die zu Kollaborateuren wurden. Ich wählte Akteure aus, die Idole meiner Jugend in der BRD der 50er Jahren gewesen waren: den Chirurgen Ferdinand Sauerbruch, damals ein Inbegriff des »Halbgott in Weiß«; den Schauspieler Gustaf Gründgens, der wie kein anderer das abgründig Böse auf die Bühne brachte; den Dirigenten Wilhelm Furtwängler, in dessen Beethovensound die Eltern ertranken, und den Staatsrechtler Schmitt, von dessen Existenz ich als Gymnasiast in den 50er Jahren zwar nichts wusste, aber er zog, wie man nachträglich erfahren konnte, an vielen Drähten hinter den Kulissen der jungen Republik.3 Von Hermann Göring zu Staatsräten ernannt, hatten sie sich nie zu viert getroffen. Ich musste sieben Treffen erfinden und es kostete einige Mühe, die Protagonisten zur Einwilligung eines freiwilligen Austauschs zu zwingen. Gründgens wollte sich mit seiner notorischen Migräne entschuldigen, Furt2 | Schmitt, Carl: Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahre 1947 bis 1958. Berlin 2015, S. 149. 3 | Vgl. Laak, Dirk van: Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik. Berlin 2002.
Fiktion als Annäherung an die Wirklichkeit
wängler litt an einer Halswirbelentzündung, Carl Schmitt fand die Unterhaltungen unter seinem Niveau, sie erinnerten ihn zu sehr an demokratisches »Palaver«. Schnell wurde mir klar, dass ich mit den sieben Geistergesprächen elementare Regeln der Historiographie verletzen würde. Das mochte einen Schriftsteller nicht kümmern. Mich schon. Es ging um das Problem des Anachronismus und damit auch um die unumgänglich fiktionalen Elemente in der Historiographie.
2. A nachronismus als E rkenntnisge winn Der Anachronismus wird in der Geschichtswissenschaft normalerweise als Fehlerquelle behandelt, als eine Operation, die die chronologische Ordnung der Ereignisse durcheinanderbringt. In den Diskussionen der letzten Jahrzehnte ging es dabei vor allem um die Zulässigkeit oder das Verbot des Imports von aktuellen Denkmodellen in Epochen, in denen sie nicht hatten gedacht werden können. An verschiedenen Fällen wurden Fragen aufgeworfen wie: Können die Motive der Inquisitoren in Hexenprozessen nach dem Modell der Psychoanalyse verstanden werden oder darf man die peinlichen Verhöre der Inquisition nur nach quellenkritisch überlieferten Begriffen der Inquisitoren selbst rekonstruieren? Kann Rabelais als Atheist beschrieben werden, auch wenn es Atheismus als Denkhorizont in seinem Zeitalter nicht gab? Kann man kluge Frauen in Salons der Romantik als »Intellektuelle« bezeichnen, obwohl der Begriff mitsamt seiner Konnotationen noch unbekannt war? Lucien Febvre hielt den Import aktueller Denkmodelle in die Vergangenheit für eine »Todsünde« der Geschichtswissenschaft und forderte, bei der Rekonstruktion von Ereignissen, im geschlossenen Denkhorizont der Vergangenheit zu bleiben.4 Dem hielt Jacques Rancière entgegen, Febvre gehe von einem Zeitkonzept aus, in dem es eine »reine Zeit« gebe, die von anderen Zeiten gereinigt sei. Darum könne er die »fließende Zeit« nicht wahrnehmen. Statt vom Anachronismus als Methodenfehler auszugehen, schlug Rancière vor, sich auf die Achronien zu konzentrieren, um im historischen Vorfall ein »gegenzeitiges Ereignis« zu erkennen, das erlaube, die Zeit gegen den Strich zu bürsten.5 Nicole Leraux votierte dann – im Geist der Versöhnung der streitenden Parteien – für einen »kontrollierten Anachronismus«, dem sich Caroline Arni aus 4 | Febvre, Lucien: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais. Stuttgart 1968, S. 17. 5 | Rancière, Jacques: Le concept d’anachronisme et le verité de l’historien. In: L’Inactuel 6 (1996), S. 53-68. Ich orientiere mich in der Analyse des Anachronismus-Streits an dem Buch von Wengler, André: Anachronismen: Historiografie und Kino. Paderborn 2014, S. 42-53.
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Basel anschloss: Aus der Aktualität können »Fragen gewonnen werden, die ein Wechselspiel eröffnen, auf dessen Feld die Vergangenheit und die Gegenwart auseinander erschlossen und verstanden werden«.6 So sind Vergangenheit und Gegenwart ineinander »verflochten«; beide Seiten befinden sich in einem Spiel der Transformation. In diesem Wechselspiel können Ereignisse, die als tote Archivalien vergessen wurden, aus ihrer »Müllphase« wieder hochsteigen und Geschichtszeichen werden. Das schließt nicht aus, dass sie aus der eroberten Höhe wieder ins Depot, das den Abfall speichert, abstürzen können. Im Spiel dieser Transformationen bildet der Wunsch nach Authentizität, das heißt die Sehnsucht nach dem Schein nicht künstlich vermittelter Berührung eines Ereignisses, Anreiz und Motor im Hin und Her von Geschichte und Gegenwart. Wenn Anachronismus als Störfaktor auffällt, wird das Einschießen der Jetztzeit in die Rekonstruktion der Geschichte spürbar. Das ist vielleicht ein Fehler, aber oft Ursache der Empfindung, dass wir in der Gegenwart Tuchfühlung mit einem Ereignis der Vergangenheit aufgenommen haben. Das Veto der Quellen ist dabei kaum hörbar, solange es keine Autorität gibt, die ihnen das Recht aufs Veto einräumt. Die Geschichtsschreibung kann Anachronismen nicht umgehen. Aus diesem Dilemma beziehen Chroniken ihre Attraktivität als letzte, verbürgt unverfälschte Quelle »authentischer« Zeugnisse der Geschichte. Sie spalten den Zeitverlauf im Raster des Kalenders in Fragmente auf, gestalten ihre kleinformatigen Fenster zur historischen Wirklichkeit als Episoden – und sind damit wieder im Medium der Fiktion gelandet, das nötig ist, um das vergangene Ereignis zu vergegenwärtigen. Sie bleiben im Spiel der Transformation, auf dessen Feld, wie oben angedeutet, Vergangenheit und Gegenwart auseinander erschlossen und verstanden werden.7
3. D er H istoriogr aph in N öten Es kann nicht wundern, dass es in den erfundenen Gesprächen der vier Staatsräte von Anachronismen wimmelt. Als Schriftsteller ist man nicht haftbar zu machen. Irritierend finde ich im Rückblick meine Anstrengung, die Freiheit des Schriftstellers nicht zu nutzen. Zuweilen bin ich peinlich darauf bedacht, keine »Todsünde« zu begehen, Anachronismen auf Teufel komm raus zu vermeiden. Unversehens schlage ich mich auf die Seite von Lucien Febvre, der, wie wir hörten, forderte, bei der Rekonstruktion von Ereignissen im geschlossenen Denkhorizont der Vergangenheit zu bleiben. 6 | Ich beziehe mich vor allem auf den Artikel von Arni, Caroline: Zeitlichkeit, Anachronismus und Anachronien. In: L’HOMME. Z.E.G. 18, 2 (2007), S. 60. 7 | Vgl. ebd.
Fiktion als Annäherung an die Wirklichkeit
Wenn ich zum Beispiel dem Chirurgen Sauerbruch zumute, Physiognomien seiner Kombattanten zu zeichnen, halte ich mich strikt an Kategorien und Beschreibungsformeln, die der Psychiater Ernst Kretschmer 1921 in seinem epochemachenden Buch Körperbau und Charakter vorgeschlagen hatte. Nach dem Vortrag über den »Feind«, den Carl Schmitt in Carinhall hielt, heißt es: »Ist auch der schweigsame Sauerbruch auf seine Kosten gekommen? Als Ganzkörperphysiognom hatte die Gestalt des Vortragenden ihn vor unlösbare Aufgaben gestellt. Der Pykniker Schmitt war ein vertrackter Fall. Im Gegensatz zum Typ des Leptosomen, der durch hagere Eckigkeit auffällt, und zum Athleten, den sein Muskelrelief kennzeichnet, schreibt man dem Typus des Pyknikers sanftes Ineinander der Körperbaulinien ohne abrupte Sprünge zu. Schon bei der Deutung dieses Körperzeichens wird Sauerbruch an seiner Urteilskraft irre. War nicht die Art, mit der Schmitt die Kategorie des Feindes vorgetragen hatte, geradezu athletisch-muskulär und eckig? Einige Züge stimmten ja mit dem Lineament des Handbuchs überein. Kein Winkelprofil des Kopfes wie bei Furtwängler, die Jochbeine springen wenig hervor, der Hals ist zwar kurz, aber dann wieder energisch zum Mikrophon gesenkt, wenn er im Hörsaal oder auf Versammlungen des NS-Rechtswahrerbunds spricht. Sauerbruchs Charakterschema des typischen Pyknikers kommt in Widerstreit zu Schmitts Esprit, der seinen Bauchumfang vergessen lässt. Die Hände sind weicher als bei den andern Typen. Wenn man die Augen schließt und ihn mit Emphase von Krieg und Bürgerkrieg reden hört, denkt man, er ist ein ›Tatmensch‹. Der Typologie zufolge sollte der Pykniker aber ein ›Gemütsmensch‹ sein, der gern mit Gleichgesinnten tafelt. Jawohl, ein Hedonist der Mittellage, ein Meister in der Ausbalancierung von Stimmungsschwankungen, ein Freund der Unterhaltung. Kein Absturz vom geistreichen Parlieren ins Lamento der Klage, kein Schwanken zwischen schneidender Kälte und mimosenhafter Verstimmung, wie es die Typologie vorschrieb. Seinem Leitfaden der Physiognomik entsprechend – nie! Aber trifft es auf Schmitt zu? Der ideale Pykniker ist von ›kreismütiger Seelenlage‹, wie es die Psychiater nennen, kurz ›zyklothym‹, ein stilles Wasser, nur zuweilen von Einfällen sprudelnd. Den Bauch braucht er als Speicher für Verbrennungsenergie; denn er kann quecksilberhaft auf dem Sprung sein. Der Chirurg verheddert sich im Handbuchwissen, das seine Beobachtung steuert, kreuzt Typen, die Schemata drohen sich in blauem Dunst aufzulösen. Fazit: Der Mann bleibt ihm ein Rätsel.« 8
Meine Figur des Chirurgen Sauerbruch bleibt dem Horizont von Körpertypologien, die vor fast hundert Jahren wissenschaftlich fixiert wurden, verhaftet. Einerseits sind sie veraltet, dem Körperwissen, den Erzählmustern und der 8 | Lethen: Die Staatsräte, S. 147ff. Manche der in diesem Aufsatz zitierten Passagen aus Die Staatsräte geben nicht den exakten Wortlaut im Buch wieder, sondern beziehen sich auf ein früheres Manuskriptstadium.
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Charakterologie des 19. Jahrhunderts entnommen. Andererseits bleiben sie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts Lehrstoff bei der Ausbildung von Medizinern und Psychiatern. Heute noch steuern sie im Alltagsleben unsere Orientierung. In jeder Bahnhofsbuchhandlung findet man Verhaltenslehren, in denen Kretschmers Charakterologie in aktueller Form erscheint. Sie erleichtert die schnelle Erfassung des Gegenübers. Es handelt sich folglich um einen Denkhorizont, der im 19. Jahrhundert unter Physiologen und Psychiatern entstand, von der Literatur aufgenommen und 1921 in einem Buch von Kretschmer, mit tausend statistischen Daten unterbaut, schnell den Rang eines Standardwerks der Psychiatrie gewann. Sein Denkhorizont umfasst sowohl die Situation des Jahres 1937, in der ich Sauerbruch mit Kategorien Kretschmers wahrnehmen lasse, als auch die Gegenwart der Leserinnen und Leser im Jahr 2018. Bewegt sich unsere Wahrnehmungswelt folglich in einem anachronistischen Rahmen, oder wollen wir Kretschmers Typologie eine zeitlose Geltung zusprechen? Die Spannung von Genesis und Geltung durchdringt das Problem des Anachronismus. Die Unschärfe von Phänomenen wie der Gestalt des Menschen mit der Schärfe der Kategorien zu erfassen, bleibt eine Neigung, der nicht nur die Wissenschaften verfallen. Im Alltagsleben kann man sich auf die Sparsamkeit der Stereotypenbildung verlassen, die keine Reflexion erfordert, blindlings agiert und sich auf Erfahrung beruft. Es gibt bekanntlich auch heute noch politische Strömungen, die sich in Fragen der Rassen auf das Vorurteil im Leibe verlassen. Wünschbar wäre ein Pendeln der Wahrnehmung zwischen der kategorisierenden Erfassung des Phänomens einerseits und dem Verschwimmen in den Unschärfen der Gestalten andererseits; beide Pole zu umfassen könnte Aufgabe des Schriftstellers sein. Es ist aufschlussreich, dass ich Sauerbruch bei seinem Unternehmen, die Gestalt des Staatsrechtlers mit Kretschmers Kategorien zu erfassen, scheitern lasse. Erheitert stelle ich aber fest, dass ich vom Standpunkt der Neuen Rechten die Todsünde beging, eins ihrer Idole, Carl Schmitt, mit dem Körperbau des Pyknikers versehen zu haben. Ja, auch erhabene Theorien stützen sich auf einen Körperbau; vielleicht sind sie genauso sterblich. Die Rekonstruktion von historischen Wahrnehmungsakten bleibt ein lästiges Problem des Historiographen, wie das folgende Beispiel zeigen soll. Im Zeitschriftenarchiv der Humboldt-Universität im Berliner Westhafen fand ich in der Unterhaltungsbeilage des Völkischen Beobachters vom 16. September 1933 65 Porträtfotos der soeben ernannten Staatsräte. Das war der Forschung bisher entgangen, weil sie offensichtlich nicht in der Unterhaltungsbeilage gesucht hatte. Wie sollte der Fund beschrieben werden? »Die Passfotos der Staatsräte setzten der physiognomischen Beschreibung enge Grenzen. Sie waren durch Namen, Titel und Berufsbezeichnung fixiert. Wir sehen nur
Fiktion als Annäherung an die Wirklichkeit fünfundsechzig im Archiv verwitterte Köpfe auf brüchigem Zeitungspapier, ein Schneetreiben von Physiognomien, fast alle passgerecht standardisiert und im Bruchteil einer Sekunde eingefroren. Schon angesichts der aus der Mode gekommenen Frisuren darf man vermuten: Sie sind alle tot. ›Sie tragen ihre Leichenstarre zur Schau wie ein Komiker sein Hütchen‹, bemerkte der Kunstwissenschaftler Rudolf Arnheim in ›Der neue Spießer-Spiegel‹ 9 zu den Physiognomien, die George Grosz dem Bürgertum der Weimarer Republik abgewonnen hatte.«10
Man merkt, in welchem Ausmaß mein Vorurteil die 65 Porträts durchmusterte. Konzentrierte man sich auf physiognomische Einzelheiten, nach denen zeitgenössische Handbücher vorgehen, käme man nicht weit. In diesem Fall richtete ich mich nach der handlichen Broschüre, die Friedrich Märker 1933 unter dem Titel »Symbolik der Gesichtsformen« herausgegeben hatte: »Sind die Lippen hart, kalt oder geschweift, wirken sie wie der Pfeil, der kraftlos vor dem Ziel niedersinkt, fest aufeinandergepresst, wie man Brennnessel fest anfassen muss, wenn man sie nicht spüren will. Ironiker mit gekräuselter Oberlippe sind nicht zu finden, messerschneidedünne Lippen Grausamer nur, wenn man Rückschlüsse von ihrer Funktionsbezeichnung auf ihren Charakter zulässt. Wirken die Augenhöhlen wie eine kompakte Mauer, ist laut Physiognomie-Handbuch ein Ahnungsloser zu vermuten, tiefliegende lassen auf Späher oder Scharfschützen schließen. Nachdenkende Grübler mit herabgesenkten Augenbrauen sind nicht zu erblicken. Zornige, die die Augenbrauen an der Nasenwurzel herabziehen, müsste es mehr geben. Jeder Kopf ist eine Frage, solange man die Geschichte der Person nicht kennt. Der Fahndungsblick des Rassenkundlers wird es einfacher gehabt haben: Jüdische Profile, die dem Stereotyp entsprachen, sind verständlicherweise nicht zu finden, das Spektrum des ›nordischen‹ Idealtyps ist dagegen erstaunlich, ja grotesk.«11
Die Beispiele zeigen, dass selbst, wenn man sich streng an Lucien Febvres Gebot hält, die Phänomene im geschlossenen Denk- und Wahrnehmungshorizont der vergangenen Zeit zu belassen, Vergangenheit und Gegenwart ineinander »verflochten« sind. Beide Seiten befinden sich in einem Spiel der Transformation. In diesem Wechselspiel können Dokumente, die wie die 65 Porträtfotos als tote Archivalien vergessen wurden, aus ihrer »Müllphase« wieder hochsteigen,
9 | Arnheim, Rudolf: Der neue Spießer-Spiegel (Weltbühne 13, 1926). In: ders.: Zwischenrufe. Kleine Aufsätze aus den Jahren 1926-1940. Hg. v. Ursula Madrasch-Groschopp. Leipzig, Weimar 1983. 10 | Lethen: Die Staatsräte, S. 25ff. 11 | Ebd., S. 21.
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um reale Gestalten zu vergegenwärtigen, ehe sie wieder im Mülldepot der Geschichte versinken. Die Vergangenheit ist kein abgetrenntes Gegenüber von der Gegenwart. Eintauchend in die Vergangenheit können »wir uns und all die Toten früherer Zeiten (die wir bald selbst sein werden) aber als Wesen entdecken, die in selbst gemachte temporale Gespinste eingebunden sind«.12 Dieser Tauchakt kommt nicht ohne die Einbildungskraft der Fiktionen aus. Und je mehr die temporalen Gebilde in ihrer Komplexität erfahren werden, desto intensiver werden wir uns die Nähe ihrer Ferne zu eigen gemacht haben. Futur II ist immer dunkel. Die Geschichtswissenschaft sollte sich dieser Dunkelheit bewusst bleiben, die nur mit Hilfe der Einbildungskraft ausgeleuchtet werden kann, die in der Fiktion ihr Handlungsfeld findet.
4. H istorizität und A k tualität der P olitischen A nthropologie Im Oktober 1937 traktiert der Staatsrechtler seine Kollegen mit einer Version der Politischen Anthropologie. In dem erfundenen Vortrag verschalte ich Quellen der Politischen Theorie aus unterschiedlichen Epochen.13 Ausgangspunkt ist Schmitts Schrift Der Begriff des Politischen in ihrer zweiten Fassung von 1932. Neben dem – erwartbaren – Rückgriff auf Thomas Hobbes verblüfft in seinen Ausführungen der Bezug auf Sigmund Freuds »Das Unbehagen in der Kultur« aus dem Jahr 1930. »Schmitt in gehobenem Ton: Alle echten politischen Theorien, meine Herren, gehen davon aus, dass der Mensch von Natur ein gefährliches Wesen ist. Man kann alle Staatstheorien auf ihre Anthropologie prüfen und danach einteilen, ob sie bewusst oder unbewusst, einen von Natur bösen oder einen von Natur guten Menschen voraussetzen. Staatsphilosophen des 17. Jahrhunderts wie Hobbes, Spinoza, Pufendorf wussten noch, dass die handelnden Subjekte in den Staaten ›böse‹, wie von Trieben bewegte Tiere sind. Selbst der rechtsliberale Plessner habe 1931 in seinen Überlegungen über Macht und menschliche Natur den Menschen als ein gefährliches Wesen erkannt, das, wenn er es aus eigener Kraft nicht zustande bringt, durch den starken Staat in Form gebracht werden müsse. 12 | Landwehr, Achim: Lepanto oder Der fortgesetzte Missbrauch der Vergangenheit. In: Geschichte wird gemacht. Über die Alltäglichkeit des Historischen (04. Januar 2015), online verfügbar unter: https://achimlandwehr.wordpress.com/2015/01/04/ 33-lepanto-oder-der-fortgesetzte-missbrauch-der-vergangenheit/, zuletzt eingesehen am 26. November 2018. 13 | Lethen: Die Staatsräte, S. 130ff.
Fiktion als Annäherung an die Wirklichkeit Gegen die Versuche, die dunkle, auf Aggression geeichte Natur des Menschen aus dem Verborgenen herauszubringen, in die sie durch die mächtigen Fassaden der Selbsttäuschung gebracht wurden, stemmen sich bis heute Widerstände. Selbst Sigmund Freud, von dem er sonst nichts halte, sei mit seiner Entdeckung des Destruktionstriebs auf heftige Abwehr nicht nur seiner Zunft gestoßen. Bekannt sei ja sein Seufzer ›Denn die Kindlein, sie hören es nicht gerne, wenn die angeborene Neigung des Menschen zum ›Bösen‹, zur Aggression, Destruktion und damit auch zur Grausamkeit erwähnt wird‹.14 Da habe Freud ausnahmsweise Recht. Wir haben zu lange in einer liberalen Kultur gelebt, deren Zweck darin bestand, uns selbst über unsere Tendenz zur Destruktion zu täuschen. Es ist nicht leicht, sich aus der behaglichen Innenausstattung des Liberalismus zu lösen. Aber die in unserer Natur angelegte Zerstörungslust muss zumindest erkennbar gemacht werden. Mein Konzept von Freund und Feind bringt Licht in die Tabuzonen des Liberalismus, in das von ihm negierte und verdunkelte Kriegs- und Bürgerkriegsfeld. Verstanden das die anderen Herren? Furtwängler schaut zum Springbrunnen. Zuviel Naturalismus tut dem Gespräch nicht gut. Er krümmt sich vor Ungläubigkeit; Destruktionslust und Todestrieb als Bodensatz seiner Musik? Gründgens lächelt unergründlich: Schmitt als luziferischer Aufklärer, der Licht in die finstere Nacht der Gewalt hinter den Fassaden des Liberalismus trägt? Ein abgestürzter Engel? Auf jeden Fall war diese Art Anthropologie Wasser auf seine eigene Mühle.«15
Schmitts Anleihen bei Helmuth Plessners Schrift Macht und menschliche Natur von 1931 sind leicht zu belegen.16 In der zweiten Fassung von Schmitts Der Begriff des Politischen ist sie bezeugt. Das ist ersichtlich auf den ersten Blick. Solche Quellen im gleichen Zeithorizont genügen dem Kriterium von Febvre. Eine Überraschung bietet die vierte Quelle aus dem 21. Jahrhundert, ihr Autor: Michael Hampe. In seinem Buch Tunguska oder Das Ende der Natur 17 begegnet man »Totengesprächen«. Vier Wissenschaftler – ein Philosoph, ein Mathematiker, ein Biologe und ein Physiker – treiben auf einem Schiff auf dem nebligen Meer und sprechen über das Tunguska-Ereignis, eine gewaltige Explosion, die 1908 in Sibirien ein riesiges Waldgebiet verwüstete und als deren Ursache ein Meteoriteneinschlag angenommen wird. Das Gespräch mündet in eine Grundsatzdiskussion darüber, was Natur überhaupt sei. In die fingierten Totengespräche mischt sich 14 | Freud, Sigmund: Das Unbehagen an der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Frankfurt a.M. 1994, S. 249. 15 | Lethen: Die Staatsräte, S. 130f. 16 | Plessner, Helmuth: Macht und menschliche Natur. In: ders.: Gesammelte Schriften V. Frankfurt a.M. 1981, S. 135-234, hier S. 139-146. 17 | Hampe, Michael: Tunguska oder das Ende der Natur. München 2011.
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zum Schluss der Verfasser, Michael Hampe, mit einem naturphilosophischen Versuch ein. In dem Absatz »Die verborgene Natur des Menschen« fragt der Autor, warum die Menschen die Erkenntnis ihrer eigenen Natur nicht aushalten. Nach Hinweisen auf Hobbes, Spinoza und Nietzsche heißt es: »Gegen seine Versuche, die ›dunkle Natur‹ des Menschen aus dem Verborgenen herauszubringen, in das sie oft genug durch die mächtigen Fassaden der individuellen und kollektiven Selbsttäuschung gebracht wird, stemmen sich bis heute Widerstände, die proportional zu dem Schmerz zu sein scheinen, den Wahrhaftigkeit gegenüber der eigenen verborgenen Natur bereitet. Nur ungern wollen sich Menschen eingestehen, dass sie von Natur aus macht- und sexgierig sind.«18
Auch das Fazit von Hampes »schwarzer Aufklärung«, dass es Mut erfordert, das destruktive Element der Natur des Menschen zu erkennen, könnte von Schmitt übernommen worden sein: »Denn wir alle wachsen in einer Kultur auf«, lese ich bei Hampe, »deren Zweck zu einem nicht unerheblichen Teil darin besteht, uns selbst über diese Tendenzen zu täuschen.«19 Die Fälschung, die Hampes Gedanke in der Collage von Schmitts Monolog widerfährt, besteht in der Beimischung des Feindbilds »Liberalismus«, wo Hampe nur vom Schicksal des Erschreckens vor der menschlichen Natur im Prozess der Zivilisation spricht. Von der eigenen »Sexgier« wagt Schmitt in Görings Carinhall nicht zu sprechen. In diesem Fall handelt es sich also um einen Denkhorizont, der in der Moderne von Thomas Hobbes bis Michael Hampe aufgespannt ist. Ein gewaltiger Bogen, daher von Einsturz bedroht. Gibt es in der Geschichte des Denkens überhaupt Anachronismen? Oder findet Geschichte im Reich der Philosophie nur statt, wenn sie in einen Handlungsraum verflochten ist, der zeitliche Grenzen hat? Begrenzt das wiederum ihre Geltung?
5. D er S pringbrunnen in C arinhall oder die E rfindung von W irklichkeitseffek ten Der Begriff des »Wirklichkeitseffekts« geht auf Roland Barthes zurück.20 Er lenkte die Aufmerksamkeit auf sinnlose Details in Beschreibungen oder auf beiläufig erwähnte, eigentlich belanglose Handlungen. Barthes konstatiert, dass diese für das dramaturgische Gerüst einer Narration überflüssigen De18 | Ebd., S. 261. 19 | Ebd., S. 262. 20 | Barthes, Roland: L’effet de réel. In: ders.: Œuvres complètes. Tome III: 1968-1971. Hg. v. Eric Marty. Paris 2002, S. 25-32, hier S. 26; Barthes, Roland: Der Wirklichkeits-
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tails – ein Klavier, das nicht gespielt wird, ein Stück Zeitung, Vogelstimmen, ein herabfallendes Blatt, Meeresrauschen –, gerade insofern sie keine direkte Funktion in der Erzählung (im Film oder der Literatur) ausfüllen, entscheidend zum Wirklichkeitseindruck beitragen. Sie scheinen durch die Maschen des Narrativs zu fallen und erzeugen gleichzeitig eine allgemeine »illusion référentielle«. Die Details stellen sich dabei nicht als kontingente Bestandteile im Funktionssystem der Erzählung dar, sondern bezeugen nicht mehr und nicht weniger als ihre scheinbar von der Erzählung unabhängige Existenz in der Wirklichkeit. Somit werden paradoxerweise die bedeutungslosen Dinge im Rahmen von Barthes’ Theorie mit der unerfüllbaren Bedeutung aufgeladen, als Fenster zur Wirklichkeit zu agieren. Leicht zu erkennen, dass es für Schriftsteller nicht leicht ist, bedeutungslose Dinge, Sätze oder Zufälle zu erfinden. Der Springbrunnen im Wintergarten von Carinhall hat wirklich keine Bedeutung für Schmitts Vortrag über Feind und Volksgemeinschaft, er ist nur harntreibend und somit ein Störfaktor des Gesprächs der Herren – aber immerhin ein endogener Faktor, der die Vier zusammenschweißt. Der britische Bombenangriff auf Berlin im Juni 1944 fällt »rein zufällig« mit Furtwänglers Bannfluch gegen die Zwölftonmusik Schönbergs zusammen. Die dunklen Männer im Gebüsch von Sauerbruchs Villa könnten eine bedeutungslose Erfindung sein, wenn sie nicht den Erinnerungen von Werner Weisbach entstammten.21 Und was ist der Wirklichkeitseffekt in der Schlusspassage des Gesprächs in der Staatsoper: »Sauerbruch geht mit Gründgens ans Fenster, sie rauchen. Schmitt genießt die Stille nach dem Dröhnen der britischen Geschwader, schnappt nach Luft. Der Angriff scheint vorbei zu sein. Unvermittelt fragt Gründgens den Chirurgen: Und Stauffenberg? Die Stille einer Schrecksekunde. Doch Sauerbruch eher leutselig: Er habe vor Monaten schon angeboten, dem Grafen eine kluge Handprothese herzustellen, sogar aufgedrängt, aber der habe abgelehnt, weil er offenbar einer höheren Verpflichtung nachkommen wolle, die keinen Zeitaufschub dulde. Schmitt, der sich den zwei Rauchern am Fenster genähert hat, seufzt, das hätte den Grafen für einige Monate aus dem Verkehr gezogen. Die Physiotherapie soll in solchen Fällen ja mindestens sechs Monate in Anspruch nehmen, bis Amputierte, wie sie damals im Park von Sauerbruchs Villa erfahren hätten, Lehrmeister ihrer Maschinenhand geworden sind. Oder länger? Und Finanzminister Popitz? fragt Sauerbruch. effekt. In: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Übersetzt von Dieter Hornig. Frankfurt a.M. 2006, S. 164-172. 21 | Weisbach, Werner: Geist und Gewalt. Wien 1956.
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Helmut Lethen Es sei so still um ihn geworden, sagt Gründgens, der ihn verehrt. Schmitt zuckt resigniert mit den Schultern. Stille. Er habe ihn vor kurzem in der Mittwoch-Gesellschaft erlebt, sagt Sauerbruch, es sei wohl am 28. Juni gewesen. Ein deprimierender Abgesang auf den Staatsgedanken, wenn er sich recht erinnere. Stille. Drei Staatsräte am Fenster haben die dunkle Empfindung: Etwas rollt hinter ihrem Rücken ab. Nur Furtwängler ist ahnungslos. General Beck jedenfalls machte einen hoffnungslosen Eindruck, murmelt Sauerbruch. Das Dröhnen der Bombengeschwader hätte sie jetzt entlastet. Das Schweigen ist so unerträglich, dass sie sich schnell verabschieden. In vier Taxis durch die Trümmerstadt. Wenige Tage später das Scheitern des Attentats.« 22
Ist die »Stille« in dieser Passage das einzige Fenster zur Wahr-Scheinlichkeit? Kenner der Geschichte des modernen Dramas werden allerdings wissen, aus welchem Archiv die Stille kommt. Ich habe es vergessen, vermute aber, dass sie aus Peter Szondis unvergesslichem Buch Theorie des modernen Dramas aus dem Jahre 1956 stammt, das ich in meinem ersten Studienjahr 1960/61 verschlungen habe. Kein dem ersten Anschein nach bedeutungsloses Detail entgeht der Logik der Erzählung. Es ist eben dem buchstäblichen Sinn nach: »überflüssig«.
6. S chnee fällt in P le t tenberg An einem Abend im Juni 1963 treffen sich die vier Staatsräte von Görings Gnaden, der Chirurg und der Dirigent sind allerdings schon tot, in Plettenberg. Ein Geistergespräch. Carl Schmitt hat sich ins Sauerland zurückgezogen. Sein kleines Haus hat der Staatsrechtler nach Machiavellis Verbannungsort in der Toskana »San Casciano« genannt. Ganz leicht ist es nicht, einer Regenschlucht im deutschen Mittelgebirge den Charme der Toskana abzugewinnen. Aber Schmitts Rückzugsort ist inzwischen zum Anziehungspunkt für viele Gelehrte, Juristen, Historiker, Maler und Schriftsteller geworden. Jetzt treffen sich die Staatsräte dort, um über eine zentrale Kategorie in Schmitts Denken, die Entscheidung, nachzudenken. Das letzte Treffen habe ich ins Jahr 1963 gelegt, weil Gustaf Gründgens im Herbst in Manila sterben wird und das Jahr eine Schwelle zur Studentenrevolte markiert. Ist es ein Anachronismus, die Vier zu diesem Zeitpunkt über »die Entscheidung« diskutieren zu lassen? 22 | Lethen: Die Staatsräte, S. 214ff.
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Gegen Ende der Weimarer Republik war Dezision ein brisantes Thema gewesen. In Zeiten des Kalten Krieges schienen die innerstaatlichen Konflikte auf Eis gelegt. Für den Einzelnen bedurfte es in der BRD kaum einer gefährlichen Entscheidung auf dem Feld des Politischen. In den 60er Jahren trat dann eine Generation auf den Plan, die sich wieder ins Klima der Dezision hineindachte, paradoxerweise: um dem Reich der Väter zu entkommen. Es gab also Gründe, dass sich der Vortrag von Schmitt und das anschließende Geistergespräch – ohne jede Quellenbasis – um Entscheidung drehte. Den Ausgangspunkt bildet ein Fragment von Franz Kafka, das den Titel »Entschlüsse« trägt. Schmitts Faszination der Werke von Franz Kafka, den er schätzte, weil er glaubte, der jüdische Schriftsteller aus Prag habe in seinen Romanen die Absurditäten des »Gesetzesvolkes der Juden« enthüllt, lassen sich in seinen Tagebuchnotizen nach dem Krieg belegen.23 Die Schlusspassage des Kapitels erlaubt jedoch einen Einblick in die Werkstatt des Fälschers. Der Abschied von Plettenberg wird wie folgt beschrieben: »Der eine sieht tastend zustimmend den anderen an, und man trennt sich auf Nim- merwiedersehen. Gleich als Gründgens gegangen war – vor dem Öffnen der Tür hatte er noch ein wenig mit der Schulter an der Tür gelehnt und mit einem Blick, der keinem einzelnen mehr galt, den jetzt verlassenen Ort des Quartetts umfasst – suchte er nach dem Musiker? Doch auch vor dem Haus – Schnee fiel – sah er ihn nicht.« 24
Deutlicher hätte ich den Versuch, durch Irrealitäten der Wirklichkeit näher zu kommen, nicht markieren können. Juni 1963 – Schneefall, selbst im Sauerland meteorologisch unwahrscheinlich. Es handelt sich um eine zurechtgeschnittene Passage aus Kafkas Schlossroman – die Namen sind neu eingesetzt. Gehört Fälschung zum Transformations-Spiel des Anachronismus? Wahrscheinlich ist sie unvermeidlich. Schriftsteller sind nicht haftbar zu machen; denn sie beanspruchen meist keinen Platz auf einem Feld der symbolischen Repräsentation, auf dem die Kriterien von wahr und falsch gelten. Sie wollen sich mit wissenschaftlich unerlaubten Mitteln der Einbildungskraft der Wirklichkeit nähern. Wissenschaftler dagegen sollten sich an die Kriterien halten. Meteorologen erst recht.
23 | Schmitt: Glossarium, S. 148, S. 309, S. 37; Vgl. Lethen, Helmut: Verhaltenslehren der Kälte. Frankfurt a.M. 1994, S. 231-244. 24 | Lethen: Die Staatsräte, S. 297.
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»Soziologie und Literatur grasen auf derselben Weide und ernähren sich von der gleichen Nahrung, das heißt vom menschlichen Erleben der von Menschen konstruierten Welt. […] Wer von den künftigen Archäologen wird von unserem Dasein mehr erfahren? Diejenigen, die Weber oder Durkheim ausgraben, oder jene, die Dickens oder Balzac finden?«1
In der deutschsprachigen Soziologie hat sich in den vergangenen Jahren die Rede von der Zeit- oder Gegenwartsdiagnostik als einem eigenen, typisch soziologischen »Genre« eingebürgert. Das ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen ist es selten, dass Soziologinnen ihre Wissensproduktion und deren Formen freiwillig in einen Assoziationsraum mit literaturwissenschaftlichen Grundbegriffen stellen. Auch wenn beispielsweise der Gattungsbegriff im Inventar des qualitativen Methodenspektrums einen festen wenn auch nicht zentralen Platz behaupten kann, ist die Anwendung literaturwissenschaftlicher Ordnungsbegriffe auf die eigene, wissenschaftliche Textproduktion kaum üblich und wird auch für kein anderes Format praktiziert. Zum anderen zeigt die rege Publikationstätigkeit im Genre der Zeitdiagnostik, in den vergangenen Jahren flankiert von einer fast ebenso intensiven wissens- und wissenschaftssoziologischen Selbstreflektion, einen disziplinären Anspruch auf Zuständigkeit an: Geht es um das große Ganze, den Stand der Dinge bezogen auf kollektive Befindlichkeiten oder auch die Gesellschaft, ist – so zumindest das Selbstverständnis – die Soziologie gefragt. Der hier beanspruchten Deutungsmacht und Deutungskompetenz stehen jedoch durchaus konkurrierende Angebote
1 | Baumann, Zygmunt: Europa ist ein Sprachgewirr. Interview mit Agnieszka Hudnik. In: ZEIT ONLINE (23. September 2011), online verfügbar unter: https://www.zeit.de/ kultur/literatur/2011-09/zygmunt-bauman-interview/komplettansicht, zuletzt eingesehen am 1. Oktober 2018.
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gegenüber, die ebenfalls vor allem zeitdiagnostische Gegenwartsanalysen anbieten. Neben den naheliegenden wissenschaftlichen Nachbardisziplinen der Sozial- und Kulturwissenschaften ist in den vergangenen Jahren aus differenzierungstheoretischer Perspektive insbesondere das Verhältnis soziologischer und massenmedialer Zeitdiagnostik untersucht worden. Dabei wurde zumeist die Übernahme massenmedialer Kommunikationsformen und Routinen in die soziologischen Texte aufgezeigt und kritisch diskutiert. Das Genre der Zeitdiagnose besetzt aber nicht nur hinsichtlich seines Verhältnisses zu den Massenmedien eine Grenzposition. In diesem Beitrag soll ein anderes, ebenso prägendes aber bisher wenig reflektiertes Nachbarschaftsverhältnis in den Fokus gestellt werden, nämlich das von soziologischer Zeitdiagnose und Literatur. Damit rückt eine Grenzziehung in den Mittelpunkt des Interesses, die seit der Gründungsphase der Disziplin prekär ist. Soziologie und Literatur befinden sich seit dem 19. Jahrhundert in einem beständigen Konkurrenzverhältnis um die Darstellungs- und damit verbunden Deutungshoheit in Bezug auf das spezifisch Moderne der modernen Gesellschaft. Die damit verbundenen Grenzziehungen aber auch Übertretungen und Verwischungen wirken auf verschiedene Weise bis in die Gegenwart nach. Im Folgenden möchte ich argumentieren, dass gerade das Genre der soziologischen Zeitdiagnostik immer wieder auf literarische Fiktionen zugreift – und das sowohl als Ressource als auch als Methode. Um diesen Gedankengang zu entfalten, soll zunächst die Nahbeziehung zwischen Soziologie und Literatur kurz skizziert werden, um anschließend unter Einbezug von Fallbeispielen zwei prägende Strategien der zeitdiagnostischen Vereinnahmung der Literatur durch die Soziologie aufzuzeigen.
S oziologie und L iter atur Die Verbindung zwischen Soziologie und Literatur entspringt im 19. Jahrhundert einem Konkurrenzverhältnis um die Deutungshoheit gegenüber den sozialen Umwälzungen der Epoche, die zunehmend bewusst als sozial offene Schwellen- und Übergangszeit wahrgenommen wurde. »Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts streiten Literatur und Soziologie um den Anspruch, […] die angemessene Lebenslehre der Industriegesellschaft zu sein.«2 In Wolf Lepenies’ inzwischen klassischer Studie Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft findet sich eine Kartierung der Grenzkonflikte zwischen Soziologie, Literatur und Naturwissenschaft, in deren Verlauf sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert die Soziologie schließlich 2 | Lepenies, Wolf: Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft. Frankfurt a.M. 2002, S. 1.
Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose
als wissenschaftliche Disziplin institutionalisiert. Dabei schwankt die Soziologie zwischen der Nachahmung der exakten Naturwissenschaften im Sinne einer Sozialphysik und der häufig auf das individuelle Schicksal gerichteten, gefühlsbetonten Intuition der Literatur. Doch die Grenzen zwischen Literatur und exakter Wissenschaft sind nicht festgezurrt. Literaten wie Honoré de Balzac, Gustave Flaubert, H.G. Wells oder Émile Zola reklamieren für ihre naturalistischen oder spekulativen ästhetischen Programme ebenfalls wissenschaftliche Erkenntnisansprüche.3 Und diese werden von den frühen Sozialwissenschaftlern und Sozialwissenschaftlerinnen auch insofern bestätigt, als dass sie den Austausch mit Literaten und Literatinnen suchen und deren Werke als soziologisch aufschlussreiche Quellen erschließen. Schon Friedrich Engels hatte 1888 in seiner Korrespondenz mit der Journalistin und Schriftstellerin Margaret Harkness auf die Vermittlungsleistung Balzacs hingewiesen, dem es gelänge, entlang von Einzelfiguren eine weitreichendere und klarere Analyse der postrevolutionären französischen Verhältnisse zu entfalten, als dies den Statistikern und Ökonomen möglich sei. »He [Balzac, SF] describes how […] the grand dame whose conjugal infidelities were but a mode of asserting herself in perfect accordance with the way she had been disposed of in marriage, gave way to the bourgeoisie, who horned her husband for cash or cashmere; and around this central picture he groups a complete history of French Society from which, even in economic details (for instance the rearrangement of real and personal property after the Revolution) I have learned more than from all the professed historians, economists, and statisticians of the period together.« 4
Auch George Eliot und Herbert Spencer beeinflussten sich in ihren Arbeiten gegenseitig,5 und H.G. Wells engagierte sich in der Fabian Society für eine Etablierung der Soziologie, zu deren eigentlichen Methode er das Verfassen von Utopien ausrief.6 Die Liste ließe sich fast endlos um Beispiele aus allen nationalen Kontexten erweitern, in denen die Soziologie sich um 1900 auf dem Weg der Disziplinierung befindet. Schon in dem Engels-Zitat wird dabei deutlich, dass die sozialwissenschaftliche Rezeption fiktionaler Literatur vor allem von deren zeitdiagnostischem Potential fasziniert ist. Über die Darstellung von Einzelfiguren gelänge es Balzac, so Engels, ein ganzes Gesellschaftspanorama 3 | Ebd., S. XVI. 4 | Engels, Friedrich: Engels an Margaret Harkness (Entwurf), April 1888. In: MEW. Bd. 37. S. 42-44. 5 | Paxton, Nancy L.: George Eliot and Herbert Spencer. Feminism, Evolutionism, and the Reconstruction of Gender. Princeton 2014. 6 | Wells, Herbert G.: The So-Called Science of Sociology. In: The Sociological Review 3 (1906), S. 357-369.
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zu entfalten, das schließlich aufschlussreicher ist als die sozialwissenschaftlichen Analysen. Balzacs eigener Anspruch, formuliert 1842 in der Vorrede zu Die menschliche Komödie, eine der Zoologie analoge Kartierung der sozialen Gattungen vorzunehmen, wird in Engels Rezeption eingelöst und sogar noch erweitert um Rückschlüsse auf die gesamte Gesellschaftsordnung. Die literarische Verbindung subjektiver Einzelschicksale und sozialer Bedingungen wird so zu einer zentralen Erkenntnis- und Inspirationsquelle in der Frühphase soziologischen Denkens. Insbesondere der Roman, der sich auf die Darstellung des Spannungsfeldes zwischen umfassender Kontingenzerfahrung und individueller Bewältigungsstrategie spezialisiert, rückt als moderne Literaturgattung damit nahe an die Soziologie, erfüllt er doch ebenso wie die Soziologie das gestiegene Bedürfnis nach gesellschaftlicher Selbstbeobachtung.7 Die Austauschprozesse und Anspruchskonkurrenzen bleiben dabei allerdings nicht auf den engen Bereich des literarischen Realismus und Naturalismus beschränkt, auch spekulative Formate besetzen die Grenze zwischen Soziologie und Literatur. H.G. Wells, der um 1900 Hoffnungen hegte, auf den ersten Soziologielehrstuhl Englands berufen zu werden, sieht gerade in der Utopie nicht nur eine inspirierende Quelle, sondern gar die eigentliche Methode der Soziologie. »The subjective element, which is beauty, must coalesce with the objective, which is truth; and sociology must be neither art simply, nor science in the narrow meaning of the word at all, but knowledge rendered imaginatively, and with an element of personality that is to say, in the highest sense of the term, literature. […] I think, in fact, that the creation of Utopias – and their exhaustive criticism – is the proper and distinctive method of sociology.« 8
In den genannten Beispielen aus der Gründungsphase der Soziologie scheinen zwei Motivlagen auf, die einen Einbezug literarischer Quellen und Verfahren in den Prozess des Soziologisierens antreiben: Einerseits wird der Literatur und ihren Mitteln zugetraut, die Befindlichkeit des Individuums, sein Erleben und auch Leiden an den sozialen Zwängen besser darstellen und analysieren zu können. Die Form des so literarisch vermittelten Wissens kann, um einen Begriff der Literaturwissenschaftlerin Rita Felski einzuführen, als »deep intersubjectivity« bezeichnet werden. Unter »deep intersubjectivity« versteht sie ein explizit soziales Wissen, das an den konkreten Standpunkt, die spezifische soziale Situiertheit des Subjekts gebunden ist. »Deep intersubjectivity instantiates a view of particular societies from the inside: we come to know something 7 | Vgl. zu diesem Zusammenhang ausführlich am Beispiel des Detektivromans Boltanski, Luc: Rätsel und Komplotte. Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft. Berlin 2013, S. 40ff. 8 | Wells: The So-Called Science of Sociology, S. 365ff.
Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose
of what it feels like to be inside a particular habitus, to experience a world as selfevident.«9 Sowohl Wells Betonung des Elements der »personality« als auch Engels’ Verständnis für das Handeln der Witwe und ihre ökonomische Notlage funktionieren in diesem Sinne. Andererseits rückt aber auch die Fähigkeit der Literatur zum worldbuilding in den Mittelpunkt des soziologischen Interesses. Im abgesicherten Raum des Fiktiven kann die Kontingenzerfahrung der Moderne und die damit verbundene Einsicht in die Gestaltbarkeit der sozialen Verhältnisse im Modus des »als ob« zumindest imaginativ kritisch bearbeitet werden. Engels spielt auf diese Erkenntnisebene zumindest implizit an, wenn er die abstrahierende Kraft der Balzac’schen Darstellung bemerkt, durch welche die Ordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit überhaupt erst deutlich wird. Und Wells Plädoyer für die Utopie ist angetrieben von einem kritischen Impetus. Ihm geht es vor allem darum, über die Ausformulierung von Vorstellungen gelingender Sozialität kritische Reflexionen des gegenwärtigen Zustands überhaupt erst zu ermöglichen. »The institutions of existing states would come into comparison with the institutions of the Ideal State, their failures and defects would be criticized most effectually in that relation«.10 Beide Formen eines vorrangig literarisch erzeugten Wissens über das Soziale, sowohl die tiefe Intersubjektivität als auch das imaginäre worldbuilding, prägen das zeitdiagnostische soziologische Denken über die Gründungsphase der Soziologie hinaus bis in die Gegenwart, wie im Folgenden aufgezeigt werden soll.
S oziologische Z eitdiagnose und L iter atur Den titelgebenden Begriff der Zeitdiagnose haben wir bisher zwar als eigenständiges soziologisches Genre erwähnt, aber noch nicht näher bestimmt. Für die bisherige, historisch orientierte Argumentation war eine engere Definition zunächst auch nicht nötig. Das Selbstverständnis der Soziologie, geprägt auch in Abgrenzung zu bereits fest etablierten Fächern wie Philosophie und Geschichte, ruhte und ruht bis heute auf den beiden Säulen sowohl Gegenwarts- als auch Wirklichkeitswissenschaft zu sein. Zeitdiagnostische Analysen und Ausführungen, die sich um eine Erfassung des jeweils gegenwärtigen Zustands der Gesellschaft bemühen, waren daher seit den Klassikern des Fachs Bestandteil der soziologischen Wissensproduktion. Durkheims Warnungen vor der Anomie moderner Gesellschaften, Simmels Schilderungen des Großstadtlebens, Plessners Verteidigung der Gesellschaft vor den aufziehenden 9 | Felski, Rita: Uses of Literature. Oxford 2008, S. 92. 10 | Wells: The So-Called Science of Sociology, S. 368.
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politisierten Gemeinschaftsideologien der 1920er Jahre: Immer ging es auch darum, das besondere Kennzeichen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation, durchaus versehen mit warnenden Untertönen, aufzuzeigen. Das generelle soziologische Unterfangen, gesamtgesellschaftliche »Standortbestimmungen in kritischen Momenten« zu formulieren, wird erst im Verlauf der 1970er und 80er Jahre zu einem eigenen Genre verdichtet.11 Dessen Eigenschaften werden in der Diskussion vor allem durch die so fast zu einer Art Idealtyp stilisierte Publikation Risikogesellschaft12 von Ulrich Beck bestimmt: Zeitdiagnosen zeichnen sich durch einen Kommunikationsstil aus, der stets die ganze Gesellschaft adressiert (und nicht klar umrissene empirische Ausschnitte), ohne dabei den allgemeinen Geltungsanspruch von Gesellschaftstheorien zu teilen. Vielmehr wird durch die Überbetonung gegenwärtiger, als kritisch bewerteter Entwicklungen eine starke Generalisierung bei gleichzeitiger Verengung auf jeweils nur einen Aspekt gesellschaftlicher Dynamik vorgenommen – eine Strategie, die sich vor allem in der genretypischen Bildung von neu komponierten Gesellschaftsbegriffen niederschlägt (Risikogesellschaft, Multioptionsgesellschaft, Externalisierungsgesellschaft, Abstiegsgesellschaft etc. pp.). Des Weiteren werden als Genremarker angeführt: Ansprache eines generellen, nicht fachinternen Publikums und daraus resultierend die Orientierung an massenmedialen Formen der Aufmerksamkeitslenkung durch die Betonung des Neuigkeitswertes sowie von Diskontinuität und Negativität der analysierten sozialen Dynamik.13 Auch wenn diese hier nur sehr verkürzt wiedergegebene wissenssoziologische Auseinandersetzung mit dem Genre Zeitdiagnose wichtige Funktionsweisen und Eigenschaften des zeitdiagnostischen Denkens reflektiert, verengt sie den zeitdiagnostischen Diskurs damit doch zu stark auf nur eine, zudem vor allem im deutschsprachigen Raum vorherrschende, Spielart soziologischer Zeitdiagnostik. Gerade in jüngerer Zeit scheint die Popularisierungsfunktion von Zeitdiagnosen, also die soziologische Ansprache eines allgemeinen, nicht fach- und wissenschaftsinternen Publikums, vor allem durch Bücher zu gelingen, die das geschilderte Schema verlassen und wieder stärker die Nähe zur Literatur suchen. Vor allem die Renaissance ethnographischer Studien, die genau im zeitdiagnostischen Sinne als soziologische Standortbestimmungen der Gegenwart breite öffentliche Debatten entfachen und zugleich auf der 11 | Schimank, Uwe: Soziologische Gegenwartsdiagnosen – Zur Einführung. In: Soziologische Gegenwartsdiagnosen I. Hg. v. Uwe Schimank u. Ute Volkmann. Wiesbaden 2000, S. 9-22, hier S. 10. 12 | Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M. 1986. 13 | Osrecki, Fran: Die Diagnosegesellschaft. Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität. Bielefeld 2011, S. 317ff.
Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose
literaturnahsten Methode14 soziologischen Forschen und Schreibens beruhen, zeugt davon: Arlie Hochschilds Strangers in Their Own Land, Matthew Desmonds Evicted oder Didier Eribons Rückkehr nach Reims gehören zu den populärsten soziologischen Publikationen der jüngeren zeitdiagnostischen Debatte – und das nicht zuletzt wegen ihrer literarischen Qualitäten.15 Dass sich diese Reaktualisierung des Nahverhältnisses zwischen Soziologie und Literatur nicht nur implizit durch eine methodische Nähe vollzieht, sondern explizit als Strategie verfolgt wird, soll im Folgenden verdeutlicht werden. Während die angesprochene Konjunktur ethnographischer Zeitdiagnosen dabei vor allem in der Tradition einer Erkenntnisproduktion durch »deep intersubjectivity« steht, lassen sich aber auch neue Anschlüsse an die utopistische Tradition finden.
Tiefe I ntersubjek tivität Die schon bei Engels angesprochene zeitdiagnostische Fähigkeit der Literatur, in der Beschreibung der Figuren das subjektive Erleben eines immer auch sozial bestimmten Standortes nachvollziehbar zu machen, bleibt über die Gründungsphase der Soziologie hinaus ein wichtiger Kontaktpunkt zwischen Literatur und Soziologie. Trotz der klarer werdenden Differenzierung von Wissenschaft/Soziologie und Kunst/Literatur wird die von Seiten der Soziologie projizierte Überlegenheit der literarischen Erkenntnismöglichkeiten immer wieder bemerkt und einbezogen. C.W. Mills etwa konstatiert in seinem aktuell wieder viel zitierten Essay zur soziologischen Imagination bereits 1959, dass die individuelle wie auch kollektive Befindlichkeit der Gegenwart vor allem in literarischen Zeugnissen reflektiert wird: »In England, for example, sociology as an academic discipline is still somewhat marginal, yet in much […] fiction […] the sociological imagination is very well developed indeed. The case is similar for France: both the confusion and the audacity of French re flection since World War Two rest upon its feeling for the sociological features of man’s fate in our time, yet these trends are carried by men of letters rather than by professional sociologists.«16
14 | Vgl. Alkemeyer, Thomas: Literatur als Ethnographie. Repräsentation und Präsenz der stummen Macht symbolischer Gewalt. In: ZQF 8 (2007), S. 11-31. 15 | Hochschild, Arlie R.: Strangers in Their Own Land. Anger and Mourning on the American Right. New York 2016; Desmond, Matthew: Evicted: Poverty and Profit in the American City. New York 2016; Eribon, Didier: Rückkehr nach Reims. Berlin 2016. 16 | Mills, C. Wright: The Sociological Imagination. Oxford 2000, S. 19.
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Und auch Pierre Bourdieu, der stets betonte, wie stark seine soziologische Arbeit durch das literarische Werk Gustave Flauberts inspiriert wurde, betont genau dieses Vermögen der Literatur, die tiefe Intersubjektivität des Erlebens als individuellen Ausdruck einer (auch) sozial determinierten Position lesbar zu machen: »Was literarisches Schreiben vom wissenschaftlichen Schreiben unterscheidet: nichts belegt es besser als das ihm ganz eigene Vermögen, die gesamte Komplexität einer Struktur […] die die wissenschaftliche Analyse mühsam auseinanderfalten und entwickeln muss, in der konkreten Singularität einer sinnlichen wie sinnlich erfassbaren Gestalt und eines individuellen Abenteuers […] zu konzentrieren und zu verdichten.«17
Insbesondere der bereits erwähnte aktuelle Erfolg ethnographisch inspirierter Zeitdiagnosen, die das subjektive Erleben in den Mittelpunkt stellen, beruht auf der von Bourdieu betonten »konkreten Singularität«, die den abstrakten sozialen Prozessen und Strukturen eine sinnliche Gestalt gibt. Der wohl prominenteste und im deutschsprachigen Raum erfolgreichste Fall ist Didier Eri bons Rückkehr nach Reims sowie der als Fortsetzung zu lesende Band Gesellschaft als Urteil. Beide Bücher stellen die Familiengeschichte des Autors sowie seinen eigenen Bildungsaufstieg aus der von ihm so benannten französischen Arbeiterklasse dar. Eribon verarbeitet seinen Lebenslauf als sozialer Aufsteiger und die daraus resultierenden Entfremdungserfahrungen gegenüber seiner Familie ebenso wie den Erfolg des Front National in Frankreich in seinem Herkunftsmilieu. Diese Verzahnung der individuellen Biographie mit zeitdiagnostischen Fragestellungen gelingt dabei vor allem durch die Verwischung der Grenze zur Literatur, und das in zweifacher Hinsicht: Eribon schreibt eine Autobiographie, also keine wissenschaftliche, sondern eben literarische Textgattung. Und er nutzt literarische Quellen wie beispielsweise die Werke der französischen Autorinnen Annie Ernaux oder Assia Djebar als wichtige Referenzen, während traditionelle soziologische Empirie eher zurückhaltend zitiert wird.18 Diese doppelte Literaturnähe Eribons verbindet Gegenwartsliteratur und Gegenwartsanalyse zu einer Art Hybridgenre mit zeitdiagnostischen Ambitionen, das der Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase als »Autosoziobiographie« beschreibt.19 Die sozialpolitischen Diagnosen Eribons verschmelzen dabei untrennbar mit seinen subjektiven Erfahrungen und statten seine Ana-
17 | Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a.M. 2010, S. 53. 18 | Hierzu vgl. vor allem Kapitel II in Eribon, Didier: Gesellschaft als Urteil. Berlin 2017. 19 | Spoerhase, Carlos: Politik der Form. Autosoziobiografie als Gesellschaftsanalyse. In: Merkur 71 (2017), S. 27-37.
Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose
lysen so zugleich mit einer Art »ontologischer Dignität«20 aus. Auch die begleitende Präsentation seiner Arbeit stellt gezielt die Nähe zur Literatur her, denn viele seiner Lesungen bestreitet Eribon mit Edouard Louis, Schriftsteller und ehemaliger Student Eribons, der seine eigenen Erfahrungen als sozialer Aufsteiger in Form ebenfalls sehr erfolgreicher Romane verarbeitet.21 Aus dieser Ineinanderfaltung biographischen Erlebens, literarischen Beschreibens und soziologischer Analyse entsteht gerade aufgrund der persönlichen Betroffenheit des Autors Eribon dabei zugleich ein Geltungsüberschuss, wird doch die angebotene Zeitdiagnose durch die eigene Biographie gleichsam »bezeugt«. Dass Eribon diesen Effekt der Literarisierung seiner soziologischen Diagnose durchaus selbst strategisch zu reflektieren weiß und als Vorteil gegenüber konventionellen soziologischen Erkenntnisstrategien wertet, wird in folgender Interviewpassage deutlich, in der er unter Rückbezug zu Bourdieu feststellt: »Ich würde sagen, ich bin authentischer, und was ich in diesen Institutionen [gemeint ist an dieser Stelle das Collège de France, SF] zu sagen habe, ist gründlicher und präziser als das, was die meisten anderen dort von sich geben.« 22
Damit wird die tiefe Intersubjektivität im Rahmen der von Eribon formulierten Zeitdiagnose gleichzeitig zu einem Instrument, alternative Deutungen oder soziologische Lesarten der von ihm beschriebenen politischen Verschiebungen schon durch die gewählte Form zu entkräften. Die durch die Literaturnähe gegebene Möglichkeit, das eigene subjektive Erleben in den Mittelpunkt der Analyse zu rücken, immunisiert diese so auch gegenüber eventuell auftretenden kritischen Rückfragen.
20 | Balke, Friedrich: Der Zwang des »Habitus«: Bourdieus Festschreibung des subjektiven Faktors. In: Link, Jürgen/Neuendorff, Hartmut (Hg.): »Normalität« im Diskursnetz soziologischer Begriffe. Heidelberg 2003, S. 135-149, hier S. 142. 21 | Zur Dokumentation einer solchen gemeinsamen Lesung im Literarischen Colloquium Berlin siehe https://www.deutschlandfunkkultur.de/didier-eribon-und-edou ard-louis-im-lcb-die-literatur-als.1270.de.html?dram:ar ticle_id=398401, zulet z t eing esehen am 15.10.2018. Schon die Begrüßung der Moderatorin des Abends lässt keinen Zweifel daran zu, dass zwischen der literarischen und soziologischen Position epistemologisch keine sinnvolle Differenzierung möglich sei: »Edouard Louis schreibt dezidiert Romane, die kein Fünkchen Fiktion enthalten und Didier Eribon mischt seine soziologische Analyse mit sehr literarischen Erinnerungsmomenten.« 22 | Rehberg, Peter: Interview mit Didier Eribon. In: Merkur 71 (2017), S. 17-27, hier S. 17.
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U topie Kommen wir zur zweiten Strategie des zeitdiagnostischen Rückgriffs auf literarische Quellen, also zu Literatur als Instrument, die Kontingenz der sozialen und gesellschaftlichen Ordnung zu thematisieren. Wells Aufruf, die Formulierung von Utopien zur zentralen Methode der Soziologie zu machen, verhallte weitgehend ungehört. Mit der Verfestigung der Grenzen zwischen Literatur und Soziologie wurde das spekulative und utopische Schreiben mehr und mehr zu einem literarischen Genre, dem nicht zuletzt Wells selbst heute seinen Status als Klassiker der englischsprachigen Literatur verdankt. Dennoch finden sich auch in Bezug auf die utopische Tradition soziologischen Denkens bis heute grenzüberschreitende und -verwischende Aneignungen durch die sozialwissenschaftliche Zeitdiagnostik. Einer ihrer prominentesten Fürsprecher war Zygmunt Bauman. Er gehört zu den soziologischen Zeitdiagnostikern, die auch über hundert Jahre nach H.G. Wells’ Aufruf einen soziologischen Erkenntnisgewinn durch Utopien behaupten. »Ich könnte meinerseits eine Aussage für Literatur formulieren, die mir nah am Herzen liegt: Es gibt kein ›There Is No Alternative‹. Man kann auch anders. Literatur zeigt nämlich andere Lösungen und überschreitet die Grenzen des bisher Bekannten. Sie kann sich also das vornehmen, was für einen Soziologen sehr riskant wäre. Im Unterschied zur Soziologie braucht sie nicht die statistischen Tabellen zu berücksichtigen und muss nicht vortäuschen, dass das, was sie verkündet, für immer und ewig gilt.« 23
Bauman selbst referierte immer wieder utopische Quellen, um an die dort imaginierten Gesellschaftsordnungen kritische Kontingenzanfragen zu stellen und bemühte sich auch um eine theoretische Reflektion und Verankerung des Utopischen im Werkzeugkasten der Soziologie.24 Aus zeitdiagnostischer Perspektive geht es in diesen Bezugnahmen auf utopische Literatur einerseits um den Import einer epistemologischen Haltung, die dem hochspezialisierten Wirklichkeitssinn des Faches einen Möglichkeitssinn in kritischer Absicht zur Seite stellt. Auch Immanuel Wallersteins Versuche, eine soziologische Utopistik zu etablieren, verstehen sich in dieser Tradition. Es geht ihm darum, in einem zunehmend als alternativlos wahrgenommenen Kapitalismus zumindest Möglichkeitsräume imaginativ zu behaupten und auf Realisierungsmöglichkeiten hin zu überprüfen.
23 | Baumann: Europa ist ein Sprachgewirr. 24 | Bauman, Zygmunt: Utopia with no topos. In: History of the human sciences 16 (2003), S. 11-25.
Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose »Utopistik ist eine ernsthafte Einschätzung historischer Alternativen […]. Es geht um eine nüchterne und realistische Bewertung menschlicher Gesellschaftssysteme, der ihnen auferlegten Beschränkungen und jener Bereiche, die menschlicher Kreativität offen stehen. Es geht […] darum, wie eine alternative, glaubhaft bessere und historisch mögliche – aber alles andere als sichere – Zukunft aussieht.« 25
In einem ähnlichen Sinne, jedoch nicht allein als eine Erweiterung der methodischen Instrumente zeitdiagnostischen Denkens um die Option des Konjunktivischen, sondern unter konkretem Einbezug literarischer Quellen, argumentiert der Sozialtheoretiker McKenzie Wark. In seinem Werk Molecular Red, das zeitdiagnostische Exkurse mit grundlegenden theoretischen Überlegungen zu einer Sozialtheorie des Anthropozän verbindet, spielt spekulative Literatur als Inspirationsquelle eine zentrale Rolle.26 Wark entwickelt seine theoretischen Überlegungen zum Umgang mit der aktuellen Herausforderung des Klimawandels und der Transformation der Umwelt durch menschliche Einflüsse in Anlehnung an die Science-Fiction-Utopien Kim Stanley Robinsons. Die MarsTrilogie Robinsons, in der in drei Büchern, Roter Mars,27 Grüner Mars,28 Blauer Mars,29 die Geschichte einer menschlichen Mars-Besiedlung, angeführt durch ein Team aus 100 Wissenschaftlerinnen, erzählt wird, ist die Hauptquelle in Warks Überlegungen zur Neuorganisation des Verhältnisses von Mensch und Natur im 21. Jahrhundert. Dabei bricht Wark explizit mit der Konvention, Utopien nicht als umsetzungsbezogene, alternative soziale Entwürfe zu verstehen. Vielmehr liest er Robinsons kritische Utopie30 einer Marsbesiedlung, in der verschiedene Wissenschaftler unterschiedliche Formen des Zusammenlebens in einzelnen Communities organisieren, als implizite Sozialtheorie, als »realism of the possible« oder auch »meta-utopia, a kind of writerly problem-solving practice for combining different visions of an endurable future«.31 In diesem Kontext interessant ist, dass Wark diesen Zugriff auf spekulative, utopische Literatur geradezu als Gegenstrategie zu jenen Rezeptionen begreift, die sich auf der Suche nach tiefer Intersubjektivität an die Literatur wenden. Angesichts aktueller gesamtgesellschaftlicher ökologischer Herausforderungen benötige
25 | Wallerstein, Immanuel: Utopistik. Historische Alternativen des 21. Jahrhunderts. Wien 2002, S. 7f. 26 | Wark, McKenzie: Molecular Red. Theory for the Anthropocene. New York 2016. 27 | Robinson, Kim Stanley: Roter Mars. München 1997. 28 | Robinson, Kim Stanley: Grüner Mars. München 1997. 29 | Robinson, Kim Stanley: Blauer Mars. München 1999. 30 | Zur genaueren Bestimmung des Terminus »critical utopia« vgl. Moylan, Tom: Scraps of the Untainted Sky: Science Fiction, Utopia, Dystopia. Boulder 2000, S. 188. 31 | Wark: Molecular Red, S. 14.
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es, so Wark, nicht noch mehr Innenschau nach dem Vorbild des realistischen, bürgerlichen Romans. »The novel has not adapted to new probabilities. The bourgeois novel is a genre of fantasy fiction smeared with naturalistic details – filler – to make it appear otherwise. It excludes the totality so that bourgeois subjects can keep prattling on about their precious ›inner lives‹.« 32
Hier steht gerade die Absage an das Innerlichkeitsprogramm des realistischen Romans im Zentrum von Warks Interesse. Es geht ihm um die Öffnung des Denkraums möglicher sozialer Ordnungen durch eine in die Zukunft projizierte, imaginative Verhandlung zwischen diesen Ordnungen. Spekulative Literatur wird hier zum Instrument, die Kontingenz gesellschaftlicher Verhältnisse thematisierbar und in ihren imaginierten Alternativen verhandelbar zu machen.
S chluss Damit sind die beiden zentralen inhaltlichen Momente eines Einbezugs literarischer Quellen in soziologisches Denken benannt: Einerseits wird Literatur zur privilegierten Wissensquelle, um die Dimension des individuellen oder subjektiven Erlebens sozialer Strukturen, Kräfte oder Zwänge soziologisch einzubeziehen. Andererseits wird die Fähigkeit der Literatur zum utopischen worldbuilding als Ressource der Gesellschaftskritik aktiviert. Im Prozess des Soziologisierens stellt Literatur damit jeweils unterschiedliche Formen von Wissen bereit: Das Bedürfnis nach tiefer Intersubjektivität nutzt vor allem den realistischen Roman als Informationsquelle, um eine qualitativ schwer zu erschließende tiefe und umfassende Innerlichkeit oder subjektive Erfahrung von Sozialität zugänglich zu machen. Demgegenüber stellt das spekulative, utopische worldbuilding ein Wissen über die Kontingenz der gesellschaftlichen Ordnung zur Verfügung, dass diese nicht einfach behauptet, sondern imaginativ konkretisiert. Beide Strategien, so konnte die Diskussion der genannten Beispiele zeigen, erleben in der gegenwärtigen kritischen Zeitdiagnostik eine Renaissance. Zumindest in der zeitdiagnostischen Praxis der Soziologie erscheint es daher angezeigt, die strikte differenzierungstheoretische Vorstellung einer festen und eindeutigen Grenze zwischen Literatur und Soziologie nicht nur mit Blick auf die historische disziplinäre Gründungserzählung zu hinterfragen. 32 | Wark, McKenzie: On the Obsolescence of the Bourgeois Novel in the Anthropocene. Versobooks Blog (16. August 2017), online verfügbar unter: https://www.versobooks. com/blogs/3356-on-the-obsolescence-of-the-bourgeois-novel-in-the-anthropocene, zuletzt eingesehen am 11.10.2018.
Zeitdiagnosen als ethisch‑politische Strategien »Bilderflut« in Bildwissenschaft und Visual Culture Studies Hanno Depner
Als narrative Erweiterungen einer phantasielosen Vermessung von Gesellschaft besitzen Zeitdiagnosen Eigenschaften, die sich plakativ als Vor- und Nachteile beurteilen lassen. Auf der Seite der Vorteile wäre jene Funktion zu verbuchen, die Fran Osrecki als besondere Eignung zur Kommunikation beschreibt: Zeitdiagnosen ermöglichen in außergewöhnlichem Maße die Verständigung sowohl innerhalb der Wissenschaft mit ihren verschiedenen Disziplinen als auch zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit.1 Jonas Lüscher spitzt die zeitdiagnostische Narration sogar als Alternative zur Quantifizierung und »Antidot« einer »quantitativen Blendung der Gegenwartsgesellschaft« zu. Zeitdiagnosen ermöglichen dichte Beschreibungen, die Phänomenen auf die Spur kommen, welche bloßer Quantifizierung gleichsam durch die Maschen schlüpfen.2 Auf der anderen Seite wäre die »narrative Beliebigkeit« von Zeitdiagnosen zu verbuchen. Zeitdiagnosen haben ein Verifikationsproblem, wie Walter Reese-Schäfer betont.3 Einzig bei Prognosen – und hier auch nur im Nachhinein – lässt sich feststellen, ob eine Zeitdiagnose richtig oder falsch lag. Generell aber gibt es keine Möglichkeit der Verifikation, egal ob oder wann eine Zeitdiagnose auf allgemeine Zustimmung oder Ablehnung stößt. Es kann etwa plausibel gemacht werden, dass das Paradigma »Kälte« eine Gesellschaft bis
1 | Vgl. den Beitrag von Fran Osrecki in diesem Band, dessen These unter I (»Kommunikationspolitische Dimensionen«) anhand der Bildwissenschaft expliziert wird. 2 | Vgl. den Beitrag von Jonas Lüscher in diesem Band. 3 | Vgl. den Beitrag von Walter Reese-Schäfer in diesem Band.
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in die Verhaltensweisen ihrer Mitglieder prägt – aber wie sollte diese Diagnose als die einzig richtige verifiziert werden?4 Es läge nahe, die vorteilhafte Engmaschigkeit von Zeitdiagnosen ihrem unvorteilhaften Verifikationsproblem entgegenzustellen, gemäß einer Logik, derzufolge man nicht alles haben kann, nämlich sowohl feingliedrige als auch verifizierbare Gesellschaftsanalysen. In meinem Aufsatz möchte ich hingegen eine andere Sichtweise vorschlagen und die eingeschränkte Möglichkeit zur Verifikation von Zeitdiagnosen als weiteren Vorteil – und jedenfalls nicht als Makel – deuten. Gerade weil nämlich die Narrativität von Zeitdiagnosen mit (nicht verifizierbaren) Wertungen einhergeht, drängt sie kritische Rezipienten zu einem autonomen Urteil. Damit wird deutlicher als von Faktensammlungen und Statistiken die selbstaufklärerische Aufgabe von Wissenschaft umgesetzt und die passive Haltung bloßen Wissenschaftskonsums herausgefordert. Die reine Aufzählung – um zum Untersuchungsgebiet meines Aufsatzes zu kommen – neuer Produktions- und Distributionsbedingungen von Bildern zielt nicht so deutlich und effektiv auf eine ethisch-politische Selbstpositionierung oder gar Verhaltensänderung wie deren Darstellung als »Bilderflut«. Mit dieser drastischen Beschreibung wird das Erschrecken über einen krisenhaften Anstieg von Visuellem zum Ausdruck gebracht. Etwa seit den 1980er Jahren wirkt die Zeitdiagnose »Bilderflut« dem Feuilletonleser vertraut als mehr oder weniger lustvoll dargestelltes Untergangsszenario nach dem Ende der Gutenberg-Galaxis oder als Warnung beginnender Illiteralität angesichts der Ausbreitung »visueller Medien« und fortschreitender Popkulturalisierung. Zunehmend gelangten ganz neue Dimensionen der Bildproduktion, -manipulation und -distribution ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. In den stetig weiter in die Privatsphäre reichenden Kommunikationsmedien machten sich Bilder als immer stärker präsentes Output ganzer »Industrien der Sichtbarkeit«5 bemerkbar: Auf Monitoren und in Druckerzeugnissen zeigten sich Bilder größer, bunter, häufiger, leichter herzustellen, zu verändern, zu teilen. »Bilderflut« ist eine treffende und beliebte, wenn auch nicht die einzige Metapher zur Beschreibung dieses Phänomens, das als auffälliges Symptom einer skeptisch betrachteten Gegenwartskultur im medialen Wandel ins Auge sticht. Die Redeweisen von einer Flut der Bilder beziehen sich vorranging – überwiegend mit negativen Konnotationen – auf Erzeugnisse der Massenkultur,6 4 | Auch Helmuth Lethens von seinen Verhaltenslehren der Kälte und Die Staatsräte inspirierter Vortrag auf der Tagung »Deutungsmacht von Zeitdiagnosen« (27.01.2018) provozierte solche Reaktionen. 5 | Brosch, Renate: Bilderflut und Bildverstehen. Neue Wege der Kulturwissenschaft. In: Themenheft Forschung: Kultur und Technik Nr. 4 (2008), S. 70-78, hier S. 70. 6 | Vgl. die kleine Auswahl von Flut-Metaphern in wissenschaftlichen Texten: »Bilderflut« (in: Bild(er) der Welt(en). Unüberschaubarkeiten zwischen Bilderflut und An-
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sie werden allerdings oft auch mit einem – positiv dargestellten – Anstieg von Bildern in den Naturwissenschaften in Verbindung gebracht, einer Aufwertung der epistemischen Bedeutung von Bildern sowie der gestiegenen kritischen Aufmerksamkeit für Bilder in Diskursen der Öffentlichkeit wie der Geisteswissenschaften,7 die eine Wende zur Bildlichkeit markieren. Im Folgenden stelle ich zunächst einige Positionen vor allem der (deutschsprachigen) Bildwissenschaft zur »Bilderflut« vor. Besonders interessiert mich die Funktion der Rede von einer singulären Proliferation von Bildern im Kontext von Gottfried Boehms Feststellung eines »iconic turn«. Dabei zeige ich Bildwissenschaft – gegen den an sie gerichteten Vorwurf, die Rolle von Bildern ungerechtfertigt auszuzeichnen – als Projekt der Aufklärung, dessen Nutzung von Zeitdiagnosen keine Schwäche darstellt, sondern eine grundsätzlich sinnvolle, ethisch-politische Strategie zur Selbstpositionierung von Rezipienten (vgl. II.1). Ich zeichne schließlich nach, wie die unterschiedlichen Handhabungen der Zeitdiagnose »Bilderflut« mit diesem mehr oder weniger gelungenen Effekt zusammenhängt, und zwar anhand der Kontrastierung des Ansatzes von Boehm mit demjenigen von W.J.T. Mitchell (vgl. II.2). Im selben Jahr (1942) geboren, reagierte Mitchell mit seinem »pictorial turn« in den Visual Culture Studies doch ganz anders auf akute Bildphänomene und -diskurse.
I. K ommunik ationspolitische D imensionen der Z eitdiagnose »B ilderflut« I.1 Zur Etablierung einer neuen Disziplin Seit Boehm in den späten 1970er Jahren einer damals nicht absehbaren Bildwissenschaft den Boden zu bereiten begann, lässt sich in den Naturwissenschaften eine Ausbreitung ganz neuer Bilder beobachten, die zu Hightechschauungsverlust. Hg. v. Gerda Breuer u. Thomas Schleper. Frankfurt a.M. 2000, S. 7; Wege zur Bildwissenschaft. Hg. v. Klaus Sachs-Hombach. Köln 2004, S. 102; Boehm, Gottfried: Die Wiederkehr der Bilder. In: Was ist ein Bild? Hg. v. dems. München 1994, S. 11-38, S. 35; Mitchell, William J.T.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur. München 2012, S. 199), »Medienflut« (bei: Boehm (Hg.): Was ist ein Bild? S. 77), »Flut an Visualisierungen« (bei: Liebsch, Dimitri/Mößner, Nicola (Hg.): Visualisierung und Erkenntnis. Köln 2012, S. 10), »massenhafter Bildgebrauch« und »Bilderlust« (bei: Boehm, Gottfried: Jenseits der Sprache? Anmerkungen zur Logik der Bilder. In: Iconic Turn. Die Neue Macht der Bilder. Hg. v. Christa Maar u. Hubert Burda. Köln 2004, S. 2843, S. 35). 7 | Schnettler, Bernt/Pötzsch, Frederik S.: Visuelles Wissen. In: Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Hg. v. Rainer Schützeichel. Konstanz 2007, S. 472f.
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Instrumenten avancieren, darunter Magnetresonanztomographien, die mit dreidimensionalen Darstellungen aus dem Körperinneren Diagnosen und Therapieangebote verbessern oder astrophysische Aufnahmen neuer Radioteleskope, die mit errechneter Farbigkeit neue Arten der Analyse ermöglichen (und nebenbei die staunende Öffentlichkeit verzücken, der manchmal eigens nach ästhetischen Kriterien weiterbearbeitete Bilder vorgesetzt werden). Boehm nimmt solche technischen Bilder dezidiert und weit mehr als die Bilder der Massenkultur zum Anlass, einen Dialog zwischen an Bildern interessierten Disziplinen anzuregen und für ein neues, interdisziplinäres Forschungsgebiet zu werben, das unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen mindestens Erkenntnistheorie (beziehungsweise erkenntniskritische Theorien wie Phänomenologie und Hermeneutik) mit Kunstgeschichte (und Anthropologie, Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Zeichen- und Medientheorie, Filmwissenschaft und vielen mehr) ins Gespräch bringt. Die Schwierigkeiten dieses Unternehmens und die Vorbehalte der einzelnen Disziplinen, ihre Grenzen zu öffnen und damit Erkenntnisdefizite einzuräumen, lassen sich vorstellen.8 Im Rückblick schildert Boehm zudem die Bedingungen der »Isolation«, unter denen er seine frühen Studien betrieb.9 Boehms häufig mit der Bilderflut der Massenmedien gepaarter Hinweis auf die »Immigration des Bildes in die Naturwissenschaften«10 kann vor diesem Hintergrund durchaus auch als wissenschaftspolitisches Manöver verstanden werden, das die Dringlichkeit einer
8 | Vgl. etwa Boehm, Gottfried: Das Paradigma »Bild«. Die Tragweite der ikonischen Episteme. In: Bilderfragen. Hg. v. Hans Belting. München 2007, S. 82. 9 | Boehm, Gottfried: Iconic Turn. Ein Brief. In: Bilderfragen. Hg. v. Hans Belting. München 2007, S. 27-36; hier S. 28. 10 | Boehm: Das Paradigma »Bild«, S. 78. Vgl. auch Boehm: Jenseits der Sprache? S. 29 (»Die Lage [des Bildes] hat sich zwischenzeitlich dramatisch geändert. Im Laboratorium der Moderne sind bis dahin unbekannte Bilder entstanden. Die digitale Revolution entwickelte globale ikonische Kommunikationsmittel, und bildgebende Verfahren sorgen dafür, dass die Naturwissenschaften mit Bildinstrumenten Erkenntnisse gewinnen, die sich nur auf diesem Wege erzielen lassen.«); Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 31 (»Völlig neu ist die Entstehung bildgebender Verfahren, die dazu geführt hat, dass im Zentrum harter Wissenschaften kognitive Prozesse mit ikonischen Mitteln vorangetrieben werden, das Bild im wissenschaftlichen Alltagsgeschäft eine Rolle spielt, die noch vor einer Generation völlig undenkbar gewesen wäre.«) oder Boehm: Das Paradigma »Bild«, S. 77. (»Besondere Aufmerksamkeit verdient zuletzt aber das neue Verhältnis von Bild und Wissen, wie es sich vor allem durch die rechnergestützten, bildgebenden Verfahren etabliert hat. In toto: Wir erleben die Dämmerung einer alten Welt, in der sich die Bilder ehedem aus der Bedeutsamkeit einer ihnen vorauslaufenden Ordnung des Realen legitimiert hatten.«)
Zeitdiagnosen als ethisch-politische Strategien
Bildwissenschaft und die Neuausrichtung der daran beteiligten Disziplinen evoziert. Als Zeitdiagnose, die wissenschaftspolitisch eine Neuausrichtung nahelegt – gleichsam als therapeutische Konsequenz –, steht der krisenhaft und darüber hinaus singulär gezeichnete Anstieg von Visuellem freilich auf empirisch tönernen Füßen. Zwar lassen sich die Symptome nicht sinnvoll bestreiten: dass Bilder dank neuer technischer Möglichkeiten leichter herzustellen, zu verbreiten, zu manipulieren sind; auch dass sie die Dominanz der Schrift als Medium hochkultureller Kommunikation infrage stellen (ohne dass damit eine eigene Dominanz der Bilder angenommen werden müsste); und dass sie Einsatzmöglichkeiten bekommen (beispielsweise in der Medizin), die es früher nicht gab. Doch lässt sich aus diesen verifizierbaren Symptomen ebensowenig eine singuläre Krisis ableiten – wie könnte ein gegenwärtiger Umschlag ins Unerträgliche oder ein unwiederbringlicher Verlust verifiziert werden? – wie ein Anfangszeitpunkt jener Flut angegeben werden kann. Vor den oben erwähnten MRTs finden sich andere Bildgebungsverfahren der Medizin wie EKG oder Ultraschallaufnahme, die mindestens bis zu Röntgenbildern zurückreichen, zu denen aber auch anatomische Schautafeln gezählt werden können. Sicher ist die Zunahme von Visuellem auf die »Digitalisierung« zurückzuführen, aber auch schon die Erfindung des Fernsehens führte zu einem Produktionsanstieg von Bildlichkeit, davor die Erfindung des Films, der Fotographie und des Massendrucks (auch von Buchillustrationen). Gombrich lässt die Bilderflut am Ende des 18. Jahrhunderts beginnen.11 Spricht nicht schon der Einsatz bildlicher Darstellungen bereits im Mittelalter gegen die Annahme einer exklusiv gegenwärtigen »Bilderflut«?12 Von ikonoklastischen Episoden (byzantinischer Bilderstreit, protestantische Bilderstürme) abgesehen, zeigt sich Geschichte überhaupt als Akkumulation und Ausdifferenzierung von Bildern. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass die jüngste Zunahme von Bildern mit einer Zunahme von Texten einhergeht und die allgemeine Lesefähigkeit sogar zugenommen hat. Boehms emphatische Diagnose, dass »das Bild im wissenschaftlichen Alltagsgeschäft eine Rolle spielt, die noch vor einer Generation völlig undenkbar gewesen wäre«,13 erscheint denn auch Mitchell in einem Briefwechsel der zwei Granden der Bildtheorie zu riskant: Der Sachverhalt hinter dieser Bemerkung »stellt sich in meiner Erfahrung etwas anders dar. Bilder waren in den Sciences immer von Bedeutung«.14 Mit dem Verweis auf die Rolle von Bildern in Mathematik und Geometrie, die schon in Platons Phaidon problematisiert wird, auf 11 | Vgl. Scholz, Oliver R.: Bild, Darstellung, Zeichen. Frankfurt a.M. 2 2004, S. 22. 12 | Schnettler/Pötzsch: Visuelles Wissen. S. 473. 13 | Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 31. 14 | Ebd., S. 38.
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die Darstellung von Molekülen in der Chemie und Karten in der Astronomie, zeichnet Mitchell ein fortwährendes, gewissermaßen kontinuierliches Anfluten von Wogen der Bildlichkeit, das die Vorstellung einer singulären Krisis, die unsere Gegenwart erschüttert, nicht rechtfertigt. In Picture Theory präzisiert er: »There seems little doubt that we are now undergoing a revolution in the technologies of representation that makes possible the fabrication of realities on an unprecedented scale. At the same time, we know that this type of revolution has occurred before, that it appeared previously in the inventions of writing and printing and engraving and mechanical reproduction.«15
Diese gelassene Analyse ist vielleicht nicht nur durch die angelsächsische Aufgeschlossenheit für neueste medientechnische Entwicklungen motiviert, sondern auch begünstigt durch die freundlicheren Entstehungsbedingungen der Visual Culture Studies. Mitchell beschreibt seine frühen Studien als eingebettet in ein interdisziplinäres, offenes Forschungsumfeld.16 Die Visual Culture Studies scheinen wissenschaftspolitisch zudem leichter durchzusetzen gewesen zu sein, weil die amerikanische Kunstgeschichte – offener für Phänomene der Massenkultur – bereits »sozialgeschichtliche Ansätze« aufgenommen hatte.17 Wenn die Zeitdiagnose »Bilderflut« als flankierende wissenschaftspolitische Maßnahme einer disziplinären Neuausrichtung zu verstehen ist, dann ist verständlich, warum Boehm sie unter prekäreren Bedingungen als einmaliges Ereignis zeichnet, Mitchell in einem günstigeren Umfeld hingegen nicht. (Übrigens gibt es für beide Annahmen keine Möglichkeit der Verifikation, soviele Indizien auch versammelt werden mögen.)
I.2 Zur öffentlichkeitswirksamen Rede über Bilder Angesichts der häufigen Hinweise auf einen Anstieg des Bildlichen ist auffallend, dass Bildtheorie in weiten Teilen – nicht zuletzt bei Boehm selbst – auch ganz ohne zeitdiagnostische Verve auskommt. Abstrahiert von historischen, kulturellen, pragmatischen Bezügen, lassen sich Bilder auf einer »reinen« epistemologischen Ebene untersuchen. Ausgangspunkt für diesen Ansatz ist 15 | Mitchell, William J.T.: Picture Theory. Chicago 1994, S. 423. 16 | Vgl. Mitchell, William J.T.: Pictorial Turn. Eine Antwort. In: Bilderfragen. Hg. v. Hans Belting. München 2007, S. 41f. 17 | Frank, Gustav: Pictorial und Iconic Turn. Ein Bild von zwei Kontroversen. In: Mitchell, William J.T.: Bildtheorie. Hg. v. Gustav Frank. Frankfurt a.M. 2008, S. 445-487, hier S. 460 und 479ff.
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der Kontrast zwischen »Bild« und »Sprache«, der zwar problematisch vereinfacht, der aber keineswegs aus der Luft gegriffen und jedenfalls sehr fruchtbar ist. Boehm etwa arbeitet Grundzüge einer »Logik der Bilder«18 oder »Logik des Zeigens«19 aus, die einem verengten Sprachverständnis, das sich an der Prädikation orientiert, entgegensteht. Diese Logik ist nicht zweiwertig, sondern lässt das Vieldeutige und Ambivalente zu und ist auf den Möglichkeitsraum neuer Erkenntnis20 ausgerichtet. Wegen dieser Eigenheit haben Bilder »eine eigene Kraft und einen eigenen Sinn«,21 eine spezifische »Macht«,22 sie erzeugen »Evidenzen eines eigenen Typs«.23 Ganz ähnlich sieht Dieter Mersch die besondere Evidenz von Bildern in einer eigenen »Bildlogik« begründet, die er vor allem zeichentheoretisch bestimmt: Sie beruht auf Eigenschaften wie (relativer) Simultaneität, syntaktischer Dichte und Nicht-Negativität.24 Bilderskeptische Positionen im bildwissenschaftlichen Diskurs sind prädestiniert für den Verzicht auf Zeitdiagnostik, weil sie erkenntnistheoretisch angelegt und auf die Möglichkeit zur Verifikation fokussiert sind. Es handelt sich oft um Versuche, den Damm gegenüber der Bilderflut anti-konstruktivistisch zu verstärken. Der Ansatz des Sammelbandes von Liebsch/Mößner lässt sich geradezu als Bemühen verstehen, platonistische Bildkritik zu aktualisieren. Schon im Titel »Visualisierung und Erkenntnis« zeigt sich, dass Bildlichkeit als sekundär – als Visualisierung eines schon (nicht visuell) Gegebenen – und damit der Erkenntnis untergeordnet verstanden wird. Das Vorwort erklärt einen Ausgangspunkt des Bandes in der Feststellung, »dass Visualisierungen im Prozess der Wissenschaft von hohem epistemischen Wert sind«:25 dass also eine graduelle, quantitative Abstufung angenommen wird – und gerade keine (qualitative) Flutung traditioneller naturwissenschaftlicher Episteme durch Bilder mit epistemisch revolutionärer Kraft stattfindet – und es nur nötig sei, »die Forschung mit und an Visualisierungen in den Einzelwissenschaften auf
18 | Boehm: Jenseits der Sprache? S. 39. 19 | Boehm, Gottfried: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens. Berlin 2007, S. 18. 20 | Vgl. Boehm: Das Paradigma »Bild«, S. 79f. 21 | Boehm: Jenseits der Sprache? S. 29. 22 | Ebd., S. 30. 23 | Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 30. 24 | Vgl. Heßler, Martina/Mersch, Dieter (Hg.): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft. Bielefeld 2009 sowie Mersch, Dieter: Naturwissenschaftliches Denken und bildliche Logik. In: Konstruierte Sichtbarkeiten. Wissenschafts- und Technikbilder seit der Frühen Neuzeit. Hg. v. Martina Heßler. München 2006, S. 405-420. 25 | Liebsch/Mößner (Hg.): Visualisierung und Erkenntnis, S. 12.
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eine reflektierte Basis [zu] stellen«26 – ohne Hinweis auf eine mögliche Gefährdung gerade dieser Basis durch Bilder. Es ist kein Zufall, dass der Beitrag des Herausgebers Dimitri Liebsch darin mündet, jede prinzipielle Neuigkeit des Stellenwerts von Bildern (und insbesondere die Rechtmäßigkeit der Rede von bildlichen »turns«) abzustreiten. Gleichwohl beginnt der Band mit der Feststellung »einer beinahe unüberschaubaren Reichhaltigkeit an Möglichkeiten der Bilderzeugung und -verarbeitung«, die den »Wissenschaftssektor unserer Gesellschaft« selbst »nicht verschont« habe.27 Hier, wie in zahlreichen anderen epistemologisch ausgerichteten Abhandlungen, ist die Rede von der Bilderflut ein gern genutzter Einstieg, um mit dem Verweis auf Relevanz und Dringlichkeit ins Thema einzuführen. Boehm seinerseits zeigt sich der kommunikationspolitischen Funktion, Bildwissenschaft auch in der Öffentlichkeit zu legitimieren, wohl bewusst: »Die Erscheinungsvielfalt des Bildlichen im 20. Jahrhundert gibt der Frage: was ist ein Bild? ein unabweisbares Recht und eine Dringlichkeit. Sie wurde noch einmal verschärft, als sich gegen Ende des Jahrhunderts mit der digitalen Technologie eine Praxis eröffnete, die das Bild mit einer bis dahin unbekannten Flexibilität, Omnipräsenz und Nützlichkeit ausstattet.« 28
Angesichts des Anstiegs von Bildern in Massenkultur und Wissenschaft wurde »der Bilddiskurs«, wie Boehm an anderer Stelle schreibt, »zu einer wirklichen Forderung. Aufklärung tut not. Bildkompetenz und Bildkritik werden sich nicht entfalten lassen, wenn der Status des Ikonischen unscharf bleibt und Bilder zwar allerorten eingesetzt werden, ohne dass wir aber hinreichend genau wüssten, wie sie funktionieren.«29 Möglicherweise ist mit der Öffentlichkeitswirksamkeit die letzte der Funktionen der Rede eines Anstiegs des Ikonischen bei Boehm benannt. Einigermaßen unvermittelt stünden nun die wissenschaftspolitischen und öffentlichkeitswirksamen Funktionen der Tatsache gegenüber, dass Bildtheorie auch ganz ohne Zeitdiagnose betrieben werden kann, die immer zumindest riskant (weil empirisch angreif bar und bezweifelbar, eben nicht-verifizierbar) ist. Die Vermittlung zwischen den kommunikativen Vorteilen und den Nachteilen ihrer Verifikation soll nun unternommen werden, indem Zeitdiagnosen erstens als pragmatisches Wissen und zweitens Boehms Zeitdiagnose als Index für uneingelöste ethisch-politische Interventionen seiner epistemisch ausge26 | Ebd. 27 | Ebd., S. 9f. 28 | Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 31. 29 | Boehm: Jenseits der Sprache? S. 30.
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richteten Bildwissenschaft erläutert werden. Dabei wird »Bilderflut« in das Projekt des »iconic turn« eingebettet dargestellt.
II. »B ilderflut« als S tr ategie zur S elbstpositionierung der L eser II.1 Zum ethisch-politischen Fluchtpunkt der Bildwissenschaft Diagnosen bilden neben den gängigen epistemischen Sicherheitsmodi »Meinen«, »Glauben« und »Wissen« einen eigenen Bereich des Fürwahrhaltens. In der Kritik der reinen Vernunft beschreibt Kant die ärztliche Diagnose als »pragmatischen Glauben«.30 Unter Bedingungen der Kontingenz erstellt, hat sie den Nachteil, weniger sicher als Wissen, somit fehlbar und bezweifelbar zu sein. Von Vorteil ist allerdings, dass sie das benötigte Handeln einer Therapie ermöglicht und sich durch Kompetenz, Erfahrung und Verantwortungsbewusstsein von bloßem »Glauben« oder gar »Meinen« abhebt. Diagnosen haben also einen dezidiert praktischen, ethisch-politischen Horizont, durch den sie sich von anderen epistemischen Sicherheitsmodi unterscheiden: Sie sind, anders als Wissen, riskant oder gewagt und erheben dennoch, anders als Glaubensinhalte oder Meinungen einen gewissen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, genauer: auf ein bestimmtes Handeln, das die Zustimmung der Allgemeinheit findet. Die Zeitdiagnose »Bilderflut« fügt sich in dieser Hinsicht zur Darstellung eines »iconic turn«, der keine bloß theoretisch bleibende Erneuerung »eines naiven Objektivismus«31 sein will, sondern sich aufklärerisch und kritisch versteht. Boehm stellt die Wende zum Bild mehrfach in die Nachfolge der kopernikanischen Wende, für die Reflexion auf die Bedingungen von Erkenntnis immer die eigene Erkenntnis, also deren eigene Bedingungen, kritisch mit einschließt32 – sowie des »linguistic turn«, der erneut an die grundsätzliche Vermitteltheit aller Erkenntnis erinnert habe. Deren kritischen Aspekt aktualisiert die Wende zum Bild durch ihr »intensives Bewusstsein der Darstellungsbedingungen von Sinn«.33 Gleichzeitig deutet er eine gewisse selbstkritische Überbietung oder Erfüllung vorausgegangener Wenden an, weil die Wendung zum Bild den traditionellen Logos propositionaler Sprache – in der Wissenschaft agiert – erweitere »und ihn dabei transformiert«.34 30 | Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hg. v. Raymund Schmidt. Hamburg 3 1990, S. B852. 31 | Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 29. 32 | Vgl. ebd. sowie Boehm: Das Paradigma »Bild«, S. 77. 33 | Boehm: Das Paradigma »Bild«, S. 77. 34 | Boehm: Jenseits der Sprache? S. 30.
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Hanno Depner »Mit der ikonischen Episteme steht zweifellos eines der ältesten Fundamente der europäischen Wissenschaft zur Revision an: nämlich nur demjenigen Bedeutung oder Wahrheit zuzuweisen, was sich in die Form von Aussagesätzen bringen, durch Sagen verifizieren lässt.« 35
In der Konsequenz eines ikonisch erweiterten Logos ist der von Bildern ungetrübte Blick des Erkennenden grundsätzlich nicht mehr möglich. Der Elfenbeinturm distanzierter und sicherer Erkenntnis ist gleichsam von Bildern geflutet, die ebenfalls den ausschließlich propositional vorgehenden Beobachter weggespült haben. Er ist gar nicht mehr in der Lage, von historischer und kultureller Anschaulichkeit zu abstrahieren und eine »reine« epistemologische Ebene zu erreichen. In dieser Situation ist Wissen eine – durch mehr oder weniger nachvollziehbare oder fragwürdige Kriterien und Methoden – ausgezeichnete Art des »pragmatischen Glaubens« der Diagnosen. Unter diesen Umständen erhält Bildtheorie selbst den Status eines therapeutischen, durch Zeitdiagnose legitimierten ethisch-politischen Projekts. Entgegen einem populären Missverständnis erweist sie sich insofern eben nicht als Erkenntnistheorie, die unberechtigterweise das Bild als zentrales Medium von Erkenntnis oder primäre kulturelle Erkenntnisbedingung annimmt und sich gleichzeitig desavouiert, weil sie sich selbst propositionaler Mittel bedient. Boehm trägt diesem Aspekt des ikonischen Paradigmenwechsels durch wiederkehrende Hinweise und sprachliche Stilmittel und Darstellungsweisen Rechnung. Beispielsweise mit seinen phänomenologisch-hermeneutischen Betrachtungen, die einen Prozess des Sehens und weniger das Resultat einer Erkenntnis vermitteln wollen. Er betont verschiedentlich, nicht auf Philosophie oder theoretisches System zu zielen und lediglich »Phänomene mit Argumenten zu verknüpfen«,36 denn »theoretische Argumentationen sind dabei unvermeidlich«.37 Zudem verwendet er, um die Funktionsweise bildlichen Erkennens zu beschreiben, Stilmittel wie Paradox, Oxymoron und Selbstreferenz, die ebenfalls nicht im Logos propositionaler Sprache aufgehen. So umschreibt er die »ikonische Differenz«, seine Formel ikonischer Sinnerzeugung, als »zugleich flach und tief, opak und transparent, materiell und völlig ungreif bar«.38 Er spricht
35 | Boehm: Das Paradigma »Bild«, S. 78. 36 | Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 16. 37 | Boehm: Jenseits der Sprache? S. 30. Die Argumentation in den folgenden Absätzen des Textteils III folgt meiner Darstellung in: Depner, Hanno: Zur Gestaltung von Philosophie. Eine diagrammatische Kritik. Bielefeld 2016, S. 159-164. 38 | Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 35.
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von der »Selbstreflexion des Bildes«,39 der »Implikation des Unsichtbaren im Sichtbaren«,40 der »Umwandlung des Faktischen ins Imaginäre«,41 der »Verbindung von Transparenz und Opazität«,42 von »Negation und Hervorbringung«,43 »Verhüllung und Enthüllung«,44 »produktivem Oszillieren«.45 Selbst den »iconic turn« stellt Boehm – trotz Anführung vieler Anzeichen – nicht als Tatsachenbeschreibung dar, sondern versieht ihn mit Fragezeichen. Ob tatsächlich ein »Paradigmenwechsel« vorliege oder bloß die »Attitüde eines rhetorischen Designs«,46 das zum »Jargon der Wissenschaft und […] deren Marketing« gehöre, scheint ihm nicht ausgemacht: »Wenn es tatsächlich die ›Wende zum Bild‹ gibt«,47 leitet er einmal tentativ seine Überlegungen ein, deren Zukunft er für offen hält: »Schnell proklamiert, muss sich aber erst noch zeigen, was eine neue Art wissenschaftlichen Fragens, betreffe sie Materialien oder auch Methoden – tatsächlich wert ist.«48 Trotz solcher Hinweise auf den ethisch-politischen Horizont seiner Bildwissenschaft, wird ihm Boehm über weite Strecken nicht gerecht: Es scheint, als entfalte er seinen therapeutischen Vorschlag ohne große Rücksicht auf konkrete Umstände und in allzu großem Vertrauen auf dessen Wirksamkeit. Als ob sein eigener, erkenntnistheoretischer Standpunkt nicht von der »ikonischen Episteme« gefährdet sei, bleibt Boehm mit dem souveränen und abgeklärten Duktus seiner Argumente und Beschreibungen erstaunlich gelassen und einem aufklärerischen Optimismus verhaftet. So zeigt er sich zuversichtlich, sich epistemisch »in der rechten Weise« der Kräfte des Ikonischen – trotz ihrer »Gefahren und Drohungen« – »zu bedienen«,49 sie »tatsächlich zu denken« und »auf eine luzide Weise zu verstehen«.50 Analog wird dem Rezipienten eine geschulte, im Wesentlichen nicht abweichende Urteilskraft unterstellt, ein »Bildsinn«, der ihn die »Evidenzen eines eigenen Typs« im Kunstwerk und die »ikonische Intelligenz« des Künstlers erkennen lässt.51 39 | Boehm, Gottfried: Die Bilderfrage. In: Was ist ein Bild? Hg. v. dems. München 1994. S. 325-343, S. 338. 40 | Boehm: Wie Bilder Sinn erzeugen, S. 210. 41 | Ebd., S. 211. 42 | Boehm: Die Bilderfrage, S. 338. 43 | Ebd., S. 340. 44 | Ebd., S. 342. 45 | Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 32. 46 | Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 27. 47 | Boehm: Jenseits der Sprache? S. 28. 48 | Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 27. 49 | Boehm: Das Paradigma »Bild«, S. 80. 50 | Ebd., S. 82. 51 | Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 30.
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Besonders deutlich wird dieser Kritikpunkt an Boehms Fixierung auf das »starke Bild«,52 auf Kunstwerke. Obwohl sich der ikonische Logos gerade in ihnen, und im Gegensatz zu Abbildern zeigt, wird die Frage, was oder wann etwas Kunst sei, ausgeklammert und diese Entscheidung stillschweigend dem Verfasser beziehungsweise dem etablierten Kanon überlassen. Was aber macht Kunst zu Kunst, worin besteht ihre spezifische Kraft, die der Künstler (der sich wodurch legitimiert?) auf irgendeine (unspezifische) Weise optimiert habe53 – wobei er es verstanden habe »die ikonische Spannung kontrolliert aufzubauen und dem Betrachter sichtbar werden zu lassen«?54 Boehm untersucht nicht, warum oder unter welchen Umständen auch Kunstwerke als Abbilder wahrgenommen werden können oder wie Abbilder zu Kunstwerken aufsteigen können. Würde aber nicht gerade eine »Bilderflut«, die bisherige epistemische Selbstverständlichkeiten fortspült und eine Krise darstellt, solche Situationen der Konfusion und des Streits herauf beschwören? Provozierte nicht gerade sie kontroverse Entscheidungen und erforderte ethisch-politische Stellungnahmen und Interventionen?55 Boehms häufiger Hinweis auf eine Bilderflut bisher ungeahnten Ausmaßes kann als Index verstanden werden, mit dem er auf eine nicht ausreichend berücksichtigte Konsequenz seiner Bildwissenschaft hinweist: erkenntniskritisch, aber nicht politisch vorzugehen, oder – in seinen Worten – zwar »bildkritisch«, aber nicht »ideologiekritisch«56 Bildwissenschaft und ihre Rezipienten nicht als gesellschaftspolitische Akteure zu verstehen. In diesem Sinn lässt sich die Zeitdiagnose »Bilderflut« als folgerichtig gebrochener Appell an den Leser verstehen. Ihr riskanter – pragmatischer, empirisch bezweifelbarer – Status etabliert einen besonders großen Freiraum für 52 | Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 35. 53 | Ebd., S. 30. 54 | Ebd., S. 35. 55 | Um die Frage, was Kunst sei, war es hierzulande etwas ruhiger geworden, seit selbst Beuys mit seinem erweiterten Kunstbegriff in den Kunstkanon aufgenommen wurde. Zuletzt wird sie in vielerlei Gestalt wieder oft gestellt: Sei es in der Debatte um ihre Funktion als Geldanlage (oft mit dem Namen Damien Hirst verknüpft), sei es bei Computerspielen und »Graphic Novels«, die sich aus dem Unterhaltungsgenre emanzipieren, sei es bei Vorwürfen an etablierte oder auch neue Werke, sie seien sexistisch oder anderweitig diskriminierend und deswegen keine Kunst. 56 | Boehm: Iconic Turn. Ein Brief, S. 31. Boehm gibt zu, sich vor allem mit der »Struktur des Bildes« und der »Logik des Zeigens« zu beschäftigen. »Andere damit engstens verbundene Fragen, wie die Dispositive des betrachtenden Auges oder gesellschaftliche Kontexte, kommen nur mittelbar zur Geltung.« Diese Einschränkung bezieht sich zwar nur auf den Sammelband Wie Bilder Sinn erzeugen, sie kann aber durchaus für Boehms ikonische Forschung insgesamt stehen.
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die Entscheidung des Lesers, sein Einverständnis mit der Diagnose und der vorgeschlagenen Therapie zu geben. Der Einsatz der Zeitdiagnose bei Boehm muss also nicht notwendig allein als propagandistische Nutzung ihrer wissenschaftspolitischen und öffentlichkeitswirksamen Funktionen gelesen werden. Sie ist auch als Aufforderung an die Leser zur Selbstpositionierung verständlich.
II.2 Zu den Inter ventionen der Visual Culture Studies Diese sehr wohlwollende Interpretation eines ethisch-politischen Fluchtpunkts bei Boehm schafft eine Gemeinsamkeit mit der ansonsten unterschiedlichen Ausrichtung von Mitchells Bildtheorie und seinem »pictorial turn«. Ganz anders als Boehm, legt Mitchell seine Bildbetrachtungen ausdrücklich in einem ethisch-politischen Horizont an. Ihn interessiert insbesondere die soziale Funktion von Bildern57 in ihrer Ambivalenz zwischen Ideologie und Kritik sowie im gesellschaftlichen Kampf zwischen Idolatrie und Ikonoklasmus. Ihm geht es nicht darum, eine bestimmte Art von Bild gegen eine andere auszuspielen (wie etwa in der beliebten Abbild-versus-Kunstbild-Dichotomie), sondern darum, solche und andere Versuche, Bildern bestimmte Funktionen zuzuweisen, sowie Bildpraktiken zu analysieren: »Zugespitzt könnte Mitchells seit Iconology vorherrschendes Interesse als das an einer Politik der Sprachspiele, die man um die Bilder spielt, bezeichnet werden.«58 Weil Mitchell seine Untersuchungsobjekte nicht dem etablierten Kunstkanon entnimmt, sondern gerade ihre Vielfalt kultiviert wissen will, nimmt ihre – oft umkämpfte – Kontextualisierung einen besonders hohen Stellenwert ein. Oft verknüpft er historische mit aktuellen Analysen von Bildern und Diskursen über Bildern, die dann ganz selbstverständlich in ausgesprochen politische Interventionen übergehen. So analysiert er das Bild der einfallenden Zwillingstürme des World Trade Center als ikonoklastisches Dokument der Zerstörung eines Symbols der westlichen Kultur wie auch als (ideologisches) »Idol« einer Politik des »Krieg[s] gegen den Terrorismus, der die mächtigste Nation der Welt in einen unbefristeten Ausnahmezustand gestürzt und in ihr die reaktionärsten Kräfte des religiösen Fundamentalismus entfesselt hat«.59 Mitchell vollführt ebenjene politischen Interventionen, die Boehm selbst unterschlägt, dem Bildbetrachter überlässt – und nur mit dem Index »Bilderflut« markiert. Weil die Visual Culture Studies ausführen, was in der Bildwissenschaft bloß angelegt ist, haben sie keinen Grund, die Zeitdiagno57 | »[…] as a complex interplay between visuality, apparatus, institutions, discourse, bodies, and figurality.« Vgl. Mitchell: Picture Theory, S. 16. 58 | Frank: Pictorial und Iconic Turn, S. 451. 59 | Mitchell: Bildtheorie, S. 39.
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se »Bilderflut« dermaßen radikal als singuläres Ereignis darzustellen. Mitchell widerspricht jedoch allein deren Singulärität und beklagt, dass sie zum »vulgären Slogan«60 verkommen sei, hinter dem die komplexen Phänomene des »pictorial turn« nicht wahrgenommen werden; grundsätzlich stimmt er der Zeitdiagnose eines revolutionären Ansturms von Bildern zu (und nutzt sie mehrfach, offensichtlich im Bewusstsein ihrer öffentlichkeitswirksamen Funktion). Es könnte vermutet werden, dass Mitchells moderatere Ausformulierung der Zeitdiagnose »Bilderflut« weniger bestimmt auf eine Selbstpositionierung von Lesern drängt. Diese Annahme würde zu einem Verständnis von Mitchells politischen Interventionen als schlichten Parteinahmen passen. Ein genauer Blick auf die Visual Culture Studies legt jedoch den umgekehrten Schluss nahe. Sie sind weitaus pluralistischer und weniger erkenntnistheoretisch akzentuiert als Boehms Bildwissenschaft und geben damit mannigfaltigen Anlass zur Selbstpositionierung. Bereits der Plural von »Visual Culture Studies« deutet auf eine pluralistische Bildtheorie, der es nicht um Lückenlosigkeit, Einheitlichkeit und Vereinheitlichung geht. Immer wieder wendet sich Mitchell gegen die Reduktion auf monokausale medientheoretische Erklärungen, die so etwas wie »visuelle Medien« oder die »Digitalisierung« untersuchen, die es nicht gebe.61 Im programmatischen letzten Kapitel von »Picture Theory« erklärt er (ähnlich dem Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen), dass seinen Essays, aus denen seine Bücher meist aufgebaut sind, keine einheitliche Architektur zugrunde liege. »It is a collection of snapshots of specific problems indigenous to representation, addressed on particular occasions, at a definite historical moment that I have called the end of postmodernism, the era of the ›pictorial turn‹.«62 Den ethischen Fluchtpunkt seiner Bildtheorie, den er in eine Reihe von Fragen über die Ethik der Repräsentation skizziert, sieht er zwar nicht normativ, »abstrakt« oder »kategorisch« erreicht, aber den durch ihn gestellten Auftrag doch in konkreten Einzeluntersuchungen immer wieder ausgeführt: »I don’t think we can answer these questions abstractly or categorically. We must address them to the concrete conditions of our moment, to the ways in which representation is currently at work in our culture.«63
60 | Mitchell, William J.T./Liu, Lydia H.: On the Edge of Critical Thinking. An Interview with W.J.T. Mitchell. 2005, online verfügbar unter: https://lucian.uchicago.edu/blogs/ wjtmitchell/files/2014/11/liu-lydia.pdf, zuletzt eingesehen am 26.03.2018. 61 | Vgl. Frank: Pictorial und Iconic Turn, S. 465; Mitchell, William J.T.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur. München 2012, S. 196. 62 | Mitchell: Picture Theory, S. 417. 63 | Ebd., S. 423.
Zeitdiagnosen als ethisch-politische Strategien
Was schließlich Zeitdiagnosen anbelangt, setzt Mitchell nicht alles auf die eine Karte einer dringlichen (alles dominierenden, konsensfähigen, aber etwas profillosen) Zeitdiagnose, sondern präferiert eher das zeitdiagnostische Experimentieren. So führt ihn etwa seine Entdeckung der Tendenz von Bildern, ihre Kontexte zu überschreiten, Gestalt und Medium zu wechseln, zu ihrem Verständnis als Klone – unbestimmt andersartigen, lebendigen Ebenbildern. Im »Zeitalter der biokybernetischen Reproduzierbarkeit« seien an Bildern neue Charakterzüge zu entdecken.64 Sie besäßen einen eigenen Willen – so schon die plakative Überschrift »Was will das Bild?« 65 –, womit durchaus Anlass zu Sorgen gegeben sei, wie sie Platon nicht drastischer hätte formulieren können: In Das Klonen und der Terror zeigt Mitchell, dass Bilder eine unrühmliche, sogar fatale Rolle spielen können, wenn sie einen unmöglichen »Krieg gegen den Terror« nicht nur entfachen, sondern sogar unkontrollierbar verbreiten helfen. In ihrer Konkretheit ist diese Diagnose ebenso lebendig und – in postfaktischen Zeiten – aktuell66 wie epistemisch riskant. Boehms akademisch vorgetragener Einspruch gegen postmoderne Simulationstheorien zielt zwar strukturell in dieselbe Richtung, stellt aber keinen Bezug zu aktuellen Ereignissen her.67 Die Strategie der Visual Culture Studies beim Einsatz von Zeitdiagnosen scheint insofern als Mittel zur Selbstpositionierung geeigneter zu sein.68 Mit-
64 | Vgl. Mitchell, William J.T.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner biokybernetischen Reproduzierbarkeit. In: ders.: Das Leben der Bilder. Eine Theorie der visuellen Kultur. München 2012, S. 191-223. 65 | Vgl. Mitchell: Das Leben der Bilder, S. 46. 66 | Vgl. Mitchell, William J.T.: Das Klonen und der Terror. Frankfurt a.M. 2011, besonders S. 18. 67 | Boehm: Die Wiederkehr der Bilder, S. 35. 68 | »Für Mitchell ist jede Theorie des Bildes kontaminiert mit Interessen, abhängig von Werten und durchdrungen von Macht, jeder Theorie ist folglich auch eine polemische Stoßrichtung eingeschrieben. Diese Situation ist unhintergehbar, kann nicht durch eine endlich objektive Theorie bereinigt, sondern immer wieder nur aufs Neue ausgestellt werden. Bilder können nur deshalb ein Streitobjekt darstellen, weil sich in ihnen soziale Konfliktlinien kreuzen. Nicht ein irgendwie geartetes Wesen des Bildes führt zu dessen ambivalenter Bewertung, sondern diese sozialen Energien, die Bilder aufladen und die als in Bildern gespeichert vermutet werden. Deshalb kann der Bilderstreit letztlich auch durch keine Wissenschaft von den Bildern befriedet werden; denn die dabei vorausgesetzten Bilder von Wissenschaftlichkeit sind selbst von Interessen grundiert, von Werten gefärbt und von Macht gezeichnet.« Frank: Pictorial und Iconic Turn, S. 454.
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chells nicht selten auf Widerspruch und Unverständnis stoßende Analysen69 wirken eher dazu angetan, jene »besondere Art von Unruhe« sichtbar zu machen, die Bilder »als ein ungelöstes Problem« ausweisen 70 und eine Intervention erfordern. Hingegen ist es wahrscheinlich, dass die abstrakt bleibende Ausrufung einer singulären Bilderflut mit den Jahren – in denen eine offensichtliche Katastrophe ausgeblieben ist – an Dringlichkeit verliert. Immerhin: Ihre kommunikationspolitische Funktion hat die Zeitdiagnose »Bilderflut« mit der Etablierung der Bildwissenschaft in akademischen Institutionen, im Wissenschaftsdiskurs und bis hinein in die Öffentlichkeit jedenfalls erfüllt.
69 | Der Bildwissenschaftler Peter Geimer etwa spottet im Titel seiner Rezension: Was tun die Gemälde nachts im Museum? In: FAZ, 19.12.2008. 70 | Mitchell: Pictorial Turn. Eine Antwort, S. 40.
IV. Welche Zeitdiagnosen setzen sich durch?
Zeitdiagnosen als Mittel politischer Deutungsmacht und das Problem der vermeidbaren Irrtümer Walter Reese-Schäfer
1. E inleitung : F ehl- und Z ufallsdiagnosen Die Sichtung gesellschaftlicher und politischer Zeitdiagnosen um die Jahre 1989/90 herum, also nach dem Ende nicht nur eines vorübergehend existierenden Staates, sondern vor allem nach dem Zusammenbruch eines politischen Systems und einer für übermächtig gehaltenen politischen Ideologie, welche die Welt bis dahin in Anspannung gehalten hatte, verspricht interessante Einsichten in die Deutungsmacht und Deutungskraft von Zeitdiagnosen. Das Bedürfnis nach Selbstvergewisserung, nach Deutung, nach Einordnung ist nach solchen, die bisherigen Gewissheiten erschütternden Umbrüchen, offenbar ein wesentlicher Auslöser zeitdiagnostischer Reflexionen. Wie aber ist es mittendrin? Welche Interessen und Umstände leiten und missleiten Zeitdiagnosen im Prozess selber? Wenn man als Berater oder Akteur Teil der Geschehnisse ist und die eigenen Aussagen den Ausgang sogar noch beeinflussen können? Beim Zusammenbruch politischer Systeme haben wir ja immerhin klare Zäsuren. Analyse scheint Abstand zu benötigen. Es gibt natürlich Voraussagen, zum Beispiel Andrej Amalriks Pamphlet aus dem Jahre 1970, Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?, auch einen Sammelband aus dem Jahr 1982: Die deutsche Einheit kommt bestimmt. Diese Texte aber sind doch recht dünn in ihrer Argumentation und mit den Unbestimmtheiten und Schwächen von Prognosen behaftet. Lange galt als herrschende Lehre, als conventional wisdom, dass »niemand« den Zerfall der Sowjetunion habe voraussehen können: »Weder die westliche Politik, noch die öffentliche Meinung, noch der Hauptstrom der Osteuropawissenschaften erwogen vor dem Ende der 1980er Jahre auch nur die Möglichkeit eines Untergangs der Sowjetunion. Man hatte sich quasi ein Denkverbot
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auferlegt.«1 Daniel Patrick Moynihan hatte allerdings schon 1975 den Sammelband Ethnicity: Theory and Experience herausgegeben, in dem der Zerfall der UdSSR anhand der ethnischen Divergenzen schon über zehn Jahre vorher vorausgesehen worden war. Anfang 1992 hat er diesen Band triumphierend an den skeptischen Henry Kissinger geschickt. Kissingers Antwort ist in ihrer Kürze und in der Mischung von Bescheidenheit und Arroganz unbedingt zitierenswert: »April 2, 1992/Dear Pat:/I stand corrected. Your crystal ball was better than mine./Warm regards/Henry A. Kissinger«.2 Das war gewiss unfair, wenn auch typisch für Kissinger, denn es unterstellte, dass die richtige Prognose nicht auf der richtigeren Theorie, sondern auf Wahrsagerei beruhte. Dennoch muss Kissingers Hinweis unbedingt ernst genommen werden: Es kommt nämlich im wissenschaftlichen Kontext darauf an, nicht nur richtig vorausgesagt, sondern darüber hinaus dies auch auf der Basis einer theoretischen Hypothese, Theorie oder Quasi-Theorie getan zu haben. Erst dadurch wird eine derartige Prognose auch auf andere Situationen übertragbar, also reproduzierbar. Die Empirie haben wir ja in Form der Resultate. Ohne Verknüpfung mit einer Theorie könnte sie aber reine Kontingenz, reiner Zufall sein. Wissenschaftstheoretisch wird es sich dabei in unserem Kontext immer noch nicht um von Hempel/Oppenheim genehmigungsfähige Gesetzesaussagen handeln, sondern eher um verallgemeinernde Formeln aus dem Bereich der Heuristik. Der Zerfall der Sowjetunion als Vielvölkerstaat erfolgte zwar unter anderem anhand ethnischer Linien, zum Teil auch vorsowjetischer Grenzziehungen, die Ursache lag aber offenbar eher in der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Sklerose des Systems. Die ethnischen Fragen sind erst postfaktisch hinzugekommen. Und damit bin ich bei einem Problem, was die politische Deutungsmacht von Zeitdiagnosen angeht: Der mainstream der zeitdiagnostischen Literatur hat die Sowjetunion für stabil gehalten. Die nachträglich als zutreffend einzustufenden gegenteiligen Diagnostiken waren Minderheitsmeinungen, die von unseren Vordeutern als absurd und sogar gefährlich eingestuft wurden, sofern unsere Medien damals überhaupt darüber berichtet und solche Analysen nicht einfach verschwiegen haben. Daraus wiederum ergeben sich mehrere Fragen, die sich überlagern: erstens die Frage nach der Deutungsmacht oder Wirksamkeit von Zeitdiagnosen, und zweitens die Frage, ob sie richtig oder falsch waren, und, um noch tiefer zu gehen, ob sie nicht bloß deshalb richtig oder falsch waren, weil sie richtig oder falsch wahrgesagt haben, sondern anhand welcher analytischen tools und theoretischen Voraussetzungen dies erfolgte. Es müsste 1 | Simon, Gerhard: Die Desintegration der Sowjetunion. In: Das Ende der Weltreiche – Von den Persern bis zur Sowjetunion. Hg. v. Alexander Demandt. München 1997, S. 175. 2 | Moynihan, Daniel Patrick: Pandaemonium – Ethnicity in International Politics. Oxford 1993, S. XIII.
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also um eine nachhaltige, wiederholbare und damit womöglich auch erlernbare Grundlegung von Zeitdiagnostik gehen. Drittens könnten falsche wie richtige Diagnosen jeweils erwünschte oder unerwünschte, positive oder negative, beabsichtigte oder unbeabsichtigte Folgen haben. Eine rein empirisch vorgehende Analyse würde ignorieren, dass die zu jener Zeit wirkmächtigsten Zeitdiagnosen wohl allesamt falsch, aber wirksam waren, während die, wie sich dann später herausstellte, zutreffenden Zeitdiagnosen als verrückte und absurde Minderheitspositionen dastanden. Sie würde schlicht zu erheben versuchen, welcher zeitdiagnostische Autor welchen impact hatte, so wie das heutzutage in Wissenschaftsevaluationen und Berufungskommissionen gemacht wird. Damit würde man eben auch das Falsche methodisch und einigermaßen systematisch nobilitieren. Eine solche Zählarbeit schien mir zudem aber auch zu langweilig, und ich habe mich entschlossen, die methodisch normative Seite stärker zu verfolgen und vielleicht damit den vermeidbaren Irrtümern auf die Spur zu kommen. Ich folge vor allem dem zweiten Fragenstrang, der die Wahrheit von Prognosen verfolgt, komme aber auch immer wieder auf die beiden anderen Fragen zurück.
2. E in , allerdings zentr ales , B eispiel zutreffender und deutungsmächtiger D iagnostik Die Möglichkeit hierzu bietet eine bestimmte, von mir vertretene Herangehensweise der politischen Ideengeschichte, die rückblickend nach historischen Zäsuren, mit dem Wissen also, welchen Ausgang ein Geschichtsabschnitt genommen hat, die Diagnostik der Zeitgenossen evaluieren und daraus mitunter sogar Rückschlüsse für die Zukunft ziehen kann. Das Ende des Sozialismus im Jahre 1989 ist ein solcher bedeutender Epochenabschluss. An dieser Stelle wähle ich zunächst die Positiv-Variante, versuche also zu erklären, wie es passieren konnte, dass einige wenige, against all odds, sozusagen ein kleines gallisches Dorf, doch richtiger gelegen hatten als die meisten. Diese Konzeption wird von Seymour Martin Lipset, dem Doyen der amerikanischen Soziologie, vertreten. Er erklärte Ronald Reagans Erfolg als USPräsident letzten Endes mit einem Wandel des amerikanischen Meinungsklimas durch den beharrlichen Einfluss einer anfangs linken Gruppe von Campus-Intellektuellen, die schon in den späten 30er und frühen 40er Jahren am New York City College heftige Dauerdebatten über die sowjetischen Säuberungen und über den Hitler-Stalin-Pakt mit ihren stalinistischen Kommilitonen geführt hatten.3 Diese Intellektuellen, zu denen Daniel Bell, Irving 3 | Lipset, Seymour M. (Hg.): Political philosophy – theories, thinkers, and concepts. Washington 2001.
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Kristol, Irving Howe und Nathan Glazer gehörten, gründeten dann antistalinistische Zeitschriften wie Partisan Review, The New Leader, Dissent und Commentary. Ihr politisches Ziel war das Ende der Sowjetunion. Sie betrachteten die amerikanischen Konservativen als ihre Rivalen oder politischen Konkurrenten, die amerikanischen wie internationalen Kommunisten aber als ihre Feinde. Der Erkenntnisvorteil dieser linken Antikommunisten war, dass sie anders als die Konservativen den Gegner aus nächster Nähe kannten und deshalb die schlagkräftigeren Argumente hatten. Einige von ihnen, wie Irving Kristol, sind am Ende selber Neokonservative geworden, weil ihre antikommunistische Grundhaltung in der Welt der liberals, also der Mainstream-Linken, immer mehr als peinlich und überholt galt. Lipset weist darauf hin, dass Ronald Reagan selbst seine politische Entwicklung als liberaler Anhänger der demokratischen Partei begonnen habe und durch die Auseinandersetzungen in der Schauspielergewerkschaft, deren Vorsitzender er war, die Fraktionskämpfe mit den amerikanischen Parteikommunisten direkt erleben konnte. Die Hollywood-Kommunisten hatten anfangs geglaubt, in ihm einen Verbündeten zu finden, mussten aber zu ihrem Entsetzen erleben, dass er zusammen mit einigen anderen amerikanischen Gewerkschaftsführern den Weg in die Gegenrichtung ging. Lipset vertritt die These, dass Reagans ungewöhnlich harte und entschlossene Haltung gegenüber der Sowjetunion nicht so sehr auf seinen Konservatismus, sondern eher auf seinen in jener Zeit geprägten Antistalinismus zurückzuführen sei, und dass Reagan als Präsident dann konsequenterweise einer Reihe von Antikommunisten wie Elliot Abrams, Carl Gershman, Jeane Kirkpatrick, Richard Perle und Max Kampelman hohe Positionen in der Außen- und Verteidigungspolitik gab – obwohl die Genannten innenpolitisch aus einer eher wohlfahrtsstaatlichsozialen Denkrichtung stammten.4 Für Reagan hatte das zudem den Vorteil, viele ehemalige Stammwähler der Demokratischen Partei auf seine Seite ziehen zu können. Konservativen herkömmlicher Prägung dagegen hätte erstens die direkte Kenntnis parteikommunistischer Vorgehensweisen aus dem Handgemenge der College-Zeit und zweitens die Leidenschaft gefehlt, die diese Gruppe auszeichnete. Ein vergleichbarer antistalinistischer Kern hatte sich in den späten 40er Jahren in der Berliner SPD herausgebildet und Führungsgestalten wie Willy Brandt und Klaus Schütz hervorgebracht. Diese Geschichte ist in vielfältigen Veröffentlichungen, besonders aber in einer groß angelegten fünf bändigen Dokumentation von Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, dargestellt worden. Außenpolitisch allerdings zogen die Berliner Antistalinisten, wie sie sich verstanden, nach dem Mauerbau andere 4 | Ehrman, John: Neoconservatism – Intellectuals in Foreign Affairs 1945-1994. New Haven 1995.
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Konsequenzen. Die einzige Chance für eine Aufweichung des kommunistischen Blocks sahen sie in einer Entspannungspolitik, die auf einen sich langsam steigernden persönlichen und wirtschaftlichen Austausch setzte. Der dadurch auch in den kommunistischen Ländern, wie man hoffte, entstehende Wohlstand würde dort das Bedürfnis nach einer Demokratisierung wecken. Diese Politik hatte ihren Höhepunkt im Jahre 1975, nämlich als die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet wurde und die Sowjetunion sich ausdrücklich durch ihre Unterschrift unter ein internationales Dokument – wenn auch nicht in der Praxis – zu den Menschenrechten bekannte. Auf der gleichen Basis antistalinistischer Ausgangsannahmen sind also sehr unterschiedliche Strategien möglich gewesen, auch wenn diese sich nicht vollständig gegenseitig ausschließen mussten. Heute haben wir durch den Vergleich mit der chinesischen Entwicklung die Möglichkeit zu erkennen, dass die zugrundeliegende Hypothese der Demokratisierung allein schon durch steigenden Wohlstand wohl nicht tragfähig ist. Die Ideengeschichte des Kalten Kriegs ist noch zu schreiben und bleibt bis heute von Legenden und propagandistischen Darstellungen überwölbt. Die damals maßgeblichen und in der Öffentlichkeit politisch einflussreichen Experten sagten sogar bis über die Mitte der 1980er Jahre hinaus der Sowjetunion ein langes Leben voraus. Lester Thurow, ein bis heute in der Globalisierungsdiskussion vielgelesener Ökonom des Massachusetts Institute of Technology, schrieb noch 1989, dass die bemerkenswerte Leistungskraft der sowjetischen Ökonomie beweise, wie förderlich zentrale Kontrolle für den Wirtschaftsprozess sein könne. Er glaubte selbst damals, dass die Wirtschaftsleistung der UdSSR derjenigen der USA gleichkomme. Die gesamte Außenpolitik Henry Kissingers basierte auf der Annahme, dass die Ostblockländer die USA wirtschaftlich und militärisch überholen würden, so dass die Aufgabe des Realpolitikers darin bestünde, durch internationale Verträge so lange wie möglich so viel wie möglich an amerikanischer Macht aufrechtzuerhalten. Die zugrundeliegende Analyse führte also zu einer Defensivstrategie. Ein weiterer der damals großen Politikgurus, Strobe Talbott, später leitender Mitarbeiter im amerikanischen Außenministerium und Geschichtsschreiber der Endphase des Kalten Krieges, erklärte das Ziel der Reagan-Regierung, den Einfluss der UdSSR zurückzudrängen, als ein Motiv aus den frühen 50er Jahren, das »heute« völlig überholt sei. Die angebliche Krise der Sowjetunion hielt er, wenn sie denn überhaupt vorhanden sei, für eine institutionalisierte Dauerkrise, mit der diese schon lange zu leben gelernt habe. Reagans Versuch, auf die amerikanische wirtschaftliche und technologische Überlegenheit zu zählen, sei dagegen vollkommen unrealistisch und irreführend. Der Autor des bedeutendsten Lehrbuchs für Wirtschaftswissenschaften, Paul Samuelson, führte noch in der 1985er Auflage seines Werkes Economics die sowjetische Planökonomie als Beweis dafür an, dass eine Kommandowirtschaft große Ressourcen
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mobilisieren und hohe Wachstumsraten erzielen könne. Auch John Kenneth Galbraith, ein weiterer der ganz großen Zeitdiagnostiker jener Phase, glaubte noch 1984, dass die Sowjetunion in den letzten Jahren große wirtschaftliche Fortschritte gemacht habe und den westlichen Systemen vor allem in einem Punkt weit überlegen sei: Dort würde nämlich der vollständige Gebrauch von der Arbeitskraft gemacht – eine damals schon recht absurde Analyse, die wohl als polemische Spitze gegen die westliche Arbeitslosigkeit gemeint war und als solche nur dümmlich zu nennen ist, denn Wohlstand bringt nun einmal allein produktive Arbeit, nicht bloßes Verweilen am Arbeitsplatz. Als sich 1989 das Gegenteil von all diesen Analysen als zutreffend herausstellte, antwortete diese Gruppe von Zeitdiagnostikern hauptsächlich mit zwei Behauptungen: erstens, dass die UdSSR ausschließlich aus eigenen, inneren wirtschaftlichen Gründen zusammengebrochen sei, nicht aber wegen der gezielten Rüstungsanstrengungen der USA und deren Embargo für rüstungsrelevante Hochtechnologieprodukte, und dass zweitens ohnehin niemand das alles habe voraussehen können. Die Quellen belegen das Gegenteil: Es war vorauszusehen, und es war politisch so intendiert. Hierzu nur drei Belege dafür, dass Ronald Reagan, anders als ihm damals unterstellt wurde, als Präsident durchaus wusste, was er wollte und was er tat. In seiner Ansprache an der University of Notre Dame sagte er am 17. Mai 1981: »Der Westen wird den Kommunismus nicht eindämmen. Er wird ihn überwinden. Wir werden ihn als ein bizarres Kapitel der Menschheitsgeschichte verabschieden, dessen letzte Seiten soeben geschrieben werden.«5 In seiner bis heute vielzitierten Ansprache vor dem britischen Unterhaus aus dem Jahre 1982 sagte er, und am Tonfall erkennt man einerseits seine eigene Vergangenheit als Gewerkschaftsfunktionär in Hollywood, andererseits die Herkunft seiner Redenschreiber aus dem Spektrum des linken Antikommunismus: »In einem ironischen Sinn hatte Karl Marx recht. Wir erleben heute eine große revolutionäre Krise. Aber diese Krise findet nicht im freien, nichtmarxistischen Westen statt, sondern im Haus des Marxismus-Leninismus, der Sowjetunion.« Er fügte, ganz im Stil der marxistischen Geschichtsphilosophie des kommunistischen Manifests hinzu: »Es ist die Sowjetunion, die sich gegen den Strom der Geschichte stellt, indem sie ihren Bürgern die Freiheit und Menschenwürde verwehrt.« Wenn das westliche Bündnis nur stark genug bleibe, dann werde daraus ein »Marsch der Freiheit und Demokratie hervorgehen, der den Marxismus-Leninismus auf dem Aschehaufen der Geschichte zu5 | Reagan, Ronald: Address at Commencement Exercises at the University of Notre Dame on May 17th 1981. In: The Public Papers of President Ronald W. Reagan. Hg. v. The Ronald Reagan Presidential Library, online verfügbar unter: https://www.reagan lib rary.gov/sites/default/files/archives/speeches/1981/51781a.htm (zuletzt eingesehen am 04.06.2018).
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rücklassen werde«.6 Das dritte Beispiel ist in Deutschland das einzig bekannte und stammt aus dem Jahre 1987. Es lohnt sich, in den Zeitungen und Fernsehnachrichten jenes Jahres noch einmal nachzulesen und nachzuschauen, für wie verrückt, unrealistisch und peinlich diese Rede erklärt wurde. Reagan sagte damals am Brandenburger Tor: »In der kommunistischen Welt sehen wir Scheitern, technologische Rückständigkeit und verfallende Standards. Selbst heute kann die Sowjetunion sich nicht selbst ernähren.« Er schloss mit der damals noch für absurd und rein rhetorisch erklärten Forderung an Michail Gorbatschow: »Generalsekretär Gorbatschow, kommen Sie hier zu diesem Tor! Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor! Herr Gorbatschow, reißen Sie diese Mauer nieder!« 7 Zweifellos war dies Rhetorik: nämlich eine klassische dreiteilige Schlussformel, wie man sie schon in jedem antiken Lehrbuch für politische Reden findet. Es war aber keine hohle Rhetorik, denn sie war nur zwei Jahre von der Realität entfernt und stammte von dem Politiker, der sich genau dies, nämlich das Ende des sowjetischen Imperiums, zum Ziel gesetzt hatte und die dafür günstige historische Situation auch zu nutzen verstand, während europäische Politiker gerade auch aus dem konservativen Lager (wie Franz-Josef Strauß in den 1980er Jahren) ständig noch Geldspritzen bereitstellten, um die Ostökonomie möglichst lange am Leben zu erhalten. Sie ließen sich dafür als Entspannungspolitiker feiern. Man sollte ihnen ein gewisses Verdienst allerdings nicht absprechen. In nachträglicher Betrachtung hat dieses ziemlich dialektische Zusammenwirken von Druck und Entspannung immerhin dazu beigetragen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion auf so bemerkenswert friedliche Weise vonstatten ging. Meine Kritik richtet sich deshalb nicht gegen die Entspannungspolitik, wohl aber gegen die ihr zugrundeliegenden und als ihre Begründung damals angegebenen Irrtümer und Fehldeutungen.8
6 | Reagan, Ronald: Address to Members of the British Parliament on June 8th 1982. In: The Public Papers of President Ronald W. Reagan. Hg. v. The Ronald Reagan Presidential Library, online verfügbar unter: https://www.reaganlibrary.gov/sites/default/files/ archives/speeches/1982/60882a.htm (zuletzt eingesehen am 04.06.2018). 7 | Reagan, Ronald: Remarks on East-West Relations at the Brandenburg Gate in West Berlin on June 12th 1987. In: The Public Papers of President Ronald W. Reagan Hg. v. The Ronald Reagan Presidential Library, online verfügbar unter: https://www.reagan library.gov/sites/default/files/archives/speeches/1987/061287d.htm (zuletzt eingesehen am 04.06.2018). 8 | Vgl. Ploetz, Michael: Wie die Sowjetunion den Kalten Krieg verlor – Von der Nachrüstung zum Mauerfall. Berlin 2000; Hacker, Jens: Deutsche Irrtümer – Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen. Frankfurt 1992; Knabe, Hubertus: Die unterwanderte Republik – Stasi im Westen. München 2001; Knabe, Hubertus: Der diskrete Charme der DDR – Stasi und Westmedien. München 2002.
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Die Entspannungspolitik hat zu dem überwiegend friedlichen Verlauf des Endes der Sowjetunion beigetragen. Die Pointe dieser zugespitzten Gegenüberstellung liegt nicht darin, dass der gern als beschränkt, sogar als Dummkopf dargestellte Reagan am Ende zufällig recht behalten hat, denn er verfügte über eine kohärente politische Strategie, den politischen Willen und das aus direkten eigenen Erfahrungen mit kommunistischen Funktionären gewonnene Urteilsvermögen. Dieses basierte auf der Annahme, dass die kommunistischen Führer in der Sowjetunion sich nicht wesentlich anders verhalten und denken würden als die kommunistischen Gewerkschaftsfunktionäre der 1940er Jahre in Kalifornien. Diese allein auf Urteilskraft gestützte Annahme erwies sich erstaunlicherweise als zutreffend, und vor diesem Hintergrund erkannte Reagan auch schon nach seinem ersten persönlichen Gespräch mit Michail Gorbatschow, dass er es hier mit einem völlig anderen Typus zu tun hatte und dass diesem gegenüber jetzt doch ernsthafte Abrüstungsvorschläge gemacht werden müssten, was dann bekanntlich in sehr rascher Folge und anfangs zum Entsetzen seiner Berater geschah. In Deutschland wurde zur Zeit der Gespräche in Reykjavík vom Oktober 1986 Gorbatschow noch für einen weiteren kommunistischen Funktionär gehalten, dem man nicht trauen könne. Helmut Kohl hat ihn zu jener Zeit sogar mit Goebbels verglichen. Um die Darstellung für einen kurzen Text wie diesen zu verknappen und zu pointieren, habe ich mich ein wenig personalisierend auf Ronald Reagan konzentriert. Dahinter steht aber ein massives Umschlagen des Meinungsklimas in den USA Ende der 1970er Jahre, das die Kandidatur und schließlich die Wahl Reagans zum Präsidenten überhaupt erst ermöglichte. Es ist die Wirkung einer komplexen Faktorenstruktur, zu der ideengeschichtlich die Aktivität und Ausstrahlung jener anfangs erwähnten größeren Gruppe antikommunistischer Intellektueller nicht unwesentlich beigetragen hat. Bloße äußere Ereignisse wie der sowjetische Einmarsch in Afghanistan, der Stillstand der Abrüstungsverhandlungen, die Aufstellung der sowjetischen SS-20-Raketen und die Enttäuschung darüber, dass die Ostblockländer die Menschenrechtsteile der Schlussakte von Helsinki aus dem Jahre 1975 nicht politisch umsetzten, erklären hier gar nichts, denn ähnliche Verhaltensweisen der Gegenseite hatte man jahrelang unter beschwichtigenden Erklärungen hingenommen und ohne große Empörung geduldet. Entscheidend war, dass man all dies nun vor einem veränderten Hintergrund interpretierte und Gegenmaßnahmen auf einer Vielzahl von komplex ineinander spielenden Ebenen einleitete. Zeitdiagnostik, die das politische Handeln berät und leitet, findet immer unter den Bedingungen unzureichender Information statt. Es ist gerade deshalb ausgesprochen sinnvoll und legitim, in solchen Fällen, in denen der Ausgang einer Ereigniskette bekannt, also eine Zäsur eingetreten ist, rückblickend die entsprechenden Diagnosen und ihre Prämissen zu bewerten, um nicht die
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gleichen Irrtümer zu wiederholen. Aus dem massiven Scheitern bestimmter Typen von Zeitdiagnostik kann für die Zukunft vielleicht ein wenig gelernt werden.
3. F olgerungen für die D iagnostik der l aufenden E reignisse : B assam Tibi und der politische I sl am Mittlerweile ist an die Stelle des einst so gewohnten Kalten Krieges ein neuer Krieg der USA gegen antiwestlichen Terror getreten. Da das auslösende Moment ebenfalls als klare Zäsur zu erkennen ist, nämlich der Anschlag vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York, und da sich diese Entwicklung nur im Zehnjahresabstand an das Ende des Kalten Krieges anschließt, lassen sich hier vielleicht einige Erfahrungen übertragen. Besonders bemerkenswert ist die personelle Kontinuität vieler Diagnostiker. Wer im Kalten Krieg die Schuld und das Verurteilenswerte vor allem auf der Seite des Westens sah, kommt in der Auseinandersetzung mit dem politischen Islamismus zu ganz ähnlichen Überlegungen und interpretiert den Krieg gegen den Terror als unbegründeten und illegitimen Angriffskrieg. Noam Chomsky, Susan Sontag und viele andere mögen hierfür als Beispiel gelten. Es wäre zwecklos und unergiebig, hier einen moralischen Vorwurf zu erheben. Analytisch gesprochen, muss die Ursache für diese Übereinstimmung in der Identität der Prämissen gesucht werden. Der Westen gilt als massiv überlegen und hochgerüstet, deshalb sei es nur zu verständlich, wenn die andere Seite, in die Defensive gedrängt, mit Terrorismus als Strategie der Schwachen reagiert. In allen Konflikten zunächst einmal den Westen selbst verantwortlich zu machen, kann in der Folge der Vietnam-Diskussion seit 1966/67 geradezu als habituell eingeübt bei ganzen Professoren- und Studentengenerationen gelten.9 Die zeitdiagnostischen Prämissen dieser seltsam verzerrten Weltwahrnehmung müssen, das ist der erste Schritt einer aufklärerisch erneuerten Zeitdiagnostik, systematisch aufgearbeitet werden. In einem zweiten Schritt muss der Versuch unternommen werden, die aktuellen Konflikte in ihrer eigenen Dynamik und in ihrem längerfristigen Werden zu verstehen, nicht jedoch Fehlanalysen aus der Zeit des Kalten Krieges auf die jetzige Situation zu übertragen, denn das würde nur zu neuen, möglicherweise schlimmeren Fehlern führen. Ein zeitdiagnostisches Verständnis der Tiefendimension dieses Konflikts muss die in der Zeit des Kalten Kriegs eingeübten Urteilsstrukturen überwinden, die bei unreflektierter Übernahme zu Vorurteilen degenerieren, und stattdessen auf neue, kritisch reflektierte Prämissen zurückgreifen. Eine enge Kooperation mit Intellektuellen, die eine profunde Kenntnis der arabischen 9 | Hollander, Paul: The Survival of the Adversary Culture. New Brunswick 1988.
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beziehungsweise islamischen Welt aufweisen und dies mit einer aufklärerischen Grundposition verbinden, ist hier unabdingbar. Einen solchen zeitdiagnostischen Analyseversuch hat in paradigmatischer Weise der Politik- und Islamwissenschaftler Bassam Tibi, mein Göttinger Kollege, unternommen, der den Dschihad-Islamismus als neuen Totalitarismus interpretiert. Ausgehend von aufklärerischen Grundpositionen seiner akademischen Lehrer Max Horkheimer und Jürgen Habermas, plädiert Tibi für einen säkularisierten ReformIslam, der die Religion als Privatsache strikt vom politischen Feld abtrennt, weil diese Trennung überhaupt erst freiheitsermöglichend ist. In historischer Perspektive vermag Tibi zu zeigen, dass die antiwestliche Grundeinstellung in islamischen Ländern keineswegs, wie von vielen Fernsehdiagnostikern permanent wiederholt wird, vordergründig auf den Palästina-Konflikt oder auf die Hegemonialpolitik der USA zurückzuführen ist, sondern auf die von Europa ausgehende westliche Expansion seit 1500, welche die globale Ausbreitung und Durchsetzung des Islam gestoppt hat (man denke an die Belagerungen von Wien 1529 und 1683), und diesem ein gegenteiliges globales Modell entgegengestellt hat, das heute als marktwirtschaftliche Konsumgesellschaft jene explosive Mischung von Hass, Neid und Begehren auf sich zieht, die den politischen Islamismus so vielen als attraktive Ideologie erscheinen lässt. Der neue Totalitarismus ist in dieser Interpretation nur die allerneueste Antwort auf die Krise des Islam.10 Dessen Krise besteht nach dem Selbstverständnis des fanatischeren Teils unter seinen Anhängern im Abbruch der bis etwa 1500 erfolgreichen islamischen Expansion durch von da an gewonnene westliche Überlegenheit. Der Neototalitarismus wird insofern als Antwort angesehen, als er wie schon seine beiden totalitären Vorgänger, der Kommunismus und der Faschismus, die technologischen Instrumente der Moderne als Mittel benutzt, um deren individualistische, menschenrechtliche und kulturelle Grundlagen verachtungsvoll zu bekämpfen. So wird die Moderne halbiert.11 Das Ziel bleibt letztlich ein globaler Islamismus, keineswegs jedoch eine pluralistische Koexistenz der Religionen und Kulturen, wie das wider besseres Wissen immer noch von vielen Anhängern eines christlich-islamischen »Dialogs« behauptet wird. Welche Gründe könnte es dafür geben, dieser, durchaus kämpferischen, Diagnose mehr zu trauen als anderen? Auch hier zeigt sich wieder, wie im Falle des Kalten Krieges, dass es darauf ankommt, zu welcher Zeit und in welchen politisch-gesellschaftlichen Konstellationen das Urteilsvermögen desjenigen entwickelt, ausgebildet und geschult worden ist, der die Situation analysiert und Folgerungen für das Handeln unter der Bedingung unvollständiger In10 | Lewis, Bernard: Die Wut der arabischen Welt – Warum der jahrhundertelange Konflikt zwischen dem Islam und dem Westen weiter eskaliert. Frankfurt a.M. 2003. 11 | Tibi, Bassam: Der neue Totalitarismus – »Heiliger Krieg« und westliche Sicherheit. Darmstadt 2004, S. 92f.
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formation daraus zieht. Die Verpflichtung gegenüber der Aufklärung – und nicht gegenüber einer kulturrelativistischen Aufklärungskritik 12 – ist sicherlich ein entscheidender erster Baustein. Hinzu kommt die genaue, auch interne Kenntnis der Protagonisten der Ideenwelt, um die es geht. Der Zugang zu ihrer Denkweise und Charakterstruktur ist entscheidend – genau wie im Fall der New York Intellectuals. Bassam Tibi mit seiner akademischen Sozialisation in Deutschland, seiner Herkunft aus Damaskus und seiner internationalen Lehrtätigkeit, nicht nur in den USA, sondern auch in Indonesien, der Türkei, Ägypten und einigen anderen Ländern, verfügt sowohl über die entsprechende Perspektive eines Reform-Islam, der auf der Trennung von Religion und Politik beruht, als auch über die Perspektive einer demokratischen, aufklärungsorientierten und säkularen Politik. Seinem Konzept des Euro-Islam als zeitdiagnostischem Perspektivpunkt dürfte deshalb eher Vertrauen entgegenzubringen sein als denjenigen Islamgelehrten, die aus Identifikation mit ihrem Gegenstand zu Beschönigungen und Beschwichtigungsappellen neigen.
4. W ege aus den S ackgassen des opinion mainstreaming : A nt wort versuche des roman expérimental Die Akademisierung der gegenwartswissenschaftlichen Soziologie hat diese von der Zeitdiagnostik entfernt. Um des akademischen Reputationsgewinns willen wird der Bezug zur Öffentlichkeit zurückgefahren. Es ist momentan mehr Geld zu verdienen mit festen Stellen und damit durch Anpassung an das opinion mainstreaming, als auf dem freien Markt der Zeitdiagnostik. Die Deutungskraft hat nachgelassen und wird zunehmend ausgelagert in Formen öffentlicher Intellektualität. Damit geht die zeitdiagnostische Aktivität und Kompetenz wieder dorthin, wo die Behauptung am Markt immer noch nicht durch institutionelle Erstarrung und fachspezifische Engführung ersetzt worden ist: zur Literatur. Ich sehe hier keine Flucht ins Erzählen, sondern eine andere, im Moment relativ klar sehende und intellektuell erfolgreichere Form 12 | Schließlich ist Tibi bei Max Horkheimer in die Lehre gegangen. Hier wäre zu fragen, ob nicht möglicherweise Horkheimers/Adornos Dialektik der Aufklärung das Produkt einer Fundamentalfrustration an der Aufklärung in einem der dunkelsten Momente der Geschichte, nämlich 1944 gewesen ist. Gemeint war eine Dialektik, gemeint waren die sich notwendig ergebenden Schattenseiten, gemeint war aber wohl doch nicht eine Abrechnung mit der Aufklärung und ihre Ersetzung durch etwas ganz Anderes – wie heute die Lektüre in vielen Universitätsseminaren und Symposien suggeriert. Die Lehrpraxis von Horkheimer nach dem Zweiten Weltkrieg jedenfalls hatte immer stark liberale, westliche, aufklärerische Züge, wenn auch mit einem erheblichen Anteil von philosophischem, schopenhauerianischem Pessimismus durchzogen.
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von Zeitdiagnostik gegenüber dem geistig gestutzten und dadurch beschränkten akademischen Diskurs. Möglicherweise ist die zeitdiagnostische Kompetenz übergegangen zu einer fast selbst schon wissenschaftlich, nämlich empirisch-experimentell vorgehenden Art von Literatur, dem Experimentalroman. Émile Zola hat diese Idee, in quasi naturwissenschaftlicher Weise die Reaktionen von Romanfiguren auf verschiedene Versuchsanordnungen durchzuprobieren, schon im Jahr 1880 in einem literaturtheoretischen Text entwickelt.13 Es ist diese Technik Zolas, der sich zwei moderne gesellschaftsanalytische Experimentalromane der neueren französischen Literatur bedienen, nämlich Michel Houellebecqs Unterwerfung (2015) und Jean Raspails Das Heerlager der Heiligen (1973). Erst der überwältigende Erfolg von Houellebecqs Text hat dem – sehr viel wüsteren und grelleren – Roman von Jean Raspail zu einer neuen Aufmerksamkeit verholfen, und die erschreckende Aktualität beider Romane wurde von einigen Fachrezensenten rasch in der übereinstimmenden gesellschaftsanalytischen Grundfrage erkannt: Wie konnte es zur weitgehend widerstandslosen Unterwerfung Frankreichs unter äußere Mächte und Gruppen kommen? Darin zeigt sich ein französisches Trauma seit der Kapitulation vor Hitlers Truppen am 22. Juni 1940 im Wald von Compiègne. Wie konnte das passieren? Wo liegen die Ermöglichungsbedingungen und Ursachen? Wie weit waren Gesellschaftsstrukturen schuld, wie weit Persönlichkeitsmerkmale?14
13 | Le roman expérimental ist in Analogie zu naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen entwickelt. Ausgangspunkt ist eine Fragestellung, zum Beispiel welche Auswirkungen ein leidenschaftliches Liebestemperament auf den Liebenden selbst, auf seine Familie und die Gesellschaft hat. Diese Fragestellung wird dann im Verlauf eines Romans einer Reihe von Tests unterworfen und durch bestimmte Milieus geführt. Der Romancier begnügt sich nicht mit bloßer Beobachtung und Beschreibung, er schickt die Hauptperson seines Romans (so zum Beispiel Balzac seinen Baron Hulot in La Cousine Bette) auf experimentelle Weise durch Situationen. Zola resümiert: »Zusammengefasst: das ganze Verfahren besteht darin, die Tatsachen aus der Natur zu nehmen, dann ihren Mechanismus zu studieren und durch Veränderung der Umstände und des Milieus auf sie einzuwirken, ohne sich jemals von den Gesetzen der Natur zu entfernen. Am Ende ergibt sich dann eine Erkenntnis über den Menschen, eine wissenschaftliche Erkenntnis in seinem individuellen und sozialen Verhalten.« Zit. nach Kayser, Wolfgang: Die Wahrheit der Dichter. Hamburg 1959, S. 123. Man wird genauer festhalten müssen, dass es sich um eine Art anschauliches Gedankenexperiment oder eben literarisches Experiment handelt. Zolas These vom Experimentalroman hat weitreichende Folgen gehabt, so bezieht sich zum Beispiel Robert Musil auf diesen Begriff und baut seinen Mann ohne Eigenschaften nach dem Konzept des Gedankenexperiments. 14 | Vgl. Bloch, Marc: Die seltsame Niederlage – Frankreich 1940. Frankfurt 1992.
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Beide Romane interessieren mich an dieser Stelle nicht so sehr unter literaturwissenschaftlichen Aspekten einer Qualitätsbeurteilung, genannt »literarische Wertung«, und weniger noch unter dem Aspekt der vordergründigen politischen Bewertung, ob sie progressiv oder reaktionär, ob sie katholisch oder islamistisch, rassistisch oder antirassistisch, sexuell oder antisexuell, gender oder transgender seien. Mich interessiert stattdessen erstens die experimentalanalytische Versuchsanordnung, zweitens die Wirklichkeitsnähe der Durchführung des Gedankenexperiments, und drittens die Qualität des verwendeten und zugrunde gelegten diagnostischen Materials. Mich interessiert also die Zerlegung beider Romane in zeitdiagnostische Gesamtstrukturen und Teilmodule mit der daran anschließenden Frage, ob die Stilform des Experimentalromans möglicherweise mehr Präzision, Deutungskraft und Wahrnehmungstiefe erbringt als andere altsoziologische Diagnoseversuche. Die Versuchsanordnung lässt sich so beschreiben: Bei Houellebecq ist es die französische Präsidentschaftswahl im Jahre 2022. Um den Wahlsieg von Marine Le Pen zu verhindern, unterstützen die Sozialisten zusammen mit den Konservativen einen fiktiven gemäßigten Islamisten, nämlich Mohamed Ben Abbes. Zugleich übernimmt Saudi-Arabien mit nahezu unbegrenzten Geldmitteln die Finanzierung der Sorbonne, an der Houellebecqs Protagonist François Literaturprofessor ist. Der Roman ist aus seiner Figurenperspektive des Literaturprofessors geschrieben und schildert die Reaktion der Politik, der Gesellschaft und vor allen Dingen typischer Intellektueller und Universitätsangehöriger auf diese Entwicklung. Im Experimentalroman von Jean Raspail spielt der Islam allenfalls am Rande eine Rolle. Es geht um eine massive Armutsmigration von einer Million Menschen, die sich aus Indien auf hundert Schiffen um das Kap der Guten Hoffnung herum und durch die Straße von Gibraltar auf die französische Mittelmeerküste zubewegt und an Ostern 2025 dort anlangt. Der alte Literaturprofessor, der am Anfang und Schluss des Romans eine Rolle spielt, bleibt letztlich doch eine der vielen Nebenfiguren. Raspail nutzt die steigende Spannung bei Annäherung der Flotte, um die Denkweise und Reaktionen der Medien, der Moderatoren, der Intellektuellen, der Journalisten und der führenden Politiker kenntnisreich und ziemlich stilsicher zu parodieren.15 Die beiden hier behandelten literarischen Zeitdiagnosen sind sogenannte Dystopien, also utopische Texte, die keine schöne, sondern eine fürchterliche Zukunft ausmalen. Utopien wie Dystopien, das hat der Utopieforscher Richard Saage gezeigt, nehmen ihren Ausgangspunkt immer von einer kritischen Zeit15 | Den Hinweis auf Jean Raspail verdanke ich meinem Kollegen Udo Bermbach. Vgl. Bermbach, Udo: Vom Untergang des weißen und christlichen Abendlandes – Zur Dystopie des Jean Raspail. In: Auf Utopias Spuren – Utopie und Utopieforschung. Hg. v. Alexander Amberger. Wiesbaden 2017, S. 325-338.
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diagnostik.16 Der negative Normativismus der Dystopik verkörpert eine Ästhetik des Schreckens, des Warnens. Die literarische Form jedenfalls, wenn sie so souverän und gekonnt wie im Falle Houellebecqs angewendet wird, ermöglicht eine sehr viel anschaulichere Ausmalung der optionalen Zukunft, denn was im wissenschaftlichen Text Szenario und Spekulation sein müsste, wird hier zur Realoption, in die sich die Leser auch über einen so wenig sympathischen Protagonisten wie François einfühlen können. Wie ist die zeitdiagnostische Prägnanz dieser beiden Bücher einzuschätzen? Weil sie literarische Texte sind, werden sie den meisten Sozialwissenschaftlern suspekt erscheinen, denn diese präferieren die Textsorte des möglichst unverständlich geschriebenen Fachaufsatzes ohne jede Deutungsmacht, abgesehen vielleicht von der untergründigen Repetition gängiger Vorurteile. Darüber hinaus sind beide alles andere als wissenschaftlich wertfrei, sondern im Falle Houellebecqs ironisch zurückhaltend, aber dennoch deutlich, bei Raspail überdeutlich wertend. Literatur hat der Migrationssoziologie voraus, klar und ohne zwischengeschaltete mainstream-ideologische wie methodologische Filter Erkenntnismöglichkeiten experimentell ausbuchstabieren zu können. Dabei steht sie immer auch in der Gefahr, durch die narrativ-rhetorische Dichte ihrer Darstellung nicht nur stellenweise über die Wahrheitsmöglichkeiten der Realität hinauszuschießen. Gottfried Benn hat das in einem seiner wichtigsten Essays so auf den Punkt gebracht: »Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz. Wahrheit muss nachgeprüft werden.«17 Gerade die Dichte der apokalyptischen Bilder mit all den Schrecknissen, wie man sie etwa aus der Malerei von Hieronymus Bosch kennt, impliziert eben auch die kalkulierte Verführung mittels einer scheinbaren Evidenz, die über das Reale weit hinausschießt und deshalb die tiefsten Urängste der Leser mobilisiert. Jean Raspail hat mit dem Heerlager der Heiligen ein 1984 von rechts geschrieben und das Big Other an die Stelle von George Orwells Big Brother gesetzt. Vor allem der lastende Stimmungs- und Meinungsdruck in den aktuellen Einwanderungsgesellschaften wird in einer so nachdrücklichen Weise anschaulich gemacht, wie dies keiner sozialwissenschaftlichen oder medienwissenschaftlichen Analyse von öffentlicher Meinungsmanipulation möglich gewesen wäre. Nun könnte man einwenden, dass bestimmte literarische Texte wie die beiden hier kurz vorgestellten selber eine Art »soziologischen Blick« aufweisen. Es werden verschiedene Persönlichkeitstypen und gesellschaftliche Sphären (Universitätssystem, Fernsehen, Geheimdienstmilieu, Gefangene, 16 | Vgl. Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit. Darmstadt 1991, S. 5-7, 1624, 78-92, 152-164, 236-242, 302-312. 17 | Benn, Gottfried: Essays – Reden – Vorträge – Gesammelte Werke in vier Bänden. Bd. 1. Stuttgart 1989, S. 292.
Zeitdiagnosen als Mittel politischer Deutungsmacht
Militär, politische Führungsebene) in ihren unterschiedlichen Reaktionsformen strukturell analysiert. Was beide literarischen Texte aber vielen typischen wissenschaftlichen Studien voraushaben, ist die Entfaltung einer durchaus auch soziologischen Phantasie, die es ihnen ermöglicht, diese Personen und Strukturen unter einen massiven experimentellen Druck zu setzen durch die Konstruktion von gegenwartsverankerten Szenarien der näheren und nächsten denkbaren Zukunft. Anders als in rein imaginativen literarischen Werken, in denen Autorinnen und Autoren sich mehr oder weniger interessante Geschichten ausdenken und hoffen, damit ein Publikum zu interessieren, handelt es sich hier um die strukturlogisch gedachte und dadurch beinahe zwingend erscheinende Verlängerung von aktuellen Gegenwartstendenzen in ihre projektive Fortsetzung. Das würde in der akademischen Soziologie als unwissenschaftlich angesehen werden, ganz abgesehen von den politisch-ideologischen Restriktionen, denen die heutige Migrationssoziologie durch ihre Geldgeberinstitutionen ausgesetzt ist. Die soziologische Imagination, die C. Wright Mills einst einforderte,18 scheint also tatsächlich in eine ganz bestimmte Literaturform ausgewandert zu sein, die ihre Vorläufer und Vorbilder in der Tat in einer Balzac-Zolaschen Wirklichkeitsliteratur findet.
5. F a zit Der sukzessive Gang durch die verschiedenen zeitdiagnostischen Analysefelder führt auf einige Untiefen. Zeitdiagnostik ist kein müßiges Spiel, sondern prägt die Koordinaten der Realitätswahrnehmung. Auf deren Basis erst werden bestimmte Ereignisse zur Kenntnis genommen und eingeordnet, während andere Fakten gar nicht erst auf den Bildschirm des Beobachters gelangen. Sie leitet also die Auswahl und Einschätzung der Faktizität. Und genau dadurch kann sie Deutungsmacht ausüben, oder aber auch vorherrschende Deutungsvorgaben der Mächtigen und ihrer Meinungsmacher durch Gegendeutungen und insbesondere durch Medienkritik untergraben und erschüttern, wie das bei Houellebecq und Raspail der Fall ist. Denn aus Gründen einer kulturellen Sonderentwicklung im Medienbereich, aber auch an den Universitäten in den meisten westlichen Ländern, übrigens einschließlich der USA, ist ein erheblicher Teil der aktuellen Zeitdiagnostik von einem Bias, einer systematischen, aber historisch erklärbaren Wahrnehmungsverzerrung aus elitaristischer Perspektivik geprägt. Es kommt deshalb sehr genau darauf an, zu überprüfen, wer aus welcher Perspektive und mit welcher Absicht spricht. Unser klassisches ideologiekritisches Instrumentarium müssen wir dabei sehr sorgfältig handhaben, weil es natürlich auch denunziatorisch und zum Zweck der Aus18 | Mills, Charles Wright: The Sociological Imagination. New York 1959.
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schaltung abweichender Meinungen, also zum Zweck des opinion mainstreaming im Sinne selbsternannter Eliten, eingesetzt werden kann. Aus diesem Grunde ist es außerordentlich wichtig, gerade auch kritische und abweichende Diskursformen, auch solche, die aus dem politischen oder soziologischen ins literarische Medium wechseln, heranzuziehen und zur Kenntnis zu nehmen. Und manchmal muss man eben zum Zweck der Aufklärung eine Umwertung vornehmen, um vorherrschende Vorurteile kritisieren, in Frage stellen und eventuell abbauen zu können. Wieviel Deutungsmacht steckt darin? Es handelt sich wohl eher um die sanfte, aber scheinbare Gewissheiten mittel- und langfristig erschütternde Macht sokratischen Fragens.
Postmoderne: vordergründige Ablehnung, untergründiger Erfolg Blick zurück auf eine besonders deutungsmächtige Zeitdiagnose Wolfgang Welsch
I. Z ur E nt wicklung der P ostmoderne in L iter atur , A rchitek tur und P hilosophie 1. Die nordamerikanische Literaturdebatte (1959-69) Nach sporadischen Verwendungen des Ausdrucks (die erste schon 1870 in England, dann sprach 1917 Rudolf Pannwitz in Die Krisis der europäischen Kultur vom »postmodernen Menschen«), die ohne nachhaltige Folgen blieben, begann die Diskussion um die Postmoderne 1959 in der nordamerikanischen Literaturtheorie und -kritik.1 Dabei war »Postmoderne« zunächst eine Negativdiagnose. Irving Howe konstatierte (und bald ist ihm Harry Levin darin gefolgt), dass die Literatur der Gegenwart im Vergleich mit der großen Literatur der Moderne (Yeats, Eliot, Pound, Joyce) weit weniger stark und innovatorisch sei; in diesem Sinn bezeichnete er sie als »post-modern«.2 Zunächst handelte es sich also um eine Erschlaffungsdiagnose.
1 | Umfassend habe ich die Geschichte des Ausdrucks »postmodern« dargestellt in: Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Berlin 72008, S. 9-43. Meine weiteren Ausführungen nehmen verschiedentlich Aspekte jenes Buches auf. Vgl. zum Thema auch: Wege aus der Moderne: Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Hg. v. Wolfgang Welsch. Berlin 21994. 2 | Vgl. Howe, Irving: Mass Society and Postmodern Fiction. In: Partisan Review XXVI (1959), S. 420-436; Levin, Harry: What Was Modernism? In: The Massachusetts Review I (1960), S. 609‑630.
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Zehn Jahre später, 1969, machte Leslie Fiedler (ähnlich auch Susan Sontag) aus dieser Negativ- eine Positivdiagnose: die zeitgenössische Literatur (Vian, Barth, Cohen, Mailer) ziele auf etwas anderes als die klassische Moderne und dürfe daher nicht nach deren Maßstäben beurteilt werden. Sie besitze ihre eigenen Meriten. Fiedler sah diese vor allem in der neuartigen Verbindung von Elite‑ und Massenkultur. Unter der Überschrift »Cross the Border – Close the Gap« plädierte er für eine Verbindung von high und low, Extravaganz und Trivialität, Mythos und Wirklichkeit, Traumwelt und Maschinenwelt.3 Den postmodernen Schriftsteller definierte er als »Doppelagenten«:4 »gleichermaßen zu Hause in der Welt der Technologie und im Reich des Wunders«.5 – Übrigens hat Fiedler diesen Aufsatz nicht in einer Literaturzeitschrift, sondern im Playboy veröffentlicht; Grenzüberschreitung, das Programm dieser Literatur, war zugleich ein Verfahren der sie propagierenden Literaturkritik. Soziologisch wie semantisch ist also laut Fiedler eine Doppelstruktur charakteristisch: die Verbindung von elitärem und populärem Geschmack beziehungsweise von Fiktion und Wirklichkeit. Ein postmodernes Werk ist in sich plural, es ist mindestens doppelt kodiert.
2. Die Übertragung des Begriffs auf die Architektur 1975 hat Charles Jencks den Postmoderne-Begriff auf die Architektur übertragen.6 Jencks war mit der nordamerikanischen Literaturdebatte vertraut, und sein architektonischer Postmoderne‑Begriff stimmt mit dem literarischen Fiedlers überein. Er scheint geradezu mit Fiedlers Stift zu schreiben, wenn er erklärt: 3 | Fiedler, Leslie: Cross the Border – Close the Gap. In: Playboy Dezember (1969), S. 151, 230, 252-258, deutsch: Überquert die Grenze, schließt den Graben! In: Wege aus der Moderne. Hg. v. Wolfgang Welsch. Berlin 1994, S. 57-74. 4 | Ebd., S. 69. 5 | Ebd., S. 73. 6 | Jencks’ wegweisender Aufsatz dazu: The Rise of Post‑Modern Architecture. In: Architecture – inner Town Government. Eindhoven 1975 und in: Architecture Association Quarterly 7, 4 (1975), S. 3-14. Zuvor hatte nur Joseph Hudnut den Terminus 1949 im Titel eines Aufsatzes verwendet, ohne allerdings den Ausdruck im Text aufzugreifen und zu erläutern, so dass man vermutete, er habe lediglich seinem Harvard‑Kollegen Gropius einige schlaflose Nächte bereiten wollen: Hudnut, Joseph: The Post‑modern House. In: ders.: Architecture and the Spirit of Man. Cambridge 1949. Ferner fand sich der Terminus polemisch bei Nikolaus Pevsner, dem Papst der angelsächsischen Architekturkritik, der durch dieses Etikett die moderne‑abtrünnigen »Anti‑Pioniere« bloßstellen wollte: Pevsner, Nikolaus: Architecture in Our Time. The Anti-Pioneers. In: The Listener 29. Dezember 1966 und 5. Januar 1967.
Postmoderne: vordergründige Ablehnung, untergründiger Er folg »Der Fehler der modernen Architektur war, dass sie sich an eine Elite richtete. Die Postmoderne versucht, den Anspruch des Elitären zu überwinden, nicht durch Aufgabe desselben, sondern durch Erweiterung der Sprache der Architektur in verschiedene Richtungen – zum Bodenständigen, zur Überlieferung und zum kommerziellen Jargon der Straße. Daher die Doppelkodierung, die Architektur, welche die Elite und den Mann auf der Straße anspricht.« 7
Das läuft auf »Cross the Border – Close the Gap« mittels Säule und Palmendekor hinaus; Jencks’ »Doppelkodierer« sind die architektonischen Revenants von Fiedlers literarischen »Doppelagenten«. Ein postmoderner Bau muss Jencks zufolge mindestens zwei Architektursprachen gleichzeitig verwenden, etwa traditionelle und moderne, elitäre und populäre, internationale und regionale Codes. Im Übrigen gab Jencks einen soziologischen Grund für die postmodernen Tendenzen an. Im tiefreichenden Pluralismus der modernen Gesellschaften sah er den eigentlichen Motor der postmodernen Tendenzen: »Die Diskontinuität der Geschmackskulturen ist es, die sowohl die theoretische Basis als auch die ›Doppelkodierung‹ der Postmoderne erzeugt.« 8 1980 setzte Paolo Portoghesi mit der Ausstellung Die Gegenwart der Vergangenheit bei der ersten Architektur-Biennale in Venedig einen anderen Akzent.9 Moderne und Internationaler Stil hatten Portoghesi zufolge ihr Monopol verloren, die Baugeschichte sollte jetzt ins Zentrum des architektonischen Denkens zurückkehren. Die Folge war, dass die architektonische Postmoderne fortan mit Antimodernismus, Traditionalismus und Neo-Historismus assoziiert werden konnte. – Darauf wird bei Habermas’ Postmoderne-Kritik zurückzukommen sein. Ein wichtiger Inspirator für postmoderne Tendenzen in der Architektur war der US-amerikanische Architekt Robert Venturi. Er plädierte 1966 für »Komplexität und Widerspruch in der Architektur«. Nur eine solche Architektur, meinte er, könne »dem Reichtum und der Vieldeutigkeit moderner Lebenserfahrung« entsprechen.10 Venturis Ideen bildeten ein Unterfutter etlicher postmoderner Versuche.
7 | Jencks, Charles: Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition. Stuttgart 21980, S. 8. 8 | Ebd., S. 6. 9 | Vgl. auch das Begleitbuch von Portoghesi, Paolo: Dopo l’architettura moderna. Rom 1980, deutsch: Ausklang der modernen Architektur. Zürich 1982. 10 | Venturi, Robert: Komplexität und Widerspruch in der Architektur. Hg. v. Heinrich Klotz. Braunschweig, Wiesbaden 1978, S. 23.
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3. Postmoderne in der Philosophie Die philosophische Postmoderne-Diskussion setzte erst zwanzig Jahre nach der literaturwissenschaftlichen ein. Den Ausgangspunkt bildete Jean‑François Lyotards Schrift La Condition postmoderne (deutsch: Das postmoderne Wissen) von 1979. Lyotard ging vom Unterschied modernen und postmodernen Wissens aus. Der moderne Wissenstypus zielt auf eine »Meta-Erzählung«, das heißt auf eine Gesamtidee, welche sämtliches Einzelwissen umfassen und auf ein politisches und soziales Ziel ausrichten soll. Hauptbeispiel ist das Emanzipationsmodell der Aufklärung (andere Kandidaten sind die idealistische Erzählung von der Teleologie des Geistes oder die marxistische vom Übergang zur klassenlosen Gesellschaft oder die kapitalistische Erzählung von der Beglückung aller durch die Dynamik von Kapital und Markt). Diese für die Moderne typische Ausrichtung auf eine Metaerzählung ist Lyotard zufolge inzwischen unglaubwürdig geworden: »In äußerster Vereinfachung kann man sagen: ›Postmoderne‹ bedeutet, dass man den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt.«11 Diese Umstellung resultiert aber nicht aus einer diffusen Stimmungslage, sondern ergibt sich aus dem Wandel des wissenschaftlichen Wissens, wie ihn grundlegende Revisionen seit Beginn des 20. Jahrhunderts bewirkt haben, die mit Namen wie Einstein, Heisenberg und Gödel verbunden sind. Diesen neuen Wissenstypus des 20. Jahrhunderts, der nicht mehr auf Einheit, sondern auf Pluralität, Komplementarität und Unausschöpf barkeit setzt, bezeichnet Lyotard als »postmodern«. Es geht ihm zufolge also nicht um ein Abrücken von Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, sondern gerade um deren Realisierung. Die Postmoderne wendet sich von den Wissensmythen der Moderne (den Meta-Erzählungen) ab und dem wirklichen Wissen zu. Übrigens zielten nach Lyotards Ansicht ebenso wie die wissenschaftlichen auch die künstlerischen Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts auf die Sprengung der alt-modernen Totalitätshoffnungen: »Was seit einem Jahrhundert in der Malerei oder in der Musik geschehen ist, antizipiert gewissermaßen die Postmoderne, die ich meine.«12 Neuartig ist das Verhältnis der Postmoderne zur Geschichte. Lyotard zufolge ist »Postmoderne« kein Epochenbegriff, sondern ein Einstellungsbegriff.13 11 | Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien 1993, S. 14. 12 | Lyotard, Jean-François/Blistène, Bernhard/Burkhardt, François/Daghini, Giairo/ Derrida, Jacques: Immaterialität und Postmoderne. Berlin 1985, S. 38. Lyotards Hauptbeispiel für das frühe 20. Jahrhundert ist Marcel Duchamp, für dessen zweite Hälfte John Cage. 13 | »›Postmoderne‹ ist nicht im Sinn der Periodisierung zu verstehen« (Lyotard, JeanFrançois/Thébaud, Jean-Loup: Au Juste. Paris 1979, S. 34).
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Der postmoderne »Gemüts‑ oder Geisteszustand«14 – der sich auf Pluralität einlässt, anstatt Einheitsphantasien nachzujagen – ist nicht erst heute möglich, sondern war das schon früher, schon vor der Moderne und ebenso inmitten der Moderne. Hauptbeispiel für das Erstere ist Aristoteles (der Philosoph, dem Lyotard sich am nächsten fühlte),15 für das Letztere ist es Diderot (der Diderot »der Salons, von Jacques le fataliste und Rameaus Neffe«).16 Auf diese Weise befreit Lyotard die Auffassung der Postmoderne von dem noch immer dem Innovationsgestus der Moderne folgenden (und insofern ganz modernistisch bleibenden) gängigen Verständnis derselben als einer neuen Epoche oder der neuesten Mode (»ab 1970« oder dergleichen).17 Er entzieht sie dem einfachen Fortschrittsdenken der Moderne. Handelt es sich also bei »Postmoderne« überhaupt um eine Zeitdiagnose? Ja und nein. Einerseits wird die These vertreten, dass jetzt und in naher Zukunft ein postmodernes Denken – ein Denken im Sinn der Pluralität – angezeigt ist. Andererseits wird aber auch darauf hingewiesen, dass ein solches Denken eigentlich immer schon angebracht war und tatsächlich schon vor der Postmoderne vielfach praktiziert wurde. Unter den Philosophen, die man sich als »postmodern« zu etikettieren angewöhnt hat, ist Lyotard der einzige, der sich selbst gerne so bezeichnet hat. Bei Derrida ist die Lage schon anders: Er hat die Bezeichnung zwar nicht rundum abgelehnt, aber doch »Dekonstruktion« entschieden vorgezogen. Und Foucault stellte sich, in einem Interview nach der Postmoderne befragt, ignorant: »Ich bin nicht auf dem Laufenden.«18 Wie immer es mit der Etikettierung stehen mag, eine sachliche Unterscheidung ist wichtig. Es gibt mindestens zwei Versionen philosophischer oder philosophie-naher Postmodernität. Da ist zum einen die Denkart, die Differenz und Widerstreit ins Zentrum stellt. Das ist der Fall bei Lyotard, Derrida und Deleuze. Lyotard hat diese Version als »achtenswerte Postmoderne«
14 | Lyotard, Jean-François: Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens. Berlin 1986, S. 97. 15 | Vgl. Lyotard/Thébaud: Au Juste, S. 52. 16 | Lyotard, Jean-François: Rasche Bemerkungen zur Frage der Postmoderne. In: Immaterialität und Postmoderne. Berlin 1985, S. 80-88, hier S. 84. Ferner: »Freud, Duchamp, Bohr, Gertrude Stein, schon Rabelais und Sterne sind postmodern, insofern sie die Paradoxien betonen« (ebd., S. 86). 17 | Ähnliche Argumente hat Gianni Vattimo vorgebracht: Das Ende der Moderne. Stuttgart 1990. 18 | Foucault, Michel: Dits et Ecrits. In: ders.: Michel Foucault. Schriften in vier Bänden. Bd. IV: 1980-1988. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt a.M. 2005, S. 541f.
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bezeichnet.19 Ihr steht (im öffentlichen Bewusstsein weitaus stärker rezipiert) eine andere Version gegenüber, die auf Beliebigkeit, Indifferenz und anything goes setzt (Vattimo, Baudrillard, Virilio etc.). Lyotard hat diese Version als konsumistischen und diffusen Postmodernismus gebrandmarkt.20
II. D er S treit um M oderne und P ostmoderne in der B undesrepublik D eutschl and 1. Habermas: »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« (1980) Habermas hat den Angriff auf die Postmoderne 1980 in seiner Adorno‑Preis‑ Rede »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt« eröffnet.21 Er setzte die Postmoderne mit neuem Historismus und Konservativismus gleich und kennzeichnete sie durch Vokabeln wie »Antimoderne« und »Tendenzwende«. Fortan bildete diese Rede einen kanonischen Bezugspunkt der Debatte. Aber worauf bezog Habermas sich eigentlich? Nicht auf die philosophische Postmoderne, nicht auf Lyotards La Condition postmoderne von 1979, sondern auf die Architektur, genauer: auf Portoghesis Ausstellung Die Gegenwart der Vergangenheit bei der ersten Architektur-Biennale in Venedig 1980. Habermas glaubte, darin das Symptom eines Aufstandes gegen das Projekt der Moderne im Sinn der Aufklärung zu erkennen. Ein Jahr später allerdings (in einer weniger stark beachteten Rede – der Eröffnungsrede zur Ausstellung Die andere Tradition. Architektur in München von 1800 bis heute,22 veranstaltet von der Bayerischen Rückversicherung) blieb von den pauschalen Vorwürfen gegen die Postmoderne kaum noch etwas übrig. Habermas sprach die Postmoderne jetzt vom Vorwurf des »Neohistorismus« frei,23 sie sei weder nostalgisch noch neokonservativ, und zum politischen
19 | Lyotard, Jean‑François: Der Widerstreit. München 1987, S. 12. 20 | Vgl. Lyotard: Immaterialität und Postmoderne, S. 100. Es ist bezeichnend, dass Alan Sokal in seiner Parodie postmoderner Scharlatanerie zwar etliche Postmodernisten aufführen und zitieren kann (von Baudrillard über Lacan bis zu Virilio und Latour), dass er den Vorwurf aber nicht auf Lyotard und Derrida auszudehnen vermag. Vgl. Sokal, Alan: Transgressing the Boundaries: Towards a Transgressive Hermeneutics of Quantum Gravity. In: Social Text, 46/47 (1996), S. 217-252. 21 | Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: ders.: Kleine politische Schriften I-IV. Frankfurt a.M. 1981, S. 444-464. 22 | Habermas, Jürgen: Moderne und postmoderne Architektur. In: ders.: Die Neue Unübersichtlichkeit: Kleine Politische Schriften V. Frankfurt a.M. 1985, S. 11-29. 23 | Ebd., S. 26f.
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Schlachtruf sei »Postmoderne« auch erst sekundär und von außen geworden.24 Man konnte glauben, der ganze Streit um die Postmoderne sei nur ein Sturm im Wasserglas gewesen. Allerdings: In der öffentlichen Diskussion, in den Feuilletons und Zeitschriften herrschte weiterhin das Ritual der Gegnerschaft zwischen Modernen und Postmodernen, das Habermas 1980 angestoßen hatte.
2. Vielheit oder Einheit? Trotz mancher Gemeinsamkeiten bestand in der Tat ein grundlegender Unterschied zwischen der modernen und der postmodernen Position. Ihn kann man sich anhand von Habermas’ 1981 erschienener Theorie des kommunikativen Handelns klarmachen. Habermas sieht die Moderne dort (wie auch die Postmodernen das tun) durch beträchtliche Differenzierungen gekennzeichnet. Habermas zufolge schaffen diese aber auch Probleme. Die Moderne, meinte er, erzeugt auf dem Weg der Differenzierung ihre eigenen Aporien. Da ist erstens und grundlegend die rigide Ausdifferenzierung und Trennung der kognitiven, moralischen und ästhetischen Rationalitätsaspekte; da ist zweitens die Abspaltung der Expertenkulturen von der Alltagswelt; da ist drittens die zunehmende Fragmentierung der Alltagswelt; und all das führt viertens zu einem Auszehrungszustand der Lebenswelt, der diese zum Opfer der Kolonialisierung durch Systemimperative werden lässt. Habermas will nun zwar die Ausdifferenzierung beibehalten, aber doch zugleich zwischen den Differenzierungsgliedern neue Verbindungen stiften oder alte Verbindungen reaktivieren. Die Prozesse rigider Differenzbildung sollen insgesamt durch eine Art Kreislauftherapie ergänzt und modifiziert werden. So soll eine Kommunikation der Rationalitätsaspekte der Ausdifferenzierung zur Seite treten; dies soll durch eine Rückkopplung zwischen Expertenkulturen und Alltagspraxis erreicht werden; dadurch würde zugleich der Fragmentierung und Verarmung der Lebenswelt begegnet; somit wäre diese fortan Systemimperativen nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Es geht also, im Gegenzug zu den Trennungsfolgen von Differenzierung, auch um Einheit; allerdings soll diese nicht durch Weltbilder (nicht durch die auch von den Postmodernen abgelehnten Meta-Erzählungen) verordnet, sondern »in einer nichtverdinglichten kommunikativen Alltagspraxis« gewonnen werden.25
24 | Vgl. ebd., S. 12. 25 | Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2. Frankfurt a.M. 1981, S. 586.
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Die Vertreter der Moderne wie der Postmoderne plädieren also für Differenzierung. Aber während die Modernen deren Hypertrophie durch Einheitsstrategien begegnen wollen, lehnen die Postmodernen dies strikt ab. Das ist der entscheidende Unterschied. Habermas glaubt, dass Einheit so instrumentiert werden könne, dass Vielheit dadurch nicht erstickt wird, sondern erhalten bleibt. Lyotard hält das für eine verfehlte Hoffnung. Es könne keine Einheitsformen geben, welche die Vielheit nicht ersticken. Dahinter steht das Trauma der Totalismen des 20. Jahrhunderts (Nationalsozialismus, Stalinismus).26 In diesem Sinn hat Lyotard ein Jahr darauf, 1982, in dem Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?« scharf auf Habermas reagiert. Lyotard zufolge ist die Heterogenität der Rationalitätsformen strikt aufrechtzuerhalten. Auftretende Probleme sind nicht durch Vermittlungsstrategien und Integrationsrezepturen zu lösen, sondern durch Anerkennung der Differenzen in all ihrer Schärfe und Unüberschreitbarkeit zu beantworten. Man darf die Härten nicht verwischen, sondern muss ihren Konsequenzen Rechnung tragen. Wo hingegen Kommunikation propagiert und Konsens zur Pflicht gemacht wird, da wittert Lyotard Totalisierung. Er hat das Habermas fürwahr drastisch vorgehalten: »Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma, die Wirklichkeit zu umschlingen, in die Tat umzusetzen. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht‑Darstellbare, aktivieren wir die Widerstreite.« 27
3. Ein Rundumschlag gegen Postmoderne und Moderne (1985) Habermas hielt an seiner Ablehnung der Postmoderne fest. Er hat sie geradezu verstärkt. Sein Buch Der philosophische Diskurs der Moderne von 1985 ist ein vehementer Angriff auf die Postmoderne, speziell im Blick auf deren Vernunftkritik.28 Entweder entziehe diese Kritik sich der Argumentation, aber wenn 26 | Vgl. Glucksmann, André: Die Meisterdenker. Reinbek 1978. 27 | Lyotard, Jean François: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Tumult 4 (1982), S. 131-142, hier S. 142. 28 | »Die Herausforderung durch die neostrukturalistische Vernunftkritik«, erklärt Habermas im Vorwort, bilde »die Perspektive, aus der ich den philosophischen Diskurs der Moderne schrittweise zu rekonstruieren suche« (Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1985, S. 7).
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man das tue, dann steige man aus der Kommunikationsgemeinschaft der Vernünftigen aus, nehme sich also selbst aus dem Spiel. Oder die Postmoderne versuche eine argumentative Liquidierung der Vernunft, dann gerate sie aber in das Dilemma, auch die Instanz, kraft derer sie argumentiert, dementieren zu müssen, wodurch sich diese Vernunftkritik als selbstwidersprüchlich aufhebt. So weit, so gut. Allerdings betrifft Habermas’ Angriff auf die Vernunftkritik nicht nur die Postmodernen, sondern schon Nietzsche und Heidegger und – man staune – sogar die eigenen Väter, nämlich Horkheimer und Adorno. Das Buch bietet tatsächlich einen weitreichenden Rundumschlag. Offenbar lagen die Nerven damals ziemlich blank. Am meisten verwundert freilich, dass Habermas in dieser Abrechnung mit der Postmoderne auf deren eigentlichen Exponenten, auf den einzigen programmatischen Autor philosophischer Postmodernität, nämlich Lyotard, überhaupt nicht eingeht. Ob man das nun schlampig, dreist oder unseriös nennt – das Buch ist auch in dieser Hinsicht jedenfalls nicht gerade gelungen zu nennen. Was hatte hingegen Lyotard schon 1979, in seiner Programmschrift, zur Frage der Vernunft erklärt? Er diagnostizierte eine »Verschiebung der Idee der Vernunft« vom Prinzip einer universellen Metasprache zur Pluralität formaler und axiomatischer Systeme29 und verstand diese Vervielfachung als Zeichen nicht »für weniger Vernunft, sondern für erhöhte rationale Strenge«.30 Im Umkehrschluss und gegen Habermas ergab sich daraus, dass jemand, der solch gesteigerte Vernunftansprüche als »Neoirrationalismus« brandmarkt,31 seinerseits eine »Verwirrung der Vernunft« betreibt, weil er gegen gewordene Einsichten noch immer am »höchst ›modernen‹ Projekt einer universellen Sprache« festhält, am Projekt »einer Metasprache, die in der Lage wäre, ohne Rest all die Bedeutungen in sich aufzunehmen, die in den besonderen Sprachen niedergelegt sind«.32 Lyotard plädiert für Vernunft – aber auf dem Niveau nicht verblasen-allgemeiner Hypothesen, sondern wissenschaftlicher Präzision.
29 | Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 128. 30 | Lyotard, Jean François: Die Vernunftverwirrung. In: ders.: Grabmal des Intellektuellen. Graz, Wien 1985, S. 32-39, hier 33. 31 | Lyotard: Rasche Bemerkungen zur Frage der Postmoderne, S. 83. 32 | Lyotard: Die Vernunftverwirrung, S. 38f.
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III. D ie internationale D urchse t zung der P ostmoderne 1. Popularität der postmodernen Denker in Frankreich? Man könnte denken, die postmodernen Denker hätten zunächst in Frankreich reüssiert. Weit gefehlt! Akademisch schlug ihnen da nur Ablehnung entgegen. Lyotard, Derrida oder Deleuze galten als zu links, zu kritisch, zu gefährlich. Sie wurden politisch verfemt und vor die Tore der Stadt verbannt, nach Vincennes-Saint Denis (Université Paris VIII). Schließlich war das der klassische Verbannungsort für Intellektuelle: Schon Diderot hatte, gut 200 Jahre früher, dort eingesessen. Als man die postmodernen Philosophen dorthin exilierte, waren nicht nur die baulichen Verhältnisse jener Universität schier unerträglich, sondern es gab auch keine öffentlichen Verkehrsmittel, um dorthin zu gelangen, man musste stundenlange Autofahrten auf sich nehmen. Das hat sich erst 1998 geändert. Da wurde in Saint Denis das größte Fußballstadion Frankreichs, das Stade de France gebaut. Seitdem gibt es natürlich eine komfortable Métro-Verbindung. Für Fußballfans tut man eben weit mehr als für kritische Philosophen. Außerdem war die Bezahlung der Exilierten besonders niedrig. Keiner der postmodernen Philosophen hat je eine ordentliche Professur besetzt. Lyotard war gezwungen zu tingeln.
2. Weltweite Resonanz Wie kam es dann, dass die postmodernen Denker gleichwohl weltweite Resonanz erlangten? Das geschah auf doppeltem Umweg, über eine doppelte Diaspora. Der Erfolg kam nicht über Frankreich oder Europa, sondern über die USA, und als Multiplikatoren wirkten nicht die Departments of Philosophy, sondern die Departments of Comparative Literature – aber natürlich nicht die von renommierten Universitäten wie Harvard, Columbia oder Princeton, sondern die sekundärer Orte wie Irvine oder gelegentlich auch mal Santa Cruz. Auch andere Forschungsrichtungen der humanities, für die »Differenz« essentiell war (minority studies), öffneten ihre Tore für die postmodernen Ideen und feierten sie zum Teil überschwänglich: die cultural studies und bald auch die postcolonial studies, feminist studies, gender studies etc. Ein besonderer Resonanzboden war zudem die Kunstszene. Das Anregungspotential der postmodernen Autoren war immens. Ihre Schriften waren oftmals betont nicht-akademisch, auch das hat die Rezeption befördert, es machte neugierig, stimulierte zum eigenen Weiterdenken. Von den genuin philosophischen Institutionen hingegen wurden die Postmodernen nie anerkannt – man erinnere sich nur der Peinlichkeiten, als Derrida 1992 einen Ehrendoktortitel der Universität Cambridge erhalten sollte und
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damit den zornigen Protest renommierter Kollegen auf sich zog. Es ließe sich eine Reihe weiterer Beispiele anschließen.
IV. D ie D urchse t zung der P ostmoderne in der B undesrepublik D eutschl and 1. Lagerkämpfe, Hickhack, Querelen Und wie war die Situation in Deutschland? Es gab heilige Stätten des Postmodernismus, beispielsweise bei Sepp Gumbrecht in Siegen oder bei Anselm Haverkamp, der Elemente der von Derrida inspirierten Yale School of Deconstruction nach Deutschland brachte. Dort musste man teilgenommen haben, dann gehörte man zur ingroup. Lagerbildung gab es damals auf beiden Seiten, auf Seiten der Modernisten ebenso wie auf Seiten der Postmodernisten. Am schlechtesten hatten es Leute, die, wie ich, in keiner der Gruppen aufgewachsen waren. Ich hatte nicht an den einschlägigen Seminaren in Siegen oder bei Haverkamp oder sonstwo teilgenommen, wo man einander kennen lernte, wechselseitig bestätigte und sich kameradschaftliche Treue schwor. Ich gehörte nicht zum Kreis der Eingeweihten, der Auserwählten, der believer. Ich war ein Quereinsteiger, der plötzlich von irgendwoher kam (out of the blue) und nun plötzlich mit erfolgreichen Schriften den Angehörigen der Gemeinde die Butter vom Brot zu nehmen drohte. Ich entsinne mich gut der Skepsis und der Anfeindungen, die ich von Seiten der Adepten erfuhr. Ausschlussverhalten florierte – die Praxis des Umgangs mit Differenzen war ganz anders als die Theorie der Anerkennung des Widerstreits. So jedenfalls auf Seiten der believer. Anders hingegen auf Seiten der Originale. Bei unserer ersten persönlichen Begegnung sagte Lyotard (den ich in Deutschland bekanntgemacht, aber auch kritisiert hatte) zu mir: »Ich danke Ihnen für alles, was Sie für – und gegen mich tun.« Ja, so sollte es sein. Wir wollen Denken, Freiheit, Kritik, Auseinandersetzung, nicht Fahnentreue.
2. Annäherungen Kommen wir noch einmal auf das Jahr 1985 zurück. Es war ein Kulminationsund zugleich Wendepunkt der Auseinandersetzung. Einerseits erschien damals Habermas’ Der philosophische Diskurs der Moderne – der Versuch einer pauschalen Verurteilung des Postmodernismus. Andererseits erschien aber auch von Albrecht Wellmer, dem vormaligen Assistenten von Habermas, die Schrift Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Da war der Ton ein ganz anderer. Wellmer meinte, dass die postmodernen Tendenzen mit
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dem »Projekt der Moderne« durchaus vereinbar seien.33 Er orientierte sich stark an Lyotard und dessen Betonung der irreduziblen Pluralität von Sprachspielen. Umgekehrt erteilte er, gegen Habermas gerichtet, nicht nur der Chance, sondern schon der »Wünschbarkeit eines allgemeinen Konsenses« den Abschied.34 »Ein ›Projekt der Moderne‹ im Sinne einer ›identitätslogischen‹ Vernunft«, meinte Wellmer, ist nur »schlechter Marxismus«.35 Das waren starke Töne – starker Tobak gegen Habermas. Wellmer suchte insgesamt eine Verbindung der postmodernen Pluralität mit dem modernen Universalismus. Zwei Jahre später, 1987, erschien dann mein Buch Unsere postmoderne Moderne, das bald zu einem Bestseller avancierte. Die These war: Die Postmoderne ist keine Anti-Moderne, sondern die zeitgenössische Form der Moderne. Sie nimmt die Impulse der wissenschaftlichen und künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts auf – und sie zieht zugleich politisch die Lehren aus den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Zwei Interventionen also, die statt des Gegensatzes für eine Vereinbarkeit von Moderne und Postmoderne plädierten. Und beide taten es, indem sie nicht die klassisch-modernen, sondern die postmodernen Motive stark machten.
3. Die Moderne: definitiv postmodern Noch einmal zwei Jahre später, in Deutschlands annus mirabilis, dem Jahr des Mauerfalls, 1989 also, fiel auch die Mauer zwischen Moderne und Postmoderne. Die Moderne wurde endgültig postmodern. Man buchstabierte sie fortan mit postmodernen Kategorien. Die Postmoderne hatte gesiegt. Um ein Beispiel zu geben: 1989 erschien in der FAZ eine Sammelbesprechung neuerer Monographien zur Architektur der Moderne. Die Überschrift lautete: »Historiker des modernen Bauens entdecken Vielfalt und Widerspruch«.36 Man erinnere sich: »Komplexität« und »Widerspruch« waren 1966 die Leitkategorien von Venturis Angriff auf die moderne Architektur und seinem Plädoyer für eine alternative Architektur gewesen. Die Schrift hatte damals einen Aufschrei der Verteidiger der Moderne ausgelöst. Jetzt aber, gut 33 | Wellmer, Albrecht: Kunst und industrielle Produktion. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vortrag aus Anlass des 75‑jährigen Bestehens des Deutschen Werkbundes in München am 10. Oktober 1982. In: ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Frankfurt a.M. 1985, S. 115-134. 34 | Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, S. 105. Vgl. auch Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt a.M. 1986. 35 | Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, S. 107. 36 | Schreiber, Mathias: Vom Programm zur Poesie. Historiker des modernen Bauens entdecken. Vielfalt und Widerspruch. In: FAZ, Literatur, 16. September 1989.
Postmoderne: vordergründige Ablehnung, untergründiger Er folg
20 Jahre später, sahen sich die Apologeten der Moderne plötzlich veranlasst, just jene einst verfemten Kategorien – »Komplexität« und »Widerspruch« – zu Herzformeln schon der guten alten Moderne zu erklären. So gründlich hatte sich die postmoderne Sichtweise in der Sache durchgesetzt. Rhetorisch und im Blätterwald, in den Feuilletons, mochte immer noch die Attitüde der Abwehr oder auch der Lächerlichmachung vorherrschen. Man gab sich gerne weiterhin anti-postmodern, aber in der Sache hatte sich die postmoderne Betrachtungsweise längst durchgesetzt. Die Vertreter der Moderne deklinieren ihre geliebte Moderne inzwischen mit postmodernen Kategorien. In diesem Sinn lautet meine Diagnose: untergründiger Erfolg bei vordergründiger Ablehnung. Denn nach wie vor kursiert »Postmoderne« als Vokabel der Ablehnung und des Spotts. Aber das ist ein groteskes Falschspiel. Man lügt sich so das eigene schlechte Gewissen weg. Längst ist man postmodern – man will es nur noch immer nicht zugeben.
V. A usblick : N ach der P ostmoderne ? Bleibt nur noch eine Frage: Wenn die Postmoderne nur eine avancierte Form der Moderne (»Unsere postmoderne Moderne«) war, wie müsste dann eine Denkform beschaffen sein, die über die Moderne wirklich hinausführen würde? Dieser Frage habe ich mich seit zwanzig Jahren gewidmet. Das Ergebnis lautet in Kurzform: Die Moderne war im Grunde tief dualistisch: der Mensch galt wegen seiner geistiger Natur als ein absolutes Sonderwesen gegenüber dem völlig geistlosen Rest der Welt. An dieser Weltopposition hat noch die Postmoderne festgehalten. Bezeichnenderweise stand sie dem modernen Konstruktivismus – einer logischen Folge der behaupteten Weltfremdheit des Menschen – immer nahe. Diese dualistische Sichtweise bricht aber in unserer Gegenwart zusammen. Im Gefolge mannigfacher naturwissenschaftlicher Erkenntnisse begreifen wir den Menschen mittlerweile als ein Produkt der Evolution, das zu dem anderen Seienden nicht in Gegensatz steht, sondern mit ihm von Grund auf verwandt und verbunden ist. Die ökologische Bewegung, etliche Tierschutzinitiativen und die philosophische Neuformulierung der Mensch-Welt-Verbindung sind Protagonisten dieser neuen Denkweise. Diese stellt in der Tat ein Denken nach der Postmoderne dar. Der Dualismus – mit all seinen Lobpreisungen der Differenz – liegt hinter uns, ein integratives Denken vor uns.37
37 | Vgl. dazu Welsch, Wolfgang: Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie. Berlin 2011; Homo mundanus – Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne. Weilerswist 2 2015; Mensch und Welt – Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie. München 2012.
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Verschwörungs(theorie)panik »Filter Clash« zweier Öffentlichkeiten Michael Butter
Vor knapp einem Jahr ist mein Buch »Nichts ist, wie es scheint«: Über Verschwörungstheorien erschienen. Wer sich die Mühe macht, online nach Rezensionen zu suchen, könnte allerdings den Eindruck bekommen, dass ich unter diesem Titel zwei völlig verschiedene Bücher veröffentlicht habe. »Butter […] definiert [Verschwörungstheorien] genau, um sie von anderen Phänomenen abzusetzen«, schreibt ein Rezensent, während ein anderer beobachtet, dass ich es »vermeide[] […], [m]eine Definitionskriterien für den Begriff Verschwörungstheorie offenzulegen«. Eine dritte Rezension hebt darauf ab, dass ich mit dem Vorurteil aufräume, dass Verschwörungstheoretiker »einfach verrückt« seien, während ein anderer Artikel mir vorwirft, in diesem Buch sowie in Interviews zu behaupten, dass diese »einem ›krankhaften Wahn‹ erlegen« seien.1 Die stark unterschiedliche Rezeption meines Buchs – die Reihe der Beispiele ließe sich noch einige Zeit fortsetzen – ist symptomatisch für das, was ich auf den folgenden Seiten untersuchen möchte: das Phänomen einer beim
1 | Stefan: Michael Butter: »Nichts ist, wie es scheint«. In: Poesierausch. Blog vom 26. Juli 2018, online verfügbar unter: http://poesierausch.com/2018/07/26/michael-but ter-nichts-ist-wie-es-scheint/, zuletzt eingesehen am 30. September 2018; Schreyer, Paul: Verschwörungstheorien: Alles ist, wie es scheint. In: Paul Schreyer. Blog vom 18. März 2018, online verfügbar unter: https://paulschreyer.wordpress.com/2018/03/18/ verschwoerungstheorien-alles-ist-wie-es-scheint/, zuletzt eingesehen am 30. September 2018; Haberkorn, Tobias: Das müssen sie mir erst mal beweisen. In: ZEIT ONLINE (5. April 2018), online verfügbar unter: https://www.zeit.de/kultur/2018-03/verschwoe rungstheorien-widerlegen-aufklaerung-fakten-michael-butter/seite-2, zuletzt eingesehen am 30. September 2018; Gasche, Urs P.: Der Spezialist für Verschwörungstheorien kneift. In: Infosperber. Artikel vom 3. September 2018, online verfügbar unter: https:// www.infosperber.ch/Ar tikel/Gesellschaf t/Michael-Butter-Spezialist-von-Verschwo rungstheorien-kneift, zuletzt eingesehen am 30. September 2018.
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Michael Butter
Thema Verschwörungen und Verschwörungstheorien vollkommen gespaltenen Öffentlichkeit. Der eine Teil der Öffentlichkeit – ich nenne ihn die »traditionelle« Öffentlichkeit, da er die etablierten Medien und die politische und wissenschaftliche Sphäre umfasst – sorgt sich um die Gefahren von Verschwörungstheorien. Solche Theorien, so lautet die Zeitdiagnose dieser Öffentlichkeit, werden immer populärer und einflussreicher, und das ist in vielerlei Hinsicht gefährlich. Vor diesem Hintergrund ist mein Buch willkommen, da es einerseits systematisch diskutiert, wann und wie Verschwörungstheorien gefährlich sind und andererseits aufgrund seiner historischen Perspektive etwas Ruhe in die aufgeregte Diskussion bringt. Der andere Teil der Öffentlichkeit – ich spreche hier von einer »Gegenöffentlichkeit«, die sich vor allem online formiert hat, aber mittlerweile weit über das Internet hinausreicht – sorgt sich dagegen um die fatalen Auswirkungen verschiedener Verschwörungen, die man (fast) überall zu entdecken meint. Solche Komplotte, so lautet die Zeitdiagnose dieser Öffentlichkeit, sind die wahre Gefahr für Demokratie und Frieden. Vor diesem Hintergrund erscheint mein Buch als Versuch, die Enthüllung der Wahrheit zu verhindern und legitime Kritik zu diskreditieren.2 Im Folgenden sollen diese konträren Zeitdiagnosen historisch situiert und ihre gegenseitige Beeinflussung analysiert werden. Ich werde argumentieren – und hier werden meine Ausführungen unweigerlich zu einer Zeitdiagnose meinerseits –, dass sich die Aufgeregtheit, mit der momentan in der einen Öffentlichkeit über Verschwörungstheorien und in der anderen über Verschwörungen diskutiert wird, daraus erklärt, dass wir seit einigen Jahren in einer Situation leben, in der sich Verschwörungstheoretiker und diejenigen, die solche Theorien kritisch sehen, permanent gegenseitig beobachten und so in ihren Befürchtungen bestärken. Um zu zeigen, dass dies tatsächlich eine neue Entwicklung ist, ist es nötig, etwas weiter auszuholen, da die gegenwärtige Diskussion nur vor dem Hintergrund der historischen Entwicklung von Verschwörungstheorien und vor allem des sich verändernden Wissensstatus dieser Denkfigur verständlich ist. In einem ersten Schritt soll daher die Geschichte konspirationistischen Denkens kurz skizziert werden, wobei das Hauptaugenmerk auf der Stigmatisierung von Verschwörungstheorien nach dem Zweiten Weltkrieg liegen wird. Im zweiten Teil erörtere ich, wie das Aufkommen des Internets und insbesondere die sozialen Medien dazu geführt haben, dass eine Gegenöffentlichkeit entstanden ist, in der Verschwörungstheorien wieder – beziehungsweise noch immer – als legitime Wissensform gelten. Abschließend diskutiere ich, wie die neue Sichtbarkeit von Verschwörungstheorien deren Verurteilung in der 2 | Zum Konzept der Öffentlichkeit im Internetzeitalter und insbesondere zum Konzept der Gegenöffentlichkeit siehe Downey, John/Fenton, Natalie: New Media, Counter Publicity and the Public Sphere. In: New Media & Society 5, 2 (2003), S. 185-202.
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traditionellen Öffentlichkeit befeuert und wie dies im Gegenzug die Besorgnis unter Verschwörungstheoretikern anwachsen lässt. Letztendlich haben wir es hier mit einem Phänomen zu tun, das der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen vor kurzem als »Filter Clash« beschrieben hat: Filterblasen oder – in diesem Fall – Öffentlichkeiten beobachten sich konstant gegenseitig, ihre Diagnosen prallen aufeinander und fördern die gegenseitige Erregung.
V erschwörungstheorien als legitimes und illegitimes W issen Um 1800 gelangten mehrere europäische Intellektuelle – unter anderem John Robison, Professor für Physik und Philosophie in Edinburgh und einer der wichtigsten Beiträger zur Encyclopedia Britannica, der Jesuit Augustin Barruel und der Theologe Johan August von Starck – zu der Überzeugung, dass der Geheimbund der Illuminaten Freimaurerlogen unterwandert und die Französische Revolution orchestriert habe. Ihre Schriften wurden in ganz Europa, aber auch in den USA breit rezipiert und überzeugten George Washington und John Adams davon, dass die Illuminaten nun begonnen hätten, die junge amerikanische Republik zu infiltrieren. Jenseits des Atlantiks jedoch wich die Furcht vor den Illuminaten bald der Sorge um ein Komplott der Katholiken, das unter anderem Samuel Morse, der Erfinder des Telegraphen, und Lyman Beecher, einer der wichtigsten Geistlichen seiner Zeit, erkannt zu haben glaubten. Im Vorfeld des Bürgerkriegs warfen dann die Befürworter der Sklaverei deren Gegnern vor, heimlich mit den Briten verbündet zu sein; die Gegenseite wiederum beschuldigte die Verteidiger der Sklaverei, einen Geheimplan zu verfolgen, um die Sklaverei auf die gesamten USA auszudehnen. In seiner berühmten Rede vom »geteilten Haus« warf der spätere Präsident Abraham Lincoln dem amtierenden Präsidenten, dessen Vorgänger und dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs genau dies vor.3 In Europa gerieten in diesen Jahren dagegen zunächst die Sozialisten und schließlich die Juden ins Visier der Verschwörungstheoretiker. Ältere Verdächtige verschwanden aber keineswegs aus dem öffentlichen Bewusstsein. Noch 1918 schrieb Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen völlig unironisch:
3 | Zu den Illuminaten siehe Oberhauser, Claus: Die verschwörungstheoretische Trias: Barruel – Robinson – Starck. Innsbruck, Wien, Bozen 2013; Stauffer, Vernon/Williamson, Benedict J.: New England and the Bavarian Illuminati. Invisible College Press (ohne Ortsangabe) 2005. Zu Lincoln siehe Butter, Michael: »Nichts ist, wie es scheint«: Über Verschwörungstheorien. Berlin 2018, S. 69-71.
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Für den Nationalsozialismus war wenig später die Idee der jüdischen Weltverschwörung absolut zentral – und eine willkommene Rechtfertigung für dessen mörderische Maßnahmen. Und in den USA war es bis in die 1950er Jahren hinein Konsens, dass es eine großangelegte, aus Moskau gesteuerte Verschwörung gebe; das Thema wurde wiederholt im Kongress und in den Medien diskutiert, und Gesetze wurden erlassen, um die Subversion zu stoppen.4 Über Jahrhunderte hinweg war die Sache also klar: Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein waren selbst einige der klügsten Köpfe ihrer Zeit – Gelehrte und Geistliche, Politiker und Philosophen – überzeugt, dass der Lauf der Geschichte von großen Komplotten bestimmt wurde. Kleine Gruppen von Verschwörern, so die Annahme, konnten Ländern über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg ihren Willen aufzwingen, ohne öffentlich in Erscheinung zu treten. Wer ihnen auf die Spur kommen wollte, musste unter die Oberfläche schauen, die wenigen vorhandenen Hinweise richtig interpretieren und zu einem Ganzen zusammenfügen. Diese Art der Weltaneignung galt nicht als abwegig, sondern, aus Gründen, die unter anderem Gordon Wood und Ralf Klausnitzer systematisch aufgearbeitet haben, als sinnvoll und normal. Verschwörungstheorien waren fest im Zentrum der Gesellschaft verankert; sie wurden von Eliten, von den Medien und der Wissenschaft verbreitet und ihre Grundannahmen – nichts geschieht durch Zufall; nichts ist, wie es scheint; und alles ist miteinander verbunden – wurden nicht hinterfragt. Verschwörungstheorien waren somit das, was die Wissenssoziologie als orthodoxes oder legitimes Wis-
4 | Siehe Rogalla von Bieberstein, Johannes: Die These von der Verschwörung, 17761945: Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung. Frankfurt a.M. 1976; Mann, Thomas: Betrachtungen eines Unpolitischen. Berlin 1918, S. 32; Meyer zu Uptrup; Wolfram: Kampf gegen die jüdische Weltverschwörung: Propaganda und Antisemitismus der Nationalsozialisten 1918 bis 1945. Berlin 2003. Zu den 1950er Jahren siehe Butter, Michael: Plots, Designs, and Schemes: American Conspiracy Theories from the Puritans to the Present. Berlin, Boston 2014, S. 232-243. Zum Argument in diesem Abschnitt insgesamt, siehe Butter: »Nichts ist, wie es scheint«, S. 142-160.
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sen bezeichnet. Es war völlig normal, an sie zu glauben; seltsam war, wer dies nicht tat.5 Kurz darauf änderte sich dies jedoch grundlegend, und Verschwörungstheorien durchliefen in der westlichen Welt einen Prozess der Stigmatisierung. Dieser ist jedoch bisher leider nur für die USA eingehend erforscht; für Europa lässt sich lediglich konstatieren, dass er ebenfalls stattgefunden haben muss, da Verschwörungstheorien auch hier offensichtlich ihren Status als orthodoxes Wissen verloren haben. In den USA – dies hat Katharina Thalmann kürzlich gezeigt – war es vor allem das Einsickern sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse in Alltagswissen und -diskurs, das zur Delegitimierung konspirationistischen Wissens führte. Theodor Adorno und Leo Löwenthal, die vor den Nazis ins amerikanische Exil geflohen waren, beschäftigten sich unter dem Eindruck des Holocaust mit den potentiell fürchterlichen Auswirkungen von Verschwörungstheorien. Sie konzentrierten sich dabei auf die Psychopathologie der Verschwörungstheoretiker und postulierten eine enge Verbindung zwischen der Neigung zum Totalitarismus und der zu Verschwörungstheorien. Gleichzeitig begannen Wissenschaftstheoretiker wie Karl Popper die Epistemologie von Verschwörungstheorien zu kritisieren. Verschwörungstheorien, so argumentiert Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, könnten die Welt nicht adäquat beschreiben, da sie viel zu einseitig menschliche Handlungsmacht betonten und nichtintendierte Effekte sowie die Eigenlogik sozialer Systeme und deren strukturelle Zwänge vernachlässigten.6 Dieser zunächst innerakademische Diskurs wurde einige Jahre später von einer neuen Generation von Wissenschaftlern wie dem Soziologen Edward Shils oder dem Politikwissenschaftler Seymour Lipset aufgegriffen. Diesen ging es nicht mehr um den Totalitarismus in Europa, sondern um Argumente gegen die konspirationistische Kommunistenhetze in den USA. Ihre Schriften wurden daher von Journalisten rezipiert, die sich ebenfalls mit diesem Thema befassten, und in die breite Öffentlichkeit getragen, wo sie schnell Wirkung entfalteten, sodass Verschwörungstheorien zunehmend als eine Gefahr für die amerikanische Demokratie begriffen wurden. Die Delegitimierung dieser Denkform kulminierte 1964 in Richard Hofstadters berühmtem Aufsatz über 5 | Wood, Gordon S.: Conspiracy and the Paranoid Style: Causality and Deceit in the Eighteenth Century. In: The William and Mary Quarterly 39, 3 (1982), S. 401-441; Klausnitzer, Ralf: Poesie und Konspiration: Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750-1850. Berlin 2007. Zu den Grundannahmen von Verschwörungstheorien siehe Butter: »Nichts ist, wie es scheint«, S. 22-29 und zur soziologischen Begrifflichkeit Anton, Andreas: Unwirkliche Wirklichkeiten: Zur Wissenssoziologie von Verschwörungstheorien. Berlin 2011. 6 | Siehe hierzu und im folgenden Thalmann, Katharina: The Stigmatization of Conspiracy Theory since the 1950s: »A Plot to Make Us Look Foolish«. London 2019.
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den »Paranoid Style in American Politics«, in dem er die beiden Stränge der Kritik endgültig verschmolz und Verschwörungstheorien mit klinischer Geisteskrankheit assoziierte.7 Das Resultat dieser Stigmatisierung sieht man in beispielhafter Klarheit am »Schicksal« der antikommunistischen Verschwörungstheorie. Ab Mitte der 1960er wurde diese Verschwörungstheorie nicht mehr von Präsidenten, Senatoren und den Medien verbreitet, sondern nur noch von einer Minderheit am Rande der Gesellschaft, unter anderem von der rechtsextremistischen John-Birch-Gesellschaft. In der Mitte der Gesellschaft, in der, wie ich sie in diesem Text nenne, »traditionellen« Öffentlichkeit, war sowohl in Nordamerika als auch in Europa kein Platz mehr für Verschwörungstheorien. Sie galten nicht länger als akzeptiertes, sondern als illegitimes und heterodoxes Wissen und waren entsprechend geächtet. Wer sie verbreitete, musste mit Sanktionen rechnen, und wurde in der Regel vom Diskurs ausgeschlossen. Die Bezeichnung »Verschwörungstheoretiker« wurde zu einem Schimpfwort, das implizierte, dass dem Gegenüber die Argumente fehlten und er vermutlich nicht ganz zurechnungsfähig sei. Entsprechend schnell beendete die Verwendung des Begriffs in der Regel jede Debatte.8 Dies bedeutet jedoch nicht, dass niemand mehr an Verschwörungstheorien glaubte. Für eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen blieben sie attraktiv, auch wenn im öffentlichen Diskurs für sie – wie schon seit längerem für Aberglauben oder den Glauben an Magie – kein Platz mehr war. Wenn dort über sie gesprochen wurde, dann nicht, weil sie die Welt verstehbar machten, sondern weil sie als Problem empfunden wurden. Dies geschah jedoch lange nicht so intensiv, wie es in den letzten Jahren der Fall geworden ist. Vielmehr verschwanden Verschwörungstheorien größtenteils aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. Sie wanderten in oft hermetisch abgeschlossene Subkulturen ab, deren Mitglieder große Anstrengungen unternehmen mussten, um über 7 | Siehe Hofstadter, Richard: The Paranoid Style in American Politics. In: ders.: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays. Cambridge 1964, S. 3-40. 8 | Vgl. hierzu Butter: Plots, S. 284-85. Zum Begriff als Mittel der Stigmatisierung siehe Knight, Peter: Conspiracy Culture: From Kennedy to The X Files. New York 2001, S. 289. Die Stigmatisierung hatte, dies muss einschränkend gesagt werden, nicht zur Folge, dass in der traditionellen Öffentlichkeit gar keine Verschwörungstheorien mehr verbreitet wurden. So griff Ronald Reagan in den achtziger Jahren die antikommunistische Verschwörungstheorie auf und behauptete, dass alle terroristischen Vereinigungen weltweit von Moskau aus gesteuert würden. Und vor der Invasion des Irak insistierte die Regierung von George W. Bush, dass Saddam Hussein heimlich mit Osama bin Laden verbündet wäre. In beiden Fällen jedoch vermieden die Proponenten das traditionelle Vokabular der Verschwörungstheorie und wurden für ihre offensichtlich falschen Behauptungen stark kritisiert.
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Briefe, Telefonate und gelegentliche Begegnungen auf Konferenzen in Kontakt zu bleiben. Schwierig war es auch, konspirationistische Schriften zu veröffentlichen. Zwar kamen manche Verschwörungstheoretiker bei etablierten Verlagen unter, weil sie ihre Rhetorik bändigten und statt expliziten Theorien nur Suggestivfragen formulierten, doch andere mussten ihre Schriften im Selbstverlag publizieren oder gaben Magazine heraus, die sie selbst vervielfältigten und per Post an Gleichgesinnte verschickten. Gleichzeitig war es so für diejenigen, die (noch) nicht Teil dieser Subkulturen waren, aber Zweifel an den nichtkonspirationistischen Erklärungen von Ereignissen und Entwicklungen hegten, ungemein schwierig, verschwörungstheoretische Alternativerzählungen zu finden. Sie mussten Zeit und Mühe investieren, um die speziellen Konvente der Verschwörungstheoretiker zu besuchen oder in Buchhandlungen deren Schriften aufzuspüren. Oft blieb es daher vermutlich bei vagen Verdächtigungen, die sich nicht zu Verschwörungstheorien verfestigten.9
V on den S ubkulturen zur G egenöffentlichkeit Diese Situation hat sich mit dem Aufkommen des Internets vollkommen verändert. Für Verschwörungstheoretiker ist es nun sehr leicht, ihre Ideen an den Mann (und seltener auch an die Frau) zu bringen. Sie betreiben eigene Internetseiten und Blogs, nutzen Twitter und Facebook oder hinterlassen Kommentare unter Artikeln der »Mainstreammedien«, gegen deren Weltsicht sie sich explizit wenden. Entsprechend einfach ist es mittlerweile auch (wieder), konspirationistische Erklärungen zu finden. Im Internetzeitalter ist die »Wahrheit« – lies: die Verschwörungstheorie – nur eine Google-Suche entfernt. Niemand muss mehr mühsam Kataloge wälzen, Bücher oder Magazine bestellen, von denen er gar nicht genau weiß, ob sie enthalten, was er sucht, und Rückumschläge vorfrankieren; man braucht nur ein internetfähiges Handy oder einen Computer. Wer »Was passiert in der Ukraine?« oder »Wer ist für die Flüchtlingskrise verantwortlich?« in die Suchmaske tippt, findet je nach individuellem Suchalgorithmus spätestens auf der zweiten Seite der Ergebnisliste Links zu konspirationistischen Seiten. Dass bei diesem ohne Aufwand verfügbaren Angebot manche Menschen etwas finden, das sie überzeugt, liegt auf der Hand. Und diese Überzeugten bestärken sich in ihren Ansichten online beständig gegenseitig, weil das Internet und insbesondere die sozialen Medien die Vernetzung untereinander um ein Vielfaches einfacher gemacht haben, als sie es im analogen Zeitalter war. Das Internet hat so tatsächlich zu einem Anstieg des Verschwörungsglaubens geführt. Dieser ist allerdings, wie aus meinen bisherigen Ausführungen 9 | Vgl. Butter: »Nichts ist, wie es scheint«, S. 182-186.
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folgt, lange nicht so stark und rapide erfolgt, wie er in der traditionellen Öffentlichkeit mitunter wahrgenommen wird – ein Phänomen, auf das ich im nächsten Abschnitt detailliert eingehe. Wenn Studien zu dem Ergebnis gelangen, dass mehr als die Hälfte der Amerikaner an mindestens eine Verschwörungstheorie glauben oder dass gängige Theorien in Deutschland bei einem Viertel bis zu einem Drittel der Bevölkerung auf Resonanz stoßen, dann sind das bestimmt mehr Menschen als vor dreißig Jahren. Es sind aber sicherlich deutlich weniger als vor hundert oder zweihundert Jahren. Insofern erleben wir tatsächlich eine Renaissance des Konspirationismus, wir leben aber (noch) nicht wieder in einem Zeitalter der Verschwörungstheorien.10 Dass sich die Situation dennoch grundlegend anders darstellt als vor zwei Jahrzehnten liegt daran, dass aus den konspirationistischen Subkulturen der Vergangenheit durch das Internet eine veritable Gegenöffentlichkeit geworden ist. Den Singular verwende ich in diesem Zusammenhang aus drei Gründen bewusst: erstens als aufgrund der gebotenen Kürze notwendige Vereinfachung; zweitens weil aktuelle Theorien »Öffentlichkeit nicht notwendig als eine homogene Sphäre konzipier[en]«, sondern anerkennen, dass eine Öffentlichkeit verschiedene Teilöffentlichkeiten umfassen kann;11 und drittens weil die verschiedenen Sphären dieser Gegenöffentlichkeit tatsächlich einiges gemeinsam haben. Egal, ob sie rassistisch und antisemitisch sind oder nicht und sich als links oder rechts begreifen, teilen sie doch eine gemeinsame Epistemologie, nämlich die Annahme, dass große Verschwörungen den Lauf der Welt bestimmen. Zudem richten sie sich nur in seltenen Fällen gegeneinander, jedoch immer gegen das, was sie als den elitentreuen »Mainstream« begreifen, wobei die Grenzen zwischen »links« und »rechts« oft verschwimmen. Der entscheidende Unterschied zwischen der verschwörungstheoretischen Gegenöffentlichkeit der Gegenwart und den Subkulturen vergangener Jahrzehnte ist, dass die Kommunikation nun öffentlich stattfindet und prinzipiell jeder dem Austausch folgen oder sogar daran partizipieren kann. Die Subkulturen waren letztendlich private oder semi-private Räume, die man zum einen, wie oben erläutert, nur schwer fand und zu denen man zum anderen noch schwerer Zugang erlangte. Entsprechend entschieden häufig persönliche Kontakte und Sympathie darüber, ob man zu einem solchen Kommuni10 | Siehe zu den Zahlen für die USA Oliver, J. Eric/Wood, Thomas J.: Conspiracy Theories and the Paranoid Style(s) of Mass Opinion. In: American Journal of Political Science 58, 4 (2014), S. 952-966; zu Deutschland Schultz, Tanjev: Conspiracy Theories, Media Cynicism and Political Radicalization. Findings from Germany. In einem Vortrag im Rahmen der Konferenz »Conspiracy Theories« der COST Action »Comparative Analysis of Conspiracy Theories«. Tübingen 28.-30. Juli 2017. 11 | Drüeke, Ricarda: Politische Kommunikationsräume im Internet: Zum Verhältnis von Raum und Öffentlichkeit. Bielefeld 2013, S. 74.
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kationsraum Zugang erhielt oder nicht. Heute dagegen findet die gemeinsame Diskussion auf Facebook und Twitter statt, über die Kommentare unter entsprechenden YouTube-Videos oder in Onlineforen, die entweder ohnehin allen offenstehen oder zu denen man leicht Zugang erhält. Dass es geschlossene Facebook-Gruppen und Foren zu den entsprechenden Themen gibt, steht dazu nicht im Widerspruch, da diese ebenfalls leicht lokalisierbar sind. Zudem regeln alle Öffentlichkeiten in irgendeiner Weise, was in ihnen sagbar und unsagbar ist, und wer sich nicht an die Regeln hält, wird vom Diskurs ausgeschlossen, entweder indem er keinen Zugang zum Forum erhält oder – und das ist besonders auf Facebook-Seiten und YouTube-Kanälen zu beobachten, wenn einzelne User Verschwörungstheorien hinterfragen oder gar debunken – indem er als »Troll« abgestempelt wird, der angeblich keine Sachargumente hat und nur die Kommunikation stören will. Ein weiteres wichtiges Charakteristikum dieser Gegenöffentlichkeit ist, dass sich ein eigenes Mediensystem herausgebildet hat, das sich explizit als Alternative zu den Medien der traditionellen Öffentlichkeit, insbesondere zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den überregionalen Tageszeitungen begreift. Ken.fm, Telepolis, Nachdenkseiten, Rubikon oder Infosperber in der Schweiz nehmen für sich in Anspruch, wahrhaft kritischen Journalismus zu betreiben, wie man bereits an den Untertiteln dieser Seiten sieht: »Die kritische Website«, »Magazin für die kritische Masse« oder »Sieht, was andere übersehen«.12 Mehr oder weniger explizit im Raum steht hier immer der Vorwurf, dass die etablierten Medien unreflektiert die Positionen der politischen Eliten nachbeteten und so das Publikum manipulierten. Doch die Verschwörungstheorie von der »Lügenpresse« ist nicht die einzige, die auf diesen Seiten regelmäßig bedient wird. Auch andere konspirationistische Ideen – insbesondere zum Syrienkrieg, zur Ukrainekrise oder, noch immer der Klassiker, zu 9/11 – werden regelmäßig als seriöse Nachrichten verbreitet.13 Dieses alternative Mediensystem hat sich online herausgebildet, reicht mittlerweile aber weit in die analoge Welt hinein. Das Compact-Magazin – Untertitel der Website: »Mut zur Wahrheit« – fristete lange ein Nischendasein, bis es über seine Webpräsenz in den letzten Jahren riesigen Zulauf erhielt und momentan monatlich in einer Auflage von etwa 40.000 Exemplaren erscheint, die an jedem größeren Kiosk verkauft werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Kopp-Verlag in Rottenburg am Neckar, der neben esoterischen Schriften vor allem verschwörungstheoretische und rechtspopulistische Literatur vertreibt. Auch er hat in den letzten Jahren durch seinen Internetauftritt – und wie Com12 | Siehe https://kenfm.de, https://www.heise.de/tp/, https://www.nachdenkseit en. de, https://www.rubikon.news und https://www.infosperber.ch. 13 | Zu Verschwörungstheorien als Teil der offiziellen Propaganda siehe Butter: »Nichts ist, wie es scheint«, S. 124-128.
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pact natürlich durch das Erstarken des Rechtspopulismus – seinen Umsatz signifikant gesteigert. Im Jahr 2015 verkaufte er nach Angaben seines Besitzers »zwischen 10.000 und 25.000 Bücher pro Tag«.14 Lange hatte der Verlag auch ein Onlineportal, wo über aktuelle Themen diskutiert werden konnte; dies wurde jedoch mittlerweile geschlossen. Vermutlich war es nicht mehr nötig, da der Verlag sich in der konspirationistischen Szene etabliert hat und genug potentiellen Lesern ein Begriff ist. Dass alle Autoren, die für Compact oder Kopp schreiben, wirklich an ihre Verschwörungstheorien glauben, erscheint sehr unwahrscheinlich. Mit Verschwörungstheorien lässt sich mittlerweile viel Geld verdienen, und daher steht zu vermuten, dass diese in der Gegenöffentlichkeit oft auch verbreitet werden, um Bücher und Magazine zu verkaufen und Klickzahlen für YouTubeVideos zu generieren, damit die Werbeeinnahmen fließen. Das ist ein weiterer Unterschied zu den früheren (semi-)privaten Subkulturen, wo die finanziellen Interessen deutlich geringer waren und es vielleicht nicht ausschließlich, aber doch vornehmlich, um die Wahrheit ging. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass es mittlerweile eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen gibt – genaue Zahlen kann aus offensichtlichen Gründen niemand vorlegen –, die sich ausschließlich bei diesen alternativen Nachrichtenquellen über die Welt informieren. Metaphorisch gesprochen, leben diese Menschen in einer völlig anderen Welt als diejenigen, die ihr Wissen aus der ARD und der FAZ und anderen Medien der traditionellen Öffentlichkeit beziehen. Das heißt allerdings nicht, dass diese Menschen die etablierten Medien gar nicht mehr rezipieren; sie tun dies beständig, aber eben durch die Linse der in ihrem alternativen Kommunikationsraum produzierten Wahrheit, um sich wieder und wieder in ihrer Überzeugung zu bestärken, dass in der traditionellen Öffentlichkeit gelogen wird. Das ist nicht neu: Seit Verschwörungstheorien in der westlichen Welt nicht mehr als legitimes Wissen gelten, schauen ihre Anhänger beständig auf den offiziellen Diskurs, um sich explizit gegen diesen zu positionieren. Neu ist dagegen, dass mit der Entwicklung von den Subkulturen zur Gegenöffentlichkeit auch die Kommunikation und Wahrheitsproduktion der Verschwörungstheoretiker für die traditionelle Öffentlichkeit nicht mehr zu ignorieren ist. Diese gegenseitige Beobachtung erklärt die große Aufgeregtheit und die zunehmend pessimistischen Zeitdiagnosen auf beiden Seiten.
14 | Pennekamp, Johannes/Bernau, Patrick: Die Angstindustrie. In: FAZ (17. Mai 2015), online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/unternehmen/ verlage-und-unternehmen-rund-um-verschwoerungstheorie n-13374395.html?print PagedArticle=true#pageIndex_2, zuletzt eingesehen am 30. Oktober 2017.
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V erschwörungs (theorie) panik Als ich 2008 begann, mich mit Verschwörungstheorien zu beschäftigen, interessierte sich die traditionelle Öffentlichkeit noch nicht für dieses Thema. Ich sprach vielleicht zweimal im Jahr mit der Presse, und auch das nur, weil es am Freiburg Institute for Advanced Studies eine Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit gab, die die Themen der Fellows in den Medien lancierte. Um Europa oder gar Deutschland ging es in den Interviews immer nur am Rande; der Fokus lag auf den USA und der Frage, warum die Amerikaner so sehr an Verschwörungstheorien glauben, während wir Europäer, so die Implikation, dies nicht täten. Seit knapp fünf Jahren dagegen hat das Interesse an Forschung zu Verschwörungstheorien enorm zugenommen, weil das Konzept in der traditionellen Öffentlichkeit mittlerweile ständig präsent ist. Beinahe täglich begegnet man ihm in den Abendnachrichten, der Presse oder einer Talkshow. Unweigerlich ist der Tenor der Berichterstattung besorgt, wenn nicht sogar alarmistisch. Ein ursprünglich amerikanisches Phänomen, so liest man mitunter, macht nun auch uns zu schaffen; regelmäßig wird Verschwörungstheorie mit Geisteskrankheit assoziiert; und unweigerlich wird die Gefährlichkeit konspirationistischer Ideen betont. Die mal mehr, mal weniger explizite Zeitdiagnose ist, dass Verschwörungstheorien sich rapide ausbreiten, gefährlich für Leib und Leben sind und für demokratische Gesellschaften zunehmend zum Problem werden.15 Diese Sorge um die Auswirkungen von Verschwörungstheorien ist natürlich nicht unberechtigt. Wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, sollte man zwar nicht pauschalisieren, da viele Verschwörungstheorien harmlos sind und es oft weniger auf den Inhalt einer bestimmten Theorie als auf den Kontext – wer glaubt wann was? – ankommt. Doch konspirationistische Vorstellungen können zweifellos auf unterschiedliche Art und Weise gefährlich sein. Wer denkt, dass die Regierung uns über Impfungen kontrolliert und daher sich und seine Kinder nicht impfen lässt, gefährdet sich selbst und seine Familie sowie alle, die nicht geimpft werden können und auf den Herdenschutz der Gesellschaft angewiesen sind. Wer denkt, dass der gesamte Politikbetrieb nur 15 | Siehe zum Beispiel Lepenies, Wolf: Die Politik der Paranoia erreicht jetzt auch uns. In: Welt (10. März 2016), online verfügbar unter: https://www.welt.de/debatte/kom mentare/ar ticle153103845/Die-Politik-der-Paranoia-erreicht-jetzt-auch-uns.html, zuletzt eingesehen am 28. Juni 2016; Stein, Hannes: Der gefährliche Glaube an die große Verschwörung. In: Welt (11. September 2016), online verfügbar unter: https://www. welt.de/debatte/kommentare/ar ticle157942289/Der-gefaehrliche-Glaube-an-diegrosse-Verschwoerung.html, zuletzt eingesehen am 1. Oktober 2018. Auch Alt, Christian/Schiffer, Christian: Angela Merkel ist Hitlers Tochter: Im Land der Verschwörungstheorien. München 2018, bauen ihr gesamtes Buch auf diesen Klischees auf.
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Fassade ist und im Hintergrund einige wenige Mächte die Strippen ziehen, geht entweder gar nicht mehr wählen oder stimmt für diejenigen, die sich als wahre Alternative zum Establishment gerieren, zur Lösung der gesellschaftlichen Probleme aber wenig bis nichts beitragen. Der genaue Zusammenhang von Populismus und Konspirationismus ist noch nicht gut erforscht, fest steht aber, dass populistische Bewegungen sehr gut darin sind, Verschwörungstheoretiker in ihre Reihen zu integrieren. Und schließlich gibt es immer wieder Fälle, in denen ein Zusammenhang zwischen Verschwörungsglauben und Gewaltanwendung offensichtlich ist. So erschoss im Herbst 2016 in Georgensgmünd bei Nürnberg ein sogenannter »Reichsbürger« einen Polizisten, der sich mit seinem Einsatzteam Zugang zu dessen Wohnung verschaffen wollte, um die im Haushalt vorhandenen Waffen zu konfiszieren.16 Sieht man jedoch vom Höhenflug des Rechtspopulismus ab, sind dies keine neuen Phänomene. Das besorgte Interesse der traditionellen Öffentlichkeit in Deutschland an Verschwörungstheorien hatte schon vor dem Erstarken der AfD und dem Mord von Georgensgmünd beträchtlich zugenommen. Es kann daher nur mit der oben skizzierten erhöhten Sichtbarkeit von Verschwörungstheorien erklärt werden. Zu dieser trägt sicher auch das offensivere Auftreten der Verschwörungstheoretiker bei, die aufgrund der ausgezeichneten Vernetzung über das Internet und die Entstehung eigener Kommunikationsräume ihre Positionen auch über ihre eigene Öffentlichkeit hinaus viel selbstbewusster vertreten. Politiker sahen sich so in den vergangenen Jahren einigermaßen plötzlich und unerwartet mit Verschwörungsvorwürfen konfrontiert, die sie über Mail oder die sozialen Medien erreichten; und gleiches gilt für Journalisten, die als »Lügenpresse« diffamiert wurden. Beide Gruppen begannen sich somit auch aus Eigeninteresse mit Verschwörungstheorien zu beschäftigen und gelangten so zu der gerade beschriebenen Zeitdiagnose. Die Sorge um die Gefahren der scheinbar immer populärer werdenden Verschwörungstheorien hat in den letzten Jahren zu einer ganzen Reihe von Reaktionen und »Gegenmaßnahmen« geführt. So gibt es mit den »Skeptikern« nun eine Gruppe von professionellen »Debunkern«, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, über die Irrtümer von Verschwörungstheorien aufzuklären. Die Landeszentralen und die Bundeszentrale für politische Bildung organisieren mittlerweile regelmäßig Workshops und Tagungen, die über die Mechanismen und Wirkungen von Verschwörungstheorien aufklären wollen und veröffentlichen entsprechendes Material. Im Sommer 2018 hat die Bundeszentrale zudem das Projekt »Wahre Welle« gestartet, das sich in kurzen Internetvideos satirisch mit Verschwörungstheorien auseinandersetzt. Bereits seit 2015 ver16 | Zur Gefährlichkeit von Verschwörungstheorien siehe Butter: »Nichts ist, wie es scheint«, S. 219-227, zum Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Populismus S. 170-178.
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leiht eine Gruppe um die Aktivistin Giulia Silberberger einmal im Jahr in verschiedenen Kategorien den »Goldenen Aluhut« an Personen des öffentlichen Lebens, die durch das penetrante Verbreiten von Verschwörungstheorien aufgefallen sind. Weniger satirisch – und auch weniger öffentlich – ist die Auseinandersetzung der Landesämter und des Bundesamts für Verfassungsschutz. In den letzten Jahren haben mehrere Fachtagungen stattgefunden, die sich mit den von Verschwörungstheorien ausgehenden Gefahren beschäftigten, und die Sicherheitsbehörden sind massiv gegen die »Reichsbürger« vorgegangen.17 Egal, ob sie dem Thema satirisch, aufklärerisch oder mit polizeilichen Maßnahmen begegnen, getragen werden sie alle von dem Geist, den der Schweizer Journalist Roger Schawinski im letzten Absatzes seines 2018 erschienenen Buchs Verschwörung: Die fanatische Jagd nach dem Bösen in der Welt artikuliert: »[D]er Kampf gegen die zerstörerischen Verschwörungstheorien und ihre Protagonisten [sollte] in einer Zeit von epochalen Veränderungen mit größter Ernsthaftigkeit geführt werden.«18 Verschwörungstheorien, so lautet das Verdikt der traditionellen Öffentlichkeit, sind gefährlich und müssen bekämpft werden, und entsprechend wird mittlerweile viel Zeit und Mühe investiert, dies zu tun. Wenig überraschend führt diese Haltung in der Gegenöffentlichkeit der Verschwörungstheoretiker zu einer Abwehrreaktion. Seit Verschwörungstheorien nicht mehr orthodoxes Wissen sind, sondern sich gegen die offiziellen Versionen richten, haben Verschwörungstheoretiker den Diskurs der traditionellen Öffentlichkeit genau beobachtet und sich an ihm abgearbeitet. Eine populäre Strategie ist es zum Beispiel, auf die vermeintlichen Widersprüche der offiziellen Erzählungen hinzuweisen und zu »zeigen«, dass die konspirationistische Gegenerzählung mehr erklären kann. Neu ist allerdings, dass die Verschwörungstheoretiker beobachten und kommentieren, wie sie beobachtet und kommentiert werden. Dies heizt ihre Auseinandersetzung mit der traditionellen Öffentlichkeit weiter an. Denn konnte man ihr bisher einfach Ignoranz unterstellen, so scheinen ihre Meinungsmacher – Journalisten, Wis17 | Siehe https://www.gwup.org/für die Skeptiker und https://wahrewelle.tv/für das Projekt der Bundeszentrale für politische Bildung. Im August 2018 veranstaltete zum Beispiel das Niedersächsische Landesamt für Verfassungsschutz ein Symposium zum Zusammenhang von Sozialen Medien, Extremismus und Verschwörungstheorien. Siehe: Verfassungsschutz hat Symposium »Facebook, Instagram und Co.« veranstaltet. In: Niedersächsisches Ministerium für Inneres und Sport, online verfügbar unter: https:// www.ver fassungsschutz.niedersachsen.de/aktuelles_ser vice/termine/ver fassungs schutz-veranstaltet-symposium-facebook-instagram-und-co-167757.html, zuletzt eingesehen am 30. September 2018. 18 | Schawinski, Roger: Verschwörung! Die fanatische Jagd nach dem Bösen in der Welt. Zürich 2018.
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senschaftler und Politiker – nun eine gezielte Desinformationskampagne zu betreiben, um die Kritik und Enthüllungen der Verschwörungstheoretiker zu delegitimieren. Die Verschwörung, so lautet die Zeitdiagnose hier, schreitet immer weiter fort und sie wird immer aggressiver. Eine Gegenstrategie besteht deshalb regelmäßig darin, wiederum diese Kritik zu delegitimieren, indem argumentiert wird, dass der Begriff »Verschwörungstheoretiker« nicht klar definiert sei oder werden könne und nur dazu diene, den Mächtigen missliebige Gedanken zu stigmatisieren. Das ist zwar nicht ganz falsch, da der Begriff leider von Journalisten und Politikern oft viel zu undifferenziert verwendet wird; er lässt sich aber wissenschaftlich durchaus präzise definieren. Verschwörungstheoretiker allerdings lassen diesen Einwand nicht gelten und verwiesen gerne darauf, dass die CIA den Begriff 1967 erfunden habe, um Kritik an der offiziellen Version des Kennedy attentats lächerlich zu machen. Das stimmt zwar nicht, und ist in sich bereits eine Verschwörungstheorie; die Ansicht hält sich in der konspirationistischen Gegenöffentlichkeit aber beharrlich. Eine andere Strategie ist es, den Kritikern aus der traditionellen Öffentlichkeit pauschal zu unterstellen, dass sie Verschwörungstheoretiker als geistesgestört und daher nicht ernst zu nehmen darstellten. Diese Kritik ist nicht so leicht von der Hand zu weisen, da in der traditionellen Öffentlichkeit leider noch immer die Tendenz herrscht, Verschwörungstheoretiker in der Tradition Richard Hofstadters zu pathologisieren. Sie ist aber zu einem Automatismus geworden, der fast jede kritische Auseinandersetzung mit konspirationistischem Denken trifft, da es die Verschwörungstheoretiker von der Notwendigkeit befreit, sich mit den Argumenten ihrer Kritiker auseinanderzusetzen.19 Verschwörungstheoretiker reiben sich also mehr denn je am Mainstream, die Gegenöffentlichkeit an der traditionellen Öffentlichkeit und umgekehrt. Das Resultat ist eine Spirale der Erregung, die sich am besten mit dem Konzept des »Filter Clash« erklären lässt, das der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in Die große Gereiztheit entwickelt. Pörksen definiert »Filter Clash« in Anlehnung an Eli Parisers Konzept der Filterblase als eine Konsequenz der Kommunikationsbedingungen des Internetzeitalters: »Gemeint ist mit der Rede vom Filter Clash, dass unterschiedlichste Varianten der Weltwahr-
19 | Siehe hierzu exemplarisch die eingangs zitierten Rezensionen von Paul Schreyer und Ulf Gasche zu meinem Buch. In den Kommentaren unter den Artikeln kommt dann die Verschwörungstheorie vom CIA-Ursprung des Begriffs ins Spiel. Gasche betreibt zudem großen Aufwand, mir zu unterstellen, dass ich Verschwörungstheoretiker als wahnsinnig darstellen würde.
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nehmung in radikaler Unmittelbarkeit aufeinanderprallen.«20 Wir bewegen uns zwar alle in unseren eigenen Filterblasen, in Komfortzonen, wo unsere Überzeugungen und Werte beständig gespiegelt werden, und haben dies zu einem gewissen Grad auch schon immer getan. Doch durch das Internet ist die Kommunikation der »Anderen« beobachtbar und mitunter sogar unausweichlich geworden, sodass wir uns konstant damit auseinandersetzen müssen, dass andere Menschen die Welt radikal anders erleben, als wir selbst es tun. Pörksen spricht in diesem Zusammenhang zwar nicht von Öffentlichkeiten, sondern setzt niedrigschwelliger an. Doch das Konzept ist applizierbar auf das Phänomen, das ich hier beschrieben habe. Wo die einen Verschwörungen sehen, sehen die anderen Verschwörungstheorien. Die Kommunikation der einen stimuliert diejenige der anderen und umgekehrt – mit dem Ergebnis, dass über Verschwörungen und Verschwörungstheorien immer mehr und, wie Pörksen es nennen würde, »gereizter« diskutiert wird. Nicht miteinander über die Grenzen der beiden Öffentlichkeiten hinweg, sondern über- und gegeneinander. Insofern sehen wir an der Diskussion über Verschwörungen und Verschwörungstheorien deutlich, was auch für andere gesellschaftliche Trennlinien zunehmend diagnostiziert wird: eine Fragmentierung des gesellschaftlichen Kommunikationsraums in unterschiedliche Öffentlichkeiten, die zwar dieselben Themen diskutieren, aber auf der Grundlage völlig entgegengesetzter Wahrheiten, die sich aus unterschiedlichen Annahmen über die Welt speisen.21
20 | Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit: Wege aus der kollektiven Erregung. München 2018, S. 118-119. 21 | Dass diese Fragmentierung zunehmend als Problem empfunden wird, zeigt die Initiation der Aktion »Deutschland spricht«, die im September 2018 zum zweiten Mal stattfand und Menschen mit sehr unterschiedlichen Ansichten, die sich normalerweise nicht unterhalten, zusammenbrachte. In einem in der Zeit veröffentlichten Artikel über seine eigenen Erfahrungen mit verschiedenen Gesprächspartnern berichtet Bastian Berbner, dass es ihm in allen Fällen – sogar mit einem Rechtsradikalen – gelang, ein vernünftiges Gespräch zu führen. Nur der Austausch mit einem Verschwörungstheoretiker scheiterte komplett. Das mag Zufall sein, kann aber auch als Hinweis verstanden werden, dass der hier skizzierte Graben ein besonders tiefer ist. Siehe Berbner, Bastian: Mit euch kann man doch eh nicht reden! In: ZEIT ONLINE (19. September 2018), online verfügbar unter: https://www.zeit.de/2018/39/deutschland-spricht-diskussion-konstruktiv-streiten-politische-haltung, zuletzt eingesehen am 1. Oktober 2018.
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Autorinnen und Autoren
Michael Butter (*1977) 1997-2003 Studium der Germanistik, Geschichte und Englisch an der Universität Freiburg und der University of East Anglia, Norwich (UK); 2002-03 Erstes Staatsexamen, Magister; 2003-07 Promotionsstudium an der Yale University (USA) und der Universität Bonn; 2005-08 Mitglied und Mitkoordinator des DFG-Netzwerkes »The Futures of European (American) Studies«; 2007 Promotion; 2007-08 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bonn; 2008-11 Junior Research Fellow an der »School of Language & Literature« des »Freiburg Institute for Advanced Studies«; 2010 Gastprofessor an der University of St. Andrews (UK); 2011-13 Akademischer Rat an der Universität Freiburg; 2012 Habilitation; 2013-14 Professor für Amerikanistik an der Universität Wuppertal; seit 2014 Professor für Amerikanistik an der Universität Tübingen; seit 2016 Vice Chair der COST Action »Comparative Analysis of Conspiracy Theories«. Veröffentlichungen in Auswahl: ›Nichts ist wie es scheint.‹ Über Verschwörungstheorien. Berlin 2018. – Plots, Designs, and Schemes: American Conspiracy Theories from the Puritans to the Present (Habilitation). Berlin, Boston 2014. – 9/11: Kein Tag, der die Welt veränderte. Hg. von Michael Butter, Birte Christ und Patrick Keller. Paderborn 2011. – The Epitome of Evil: Hitler in American Fiction, 1939-2002 (Dissertation). New York 2009. Hanno Depner (*1973) 2000 MA in Comparative Literature an der University of East Anglia, Norwich (UK); 2002 Magister für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie an der Freien Universität Berlin; 2003 Verlagsvolontariat; 2004-2009 Lektoratsleiter des Internationalen Literaturfestivals Berlin; 20092011 Redakteur und Autor für verschiedene Print-, Onlinemedien sowie Kulturinstitutionen; 2011-2014 Promotionsstipendium der Universität Rostock; 2015 Promotion; seit 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Praktische Philosophie der Universität Rostock.
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Deutungsmacht von Zeitdiagnosen
Veröffentlichungen in Auswahl: Mit Diagrammen philosophieren? In: Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift, Heft I/2017 Hg. von Christa Runtenberg. Göttingen 2018, S. 112-136. – Zur Gestaltung von Philosophie. Eine diagrammatische Kritik (Dissertation). Bielefeld 2016. – Visuelle Philosophie. Hg. von Hanno Depner. Würzburg 2015. – Kant für die Hand. Die ›Kritik der reinen Vernunft‹ zum Basteln und Begreifen. München 2011. – Neue Einführungen, Gesamtdarstellungen und Aufsatzsammlungen zur Philosophie Nietzsches. In: Nietzsche-Studien, Band 36. Hg. von Günter Abel, Josef Simon und Werner Stegmaier. Berlin, New York 2007, S. 406-416. Sina Farzin (*1976) 2002 Stipendiatin an der Universität Peking (CHN); 2003 MA in European Culture and Economy; 2004-05 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bochum; 2005 Magister der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, Sozialpsychologie und Kunstgeschichte in Bochum; 2005-09 Fellow an der Bremen International Graduate School of Social Sciences, Gast-Doktorandin an der Universität Basel (CHE), Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fern-Universität Hagen; 2009-11 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bremen; 2009-12 Redakteurin der Zeitschrift »Soziologische Revue«; 2010 Promotion; seit 2012 Junior-Professorin für Soziologische Theorie an der Universität Hamburg; 2018 Vertretung der Professur für Soziologische Theorie an der Universität Bremen. Veröffentlichungen in Auswahl: ›Der Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen‹. Müllmetaphorik in Diagnosen sozialer Ungleichheit. In: Metaphorik und Zeitdiagnose. Hg. von Matthias Junge. Wiesbaden 2016, S. 142-161. – Die brüchige Moderne. Zur Aktualität des Beitrags ›Zum Funktionswandel von Ethnizität‹. In: Soziale Welt, Sonderband 20. Baden-Baden 2014, S. 251-261. – Die Rhetorik der Exklusion. Zum Zusammenhang von Exklusionsthematik und Sozialtheorie (Dissertation). Weilerswist 2011. Michael Hampe (*1961) Studium der Philosophie, Psychologie und Germanistik in Heidelberg und Cambridge (UK); 1984 MA in Heidelberg; 1984-89 Studium der Biologie, Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie in Heidelberg; 1989 Promotion; 1990-92 Visiting Professor am Trinity College Dublin (IRL); 1994 Habilitation; 1994-95 Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin; 1997-99 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel; 1999-2003 Inhaber des Lehrstuhls Philosophie II der Universität Bamberg; seit 2003 Ordentlicher Professor für Philosophie an der ETH Zürich (CHE). Veröffentlichungen in Auswahl: Im Medium des Unbewussten. Studien zur Theorie der Psychoanalyse. Hg. von Michael Hampe mit Zwi Guggenheim, Peter Schneider und Daniel Strassberg. Stuttgart 2016. – Die Lehren der Philoso-
Autorinnen und Autoren
phie. Eine Kritik. Berlin 2014. – Erkenntnis und Praxis. Zur Philosophie des Pragmatismus. Frankfurt a.M. 2006. – Gesetze. Über Regel, Zwang und Vernunft in der neueren theoretischen und praktischen Philosophie (Habilitation). Heidelberg 1993. – Die Wahrnehmungen der Organismen. Über die Voraussetzungen einer naturalistischen Theorie der Erfahrung in der Metaphysik Whiteheads (Dissertation). Heidelberg 1988. Heiner Hastedt (*1958) 1976-82 Studium der Philosophie, Sozialwissenschaften, Theologie, Germanistik und Pädagogik in Göttingen, Bristol (UK) und Hamburg; 1982 Erstes Staatsexamen; 1984 Zweites Staatsexamen; 1984-87 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Hamburg; 1987 Promotion; 1988 Forschungsstipendium der DFG; 1989-92 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Paderborn; 1991 Habilitation, Stiftungsprofessur am Humboldt-Studienzentrum der Universität Ulm; seit 1992 Professor für Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Praktischen Philosophie an der Universität Rostock; seit 2014 Mitglied des interdisziplinären DFG-Graduiertenkollegs »Deutungsmacht« an der Universität Rostock; 2016 Aufnahme in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste. Veröffentlichungen in Auswahl: Macht und Reflexion. Deutsches Jahrbuch Philosophie Band 6. Hg. von Heiner Hastedt. Hamburg 2016. – Was ist Deutungsmacht? Philosophische Klärungsversuche. In: Deutungsmacht. Religion und belief systems in Deutungsmachtkonflikten. Hg. von Philipp Stoellger. Tübingen 2014, S. 89-102. – Auf klärung und Technik. Grundprobleme einer Ethik der Technik (Habilitation). Frankfurt a.M. 1991. – Das Leib-Seele-Problem. Zwischen Naturwissenschaft des Geistes und kultureller Eindimensionalität (Dissertation). Frankfurt a.M. 1988. Christian Klager (*1981) 2000-05 Lehramtsstudium der Philosophie und Germanistik an der Universität Rostock; 2005 Erstes Staatsexamen; 2006-07 Vorbereitungsdienst für das Lehramt an Gymnasien, Lehrtätigkeit an der Universität Rostock; 2007-13 Lehrkraft an der Universität Rostock; seit 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie und Philosophiedidaktik an der Universität Rostock, ständiger Mitarbeiter der »Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik«, Mitbegründer und -herausgeber von »Praxis Philosophie & Ethik«; 2015 Promotion; seit 2018 Vorstandsvorsitzender des Fachverbandes Philosophie e.V. in Mecklenburg-Vorpommern. Veröffentlichungen in Auswahl: Dimensionen der Moral im Spiel. Hg. von Christian Klager. Göttingen 2018. – Spiel als Weltzugang. Philosophische Dimensionen des Spiels in methodischer Absicht (Dissertation). Weinheim, Basel 2016. – Spielend philosophieren. Hg. von Silke Pfeiffer und Christian Klager. Leipzig
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Deutungsmacht von Zeitdiagnosen
2012. – Wirklich wahr? Philosophieren mit Kinderbüchern. Hg. von Silke Pfeiffer und Christian Klager. Leipzig 2011. Steffen Kluck (*1980) 2001-06 BA- und MA-Studium der Philosophie und Germanistik an der Universität Rostock; seit 2006 Lehrbeauftragter und Wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Philosophie der Universität Rostock; seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Rostock; 2012 Promotion. Veröffentlichungen in Auswahl: Körperskandale. Zum Konzept der gespürten Leiblichkeit. Hg. von Stefan Volke und Steffen Kluck. Freiburg, München 2017. – Pathologien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungstheorie und zur Ontologie der Lebenswelt (Dissertation). Freiburg, München 2014. – Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung. Hg. von Michael Großheim und Steffen Kluck. Freiburg, München 2010. – Gestaltpsychologie und Wiener Kreis. Stationen einer bedeutsamen Beziehung. Freiburg, München 2008. – Zur Legitimierbarkeit von Macht. Hg. von Hans-Jürgen Wendel und Steffen Kluck. Freiburg, München 2008. Helmut Lethen (*1939) 1960-69 Studium der Literaturwissenschaft, Soziologie und Religionsphilosophie in Bonn, Amsterdam (NLD) und Berlin; 1970 Promotion; 1971-76 Assistent an der Freien Universität Berlin; 1977-96 Associate Professor an der Universität Utrecht (NLD), Gastprofessor an der University of Chicago (USA); 1996-2004 Professor für Neueste deutsche Literatur an der Universität Rostock; 2000-01 Senior Fellowship des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften Wien; 2004 Gastprofessor an der University of California (USA); 2006 Gastprofessor an der Indiana University Bloomington (USA); 2007-16 Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften Wien; seit 2016 Honorarprofessor an der Kunstuniversität Linz. Veröffentlichungen in Auswahl: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich: Gründgens, Furtwängler, Sauerbruch, Schmitt. Berlin 2018. – Der Schatten des Fotografen. Bilder und Wirklichkeit. Berlin 2013. – Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht. Göttingen 2012. – Unheimliche Nachbarschaften: Essays zum KälteKult und der Schlaflosigkeit der philosophischen Anthropologie im 20. Jahrhundert. Freiburg 2009. – Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a.M. 1994. – Neue Sachlichkeit: 1924-1932; Studien zur Literatur des ›weißen Sozialismus‹ (Dissertation). Berlin 1970. Jonas Lüscher (*1976) 1994-98 Evangelisches Lehrerseminar Muristalden, Bern (CHE); 1998 Primarlehrerpatent des Kantons Bern (CHE); Dramaturg und Stoffentwickler für Filme in München; 2005-07 Studium an der Hochschule für Philosophie
Autorinnen und Autoren
München, freier Lektor; 2007 BA in Philosophie; 2009 Magister in Philosophie, 2009-11 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität München, Ethiklehrer in München; 2011-14 Promotionsstudium an der ETH Zürich (CHE); 2012-13 Visiting Researcher an der Stanford University (USA); 2013 Bayerischer Kunstförderpreis, Franz-Hessel-Preis für zeitgenössische Literatur, Literarische Auszeichnung des Kantons Bern, Longlist des Deutschen Buchpreises, Nominierung für den Schweizer Buchpreis für Frühling der Barbaren; 2014 Erstaufführung von Frühling der Barbaren am Staatstheater Wiesbaden; 2016 Hans-Fallada-Preis für Frühling der Barbaren; 2017 Schweizer Buchpreis, Tukan-Preis, Shortlist des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises, Longlist des Deutschen Buchpreises für Kraft. Veröffentlichungen in Auswahl: Kraft. München 2017. – Frühling der Barbaren. München 2013. Antje Maaser (*1977) 1995-2001 Produktdesign-Studium an der Fachhochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung Heiligendamm/Wismar; 2001 Diplom-Designerin; 2001-13 freiberuflich und angestellt tätig als Designerin; 2013-16 BA-Studium der Philosophie und Soziologie an der Universität Rostock; 2014-15 Tutorin für Lehrveranstaltungen der Philosophie und Soziologie an der Universität Rostock; 2015-19 Studentische Hilfskraft am Institut für Philosophie im Arbeitsbereich Praktische Philosophie der Universität Rostock; 2016-19 MA-Studium der Soziologie und Philosophie des Sozialen an der Universität Rostock und der Universität Toruń (PL), Abschluss mit MA. Fran Osrecki (*1982) 2001-05 Studium der Soziologie in Wien (AUT); Mitglied des Graduiertenkollegs »Auf dem Weg in die Wissensgesellschaft« an der Universität Bielefeld; 2010 Promotion; Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Osnabrück; seit 2017 Habilitation zum Thema »Transparenz als Laienherrschaft«, Koordinator des Wissenschaftlichen Netzwerks »Die Soziologie des soziologischen Wissens« der DFG; seit 2018 Professor für Allgemeine Soziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin. Veröffentlichungen in Auswahl: Stille Revolutionen: Über die Latenz sozialen Wandels in der soziologischen Zeitdiagnostik. In: Gegenwartsdiagnosen: Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne. Hg. von Thomas Alkemeyer, Nikolaus Buschmann und Thomas Etzemüller. Bielefeld 2019 (im Erscheinen). – Der Transparenz-Imperativ: Normen, Strukturen, Praktiken. Hg. von Fran Osrecki und Vincent August. Wiesbaden 2018 (im Erscheinen). – Die Diagnosegesellschaft: Zeitdiagnostik zwischen Soziologie und medialer Popularität (Dissertation). Bielefeld 2011.
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Deutungsmacht von Zeitdiagnosen
Walter Reese-Schäfer (*1951) 1969-75 Studium in Hamburg; 1975-78 Promotionsstudium in Hamburg; 1978 Promotion; 1979 Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien; 1978-92 Dokumentationsjournalist; 1992-95 Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Halle-Wittenberg; 1995 Habilitation; 1996-99 Oberassistent an der Universität Halle-Wittenberg; 1999 Vertretung der Professur für Politikwissenschaften in Essen; 1999-2001 Vertretung der Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte in Hamburg; seit 2001 Professor für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Göttingen; 2004-08 Fellow des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen; 2014-15 Associate Fellow des Lichtenberg-Kollegs in Göttingen. Veröffentlichungen in Auswahl: Die Metaphorik kommunitaristischer Zeitdiagnosen. In: Metaphern soziologischer Zeitdiagnosen. Hg. von Matthias Junge. Wiesbaden 2016, S. 161-180. – Politische Ethik: Philosophie, Theorie, Regeln. Wiesbaden 2013. – Diagnosen der Moderne: Weber, Habermas, Hayek, Luhmann. Hg. von Walter Reese-Schäfer und Ingo Pies. Berlin 2010. –Politische Theorie heute. Neuere Tendenzen und Entwicklungen. München, Wien 2000. – Was ist Kommunitarismus? Frankfurt a.M., New York 1994. Wolfgang Welsch (*1946) Studium der Philosophie, Kunstgeschichte, Psychologie und Archäologie in München und Würzburg; 1974 Promotion; 1982 Habilitation; 1985-87 Fellow des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen in Wien (AUT), Gastprofessor an der Universität Erlangen-Nürnberg und an der Freien Universität Berlin; 1988-93 Professor für Philosophie an der Universität Bamberg, Gastprofessor an der Humboldt-Universität Berlin; 1993-98 Professor für Philosophie an der Universität Magdeburg, Gastprofessor an der Stanford University (USA) und an der Emory University Atlanta (USA); 1998-2012 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Jena, Gastprofessor am Stanford Humanities Center (USA); 2017 Gastprofessor an der Fudan-Universität Shanghai (CHN). Veröffentlichungen in Auswahl: Wer sind wir? Wien 2018. – Wahrnehmung und Welt – Warum unsere Wahrnehmungen weltrichtig sein können. Berlin 2018. – Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne. Weilerswist 2012. – Postmoderne. Pluralität als ethischer und politischer Wert. Köln 1988. – Unsere postmoderne Moderne. Weinheim 1987. – Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre (Habilitation). Stuttgart 1987.
Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)
Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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