591 167 6MB
German Pages 399 [400] Year 2017
Deutschsprachige jüdische Emigration nach Schweden
Europäisch-jüdische Studien Beiträge
Herausgegeben vom Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Redaktion: Werner Treß
Band 33
Deutschsprachige jüdische Emigration nach Schweden 1774 bis 1945 Herausgegeben von Olaf Glöckner und Helmut Müssener In Zusammenarbeit mit Lars M. Andersson und Lena Roos
ISBN 978-3-11-052987-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-053228-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-053001-8 ISSN 2192-9602 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Olaf Glöckner Vorwort IX Helmut Müssener Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen. Bestandsaufnahme und Desideratenkatalog 1
Einwanderungstraditionen und Familien-Narrative Harry R. Svensson Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip‐Ruben in Karlskrona 23 (Übersetzung: Helmut Müssener) Carl Henrik Carlsson Jacob Ettlinger – kein typisch deutscher Jude in Schweden (Übersetzung: Helmut Müssener) 47 Lars Dencik Exil: Verzweiflung und Kreativität (Übersetzung: Olaf Glöckner)
57
Julius H. Schoeps Leben in schwierigen Verhältnissen. Hans-Joachim Schoeps im schwedischen Exil 105
Deutschsprachige Juden und ihr Einfluss auf die jüdische Gemeinschaft in Schweden Lena Roos Gottlieb Klein und die Religionswissenschaft in Schweden (Übersetzung: Elena Sapega) 119
VI
Inhalt
Anders Hammarlund Lazarus – Simmel – Boas. Zum Vermächtnis der Wissenschaft des Judentums 133 (Übersetzung: Margaret‐Ann Schellenberg) Anne Weberling Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie zwischen Deutschland, Schweden und Palästina 147
Schicksale zwischen Flucht, Exil und Neubeginn Irene Nawrocka Gottfried Bermann Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen 167 Verlegerfamilie Bonnier Elke-Vera Kotowski Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein 183 Anna-Dorothea Ludewig „Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“ Nelly Sachs (1891 – 1970) zwischen Berlin und Stockholm 199 Henrik Rosengren Deutschsprachiges Musikexil in Schweden (Übersetzung: Helmut Müssener) 215
Fluchthilfe und Selbstorganisation 1933 – 1945 Pontus Rudberg Deutsch‐jüdischer Einfluss auf schwedisch‐jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939 (Übersetzung: Helmut Müssener) 239 Pär Frohnert „Seinen christlichen Auftrag gegenüber diesen Brotlosen und Unbehausten erfüllen“. Schwedische christliche Flüchtlingshilfe für österreichische Judenchristen 1938 – 1945 (Übersetzung: Helmut Müssener) 255
Inhalt
VII
Helmut Müssener, Michael F. Scholz Von Hilfe zur Selbsthilfe. Die Emigrantenselbsthilfe und ihre Tätigkeit von der 273 Gründung bis in die 1950er-Jahre
Rettungsaktionen für Kinder und Jugendliche 1933 – 1945 Merethe Aagaard Jensen Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden – betrachtet aus einem skandinavischen Blickwinkel 307 Clemens Maier-Wolthausen Rettung über die Ostsee. Die Kindertransporte nach Schweden
323
Malin Thor Tureby Flüchtlinge und Pioniere. Deutsch‐jüdische Jugendliche während der 1930er‐ und 1940er‐Jahre auf dem schwedischen Land 337 (Übersetzung: Helmut Müssener)
Anhang Literaturverzeichnis
355
Abbildungsverzeichnis Personenregister
379
377
Olaf Glöckner
Vorwort Aaron Isaac aus dem brandenburgischen Treuenbrietzen wurde 1774 der erste deutsche Jude, dem das Königreich Schweden eine Ansiedlung auch ohne Konversion zum Protestantismus zugestand. Wenig später gründete der erfolgreiche Händler und Graveur mit einigen Getreuen in Stockholm die erste jüdische Gemeinde. Fortan lebten Juden aus dem deutschsprachigen Raum in wachsender, wenn auch recht überschaubarer Zahl im Land der Elche und tausend Seen. Als Unternehmer, Händler, Künstler, aber auch als Rabbiner, Philosophen, Musiker und Wissenschaftler zog es sie in Städte wie Stockholm, Göteborg, Norrköping, Karlskrona, Malmö und Lund. Lokale jüdische Gemeinden profitierten nicht nur vom liberalen „deutsch-jüdischen“ Einfluss, sondern wurden davon ganz wesentlich geprägt. Auch das Verhältnis zur nichtjüdischen Umfeld schien belastbar. Zwischen schwedischer, deutscher und jüdischer Kultur fanden sich genügend Anknüpfungspunkte für ein respektvolles Miteinander und gegenseitige Wertschätzung. Ergaben sich dennoch Vorurteile unter den nichtjüdischen Schweden, dann konnte – aus heutiger Perspektive tragisch-absurd – schon mal „deutsch“ mit „jüdisch“ und „jüdisch“ mit „deutsch“ verwechselt werden. Die vergleichsweise harmonischen Bande zwischen Schweden, Deutschland und dem deutschsprachigen Judentum auf beiden Seiten wurden jäh in Frage gestellt, als Adolf Hitler die Macht in Berlin an sich riss und im Laufe der 1930erJahre immer mehr Jüdinnen und Juden aus dem „Dritten Reich“ fliehen mussten. Ähnlich wie die allermeisten Staaten und Länder jener Zeit betrieb auch Schweden eine vergleichsweise rigide Politik gegenüber den jüdischen Flüchtlingen. Waren die Hürden, ins Land einreisen und für länger dort bleiben zu können, für politisch Verfolgte ohnehin schon sehr hoch, so waren sie es für die rassisch verfolgten Juden erst recht. Erst in der Spätphase des Zweiten Weltkrieges, als Informationen über den deutschen Genozid an Europas Juden sich verdichteten, änderte die schwedische Regierung ihre Haltung und engagierte sich schließlich sogar bei der Aufnahme von Holocaustüberlebenden. An denjenigen, die es noch rechtzeitig ins rettende Schweden geschafft hatten – und diese Gruppe zählte schließlich nach Tausenden –, blieb der Schock des Heimatverlustes noch lange Zeit haften. Dennoch fanden viele zu neuer Energie und neuer Identität, leisteten Außergewöhnliches im Beruf und für die Gesellschaft und wurden später häufig als „typisch schwedisch“ wahrgenommen. Die Mehrzahl jener Juden, die während der NS-Zeit aus Deutschland und Österreich nach Schweden emigriert waren, kehrten später nicht mehr in ihr Herkunftsland
X
Olaf Glöckner
zurück. Allein schon deshalb findet der Begriff des „jüdischen Exils“ in Schweden auch viele Kritiker. Ungeachtet einer Reihe neuer, spannender Studien und Publikationen ist die deutschsprachige jüdische Emigration nach Schweden – von ihren Ursprüngen im 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein – an vielen Stellen noch ungenügend erforscht. Dies war Anlass für das Forum für jüdische Studien (Universität Uppsala) und das Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (Universität Potsdam), Ende 2014 eine internationale Konferenz in Uppsala genau diesem Thema zu widmen. Fast alle der im hier vorliegenden Konferenz-Band versammelten Autoren haben sich über lange Zeiträume mit jüdischer Migration nach Schweden, deutschem Judentum in Skandinavien, schwedischjüdischer Beziehungsgeschichte oder auch mit relevanten Familien- und Individualbiografien beschäftigt. Entstanden ist ein Buch, das nachzeichnet, wie deutschsprachige jüdische Zuwanderung vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert sowohl die Migranten wie auch die schwedische Aufnahmegesellschaft beflügeln konnte, welche dynamischen Transformationen die jüdische Gemeinschaft in Schweden durchlief, und wie deutsche und österreichische Flüchtlinge ab den frühen 1930er-Jahren schließlich als unerwartetes „Problem“ wahrgenommen wurden. Es ist aber auch ein Buch, das von mutigen Rettungsaktionen und von zivilisatorischer Entschlossenheit erzählt, von Trauer und Schmerz, von engagierter Emigranten-Selbstorganisation und von beeindruckenden neuen Lebenswelten, die sich die deutschsprachigen Juden in Schweden auch und gerade nach 1945 aufgebaut haben. Helmut Müssener unternimmt im einleitenden Beitrag eine profunde Bestandsaufnahme zur bisherigen Forschung und schließt mit einem detaillierten „Desideratenkatalog“ für noch ausstehende Studien, angefangen von einer allgemeingültigen Beschreibung der Jahre 1933 – 1945 über die individuellen Erfolgsgeschichten einer deutsch-dänisch-jüdischen Einwanderungswelle bis hin zu umfassenderen Studien über geschäftliche, industrielle und finanzielle Leistungen der schwedischen Juden und Parallelen zwischen einstigem deutschem und schwedischem Antisemitismus. Harry R. Svensson zeichnet die außergewöhnliche Geschichte der Familie Philip-Ruben in Karlskrona nach, die anfänglich stark jenen der sephardischen „Port Jews“ (Hafenjuden) nord- und südeuropäischer Metropolen ähnelt, dann aber ganz eigene Wege geht. Es gelingt der Familie über Generationen hinweg, flexibel auf wirtschaftliche Krisen und andere objektiv schwierige Umstände zu reagieren und sich stets neu zu orientieren – u. a. mit Segeltuchproduktion, Landwirtschaft und schließlich auch Tabakherstellung. Carl Henrik Carlsson illustriert Leben und Werk des Metall- und Erzhändlers Jacob Ettlinger (1880 – 1952), der 1915 nach Schweden kam und sich von Anfang
Vorwort
XI
an stark für das jüdische Gemeinschaftsleben einsetzte. In Stockholm fungierte Ettlinger, ein überdurchschnittlich erfolgreicher Unternehmer und Netzwerker, lange Jahre als Vorsitzender der neo-orthodoxen Gemeinde „Adat Israel“, und er engagierte sich während der 1930er- und 1940er-Jahre stark in der Hilfs- und Rettungstätigkeit für vom Nationalsozialismus bedrohte Juden. In seinem Beitrag „Exil: Verzweiflung und Kreativität“ beschreibt Lars Dencik, wie gegensätzlich sich die plötzliche Entwurzelung von deutschsprachigen jüdischen Emigranten während der NS-Zeit (und danach) im Rahmen eines individuellen Neuanfanges in Schweden auswirken konnte. Der Autor lässt umfangreiche Erinnerungen aus seiner eigenen (ursprünglich deutschsprachigslowakischen) Herkunftsfamilie einfließen und bringt diese, über Generationen hinweg, in genau jenen Kontext mit dem Spannungsfeld zwischen Depression, Resignation und zeitgleich neuem, häufig extrem kreativem Aufbruch. Hier findet der Leser den mit Abstand umfangreichsten Text dieses Bandes. Ebenfalls starke familienbiografische Bezüge beinhaltet der Beitrag von Julius H. Schoeps, in welchem die Exiljahre des Religionswissenschaftlers und Philosophen Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980) rekonstruiert werden. Obwohl Schoepsʼ publizistische Aktivitäten vom Ende der 1930er-Jahre bis Kriegsende vielfältig und kreativ waren und er eine Reihe von persönlichen Freundschaften schloss, bekam er nie das Gefühl, in Schweden angekommen zu sein. Schon 1946 kehrte er mit seiner Familie in das Land der Täter zurück. Lena Roos zeichnet den außergewöhnlichen Wirkradius des Stockholmer Rabbiners und Talmud-Gelehrten Gottlieb Klein (1852– 1914) nach, welcher zugleich als früher Protagonist einer modernen Religionswissenschaft hohes Ansehen unter protestantischen Theologen in Schweden genoss. Eine besondere Freundschaft verband Klein mit dem schwedischen Religionshistoriker und späteren Erzbischof von Uppsala, Nathan Söderblom. Anders Hammarlund beschreibt anhand von Moritz Lazarus (1824– 1903), Georg Simmel (1858 – 1918) und Franz Boas (1858 – 1942), wie sich jüdische Bildungstradition, häufig getragen von osteuropäischer Beständigkeit, im 19. Jahrhundert mit Inspirationen moderner Gesellschaftswissenschaft vereinen und dabei wichtige Impulse für neue wissenschaftliche Disziplinen – u. a. die Völkerpsychologie, Soziologie und Anthropologie – liefern konnte. Direkt und indirekt hatte dieser intellektuelle Aufbruch auch seine Auswirkungen auf das jüdische Geistesleben in Schweden. Anne Weberling skizziert Leben und Werk des ursprünglich aus Osteuropa stammenden Metallunternehmers und bekennenden Zionisten Isaak Feuerring (1889 – 1937) in einer transnationalen Dimension. Feuerring lebte nur wenige Jahre in Stockholm (von 1917– 1922), erwies sich hier aber als wichtiger Akteur sowohl in der jüdischen Gemeinde, beim Aufbau arbeitsfähiger Strukturen der
XII
Olaf Glöckner
zionistischen Bewegung in Schweden wie auch bei der Unterstützung notleidender Menschen in Palästina am Ende des Ersten Weltkrieges. Irene Nawrocka richtet den Leserblick auf die erfolgreiche Arbeit des Wiener Bermann-Fischer Verlages, der Wien nach dem „Anschluss ans Reich“ 1938 verlassen musste und in Stockholm eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem schwedischen Verlag Albert Bonnier aufbaute. Komplizierte zehn Jahre (1938 – 1948) hat der renommierte Verlag, der auch viele deutschsprachige Exil-Schriftsteller unter Vertrag hatte, durch die Partnerschaft mit Bonnier durchstehen können, obwohl dem gemeinsamen Unternehmen lange Zeit Skepsis entgegenschlug. Elke-Vera Kotowski widmet sich in ihrem Beitrag der modernen deutsch-jüdischen Malerin Lotte Laserstein (1898 – 1993). Neben Jeanne Mammen war Laserstein eine der wenigen Malerinnen, die die „Neue Frau“ auf die Leinwand brachte, d. h. den kosmopolitischen Typus Frau, der seit den 1920er-Jahren die europäischen Metropolen überraschte. 1937 emigrierte sie von Berlin nach Stockholm und später nach Kalmar. Nach Jahren des Exils habe Lotte Laserstein „in Schweden eine Heimat“ gefunden, schreibt die Autorin. Gleichwohl erlebte ihr künstlerisches Werk einen drastischen Bruch. Auf die deutsch-jüdische Lyrikerin und Literatur-Nobelpreisträgerin Nelly Sachs (1891– 1970) geht Anna-Dorothea Ludewig ein. Die in buchstäblich letzter Minute zusammen mit ihrer Mutter aus Berlin geflohene Schriftstellerin kam 1940 in Stockholm an, lebte in der neuen Welt von Anfang an sehr zurückgezogen, doch vervollkommnete sie hier ihre lyrische Sprache – gerade in der Auseinandersetzung mit Flucht, Exil und Shoah – und erreichte eine Leserschaft weltweit. Ihre Heimat, so die Autorin, fand Sachs weder in Berlin, noch in Stockholm, sondern in ihren Worten. Henrik Rosengren stellt in seinem Beitrag fünf verschiedene deutschsprachige Exil-Musiker mit jüdischem Hintergrund vor, die nach 1945 allesamt in Schweden geblieben sind: Maxim Stempel, Ernst Emsheimer, Richard Engländer, Hans Holewa und Herbert Connor. Unterschiedliche musikalische Präferenzen und politische Überzeugungen fanden sich in dieser Gruppe, und vollkommen different verliefen auch die Lebenswege in Schweden. Auf je eigene Weise schrieben die fünf indes schwedische Musikgeschichte nach dem Krieg mit. Pontus Rudberg geht der Frage nach, in welchem Ausmaß und in welcher Form sich die schwedisch-jüdische Hilfstätigkeit für die NS-verfolgten deutschen Juden bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges an Wünschen und Richtlinien der noch existierenden deutsch-jüdischen Organisationen orientierte – mit all ihren Prämissen und ebenso Widersprüchen. Tatsächlich, so Rudberg, habe das schwedische Engagement sich fast übereinstimmend an den „deutschen“ Vorstellungen orientiert: insbesondere die Unterstützung und Ausbildung jüdischer
Vorwort
XIII
Kinder und Jugendlicher sowie materielle Unterstützung, die im Endeffekt auf Emigration und Neubeginn in Palästina hinauslief. Schwedische christliche Flüchtlingshilfe für österreichische Judenchristen in der Zeit von 1938 – 1945, insbesondere für Kinder und Jugendliche, beschreibt Pär Frohnert. Der Autor richtet den Fokus dabei insbesondere auf die Tätigkeit des Schwedischen Missionsbundes, der während der besagten Jahre verschiedene Aufnahmelager in Schweden betrieb, teils auch in engagierter Eigeninitiative und mit Spendenaufkommen unabhängig vom schwedischen Staat. Der Autor konstatiert nach eigenen Studien ein hohes soziales Engagement, aber auch verblüffende Vorurteile und paternalistisches Verhalten. Antisemitische Einstellungen hätten gleichwohl keinen Platz in der Flüchtlingshilfe gehabt. Michael F. Scholz und Helmut Müssener gehen der Entstehung, Blütezeit und den späten Jahren einer Vereinigung nach, die von der zeithistorischen Forschung bisher in unverständlicher Weise vernachlässigt wurde: der Emigrantenselbsthilfe (ES) in Stockholm. Dabei verdeutlicht allein der Hintergrund zweier SchlüsselFiguren der ES, Fritz Hollander und Wolfgang Steinitz, welch unterschiedliche politische, kulturelle und mentale Welten in dieser aus der Not geborenen Gemeinschaft zusammentrafen, die über Jahre hinweg eine unverzichtbare Anlaufstelle für deutschsprachige jüdische Emigranten in Stockholm wurde und offensichtlich auch viel zu Stärkung kollektiver Identitäten beitragen konnte. Aus einem genuin skandinavischen Blickwinkel beschreibt Merethe Aagaard Jensen die Rettung (unbegleiteter) jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich, vorrangig nach Schweden. Tatsächlich war Schweden das erste skandinavische Land, das einer größeren Gruppe dieser Flüchtlinge die Einreise erlaubte. Die Autorin geht ebenfalls auf die Rettung der „Wienerkinder“ von Norwegen über die schwedische Grenze im Jahr 1942, auf Jugendalijah-Projekte in Dänemark und auf spezifische Bemühungen der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit ein. Clemens Maier-Wolthausen beschäftigt sich in seinem Beitrag mit den bis heute wenig bekannten und erforschten „Kindertransporten“ über die Ostsee nach Schweden, die ebenfalls zur Rettung Hunderter Menschenleben führten. Wesentlich wurden dieser Rettungsweg und die Aufnahme der Kinder in Schweden geebnet durch die jüdische Gemeinde in Stockholm (Mosaiska Församlingen), die enge Kontakte zur Israelitischen Kultusgemeinde in Wien aufbaute. Der Autor beschreibt zugleich, in welch frustrierende Zwänge und schwierige (Auswahl‐)Entscheidungen die Protagonisten dieser Rettungsaktionen von Anfang an gerieten. Malin Thor Tureby beschreibt, wie in Kooperation und mit Unterstützung durch die linksorientierte zionistische Hechaluz-Bewegung deutsch-jüdische Jugendliche auf dem schwedischen Land landwirtschaftliche Ausbildungen er-
XIV
Olaf Glöckner
hielten und zugleich ideologisch auf die Einwanderung nach Palästina vorbereitet wurden. Modellhaft stand hierfür unter anderem der Kibbutz Svartingstorp. Doch mit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wurden die Verbindungen zur internationalen Hechaluz-Bewegung schwächer und die Auswanderung nach Palästina nahezu unmöglich. Die Autorin beschreibt, wie sich in den folgenden Jahren das Selbstverständnis zahlreicher junger Auszubildender deutlich veränderte – von „Neusiedlern“ hin zu „Gastarbeitern“. Wir danken allen Autoren für ihre fachkundigen und engagierten Beiträge, dem Forum für Jüdische Studien Uppsala, dem Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam und dem Verlag De Gruyter für die freundliche organisatorische Unterstützung. Ebenso herzlich wird der Moses Mendelssohn Stiftung Erlangen/Berlin, dem Jubileumfonds der Schwedischen Reichsbank, der Stiftung Clas Groschinskys Minnesfond und an der Universität Uppsala der Theologischen Fakultät, dem Forum für Deutschlandstudien und dem Zentrum für Russland- und Eurasienstudien gedankt. Unsere besondere Wertschätzung geht darüber hinaus an die Übersetzerinnen Margaret-Ann Schellenberg und Elena Sapega und schließlich an Sabine Schröder, ohne deren umsichtige editorische Arbeit dieser Band nicht vorstellbar gewesen wäre. Olaf Glöckner für die Herausgeber Uppsala/Potsdam, im Mai 2017
Helmut Müssener
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen. Bestandsaufnahme und Desideratenkatalog In der Geschichtsschreibung ist gemeinhin von „häufig[en] Verbindungen zwischen schwedischem und deutschem Judentum“¹ die Rede, eine, wie ich meine, kräftige Untertreibung. Vielmehr geht es um eine stetige Verbindung, ja nahezu um eine Symbiose, die bis Anfang der fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts bestanden hat. Als, hier nur exemplarisch, der jüdische Rechtsanwalt Ragnar Gottfarb 1977 im Rahmen eines schwedischen Fernsehfeatures zum Verhältnis zwischen Schweden und dem Dritten Reich über seine Tätigkeit in der jüdischen Flüchtlingshilfe Ende der 1930er-Jahre befragt wurde, sprach er wie selbstverständlich von „den alten Herren, die in der [Mosaischen] Gemeinde das Sagen hatten und die alle noch in Deutschland studiert hatten“.²
Vorbemerkung I: „Wer Jude ist, bestimmt …?“ – Ja wer? Zu definieren wäre aber zunächst, wer letztlich Jude, deutscher Jude oder schwedischer Jude, also Forschungsgegenstand, ist. Gilt der Spruch, „Wer Jude ist, bestimme ich“, oder darf sich ein Individuum auf ein Recht zur Selbstbestimmung berufen? Nach welchen Kriterien wird die Entscheidung, „Jude“ oder „Nicht-Jude“, getroffen? Wann wird in wessen Augen ein deutscher Jude zu einem schwedischen Juden? Wann ist, ein anderes Beispiel, eine Wissenschaftlerin oder ein Wissenschaftler eine jüdische Wissenschaftlerin oder ein jüdischer Wissenschaftler? Und was unterscheidet sie oder ihn von einer oder einem „arischen“ beziehungsweise von einer oder einem christlichen oder gar atheistischen?³ Denn
Einladungstext zu: „Deutsch-jüdische Emigration und Immigration nach Schweden“. Internationale Konferenz. 5.–7. November 2014. Universität Uppsala. Frank Hirschfeldt und Helmut Müssener: „,Der Führer hat Ordnung geschaffen‘. Sverige och Tredje Riket“. TV 2. 1980. Das Programm wurde unter dem Titel „,Der Führer hat Ordnung geschaffen‘. Schweden und das Dritte Reich“ 1980 auch in den dritten Programmen deutscher Fernsehanstalten gesendet. Ragnar Gottfarb (1907– 1988) war Rechtsanwalt und engagierte sich als junger Jura-Student Ende der 1930er-Jahre in der Flüchtlingshilfe der Mosaischen Gemeinde. Das Zitat wurde wie alle anderen schwedischen Zitate in diesem Aufsatz vom Verfasser übersetzt. Im Folgenden werde ich durchgehend aus rein praktischen Gründen das generische Maskulinum verwenden. https://doi.org/9783110532289-001
2
Helmut Müssener
es ist schließlich nicht nur wichtig, wie man sich definiert, sondern auch und vielleicht noch wichtiger, wie man von den Anderen definiert wird. Es geht darum, ob man bereit ist, die Selbstbestimmung eines Individuums zu akzeptieren oder Fremdbestimmung zu praktizieren. Zwei Beispiele mögen ausreichen, diese Problematik zu umreißen. Zum einen geht es um drei Sätze aus den Erinnerungen von Gunilla Palmstierna-Weiss. Sie stehen an ihrem Anfang: Ich habe mich oft gefragt, warum Peder Herzog, mein Urgroßvater mütterlicherseits, in der Forschung zur Geschichte der Juden in Schweden nirgends erwähnt wird. Warum hielten ihn die etablierten Stockholmer Bürger für einen Juden, nicht aber die Juden selbst, die sich wie er ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Stockholm niederließen? Er wurde 1838 in Niederwiesen/Oppenheim in der Nähe von Mainz geboren.⁴
Und was hat es, zum anderen, mit dem schwedischen Sechzehntel-Juden Sven Hedin auf sich, der um die Wende zum 20. Jahrhundert und in den Jahrzehnten danach für viele schwedische Karikaturisten immer noch ein Repräsentant der deutschen Judenheit oder auch der jüdischen Deutschheit, auf jeden Fall aber kein „richtiger“ Schwede war?⁵ Wie halten wir es also mit der Gleichsetzung von Deutschen und Juden, die zumindest in Teilen der schwedischen Öffentlichkeit bis in die 1920er-Jahre durchaus üblich war? Und welcher Definition des „Juden“ soll man sich bedienen? Mir scheint, wir legen bisher stillschweigend die Definition der Nürnberger Gesetze von 1935 zugrunde. Sollte das der Fall sein, dann wäre allerdings die Zahl unserer Untersuchungsobjekte in Schweden um ein Vielfaches höher als bisher vorausgesetzt. Beispielhaft sind einige Bemerkungen Hugo Valentins, der allem Anschein nach von Fall zu Fall über diese Frage entscheidet.⁶ Er schreibt einerseits, die
Palmstierna-Weiss, Gunilla: Minnets spelplats. Stockholm 2013. S. 8. – Die Verfasserin (geb. 1928) ist Bühnenbildnerin, Keramikerin und Schriftstellerin. Sie war von 1966 bis zu seinem Tod mit dem deutsch-jüdisch-schwedischen Schriftsteller Peter Weiss (1916 – 1982) verheiratet. – Im Herbst 2016 erschien im Verlag Näringslivshistoria [Wirtschaftsgeschichte] eine umfangreiche Biografie von Per Dahl: Peder Herzog. Bokbindaren som började bygga [Peder Herzog. Der Buchbinder, der zu bauen begann]. Stockholm 2016. Sie würdigt ausführlich die Bedeutung Peder Herzogs für die wirtschaftliche Entwicklung Schwedens und Stockholms, ist aber nur indirekt ein Beitrag zur Geschichte der deutschsprachigen Juden in Schweden bzw. zur Geschichte der schwedisch-deutsch-jüdischen Beziehungen. Vgl. zu dieser Problematik auch den Beitrag von Lars Dencik in diesem Band. Hugo Valentin (1888 – 1963), schwedischer Historiker und führender Zionist. Er veröffentlichte 1924 das Buch Judarnas historia i Sverige. Es handelt sich um das bis heute maßgebende Standardwerk, das in verkürzter Form, aber chronologisch erweitert 1964 unter dem Titel Judarna i
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
3
Gesamtzahl der Juden habe sich 1840 auf 911 belaufen, aber das sind für den Zionisten Hugo Valentin lediglich die registrierten Gemeindemitglieder in Göteborg, Stockholm, Norrköping und Karlskrona.⁷ Von getauften Juden und eingeheiraten bzw. ausgeheirateten ist bei ihm nicht die Rede. Andererseits aber macht er sich an anderer Stelle die Parole „Wer Jude ist, bestimme ich!“ zu eigen, wenn er schreibt: „Von den 34 Geschäftsleuten“, die 1863 Skandinaviska Banken gegründet hatten, „hatten sechs einen jüdischen Namen.“⁸
Vorbemerkung II: Ein spätes, allzu spätes Interesse an der Thematik Eine zweite, persönliche Vorbemerkung ist einer Zeit geschuldet, in der die Thematik, die hier behandelt wird, nicht aktuell war. Selbst kam ich bereits 1969 mit ihr in Berührung, als ich begann, mich mit dem deutschsprachigen Exil in Schweden nach 1933 zu beschäftigen. Dies resultierte in einer Habilitationsschrift, die 1974, also vor etwas mehr als 40 Jahren, im Hanser-Verlag München erschien.⁹ Die damalige Rezeption war bezeichnend. Die Arbeit fand zum einen in der Öffentlichkeit großes Interesse. Die Deutsche Presse Agentur berichtete ebenso darüber wie ihre schwedische Entsprechung Tidningars Telegrafbyrå. Es erschienen Rezensionen in nahezu sämtlichen schwedischen und etlichen größeren bundesrepublikanischen Tageszeitungen, in der ZEIT, übrigens von Julius Schoeps, sowie im Rundfunk, und es gab Interviews im Rundfunk wie in der Presse. Dagegen stieß, zum anderen, die Arbeit in der schwedischen Wissenschaft und zum größten Teil in der bundesrepublikanisches auf nahezu völliges Desinteresse. In diesem Zusammenhang ist es aber wesentlich, dass die Rolle und Bedeutung der jüdischen Flüchtlinge als Gruppe – ich benutzte in der Arbeit für einzelne Individuen die Formulierung „von der NS-Rassengesetzgebung betroffen“, von der ich auch in diesem Beitrag ausgehe – in der Arbeit nicht behandelt und vor allem ihr Fehlen in den Rezensionen nirgends moniert wird. In den 1970er-Jahren und bis in die 1980er-Jahre herrschte in der deutschen Forschung zum Exil ein allgemeines Desinteresse an der hier behandelten Thematik, und in der schwedischen beschäftigt man sich damit erst in den letzten zwei Dezennien.
Sverige. Från 1774 till 1950-talet neu aufgelegt wurde. Die bisher letzte Auflage erschien 2013. 1953 war er maßgeblich an der Gründung des Samfundet Sverige-Israel [Gesellschaft Schweden-Israel] beteiligt. Valentin, Hugo: Judarna i Sverige. Från 1774 till 1950-talet. Stockholm 2013. S. 90. Valentin, Judarna i Sverige, S. 91 Müssener, Helmut: Exil in Schweden. Stockholm/München 1974.
4
Helmut Müssener
Dadurch sind seit den 1960er-Jahren viele Quellen, wie beispielsweise Nachlässe, verloren gegangen und nicht zuletzt fast alle Zeitzeugen verstorben.
Vorbemerkung III: Fehlende Sprachkenntnisse als Forschungshindernis 1975 erschien in der Zeitschrift Nordisk Judaistik als Auftragsarbeit und Verschnitt meiner Arbeit ein kleinerer Aufsatz auf Schwedisch über die deutsch-jüdische Emigration nach Schweden nach 1933: Den tysk-judiska emigrationen till Sverige efter 1933. ¹⁰ Erstaunlicherweise wird gerade dieser des Öfteren in schwedischen wissenschaftlichen Veröffentlichungen statt der Habilitationsschrift selbst zitiert. Dies geschieht nun nicht etwa auf Grund der herausragenden Qualität des Aufsatzes, sondern eher auf Grund der mangelhaften Deutschkenntnisse der schwedischen Wissenschaftler. Entsprechendes dürfte aber auch für die Schwedisch-Kenntnisse deutscher Wissenschaftler gelten. Fehlende Sprachkenntnisse sind ein großes, ernstzunehmendes Hindernis für die Forschung, da sie die Zugänglichkeit zu den Quellen beschränkt oder unmöglich macht.
Kartierung und Bestandsaufnahme Eine grundlegende Bibliografie zum Thema „Juden in Schweden – die Geschichte einer Minderheit“ findet sich leider nicht, aber gewisse Vorarbeiten wurden geleistet. Es existieren bibliografischen Arbeiten von Simon Aberstén, der in sehr jungen Jahren als Einwanderer aus Suwalki im damaligen Zarenreich nach Schweden kam, sowie von C.Vilhelm Jacobowsky und Hilde Rohlén-Wohlgemuth, einer Emigrantin aus Deutschland nach 1933, die diese Arbeit fortsetzten.¹¹ Allerdings beschränken sie sich weitgehend auf belletristische Werke. So muss man immer noch von dem bereits mehrfach zitierten Buch Hugo Valentins ausgehen, findet aber zu einzelnen Zeiträumen in einigen anderen Arbeiten allgemeine Hinweise zu dieser Thematik, die nützlich sein könnten. Zu nennen sind hier Carlssons zu Recht preisgekrönte Dissertation über die jüdische Einwanderung
Müssener, Helmut: Den tysk-judiska emigrationen till Sverige efter 1933. In: Nordisk Judaistik 1 (1975). S. 27– 40. Siehe die Angaben im Literaturverzeichnis zu Simon Aberstén, C. Vilhelm Jacobowsky und Hilde Wohlgemuth-Rohlén.
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
5
aus Osteuropa,¹² Bredefeldts Buch über das jüdische Leben in Stockholm, dessen Titel leider nicht erkennen lässt, das darin weit mehr abgehandelt wird,¹³ und Hanssons verdienstvolle Arbeit über die Flüchtlingshilfe der Mosaischen Gemeinde in Stockholm nach 1933 sowie zahlreiche Sammelbände.¹⁴ Vor allem aber sei auf das Buch von Lars M. Andersson En jude är en jude är en jude. Representationer av „juden“ i svensk skämtpress omkring 1900 – 1930. [Ein Jude ist ein Jude ist ein Jude. Darstellungen des „Juden“ in den schwedischen satirischen Zeitschriften 1900 – 1930] hingewiesen. Es ist ein grundlegendes historisches und kulturhistorisches Standardwerk, das weit über den aktuellen Zeitraum 1900 – 1930 bzw. eine Bestandsaufnahme hinausreicht.¹⁵ Es enthält eine umfangreiche, sorgfältige Bibliografie (S. 599 – 623), u. a. mit einem Verzeichnis von 71 Memoiren und Autobiografien, sowie in den Text eingearbeitete Kurzbiografien zu einzelnen Personen und eine Unzahl von Karikaturen und Abbildungen. Leider fehlt ein Personenverzeichnis. Ferner existiert eine Reihe von Aufsätzen, die die Thematik ebenfalls tangieren und in den Arbeiten von Andersson und Bredefeldt sowie in dem Sammelband von Andersson und Carlsson Från sidensjalar till flyktingmottagning [Von Seidenschals zur Aufnahme von Flüchtlingen] nachgewiesen werden.¹⁶ Hier sei vor allem die Einleitung erwähnt, die den Stand der gegenwärtigen Forschung skizziert und eine Übersicht über die in den letzten Jahren erschienenen Publikationen und aktuellen Forschungsprojekte über die Geschichte der jüdischen Minderheit in Schweden vermittelt. Der Historiker Henrik Rosengren schließlich schildert in einer umfangreichen Arbeit das Schicksal von fünf deutschsprachigen Musikerpersönlichkeiten, die, von der NS-Rassengesetzgebung betroffen, nach
Carlsson, Carl Henrik: Medborgarskap och diskriminering. Östjudar och andra invandrare i Sverige 1860 – 1920. Uppsala 2004. Bredefeldt, Rita: Judiskt liv i Stockholm – ekonomi, identitet och assimilering 1850 – 1930. Stockholm 2008; Broberg, Gunnar/Runblom, Harald/Tydén, Mattias: Judiskt liv i Norden. Uppsala 1988. Die Arbeit behandelt auch die Verhältnisse im übrigen Norden in diesem Zeitraum, d. h. in Dänemark, Finnland und Norwegen. Bredefeldt geht ferner im letzten Kapitel der Arbeit, Kontinuitet och förändring [Kontinuität und Veränderung], auf die allgemeine Problematik von Assimilation und Integration der jüdischen Gruppen in Schweden ein. Hansson, Svante: Flykt och överlevnad – flyktingverksamhet i Mosaiska Församlingen 1933 – 1950. Stockholm 2004. Vgl. ferner die im Literaturverzeichnis aufgeführten Sammelbände von Gunnar Broberg [u. a.], Kerstin Nyström, Ingvar Svanberg und Harald Runblom sowie von Ingvar Svanberg und Mattias Tydén. Andersson, Lars M.: En jude är en jude är en jude. Representationer av „juden“ i svensk skämtpress omkring 1900 – 1930. Lund 2000. Andersson, Lars M./Carlsson, Carl Henrik (Hrsg.): Från sidensjalar till flyktingmottagning. Judarna i Sverige – en minoritets historia. Uppsala 2013.
6
Helmut Müssener
1933 in Schweden Aufnahme fanden,¹⁷ und die Schriftstellerin Elisabeth Åsbrink behandelt in belletristischer Form, aber durch Briefe dokumentarisch abgesichert, das Schicksal eines „einfachen Judenjungen“, der nach der Okkupation Österreichs in einem Kindertransport entkommen konnte.¹⁸
Anfang und Ende der deutsch-jüdischen Einwanderung nach Schweden Im Folgenden sollen die bisherigen Kenntnisse zur Geschichte der jüdischen Einwanderer aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa und ihrer Bedeutung, d. h. des deutsch-jüdischen Einflusses, geschildert, aber vor allem die Desiderata umrissen werden. Dabei möchte ich mit zwei pauschalisierende Zitaten aus der Anfangsphase der ersten jüdischen Einwanderungswelle nach Schweden beginnen, die beide aus dem Standardwerk von Hugo Valentin stammen. Zum einen heißt es dort ohne weitere quantitative oder gar qualitative Differenzierung pauschalisierend: Aaron und Marcus Isaacs Gehilfen und Verwandte sowie deren herbeigerufene Verwandtschaft kamen überwiegend […] aus Mecklenburg […]. Etliche Gemeindemitglieder kamen auch aus Brandenburg, Hamburg-Altona und dem ostjüdischen Zentrum, das nach Polens Teilung Preußen, Russland und Österreich zugefallen war.¹⁹
Ihre enge Verbindung mit dem Land ihrer Herkunft wird ferner verallgemeinernd unterstrichen mit der lakonischen Feststellung: „Ihre Bildung war deutsch wie ihre Sprache.“²⁰ Valentin hebt diese Beziehung noch durch die Schilderung des Alltags einer jüdischen Kaufmannfamilie aus Göteborg um 1820 hervor, über die Rosengren, Henrik: Från tysk höst till tysk vår. Fem musikpersonligheter i svensk exil i skuggan av nazismen. Lund 2006. Behandelt werden die Komponisten, Musikwissenschaftler und Musikpädagogen Herbert Connor, Ernst Emsheimer, Richard Engländer, Hans Holewa und Maxim Stempel. – Eine deutsche Übersetzung des Buches ist 2016 im Bockel Verlag, Neumünster, erschienen. Åsbrink, Elisabeth: Och i Wienerwald star träden kvar. Stockholm 2011.– 2014 erschien eine deutsche Übersetzung unter dem Titel: Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden. Valentin, Judarna i Sverige, S. 57. Aaron Isaac, Kaufmann und Siegelgraveur, war der erste Jude, der 1774 die Erlaubnis bekam, sich in Schweden niederzulassen, ohne zum Luthertum konvertieren zu müssen. Er wurde am 16. September 1730 in Treuenbrietzen geboren und starb am 21. Oktober 1816 in Stockholm. Er gründete die jüdische Gemeinde in Stockholm und schrieb auf Westjiddisch in hebräischen Buchstaben seine Autobiografie. Valentin, Judarna i Sverige, S. 117.
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
7
es heißt: Zum Haushalt „gehörte eine Bibliothek mit griechischen und deutschen Klassikern […]. Regelmäßig widmete man einen Abend pro Woche Schillers Dramen; sie wurden mit verteilten Rollen gelesen“.²¹ All dies gilt Valentin als bekannt und verbindlich, und seine Darstellung der Anfänge wird bis heute allgemein akzeptiert, so pauschal sie auch sein mag.
Desideratum I: Die Jahre 1933 – 1945 Dagegen fehlt bis heute eine ähnliche allgemeingültige Beschreibung der Jahre 1933 – 1945, der wohl letzten Epoche intensiver deutsch-schwedisch-jüdischer Beziehungen, obwohl gerade diese Periode in den letzten 15 Jahren im Mittelpunkt der zeitgeschichtlichen Forschung in Schweden stand. Denn die zweifellos verdienstvollen Arbeiten, die nun entstanden, beschäftigten sich fast ausschließlich mit der schwedischen Flüchtlingspolitik,²² während alle anderen Aspekte dieser quantitativ, aber vor allem qualitativ wichtigen Einwanderungswelle nach Schweden vernachlässigt wurden. Dieses Kapitel wäre zudem nicht leicht zu schreiben, denn ein großer Teil der Quellen – bis auf wenige Ausnahmen alles nicht gedrucktes und nur vervielfältigtes Material – dürfte verloren gegangen sein, da man sich in Schweden für die Thematik eben nicht interessierte und die klassisch-positivistische Forschung, die die Antwort auf die Frage, „wie es denn eigentlich gewesen sei“, sucht, auf einem Abstellgleis gelandet ist. Denn mit Quellenaufschluss und Übersichten erwirbt man sich keine wissenschaftlichen Lorbeeren; Theorie und Methode werden belohnt, nicht aber positivistische Kärrner-Arbeit.²³ So fehlen beispielsweise Studien zu den einzelnen verdienstvollen, meist politisch orientierten Flüchtlingshilfsorganisationen und der von ihnen geleisteten praktischen Hilfsarbeit, ja des gesamten antinazistischen Widerstandes in Schweden, während der in der Tat sehr fragwürdigen offiziellen Politik den Geflohenen gegenüber und ihrer Behandlung durch die Behörden in Valentin, Judarna i Sverige, S. 123. Hier seien exemplarisch folgende Arbeiten erwähnt: Byström, Mikael: En broder, gäst och parasit. Uppfattningar och föreställningar om utlänningar, flyktingar och flyktingpolitik i svensk offentlig debatt 1942– 1947 Stockholm 2006; Kvist Geverts, Karin: „Ett främmande element i nationen. Svensk flyktingpolitik och de judiska flyktingarna 1938 – 1944“. Uppsala 2008; Lomfors, Ingrid: Förlorad barndom – återvunnet liv: De judiska flyktingbarnen från Nazityskland. Göteborg 1996. Vgl. hierzu auch die Beiträge von Merethe Aagaard Jensen, Clemens Maier-Wolthausen, Pontus Rudberg und Malin Thor Tureby in diesem Band. Beispielsweise leidet die Arbeit über die deutsch-jüdische Emigrantenselbsthilfe (1938–?), die Michael Scholz und ich vorbereiten, noch erheblich unter Quellenmangel. Das Archiv der ES, das in den 1960er-Jahren noch existierte, ist unauffindbar, und alle Zeitzeugen sind gestorben.
8
Helmut Müssener
einer Art selbstanklagendem Flagellantentum großer Raum gegeben wird. Ausgenommen sind davon „Svenska Israelmissionen“, die bisher allerdings eher negativ in Erscheinung trat, und die Kindertransporte.²⁴ Dieses Desinteresse gilt auch für die intensive Lobby-Tätigkeit zugunsten der jüdischen Flüchtlinge gegenüber Parlament, Regierung und Behörden sowie Studien zu einzelnen Personen – wie beispielsweise dem Theologen Gunnar Beskow (1865 – 1953), der Schriftstellerin Mia Leche-Löfgren (1888 – 1967) und dem deutschen Juristen, Staatsbeamten, Finanzexperten und Generaldirektor des Ullstein-Verlages Hans Schäffer (1886 – 1967)²⁵, der 1932/1933 nach Schweden kam. Auch die Behandlung der Problematik in der schwedischen Belletristik der damaligen Zeit, so in den Werken von Arvid Brenner (1907– 1975) und Josef Kjellgren (1907– 1948), wird nirgends erwähnt.²⁶ Es fehlt darüber hinaus eine ausführliche Untersuchung zu den Archivarbeitern, einer schwedischen Spezialität der Flüchtlingsbetreuung, und ihrer kulturellen Leistung, nicht zuletzt im Bereich der Universitäten.²⁷ Für die Behandlung der deutsch-schwedisch-jüdischen Beziehungen in den Jahren nach 1933 wäre auch eine eingehende Arbeit zu Judisk Tidskrift von großer Bedeutung. Sie war die maßgebliche Kulturzeitschrift der Jüdischen Gemeinde und stellte hohe intellektuelle Ansprüche.²⁸ Ein erster oberflächlicher Blick auf die Jahrgänge 1933 – 1948 soll hier zeigen, welche Bereiche einer näheren Untersuchung wert sein könnten. Zionistische Fragen, aber vor allem die Lage der
Frohnert, Pär: „De behöva en fast hand över sig“ – Missionsförbundet, Israelmissionen och de judiska flyktingarna 1939 – 1945. In: En problematisk relation? Flyktingpolitik och judiska flyktingar i Sverige 1920 – 1950. Hrsg. von Lars M. Andersson u. Karin Kvist Geverts. Stockholm 2008. S. 227– 248. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Pär Frohnert in diesem Band. Zu Schäffer siehe Wandel, Eckhard: Hans Schäffer – Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen 1886 – 1967. Stuttgart 1974. Auch hier muss pauschal auf die Angaben in Nachschlagewerken hingewiesen werden. Zur kulturellen Leistung der aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa geflohenen vergleiche auch die Beiträge von Elka-Vera Kotowski, Irene Nawrocka, Lars Dencik und Julius H. Schoeps in diesem Band. Ein erster Ansatz dazu findet man in der kleinen Arbeit von Engelbertsson, Bob: Arkivarbetare vid Uppsala universitet 1934– 1980: en studie av en arbetskraftsresurs ur ett systemperspektiv. Uppsala 1997. Judisk Tidskrift [Jüdische Zeitschrift] erschien zwischen 1928 und 1964 mit zwölf bzw. 10 Nummern pro Jahr und wurde vom Stockholmer Oberrabbiner Marcus Ehrenpreis (1869 – 1951) herausgegeben. Eine zweite Zeitschrift, Judisk Krönika [Jüdische Chronik], die seit 1932 bis heute mit 10 – 12 Nummern jährlich erscheint, wurde zunächst vom Skandinaviska Judiska Ungdomsförbundet [Skandinavischer Jüdischer Jugendverband] herausgegeben. Sie war bis Kriegsende strikt zionistisch ausgerichtet und berichtete nur gelegentlich über die deutschen Verfolgungsmaßnahmen und den Holocaust.
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
9
deutschen und österreichischen Juden stehen im Mittelpunkt; die Beiträge zeigen exemplarisch, wie gut man in Schweden über die Situation der jüdischen Minderheiten in den deutschsprachigen Ländern unterrichtet war und wie sehr sie die auch in Schweden heute weit verbreitete lakonische Feststellung, „Davon haben wir nichts gewusst!“, infrage stellen, wobei es sich fragt, in wie hohem Maße die Angaben korrekt waren und damit beispielsweise für die heutige Forschung einen Wert als Quelle haben. Gleichzeitig wird in ihnen aber auch Identifikation, ein „Mea res agitur“ deutlich. Bereits im Mai 1933 resümmierte man: Sextio dagar naziregim [Sechzig Tage Naziregime], im Januar 1934 erschien ein Aufsatz über Tysk-judisk invandring till Sverige. Några autentiska siffror [Deutsch-jüdische Einwanderung nach Schweden. Einige authentische Ziffern] und im Mai 1934 findet sich ein erster Aufruf zu einer Hilfsaktion, zur Aufnahme von Tysk-judiska feriebarn [Deutsch-jüdischen Ferienkindern]. In den folgenden Nummern erschienen zahlreiche Berichte über den „Prozess in Bern“ zur Echtheit der Protokolle der Weisen von Zion und über internationale, aber auch binnendeutsche Proteste gegen das NS-Regime, den Antisemitismus und die Verfolgung der Juden, die teilweise sogar in extenso abgedruckt wurden, sowie Aufrufe zu verschiedenen Spendenaktionen. 1933 – 1934 berichtete ein Judisk dagbok [Jüdisches Tagebuch] monatlich systematisch und detailliert über die Verfolgungsmaßnahmen in Deutschland, mit vielen Einzelheiten auch und gerade aus der Provinz, was danach durch Dagens dokument [Dokumente des Tages] ersetzt wurde, das unregelmäßig erschien. Die offizielle deutsche Rassengesetzgebung wurde ebenso wie die schwedische Flüchtlingspolitik stetig verfolgt; im April 1936 wurde Judiska emigranter i Sverige. Resumé i „Socialstyrelsens yttrande“, [vom] 31. 12 1935 [Jüdische Emigranten in Schweden. Zusammenfassung der „Stellungnahme der Obersten Sozialbehörde“] abgedruckt. 1939 ging es dann um Det judiska reservatet i Lublin [Das jüdische Reservat in Lublin], eine Statistik över Tysklands judar. Trehundratusen tyska judar i andra länder [Statistik über Deutschland Juden. 300.000 deutsche Juden in anderen Ländern] und Shanghai, ett nytt judiskt centrum [Shanghai, ein neues jüdischen Zentrum]. All dies lässt erkennen, dass und wie gut man in der schwedischen Judenheit über die Verfolgung der Juden in Deutschland unterrichtet war und sich bemühte, diese Kenntnisse auch einer schwedischen Allgemeinheit zu vermitteln. Die kulturelle Leistung der deutschen Juden und ihr Beitrag zur deutschen Kultur wurden ebenfalls mehrfach hervorgehoben. So erschien bereits im Mai 1933 als Reaktion auf die Bücherverbrennung ein Artikel mit der Überschrift Den tyska judendomen som kulturfaktor [Das deutsche Judentum als Kulturfaktor], der erkennen lässt, dass und in wie hohem Maße sich ein Großteil der schwedischen
10
Helmut Müssener
Judenheit für Deutschland und seine Kultur, die in vielen Fällen auch die ihrige gewesen sein dürfte, interessierte. In diesem Zusammenhang sind auch die beiden folgenden Listen zu sehen. Die erste von ihnen gibt eine Übersicht über die deutschsprachigen Autorinnen und Autoren, die in den Jahren von 1938 – 1948 in Judisk Tidskrift teilweise mehrfach vorgestellt bzw. deren Bücher dort rezensiert wurden. Es handelt sich in jeder Hinsicht um eine Elite deutsch-jüdischer Kultur, mit der der Leserkreis zum damaligen Zeitpunkt vertraut war. Sie umfasst: Margareta Buber – Martin Buber – Max Brod – Ernst Cassirer – Lion Feuchtwanger – Sigmund Freud – Franz Kafka [er wird u. a. von Max Brod und Hans-Joachim Schoeps rezensiert] – Else LaskerSchüler – Alma Mahler – Thomas Mann – Friedrich Meinecke – Alfred Neumann – Nelly Sachs – Hans-Joachim Schoeps – Ernst Sommer – Friedrich Torberg – Jakob Wassermann – Felix Weltsch.²⁹ Die zweite Liste umfasst die Namen der aus Deutschland oder Österreich nach Schweden entkommenen Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die während ihres Aufenthalts, auch wenn dieser teilweise nur kurz war, in der Judisk Tidskrift veröffentlichten. Es geht dabei um Martin Buber – Walter A. Berendsohn, der zunächst von Dänemark aus mitwirkte, so im Juni 1933 mit seiner Rede Mitt avsked från Tyskland [Mein Abschied von Deutschland] – Ernst Benedikt³⁰ – Peter Blachstein – Ernst Cassirer – Ernst Fischler – Walter Gross – Käte Hamburger – Kurt Juster – Erwin Leiser – Nelly Sachs³¹ – Paul Patera – Hans-Joachim Schoeps. Nach Kriegsende erschienen ferner eine Reihe von Beiträgen zur Wiedergutachtung und anderen damit verwandten rechtlichen Problemen, die damals für alle jüdischen Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich aktuell waren. Es wird deutlich erkennbar, dass die Zeitschrift ab 1933 neben Fragen zur jüdischen Religion, zum Zionismus und zur jüdischen Philosophie vornehmlich darauf ausgerichtet war, ein deutsch-jüdisch geprägtes schwedisches und ab etwa 1936 auch direkt ein deutsch-jüdisches Bildungsbürgertum anzusprechen, welches hatte fliehen müssen. Dass die Zeitschrift 1964 ihr Erscheinen einstellte, manifestiert
Ich verzichte hier wie in der folgenden Liste im Allgemeinen darauf, die genannten Personen vorzustellen. Sie werden ausnahmslos in allgemein zugänglichen Nachschlagewerken, in Wikipedia und/oder in den Kurzbiografien in Müssener, Exil in Schweden, vorgestellt. Ernst Benedikt (1882– 1973), letzter Chefredakteur der Neuen Freien Presse in Wien, kam 1939 über England nach Schweden. Er wirkte ab 1940 an der Jüdischen Zeitung mit und publizierte bis 1948 mit 75 Artikeln und Rezensionen, abgesehen vom Herausgeber Marcus Ehrenpreis, die meisten Beiträge. Die ersten Gedichte von ihr erschienen im Mai 1941, gefolgt von Veröffentlichungen im Februar 1943 und Januar 1947. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Anna-Dorothea Ludewig in diesem Band.
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
11
meines Erachtens auch das Ende des kulturellen Einflusses der deutschsprachigen Judenheit in Schweden.
Desideratum II: Wer? Woher? Wann? Wie? Die Anfänge der Einwanderung Es bleiben die Jahre 1774– 1933, wobei für die ersten 100 Jahre bis weit in die Mitte des 19. Jahrhunderts weiterhin das Buch von Valentin verbindlich ist, während für die folgenden 150 Jahre in erster Linie die Bücher von Andersson und Bredefeldt sowie der Sammelband von Andersson und Carlsson maßgebend sind.³² Als weitere Hilfsmittel seien Wikipedia sowie, wichtig vor allem für einzelne Personen und äußerst hilfreich, Svenskt Biografiskt Lexikon [Schwedisches Biografisches Lexikon] genannt.³³ Dabei ist bei den Zahlenangaben, vor allem bei Valentin, Vorsicht empfohlen. So behauptet Valentin pauschalisierend: Die Juden in diesen vier Städten bestanden […] teils aus einer begrenzten Anzahl relativ vermögender Personen […], teils aus ihren weniger bemittelten Angestellten. Eine dritte Kategorie bildeten die Betteljuden oder solche, die ohne Erlaubnis nach hier gekommen waren und durch verschiedene Tätigkeiten, meist als Hausierer, ihr Auskommen suchten.³⁴
Hier sind aber nur die Namen der „relativ vermögenden Personen“ bekannt, während die Zahl der „weniger bemittelten Angestellten“ ebenso im Dunkeln bleibt wie und vor allem die der „Betteljuden“ oder derjenigen, „die ohne Erlaubnis nach hier gekommen waren“. Woher kamen sie? Auf welchen Wegen erreichten sie Schweden? Wie viele von ihnen blieben? Und was leisteten und erreichten sie? Es sind Fragen, auf die es bisher meines Wissens keine allgemein verbindliche Antwort gibt.
Andersson, En jude är en jude; Andersson/Carlsson, Från sidensjalar; Bredefeldt, Judiskt liv i Stockholm; Valentin, Judarna i Sverige. Svenskt Biografiskt Lexikon erscheint seit 1917 und wird ab 1962 vom schwedischen Staat verantwortet. Seit 2009 ist es dem schwedischen Riksarkivet angegliedert. Zitiert als SBL. Valentin, Hugo: Judarnas historia i Sverige. Stockholm 1924. S. 61.
12
Helmut Müssener
Desideratum III: Erfolgsgeschichte(n) einer deutsch-dänisch-jüdischen Einwanderungswelle Dies gilt ganz allgemein auch für die ebenso faszinierenden wie aufschlussreichen Personen- und Familiengeschichten, oft eine Geschichte von Ein- und Rückwanderung bis hin zu erneuter Einwanderung.³⁵ Dabei sei hier am Rande hingewiesen auf ein in diesen Jahren im schwedischen öffentlichen Fernsehen gesendetes und höchst populäres Programm Vem tror Du att Du är [Wer, glaubst Du, bist Du eigentlich?]. Es geht um Genealogie, bei der erstaunlich oft jüdische Familiengeschichte eine Rolle spielt. Sie wird zu praktischer Populärwissenschaft und ist weitaus mehr als eine Beschäftigungstherapie für wissenschaftliche Experten. Gerade diese Programme lassen erkennen, dass eine zusammenfassende Darstellung der Wanderungsbewegungen ein wichtiges Desiderat der Forschung bildet. Aaron Isaac und sein Anhang kamen aus dem Städtchen Treuenbrietzen im Königreich (Brandenburg)-Preußen bzw. dem Kleinstaat MecklenburgSchwerin und sind eigentlich grundsätzlich zu unterscheiden von jenen, die nach Valentin aus „Hamburg-Altona“ das Land erreichten und ganz im Gegensatz zu Aaron Isaac, dem Pionier, einflussreiche und vermögende Juden waren.³⁶ Sie kamen in ihrer überwiegenden Mehrzahl aber nun nicht aus Hamburg-Altona, sondern vor 1864 ausschließlich aus Altona, bis zu diesem Jahr die zweitgrößte Stadt Dänemarks, eines Staates, dessen Judengesetzgebung wesentlich liberaler war als die der Freien und Hansestadt Hamburg. Darüber hinaus waren es häufig sephardische Juden, die zuvor aus den Niederlanden nach Altona weitergezogen waren und es nach wenigen Generationen Richtung Schweden wieder verließen, aber dabei häufig Dänemark als Zwischenstation nutzten. Auch der weiterhin bestehende enge Kontakt zwischen Deutschland und den nach Schweden eingewanderten Juden wird stets nur am Rande behandelt, denn die Grenzen Schwedens sind aus nicht ganz ersichtlichen Gründen im allgemeinen auch die Grenzen der schwedischen Forschung in diesem Bereich. In diesem Zusammenhang ist eine Randbemerkung bei Valentin von Gewicht: Die führenden schwedisch-jüdischen Geschäftsleute haben sicherlich zum größten Teil ein oder mehrere Lehrjahre im Ausland bei jüdischen Firmen oder Banken verbracht. In den
Siehe hierzu die Beiträge von Carl Henrik Carlsson, Harry Svensson und Anne Weberling in diesem Band. Valentin, Judarna i Sverige, S. 57.
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
13
Jahren danach versäumten sie es nicht, auf Auslandsreisen an alte Verbindungen anzuknüpfen oder neue zu erwerben.³⁷
Diese Netzwerke wären ebenfalls zu untersuchen; an Beispielen für häufige, wenn nicht unablässige Querverbindungen dürfte es nicht fehlen, so die der Bankierund Kaufmannsfamilie Warburg, die von Bologna aus über Warburg/Westfalen und Altona sowie danach Hamburg neben London und New York auch Göteborg erreichte und mit der deutschen Heimat in engem Kontakt stand. Ihr erster Vertreter war Simon Elias Warburg (1760 – 1832), über den es bei Valentin in lakonischer Kürze und mit einer bisher unbeantworteten Frage heißt: „Simon [Elias] Warburg aus Kopenhagen [Altona?], erhielt 1792 einen Schutzbrief als Einzelhändler“.³⁸ Ein weiteres Beispiel für interessante Querverbindungen im Bereich deutschschwedisch-jüdischer Thematik, deren Schilderung den Schweiß eines Forschers wert wäre, ist die Großfamilie Heckscher, die aus Hamburg stammte und deren Ahnherr Isidor Heckscher (1848 – 1932) ebenfalls über Dänemark Schweden erreichte und in einschlägigen schwedischen Nachschlagewerken bereits als Däne, wohlgemerkt aber nicht als Jude vorgestellt wird.³⁹ Bei seinem Sohn, dem führenden Volkswissenschaftler Eli Heckscher (1879 – 1952), wird die jüdische Abstammung, aus der er selbst nie einen Hehl gemacht hat, in der schwedischen Version von Wikipedia ebenfalls verschwiegen, während sie im SBL dagegen bereits eingangs erkennbar ist.⁴⁰ In einem nicht geringen Gegensatz dazu wird in der deutschen Fassung von Wikipedia auf die jüdische Herkunft hingewiesen, aber die dänische Vergangenheit – er ist in Ålborg geboren –fälschlicherweise verschwiegen. Es heißt: „Eli Filip Heckscher wurde in eine prominente jüdische Familie geboren; seine Eltern waren Isidor Heckscher, dänischer Kaufmann, und Rosa May. Anfang der 1870er Jahre zog die Familie von Hamburg nach Stockholm, da Isidor Heckscher in der Bank seines Bruders mitarbeiten sollte.“⁴¹ Die Frage nach der Genealogie der Familie stellt sich auch hier, wenn man entdeckt, dass der Außenminister der Frankfurter Regierung von 1848 Johann Gustav Wilhelm Moritz Heckscher (1797– 1865) hieß und aus Hamburg stammte.
Valentin, Judarna i Sverige, S. 85. Valentin, Judarna i Sverige, S. 59. sv.wikipedia.org/wiki/Isidor_Heckscher; Nordisk familjebok. Upplageupplagan, Del 11, 1919, S. 173. https://sv.wikipedia.org/wiki/Eli_Heckscher; sok.riksarkivet.se/sbl/Presentation.aspx?id= 12680. https://de.wikipedia.org/wiki/Eli_Heckscher.
14
Helmut Müssener
Ebenso von Interesse wäre jener eingangs erwähnte Buchdrucker Peder Herzog (1838 – 1920), der von Niederwiesen/Oppenheim auf einem abenteuerlichen Umweg über St. Petersburg, wo er gezwungen wurde, sich taufen zu lassen, 1861 endgültig nach Schweden kam. Hier gründete er u. a. eine Buchbinderei, die Schwedens größte werden sollte, einen Druckerei- und Büroartikelkonzern, einen Verlag und anderes mehr – und wurde Konsul Liberias. Seine Urenkelin Gunilla Palmstierna-Weiss fragt völlig zu Recht, warum er „in der Forschung zur Geschichte der Juden in Schweden nirgends erwähnt wird?“⁴² Ein Platz in den Arbeiten über deutsch-schwedisch-jüdische Beziehungen sollte ihm aber sicher sein. Und wie steht es um den Klan der Lejas? Benjamin Leja (1797– 1870), gelernter Instrumentenmacher, wurde in Hamburg geboren, zog aber von dort – bisher unklar wann – nach Altona. 1822 wanderte er als dänischer Staatsbürger nach Stockholm weiter, wo er als Instrumentenmacher tätig war, ein Geschäft für Galanteriewaren betrieb, das er in den 1840er-Jahren zu einem Kaufhaus erweiterte, und sich darüber hinaus als Geldverleiher einen schlechten Ruf erwarb. Gegen Ende der 1850er-Jahre zog er nach einem kürzeren Aufenthalt in Norrköping nach Paris, wo er von Napoleon III. zum königlichen Hofoptiker ernannt wurde. Mitte der 1860er-Jahre kehrte er dann nach Altona zurück, wo er auch starb.⁴³ Er war Jude, aber deutscher oder schwedischer? Einer seiner Söhne, Joseph Leja, folgte seinem Vater 1840 von Altona nach Stockholm. Dort eröffnete er 1852 ein eigenes Kaufhaus, die Firma Joseph Leja (1822– 1863). Nach der Heirat der einzigen Tochter Matilda mit einem Simon Sachs aus Walldorf/Baden wurde die Firma in Leja & Sachs umbenannt, aus der NK [Nordiska Kompaniet; Nordische Kompagnie], das bekannteste Kaufhaus Stockholms und Schwedens, hervorging.⁴⁴ Als letztes Beispiel, wenn auch am Rande, sei noch der „rote Bankier“ Olof Aschberg (1877– 1960) erwähnt. Zwar stammte sein Vater, Herman Asch, aus Litauen, und er selbst wurde bereits in Stockholm geboren, aber einen Teil seiner Kaufmannsausbildung absolvierte er in Hamburg, Er finanzierte zum großen Teil die Zeitungen Rudolf Münzenbergs und eine seiner Schwestern war mit dem Regisseur Hermann Greid (1892– 1971), einem deutsch-österreichisch-jüdischen Flüchtling, verheiratet.⁴⁵
Palmstierna-Weiss, Minnets spelplats, S. 9; https://sv.wikipedia.org/wiki/Peder_Herzog mit teilweise anderen Angaben zu seiner Herkunft. https://sv.wikipedia.org/wiki/Benjamin_Leja; sok.riksarkivet.se/sbl/Presentation.aspx?id= 11185. https://sv wikipedia.org/wiki/Joseph_Leja. https://sv.wikipedia.org/wiki/Olof_Aschberg.
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
15
All diese Beispiele, die sich noch um vieles erweitern ließen, zeigen, dass die Erfolgsgeschichte dieser deutsch-dänisch-jüdischen Einwanderungswelle nach Schweden in den Jahren nach 1800 bis in die 1870er-Jahre noch zu schreiben ist, vielleicht das wichtigste Desiderat der Forschung zu den deutsch-schwedischjüdischen Beziehungen.
Desideratum IV: Rabbiner und Gottesdienstordnung Aber damit nicht genug, denn zu untersuchen wäre auch, welche Kriterien die Rabbiner in Stockholm und Göteborg, die wohl ausnahmslos aus Deutschland stammten, für ihre Berufung erfüllen mussten, und wie im Einzelnen die Reform des Gottesdienstes nach deutsch-jüdischem Muster verlief. Valentin stellt dazu pauschalisierend fest: „Aber diese Reform, von der man sich eine Erneuerung des synagogalen Lebens erwartete, wurde wie in Deutschland überwiegend von den Gebildeten unterstützt“, ohne dass hier Einzeluntersuchungen vorliegen.⁴⁶
Desideratum V: „Die dummen Schweden“. Die Frage deutsch-schwedisch-jüdischer Identität Nicht zuletzt geht es auch um die Frage nach der Identität der aus dem deutschsprachigen Bereich eingewanderten Juden, d. h. wie sahen diese sich selbst und wie wurden sie von den Anderen, d. h. in dem Fall den Schweden, gesehen? Ein schwedisches geflügeltes Wort heißt „Die dummen Schweden“. Deutsche, vor allem die, die gerade nach Schweden gekommen waren, wurden bis in die 1960er-Jahre hinein mehr als einmal von älteren Schweden gefragt: „Warum sagen die Deutschen immer: ‚Die dummen Schweden‘?“; eine Frage, die stets mit Unverständnis und der Gegenfrage „Wieso?“ bzw. einem „Nie gehört“ oder „Das sagen wir nicht“ beantwortet wurde.⁴⁷ Es erscheint bei Pelle Holm, dem schwedischen Büchmann, als „Redensart; die angebliche Ansicht deutscher Kaufleute, die Schweden seien leicht anzuschmieren“, aufgeführt und ist erstmalig Anfang
Valentin, Judarna i Sverige, S. 128. Siehe hierzu auch die Beiträge von Anders Hammerlund und Lena Roos in diesem Band. Kurt Tucholsky schreibt 1929 eine lesenswerte Plauderei „Die dummen Schweden“. Sie beginnt: „Hier oben in Schweden habe ich etwas Merkwürdiges entdeckt. Nämlich: Alle Deutschen sagen allgemein, immer und überall: ‚Die dummen Schweden‘“. Hier zitiert nach: http://guten berg.spiegel.de/buch/kleine-geschichten-1191/50.
16
Helmut Müssener
Mai 1864 in der satirischen Wochenzeitschrift Söndags-Nisse belegt.⁴⁸ Dort findet sich drei Wochen nach dem Sieg bei den Düppeler Schanzen über Dänemark am 18. April 1864 die fiktive Schilderung eines Siegesfestes deutscher Kaufleute, eine Reportage eines fiktiven schwedischen Journalisten, der die ebenso fiktive Rede eines nicht namentlich genannten Vorsitzenden auf „svyska“, einer Mischung von schwedisch-deutsch-(west‐)jüdisch, wiedergibt, eine begeisterte und nationalistische Huldigung des „großen Vaterlandes Deutschland“, eines Staates, der notabene zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existierte. Der Redner schildert seinen Aufstieg vom Hausierer zum Großhändler und Träger des schwedischen WasaOrdens, ein Aufstieg, den auch alle anderen Anwesenden vollzogen haben, und erwähnt dabei expressis verbis „die dummen Schweden“ und „die dummen schwedischen Bauern“, die so leicht zu übervorteilen waren und deren Dummheit man diesen Aufstieg verdanke. Man wird stutzig, wenn man darüber hinaus auf eine Reihe von Indizien stößt, die samt und sonders auf eine Zusammenkunft deutsch-schwedischer Juden hinweist. Es handelt sich bei den Anwesenden um ehemalige „Hausierer“. Sie trugen einst alle einen „Kasten auf dem Rücken“ und brachten auf dem Land „Kurz- und Galanteriewaren“ an die Frau. Der Redner selbst stammte aus Böblingen in Württemberg/Hohenzollern, und die Versammlung tagte in Davidsons Pavillon, einem damals bekannten Ausflugs- und Vergnügungslokal, das von einem deutsch-jüdischen Einwanderer erbaut und geleitet wurde. Die Deutschen, die hier, keine drei Wochen nach dem Sieg der preußischen Streitkräfte über die dänischen, den „Sieg des Vaterlandes“ feiern und den Slogan „Die dummen Schweden“ als erste benutzen, sind also Juden, aber „fiktive“ Juden, denen dieser Spruch in den Mund gelegt wird. Der fiktive Berichterstatter ist nun empört und empfiehlt: „Das Beste wäre, wenn alle ehrlichen Menschen übereinkämen, dass sie, wenn sie einen Deutschen sehen, ihn anspuckten.“ Eine nicht genau zu definierende und ebenso wenig quantitativ wie qualitativ zu bestimmende „Vox populi“ bezieht also eindeutig Stellung: Die Juden sind nach dieser Fremdbestimmung, die der Selbstbestimmung konträr gegenübersteht, im Mai 1864 noch keinesfalls Schweden geworden; sie gelten weiterhin als „Deutsche“. Wie „geflügelt“ das Wort werden sollte, geht aus der Arbeit von Lars M. Andersson, hervor. Hier heißt es: „Wenn das Epitheton ‚Die dummen Schweden‘ benutzt wird, dient es als ein Kennzeichen für ‚jüdisch‘ und identifiziert den Holm, Pelle: Bevingade ord. Den klassiska citatboken, reviderad av Sven Ekbo. Stockholm 1989. S. 278, svensk Die dummen Deutschen [Geflügelte Worte. Das Buch der klassischen Zitate, revidiert von …]. – Söndags-Nisse, Krönika, „Söndagen den 8 Maj 1864“ (nr 19). Die Zeitschrift erschien 1862– 1955. – [Peter Olausson] www.faktoider.nu/dummen.html.
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
17
Sprecher als ‚Juden‘“,⁴⁹ bzw. „gerade den Ausdruck ,Die dummen Schweden‘ legt man immer wieder dem ‚Juden‘ in den Mund, um hervorzuheben, dass er von der Dummheit der Schweden profitiert“.⁵⁰ Vor allem aber, und in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, unterstreicht er, dass „‚Deutscher‘ und ‚Jude‘ in den schwedischen Satirezeitschriften oft Synonyme sind […]“.⁵¹ Alle Gestalten, die karikiert werden, sprechen „svyska“, eine für Deutsche wie Juden verbindliche Variante des Schwedischen. Dafür führt Andersson unzählige Beispiele an, so wenn ein jüdischer Großhändler seine Tochter an den Mann, einen geldbedürftigen Baron, bringen will. Hier heißt es auf „svyska“, wobei eine Übersetzung unnötig ist: „Na Herr paron, was sagen Sie um meiner Tochter? – Rachel, wise tin sparbok fort en paron.“⁵²
Desideratum VI: Die geschäftlichen, industriellen und finanziellen Leistungen der (deutsch-schwedischen) Juden Dennoch stellt Valentin für die sogenannte „Emanzipationszeit“, die Jahre zwischen 1830 und 1870, fest: Ihre „Leistungen“ waren „grundlegend für die Stellung, die die schwedischen Juden einnehmen sollten“, wobei er auf der gleichen Seite ein weiteres, äußerst gewichtiges Desideratum benennt: „Es gibt indessen bis heute keine Untersuchungen über die geschäftlichen, industriellen und finanziellen Leistungen der schwedischen Juden [d. h. wohl der deutsch-jüdischen, weitgehend in schwedischen Augen nicht zu Schweden gewordenen Einwanderer] in der Emanzipationszeit […].“⁵³ Sie fehlen bis heute wie denn auch genauere Angaben dazu, wann denn der Übergang zum Schwedischen in der Emanzipationszeit stattgefunden hat und ob aus der Sicht der Anderen von einem solchen Übergang überhaupt die Rede sein kann. Zu Recht, aber ebenso pauschal notiert er: „Die Emanzipationszeit war eine Epoche des Großbürgertums, aber auch die der vermögenden Großhändler. Ein großer Teil der wohlhabenden jüdischen Bürger gehörte, wie nicht anders zu erwarten, zu diesen Geschäftsleuten.“⁵⁴ Für Valentin waren sie Juden, aber für andere schwedische Zeitgenossen waren sie Deutsche und damit Juden, aber auch Juden und damit Deutsche.
Andersson, En jude är en jude, S. 275; siehe auch S. 279, 207 und 339. Andersson, En jude är en jude, S. 368. Andersson, En jude är en jude, S. 127. Andersson , En jude är en jude, S. 142. Valentin, Judarna i Sverige, S. 87. Valentin, Judarna i Sverige, S. 87.
18
Helmut Müssener
Desideratum VII: Sven Hedin, der „Sechzehnteljude“ Gerade in diesen Zusammenhang ist Sven Hedin, der „Sechzehnteljude“, interessant, der in unzähligen Karikaturen auftaucht. Über ihn heißt es bei Andersson: Noch im Ersten Weltkrieg, aber auch schon davor in Karikaturen und ihren Texten werden am Beispiel Sven Hedins Gleichheitszeichen zwischen konservativer, reicher Oberschicht, Adel, Deutschfreunden, den Deutschen selbst und eben Juden gesetzt. Er wird zum Symbol für die deutschlandfreundlichen Kreise, wobei sein vorgebliches Judentum und sein „jüdisches Aussehen“ stets hervorgehoben werden.⁵⁵
Konnte ein „Jude“, überhaupt „Schwede“ werden, selbst wenn nur ein geringer Teil seiner Ahnen aus Deutschland stammte?
Desideratum VIII: Deutscher und schwedischer Antisemitismus Die Liste der Desiderate ließe sich noch lange fortsetzen und erstreckte sich auf viele Bereiche, von denen hier nur noch zwei genannt werden sollen. Wie steht es beispielsweise um den Einfluss des deutschen Antisemitismus von Friedrich Marr über Julius Langbehn bis hin zu Adolf Stoecker auf seine schwedische Entsprechung, und inwieweit sind die böswilligen satirischen und karikierenden Darstellungen des „Juden“ in der deutschen Presse die Vorlage für die schwedischen, sofern sie nicht sogar einfach plagiiert wurden, denn vieles deutet auf den ersten Blick darauf hin. Ist der schwedische Antisemitismus bis in die 1930er-Jahre vielleicht nur ein „Abziehbild“ des deutschen gewesen?
Desideratum IX: Die Vorstellung vom Ostjuden Man kann sich auch fragen, ob die Vorstellung vom Ostjuden nicht teilweise auch durch deutsch-österreichisch-jüdische Bilder vorgegeben wurde, denn der Erfolg der Bücher von Schriftstellern wie Leopold von Sacher-Masoch und vor allem Karl Emil Franzos lässt dies zumindest vermuten. Ersterer erreichte mit Titeln wie Galiziska historier [Galizische Geschichten] und Judarnas Rafael [Der Juden-Raphael] zwischen 1870 und 1889 12 Auflagen, während Karl Emil Franzos (1848 – 1904) neun Auflagen und von 1915 bis 1929 noch vier Auflagen erzielte. Seine Bücher wie Från Half-Asien [Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa], Judarna i Barnow
Andersson, En jude är en jude, S. 472.
Schwedisch-deutsch-jüdische Beziehungen
19
[Die Juden von Barnow], Judit Trachtenberg und Pojaz [Der Pojaz. Eine Geschichte aus dem Osten] sollten nicht ohne Einfluss geblieben sein.⁵⁶
Die Juden in Schweden – Die Geschichte einer beispielhaften Minderheit Damit genug der Desiderata, die sich sicherlich noch ergänzen ließen. Ein geisteswissenschaftliches Netzwerk in Schweden nennt sich „Judarna i Sverige – en minoritets historia“, die „Juden in Schweden – Die Geschichte einer Minderheit“. Es fragt sich, ob diese Bezeichnung nicht noch durch das Wort „exemplarisk“ zu „en minoritets exemplariska historia“ erweitert werden sollte. Mir scheint, die Geschichte der Juden in Schweden könnte in der Tat „beispielhaft“ sein für die Geschichte(n) jüdischer, aber auch anderer Minderheiten in aller Welt. Es existiert ein ausgezeichnetes, zahlenmäßig überschaubares Vergleichsmaterial für einen meist erfolgreichen Kampf um Existenz, Identität und ihre Bewahrung, um Integration, Akkulturation und Assimilation dieser kleinen Gruppe. Von der Aufklärung Ende des 18. Jahrhunderts bis hin zur Gewährung aller bürgerlichen Rechte 1874 handelt es sich um eine quantitativ kleine, gut überblickbare Einwanderung vornehmlich aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa, der eine Welle leicht identifizierbarer „Ostjuden“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs folgte. 20 Jahre danach erreichten Spritzer der jüdischen Massenflucht vor dem deutschen Naziregime das Land. Sie wurden 1945 abgelöst durch vornehmlich nichtdeutsche jüdische Flüchtlinge aus den deutschen Konzentrationslagern und nach 1968 durch solche aus Polen. Es handelte sich jeweils um quantitativ kleine Gruppen, die in ein Land kamen, in dem sie nicht verfolgt wurden, das nicht durch kriegerische Auseinandersetzungen in Mitleidenschaft gezogen und nie besetzt wurde, aus dem nur wenige weiterwanderten, das demokratisch regiert wurde und wird und in dem alle Quellen zugänglich sind – also ausgezeichnete Voraussetzungen für soziologische und geisteswissenschaftliche Untersuchungen, wie sie so nur in wenigen Staaten unternommen werden können. Dabei sollten nicht zuletzt der Umfang der „schwedisch-deutsch-jüdischen Beziehungen“ sowie ihre große Bedeutung für die jüdische Minderheit in Schweden, aber auch und vor allem für Schweden hervortreten.
Siehe hierzu: Müssener, Helmut: Von Ilse Aichinger und Peter Altenberg bis Franz Zistler und Stefan Zweig. Österreichische Belletristik in schwedischer Übersetzung 1870 – 1933. Bibliographie (I) und Kommentar (II). Roskilde 2001.
Einwanderungstraditionen und Familien-Narrative
Harry R. Svensson
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona 1785 gründete der aus Bützow in Mecklenburg eingewanderte Fabian Philip die jüdische Gemeinde in Karlskrona. König Gustav III. hatte ihm gestattet, in seinem Haus eine Synagoge für seine Familie, seine jüdischen Arbeiter, seine übrigen Angestellten und jüdische Besucher einzurichten. Der König hatte die Genehmigung erteilt, obwohl die Judenverordnung, die er drei Jahre vorher erlassen hatte, bestimmte, dass Juden sich nur in Stockholm, Göteborg und Norrköping niederlassen durften. In diesem Beitrag soll nun untersucht werden, warum man von dieser geltenden Verordnung abwich, wie sich jüdische Niederlassung und Anwesenheit in Karlskrona vom Ende des achtzehnten bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelte und das Warum dieser Entwicklung. Dies geschieht mit Hilfe einer Studie zur Geschichte der Familie Fabian Philips, seiner Kinder und Nachfahren und der Mitglieder der Familie Philip-Ruben im Kriegshafen Karlskrona sowie zu ihren ökonomischen und sozialen Strategien und ihren deutschjüdischen Netzwerken. Die Untersuchung beginnt mit der Ankunft Fabian Philips 1780 in Karlskrona und endet 1923, fünf Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs, als die Familie – wie so viele andere – wirtschaftliche Probleme bekam.¹ Der Beitrag basiert größtenteils auf Materialien aus dem Archiv der Familie Ruben im Landesarchiv in Lund. Hier findet sich unter anderem eine Familienchronik, die mutmaßlich nach 1910 von Moritz Ruben zusammengestellt wurde. Sie ist unvollständig und endet mit dem Jahr 1918, als er starb. Aus diesem Grund geht er auf die oben erwähnten wirtschaftlichen Probleme nicht näher ein. Zur Rekonstruktion der wirtschaftlichen Tätigkeit in der Zeit von 1914 bis 1923 wurden daher das Archiv des Unternehmens und Sekundärliteratur benutzt wie auch ähnliches Material, um die Angaben der Chronik und der übrigen Bestände des Familienarchivs zu ergänzen. Die Teilstudie der sozialen Strategien der Familie Philip-Ruben geht teils auf die 1913 veröffentlichte genealogische Untersuchung der Stammtafeln der Hamburger Familie Renner-Ruben ca. 1650 – 1913 zurück, teils auf die Gemeindebücher der Mosaischen Gemeinde in Karlskrona.
Valentin, Hugo: Judarnas historia i Sverige. Stockholm 1924. S. 227 f. https://doi.org/9783110532289-002
24
Harry R. Svensson
Port Jews an der Ostsee? Der theoretische Ansatzpunkt dieser Studie ist teils das Port-Jews-Phänomen, wie es David Cesarani, Lois C. Dubin, Helen Fry und David Sorkin beschrieben haben. Sie vertreten die Auffassung, dass dynamische Handelsstädte um das Mittelmeer herum und an der Atlantik-Küste Juden eine einfachere und zeitlich frühere Integration ermöglichten als das übrige Europa. Wichtig sind auch Viktor Karádys Gedanken zu Flexibilität sowie zum Anpassungsvermögen an und zur Bereitschaft zu wirtschaftlichen Veränderungen. Dieses Phänomen der Port Jews wird von verschiedenen Wissenschaftlern unterschiedlich abgegrenzt, so vor allem von Sorkin. Bei ihm gilt es nur für sephardische und italienisch-jüdische Kaufleute, die im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert um das Mittelmeer herum und im transatlantischen Handel tätig waren.² Dubins Definition ist weiter gefasst, und er befürwortet daher die Bezeichnung „Port Jewry“. Er beschreibt dieses „Hafenjudentum“ als eine besondere Form jüdischer Gemeinschaft, die während der Frühmoderne in gewissen europäischen Hafenstädten existiert und den Seehandel mit europäischer und jüdischer Kultur kombiniert habe.³ Es sei eine Gemeinschaft entstanden, die, wie Fry es nennt, aus „den ersten modernen Juden“, religiös flexibel und „widerwillig kosmopolitisch“, bestanden habe.⁴ Dubins erweiterte Definition umfasst sowohl Aschkenasim wie Sephardim, die in Städten wie Hamburg, Portsmouth, Southampton und Odessa ansässig waren. Ich meinerseits möchte behaupten, dass der Kriegshafen Karlskrona als Port-Jewry-Milieu anzusprechen ist – ebenso wie Fabian Philip und seine erweiterte Familie als Port Jews oder möglicherweise eher als Port Jewry, was ich im Folgenden kurzgefasst begründen möchte. Die Hafenstädte, die jüdische Einwanderer willkommen hießen, sind als „liberale Milieus“ beschrieben worden. Ihre Offenheit hing unter anderem mit dem ständigen Kommen und Gehen von Menschen und Waren zusammen, was Flexibilität im Umgang und Willen zur Veränderung bedingte. Man schätzte die „Hafenjuden“ wegen ihrer Handelsverbindungen, ihrer Netzwerke und ihrer Kenntnis des Fernhandels. Solche Verdienste waren wichtiger als Herkunft und Religion.⁵ Dieser Logik entsprechend funktionierte auch der Kriegshafen Karlskrona. Hier
Sorkin, David: Port Jews and the Three Regions of Emancipation. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550 – 1950. London 2002. S. 31– 46 Dubin, Lois C.: ‘Wings on their feet … and wings on their head’. Reflection on the Study of Port Jews. London 2006. S. 17. Fry, Helen: Port Jews: Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550 – 1950. European Judaism 36.2 (2002). S. 151 f. Dubin, Wings on their feet, S. 27.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
25
existierten dasselbe Kommen und Gehen von Menschen und Waren, zumal die Größe der Bevölkerung schon wegen der Aktivität der Flotte ständig schwankte, wie auch dieselbe „liberale“ und meritokratische Verhaltensweise, denn die Flotte war international, und im Ausland gedient zu haben, konnten sich die Marineoffiziere als Verdienst anrechnen lassen. Die Rolle, die der Fernhandel in den übrigen Port-Jews-Milieus spielte, nahm in Karlskrona die Flotte ein. Den Forderungen, die sie stellte, hatten sich alle anderen unterzuordnen, und sie benötigte, wie ich zeigen werde, gerade die Dienstleistungen und Waren, die Fabian Philip anbieten konnte. Karády betont die Rolle der Juden als wirtschaftliche Akteure. Seiner Ansicht nach waren die Juden während des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus besser als ihre Konkurrenten darauf vorbereitet, die neuen Voraussetzungen zu nutzen. Die wirtschaftlichen Beschränkungen, die sie vor der Emanzipation zu erdulden hatten, hatten geradezu die Voraussetzungen dafür geschaffen, sich erfolgreich an dem heranwachsenden kapitalistischen System zu beteiligen. Sie hatten eine kleine, aber bedeutungsvolle Gruppe von Juden zu einer Art Protobourgeoisie heranwachsen lassen, die dazu fähig war, potentielle Märkte zu identifizieren, und sie dazu gezwungen, Prinzipien für Gewinnmaximierung und Ertragsberechnung zu entwickeln wie auch Ideale und Strategien für Verbrauch, Kapitalakkumulation, Ausbildung und physische Reproduktion, lies: Empfängnisverhütung. Laut Karády bedeutete die Akzeptanz von Konkurrenz zusammen mit einem größeren Gespür für Innovationen sowie der Fähigkeit, neue wirtschaftliche Möglichkeiten zu nutzen, für die Juden einen Vorteil bei aller Konkurrenz im Zeitalter des heranwachsenden Kapitalismus. Zusammenfassend kann man feststellen, dass das Port-Jews-/Port-JewryPhänomen erklärt, warum Fabian Philip und seine Familie Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts so schnell in die Mehrheitsgesellschaft Karlskronas integriert werden konnten. Die Entwicklung des Zeitgeschehens und das Agieren der Familie nach 1815 illustrieren, wie zu zeigen sein wird, die Flexibilität und die Fähigkeit zur Anpassung an neue wirtschaftliche Verhältnisse, wie sie Karády als typisch für die Juden im damaligen Europa bezeichnet.
Die wirtschaftlichen Strategien der Familie Philip-Rubens. Ankunft und Etablierung Fabian Philip kam 1780 über Stockholm nach Karlskrona. Er beantragte und erhielt auch das Bürgerrecht, ohne zur evangelisch-lutherischen Lehre zu konvertieren, was – trotz umfassender Proteste des geistlichen Standes im Reichstag und
26
Harry R. Svensson
einer gehässigen Pressekampagne – sowohl besonders ausgewählten Juden wie Katholiken seit dem Erlass der Religionsgesetze von 1779 ermöglicht worden war.⁶ Gustav III. hatte die Initiative zu dieser Gesetzgebung ergriffen, und sie wurde vom „Kommerskollegium“, der für die Wirtschaft zuständigen Instanz der Regierung, durchgesetzt. Dazu war der König durch die Reformen Friedrich Wilhelms des Ersten, seines Großvaters mütterlicherseits, in Preußen angeregt worden. In der neuen Gesetzgebung ging es in erster Linie um Wirtschaftsfragen und nicht um Religion; man war der Auffassung, dass die Etablierung der Juden in Preußen sich auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes positiv ausgewirkt hatte, und Gustav III. erhoffte sich ein ähnliches Resultat für sein Land. Die Gesetzgebung, die de facto Religionsfreiheit bedeutete, ging somit von der Vorstellung aus, die Juden seien erfolgreiche Unternehmer, deren Tätigkeit die schwedische Wirtschaft positiv beeinflussen würde. Die Judenverordnung von 1782 war zwar ebenfalls vor dem Hintergrund dieses Bildes zustande gekommen, aber antisemitische Vorstellungen vom Juden als Bedrohung, wie sie auch in den Protesten gegen die neue Religionsfreiheit zum Ausdruck kamen, hatten den Inhalt beeinflusst. Der Staat hatte entsprechend der Judenverordnung eine Niederlassung von Juden nur in den Städten erlaubt, in denen man sich von ihnen einen größtmöglichen Nutzen erwartete, und ihre Privilegien galten nur für Wirtschaftszweige, die nicht Zunftordnungen unterlagen; Juden durften kein Landeigentum besitzen und keine Nicht-Juden heiraten. Sie wurden durch diese Gesetzgebung zwar als Angehörige einer Fremdenkolonie anerkannt, aber sie wurden nicht schwedische Untertanen.⁷ Karlskrona war bei der Ankunft Fabian Philips Schwedens zweitgrößte Stadt. Sie war hundert Jahre vorher als Kriegshafen angelegt worden und wichtigste Basis der schwedischen Flotte. Dagegen fehlten die natürlichen Voraussetzungen für den Handel. Zudem hatten sich infolge des Großen Nordischen Kriegs 1700 – 1721 die Handelswege in der Ostsee verändert, was die Nachfrage nach den Waren, die von Blekinge aus verschifft wurden, beeinträchtigte. Infolgedessen entwickelte sich Karlskrona nicht zu einer Handelsstadt, sondern zu einer Stadt, in der der direkte Konsum im Mittelpunkt stand, in erster Linie aber zu einer Marinebasis.⁸
Nyman, Magnus: Press mot friheten: Opinionsbildning i de svenska tidningarna och åsiktsbrytningar om minoriteter 1772– 1786. Acta Universitatis Upsaliensis. Uppsala 1988. passim. Valentin: Judarnas historia, S. 174– 194. Törnquist, Leif: Befästningskonstens utveckling. Fortifikationen 350 år 1635 – 1985. Stockholm 1986. S. 33; Norberg, Erik: Östersjön som handelsområde. In: Stormakten som sjömakt. Hrsg. von Björn Asker. Lund 2004. S. 21 ff.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
27
Wie elend es um die wirtschaftliche Lage im bürgerlichen Karlskrona zum Zeitpunkt der Ankunft Fabian Philips stand, geht aus einer Notiz in der Chronik der Großfamilie Philip-Ruben hervor, die mit größter Wahrscheinlichkeit von Fabian Philip selbst stammt. Sie beschreibt die Lage im Jahre 1802: Waz nicht zur Marine, die sehr schlecht bezahlt ist, zu den wattlichen und geistlichen beamten gehört, lebt von den, was diese und jene vergaten können. Die Stadt ist ohne Handel, die moisten Einwohnen leben von Brod, Erdäpfeln und Fischen; Fleisch kännt nur auf dem täglichen Tisch der kleinen Zahl von Wohlhabenden. Die häufigen Diebstähle, werüber getalt wird, sind die Folge der grossen Armuth, die eben so sehre als Ueberfluss, und sogar öfters als dieser, laster vervielfacht und Verbrechen erzeugt.⁹
Aber was zog einen solchen Geschäftsmann wie Fabian Philip nach Karlskrona? Was glaubte er, in diesem Kriegshafen finden zu können? Die umfangreiche, große Mittel verschlingende Organisation, wie sie die Flotte darstellte, wurde von der damals größten und modernsten Industrieproduktion des Landes versorgt. Wie schon angedeutet, waren Nachfrage und Produktion dieser Flotte der wirtschaftliche Motor der Stadt. Fabian Philip hatte schon vor Erlass der Judenverordnung im Jahre 1782 die Herstellung von Segeltuch als die Nische identifiziert, in der er tätig sein wollte. Die Flotte verfügte nämlich nicht über eine eigene Segeltuchherstellung. Als er nach Einführung der Judenverordnung riskierte, aus der Stadt ausgewiesen zu werden, was die „Handelssocietet“, die damalige Handelskammer, der Stadt sogar ausdrücklich forderte, bot er der „Admiralitet“, der Führung der Flotte, an, eine Segeltuchfabrik zu errichten. Der Vorschlag fand den Beifall des befehlshabenden Admirals Henrik af Trolle, der eine königliche Ausnahmegenehmigung erwirkte. Sie hob die Niederlassungsregeln der Judenverordnung auf und gestattete Fabian Philip nebst Familie und Dienstboten, sich in Karlskrona niederzulassen. Die Fabrik begann ab 1785, Segeltuch herzustellen. Ihre Tätigkeit wurde umgehend ein wichtiger Bestandteil des militärisch-industriellen Komplexes des Kriegshafens, und somit wurden auch Fabian Philip und seine größer gewordene Familie schnell in den Kreis des Marineoffizier-Corps aufgenommen.¹⁰ Da Fabian Philip dadurch gewissermaßen der Flotte angehörte, war nun seine Situation gesichert. Die außenpolitischen Bestrebungen des Staates und der Neuaufbau der Flotte während der 1780er-Jahre ließen Karlskronas Wirtschaft aufblühen, was die Lieferanten der Flotte begünstigte. Zudem öffneten sich auch Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika. Karlskrona under Fabian Philips dagar. Svensson, Harry: The Case of Fabian Philip, Karlskrona’s First Jewish Entrepreneur: A Swedish Example of the Port Jews Phenomenon. Sjuttonhundratal. Nordic Yearbook for Eighteenth-Century Studies 11 (2014). S. 69 – 89.
28
Harry R. Svensson
die Türen zur einheimischen Wirtschaft. 1794 wurde Carlskronas Tobaks-Fabrique, als „Andelsbolag“ gegründet, eine Art Konsortium, dessen 74 Mitglieder 900 Anteilscheine unter sich aufteilten. Fabian Philip kaufte 40 davon und war damit der drittgrößte Anteilseigner des Konsortiums. Die übrigen Eigentümer waren größtenteils in Karlskrona ansässig. Anfang des neunzehnten Jahrhunderts war Fabian Philip ein wohlhabender Mann, und er manifestierte seine Stellung in der städtischen Gesellschaft durch den Kauf eines größeren Eckgrundstücks im Zentrum Karlskronas, das Kaufleute seit der Gründung der Stadt besessen hatten. 1811 erreiche Fabian Philip die nächste Stufe der sozialen Hierarchie, als er den Herrenhof Afvelsgärde in der Landgemeinde Lyckeby, heute einer der Vororte Karlskronas, erwarb. Da es Juden bis 1860 gesetzlich verboten war, Landeigentum zu besitzen oder zu bewohnen, kauften der „Contre Amiralen och Riddaren Wälborne Herr Nils Elias Rosensvärd dess Hustru och bröstarfwingar“, der „Konteradmiral, Ritter und wohlgeborne Herr Nils Elias Rosensvärd, seine Gattin und seine leiblichen Erben“ das Eigentum, das danach auf Fabian Philip übertragen wurde. Er wurde so der erste jüdische Gutsbesitzer in Schweden.¹¹
Die dunkle Zeit des Verfalls und der Verwesung Um 1815, am Ende der napoleonischen Zeit, war die Blütezeit vorbei. Da Schweden Finnland verloren hatte, veränderten sich die geopolitischen Bedingungen im Ostseeraum. Russland beherrschte die gesamte östliche Küste der Ostsee, und dies bedeutete das Ende der offensiven schwedischen Außenpolitik, die das achtzehnte Jahrhundert geprägt hatte. In der neuen schwedischen Zentralverteidigungsdoktrin, die zu dieser Zeit verabschiedet wurde, fand sich kein Platz für eine offensive Waffe wie die Flotte. Die staatlichen Mittel für Erneuerung und Instandhaltung wurden auf ein Minimum beschränkt. Die Zeit zwischen 1815 und 1880 trägt in der Geschichte der Flotte daher auch den Namen „die dunkle Zeit des Verfalls und der Verwesung“.¹² Diese Beschreibung trifft auch für Karlskrona selbst zu, dessen Wirtschaft im Großen und Ganzen völlig von den Mitteln abhängig war, die der Staatshaushalt für die Flotte veranschlagt hatte.¹³ Als 1800 ein neues Jahrhundert begann, war es noch die drittgrößte Stadt des Reiches gewesen, hundert Jahre später war sie zur siebtgrößten degradiert worden. Dadurch Jacobowsky, C. Vilhelm: Svensk-judiskt herrgårdsliv. Stockholm 1967. S. 3 Lybeck, Otto: Svenska flottans historia. Malmö 1945. Del III. S. 264. Bidrag till Sveriges officiella statistik. Kungl. Maj:ts Befallningshavares femårsberättelse. Blekinge åren 1828 – 1832. S. 55.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
29
änderten sich natürlich die Voraussetzungen für die Tätigkeit Fabian Philips und seiner Nachkommen grundsätzlich, auch wenn das bürgerliche Karlskrona immer schon arm gewesen war. Man sollte daher annehmen, dass Fabian Philip und seine größer gewordene Familie dem Beispiel ihrer Glaubensbrüder in Großbritannien gefolgt wären. Dort waren die jüdischen Gemeinden in den Kriegshäfen Plymouth, Portsmouth, Sheerness, Falmouth und Chatham ähnlich wie Karlskrona zwischen der Französischen Revolution 1789 und dem Ende der napoleonischen Kriege 1815 wirtschaftlich aufgeblüht. Als diese Blütezeit vorbei war, kam die Entwicklung der Gemeinden indessen ins Stocken, da ihre Mitglieder in die Midlands zogen, wo die Wirtschaft aufgrund der industriellen Revolution expandierte.¹⁴ Fabian Philip und seine Nachkommen entschieden sich stattdessen, trotz des wirtschaftlichen Rück- und Krebsgangs in Karlskrona und Umgebung auszuharren. Wie es in Karlskrona während der „dunklen Zeit des Verfalls und des Verwesungsprozesses“ aussah, geht aus dem Fünfjahresrechenschaftsbericht des Landeshauptmanns für die Jahre 1828 – 1832 hervor: Zwar war die Stadt ursprünglich einmal dazu bestimmt, eine mächtige Handelsstadt zu werden, aber sie wurde es nie, zumindest hörte sie auf, sich dazu zu entwickeln. […] Auch die grundlegende Idee, worauf sie ihre Entstehung gründete und die sie lange genug am Leben und in Bewegung hielt, hat sich jetzt geändert, da die Ansprüche an die Stadt auf Lieferungen an die Flotte und die staatliche Werft, um somit ihr Wohlergehen und eine Zunahme der Bevölkerung zu erreichen, ständig zwischen Vergrößerung und Verkleinerung schwankten, je nachdem ob die Flotte auf- oder abgerüstet wurde.¹⁵
In den folgenden fünf Jahren ging es weiterhin abwärts. Im Fünfjahresrechenschaftsbericht des Landeshauptmanns für die Jahre 1833 – 1837 wird lakonisch vermerkt: „Alle Wirtschaftszweige, der Handel und die Seefahrt scheinen eher abstatt zuzunehmen, und es wird darauf hingewiesen, was der vorige Bericht dazu zu vermelden hatte.“¹⁶ Fabian Philip war indessen weiterhin tätig. Die Segeltuchfabrik mit einer immer noch ziemlich umfassenden Produktion beschäftigte über 100 Arbeiter und darüber hinaus etwa 400 Arme der Stadt mit Spinnereiarbeiten.¹⁷ In der darauffolgenden Fünfjahresperiode kündigte die Flotte allerdings den Vertrag mit Fabian Philip, weil, wie sich zeigte, Fabriken in Göteborg Segel von besserer Qualität herstellen konnten. Dennoch verfügte die Fabrik noch 1830 über 56
Endelman, Todd M.: The Jews of Britain 1656 to 2000. Berkley 2002. S. 80. 1833-års Femårsberättelse: Blekinge Län. S. 56 f. 1837-års Femårsberättelse: Blekinge Län. S. 8. 1828-års Femårsberättelse: Blekinge Län. S. 14.
30
Harry R. Svensson
Webstühle, die von ebenso vielen Angestellten bedient wurden. 1833, also drei Jahre später, hatte sich die Zahl der Webstühle dagegen auf 48 und die Zahl der Angestellten auf 24 verringert, während die Insassen der Armenhäuser, die vorher in so hohem Ausmaße beschäftigt worden waren, alle entlassen wurden. Die Fabrik sollte geschlossen werden, sobald alles noch vorhandene Rohmaterial verbraucht war, was noch im selben Jahr geschah.¹⁸ Die Segeltuchherstellung hatte es Fabian Philip finanziell ermöglicht, seinen Erfolg sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadt zur Schau zu stellen. Aber wenn auch der Kauf des Gutes Afvelsgärde anfänglich nur dazu diente, den gesellschaftlichen Status der Familie aufzuwerten, so wurde die landwirtschaftliche Produktion später ein Teil der wirtschaftlichen Strategie der Familie. Bereits Fabian Philip begann mit umfangreichen Neupflanzungen, und seine Gegenwart hielt ihn, wenn man der Familienchronik Glauben schenken darf, „für einen der tätigsten und geschicktesten Landwirte in Blekinge“.¹⁹ Es herrscht auch kein Zweifel daran, dass er in der Tat an der alltäglichen landwirtschaftlichen Arbeit auf dem Gut regen Anteil nahm. Davon zeugte unter anderem auch, dass er zum „arbeitenden Vorstandsmitglied der Königlichen Landwirtschaftskammer in Blekinge“ gewählt wurde, ebenso wie die Tatsache, dass er die Wahl annahm.²⁰ Fabian Philip starb am 27. September 1834. Als der Nachlass am 22. Oktober desselben Jahres inventarisiert wurde, zeigte es sich, dass er ein bedeutendes Vermögen hinterließ. Die Grundstücke in Lösen und Augerum wurden mit 59.950 und das Inventar mit 264.789,80 Reichstaler Banco bewertet. Der Wert des Haushaltes wurde auf 261.466,22 Reichstaler angesetzt. Der Haustierbestand auf Afvelsgärde lässt erkennen, dass die Landwirtschaft von gewisser wirtschaftlicher Bedeutung war. Insgesamt wurden fünf Pferde, sechs Paar Ochsen, drei einjährige Stuten, zwei halbjährige Kälber und 22 Kühe erfasst.²¹ Rosa Philip, Ehefrau Fabian Philips, wurde, wie er 1833 testamentarisch festgelegt hatte, Alleinerbin.²² Nach ihrem Tod im Jahre 1855 errichtete man zwei verschiedene Inventarverzeichnisse. Das erste vom 23. Januar über den Nachlass in Karlskrona bewertete diesen auf 11.444,36 Reichstaler Banco, das zweite vom 26. Januar den Nachlass auf dem Lande auf 283.524,22. Die Anzahl Kühe war auf 37 gestiegen, es gab sieben Pferde und 14 Ochsen. Die Witwe zur Alleinerbin zu machen war vermutlich eine wirtschaftliche Strategie, um das Eigentum im Besitz der Familie zu belassen, denn das einzige
1833-års Femårsberättelse: Blekinge Län. S. 36. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Fabian Philip. Svensson, The Case of Fabian Philip, S. 81. Familjen Rubens arkiv. Fabian Philips testamente. Familjen Rubens arkiv. Fabian Philips testamente.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
31
Kind von Fabian und Rosa Philip, Eleonora, hatte in demselben Jahr, als das Testament beglaubigt wurde, die Scheidung von ihrem Ehemann Joachim ben Moses Ruben eingereicht, was allem Anschein nach diese Übertragung auch dadurch notwendig machte. Denn die Gesetzgebung dieser Zeit erlaubte es Ehefrauen, Immobilien zu erwerben, nicht aber, diese selbst zu verwalten. Eine Kapitelbesitzerin hatte somit nur beschränkten Zugang zu den familieneigenen Mitteln und das nur über ihren männlichen Vormund. In diesem Fall mussten sich Fabian Philips Witwe und Tochter an seine zwei ältesten männlichen Enkel Moritz und Isaac Otto Ruben wenden, die er selbst noch eingesetzt hatte. Vermutlich hatte er gehofft, dass seine Enkel die Segeltuchfabrik erben würden, aber die Konkurrenz aus Göteborg war zu groß geworden, und die Tatsache, dass der Staat die Flotte nicht länger mit Vorrang behandelte, bedeutete auch, dass sich die Absatzmöglichkeiten für Segeltuch drastisch verringert hatten. Er hatte jedoch durch den Erwerb des Rubenska gård, des Rubenschen Hofes, in der Stadt und des Herrenhofes Afvelsgärde auf dem Land sein Kapital in Immobilien gebunden, und die Bestimmungen des Testaments lassen den Willen erkennen, die Nachkommen sollten sich trotz der sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen dazu verpflichten, in Karlskrona wohnen zu bleiben.
Die Zeit der Umstrukturierung In den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erlebte Schweden, wie sich Freihandel und Industrialisierung im Land durchsetzten. Man hob das Einfuhrverbot von 1816 auf und führte neue Zollgebühren ein. 1846 wurde der Zunftzwang abgeschafft und 1864 über eine weitgehende Gewerbefreiheit entschieden. Diese neuen Spielregeln hatten zeitweise ein starkes Wachstum zur Folge, und diese Entwicklung begünstigte nicht zuletzt die schwedisch-jüdischen Geschäftsleute, die im Anschluss an die wirtschaftliche Liberalisierung auch eine politische Emanzipation erleben konnten, die 1870 vollendet wurde. Im Allgemeinen waren die jüdischen Unternehmen zu diesem Zeitpunkt Familienunternehmen mit importierten Waren als Spezialität, und nicht selten, so bei der Einfuhr von Textilien, waren die jüdischen Verbindungen mit dem Kontinent und Großbritannien von großer Bedeutung.²³ Die wirtschaftliche Entwicklung in Karlskrona ermöglichte indessen mit Ausnahme der Landwirtschaft keine weitere Expansion in den Wirtschaftsbereichen, in denen man früher tätig gewesen war. Stattdessen setzte man nun auf neue Bereiche. Schon als Dreizehnjähriger hatte
Valentin, Judarnas historia, S. 87 f.
32
Harry R. Svensson
Moritz Ruben, der älteste Enkel Fabian Philips, seinen Großvater auf einer Geschäftsreise nach Riga begleitet, wo er sich an Bord des Schiffes als Schiffsschreiber hatte betätigen müssen. Als Erwachsener investierte er dann einen Teil seines Erbes in einen Getreidehandel mit dem Kaufmann Sven Sjögren als Partner.²⁴ Nur Moritz, der älteste unter den fünf Brüdern Ruben, sollte das Handelsunternehmen weiterführen, während man gleichzeitig von ihm erwartete, dass er das Erbe seines Großvaters verwaltete. Achtzehnjährig arbeitete er zusammen mit seinem Bruder Leopold drei Jahre lang in einem Hamburger Unternehmen, und danach wurde er nach Großbritannien entsandt, wo er eine Banklehre absolvieren sollte.²⁵ Als Moritz Ruben im Anschluss daran ein eigenes Handelsunternehmen errichtete, folgte er, wie man hervorgehoben hat, dem gleichen Muster wie die jüdische Geschäftstätigkeit in Schweden im Allgemeinen, und seine Investitionen in den Getreidehandel sind, wie man sich denken kann, eine natürliche Folge der wachsenden Bedeutung der Landwirtschaft während der Regierungszeit des Königs Carl Johann Bernadotte und stehen in enger Verbindung mit der landwirtschaftlichen Produktion in Afvelsgärde.²⁶ Auch der internationale Getreidehandel dieser Zeit wurde von der russisch-jüdischen Familie Ephrussi beherrscht, die 1860 der führende Getreideexporteur der Welt war. Trotz der sich verschlechternden wirtschaftlichen Bedingungen blieben außer Moritz noch drei seiner Brüder in Karlskrona. Der Verfasser der Familienchronik hebt hervor, dass sie einen ungewöhnlichen Beruf gewählt hatten: „Obwohl die Juden sich im Allgemeinen nicht der Landwirtschaft widmeten, begannen sich nicht weniger als drei der Brüder dafür zu interessieren und wurden auf ihre Weise hervorragende Landwirte.“²⁷ Moritz dagegen widmete sich dem Handel sowie dem Geldverleih.²⁸ Isaac Otto beteiligte sich zunächst an der Bewirtschaftung von Afvelsgärde, aber erwarb 1849 das Gut Hoby Kulle in Bräkne Hoby. Es umfasste 700 Hektar Ackerland und war Blekinges zweitgrößter landwirtschaftlicher Betrieb.²⁹ Leopold Ruben kaufte 1849 in direkter Nachbarschaft von Afvelsgärde den Hof Vedeby gård, früher Sommersitz von Carl August Ehrensvärd, dem Befehlshaber der Flotte.³⁰ Isaac
Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Moritz Ruben. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Moritz Ruben. Schön, Lennart: En modern svensk ekonomisk historia. Tillväxt och omvandling under två sekel. Falun 2012. S. 50. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Moritz Ruben Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Moritz Ruben. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Isaac Otto Ruben; Leopold Ruben. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Leopold Ruben.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
33
Ruben scheint erfolgreich gewesen zu sein. Er entwickelte die Ackerwirtschaft, und seine Arbeit weckte Aufmerksamkeit. Die Königliche Landwirtschaftskammer in Blekinge beteiligte ihn an ihrer Tätigkeit. 1859 platzierte sie einen ihrer Zuchthengste auf Hoby Kulle, das damit Mittelpunkt der Pferdezucht in Westblekinge wurde, die von der Kammer gefördert wurde.³¹
Ackerbau und Viehzucht auf Afvelsgärde, 1850 – 1923 Rosa Philip, die Witwe Fabian Philips, besaß und bewirtschaftete Afvelsgärde nach dem Tod ihres Mannes von 1834 bis 1954, bevor sie das Gut an ihren Sohn, den Großhändler Moritz Ruben, verkaufte.³² Nach der Geschäftsaufgabe ließ er sich dort nieder und „genoss […] nach einem ganzen Leben in strenger Gewissenhaftigkeit und beharrlicher Tätigkeit ein hohes Ansehen“.³³ Er zog sich jedoch nicht vollständig zurück, sondern nahm einzelne Ehrenämter wahr.³⁴ Als er 1886 starb, übernahm seine Witwe, Rebecka Ruben, das Gut. Der jüngste Sohn, Alfred Julius Ruben, beteiligte sich an der Verwaltung des Gutes, verkehrte mit den Nachbarn, nahm an Jagden teil und war aktives Mitglied der Scharfschützenvereinigung in Lyckeby. 1893 erlag er, nur 45 Jahre alt, einem Herzleiden.³⁵ Von 1895 bis 1915 wurde der Betrieb von Anton Ruben geleitet, parallel zu seiner Tätigkeit in einer Fabrik, die er mit einem seiner Brüder leitete.³⁶ Die Landwirtschaft, möglicherweise vor allem die Tierzucht, war so erfolgreich, dass sie sogar in Blekinge läns Kungl. Hushållnings-sällskaps historia 1814– 1914, in der Geschichte der Königlich Schwedischen Landwirtschaftskammer 1814– 1941, hervorgehoben wurde: Bestände neueren Datums gibt es in Bubbetorp und Afvelsgärde unter den Eigentümern G. Bergström und Ruben, die noch nicht lange das Stadium der vorbereitenden Kreuzungen überschritten haben. Auf Bubbetorp ging man von einer Ayrshire-Kreuzung aus, die man von
Wachtmeister, Hugo: Blekinge läns Kungl. Hushållnings-sällskaps historia 1814– 1914. Karlskrona 1914. S. 263; Familjen Rubens släktkrönika: Isaac Otto Ruben. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Afvelsgärde. Liljas Blekingska samling H19:9511; Dödsruna [Nekrolog] över Moritz Ruben 7/3 1886. Im Herbst 1878 wurde er Mitglied eines Komitees unter dem Vorsitz eines Pfarrers namens Sjöholm. Es sollte einen Landwirtschaftstag in Lyckeby veranstalten. Liljas Blekingska samling H19:9288; Lantbruksmöte i Lyckeby 15/5 1878. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Alfred Julius Ruben; Förteckning öfver Födde [Geburten] inom Israelitiska församlingen i Carlskrona samt Döda inom Israelitiska församlingen i Carlskrona. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Anton Nathanael Ruben.
34
Harry R. Svensson
Göholm gekauft hatte, auf Afvelsgärde von roten dänischen Färsen. Dieser Bestand hat durch eine sorgfältige Auswahl der Stiere einen ziemlich hohen Standard erreicht.³⁷
1915 pachtete Edvard Ruben das Gut von Anton Ruben.³⁸ Edvard hatte am Landwirtschafts-Institut in Alnarp studiert und ein Examen als Agronom gemacht. Nach dieser Ausbildung hatte er außerdem Milchwirtschaft in Schweden und Deutschland studiert, so dass er in diesem Bereich als Berater arbeiten konnte, als theoretisch geschulter Fachmann und Spezialist für die praktische Milchwirtschaft. Die Ausbildung war 1883 an den Landwirtschaftlichen Instituten in Alnarp und Ultuna erstmalig eingeführt worden, und die Berater im Bereich der Milchwirtschaft bildeten eine kleine exklusive Gruppe.³⁹ Die Ausrichtung auf diese Studien war also zeitgemäß. Sie geschah vor dem Hintergrund einer Kommerzialisierung des Molkereiwesens in Schweden, die nach 1840 begonnen und sich ein Dezennium später durchgesetzt hatte. Ende des neunzehnten Jahrhunderts stand der Butterexport im Mittelpunkt der Milchwirtschaft in Südschweden. Er machte Ende der 1890er-Jahre zehn Prozent des gesamten Exportwertes aus; Butter war nach Sägewerkprodukten sowie Eisenerz und Stahl die wichtigste Exportware. Auch wenn ihr Exportwert bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges stetig abnahm, so war sie dennoch bis 1913 die wichtigste Exportware.⁴⁰ Dass Edvard Ruben sich für diese Studienrichtung entschied, ist in vieler Hinsicht interessant. Zum einen bedeutete es, dass die Familie auch weiterhin auf Landwirtschaft setzte, was einst mit dem Kauf von Afvelgärde begonnen hatte. Zum anderen führte er die Tradition weiter, die Isaac Otto und Leopold Ruben in den 40er-Jahren des neunzehnten Jahrhunderts begonnen hatten, als sie ihre Ausbildung an Landwirtschaftsschulen verlegt hatten. Drittens entsprach seine Ausbildung den Bestrebungen, Afvelsgärde als landwirtschaftliches Unternehmen zu entwickeln, und viertens war es die Tatsache, dass diese Bestrebungen auch dadurch verwirklicht werden sollten, dass man nach dem europäischen Kontinent und vor allem nach Deutschland fuhr, um seine Kenntnisse auf den letzten Stand zu bringen. In der Familie war dies wohlerprobt. Verbindungen und Netzwerke auf dem Kontinent waren in allen Bereichen von großem Gewicht. In den Dezennien um die Jahrhundertwende waren Investitionen im Bereich der Milchwirtschaft mit Ausrichtung auf den Export logisch und folgerichtig, wenn man – wie die Familie Ruben – ein Gut besaß und bereits Handelsverbin Wachtmeister, Blekinge, S. 319. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Afvelsgärde. Sommestad, Lena: Från mejerska till mejerist: en studie av mejeriyrkets maskuliniseringsprocess. Lund 1992. S. 51 f. Sommestad, Från mejerska till mejerist, S. 36 ff.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
35
dungen zum Kontinent etabliert hatte. Die Investitionen stimmten auch gut mit Moritz Rubens Getreidegroßhandel überein, auch wenn es ungewiss ist, ob sein Unternehmen mit Produkten von Afvelsgärde handelte. Afvelsgärde war indessen nicht nur ein Teil der Geschäftstätigkeit der Familie Ruben, sondern der Herrenhof hatte auch symbolische Bedeutung. Dies geht deutlich daraus hervor, wie die Familie reagierte und agierte, als sie in Gefahr geriet, ihn zu verlieren. Anton Ruben hatte für die Kredite gebürgt, die notwendig waren, um die Transaktionen Otto Rubens bei seinen Holzwarengeschäften im Baltikum zu finanzieren. Unter anderem hatte er Afvelsgärde verpfändet.⁴¹ Als sich später herausstellte, dass Otto Ruben die Waren nicht erhalten hatte, die ihm der Lieferant versprochen hatte, und die Nachkriegsdepression gleichzeitig eine Bankenkrise auslöste, leitete die Landwirtschaftsbank ein Mahnverfahren gegen Anton Ruben ein.⁴² Es bestand das große Risiko, dass die Bank Afvelsgärde mit Beschlag belegen würde. Aus einem Brief Otto Rubens an seinen Vater geht deutlich hervor, welch bedeutende Rolle Afvelsgärde rein gefühlsmäßig für die Familie spielte: Es ist jetzt das Wichtigste, dass wir alle uns darauf einigen, Edvard so zu stärken, dass ihm nichts Böses geschieht. Nur so kann unser geliebtes Afvelsgärde sicher im Besitz der Familie bleiben. Lieber Papa, sei dessen gewiss, dass Du nie Not leiden wirst, so etwas wird nie, nie, nie in Frage kommen.⁴³
Afvelsgärde war zum Stammsitz der Familie Ruben geworden. Für Fabian Philip diente der Kauf anfänglich als Mittel, seine gesellschaftliche Stellung herauszustreichen und seine soziale Zugehörigkeit zu demonstrieren. Allerdings widmete er sich auch bald der Landwirtschaft, die später für seine Enkel im Mittelpunkt ihrer Geschäftstätigkeit stehen sollte. Anton Rubens Frau, Elise Ruben, war erkrankt, was in Einklang mit der Familientradition bedeutete, dass sie nicht in der Lage gewesen wäre, den Hof nach dem Tod ihres Mannes zu übernehmen. Sie starb 1933, zehn Jahre nach seinem Tod.⁴⁴ Ihre Erkrankung kann ein weiterer Grund dafür gewesen sein, dass Edvard Ruben Agronom wurde und den Betrieb auf Avelsgärde bereits 1915 übernahm; sein Vater und sein Onkel hatten zu dem Zeitpunkt noch, wie sich zeigen wird, weitere 50 Jahre vor sich, um sich in den Bereichen Handel, Industrie und Banken zu engagieren. Edvard Ruben hatte seinerseits zwar langgehende Pläne, im Kommunikationsbereich zu investieren,
Pantförskrivning av Afvelsgärde Nr 1 m. fl. 14 augusti 1921. Familjen Rubens arkiv. F 1:1 Brev till styrelsen för AB Svenska Lantmännens bank 7 mars 1922. Familjen Rubens arkiv. F 1:1 Brev till Otto Ruben till Anton Ruben 1922. Mark, Kerstin: Gömda och glömda kvinnor. Göteborg 2009. S. 1 ff.
36
Harry R. Svensson
und war eifrig damit beschäftigt, diese Pläne zu realisieren, aber seine Mittel waren 1923 erschöpft. Stattdessen investierte er erfolgreich in den Betrieb von Afvelsgärde. Der Kartoffelanbau kam dabei an erste Stelle, wie auch die Herstellung von Saft für die Königliche Flotte und das Landeskrankenhaus.⁴⁵
Die Familie Ruben und die wirtschaftliche Entwicklung Karlskronas Soziale Mobilität war in den Jahren 1850 – 1930 für die jüdische Gruppe in Schweden ein zentrales Motiv ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit. Das Bild ist indessen komplex.Während der Handel weiterhin eine wichtige Rolle spielte und in diesem Zeitraum mehr als die Hälfte der beruflich Tätigen innerhalb der jüdischen Minderheit beschäftigte, wandten sich viele andere vom Handel ab und anderen Berufszweigen zu. Dieser Prozess wurde in den 50er-Jahren des neunzehnten Jahrhunderts eingeleitet, aber ist vor den ersten Dezennien des zwanzigsten Jahrhunderts nicht deutlich zu erkennen. Dabei wuchs die Zahl der in den freien Berufen Tätigen nur wenig. Die Wirtschaftshistorikerin Rita Bredefeldt folgert daraus, dass die umfassenden Anstrengungen, in eine Universitätsausbildung zu investieren, wie es unter den Juden auf dem europäischen Kontinent üblich war, in Schweden keine direkte Entsprechung hatte.⁴⁶ Die Etablierung der Familie Philip-Rubens als Gutsbesitzer in Karlskrona und Blekinge deutet an, dass sie bereits um 1850 den sozialen Aufstieg geschafft hatte und ein Bestandteil der sozialen Elite der örtlichen Gesellschaft geworden war. Diese gesellschaftliche Position ist vermutlich zusammen mit den Immobilieninvestitionen eine wichtige Erklärung dafür, warum die Familie es vorzog, in Karlskrona zu bleiben, obwohl die Konjunktur schlecht war und nur der landwirtschaftliche Bereich als wirtschaftliche Nische übrigblieb, ein Bereich, von dem Juden, wie bereits erwähnt, formell ausgeschlossen waren. Die Stellung der Familie und ihre Entscheidung für Karlskrona deuten auch darauf hin, dass die Familienmitglieder das soziale Klima als vorteilhaft erlebten. Die soziale Stellung war während des neunzehnten Jahrhunderts eng an Herkunft und ererbtes Vermögen gebunden.⁴⁷ Afvelsgärde repräsentierte dieses ererbte Vermögen ebenso wie die zur damaligen Zeit für Juden ungewöhnliche Anknüpfung an Boden und Zahlreiche Gespräche des Verfassers mit Sten Ruben, dem heutigen Besitzer des Herrenhofs Afvelsgärde zwischen 1996 und 2010. Bredefeldt, Rita: Judiskt liv i Stockholm och Norden. Ekonomi, identitet och assimilering. Stockholm 2008. S. 59 f., 76. Fritz, Sven: Louis Fraenkel 1851– 1911 Bankman och finansman. Stockholm 1994. S. 318.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
37
Ort. Sozial gesehen, konnte die Familie kaum höher steigen. Im schwedischen Kontext ist bemerkenswert, dass sie diese Stellung so früh erreicht hatte, obwohl sie Juden waren und sich auch weiterhin als solche verstanden. Die Stellung Fabian Philips, seiner Tochter und seiner Enkelkinder stimmte somit mit derjenigen überein, die vermögende sephardische Juden in Großbritannien einnahmen, die sich an die britische Oberschicht angeglichen hatten.⁴⁸ Die Etablierung der Familie Fabian-Ruben als Großgrundbesitzer entspricht einem ähnlichen Prozess in Italien, in der Hafenstadt Livorno. Francesca Trivellato konnte nachweisen, dass die dortige jüdische Minderheit im frühen achtzehnten Jahrhundert ein Port-Jews-Milieu bildete.⁴⁹ Carlotta Ferrara degli Uberti hebt gleichzeitig hervor, dass die Juden nicht wegzogen, als der Handel als Erwerbszweig weitgehend wegfiel und die Stadt 1868 ihre Stellung als Freihafen verlor, und keine neuen Möglichkeiten suchten, in diesem Sektor weiterhin tätig zu bleiben. Stattdessen wandten sie sich nun der Landwirtschaft zu.⁵⁰ David Cesarani weist darauf hin, dass die Entwicklung in Livorno völlig gegensätzlich zum Port-Jews-Modell verlief. Auf dem Gipfel ihrer merkantilen Tätigkeit wandten die Juden in Livorno dem Meer den Rücken zu. Sie entwickelten als Teil der örtlichen Bourgeoisie eine moderne individualistische Identität und genossen vollständige Bürgerrechte.⁵¹ Die Integration Fabian Philips und seiner Nachkommen in die örtliche Elite kann, wie hervorgehoben wurde, mit dem Port-Jews-Phänomen erklärt werden, während die Entwicklung nach seinem Tod einem anderen Muster folgte.⁵² Die herausgehobene Stellung, die seine Tätigkeit für die Flotte mit sich führte, machte seine Familie zu einem integrierten Bestandteil der örtlichen Elite in Karlskrona. Seit etwa 1830 nahm die Familie daher die Lebensweise der Mehrheitsgesellschaft an, während ihre Mitglieder gleichzeitig ihrer Identifikation mit dem Jüdischen Ausdruck verleihen konnten.
Endelman, The Jews of Britain, S. 22. Trivellato, Francesca: The Port Jews of Livorno and their Global Networks of Trade in the Early Modern Period. In: Jews and Port Cities 1590 – 1990. Commerce, Community and Cosmopolitanism. Hrsg. von David Cesarani u. Gemma Romain. London 2006. S. 31– 48. Uberti, Carlotta Ferrara degli: The „Jewish Nation“ of Livorno: A Port Jewry on the Road to Emancipation. In: Jews and Port Cities 1590 – 1990. Commerce, Community and Cosmopolitanism. Hrsg. von David Cesarani u. Gemma Romain. London 2006. S. 157– 170. Cesarani, David/Romain, Gemma: Jews and Port Cities 1590 – 1990. Commerce, Community and Cosmopolitanism. London 2006. S. 8 f. Sutcliffe, Adam: Identity, Space and Intercultural Contact in the Urban Entrepôt: The Sephardic Bounding of Community in Early Modern Amsterdam and London. In: Jews and Port Cities 1590 – 1990. Commerce, Community and Cosmopolitanism. Hrsg. von David Cesarani u. Gemma Romain. London 2006. S. 93 – 106.
38
Harry R. Svensson
In den Jahren zwischen 1830 und 1870 dominierte, wie sich gezeigt hat, die Landwirtschaft als Erwerbsquelle der Familie. Moritz Ruben, der als ältester Enkel das Erbe Fabian Philips weiterführen sollte, zog sich aber nicht völlig vom Handel zurück, sondern investierte, wie schon erwähnt, in den Getreidehandel. Dies war in der Tat zeitgemäß. Die Umwandlung der Landwirtschaft erreichte um 1850 ihren Höhepunkt, als der Export schwedischer Rohwaren in Fahrt kam. Alles schien sich um Fingerspitzengefühl und Fähigkeit zur Anpassung an wirtschaftliche Veränderungen zu drehen, wie es Karády identifiziert hat. Dies wird noch deutlicher, wenn man die weitere Entwicklung und die Diversifizierung der Tätigkeiten betrachtet. Der Getreidehandel war nämlich die Basis für diese Diversifizierung der wirtschaftlichen Tätigkeit der Familie. Als die Söhne Ludvig M. und Anton Ruben die Getreidehandelsfirma 1876 übernahmen und sie in die Großhandelsfirma Ludvig M. Ruben umwandelten, waren sie weiterhin im Landwirtschaftsbereich tätig, da sie Saatgut verkauften.⁵³ Mit dieser Großhandelsfirma als Basis nahmen die Gebrüder Ruben ihrerseits an der Industrialisierung Karlskronas teil, als sie 1873 eine Ziegelei und 1876 eine Tabakfabrik anlegten.⁵⁴ Letztere wurde 1887 in Rubens Tabaksfabrikaktiengesellschaft umgewandelt. Die Fabrik hatte sich um die Jahrhundertwende 1900 zu Schwedens zweitgrößter in dieser Branche entwickelt.⁵⁵ Voraussetzungen für den Absatz der Tabakwaren waren gute Kommunikationen und Transportmöglichkeiten, die man unter anderem 1874 durch die Eröffnung der Eisenbahnlinie Carlskrona-Wexjö (CWJ) erreichte.⁵⁶ Die Familie Ruben beteiligte sich an der Finanzierung, indem sie Aktien kaufte. Ihre Investition war größer als der Durchschnitt des gezeichneten Aktienkapitals, aber bescheiden im Vergleich mit dem Kapital, das ihre Glaubensbrüder auf dem Kontinent für den Ausbau des Eisenbahnnetzes aufbrachten. In Schweden finanzierte Louis Fraenkel, der Gründer der Handelsbank, den Ausbau des Eisenbahnnetzes in Schonen in den 1880er-Jahren. Dies wurde im Übrigen als schwedisches Beispiel für eine ähnliche Entwicklung auf dem Kontinent hervorgehoben, in der jüdisches Kapital für die Entwicklungs- und Infrastrukturprojekte von großer Bedeutung war.⁵⁷ Fraenkel war in Stockholm tätig und handelte auf internationaler Ebene mit Staatsobligationen. Die Familie Ruben nahm, wie man behaupten kann, eine ähnliche Rolle ein und war auf örtlichem wie regionalem Niveau von Bedeutung. Anton Ruben war Aufsichtsratsmitglied, stellvertretender Direktor und Vorsit
Bromé, Janrik: Karlskrona stads historia. Del III 1862– 1930. Karlskrona 1930. S. 362 f. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Moritz Ruben. Bromé, Karlskrona stads historia, S. 362. Carlskrona-Wexiö jernvägs styrelse 1924. S. 19 ff. Fritz, Louis Fraenkel, S. 87.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
39
zender der Direktion der CWJ, 1912– 1924 Aufsichtsratsmitglied der NAEJ, der Eisenbahngesellschaft Nettraby-Alnaryd-Emmaboda Jernväg, die 1897 feierlich eröffnet wurde, sowie der Eisenbahnaktiengesellschaft Östra Blekinge, die 1899 den Verkehr aufnahm. Seine Beteiligung an dieser Gesellschaft war sehr klein, so dass man vermuten möchte, es sei nur darum gegangen, Einblick in die Tätigkeit der Gesellschaft nehmen zu können.⁵⁸ Mitglieder der Familie Philip-Ruben nahmen auch aktiv Anteil an der Entwicklung und dem Aufbau des schwedischen Bankwesens und der Gründung von Banken mit Zweigstellen, die gleicherweise Voraussetzung für die und Folge der Umwandlung der Landwirtschaft wie auch des Eisenbahnbaus Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren. Moritz Ruben war 1851 Mitbegründer der Filialbank in Blekinge, die 1872 in Aktiengesellschaft Filialbank in Karlskrona umbenannt wurde, als die Konzession erneuert wurde. Die Familie Ruben war an jeder Umbildung beteiligt, und sie war Aktionär der AG Blekinge Bank, aber beteiligte sich erst 1904 an der praktischen Arbeit im Aufsichtsrat.⁵⁹ Moritz Ruben scheint das Fingerspitzengefühl seines Großvaters mütterlicherseits geerbt zu haben, eine Fähigkeit, die er mit einem anderen schwedisch-jüdischen Bankier teilte, dem bereits erwähnten Louis Fraenkel. Robert Benckert, Inspektor und später Leiter der schwedischen Bankaufsicht, beschrieb dessen finanzielle Begabung als „eine Einsicht in Wirtschaftsfragen, die sich als Instinkt bezeichnen lässt“. Auch der Wirtschaftshistoriker Sven Fritz hebt Fraenkels „Nase für Geschäfte“ hervor, die ihm von seinen Zeitgenossen bescheinigt wurde, aber behauptet, sein Geschäftssinn finde seine Erklärung auch in dem schwedischen und ausländischen Kontaktnetz, dem Fraenkel angehörte. Mit seiner Hilfe hatte er Zugang zu einem ununterbrochenen Fluss von Nachrichten über die Verhältnisse auf dem Markt, in der Politik, über Unternehmen und Personen. Die „Nase für Geschäfte“ war also eine ungewöhnliche Fähigkeit, eher private Nachrichten aus dem Ausland ebenso verarbeiten, kombinieren und deuten zu können wie öffentliche, die er durch seine fleißige Zeitungslektüre erhielt.⁶⁰ Ganz genauso war die Familie PhilipRuben durch ihre Familienbeziehungen mit Hamburg und Stockholm in ein internationales wie nationales Netzwerk verwoben (s. u.). Diese Kontakte benutzte man auch, um neue Generationen auszubilden und sie praktisch in das Geschäftsleben einzubinden. Die wirtschaftlichen Aktivitäten der Familie Ruben lassen deutlich erkennen, wie sehr sie sich auf der mittleren, der regionale Ebene engagierte, auf der die Riksarkivet. D 1:1 Aktieregister för Östra Blekinge jernväg AB. SFS 1872:71; Sjöstedt, C. H.: Sveriges Bankmatrikel. Uppsala 1905. S. 270 f.; Berättelse till Blekinge Banks bolagsstämma den 15 Juni 1887. S. 4. Fritz, Louis Fraenkel, S. 335 ff.
40
Harry R. Svensson
schnelle Entwicklung die Zusammenarbeit der regionalen Eliten stärkte. Kreditwesen, Industrie, Landwirtschaft und Transportwesen waren die Arenen, in denen politische Macht mit wirtschaftlicher zusammenfiel und man sich insgesamt wirtschaftspolitisch einordnete. Ein äußeres Zeichen dafür, wer dieser Elite angehörte, aber gleichzeitig auch dafür, wie klein sie war, ist die Tatsache, dass in den verschiedenen Aufsichtsräten immer wieder dieselben Namen auftauchten. In Blekinge war dies der Name Ruben.⁶¹ Schon Fabian Philip bekleidete, wie festgestellt wurde, Aufsichtsratsmandate auf regionaler Ebene, so unter anderem in der Landwirtschaftskammer, während er gleichzeitig stark auf Afvelsgärde verwurzelt war. Seine Nachfahren gründeten ihre Macht gleichermaßen auf ihre Güter (Afvelsgärde, Heby Kulle, Wedeby Gard) wie auf ihre Positionen im neuen Wirtschaftsleben, wo sie, wie bereits erwähnt, in verschiedenen regionalen Aufsichtsräten moderner Wirtschaftsbereiche saßen. Die Familie gehörte also während der frühen Phase der Industrialisierung von etwa 1851 bis 1890 wie in der des industriellen Durchbruchs von 1890 bis 1930 zur regionalen und somit zur alten wie der neuen Elite. Die Möglichkeiten, größere Unternehmen in Karlskrona und Blekinge aufzubauen, waren gering, eine Tatsache, die das gesamte neunzehnte Jahrhundert prägte. Dieses Problem konstatierten Fabian Philip bereits 1804, der Landeshauptmann 1833 und 1837 und der Bankaufsichtsbeamte Robert Benckert 1890 bei der Inspektion der AG Blekinge Bank.⁶² Als allerdings die Flotte erneut einen wichtigen Platz in der schwedischen Verteidigungsdoktrin einnahm und der Staat sich dazu entschloss, diesen Waffenzweig aufzurüsten, änderte sich die Lage im örtlichen Wirtschaftsleben zum Besseren, und in dem Augenblick war die Familie Ruben genauso daran beteiligt wie einst der Ahnvater Fabian Philip. Ludvig M. und Anton Ruben gründeten die bereits erwähnte Ziegelei, als sie eine Ausschreibung der Flotte zu einer Ziegellieferung gewonnen hatten. Und die Anbindung Karlskronas an das nationale Eisenbahnnetz bedeutete auch, dass der nationale Markt nun den Industrieprodukten der Stadt offenstand, was die Familie Ruben bereits 1876 geahnt zu haben schien, als sie die Tabakfabrik anlegte. 1896 erreichte die Familie Ruben eine neue Stufe in ihrer wirtschaftlichen und unternehmerischen Entwicklung. Sie verkaufte die Großhandelsfirma an August V. Månsson, während Ludvig M. Ruben sich gleichzeitig an der Gründung der Sydsvenska Kredit AG mit Sitz in Malmö beteiligte.⁶³ In Stockholm herrschte Glete, Jan: Regioner, nätverk, storföretag och grupper – något om mesonivån i finans- och företagshistorisk forskning. In: Aspekter på Näringslivets historia. Hrsg. von Hans Sjögren. Stockholm 1995. S. 81– 98. Finansdepartementets Bankbyrå F 1:5 Blekinge bank. Familjen Rubens arkiv. Familjen Rubens släktkrönika: Ludvig M Ruben.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
41
während der 90er-Jahre des neunzehnten Jahrhunderts geradezu ein Bankengründungsfieber, und Ludvig M. Ruben zog in die Hauptstadt, um die Leitung der dortigen Zweigstelle zu übernehmen. Das Unternehmen scheiterte jedoch, und er kehrte 1907 nach Karlskrona zurück.⁶⁴ Gleichzeitig war die Tabakfabrik AG der Rubens zur zweitgrößten Tabakfabrik Schwedens geworden, nachdem sie ihre Produktion von 1900 bis 1905 auf das Doppelte gesteigert hatte.⁶⁵ Der Fabrikant Wilhelm Quarfort war für den täglichen Betrieb verantwortlich, während Anton Ruben die strategischen Beschlüsse fasste und die Verträge abschloss. Er trat zu diesem Zeitpunkt auch in den Aufsichtsrat der AG Blekinge Bank ein. Die unternehmerische Tätigkeit der Rubens ruhte auf drei Beinen: der Tabakfabrikation, der Tätigkeit in den Aufsichtsräten der Unternehmen, an denen sie beteiligt waren, sowie verschiedenen Handelstransaktionen. Außerdem betrieb die Familie weiterhin Landwirtschaft. Die Tabakfabrikation war der erfolgreichste Erwerbszweig, aber während des Ersten Weltkriegs und danach hatten seine Monopolisierung, die starke Inflation und Fehlinvestitionen zur Folge, dass sich die finanzielle Stellung der Familie sehr verschlechterte. Die Absicht des Staates, die Tabakproduktion in Schweden zu einem Monopol zu machen, um sich dadurch eine Einkommensquelle zu sichern, und der Versuch der Tabakindustrie, dies zu verhindern, indem sie Förenade Svenska Tobaksfabriker AG⁶⁶ gründete, führten dazu, dass die Familie Ruben ihre wichtigste Einnahmequelle verlor. Anton Ruben wurde zwar entschädigt, aber war mit dem Betrag unzufrieden.⁶⁷ Aus Benckerts Gutachten ging dazu hervor, dass die AG Blekinge Bank keineswegs so erfolgreich gewirtschaftet hatte wie die Tabakfabrik, aber das hatte auch damit zu tun, dass Blekinge wirtschaftlich unentwickelt und die Konkurrenz im Banksektor stark war. Dies sind wohl auch die Gründe dafür, dass die Bank 1918 in dem neu entstandenen Konzern Svenska Lantmännens Bank AG aufging, die während der kriegsbedingten Konjunktur kräftig expandierte. Die Beteiligung der Familie Rubens an der AG Blekinge Bank ging in eine ebensolche an dem neuentstandenen Konzern über. 1918 begannen die Aktienkurse zu sinken. Die Nachkriegsdepression setzte ein und ging 1922/1923 in eine akute Bankenkrise über. Die Svenska Lantmännens Bank AG war dadurch zahlungsunfähig geworden und musste verstaatlicht werden; Verlierer waren die
Wagnsson, Ruben: Släkten Wagnsson. Oskarshamn 1929. S. 19. 1905-års Femårsberättelse: Blekinge läns. S. 22. http://www.stockholmskallan.se/PostFiles/KUL/SSM_Vardefulla_Industrimiljoer_I_Stock holm_1984_12.pdf. Sjögren, Hans: Bankinspektör Folke von Krusenstjernas vitbok – Anteckningar från bankkrisen 1922/23. Uppsala 1994. S. 60 ff.
42
Harry R. Svensson
Aktienbesitzer.⁶⁸ Während sich die Bankenkrise ständig verschärfte und schließlich ein schlechtes Ende nahm, kollabierten auch die Geschäfte Otto Rubens im Baltikum, da er von seinen Partnern in Lettland betrogen worden war.⁶⁹ Mit Afvelsgärde als Sicherheit hatte er, wie bereits erwähnt, hohe Kredite aufgenommen und die Geschäfte bar vorfinanziert.⁷⁰ Er kam aber geschäftlich mit AB Lantmännens Bank dahingehend überein, dass er seinen Großhandel und seinen Hausrat der Bank überschrieb, wodurch Afvelsgärde vor dem Schicksal gerettet wurde, eingelöst und von der Bank übernommen zu werden.⁷¹ All dies bedeutete, dass die Möglichkeiten der Familie, in neuen Geschäftszweigen zu expandieren, sehr ungünstig beeinflusst wurden. Investitionen in die Infrastruktur, eine Buslinie zwischen Karlskrona und Lyckeby, die Edvard Ruben geplant und gerade in Angriff genommen hatte, konnten nicht wie vorgesehen durchgeführt werden. Landwirtschaft und Afvelsgärde wurden genauso wie vor siebzig Jahren die hauptsächliche Erwerbsquelle der Familie, und der Busverkehr konnte erst durch eine örtliche Initiative der Lyckeby Gille in Betrieb genommen werden.⁷² Die Expansion des Kollektivverkehrs durch das Verkehrsmittel Bus kann als ein Beispiel für das Gespür, neue Märkte zu bedienen, angeführt werden ebenso wie für die Bedeutung wirtschaftlicher Netzwerke, um solche neuen Märkte zur Kenntnis zu nehmen. Edvard Ruben hatte Landwirtschaft an deutschen Universitäten studiert und enge Verbindung zur Verwandtschaft seiner Mutter in Hamburg gepflegt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass er in Deutschland zu dieser geplanten Investition in den Kollektivverkehr angeregt wurde. Dieser Überblick über die Aktivitäten und die Unternehmungen der Familie Philip-Ruben in Karlskrona und Blekinge lässt erkennen, dass sie die jüdischen Traditionen im Handelsbereich weiterhin verfolgte, indem sie die Söhne zwecks Praxis und Ausbildung zu den Verwandten in das wirtschaftlich höher entwickelte Hamburg schickte. So konnte sie aktuellste wirtschaftliche Entwicklungen erkennen und sie, sofern möglich, im heimatlichen Milieu in Karlskrona umsetzen. Ihre internationalen Erfahrungen und das Gespür für wirtschaftliche Veränderungen waren durch ihren Unternehmergeist und ihre Aktivitäten für die Entwicklung der Stadt sehr wertvoll. Mitglieder der Familie Ruben investierten in
Familjen Rubens arkiv. F 1:1 Brev till Otto Ruben daterat i Riga 9 juni 1922. Familjen Rubens arkiv. F 1:1 Brev till Otto Ruben daterat i Riga 9 juni 1922. Familjen Rubens arkiv F 1:1 Kontrakt å löpande räkning med Skånska Handelsbanken 28 augusti 1917; Närsluter en tratta med Skandinaviska Kreditaktiebolaget 29 augusti 1917; Omsättning av revers till växel 3 september 1917. Familjen Rubens arkiv Familjen Rubens arkiv. F 1:1 Brev till styrelsen för AB Svenska Lantmännens bank 9 mars 1922. Offerman, Ove: Lyckeby i svunnen tid. Några kapitel ur ett gammalt samhälles historia. Karlskrona 1953. S. 108 f.; Edvard Ruben: Svensk Omnibustidning 5 (1962).
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
43
alle neuen wirtschaftlichen Bereiche, mit denen sie auf dem Kontinent in Verbindung gekommen waren, das heißt in Handel, in Bankwesen, in Infrastruktur und Industrien, aber auch zeitig in die Landwirtschaft, was sehr zur Entwicklung des örtlichen Geschäftslebens beitrug.
Die sozialen Strategien der Familie Philip-Ruben Ehen waren in einem großen Teil des Zeitraums, der hier untersucht wurde, entscheidend für die Möglichkeiten einer Familie, Netzwerke zu errichten und nützliche Kontakte zu schaffen und um, kurz gesagt, Zugang zu Ressourcen aller Art zu erhalten. Die Wahl eines Ehepartners war darum Sache der Familie und der Verwandtschaft, nicht nur eines Einzelnen. Wenn man untersucht, welche Personen die Mitglieder der Familie Philip-Ruben als „gute Partien“ betrachteten und sie daher als Partner wählten – oder ihnen die Wahl erlaubt wurde –, so sagt das Ergebnis Wesentliches über die Interessen und Ziele der Familie aus, wie auch über ihre gesellschaftliche Stellung. Darüber hinaus eröffnet es uns einiges über Identität und Identifikation. Ehen innerhalb der jüdischen Gruppe lassen den Willen erkennen, eine jüdische Identität zu bewahren, während Mischehen andere Prioritäten andeuten. Zu berücksichtigen bleibt allerdings auch, dass Mischehen zwischen Juden und Nicht-Juden erst 1863 erlaubt wurden.⁷³ Fabian Philip und seine Frau Rosa, geborene Fürst und Tochter von Jacob Fürst ben Ruben aus Hamburg, bekamen 1790 ein Kind, die Tochter Eleonora Philip. Es ist nicht bekannt, warum sie nicht mehr Kinder bekamen, aber wenn man die damalige Konvention bedenkt, dass eine Tochter die Geschäftstätigkeit ihres Vaters nicht weiterführen konnte, so war die Kinderlosigkeit wahrscheinlich unfreiwillig und kann nicht als Beispiel für die Empfängnisverhütung dienen, die die Juden laut Karády zu diesem Zeitpunkt zu praktizieren begannen. Gemäß jüdischer Tradition hatte eine Tochter das Elternhaus zu verlassen und zu Familie und Wohnort des Mannes zu ziehen. Eleonora Philip blieb jedoch in Karlskrona, und stattdessen zog ihr zukünftiger Mann, Jerachmiel Moses Ruben aus Hamburg, in die Hafenstadt. Grund dafür war vermutlich die Tatsache, dass es keinen männlichen Erben gab; man verfolgte das Ziel, dass das Unternehmen, das Fabian Philip in Karlskrona aufgebaut hatte, auch weiterhin bestehen konnte. Die Niederlassungsbestimmungen waren zu diesem Zeitpunkt verschärft worden, so dass Fabian Philip in seinem Antrag auf eine Niederlassungserlaubnis für seinen Schwiegersohn andeuten musste, große wirtschaftliche Werte würden aus dem
Valentin, Judarnas historia, S. 425.
44
Harry R. Svensson
Land verschwinden, wenn dieser die Erlaubnis nicht erhielte. Das Gesuch wurde 1811 genehmigt.Vermutlich waren Jerachmiel Moses Ruben und Rosa Philip schon über seinen Vater, Jacob Fürst ben Ruben, miteinander verwandt. Die Ehe kann daher so gedeutet werden, dass sie darauf abzielte, die verwandtschaftlichen Bande mit Hamburg aufrechtzuerhalten und zu stärken. Das Paar bekam sieben Kinder, fünf Söhne und zwei Töchter. Diese große Kinderschar lässt ebenfalls kaum Empfängnisverhütung vermuten, die nach Karády Westeuropas Juden in der Frühmoderne praktizierten. Die Ehen der beiden Töchter hielten die Bande zur Verwandtschaft in Hamburg ebenfalls aufrecht. Emma Ruben heiratete Levy Daus aus Hamburg, und Adele Fredrika Ruben wurde mit Hermann Martin Magnus, ebenfalls aus Hamburg, verheiratet. Die Brüder Leopold und Ludvig Ruben heirateten zwei Schwestern Jenny und Gurli Lublin aus Stockholm, geboren 1841 beziehungsweise 1839. Möglicherweise waren die Familien Ruben und Lublin in Hamburg bereits im achtzehnten Jahrhundert durch Ehen miteinander verbunden. Die Familie Lublin eröffnete der Familie Ruben einen Zugang zu Stockholm, der Hauptstadt und Schwedens jüdischem Zentrum.⁷⁴ Ihr Stammvater war Kantor, Kassenwart und Schächter der Stockholmer Gemeinde gewesen. Der Vater der Töchter, die in die Familie Ruben einheirateten, war Buchdrucker und Verleger in der Stadt.⁷⁵ Moritz Ruben heiratete Rebecca Symons aus London. Der Familienchronik zufolge war die Heirat ein Ergebnis der Tatsache, dass Moritz seine Ausbildung in London erhalten und also seine Zukünftige dort getroffen hatte. Ob die Verwandtschaft mit der jüdischen Bankiersfamilie schon früher bestanden hatte, bleibt unklar. Die Ehe schuf verwandtschaftliche Bande zum wirtschaftlichen Zentrum der Welt und Kontakte zum britisch-jüdischen Finanzsektor. Die Ehe des Bruders Isaac Otto Ruben wiederum knüpfte eine Verbindung zum schwedischen Adel; seine Frau war Freiherrin und Mitglied des Geschlechts derer von Rosen. Wegen des Mischeheverbotes fand die Heirat im Ausland statt. Moritz und Rebecka Ruben bekamen in den 40er-Jahren des neunzehnten Jahrhunderts fünf Kinder. Adeline Ruben, geboren 1842, heiratete 1857 als 15Jährige Josef Lublin aus Stockholm, Bruder von Jenny und Gurli Lublin, und somit Schwager des Elternpaares. Philip Ruben, geboren 1843, starb nach nur zwei Monaten. Ludwig Moritz Ruben, geboren 1844, heiratete 1876 Philippine Amanda Meyerson aus Göteborg. Anton Nathanael Ruben, geboren 1846, heiratete 1881 Elise Wolf aus Hamburg. Der jüngste Sohn, Alfred Julius, geboren 1848, starb 1893 als Junggeselle. Die Heirat der Tochter Adeline mit Schwager Lublin stärkte die
Familjen Rubens arkiv. Släktkrönikan: Emma Ruben; Adele Fredrika Ruben. Ehnwall, Annika: Det hinner bli krångligt på 200 år.Museibladet 4 (2015). S. 14 f.
Schwedische Port Jews aus Deutschland. Die Familie Philip-Ruben in Karlskrona
45
Bande mit der Familie Lublin und der Hauptstadt noch mehr; Anton Nathanaels Ehe mit Elise Wolf hielt die Verbindung zu Hamburg aufrecht und durch die Ehe mit einem Mitglied der Familie Meyerson nahm man engen Kontakt auch mit Göteborg auf, dem zweitgrößten jüdischen Zentrums Schwedens. Anton Nathanael Ruben war zwar nicht der älteste der Söhne, aber er übernahm Afvelsgärde als Eigentümer nach dem Tod der Mutter in den 1890er-Jahren. Zusammen mit Elise Ruben führte er das jüdische Erbe in Karlskrona weiter. In den zwanzig Jahren zwischen 1882 und 1902 bekamen sie sechs Söhne, Arvid, Otto, Edvard, Reinhold, Lennart und Gerhard Ruben. Von diesen blieben Arvid und Edvard in Karlskrona. Arvid blieb Junggeselle, während Edvard Märit Norrman heiratete. Die übrigen vier Brüder verließen Karlskrona. Reinhold heiratete Sofia Ringenson 1928, Gerhard 1930 die US-Amerikanerin Olive Jackson und Otto 1935 Cissie Forsell. In dieser Generation gingen also die Eheallianzen zu Ende; außerdem brach man völlig mit der jüdischen Kontinuität, da keiner der Söhne eine Jüdin heiratete. Nach allem zu urteilen dienten die Ehen dazu, die Familienbande der Familie Philip-Ruben mit den verschiedenen Zweigen der Verwandtschaft zu stärken. Besonders wichtig waren allem Anschein nach die Beziehungen zur Verwandtschaft in Hamburg und Stockholm. Die Verbindungen mit Hamburg versahen die Familie mit wertvollen Impulsen aus dem wirtschaftlich höher entwickelten Deutschland, während man gleichzeitig über mehrere Verwandtschaftsgrade hinaus Kontakte mit Stockholm knüpfte. Frühere Arbeiten haben gezeigt, dass solche Ehe-Allianzen eine Möglichkeit waren, die Kontrolle über die finanzielle Situation zu behalten und weitere Mittel zu erhalten. Durch das Erbe, das Fabian Philip hinterlassen hatte, waren die Enkel nicht länger dazu gezwungen, Kapital durch Eheschließungen zu beschaffen, sondern die Gebrüder Ruben waren gute Partien auf dem Heiratsmarkt, wie die Ehe Otto Rubens mit der Freiherrin von Rosen beweist. Im Gleichschritt mit Schwedens Industrialisierung und der Modernisierung seiner Wirtschaft wurde die wirtschaftliche Bedeutung von Ehe-Allianzen immer geringer, und diese Entwicklung setzte sich nach der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert fort. Veränderte Traditionen bei der Eheschließung, Säkularisierung und völlig veränderte wirtschaftliche Aussichten für die Familie trugen vermutlich dazu bei, dass die Angehörigen der Familie Ruben nicht länger Juden oder Verwandte heirateten. (Übersetzung aus dem Schwedischen: Helmut Müssener)
Carl Henrik Carlsson
Jacob Ettlinger – kein typisch deutscher Jude in Schweden
Im September 1915 kam der deutsche Jude Jacob Ettlinger nach Schweden in der Absicht, von dort nach den USA weiterzureisen. Durch die Kriegsereignisse wurde er aber gezwungen, in Stockholm zu bleiben, wo er bis zu seinem Tode leben sollte. Er ist für die schwedisch-jüdische Geschichte in vieler Hinsicht von Interesse und wäre eine gründliche Monografie wert. Für diese gäbe es gute Voraussetzungen, da vor allem ein geordnetes Privatarchiv vorhanden ist. Es enthält viel interessantes Material über Ettlingers Privatleben und seine geschäftliche Tätigkeit sowie über das jüdisch-religiöse Leben in Stockholm, die Debatte zum Koscher-Verbot in Schweden, über seine Unterstützung deutsch-jüdischer Flüchtlinge während des Zweiten Weltkriegs, seine internationalen jüdischen Kontakte und anderes mehr.¹ Dieser Aufsatz könnte ein Ausgangspunkt für eine solche Monografie sein. Sie geht von einem populärwissenschaftlichen Aufsatz über vier jüdische Männer, darunter Ettlinger, aus, die unterschiedlicher Herkunft waren und unterschiedliche Biografien hatten. Sie alle waren kurz vor oder am Anfang des Ersten Weltkriegs aus verschiedenen Gründen nach Schweden gekommen und dort geblieben.²
Schwedisch-jüdischer Kontext Ehe Jacob Ettlinger vorgestellt wird, soll der schwedisch-jüdische Kontext genauer umrissen werden: jüdische Einwanderung und Integration, Emigrations- und religiöser Reformprozess, schwedische Einwanderungspolitik und die Staatsangehörigkeitsfrage.
Archiv Jacob Ettlingers 1916 – 1952, Riksarkivet Marieberg. Carlsson, Carl Henrik: Judiska invandrare i Sverige under första världskriget. Fyra fallstudier. In: Första världskriget i svenska arkiv. Årsbok för Riksarkivet och Landsarkiven. Hrsg. von Carl Henrik Carlsson. Stockholm 2014. S. 152– 177. Der Aufsatz wurde 2014 im Jahrbuch des Reichsarchivs veröffentlicht, das den Ersten Weltkrieg in schwedischen Archiven zum Thema hatte. Er geht vor allem auf die Zeit vor und während des Krieges ein und hebt einen Teil des reichhaltigen Quellenmaterials hervor, das sich im Riksarkivet über diese vier Männer befindet. https://doi.org/9783110532289-003
48
Carl Henrik Carlsson
Im Vergleich zu den meisten anderen Staaten in Europa war die Zahl der Juden in Schweden sowohl relativ als auch absolut immer gering. Jacob Ettlinger wanderte in der Endphase einer Periode ein, in der die jüdische Einwanderung nach schwedischen Maßstäben groß war. Die Zahl der Juden hatte sich zwischen 1860 und 1920 versechsfacht.³ Mitte des 18. Jahrhunderts lebten ungefähr 1.000 Juden in Schweden, von denen die meisten aus Deutschland stammten. In diesem Zeitraum fand der sogenannte Emanzipationsprozess statt, in dem Angehörige des mosaischen Glaubens zunehmend die gleichen Rechte erhielten wie die christliche Mehrheit der Bevölkerung. Eine Verfassungsänderung im Jahre 1870, die zu ihrer Zeit und auch in den Augen der Nachwelt sehr beachtet wurde, wird allgemein als Endpunkt dieses Prozesses angesehen. Parallel zu diesem Emanzipationsprozess verlief innerhalb der mosaischen Gemeinden auch ein religiöser Reformprozess – weg von einem eher traditionellen Judentum, das oft orthodox genannt wurde, hin zu einem mehr liberalen, wobei unter anderem der Gottesdienst mit Elementen aus christlichen Kirchen reformiert wurde. Beide Prozesse waren eine Folge des stetigen Integrationsprozesses der Juden in die schwedische Gesellschaft und beschleunigten ihn zudem. Sie waren gleichzeitig Teil eines nationalen Homogenisierungsprozesses, in dessen Verlauf der Nationalismus das Christentum als eine Art Überideologie ersetzte.⁴ Zum gleichen Zeitpunkt begann eine nicht unbedeutende Einwanderung aus dem russischen Zarenreich. Die Zahl der Juden in Schweden nahm kräftig zu; sie betrug 1914 bei Kriegsausbruch über 6.000. Die etablierte schwedische Judenheit, deren führende Persönlichkeiten oft einer schwedisch-nationalen Elite angehörten, stand den nun Eingewanderten, die fast immer einer anderen sozioökomischen Klasse angehörten als die einheimischen und die im allgemeinen Orthodoxe waren oder zumindest dafür gehalten wurden, zumindest ambivalent gegenüber.⁵
Zu einer Übersicht über die jüdische Einwanderung nach Schweden, siehe Carlsson, Carl Henrik: Judisk invandring från Aaron Isaac till idag. In: Judarna i Sverige – en minoritets historia. Fyra föreläsningar. Hrsg. von Helmut Müssener. Uppsala 2011. S. 17– 54. Siehe hierzu z. B. Valentin, Hugo: Judarnas historia i Sverige. Stockholm 1924. Kap. 15 – 17; Valentin, Hugo: Judarna i Sverige. Stockholm 2013 [1964], Kap. 10 – 14; Hammarlund, Anders: En bön för moderniteten: kultur och politik i Abraham Baers värld. Stockholm 2013. Siehe Carlsson, Carl Henrik: Medborgarskap och diskriminering: östjudar och andra invandrare i Sverige 1860 – 1920. Uppsala 2004. Kap. 12.
Jacob Ettlinger – kein typisch deutscher Jude in Schweden
49
Schwedische Einwanderungs- und Ausländerpolitik Als Jacob Ettlinger nach Schweden kam, war die Einwanderung noch völlig frei. 1860 war der Passzwang aufgehoben worden, und genauso wie in den meisten westeuropäischen Ländern konnte noch lange Jahre danach einwandern, wer wollte. Man konnte nach Schweden einreisen, arbeiten und eine Wohnung beziehen. Man benötigte keinen Pass, kein Visum, keine Arbeitsgenehmigung, keine Aufenthaltsgenehmigung. Ab 1906 mussten sich zwar Personen, die aus Russland kamen, bei den Behörden anmelden, aber erst ab 1914 ermöglichte es ein Ausweisungsgesetz, das 1915 in Kraft trat, Personen schon direkt an der Grenze abzuweisen. Das Gesetz war keineswegs eine Folge des Kriegsausbruchs, sondern wurde als politischer Kompromiss nach einer langjährigen Diskussion angenommen und kann als relativ liberal bezeichnet werden. Schwedische Handelsorganisationen hatten darauf hingewirkt, dass russischen und polnischen Juden generell die Einreise verwehrt wurde, da man sie mit dem Hausierhandel in Verbindung brachte, der aus Konkurrenzgründen schlecht angesehen war. Im endgültigen Gesetzestext wurde indessen nur eine ethnische Kategorie direkt benannt, nämlich Roma – oder wie sie damals genannt wurden: Zigeuner. Ausländische Roma konnten an der Grenze direkt abgewiesen werden wie auch mehrere andere genauer bezeichnete Kategorien, die als unerwünscht galten.⁶ Der Kriegsausbruch und eine verstärkte Furcht vor Spionen begründeten auch eine stärkere Kontrolle der Ausländer, die sich bereits im Land befanden. Drei geheimen Ausländerzählungen in den Jahren 1914, 1916 und 1917 folgte eine eher offene, die am 1. Dezember 1918 verkündet wurde. Nun wurden zum ersten Mal alle Ausländer erfasst. Man musste entweder Pass und Visum haben oder ein sogenanntes „Uppehållsbok“, ein „Aufenthaltsbuch“, das als „U-Buch“ abgekürzt wurde. Von den circa 14.500 Ausländern, die ein solches „U-Buch“ beantragten, waren über ein Drittel in Schweden geboren. Nur wenige Anträge wurden abschlägig beschieden.
Für eine Beschreibung und Analyse der schwedischen Einwanderungspolitik, siehe Hammar, Tomas: Sverige åt svenskarna: invandringspolitik, utlänningskontroll och asylrätt 1900 – 1932. Stockholm 1964; Carlsson, Medborgarskap och diskriminering, Kap. 5; Carlsson, Carl Henrik: Att få bli en riktig svensk. Invandringspolitik, utlänningskontroll och medborgarskap kring tiden för första världskriget. In: Historielärarnas förenings årsskrift. Hrsg. von Bengt Nilson. Stockholm 2014. S. 109 – 128.
50
Carl Henrik Carlsson
Die Frage der Staatsangehörigkeit Dass Jacob Ettlinger zusammen mit seiner Familie die schwedische Staatsangehörigkeit schnell erhielt, war ein wichtiger Grund für seine erfolgreiche Integration in Schweden: Sein Antrag wurde von der schwedischen Regierung bereits im Juni 1919, kaum vier Jahre nach seiner Ankunft in Schweden, bewilligt.⁷ Die Mindestzeit für eine solche Genehmigung, die das Gesetz vorsah, betrug zu diesem Zeitpunkt drei Jahre, übrige Mindestanforderungen waren ein Alter von 21 Jahren, ein guter Leumund sowie die Fähigkeit, seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Diese Mindestanforderungen waren relativ liberal, aber selbst wenn man alle Anforderungen erfüllte, war die Einbürgerung keineswegs garantiert. Die Regierung konnte mehr oder weniger willkürlich jeden Antrag ablehnen, ohne ihre Entscheidung näher begründen zu müssen. Eine Arbeit hat auch gezeigt, dass eine Kategorie von Antragstellern sehr diskriminiert wurde, nämlich die sogenannten Ostjuden; ihre Anträge wurden mehrmals abgelehnt, obwohl nichts Belastendes gegen den Antragsteller vorlag. War man russischer oder polnischer Jude, war man „guilty by association“ und gleich dreifach benachteiligt: Als Jude durch den damaligen Antisemitismus, als Russe, denn die Furcht vor den Russen war damals sehr verbreitet, und drittens wurde man mit dem Hausierhandel in Verbindung gebracht.⁸ Jacob Ettlinger und andere „Westjuden“ waren von diesem selektiven Antisemitismus jedoch nicht betroffen. Der antisemitische Diskurs war nicht stark genug, um in konkreter Diskriminierung in Fragen der Staatsangehörigkeit bei „Westjuden“ zum Vorschein zu kommen. Als „Westjude“ litt Ettlinger auch nicht unter der Praxis, die ab April 1919 eingeführt wurde und die einem „Ostjuden“ de facto einen Aufenthalt von fünf Jahren abverlangte, ehe er eingebürgert werden konnte, obwohl das Gesetz nur drei Jahre vorsah.⁹ Die Beweggründe, schwedischer Staatsbürger zu werden, waren für einen Ausländer, der nach Schweden eingewandert war, groß und wurden nach Ausbruch des Krieges noch größer, nicht zuletzt auch auf Grund der oben erwähnten verschärften Einwanderungs- und Ausländergesetzgebung und der Furcht vor Spionage. Dies galt vor allem, wenn man den Untergang des Zarenreiches, die russische Revolution und die neuen Staatsbildungen nach dem Krieg mitbedenkt,
Justitiedepartementets arkiv, huvudarkivet, statsrådsprotokoll 1919 – 06 – 13, § 38, und konseljakter 1919 – 06 – 13, nr 38, Riksarkivet Marieberg. Carlsson, Medborgarskap och diskriminering. Carlsson, Medborgarskap och diskriminering, S. 295.
Jacob Ettlinger – kein typisch deutscher Jude in Schweden
51
für Juden, die einst russische Untertanen gewesen waren. Während dieser Jahre beantragten auch in der Tat sehr viele Ostjuden die Einbürgerung.¹⁰ Der wichtigste Beweggrund war wohl das Gefühl der Sicherheit. Ein Ausländer, der in Schweden lebte, ging das Risiko ein, ausgewiesen zu werden, während ein schwedischer Bürger vorbehaltlos das Recht hatte, in Schweden zu leben, nicht ausgewiesen und an der Grenze nicht abgewiesen werden konnte. Ein schwedischer Bürger konnte auch im Ausland auf Hilfe zählen: Der schwedische Staat hatte das Recht und die Pflicht, mit diplomatischen Mitteln seine Bürger zu schützen und ihre Rechte im Ausland zu vertreten. Es gab auch andere Beweggründe. Die schwedische Staatsangehörigkeit war nötig, um am sozialen Schutznetz und an den demokratischen Rechten teilzuhaben. Sie war auch Vorbedingung für die Mitgliedschaft in den größten mosaischen Gemeinden Schwedens. Jacob Ettlinger konnte also erst dann Mitglied der Stockholmer Gemeinde werden, wenn er schwedischer Bürger geworden war. Ein wichtiger Beweggrund für viele eingewanderte Geschäftsleute einschließlich Ettlinger war natürlich auch, dass nur schwedische Bürger eine mehr oder weniger vollständige Gewerbefreiheit hatten. Viele waren anfänglich gezwungen, ihre Tätigkeit mit Hilfe von Stellvertretern zu betreiben. Dies grenzte an das Verbot, mittels Strohmännern tätig zu sein, und konnte die Anklage zur Folge haben, einer ungesetzlichen Erwerbstätigkeit nachzugehen, was sich nachteilig auswirken konnte, wenn der Betreffende die schwedische Staatsangehörigkeit beantragte, um seine Geschäftstätigkeit zu legalisieren, eine ausweglose Lage also.¹¹
Jacob Ettlingers Hintergrund und Geschäftstätigkeit Jacob Ettlinger wurde am 5. Dezember 1880 in Mannheim als eines von acht Kindern des Kaufmanns Mayer Ettlinger und seiner Frau Mathilde, geborene Michael, geboren. Als Jacob acht Jahre war, zog die Familie nach Frankfurt am Main, wo er die Realschule besuchte und als Vierzehnjähriger eine Ausbildung als Kaufmann begann. Nach fünf Jahren als Lehrling in einer Bank wurde er als Gehilfe in dem großen Erz- und Metallhandelsunternehmen Beer, Sondermann & Co angestellt, das 1870 gegründet worden war; einer der Teilhaber war mit der Familie Ettlinger verwandt. Das Unternehmen sollte auch im Ausland eine Reihe
Carlsson, Medborgarskap och diskriminering, S. 123, 345. Für eine nähere Untersuchung und Analyse der Beweggründe, schwedischer Staatsbürger zu werden, siehe Carlsson, Medborgarskap och diskriminering, S. 111– 124.
52
Carl Henrik Carlsson
Jacob Ettlingers deutscher Reisepass, ausgestellt am 29. Januar 1919 vom Deutschen Generalkonsulat Stockholm.
Jacob Ettlinger – kein typisch deutscher Jude in Schweden
53
von Niederlassungen bekommen, die alle von Juden in einer Art Verwandtschaftsund Freundschaftsnetzwerk betrieben wurden.¹² Jacob wurde 1906 in die Niederlassung der Firma in Köln versetzt, wo er fünf Jahre im Büro arbeitete. 1911 wurde er Generalvertreter der Firma in London und war von 1912 bis 1914 Direktor der Filiale in Philadelphia/USA. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er nach Italien entsandt, wo er ein Jahr lang blieb. Er kam im Mai 1915 zurück und wurde im gleichen Jahr nach Schweden geschickt, von wo aus er nach den USA weiterreisen sollte, um dort Generalvertreter zu werden. Die Kriegsereignisse machten jedoch eine Reise in die USA unmöglich, und er wurde stattdessen Generalvertreter des Unternehmens in Schweden, wo er bis an sein Lebensende blieb. Im April 1917 heiratete er in Kopenhagen Jeanette Philip, Angehörige einer alteingesessenen dänisch-jüdischen Familie, und im gleichen Jahr gründete er das Unternehmen AB Metall & Bergprodukter, eine Aktiengesellschaft, die die Firma Beer, Sandheimer & Co vertrat, die auch nahezu alle Aktien besaß. Ettlinger setzte nun seine bisherige Tätigkeit fort: Er kaufte Metalle und Erze, um sie nach Deutschland weiter zu liefern. Unter anderem importierte er aus Südafrika und dem heutigen Namibia Wolfram, das für die Glühbirnenherstellung benötigt wurde. Das Frankfurter Unternehmen gründete eine eigene Aktiengesellschaft in Schweden, nachdem es seine Geschäftsverbindungen mit Schweden nach Kriegsausbruch vertieft hatte und diese nun auch Chemikalien und anderes mehr umfasste. Da Ettlinger zu dem Zeitpunkt noch Ausländer war – er wurde erst 1919 schwedischer Staatsbürger –, zeichneten drei Schweden als Gründer und Vorstandsmitglieder. Ettlinger erhielt jedoch die Vollmacht, die Geschäfte selbstständig zu betreiben, und nachdem er im Oktober 1918 die Genehmigung der Regierung erhalten hatte, Vorstandsmitglied zu werden, obwohl er noch Ausländer war, wurde er auch formal Geschäftsführender Direktor. 1932 meldete Beer, Sondheimer & Co Konkurs an, wonach sich Jacob Ettlinger mit Unterstützung seiner Frau dazu entschloss, „AB Metall & Bergsprodukter“ als selbstständiges Unternehmen weiterzuführen. Sein Unternehmungsgeist und sein umfassendes Netzwerk sollten ihn zu einem erfolgreichen und vermögenden Unternehmer machen.
Die Angaben zu Ettlingers Biografie siehe Ettlinger, Kaj: Introduktion till Jacob Ettlingers arkiv. Opublicerat manuskript, daterat oktober 1997; fernerhin: konseljakter 1919 – 06 – 13, nr 38.
54
Carl Henrik Carlsson
„Nordjuden“ und „Südjuden“ Das Haus der Familie Ettlinger ist als eines der aktivsten jüdischen in Stockholm beschrieben worden. Herkömmlicherweise pflegte man die Juden in Stockholm zu diesem Zeitpunkt in „Nordjuden“ und „Südjuden“ zu unterteilen. Ein idealtypischer „Nordjude“ war vergleichsweise wohlhabend, wohnte seit mehreren Generationen in den vornehmen Stadtteilen Norrmalm oder Östermalm oder war gerade aus Deutschland zugezogen, war reformiert, was seine Religion betraf, und fast völlig in die schwedische Gesellschaft integriert, um nicht zu sagen, assimiliert.¹³ Die „Südjuden“ waren dagegen ebenso klischeehaft sogenannte „Ostjuden“, die aus dem russischen Zarenreich eingewandert waren und in Södermalm, dem Stadtteil der kleinen Leute lebten, wo beispielsweise 1913 durch eine Schenkung Sophie Heckschers das sogenannte „Judenhaus“ erbaut worden war.¹⁴ Die „Ostjuden“ waren, wenn auch nicht immer arm, so doch zumindest schlecht bezahlte Kleingewerbetreibende und Arbeiter, sowie in der Regel religiös orthodox. Die religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Unterschiede zwischen einem „Nordjuden“ und einem „Südjuden“ waren also sehr groß. Jacob Ettlinger beweist indes, dass solche Klischees nicht immer stimmten, Er war in vielerlei Hinsicht ein typischer „Nordjude“: Geboren in Deutschland, ansässig auf Östermalm und wohlhabend. Aber in religiöser Hinsicht war er traditionsgebunden und ähnelte einem „Südjuden“. Sein Großvater und in noch höherem Maße dessen Bruder, der ebenfalls Jacob hieß, waren führende Persönlichkeiten der jüdischen sogenannten Neo-Orthodoxie in Deutschland, die die deutsch-jüdische liberale Reformbewegung des 19. Jahrhunderts in Deutschland bekämpfte; diese hatte sich auch in Schweden durchgesetzt, und das Judentum hatte sich dem Christentum hinsichtlich Gottesdienstbräuchen und anderem angenähert.¹⁵ Die Familie Ettlinger behielt dagegen ihr traditionelles Judentum auch nach der Einwanderung nach Schweden bei. Jacob wurde für viele Jahre Vorsitzender der Gemeinde „Adat Israel“, der orthodoxen Gemeinde in der Sankt-Paulstraße in Södermalm, die vor allem von „Südjuden“ besucht wurde. Angeblich spazierte er
Ich selbst bin der Ansicht, der Begriff „assimilierter Jude“ sollte zu diesem Zeitpunkt denjenigen vorbehalten bleiben, die zum Christentum konvertiert und somit völlig mit der Mehrheit der Bevölkerung verschmolzen waren. Siehe Carlsson, Medborgarskap och diskriminering, S. 71 f. Sophie Heckscher, geborene Rubenson (1841– 1918) war Ehefrau des jüdisch-dänischschwedischen Bankiers Edvard Heckscher (1831– 1910), die nahezu ihr gesamtes Vermögen wohltätigen Zwecken sowie der neu errichteten Hochschule in Stockholm stifteten. Zum älteren Jacob Ettlinger (1798 – 1871), siehe beispielsweise Bleich, Judith: Jacob Ettlinger. His Life and Works. The Emergence of Modern Orthodoxy in Germany. Phil. Diss. New York 1974.
Jacob Ettlinger – kein typisch deutscher Jude in Schweden
55
jeden Tag von seinem Haus aus dorthin. Er widmete den „Südjuden“ viel Zeit, um ihnen bei der Ausübung ihrer Religion zu helfen, nicht zuletzt, wenn es darum ging, Rabbiner und Kantoren zu rekrutieren und koscheres Fleisch zu beschaffen; 1937 wurde das Schächten von Tieren in Schweden verboten, und das Fleisch musste danach importiert werden. Ettlinger lud ferner an jüdischen Feiertagen und am Schabbat nach dem Besuch der Synagoge Gäste in sein Haus ein. Dies galt auch für Personen, die zufällig in Stockholm waren, und so allmählich auch für jüdische Flüchtlinge, die so ein gewohntes jüdisches Milieu erleben konnten. Man hat berechnet, dass dadurch im Lauf der Jahre mehrere tausend Juden zur Familie Ettlinger eingeladen wurden.
Ettlinger und die mosaische Gemeinde in Stockholm Die mosaische, heute Jüdische Gemeinde in Stockholm war und ist immer noch eine Einheitsgemeinde, die verschiedene Ausrichtungen des Judentums in sich vereint. Als Ettlinger nach Stockholm kam, war die Führung der Gemeinde ausgesprochen reformiert und liberal. Obwohl Ettlingers religiöse Auffassung nicht die der Gemeindeführung war, vertraute ihm diese bald. Als sich die Gemeindevorsteher im Mai 1919 zu seinem Antrag auf die schwedische Staatsangehörigkeit äußern sollten, befürworteten sie diesen.¹⁶ Die Stellungnahme der Gemeinde war zu diesem Zeitpunkt besonders wichtig, wenn Juden, die in Stockholm wohnten oder gewohnt hatten, die Einbürgerung beantragten, und es hat sich gezeigt, dass sie de facto ein Vetorecht hatte. Wenn die Gemeinde dem Antrag nicht zustimmte, war es ungewöhnlich, dass ihm stattgegeben wurde. Andererseits war es nicht selbstverständlich, dass eine Zustimmung letztlich ausschlaggebend war. Die Formulierungen ließen verschiedene Grade der Zustimmungen erkennen, unter denen „befürworten“ die stärkste, aber auch eine selten benutzte war. Sie lässt erkennen, wie groß das Vertrauen der Gemeinde in Ettlinger war.¹⁷ Er wurde allmählich auch Mitglied des Vorstandes. Durch seinen Unternehmungsgeist, seine wirtschaftliche Stärke und sein Netzwerk konnte Ettlinger Verwandtschaft, Freunden und Bekannten auf unterschiedliche Weise helfen. Begreiflicherweise wurde die Situation nicht zuletzt für die deutsche Verwandtschaft nach der Machtergreifung Hitlers beschwerlich. Die Stellungnahme wurde am 23. Mai 1919 vom Vorstandsvorsitzenden Oscar Hirsch unterzeichnet, der nicht nur einer schwedisch-jüdischen, sondern auch einer schwedisch-nationalen Elite angehörte. Konseljakt 1919 – 06 – 13, nr 38. Über die Bedeutung der Gemeinde und ihrer Stellungnahme bei der Einbürgerung, siehe Carlsson, Medborgarskap och diskriminering, S. 267– 274.
56
Carl Henrik Carlsson
Jacob hatte schon lange seinen Eltern finanziell unter die Arme gegriffen und ihnen unter anderem ein Haus in Frankfurt am Main gekauft. Nun gelang es ihm, mehrere seiner Angehörigen vor dem Holocaust nach Schweden zu retten, unter ihnen seine Mutter und eine Schwester, die 1939 nach Schweden kamen. Ettlinger bekleidete auch mehrere Ämter in der Flüchtlingshilfe der Gemeinde. In seinem Privatarchiv findet sich eine Menge Material über seine Tätigkeit in dieser schweren Periode. Jacob Ettlinger starb 1952, seine Frau Jeanette 1956. Ihre drei Kinder waren im jüdischen Leben Stockholms aktiv und setzten sich – wie ihre Eltern – auf verschiedene Weise nach Kriegsende für die jüdischen Überlebenden ein. Josef, ihr Sohn, führte das Unternehmen seines Vaters ebenso weiter wie sein Amt als Vorsteher von „Adat Jisrael“ und als Mitglied der Gemeindevertretung. Die Tochter Ruth wurde Psychiaterin und Oberärztin am Krankenhaus Rålambshov, und die Tochter Camilla Anthropologin. Sie war mit Direktor Fritz Hollander verheiratet, seinerzeit eine der führenden Persönlichkeiten des jüdischen Stockholms. (Übersetzung aus dem Schwedischen: Helmut Müssener)
Lars Dencik
Exil: Verzweiflung und Kreativität Welch schönes Jenseits ist in deinen Staub gemalt. Durch den Flammenkern der Erde, durch ihre steinerne Schale wurdest du gereicht, Abschiedswebe in der Vergänglichkeiten Maß. Schmetterling aller Wesen gute Nacht! Die Gewichte von Leben und Tod senken sich mit deinen Flügeln auf die Rose nieder die mit dem heimwärts reifenden Licht welkt. Welch schönes Jenseits ist in deinen Staub gemalt. Welch Königszeichen im Geheimnis der Luft.¹
Schmetterlinge Die Vorstellung vom Schmetterling lässt sich leicht auch auf Nelly Sachs, deren Schicksal in diesem Band mehrfach erörtert wird, übertragen.² Nicht nur wegen ihrer eigenen schmetterlingshaften Erscheinung und wegen ihrer feinfühligen und zerbrechlichen Poesie, sondern auch in Bezug auf ihr eigenes Schicksal als deutsch-jüdischer Flüchtling und als Shoah-Überlebende in Schweden.³
Sachs, Nelly: Fahrt ins Staublose. Frankfurt a. M 1961. S. 148. Fioretos, Aris: Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm. Berlin 2010; Pedersen, Daniel: Tårarnas poetik: Nelly Sachs författarskap fram till och med „In den Wohnungen des Todes“. Stockholm 2016. Bisweilen wird der Begriff „Shoah-Überlebender“ sehr eng in dem Sinn gefasst, dass er nur auf Überlebende aus den von Nazideutschland betriebenen Konzentrationslagern und Todesfabriken angewendet wird. In diesem Beitrag hat er eine viel breitere Bedeutung und bezieht sich auf all jene Menschen, die persönlich betroffen waren von den Rassengesetzen der Nazis oder in anderer Weise von ihnen – auf Grund ihrer jüdischen Abstammung – verfolgt wurden, letztendlich aber ihrer Ermordung entkommen konnten. In seiner grundlegenden Arbeit über die deutschsprachige jüdische Emigration nach Schweden (Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München 1974) verwendet Helmut Müssener den Begriff „von der NS-Rassengesetzgebung betroffen“, um Menschen wie jene zu beschreiben, von denen ich in diesem Beitrag erhttps://doi.org/9783110532289-004
58
Lars Dencik
Durch die Unterstützung der schwedischen Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Selma Lagerlöf bekam Nelly Sachs im Mai 1940, damals 49 Jahre alt, eine letzte Chance, zusammen mit ihrer Mutter aus Berlin fliehen und nach Schweden einreisen zu können. Sie bezog eine kleine Ein-Raum-Wohnung in Stockholm, wo sie – um ihre Mutter nicht zu stören – des Nachts ihre Gedichte schrieb. 1966 wurde sie schließlich mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Doch abgesehen von einigen Kurzbesuchen, während derer sie ebenfalls Literaturpreise⁴ in Empfang nahm, kehrte sie nie mehr nach Deutschland zurück. Das Leben eines Schmetterlings ist das Leben von Verwandlungen. Dabei durchläuft der Körper des Schmetterlings mindestens vier verschiedene Existenzstadien: Er wird geboren als ein Ei, beginnt sein Leben als eine kriechende Larve, verwandelt sich zwischendurch in eine harte Puppe, und schließlich, wenn es ihm gelingt, alle vorherigen Lebensphasen durchlaufen zu haben, erscheint er als ein vollausgebildeter Schmetterling – fragil, sehr verletzbar, aber ständig unterwegs, und dabei die umliegende Landschaft verschönernd. Nicht nur Nelly Sachs kann als Schmetterling beschrieben werden. Das Bild lässt sich auch generell auf die jüdischen Shoah-Überlebenden in Europa übertragen – vorausgesetzt, wir ziehen diese große Verletzlichkeit, die Schmetterlingen eigen ist, mit in Betracht. Manche von diesen zerbrechlichen Geschöpfen mögen aus ihrer harten Puppe herauswachsen und außergewöhnlich für die Kultur und die Gesellschaft kreativ werden, in denen sie ihren Sommer verbringen. Andere aber werden ihren Weg in einen blühenden Garten nicht finden und am Ende von Einsamkeit und Verzweiflung besiegt. Für manche mögen die erzwungene Migration, das Exil und die entstehende Einsamkeit aber auch dazu führen, dass sie sich in einer besonders kreativ aufgeladenen Stille wiederfinden.⁵ In einem Vortrag zum Thema Die Verwandlung während des Fliegens – Nelly Sachs in Schweden bemerkte der schwedische Literaturwissenschaftler Daniel Pedersen: „Bis zum Beginn des Exils ist überhaupt nicht zu erkennen, dass Nelly Sachs zu einer ausdrucksstarken Schlüsselfigur für die Leiden des jüdischen Volkes werden würde. Unabhängig von dem Umstand, dass sie vor der Exil-Zeit
zähle. Wie auch immer, Müssener beschränkt sich in seiner Arbeit auf diejenigen, die als Erwachsene nach Schweden kamen, während ich Kinder und Jugendliche miteinbeziehe. Nelly Sachs erhielt den Meersburger Droste-Preis (1960) und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in Frankfurt a. M. (1965). Die Vorstellung von der „kreativ-schwangeren Einsamkeit“ beschreibt der Soziologe Zygmunt Bauman in seinem letzten veröffentlichten Buch, Retrotopia (Cambridge 2017).
Exil: Verzweiflung und Kreativität
59
noch sieben Jahre unter der Nazidiktatur gelebt hatte.“⁶ Und die schwedische Schriftstellerin Elisabeth Åsbrink schreibt: „Das Exil wurde zu jenem Prozess ihrer Umwandlung, aus dem dann die Poetin Nelly Sachs hervorgegangen ist.“⁷ Das ist die Frage, die ich in meinem Beitrag für diesen Band untersuchen möchte: In welchem Ausmaß hat die plötzliche Verwandlung in einen ShoahÜberlebenden und Flüchtling, hier insbesondere bei deutschsprachigen Juden, die in Schweden kurz vor dem Beginn oder sogar noch während des Zweiten Weltkrieges Aufnahme fanden, dazu geführt, dass sie ihr inneres Leben auf des Messers Schneide balancieren mussten? Ergaben sich für ihr weiteres Leben vielleicht nur noch zwei extrem unterschiedliche Optionen? Zum einen die Freisetzung großartiger individueller Potentiale, die unter anderen Umständen vielleicht gar nicht an die Oberfläche gekommen wären. Potentiale, die in außergewöhnliche künstlerische, wissenschaftliche oder auch unternehmerische Kreativität mündeten. Zum anderen aber eine beklemmende Dominanz von Verzweiflung und Einsamkeit, die die eigene Kreativität verkümmern lässt, einen Menschen düster beherrscht und ihn am Ende vielleicht sogar in den Selbstmord treibt. Einer der Deutschen, die während der NS-Zeit gezwungen waren, ins schwedische Exil zu gehen, notierte 1944 in einem Brief: „Eine Menge Schwung, Energie, gute Ideen und von Enthusiasmus quillt aus dem Sand des Exils hervor.“⁸ Zehn Jahre nach dem Krieg sinnierte auch Nelly Sachs über „dieses Delirium der Einsamkeit“. Es gäbe keine Verheißung der Rückkehr, sondern „nur Verlust grenzend zum Tod“.⁹ Exil kann, so gesehen, also größte Verzweiflung, aber auch ungeahnte Kreativität hervorrufen. Das ist, zugegeben, natürlich ein sehr grob vereinfachtes Schema, um die Komplexität menschlicher Schicksale zu beschreiben, die sich aus erzwungenem Exil ergeben. Ich verwende es hier gleichwohl als Hypothese und mögliche Gegenüberstellung bei der eigenen Betrachtung dessen, was es
Pedersen, Daniel: Förvandlingen i flykten – Nelly Sachs i Sverige. Stockholm universitet, 4. Mai 2016. (www.su.se). Siehe auch: Pedersen, Tårarnas poetik. Åsbrink, Elisabeth: 1947. Stockholm 2016. S. 242: „Flykten blir förvandlingen som föder poeten Nelly Sachs.“ „En mängd av handlingskraft, god vilja och entusiasm rinner bort i exilens sand.“Kurt Heinig in „Illusionen der Emigranten“ (unpubliziertes Manuskript), hier aus dem Schwedischen rückübersetzt; Grass, Martin: Den tyskspråkiga exilen i ARAB:s magasin. Arbetarrörelsens arkiv. Stockholm 2012. S. 6. Nelly Sachs in:Versteckspiel mit Emanuel (1955). In: Fioretos, Flucht und Verwandlung, S. 297– 298.
60
Lars Dencik
bedeutete, als deutschsprachiger Jude ins schwedische Exil gezwungen zu werden, im Schatten der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland.¹⁰
Mein eigener Exkurs ins Deutsche – Teil eins Ich bin ein jüdischer Schwede. Und ebenso ein schwedischer Jude. Ich bin im Mai 1941 in Schweden geboren. Der Name meiner Familie war zu dieser Zeit „Deutsch“. Meine Eltern, beide im damaligen Österreich-Ungarn geboren und später zu Tschechoslowaken geworden, waren 16 Monate vor meiner Geburt, d. h. Ende November 1939, in Schweden angekommen. In diesem Essay werde ich auch die Geschichte meiner persönlichen Reise ins Deutsche in drei Teilen erzählen. Dieser erste beschreibt die Umstände, die letztendlich zu meiner „deutschen Reise“ geführt haben. Der zweite Teil wird auf meine Kindheit und Jugend bis hin zum Abitur eingehen. Im dritten Teil dieser Reise werde ich schließlich mein Verhältnis als Erwachsener zur deutschen Sprache und Kultur beschreiben. Am Ende werde ich auch einige Schlussfolgerungen ziehen. Drei Monate, bevor meine Eltern die Überfahrt vom europäischen Festland nach Schweden schafften, war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen.¹¹ Zu diesem Zeitpunkt hatte in den bereits von den Nazis besetzten oder kontrollierten Teilen Europas nur noch eine kleine Zahl von Juden die Chance, sich in Sicherheit zu bringen. Die Weigerung selbst demokratischer und liberaler Staaten weltweit, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, war offensichtlich. Auch Schweden pflegte in diesen Tagen eine äußerst restriktive Aufnahmepolitik gegenüber jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und Zentraleuropa.¹² Wie aber „strandeten“ meine Eltern ausgerechnet in Schweden?
Die „Population“ im soziologischen Sinne des Wortes, womit ich hier operiere, setzt sich aus allen jenen Personen zusammen, die die deutsche Sprache im täglichen Leben verwendet haben und die nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland 1933 fliehen mussten, weil sie als Juden von der NS-Rassengesetzgebung betroffen waren. Sie hatten die Länder zu verlassen, in denen sie vorher zu Hause gewesen waren – sei es in Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei oder Lettland – und kamen auf dem einen oder anderen Weg bis Ende 1945 nach Schweden. Deutschland überfiel am 1. September 1939 Polen. Meine Eltern befanden sich zu diesem Zeitpunkt am Fluss San, etwas östlich von Krakau, im Süden Polens. Vgl. hierzu Kvist Geverts, Karin: A foreign element within the Nation: Swedish refugee policy and Jewish refugees in an International perspective 1938 – 1944. In: Reaching a State of Hope. Refugees, Immigrants and the Swedish Welfare State, 1930 – 2000. Hrsg. von Mikael Byström u. Pär Frohnert. Lund 2013. Siehe auch: Kvist Geverts, Karin: Ett främmande element i nationen.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
61
Am 14. März 1939 hatte die Slowakei – jener Teil der Tschechoslowakei, in dem meine Eltern lebten und wo sie bereits geheiratet hatten – ihre nationale Unabhängigkeit erklärt. An der Spitze dieses „unabhängigen“ Staates stand der Nazikollaborateur und katholische Priester Josef Tiso. Am Tage darauf besetzte Nazideutschland die tschechischen Teile der Tschechoslowakei, Böhmen und Mähren, und wandelte diese Gebiete um in das sogenannte „Deutsche Protektorat“. Mein Vater, der zu dieser Zeit zur tschechoslowakischen Armee einberufen war, wurde sofort demobilisiert. Kurz darauf organisierten meine Eltern und einige ihrer Freunde aus der Gruppe junger sozialdemokratischer Zionisten ihre Flucht aus dem Land, dessen Staatsangehörige sie, formal gesehen, immer noch waren. Am 26. Mai 1939 – mein Vater war zu diesem Zeitpunkt 28, meine Mutter 27 Jahre alt – durchquerten sie die Tatra-Berge¹³ und überschritten illegal die Grenze nach Polen, damals noch ein neutraler Staat. Als quasi illegale Ausländer kamen sie nach Krakau. Die Stadt war bereits von Tausenden anderer Flüchtlinge überfüllt, viele von ihnen Sozialisten und Gewerkschaftsfunktionäre aus dem Sudetenland, d. h. aus den deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei. Während des Sommers 1939 unternahmen meine Eltern mehrere Versuche, nach Palästina, nach Großbritannien und in andere Länder zu gelangen, die möglicherweise bereit sein könnten, sie aufzunehmen. Doch niemand war dazu bereit. Inzwischen hatten Großbritannien und Frankreich mit ihrer Zustimmung zum sogenannten Münchener Abkommen vom 30. September 1938 die Tschechoslowakei faktisch verraten – ein Umstand, der der britischen Regierung wohl selbst einiges Unbehagen bereitete. Über die britische Labour Party bat die Regierung befreundete sozialdemokratische und sozialistische Parteien, Rettungsaktionen für diejenigen vorzubereiten, die auf Grund der Bestimmungen des Münchener Abkommens die Tschechoslowakei zu verlassen hatten. In Schweden war die Anlaufstelle dafür Arbetarrörelsens Flyktinghjälp [Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung], eine Organisation, die der Schwedische Gewerkschaftsbund [LO; Landsorganisationen] zusammen mit der Sozialdemokratischen Partei bereits 1933, wenn auch unter anderem Namen, gegründet hatte. Die Regierung entschied, bis zu 100 Personen aus der Masse von Flüchtlingen nach Schweden „einzuladen“,¹⁴ die zu diesem Zeitpunkt in und um Krakau, Ka-
Svensk flyktingpolitik och de judiska flyktingarna 1938 – 1944. Uppsala 2008; Lorenz, Einhart/ Misgeld, Klaus/Müssener, Helmut/Petersen, Hans Uwe (Hrsg.): Ein sehr trübes Kapitel. Hitlerflüchtlinge im nordeuropäischen Exil 1933 bis 1950. Hamburg 1998. Dies geschah mit Unterstützung einheimischer Pfadfinder. Diese mussten bezahlt werden, um ihre Hilfe in Anspruch nehmen zu können. In den zugänglichen Akten finden sich heute unterschiedliche Zahlen, die von 20 bis 300 Personen reichen. Siehe hierzu Lindberg, Hans: Svensk flyktingpolitik under internationellt tryck
62
Lars Dencik
towice und andere Ortschaften dieser polnischen Region herumirrten.¹⁵ Im Sommer 1939 entsandte Arbetarrörelsens flyktinghjälp eine Delegation unter Führung des Sekretärs des Schwedischen Gewerkschaftsbundes Axel Granath und ihres Schatzmeisters Axel Strand nach Prag und Krakau, um politische Flüchtlinge für die Rettung nach Schweden auszuwählen.¹⁶ Wie Historiker belegen konnten, „wählten sie Sozialdemokraten und hielten Kommunisten und Juden außen vor […]. Zur selben Zeiten hielten auch die schwedischen Behörden jüdische Flüchtlinge auf Distanz, dazu ermutigt vom offen antisemitischen schwedischen diplomatischen Vertreter in Prag, Folke Malmar.“¹⁷ In Krakau kursierten zum damaligen Zeitpunkt die verschiedensten Gerüchte, wohin auf dieser Welt man nun noch flüchten könne. Die meisten dieser Gerüchte waren frei erfunden oder gestreut, und viele basierten schlichtweg eher auf Wünschen denn auf Tatsachen. Als die besagte schwedische Delegation im Juni 1939 ihr „Büro“ in Krakau eröffnete, bemühten sich verständlicherweise viele verzweifelte Flüchtlinge darum, für die Ausreise nach Schweden ausgesucht zu werden.¹⁸ Natürlich hatte die Delegation ein System von Kriterien erstellt, um herauszufinden, ob die jeweiligen Antragsteller für eine Aufnahme in Schweden geeignet waren oder nicht. Man musste als politischer Flüchtling anerkannt worden sein und nachweisen können, Mitglied im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund oder in einer Sozialdemokratischen Partei bzw. einer Entsprechung dazu zu sein. Belegt werden musste auch, dass man noch keine Unterstützung von anderen Flüchtlingshilfe-Organisationen erhalten hatte.¹⁹ Inoffiziell wurden noch weitere wesentliche Kriterien bei der Auswahl herangezogen. Es war ebenso 1936 – 1941. Stockholm 1973. S. 249 ff.; In der Anthologie Reaching a State of Hope gibt es einige Beiträge, die direkte Bezüge zu dem hier behandelten Thema haben. Besonders bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind die Texte von Klas Åmark, Karin Kvist Geverts, Pontus Rudberg, Pär Frohnert and Malin Thor Tureby. Siehe auch Hans Uwe Petersens Beitrag in Lorenz [u. a.] (Hrsg.), Ein sehr trübes Kapitel. Später entschied sich die schwedische Regierung, die Tschechoslowakei in ihr Quotensystem einzubeziehen, und verfügte, bis zu 370 Flüchtlinge aufzunehmen, während gleichzeitig Anträge, mehr aufzunehmen, kategorisch abgelehnt wurden. Siehe hierzu: Klas Åmark: Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och Förintelsen. 2. rev. Aufl. Stockholm 2016. S. 496. Siehe hierzu: Åmark, Att bo granne med ondskan, S. 497. Åmark, Att bo granne med ondskan, S. 497. [Übersetzung LD/OG]. Die faktenreichen Details, die ich hier vorstelle, wurden mir von meinem Vater, meiner Mutter und ihrem gemeinsamen Freund Peter Gordan erzählt. Gordan war ein Name, den er sich in Schweden zugelegt hatte. Während seines Krakau-Aufenthaltes und während der Flucht nach Schweden hatte er noch seinen Originalnamen, Dr. Ladislav Grünhut, verwendet. Vgl. Horvath, Michael: Arbetarrörelsens flyktinghjälp, Swedish Labour Movement Archives and Library, Huddinge.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
63
wichtig, jung, gesund, stark, arbeitstauglich und fleißig zu sein, und man sollte außerdem über praktische Fähigkeiten, möglichst die eines Facharbeiters, verfügen.²⁰ Auf einer Sitzung der schwedischen Regierung am 3. Juli 1939, an der auch Granath teilnahm, wurde entschieden, dass Schweden bis zu 100 Flüchtlinge aus den Lagern in Polen aufnehmen solle – vorausgesetzt, die von Großbritannien zugesagte ökonomische Unterstützung wäre gesichert. Ein Erinnerungsprotokoll von jenem Treffen notiert dabei folgendes: Es wird vorausgesetzt, dass es sich um politische Flüchtlinge handelt, und grundsätzlich nicht um Juden. Arbetarrörelsens flyktinghjälp ist nach den Angaben von Granath darauf eingestellt, bis zu 50 Personen zu übernehmen. Die Zustimmung ist daran gebunden, dass die ökonomische Absicherung auf zufriedenstellende Weise gesichert ist. In der Hoffnung, dass die zugesagte Unterstützung aus England zustande kommt, sollten weitere diesbezügliche Informationen erlangt werden.²¹
Einige Flüchtlinge aus dem Netzwerk meines Vaters – unter ihnen jüdische Kleinunternehmer, Akademiker und ähnliche Berufsgruppen, die die Mehrheit von ihnen ausmachten – selbst mein Vater war, als er Poprad verließ, gerade Geschäftsführer in einem Schuhgeschäft geworden – vermieden es, die genaue Wahrheit über ihre Berufe zu erzählen und erfanden nun vermeintlich nützliche, „relevante berufliche Fähigkeiten“. Um die Gespräche mit den vielen Antragstellern führen zu können, benötigte das Büro der Arbetarrörelsens Flyktinghjälp einen Übersetzer. Dies wurde schließlich Siegfried Taub, der aus einer jüdischen Familie in Mähren (Sudetenland) stammte und der vorher Generalsekretär der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in der Tschechoslowakischen Republik (DSAP) gewesen war. Taub beriet Granath in seinen Entscheidungen. Dabei fügte er ein Auswahlkriterium hinzu, das er vermutlich selbst formuliert hatte: Die zu bewilligenden An-
Am 25. April 1939 besuchte eine schwedische Delegation, der auch Axel Granath angehörte, Polen. Granath sollte die Rettung von Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei vorbereiten, die sich zunächst noch nach Polen in Sicherheit gebracht hatten, vor allem in die Städte Krakau und Katowice. Granaths primäre Aufgabe war es, sich die Zusammensetzung der Flüchtlingsgruppen anzuschauen und „passende Flüchtlinge für eine mögliche Emigration nach Schweden auszusortieren“ – eine Aufgabe, für die er die volle Verantwortung besaß. Siehe hierzu Lindberg, Svensk flyktingpolitik, S. 249. Später kam Granath wieder in Kontakt mit den sozialdemokratischen Gewerkschaften in Krakau und Katowice, um von ihnen vorbereitete Listen von solchen Flüchtlingen zu erhalten, denen auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit oder anderer als günstig erachteter Eigenschaften durch Arbetarrörelsens flyktinghjälp geholfen werden sollte. Vgl. ebd., S. 251. Pro memoria des Generalsekretärs des schwedischen Außenministeriums (Utrikesrådet) Gösta Engzell. Vgl. Lindberg, Svensk flyktingpolitik, S. 254.
64
Lars Dencik
tragsteller sollten ihren ursprünglichen Wohnort in einem „deutschsprachigen Gebiet“ gehabt haben. Hinter dem Rücken der Delegationsspitze (Granath und Strand) versuchte er – soweit möglich – Menschen mit jüdischer Abstammung auszuwählen. Zumindest in einigen Fällen hatte Taub damit auch Erfolg. Doch zurück zu meiner Familie: Meine Mutter war in Poprad²² aufgewachsen, einer Stadt in der zur Slowakei gehörenden Tatra-Region. Sie hatte in einer nahegelegenen anderen Stadt das deutschsprachige Gymnasium besucht. Mein Vater wiederum wurde in der Kleinstadt Kremnica²³ in der Zentralslowakei geboren. Seit seiner Jugend war er Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.²⁴ Schaffte man es tatsächlich, eine der begehrten Einladungen nach Schweden zu erhalten, bedeutete dies aber keineswegs, dass der Weg nach Schweden frei war. Es handelte sich lediglich um ein Papier, das bestätigte, dass Arbetarrörelsens flyktinghjälp die besagte Person „nach Schweden eingeladen“ hatte, und das Versprechen, in das Land einreisen zu dürfen, sollte man es schaffen, eine schwedische Grenzstation zu erreichen. Im Sommer 1939 hatte die schwedische Delegation sämtliche Einladungen verteilt und kehrte nach Schweden zurück. Doch als am 1. September 1939 der Krieg ausbrach, befanden sich meine Eltern immer noch in der Nähe von Krakau. Alle anderen noch angedachten Möglichkeiten einer Migration waren hinfällig, das „schwedische Papier“ war nun existentiell entscheidend. Zusammen mit einigen Freunden, die ebenfalls die Einladung nach Schweden erhalten hatten – zu
Poprad war im 13. Jahrhundert von deutschen Siedlern gegründet worden. In den 1930erJahren hatte der Ort knapp 4.500 Einwohner, von denen etwas mehr als 600 Juden waren. Die ersten Deportationen in die NS-Vernichtungslager gab es am 25. März 1942, als 63 junge jüdische Frauen von Poprad aus nach Auschwitz geschickt wurden. Auch Kremnica war im Mittelalter gegründet worden, wohin die ungarischen Könige dieser Zeit ebenfalls deutsche Siedler einluden, um sich dort niederzulassen. Im Erhebungsbogen Nummer 1198/9, den Arbetarrörelsens Flyktinghjälp von meinem Vater als antragstellendem Flüchtling erhob, gab er an, dass sein Heimatort Kremnica sei, er selbst bei der Firma Popper bis zum 15. Mai 1939 angestellt war, dass er seit dem 1. März 1936 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei in Košice (Deutsch: Kaschau) war und dort das Amt eines „Kulturfunktionärs“ innegehabt hatte; außerdem auch, dass er seit 1929 Mitglied in der Košicer Gewerkschaft für „Privatangestellte“ war und dort als „Sekretär“ fungierte. Zum Treffen mit der schwedischen Delegation in Krakau brachte er seinen Ausweis und sein „Gewerkschaftsbuch“ mit. Außerdem werden noch folgende weitere Daten aufgeführt: Die Tschechoslowakei am 15. Mai 1939 verlassen, Polen am 26. Mai 1939 betreten, angekommen in Schweden am 23. November 1939. Nur die eigene Kleidung mitgebracht, außerdem im Besitz von 5 Lit (litauisches Geld). Aktuelle Adresse (24. Nov. 1939): Slätviksbaden, Ballersta. Der Erhebungsbogen für meine Mutter ist mit der gleichen Nummer 1198/9 markiert und stellt fest, dass „Deutsch, Margita, geborene Roth, in Levoca geboren wurde“, dass sie „Schneiderin“ sei und als „Selbständige“ arbeite. Ihre Heimatadresse sei Kremnica, und außer dem Ausweis führe sie keine weiteren Papiere bei sich.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
65
diesem Zeitpunkt etwa ein Dutzend Personen – machten sich meine Eltern zu Fuß auf die Reise Richtung Osten.²⁵ Die Gruppe bevorzugte es, während der Nächte zu laufen, um zu vermeiden, entdeckt zu werden. An einem Tag Mitte September 1939, als sie sich versteckten und in einer Scheune rasteten, entdeckte sie dort eine Gruppe deutscher Soldaten. Mein Vater, ein blonder Mann und weit entfernt von einem „typisch jüdischen Aussehen“ wurde vorgeschickt, um mit ihnen zu sprechen. Nachdem er verneint hatte, jüdisch zu sein, und er dem Befehl „Hosen herunter!“ folgen musste, wurde er zum lokalen deutschen Hauptquartier gebracht, während der Rest der Gruppe einschließlich meiner Mutter weiter in der Scheune festgehalten wurden. Im Hauptquartier zeigte mein Vater dem jungen diensthabenden Offizier sein „schwedisches Papier“. Der Offizier behauptete seinerseits, dass dieses Papier für einen Mann jüdischer Abstammung – zu der sich mein Vater inzwischen bekannt hatte – irrelevant sei. Schließlich ergriff mein Vater die Flucht nach vorn und entgegnete lautstark: „Was verstehen Sie überhaupt von schwedischen Dokumenten!? Lassen Sie mich mit Ihrem Vorgesetzten sprechen!“ Indem er Ärger und Autorität zeigte, ohne das eigentlich beabsichtigt zu haben, traf mein Vater offensichtlich einen psychologisch wunden Punkt des jungen Offiziers – seine Unsicherheit und Angst, etwas falsch zu machen. In der Hierarchie der diensthabenden deutschen Offiziere wurde er nun „aufwärts“ geschickt, wo sich die gleiche Szene wiederholte. Schließlich landete er bei einem etwas älteren und offensichtlich hochgebildeten Offizier, der ihn mit „Raus und verschwinde!“ hinauskommandierte. Nachdem sie den Fluss San überquert und die Stadt Przemyśl im südöstlichen Polen hinter sich gelassen hatten, erreichten meine Eltern und ihre Freunde schließlich jenes polnische Territorium, das nach Maßgabe des berüchtigten Molotow-Ribbentrop-Paktes²⁶ von der Sowjetunion okkupiert worden war. Sie schafften es schließlich bis Lemberg, dem heutigen Lviv in der Ukraine. Hier
Im ersten Teil des dritten Bandes seiner Ästhetik des Widerstands (Band III, Frankfurt a. M 1980) erzählt der Schriftsteller Peter Weiss eine Geschichte, die bis in Einzelheiten den Erfahrungen ähnelt, die meine Eltern in der besagten Zeit in Südpolen gemacht hatten. Das ist wahrscheinlich kein Zufall – Peter Weiss kannte viele Personen und hatte diese auch interviewt, die sich in der gleichen Gruppe von Flüchtlingen befunden hatten und sich damit in ähnlichen Situationen wie meine Eltern in und um Krakau, Przemyśl und anderen Orten im Grenzgebiet zwischen Polen und der Tschechoslowakei im Sommer 1939 befunden hatten. Dieser Nichtangriffspakt zwischen Nazideutschland und der kommunistischen Sowjetunion, abgeschlossen am 23. August 1939, öffnete faktisch die Tür zum Zweiten Weltkrieg, denn in den geheimen Zusatzdokumenten war bereits die Aufteilung Polens unter beide Länder beschlossene Sache.
66
Lars Dencik
blieben sie eine Weile, bevor sie Wilna erreichten, damals eine polnische Stadt. Wilna war am 19. September 1939 unter sowjetische Kontrolle geraten.²⁷ Am 10. Oktober 1939 wurden die Stadt und ihre Umgebung Litauen zugeschlagen. Im Austausch erlaubte die litauische Regierung der Sowjetunion, Militärbasen an strategisch bedeutsamen Plätzen des Landes zu errichten. Wenige Tage bevor die litauischen Behörden Wilna am 28. Oktober 1939 übernahmen, verließen mehr als 3.000 Juden die Stadt und emigrierten in die Sowjetunion. Meine Eltern blieben allerdings, denn in Wilna konnten sie endlich eine schwedische Botschaft erreichen, beziehungsweise in Kaunas, zu diesem Zeitpunkt noch Hauptstadt von Litauen. Nachdem man mit dem Büro der Arbetarrörelsens flyktinghjälp in Schweden Rücksprache gehalten hatte und von der Gültigkeit und Echtheit der Papiere meiner Eltern überzeugt war, entschloss sich die schwedische Botschaft, meinen Eltern und den sie begleitenden Freunden, insgesamt 16 Personen, zu helfen, Schweden zu erreichen.²⁸ Von Kaunas wurden sie nach Riga, der Hauptstadt von
Der Molotow-Ribbentrop-Pakt war am 28. September 1939 noch ergänzt worden, so dass die Sowjetunion Litauen im Austausch erhielt, während sie ein Gebiet zwischen den Flüssen Vistula and Bug an Deutschland „abgab“. Nur denjenigen, die ein Einladungsschreiben, ausgestellt von der Delegation der Arbetarrörelsens flyktinghjälp in Krakau erhalten hatten, wurde auch geholfen. Doch in der Gruppe der Freunde, die gemeinsam mit meinen Eltern Kaunas erreichten, befanden sich auch einige, die nicht von Axel Granath & Co ausgewählt worden waren, unter ihnen meine Tante Marcia. Sie hatte pro forma einen anderen Flüchtling in Krakau geheiratet, um zu vermeiden, eine alleinstehende Frau zu sein – Gerüchte besagten, dass nur verheiratete Frauen die Flucht bewerkstelligen konnten. Marcia musste in Wilna zurückbleiben. In einem Brief, der datiert war mit „Borås 12. Dezember 1940“ und an die Arbetarrörelsens Flyktinghjälp gerichtet war, schrieb mein Vater: „Meine Schwester und ihr Gemahl. Ebenfalls poli. Flüchtlinge aus der Tschechoslovakei, leben schon mehr als ein Jahr in Littauen, ohne jeden Erwerb und Unterstützung. – Sie haben die selbe Kalvarie in Polen mitgemacht wie wir und sind demzufolge sozusagen ganz abgerissen und sehen dem Winter ohne jede wärmere Bekleidung entgegen. Es ist uns hier gelungen, in unserem Bekanntenkreis einige Bekleidungsstücke für sie zu erwerben, jedoch wurde unser Ansuchen um Exportlicens von der ‚Handelskomission‘ abgewiesen. Ich bitte euch daher behilflich zu sein […].“ Am 13. Dezember schrieb auch der damalige Vorsitzende des Arbetarrörelsens Flyktinghjälp, Ewald Jansson, einen Brief an seinen schwedischen Vertrauensmann in Borås, einen Journalisten der sozialdemokratischen Tageszeitung Västgötademokraten. In diesem beschrieb er einleitend, dass mein Vater Winterbekleidung für seine Schwester in Wilna besorgt hatte, aber dass die schwedischen Behörden es abgelehnt hatten, eine Ausfuhrerlaubnis nach Litauen zu erteilen. Jansson fügte hinzu: „Nach den Informationen, die Deutsch per Post erhalten hat, erleben die Armen dort sehr harte Zeiten. Nach der russischen Besetzung haben sie offenbar keine Möglichkeiten mehr, Hilfe von außen zu erhalten noch eine Genehmigung, das Land verlassen zu können.“ Mein Vater hat nie eine Erlaubnis von den schwedischen Behörden erhalten, die Waren, die er gesammelt hatte, an seine in Wilna „gestrandete“ Schwester schicken zu können. Sie
Exil: Verzweiflung und Kreativität
67
Lettland, gebracht. Hier wurden sie am 21. oder 22. November 1939 an Bord des alten schwedischen Schiffes „S/S Konung Oscar“ gebracht und verließen Riga in Richtung Stockholm und damit ins neutrale Schweden.²⁹ Nach einer recht rauen Fahrt erreichten sie schließlich Schweden als „politische Flüchtlinge“³⁰, und als solche wurde sie im Flüchtlingslager Slätviksbaden untergebracht, einer Ortschaft zwischen den Städten Eskilstuna und Nyköping. Dass meine Eltern Juden waren und dass dies der primäre Grund ihrer Flucht gewesen war, wurde dabei von Arbeterrörelsens Flyktinghjälp ebenso bewusst übersehen wie von den schwedischen Behörden. Nach Weihnachten und Neujahr 1939/1940 in Slätviksbaden wurden meine Eltern in die Stadt Borås³¹ verbracht, damals die „Textilhauptstadt“ von Schweden. Meine Mutter, die als „Schneiderin“ eingereist war, bekam nun einen Job als Heim-Näherin für eine Mützenfabrik, und mein Vater wurde zunächst dazu angestellt, Torf in den Mooren rings um die Stadt zu stechen.³² Meine Eltern kannten niemanden in Borås, sie waren weder mit schwedischen Sitten und Gebräuchen vertraut, noch sprachen sie irgendwelches Schwedisch. Deutsch war die Sprache, die sie benutzen mussten, um mit den Menschen zu kommunizieren. Aber nur wenige Einwohner der kleinen Industriestadt sprachen es überhaupt. Schließlich bemerkte eine Dame am Süßwarenstand des Kaufhauses EPA ihre Situation und sprach sie auf Deutsch an. In diesem Moment öffnete sich eine Tür, die das Leben unserer Familie wieder nachhaltig veränderte. Die Dame war eine Deutsche im
musste den Winter dort verbringen und wurde später in ein Vernichtungslager der Nazis deportiert. Die offiziellen Papiere geben an, dass sie Schweden am 23. November 1939 betreten hatten. Die Vereinbarung sah vor, dass die Kosten für Aufenthalt und Unterbringung der Flüchtlinge in Schweden in Höhe von 200 Britischen Pfund pro Familie an die Arbetarrörelsens flyktinghjälp überwiesen wurden (durch die Britische Regierung). Siehe hierzu auch Tempsch, Rudolf: Aus den böhmischen Ländern ins skandinavische Volksheim. Sudetendeutsche Auswanderung nach Schweden 1938 – 1955. Göttingen 2017. Dass man ihnen nahelegte, nach Borås zu ziehen, könnte auch durch das Klischee begründet gewesen sein, dass „Juden und Textilindustrie zusammengehören“. In Borås gab es zu diesem Zeitpunkt schon eine Gruppe von organisierten kommunistischen Flüchtlingen. Sie waren Mitglieder der sudetendeutschen Treugemeinschaft, traten aber Anfang 1944 aus und bildeten die Arbeitsgemeinschaft der tschechoslowakischen Sozialisten (ACS). Meine Eltern waren und blieben Sozialdemokraten. Es gab auch im Exil erhebliche Spannungen – oder sogar offene Animositäten – zwischen den emigrierten Kommunisten und Sozialdemokraten. In einem undatierten Dokument im Archiv von Arbetarrörelsens Flyktinghjälp, „Förteckningar över flyktingar, vilka kommer ifråga för arbete i jordbruk“ [Verzeichnis der Flüchtlinge, die für landwirtschaftliche Arbeit in Frage kommen], vermutlich von Anfang 1940, findet sich auch der Name meines Vaters.
68
Lars Dencik
mittleren Alter, man nannte sie Hilde.³³ Sie lebte zusammen mit ihrer hochbetagten Mutter, die Anfang der 20er Jahre mit ihrem längst verstorbenen Ehemann, einem Textilingenieur, nach Schweden gekommen war. Sie waren nicht jüdisch, dafür aber eher altmodisch-deutsch in Aussehen und Lebensstil, und nahmen entschieden gegen das Hitlerregime Stellung. Sie „adoptierten“ quasi meine Eltern und unterstützten sie in allen praktischen Fragen. So kam es tatsächlich zu einer familienähnlichen Situation. Während ich aufwuchs, sprach ich die beiden als „Omi“ und „Tante Hilde“ an. Im Sommer 1940 beschloss mein Vater, der als „Kaufmann, Dekorateur“ eingereist war, ein neues Handwerk zu lernen, das dem eines Dekorateurs in etwa nahekam. Ungeachtet seines Alters von 29 Jahren begann er eine Ausbildung in einer Polsterei.³⁴ Drei Jahre später, 1943, konnte er mit Hilfe eines Darlehens eines Freundes, der mit ihm zusammen nach Schweden gekommen war,³⁵ und durch die finanzielle Unterstützung von Seiten der Jüdischen Gemeinde in der nahe gelegenen Stadt Göteborg ein eigenes Geschäft eröffnen. Zwei Jahre vorher, und kaum ein Jahr, nachdem meine Eltern in die Stadt Borås gekommen waren, erblickte ich am 17. Mai 1941 im städtischen Hospital das Licht der Welt. Ich bekam den populärsten schwedischen Namen jener Zeit, Lars, und wurde wie fast alle Jungen dieses Namens „Lasse“ gerufen.³⁶ Acht Tage nach meiner Geburt führte ein jüdischer Arzt aus Göteborg, Dr. Schachtél, meine brit mila [Beschneidung] aus – ein damals und auch heute noch eher ungewöhnliches Ritual in Schweden. Damit war ich in dieser Welt zweifach angekommen – als Schwede und als ein Außenseiter.
„Exil“ – eine Fehlbezeichnung? „Exil“ ist alles andere als ein einfaches Konzept. Der schwedische Germanist Helmut Müssener hat die Aussagekraft des Exil-Konzeptes umfassender und kritisch in Verbindung mit der deutschsprachigen Emigration nach 1933 disku-
Ihr vollständiger Name war Hilde Kunzendorff. Mein Vater absolvierte seine Lehre in der Tapeziererei „Jonassons tapetserareverkstad“. Dr. Hans Hauser war der Freund meines Vaters, der mit einem Darlehen half. Kurz nach seiner Ankunft in Schweden hatte er eine deutsche Jüdin geheiratet, die schon in Schweden lebte und er schon kannte, bevor er die Tschechoslowakei verließ. Der Name erinnert an einen Bruder meines Vaters, der noch vor Ausbruch des Krieges eines natürlichen Todes gestorben war. Mein zweiter Vorname ist Tomas nach Tomas Masaryk, einem Philosophen und Humanisten, der 1918 der erste Präsident der neuen Tschechoslowakischen Republik wurde und sehr erfolgreich einen modernen Wohlfahrtsstaat einführte.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
69
tiert.³⁷ Bert Brecht, der zu Beginn des Zweiten Weltkrieges für eine kurze Zeit in Schweden lebte, wandte sich seinerseits bereits in den 1930er-Jahren gegen die Bezeichnung „Emigrant“, als er schrieb: „[…] wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.“ Im Hinblick auf die Literatur, die „vertriebene“, Deutsch-schreibende Autoren seinerzeit produziert haben, nimmt auch Müssener gegen die häufig gebrauchten Termini von „Emigrantenliteratur“ oder „Exilliteratur“ Stellung und betrachtet den Begriff „Flüchtlingsliteratur“ als angemessener.³⁸ „Sich im Exil befinden“ impliziert, dass es sich prinzipiell um eine zeitlich abgrenzte Situation handelt. Die exilierte Person wartet auf veränderte Umstände, um schließlich wieder „nach Hause“ zurückkehren zu können. Ist man im „Exil“, dann gibt es auch eine „Heimat“ und eine mehr oder weniger artikulierte Sehnsucht, nach Hause zurückkehren zu können – Heimweh. Das aber scheint auf die meisten deutsch-jüdischen Flüchtlinge in Schweden während der Zeit des Zweiten Weltkrieges – wie auch in der Zeit danach – nicht zugetroffen zu haben. Für viele gab es einfach keine zurückgelassene „Heimat“, kein „Heimatland“ mehr, in das sie zurückkehren wollten, und auch kein „Heimweh“,³⁹ dafür aber Gefühle der Einsamkeit, der Verlassenheit und Leere, der Sorge und Verzweiflung,
Vgl. Müsseners Auseinandersetzung mit dem Exil-Begriff in seiner Lizentiatenabhandlung Die deutschsprachigen Emigration in Schweden nach 1933. Ihre Geschichte und kulturelle Leistung. Stockholm 1971. Auf eine ähnliche Weise argumentiert auch Walter A. Berendsohn, ein deutsch-jüdischer Germanist, der 1933 Hamburg verlassen musste. Nach einem längeren Aufenthalt in Dänemark konnte er 1943 nach Schweden entkommen, wo er eine Anstellung als Archiv-Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Stockholm fand. Diese Stellung, seinen wissenschaftlichen Qualifikationen natürlich nicht angemessen, übte er bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1971 aus. Gleichwohl hatte Berendsohn mit seinen Beiträgen einen erheblichen intellektuellen Einfluss auf literarische Debatten und wird heute zu Recht als „Nestor der Exilliteraturforschung“ bezeichnet. Der Schriftsteller Jean Améry, geboren als Hans Chaim Mayer in Österreich, überlebte Auschwitz. Nach dem Krieg änderte er seinen Namen und zog nach Belgien, wo er 1978 Selbstmord beging. 1966, nachdem er an den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt teilgenommen hatte, schrieb er u. a. den Essay „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ (At the Mind’s Limits: Contemplations by a Survivor on Auschwitz and Its Realities. Bloomington 2009). In diesem Essay widmet er sich der spezifischen Situation der Juden, die vor dem Naziregime flohen, ihrer Beziehung zu dem Land, das sie verlassen mussten, und dabei spürbar werdenden existentiellen Unterschieden zu den nichtjüdischen Deutschen. Améry kommt zu dem Schluss, dass sich für diejenigen, die im Exil an Heimweh leiden, die Situation verschlimmern kann bis zur Selbstentfremdung. Für eine weitergehende Diskussion hierzu siehe: Shuster, Martin: A phenomenology of Home: Jean Améry on Homesickness. In Journal of French and Francophone Philosophy – Revue de la philosophie française et de langue française. Vol. XXIV, No. 3 (2016). S. 117– 127.
70
Lars Dencik
Es stimmt zwar, dass einige der jüdischen Flüchtlinge in Schweden, wie beispielsweise der Religionswissenschaftler Hans-Joachim Schoeps, den ganzen Aufenthalt in Schweden darauf gewartet hatten, in die deutsche Heimat zurückkehren zu können, und dass auch der Jurist Fritz Bauer, ein aktives Mitglied des „Arbeitsausschusses deutscher antinazistischer Organisationen in Schweden“, darauf brannte, im neuen Deutschland eine Post-Shoah-Justiz aufzubauen, die diesen Namen auch verdiente. Ferner kehrten manche deutsch-jüdische Kommunisten, wie etwa der Linguist und Musikwissenschaftler Wolfgang Steinitz, so schnell wie möglich in jenen Teil Deutschlands zurück, in dem 1949 die Deutsche Demokratische Republik (DDR) proklamiert worden war. Dennoch bleibt festzuhalten, dass für die meisten der deutsch-jüdischen Flüchtlinge in Schweden eine Rückkehr nach Deutschland kaum infrage kam.⁴⁰ Wie der schon erwähnte Peter Weiss und Nelly Sachs oder auch die Malerin Lotte Laserstein und die Physikerin Lise Meitner blieben auch viele andere in Schweden oder zogen weiter in ein anderes Land.⁴¹ Somit bleibt der Begriff „Exil“ tatsächlich unangemessen, wenn wir das Leben und die Schicksale der deutschsprachigen Juden nachzeichnen, die in den 1930erJahren und teilweise auch im Zweiten Weltkrieg gezwungen waren, ihre Heimat in Deutschland, Österreich oder anderen Ländern (Zentral‐)Europas zu verlassen und in Schweden Schutz und Aufnahme zu suchen. Vertriebene und/oder permanente Flüchtlinge wäre eine deutlich besser treffende Bezeichnung für sie. Aus stilistischen Gründen werde ich aber an einigen Stellen dieses Essays die Termini „Exil“ und „exiliert“ verwenden, dabei aber auf die Situation der von mir beschriebenen, im eigentlichen Wortsinn heimatvertriebenen Personen hinweisen. An dieser Stelle scheint es mir aber auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die existentiell schwierige Situation jener Jüdinnen und Juden, die auf der Flucht vor den Nazis Zuflucht in Schweden fanden, in der jüdischen Geschichte keine wirklich neue Situation ist. Im Gegenteil: In der Diaspora zu leben, ist für Millionen schon immer eine jüdische Zwangslage gewesen. Ich möchte behaupten, dass diese Erfahrung so tief in der jüdischen Kultur und im jüdischen Gedächtnis verinnerlicht und aufbewahrt ist, dass sie, wenn sich Lebensumstände drastisch ändern und sie wieder einmal zu Flucht und Migration gezwungen werden, Juden
Etwa ein Viertel der deutschsprachigen politischen Flüchtlinge kehrten nach Ende des Krieges nach Deutschland, Österreich und in die Tschechoslowakei zurück. Der Anteil an Juden unter ihnen war extrem gering. Vgl. hierzu Petersen, Hans Uwe, Die Zusammenarbeit der nordischen Länder in der Flüchtlingsfrage. S. 69 ff. In: Lorenz [u. a.] (Hrsg.), Ein sehr trübes Kapitel. Fernerhin in: Grass, Den tyskspråkiga exilen, S. 6. Einige gingen nach Palästina/Israel, einige nach Österreich und Kanada und viele von ihnen in die USA.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
71
dies als den relativ bekannten „way of life“ (er‐)kennen und annehmen. Man ist vertraut mit „Entwurzelung“, so wie die Situation manchmal metaphorisch genannt wird – wenn es denn überhaupt so etwas wie „Verwurzelung“ gegeben hat, was auch über Generationen hinweg unklar geblieben sein kann. Um dies besser illustrieren zu können, zitiere ich hier die ersten Passagen des Textes Meine Ortschaft von Peter Weiss.⁴² Bei meinen Überlegungen, welche menschliche Siedlung oder welche Gegend einer Landschaft am besten dazu geeignet sei, in diesem Atlas umrissen zu werden, tauchten anfangs viele Möglichkeiten auf. Doch von meinem Geburtsort aus, der den Namen Nowawes trägt und der den Informationen nach gleich neben Potsdam an der Bahnstrecke nach Berlin liegen soll, über die Städte Bremen und Berlin, in denen ich meine Kindheit verbrachte, bis zu den Städten London, Prag, Zürich, Stockholm, Paris, in die ich später verschlagen wurde, nehmen alle Aufenthaltsorte etwas Provisorisches an, und dabei habe ich die kürzeren Zwischenstationen gar nicht erwähnt, alle diese Flecken, heißen sie nun Warnsdorf in Böhmen, oder Montagnola im Tessin, oder Alingsås in Westschweden. Es waren Durchgangsstellen, sie boten Eindrücke, deren wesentliches Element das Unhaltbare, schnell Verschwindende war, und wenn ich untersuche, was jetzt daraus hervorgehoben und für wert befunden werden könnte, einen festen Punkt in der Topographie meines Lebens zu bilden, so gerate ich nur immer wieder an das Zurückweichende, alle diese Städte werden zu blinden Flecken, und nur eine Ortschaft, in der ich nur einen Tag lang war, bleibt bestehen. Die Städte, in denen ich lebte, in deren Häusern ich wohnte, auf deren Straßen ich ging, mit deren Bewohnern ich sprach, haben keine bestimmten Konturen, sie fließen ineinander, sie sind Teile einer einzigen ständig veränderlichen irdischen Außenwelt, weisen hier einen Hafen auf, dort einen Park, hier ein Kunstwerk, dort einen Jahrmarkt, hier ein Zimmer, dort einen Torgang, sie sind vorhanden im Grundmuster meines Umherwanderns, im Bruchteil einer Sekunde sind sie zu erreichen und wieder zu verlassen, und ihre Eigenschaften müssen jedesmal neu erfunden werden. Nur diese eine Ortschaft, von der ich seit langem wusste, doch die ich erst spät sah, liegt gänzlich für sich. Es ist eine Ortschaft, für die ich bestimmt war und der ich entkam. Ich habe selbst nichts in dieser Ortschaft erfahren. Ich habe keine andere Beziehung zu ihr, als dass mein Name auf den Listen derer stand, die dorthin für immer übersiedelt werden sollten.
Eine viel zu kurze Bemerkung über die Bedeutung von Sprache Für all jene, die mit einer und über eine bestimmte Sprache beruflich arbeiten, zum Beispiel Schriftsteller und Schauspieler, mag sich bei der Verdrängung ins Exil Sprache wie ein Gefängnis anfühlen. Hier habe ich eigene Erfahrungen und Beobachtungen gemacht: Weiss, Peter: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968. S. 113 – 124.
72
Lars Dencik
Manche der zentraleuropäischen jüdischen Flüchtlinge, die froh waren, sich vor der Shoah noch rechtzeitig nach Schweden gerettet zu haben und die zum Freundeskreis meiner Eltern gehörten, waren hochqualifizierte Juristen, Doktoren der Rechtswissenschaften der Karls-Universität in Prag, der Universität Wien und der Fakultät für Rechtswissenschaften in Budapest. Niemand von ihnen konnte in Schweden wieder im eigenen Beruf arbeiten. Stattdessen waren sie, zumindest in den ersten Jahren, als Hilfsarbeiter, als Archiv-Arbeiter, als ungelernte Polsterer oder umherreisende Verkäufer für die kleine Möbelfabrik meines Vaters tätig. Jahre später, als es Zeit für mich wurde, mir über eine universitäre Ausbildung Gedanken zu machen, fand ich, dass ein Jurastudium meinen Interessen und Talenten am ehesten entsprechen würde. Als ich nach dem Abitur im Sommer 1959 meine Eltern über diese Absicht informierte, verboten sie es mir. Sie begründeten dies klar und konkret: Schau dir Onkel Laci an, Onkel Hans, Onkel Miklos! Jeder von ihnen hat einen Doktor der Jurisprudenz mit den feinsten Diplomen der Karls Universität in Prag, der Universität Wien oder der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Budapest. Sie alle mussten eine Arbeit in unserer kleinen Polsterei akzeptieren. Keiner von ihnen konnte seinen Beruf hier in Schweden ausüben. Als ein Jurist bist du verbunden mit Land und Sprache, und wenn du das Land verlassen musst, was ist dann?
Ich verstand, was sie meinten, und akzeptierte ihr Argument.⁴³ Im weiteren Netzwerk von Flüchtlingen, mit denen meine Eltern bekannt waren, befand sich auch die Familie Weiss mit ihren beiden Brüdern, Peter und Alexander. Peter Weiss hatte in den ersten Jahren verschiedene Versuche unternommen, auf Schwedisch zu schreiben bzw. zu publizieren und dabei natürlich auch eine schwedische Leserschaft zu gewinnen, was ihm aber nur sehr begrenzt gelang. (Ich glaube, ich war einer der wenigen, die seine Bücher lasen.) Dasselbe gilt cum grano salis auch für seinen Bruder Alexander, der beim Schwedischen blieb, aber mit seinen Fragmenten und Aphorismen keine Erfolge bei den Kritikern und auch keine großen Auflagen erzielte. Peter Weiss, denke ich, litt damals an zwei dialektisch miteinander verbundenen Sprach-Gefängnissen. Auf der einen Seite Schwedisch – eine Fremdsprache für ihn, die Sprache, in die er gewissermaßen hineingeworfen wurde und die er notwendigerweise meistern musste. Doch selbst wenn er die Sprache gut sprach, fühlte er wahrscheinlich, dass er nicht wirklich in dieser Sprache lebte. Es gab einige unter ihnen, wie beispielsweise Josef Fischler, Ludwig Brann und Ernst Baburger, die es nach einem Neu- oder Ergänzungsstudium der Rechtswissenschaften dann doch schafften, auch in Schweden wieder als Anwälte zu arbeiten.Vgl. hierzu Müssener, Helmut: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München 1974.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
73
Auf der anderen Seite war da Deutsch, seine Muttersprache, die vergiftet war durch den Missbrauch der Nazis und die korrumpiert war als „Sprache der Mörder“. Und folglich fühlte er auch hier die Entfremdung. Erst nach Jahren eines eher fruchtlosen Kampfes mit der schwedischen Sprache und sieben Jahren Psychoanalyse nahm sein literarisches Schaffen eine drastische Wendung. Wohl durch die Interventionen seines Psychoanalytikers – der, nebenbei gesagt, auch mein Lehrer der Psychoanalyse war – fühlte er sich irgendwann genügend frei, um sich wieder der eigenen Muttersprache zuzuwenden. 1961 veröffentlichte Peter Weiss die autobiografische Erzählung Abschied von den Eltern, und von da an war der Weg geebnet für seinen internationalen Erfolg, insbesondere mit den Dramen Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade (1964)⁴⁴ und Die Ermittlung (1965), dem die Frankfurter Auschwitzprozesse zugrunde liegen.
Unfreiwillige Kosmopoliten? Wohin gehört man eigentlich? Diese Frage quält und nervt die Exilanten permanent, ohne dass sie darauf irgendwann eine definitive Antwort bekommen. In manchen Situationen glaubt man hierhin zu gehören, in anderen Situationen dorthin, und wohl am häufigsten glaubt man, eigentlich nirgendwohin zu gehören. Und man gelangt an den Punkt, dass nicht einmal Territorium und Geografie als solche zählen, wenn es darum geht, wohin man gehört. Das Konzept von „Exil“ impliziert von vornherein, dass es ein Heimatland gibt. Kosmopolitismus fußt dagegen auf der Idee, dass der Mensch nicht an einen bestimmten Ort als einziges Heimatland gebunden ist. Viele derer, die mit der deutschen Sprache im Gepäck nach Schweden kamen und die zudem in der deutschen Kultur tief verankert waren, erkannten nach ihrer Flucht aus den deutschsprachigen Gebieten, ob gern oder ungern, aber doch als Tatsache, dass sie Kosmopoliten waren. Viele Menschen bekräftigen, dass ihre Heimat nahe den „Steinen“ liegt, wo „wir als Kinder gern spielten“.⁴⁵ Solch eine Heimat war für sie der Ort, an dem sie aufwuchsen oder der Platz, „an dem man vollkommen man selbst sein kann“. Die Uraufführung fand 1964 in Berlin statt. Aus dem Gedicht „Gedanken in Einsamkeit“ aus der Sammlung „Wallfahrt und Wanderjahre“ des schwedischen Dichters und Literaturnobelpreisträgers Verner von Heidenstam. Die komplette Strophe (benannt „Kindheitsszenen“) lautet: „Ich habe mich acht Jahre lang nach Hause gesehnt, ich weiß. / Ich sehne mich im Schlaf und durch den ganzen Tag. / Ich sehne mich nach Hause. Ich
74
Lars Dencik
Manchmal ist der Begriff Heimat aber auch viel emotionaler besetzt. Zum Beispiel dann, wenn ein Staat wie der schwedische beschrieben wird als die Heimstatt des Volkes, als „Folkhem“. Und es war ganz sicher kein Zufall, dass in Nazi-Deutschland die Vorstellungen von „Volksgemeinschaft“ und „Heimat“ wichtige konzeptionelle Bausteine für den ganzen ideologischen Überbau der NSWeltanschauung wurden. Auch bei Martin Heidegger bildeten mystische wie metaphysische Vorstellungen von Heimat einen ganz fundamentalen Aspekt seiner Weltanschauung. Zu den Schlüsselwörtern in seinem Denken gehören in diesem Kontext „das Ursprüngliche, Eigentlichkeit, Bodenständigkeit“ und wiederum „Volk“ – Begriffe, die Authentizität und Wesenhaftigkeit implizieren, welche an den jeweiligen Ort und Boden gekoppelt sind. Für Heidegger ist das ursprüngliche, genuin lokale Erbe, das einer Person ihre Heimat sichert, erhalten und genährt von „erd- und bluthaftigen Kräften“. Gänzlich im Gegensatz dazu schrieb Nelly Sachs mit der Klarsichtigkeit, die lange Zeiten in Dunkelheit schenken können: „An Stelle von Heimat halte ich die Verwandlung der Welt.“ So lesen sich die Worte einer Kosmopolitin. Ein anderer Poet mit jüdischem Hintergrund, Heinrich Heine, schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins französische Exil gezwungen, ließ wissen: „Meine Heimat ist meine deutsche Sprache“. Er drückt damit für viele Exilanten – jüdische wie nichtjüdische – aus, dass sie ihren Heimatbezug in einer Kultur herstellen können. Heine war es auch, der die Torah als „tragbares Vaterland“ des jüdischen Volkes beschrieb. Eine Idee, die neuerdings wieder stärker von Advokaten der Diaspora, aufgegriffen wird wenn es um authentische jüdische Lebensform in der Gegenwart geht.⁴⁶ Nirgendwo zu Hause sein – und doch überall zu Hause sein. Das ist die kosmopolitische Perspektive und gleichzeitig auch das Dilemma einer jüdischen Existenz in der Diaspora. Welches Konzept könnte nun das Dilemma jener deutschen Juden, die während der Nazizeit Zuflucht in Schweden fanden, adäquat fassen? Waren sie unfreiwillige Kosmopoliten? Ich denke schon, dass dies eine realistische Beschreibung für viele von ihnen ist. Ein unverrückbarer Punkt im Leben von Kosmopoliten ist, dass sie kontinuierlich und intensiv mit den Bedingungen und Konstellationen ihrer eigenen
suche, wohin ich gehe. / Kein Menschenvolk, aber die Felder, durch die ich vagabundieren würde. / Die Steine, wo ich es als Kind liebte zu spielen.“ Vgl. hierzu Dencik, Lars: The Dialectics of Diaspora in Contemporary Modernity. In: Reconsidering Israel-Diaspora Relations. Hrsg. von Eliezer Ben-Rafael, Judit Bokser Liwerant u. Yosef Gorny. Leiden 2014; Wolfe, Alan: At home in exile. Why diaspora is good for Jews. Boston 2014; Boyarin, Daniel: A travelling Homeland: Babylonian Talmud as Diaspora. Philadelphia 2015.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
75
Existenz konfrontiert werden. Zwei scheinbar völlig gegensätzliche, jedoch unter der Oberfläche miteinander verbundene Optionen lassen erkennen, wie damit umgegangen wird. Im ersten Falle wandelt der/die Exilierte die Besonderheiten der Exil-/Diaspora-Existenz in kreative Leistungen unterschiedlichster Art um – besonders häufig im künstlerischen Bereich. Im zweiten Fall entsteht, bedingt durch den Verlust von Sprache und „Heimat“, vor allem eine innere Blockade, Verzweiflung, Depression und Angst. Gewinnen diese Zustände die Oberhand, können an irgendeinem Punkt auch suizidale Impulse hinzukommen. Für manche Betroffene mag sich im Exil eine sofortige Gabelung zwischen den beschriebenen beiden Optionen ergeben. Andere wiederum scheinen zwischen beiden Trends zu oszillieren, in fast dialektischer Weise, und nicht selten beide Optionen parallel zu leben. Typisch für einen Kosmopoliten ist es einerseits, Dinge anders anzuschauen als der „authentische“ Insider es tut, so dass er/sie in dieser Beziehung ein Außenseiter ist. Andererseits schafft er/sie es häufig, auch die kulturelle Welt der Umgebung zu teilen, und damit auch zum Insider zu werden. Es ist diese besondere Kombination von Perspektiven, die den Exilierten, eigentlich: den Kosmopoliten viel zur kulturellen Entwicklung des Aufnahmelandes beisteuern lassen, oft in beiderlei Form: bereichernd und provozierend.
Kreativität und Verzweiflung Schauen wir uns einige jener deutschsprachigen jüdischen Flüchtlinge an, die infolge des Amoklaufes der Nazis in Europa nach Schweden kamen und ihre individuellen Spuren nachdrücklich sowohl in der Gruppe der Exilierten wie auch in der schwedischen Gesellschaft hinterließen. Zum einen trugen sie – meist auf indirekte Weise – dazu bei, die Komplexität der Migration und der Verfolgungserfahrungen zu reflektieren, zu verarbeiten und zu kommunizieren. Gleichzeitig vermittelten sie – meist auf direkte Weise – der schwedischen Gesellschaft und Kultur in sehr unterschiedlichen Bereichen wichtige Beiträge.⁴⁷ Zu ihnen gehörten die schon erwähnten Nelly Sachs sowie Peter und Alexander Weiss, aber auch ein Filmemacher wie Erwin Leiser, der Songschreiber und Kinofilmautor Adolf Schütz, Designer wie Josef Frank und Max Goldstein – besser bekannt als „Mago“; Fotografen wie Karol Lasch, Kulturmanager wie Harry Um mehr über die Personen zu erfahren, die hier erwähnt werden, verweise ich auf Müssener, Exil in Schweden, insbesondere die Sektion: Who is who in der deutschsprachigen Emigration in Schweden, S. 495 – 525. Eine weitere wichtige Quelle ist Dünzelmann, Anne E.: Stockholmer Spaziergänge. Auf den Spuren deutscher Exilierter 1933 – 1945. Nordersted 2016.
76
Lars Dencik
Schein, Wissenschaftler wie Lise Meitner, Soziologen wie Fritz Croner und Joachim Israel, die später Soziologie-Professoren wurden, David Katz, PsychologieProfessor, die Philosophie-Professoren Manfred Moritz und Ernst Cassirer⁴⁸; Karl Birnbaum, Leiter des Instituts für Auswärtige Politik, Rudolf Meidner, der führende Ideologe des schwedischen Gewerkschaftsbundes, der als solcher starken Einfluss auf die Entwicklung des schwedischen Wohlfahrtsstaatsmodells ausübte u.v. a. m. Leo Blech⁴⁹, Heinz Freudenthal⁵⁰, Ernst Emsheimer, Hans Holewa, Werner Wolf Glaser ⁵¹, Maxim Stempel⁵² und Georg Riedel lieferten großartige Beiträge im Bereich der Musik, andere wiederum, wie etwa Lotte Laserstein in der Malerei. Andere, wie Günter Dallmann, wurden profilierte und bekannte Journalisten, etc.⁵³ Dennoch gab es etliche Flüchtlinge mit sehr hohen Qualifikationen und starken Kompetenzen, insbesondere in den Geisteswissenschaften, die letztendlich nie eine Chance bekamen, sich noch einmal in ihrem Spezialgebiet zu verwirklichen. So beispielsweise auch Käte Hamburger, eine bekannte Kulturjournalistin und Linguistin aus Hamburg. Sie floh 1933 nach Frankreich und kam 1934
Durch seine Verbindungen zum damaligen Landeshauptmann in Göteborg, Malte Jacobson, einem Philosophen, der mit der in Wien geborenen Jüdin Emma Jacobson verheiratet war, gelang es Ernst Cassirer schließlich, auch einen Teil seiner Familie nach Schweden zu bringen. 1938, kurz vor der sogenannten Reichskristallnacht, folgte sein Sohn mit seiner Familie mit dem in Berlin 1933 geborenen Enkelsohn Peter nach Schweden. Dieser wurde in Schweden zuerst Opernsänger und später Dozent für nordische Sprachen an der Universität in Göteborg. Wohl auf Grund seiner herausragenden musikalischen und internationalen Reputation ordnete Hermann Göring an, dass Leo Blech, der zu dieser Zeit auf der Flucht in Riga war, ein Ausreisevisum nach Schweden erhalten sollte. Blech war einer der wenigen Juden, die nach Deutschland zurückkehrten, später wurde er Dirigent an der Städtischen Oper (heute Deutsche Oper) in Berlin. Freudenthal kam schon 1928 nach Schweden, als Konzertmeister für den Orchesterverein in Göteborg. Nach der Machtübernahme durch die Nazis konnte er nicht mehr nach Deutschland zurückkehren, was er gleichwohl als Rentner im Jahre 1982 tat. Sein Sohn Peter Freudenthal ist heute einer der bekanntesten Künstler in Schweden. Glasers Sohn Etienne ist ein bekannter Schauspieler sowie Theater- und Opern-Regisseur in Schweden. Er wurde 1937 in Kopenhagen geboren. Seine Eltern, von der NS-Rassengesetzgebung in Deutschland betroffen, waren 1934 dorthin emigriert. 1943 flohen sie weiter nach Schweden, um der Deportation aus Dänemark zu entgehen. Zu Emsheimer, Holewa und Stempel siehe auch Rosengren, Henrik: Fünf Musiker im schwedischen Exil: Nazismus – Kalter Krieg – Demokratie. Neumünster 2016, wie auch Rosengrens Beitrag in diesem Band. Obwohl es ihnen offiziell nicht erlaubt war, engagierten sich verschiedene deutschsprachige jüdische Flüchtlinge in Schweden stark auch in der Politik. Zu ihnen zählten u. a. Ernst Benedikt, Otto Friedländer und Stefan Szende. Szende arbeitete eng mit Willy Brandt zusammen, der über ihn schrieb, er habe eine geistig führende Rolle in der Stockholmer Gruppe gespielt.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
77
nach Schweden, wo sie ihren Lebensunterhalt als freie Mitarbeiterin bei lokalen Zeitungen sowie als Schul- und Privatlehrerin bestritt, bevor sie im Jahre 1956 als Germanistikprofessorin nach Stuttgart berufen wurde. An der Universität Göteborg war sie dagegen in den Jahren zuvor als Frau und zudem Jüdin nicht willkommen. Unter den Juden, die nach Hitlers Machtübernahme aus den deutschsprachigen Gebieten in Europa vertrieben wurden und am Ende in Schweden „strandeten“, befanden sich zudem nicht wenige unbegleitete Flüchtlingskinder⁵⁴ – „ensamkommande flyktingbarn“, wie sie die heutigen Sozialbehörden bezeichnen würden. In vielen Fällen war ihre Flucht aus Deutschland, Österreich⁵⁵ oder der Tschechoslowakei vom Hechaluz organisiert worden, einer zionistischsozialistischen Jugendorganisation mit dem Ziel, junge Jüdinnen und Juden auf die Einreise nach Palästina und den Aufbau eines dortigen jüdischen Gemeinwesens in speziellen Ausbildungszentren (Hachsharot) vorzubereiten. Im Laufe der Ausbildung sollten sie sich möglichst viele praktische Kenntnisse und Fertigkeiten aneignen, etwa im Bereich Landwirtschaft und Gartenbau. Als junge chaluzim, letztendlich aber als unbegleitete Flüchtlingskinder kamen u. a. Harry Schein, Joachim Israel, Kurt Gordan und Ruth Wächter⁵⁶ nach Schweden. Es war nichts Ungewöhnliches, wenn sie, auf sich allein gestellt, Hilfsarbeiten auf Bauernhöfen durchführen mussten, die sich irgendwo im Lande befanden und auf denen es auch keinen Lohn gab. Doch die meisten der jungen Menschen begannen, sich in neuen, ihnen noch unbekannten Bereichen zu orientieren. Fast alle verließen bald die Landwirtschaft und begannen sich selbst weiterzubilden. Nicht wenige von ihnen, wie beispielsweise Joachim Israel, Kurt Gordan, Michael Wächter und seine zeitweilige Frau Ruth Wächter, nahmen zunächst ein Studium und Praktika im Bereich der sozialen Arbeit auf, hierbei insbesondere mit Kindern und Jugendlichen. Von dort ging es häufig weiter zum Studium der Psychologie, Psychotherapie und benachbarter Disziplinen. Joachim
Als eines dieser unbegleiteten Flüchtlingskinder erscheint der Romanheld „Otto Ullman“ in Elisabeth Åsbrinks Buch Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden. Zürich/Hamburg 2014. Was die Erlebnisse und Erfahrungen derjenigen Jugendlichen betraf, die aus Österreich nach Schweden kamen, siehe Nawrocka, Irene (Hrsg.): Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Wien 2013. Ruth Wächter wurde 1921 in Deutschland geboren. Sie war Mitglied des Hechaluz, aber fühlte bereits als sie nach Schweden kam, dass sie „mit dem Zionismus abgeschlossen“ hatte. Durch Joachim Israel (1920 in Deutschland geboren) und Michael Wächter (1913 in Deutschland geboren) bekam sie allerdings wieder Anschluss an die Bewegung. Interessanterweise war sie die einzige unter den Chaluzim, die kein Hebräisch, sondern Arabisch lernte, da – wie sie sagte – „Arabisch die gesprochene Sprache in Palästina ist, und das ist es, wo wir hinzugehen planen.“
78
Lars Dencik
Israel wurde – wie schon erwähnt – Professor für Soziologie. Kurt Gordan wurde Professor und Direktor des Nationalen Institutes für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit psychologischen Problemen.⁵⁷ Michael Wächter wurde Universitätslehrer im Fachbereich Psychologie. Nachdem er 1938 in Schweden angekommen war, änderte er seinen eigentlichen Vornamen von Walter in Michael. Später wurde er Forschungsdirektor des Schwedischen Institutes für Militärpsychologie. Ruth Wächter wurde, nachdem sie ihr Abitur absolviert und in der gleichen Zeit in einer Konfektionsfabrik in Stockholm gearbeitet hatte, Sekretärin der Beigeordneten für soziale Fragen der Stadt Stockholm für die Sozialfürsorge und danach Leiterin der in Schweden legendären Abteilung für Entwicklung und Forschung im Bereich des Wohlfahrtswesens.⁵⁸ Im Jahr 2005 erhielt sie, nun schon im Alter von 84 Jahren, die Ehrendoktorwürde der Universität Lund. Einige der neuen Unternehmer, die sich aus den Reihen der deutsch-jüdischen Flüchtlinge rekrutierten, bauten Firmen auf, die inzwischen längst als schwedisches Markenzeichen wahrgenommen werden. Herbert Felix⁵⁹ ist so ein markantes Beispiel, um nur eines zu nennen, das Unternehmen wurde mit eingelegten „Felix“-Gurken und Gemüse in Konservenbüchsen in ganz Schweden bekannt. Ein spannendes Beispiel für wirtschaftlichen Erfolg – und zugleich für humanitäres Engagement – ist die Geschichte von Gilel Storch. Er wurde 1902 geboren und wuchs in einer deutsch- und jiddischsprachigen Familie in Lettland auf. Sein Vater leitete die Volksbank Lettlands. Als Geschäftsmann etablierte Gilel Storch gute Beziehungen auch zur Gruppe der sogenannten Baltendeutschen. Nach der sowjetischen Okkupation Lettlands im Sommer 1940 reiste er nach
Das Institut trug den Namen Ericastiftelsen. Kurt Gordan hatte Schweden 1934 schon einmal als 11-jähriger Junge besucht, ebenso im Folgejahr, als er eine Zeit lang mit der jüdischen Familie Ruben auf deren Anwesen in Südschweden verbrachte. 1939 war er 16 Jahre alt, und nachdem sein Einreisevisum für die USA abgelehnt worden war, gelang es ihm, auf eigene Faust nach Schweden zu kommen. Hier arbeitete er zunächst als Aushilfe auf dem Land, bis er eine Möglichkeit erhielt, eine Volkshochschule zu besuchen, obwohl er keinerlei finanzielle Mittel besaß, um die Ausbildung zu bezahlen. 1944 wurde er am Institut für Sozialforschung immatrikuliert, wo der damalige Direktor Gunnar Heckscher, ein schwedischer Professor mit jüdischer Abstammung (und später Vorsitzender der Schwedischen Konservativen Partei) ihn und später Gordans Antrag auf die schwedische Staatsbürgerschaft unterstützte. Ich erhielt die Möglichkeit, im Büro von Ruth Wächter zu arbeiten, und war dort in den 1980erJahren eine Zeit lang verantwortlich für Forschung über Kinderwohlfahrt. Herbert Felix, Vetter Bruno Kreiskys, kam im September 1938 nach Schweden. Er war in einer österreichisch-jüdischen Familie in Znojmo (deutsch: Znaim) in der Tschechoslowakei aufgewachsen. Vgl. hierzu Ohlsson, Per T.: Konservkungen Herbert Felix – ett flyktingöde i 1900-talets Europa. Bromma 2015.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
79
Schweden, offiziell auf Geschäftsreise, und erhielt nach Überwindung vieler Schwierigkeiten die Erlaubnis, in Schweden bleiben sowie seine Frau und die kleine Tochter nachholen zu dürfen. Über noch bestehende Verbindungen nach Lettland erfuhr Gilel Storch, dass die überwiegende Zahl der lettischen Juden nach dem deutschen Angriff und der Besetzung durch deutsche Truppen im Sommer 1941 auf brutale Weise ermordet worden waren. Daraufhin bemühte sich Storch, noch möglichst viele Juden aus dem Baltikum zu retten. Storch setzte dabei auch erhebliche eigene Mittel ein, die er in kluger Voraussicht noch vor Kriegsausbruch von Lettland nach Schweden transferiert hatte. Storch wurde zu einem „Menschenhändler unterm Hakenkreuz“⁶⁰, und er war unablässig als Lebensretter tätig. Zusammen mit den in Schweden lebenden, in Deutschland geborenen Geschäftsleuten Fritz Hollander und Kurt Masur bildete er ein Komitee, formal eine Zweigstelle des World Jewish Congress (in Schweden). Es organisierte von Schweden aus verschiedene, durchaus riskante, aber teilweise auch sehr erfolgreiche Rettungsaktionen für Juden. Um die Chancen seiner Rettungsaktionen zu verbessern, nahm Gilel Storch Kontakt zu ranghohen Nazifunktionären auf, und kurz vor Ende des Krieges stand er indirekt auch mit Heinrich Himmler in Verbindung, wobei er bemüht war, in Europa verbliebene und existentiell bedrohte Juden freizukaufen als auch Lebensmittel-Pakete in noch nicht befreite Konzentrationslager zu schicken. Da er aber kein Schwede, sondern Ausländer war, der unter ständiger Aufsicht der staatlichen Ausländerkommission (Statens Utlänningskommission) und der schwedischen Geheimpolizei stand, brauchte er einen schwedischen „running boy“, der sich frei bewegen und brisante geheime Nachrichten übermitteln konnte. Dieser „Boy“ war der damalige Schuljunge und spätere schwedische Ministerpräsident Olaf Palme. Storch war mit der Familie von Palmes Mutter bekannt. Diese wiederum entstammte einer aristokratischen baltendeutschen Familie in Lettland, mit der Gilel Storch schon vor dem Krieg in Lettland gute Kontakte hatte. Bemerkenswert an dieser Stelle: Olaf Palme sprach zu Hause durchaus deutsch mit seiner Mutter. Schätzungsweise 40.000 jüdische Leben konnten durch Gilel Storchs ununterbrochene Hingabe, Energie und sein Talent, einflussreiche Akteure wie den späteren Ministerpräsident Tage Erlander und den schwedischen Grafen Bernadotte für seine Rettungspläne zu gewinnen, gerettet werden.⁶¹
Siehe hierzu: Einhorn, Lena: Handelsresande i liv: om vilja och vankelmod i krigets skugga Stockholm 1999. S .122. Das Buch erschien 2002 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Menschenhandel unterm Hakenkreuz“. Einhorn, Handelsresande, S. 381 ff.
80
Lars Dencik
An dieser Stelle möchte ich die Aufmerksamkeit allerdings noch auf vier weitere, schon kurz erwähnte Persönlichkeiten lenken, die das Image vom „typisch Schwedischen“ nicht nur beeinflusst, sondern möglicherweise sogar geformt haben. Rudolf Meidner wurde 1914 in Breslau, dem heutigen Wrocław geboren. Nach dem Reichstagsbrand vom Februar 1933 sah er sich als Jude und Linkssozialist gezwungen, das Land zu verlassen. Er heiratete 1937 in Schweden und erhielt 1943 die schwedische Staatsbürgerschaft. 1954 verteidigte er seine Doktorarbeit zum Thema Der Arbeitsmarkt in Schweden bei Vollbeschäftigung an der Universität von Stockholm. Schon 1945 hatte er begonnen, für den schwedischen Gewerkschaftsbund zu arbeiten. Neun Jahre später, 1954, wurde er zum Leiter der Abteilung „Forschung und Entwicklung“ berufen. Er entwickelte die Grundlagen für eine sogenannte „solidarische Lohnpolitik“ und gestaltete auch das Rehn-Meidner-Modell mit, welches zu einem Eckstein für die schwedische Wirtschaftspolitik seit den 1950er-Jahren wurde.⁶² Es beschreibt, wie die Wirtschaftstheorien von Keynes, Lohnentwicklung, aktive Arbeitsmarktpolitik und staatliche Intervention sinnvoll für eine Weiterentwicklung der Wirtschaft kombiniert werden können. Nach seiner offiziellen Pensionierung arbeitete Rudolf Meidner eine Zeit lang auch mit dem Wissenschaftskolleg zu Berlin zusammen. 1983 verlieh ihm der damalige schwedische Ministerpräsident und Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, Olof Palme, den Titel eines Professors. Es dürfte wohl außer Frage stehen, dass Meidner die Entwicklung des schwedischen Wohlfahrtsstaates ganz wesentlich (mit‐)geprägt hat. In einer der Biografien, die über ihn geschrieben wurden, findet sich am Ende der bemerkenswerte Satz: „Nur wenige Personen hatten eine so spürbare Wirkung auf die schwedische Arbeiterbewegung und die Gesellschaft wie der LO-Ökonom Rudolf Meidner.“⁶³ Josef Frank wurde 1885 im österreichischen Baden geboren und wuchs in einer jüdischen Familie in Wien auf. Als Architekt wurde er zu einem der Pioniere des Funktionalismus. Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kam, spürte Josef Frank, Ein wichtiges Element in diesem Konzept, das von der schwedischen Sozialdemokratie übernommen wurde, war die Förderung von Rationalisierung und Zentralisierung der industriellen Produktion, um einerseits die Produktivität, andererseits die Sicherheit der angestellten Arbeiter zu verbessern. Als eine der Konsequenzen ergab sich eine immer schwierigere wirtschaftliche Lage für Kleinunternehmen, wie beispielsweise die Polsterei meines sozialdemokratisch eingestellten Vaters. Ich glaube, mein Vater hat nie völlig verstanden, dass die ökonomischen Probleme, mit denen sein Unternehmen langfristig konfrontiert war, sich aus der sozialdemokratischen Wirtschaftspolitik ergaben, die er als Privatperson selbst unterstützte. Wichtige Einblicke in das Leben von Rudolf Meidner als Privatperson wie auch zu seinen wichtigen Beiträgen zum sogenannten „Schwedischen Modell“ finden sich in: Greider, Göran: Rudolf Meidner – skärvor ur ett nittonhundratalsliv. Stockholm 1997.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
81
dass er das Land verlassen musste. Der Umstand, dass er mit einer schwedischen Frau verheiratet war, ermöglichte es ihm schließlich, sich in Schweden niederzulassen. Hier kam er bald in Kontakt mit dem führenden Design-Unternehmen Svenskt Tenn. Später sollte der schwedische Professor und Architekturhistoriker Frederic Bedoire resümieren: Mit seinen ungarischen Wurzeln und seinem Aufwachsen in der Atmosphäre der bourgeoisen Ringstraße, brachte Frank, als er wie andere aus der jüdischen Intelligenz die deutschsprachige Welt in den 1930er Jahren verließ, seine Innendesign-Kunst mit nach Schweden. Mit ihm wurden die widersprüchlichen Anforderungen von Modernismus und Tradition kombiniert und am Leben gehalten, in seiner farbenfrohen Welt der Formen mit stärkerer sinnlicher Brillanz als anderswo.⁶⁴
Josef Franks Produktionen im Innendesign verkörpern und vermitteln heute ganz augenscheinlich das, was viele Schweden und darüber hinaus ausländische Interessenten als Inbegriff des schwedischen Designs wahrnehmen Harry Schein wurde 1924 in Wien geboren, seine jüdische Mutter, geb. Garfein, stammte aus Przemyśl. Sein Vater war schon gestorben, als er auf abenteuerlichen Wegen nach Schweden kam. Am 23. Februar 1939 hatte die Jüdische Gemeinde von Stockholm (Mosaiska Församlingen) bei den schwedischen Behörden beantragt, einem 14 Jahre alten Jungen aus Wien die Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, dem deutschen Bürger Harry Leo Schein. Am 5. April 1939 kam er im Hafen von Trelleborg in Südschweden an.⁶⁵ Er war deutscher Bürger, da der „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich vollzogen war. So besaß der Junge Harry einen deutschen Pass, gestempelt mit dem berüchtigten „J“ für Jude.⁶⁶ Er wurde als „Transmigrant“ eingestuft,⁶⁷ d. h., er bekam zunächst nur eine kurze, zeitlich begrenzte Aufenthaltserlaubnis für Schweden.
Vgl. Bedoire, Fredric: En judisk 1800-tals kultur – mönster för borgerligheten, i Josef Frank – arkitekt och outsider. Stockholm 2007. Er war für einen der so genannten „Kindertransporte“ nach Schweden vorgesehen, aber es ist nicht sicher, dass er diese Möglichkeit tatsächlich genutzt hat. Heute wissen wir, dass die Eltern der Romanfigur „Otto Ullman“ in Elisabeth Åsbrinks Buch Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden brieflich Otto mitteilen, dass sein Altersgenosse Harry Schein ebenfalls auf dem Weg nach Schweden sei. Vgl. Åsbrink, Elisabeth: Scheins Houdinitrick misslyckades. Dagens Nyheter, 13. 3. 2017. Die Kindertransporte waren ein organisierter Versuch des World Jewish Relief, jüdische Kinder aus Deutschland und Österreich zu retten. Die Aktion fand neun Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges statt. Vgl. Ferm, Anders: Den tredje mannen. In: Citizen Schein. Hrsg. von Lars Ilshammar [u. a.]. Stockholm 2010. Einem großen Teil der jüdischen Flüchtlinge, die nach Schweden einreisen durften, wurde dies nur unter der Bedingung gestattet, dass ihr Aufenthalt in Schweden zeitlich befristet und eine
82
Lars Dencik
In Schweden studierte Harry Schein am Stockholmer Technologischen Institut und wurde ein erfolgreicher Ingenieur und Geschäftsmann im Bereich der Wasserreinigung. Nach einigen Jahren begann er auch, sich in das politische und kulturelle Leben in Schweden einzumischen, und schrieb u. a. viel beachtete Artikel für Zeitungen und Zeitschriften, so 1943 in Nu über die Österreicher, deren Land er ja hatte verlassen müssen: „Ein Volk, dem jeglicher Charakter abgeht und das schon ausgesprochen antisemitisch war, lange bevor die Deutschen erschienen.“ Der Chefredakteur der Tageszeitung Aftonbladet schätzte ihn als einen „außerordentlich hochgebildeten Mann“ ein, der sich fließend in der schwedischen Sprache bewegte.⁶⁸ Nach einigen fehlgeschlagenen Versuchen erhielt Harry Schein 1950 die schwedische Staatsbürgerschaft. Durch seine zahlreichen Beiträge zum politischen und kulturellen Leben in Schweden wurde er bald ein gefragter Mann mit bedeutendem Einfluss auf die kulturelle Szene. Zudem schloss er Freundschaft mit prominenten Personen des öffentlichen Lebens, so unter anderem mit dem Filmemacher Ingmar Bergman und vielen führenden Sozialdemokraten des Landes, nicht zuletzt mit Olof Palme, mit dem er auch dann noch Tennis spielte, als Palme bereits schwedischer Ministerpräsident war.⁶⁹ Harry Scheins Geschichte erscheint wie eine einzige Erfolgsstory.Was weniger bekannt ist: Gleichzeitig durchzogen sein Leben eine verzweifelte, existenzielle Einsamkeit und ein unterdrückter, starker Hang zur Depressivität.⁷⁰ Scheins außergewöhnliches Talent sowohl im gesellschaftlichen wie auch im unternehmerischen Bereich, seine enge Verbindung mit der schwedischen Sozialdemokratie und das starke Interesse an Kunst und Kultur, nicht zuletzt im Bereich Film, führten dazu, dass er Initiator und erster Geschäftsführer des 1963 gegründeten Schwedischen Filminstitutes wurde. Aus dieser Position heraus zeichnete er verantwortlich für die in dieser Zeit auch international ungemein erfolgreichen schwedischen Filmproduktionen. Hartnäckig betonte er kulturelle Qualität als Hauptmesswert der Filmkunst, nicht zuletzt durch die Produktionen Weiterreise beispielweise nach den USA oder Palästina aktuell sei. Doch war dies in vielen Fällen nicht durchführbar, und viele der Betroffenen hegten diesen Wunsch auch gar nicht. Nicht wenige von ihnen ließen sich am Ende dauerhaft in Schweden nieder. Vgl. Ferm, Den tredje mannen. Ihre letzte gemeinsame Tennis-Partie spielten sie am 28. Februar 1986, an dem Tag, an welchem Ministerpräsident Olof Palme auf offener Straße erschossen wurde. So Scheins langjährige Lebensgefährtin, die Journalistin Åsa Moberg, in dem Dokumentarfilm Citizen Schein, 2017. Harry Schein versuchte auch verzweifelt, sein Judentum abzuschütteln. Wie kaum eine andere Person in meinem Essay illustriert Harry Schein meine These von der möglichen Doppelhaftigkeit der Wirkungen, die ein Mensch im Dauer-Exil erfährt, nämlich dass Exil Verzweiflung und Kreativität parallel zueinander und in großer Intensität hervorrufen kann.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
83
von Ingmar Bergman. Auf diesem Weg trug einer der „un-schwedischsten“ Charaktere, die man sich vorstellen kann, spürbar zu dem bei, was die Welt als „typisch schwedisch“ wahrgenommen hat. Als der Dokumentarfilm Citizen Schein in die Kinos kam, wählte Dagens Nyheter, die führende schwedische Tageszeitung, als Titel eines Artikels: „Der Flüchtling, der die schwedische Kultur formte“.⁷¹ Georg Riedel war ein Musiker und Komponist, der 1934 in eine deutschsprachige, böhmisch-jüdische Familie in Karlovy Vary (Karlsbad) geboren wurde.⁷² Er kam als vier Jahre alter Junge mit seiner Familie nach Schweden, kurz bevor das sogenannte Münchener Abkommen besiegelt wurde – jener „Deal“ zwischen Großbritannien, Frankreich und Nazideutschland, der es ermöglichte, dass die deutschsprachigen Gebiete der tschechoslowakischen Republik, d. h. Böhmen und Mähren, vom Deutschen Reich einverleibt werden konnten. In Schweden trug Georg Riedel viel zur Entwicklung des Folksong-orientierten, minimalistischen Jazz-Stils „Jazz på svenska“ („Jazz auf Schwedisch“) bei, einer Stilrichtung, die beim schwedischen Musikpublikum ungemein beliebt ist. Zudem schrieb er die Musik und Lieder für die Verfilmung von Astrid Lindgren Kinderbüchern und dies in musikalischen Formen, die als echt „schwedisch“ gelten. 1993 wurde Riedel in die Schwedisch-Königliche Musikakademie gewählt. Fast nichts ist heutzutage so mit „echt schwedisch“ verbunden wie Georg Riedels Lieder und Musikstücke. Sie illustrieren, was Schweden, und insbesondere die schwedischen Schulkinder, heute damit verbinden: Sommer, Spiel, Freizeit, Freiheit, Leben auf dem Lande, Idyll und Drama, und all das aus einer nostalgischen Perspektive. Am Abschluss eines Schuljahres, kurz vor den Sommerferien, singen die schwedischen Schulkinder gern eines dieser Lieder Georg Riedels, das den Traum vom Sommer einfängt – „Idas sommarvisa“.⁷³ Georg Riedel kam einst als deutschsprechendes Kind mit dem Zug aus der Tschechoslowakei über Polen und Estland nach Helsinki (Finnland), wo er und seine jüdische Mutter es auf das Schiff nach Stockholm schafften. Georg Riedel, so schreibt die Tageszeitung Dagens Nyheter, „ist heute ein Symbol für das allerschwedischste, was man sich vorstellen kann. Die Kinderlieder von Astrid Lindgren. […] Diese Musik zählt zum Schwedischsten überhaupt.“⁷⁴ Betrachten wir zusammengenommen die Auswirkungen, die diese vier ursprünglich deutschsprachigen Juden, die sich vor der Naziverfolgung nach Schweden in Sicherheit gebracht hatten, auf das, was heute als „typisch schwe Flyktingen som formade svensk kultur, Dagens Nyheter Kultur, 8. 3. 2017, S. 4. . Georg Riedels Vater war Architekt und stand als Sozialdemokrat mit Willy Brandt in Verbindung. Vgl. Riedel, Georg: En bunt visor för Pippi, Emil och andra. Stockholm 1978. Dagens Nyheter, 28. 10. 2012 (Hans Kornbrink).
84
Lars Dencik
disch“ bezeichnet wird, gehabt haben, so kann ihr Einfluss nur schwerlich überschätzt werden. Ich habe diese Beispiele geschildert, um auf einen häufig übersehenen Aspekt im Leben von Exilanten hinzuweisen, nämlich den, dass das Exil, bei allen Schwierigkeiten und aller Verzweiflung, auch ein Nährboden für außergewöhnliche künstlerische und gesellschaftliche Kreativität sein kann. Kontrafaktische Geschichtsschreibung grenzt meist an eine Art intellektuelles Spiel. Doch überlegen wir uns einen Augenblick, wie sich die Begabungen von Nelly Sachs, Peter Weiss und den anderen, oben erwähnten Persönlichkeiten entwickelt hätten, wären sie nicht gezwungen gewesen, ihre Heimat zu verlassen und sich ins Exil zu begeben. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es jedoch auch, daran zu erinnern, dass die Lebenslust bei manchen der Exilierten mit der Zeit erodierte, so dass sie sich in einem einzigen schwarzen Loch der Depression und Angst wiederfanden. Die zunehmenden psychischen Leiden von Nelly Sachs, nachdem sie den Droste-Preis 1960 und den Nobelpreis für Literatur 1966 in Empfang genommen hatte, bis hin zu ihrem Tod 1970, illustriert dieses Problem.⁷⁵
Monarchfalter, Schatten und kulturelle Bumerangs Es gibt eine besondere Schmetterlingsart, den so genannten „Monarchfalter“ [Danaus plexippus]. Die Monarchfalter sind eine Besonderheit unter den Schmetterlingen, denn sie durchqueren riesige Gebiete, kehren aber am Ende zu dem Platz, an dem sie geboren wurden, zurück. Allerdings sind es nicht die gleichen Individuen, die an den Platz der Geburt zurückkehren, sondern ihre Nachkommen. Tatsächlich dauert es einige Generationen, bevor die UrenkelSchmetterlinge an den Ort gelangen, den ihre Vorfahren lange Zeit zuvor verlassen haben. Viele von uns haben es erlebt, wie Dinge, die komplett verlorengegangen sind, später in neuer Form zurückkehren. Manchmal kehren sie sanft zurück, allerdings eher wie ein Schatten von dem, wie wir sie vordem wahrgenommen haben. Oder sie kehren nach einer Weile zurück und schlagen uns gegen den Kopf wie ein Bumerang. Betrachten wir nun aus genau dieser Perspektive einige der deutschsprachigen jüdischen Migranten nach Schweden.
In nicht wenigen Fällen mündete das Leben prominenter Schriftsteller, die wie Paul Celan, Jean Améry, Bruno Bettelheim und Primo Levi die Shoah überlebt hatten, am Ende doch in Selbstmord.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
85
Als Michael Wächter 1949 zum ersten Mal Vater wurde, schwor er sich, dass seine Kinder niemals auch nur ein Wort auf Deutsch hören sollten. Michael Wächter wie auch Kurt Gordan verhinderten auch, dass bei ihnen zu Hause Deutsch gesprochen wurde, und sie fühlten sich verletzt, wann immer sie mit deutscher Sprache konfrontiert wurden.⁷⁶ Es ist höchst interessant, was dazu Michael Wächters Sohn Torkel, ein schwedischer Schriftsteller, vor kurzem in einem Interview (2016) sagte: Nachdem mein Vater gestorben war, fand ich verschiedene Kartons mit Briefen der Familie, Tagebücher und andere Dokumente. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich Fotografien von meinen Großeltern. Mein Vater hatte nie Deutsch mit mir gesprochen, und so musste ich diese Sprache lernen, damit ich in das Material eintauchen konnte. Indem ich die Briefe von meinem Großvater und meiner Großmutter väterlicherseits las, lernte ich sie kennen, und zur gleichen Zeit lernte ich ihre deutsche Sprache und Kultur lieben! […] Ich habe auch die deutsche Staatsbürgerschaft zurückerlangt, die die Nazis meinen Großeltern väterlicherseits weggenommen hatten.“⁷⁷
Torkel Wächter, geboren 1961, lebt mit seiner schwedischen Frau und den vier Kindern in Stockholm. In frühen Jahren besuchten die Kinder den jüdischen Kindergarten. Als sie größer wurden, brachten die Eltern sie in die deutsche Schule in Stockholm, die sie auch gegenwärtig noch besuchen. Ein Kreis hat sich geschlossen. Kurt Gordans Sohn Dan, Jahrgang 1952 und Herausgeber eines bekannten schwedischen Magazins für Innendesign, berichtete über eine gemeinsame Reise im Winter 1990/1991 mit seinem Vater Kurt nach Berlin. Für beide wurde das eine sehr berührende Angelegenheit: Bei dieser Reise erweiterte sich plötzlich meine Familie mit Verwandten, über die mein Vater niemals gesprochen hatte. Die meisten von ihnen waren in Todeslagern während der Nazizeit ermordet worden. Ich machte ihre Geschichte zu meiner.⁷⁸
Ein weiteres eindrückliches Beispiel, das die Rückkehr zu den eigenen Ursprüngen nach mehreren Generationen beschreibt, ist das von Kaj Schueler, einem
Auch Harry Schein sprach nie mehr Deutsch, nachdem er sich in Schweden niedergelassen hatte – bis zu seinem letzten Tag, als einer seiner Freunde, der schwedisch-griechische Schriftsteller Theodor Kallifatides, ihn besuchte. Schein lag bereits im Sterben, doch als Kallifatides Anstalten machte, den Raum wieder zu verlassen, wandte er sich an ihn und sagte: „Danke, dass du gekommen bist!“ Siehe: Judisk Krönika 4 (2016). S. 42. Siehe auch Wächter, Torkel: 32 Postkarten – Post aus Nazi-Deutschland. Hamburg, 2014. Dan Gordan in einem privaten Gespräch mit dem Autor.
86
Lars Dencik
Journalisten und Kulturredakteur. In seinem Buch über die Flucht seiner Großeltern väterlicherseits aus Berlin im Jahre 1942 rekonstruiert er noch einmal, wie sie ihre Flucht verschleiert hatten: Wir schrieben einen Brief an die vier Juden, die man gewaltsam in unserer Wohnung einquartiert hatte. In diesem schrieben wir, dass wir nun deportiert werden sollten und uns deshalb entschieden hätten, Selbstmord zu begehen, was einige Ältere vor uns tatsächlich getan hatten.
In Wahrheit erhielten die beiden aber gefälschte Pässe durch einen nichtjüdischen Freund, einen Künstler, und schafften es, in die Schweiz zu fliehen. Während er dieses Buch über ihre Flucht schrieb, fuhr ihr Enkel Kaj nach Darmstadt, um den Sohn des Künstlers zu treffen, der bei der Rettung seiner Großeltern geholfen hatte. Die beiden Männer im mittleren Alter besuchten dann gemeinsam das Grab des Künstlers. Auf dem Grabstein sind drei verschiedene Namen verzeichnet: Der Name des deutschen Künstlers, der den Großeltern des besagten schwedischen Autors Kaj Schueler das Leben rettete, der der Frau des Künstlers und Mutter des deutschen Mannes, der das Grab seiner Eltern besucht, und auch der Name des zweiten Ehemannes der Mutter – ein Mann, der während der Nazizeit ein Obersturmbannführer war.⁷⁹ Im Schatten dieses stillen posthumen deutschen Dramas, und um die genaueren Details der Geschichte zu erfahren, zog Kaj im Herbst 2013 für eine Weile nach Berlin.⁸⁰ Auch an die Geschichte von Erich Jacoby sollte in diesem Zusammenhang erinnert werden. Seine Tochter Ruth beschreibt seinen Lebensbogen in folgender Weise: Erich H. Jacoby (1903 – 1979), jüdischer Rechtsanwalt aus Berlin, Syndikus der Eisenbahnergewerkschaft und aktiv in der Gewerkschaftsbewegung der Weimarer Republik, flieht 1933 vor den Nazis über Dänemark und Schweden bis zu den Philippinen, wo er Zeuge der Ausbeutung der Landarbeiter wird. Nach Kriegsende ist er in führender Position bei der Welternährungsorganisation FAO in Rom für Fragen der Landreform verantwortlich. Er stirbt in Schweden, dem einzigen Land, das bereit war, ihn nach 23-jähriger Staatenlosigkeit einzubürgern.⁸¹
Vgl. Schueler, Kaj: Flykten från Berlin 1942. Stockholm 2008. Zur gleichen Zeit besuchte ich ebenfalls Berlin, und es ergab sich, dass wir uns zufällig auf einer jüdischen Veranstaltung in der Stadt trafen. Vgl. Jacoby, Ruth/Schikorski, Felix (Hrsg.): Mensch – Land – Gerechtigkeit. Die Erinnerungen Erich Helmuth Jacobys (1903 – 1979) „Ein Leben im Spiegel der Zeit“. (= Jüdische Memoiren 19). Berlin 2013.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
87
In diesem Kontext ist besonders interessant, dass Ruth Jacoby, geboren 1949 in New York und Tochter dieses so extrem lange staatenlosen deutschen Juden, der vor der Shoah in Berlin lebte und nach ihr in Rom arbeitete, von 2006 – 2010 schwedische Botschafterin in Berlin und danach von 2010 – 2015 in Rom war. Dass die Tochter eines heimatvertriebenen deutschen Juden nun ausgerechnet in Berlin Botschafterin des Landes wurde, das für den Vater Zuflucht geworden war, ähnelt wohl am meisten dem beschriebenen persönlichen Bumerang an den Kopf eines Landes, das ihre Verwandten vertrieb und ermordete. Meine „persönliche Reise ins Deutsche“ beschreibt ebenfalls eine Wanderung von der deutschen Kultur und zurück zu ihr. Ob sie das Bild des Monarchfalters oder einen Schatten, der zurückkehrt, oder gar den Bumerang, am besten beschreibt, muss sich erst noch herausstellen.
Meine persönliche Reise ins Deutsche – zweiter Teil In einer Chronik der schwedischen Tageszeitung Svenska Dagbladet am 31. Dezember 1995 schrieb ich: Warum haben mich meine Eltern in diese Welt geboren? Ich wurde in Schweden im Mai 1941 geboren. Ohne Staatsbürgerschaft. Anderthalb Jahre vorher waren meine Eltern hierher aus einem Land gekommen, das schon gar nicht mehr existierte. Kaum konnte die Welt dunkler erscheinen als damals. Nazi-Sturmtruppen und ihre Verbündeten dominierten über die meisten europäischen Länder. Stalin und Hitler hatten einen Nichtangriffs-Pakt geschlossen, und die Deutschen führten Krieg mit ununterbrochenem Erfolg. Der Blitz zuckte auch über die Britische Insel, de Gaulle war auf der Flucht, und in den Städten Europas zogen die Nazis Stacheldraht um die jüdischen Wohngebiete. Dänemark und Norwegen waren besetzt, Estland war schon „judenrein“. Als ich einen Monat alt war, überfielen die Deutschen die Sowjetunion, und als ich ein halbes Jahr alt war, begannen die ersten Vergasungsaktionen in Belzec. Wenige Tage nach meinem ersten Geburtstag wurden meine Großeltern in Todeslager der lokalen slowakischen Nazis verbracht⁸², von Menschen, die noch bis vor kurzem anständige Nachbarn meiner Eltern gewesen waren. Ich wurde im Schatten der Shoah geboren, und einen großen Teil meines Lebens habe ich in diesem Schatten gelebt. In einer eigenartigen Weise jetzt viel mehr als in der Zeit, in der ich aufwuchs. Wenn ich es richtig betrachte, wurde ich geboren aus Trotz. Trotz gegen all das Böse und Höllische, das ringsherum wütete. Als eine Bestätigung des Lebens selbst und
Einige meiner Onkel, Tanten, Vettern und Cousinen wurde zu dieser Zeit nach Maidanek transportiert und ermordet. Meine Großmutter väterlicherseits war kurz vor Kriegsausbruch gestorben. Die anderen drei Großeltern wurden nach Auschwitz und Treblinka deportiert und dort zu einem späteren Zeitpunkt ermordet.
88
Lars Dencik
seiner Heiligkeit. […] Mein Onkel Josef, der es geschafft hatte, das damalige Palästina zu erreichen, änderte seinen Namen in Bar-Chai – Sohn des Lebens. Genau diesen Namen würde ich auch adaptieren, falls es, eines Tages, notwendig sein würde, meinen Familiennamen zu ändern. […] Im Rückspiegel des Lebens betrachtet: Was bedeutete dieser Hintergrund für die Linien meiner Lebensorientierung, und für die vielen anderer meiner Generation? Drei Gegebenheiten stachen in meinem eigenen Leben deutlich hervor: Ein offensichtlicher, fast schon neurotischer Eifer für die Zukunft; ein fest ausgeprägter Sinn für soziale Gerechtigkeit; und ein nahezu obsessives Interesse an Kultur, Kunst und allen anderen möglichen Manifestationen und Ausdrucksweisen der Menschen. Die Welt konnte kaum schlimmer werden als sie ohnehin gewesen war. Alles, was ein Versprechen auf neue Ausblicke implizierte – technische Erfindungen, radikale politische Kritik, kühne künstlerische Experimente, wir nahmen es auf mit unverhülltem Enthusiasmus. Und gegen alles, was nach Unterdrückung und Ungerechtigkeit roch, etwa die koloniale Unterdrückung in der „Dritten Welt“, das Apartheidsystem in Südafrika, die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung in den USA, nahmen wir Stellung! Wir agitierten, boykottierten und demonstrierten. Für uns waren die skandinavischen sozialen Wohlfahrtsstaaten die allernächsten Plätze nahe der letzten Haltestelle vor dem Gelobten Land. Ich entwickelte mich zu einem enthusiastischen Modernisten. Meine Antriebskraft war der Anspruch, dem Leben seine Reichhaltigkeit abzugewinnen, und der Realität ihre Mysterien und Geheimnisse. Immer noch bereiten mir alle Bücher, die ich nicht gelesen habe, alle Philosophien, die ich nicht studiert habe, alle geistigen Anstrengungen die ich nicht unternommen habe, ein schlechtes Gewissen – weil dies alles mich ja klüger machen würde, mein Denken nuancierter, meine Vorurteile geringer. Wenn ich zurückschaue, erkenne ich, dass das, was uns beflügelt hat, eine Faustische Obsession war, alles wissen zu wollen, alles bewältigen, alles verstehen zu können.⁸³ Als ob das geholfen hätte. Vielleicht war ich, als Schüler am Gymnasium, deshalb so ergriffen von einem Schlüssel-Satz in Goethes Faust II: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Die gleiche Einstellung war charakteristisch für meine Eltern und für viele andere jüdische Immigranten und Shoahflüchtlinge aus den deutschsprachigen Gebieten in Schweden. Besonders spürbar war unter ihnen der Wille, nicht nur ein neues Leben für sich selbst, sondern auch für eine Zukunft aufzubauen, die auf ihren eigenen kreativen Anstrengungen fußte. Schon wenige Jahre nach seiner Ankunft in Schweden etablierte mein Vater seine eigene kleine Polsterei in Borås. Innerhalb weniger Jahre entwickelte er diese zu einer Fabrik, mit ihm selbst als Managing Director und meiner Mutter als Buchhalterin. Vater gab dem Unternehmen den Namen ARDEBO, ein Acronym für Arpád Deutsch Borås. 1944 zogen wir mit dem Unternehmen um nach Lerum, einer kleinen Ortschaft in der Nähe von Göteborg, wo ich meine Kindheit verbrachte.
„Eine typische jüdische Obsession“, wie einer meiner deutschen Freunde einmal bemerkte.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
89
Aus Deutsch wird Dencik Wie schon erwähnt, war unser Familienname, als ich geboren wurde, „Deutsch“. Jetzt lautet er Dencik. Der Name „Deutsch“, obwohl mit vielen dunklen Konnotationen verbunden, wenn man ihn zu wörtlich nimmt, ist in Schweden leicht verständlich. „Dencik“ ist dagegen keineswegs so leicht verständlich und vertraut. Dies umso weniger, als Dencik mit dem kleinen umgekehrten französischen Circumflex, einem Caron, im Tschechischen „haček“ [hatschek, Häkchen], über dem Buchstaben „c“ geschrieben wird. Mit diesem Zeichen versehen, wird das „c“ wie ein weiches „tsch“ gesprochen. Wie kam nun dieser eigenartige Namenswechsel zustande, während wir uns in Schweden doch längst gut eingelebt hatten? Einer meiner Onkel, einer derjenigen, die die Shoah überlebt hatten, blieb während der Nazizeit in der Tschechoslowakei, wo er sich – ein Zahnarzt – den Partisanen anschloss. Gelegentlich musste er in Nazi-kontrollierte Gebiete einreisen, wo seine ID-Karte (Personalausweis) jederzeit kontrolliert werden konnte. In dieser Gegend den Namen „Deutsch“ zu führen, war ein klares Indiz dafür, dass man jüdischer Abstammung war. So beschloss mein Onkel in aller Gelassenheit, den Namen im Personalausweise einfach abzuändern. Die Initialen „De“ behielt er bei, dass „u“ stellte er auf den Kopf. „t“ und „s“ brachte er in ein Häkchen, das er auf den Kopf des nun folgenden Buchstaben, des „c“, setzte. Den Schlussbuchstaben „h“ formte er zu „k“. So war „Denčik“ entstanden, ein Name, der sehr tschechisch oder slowakisch klang, aber auch keine besondere Bedeutung hatte und vor allem mit keinerlei rassischer Assoziation aufgeladen war. Aus dem Zahnarzt Herrn Deutsch war der Zahnarzt Herr Denčik geworden, und ganz offensichtlich schützte dies ihn und seine Familie vor Deportation und Vernichtung. 1946 fuhren meine Eltern zusammen mit meinem Bruder in die Tschechoslowakei, um zu schauen, wer von der Familie noch übriggeblieben war. Auf der Seite meines Vaters waren mein Onkel und seine Familie die einzigen Überlebenden – die anderen acht Geschwister waren mitsamt ihren Familien ermordet worden. Und so auch mein Großvater väterlicherseits. So beschlossen die beiden überlebenden Brüder, dass sie künftig wenigstens den gleichen Familiennamen tragen sollten. Da mein Onkel unter seinen Kameraden bereits als der Herr Zahnarzt Denčik wohlbekannt war, und mein Vater nur ein unbekannter Immigrant in einem fremden Land, einigten sich die Brüder, in Zukunft den Familiennamen Denčik zu tragen.⁸⁴ 1948 beantragten meine Eltern die schwedische Das „hatschek“ über dem „c“ im Familiennamen zu tragen, erwies sich im schwedischen Alltag bald als sehr unpraktisch, zumal es hier kein Zeichen dieser Art im Alphabet gibt. So wurde aus Denčik alsbald Dencik – was im Schwedischen immer noch eigenartig und schwierig auszusprechen ist.
90
Lars Dencik
Staatsbürgerschaft.⁸⁵ Als sie konsequenterweise dann auch ihre schwedischen Pässe erhielten, war unser Familienname endgültig „Dencik“. Fast jeden Tag habe ich die Fabrik meines Vaters besucht. Für mich als jungen Knaben war das ein faszinierender Ort – ein Ort, wo es in einer kakofonischen Mischung aus verschiedensten Sprachen ständig lebhafte Diskussionen gab. Mehr als die Hälfte der etwa 25 Menschen, die während der späten 1940er-Jahre in der Firma arbeiteten, waren Shoah-Flüchtlinge – oder Überlebende aus Ungarn, Österreich, der Tschechoslowakei oder Deutschland. Unter ihnen waren Doktoren der Jurisprudenz aus Prag und Budapest, Musiker, frühere Ladenbesitzer und junge Mädchen ohne Ausbildung. Einige waren irgendwie entfernt oder indirekt entweder mit der Familie meiner Mutter oder mit der meines Vaters verwandt. Die Cousine meiner Mutter hatte Auschwitz überlebt und kam kurz nach Kriegsende mit Hilfe des Roten Kreuzes nach Schweden. Die Cousine meines Vaters und ihr Mann kamen aus Bergen-Belsen, ebenfalls durch eine humanitäre Aktion des Roten Kreuzes.⁸⁶ Ein junges ungarisches Pärchen, das den Krieg auch auf ähnliche Weise überlebt hatte, war ebenfalls in der Fabrik angestellt; der Ehemann hatte vor dem Krieg in der gleichen Kleinstadt in der Slowakei gelebt wie mein Vater. Ein weiterer bei ARDEBO angestellter Mitarbeiter gehörte zu den Freunden, die meine Eltern bei ihrer Flucht aus der Slowakei und durch Polen begleitet hatten. Er war in der gleichen Kleinstadt wie mein Vater geboren, aber dann nach Prag gezogen und hatte einen Abschluss als Doktor der Rechtswissenschaften gemacht. Und zur Mannschaft gehörten auch zwei junge Frauen, die gemeinsam den Todesmarsch von Auschwitz überlebt und danach irgendwie von der Existenz meines Vaters in Schweden erfahren hatten. Keine der oben erwähnten Personen in der Fabrik meines Vaters hatte eine Ausbildung als Polsterer oder war irgendwie mit der Produktion von Möbeln vertraut. Wie auch immer, alle von ihnen hatten dennoch eine offizielle Anstellung im Unternehmen meines Vaters erhalten. Ein bestehendes Arbeitsverhältnis war eine der Grundbedingungen für sie alle, um in Schweden bleiben zu dürfen. Die Produktionsabläufe waren kaum mechanisiert und zum großen Teil abhängig
Ich habe immer noch das Bild vor mir, wie ich auf dem Schoß meiner Lehrerin „fröken (Fräulein) Niklasson“ sitze, während sie sich mit meinen Eltern unterhält, um deren Schwedischkenntnisse zu testen. Einige dieser Aktionen begannen bereits im März/April 1945, d. h., noch vor Ende des Krieges. Sie wurden durchgeführt mit Hilfe von weißangestrichenen Bussen, auf deren Dächern und Seiten große rote Kreuze prangten, um zu verhindern, dass sie fälschlicherweise als Militärfahrzeuge wahrgenommen würden. Die Aktion „Die Weißen Busse“ war zunächst ein Versuch, inhaftierte Skandinavier aus den deutschen Konzentrationslagern zu holen. Die Aktion wurde koordiniert und geleitet vom schwedischen Grafen Folke Bernadotte.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
91
von handwerklichen Fertigkeiten. Männer, die dieses Handwerk nicht gelernt hatten, waren angestellt für einfache Polstererarbeiten, in manchen Fällen auch als reisende Verkäufer, obwohl sie in der Anfangszeit gar kein Schwedisch sprachen. Einige derjenigen, die auch in der Fabrik arbeiteten, waren professionelle Polsterer; eine Handvoll von ihnen waren übrigens Dänen, die Dänemark während der deutschen Besatzung verlassen mussten, weil sie in der Widerstandsbewegung aktiv gewesen waren, andere waren schwedische Fachkräfte. Die vergleichsweise vielen Frauen waren hauptsächlich als Näherinnen eingestellt. Der größte Teil der Korrespondenz mit den Kunden von ARDEBO wurde von meiner Mutter bewältigt, manchmal auch von meinem Vater. Keiner von beiden hat jemals die schwedische Sprache richtig gemeistert. Die ganze Zeit schrieben und sprachen sie eine Art gebrochenes, aber grundsätzlich verständliches schwedischen Kauderwelsch. Und so sprachen sie auch mit mir und meinem jüngeren Bruder. Ungeachtet all der Besonderheiten und Ungewöhnlichkeiten der Firma liefen die Dinge schon in den ersten, entscheidenden Jahren sehr gut. Mein Vater, kein ausgebildeter Architekt oder Designer, gestaltete und produzierte Polstermöbel im, wie er es formulierte, „modernen Stil“, und versah seine Designs mit dem Kürzel „Ar. (wohlweislich ohne „k“, was ihn fälschlicherweise als einen Architekten ausgewiesen hätte) Dencik“. Meine Eltern, vor allem aber mein Vater schätzten „das Moderne“ sehr und waren stolz darauf, einen modernen Lebensstil zu pflegen. Die Welt, die sie und fast all die anderen Flüchtlinge neben ihnen hatten verlassen müssen, erschien ihnen jetzt als primitiv und brutal. In den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, und ganz besonders nachdem sie 1948 die schwedische Staatsbürgerschaft erhalten hatten, denke ich, entwickelten meine Eltern ein wachsendes Gefühl dafür, dass sie sehr erfolgreich etwas Neues geschaffen hatten – ein neues Leben für sich selbst, eine Familie mit zwei Söhnen, eine eigene Firma, ein insgesamt gutes Dasein und einen recht respektablen Lebensstandard. Obwohl sie, wie erwähnt, Schwedisch nur mit starkem Akzent sprachen, engagierte sich mein Vater, ein leidenschaftlicher Sozialdemokrat, in der Kommunalpolitik und übernahm Aufgaben und Positionen in lokalen Organisationen, wurde Vorsitzender der Mietervereinigung, war aktives Mitglied und Sponsor der lokalen Organisation der Sozialdemokraten, wurde in den Vorstand der lokalen Feuerwehr gewählt, unterstützte den städtischen Fußballverein u. a. m. Ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, seine Jüdischkeit oder seinen zentraleuropäischen, städtischen Lebensstil aufzugeben, beschritt er jedoch auch viele Wege, um sich mit dem Schwedischen zu verbinden.
92
Lars Dencik
Besonders ist mir dabei noch vor Augen, als ich, 22 Jahre alt, meine Wehrpflicht in einer schwedischen Provinzstadt ableistete und mein jüngerer Bruder⁸⁷ die seine gleichzeitig in einer nahegelegenen Provinzstadt. An einem Wochenende im Sommer 1963, als wir beide auf Urlaub waren, lud uns unser Vater in das renommierte Hotel „Stora Hotellet“ in Jönköping ein. Gewöhnlich beeilten wir uns im Urlaub, unsere Uniformen abzulegen, doch diesmal forderte unser Vater uns auf, zum Abendbrot in den eleganten Speisesaal des Hotels in unseren Militäruniformen zu kommen. Am Esstisch sah uns unser Vater lange und ausführlich an, seufzte und gestand uns mit Tränen in den Augen, wie stolz und glücklich er sich fühle, seine beiden Söhne, Kinder jüdischer Immigranten, so gut in Schweden integriert und jetzt als Soldaten in der schwedischen Armee zu sehen. Wie auch immer, 16 Jahre später fragte sich unser Vater, wo all seine „schwedischen Freunde“ geblieben waren, während er zu Hause mit einer Krebserkrankung darniederlag. Diejenigen, die kamen, um ihn zu besuchen, waren seine alten Flüchtlingsgefährten und ein Mix aus vorrangig jüdischen Männern und Frauen aus verschiedensten Teilen Zentraleuropas, die – wie meine Eltern selbst – ebenfalls in Schweden geblieben waren, wo auch sie schwedische Staatsbürger geworden waren. Trotzdem fühlten sich alle von ihnen immer noch mehr oder weniger als Ausländer. Dennoch: Niemand von ihnen hätte zu diesem Zeitpunkt von sich behauptet, sich „im Exil“ zu befinden. Und auch wenn manche von ihnen nicht direkt aus Deutschland gekommen waren, nutzten sie dennoch die deutsche Sprache als lingua franca im Kreis der zentraleuropäischen Freunde meiner Eltern, die meisten von ihnen Shoah-Überlebende wie sie selbst. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg hatten sich viele von ihnen regelmäßig in der Küche und im Wohnzimmer meiner Eltern getroffen, lautstark diskutierend über Politik, die Situation der Welt überhaupt, aber auch über das, was sie als merkwürdige schwedische Kuriositäten empfanden. Ein besonderes Ereignis war immer der Pessach-Seder am Beginn der Pessach-Feiertage – ein jüdisches Fest in Erinnerung daran, dass die Juden aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit und schließlich zu einem freien Volk wurden. Wenn der hierzu überlieferte Text, die Haggadah⁸⁸, gelesen wurde, nahmen die Versammelten
Er hatte den Namen Per nach dem legendären sozialdemokratischen Führer Per Albin Hansson bekommen, „Vater“ des schwedischen „Folkhem“ und amtierender Ministerpräsident in jener Zeit, in der meine Eltern sich Schweden zu einem Zuhause machten. Die Haggadah ist ein Buch, das die Geschichte des Auszuges des jüdischen Volkes aus Ägypten erzählt. Sie wird zu jedem Pessach-Seder vorgelesen. Der Pessach-Seder selbst zieht sich über Stunden hin. Bei uns zu Hause wurde der Text der Haggadah in relativ zügigem Tempo von einem deutsch-jüdischen Gast und Freund der Familie, Ze’ev Rosenblüth, vorgetragen. Rosenblüth war ebenfalls in der Fabrik meines Vaters angestellt. Selbst wenn die Anwesenden kein
Exil: Verzweiflung und Kreativität
93
natürlich auch Bezug auf das, was ihnen aus jüngster Vergangenheit und Gegenwart präsent war: ihre eigene Rettung vor dem Grauen der Shoah und die Gründung des Staates Israel. Niemand von den häufig bis zu 20 Pessach-SederGästen in diesen Jahren, den späten 1940ern und frühen 1950ern, lebte einen rituell-religiösen jüdischen Lebensstil. Man traf sich vielmehr, um gemeinsam mit jüdischen Freunden zu feiern, zusammen zu sein und um ein gutes, reichhaltiges und sehr spezielles gemeinsames Mahl einzunehmen. Der Ablauf der Rituale und der Pessach-Liturgie wurde regelmäßig unterbrochen von „small-talks“ und sogar von hitzigen Diskussionen über politische Streitpunkte – manchmal in gebrochenem Schwedisch, sonst in Deutsch. Auf Initiative eines der deutsch-jüdischen Senioren im Freundeskreis, Doktor Melchior⁸⁹, gründeten einige der männlichen Akademiker eine Gruppe, die sie das „Tabakskollegium“ nannten. Sie imitierten damit eine Institution, die der preußische König Wilhelm I. einst eingeführt hatte. Gewöhnlich traf sich die Gruppe alle zwei Wochen an einem Abend, manchmal auch nur monatlich, wobei die einzelnen Mitglieder reihum als Gastgeber fungierten.⁹⁰ Kernanliegen dieses Tabakskollegiums war es, ein Forum für freie und bildende Konversationen und Diskussionen über jeweils ein bestimmtes, interessantes Thema zu haben. Die Sprache, die dabei benutzt wurde, war stets Deutsch. Gewöhnlich besuchten um die fünf bis acht Männer das Kollegium. Dem Gastgeber oblag es, die Diskussion mit einem Kurzvortrag zu einem Thema seiner Wahl zu eröffnen. Meistens kam ein bestimmtes kulturelles, historisches oder soziales Problem zur Sprache, aber umso länger der Abend wurde, umso häufiger glitt er ab in Diskussionen, Spekulationen und Besserwissereien über die politische Situation in der Welt. Irgendwann am Abend servierte dann die Frau des Gastgebers den Diskutanten Tee und Kuchen. Bei diesen Tabakskollegien erschien alles, was Deutschland und Deutsch betraf, als eine sehr janusköpfige Angelegenheit. Alle Mitglieder des Kollegiums waren deutschsprachige Juden und Shoah-Überlebende und fühlten die große
Hebräisch verstanden, waren ihnen Inhalt und Symbolik der Geschichte und der Rituale sehr vertraut. Dr. Melchior war ein älterer Gentleman, der ursprünglich aus Hamburg stammte. Er hatte im Ersten Weltkrieg in der deutschen Armee als Offizier gedient und war hochgeschätzt unter all den anderen, von denen die meisten eine Generation jünger waren. Mein Vater war beispielsweise 1911 geboren, und die meisten anderen waren im selben Alter, oder sogar noch etwas jünger. Mein Vater hatte keine akademische Ausbildung genossen, aber auf Grund seiner vielen Qualifikationen wurde er ebenfalls dazu eingeladen, Mitglied der Gruppe zu sein. An Abenden, wenn das Tabakskollegium sich bei uns zu Hause traf, setzte ich mich in den Flur und lauschte begierig den häufig sehr hitzigen, emotionalen Diskussionen unter den Männern.
94
Lars Dencik
Zerrissenheit. Einerseits wäre beispielsweise jemand wie mein Vater niemals auf die Idee gekommen, sich einen Mercedes oder Volkswagen kaufen zu wollen. Für ihn waren das schlichtweg „Nazi-Autos“. Und auch wenn die westdeutsche oder die DDR-Nationalmannschaft Fußball gegen irgendein beliebiges anderes Land spielten, hielten mein Bruder und ich, angefeuert von unseren Eltern, natürlich die Daumen gedrückt für das gegnerische Team, egal, welches Land sie repräsentierten. Als die westdeutsche Regierung sich im Luxemburger Abkommen von 1953 zu sogenannten „Wiedergutmachungsleistungen“ für die Opfer der Nazis verpflichtete, löste das sehr hitzige Diskussionen unter den Mitgliedern des Tabakskollegiums sowie anderen Freunden und Bekannten meiner Eltern aus. Meine Eltern beschlossen, keine Entschädigungsleistungen zu beantragen⁹¹ und argumentierten: „Sie [die Deutschen] sollten niemals glauben, sie könnten all das Leid, das sie über uns gebracht haben, wieder gut machen, indem sie uns einige unrechtmäßig erworbene Gewinne auszahlen.“ Meine Eltern taten auch wenig, um vor uns die Geschichte der Shoah und das darin tragisch endende Schicksal vieler Verwandter zu verbergen – ganz im Gegenteil. Ohne Zögern, aber auch ohne in die grausamsten Details zu gehen, erzählten sie mir, als ich noch ein Kind war, dass ihre Eltern, Schwestern, Brüder und andere Verwandte „verschwunden waren“, als die Naziverfolgung der Juden stattfand.⁹² Bei meiner eigenen jugendlichen Poesie-Lektüre brannte sich dann die häufig wiederholte Zeile aus Paul Celans Todesfugen-Gedicht Der Tod ist ein Meister aus Deutschland richtiggehend in mein Bewusstsein ein. Andererseits hatten meine Eltern bei ihrer Möbel-Firma – wie auch andere jüdische Freunde mit ihren Unternehmen – kein Problem damit, Geschäftsbeziehungen zu Firmen in Deutschland herzustellen. Auch wenn sie nach einem Kurort für Erholungsurlaube Ausschau hielten, suchten sie sie bevorzugt in Österreich und Deutschland. In den 1950er-Jahren waren wir, manchmal gemeinsam mit Tante Hilde, im Auto unterwegs durch Deutschland. Ich erinnere
Einige Jahre später änderten sie ihre Meinung dazu. Allerdings standen sie auch später noch einmal kurz davor, die Sache aufzugeben, da sie den Weg der Beantragung für Entschädigungsleistungen als extrem bürokratisch und zäh empfanden. Meine Eltern haben niemals das Wort „ermordet“ verwendet. Und sie haben auch nie erwähnt, dass unter den „Verschwundenen“ die Kinder ihrer Geschwister waren, d. h. die Vettern und Cousinen etwa in meinem Alter. Aus Gründen, die ich erst noch herausfinden muss, habe ich das in jener Zeit auch nicht realisiert. Das ist umso erstaunlicher, zumal ich schon in frühen Teenagerjahren nahezu besessen davon war, alles zu lesen, was ich über die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und über die Shoah in die Hände bekam, einschließlich Fotos und Bildmaterial.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
95
mich deutlich daran, wie mein Vater es genoss, bei diesen Reisen deutschsprachige Zeitungen, wie Die Welt, Die Weltwoche, Die Presse, Neue Zürcher Zeitung und andere zu kaufen und zu lesen. Und ich erinnere mich an eine Diskussion im Tabakskollegium, als mein Vater, ein leidenschaftlicher Zionist, sich dafür aussprach, dass die offizielle Staatssprache in Israel Deutsch sein sollte. Diese Ambivalenz zu Deutschland und allem, was deutsch war, scheint typisch für die deutsch-jüdischen Flüchtlinge in Schweden gewesen zu sein. Bei vielen von ihnen wurden besondere Assoziationen in Verbindung mit Deutschem hervorgerufen – wie beispielsweise bei deutschen Firmenmarken, Gesten und Ausdrücken, die sie jetzt als unheilvoll und widerwärtig empfanden. Hier erinnere ich mich noch sehr gut an eine Situation irgendwann Mitte der 1950er-Jahre: Meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich fuhren im Sommerurlaub sehr gern mit dem kleinen Familien-Auto nach Italien. An einer Zollstation in den Alpen – es könnte der Brennerpass gewesen sein – schaute ein deutschsprechender Polizist durch das Fenster in unser Auto und kommandierte dann mit einer harschen Stimme: „Alles aussteigen!!“ Die Reaktion meines Vaters fiel spontan und heftig aus: „Diese Zeiten sind vorbei!“ schrie er zurück.Von meinem Rücksitz aus konnte ich sehen, wie sein ganzer Körper vor Wut zitterte – und durch das Fenster sah ich den deutschsprachigen Polizisten, möglicherweise ein Österreicher, offenbar selbst geschockt, einen Schritt vom Auto zurücktreten. Viele Jahre später, in den späten 1980er-Jahren, wurde ich um einen Beitrag für eine internationale Anthologie gebeten. Als die „deadline“ für die Abgabe des Textes erreicht war und ich meinen Beitrag immer noch nicht abgesandt hatte, mahnte mich die deutsche Herausgeberin: „Schnell, schnell!“ Als ich das las, fühlte ich all die Bilder und Stimmen, die ich in den Filmen über die Konzentrations- und Vernichtungslager vernommen hatte, durch meinen Kopf rasen. Ich bat sie, die ich als freundliche Person kannte, diese Formulierung zu vermeiden, und ich erklärte ihr auch, weshalb. Sie antwortete sofort und entschuldigte sich mit dem Satz: „Ich hatte keine Ahnung, dass Sie Jude sind.“ Viele Flüchtlinge, meine Eltern und ich selbst einbegriffen, haben nichtjüdische Deutsche als freundlich und hilfsbereit in für sie schwierigen Lebensphasen erlebt – wie beispielsweise die beiden Damen in Borås, die für uns „meine Oma“ und „Tante Hilde“ wurden. Und es kamen Kontakte auch direkt nach Deutschland zustande. Einer unserer deutsch-jüdischen Freunde im gleichen Mietshaus, ein junger jüdischer Arbeiter aus Regensburg – und derjenige, der beim traditionellen Pessach-Seder die Haggadah auf Hebräisch vorlas – traf nach dem Krieg seinen Gewerkschaftsfreund aus Vorkriegszeiten, Willi Meinke, wieder. „Onkel Willi“, wie ich ihn bald zu nennen pflegte, war bis zum Ende des Krieges als politischer Häftling im Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg inhaftiert gewesen. Nachdem er sich von den Torturen dieser Haft gesundheitlich
96
Lars Dencik
erholt hatte, engagierte er sich in der wieder ins Leben gerufenen sozialdemokratischen Jugendbewegung „Die roten Falken“. Das war sein Beitrag zu den Bemühungen, ein demokratisches Deutschland wiederaufzubauen. In den frühen 1950er-Jahren kam er mit seinem grünen VW aus Bielefeld, wo er jetzt mit Frau und Sohn lebte, um seinen Freund aus Vorkriegszeiten, Wolf (jetzt Ze’ev), in der kleinen Ortschaft Lerum in der Nähe von Göteborg, wo wir lebten, zu besuchen. Meine Eltern trafen ihn ebenfalls, und daraus erwuchs schließlich eine lebenslange Freundschaft. 1955 war „Onkel Willi“ Bezirkssekretär der Roten Falken in Bielefeld. In dieser Funktion organisierte er auch Jugendlager in „Neuland“ in der Umgebung von Fichteheim. Meine Eltern kamen auf die Idee, mich, ihren 14-jährigen Sohn, ebenfalls dorthin hinzuschicken. Und so kam es, dass ich einen Teil des Sommers gemeinsam mit Familie Meinke in Bielefeld verbrachte, einige Wochen davon in alten Militärzelten zusammen mit Hunderten von deutschen Jugendlichen aus allen Gebieten Westdeutschlands und aus Westberlin. Knapp zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges waren vergangen, und die Rahmenbedingungen des Lagers waren eher ärmlich und einfach. Neben Sport, Geländespielen und einigen kulturellen Aktivitäten nutzten wir die Zeit zu endlosen Diskussionen über Reformsozialismus, Demokratie und über die Gestaltung der Zukunft. Der Umstand, dass ich Jude war, wurde von meinen Altersgenossen im Lager wahrgenommen, aber es gab nie negative oder verletzende Bemerkungen. Im Jahr darauf, 1956, wurde ich als 15-Jähriger wieder nach Bielefeld gesandt und verbrachte den nächsten gemeinsamen Sommer mit deutschen Jugendlichen von den „Roten Falken“ im Lager Neuland. Ich glaube, es war meinen Eltern wichtig, dass ich, gerade über solche Aufenthalte wie in Neuland, lernen konnte, wichtige Unterschiede wahrzunehmen. Alles, was in irgendeiner Weise mit Nazismus zu tun hatte, war natürlich komplett zu verabscheuen. Aber – und das zeigte das Beispiel Willy Meinke in beeindruckender Weise – nicht alle Deutschen waren Nazis gewesen. Und umgekehrt: Meine Eltern waren aus der Slowakei gekommen, und ein Großteil unserer Familie war dort nicht von Deutschen ermordet und in die Vernichtungslager geschickt worden, sondern von lokalen slowakischen Nazis. Die Lektion, die ich lernen sollte, war es, zwischen Ideologie und Volk zu unterscheiden. Kein Volk ist schlecht, aber manche Ideologien sind es. Das hatte ich seither gelernt. Und ich begann zu verstehen, dass böse Ideologien bekämpft werden können und bekämpft werden müssen, während Völker Respekt verdient haben – und ihnen die Möglichkeiten gegeben sein soll, in Einklang mit ihren eigenen Werten und kulturellen Traditionen zu leben. Aus historischer Perspektive könnte man darüber philosophieren, wie die deutschen Juden, die während der NS-Zeit und der Shoah in Schweden Zuflucht
Exil: Verzweiflung und Kreativität
97
gefunden hatten, das Schicksal vieler anderer Juden teilten: das Schicksal, das sich in Jahrtausenden stets wiederholt hatte, in dem man von einem Platz der Diaspora an den anderen gestoßen wird. Einerseits mag das als das ständige, grausame Schicksal eines Volkes erscheinen. Wir wissen andererseits aber auch, dass die jüdische Kultur, wie sie uns heute begegnet, ein Produkt langjähriger Diaspora-Existenz ist und dass nur wenige Kulturen, wenn überhaupt, sich als so kreativ erwiesen haben wie die jüdische Diaspora-Kultur. Kein Zweifel: Durch erzwungenes Exil und die sich daraus ergebenden Existenzbedingungen der Diaspora wurde eine Menge intellektueller und kreativer Energie freigesetzt. Die Diasporabedingungen erzwangen (und förderten) die permanente Notwendigkeit, die eigene Position als Fremder in Relation zu den Kräften, die die eigene Existenz kontrollieren und die Mehrheitsgesellschaft lenken, zu überprüfen. Zugleich zwingt die diasporische Existenz dazu, das eigene Verhältnis zum Herkunftsland und zu den Wurzeln der eigenen kulturellen und existentiellen Besonderheit zu überdenken. Solch ein Rahmen formt das Potential für intellektuelle Kreativität, radikales Denken und kulturelle wie auch wissenschaftliche Innovationen. Ein entscheidender Punkt ist, dass ganz wesentliche jüdische Texte und Schriften und andere intellektuelle Leistungen von Juden nicht nur durch die Diaspora-Existenz beeinflusst, sondern aus dieser heraus überhaupt erst geboren und genährt wurden.
Meine persönliche Reise ins Deutsche – Teil drei Die meisten Kinder in meinem Alter verbrachten Teile ihrer Ferien stets zusammen mit den Großeltern oder auch ihren Vettern und Cousinen. Ich tat dies nie. Ich hatte keine Großeltern, und keine Cousinen oder Vettern in Schweden.⁹³ Als Kind habe ich das eigentlich nie als komisch oder als traurig empfunden – eigentlich habe ich darüber auch nicht nachgedacht, die Dinge waren einfach, wie sie waren. Erst nachdem ich mein Abitur gemacht hatte und meinen Eltern mitgeteilt hatte, dass ich an einer Universität Jura studieren wollte, dämmerte es mir, was sie zu ihrer entschiedenen Abwehrhaltung bewogen hatte. Ich begriff, dass ihre persönliche Erfahrung ihnen klargemacht hatte, dass ein Jude Fähigkeiten und Berufe braucht, die er jederzeit in andere Länder mitneh Der einzige überlebende Bruder meines Vaters lebte in der Tschechoslowakei. Er hatte drei Töchter, meine Cousinen. Das kommunistische Regime erlaubte es ihm nicht, nach Schweden zu reisen, und es wurde uns sehr schwer gemacht, die Familie zu besuchen. Die Schwester meiner Mutter lebte in Israel, und sie hatte zwei Töchter. Das Reisen zwischen Schweden und Israel war in den 1950er-Jahren kostenaufwendig und kompliziert.
98
Lars Dencik
men und ausüben kann. Ich erkannte auch, dass ihre eigenen Erfahrungen sie lehrten, dass das Investieren in Immobilien oder Eigentum wie ein Sommerhaus vergebens sein konnte. Sie mochten Schweden sehr, und sie fühlten sich hier sicher, und dennoch waren sie, auch wenn das nie so ausgesprochen wurde, im Unterbewusstsein jederzeit bereit, weiterzuziehen, sollte dies zwingend notwendig werden. Mit ihren Entscheidungen und Reaktionen übertrugen sie diese Haltung auch auf mich. Das große Dilemma der Exil-Existenz fördert offenbar eine nicht enden wollende Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für die Umgebung ringsum, aber auch Diskussionen über die Ungewöhnlichkeiten und Sonderbarkeiten in dem Land, in dem man aktuell gerade lebt. Als jemand, der in bestimmter Weise ein Fremder blieb, bleibt für mich die Frage, wie stark man als Individuum oder auch als Minderheit die sozialen und kulturellen Codes der Umgebung adaptiert, stets aktuell. Was ist sinnvoll und was ist unnötig? Und welche Mechanismen können ein Individuum formen und schließlich zur gesellschaftlich integrierten Person machen? Da mich solche Fragen sehr stark bewegten, ist es vielleicht auch kein Wunder, dass ich mich im akademischen Bereich insbesondere für die Fächer Philosophie, Politikwissenschaft und Sozialpsychologie interessierte, allesamt Disziplinen, die auf die eine oder andere Weise auf die Beziehungen zwischen Mensch und Gesellschaft, zwischen Werten und sozialen Strukturen, zwischen Traditionen und Kultur ausgerichtet sind. So schrieb ich meine Diplomarbeit über Adornos Studien zum autoritären Charakter, die sich mit der Frage auseinandersetzen, was große Teile der deutschen Bevölkerung so anfällig dafür gemacht hatte, faschistische Haltungen zu übernehmen. Dadurch begann ich mich bald auch tief in die Publikationen der sogenannten Frankfurter Schule zu vertiefen. Neben Theodor Adornos Schriften wurden die von Max Horkheimer, Erich Fromm, Walter Benjamin und Hannah Arendt, all jenen deutschen Juden, die man ins Exil gezwungen hatte, zu essentiellen Bestandteilen meiner „intellektuellen Nahrung“. Wie schon erwähnt, war ich in meinen Teenagerjahren geradezu besessen davon, alles Verfügbare zu lesen – und auch all die Bilder wahrzunehmen –, die die Gräuel des Zweiten Weltkrieges und der Shoah wiedergaben. Stets war mir gegenwärtig, was der Krieg und die Verbrechen an menschlichem Leid, persönlichen Verlusten, Zerstörung, Fluchtwellen u. a. m. ausgelöst hatten. „Nie wieder!“ war der Slogan der Zeit, der mich gefangen hielt. Ich war dabei, als die sogenannte Friedensbewegung in den frühen 1960er-Jahren Kampagnen gegen die nukleare Bewaffnung und Aufrüstung startete. Im Frühjahr 1962, kurz nach Errichtung der Berliner Mauer, reiste ich mit meiner Freundin genau dorthin, um
Exil: Verzweiflung und Kreativität
99
die Mauer zu sehen.⁹⁴ Ich konnte diese deutliche Manifestation des Kalten Krieges geradezu körperlich fühlen und als konstante, eingefrorene Bedrohung empfinden. Offensichtlich ging es vielen Zeitgenossen ähnlich. 1965 stieß ich auf die schon existierenden Bemühungen um eine völlig neue akademische Forschungsdisziplin, die Friedens- und Konfliktforschung. Anatole Rapoport, Professor für Mathematik und Psychologie an der University of Michigan, war als Gastprofessor an die Universität in Lund eingeladen worden, wo ich gerade meine Doktorarbeit begonnen hatte. Die Begegnung mit Anatole Rapoport⁹⁵ eröffnete mir völlig neue Sichtweisen und Perspektiven. Er lehrte mich, die Dynamik sozialer Prozesse zu verstehen, indem man auch auf mathematische Modelle zurückgreift. Einer seiner Forschungsschwerpunkte war die Dynamik sozialer Konflikte. Rapoport konnte zeigen, wie bestimmte Handlungen, selbst in relativ kleinem Umfang, bestehende Konflikte in vollständigen „Krieg“ eskalieren lassen konnten. Er konnte auch umgekehrt zeigen, wie bestimmte Einstellungsänderungen oder die Einführung spezifischer Handlungsoptionen und Kommunikationsformen einen Konfliktprozess in deeskalierende, friedlichere Bahnen lenken und kooperative Handlungen ermöglichen konnte. Außerdem veranschaulichte Rapoport, wie solche Prozesse auf empirische und experimentelle Weise im sozialpsychologischen Laboratorium studiert werden können. Ich machte mich in enthusiastischer Weise mit dem Forschungsansatz von Professor Rapoport vertraut, wie er ihn in seinen Vorlesungen veranschaulicht hatte. Hierin sah ich die Möglichkeit, meine begonnenen Studien über den autoritären Charakter und die allgemeinen menschlichen Prädispositionen für politisches Verhalten mit systematischen Beobachtungen zu gegenwärtigen Verhaltensweisen in experimentell simulierten Konfliktsituationen zu kombinieren. So widmete ich die folgenden Jahre und meine Doktorarbeit dieser neuen, speziellen Richtung in der Sozialpsychologie, genannt „gaming“. Noch in meiner Zeit an der Universität Lund gründete und leitete ich ein interdisziplinäres und fakultätsübergreifendes sozialpsychologisches Seminar zur Konfliktforschung.
Eigentlich war es eine romantische Reise nach Berlin, der Beginn einer langen gemeinsamen Zeit. Wir lebten 46 Jahre zusammen, bevor sie an Krebs starb. Anatole Rapoport wurde 1911, im selben Jahr wie mein Vater, in einer jüdischen Familie in der Nähe von Charkow geboren. 1922 kam er mit der Familie in die Vereinigten Staaten. Er begann ein Studium der Musik und setzte später das Studium der Klaviermusik und der Komposition an der Hochschule für Musik in Wien fort. Auf Grund der Machtübernahme durch die Nazis wurde seine Karriere als Pianist in Wien unterbrochen, und er wechselte in die Mathematik. Von 1955 bis 1970 war er Professor für Mathematische Biologie, Senior Researcher für Mathematik und Gründungsmitglied des Mental Health Research Institute an der University of Michigan.
100
Lars Dencik
Im Jahre 1971 erhielt ich einen Ruf an die Universität Konstanz. Sie war erst wenige Jahre zuvor, im Jahre 1966, gegründet worden und wollte nun das Spektrum der eigenen Lehre und Forschung erweitern. Mir wurde angeboten, im Fachbereich Politikwissenschaften eine Professur für Internationale Politik mit Schwerpunkt auf Friedens- und Konfliktforschung zu übernehmen. Im Alter von nur 31 Jahren so eine Professur in Deutschland angeboten zu bekommen, war natürlich überwältigend, aber es wühlte mich natürlich auch emotional sehr auf. Sollte ich tatsächlich nach Deutschland gehen – in das Land, das für die Auslöschung fast meiner gesamten Familie verantwortlich war? Konnte ich denn erfolgreich arbeiten in einem Land, in dem noch immer viele alte Nazis lebten und das von der Nazi-Geschichte geprägt war? Außerdem wurden zu dieser Zeit in Westdeutschland, und besonders im Bundesland Baden-Württemberg, Maßnahmen ergriffen, um Hochschullehrer und andere öffentliche Bedienstete in Hinblick auf ihre politische Einstellung zu kontrollieren oder sogar zu maßregeln. Der sogenannte „Radikalenerlass“⁹⁶ vom Januar 1972, auch bekannt als „Berufsverbot“, wurde landesweit institutionalisiert. Personen, deren politische Haltungen für radikal gehalten wurden, konnten vom Öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden, so auch Lehrer und Dozenten an Hochschulen. Und das konnte, zumindest theoretisch, auch mich selbst betreffen. Obwohl ich natürlich nicht in terroristische Aktivitäten verwickelt war, gehörte ich eindeutig zum Spektrum der radikalen politischen Linken, wenn auch in Schweden. Relevanter war aber, dass ich gerade einen Text mit dem Titel Plädoyer für eine revolutionäre Konfliktforschung in der Anthologie Kritische Friedensforschung (Frankfurt a. M. 1971), herausgegeben von meinem deutschen Kollegen Dieter Senghaas⁹⁷, veröffentlicht hatte. Als Nicht-Deutscher, der ohnehin kein deutscher Beamter werden konnte, war ich von den Tests in Verbindung mit „Berufsverbot“ ausgeschlossen und auch kein Beobachtungsobjekt. 1972 zog ich tatsächlich nach Konstanz.⁹⁸ Zwei Jahre lang, bis ich im Herbst 1974 einen Ruf an die neu gegründete Universität in Roskilde (Dänemark) erhielt, hielt ich auf Deutsch Vorlesungen und gab Seminare an der Universität Konstanz.
Der Radikalenerlass wurde von offizieller Seite begründet als notwendige Antwort auf den Terrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF). Von 1972 bis 1978 war Senghaas Forschungsgruppenleiter an der Hessischen Stiftung für Frie dens- und Konfliktforschung und von 1972 bis 1978 Professor an der Universität Frankfurt. Seit 1978 ist er Professor an der Universität Bremen und dort am Institut für interkulturelle und internationale Studien tätig. Wie auch immer, nach einem Jahr zog ich in das nahe gelegene Zürich (Schweiz) und pendelte fortan grenzübergreifend zwischen meiner dortigen Wohnung und meinem Büro an der Universität Konstanz.
Exil: Verzweiflung und Kreativität
101
Meine Kontakte nach Deutschland waren zu dieser Zeit aber nicht mehr nur akademischer Art. Schon als Student war ich fast jährlich nach Ostberlin gefahren, um Brechtaufführungen beim Berliner Ensemble im Theater am Schiffbauerdamm zu erleben, und häufig hörte – und liebte – ich dort das satirische Kabarett mit Chansons der Weimarer Republik und der Musik von Kurt Weill, Hans Eisler und anderen. Trotzdem fühlte ich immer, dass all dies mich nicht näher heranbrachte an das sogenannte Deutschtum.⁹⁹ Aber was mich dem Deutschen spürbar näher brachte, war, was ich als den mitteleuropäischen Kulturkreis empfand. Selbst als ich einige Freisemester als Gastprofessor in Berlin verbrachte, änderte sich nichts an meiner gefühlten Ambivalenz, im Gegenteil. Im Laufe meines Lebens wuchs einerseits sogar noch meine Faszination für kulturelle Leistungen wie das „Jüdische Wien“ auf der einen Seite und andererseits die Betroffenheit über den teutonischen Nationalismus und die antisemitische Vulgarität mancher Schlüsselfiguren der deutschen Kultur, wie beispielsweise des Komponisten Richard Wagner und des Philosophen Martin Heidegger – Männer mit, wie sich erwiesen hat, einer sehr zweifelhaften, verdorbenen Berühmtheit.¹⁰⁰ Durch meine eigene lebenslange Erfahrung als geborener Schwede und in gewissem Sinne immer noch Immigrant, aber auch für viele Jahre als ein Emigrant, als schwedischer Jude und zugleich jüdischer Schwede, deutschsprachig und doch in keiner Weise deutsch, gefühlt zu Hause in der Kultur Mitteleuropas, wo ich niemals gelebt habe, habe ich es gelernt, jeglichen Formen von Nationalismus mit großem Misstrauen – um nicht zu sagen: Angst – zu begegnen. Gerade auch heute,¹⁰¹ in einer Zeit, wo nationalistische, populistische und xenophobe Tendenzen quer durch Europa einen großen Aufschwung erleben – aber auch in anderen Ländern, die mich stark beschäftigen, darunter auch Israel und die USA.
Vgl. Cohen, Hermann: Judentum und Deutschtum. Gießen 1915. Auch: Faber, Richard: Deutschbewusstes Judentum und jüdisch-bewusstes Deutschtum. Der historische und politische Theologe Hans-Joachim Schoeps. Würzburg 2008. Vgl. Die Symposien „Tainted greatness“ der Gesellschaft für Jüdische Kultur in Schweden, teilweise in Kooperation mit dem Goethe-Institut in Stockholm. Konstakademien, Stockholm, 18. 10. 2015 u. 17. 4. 2016. Eine Publikation mit den Beiträgen ist auf dem Weg. (Hrsg. von Daniel Pedersen, Judisk Kultur i Sverige. Stockolm 2017). Diese Zeilen schrieb ich am Tage der Amtseinführung von Donald Trump als Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, und nur wenige Tage, nachdem die britische Premierministerin Theresa May einen „harten Brexit“ ankündigte, und am gleichen Tag, an dem sich xenophobe und rechtsextreme Parteien aus ganz Europa in Koblenz, Deutschland, trafen und unter der Schirmherrschaft der neuen deutschen Partei AfD gemeinsam beratschlagten, wie sie „ihre Nationen wieder groß machen“ könnten, möglichst nach dem Beispiel von Brexit und Trump.
102
Lars Dencik
Das kommende Armageddon damals wohl schon ahnend, schrieb Lord Lothian im Jahre 1939: „National sovereignty is the root cause of the most crying evils of our time and of the steady march of humanity back to tragic disaster and barbarism […].“¹⁰² Und das ist es, was ich und viele andere, von woher auch immer sie exiliert wurden, schmerzvoll realisieren mussten: Selbst wenn nationale Souveränität an sich nichts Schlechtes ist, kann sie schnell den Boden für Nationalismus ebnen. Das Gegenteil ist Kosmopolitismus. Kosmopoliten leben zusammen mit und unter Völkern, deren Lebensstil, Traditionen, Ideale, Glaubensvorstellungen und Denkweisen sie nicht oder nur teilweise teilen. Kosmopolitische Geselligkeit basiert auf der Vorstellung, dass diejenigen, die sich als anders betrachten und die fühlen, dass sie zu einem anderen „wir“ gehören, so wie ich es auch fühle, keine Bedrohung darstellen, sondern eine Quelle von menschlichem Reichtum sind und die beides bereichern – sich selbst und die Welt. Das sind die kosmopolitische Lehre und die kosmopolitische Haltung, die sich bei mir durch die Erfahrungen des Exils herausgebildet haben. Und mit ihrer Hilfe habe ich gelernt, dass das „wir“, ohne das niemand von uns existieren kann, sich niemals an einem Territorium noch an einer Nation festmachen sollte, in die wir hineingeboren werden.
Einige mir wichtige Schlussbemerkungen Wird ein Mensch ins Exil gezwungen und verbleibt dort für länger, führt das dort häufig zu einer schwierigen Gabelung für ihn. Auf der einen Seite kann sich die Tür zu gefühltem Bedeutungsverlust und Depressionen öffnen, und für manche endet dies sogar im Suizid. Auf der anderen Seite – und manchmal geschieht dies sogar gleichzeitig nebeneinander in derselben Person – fördert die neue Situation Flexibilität, Einfallsreichtum, Fleiß und außergewöhnliche Kreativität. Wie sich zeigt, ist das Exil in vielen Fällen – aber nicht ausschließlich – ein Fluch. Aber es kann auch ein Segen sein, und in bestimmter Weise manchmal auch für die exilierten Menschen selbst. Unbestritten ist es ein Segen für das aufnehmende Land und dessen allgemeine kulturelle Entwicklungen. So bezeichnete ein schwedischer Journalist, der über das deutsch-jüdische Exil in Schweden schrieb,¹⁰³ dieses als „Hitlers gåva till Sverige“ [Hitlers Geschenk an
Kerr, Philip: The Ending of Armageddon. Oxford 1939. Eva von Zweigbergk in ihrem Nachruf auf Josef Frank 1967– ebenso verwendet bei jenem von Carl-Adam Nycop auf Anna Riwkin – eine weitere jüdische Immigrantin, die später als außeror-
Exil: Verzweiflung und Kreativität
103
Schweden]. Die deutschen Juden kamen hierher als Schmetterlingslarve, verhärteten sich zu Puppen, und entfalteten sich dann als faszinierende, aber auch verletzliche Schmetterlinge, die die schwedische kulturelle Landschaft dauerhaft befruchteten. (Übersetzung aus dem Englischen: Olaf Glöckner)
dentlich talentierte Fotografin Schweden eroberte. In: Det judiska Stockholm. Hrsg. von David Glück, Aron Neuman u. Jacqueline Stare. Stockholm 1998. S. 224.
Julius H. Schoeps
Leben in schwierigen Verhältnissen. Hans-Joachim Schoeps im schwedischen Exil Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980) ist am Abend des 24. Dezember 1938 vom Flughafen Tempelhof aus Hitler-Deutschland in die Freiheit nach Schweden geflogen. Ermöglicht worden war ihm die Flucht durch den damaligen Leiter der Orientabteilung im Auswärtigen Amt (AA), Werner Otto von Hentig (1886 – 1984). Dessen Fürsprache hatte er es zu verdanken, dass er die notwendigen Ausreisepapiere erhielt, um als Kurier des AA das Land zu verlassen. In seinen Erinnerungen mit dem Titel Rückblicke hat Schoeps die Umstände seiner Flucht im Einzelnen beschrieben. Nach seiner Flucht aus Deutschland hat Schoeps sieben Jahre im Exil in Schweden verbracht. Das erste, was er nach seiner Ankunft in Stockholm tat, war ein Besuch des Utrikesdepartment, um dort klarzustellen, dass er kein Kurier des AA, sondern ein Flüchtling sei. Er erhielt daraufhin eine befristete Aufenthaltserlaubnis, die zunächst jeden dritten Monat, später halbjährlich verlängert werden musste. In seinen Rückblicken bemerkt Schoeps, dass ihm Schweden nach den Erlebnissen in Deutschland damals vorgekommen sei wie ein „einziges großes Sanatorium“. Er habe sich dort so gefühlt, als ob er sich in den Ferien befände und Hitler ihn aus der Weltgeschichte beurlaubt habe.¹ Wenig bekannt ist, dass es in den Jahren 1939 bis 1941 in Stockholm einen Kreis Bündischer² gab, die sich um Schoeps scharten, sich regelmäßig trafen, „Heimabende“ organisierten, zusammen Fahrtenlieder sangen und diskutierten. Neben Schoeps gehörten dem Kreis an: Paul Leser³ (Freischar), Gerd Salten⁴
Schoeps, Hans-Joachim: Rückblicke. Die letzten dreissig Jahre (1925 – 1955) und danach. Berlin 1963. S. 115 ff. Jugend- und Pfadfinderbünde, die im Zuge der Wandervogelbewegung in den 1910er- und 1920er-Jahren gegründet wurden. Dazu gehörten der Nerother Wandervogelbund, die Deutsche Freischar und der deutsch-jüdische Wanderbund Die Kameraden. Paul Leser (1899 – 1984), Ethnologe, lebte seit 1937 in Stockholm, seit 1942 in den USA, wo er an verschiedenen Universitäten lehrte. Peer Krolle verdankt der Verfasser den Hinweis, dass Leser als die „graue Eminenz“ der Nerother gilt, der maßgeblich an den sogenannten „Weistümern des Bundes“ mitgearbeitet hat. Gerd Salten wurde von den schwedischen Behörden nach Deutschland abgeschoben. Dort ist er wegen Fahnenflucht ins KZ gesteckt worden, wo er, wie es heißt, elend ums Leben kam. https://doi.org/9783110532289-005
106
Julius H. Schoeps
(Freischar), Kurt Bender⁵ (Nerother), Willi Jacobs (Freischar), Hai Frankl (Nerother) und Heinz Goldstein (Kameraden). ⁶ Der Kreis veröffentliche hektografierte Rundbriefe, die auf geheimen Wegen nach Deutschland geschmuggelt wurden und deren Lektüre heute einiges über die Befindlichkeit der Mitglieder dieses Kreises aus Deutschland vertriebener Jugendbewegter in jenen Jahren aussagen. Besondere Aufmerksamkeit verdient ein „Rundbrief“ (Deutscher Vortrupp im Exil), datiert vom August 1939. Schoeps beschreibt hier noch einmal die Umstände seiner Flucht aus Deutschland, auch dass er auf einer von der Reichskanzlei aufgestellten Liste von Personen gestanden hätte, die „ihren Pass niemals bekommen sollten“. In überaus scharfen Worten geißelte er Nazi-Deutschland, von dem er meinte, es werde von einer Bande von Verbrechern regiert: „Hitler ist nicht Deutschland. Auf deutschem Boden steht heute eine braune Besatzungsarmee. Die nationalsozialistische Behandlung der sog. Judenfrage ist nicht die Antwort, die Deutschland auf das Judentum zu geben fähig ist.“⁷ Die Jahre in Schweden nutzte Hans-Joachim Schoeps zu intensiven wissenschaftlichen Studien. Einem Kollegen gegenüber bekannte er einmal, das Leitmotiv seiner Arbeit im schwedischen Exil sei ein Gefühl der „Langeweile“ gewesen, des, wie er es nannte, „Nichtausgefülltseins“. Nicht wissend, was er sonst hätte tun sollen, habe er seine Tage hauptsächlich damit verbracht, in Bibliotheken und Archiven zu sitzen, Bücher zu studieren, in Kellern verstaubte Aktenkonvolute zu durchforsten und sich mit Personen und Problemen der deutschen und der schwedischen Wissenschaftsgeschichte zu beschäftigen, zumal des Barockzeitalters, das ihn damals besonders interessierte. Die Themen, die Schoeps sich in der Zeit des Exils vornahm, haben ihm jedenfalls, so erinnerte er sich später, sehr viel Freude bereitet. Die wissenschaftliche Beschäftigung sei im Übrigen in der damaligen angespannten politischen Situation, in der man nicht wusste, was noch alles auf einen zukommen würde, „ein wunderbares Mittel der Nervenberuhigung“ gewesen. In seinen Rückblicken heißt es, er habe in den siebeneinhalb Jahren seines Aufenthaltes in Schweden dreizehneinhalb Kilogramm Papier beschrieben – „so viel wogen die Manu-
Kurt Bender gelangte nach Auskunft von Dieter (Peer) Krolle 1936 mit Willi Wagner aus Frankfurt a. M. nach Finnland; wo sie ausgewiesen und an die Gestapo überstellt wurden; in Stockholm sprang Kurt Bender von dem auf Reede liegenden Schiff und schwamm mehrere hundert Meter an Land; er heiratete eine Schwedin und erhielt dadurch die für ein Bleiben in Schweden notwendige Aufenthaltserlaubnis. Vgl. Unveröffentlichtes Manuskript von Heinz Goldstein, o. D., im Besitz des Verfassers. Schoeps, Hans-Joachim: „Bereit für Deutschland“! Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus. Frühe Schriften 1930 – 1939. Eine historische Dokumentation. Berlin 1970. S. 167.
Leben in schwierigen Verhältnissen. Hans-Joachim Schoeps im schwedischen Exil
107
skripte, die ich bei meinem Rückflug nach Deutschland mitnahm, um daraus in den nächsten zehn Jahren sieben dicke Bücher zu veröffentlichen.“⁸ Aus diesem Berg von mitgebrachten Manuskripten entstanden im Verlauf der folgenden Jahre zahlreiche bedeutende Bücher, u. a. Theologie und Geschichte des Judenchristentums (1949), Aus frühchristlicher Zeit (1950) und Philosemitismus im Barock (1952). Jahre später bemerkte er in einer „Selbstdarstellung“ seines wissenschaftlichen Opus, dass das Buch Philosemitismus im Barock ihm am meisten Arbeit bereitet habe, aber auch sein interessantestes gewesen sei. Seine in der Carolina Bibliothek in Uppsala verfassten Studien über religiöse Querdenker und Außenseiter wie zum Beispiel jene über Anders Pederssohn Kempe, Oliger Pauli und Johann Kemper hätten, so Schoeps, wissenschaftliches Neuland erschlossen. Dass Philosemitismus im Barock ein gutes Buch sein müsse, merkte er später einmal ironisch an, könne man schon aus der Tatsache ersehen, dass von ihm weniger als 300 Exemplare verkauft worden seien.⁹ Das, so HansJoachim Schoeps, sei ein schlagender Beweis, einen besseren könne es eigentlich nicht geben. Bei seinen Studien in Schweden hätte er sich damals, so Schoeps, Jakob Grimms hintergründige Definition der Wissenschaft als der „Andacht vor dem Geringfügigen“ zu eigen gemacht. Im Nachhinein klingt das so, als ob Schoeps seine wissenschaftliche Tätigkeit in Schweden im Rückblick vor sich selbst noch einmal rechtfertigen wollte. Das war vorgeschoben und vermutlich auch anders gemeint, denn die Zeit in Schweden war wohl, was die Ausbeute seiner wissenschaftlichen Arbeit betraf, für Hans-Joachim Schoeps die ertragreichste in seinem Leben. Schoeps, der in Schweden eine Mendelssohn-Nachkommin heiratete, fristete mit seiner Frau unter schwierigsten Umständen sein Leben. Mit Stipendien der Kirche hielt er sich mehr schlecht als recht über Wasser, seine Ehefrau Dorothee war gezwungen, als Dienstmädchen („hembiträde“) zu arbeiten, und die zwischenzeitlich geborenen Kinder mussten bei schwedischen Bauernfamilien in Dalarna untergebracht werden. Schoeps hatte nur wenige Kontakte in seinem schwedischen Exil. So verkehrte er u. a. mit einigen protestantischen Theologen wie Anton Friedrichsen und Gösta Lindeskog sowie mit dem Historiker Hugo Valentin in Uppsala. Lindeskog, selbst ein Außenseiter in der schwedischen Wissenschaftslandschaft, war es, der Schoeps die Möglichkeit verschaffte, Vorträge vor wissenschaftlichen
Schoeps, Rückblicke, S. 117. Vgl. Schoeps, Hans-Joachim: Ja – Nein – und Trotzdem. Erinnerungen–Begegnungen–Erfahrungen. Mainz 1974. S. 259 ff.
108
Julius H. Schoeps
Vereinigungen zu halten¹⁰ und in der schwedischen Fachpresse judaistische und allgemein religionswissenschaftliche Aufsätze zu veröffentlichen, so in den schwedischsprachigen Zeitschriften Lychos, Ny Kyrklig Tidskrift, Samlaren, Svensk Tidskrift för Musikforskning, Kyrkohistorik Arsskrift und Judisk Tidskrift. In der von dem Rabbiner Marcus Ehrenpreis (1869 – 1951) herausgegebenen Kulturzeitschrift Judisk Tidskrift (1928 – 1964), erschienen u. a. Gedichte von Nelly Sachs und Aufsätze von Peter Blachstein, Walter Gross, Käte Hamburger, Erwin Leiser, Ernst Cassirer und anderen. Aber es finden sich in dieser Zeitschrift auch zahlreiche Texte, die sich auf Schoeps beziehen oder von ihm direkt stammen und der Zeitschrift von ihm zum Abdruck zur Verfügung gestellt worden sind. Bisher nicht eingesehen werden konnten die Korrespondenzen mit Ehrenpreis, aus denen weitere Einzelheiten der Zusammenarbeit zu ersehen sein müssten. Neben Besprechungen seiner Bücher Jüdischer Glaube in dieser Zeit (1932) und Jüdisch-christliches Religionsgespräch in 19 Jahrhunderten (1937) waren dies zahlreiche aus seiner Feder stammende Rezensionen und auch einige eigens für die Zeitschrift verfasste sowie mehrere seiner noch in Deutschland geschriebene Texte in schwedischer Übersetzung so u. a. Franz Rosenzweig och hans ställning till den judiska lagen ¹¹, Franz Kafka, den tragiska belägenhetens diktare ¹² S. L. Steinheim och Skandinavien ¹³ und En Sabbatian in Sverige ¹⁴. Ein besonderes Verdienst hatte Schoeps sich dadurch erworben, dass er, wie Lars M. Anderson zutreffend bemerkt hat, als „einer der Ersten“ Franz Kafka in Schweden bekannt machte. Das tat er nicht nur mit seiner Veröffentlichung in der Judisk Tidskrift, sondern auch mit Vorträgen, die Kafka und sein Werk zum Thema hatten. So sprach er beispielsweise am 16. März 1939 auf Einladung des Judiska Studentklubben in der Stockholmer Jüdischen Gemeinde zu „Franz Kafka – ein jüdischer Dichter heutiger Zeit“. Ansonsten lebte Hans-Joachim Schoeps mit seiner Frau weitgehend isoliert und mehr oder weniger auf sich selbst gestellt. Der Durchschnittsschwede konnte nur wenig mit dem Typus Emigranten anfangen, wie er einer war. Im deutschsprachigen Exil schätzte man ihn nicht besonders. Er fand zwar Anschluss an
Hierzu Lindeskog, Gösta: Hans-Joachim Schoeps Studiosus Upsaliensis. In: Wider die Ächtung der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Joachim Schoeps, hrsg. von Kurt Töpner. München [u. a.] 1969. S. 15 ff. Judisk Tidskrift 14 (1941). Judisk Tidskrift 16 (1943). Judisk Tidskrift 8 (1945). Judisk Tidskrift 18 (1945).
Leben in schwierigen Verhältnissen. Hans-Joachim Schoeps im schwedischen Exil
109
Exilorganisationen wie den „Freien Deutschen Kulturbund“, wo er aber, wie es heißt, nur eine wenig beachtete Außenseiterrolle spielte.¹⁵ Das gilt auch für die „Deutsche Vereinigung von 1945“,¹⁶ einer Gegengründung zum „Freien Deutschen Kulturbund“, dem hauptsächlich einige rechts eingestellte Sozialdemokraten angehörten. Schoeps arbeitete in dieser Gruppierung ebenfalls mit, weil er das vom „Kulturbund“ vertretene antifaschistische, sprich kommunistische, Programm ablehnte.¹⁷ Aber auch hier galt er als jemand, von dem man nicht recht wusste, wie und wo man ihn einordnen sollte. War er jemand, der dazu gehörte oder war er ein Außenstehender, jemand, dem man nicht recht trauen konnte? Schoeps’ Bemühungen, Anschluss an die deutschsprachigen Exilkreise in Stockholm zu finden, ließen ihn auch Kontakt zu der am 30. November 1938 gegründeten „Emigrantenselbsthilfe“ suchen. In dieser von Schweden und NichtSchweden gegründeten Organisation, zu deren Begründern u. a. Wolfgang Steinitz¹⁸ und Hugo Valentin gehörten, begegnete man Schoeps allerdings mit einer gehörigen Portion Misstrauen. Als er vorschlug, bei der „Emigrantenselbsthilfe“ (Emigranternas Självhjälp), kurz ES genannt, zu einem unverfänglichen religionswissenschaftlichen Thema einen Vortrag zu halten, regte sich Widerstand. Man sah in ihm so etwas wie einen verkappten Nazi-Agenten, von dem man meinte, er versuche sich in die Emigrantenszene einzuschmuggeln. Im Nachlass des Linguisten und Volkskundlers Wolfgang Steinitz (1905 – 1967) finden sich einige Briefe von Schoeps,¹⁹ die erkennen lassen, weshalb man es als ein Problem ansah, ihn in der ES sprechen zu lassen. Schoeps, empört über die Unterstellungen ihm gegenüber, wandte sich an Steinitz und bemühte sich um eine Klarstellung. Steinitz, ein bekennender Antifaschist, der später eine bemerkenswerte Karriere in der SBZ und der späteren DDR machte, wo er es bis zum
Vgl. Müssener, Helmut: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München 1974. S. 196 ff. Vgl. Müssener, Helmut: Rede anlässlich des siebzigsten Geburtstags der Deutschen Vereinigung von 1945 und der Feier des Abschieds von ihr, 18. 9. 2015. Schoeps behauptete später, er sei einer der maßgeblichen Mitbegründer der „Deutschen Vereinigung“ gewesen, was Müssener, Exil in Schweden, S. 219 ff. bestreitet. Nach Müssener war Kurt Heinig (1886 – 1956), der einstige Finanzexperte der SPD-Fraktion im Reichstag, der Initiator der Vereinigung. Weitere Mitglieder waren u. a. Kurt und Eva-Juliane Meschke, Anton Graf Knyphusen, Egon Koetting, Ernst Pfleging, Edgar Wilhelm Hanewald, Arthur Neidhardt. Vgl. Leo, Annette: Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz. Kommunist, Jude, Wissenschaftler. Berlin 2005. S.177. Zu Dank ist der Verfasser seinem Kollegen Michael F. Scholz (Visby) verpflichtet, der ihm Kopien zweier Briefe von Hans-Joachim Schoeps aus dem Steinitz-Archiv (Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berlin) zur Verfügung gestellt hat.
110
Julius H. Schoeps
Mitglied der Zentralkomitees der SED und zum Vizepräsidenten der Deutschen Akademie der Wissenschaften der DDR brachte, war bereit, Schoeps anzuhören. Der Brief, um den es hier geht, trägt das Datum, vom 19. Februar 1943, und ist von Schoeps überschrieben mit „Sehr verehrter Herr Dr. Steinitz“, eine Formulierung, mit der er ganz offensichtlich seine Wertschätzung diesem gegenüber zum Ausdruck bringen wollte. Im Folgenden bemühte sich Schoeps um eine Klarstellung der gegen ihn offen, zumeist aber hinter vorgehaltener Hand erhobenen diffamierenden Unterstellungen: Ich bin niemals Mitglied des Naumannschen Verbandes²⁰ gewesen wie Ihnen ein in Stockholm lebendes ehemaliges Vorstandsmitglied Dr. med. Alfred Peyser²¹ bestätigen kann. Richtig ist vielmehr, daß ich Dr. Naumann sachlich stets auf das schärfte bekämpft habe. Meine Angriffe sind in der damals von mir herausgegebenen Zeitschrift „Der Vortrupp“ erfolgt. Naumann und sein Verband waren nationalistisch orientiert – übrigens persönlich war Naumann absolut integer –, während der von mir geführte Bund eine konservative Weltanschauung vertrat – konservativ als Deutsche wie als Juden. Was damit gemeint ist, läßt sich aus den Schriften von Dr. Rauschning²² ersehen, dessen Freunde uns auch in den Jahren damals nahestanden. Selber bin ich in meiner in den letzten Jahren in Deutschland illegal geführten Kampfarbeit gegen den Nationalsozialismus, die im Kontakt mit kirchlichen und deutschnationalen Kreisen erfolgte, nur mit Not der Verhaftung durch die Gestapo entronnen.²³ – Ich lege verständlicherweise Wert darauf, meine antinazistische Vergangenheit nicht durch Gerüchte, die aus halber und schlechter Orientierung stammen, beflecken zu lassen.
Die Probleme waren damit aber nicht aus der Welt geräumt. Die Gegner, die einen Vortrag von Schoeps verhindern wollten, sammelten weiterhin Material gegen ihn und ließen nichts unversucht, ihn zu denunzieren und in ein schlechtes Licht zu stellen. Steinitz, der bemüht war, ausgleichend zu wirken, ließ ihm dieses angeblich „belastende“ Material²⁴ zukommen, verbunden offensichtlich mit der
Der „Verband nationaldeutscher Juden“ war 1921 von Max Naumann (1875 – 1939) gegründet und 1935 verboten worden, er war strikt antizionistisch eingestellt und lehnte jede historische und kulturelle Gemeinsamkeit mit den Juden außerhalb Deutschlands ab. Alfred Peyser (1870 – 1955), Arzt, einst führendes Mitglied der Berliner Jüdischen Reformgemeinde, kehrte nach Kriegsende nicht nach Deutschland zurück. Hermann Rauschning (1887– 1982), Politiker, seit 1932 Mitglied der NSDAP, trat 1934 aber aus der Partei aus und wurde zum Kritiker des NS-Regimes, lebte seit 1941 in den Vereinigten Staaten. Vgl. Schoeps, Julius H.: „Hitler ist nicht Deutschland“. Der Nationalsozialismus, das Exil in Schweden und die Rückkehr von Hans-Joachim Schoeps in die einstige Heimat. In: Über Juden und Deutsche. Historisch-politische Betrachtungen (= Deutsch-jüdische Geschichte durch drei Jahrhunderte, Bd. 4). Hildesheim 2010. S. 201 f. Befindet sich nicht in den Unterlagen von Hans-Joachim Schoeps.
Leben in schwierigen Verhältnissen. Hans-Joachim Schoeps im schwedischen Exil
111
Aufforderung, eine Stellungnahme abzugeben. Schoeps antwortete am 15. September 1943: Ihr „neues“ Material ist belustigend. Sie haben gewiß den fraglichen Aufsatz nicht selbst gelesen. Es handelt sich bei ihm nämlich um ein geschickt getarntes Dokument antinationalsozialistischer Publizistik, wie sie 1933/34 in Deutschland noch möglich war. Immerhin hat schon damals die Gestapo das Schriftstück verdächtig gefunden und mich in ein ziemlich ekliges Verhör gezogen. Ihr Gewährsmann ist ein ziemlich primitiver Zeitgenosse, der nicht zu lesen versteht und mit herausgerissenen Zitaten eine vorgefasste, aber falsche Meinung beweisen will. […] Auf den albernen Vorwurf des Nazismus mich noch weiter zu verteidigen, habe ich keine Lust mehr. Etwa Absurderes kann ich mir nicht denken. Wenn Sie schreiben, daß Sie sogar mit früheren Nazis zusammenarbeiten könnten, so bringe ich eine solche Toleranz nicht auf. Ich kann nur mit Menschen aller Weltanschauungen und Richtungen zusammengehen, die sich darin einig sind, daß sie das Beste für Deutschland wollen.
Die Forderung des Vorstandes, Schoeps möge, wenn er einen Vortrag bei der ES halten wolle, sein Manuskript vorher zur Begutachtung einreichen, empfand dieser als Zumutung. Empört wies er das Ansinnen zurück: Den Herren Ihres Vorstandes, die mein Vortragsmanuskript zu sehen wünschen, bestellen Sie bitte wörtlich, daß ich als Demokrat mir aus prinzipiellen Gründen jede Form von Vorzensur verbitten muß. […] Jede weitere mündliche oder schriftliche Diskussion in dieser Sache muß ich bedauern. Die ES muß mich jetzt in aller Form zu einem Vortrag einladen oder es bleiben lassen.
Es war wohl der Fürsprache von Wolfgang Steinitz und einiger anderer ihm wohlgesonnener Flüchtlinge zu verdanken, dass es dann doch noch zu dem Vortrag kam, den er der ES angeboten hatte. Am Abend des 15. Februar 1944 sprach Schoeps zum Thema „Vom göttlichen Auftrag und geschichtlichen Schicksal des Volkes Israel“. Anschließend war ein Zusammensein am Teetisch angekündigt. In der Einladung, die in den Mitteilungen der ES veröffentlicht wurde, war vermerkt: „Wir bitten einen Teelöffel Tee mitzubringen und sich mit Zucker zu versehen.“ Schoeps, der sich gleichermaßen als Jude und Preuße (weniger als Deutscher) definierte, legte besonderen Wert darauf, dass man ihn politisch im konservativen Lager verortete. Damit, das war ihm durchaus bewusst, verkörperte er etwas für die meisten Zeitgenossen Unverständliches, weil Unzeitgemäßes, etwas, was nicht in das sozialdemokratische beziehungsweise kommunistisch geprägte Milieu des Stockholmer Exils jener Jahre passte. Im „Freien deutschen Kulturbund“, aber auch in der „Deutschen Vereinigung“ empfand man ihn deshalb als Fremdkörper, als jemanden, mit dem, wie schon erwähnt, man nichts oder nur sehr wenig anzufangen wusste.
112
Julius H. Schoeps
Vergeblich waren die Bemühungen von Hans-Joachim Schoeps, seine Eltern aus Berlin nach Schweden nachzuholen. Es gelang ihm zwar im Februar 1942 mit Hilfe der schwedischen Kirche eine Einreisegenehmigung für seine Eltern zu erhalten, doch Sven Hedin, der bekannte Forschungsreisende, an den Schoeps sich hilfesuchend gewandt hatte, weil er gehört hatte, dieser habe Kontakte zu hohen NS-Funktionären, die man unter Umständen nutzen könne, konnte auch nicht viel ausrichten. Wie wir heute wissen, sah er das wohl auch nicht für unbedingt notwendig an. Wie die meisten Schweden wollte auch Sven Hedin nicht an die Gerüchte über Deportationen und schon gar nicht an das Vorhandensein von Vernichtungslagern glauben.²⁵ Die Folge war, dass Schoeps nichts für seine Eltern tun konnte und aus der Ferne deren Deportation miterleben musste. Er hat sehr darunter gelitten, als er erfuhr, dass sein Vater an einer nicht behandelten Urämie in Theresienstadt starb und seine Mutter einige Zeit später nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet wurde. Ein erhaltener Brief von Leo Baeck, unmittelbar nach dem Krieg geschrieben, legt davon Zeugnis ab.²⁶ In einer näheren Beziehung stand Schoeps in den Jahren seines schwedischen Exils auch zu Hans Schäffer (1886 – 1967),²⁷ der ab Dezember 1929 als Staatssekretär unter den Reichsministern Paul Moldenhauer, Heinrich Brüning und Hermann Dietrich im Reichsfinanzministerium amtiert hatte und nach der sogenannten „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten im Juli 1933 nach Schweden emigriert war. Zusammen mit Allen W. Dulles, Marcus Wallenberg und Jean Monnet übernahm er dort die Aufsicht bei der Sanierung des schwedischen Zündholzkonzerns Svenska Tändsticks Aktiebolaget (STAB).²⁸ In den 1950er-Jahren wirkte Schäffer darüber hinaus in Schweden u. a. auch als Präsident des Rates der Juden aus Deutschland. Der Kontakt zu Schäffer ist vermutlich über Schoeps’ Ehefrau Dorothee, geb. Busch, zustande gekommen, deren Vater Felix Busch [eigentlich Friedländer] einst Staatssekretär im Preußischen Finanzministerium war und mit Hans Schäffer bekannt gewesen sein dürfte. Schoeps schickte diesem im Juni 1943 eine
Mehmel, Astrid: „Ich richte nun an Sie die große Bitte, eine zweckdienliche Eingabe in dieser Sache zu machen …“. Zwei Briefe von 1942 an Sven Hedin von Hans-Joachim Schoeps. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte (ZRGG) 1 (2000). S. 38 – 46. Leo Baeck an Hans-Joachim Schoeps, 21. 1. 1946. In: Schoeps, Über Juden und Deutsche, S. 264. Briefwechsel Hans Schaeffer/Hans-Joachim Schoeps, Bestand MF 512 (Hans Schaeffer), Leo Baeck Institut (LBI), Berlin. Vgl. Wandel, Eckhard: Hans Schäffer. Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen 1886 – 1967. Stuttgart 1974.
Leben in schwierigen Verhältnissen. Hans-Joachim Schoeps im schwedischen Exil
113
Denkschrift, „Zukunftsphantasie“ überschrieben, mit dem Titel Wie alles sein wird,²⁹ in der er Überlegungen anstellte, wie Deutschland nach seiner Rückkehr aussehen müsste. Es dürfte sich bei dieser „Zukunftsphantasie“ um Vorarbeiten für das Buch gehandelt haben, das 1944 unter dem Titel Vad skall de bli av Tyskarna? erschien. Schäffer, damals mit seiner Familie ansässig in Jönköping, wohin es ihn durch seine Tätigkeit für die STAB verschlagen hatte, bedankte sich einige Tage später für die Übersendung der Denkschrift, meinte aber, sie sei doch sehr subjektiv gehalten, „daß sie nur für Sie selbst gelten kann“. In der Frage, was die notwendigen Voraussetzungen für den Wiedereintritt Deutschlands in die Kulturgemeinschaft zivilisierter Nationen betreffe, so sei es seiner Meinung nach vor allen Dingen erforderlich, dass die Deutschen den Gedanken aufgeben müssten, ein „Herrschervolk“ zu sein, das sich über andere Völker erhebe. „Es muß“, so erklärte er, „aus dem deutschen Volke heraus selbst die Erkenntnis kommen, daß der Weg der letzten zehn Jahre, auch wenn er nicht mit einem Mißerfolg geendet hätte, ein falscher Weg war.“ Schoeps, der sein Manuskript an zahlreiche „heimkehrwillige Emigranten“ verschickt hatte, und auf zustimmende Zuschriften hoffte, stimmte Schäffer, was dessen Schlussfolgerungen betraf, in einem Brief am 27. Juni 1943 weitgehend zu. Er war jedoch, was den künftigen Umgang mit der sogenannten „Judenfrage“ betraf, dezidiert anderer Ansicht als Schäffer: Die Judenfrage ist weißgott, auf das Ganze gesehen, ein Teilproblem 6. Ranges, das nur uns zufällig näher angeht – und schmerzt. Gewiß, die deutsche Selbstbesinnung wird in anderen und tieferen Schichten der Volksseele vor sich gehen müssen. Aber da seit Luther die Frage nach der Schuld und der Erlösung von der Schuld die deutsche Frage ist, wird das Judenproblem und die Frage nach der Wiedergutmachung begangener Schuld in den Vordergrund treten müssen – weil hier die „Sünde“ am eklatantesten geworden ist. Die Schuld an den Juden gehört grundsätzlich einer anderen Größenordnung an als die an den Polen und Tschechen, weil hier bewußt „Gottes auserwähltes Volk“ getroffen werden sollte. Das andere ist „nur“ – gewiß schwerwiegende und verdammenswerte – Hybris – hier aber geht es um den „Aufstand der Empörten gegen Gott“. – Und ohne das „pater peccavi“ [lat.: „Vater, ich habe gesündigt“] und die durch das rückhaltlose Schuldbekenntnis gehende Versöhnung mit dem baure aulom [hebr.: dem „Weltenschöpfer“] wird es keine Wiedergeburt, keinen neuen Anfang für Deutschland geben.
Die Denkschrift hat sich in den beim LBI befindlichen Unterlagen von Hans Schäffer nicht angefunden.
114
Julius H. Schoeps
Und weiter heißt es dann: Das ist ihnen gewiß alles zu „metaphysisch“. Gewiß! Aber es ist wirklich und wird sich in der Wirklichkeit ausdrücken müssen. Nach dem vorigen Weltkrieg bildete sich der Kreis der „Bauhütte“ um Florens Chr. Rang³⁰, junge Menschen – Kreuzfahrer heutiger Zeit –,die von dem Dostojewskischen Gefühl getrieben, daß wir alle gegenüber allen und für alles schuldig seien, nach Frankreich hinüberzogen, um freiwillig mit eigener Hand die zerschossenen Dörfer drüben wieder aufzubauen. – Ich erwarte mir ähnliche Bekundungen und Tat in verstärktem Maß für dieses Mal. Gewiß ist so etwas immer nur Sache kleiner Gruppen, aber es sind symbolische Handlungen und können als stellvertretende Sühne für die ganze Nation getan werden.
Wie Hans Schäffer meinte auch Schoeps, dass für einen Neuanfang das deutsche Volk einen inneren Gesundungsprozess zu durchlaufen habe: […] da glaube ich mit Ihnen, die Genesung und Wiedergeburt kann nur aus dem deutschen Volke selber kommen und nirgend anders her. Das Herrenvolk muss selber nach Canossa gehen! Aber das sind Vorgänge, die mit den Proklamationen der Literaten nichts zu tun haben – sie gehen sogar ein großes Wegstück unterirdisch vor sich. Reden und Literatengebaren kann den stillen Wachstumsprozeß eines neuen Werdens, der – wie ich glaube – schon begonnen hat, nur schädlich sein. Denn eine Blume, die erblüht, macht kein Geschrei dabei!
Trotz aller Schreckensnachrichten, die aus Deutschland nach Schweden gelangten, trotz des Wissens vom gewaltsamen Tod seiner Eltern, ist Schoeps’ Liebe zu Deutschland im schwedischen Exil nicht in blinden Hass umgeschlagen. Im Gegenteil. 1944 veröffentlichte er unter dem Pseudonym Joachim Frank [Frank war der Mädchenname von Schoeps’ Mutter] das schon erwähnte Buch Vad skall det bli av Tyskarna? [Was soll aus den Deutschen werden?], in dem er versuchte zu erklären, wie alles gekommen sei, die Deutschen für die NS-Verbrechen nicht kollektiv haftbar gemacht werden dürften, und dass sie besser seien als ihr Ruf.³¹ Hitler, so Schoeps in diesem Buch, sei nicht gleich Deutschland. In dem Buch, dem er das Motto des Freiherrn vom Stein „Deutschland kann nur durch Deutschland gerettet werden“ vorangestellt hatte, formulierte Schoeps eine Reihe von Einsichten, die erst in jüngster Zeit von den Historikern aufgenommen und thematisiert worden sind. So entwickelte er die These vom Nationalsozialismus
Florens Christian Rang (1864– 1924), protestantischer Theologe, Politiker und Schriftsteller. An den Stockholmer Rabbiner Emil Kronheim (1890 – 1971), mit dem Schoeps in seiner schwedischen Zeit in engerem Kontakt stand, schrieb er am 9. Februar 1944: „Ich hoffe, das Buch des Herrn Frank hat nicht zu große Entrüstung bei Ihnen ausgelöst […].“(Nachlass Kronheim, Stockholm).
Leben in schwierigen Verhältnissen. Hans-Joachim Schoeps im schwedischen Exil
115
als politischer Religion,³² womit er einer der Ersten war, der einen Zusammenhang zwischen Christentum und Nationalsozialismus vermutete.³³ Schoeps war fest davon überzeugt, dass Deutschland nach dem Krieg wieder in den Kreis der Völkergemeinschaft als gleichberechtigt aufgenommen werden würde. Er glaubte aber nicht, wie das die meisten Exilanten taten, die aus HitlerDeutschland hatten flüchten müssen, dass Deutschland der Hort des Bösen und die Deutschen unbelehrbare Monster seien. In Vad skall det bli av Tyskarna? plädierte er nicht nur dafür, der deutschen Jugend eine Chance zu geben, sondern trat auch dafür ein, dass die vor den Nazis geflüchteten Juden in das Nach-HitlerDeutschland zurückkehren sollten. Ob Schoeps bei dieser Ansicht geblieben wäre, wenn er zu dieser Zeit vom ganzen Ausmaß der NS-Verbrechen Kenntnis gehabt hätte? Vielleicht hätte er dann nicht, wie er es in jenen Jahren noch getan hat, vorbehaltlos die Rückkehr jüdischer Flüchtlinge in die einstige Heimat befürwortet. Interessanterweise deckte sich hier seine Sicht mit derjenigen von Sozialisten wie Jürgen Peters (1905 – 1982) und Wolfgang Steinitz, die kein Problem darin sahen, in das Nachkriegsdeutschland zurückkehren.³⁴ Sie hatten es allerdings bei ihren Rückkehrplänen insofern leichter, als sie sich nicht als jüdische Deutsche definierten, sondern in erster Linie als Sozialisten verstanden. Ideologisch rechneten sie sich dem Lager der Sieger zu, was es ihnen erleichterte, sich auf den Weg in die alte Heimat zu machen.³⁵ Schwieriger war es für diejenigen, die keine Sozialisten waren, sondern die wegen ihrer jüdischen Herkunft zu Exilanten geworden waren. Für sie waren die Brücken nach Deutschland mehr oder weniger abgebrochen. Nur in einigen wenigen Ausnahmefällen entschieden sie sich zur Rückkehr. Einer der wenigen, die das taten, war Hans-Joachim Schoeps, der in Schweden nicht bleiben wollte. Er sah in dem Land, das ihn als Flüchtling aufgenommen hatte, keine Zukunft für
Schoeps spricht in diesem Zusammenhang vom Nationalsozialismus als einer „maskierten Religion“. Vgl. Frank, Joachim: Vad skall det bli av Tyskarna?. Stockholm 1944. Kapitel IV: Den religiösa Situationen. Vgl. hierzu Schoeps, Julius H.: Erlösungswahn und Vernichtungswille. Die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ als Vision und Programm des Nationalsozialismus“. In: Der Nationalsozialismus als politische Religion. Hrsg. von Michael Ley u. Julius H. Schoeps. Bodenheim 1997. S. 262– 271. Vgl. Rückkehr und Gründerzeit (1946 – 1950), in: Leo, Leben als Balance-Akt, S. 214 ff. Vgl. hierzu die Briefe, die Wolfgang Steinitz mit seiner Frau Inge wechselte, in denen die Umstände der Rückkehr nach Berlin geschildert werden. In: Zweimal Stockholm–Berlin 1946. Briefe nach der Rückkehr. Jürgen Peters und Wolfgang Steinitz. Mit Nach-Fragen an Robert Rompe und Jürgen Kuczynski. Hrsg. von Jan Peters. Leipzig 1989. S.110 ff.
116
Julius H. Schoeps
sich und seine Familie. Trotz der sieben Jahre, die er in Schweden verbracht hatte, war ihm, so bekannte er in seinen „Erinnerungen“, das Land fremd geblieben. In Tagebuchnotizen, niedergeschrieben am 10. November 1946 in Uppsala, bemerkte Hans-Joachim Schoeps resümierend: Ich bin nicht mehr derselbe, der Deutschland vor 8 Jahren verließ, aber ich weiß auch, daß Deutschland nicht mehr dasselbe ist. Ich wußte die ganze Zeit über, daß ich außerhalb Deutschlands nicht auf die Länge leben kann. In wenigen Tagen kehre ich – wie ich glaube ohne Illusionen – in ein kaputtes Vaterland zurück […]. Irgendwie habe ich das Gefühl, in den 8 Jahren, die überwiegend der Wissenschaft gewidmet waren, nicht richtig gelebt zu haben. Weitgehend habe ich die Wissenschaft auch bewußt als Ersatz für nicht gelebtes Leben angesehen. Jetzt brauche ich sie nicht mehr. Ich kehre in das wirkliche Leben zurück in mein Leben, das mich hineinstellt in die Solidarität des zweiten deutschen Nachkriegsund Hungerwinters […]. Früher habe ich oft stark die Bindung durch die Vergangenheit, das Festgelegtsein durch Erfahrung und Schicksal gefühlt. Sicherlich bin ich auch in den entscheidenden Daseinsorientierungen schon so geprägt, daß ich nicht ein im Grunde anderer Mensch mehr werden kann. Gleichwohl glaube ich doch, aufgeschlossen und nicht erstarrt in Festlegungen in den neuen Lebensabschnitt einzutreten. Eher sehe ich mich vor der Aufgabe, mich selber in das Deutschland von morgen zu übersetzen. Nicht mehr visiere ich die Zukunft im nur gedanklichen Entwurf an, sondern sie kommt nunmehr im Handeln auf mich zu, und ich gewinne an der Zukunft wieder Gegenwart. Die Erstarrung der schwedischen Jahre weicht; das Leben wird wieder auf große Fahrt gehen.³⁶
Töpner, Kurt: Tagebuchnotizen von Hans-Joachim Schoeps, in: ZRGG 4 (1980). S. 364 f.
Deutschsprachige Juden und ihr Einfluss auf die jüdische Gemeinschaft in Schweden
Lena Roos
Gottlieb Klein und die Religionswissenschaft in Schweden Beginnen wir mit einem Zitat aus einer Predigt, die Rabbiner Gottlieb Klein am 8. Dezember 1894 in der großen Synagoge in Stockholm gehalten hat. Der Anlass war außergewöhnlich für eine Feierlichkeit in einer Synagoge: das 300-jährige Jubiläum der Geburt des schwedischen Königs Gustav II. Adolf, der im Dreißigjährigen Krieg zwischen Protestanten und Katholiken gefallen war. In dieser Passage bringt Gottlieb Klein nicht nur seine Bewunderung der protestantischen Christenheit gegenüber zum Ausdruck, sondern auch, was es aus seiner Sicht bedeutet, ein jüdischer Schwede zu sein: Wir haben nicht nur das Recht – es ist vielmehr unsere Pflicht – Gott dafür zu danken, dass er das schwedische Volk dazu auserkoren hat, einen so wichtigen Beitrag zur Entwicklung der Menschheit durch seinen höchsten Vertreter zu leisten. Ja, auch wir als Schweden sind erfreut, mit einer Freude aus tiefstem Herzen, denn wir fühlen uns dem Vaterland verbunden, das Gustav Adolf mit seinem Geiste und Herzen geprägt hat. Wir halten uns daran mit jeder Faser. Wir leben in seiner Kultur. Wir sind Teil von dessen spiritueller Entwicklung und sind bereit, Opfer zu bringen, um es zu verteidigen. Das bedeutet auch – wir dürfen auch an dessen Freude teilhaben.¹
Das mag überraschend kommen, hielt Klein doch diese Predigt lediglich ein Jahrzehnt nach seiner Übersiedelung nach Schweden. Jedoch identifizierte er sich hier eindeutig als Schwede. Dieser Artikel soll deutlich machen, wie logisch es für Gottlieb Klein war, eine solche Aussage zu machen. Ich werde außerdem einen Teil der Reise nachzeichnen, die den einst orthodoxen Juden osteuropäischer Herkunft zu einem schwedischen Patrioten machte, der die Tugenden Martin Luthers und Gustav Adolfs lobte. Wir werden uns mit diesen Fragen auf zweierlei Weise auseinandersetzen. Aus der Perspektive der Judaistik werden wir den persönlichen Weg Kleins unter die Lupe nehmen – vom traditionell jüdischen Ausgangspunkt, über talmudische und rabbinische Studien, bis zu seiner Begegnung mit den Traditionen westlicher Universitäten, Institutionen, die selbst nach Wegen suchten, sich an die Neuzeit und deren Herausforderungen anzupassen. Und dazwischen die Begegnung mit einem neuen Judaismus, der sich einen Weg durch eine sich verändernde Welt
Klein, Gottlieb: Sem och Japhet. Predikan hållen i Stockholms synagoga den 8 december 1894 till firandet av Gustaf II Adolfs 300-åriga minne. Stockholm 1894. S. 12– 13. https://doi.org/9783110532289-006
120
Lena Roos
bahnte. Ferner werden wir die Person Gottlieb Kleins auch aus der historischen Perspektive meiner eigenen Disziplin betrachten, der Religionsgeschichte in Schweden. Während ich versucht habe, deren Frühzeit zu skizzieren, bin ich über beiläufige Anmerkungen zu Gottlieb Klein gestoßen. Einen Akteur, der sich selten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit aufhielt, sondern auf eine eher subtile Weise in Erscheinung trat und Beiträge leistete, die oft übersehen wurden. Dennoch prägt Gottlieb Klein die Religionswissenschaften in Schweden bis heute. Ich werde mich also nicht auf Kleins eigene Forschung konzentrieren – dafür wäre eine viel intensivere Auseinandersetzung sinnvoller. Stattdessen nehme ich einige Schwerpunkte in den Fokus, an denen seine Beiträge zur Religionswissenschaft in seiner neuen Heimat bis heute sichtbar sind: seine Kontakte zur Universität Uppsala, die Etablierung der Gesellschaft für Religionswissenschaft in Stockholm, die Gründung des Lehrstuhls für Religionsgeschichte an der Universität von Stockholm.
Frühe Biografie und Forschungsinteressen Gottlieb Klein wurde in Humenné (oder Homonna) in der heutigen Slowakei als Sohn bescheidener, gläubiger Kaufleute geboren. Seine Muttersprache war Jiddisch. Er erhielt eine talmudische Ausbildung an der rabbinischen Schule in Eisenstadt bei Wien. Dort begann er, seine rabbinischen Studien mit säkularen Themen zu kombinieren. Die Begeisterung daran bewog ihn offenbar auch, bald danach nach Heidelberg weiterzuziehen. Unter sehr schwierigen finanziellen Umständen, die er oft durch Privatunterricht zu verbessern suchte, begegnete er in Heidelberg der historisch-philologischen Methode für Bibelstudien unter der Federführung von Ferdinand Hitzig. Diese Ausbildung hatte entscheidenden Einfluss auf sein Leben und seine Arbeit – und wies ihn in eine deutlich progressivere Richtung bei seinen rabbinischen Studien. Die kritische Form der Forschung führte aber auch zu einer kurzen persönlichen religiösen Krise, als er den religiösen Studien den Rücken kehrte und sich stattdessen der Medizin und den Naturwissenschaften zuwandte. Doch diese Unterbrechung war nur von kurzer Dauer. Als er sich wieder seinen rabbinischen Studien widmete, geschah dies eindeutig mit einer Hinwendung zu liberalen jüdischen Anschauungen, für die nicht zuletzt Abraham Geiger in Berlin stand. Von nun an war klar, dass er schwerpunktmäßig seine rabbinischen Studien mit rein akademischer Religionswissenschaft kombinieren wollte. 1873 erhielt Gottlieb Klein schließlich seinen Doktortitel in Heidelberg, und 1877 wurde er an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin ordiniert. Als ein Student Abraham Geigers zählte er zu den Vertretern des frühen liberalen Juda-
Gottlieb Klein und die Religionswissenschaft in Schweden
121
ismus. Er stand aber auch dem Zionismus kritisch gegenüber und war der Überzeugung, dass Juden dazu bestimmt waren, unter Nichtjuden zu leben und sich von diesen lediglich durch die religiöse Zugehörigkeit unterscheiden. Sechs Jahre nach seiner Ordinierung, 1883, kam Klein als Rabbiner zur jüdischen Gemeinde in Stockholm. Für den Rest seines Lebens sollte dies die Plattform bleiben, auf der er seine Ideen zur von ihm gewünschten Weiterentwicklung – sowohl in der Wissenschaft als auch im Judaismus – verbreiten würde.²
Gottlieb Klein und die wissenschaftlichen Studien der Religion in Schweden Klein war nicht nur ein Protagonist des liberalen Judaismus; er wurde ebenso tiefgreifend von der aufkommenden wissenschaftlichen Religionsforschung beeinflusst, bedingt durch seinen akademischen Werdegang an der Universität Heidelberg und der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin.³ Diese Entwicklung machte sich in ganz Europa bemerkbar. Religionswissenschaft oder Religionsgeschichte, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte, legte ihren Fokus auf die wissenschaftliche Erforschung aller religiösen Traditionen der Welt – und zwar sowohl der vergangenen als auch der gegenwärtigen. Zu dieser Entwicklung trugen mehrere Faktoren bei: Zum einen die Etablierung säkularer Universitäten. Die europäischen Universitäten waren ursprünglich als grundsätzlich christliche Institutionen gegründet worden, die nur christlichen Studenten offenstanden, und es war ein mühsamer Prozess, sich nach und nach von dieser Vergangenheit zu lösen. Zum anderen neue Entdeckungen: archäologische Ausgrabungen, Objekte und Texte, die zu einer enormen Vergrößerung der Primärquellen für die Geschichtswissenschaftler beitrugen, sowie Entwicklungen in der Philologie, die als
Für eine kurze Biografie von Gottlieb Klein, siehe Post, Ingrid Marie von: Gottlieb Klein. Svenskt biografiskt lexikon. Stockholm 1975 – 77. S. 261. Für eine persönlichere Darstellung, siehe den Artikel von seinem Sohn, Klein, Ernst: Till 100-årsminnet av Gottlieb Kleins födelse. In: Mosaiska församlingens församlingsblad 1 (1952). Ein aktuellerer Beitrag, der auch Originalzitate seiner Verwandten beinhaltet, ist der Artikel von Kleins Großenkelin, Klein, Helle: Gottlieb Klein – rabbinen, forskaren och folkbildaren. In: Sällskapet. Tro och vetande i 1900-talets Sverige. Hrsg. von Susanne Olsson. Stockholm, 2013. Zum Schwerpunkt nichtkonfessioneller, wissenschaftlich religiöser Religionsforschung siehe Kaufmann, Irene: Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (1872– 1942). Berlin 2006. S. 14– 15.
122
Lena Roos
Grundlage für wissenschaftliche Editionen und Interpretationen der Texte dienen konnten.⁴ Und schließlich ein säkularisiertes Verständnis der Religion als eine eigene Kategorie, die losgelöst von anderen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen studiert werden kann. Dabei handelt es sich um ein grundlegendes Merkmal der Neuzeit, das sich deutlich von den früheren Epochen abhebt.⁵ Zunehmend ging man nun von der Idee aus, dass die religiöse Vielfalt ein Zeugnis der menschlichen Evolution sei. Man könnte also sagen, die frühen Forschergenerationen waren geradezu besessen von der Suche nach den Ursprüngen der Religion. Diese Wahrnehmung der Evolution verstand man auch als ein Zeugnis der menschlichen Einigkeit. Unterschiede zwischen Völkern und Kulturen konnten also dadurch erklärt werden, dass verschiedene Zivilisationen den unterschiedlichen Stufen der Evolution zugeordnet werden konnten.⁶ All diese Faktoren trugen zu einer vergleichenden Forschung bei, die jedoch eindeutig christlich geprägt war. Man studierte und verglich die Religionen, nicht nur um Religion im Allgemeinen zu verstehen, sondern vielmehr um das Christentum zu verstehen. Der Philologe Max Müller schrieb dazu: [U]m die Position des Christentums in der Weltgeschichte – und dessen wahren Platz unter den Religionen der Menschheit – gänzlich zu begreifen, müssen wir es nicht nur mit dem Judentum, sondern mit allen religiösen Bestrebungen der gesamten Welt vergleichen, im Grunde mit allen, die das Christentum entweder zu zerstören oder zu erfüllen vermochten.⁷
Religionswissenschaft als akademische Disziplin entwickelte sich in den einzelnen Ländern nach durchaus verschiedenen Mustern. In den USA, Italien, Frankreich und den Niederlanden wurden die Lehrstühle üblicherweise an geisteswissenschaftlichen Fakultäten eingerichtet.⁸ In Deutschland war Theologie nach christlichen Konfessionen aufgeteilt – mit getrennten Fakultäten für katholische und protestantische Theologie. Die neu gegründeten Lehrstühle für Religionsgeschichte befanden sich normalerweise an protestantischen theologischen Fa-
Molendijk, Arie L.: Introduction. In: Religion in the Making. The Emergence of the Sciences of Religion. Hrsg. von Arie L. Molendijk u. Peter Pel. Studies in the History of Religions LXXX. Leiden 1998. S. 6. Molendijk, Introduction, S. 7. Molendijk, Introduction, S. 7. Müller, Max: Chips from a German Workshop. Bd. 1. London 1867. S. XXVIII. Børresen, Kari Elisabeth: Religious Feminism and Catholic Theology. In: The Relevance of Theology. Nathan Söderblom and the Development of an Academic Discipline. Hrsg. von Carl Reinhold Bråkenhielm u. Gunhild Winqvist Hollman. Uppsala studies in faiths and ideologies 11 (2002). S. 146.
Gottlieb Klein und die Religionswissenschaft in Schweden
123
kultäten. Katholische Fakultäten für Theologie tendierten eher dazu, Lehrstühle zu etablieren, die sich der kritischen Reflexion der Positionierung des Christentums im Verhältnis zu anderen Religionen widmeten.⁹ In Großbritannien und Schweden wurde wiederum ein anderes System eingeführt: Religionsgeschichte wurde an den Fakultäten für Theologie etabliert. Die Forschung war dem Namen nach nichtkonfessionell, hatte jedoch einen klaren Fokus auf der Erforschung des Christentums.¹⁰ Dies war die Ausgangssituation für Klein, als er in Schweden angekommen war. Unbestritten war die frühe Entwicklung der Religionswissenschaft eng verknüpft mit der Entwicklung der liberalen protestantischen Theologie. Dies sollte als ein wechselseitiger Prozess betrachtet werden: Die säkulare Religionsforschung trug zur Entwicklung der liberalen protestantischen Theologie bei, während eine derartige säkulare Religionsforschung auch durch die religiösen Überzeugungen derjenigen Theologen motiviert und vorangetrieben wurde, die Teil dieser Bewegung waren.¹¹ Das war auch in Schweden der Fall: Viele der bekanntesten frühen Gelehrten auf diesem Gebiet – wie Knut Henning Gezelius von Schéele, Johan August Ekman, Nathan Söderblom, Edgar Reuterskiöld und Tor Andrae – gehörten der liberalen evangelischen Bewegung an und wurden als solche auch Bischöfe der Schwedischen Kirche.¹² Gottlieb Kleins wissenschaftliche Entwicklung kann quasi als eine Parallele betrachtet werden, da er säkulare Religionsforschung mit aufgeklärt-liberalem Judentum kombinierte, was wahrscheinlich einer der Gründe für seine engen Freundschaften mit einigen der genannten liberal-protestantischen Theologen war. An der Universität von Uppsala wurde 1878 an der Fakultät für Theologie ein Lehrstuhl für „Theologische Pränotionen und Theologische Enzyklopädie“ eingerichtet. „Theologische Pränotionen“ entsprach dem, was wir heute als Religionsgeschichte, -psychologie und -philosophie bezeichnen würden, „theologische Enzyklopädie“ als Katechismus und religiösen Symbolismus. Doch es sollte noch bis zur Jahrhundertwende dauern, bis die wissenschaftliche Religionsforschung
Børresen, Religious feminism, S. 146. Byrne, Peter: The foundations of the study of religion in the British context. In: Religion in the Making. The Emergence of the Sciences of Religion. Hrsg. von Arie L. Molendijk u. Peter Pels. Studies in the History of Religions LXXX. Leiden 1998. S. 45 – 65. Sharpe, Eric J.: The Secularization of the History of Religions. In: Gilgul. Essays on Transformation, Revolution and Permanence in the History of Religions. Hrsg. von Shaul Shaked [u. a.]. Leiden 1987. S. 262. Sharpe, Secularization, S.261.
124
Lena Roos
in Schweden ernsthaft in Gang kam. Erst im Jahr 1912 wurde ein solcher Lehrstuhl an einer anderen Universität eingerichtet – nämlich an jener in Lund.¹³
Die Stockholmer Konferenz von 1897 Ein Markstein für die kommenden Entwicklungen war die große internationale Konferenz für Religionswissenschaften, die 1897 in Verbindung mit der Weltausstellung in Stockholm stattfand. Unter den Organisatoren waren Gottlieb Klein und der Religionshistoriker Nathan Söderblom. Sie beide können als Vermittler der Übertragung religionswissenschaftlicher Impulse von deutschen und französischen Universitäten nach Schweden betrachtet werden. Auf der Konferenz hielt Klein einen Vortrag zu Religion und Moral. Der Vortrag handelte von seinem hauptsächlichen Forschungsinteresse: dem frühen Christentum und dessen Verhältnis zum Judentum. Darin lobte er das Christentum, das sich aus dem Judentum heraus entwickelt hat, als die Religion, der es besser als allen anderen gelungen sei, einst barbarisch agierende Völker zu zivilisieren. Klein verortete den Ursprung der christlichen Ethik in der prophetischen Tradition der hebräischen Bibel sowie in der frühen rabbinischen Tradition.¹⁴ Noch im selben Jahr wurde Gottlieb Klein auch zum Professor berufen – dank dem Einfluss des schwedischen Königs Oscar II., der sich für Religionswissenschaft interessierte und mit Klein studiert hatte. Die Korrespondenz zwischen Oscar II. und Gottlieb Klein, die ihre gemeinsamen Interessen dokumentiert, ist erhalten geblieben. Darin befragte Oscar II. Klein beispielsweise zu den Namen der sieben Engeln, die persischen Texten zufolge um die Merkaba herum standen.¹⁵
Gottlieb Klein an der Universität von Uppsala Gottlieb Klein und Nathan Söderblom lernten sich 1885 kennen, zwei Jahre nach Kleins Ankunft in Schweden, als Klein gerade eine Vortragsreihe über den Talmud in Uppsala hielt. Genehmigt durch den Vizekanzler, wurde die Veranstaltungsreihe von Herman Napoleon Almkvist, Professor für semitische Sprachen, ar Bergman, Jan: The History of Religions. In: Faculty of Theology at Uppsala University, Acta Universitatis Upsaliensis, Uppsala University 500 Years. Bd. 1. Uppsala 1976. S. 4, 7. Klein, Folkbildaren, S. 151. Brief von Oscar II. an Klein, 31. 1. 1878. In: Manuskriptsammlung (MS) am Carolina Redidiva, Uppsala. Kleins Briefe sind allerdings Kopien von den Originalen. Übersetzung der Verfasserin.
Gottlieb Klein und die Religionswissenschaft in Schweden
125
rangiert. In einem Brief an Klein bringt Almkvist seine Dankbarkeit über „die große Güte des Fremden, der dazu bereit ist, ohne jegliche Kompensation ein weiteres Feld zu den Lehrdisziplinen an unserer Universität hinzuzufügen“, zum Ausdruck. Dann fragt er: Wäre es möglich, die Vorträge auf Deutsch zu halten? Jeder im Publikum versteht die deutsche Sprache gut genug, um vom Inhalt zu profitieren. Außerdem werden möglicherweise einige kommen, um von einer solch seltenen Gelegenheit zu profitieren – nach meiner Erfahrung hat es das noch nie gegeben – von einer Kanzel in Uppsala einen Muttersprachler derjenigen Sprache zu hören, die in unserer Zeit mehr als jede andere die Gelehrsamkeit vorantreibt.¹⁶
Es wird nicht nur deutlich, dass Almkvist große Stücke auf die deutsche Gelehrsamkeit hielt, sondern auch, dass Klein nach lediglich zwei Jahren in Schweden bereit war, einen Vortrag auf Schwedisch zu halten. Almkvist war entschlossen zu lernen, den Talmud zu lesen und zu verstehen, und befragte Klein in seinen Briefen zu komplizierten Passagen, der Analyse ungewöhnlicher Ausdrücke und korrekter Übersetzung. Dennoch war nicht jeder von dieser Forschung so begeistert. Zwei Jahre später versuchte Almkvist, eine neue Vortragsreihe zu arrangieren, und schrieb dazu an Klein: Es ist eine echte Schande für unsere Universität und ihre Studien der semitischen Sprachen! Die Ankündigung wurde vier Tage lang in unseren beiden wichtigsten Zeitungen veröffentlicht, und nicht ein Mensch, nicht einmal Professor Rudin [Professor für Exegese] meldete sich zur Teilnahme am Vortrag an, obwohl darum ausdrücklich gebeten wurde, damit der Vortrag stattfinden kann.¹⁷
Die Freundschaft zwischen Klein und Söderblom Klein und Söderblom hatten ohne Zweifel viele Gemeinsamkeiten. Söderblom verkörperte die meisten der typischen Eigenschaften des aufkommenden Forschungsfeldes der Religionsgeschichte. Nach seinem Studium an der Sorbonne in Paris verteidigte er seine Abschlussarbeit, eine vergleichende Studie der Eschatologie in den alten Religionen des Mittleren Ostens mit einem besonderen Schwerpunkt auf der alten persischen Religion. Aus der Korrespondenz der beiden ergibt sich ein Bild von großem gegenseitigen Respekt, gemeinsamen Forschungsinteressen und enger Freundschaft. In
MS, Brief von Almkvist an Klein, 8. 8. 1885. MS, Brief von Almkvist an Klein, 30. 1. 1887.
126
Lena Roos
vielen erhalten gebliebenen Kurzbriefen befragt Söderblom Klein zu verschiedenen Aspekten der rabbinischen Werke. In einem davon fragt er zum Beispiel: „Gibt es im Talmud eine Erwähnung der Doktrin über die Wiederauferstehung aller? Das Thema interessiert mich auf Grund eines Vortrags, den ich gerade vorbereite.“¹⁸ Die gegenseitigen Kurzbriefe ähneln E-Mails, über die Wissenschaftler heutzutage kommunizieren, um von der Expertise des anderen für ihre eigene Arbeit zu profitieren. Anders als heute war es nicht möglich, Primärquellen mittels Suchmaschinen und Datenbanken zu durchsuchen, und die Unterstützung eines Gelehrten wie Klein, der mit der rabbinischen Literatur gut vertraut war, konnte Söderblom monate- oder womöglich jahrelanges Durchsuchen der Texte erspart haben. Söderblom scheint außerdem seine Gespräche mit Klein als spirituell bereichernd empfunden zu haben, sowohl für sich selbst als auch für andere schwedische Theologen. In einem noch während seines längeren Aufenthalts in Paris verfassten Brief schreibt er: Vielen Dank für Deinen schönen Brief! Deine Worte sind für mich so wertvoll. Ich wünsche mir von Herzen, ich könnte diese Einheit des Geistes, die zwischen Dir und einigen jungen Priestern in unserer Kirche trotz konfessioneller Differenzen herrscht, hautnah miterleben. Jedes Mal, wenn die Kirche einen neuen Schatz an Glauben und Macht erworben hat, fand sie diesen in ihrem israelitischen Ursprung. Ich hoffe, dass Du noch mehr Früchte Deiner Studien der Religionsgeschichte Israels mit uns wirst teilen können. Es macht sich gut. Du verfügst über eine Position, die Deinen Worten auch in christlichen Kreisen Gewicht verleiht.¹⁹
Im Jahre 1900 wurde Nathan Söderblom auf den Lehrstuhl an der Universität von Uppsala berufen, den wir heute als Religionsgeschichte bezeichnen würden. Hier setzte er seine historisch-philologischen Studien der alten Religionen fort. Typisch für seine Zeit war der prochristliche Einfluss auf seine Forschung. Seiner Ansicht nach sollte der Großteil der religionswissenschaftlichen Forschung dem Christentum gewidmet werden, welches als die komplexeste aller Religionen betrachtet wurde. Er behauptete außerdem, dass es möglich wäre, durch wissenschaftliche, objektive Kriterien nachzuweisen, dass das Christentum die höchste Form der Religion sei. Darunter sollte jedoch nicht das Christentum im Allgemeinen verstanden werden, sondern vielmehr der fortschrittliche Protestantismus, mit dem Söderblom sich identifizierte.²⁰ In einem anderen frühen Brief an Klein schreibt er zu Kleins Studie über die Religionsgeschichte Israels:
MS, Brief von Söderblom an Klein, 20. 4. 1904. MS, Brief von Söderblom an Klein, 7. 5. 1899. Unterstreichung von Söderblom. Söderblom, Nathan: Studiet av religionen. Stockholm 1908. S. 11– 17.
Gottlieb Klein und die Religionswissenschaft in Schweden
127
Ich bin froh, dass Schweden Deine Wahlheimat ist. Und Deine Gemeinde sollte stolz auf einen solchen Pastor sein. […] Die protestantischen Priester sind in gewissem Sinne die Fortsetzung der Rabbis, während die katholischen Priester eher mit den Opferpriestern des Judentums und noch mehr der heidnischen Religion verwandt sind. Dies ist lediglich eine Seite jener Charaktereigenschaft, die zeigt, dass wir Protestanten den prophetischen Ursprung des Christentums beibehalten haben, während die Katholiken es vom indogermanischen Erbe haben überschatten lassen.²¹
Die Gesellschaft für Religionswissenschaft in Stockholm Gottlieb Klein bekam nie einen Lehrstuhl an einer schwedischen Universität, doch er schaffte es trotzdem, das aufkommende Feld der religionswissenschaftlichen Forschung in Schweden auf vielerlei Weise grundlegend zu beeinflussen. Ein weiterer Meilenstein dieser Mitwirkung war die Gründung der Gesellschaft für Religionswissenschaft in Stockholm im Jahre 1906. Das Ziel der Gesellschaft war und ist es noch, die religionswissenschaftliche Forschung durch öffentliche Vorträge und finanzielle Unterstützung wissenschaftlicher Publikationen zu fördern. Unter den Gründern befanden sich hauptsächlich protestantische Theologen – und Gottlieb Klein. Zu den Aktiven der ersten Stunde gehörten Nathan Söderblom und der Exegete Samuel Fries sowie die einzige Frau unter ihnen, Lydia Wahlström, eine Historikerin und Frauenrechtlerin, die als eine der wenigen Frauen um die Jahrhundertwende an der Universität von Uppsala studierte. Als sie ihr Studium 1888 aufnahm, waren 13 Studentinnen eingeschrieben. Unschwer lässt sich erahnen, welche Entschlossenheit es sie gekostet haben muss, um ihre Doktorarbeit zehn Jahre später abzuschließen.²² Samuel Fries zählte ebenfalls zu den fortschrittlichsten Priestern der Schwedischen Kirche, was wohl auch ein Grund dafür war, dass er es nie geschafft hat, sich trotz Bewerbungen an den Lehrstühlen in Lund und Uppsala in der akademischen Welt zu etablieren. Als besonders provokativ wurde dabei die Tatsache angesehen, dass er ein eifriger Befürworter der historisch-philologischen Bibelauslegung war und dass es seinen Schriften an der nötigen Frömmigkeit mangelte, sodass sie für die Ausbildung zukünftiger Priester als „nicht geeignet“ angesehen wurden.²³ Alle Gründungsmitglieder sahen sich wahrscheinlich als Außenseiter in gewissem Sinne, denn sie alle traten für eine säkulare, historische und wissen MS, Brief von Söderblom an Klein, 1. 8. 1898. Södling, Maria: En alternativ teologi. Personlighet, frihet och ansvar hos Lydia Wahlström. In: Olsson, Sällskapet, S.166. Agrell, Göran: Samuel A. Fries som bibelforskare, teolog och kyrkoman. In: Olsson, Sällskapet, S. 77.
128
Lena Roos
schaftliche Religionsforschung in einer akademischen Welt ein, in der dies noch als eine Neuheit galt. Sie hatten sich dennoch in bedeutenden Positionen innerhalb der Gesellschaft etabliert, so dass sie bereits eine Plattform besaßen, von der aus sie handeln konnten. Sie identifizierten sich mit Martin Luther, während sie ähnliche Konflikte mit den Vertretern des religiösen Establishments austrugen wie dieser. Und das war höchstwahrscheinlich auch der Hintergrund, vor dem Gottlieb Klein sein uneingeschränktes Lob an Luther sowie an den protestantischen schwedischen König Gustav Adolf aussprach. Auch er sah sie beide als seine Vorgänger, die eingehende Studien der Texte als den Weg zu neuen Erkenntnissen über Religion befürworteten, anstatt sich ausschließlich auf Tradition und die traditionelle Obrigkeit zu verlassen. In der erwähnten Zeit wurden einige solcher Gesellschaften gegründet, mit dem Ziel, Wissen einem größeren Publikumskreis zugänglich zu machen, und die Gesellschaft für Religionswissenschaft sollte als Teil dieser Bewegung betrachtet werden. Es war eine Zeit der Industrialisierung und Urbanisierung. Stockholms Bevölkerungszahl verdreifachte sich innerhalb weniger Jahrzehnte auf 300.000 im Jahre 1900. Politische Parteien wurden gegründet. Liberale Denker stießen Debatten über die Wege zu einer modernen Demokratie an. Das Wahlrecht war immer noch Männern vorbehalten, die über entsprechende finanzielle Mittel verfügten. Gleichzeitig war es aber auch ein Zeitalter, in dem man großes Vertrauen in die Macht intellektueller Debatten entwickelte und glaubte, Ideen könnten die Welt verändern. Und solche Debatten wurden bei der Gesellschaft für Religionswissenschaft geführt – ebenfalls zwischen den Gründungsmitgliedern, vielleicht am bemerkenswertesten zwischen Klein und Fries. „Modern“ im allgemeinen Sinne war ein Wort, das oft verwendet wurde, um die von fortschrittlichen Denkern angestrebten Entwicklungen einzuordnen.²⁴ Die Gesellschaft hatte auch Kontakt zur internationalen Forschungslandschaft, insbesondere zu Deutschland. Renommierte Gelehrte wie Adolf von Harnack, lutherischer Theologe und Kirchenhistoriker in Berlin, und Ignaz Goldziher, Islamologe jüdisch-ungarischen Ursprungs, besuchten die Gesellschaft als Gastredner. Klein fasste oft die Vorträge schriftlich zusammen und veröffentlichte diese in großen Zeitungen, um die Ideen weiter zu verbreiten. Im Jahr vor Kleins Tod erhielt die Gesellschaft eine großzügige Spende, die deren Weiterbestehen und fortlaufende Aktivitäten bis in die Gegenwart sicherte.
Sanner, Inga: Sekelskiftets Stockholm. In: Olsson, Sällskapet, S. 17– 19.
Gottlieb Klein und die Religionswissenschaft in Schweden
129
Ein Lehrstuhl für Religionsgeschichte Ein weiterer Beitrag Gottlieb Kleins, der sich noch auf die Gegenwart auswirkt, war sein Einsatz für die Einrichtung eines Lehrstuhls für Religionsgeschichte an der Universität von Stockholm. Auch zu diesem Thema gab es einen regen Briefwechsel zwischen Klein und Söderblom. Dieser Lehrstuhl sollte in einer geisteswissenschaftlichen Umgebung eingerichtet werden, ohne jeglichen Einfluss von theologischer Seite. Der Wunschkandidat der beiden Gelehrten war ein ehemaliger Student Söderbloms, Torgny Segerstedt. Segerstedt hatte seine Doktorarbeit über die Ursprünge des Polytheismus zunächst an der theologischen Fakultät in Uppsala präsentiert; diese wurde jedoch auf Grund ihres evolutionstheoretischen Ansatzes sowie mangels frommer theologischer Inhalte abgelehnt. Stattdessen wurde Segerstedt sein Doktortitel später in Lund verliehen.²⁵ Der Briefwechsel zwischen Klein und Söderblom zu diesem Thema zeigt einmal mehr, dass sich in der akademischen Welt nicht viel ändert. Das größte Hindernis für die Einrichtung eines solchen Lehrstuhls war das Geld. Klein beschreibt, wie er einige Mitglieder seiner Gemeinde angesprochen hat, um sie um einen Beitrag zu bitten. Die Witwe Heckscher sagte dem Lehrstuhl eine jährliche Spende von 3.000 Kronen zu. Der Bankier Wallenberg habe ebenfalls ein paar Tausend pro Jahr zugesichert, berichtet Klein an Söderblom. Dies sei jedoch nicht ausreichend für die Herren von der Universität von Stockholm, denn sie wollten eine größere Summe auf einmal sehen. Klein fragte Söderblom, ob dieser weitere 50.000 Kronen auftreiben könne – Söderblom antwortete, das könne er nicht. Es ist interessant, in ihrer Korrespondenz zu verfolgen, wie stark Klein in diesen Vorgang involviert war, doch er beteuert immer wieder, dass seine Beteiligung daran geheim bleiben soll, sogar Segerstedt gegenüber. Klein schreibt: „Natürlich unter strengster Discretion, denn mein Name darf bei dieser Angelegenheit nicht genannt werden“²⁶ und: „Ich bitte Dich aber, keinem Menschen gegenüber von diesem Schreiben was verlauten zu lassen.“²⁷ Aus dem Briefwechsel wird jedoch nicht ganz klar, warum Kleins Anteilnahme geheim bleiben sollte. Eine mögliche Erklärung kann aus einer Debatte abgeleitet werden, an der Klein einige Jahre zuvor teilgenommen hatte. Der christliche Theologe Carl Kihlén behauptete in einem Artikel, „die Staatskirche von den Gefahren, die sie bedrohen, bewahren“ zu wollen. Kihlén verwies auf einen Artikel, der zuvor in der Tageszeitung Svenska Dagbladet publiziert worden
Torbacke, Jarl: Torgny K Segerstedt. In: Svenskt biografiskt lexikon, Bd. 31, 2000 – 2002. S. 777. MS, Brief von Klein an Söderblom, 12. 11. 1912. MS, Brief von Klein an Söderblom, 19. 2. 1913.
130
Lena Roos
war. Dort sei die Meinung vertreten worden, Klein solle einen Lehrstuhl an der Fakultät für Theologie an der Universität von Uppsala erhalten, damit er die Theologiestudenten die aus den Ideen Jesu hervorgegangene Weltanschauung lehren sollte, d. h. das Judentum des ersten Jahrhunderts. Laut Kihlén wurde dies als etwas angesehen, das den „katholischen Tendenzen“ unter den Studenten entgegenwirken könnte. Klein bestritt ein solches Vorhaben und schrieb: „Deshalb erkläre ich in aller Ernsthaftigkeit, dass ich nie vorhatte, mich um einen Lehrstuhl in Uppsala zu bemühen, und dass dieser Gedanke mir auch in der Zukunft fremd sein wird. Ich bleibe ein Rabbiner […] und auch ein Gelehrter, solange ich die Kraft dazu habe.“ Die Emanzipation hatte es den Juden ermöglicht, sich um Stellen an schwedischen Universitäten zu bewerben, doch die Bewerbung eines Rabbiners um eine Position an einer theologischen Fakultät war für manche christlichen Theologen inakzeptabel. In dem Artikel skizzierte Klein jedoch seine Sicht auf eine nichtkonfessionelle Religionsforschung, und was er schreibt, galt vermutlich auch für den Lehrstuhl in Stockholm, den er unterstützte: Wer sich auch nur im Entferntesten mit wissenschaftlicher Forschung auskennt, weiß, dass diese weder „judaisiert“ noch „christianisiert“ oder „islamisiert“. Wahre Wissenschaft hat ihr eigenes Ziel. Sie ist nichtkonfessionell, unvoreingenommen, sie kennt nur einen Prüfer, die Wahrheit, und ein Ziel, das Streben nach Wahrheit. Nichts berechtigt einen begabten Menschen dazu, ein Gelehrter zu werden, außer ein solch unbefangenes Streben. Doch jemand, der seine Überzeugungen bereits festgelegt hat und letzten Endes schon alles weiß, soll sich von der Wissenschaft fernhalten.²⁸
Der Lehrstuhl wurde schließlich dank einer großzügigen Spende eingerichtet, und Segerstedt nahm die Stelle 1913 an, ein Jahr vor Kleins Tod. So war es Gottlieb Klein vergönnt, diese Errungenschaft mitzuerleben. Ein anderes Ereignis, das er nicht mehr mitbekommen sollte, war die Ernennung seines alten Freundes Nathan Söderblom zum Erzbischof der Schwedischen Kirche – was im Jahr 1914 geschah, kurz nach Kleins Tod.
Triumphale Rückkehr nach Uppsala Doch kommen wir nun zur Universität von Uppsala und Gottlieb Kleins Auftreten dort.Wir erinnern uns an Professor Almkvist und seine Schwierigkeiten dabei, ein Publikum für Kleins Vorträge über den Talmud zu finden. Klein sollte auf spek-
Klein, Gottlieb: Den nya teologiska professuren i Uppsala. In: Svenska Dagbladet, 20. 1. 1910.
Gottlieb Klein und die Religionswissenschaft in Schweden
131
takuläre Weise zurückkehren. 13 Jahre später, im Jahr 1910, vier Jahre vor seinem Tod, kam er wieder, um einen Vortrag zu einem ganz anderen Thema zu halten. Der Vortrag sollte erst in einem kleineren Raum stattfinden, doch es gab so viele interessierte Zuschauer, dass dieser ins Audimax verlegt werden musste. Was war das für ein Thema, dass so viele Menschen zu Gottlieb Klein hinzog? Der Titel des Vortrags lautete Ist Jesus eine historische Persönlichkeit? Dabei handelte es sich um eine brandaktuelle Fragestellung jener Zeit. Diverse Forscher brachten die Idee hervor, Jesus habe nie existiert. Ein Jahr vor Kleins Vortrag hatte der deutsche Philosoph Arthur Drews diese Idee in seinem Buch Die Christusmythe erläutert. Zwei Stunden lang referierte Klein, ein Rabbiner, vor einem hauptsächlich aus Theologen bestehenden Publikum über Fakten, die dafürsprachen, dass Jesus existiert hatte. Das ist interessant und wohl auch logisch. Wie bereits erwähnt, hatte die Theologie zur damaligen Zeit einen klaren Fokus auf die Erforschung des Christentums gerichtet. Die Studenten waren nicht zu Kleins Vortrag über den Talmud erschienen, kamen jedoch, um ihn über Jesus referieren zu hören, der immerhin Teil seines hauptsächlichen Forschungsfeldes war. Also kann man sagen, dass sie ihn nicht als Rabbiner hören wollten, doch umso zahlreicher erschienen sie, um ihm als Gelehrten zu lauschen.
Schlussfolgerungen Vieles hat sich im Laufe des letzten Jahrhunderts geändert. Die schwedische Gesellschaft ist heute eine ganz andere und deutlich vielfältigere als noch zu der Zeit, als Gottlieb Klein dort ankam. Die Universität von Uppsala hat sich deutlich gewandelt, durch eine beträchtliche Vergrößerung der Mitarbeiter- und Studierendenzahlen ebenso wie durch das moderne Studienangebot. Auch die Abteilung für Theologie hat sich völlig verändert und bietet heute Seminare an, die vor einem Jahrhundert kaum vorstellbar gewesen wären – über Religion und Sexualität, Religion und die Medien, Religion und die Naturwissenschaften. Seit 2012 haben wir auch einen Lehrstuhl für islamische Theologie und Philosophie. Die Abteilung hat sich von ihrem prochristlichen Schwerpunkt gelöst, auch auf Grund der Tatsache, dass die Studierenden, die sich auf kirchliche Dienste vorbereiten, lediglich eine kleine Gruppe innerhalb einer deutlich vielfältigeren Studentenschaft sind. Doch es gibt im Kollegium keinen Gelehrten mehr, der leisten kann, was Gottlieb Klein vor einem Jahrhundert getan hat: über den Talmud referieren, dieses entscheidende Produkt der jüdischen Kultur. Wir sollten uns also fragen, ob nicht die Zeit gekommen ist, einen entsprechenden Lehrstuhl einzurichten, der in Schweden natürlich ein Novum wäre. Die Universität von
132
Lena Roos
Uppsala hat einen Nathan-Söderblom-Lehrstuhl für vergleichende Religionswissenschaft. Wäre es nicht ebenso passend, auch einen Gottlieb-Klein-Lehrstuhl für jüdische Studien einzurichten, anlässlich des 100. Todestages des Rabbiners und großen Gelehrten, der erstmals in den Räumen der Universität von Uppsala über den Talmud referierte? (Übersetzung aus dem Englischen: Elena Sapega)
Anders Hammarlund
Lazarus – Simmel – Boas. Zum Vermächtnis der Wissenschaft des Judentums Seit einigen Jahren genieße ich es sehr, mich in der intellektuellen Gesellschaft Ismar Elbogens aufzuhalten. Tatsächlich habe ich mich während der Arbeit an meinem kürzlich erschienenen Buch über den Kantor Abraham Baer und seine Zeit (A Prayer for Modernity. Politics and Culture in the World of Abraham Baer ¹) weitgehend auf seine Expertise und sein wissenschaftliches Ermessen verlassen. Es fühlt sich fast wie eine persönliche Freundschaft an, ganz so, als ob wir bei vielen Tassen Kaffee in einem Berliner Café miteinander plaudern würden. Dabei kenne ich Professor Elbogen (1874– 1943) allein durch seine Werke. „Interessant“ klingt vielleicht etwas unbestimmt, und doch scheint es mir das richtige Wort, um Professor Elbogen und sein intellektuelles Erbe zu charakterisieren. Er war ein Mann mit vielfältigen Interessen, ein echter Gelehrter freien Geistes, der wohl sehr gut zum Debattierkreis in der legendären Buchhandlung von Johann Jakob Kanter (1738 – 1786) im Königsberg des 18. Jahrhunderts passen würde. Ein Rationalist mit ausgeprägtem Gespür für die irrationalen, religiösen Aspekte der Kultur. Nicht nur ein gewissenhafter Wissenschaftler, der mit ausführlichen und aufschlussreichen Fußnoten brillierte. Nein, Elbogen war auch ein Meister des literarischen Stils mit spürbar ästhetischem Sinn und einer unendlichen intellektuellen Neugier. Ein sehr säkularer Mensch, der nichtsdestotrotz ein Experte für die Ästhetik des Gottesdienstes, der Liturgie, war. In der Deutschen Biographie fand ich einige Sätze im Artikel über Johann Jakob Kanter, die, wie ich finde, genauso gut zum Geist von Ismar Elbogen passen: Kanter, der mit Hamann befreundet war, bei dem Kant einige Jahre wohnte, der Herder entdeckte, bei dem die geistige Welt nicht nur seiner engeren Heimat ein- und ausging, […] behielt den Ruhm, als Buchhändler in Königsberg „zuerst ein literarisches Leben“ gestiftet und „verborgene Kräfte zu ungewöhnlicher Entwicklung“ gebracht zu haben.²
Solch eine Freisetzung von „verborgenen Kräften zu ungewöhnlicher Entwicklung“ konnte man später beispielsweise in den Räumlichkeiten der Hochschule 2013 online erschienen auf der Webseite von Statens musikverk/Svenskt visarkiv, Stockholm: http://musikverket.se/svensktvisarkiv/publikationer/onlinepublikationer/a-prayer-for-moderni ty/. Auch erhältlich in Druckversion auf Schwedisch: En bön för moderniteten. Kultur och politik i Abraham Baers värld. Stockholm 2013. https://www.deutsche-biographie.de/sfz39753.html#ndbcontent (20. 9. 2016). https://doi.org/9783110532289-007
134
Anders Hammarlund
für die Wissenschaft des Judentums in Berlin spüren. Es existiert ein faszinierendes Foto, das das Treffen des Kuratoriums am 24. Juni 1935 festhält. In der Mitte sitzt der Anwalt Heinrich Veit Simon, Präsident des Kuratoriums seit 1930, unterstützt von Louise Moskowitz, der Sekretärin, und von Ismar Elbogen, der für jüdische Bildung zuständig war. Die Gruppe ist umgeben von dem Mathematiker Isai Schur, dem Juristen Arnold Seligsohn, dem Bankier Willy Dreyfuss und mehreren anderen prominenten Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde Berlins. Wir können uns gut vorstellen, dass die Diskussionen im Jahre 1935 sich kaum auf wissenschaftliche Fragen oder akademische Haarspaltereien konzentrieren konnten. Vielmehr war das Gremium damit beschäftigt, Möglichkeiten zur Rettung des Instituts und seines Vermächtnisses, aber auch Überlebensstrategien für das eigene Personal zu entwickeln. Tragischerweise gelang es einigen der Mitarbeiter nicht mehr, der Todesfalle der Nazis zu entkommen, sie wurden einige Jahre später ermordet. Ismar Elbogen gelang es noch rechtzeitig, in die USA zu fliehen. Elbogen wurde in Schildberg bei Posen geboren. Er studierte am Jüdischen Theologischen Seminar in Breslau und an der Breslauer Universität. Sein akademisches Hauptwerk wurde Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung (1913),³ eine bahnbrechende Arbeit über die Entwicklung von jüdischen liturgischen Texten und Gottesdiensttraditionen. Elbogen gehört auch zu den Wissenschaftlern, die das bemerkenswerte Jüdische Lexikon auf den Weg brachten, das um 1930 in einer radikal modernistischen Aufmachung erschien. Dieses Handbuch fasst unter anderem die außergewöhnlichen Errungenschaften einer wichtigen europäischen intellektuellen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts, der Wissenschaft des Judentums, zusammen. Auch und gerade bei meiner intensiven Beschäftigung mit Abraham Baer und dem jüdischen Göteborg im 19. Jahrhundert ergaben sich interessante biografische und zeithistorische Aufschlüsse. Die eigentliche Überraschung bildeten für mich aber die theoretischen Erkenntnisse, zu denen ich durch meine Lektüre der Vorkämpfer der modernen jüdischen Studien gelang. Bald wurde mir klar, dass diese Autoren zudem einen tiefen Einfluss auf die Wegbereiter meines eigenen Forschungsschwerpunktes, der Ethnomusikologie, ausgeübt haben. Die Erforschung von Musikphänomenen in diesem Bereich ist in ganz wesentlicher Weise auf Methoden und Theorien angewiesen, die der Kulturanthropologie, Ethnologie und Soziologie entnommen sind. Um diesen Entwicklungsprozess plausibel nachzeichnen zu können, nehme ich die Leser mit nach Filehne, in ein scheinbar unbedeutendes Dorf, ungefähr
1993 in Philadelphia auf Englisch erschienen als Jewish Liturgy. A Comprehensive History.
Lazarus – Simmel – Boas. Zum Vermächtnis der Wissenschaft des Judentums
135
200 Kilometer östlich von Berlin. Hier befindet sich der Geburtsort von Abraham Baer; eine gute Möglichkeit also, sich seine frühe kulturelle Umgebung anzuschauen. Wie sich bald herausstellt, war Filehne auch der Geburtsort von anderen interessanten Persönlichkeiten, so beispielsweise von Arno Herzberg, der hier im frühen 20. Jahrhundert aufwuchs und sich an seine Kindheit in einem Artikel für das Leo Baeck Institute Year Book von 1997 erinnerte: Es wurde fast zu einer festen Redewendung. Berliner Juden würden ihre Glaubensbrüder mustern und mit einem Anflug von Stolz und Selbstbewusstsein über das eigene Erreichte feststellen: „Er kam über den Schlesischen Bahnhof.“ Eine Anspielung auf den zentralen Bahnhof für Züge, die aus dem Osten ankamen.⁴
Diese kleine Episode verweist auf die bemerkenswerten Errungenschaften zahlreicher urbanisierter jüdischer Intellektueller, Künstler und Geschäftsleute, die ihre Wurzeln in einem spezifischen Teil Preußens hatten – jenem Gebiet, das nach 1871 von der deutschen kaiserlichen Verwaltung die Provinz Posen genannt wurde. Hier war Filehne (polnisch Wieleń) eine Kreisstadt im Bromberger Regierungsbezirk (Bydgoszcz). Der kleine Fluss Netze (Notec) schlängelt sich durch diesen ländlichen Raum im heutigen nordwestlichen Polen, um schließlich die manchmal übermächtigen Ströme von Warthe und Oder mit seinem Wasser zu speisen. Als Preußen sich im späten 18. Jahrhundert nach Osten ausweitete und die westlichen Teile des polnischen Reichs verschlang, kam auch eine signifikante jüdische Bevölkerung hinzu. Auf ihre charakteristische, rationale Art begannen die preußischen Behörden nun, auch diese Gruppe zu verwalten. Die bis dato polnischen Juden wurden gezählt und registriert, ihre sozialen, kulturellen und finanziellen Verhältnisse untersucht. Aber es gab auch kulturelle Wirkungen: Durch die Haskalah, die jüdische Aufklärungsbewegung, gewann der preußische Rationalismus leidenschaftliche Anhänger unter den intellektuellen Juden, die ihrerseits wieder glaubten, dass die Aufklärung ihnen den Weg zur bürgerlichen Emanzipation bereiten könne. Während des rapiden Urbanisierungsprozesses im Preußen des 19. Jahrhunderts – der sich nach der Vereinigung Deutschlands 1871 noch beschleunigte – wurde Berlin eine der Spitzenreiterinnen der europäischen Moderne und ein Kristallisationspunkt neuer Hoffnungen. Grundlage hierfür waren eine starke
Im englischen Original: It was almost a standard expression. Berlin Jews sizing up a fellow Jew said it with a tinge of pride, with a recognition of achievement and a sense of self-assurance: „Er kam über den Schlesischen Bahnhof“ (He arrived at the Silesian station). They had in mind the main railway station for trains coming from the East. Zit. in: Herzberg, Arno: A Town in Eastern Germany. The Story of Filehne – A Memoir. In: Leo Baeck Institute Year Book 1997, S. 327.
136
Anders Hammarlund
Tradition der Aufklärung. Preußen galt schließlich vielen deutschen und deutschjüdischen Liberalen als Garant für politischen Rationalismus und Fortschrittlichkeit – wie auch die intellektuellen Synergien, entstanden aus emanzipatorischen Reformen, die vor allem das neu entstehende Kulturbürgertum vorantrieb. Dieser Artikel gibt Aufschluss über die Rolle der jüdischen Reformbewegung in der deutschen Kultur des 19. Jahrhunderts, insbesondere über ihre Bedeutung bei der Entstehung der modernen Sozialkunde und der Kulturwissenschaften nach 1850. Mittlerweile existiert eine reichhaltige Literatur zu den damaligen jüdischen Reformbestrebungen, doch wird das Phänomen oft nur als ein interner Entwicklungsprozess innerhalb der jüdischen Gemeinschaft dargestellt, fokussiert vor allem auf Änderungen in Gottesdienst-Liturgie und religiöser Praxis. Hingegen belegen die neueren Forschungsergebnisse zu dieser Epoche auch eine starke Affinität der jüdischen Reformbewegung zur und einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland und Europa. In diesem Kontext sei besonders auf Simone Lässigs anregendes Werk über den erfolgreichen Weg der vormals ausgegrenzten jüdischen Minderheit zur gebildeten Mittelschicht in Deutschland während des 19. Jahrhunderts erwähnt.⁵ Filehne und ähnliche Städte in der Provinz Posen waren Sprungbretter für viele bedeutende intellektuelle Karrieren. Allerdings hatten diese jungen Juden, die den Zug nach Berlin bestiegen, schon gehörige Potentiale und Talente mit im Gepäck. Sie brachten, wie sich bald zeigen sollte, eigene, spezifische Fähigkeiten und Traditionen in die Zeitungsredaktionen und akademischen Hörsäle der Großstadt mit. Im vormodernen Europa hatten seit dem Mittelalter zwei konfessionell definierte Lerntraditionen nebeneinander existiert. Jede davon besaß ihre eigenen Institutionen und Ausdrucksformen. Das europäische Universitätssystem hat sich unter dem Schutz der Kirche entwickelt. Nichtchristlichen Gläubigen wurde der Zugang zu dessen Hörsälen und Bibliotheken, in denen Latein als lingua franca dominierte, im Allgemeinen verweigert. Das jüdische Bildungssystem verfügte seinerseits über ein eigenes Netzwerk von kleinen Lern- und Studienhäusern (Batei Midrashim) und Talmudschulen (Yeshivot). Den oft weitreichenden und willkürlichen Einschränkungen ihrer Lern- und Studienmöglichkeiten zum Trotz, bewahrte die jüdische Diaspora in Europa eine intensive Tradition von Textverarbeitung und -interpretation, in der Hebräisch und Aramäisch als die Bildungssprachen fungierten.
Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004.
Lazarus – Simmel – Boas. Zum Vermächtnis der Wissenschaft des Judentums
137
In der jüdischen Tradition gibt es seit jeher eine enge Verbindung von sozialem Ansehen, Bildung und Lernen. Es wird gelernt um das Lernens willen, was wiederum einen Eigenwert als eine Mitzvah, eine ethisch-religiöse Pflichterfüllung, darstellt. Es ist die Geschichte dieser besonderen Tradition von Intellektualismus und seiner sozialen Resonanz, die Moritz Lazarus (1824– 1903) in seinen Jugenderinnerungen erzählt. Diese bilden einen interessanten Gegenpol zu Arno Herzbergs leicht naiven und nostalgischen Schilderungen. Der 1824 in Filehne geborene Lazarus sollte schließlich eine wichtige Rolle bei der Entstehung der modernen Kultur- und der Geisteswissenschaften im deutschsprachigen Europa spielen. In vielerlei Hinsicht ist er typisch für die Generation von jüdischen Intellektuellen, die in der traditionellen Welt jüdischer Bildung geboren wurden, zugleich aber durch die Wirkung des sozialen Wandels in der modernen akademischen Landschaft neue Inspirationen bekamen. „Die Haushaltung war außerordentlich charakteristisch“, schreibt Lazarus in seinen Erinnerungen. Zwei ältere Damen, Lazarus’ Tanten väterlicherseits, Esther und Gitel (genannt Esterchen und Gitelchen), waren die wahren Herrscherinnen des großen Haushalts. Sie waren auch die Eigentümerinnen des Grundstücks und des Familienhandelsunternehmens. Die ältere der beiden Schwestern erledigte die Tagesgeschäfte, während die jüngere die Bücher sowie die Geschäftskorrespondenz führte. Und was taten die Männer? Sie lernten. Lazarus’ Vater Aaron fungierte als Dajan, als Vorstand des Beth Din – des Rabbinischen Gerichts – in der Stadt, und er war außerdem ein prominenter Talmudist. Wie es allgemein üblich war, führte Aaron seinen Sohn in die Bildungstradition ein, als der Junge gerade mal sechs Jahre alt war. Jeden Wochentag wurde die Zeit zwischen sechs und acht Uhr morgens dem Talmudstudium zu Hause gewidmet. Nach seiner Bar Mitzvah führte Lazarus sein Studium im Beth haMidrash in Filehne fort, wo er viele Bocherim, d. h. bettelnde Wanderstudenten, kennenlernte: Meine eigentliche und eigene Tätigkeit war folgende: alle Tage, mit Ausnahme des Freitags und Sonnabends, früh von 5 – 7 im Sommer, von 6 – 8 im Winter, Studium der späteren rabbinischen Schriften, der Codices und ihrer Kommentatoren mit dem Vater und einem Onkel. Dann bis 12 Uhr Studium des Talmuds: einmal in der Woche kursorisch, viermal statarisch. Soviel Stunden brauchte des Studium, um einen erklecklichen Erfolg zu haben, da es mit großer Genauigkeit getrieben und jeder Gegenstand von dem talmudischen Text durch die Reihe der Jahrhunderte bis auf die jüngsten Kommentare verfolgt wurde. Die statarische Lektüre betraf die talmudische Jurisprudenz. Die Vorbereitung für dieselbe geschah in den ersten Jahren, also etwa vom zwölften bis vierzehnten Jahre, unter Anleitung eines älteren Talmudschülers, nachmittags oder abends. Die Repetition des in der Woche Gelernten erfolgte in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag, ohne Anwesenheit des Lehrers, was eine auf allen höheren Talmudschulen verbreitete Sitte war. In diesen Donnerstagnächten fehlte es indes keineswegs an Heiterkeit und Frische. In den Pausen gab es frugale
138
Anders Hammarlund
Mahlzeiten und gelegentlich eroberte Leckerbissen, gewürzt mit heiteren und witzigen Gesprächen, so dass die alten Wände des Bethamidrasch (Lehrhaus und öffentliche Leihbibliothek) oft genug von einem fröhlichen Lachen widerhallten.⁶
Im Jahr 1833 führte die preußische Regierung verpflichtende deutschsprachige Grundschulen für die jüdische Bevölkerung in der Provinz Posen ein. Hauptaufgabe dieses neuen Schulsystems war – außer der Vermittlung von Hochdeutsch – die Verbreitung des Bildungskanons des deutschen Idealismus, hierbei vor allem Leibniz, Kant, Goethe und Schiller. Dieser nachdrückliche bildungspolitische Vorstoß richtete sich nicht einzig und allein auf die jüdische Bevölkerung. Ein adäquates Ziel – die Vermittlung von Hochdeutsch und deutscher Kultur und Bildung – wurde in den anderen Grundschulen in Filehne, der evangelischen (deutschen) und der katholischen (polnischen), ganz genauso verfolgt. Das Erlernen des Hochdeutschen war für evangelische Kinder genauso wichtig wie für jüdische Kinder, denn die lokale Sprache war ein starker niederdeutscher Dialekt, vom Hochdeutsch etwa genauso weit entfernt wie das von den Juden in Filehne gesprochene Jiddisch. In der erwähnten Autobiografie deutet Lazarus an, dass seine jugendlichen Beobachtungen des Zusammenspiels und der Wechselwirkungen der drei ethnischen, sprachlichen und religiösen Zugehörigkeiten, die in Filehne zu Hause waren, zu einer wichtigen Inspirationsquelle für sein späteres Berufsleben als Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler wurden.⁷ Und der junge Mann begann sich Fragen zu stellen: Was war es genau, was die Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Gruppierungen geschaffen hatte und aufrechterhielt? War es wirklich eine Nation? Oder eine Religion? Im Alter von sechzehn, nach zehn langen Studienjahren, hatte der junge Lazarus die Grundlagen der talmudischen Tradition gemeistert. Eine Karriere als Rabbiner schien vorherbestimmt, doch konnte sich die Familie ein weiteres Studium nicht leisten. Lazarus erhielt eine Lehrstelle bei einem Kaufmann in Posen, setzte jedoch sein intensives, eigenständiges Studium der deutschen Klassiker parallel dazu fort. Im Zuge des allgemeinen Säkularisierungsprozesses in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden deutsche Universitäten auch für jüdische Studenten zugänglich. Nun strebte Lazarus die Zulassung zum Studium an der Universität zu Berlin an, die über einen enorm guten Ruf verfügte. 1810 von dem Sprachwissenschaftler und Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt gegründet, wurde sie durch ihr modernes Forschungsprofil ein Motor des intellek-
Lazarus, Moritz: Aus meiner Jugend. Autobiographie von M. Lazarus. Mit Vorwort und Anhang hrsg. von Nahida Lazarus. Frankfurt a. M. 1913. S. 41 f. Lazarus, Aus meiner Jugend, S. 32.
Lazarus – Simmel – Boas. Zum Vermächtnis der Wissenschaft des Judentums
139
tuellen Lebens in Deutschland und ein Vorbild für viele andere Universitäten in Europa. Im Jahr 1844, mit 20 Jahren, konnte Lazarus dank philanthropischer Spenden zunächst einen Platz an einem Gymnasium in Braunschweig belegen. In seinen autobiographischen Notizen deutet er an, dass er in der Lage war, den kompletten Lehrgang in nur zwei Jahren zu absolvieren, dank dem umfassenden Gedächtnistraining, das sein Talmudstudium gewährleistete. Damit war Lazarus’ Weg zur Universität in Berlin geebnet,⁸ in einer Zeit, die von fieberhaften, kreativen Entwicklungen vor allem auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften geprägt war. Ein ganzes Spektrum von neuen Fachrichtungen, wie Psychologie, Kunstgeschichte, Ethnologie und Musikwissenschaft spalteten sich von Philosophie und Geschichte ab. Gemeinsam mit einem weiteren Berliner jüdischen Gelehrten, dem Sprachwissenschaftler Heymann Steinthal (1823 – 1899), avancierte Lazarus zum Gründer einer neuen Fachrichtung, deren Thema keine bestimmte Kunstform oder Kategorie von Gegenständen war, sondern menschliche Interaktion selbst. Als Ausgangspunkt trieb Lazarus und Steinthal die einfache Frage um: Wie ist eine Gesellschaft möglich? Sie wollten sich dieser Thematik mit sozialwissenschaftlichen Methoden widmen und nannten ihre neue Forschungsrichtung Völkerpsychologie. 1860 wurde Lazarus ein Lehrstuhl in seiner neuen Disziplin an der Universität Bern in der Schweiz angeboten. Von hier aus, und nicht zuletzt über die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, die er 1859 mit Steinthal zusammen gegründet hatte, führte Lazarus die Diskussion über kulturelle Identität fort, welche wiederum einen Grundstein für die Entstehung der Soziologie und der modernen Kulturwissenschaft im deutschsprachigen Europa bildete. Besonders in der angelsächsischen Welt des 20. Jahrhunderts verursachte der von Lazarus und Steinthal kreierte Name der neuen Forschungsdisziplin einige Missverständnisse und Fehlinterpretationen. Das deutsche Wort „Volk“ klingt beunruhigend teutonisch in unseren Ohren, aber für Lazarus bedeutete es einfach den kollektiven Aspekt von kultureller Identität, war es vollständig befreit von den jeweiligen metaphysischen Vorstellungen und von der romantischen Rhetorik über „die Volksseele“. Nach Lazarus’ und Steinthals Meinung sollte man, anknüpfend an die Individualpsychologie, ebenso über Manifestationen von psychologischen Phänomenen auf der kollektiven Ebene sprechen können. Es ist jedoch bis heute schwierig geblieben, eine treffende Übersetzung des Begriffs „Völkerpsychologie“ zu finden. Man hat es mit folk psychology, national psychology (Nationalpsychologie), anthropological psychology (anthropologische
Lazarus, Aus meiner Jugend, S. 80.
140
Anders Hammarlund
Psychologie) und ethnic psychology (Ethnopsychologie) versucht. Social psychology ist die wahrscheinlich angemessenste Entsprechung auf Englisch.⁹ Neben den allgemeinen geistesgeschichtlichen Überlegungen von Lazarus’ und Steinthals Unterfangen gab es aber offensichtlich auch einen politischen Antrieb. In der Atmosphäre von immer stärkeren Nationalbewegungen, die die Jahrzehnte nach 1848 in Mitteleuropa prägte, verstärkte sich offenbar das Bedürfnis nach sachlichen, rationalen Antworten auf die essentialistischen Reinheitsfanatiker, die mittlerweile von biologisch determinierten gemeinsamen Schicksalen sprachen. In einer 1861 in Bern gehaltenen Vorlesung mit dem Titel „Über das Verhältniß des Einzelnen zur Gesammtheit“ beschrieb Lazarus seine Ansichten darüber, was wir heutzutage die Natur von ethnischer Zugehörigkeit nennen würden: Die geistige Verwandtschaft und Verschiedenheit ist also unabhängig von der genealogischen. Auf diesem Eingriff nun der geistigen, geschichtlichen Verhältnisse in die natürlich gegebenen Unterschiede beruht der Begriff des Volks; und das, was ein Volk zu eben diesem macht, liegt wesentlich nicht sowohl in gewissen objectiven Verhältnissen wie Abstammung, Sprache usw. an sich als solchen, als vielmehr bloß in der subjectiven Ansicht der Glieder des Volks, welche sich alle zusammen als ein Volk ansehen. Der Begriff Volk beruht auf der subjectiven Ansicht der Glieder des Volks selbst von sich selbst, von ihrer Gleichheit und Zusammengehörigkeit. Handelt es sich um Pflanzen und Thiere, so ist es der Naturforscher, der sie nach objectiven Merkmalen in ihre Arten versetzt; Menschen aber fragen wir, zu welchem Volke sie sich zählen. […] Man wundere sich nicht über die subjective Natur, die wir dem Begriffe Volk zuerkennen. Das Volk ist ein rein geistiges Wesen ohne irgend Etwas, was man anders als bloß nach Analogie, ganz eigentlich seinen Leibe nennen könnte, wenn es auch nicht unabhängig ist von materiellen Verhältnissen. Volk ist ein geistiges Erzeugniß der Einzelnen, welche zu ihm gehören; sie sind nicht ein Volk, sie schaffen es nur unaufhörlich.¹⁰
Hier wird deutlich, wie nah Lazarus schon dem modernen kulturanthropologischen Konzept einer „imaginären Gemeinschaft“ (imagined community) nach Anderson kam. Seine Einsichten in die fortwährende Schaffung von Zugehörigkeiten erweckte bei Lazarus ein Interesse an den Medien und Formen dieser Schaffung – und damit ein radikal neues Verständnis der sozialen Bedeutung der ästhetischen Phänomene. Eine der interessantesten Architektursehenswürdigkeiten in Berlin ist die 1866 geweihte Neue Synagoge in der Oranienburger Straße. Die in den 1990er Siehe auch Klautke, Egbert: The Mind of the Nation: The debate about Völkerpsychologie, 1851– 1900. In: Central Europe 8.1 (2010). S. 1– 19. Zitiert nach der von Klaus Christian Köhnke herausgegebenen Neuauflage von Lazarus, Moritz: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft. Hamburg 2003. S. 88 – 89.
Lazarus – Simmel – Boas. Zum Vermächtnis der Wissenschaft des Judentums
141
Jahren rekonstruierte und teilweise wieder aufgebaute Synagoge mit kuppelförmigem Dach und orientalischer Fassade wird von vielen als Ausdruck einer im Nahen Osten wurzelnden jüdischen Tradition interpretiert. Tatsächlich ist das bauliche Konzept aber eher ein Ausdruck von Modernität. Auf der anderen Seite war die unauffällige, im 18. Jahrhundert in klassizistischem Stil gebaute Alte Synagoge, die sich einige Straße entfernt in der Heidereutergasse befunden hatte, das charakteristische Beispiel für eine traditionelle europäische Synagoge. Die Neue Synagoge verlieh auf ihre Weise der jüdischen Reformbewegung in Berlin architektonischen Ausdruck. In ihrer Formensprache stellte der Architekt Eduard Knoblauch eine Verbindung zu jener Epoche her, die als das goldene Zeitalter jüdischer Kultur in Europa gilt: das mittelalterliche Al-Andalus.¹¹ Die „Wiederentdeckung“ und erneute Wertschätzung pluralistisch gehandhabter muslimischer Herrschaft in Spanien vollzogen sich größtenteils dank der Forschung jüdischer Philologen im 19. Jahrhundert. Anfangs, als jüdischen Intellektuellen noch der Zutritt zu akademischen Forschungseinrichtungen verwehrt wurde, wählten sie oft die „orientalischen“ Sprachen – Hebräisch, Aramäisch und Arabisch – als ihr spezielles Forschungsgebiet. Aus ihrem Talmudstudium kannten sie bereits Hebräisch und Aramäisch, während sie das nahverwandte Arabisch lernten, so dass sie die in besagten Sprachen verfasste mittelalterliche jüdische Philosophie (hauptsächlich Maimonides) problemlos studieren und übersetzen konnten. Als Juden konnten sie damals kaum hoffen, als Hochschullehrer berufen zu werden, doch ein Studium der semitischen Philologie war eine gute Qualifizierung beim Wettbewerb um Rabbinerstellen, bei denen manchmal sogar ein Doktortitel vorausgesetzt wurde. Der Gelehrte und Rabbiner Abraham Geiger (1810 – 1874) wurde eine führende Persönlichkeit auf diesem Gebiet und spielte außerdem eine zentrale Rolle in der jüdischen Reformbewegung. Geiger wurde in einer traditionellen jüdischen Umgebung in Frankfurt am Main geboren. Nach Abschluss seiner orientalistischen Studien an der Universität Bonn in den 1830er-Jahren, im Rahmen derer er sich auch intensiv mit dem Koran beschäftigt hatte, engagierte Geiger sich in der jüdischen Reformbewegung. Der in seiner Zeit rasant beschleunigte Prozess der gesellschaftlichen Emanzipation hat viele soziale Barrieren niedergerissen, aber gleichzeitig hat er die bis dahin klar abgesteckte jüdische Identität neu herausgefordert. Im „alten“, noch streng nach Konfessionen getrennten Europa war es gewiss schwierig, ein Jude zu sein, aber es war auch nicht schwierig zu erkennen,
Hammer-Schenk, Harold: Baugeschichte und Architektur der Neuen Synagoge. In: „Tuet auf die Pforten“. Die Neue Synagoge 1866 – 1995. Hrsg. von Hermann Simon u. Jochen Boberg. Berlin 1995.
142
Anders Hammarlund
wer ein Jude war. Der Unterschied zwischen den christlichen und jüdischen Kollektiven war grundlegend für das System und war zementiert durch Regelungen direkter oder indirekter Segregation. Der jüdische Emanzipationsprozess verlief nun teilweise euphorisch, führte häufig aber auch eine Art Identitätsverlust herbei. Die jüdische Reformbewegung kann als Reaktion auf diese Wahrnehmung von einer ethnischen Unbestimmtheit interpretiert werden. Als amtierender Rabbiner zunächst in Breslau und dann in Frankfurt am Main trug Abraham Geiger entscheidend zu den Ideen bei, aus denen sich dann das liberale Judentum formte. Für Geiger stellten Jerusalem und der antike Staat Israel historische Phänomene dar, eine Art abgeschlossene Phase in der Entwicklungsgeschichte jüdischer Kultur als Ethnie: Für die Gegenwart hatten sie seiner Meinung nach aber nur noch eine symbolische Bedeutung. Im Gegensatz dazu blieb der ethische und intellektuelle Kern der religiösen Tradition zeitlos und universell. In der zeitgenössischen sozialen Entwicklung sollte das Judentum dieses kulturelle Erbe dem modernen Nationenbildungsprozess zur Verfügung stellen. Wesentlich war dabei die Identifikation mit der Fortschrittsidee. Im Jahr 1869 wurde Abraham Geiger als Rabbiner an die Neue Synagoge in Berlin berufen. Hier kam seine Zusammenarbeit mit Moritz Lazarus zustande, der durch seine Anstellung als Philosophieprofessor an der Preußischen Kriegsakademie nach Berlin zurückgekehrt war. Lazarus war seinerseits bestrebt, bei den künftigen preußischen Offizieren einen Sinn für die klassischen deutschen Bildungsideale zu wecken. Über längere Zeit hinweg hatten Lazarus und Geiger innerhalb der aufkommende Reformbewegung miteinander zu tun, etwa im Zusammenhang mit einer Reihe von Rabbinersynoden, die auf die erheblichen Meinungsverschiedenheiten bezüglich religiöser, politischer und kultureller Praktiken im deutschen Judentum reagieren sollten. Auf Lazarus’ Initiative kam die 1872 gegründete Hochschule für die Wissenschaft des Judentums zustande; Geiger schrieb den Lehrplan.¹² Die Wissenschaft des Judentums kann als der kulturwissenschaftliche Strang der Reformbewegung des Judentums verstanden werden, der jeden nur denkbaren Aspekt von jüdischer Kultur umfasst, doch ohne ein vorgegebenes theoreti-
1883 wurde die Hochschule von den deutschen akademischen Behörden offiziell zu einer Lehranstalt herabgestuft, eine zum Teil aus antisemitischen Motiven gefällte Entscheidung. Doch 1920, in der Weimarer Republik, wurde ihr Status als Universität bestätigt. Bis 1907 war die Hochschule an mehreren verschiedenen Adressen in Berlin untergebracht, und dann zog sie in einen eigenen Standort in der Tucholskystraße 9 um. 1941 haben die Nazi-Behörden das Gebäude beschlagnahmt, und 1942 wurde die Einrichtung liquidiert.
Lazarus – Simmel – Boas. Zum Vermächtnis der Wissenschaft des Judentums
143
sches oder methodologisches Ziel.¹³ Zwar haben viele künftige deutsche Rabbiner an der Hochschule studiert, allerdings wurde sie als eine nichtkonfessionelle Einrichtung konzipiert. Die Hochschule sollte allen Interessenten (auch NichtJuden) die Möglichkeit eines Studiums der jüdischen Geschichte, Religion, Linguistik und Philosophie anbieten. Es gab in der Tat viele Interessenten, und die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums wurde trotz ihrer begrenzten finanziellen Mittel eine wichtige Adresse in der intellektuellen Landschaft Berlins. Geiger, Lazarus und Steinthal gehörten alle zur Lehrerschaft der Hochschule. Ismar Elbogen war die prägende Figur der Hochschule in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Die Gründung der Hochschule kann darüber hinaus auch im Zusammenhang mit dem allgemeinen deutschen Bestreben nach nationaler Einheit im 19. Jahrhundert betrachtet werden. Für Geiger und Lazarus war die Entstehung eines vereinten deutschen Staates aufgrund liberaler Ideale ein progressives Projekt. In diesem Sinne waren sie engagierte „Deutschnationale“. Lazarus’ Lehrstuhl an der Preußischen Kriegsakademie stellt ein beredtes Beispiel für dieses Engagement auch von jüdischer Seite dar. Für liberal gesinnte Juden gab es daher auch keinen Widerspruch zwischen einer intensiven Kultivierung der jüdischen Bildungstradition und einer engagierten Teilhabe an der deutschen Kultur. Sie waren von den Ideen der liberalen Revolution von 1848 geprägt, doch die deutsche Einheit 1871 wurde dann bekanntlich durch „Blut und Eisen“ und nicht durch Kultur und Bildung geformt. Populistische, antisemitische Propagandisten witterten ihre Chancen im Wilhelminischen Kaiserreich, und auch deshalb wurde die Etablierung einer jüdischen Einrichtung, voll integriert im deutschen Bildungssystem, als ein wichtiger Fortschritt betrachtet. Als Professoren und Dozenten an der Universität zu Berlin unterrichteten Lazarus und Steinthal eine ganze Reihe von wiederum herausragenden Studenten, die später wichtige Beiträge zu den Sozial- und Geisteswissenschaften geleistet haben. Der vielleicht bedeutendste unter ihnen war Georg Simmel, welcher als einer der Gründer der deutschen Soziologie gilt. Durch Simmel (dessen Eltern eine Generation vorher am Schlesischen Bahnhof angekommen waren) wurden die Ideen von Lazarus und Steinthal auch an andere wichtige Denker wie beispielsweise Max Weber, Leopold von Wiese, Alfred Vierkandt und Karl Mannheim herangetragen. In seinen legendären Vorträgen und Aufsätzen griff Simmel viele grundlegende Ideen der Völkerpsychologie auf und entwickelte sie weiter. So nahm er zum Beispiel das Lazarus’sche Konzept vom objektiven Geist auf, welcher
Siehe auch Lazarus, Moritz: Was heisst und zu welchem Ende studiert man jüdische Geschichte? Populärwissenschaftliche Vorträge über Juden und Judentum. Leipzig 1900.
144
Anders Hammarlund
auf das von vorherigen Generationen vererbte Vermächtnis von Symbolen und Überzeugungen zurückgeht und in dem jedes neue Mitglied einer Gesellschaft unweigerlich während der Entstehung seiner eigenen Identität sozialisiert wird (subjektiver Geist). Simmel leitete daraus das umfassende, anthropologische Konzept von Kultur ab. Für ihn wurden die Medien und die Ästhetik entscheidend für das Verständnis des Sozialen. Während er Material für seine Doktorarbeit zum Thema Psychologische und ethnographische Studien über die Anfänge der Musik sammelte, war Simmel schon 1879 in ethno-musikologischer Feldarbeit aktiv, höchstwahrscheinlich von Lazarus inspiriert. Lazarus, Steinthal und später auch Simmel wurden bald auch außerhalb des deutschsprachigen Raumes bekannt, und ihre Theorien und Ansichten beeinflussten andere Wissenschaftler nachhaltig, so beispielsweise den französischen Soziologen Celestin Bouglé (1870 – 1940), der in Berlin studiert hat, und den Amerikaner William Isaac Thomas (1863 – 1947) von der Chicago School. Jener Wissenschaftler jedoch, der am stärksten von der Völkerpsychologie geprägt wurde, war der spätere Gründer der amerikanischen Kulturanthropologie, Franz Boas (1858 – 1942), welcher ebenfalls in einem liberalen jüdischen Haushalt in Deutschland aufwuchs. In seinem 1904 in Science veröffentlichten Aufsatz Die Geschichte der Anthropologie (The History of Anthropology) nannte Boas die Völkerpsychologie seine wichtigste Inspirationsquelle für sein linguistisch-anthropologisches Studium, in dem Sprache sowie Mythen, Religion und Ästhetik eine zentrale Rolle spielten. Ehemalige Studenten von Boas wurden ebenfalls wieder prominente Wissenschaftler, wie Alfred Kroeber, Edward Sapir und Ruth Benedict.¹⁴ Im Jahr 1835 schickte der junge Abraham Geiger einen Brief an die jüdische Gemeinde in Göteborg, Schweden, in dem er sich als ein möglicher Kandidat für die Rabbinerstelle in der Synagoge vorstellte. Es wurde jedoch nichts aus dieser Bewerbung. Zu jener Zeit war Geiger erst 25 Jahre alt und noch keine Zelebrität in der jüdischen Gelehrtenwelt. Doch reflektiert dieser Brief die frühen Kontakte und Verbundenheit zwischen der deutschen jüdischen Reformbewegung und den kleinen jüdischen Gemeinden in Göteborg und Stockholm. Nicht zu vergessen aber: Manche Kleinstädte in der Provinz Posen, auf den ersten Blick gewöhnliche „Provinznester“ in einer östlichen preußischen Grenzregion, sind im 19. Jahrhundert zu einem beachtlichen Reservoir geworden, aus dem die deutsche Modernisierung mit Intellektuellen gespeist wurde. So entstand eine neue kulturelle Schnittfläche, in welcher sich die jüdische Tradition der Textinterpretation, die Ideen der Aufklärung und das neue Bildungsideal im Geist von Humboldt auf eine
Klautke, The Mind of the Nation, S. 10 – 11.
Lazarus – Simmel – Boas. Zum Vermächtnis der Wissenschaft des Judentums
145
bis dahin nie dagewesene Art gegenseitig beeinflussen konnten. Wie erwähnt, hatten die Ergebnisse dieser gegenseitigen Befruchtung eine internationale Reichweite. Die lebhaften Kommunikationsstrukturen, die am Schlesischen Bahnhof ihren Ausgangspunkt nahmen, hatten beispielsweise einen starken Einfluss auf die Entstehung der schwedischen Moderne. Das jüdische Göteborg im 19. Jahrhundert, dessen Wahrzeichen die 1855 eingeweihte Synagoge wurde, ragt kulturell hervor und kann am ehesten mit einem Vorort des liberalen jüdischen Berlins verglichen werden. Mehrere führende Persönlichkeiten in der Gemeinde während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten ihre Wurzeln in der Provinz Posen – angefangen beim Gemeindevorsitzenden und Kunstmäzen Isaac Philip Valentin über den Rabbiner Moritz Wolff bis hin zum Kantor und Musikwissenschaftler Abraham Baer. Valentin stammte aus Inowrocław bei Bromberg, Wolff aus Meseritz/Międzyrzecz im westlichen Teil der Provinz Posen und Baer aus der in diesem Kontext emblematischen Stadt Filehne. Sie alle pflegten ihre Bindungen zu Verwandten und Kollegen aus ihrem Herkunftsgebiet und fungierten zugleich als „Brückenbauer“ zwischen dem – europäisch gesehen – peripheren und provinziellen Göteborger Milieu und der aufblühenden intellektuellen Landschaft Berlins und seiner Umgebung. Und ihre Rolle als Kulturvermittler beschränkte sich durchaus nicht auf den jüdischen Kontext. In Göteborg waren die Genannten stark an der Herausbildung eines öffentlichen Kulturbereiches beteiligt. Moritz Wolffs Expertise und Arbeiten in Religionswissenschaft wurden zu einer wichtigen Inspirationsquelle für den Dichter Viktor Rydberg, einen politisch bedeutsamen Vorkämpfer für Religionsfreiheit. Dieses Milieu war von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der schwedischen Kulturwissenschaft und Sozialkunde, denn es konnte neue Einblicke in die soziale und politische Bedeutung der ästhetischen Medien vermitteln. Sein führender Repräsentant (und virtueller Archetyp), der Literaturwissenschaftler Karl Warburg, gilt als einer der Begründer der modernen schwedischen Literaturwissenschaft. Ein Ergebnis dieser schwedischen-jüdischen Kooperation, die internationale Aufmerksamkeit erregte, war das Buch vom Kantor Abraham Baer Baal t’fillah oder der practische Vorbeter (1877), eine großartige Dokumentation der traditionellen jüdischen Liturgie und seiner Musik anhand von Baers Erfahrungen als ein Meshoyrer, ein wandernder Kantorenlehrling, in der Provinz Posen um 1850. Die in den 1850er- und 1860er-Jahren in Göteborg geführte, heftige Debatte über die ästhetische Form des liberalen jüdischen Gottesdienstes hatte als Anreiz für das Buchprojekt gedient. Das Werk gilt als ein Meilenstein der jüdischen Musikgeschichte und wird immer noch als Lehrbuch in der Kantorenausbildung in den USA eingesetzt. Während der Arbeit an dem Buch wurde Kantor Baer von seiner Gemeinde nach Berlin zur Weiterbildung geschickt, wo er ebenfalls Kontakte zum
146
Anders Hammarlund
Umkreis der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums unterhielt. Für damalige Zeiten eine erstaunlich professionelle Dokumentation über die mündliche Musiktradition einer Weltreligion, muss Baers Sammlung tatsächlich auch als ein Meilenstein in der schwedischen Ethnomusikologie und Musikwissenschaft betrachtet werden. Im Gegensatz zu anderen damaligen folkloristischen und ethnologischen Chronisten lehnte Baer allzu weitreichende Schlussfolgerungen über die ethnische Symbolik von ästhetischen Ausdrücken aber ab. Sein Hauptanliegen war es nicht, das Uralte, Einzigartige und Ethnospezifische hervorzuheben. Vielmehr wollte er zeigen, was tatsächlich benutzt wurde und wie. Baers Interesse zielte daher auf das Medium, die Vermittlung selbst – und seine wandelbaren Formen im Geist von Lazarus, Steinthal, Boas und Simmel. (Übersetzung aus dem Englischen: Margaret-Ann Schellenberg)
Anne Weberling
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie zwischen Deutschland, Schweden und Palästina Stockholms ehemaliger Oberrabbiner Morton Narrowe schrieb 1990 in seiner Dissertation zum Zionismus in Schweden – Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs über den Unternehmer, Zionisten und Philanthropen Isaak Feuerring: „It is strange, but to the best of my knowledge, Isaak Feuerring has never received international acknowledgement for his accomplishments. Few in Sweden, if anyone, still remember him.“¹ Die geringe Anerkennung, die Feuerring für seine zionistischen Aktivitäten und Errungenschaften in Schweden erhielt, fiel offenbar in Deutschland und Palästina kaum ergiebiger aus. Selbst in der zeithistorischen Forschung findet Isaak Feuerring bisher nur wenig Beachtung und wird lediglich in Nebensätzen oder Fußnoten erwähnt. Diese Vernachlässigung ist umso bedauerlicher, als meine eigenen Quellen-Recherchen belegen, dass Feuerring zwischen 1911 und 1937 auf die zionistischen Kräfte und Bewegungen in Deutschland, Schweden und Palästina einen beachtlichen Einfluss ausgeübt hat. Im folgenden Beitrag zeichne ich – auf der Basis eigener Studien – in groben Zügen die Biografie eines Mannes nach, der allein schon wegen seiner geschäftlichen Herausforderungen einen modernen, transnationalen Lebensstil pflegte und dabei mit seinen jüdischen Wurzeln sowohl im traditionell-religiösen als auch im politischen Sinne lebenslang eng verbunden blieb. Im thematischen Kontext des vorliegenden Bandes werden insbesondere seine zionistischen Aktivitäten in Stockholm während seines fünfjährigen Aufenthalts in der schwedischen Hauptstadt von 1917 bis 1922 im Hinblick auf die generelle Lage der schwedischen zionistischen Bewegung betrachtet. Hierbei wird rasch ein für einen kontinentaleuropäischen Zuwanderer erstaunlich breiter individueller Wirkradius deutlich werden, der seine ganz spezifischen Gründe besaß.
Narrowe, Morton H.: Zionism in Sweden. Its Beginnings until the End of World War I. Dissertation. New York 1990. https://doi.org/9783110532289-008
148
Anne Weberling
Von Galizien nach Halberstadt Isaak Feuerring kam am 26. Dezember 1889 in Zborow, Galizien, als jüngstes Kind von R. Leibusch Feuerring, einem Kaufmann, und seiner Frau Amalie, der Tochter des R. Schlomo Kohen, zur Welt. Den Weg nach Halberstadt − zu jener Zeit eine Wiege der deutschen Neo-Orthodoxie − fand Isaak Feuerring über seinen Großvater R. Schlomo Kohen. Letzterer kam als privater Erzieher nach Deutschland und wurde 1883 zum zweiten Rabbiner der „Klaus“² in Halberstadt gewählt.³ Nach einigen Jahren ließ er seine Enkelkinder nach Halberstadt nachkommen, um sich um ihre Erziehung zu kümmern und ihnen eine universitäre Ausbildung zu ermöglichen. Im Alter von zehn Jahren verließ Isaak Feuerring, dem Ruf seines Großvaters folgend, Zborow. In Halberstadt besuchte und beendete Feuerring die Schule. Während seine älteren Brüder sich in Universitäten unter anderem in Berlin und Bern einschrieben, trat er, dank der Vermittlungen seines Großvaters, als Lehrling in die Firma Aaron Hirsch & Sohn ein.⁴ Dieses prestigeträchtige Metallhandelsunternehmen wurde 1805 durch die Halberstädter Unternehmerfamilie Hirsch gegründet und galt seinerzeit als die Wiege des modernen Metallhandels in Deutschland.
Als Kaufmann nach Schweden Feuerrings Karriere im Metallhandelshauses verlief steil: Innerhalb weniger Jahre stieg er zu einem der verantwortlichen Leiter des Unternehmens auf. Von der Firma wurde der junge, talentierte Mann 1916 nach Stockholm geschickt, wo er sich später selbstständig machte. Im Auftrag des Handelshauses gründete Isaak Feuerring 1917 die Firma Skandinaviska Malm Och Metallaktiebolaget. Sein Büro verlegte er daraufhin nach Stockholm, wo er von 1917 bis 1922 dauerhaft lebte. In dieser Zeit erschloss er dem Unternehmen einen neuen Geschäftszweig, den Handel mit Eisenerz und seinen Nebenprodukten, und internationalisierte die Firma mit Geschäftsfilialen unter anderem in Schweden, Spanien, Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten.⁵ Skandinaviska Malm hatte nach
„Klaus“ bezeichnet die um 1700 in Halberstadt entstandene Klaussynagoge. Auerbach, Hirsch Benjamin: Die Halberstädter Gemeinde 1844 bis zu ihrem Ende. Tel Aviv 1967. S. 155. Auerbach, Die Halberstädter Gemeinde, S. 156. Hirsch, Salli: בציונות ובכלכלה. In: Isaak Feuerring. 26. Dezember 1889 – 26. Dezember 1937. Tel Aviv 1938. S. 35. [Es handelt sich hierbei um einen Sammelband, der als Gedächtnisschrift zum
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie
149
Aussage von Isaak Feuerrings Witwe Gertrud Feuerring (1902−2000) etwa 15 Mitarbeiter, von denen die meisten jüdischer Abstammung waren.⁶ Die Familie Feuerring besaß später Erzgruben in Schweden und Norwegen. Das Hauptgeschäft der Firma lag nunmehr im Export von schwedischen und norwegischen Erzen. Seine geschäftlichen Verpflichtungen in Schweden und der sichtbare ökonomische Erfolg von Isaak Feuerring dürften viel dazu beigetragen haben, dass er einen Antrag auf Einbürgerung stellte und am 31. Oktober 1919 schwedischer Staatsbürger wurde.⁷ Diese Staatsbürgerschaft ermöglichte es ihm, in den 1930erJahren seine Firma in Deutschland weiterhin zu leiten. Die schwedische Firma wurde Feuerring später als Eigentum übertragen und wirtschaftete sehr erfolgreich auch über seinen Tod im Jahr 1937 hinaus. Seine Frau übernahm nach seinem Ableben die Geschäfte. Später trat der gemeinsame Sohn Ralph R. Feuerring (1922−2007) das Erbe seines Vaters an. Nach bisheriger Quellenlage waren es vornehmlich geschäftliche Gründe, die Isaak Feuerring nach Schweden führten. Doch der Geschäftsmann Feuerring kann nicht getrennt vom Zionisten Feuerring gedacht werden, war ihm der Zionismus doch das Primäre im Leben, in dessen Dienst er offenbar auch sein wirtschaftliches Vorankommen stellte. Dabei war sein Engagement für die zionistische Bewegung wohl weniger aus spontanen Erlebnissen heraus entstanden, sondern eher die Folge eines längeren eigenen Entwicklungsprozesses.
ersten Jahrzeittag Feuerrings von Freunden und Weggefährten herausgegeben wurde. Die Autoren sind: Jehoschua Radler-Feldmann, Siegfried Hirsch,Walter Roth, Sew Shoham, Salli Hirsch, Oskar Wolfsberg, Emanuel Neumann und Erich Cohn.] Gertrud Feuerring äußerte sich hierzu wie folgt: „In Sweden whoever had a future in that business was of Jewish background.“ Interview mit Gertrud Feuerring (geborene Falck), Research Foundation for Jewish Immigration, New York, Juni 1972, http://access.cjh.org/home.php?type= extid&term=1326679#1 (22. 11. 2016). Ich danke Prof. Carl Henrik Carlsson für diese Informationen. Die formalen Anforderungen waren bis 1924 die folgenden: Anwärter mussten mindestens 21 Jahre alt sein, bereits drei Jahre in Schweden gelebt haben, „godfrejd“ (unbescholten), d. h. nicht bereits zu einer Haftstrafe verurteilt worden sein, und in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Siehe hierzu Carlsson, Carl Henrik: Medborgarskap och diskriminering: östjudar och andra invandrare i Sverige 1860 – 1920 [Naturalisation and Discrimination: Eastern Jews and Other Immigrants in Sweden, 1860 – 1920]. Dissertation. Uppsala 2004. S. 100 – 107.
150
Anne Weberling
Die „Anerkennung des Zionismus als des Primären in unserem Leben“⁸ − Isaak Feuerring und der Herzl-Bund Während die zionistische Bewegung in Feuerrings galizischem Heimatort am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch in den Anfängen steckte, gründeten sich in Halberstadt, Feuerrings neuer Heimat, kurz nach der Jahrhundertwende gleich mehrere zionistische Gruppierungen. Es liegt nahe, dass sein Großvater Einfluss auf sein Interesse an der zionistischen Bewegung hatte: Trotz seiner orthodoxen Verwurzelung stand R. Schlomo Kohen dem Zionismus wohlgesonnen gegenüber und bezeichnete sich im Rahmen einer Versammlung der zionistischen Ortsgruppe Halberstadts stolz als Schekelzahler und Zionist.⁹ Feuerring selbst engagierte sich in jener Ortsgruppe und wurde erstmals 1913 als Delegierter zum elften Zionistenkongress nach Basel entsandt.¹⁰ Zwei Jahre zuvor hatte er dort bereits den zehnten Zionistenkongress besucht, wo es zu einem Treffen kam, das den Anstoß zur Gründung des Herzl-Bundes im darauffolgenden Jahr in Halberstadt gab. Was seinen zionistischen Werdegang, aber auch seine ideellen zionistischen Konzepte anbelangt, so ist Feuerrings Engagement im Rahmen der sogenannten Herzl-Clubs und ihres Dachverbandes, des Herzl-Bundes, gut dokumentiert. Die Herzl-Clubs verstanden sich als Korporationen, welche die Idee des Zionismus unter der jüdischen Jugend Deutschlands propagierten und der zionistischen Bewegung eine möglichst große Anzahl von Anhängern aus der kaufmännischen Jugend zur Verfügung stellen wollten. Zionisten jeglicher Richtung waren zu dieser Zeit in akademischen Kreisen gut organisiert. Doch um des Erfolges der zionistischen Bewegung willen mussten sie sich auch an andere Bevölkerungsgruppen wenden. Der Kontakt zur arbeitenden Jugend wurde gesucht. Bereits
Wortmeldung Isaak Feuerrings im Rahmen des zweiten ordentlichen Bundestages des HerzlBundes 1919: „Das Problem ‚Beruf und Zionismus‘ besteht für uns Kaufleute in besonderer Schwere. Seine Lösung ist in der Anerkennung des Zionismus als des Primären in unserem Leben und in dem Bestreben, unseren Beruf in den Dienst unserer Sache zu stellen, gegeben.“ Protokoll des II. ordentlichen Bundestages des Herzl-Bundes, Berlin, 17. – 20. April 1919. Hrsg. vom Präsidium des Herzl-Bundes. Berlin 1919. S. 113. Aus der Bewegung. Berichte. Halberstadt. In: Die Welt, 27. 2. 1903, S. 12. Der Schekel war gemäß Paragraf 27 des Organisationsstatuts der zionistischen Organisation der zu entrichtende jährliche Beitrag zur Deckung ihrer laufenden Ausgaben. Die Zahlung des Schekels und die Anerkennung des Baseler Programms waren Paragraf 1 zufolge Voraussetzungen für die Mitgliedschaft in der zionistischen Organisation. Hirsch, בציונות ובכלכלה, S. 38; Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XI. Zionistenkongresses in Wien vom 2. bis 9. September 1913. Hrsg. vom Zionistischen Aktionskomitee. Berlin 1914. S. 2.
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie
151
1907 wurde in Berlin der erste Herzl-Club gegründet, der vom Vorstand in Gestalt von Alfred Frank (1886−1963) und Josef Rosenblüth (1892−1955) bewusst nicht als zionistischer allgemeiner Jugendbund ins Leben gerufen wurde, sondern als Bund junger Kaufleute ein Gegenstück zur studentischen Verbindung des Kartellverbandes Jüdischer Verbindungen (KJV) schaffen sollte.¹¹ Jedoch orientierten sich die Clubs, und später auch der Herzl-Bund, in ihrer Organisation, den Verhaltensmustern und Prinzipien wie Bundesbrüderlichkeit und Disziplin an den nationaljüdischen Studentenkorporationen. Isaak Feuerring kam im August 1911 mit dem Vorstand des Berliner HerzlClubs im Rahmen des zehnten Zionistischen Weltkongresses in Basel in Kontakt. Auf Initiative Feuerrings wurde im Oktober 1912 der Herzl-Club Halberstadt gegründet, der neben den Herzl-Clubs Berlin und Hamburg (gegründet 1911) zu den Ur-Herzl-Clubs zählte, die sich im Dezember 1912 auf Drängen Feuerrings zum Herzl-Bund zusammenschlossen. Dieser Bund fungierte als Dachorganisation für die bestehenden und neu zu gründenden Herzl-Clubs. Die Herzl-Clubs trugen den unterschiedlichen Voraussetzungen der arbeitenden, kaufmännischen Jugend Rechnung. Daher war es auch Ziel ihrer Zusammenkünfte, Bildungsdefizite auszugleichen, welche die jüdische Geschichte und Tradition sowie die zionistische Bewegung betrafen. Der Verdienst der HerzlClubs und des Bundes bestand in der Erweiterung des zionistischen Kreises über das akademische Milieu hinaus. Seine Mitgliederstruktur verlieh dem Herzl-Bund und den dazugehörigen Clubs eine einzigartige Stellung im deutschen Zionismus. Die Arbeit der Clubs und des Bundes wurde auf den verschiedenen Organisationsebenen in den Dienst des Zionismus gestellt, mit dem Ziel, seine Mitglieder für die allgemeine zionistische Bewegung und den Aufbau Palästinas zu motivieren und zu mobilisieren. Eine Übersicht über die Tätigkeiten verschiedener Bundesbrüder in Eretz Israel legt nahe, dass dieses Ziel in weiten Teilen verwirklicht werden konnte.¹² Feuerring wurde von seinen Weggefährten als einer der treibenden Faktoren dafür genannt, dass Anfang und Mitte der 1920er-Jahre eine kleine Gruppe dieser Männer nach Eretz Israel ging. Später lebte und wirkte ein großer Teil der „Bundesbrüder“ im Land.¹³ Was die inhaltliche Arbeit des Herzl-Bundes anging, vertrat Feuerring die Position, dass der Zionismus das Primäre im Leben eines Zionisten darstellen
Eloni, Yehuda: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Gerlingen 1987. S. 443; Goldstein, Walter: Chronik des Herzl-Bundes 1912– 1962. Die Geschichte einer Zions-Sehnsucht. Hrsg. vom Präsidium des Herzl-Bundes. Tel Aviv 1962. S. 10. Goldstein, Chronik des Herzl-Bundes, S. 242– 245. Roth, Walter: Nuechterner Idealismus. In: Isaak Feuerring. 26. Dezember 1889 – 26. Dezember 1937. Tel Aviv 1938. S. 19.
152
Anne Weberling
müsse und der Beruf als etwas Sekundäres anzusehen sei. Dennoch spielten berufliche Erfolge und Ehrgeiz eine große Rolle, sollten diese doch in den Dienst des Zionismus gestellt werden. Jüdisches Leben in der Diaspora war für Feuerring lediglich in einem sehr begrenzten Maß denkbar. Für ihn konnte nur das Leben in Palästina ein jüdisches Leben ermöglichen. Er betonte stets die Notwendigkeit, pragmatische Individuen zu schaffen, die nach Palästina streben. Feuerring war eine der führenden Persönlichkeiten des Herzl-Bundes, die Verbindungen zu den großen zionistischen Organisationen in Deutschland, wie der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD), aber auch zur Exekutive der Zionistischen Organisation pflegte und aktiv in ihren Gremien mitarbeitete.
Zionismus in Schweden Morton Narrowes Dissertation Zionism in Sweden bietet ein detailliertes Bild über die frühe Geschichte der zionistischen Bewegung in Schweden.¹⁴ Zionismus als Idee und Bewegung kam eher „von außerhalb“ nach Schweden, vorwiegend getragen von jüdischen Immigranten aus Russland und Polen, und wurde daher als eine fremde Ideologie ausländischer Juden betrachtet. Der Großteil der Stockholmer Jüdischen Gemeinde war vor allem zu Beginn antizionistisch eingestellt.¹⁵ Dieser Umstand ist wohl nicht zuletzt auf die Ablehnung des Zionismus durch den Stockholmer Rabbiner Prof. Dr. Gottlieb Klein (1852−1914) zurückzuführen, der sich mit den Protestrabbinern identifizierte.¹⁶ Kleine zionistische Ortsgruppen formierten sich in Schweden nach dem ersten Zionistenkongress in Basel 1897, so unter anderem 1900 in Malmö und 1903 in Lund. In Stockholm war es insbesondere Mauritz Tarschis (1886−1949), der den Weg für die zionistische Bewegung in Schweden ebnete. Er gründete 1910 die zionistische Organisation in Stockholm, „Zionistförening“. Die zionistischen Clubs in Schweden unterhielten Kontakte mit dänischen und norwegischen Zionisten und zionistischen Gruppierungen und standen in inhaltlichem sowie personellem Austausch. Darüber
Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Narrowe, Zionism in Sweden, S. 1– 38. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 27 „Protestrabbiner“ ist ein von Theodor Herzl geprägter Begriff, den er als Reaktion auf die Erklärung des geschäftsführenden Vorstands des Rabbinerverbandes in Deutschland ins Feld führte, als letzterer die Juden in Deutschland dazu aufrief, sich von den zionistischen Bestrebungen und dem geplanten Zionistenkongress fernzuhalten. Fortan wurden so diejenigen Rabbiner bezeichnet, die sich gegen den Zionismus positionierten. Herzl, Theodor: Protestrabbiner. In: Die Welt, 16. 7. 1897, S. 1– 2.
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie
153
hinaus hielten sie Verbindung mit der zionistischen Leitung in Deutschland, von der sie Materialien und auch Sprecher ersuchten.¹⁷ Die Zusammensetzung des Stockholmer Clubs zeigt exemplarisch, warum es der zionistischen Bewegung an Anerkennung innerhalb der schwedisch-jüdischen Gesellschaft fehlte: Die Mitglieder waren vor allem Immigranten aus Osteuropa, ohne eine säkulare universitäre Ausbildung, die meisten von ihnen mittelständische Ladenbesitzer. Es mangelte ihnen an Status, höherer Bildung und – als Bewegung – an einem Wortführer, einer angesehen Persönlichkeit, die die jüdische und nicht-jüdische schwedische Gesellschaft für Ideen und Projekte gewinnen konnte. So stellt Narrowe fest: „[The Zionists living in Sweden] had little contact with the Swedish Government and were unable to even win the respect of the Jewish aristocracy. […] Zionism not only lacked ideological appeal: it lacked ‚class‘“.¹⁸ Hinzu kommt, dass die Mitgliedschaft in der Stockholmer Jüdischen Gemeinde eng an die schwedische Staatsbürgerschaft geknüpft war. Nichtschwedische Juden und Mitglieder der Jüdischen Gemeinde hatten demnach kaum Berührungspunkte. Zionisten wurden von letzteren gerade einmal toleriert.¹⁹ Mit Beginn des Ersten Weltkriegs veränderte sich die politische Bedeutung Schwedens und Dänemarks als neutrale Staaten. Dieser Status ermöglichte es auch den Zionisten, eine wichtige Mittlerposition einzunehmen. Inhaltlich war die Zionistische Organisation von den politischen Spaltungen und unterschiedlichen nationalen Loyalitäten betroffen. Organisatorisch konnten die Zentren der Bewegung in Berlin, Moskau, London und New York nicht mehr miteinander korrespondieren. Die zionistische Leitung einigte sich aufgrund des Charakters der Bewegung darauf, einen neutralen Kurs einzuschlagen. Schweden als neutraler Staat avancierte gegen Ende des Jahres 1914 für einige Monate zum internationalen Zentrum der zionistischen Bewegung, indem es (gemeinsam mit Kopenhagen) zum Bindeglied zwischen den Hauptbüros der zionistischen Bewegung weltweit wurde: Mauritz Tarschis übernahm in Stockholm die Rolle eines Vermittlers der Telegramme von und nach Berlin,²⁰ dem Sitz der zionistischen Leitung, bis Ende des gleichen Jahres in Kopenhagen ein zionistisches Büro, das Kopenhagener Büro der Zionistischen Organisation, eingerichtet wurde, das dem zionistischen Zentralbüro in Berlin unterstand und dieses mit den an-
Narrowe, Narrowe, Narrowe, Narrowe,
Zionism in Sweden, S. 33 f. Zionism in Sweden, S. 2. Zionism in Sweden, S. 155. Zionism in Sweden, S. 92– 94.
154
Anne Weberling
deren Büros weltweit verbinden sollte. Das Kopenhagener Büro pflegte engen personellen und organisatorischen Kontakt mit den Stockholmer Zionisten.²¹
Feuerrings Projekte in Schweden Isaak Feuerring kam über Mauritz Tarschis mit schwedischen Zionisten in Kontakt. Tarschis erkannte, dass es den Zionisten in Stockholm an Führungspersönlichkeiten mit intellektueller Kompetenz und Redegewandtheit mangelte, um die Zionisten und ihre Anliegen auch gegenüber dem schwedisch-jüdischen Establishment und der Stockholmer Gesellschaft im Allgemeinen zu vertreten, aber auch um den Mitgliedern selbst Informationen und Anregungen zu liefern. In diesem Zuge kontaktierte er die zionistische Leitung in Berlin, um angesehene Persönlichkeiten für Vorträge zu gewinnen.²² Auf Anraten des Kopenhagener Büros wollte Tarschis Isaak Feuerring für einen Vortrag im Stockholmer Club einladen, welcher im Januar 1917 stattfand.²³ Feuerring war bereits in den Jahren zuvor ab und an aus geschäftlichen Gründen in der schwedischen Metropole zugegen, bevor er 1917 sein Büro nach Stockholm verlegte und sich in den folgenden fünf Jahren an verschiedenen zionistischen Projekten beteiligte. In skandinavische zionistische Aktivitäten war Feuerring bereits 1915 und 1916 involviert, so vor allem in Kristiania (Oslo), wo er unter anderem den Aufbau einer zionistischen Ortsgruppe und eines Jugendvereins unterstützte.²⁴ Den Kontakt zum Herzl-Bund und den Herzl-Clubs verlor er in dieser Zeit nicht. Einen seiner programmatischen Texte mit dem Titel „Nüchterner Idealismus“²⁵ schickte er aus Stockholm an die Redaktion der Herzl-Bund-Blätter in Deutschland und nahm an den Bundestagen der Organisation teil.
Narrowe, Zionism in Sweden, S. 95 f. So kam beispielsweise Kurt Blumenfeld (1884– 1963) im April 1912 für einige Tage nach Stockholm. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 37– 39. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 195. Shoham, Sew: בשודיה. In: Isaak Feuerring. 26. Dezember 1889 – 26. Dezember 1937. Tel Aviv 1938. S. 27; Zionistische Bewegung. Skandinavien. In: Jüdische Rundschau, 24. 3. 1916, S. 102; Zionistische Bewegung. Skandinavien. In: Jüdische Rundschau, 12. 5. 1916, S. 155. Feuerring, Isaak: Nüchterner Idealismus. In: Herzl-Bund-Blätter 35 (1917). S. 390 – 395.
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie
155
Jidische Folkschtime Bereits im März 1917 war Feuerring in die Rettungsversuche einer kurzlebigen jiddischen Zeitung in Stockholm, der Jidischen Folkschtime, involviert. Zielgruppe dieser kleinen, interskandinavischen Zeitung waren jiddisch-sprechende Immigranten aus Russland und Polen in Schweden. Aufgrund eines Mangels an Abonnenten und schlechter Organisation geriet die Zeitung schnell in finanzielle Schwierigkeiten. Das Kopenhagener Büro, das die Veröffentlichung der Zeitung sponserte, kontaktierte Feuerring und bat ihn, die Organisation und Buchhaltung des Stockholmer Büros der Zeitung zu analysieren und ihnen Rückmeldung zu geben, was Feuerring tat. Außerdem sagte er zu, sich um weitere potenzielle Abonnenten in anderen Städten wie Göteborg und Trondheim zu kümmern.²⁶ Allerdings waren diese Rettungsversuche vergeblich, sodass die Zeitung bereits im April 1917 wieder eingestellt wurde.
Poale Zion Ein weiterer zionistischer Rahmen, in dem sich Feuerring bewegte, waren die Poale Zion (Arbeiter Zions). Vertreter und Delegierte dieser jüdisch-zionistischen Arbeiterbewegung, mit ihrem damaligen Hauptsitz in Den Haag, kamen als Mitglieder der Sozialistischen Internationale in Vorbereitung auf die Stockholmer Friedenskonferenz der Zweiten Internationale 1917 nach Stockholm.²⁷ Die zionistischen Delegierten trafen die führenden schwedischen Sozialdemokraten²⁸ und kamen in Kontakt mit den schwedischen Zionisten und der jüdischen Bevölkerung. Am 20. November 1917 fand in Stockholm eine Festversammlung anlässlich der Veröffentlichung der Balfour-Erklärung statt, bei der Isaak Feuerring neben Persönlichkeiten wie Hjalmar Branting (dem Führer der Arbeiterbewegung in Skandinavien und späterem Ministerpräsidenten Schwedens), Carl Lindhagen (dem Stockholmer Bürgermeister) sowie den Poale-Zionisten Leon Chasanowitsch und Berl Locker einer der Festredner war.²⁹
Narrowe, Zionism in Sweden, S. 195 – 197. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 201. Die Konferenz an sich fand jedoch nicht statt, da sich die Regierungen der Alliierten weigerten, den Sozialisten Pässe auszustellen. Dennoch kamen viele Sozialisten nach Schweden, wo in vorbereitenden Meetings inhaltlich gearbeitet werden konnte, auch zum Thema Zionismus und der jüdischen Besiedlung Palästinas. So unter anderem Camille Huysman, Hjalmar Branting und Peter J. Troelstra. Shoham, בשודיה, S. 31; Narrowe, Zionism in Sweden, S. 222.
156
Anne Weberling
Aufgrund der besonderen Stellung Schwedens als neutraler Staat im Krieg entschieden sich die Vertreter der Poale Zion, ihr internationales Hauptquartier und ein Jüdisches Pressebüro in Stockholm einzurichten. Letzteres sollte als Verbindungsglied zum Austausch jüdischer Nachrichten weltweit dienen, die an zionistische Zeitungen, aber auch an skandinavische und die allgemeine internationale Presse weitergeleitet werden sollten.³⁰ Das Hauptquartier und das Pressebüro verfügten beide über ein begrenztes finanzielles Budget. Um dieses aufzustocken, nahm das Jüdische Pressebüro interessanterweise mit Isaak Feuerring Kontakt auf und wandte sich nicht direkt an die wohlhabenden Mitglieder der lokalen jüdischen Gemeinde in Stockholm. Feuerring übernahm diese Aufgabe und erledigte sie so erfolgreich, dass er dem Pressebüro eine monatliche Beihilfe von 500 Schwedischen Kronen zukommen lassen konnte.³¹ Darüber hinaus setzte Feuerring für den Skandinavischen Zionistenverband einen Vertreter im Jüdischen Pressebüro ein, um über das Geschehen dort informiert zu sein.³² Feuerring muss ein gehöriges Maß an Ansehen innerhalb der wohlhabenden Elite der Jüdischen Gemeinde Stockholms genossen haben, deren Mitglieder wenig an zionistischen Belangen interessiert, wenn nicht gar antizionistisch eingestellt waren. Leon Chasanowitsch (1882– 1925), der Leiter des Pressebüros, hatte scheinbar selbst vergeblich versucht, Spenden zu sammeln.³³ Als es 1918 zu offenen persönlichen Auseinandersetzungen zwischen Leon Chasanowitsch und dem Leiter des Poale-Zion-Büros, Berl Locker (1887−1972), kam, kontaktierte das Kopenhagener Büro Isaak Feuerring und bat ihn, als Vermittler mit den Beteiligten zu sprechen und die Streitigkeiten zu schlichten. Er nahm daraufhin an Treffen und Arbeitsmeetings teil.³⁴ Längerfristig waren diese allerdings erfolglos. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verschob sich das Zentrum der sozialistischen „progressiven Kräfte“ ins revolutionäre Russland, weshalb das Jüdische Pressebüro und das Verbandsbüro in Stockholm geschlossen wurden.
Narrowe, Zionism in Sweden, S. 213, 215 – 217. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 220. Es handelt sich hierbei um Sev Finkelstein, den ehemaligen Herausgeber der Jidischen Folkschtime. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 220. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 221. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 228, 235.
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie
157
Notstandsarbeit während des Ersten Weltkriegs Die antizionistische Politik Cemal Paschas (1872−1922) im Osmanischen Reich gepaart mit Steuererhöhungen für arabische und jüdische Landwirte sowie die Konfiszierung ihrer Ernten durch die Regierung, aber auch die britische Seeblockade und eine Heuschrecken- und Typhusplage 1915 und 1916 führten zu Versorgungsproblemen und brachten Hunger und Leid in Teile Syriens, des Libanons und nach Palästina.³⁵ Auch der jüdische Yishuv war von diesen Entwicklungen betroffen und rückte, neben den kriegsleidenden Juden in Osteuropa, in den Fokus internationaler jüdischer Notstandsaktionen während des Ersten Weltkriegs. Die Initiative für schwedische Spendensammlungen für Juden, die infolge des Ersten Weltkriegs in Palästina und Konstantinopel enorm litten, ging – angestoßen von Arthur Ruppin (1876−1943) – von den Zionisten im neutralen Kopenhagen aus. Nachdem Ruppin 1916 von Cemal Pascha aus Palästina ausgewiesen worden war, ließ er sich in Konstantinopel nieder, wo er sich neben der Vermittlung von Nachrichten zwischen Palästina und dem Hauptbüro der Zionistischen Organisation in Berlin bzw. der Weiterleitung von Nachrichten aus Palästina in andere Länder, auch um die Ankunft und das Verteilen der weltweit gesammelten Hilfsgelder für Palästina und den Yishuv kümmerte.³⁶ Um den kriegsbedingten Wertverlust des ausländischen Papiergeldes zu umgehen, der mit der regulären Abwicklung über die Banken einherging, schlug Ruppin vor, dass die Hilfszahlungen in Form von Gold in Palästina ankommen sollten. Ruppin wandte sich mit diesem Vorschlag an Dr. Victor Jacobson (1869 – 1935), der zu dieser Zeit Vorsitzender des Büros der Zionistischen Organisation in Kopenhagen war. Letzterer verhandelte daraufhin mit der dänischen Regierung, sodass im Frühjahr 1917 die Erlaubnis vorlag, Gold mit den Schecks für Palästina, die die Zionistische Organisation aus der ganzen Welt erhalten hatte, von der Dänischen Nationalbank zu kaufen. Das Gold wurde nach Deutschland importiert und nach Konstantinopel weitergeleitet, von wo aus Ruppin es nach Palästina übermittelte. Dieses Arrangement hielt allerdings nur ein Jahr, da die Dänische Nationalbank im Frühjahr 1918 die Kooperation aufkündigte. Ruppin wies daraufhin Dr. Jacobson an, mit schwedischen Banken zu verhandeln. Die Transaktionen wurden anschließend über Stockholm abgewickelt.³⁷
Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. 5. Aufl. München 2006. S. 186; Ruppin, Arthur: Memoirs, Diaries, Letters. New York 1971. S. 152– 156; Narrowe, Zionism in Sweden, S. 251. Ruppin, Memoirs, Diaries, Letters, S. 162. Ruppin, Memoirs, Diaries, Letters, S. 163.
158
Anne Weberling
In den Memoiren Ruppins wird nur Dr. Jacobsons Engagement im Rahmen der Goldtransfers namentlich erwähnt. Narrowe allerdings sieht Isaak Feuerring als „the real hero“³⁸ in dieser Angelegenheit. Gemeinsam mit dem Stockholmer Oberrabbiner Marcus Ehrenpreis (1869−1951)³⁹ und dem Vorsitzenden der dortigen Jüdischen Gemeinde Oscar Hirsch (1848−1931) war er seit der zweiten Hälfte des Jahres 1917 an den Verhandlungen mit der schwedischen Regierung und der Schwedischen Nationalbank für die geplanten Goldtransfers beteiligt. Ehrenpreis und Feuerring gelang es überraschenderweise, das antizionistische Establishment und die schwedischen Zionisten für gemeinsame Projekte zu gewinnen.⁴⁰ Diese Hauptakteure handelten als Individuen und nicht als Repräsentanten ihrer jeweiligen Organisationen,⁴¹ was, gemessen an dem, was sie als solche erreichen sollten, verdeutlicht, welchen Stand und welchen Einfluss sie in Politik,Wirtschaft und Gesellschaft besaßen. Feuerring stand in Kontakt mit der Schwedischen Nationalbank und erhielt im Januar 1918 eine Lizenz zur Ausfuhr von 600.000 Schwedischen Kronen in Gold. Die gleiche Prozedur wurde im Februar wiederholt. Bei beiden Transaktionen kam es allerdings zu Verwirrungen über ausstehende Zahlungen, Deckung der Auslagen sowie zusätzliche Kosten wegen Versicherungen und Bankgebühren. Um die Transfers zu gewährleisten und die zeitlich begrenzten Ausfuhrerlaubnisse nicht zu überschreiten, ging Feuerring privat in Vorkasse und übernahm die ausstehenden Zahlungen. In den Monaten März und Mai 1918 konnten weitere Transfers zum einen dank Feuerrings Verhandlungen mit der Staatlichen Industriekommission (Statens Industrikommission) bewerkstelligt werden, auch weil er privat mehrere Male in Vorkasse ging, um Defizite und Versicherungskosten abzudecken. Zur Deckung der bewilligten Transfersumme traf sich Feuerring darüber hinaus mit wohlhabenden Gemeindemitgliedern und Marcus Ehrenpreis, um die fehlenden Summen zu beschaffen − mit Erfolg. Im Juli desselben Jahres setzte er sich erneut für eine Verlängerung der Genehmigung von Goldtransfers ein, die die Schwedische Nationalbank allerdings nicht bewilligte. In seinen Bemühungen sprach Feuerring sogar beim Reichsbankpräsidenten vor
Narrowe, Zionism in Sweden, S. 276. Marcus Ehrenpreis rief bereits 1915 ein eigenes Hilfskomitee ins Leben, das „Stockholmer Hilfskomitee“, das nicht-zionistisch ausgerichtet war und wohlhabende, einflussreiche Personen des schwedisch-jüdischen Establishments vereinte. Das Kopenhagener Büro suchte dennoch die Zusammenarbeit mit Ehrenpreis’ Komitee. Siehe hierzu ausführlicher Narrowe, Zionism in Sweden, S. 266 – 269, 273. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 254. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 277.
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie
159
und ersuchte Hilfe bei der Jüdischen Gemeinde in Kristiania (Oslo), um eventuell eine norwegische Transfererlaubnis zu erhalten − allerdings vergeblich.⁴² Feuerrings Rolle im Rahmen der Goldtransfers nach Palästina war die eines einflussreichen Mittelsmannes, der auf ein breites Netzwerk in Wirtschaft und Politik, aber auch in der Jüdischen Gemeinde zurückgreifen konnte. Seinen wirtschaftlichen Erfolg stellte er, wie er es im Rahmen des Herzl-Bundes von dessen Mitgliedern forderte, in den Dienst eines höheren Zieles, in diesem Fall in den Dienst der Notstandsarbeit zugunsten der Glaubensgenossen in Palästina. Morton Narrowe hebt in seiner Dissertation ausdrücklich Isaak Feuerring und Marcus Ehrenpreis als die beiden herausragenden Persönlichkeiten hervor, die eine Zusammenarbeit der schwedischen Zionisten mit dem antizionistischen schwedisch-jüdischen Establishment überhaupt erst ermöglichten.⁴³
Zurück in Deutschland Im Jahr 1922 heiratete Isaak Feuerring die aus Hamburg stammende Gertrud Falck und zog zurück nach Deutschland. Gemeinsam ging das junge Paar nach Berlin, wo Feuerring sich auch geschäftlich niederließ.⁴⁴ Gertrud Feuerring erzählte später in einem Interview, dass ihr Ehemann von Schweden nach Deutschland zog, weil er nicht weiter in einem Land leben wollte, in dem es nur wenig jüdisches Leben gab.⁴⁵ Auch in den darauffolgenden Jahren war Feuerring sehr aktiv in der zionistischen Bewegung und besetzte wichtige Positionen im Rahmen der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, der zentralen deutschen Organisation für politische Zionisten. In den Jahren 1926 und 1932 wurde er in den Geschäftsführenden Ausschuss der ZVfD gewählt.⁴⁶ Dies ist insofern bemerkenswert, als die Wortführer der ZVfD zu dieser Zeit vorwiegend Akademiker waren. Feuerring stach mit seinem Hintergrund als internationaler Geschäftsmann, doch ohne formale aka-
Narrowe, Zionism in Sweden, S. 283 – 289, 293 f. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 254. In Berlin repräsentierte Feuerring zunächst die Halberstädter Firma Aron Hirsch & Sohn. Später gründete er das Unternehmen Ferro Metall in Berlin, als Nachfolger des Halberstädter Unternehmens, das in finanzielle Schwierigkeiten geraten war. Interview mit Gertrud Feuerring, New York, Juni 1972. Diese Einschätzung findet sich nur in den Ausführungen von Gertrud Feuerring. Alle anderen Quellen, die mir bisher vorliegen, schweigen zu den Gründen seiner Ausreise. Der XXI. Delegiertentag der Z.V.f.D. In: Jüdische Rundschau, 17. 8. 1926, S. 482; Der 24. Delegiertentag der Z.V.f.D. In: Jüdische Rundschau, 16. 9. 1932, S. 351.
160
Anne Weberling
demische Bildung, in diesem Gremium heraus. Ungeachtet dessen wurde er mehrmals in den Finanzausschuss der ZVfD gewählt. Er besuchte als Delegierter der Ortsgruppe Halberstadt, des Landesverbandes Skandinavien und Deutschland die Zionistenkongresse und war mindestens zweimal, in den Jahren 1923 und 1927, Mitglied und Referent der Budgetkommission. Feuerring avancierte zum Sachverständigen für Wirtschaftsfragen. Sein Hauptanliegen war es, aktiv am wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina mitzuarbeiten und, als langfristiges Ziel, die jüdische Emigration nach Palästina zu ermöglichen. Später gehörte er dem Direktorium der Palestine Land Development Company (PLDC) an, einem Organ zum Landerwerb für den Jüdischen Nationalfond in Palästina. Feuerring selbst war erstmals 1920 nach Palästina gereist und hatte dort Land auf dem Carmel gekauft.⁴⁷
Emigration nach Palästina Obwohl Isaak Feuerring schon früh den Plan gehegt hatte, gemeinsam mit seiner Familie nach Palästina zu emigrieren, hielten ihn lange Zeit seine zahlreichen geschäftlichen Verpflichtungen davon ab. Erst die Machtübernahme Hitlers brachte den endgültigen Entschluss. Zusammen mit seiner Frau Gertrud und den Söhnen Ralph und Josef wanderte er 1934 über Paris nach Palästina aus und ließ sich in Jerusalem nieder. Bereits 1935 gründete er dort die General Commercial Banking Company. Seine Firmen in Europa behielt er, allen voran die überaus erfolgreiche in Schweden. Im selben Jahr verschlechterte sich der gesundheitliche Zustand Isaak Feuerrings rapide. Er war an Krebs erkrankt und erlag seinem Leiden am 26. Dezember 1937 im Alter von nur 48 Jahren. Er hinterließ seiner Frau, unter anderem, 10.000 Pfund Sterling, mit dem Wunsch, sie möge einen Fond für einen zionistischen Verwendungszweck einrichten. Feuerring hatte noch zu Lebzeiten mit seiner Frau über die Probleme der deutschen Einwanderer aus der Mittelschicht gesprochen, die, wie er es sah, nicht genügend Mittel besaßen, um sich ein Zuhause und eine Existenz in Palästina selbst aufzubauen. In diesem Sinne entschied Gertrud Feuerring, einen Moshav in Andenken an ihren verstorbenen Mann zu gründen.⁴⁸ Das Land wurde vom Jüdischen Nationalfond in der SharonEbene, nahe Netanya gekauft und der Moshav „Beit Yitzhak“ 1939 gegründet.
Roth, Nuechterner Idealismus, S. 21. Interview mit Gertrud Feuerring, New York, Juni 1972.
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie
161
Gertrud Feuerring, die schwedische Staatsbürgerin durch Anheirat war, verließ angesichts des drohenden Kriegs aus Sicherheitsgründen Palästina im Jahr 1939 und ging mit ihren beiden Söhnen in die USA. Sie nahm 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft an und hatte fortan zwei Domizile: in Palästina/Israel in Beit Yitzhak und in den USA in New York City. Sie behielt die Firma in Schweden, die ihr nach dem Tod ihres Mannes unterstand, und gründete mit deren finanziellen Gewinnen eine neue Firma in den Vereinigten Staaten, die Ferro Metal and Chemical Corporation. Ihr Sohn Ralph wurde später Leiter beider Firmen. Aus meinen Gesprächen mit dem ehemaligen Geschäftsführer der schwedischen Firma, Thomas Berman, ging hervor, dass Gertrud Feuerring weiterhin ein Büro in Stockholm unterhielt, das sie zweimal jährlich besuchte und darüber hinaus gute Kontakte zur Jüdischen Gemeinde in Stockholm pflegte.
Die Bedeutung Feuerrings Bereits aus diesem kurzen Überblick über das Leben und zionistische Wirken Isaak Feuerrings wird deutlich, dass es weniger eine konkrete Aufgabe oder Funktion im Rahmen der zionistischen Bewegung war, die er dauerhaft einnahm. Vielmehr übernahm er eine Vielzahl an Tätigkeiten und offiziellen Positionen auf internationaler Ebene, die er sich selbst suchte bzw. die ihm von der zionistischen Leitung in Deutschland angetragen wurden. Feuerring war ein begeisterter Zionist, der seinen beruflichen und wirtschaftlichen Erfolg in den Dienst der zionistischen Bewegung stellte und seine wirtschaftlichen Verpflichtungen stets mit seinem zionistischen Engagement verband. Weggefährten beschrieben Feuerring als einen bescheidenen und gut organisierten Mann mit breitem Wissen, sowohl in religiösen als auch weltlichen Belangen und als talentierten Redner. Feuerring war darüber hinaus ein exzellenter Netzwerker. Er kam 1917 nach Schweden als ausländischer Jude und Zionist obendrein. In Anbetracht dessen ist und bleibt es umso erstaunlicher, dass er innerhalb seines kurzen Aufenthalts in Schweden einen derartigen Einfluss ausgeübt hat und einen ausgezeichneten Ruf genoss: Morton Narrowe bezeichnet ihn neben Mauritz Tarschis als die einflussreichste Führungspersönlichkeit der zionistischen Organisation in Schweden.⁴⁹ Tarschis selbst lässt in dem 1942 in der Judisk Tidskrift erschienenen Artikel „Zionismen i Sverige: minnen från 35 års verksamhet“ die letzten 35 Jahre zionistischer Aktivitäten in Schweden Revue passieren und geht neben bedeutenden
Narrowe, Zionism in Sweden, S. 320.
162
Anne Weberling
Ereignissen auch auf die wichtigsten zionistischen Persönlichkeiten ein, die vor oder während der Jahre des Ersten Weltkriegs nach Stockholm kamen.⁵⁰ Neben Kurt Blumenfeld (1884 – 1963), Arthur Hantke (1874– 1955), Menachem Ussischkin (1863 – 1941) und Wladimir Jabotinsky (1880 – 1940) widmet Tarschis auch Isaak Feuerring einen Abschnitt und schreibt: Isak [sic!] Feuerring kam mitten im Krieg nach Schweden. Er war ein warmer und ergebener Zionist. Er vereinte gründliches deutsches Organisationsgeschick mit wahrlich jüdischem Wissen. Er war ein nüchterner Realist und zugleich ein warmherziger Idealist. Er warf sich in die zionistische Tagesarbeit mit all der Intensität, derer er im Besitz war, und steckte völlig in der Arbeit für unsere kleinen Verein. Er war ein interessanter Redner − und er beherrschte immer sein Thema.⁵¹
Tarschis geht an dieser Stelle weniger auf konkrete Projekte Feuerrings als vielmehr auf sein Wesen ein: seinen zionistischen Eifer, sein jüdisches Wissen, seinen Realismus, seinen Fleiß, sein rhetorisches Können. Die Einschätzung von Feuerrings Charakter, aber auch seiner Wirkung auf andere deckt sich mit den Eindrücken, die Morton Narrowe in seiner Dissertation vermittelt, ebenso wie mit denen anderer Weggefährten in Deutschland oder Palästina und hilft zu verstehen, weshalb Feuerring auch in Stockholm zu hohem Ansehen kam und sich Einflussmöglichkeiten erschloss. Die Stockholmer Zionisten fanden in ihm den Redner und den angesehenen Repräsentanten, den sie bis dahin vermissten. Feuerring eröffnete ihnen neue Möglichkeiten zur Realisierung zionistischer Projekte. Er avancierte dank seines Wohlstandes und seiner Bildung zum Mittelsmann zwischen der überwiegend antizionistisch eingestellten Jüdischen Gemeinde Stockholms und den Zionisten, die vorrangig osteuropäische Immigranten waren. Isaak Feuerring brachte, wann immer sich Gelegenheit bot, beide Gruppen für gemeinsame Vorhaben zusammen. Feuerring selbst war Mitglied der Jüdischen Gemeinde in Stockholm⁵² und schien eben jene „Klasse“ zu besitzen, derer es den Stockholmer Zionisten aus Sicht der etablierten schwedisch-jüdischen Aristokratie mangelte und die ihm den Eintritt zu und den Umgang mit eben jenem Kreis gewährte. Der wirtschaftliche Erfolg seiner Firma in Schweden ermöglichte es ihm, die zionistische Arbeit auch in bedeutendem finanziellen Rahmen zu unterstützen. Feuerring war ein erfolgreicher und verlässlicher Fundraiser und neben Marcus Tarschis, Mauritz: Zionismen i Sverige: minnen från 35 års verksamhet. In: Judisk tidskrift 15 (1942). S. 318 – 326. Tarschis, Zionismen i Sverige, S. 323. Übersetzung der Autorin. Ich danke Prof. Carl Henrik Carlsson für diese Information.
Isaak Feuerring – eine zionistische Biografie
163
Ehrenpreis der wichtigste Vermittler zur Beschaffung von Ausfuhrerlaubnissen für die Goldtransfers im Rahmen der Notstandsarbeit während des Ersten Weltkriegs, für dessen finanzielle Deckung er mitunter selbst kurzfristig und uneigennützig aufkam. Nicht nur im Rahmen der Goldtransfers hat Isaak Feuerring eine bedeutende Rolle gespielt. Er unterhielt gute Kontakte zur zionistischen Leitung in Berlin und zum Kopenhagener Büro, war in der Öffentlichkeitsarbeit und im Bildungsbereich als Redner, Organisator und Geldgeber aktiv und wurde als Vermittler geschätzt. Es ist wichtig zu betonen, dass Feuerring hierbei nicht nur als Repräsentant der Stockholmer Zionisten gesehen wurde, sondern als Privat- und Geschäftsmann ein hohes Maß an Ansehen genoss. Angesichts seines Engagements kommt Morton Narrowe zu der Einschätzung, dass Feuerrings Wirken in Stockholm den entscheidenden Qualitätssprung für die zionistische Arbeit vor Ort brachte. Neben Marcus Ehrenpreis war es Feuerring, der einen Wandel in der Mentalität der schwedischen Juden initiierte und sie in Zeiten der internationalen Krise den jüdischen Gemeinschaften weltweit näher brachte.⁵³ Narrowe geht so weit, dass er den Grund für den Niedergang der schwedischen Judenheit im Allgemeinen und der zionistischen Organisation im Besonderen in der breiten Unkenntnis über Isaak Feuerrings Verdienste in Schweden sieht.⁵⁴ Mit dessen Fortgang, aber auch dem zeitweiligen Umzug von Mauritz Tarschis nach Deutschland (1921−1932) verloren die schwedischen Zionisten ihre einflussreichsten Führungspersönlichkeiten und ihre Organisation die Bedeutung, die sie im Rahmen des Ersten Weltkriegs auf internationaler, aber auch auf lokaler Ebene gegenüber der Jüdischen Gemeinde eingenommen hatte.⁵⁵ Feuerring verließ Stockholm 1922 aus persönlichen Gründen. Während seiner Stockholmer Jahre hat er als selbstbewusster Protagonist die schwedische zionistische Bewegung enorm vorangebracht und sich als erfolgreicher Unternehmer zugleich auch beachtlichen Respekt in der schwedischen Aufnahmegesellschaft verschafft. Es erscheint lohnend, die Frage nach Feuerrings Einfluss auf die zionistische Bewegung in der Forschung auf weitere Teile Skandinaviens auszudehnen, da er sich nachweisbar an der zionistischen Aufbauarbeit in Kristiania (Oslo) beteiligt und auch Kontakt zu David Simonsen, dem damaligen Oberrabbiner Kopenhagens, gepflegt hat.
Narrowe, Zionism in Sweden, S. 297. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 296. Narrowe, Zionism in Sweden, S. 320 – 322.
Schicksale zwischen Flucht, Exil und Neubeginn
Irene Nawrocka
Gottfried Bermann Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier Als der Verleger Gottfried Bermann Fischer nach dem „Anschluss“ fluchtartig Österreich verlassen musste, gehörte er zu jenen Emigranten, die sich in Zürich einfanden. Neben Carl Zuckmayer und Franz Werfel hielt sich u. a. Franz Horch, ein ehemaliger Mitarbeiter des Wiener Paul Zsolnay Verlages, dort auf und schwärmte Bermann Fischer gegenüber von Schweden.¹ Bermann Fischers Situation sah im März 1938 nicht sehr hoffnungsvoll aus. Zwei Jahre lang hatte er sich bemüht, in Wien einen Verlag mit jenen Autorenrechten aufzubauen, die er nach der Teilung des Berliner S. Fischer Verlages mit Erlaubnis des Propagandaministeriums aus dem Reich mitnehmen konnte. Es waren dies Autoren wie Peter Altenberg, Alfred Döblin, Thomas Mann, René Schickele, Jakob Wassermann, Carl Zuckmayer sowie die Rechte am Werk Arthur Schnitzlers und Hugo von Hofmannsthals. Nachdem der Schweizerische Buchhändlerverein und der Verlegerverein bereits Anfang 1936 eine Niederlassung des Verlages wegen „Überfremdung“ und Konkurrenz zu ansässigen Verlagen abgelehnt hatten, bot sich Wien als Verlagssitz an.² Trotz Warnungen einzelner Autoren wie Thomas Mann sah Gottfried Bermann Fischer darin die einzige Möglichkeit, im deutschsprachigen Raum als Verleger weiterzuarbeiten. Das Deutsche Reich blieb weiterhin mit Einschränkung der verbotenen Autoren das wichtigste Absatzgebiet des Verlages.³ Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 beendete diese erfolgreiche Verlagsarbeit. Der Bermann-Fischer Verlag wurde vorerst kommissarisch weitergeführt. Gottfried Bermann Fischer kämpfte noch Monate
Bermann Fischer, Gottfried: Wanderer durch ein Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1994. S. 132. Pfäfflin, Friedrich/Kussmaul, Ingrid: S. Fischer,Verlag.Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Marbach, 2. durchgesehene Auflage 1986. S. 457. Zur Geschichte des Bermann-Fischer Verlages siehe auch Nawrocka, Irene: Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. Der Bermann-Fischer Verlag im Exil (1933 – 1950). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 53 (2000), S. 1– 209. http://www.degruyter.com.degruyterebooks.han.onb.ac.at/viewbooktoc/pro duct/28600 (22. 6. 2015) Bermann Fischer, Gottfried: Bedroht – Bewahrt. Der Weg eines Verlegers. Frankfurt a. M. 1971. S. 120. https://doi.org/9783110532289-009
168
Irene Nawrocka
lang mit den reichsdeutschen Behörden und den kommissarischen Leitern vergeblich um das Buchlager.⁴ Was nun in dieser aussichtslos scheinenden Situation in Zürich Franz Horchs Schwärmerei vom nordischen Land bewirkte, hat Gottfried Bermann Fischer selbst in seiner Autobiografie erzählt: Es wurde der Beginn einer Geschäftsbeziehung mit dem schwedischen Verlagshaus Albert Bonnier, die ein Jahrzehnt lang währen sollte.
Der S. Fischer Verlag in Berlin Der gebürtiger Ungar Samuel Fischer begründete 1886 den S. Fischer Verlag und avancierte in der Folge zum Verleger von Autoren wie Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse, Hugo von Hofmannsthal, Thomas Mann, Arthur Schnitzer und Felix Salten. Vor allem galt er als der Verleger des Naturalismus, auch des skandinavischen: Er verlegte die deutschsprachigen Ausgaben der Werke von Henrik Ibsen, Herman Bang oder Gustav af Geijerstam und begründete für seine skandinavischen Autoren sogar eine eigene Buchreihe, die Nordische Bibliothek, in der Werke von u. a. Edvard Brandes, Jan Peter Jacobsen, Arne Garborg, Aage Madelung, Ellen Key, Peter Nansen oder Bjørnstjerne Bjørnsen erschienen. Als Anerkennung seiner Verdienste um die skandinavische Literatur verlieh der schwedische König Oscar II. Samuel Fischer den Titel Königlich Schwedischer Hofbuchhändler.⁵
Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Kulturpolitik auf das deutsche Verlagswesen Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme im Deutschen Reich änderten sich auch die Kulturpolitik und die Arbeitsmöglichkeiten für jüdische Verleger. Zuständig für den deutschen Buchhandel und die Verlage war Propagandaminister Joseph Goebbels. Zu seinen Verantwortungsbereichen zählte auch die Arisierung von Verlagen. Für Autoren wurde die Mitgliedschaft im Reichsverband deutscher Schriftsteller die Voraussetzung dafür, in Deutschland veröffentlichen
Nawrocka, Verlagssitz, S. 71– 81. Samuel Fischer gab 1889 „Gedichte und Gedanken“ von Oscar II., König von Schweden und Norwegen, heraus und wurde daraufhin zum Königlich Schwedischen Hofbuchhändler ernannt. Vgl. 100 Jahre S. Fischer Verlag 1886 – 1986. Das klassische Programm. Frankfurt a. M. 1985. S. 16.
Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier
169
zu dürfen.⁶ Im September 1935 wurde der Reichsverband aufgelöst und ging im Zuge der Gleichschaltung in der Reichsschrifttumskammer auf. Für die Zwangsmitgliedschaft in der Reichsschrifttumskammer, einer von sieben Kammern der von Goebbels gegründeten Reichskulturkammer, war der Ariernachweis zu erbringen, anderenfalls drohte der Ausschluss.⁷ Die Aufnahme von „Nichtariern“ wurde auf 5 % der Gesamtmitgliederzahl beschränkt.⁸ Im Mai 1933 kam es zu öffentlichen Buchverbrennungen. Danach wurde die deutsche Literatur „systematisch gereinigt“. Das Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel veröffentlichte am 16. Mai 1933 die „erste amtliche Schwarze Liste“ mit Autorennamen, deren Werke aus den Büchereien zu entfernen waren. Zu den 131 dort genannten Schriftstellern zählten auch die S.-Fischer-Autoren Jakob Wassermann, Klaus Mann, Alexander Lernet-Holenia und Arthur Schnitzler. Zahlreiche Autoren – zum Beispiel Alfred Döblin, Thomas Mann oder Bertolt Brecht – verließen Deutschland. Brecht hielt sich mit seiner Frau, der österreichischen Schauspielerin Helene Weigel, und den gemeinsamen Kindern eine Zeitlang sogar in Schweden auf, erhielt dann jedoch aufgrund seiner kommunistischen Haltung keine Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung.⁹ Bereits im Frühjahr 1933 entstanden die ersten Exilverlage, die den vertriebenen und in Deutschland unerwünschten Schriftstellern Möglichkeiten boten, auch außerhalb des Dritten Reiches ihre Werke in der Originalsprache zu veröffentlichen. In Amsterdam wurden zwei der bedeutendsten Exilverlage, Querido und Allert de Lange, begründet.¹⁰ Der dritte große deutschsprachige Exilverlag wurde der Bermann-Fischer Verlag in Stockholm, der auch nach dem deutschen Einmarsch in Dänemark, Norwegen und Holland im April bzw. Mai 1940 mit Hilfe der Verlegerfamilie Bonnier weiterarbeiten konnte.
Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. München 1995. S. 193. Dahm, Volker: Das jüdische Buch im Dritten Reich. München, 2. überarbeitete Auflage 1993. S. 105. Dahm, Das jüdische Buch, S. 42. Kebir, Sabine: Helene Weigel. Abgestiegen in den Ruhm. Berlin 2000. S. 166. Siehe dazu auch Schoor, Kerstin: Verlagsarbeit im Exil. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Abteilung des Amsterdamer Allert de Lange Verlages 1933 – 1945. Amsterdam/Atlanta (GA) 1992; Walter, Hans-Albert: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag (Marbacher Magazin 78). Marbach 1997; Landshoff, Fritz H.: Amsterdam, Keizersgracht 333, Querido Verlag. Erinnerungen eines Verlegers. Berlin 2001.
170
Irene Nawrocka
Der Verkauf des S. Fischer Verlages, Berlin, und die Auswanderung aus Deutschland Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme blieb der S. Fischer Verlag vorerst in Deutschland, da der 74-jährige Samuel Fischer sich weigerte, die Bedrohung der jüdischen Bevölkerung wahrzunehmen und einer Auswanderung zuzustimmen. Als er im Oktober 1934 verstarb, hatte sein Schwiegersohn Gottfried Bermann Fischer bereits weitgehend die Verlagsgeschäfte übernommen. In den Monaten nach der nationalsozialistischen Machtergreifung konnte der Verlag noch weitgehend ungehindert arbeiten, dennoch rechnete man mit einer jederzeitigen Schließung des Unternehmens. Es war jüdischen Verlegern bewusst, dass ein Arbeiten im nationalsozialistischen Deutschland nicht mehr lange möglich sein würde. Propagandaminister Joseph Goebbels, auch Präsident der Reichskulturkammer, beabsichtigte eine Entfernung der Juden aus dem Kulturbetrieb bei gleichzeitiger Erhaltung wirtschaftlich bedeutender Betriebe durch eine sogenannte „arische Übernahme“, d. h. durch nicht-jüdische „genehme“ Besitzer. Im März 1935 schließlich nahm Gottfried Bermann Fischer mit dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Verhandlungen über eine Auswanderung auf. Der Verlag wurde in zwei Teile aufgeteilt, wovon einem Teil die Auswanderung gestattet wurde. Eine teilweise Überführung des Verlages in nicht-jüdischen Besitz kam der Intention des Propagandaministeriums entgegen, den bekannten S. Fischer Verlag auch weiterhin als Aushängeschild für deutsche Literatur dem Ausland gegenüber präsentieren zu können. Die unerwünschten Autorenrechte gingen auf Bermann Fischer über und das betreffende Buchlager wurde zur Ausfuhr freigegeben. Den in Deutschland verbleibende Teil übernahm Peter Suhrkamp.¹¹ Mit April 1936 schied Gottfried Bermann Fischer offiziell aus dem S. Fischer Verlag aus.¹² In selben Monat bekam er auch die schriftliche Genehmigung der Reichsschrifttumskammer zum Verkauf des Verlages.¹³ In diesem Schreiben erhielt er weiterhin die Zusage, dass sein zukünftiger Verlag im Ausland „von der Kammer grundsätzlich nicht anders behandelt werden wird als jeder andere ausländische Verlag: d. h., der Vertrieb Ihrer Verlagsproduktion kann in
Peter Suhrkamp hatte Anfang 1933 die Redaktion der Verlagszeitschrift „Neue Rundschau“ übernommen. Im Herbst desselben Jahres wurde er von Gottfried Bermann Fischer in den Vorstand der S. Fischer Verlags A.G. berufen. Siehe auch Suhrkamp, Peter: Zur Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern, vorgelegt von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1975. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 122 (28. 5. 1936), S. 2698. Pfäfflin/Kussmaul, S. Fischer, S. 470 f.
Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier
171
Deutschland unter den für den deutschen Buchhandel geltenden Bedingungen geschehen, mit Ausnahme der in Deutschland unerwünschten Autoren und Büchern.“¹⁴ Vom Vertrieb in Deutschland ausgenommen waren die Werke von Siegmund Bing, Alfred Döblin, Harry Graf Kessler, René Schickele, Arthur Schnitzler, Richard Specht, Siegfried Trebitsch und Jakob Wassermann.¹⁵ Gottfried Bermann Fischer gründete in der Folge mit seinen Autorenrechten und einem Buchlager von rund 786.000 Bänden¹⁶ den Bermann-Fischer Verlag in Wien. Die Autorenrechte, die ihm geblieben waren, waren die von Peter Altenberg, Richard Beer-Hofmann, Alice Berend, Siegmund Bing, Alfred Döblin, Arthur Eloesser, Martin Gumpert, Moritz Heimann, Friedrich Heydenau, Hugo von Hofmannsthal, Marta Karlweis, Harry Graf Kessler, Annette Kolb, Mechtilde Lichnowsky, Thomas Mann, André Maurois, Carl Rössler, René Schickele, Arthur Schnitzler, Bernard Shaw, Richard Specht, Siegfried Trebitsch, Jakob Wassermann, Carl Zuckmayer, Raoul Auernheimer und H. Chlumberg.¹⁷ Der „Sezessionsverlag“¹⁸ in Wien stellte weiterhin einen Großteil der Verlagsproduktion in Deutschland her.¹⁹
Die Flucht der Verlegerfamilie Bermann Fischer aus Wien Doch die Verlagsarbeit in Österreich sollte nur von begrenzter Dauer sein. Am 13. März 1938 flüchteten Brigitte und Gottfried Bermann Fischer mit ihren drei Kindern unter Zurücklassung von Möbeln und Wertgegenständen von Wien mit dem Zug nach Rapallo, Italien. Sechsunddreißig Stunden später wurde ihr Haus in Wien-Hietzing von der SS aufgesucht und das Privatvermögen Bermann Fischers beschlagnahmt.²⁰ Umsichtig hatte Gottfried Bermann Fischer im Zuge der Niederlassungsversuche in der Schweiz die Autorenrechte in die Schweizer A. G. für Verlagsrechte in
Pfäfflin/Kussmaul, S. Fischer, S. 471. Pfäfflin/Kussmaul, S. Fischer, S. 471. Das Buchlager hatte einen Verkaufswert von rund 1.570.000 Mark und umfasste 262 lieferbare Titel von 22 Autoren. Peter Suhrkamp erhielt 500 lieferbare Titel von 120 Autoren. Sein Buchbestand von 1½ Millionen Bänden entsprach einem Verkaufswert von ca. 3.000.000 Mark. Siehe dazu auch Mendelssohn, Peter de: S. Fischer und sein Verlag. Frankfurt a. M. 1970. S. 1324. Vgl. Pfäfflin/Kussmaul, S. Fischer Verlag, S. 470 f. Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918 – 1938. Bd. 2: Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien [u. a.] 1985. S. 89. Siehe dazu auch Nawrocka, Verlagssitz, S. 55 – 64. Zu den weiteren Vorgängen in Wien und der Liquidierung des Verlages siehe Nawrocka, Verlagssitz, S. 64– 81.
172
Irene Nawrocka
Chur eingebracht, was sich nun nach der Flucht der Verlegerfamilie als berechtigte Vorsorgemaßnahme erweisen sollte. Dadurch konnte nicht Bermann Fischer selbst, sondern die A. G. um die Freigabe des Wiener Buchlagers verhandeln und Kontakt mit dem kommissarischen Leiter des Verlages, der nach Bermann Fischers Flucht eingesetzt worden war, aufnehmen. So blieb es den Nationalsozialisten längere Zeit verborgen, dass sich hinter der Schweizer A. G. für Verlagsrechte die Person Bermann Fischers verbarg.²¹ Durch die Ereignisse in Österreich waren viele deutschsprachige Autoren, die aufgrund der nationalsozialistischen Kulturpolitik in Deutschland auf österreichische Verlage oder Exilverlage ausgewichen waren, verlegerlos geworden. Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Jahren befand sich das Verlegerehepaar Brigitte und Gottfried Bermann Fischer mit drei kleinen Kindern in der Situation, sich eine neue Existenz aufbauen zu müssen – diesmal ohne Bücherlager und mit den Zweifeln der Autoren, ob eine Weiterarbeit des Verlages unter diesen Umständen überhaupt möglich sei. Schließlich wandte sich Bermann Fischer an den langjährigen Geschäftspartner seines Schwiegervaters in Schweden: Karl Otto Bonnier.
Verlagssitz: Stockholm Der Albert Bonnier Verlag war – und ist – einer der bedeutendsten Verlage in Schweden und kann – ähnlich wie S. Fischer – auf eine lange Tradition als Familienunternehmen zurückblicken.²² Zu seinen Autoren zählten Gustaf Fröding, Verner von Heidenstamm, Ellen Key, Selma Lagerlöf, Oscar Levertin, Vilhelm Moberg, Viktor Rydberg, August Strindberg und Hjalmar Söderberg. Zu den deutschsprachigen Autoren, deren Werke der Verlag in schwedischer Übersetzung herausgab, gehörten u. a. Hermann Hesse und Thomas Mann. Obwohl ihm der schwedische Verleger persönlich völlig unbekannt war, unterbreitete Gottfried Bermann Fischer ihm brieflich den Vorschlag, sich finanziell an seinem Verlag zu beteiligen. Der Seniorchef Karl Otto Bonnier, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits altersbedingt von den Geschäften zurückgezogen hatte, antwortete ihm umgehend auf Deutsch: „Der Inhalt Ihres Briefes interessiert mich
Zur Rolle der A. G. für Verlagsrechte bei der Liquidierung des Bermann-Fischer Verlages und Bermann Fischers Bemühungen um das Wiener Buchlager siehe Nawrocka, Verlagssitz, S. 71– 81. Zur Firmengeschichte siehe auch Albert Bonniers förlag. Ett familjeföretag 1837– 1962. Etthundratjugofem år. Stockholm 1962.
Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier
173
in hohem Grade, ich sehe aber wenig Möglichkeit Ihnen behilflich zu sein.“²³ Gleichzeitig informierte er ihn jedoch, dass sein Nachfolger und Sohn Tor Bonnier, der sich gerade in der Schweiz aufhielt, mit ihm in Verbindung treten werde. Vier Tage später traf der angekündigte Brief ein: Wir haben uns in diesen letzten Jahren öfters gefragt, wie es mit den alten deutschen Verlagshäusern gehen würde. Es war uns ja auch klar dass Ihre Situation, und die mancher Ihrer Kollegen, nach alledem was Österreich in den letzten Wochen übergangen ist [sic], dort unhaltbar geworden sei. Um so viel mehr freut es uns zu hören, daß Sie weiter beschlossen [sic] sind Ihr Verlagshaus weiter zu führen.
Doch Tor Bonnier erkannte auch eine wesentliche Voraussetzung für eine fortgesetzte Verlagstätigkeit: „Für die bedeutende, aus Deutschland vertriebene Literatur wird es selbstverständlich eine Lebensbedingung sein sich auf einem erstklassigen Verlagshause stützen zu können.“²⁴ Bonnier stand einem Treffen mit Bermann Fischer offen gegenüber, äußerte jedoch gleichzeitig seine Zweifel, ob und auf welche Weise er dem deutschen Verleger von Stockholm aus behilflich sein könne. Das Treffen fand am 15. April 1938 in Genf statt. Gottfried Bermann Fischer zeigte sich, wie er später in seiner Autobiografie über diese Begegnung mit Tor Bonnier und seiner Frau schrieb, „tief beeindruckt von dem Verantwortungsgefühl für eine höhere Sache, die die Erhaltung des vertriebenen Verlages ganz offenbar für sie darstellte“.²⁵ Man war sich einig geworden. Für eine zukünftige Zusammenarbeit fehlte nur noch die Zustimmung der beiden Brüder Tors, Kaj und Åke Bonnier.
Die Zusammenarbeit mit dem schwedischen Verlag Albert Bonnier, Stockholm (1938 – 1948) Am 25. April 1938 erhielt Bermann Fischer einen Brief aus Stockholm. Tor Bonnier lehnte darin eine Beteiligung Bonniers an Bermann Fischers Schweizer A. G. für Verlagsrechte ab, zeigte sich jedoch daran interessiert, gemeinsam einen deutschsprachigen Verlag in Schweden zu begründen. Als Verlagssitz schlug er Göteborg oder Malmö vor, von wo aus man eine bessere Verbindung zu anderen Karl Otto Bonnier am 6. April 1938 an Gottfried Bermann Fischer. S. Fischer Verlag Papers. Lilly Library, Bloomington (IN). Tor Bonnier am 10. April 1938 an Gottfried Bermann Fischer. S. Fischer Verlag Papers. Auch abgedruckt in Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt, S. 127. Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt, S. 128.
174
Irene Nawrocka
Abb. 1: Briefkopf des Bermann-Fischer Verlages
europäischen Ländern oder nach Übersee hätte. Er wollte für den Anfang mit einem kleinen Verlagsprogramm von sieben bis acht Titeln pro Jahr beginnen.²⁶ Man plante, eine Aktiengesellschaft mit einem vorerst geringen Aktienkapital zu gründen, wobei Bermann Fischer seine Autorenrechte und die bereits bezahlten Vorschüsse an die Autoren einbringen sollte. Die Familie Bonnier hingegen würde ihren Beitrag mit Bargeld leisten. Da es Gottfried Bermann Fischer als ausländischem Staatsbürger nach schwedischem Recht nicht möglich war, die Aktienmehrheit an diesem Unternehmen zu besitzen, sollten die Bonniers 51 % des Aktienkapitals halten. Tor Bonnier war sich bewusst, dass sich eine deutschsprachige Verlagsarbeit in einem fremdsprachigen Umfeld schwierig gestalten könnte, da die schwedischen Druckereien oft keine des Deutschen mächtigen Setzer hatten. Mit diesen Bedenken sollte er auch Recht behalten. Am 4. Mai 1938 traf Gottfried Bermann Fischer in Stockholm ein; zwei Tage später unterzeichneten er und Tor Bonnier den Vertrag zwischen der Firma Albert Bonnier und der A. G. für Verlagsrechte in Chur als rechtlichem Eigentümer der Bermann-Fischer-Verlagsrechte. Bonnier brachte als Gegenwert zu den Verlagsrechten der A. G. vorerst ein Kapital von 25.000 Kronen ein und verpflichtete sich weiterhin, dem neu gegründeten Verlag einen Kredit für den Druck und das Papier von zehn Büchern zu gewähren.²⁷ Voraussetzung für das Inkrafttreten des Vertrages war eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung Bermann Fischers, die dieser wenig später auch erhielt. Am 26. Juli 1938 wurde ein weiterer Vertrag – diesmal zwischen dem Albert Bonnier Verlag und Gottfried Bermann Fischer – unterzeichnet. Das vorhandene Tor Bonnier an Gottfried Bermann Fischer vom 25. April 1938. Archiv des Bonnier Verlages, Stockholm. Dieser Brief ist auch vollständig abgedruckt in Bermann Fischer, Gottfried/Bermann Fischer, Brigitte: Briefwechsel mit Autoren. Frankfurt a. M. 1990. S. 727 f. Nawrocka, Verlagssitz, S. 87 f.
Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier
175
Aktienkapital war von 5.000 schwedischen Kronen auf 100.000 erhöht worden. Bermann Fischer wurde als Geschäftsführer der neuen Bermann-Fischer Verlag Aktiebolag angestellt. In einem zweiten Vertrag wurde festgehalten, dass „Beschlüsse wesentlicher Art über die Geschäftsführung […] von Bonniers einerseits, der A.-G. für Verlagsrechte und Dr. Bermann-Fischer andererseits gemeinschaftlich gefasst“²⁸ werden würden.
Abb. 2: Verlagsprogramm mit den zwei Rappen
Vertrag zwischen der Firma Albert Bonnier und Dr. Gottfried Bermann Fischer vom 26. Juli 1938. Bonniers Archiv, Stockholm.
176
Irene Nawrocka
Als Verlagssignet übernahm der Bermann-Fischer Verlag, Stockholm, die zwei springenden Rappen des Wiener Unternehmens, die Emil Rudolf Weiß entworfen hatte. Es wurde am 30. Januar 1939 beim Kungliga Patent- och registreringsverket eingeschrieben. Der neue Firmensitz des deutschsprachigen Unternehmens lag unweit von Bonniers Verlagshaus am Sveavägen entfernt; die Verlagsadresse lautete Stureplan 19. Die wenigen Verlagsmitarbeiter fand man auch schnell, es handelte sich zum großen Teil um Emigranten aus Deutschland und Österreich. Die beiden wichtigsten waren Justinian Frisch und Walter Singer, letzterer ein ehemaliger Mitarbeiter des Berliner Tagblatts, der bereits 1917 nach Schweden gekommen war. Er wurde Geschäftsführer und ermöglichte nach Bermann Fischers Ausweisung aus Schweden gemeinsam mit Frisch und der Familie Bonnier die Weiterarbeit des Verlages. Justinian Frisch, Schwager der ebenfalls nach Schweden emigrierten Atomphysikerin Lise Meitner²⁹, der bereits im Wiener Bermann-Fischer Verlag tätig gewesen war und nach dem „Anschluss“ vorerst unter der kommissarischen Leitung weiterarbeitete, gelangte mit Bonniers Hilfe nach Stockholm.³⁰ Er war als Übersetzer, Lektor und Herstellungsleiter tätig und übernahm außerdem die Ausstattung einiger Bücher. Annie Stern, eine Wiener Jüdin, wurde als Sekretärin angestellt. Eine Zeitlang gehörte noch der ebenfalls aus Wien stammende Viktor Zuckerkandl, jüngerer Bruder des Chirurgen Emil Zuckerkandl³¹, zum Mitarbeiterstab.³² Seine Frau Mimi übersetzte unter dem Pseudonym Maria Giustiniani Bücher des Verlages. Auch ihre Einreise ermöglichte die Familie Bonnier.³³ Zuckerkandls Neffen Viktor und Rudolf, die Söhne seiner Schwester Hermine MüllerHofmann, kamen durch die schwedische Israelmission nach Schweden, wo sie zunächst bei der Familie Bonnier wohnten.³⁴
Lise Meitner war nach ihrer Emigration 1938 am Nobel Institut tätig und leitete ab 1946 die kernphysikalische Abteilung im Physikalischen Institut der Technischen Hochschule Stockholm. Justinian Frisch war seit 1903 mit Meitners Schwester Auguste (Gustl) verheiratet. Sie sind die Eltern des Physikers Otto Robert Frisch. Lise Meitner teilte sich mit dem Ehepaar eine Zeit lang auch eine Wohnung in Stockholm. Nawrocka, Verlagssitz, S. 90. Von dessen Frau Berta Szeps-Zuckerkandl schien 1939 die Autobiografie Ich erlebte fünfzig Jahre Weltgeschichte bei Bermann-Fischer in Stockholm. Viktor Zuckerkandl emigrierte 1940 in die USA, wo er am Wellesley College bei Boston, in Princeton und am St. Johns College in Annapolis unterrichtete. Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt, S. 215 Lipp, Gerhard: Das musikanthropologische Denken von Viktor Zuckerkandl. Tutzing 2002. S. 38 – 39.
Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier
177
Die Arbeit des Bermann-Fischer Verlages in Stockholm Gottfried Bermann Fischer nahm in der Folge Stefan Zweig, der sich zu diesem Zeitpunkt im Londoner Exil aufhielt, als Autor unter Vertrag.³⁵ Auch Franz Werfel wechselte von Zsolnay zum Bermann-Fischer Verlag.³⁶ Der Bestseller des Wiener Verlages, die Biografie der zweifachen Nobelpreisträgerin Marie Curie, verfasst von ihrer Tochter Eve Curie, wurde wieder ins Programm aufgenommen.³⁷ Im Deutschen Reich verfolgte man die Stockholmer Neugründung argwöhnisch. Bereits im Juni 1938, als sich der Verlag gerade im Aufbau befand, informierte Karl Heinrich Bischoff, Abteilungsleiter in der Reichsschrifttumskammer, die Geheime Staatspolizei über Bermann Fischers Vorhaben: Es erscheint mir auf gar keinen Fall erwünscht, dass ein jüdischer Verleger nun in Schweden einen deutschen Verlag eröffnet und womöglich dort z. B. das Werk von Hugo von Hofmannsthal (Hofmannsthal war Vierteljude) stark herausstellt, um auf Grund dieses Namens und anderer einen jüdisch gerichteten Verlag in Schweden für deutschsprachiges Schrifttum zu lancieren.³⁸
Tatsächlich sollte im Bermann-Fischer Verlag, Stockholm, der erste Band einer neuen Gesamtausgabe der Werke Hofmannsthals erscheinen.³⁹ Das Interesse an deutscher Literatur in Schweden, das um die Jahrhundertwende sehr groß gewesen war, hatte abgenommen, und Bischoff befürchtete, dass es nun zusätzlich durch die Präsenz des Exilverlages in Stockholm zugunsten deutschsprachiger – in Deutschland verbotener – Exilliteratur geringer werden könnte.
Stefan Zweig schloss im Juli einen gemeinschaftlichen Vertrag mit dem Bermann-Fischer Verlag, Stockholm, und dem Allert de Lange Verlag, Amsterdam. Zur Lösung des Vertrags mit dem Wiener Reichner Verlag siehe Nawrocka, Verlagssitz, S. 91– 93. Nawrocka,Verlagssitz, S. 92– 93. Zur Loslösung Werfels vom Zsolnay Verlag siehe Hall, Murray G.: Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Tübingen 1994. S. 513 – 524. Zur Auseinandersetzung um die Verlagsrechte mit dem Knaur Verlag, der eine reichsdeutsche Ausgabe des Werkes veröffentlicht hatte, und zum Ausmaß der Rechtsunsicherheit bei Autorenverträgen siehe Nawrocka, Verlagssitz, S. 93 – 96. Karl Heinrich Bischoff an das Geheime Staatspolizeiamt, Berlin, am 3. Juni 1938. Bundesarchiv, Berlin Document Center/Reichsschrifttumskammer/Bermann-Fischer Verlag (BDC/RSK/ BFV). Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zwölf Einzelausgaben. Hrsg. von Herbert Steiner. Bd. 1: Die Erzählungen. Der Umschlagentwurf stammte von Justinian Frisch. Zu der Diskussion der Reichsschrifttumskammer und des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda um die Rechte an Hugo von Hofmannsthals Werken siehe Nawrocka, Verlagssitz, S. 72– 81.
178
Irene Nawrocka
Wenn nun auf die noch vorhandene Position ein bei der augenblicklichen schwedischen Mentalität nicht von vorhinein aussichtsloser Angriff eines neuen jüdischen Verlages deutschen Schrifttums erfolgt, so kann es leicht geschehen, dass unter Ausnutzung gewisser politischer Strömungen in der Tat in den nordischen Ländern das wirklich deutsche Schrifttum zurückgedrängt und jüdische Schreiberei als deutsche Dichtung ausgegeben wird.⁴⁰
Der Deutsche Akademische Austauschdienst, Zweigstelle Stockholm, bestätigte diese Befürchtungen: Offenbar ist es Bermann gelungen, in geschickter Weise die sonst von schwedischer Seite sehr starken Hindernisse gegen geschäftliche Unternehmen deutscher Emigranten in Schweden aus dem Weg zu räumen. […] Es ist zu befürchten, dass […] auch der Fischer-Verlag sich in das allgemeine Interesse wird einreihen können und damit viele nicht erwünschte deutschsprachige Bücher weiter schneller den Weg ins schwedische Publikum finden werden […].⁴¹
Schließlich wandte sich Bischoff an den Reichsführer SS, Chef des Sicherheitshauptamtes in Berlin, und schlug vor: „Es wäre wohl die beste Erwiderung, wenn auch von hier aus immer wieder darauf hingewiesen wird, dass die Tätigkeit des Bermann-Fischer Verlages von Stockholm aus nicht geeignet ist, die Beziehungen zwischen Deutschland und Schweden zu stärken.“⁴² Mit dem 1. Februar 1939 ließ Propagandaminister Joseph Goebbels sämtliche Titel des Bermann-Fischer Verlages, Stockholm, in die Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums einreihen. Im Januar 1939 kündigte Gottfried Bermann Fischer in der Tageszeitung Dagens Nyheter eine Sammlung von Briefen der deutschen Vertriebenen an, die ein Bild der deutschen Emigration im Selbstporträt zeichnen sowie Gründe und Umstände der Auswanderung, Pläne, Hoffnungen und das Zurechtfinden in einem fremden Land, sowohl die Schwierigkeiten als auch die Freuden, zum Ausdruck bringen sollten.⁴³ Für die Auswahl der Briefe waren Thomas Mann, Franz Werfel, Carl Zuckmayer und Alfred Döblin vorgesehen. Die Reaktionen darauf waren wohl anders, als Bermann Fischer gedacht hatte. Bischoffs Bemühungen schienen Wirkung zu zeigen: In der Stockholms
Karl Heinrich Bischoff an das Geheime Staatspolizeiamt, Berlin, am 3. Juni 1938. BDC/RSK/ BFV. Abschrift eines Briefes des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, Zweigstelle Stockholm, vom 2. September 1938. Zitiert nach: Pfäfflin/Kussmaul, S. Fischer Verlag, S. 506. Karl Heinrich Bischoff an den Reichsführer SS, Chef des Sicherheitshauptamtes, Berlin vom 26. November 1938. BDC/RSK/BFV. Dagens Nyheter, 4. 1. 1939.
Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier
179
Tidningen drückte ein Journalist unter Pseudonym die Befürchtung aus, die Sammlung könnte Hetzbriefe gegen Nazi-Deutschland enthalten. „Wenn die Fremden in diesem Land solche Absichten haben, müssen sie sich ihren Aufenthaltsort in weniger friedlichen und militärisch besser gerüsteten Ländern als Schweden mit seiner gefährdeten und so gut wie ungeschützten Lage aussuchen.“⁴⁴ Der Journalist sah in der Veröffentlichung der Briefsammlung eine Verletzung des Asylrechts. Am Tag darauf titelte das Nazi-Organ Der Angriff einen Artikel mit der Schlagzeile „Entrüstung in Schweden. Jüdischer Emigranten-Verlag sucht Hetzmaterial“.⁴⁵ Da Bermann Fischer sich politisch in Zurückhaltung üben musste, auch in seiner Tätigkeit als Verleger, stellte er außer dieser Briefesammlung den Plan zu einer satirischen Zeitschrift zurück, um nicht mit den schwedischen Behörden in Konflikt zu geraten.⁴⁶ Ein weiterer Fall, bei dem es Rücksicht auf das Gastland zu nehmen galt und in den auch Tor Bonnier eingriff, betraf Thomas Mann. Als der Bermann-Fischer Verlag gerade dessen Essaysammlung Achtung, Europa! zur Veröffentlichung vorbereitete, erging unter dem Eindruck der Novemberpogrome im Deutschen Reich eine Aufforderung der schwedischen Regierung an alle Verlage, jede Aggressivität gegen Deutschland zu unterlassen. In Thomas Manns Essay Der Bruder fand sich eine deutliche Anspielung auf Hitler: „Von wem es handelt, ist in einer Art von Dunkel gelassen, das man wohl ein Hell-Dunkel nennen muß […].“⁴⁷ Bermann Fischers Bitte, diesen Beitrag aus der Sammlung herauszunehmen, lehnte Thomas Mann ab, „das […] Burschen-Sätzchen […] soll doch stehen bleiben.“⁴⁸ Das „Burschen-Sätzchen“ lautete: „Der Bursche ist eine Katastrophe; das ist kein Grund, ihn als Charakter und Schicksal nicht interessant zu finden.“ Auch Tor Bonnier wandte sich in dieser Angelegenheit an den Autor: Sie [gemeint sind die Mitglieder der Regierung Schwedens, Anm. d.Verf.] sind nicht ängstlich von Natur, wenigstens weder der Premierminister noch der Außenminister. Sie haben sich
Stockholms Tidningen, 5. 1. 1939. Das Originalzitat lautet: „Det blir de mest överdrivna, de mest hatfulla, de mot Tyskland mest fientligt stämda, som komma att beredas företräde. […] Ha främlingarna här i landet slika ärenden, få de söka sig sitt uppehåll i minde fredliga och bättre militärt rustade länder an Sverige med dess utsatta och så gott som oskyddade läge och med dess ringa numerär.“ Der Angriff, 6. 1. 1939. Nawrocka, Verlagssitz, S. 107. Thomas Mann an Gottfried Bermann Fischer am 6. September 1938. Thomas Mann: Briefwechsel mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer 1932 bis 1955, hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1975. S. 183. Thomas Mann an Gottfried Bermann Fischer am 15. September 1938. Mann, Briefwechsel mit seinem Verleger, S. 186 f.
180
Irene Nawrocka
aber genötigt gesehen, sich an Buchverleger und Herausgeber von Zeitungen zu wenden mit dem Ersuchen, daß sie den Machthaber in Deutschland gegenüber die größte Vorsicht beobachten [sic]. […] Für die kleinen Staaten in der Nähe von Deutschland hat die Gewissheit, daß Frankreich und Rußland schwach und England unentschieden ist, auch auf dem publizistischen Gebiet unvermeidliche Folgen gehabt.⁴⁹
Tor Bonnier verwies auf die schwierige Situation Bermann Fischers, dem der Verlust seiner Aufenthaltsgenehmigung drohte. Thomas Mann willigte schließlich ein; in der schwedischen sowie der deutschen Ausgabe fehlt der Aufsatz Der Bruder. ⁵⁰
Die Ausweisung Gottfried Bermann Fischers aus Schweden Als der finnisch-russische Krieg im Dezember 1939 ausbrach, schien Stockholm für die Familie Bermann Fischer kein sicherer Ort mehr zu sein, und man plante die Weiteremigration nach England. Doch bevor man die Reise antreten konnte, wurde Bermann Fischer am 19. April 1940 verhaftet. Er hatte, um englische Visa für seine Familie zu bekommen, dem britischen Secret Service seine umfangreiche Adressenliste zur Verfügung gestellt. An rund 20.000 Adressen in Deutschland wollte man von Schweden aus Aufklärungsmaterial, antinazistische Broschüren und Flugzettel schicken. Im Büro am Stureplan führten deutsche Emigranten diese Arbeit aus. Die Sache flog auf, als die schwedische Polizei den Brief eines Verlagsmitarbeiters abfing, in dem dieser die Namen der Beteiligten nannte.⁵¹ Bermann Fischers Rolle beim Vorgehen der Gruppe um den britischen SecretService-Mitarbeiter Alfred Rickmann war laut Polizeiprotokoll die gewesen, dass er Flugblätter auf korrektes Deutsch hin durchgelesen und sein Büro für die Versendung von Kuverts nach Deutschland bzw. für Treffen zur Verfügung gestellt hatte, ohne allerdings selbst daran teilzunehmen. Bermann Fischer blieb zwei Monate in Haft und erfuhr im Gefängnis vom Einmarsch deutscher Truppen in den Niederlanden. Am 20. Juni 1940 wurde er entlassen und aus Schweden ausgewiesen. Die Familie emigrierte schließlich in die USA, wo Bermann Fischer den englischsprachigen Verlag L. B. Fischer Publishing Corporation gründete, an dem sich auch Bonniers finanziell beteiligte.⁵²
Tor Bonnier an Thomas Mann am 13. Oktober 1938. Bonniers Archiv, Stockholm. Der Essay erschien 1953 in dem Sammelband „Altes und Neues“ bei S. Fischer. Siehe auch Bermann Fischer, Bedroht – Bewahrt, S. 168, Nawrocka, Verlagssitz, S. 133. Im Februar 1946 war Åke Bonnier mit $ 35.000, Bermann Fischer, Fritz H. Landshoff und Marinus Warendorf zusammen mit $ 29.500 an der L. B. Fischer Publishing Corporation beteiligt.
Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier
181
Der Stockholmer Bermann-Fischer Verlag arbeitete zunächst in Abwesenheit des Verlegers weiter, stand jedoch finanziell unsicher da. Zwei Drittel des Aktienkapitals waren trotz Verkaufserfolgen verloren gegangen, sodass die Familie Bonnier eine Liquidierung des Verlages in Erwägung zog. Schließlich entschied man sich doch für eine Sanierung. Bermann Fischer blieb weiterhin Geschäftsführer, seine Aufgaben vor Ort nahm allerdings Walter Singer wahr, Bonnier übernahm die Gehaltszahlungen. Gottfried Bermann Fischer vermittelte von New York aus die Manuskripte und konnte vor Ort auch den Kontakt zu seinen Autoren wie Carl Zuckmayer, Thomas Mann und Franz Werfel halten. Die Verlagstätigkeit war stark von der Kriegsentwicklung geprägt. Bis Ende 1939 konnte man ca. 118.000 Bände europaweit und auch in Übersee verkaufen. Bei den Manuskripten ging man kein Risiko ein und druckte nur Werke namhafter Autoren in kleinen Auflagen. Im Mai 1944 wurde die Verlagstätigkeit im Hinblick auf das bevorstehende Kriegsende erweitert. Schon seit Anfang 1943 beschäftigte man sich mit der Vorbereitung einer Bücherproduktion für das NachkriegsDeutschland. Die finanziellen Mittel zum Ausbau der Verlagstätigkeit stammten wieder von Bonnier.⁵³ Mitte Februar 1946 kam Gottfried Bermann Fischer erstmals nach dem Krieg nach Stockholm. Doch die erwartete Öffnung des deutschen und österreichischen Buchmarktes blieb wider Erwarten aus; die bereits fertigen Bücher aus dem Bermann-Fischer Verlag durften nicht eingeführt werden. Bonniers Haltung wurde mehr und mehr von Zurückhaltung geprägt, zumal Bermann Fischer, um seine amerikanische Staatsbürgerschaft nicht zu verlieren, sich überwiegend in den USA aufhielt. Im April 1947 ergab sich unvermutet ein Angebot des Querido Verlages in Amsterdam zu einer Zusammenarbeit und Übersiedelung des Verlages dorthin. Das nahm schnell konkrete Formen an, nachdem Bermann Fischer Schweden als Standort im aufziehenden Kalten Krieg als zu gefährlich empfand. Anfangs überlegte man eine holländisch-deutsch-schwedische Beteiligung am BermannFischer Verlag. Doch nachdem das Verhandlungsklima immer rauer geworden war, willigte die Familie Bonnier im März 1948 schließlich in einen Verkauf ihrer Anteile ein.
Der Verlag wurde Anfang 1946 verkauft. Siehe auch Nawrocka, Verlagssitz, S. 152– 159 (Bibliografie der Titel der L. B. Fischer Publishing Corporation S. 198 – 201). Laut Angaben Bermann Fischers in einem Brief an seine Ehefrau Brigitte vom 12. Februar 1946 hatte die Familie Bonnier zu diesem Zeitpunkt 450.000 Kronen investiert. Wenige Tage später erhielt er weitere 50.000 Kronen. Nachlass Gottfried und Brigitte Bermann Fischer, S. Fischer Verlagsarchiv, Deutsches Literaturarchiv, Marbach am Neckar.
182
Irene Nawrocka
Am 11. April 1948 schrieb Gottfried Bermann Fischer an seine Frau in den USA: Es ist nun Abschied von Stockholm, von 10 Jahren Schweden. Alles in allem war es eine gute Zeit, ein Überwintern durch die Jahre des Schreckens und des Krieges. Wir müssen trotz allem dankbar dafür sein. – Produktiv konnte die Arbeit hier nicht sein – aus vielen Gründen. Und sie konnte es auch nicht werden.⁵⁴
Der Entschluss, Schweden zu verlassen und mit dem Verlag nach Amsterdam umzusiedeln, um dort eine Zusammenarbeit mit Querido zu beginnen, kam neuerlich einem Neuanfang gleich.
Gottfried Bermann Fischer an Brigitte Bermann Fischer am 11. April 1948. Nachlass Gottfried und Brigitte Bermann Fischer, S. Fischer Verlagsarchiv.
Elke-Vera Kotowski
Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein „Ich werde Malerin“, bemerkte kess die erst fünfjährige Tochter des Apothekers Hugo Laserstein und seiner Frau Meta, geborene Birnbaum. Die am 28. November 1898 in dem kleinen Städtchen Preußisch Holland bei Königsberg geborene Lotte Laserstein erinnert 1990 hochbetagt jene kindliche Entschlossenheit in einem Interview für die britische Zeitung The Times: „Als ich fünf war, hatte ich einen sieben Jahre alten Verehrer. Schon damals sagte ich zu ihm: ‚Verschwende nicht Deine Zeit. Ich werde mein Leben der Kunst widmen‘“¹. Und so kam es, dass Lotte Laserstein parallel zur Schule Malunterricht bei ihrer Tante Elsa Birnbaum nahm. Nach dem Abitur, das sie in Berlin ablegte – die Mutter war nach dem Tod ihres Mannes mit ihren beiden Töchtern Lotte und der zwei Jahre jüngeren Käthe dorthin umgezogen – ging sie als eine der ersten Frauen an die Hochschule für die Bildenden Künste. Erst ab 1919 war es Frauen gestattet an einer Hochschule zu studieren. Als Meisterschülerin von Erich Wolfsfeld hatte sich Lotte Laserstein auf Porträtmalerei spezialisiert, sie schloss 1927 ihr Studium mit Auszeichnung ab. Bereits ihre frühen Porträts, zuweilen auch Selbstporträts, vermitteln in einzigartiger Weise das damalige Lebensgefühl jener Neuen Frauen in der Großstadt. Lotte Laserstein malte Caféhausszenen, in denen Frauen, ohne männliche Begleitung einkehrten und selbstbewusst den Raum eroberten. Sie porträtierte jene emanzipierten Großstadtbewohnerinnen mit einem der traditionellen Frauenrolle zuwiderlaufenden Selbstverständnis. Nunmehr selbst erwerbstätig, waren sie nicht mehr zwingend ökonomisch von einem Mann (ob Vater oder Gatte) abhängig. Sie kleideten sich modebewusst, waren konsumorientiert, artikulierten sich und ihre Interessen und setzten letztere in die Tat um. Neben Jeanne Mammen war Lotte Laserstein eine der wenigen Malerinnen, die diese „Neue Frau“ auf die Leinwand brachte, jenen modernen, kosmopolitischen Frauentypus der Großstadt, so wie er Mitte der 1920er-Jahre in Paris, London oder Berlin im Straßenbild zu finden war. Aber im Gegensatz zu den Werken
Lotte Laserstein im Gespräch mit John Russell Taylor. In: The Times, 7. 12. 1990, zitiert nach: Krausse, Anna-Carola: Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit. Berlin 2003. S. 33. https://doi.org/9783110532289-010
184
Elke-Vera Kotowski
Abb. 1: Lotte Laserstein als Zwölfjährige in der Malschule ihrer Tante Elsa Birnbaum (um 1910)
ihrer Kollegen, die die neusachliche Frau der späten Weimarer Zeit darstellten, fehlt Lasersteins Porträts jenes entfremdete Moment der Identitätssuche in einer anonymen Massengesellschaft. In ihren Bildern spiegeln sich vielmehr die Lebenslust, das Selbstbewusstsein und die Individualität der Porträtierten wider. Und im Gegensatz zu den Darstellungen ihrer Malerkollegen Otto Dix, George Grosz oder Christian Schad haben Lasersteins „Neue Frauen“ nichts Kapriziöses oder Frivoles. „Nicht verrucht, sondern von strenger Eleganz, ist Lasersteins Restaurantbesucherin kein exotischer Vogel der Bohéme, keine rauschende, übermächtige sophisticated Lady, kein käufliches Wesen“, so beschreibt es die Kunsthistorikerin Anna-Carola Krausse bei der Betrachtung des 1927 entstandenen Porträts mit dem Titel Im Gasthaus (Abb. 3). Lotte Laserstein zählt selbst zu jenem Typus der „Neuen Frau“ des frühen 20. Jahrhunderts. Bei der Betrachtung ihres Konterfeis zeigt sich das markante Gesicht einer entschlossenen und selbstbewussten Persönlichkeit. Sie selbst hätte sich sicherlich nicht mit dem Attribut „Neue Frau“ bezeichnet, jedoch spiegelt sich in ihrem Leben ebenso wie in ihrem Werk jene eigenständige und selbstsichere Weiblichkeit wider, die aus heutiger Sicht den „Neuen Frauen“-Typus par excellence repräsentiert.
Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein
185
Abb. 2: Erich Wolfsfeld (Mitte) mit seinen Studentinnen und Studenten (1925). Direkt hinter ihm steht Lotte Laserstein
Bereits während ihres Studiums lernte Lotte Laserstein die sechs Jahre jüngere Traute Rose kennen. Diese junge, attraktive und ebenso selbstbewusste Frau mit Kurzhaarschnitt und großem schauspielerischen Talent wurde bald Lasersteins Lieblingsmodell, denn sie verkörperte nach Lasersteins Dafürhalten jene neue, gestaltende Frau in der Großstadt: emanzipiert, sportlich, modisch, weltläufig. Im Folgenden zwei Beispiele dafür, wie Lotte Laserstein Traute Rose als „gestaltende Frau“ (Abb. 5) und „Tennisspielerin“ (Abb. 6) darstellte. Über die Faszination, die die Malerin dem perfekten Modell gegenüber empfand, hinausgehend, übte Traute Rose zudem eine große emotionale Anziehungskraft auf Lotte Laserstein aus. Sie wurde alsbald ihre Muse, möglicherweise auch ihre Geliebte. Die Vertrautheit der beiden Frauen zeigt sich augenscheinlich in dem Doppelporträt Ich und mein Modell (Abb. 7) von 1929/1930. Ebenso wird diese Vertrautheit in den Aktgemälden deutlich. Bei der Betrachtung ihrer Bilder lässt sich unschwer jener „neue“ Ausdruck der Malerei erkennen, der heute als „Neue Sachlichkeit“ bezeichnet wird. In ei-
186
Elke-Vera Kotowski
Abb. 3: Im Gasthaus, 1927
nem zeitgenössischen Artikel beschreibt der Kunstkritiker Wilhelm Michel 1926 jenen neuen Stil folgendermaßen: „Die ‚Neue Sachlichkeit‘ ist kein Ruhepunkt, kein Ziel, sondern Etappe einer Wanderung.“ Die Beschreibung „‚Neue Sachlichkeit‘ ist kein Ruhepunkt, kein Ziel, sondern Etappe einer Wanderung“ trifft durchaus auch auf das Leben und das Werk der Malerin Lotte Laserstein zu, die sich selbst ebenso wenig als „neue Sachliche“ denn als „neue Frau“ verstanden hat, deren Bilder jedoch jenes Genre – wenn auch nicht in aller Konsequenz – repräsentieren: Das facettenreiche Arbeits- und Alltagsleben des Großstadtmenschen, dargestellt in einer „versachlichten“ ästhetischen Ausdrucksformung. Allerdings verzichtete Laserstein auf jene „unter-
Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein
187
Abb. 4: Lotte Laserstein, um 1928 (fotografiert von Traute Rose)
kühlte Glätte und […] bissige Schärfe“², das Karikaturenhafte und Sezierende, das den Werken ihrer Malerkollegen der Neuen Sachlichkeit zu eigen war. 1930 malte Lotte Laserstein ein großformatiges Bild mit dem Titel Abend über Potsdam (Abb. 10). Dieses Bild wird heute als Lasersteins Meisterwerk gesehen. Aber abgesehen davon ist es ein Schlüsselwerk für den Kontext der hier diskutierten Thematiken Identitätssuche, Zerrissenheit, Exilerfahrung. Die Interpretationsvarianten dieses Werkes sind vielfältig und durchaus disparat. Unstrittig läutet dieses Werk jedoch eine Wende im künstlerischen Schaffen
Krausse, Anna-Carola: Meine einzige Wirklichkeit: Retrospektive der Malerin Lotte Laserstein (1898 – 1993). In: Museumsjournal 4 (2003), zitiert nach: Hagalil.com (6. 11. 2003): http:// www.berlin-judentum.de/news/2003/11/laserstein.htm. (13. 07. 2017).
188
Elke-Vera Kotowski
Abb. 5: Plakatentwurf zur Ausstellung „Die gestaltende Frau“ (1930)
Lotte Lasersteins ein. Hier zeigen sich nicht mehr die selbstsicheren, tatkräftigen, heiteren Frauengestalten, die auf den vorherigen Bildern zu sehen waren. Laserstein malte dieses Bild zu einer Zeit, da die glorifizierten „Goldenen Zwanziger“ bereits verblasst waren und Deutschland, Europa, ja die ganze Welt die bis dahin
Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein
189
Abb. 6: Die Tennisspielerin (1929)
größte Wirtschaftskrise erlebte. Bei der Betrachtung der Gesichter – es handelt sich allesamt um Freunde der Malerin, und auch ihr Lieblingsmodell Traute Rose fehlt nicht, die links im Bild den Blick auf die Silhouette Potsdams richtet – ist unweigerlich eine gedrückte, melancholische Stimmung der Abendgesellschaft spürbar. Jede und jeder der Abgebildeten schaut ins Leere, kein Blick trifft auf einen anderen. Dass es zuvor durchaus heiter zugegangen sein mag, lässt sich anhand der leeren Flaschen vermuten. Eine Zitation des Letzten Abendmahls ist ebenso unmissverständlich. Die Christusfigur wird hier allerdings durch eine Frau besetzt, die madonnenhaft die Bildmitte bestimmt. Lasersteins Bildsprache verweist hier bereits auf eine drohende Zäsur. In diesem Werk manifestiert sich zudem Lasersteins Reaktion auf eine veränderte Lebenswirklichkeit. Die Aufbruchsstimmung der ersten Hälfte der Wei-
190
Elke-Vera Kotowski
Abb. 7: Ich und mein Modell von 1929/1930
Abb. 8: In meinem Atelier (1928)
Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein
191
Abb. 9: Morgentoilette (1930)
marer Republik weicht einer Suche nach Halt und Harmonie. Als Reaktion auf die als bedrohlich erfahrene Realität sucht die Gesellschaft – insbesondere die Jugend – nach Fluchtpunkten. Allerdings trügt die vermeintliche Idylle der Abendstimmung. „Der Abend über Potsdam ist kein Bild versonnener Innerlichkeit“, so betont es Anna-Carola Krausse, „sondern eine grüblerische Innenschau, ein beinahe schon in Lethargie verfallenes Innehalten.“³ Wüssten wir es heute nicht besser, da wir aus der Retrospektive die Ereignisse die folgten betrachten, könnte man diesem Bild etwas Vorausschauendes andeuten.
Krausse, Lotte Laserstein, S. 169.
192
Elke-Vera Kotowski
Abb. 10: Lotte Lasersteins Meisterwerk Abend über Potsdam aus dem Jahr 1930
Abb. 11: Lotte Laserstein vor dem Gemälde Abend über Potsdam; fotografiert von Wanda von DebschitzKunowski
Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein
193
Ausgrenzung, Flucht, Neubeginn Hieß es noch 1929 in einem Artikel im Berliner 8-Uhr-Abendblatt: „Lotte Laserstein – diesen Namen wird man sich merken müssen. Die Künstlerin gehört zu den allerbesten der jüngeren Generation. Ihr glanzvoller Aufstieg wird zu verfolgen bleiben“,⁴ verliert sie nach 1933 in Deutschland jegliche künstlerische Anerkennung. Die Malerin bekam die Veränderungen, die mit der Machtübernahme Adolf Hitlers einhergingen, unmittelbar zu spüren. Nach Maßgabe der Nürnberger Gesetze wurde Sie zur „Dreivierteljüdin“ erklärt und erhielt bereits 1933 Ausstellungsverbot. Ihre seit 1929 bestehende Mitgliedschaft im Vorstand des Vereins der Berliner Künstlerinnen wurde ihr gekündigt. Und aufgrund ihrer Nichtmitgliedschaft in der Reichskulturkammer hatte sie keinen Anspruch auf den Erwerb von Künstlerbedarf wie Pinsel, Leinwand oder Ölfarbe. Ihre seit 1927 betriebene private Malschule musste sie 1935 aufgeben. Nachdem Lotte Laserstein ihre Werke nicht mehr öffentlich ausstellen durfte, präsentierte sie ihre Arbeiten fortan in privaten Wohnungen. 1937 erhielt sie dann die Möglichkeit, auf Einladung der Galerie Moderne in Stockholm auszustellen. Neben dem Abend über Potsdam waren dort weitere 57 Werke zu sehen. Auch den damaligen Stockholmer Betrachtern fiel die starke Bildsprache insbesondere des Abends über Potsdam auf. Ein Kritiker schrieb: Die Stimmung, die aus dem zur Zeit in der Galerie Moderne gezeigten Werk der deutschen Malerin Lotte Lazerstein [sic] spricht, ist […] eine stille Resignation. Es liegt etwas von der Stimmungsmelancholie der Jahrhundertwende in ihren Bildern, eine Melancholie, die durch die Ereignisse der letzten Jahre vielleicht noch verstärkt wurde.⁵
Interessanterweise gab die Künstlerin dem Abend über Potsdam in der Stockholmer Ausstellung den Titel Mina Vänner (zu Deutsch: Meine Freunde), was durchaus als Abschied an die in Deutschland Zurückgelassenen gedeutet werden kann. Denn Lotte Laserstein nutzte jene Stockholmer Ausstellung, um Deutschland endgültig zu verlassen. Der Neuanfang in Schweden war schwer für Lotte Laserstein. Die Bemühungen, ihre Mutter und Schwester nach Schweden zu holen, scheiterten. Zudem drohte ihr nach mehreren befristeten Touristenvisa die Ausweisung. Obwohl sie sich mit ihrem von außen aufoktroyierten „Jüdischsein“ schwertat, sich weder mit einem jüdischen Erbe auseinandersetzen wollte, noch in den Zeiten der wachsenden Diskriminierung die Nähe zur Jüdischen Gemeinde suchte, nahm sie 1938 I. F. Kunst und Mode. In: 8-Uhr-Abendblatt, 29. 11. 1929. Krausse, Lotte Laserstein, S. 217.
194
Elke-Vera Kotowski
Kontakt zum Jüdischen Hilfskomitee in Stockholm auf. Dieser für sie sicherlich nicht leichte Schritt sollte sich jedoch in doppelter Hinsicht als lebensrettend erweisen. Zum einen erhielt sie durch Vermittlung des Jüdischen Hilfskomitees Malaufträge. In einem Brief an Traute Rose berichtet sie dazu rückblickend (1946): Die ganzen Jahre habe ich vom Porträtmalen gelebt. Das ist nicht immer leichtes Brot […], aber es macht mir ja immer wieder Freude. Und ich habe ja das unverdiente Glück gehabt, nicht nur gerettet zu sein, sondern in meiner Arbeit fortfahren zu können. Nicht in der ruhigen Intensität wie damals in unserer Zeit. Aber doch.⁶
Der zweite Rettungsanker wurde ihr durch die Mosaiska Församlingen, die Jüdische Gemeinde in Stockholm, zugeworfen, durch deren Vermittlung sie eine Scheinehe eingehen konnte. Für diese Heirat hatte sich der damals schwerkranke Kaufmann Sven Marcus (1876 – 1940) zur Verfügung gestellt, der allein auf einer schwedischen Insel lebte. Dieser, so berichtet Rosel Loewald, eine Freundin Lotte Lasersteins, später, „kam dann eines Tages in die Stadt, und die beiden heirateten. Er kam mit einem kleinen Blumenstrauß und die beiden wurden irgendwo getraut. Er fuhr zurück auf seine Insel und die beiden sahen sich nie wieder.“⁷ Durch diese Scheinehe erhielt Lotte Laserstein die schwedische Staatsbürgerschaft, und als „svensk medborgare“ (schwedische Staatsbürgerin) musste sie sich auch nicht mehr alle drei bis sechs Monate den schwedischen Behörden zwecks Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung vorstellen. Zudem war sie als „tyskfödd svenska“ (deutschstämmige Schwedin) auch nicht mehr der zunehmenden Emigrantenfeindlichkeit und dem latenten Antisemitismus in ihrer Umgebung ausgesetzt. Mit der eigenen Rettung durch die neue formale Identität als Schwedin, die eine Ausweisung oder mögliche Deportation unmöglich machte, gingen aber auch große Schuldgefühle einher, die sich noch mehrten, nachdem Lotte Laserstein erfuhr, dass ihre Mutter 1943 im KZ Ravensbrück ums Leben gekommen war und ihre Schwester Käte, die zwar in einem Versteck in Berlin überlebte, stark traumatisiert war. Im Nachlass von Lotte Laserstein, der in der Berlinischen Galerie aufbewahrt wird, finden sich mehrere Schriftstücke, die ihre vergeblichen Versuche dokumentieren, Mutter und Schwester rechtzeitig aus Deutschland herauszuholen. In den Unterlagen befindet sich auch ein Fragebogen der schwedischen Behörden zwecks Einreiseersuchen. Unter der Rubrik 9 wird explizit nach der Rassezugehörigkeit gefragt (Abb. 12). Brief an Traute Rose vom 14. 5. 1946. Nachlass Lotte Laserstein. Berlinische Galerie. Zitiert nach: Krausse, Lotte Laserstein, Fn 377, S. 331.
Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein
Abb. 12: Fragebogen – Rassezugehörigkeit
195
196
Elke-Vera Kotowski
1946 wurde der schriftliche Kontakt mit der engen Vertrauten Traute Rose, der in den Kriegsjahren abgebrochen war, wieder aufgenommen. Diese Briefe spiegeln jene Zerrissenheit, Trauer und die Schuldgefühle wider, die Lotte Laserstein über viele Jahre – wenn nicht gar bis zu ihrem Lebensende – mit sich trug. In einem Brief vom 29. Juni 1946, der sich ebenso in ihrem Nachlass befindet, schreibt sie an ihre Freundin Traute Rose, die den Krieg über in Deutschland blieb: Schweden ist schön, […] die Menschen freundlich, aber bei allem Mitgefühl doch unberührt. Niemand kann es voll mitfühlen und selbst ich, was weiß ich! So bleibt hier bei aller Freundschaft und allen herzlichen Beziehungen immer eine Kluft. Aber dieselbe Kluft wird mich trennen – und noch weiter – von denen, die es dort [in Deutschland] erlebt haben. Das ist das Schicksal von uns Emigranten.
Der Abend über Potsdam stellt wie erwähnt aus heutiger Sicht ihr Meisterwerk dar, allerdings symbolisiert es auch eine künstlerische Wende. Wie hieß es doch eingangs: „Die ‚Neue Sachlichkeit‘ ist kein Ruhepunkt, kein Ziel, sondern Etappe einer Wanderung.“ Diese Wanderung führte Laserstein sowohl schöpferisch als auch geografisch weit weg von der Weimarer Zeit. Mag die Wanderung noch so manche Etappen in ihrem 94-jährigen Leben genommen haben. Nach Deutschland zurückgekehrt ist sie seit 1937 nie mehr. Der Abend über Potsdam blieb auch im Exil und darüber hinaus Teil ihrer Identität. Das Bild hing bis zuletzt über ihrem Bett. So war sie ihren in Deutschland zurückgelassenen Freunden stets nahe. Nach Jahren des Exils hatte sie in Schweden eine Heimat gefunden. Sie starb 1993 im Alter von 94 Jahren in Kalmar. Viele ihrer Werke befinden sich in Privatbesitz, vornehmlich in Schweden und England. Der Abend über Potsdam kehrte allerdings 2010 nach Berlin zurück und hängt heute in der Neuen Nationalgalerie am Potsdamer Platz.
Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein
Abb. 13: Auszug aus einem Brief von Lotte Laserstein an Traute Rose vom 29. Juni 1946
197
198
Elke-Vera Kotowski
Abb. 14: Von Lotte Laserstein verschickte Neujahrsgrüße aus dem Jahr 1971
Anna-Dorothea Ludewig
„Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“¹ Nelly Sachs (1891 – 1970) zwischen Berlin und Stockholm Nelly Sachs ist eine der bekanntesten und unbekanntesten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts zugleich: Unbestritten ist ihre Bedeutung als Lyrikerin, ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, sie selbst ist Namensgeberin eines Literaturpreises, Schulen und Straßen sind nach ihr benannt.² Sie ist und bleibt damit eingeschrieben in die deutsche Geschichte, in Alltag und Öffentlichkeit jenes Landes, das sie nach der Shoah nie mehr betreten wollte. Das ist die eine, die allgemein bekannte Seite der Nelly Sachs, doch ebenso komplex wie ihre Lyrik ist die Biografie der als Leonie Sachs 1891 in eine säkulare jüdische Familie in Berlin geborenen und 1970 in Stockholm verstorbenen Dichterin. „Du wirst […] die von mir wiederholt ausgesprochene Bitte verstanden haben, daß ich hinter meinem Werk verschwinden will […]“, schreibt sie 1959 an den Germanisten Walter A. Berendsohn, und weiter heißt es: „[I]ch aber will, daß man mich gänzlich ausschaltet – nur eine Stimme, ein Seufzer für die, die lauschen wollen.“³ Dieser Wunsch, hinter ihrem Werk zu verschwinden, nur gehört und nicht gesehen zu werden, ist, wenigstens teilweise, in Erfüllung gegangen. Die verschiedenen Versuche, sich ihrer Person anzunähern, führen immer wieder zu ihrem Werk zurück, und das gilt ganz besonders für die Zeit vor dem schwedischen Exil: Die fast 50 Jahre, die sie in Berlin gelebt hat, sind kaum fassbar, sind nur durch bruchstückhafte autobio-
Brief von Nelly Sachs an Jacob Picard vom 19. 9. 1951. In: Briefe der Nelly Sachs. Hrsg. von Ruth Dinesen u. Helmut Müssener. Frankfurt a. M. 1984. S. 134. Alle (zumeist deutschen) Ehrungen erfolgten in Nelly Sachs’ späten Jahren (ab 1959), die renommierteste Auszeichnung ist der Literaturnobelpreis von 1966. Die Stadt Dortmund verleiht seit 1961 alle zwei Jahre einen Nelly-Sachs-Preis, die erste Preisträgerin war sie selbst (in Abwesenheit). In Deutschland sind verschiedene Schulen und Straßen nach der Dichterin benannt. Anlässlich ihres 100. Geburtstages gab die Deutsche Bundespost eine Sonderbriefmarke mit ihrem Porträt heraus, auch im Rahmen der Serie „Frauen der deutschen Geschichte“ erschien 2001 eine Briefmarke der Deutschen Post mit ihrem Porträt, und zum 125. Geburtstag wurde 2016 erneut eine Nelly Sachs gewidmete Sonderbriefmarke nebst Gedenkmünze aufgelegt. Brief von Nelly Sachs an Walter A. Berendsohn vom 25. 6. 1959. In: Briefe der Nelly Sachs, S. 217 f. Vgl auch Fioretos, Aris: Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/ Stockholm. Berlin 2010. S. 6. https://doi.org/9783110532289-011
200
Anna-Dorothea Ludewig
grafische Äußerungen belegt und lassen mehr erahnen als wissen; und das ist von Nelly Sachs selbst auch ausdrücklich so gewünscht: Als Quelle für mein Bemühen, die größte Tragödie unseres Volkes dichterisch anzugreifen zu wagen, genügte es, ein persönliches Schicksal anzudeuten, das in der Hitlerzeit in einen Opfertod mündete. Alles andere soll und muß im Dunkel ruhen. Die herzzerreißende Tragik unseres Schicksals soll und darf außerdem nicht verkleinert werden, durch die vielen in diesem Zusammenhang gänzlich unnötigen Unterrichtungen über frühe Bemühungen in unbedeutenden Versuchen, oder gar Aussprüche meines Vaters, die dahin lauten, daß er mich wirtschaftlich ausgebildet haben will und nichts von meinen früheren Dingen hielt. Man kann nicht Kochkenntnisse, und anderes, in einem Literaturwerk nicht hineingehöriges bringen, dies soll man Reportern in illustrierten Zeitungen überlassen.⁴
Aus diesen an Berendsohn gerichteten Zeilen spricht nicht nur der Wunsch, als Persönlichkeit verborgen zu bleiben und damit andere und sich selbst zu schützen,⁵ sondern auch die Angst, durch die Preisgabe privater Details von ihrem ganz der Shoah und ihren Opfern gewidmeten Werk abzulenken und es damit möglicherweise zu banalisieren. Dass Sachs ihr Schweigen zu biografischen Details allerdings so stark betont, dass es dadurch selbst zu einem Topos wird, ist immerhin bemerkenswert, und dieser „doppelten Geste“⁶ aus Gesagtem und Widerrufenem gilt es nachzuspüren.
Kindheit und Jugend in Berlin Für die Rekonstruktion von Nelly Sachs’ Kindheit wird immer wieder das unveröffentlichte Werk Chelion ⁷ herangezogen, in dem sich die Innenwelt einer ge-
Brief von Nelly Sachs an Walter A. Berendsohn vom 7. 9. 1959. Nelly Sachs samling, Kungl. Biblioteket Stockholm, L 90:2. Der Brief bezieht sich auf eine biografische Skizze, die Berendsohn bereits zu diesem Zeitpunkt plante. Den ihr zu Korrektur und Ergänzung vorliegenden Entwurf lehnt Nelly Sachs, wie auch das Zitat deutlich macht, entschieden ab; sie fühlt sich von den detaillierten Ausführungen des Germanisten zu ihrem Privatleben sogar verletzt und wirft ihm vor, ihr Vertrauen missbraucht zu haben. In diesem Brief an Berendsohn (7. 9. 1959) bittet Nelly Sachs nachdrücklich darum, dass keine Namen aus ihrem Bekanntenkreis genannt werden. Fioretos, Flucht und Verwandlung, S. 7. Chelion ist ein Anagramm ihres Kosenamens Lichen (Leonie – Nelly – Lichen), der von den engen Freundinnen auch noch im Erwachsenenalter verwendet wird. Abgesehen davon stimmen wesentliche Angaben in der Geschichte mit der Biografie von Nelly Sachs überein, und so können die darin enthaltenen Angaben zu den frühen Jahren mit aller Vorsicht zur Vervollständigung
„Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“
201
liebten, aber einsamen Tochter spiegelt. Gerade dieses kindlich anmutende Prosawerk scheint auf ein frühes inneres Exil zu verweisen, es sind märchenhafte Traumwelten, in die sich das Mädchen vor der Realität flüchtet, ihre überschäumende Fantasie, die in Chelion deutlich wird, bildet eine Barriere zu den Altersgenossinnen und ihren Interessen. Bereits hier „verschwindet“ sie, entzieht sich, wer sich ihr annähern möchte, muss die Barrieren überwinden, muss „lauschen“. Ob die Eltern, deren einziges Kind sie aus unbekannten Gründen blieb,⁸ diese Einsamkeit förderten, die Tochter übermäßig behüten und schützen wollten, sei dahingestellt. Die Mutter selbst findet in Chelion kaum Erwähnung, bleibt eine Randfigur, während die Beziehung zu ihrem Vater geprägt ist von distanzierter Bewunderung und kindlicher Sehnsucht: Georg William Sachs leitete erfolgreich das von seinem Vater gegründete Familienunternehmen und war gleichzeitig ein musischer Mensch, seine Liebe galt der Literatur und Musik, an beidem ließ er seine Tochter teilhaben: Seine Bibliothek stand ihr offen, und zu seinem Klavierspiel tanzte die kleine Nelly „ins Märchenland“.⁹ Das Klavierspiel des Vaters, in Chelion zur „Vorübung für die himmlische Musik“¹⁰ verklärt, und der Tanz des Kindes sind unauflösbar miteinander verwoben. In einem Geburtstagsbrief an den Vater spricht das Mädchen Chelion von ihren Versagensängsten, die nur über die musikalisch-tänzerische Ebene kompensiert werden können: Und weil ich nun alles so schlecht mache und nicht rechnen kann und die vielen Fehler beim Schreiben und immer vor Angst beim Gedichtaufsagen stecken bleibe, da möchte ich tanzen, wenn Du spielst, immer Tag und Nacht und ich möchte Dir alle meine Tänze schenken.¹¹
Diese Weltflucht wurde durch die für eine städtische Wohnlage ungewöhnliche Umgebung ermöglicht und verstärkt: Die Familie lebte zunächst in Schöneberg, zog aber 1894 nach Bellevue/Tiergarten; in der Nachbarschaft lebte das aufstrebende (jüdische) Bürgertum. Der zur Wohnung gehörende Garten wird zum zen-
ihrer Lebensgeschichte herangezogen werden. Einschränkend ist allerdings hinzuzufügen, dass dieses Werk kurz nach dem Tod des Vaters (26. 11. 1930) begonnen wurde; Schmerz und Verlust führen sicher auch zur Verklärung der kindlichen Episoden, Gabriele Fritsch-Vivié spricht von „einer wie unter dem Weichzeichner konturlos gewordenen Retrospektive“. Fritsch-Vivié, Gabriele: Nelly Sachs. Reinbek 2010. S. 25. Die Mutter Margarete, geb. Karger, war bei ihrer Geburt erst 20 Jahre alt. Ein verstorbenes „Brüderchen“ wird in einem Gedicht erwähnt. Vgl. Fritsch-Vivié, Nelly Sachs, S. 23. Dähnert, Gudrun: Wie Nelly Sachs 1940 aus Deutschland entkam. In: Sinn und Form 2 (2009). S. 226 – 275, hier S. 229. Sachs, Nelly: Chelion. Eine Kindheitsgeschichte. Unveröffentl. Typoskript. Kungl. Biblioteket Stockholm: L 90:5:12:3 (Abschrift des Originals), S. 25. Sachs, Chelion, S. 55.
202
Anna-Dorothea Ludewig
tralen (Rückzugs‐)Ort für das Kind, das dort in relativer Einsamkeit lebt, umgeben von Pflanzen und Tieren: „Reh, Ziege, Hunde als Gesellschaft von dem sehr tierliebenden Vater dem Kinde geschenkt.“¹² Die Tiere sind ihre Freunde, der Bernhardiner Flock ihr Beschützer und das Reh, Abendschön genannt, ihr „Brüderchen“.¹³ Aber das von Nelly Sachs so bezeichnete und geliebte „Paradiesgärtlein“ wird zum hortus conclusus.¹⁴ Das Motiv des verschlossenen (Paradies‐)Gartens geht auf das Hohe Lied zurück: „Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell“ (Hohes Lied 4,12). Es wurde in der mittelalterlichen Ikonografie eng mit der keuschen Jungfräulichkeit Mariens verbunden. Diese Ver- und Abgeschlossenheit ist ein Leitmotiv in Nelly Sachs’ Leben, dessen Wurzeln offensichtlich in der frühen Kindheit liegen: Unbeschwertheit und Isolation scheinen hier untrennbar miteinander verbunden worden zu sein. Vor diesem Hintergrund ist das vom Vater geschenkte Reh real und sinnbildlich zugleich und wird auch zum Motiv eines frühen Gedichts, in dem sich das Leben als Bedrohungssituation offenbart, die nur kurzfristig von einer Idylle überdeckt (verdrängt?) werden kann – in die Schönheit und Scheu des Fluchttieres ist nicht nur die Vergänglichkeit, sondern die Vernichtung bereits eingeschrieben: Rehe Sie sind des Waldes leise Legenden, Darin die Geheimnisse zärtlich verenden Der Bäume, der duftenden Blumen der Nacht. Im Auge des Springquells jenseitiges Leuchten, So wandeln die weither aufgescheuchten Und streifen den Tau mit den Hufen sacht. Haar rauchend vor Scheu, und immer im Leide, Wenn eine Kugel auf traumtiefer Weide Hinpflügt, was nie ganz zum Tage geweckt – Es zeichnet der feuchte Schmerz sich im Moose, Ein müdes Blatt noch färbt sich zur Rose, Und Leben hat immer wie Abschied geschmeckt.¹⁵
Wohl aufgrund ihrer zarten Konstitution wurde Nelly Sachs viel zu Hause unterrichtet, besuchte aber auch zwei Schulen und beendete eine Höhere Mädchen-
Walter Berendsohn, zit. nach Fioretos, Flucht und Verwandlung, S. 20. Vgl. Sachs, Chelion, die verschiedenen Tiere finden dort mehrfach Erwähnung. Zur Analogie von „Paradiesgärtlein“ und hortus conclusus vgl. Fioretos, Flucht und Verwandlung, S. 17 f. Zit. nach Fritsch-Vivié, Nelly Sachs, S. 28.
„Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“
203
schule; Ambitionen, eine Ausbildung zu absolvieren oder ein Studium aufzunehmen, scheinen nicht bestanden zu haben. Eine enge Bindung zu Hélène Aubert, ihrer ehemaligen Schulleiterin und Lehrerin, blieb bestehen, die Pädagogin hatte, wie sich später zeigen sollte, großen Einfluss auf das junge Mädchen. Auch einige wenige enge (Frauen‐)Freundschaften sind prägend und bilden ein lebenslanges Netzwerk, das ihr schließlich auch das Leben retten sollte. Die Eheschließungen ihrer Freundinnen sind stets tiefe Einschnitte, kommt es mit diesem Schritt doch zwangsläufig zu einer Entfremdung, die durch einen Wechsel des Wohnortes oft noch verstärkt wird. Nelly Sachs selbst hat nie geheiratet, ihre Jugend wurde überschattet von der existentiellen Erfahrung einer enttäuschten Liebe zu einem bis heute unbekannten Mann, eine Liebe, die sie fast getötet hätte, die aber zur „eigentlichen Quelle ihrer Dichtung“¹⁶ wurde. Jede Auskunft über ihren einzigen Geliebten hat sie stets verweigert, selbst ihrer engen Vertrauten Gudrun Dähnert, geb. Harlan, erklärte sie noch im Jahr vor ihrem Tod: „Der einzige Mensch der es wusste, war mein Muttchen, und sie hat das Geheimnis mit ins Grab genommen.“¹⁷ Warum diese Beziehung nicht zustande kam, ob sie nicht ‚standesgemäß‘ war, ob es sich um einen verheirateten oder einen homosexuellen Mann handelte, wurde nie dokumentiert, dennoch agiert Nelly Sachs auch hier ambivalent, wenn sie im Sinne der „doppelten Geste“ eine enigmatische Spur legt: Zahlreiche Andeutungen über die Bedeutung dieses einen Mannes für ihr Leben und Werk haben Spekulationen befördert und dem Unbekannten, der, wie sie in Briefen und persönlichen Gesprächen preisgab, später in einem Konzentrationslager ermordet wurde, einen zentralen Platz in der Rezeptionsgeschichte gesichert.¹⁸ Die Reaktion der jungen Nelly Sachs auf diese unglückliche, gescheiterte, möglicherweise verbotene Liebe war die Verweigerung von Nahrung – Anorexie, Magersucht, eine viel diskutiertes Krankheit, an der typischerweise Mädchen und junge Frauen leiden. Obwohl die Magersucht überwiegend als zeittypische Störung wahrgenommen wird, „schön, schlank und erfolgreich“¹⁹ sollen Frauen heute sein, „liegen ihre Wurzeln – nachweisbar – schon im 19. Jahrhundert“.²⁰
Dinesen, Ruth: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1994. S. 112. Dähnert, Nelly Sachs, S. 227. Vgl. dazu auch Dähnert: Nelly Sachs, S. 112 ff. Mit dem in dem Band „In den Wohnungen des Todes“ (1947) enthaltenen Gedichtzyklus „Gebete für den toten Bräutigam“ (entstanden 1944/ 1945) hat Nelly Sachs ihrem Geliebten ein lyrisches Denkmal gesetzt. Lausus, Nicola Isabelle: Die Codierung des Körpers. Essstörungen – Anorexia nervosa – im soziokulturellen Kontext der modernen Wohlstandsgesellschaft. Konstanz 2002. S. 1. Lausus, Codierung des Körpers, S. 5. Der Begriff „Anorexie“ geht auf den französischen Arzt Earnest Charles Lassek (1816 – 1883) zurück.
204
Anna-Dorothea Ludewig
Ohne der Komplexität des Themas an dieser Stelle gerecht werden zu können, ist die folgende Analyse für das Verständnis von Nelly Sachs’ Biografie hilfreich: Die Mehrzahl der Kranken waren überbehütete Musterkinder nach perfektionistischen Vorstellungen der Mutter erzogen. Sie lernten sich nach den Vorstellungen der Mutter zu ernähren, ihre eigenen körperlichen Bedürfnisse und ihr eigenes Wesen gering zu achten, den abstrakten Idealen der Eltern nachzustreben ohne Aussicht, diesen je ganz zu entsprechen. Sie fühlten sich als armseliger Spatz in einem goldenen Käfig, in dem sie hätten Paradiesvögel sein sollen und deshalb schuldig und minderwertig […].²¹
Soweit es zu rekonstruieren ist, scheinen diese Voraussetzungen auch auf die junge Nelly zugetroffen zu haben. Doch abseits jeder Spekulation kann festgehalten werden, dass sie ihre Eltern nie verlässt und Vater und Mutter bis zu deren jeweiligen Tod pflegt. Die kindlichen Bindungen blieben bestehen und anstelle eines eigenen Lebens steht der bereits zitierte Wunsch zu verschwinden, der sich ganz plastisch in einer anorexia nervosa äußert und überhaupt in ihren Körper eingeschrieben zu sein scheint: Alle bekannten Fotografien zeigen eine zartes, zerbrechlich wirkendes Mädchen und später eine ältere Dame, winzig, zierlich, fast kindlich wirkend. Unter der Überschrift „Ein Körper und seine Fakten“ hat Aris Fioretos, ihr physisches „Verschwinden“ dokumentiert: Als Sachs den Fuß auf schwedischen Boden setzte, war sie mindestens 1,54 Meter groß. Es ist unklar, wieviel sie wog, aber den Photos aus dieser Zeit nach zu urteilen, dürften es ungefähr 50 Kilo gewesen sein. Sie hatte Schuhgröße 34. In den ersten Wochen soll sie in einem Kinderbett geschlafen haben. Bei ihrer Aufnahme in der Ambulanz des Söderkrankenhauses zwanzig Jahre später, am 8. August 1960, wurde ihre Größe nicht gemessen, aber ihr Gewicht lag bei 36 Kilo. […] was einem lebensgefährlichen Untergewicht entspricht. […] Als sie einige Jahre später einen neuen schwedischen Paß beantragte und bekam, wurde ihre Größe mit 1,48 Metern angegeben. […] Tatsache: Während des ersten Vierteljahrhunderts in dem neuen Land wurde Sachs sechs Zentimeter kleiner.²²
Der Körper der Nelly Sachs erzählt seine eigene Geschichte, zeitlebens reagiert sie psychosomatisch, jede Krise spiegelt sich in ihrem Körper, dessen Sprache sie in Buchstaben überträgt, in Gedichte, um ihre Krisen im wahrsten Sinne des Wortes Zit. nach Lausus, Codierung des Körpers, S. 1. Vgl. auch Heigl-Evers, Annaliese/Boothe, Brigitte: Der Körper als Bedeutungslandschaft. Die unbewusste Organisation der weiblichen Geschlechtsidentität. 2. Korr. Aufl. Bern [u. a.] 1997: „Charakteristisch entwickelt sich die magersüchtige Patientin als ein überaus gefügiges, übereinfühlsames Kind, das bei der erwachsenen Person das Entstehen von Schuldgefühlen vermeiden will. Es kann nicht bitten, nicht fordern, nicht verlangen, aus dem Gefühl heraus, von einem gnadenlosen Gewissen verurteilt und verdammt zu werden.“ (S. 116) Fioretos, Flucht und Verwandlung, S. 116.
„Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“
205
zu überleben. Denn nachdem sie als Jugendliche die akute Phase der Magersucht überwunden hatte, rettend war hier wohl auch die Autorität von Hélène Aubert, die ihr das Versprechen abnahm, jeden Tag „wenigstens etwas Sahne“²³ zu essen, begann sie auf Rat ihres Arztes, des Neurologen Richard Cassirer, literarisch zu arbeiten: „Er war es auch, der zuerst die junge Dichterin in ihr entdeckte und ihr den Weg zur Selbstbefreiung durch das Wort öffnete.“²⁴ Doch erst die Erfahrung des „Leben[s] unter Bedrohung“²⁵ im Nationalsozialismus legte sie auf diese Ausdrucksform fest: „Nur durch die Schwere des Schicksals, das mich betraf, bin ich von dieser Ausdrucksweise [dem Tanz] zu einer anderen gekommen: dem Wort!“²⁶
Flucht aus Berlin Nelly Sachs entschloss sich spät zur Flucht; wie viele andere wollte auch sie zunächst nicht wahrhaben, dass sie aus Deutschland würde weggehen müssen, um ihr Leben und das ihrer Mutter zu retten. Und natürlich war für sie ein Neubeginn auch jenseits dieser Umstände nicht einfach: Mit knapp 50 Jahren hatte sie ihre Geburtsstadt Berlin nie für längere Zeit verlassen, war keine Ehe eingegangen und hatte keine eigene Familie gegründet. Als Tochter war sie in ihrem Elternhaus gealtert und nach dem Tod des Vaters 1930 mit ihrer Mutter allein zurückgeblieben. Die Betreuung der fast 70-jährigen gebrechlichen Dame nahm sie voll in Anspruch, denn während in den 1930er-Jahren „die Unabhängigen, die Jungen wegzogen“, blieben besonders viele jüdische Frauen zurück, die „sich um Menschen kümmern mussten, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Gesundheit keine Chance auf eine Emigration hatten und Hilfe und Pflege bedurften“.²⁷ Nelly Sachs beginnt 1939, eine Emigration nach Schweden ernsthaft in Erwägung zu ziehen, im Februar schreibt sie an die jüdische Gemeinde in Stockholm: „Hierdurch erlaube ich mir, mich mit der tiefen, inständigen Bitte an Sie zu wenden, mir be Dähnert, Nelly Sachs, S. 227. Dähnert, Nelly Sachs, S. 227. Überschrift eines von Nelly Sachs während der NS-Zeit in Berlin verfassten Prosatextes, erstmals veröffentlich in Ariel 3 (1956). S. 19. Berendsohn, Walter A.: Im Bannkreis deutscher Romantik. In: Berendsohn, Walter, A.: Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals. Darmstadt 1974. S. 13 – 20, hier S. 15. Maier-Wolthausen, Clemens: „Es liegt mir daran daß Fräulein Nelly Sachs Aufnahme in Schweden findet.“ Der Kampf um die Rettung der Nelly Sachs. In: Skandinavien als Zuflucht für jüdische Intellektuelle 1933 – 1945. Hrsg. von Izabela A. Dahl u. Jorunn Sem Fure. Berlin 2014. S. 158 – 185, hier S. 163.
206
Anna-Dorothea Ludewig
züglich Einreise und Aufenthaltsgenehmigung in Schweden für meine Mutter und mich, Ihre Ratschläge zu erbitten.“²⁸ Mit einem Verweis auf den seit ihren Jugendjahren bestehenden Briefkontakt zur der bekannten schwedischen Schriftstellerin Selma Lagerlöf und einem beigelegten Gedicht, unterstreicht sie ihr dringliches Anliegen, dass, wie sie weiß, von allen noch in Deutschland verbliebenden Juden geteilt wird. Schweden war für Nelly Sachs durch Lagerlöfs „Werke ein Land der Träume geworden“,²⁹ dessen restriktive Einwanderungspolitik einer Aufnahme von Flüchtlingen allerdings stark erschwerte; insgesamt wurde „wohl nicht mehr als 3.500 bis 4.000 jüdischen Flüchtlingen ein zeitweiliges oder dauerhaftes Asyl in Schweden gewährt“.³⁰ Als Retterin aus der im Jahr 1939 schon fast ausweglos erscheinenden Lage erweist sich Nelly Sachs’ enge Freundin Gudrun Harlan, verheiratete Dähnert, Enkelin der verehrten Lehrerin Hélène Aubert, die hier ein weiteres Mal, wenn auch indirekt, helfend in das Leben ihrer Schülerin eingreift. Gudrun Harlan also reist im Frühsommer 1939 nach Schweden, um dort Unterstützung und Unterstützer für Nelly Sachs und ihre Mutter zu gewinnen.³¹ Mithilfe ihres weitverzweigten Netzwerkes und einer beispiellosen Überzeugungskraft kann sie auch prominente Fürsprecher gewinnen, wie Prinz Eugen, den Bruder des schwedischen Königs, der in diesen Jahren ein wichtiger Unterstützer der Flüchtlinge war, und eben Selma Lagerlöf, der Harlan die berühmt gewordene Notiz abringt: „Es liegt mir daran daß Fräulein Nelly Sachs Aufnahme in Schweden findet.“³² Kurz darauf stirbt die 81-jährige Nobelpreisträgerin. Doch es bleibt schwierig, die erlösende Einreiseerlaubnis zu erhalten, und der folgende bürokratisch-organisatorische Prozess, den Clemens MaierWolthausen in seinem 2014 erschienenen Aufsatz erstmals detailliert rekonstruiert hat, scheint sich endlos hinzuziehen. So verlangen die schwedischen Behörden neben dem Affidavit, den Vera Lachmann, eine weitere enge Freundin Nelly Sachs’, von dem Yale-Professor Hermann J. Weigand erfolgreich erbeten hatte, finanzielle Garantien für den Lebensunterhalt. Nach Ausbruch des Krieges kompliziert sich die Lage noch weiter, und gleichzeitig wird die Situation für Mutter und Tochter Sachs in Berlin immer bedrohlicher. Buchstäblich in letzter
Zit. nach Maier-Wolthausen, „Es liegt mir daran …“, S. 164. Dähnert, Nelly Sachs, S. 243. Maier-Wolthausen, „Es liegt mir daran …“, S. 160. Über ihre Beziehung zu Nelly Sachs und insbesondere die Umstände der Flucht nach Schweden äußert sich Gudrun Dähnert in dem bereits erwähnten Beitrag „Wie Nelly Sachs 1940 aus Deutschland entkam“. Selma Lagerlöfs Notiz war für Nelly Sachs sicher hilfreich, hat aber keinesfalls unmittelbar zu ihrer Rettung geführt, wie vielfach behauptet wird. Vgl. dazu auch Maier-Wolthausen: „Es liegt mir daran …“. Zit. nach dem titelgebenden Zitat von Maier-Wolthausens Aufsatz „Es liegt mir daran …“.
„Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“
207
Minute kommt im März 1940 die Bewilligung für ein Transmigrationsvisum aus Schweden, während Nelly Sachs parallel dazu die Aufforderung erhält, sich zum Arbeitseinsatz zu melden. Diesen ignoriert sie auf Rat eines ihr bekannten Gestapo-Offiziers und besteigt mit ihrer Mutter eines der letzten Flugzeuge, die Deutschland verlassen. Die Flucht ist geglückt, trotz der passiven Haltung von Nelly Sachs und dank eines unermüdlich tätigen Netzwerks von Freunden und Helfern, die sich ihre Rettung und die ihrer Mutter zur Aufgabe gemacht hatten.
Ankommen im Exil Die Lebensbedingungen, die sich ihnen nun bieten, sind alles andere als komfortabel: Armut und Ausgrenzung prägen insbesondere die ersten Jahre in Schweden, dazu kommt zu Beginn die Angst, dass die begrenzte Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert wird. Mutter und Tochter leben nun gemeinsam in einer Einzimmerwohnung im Süden Stockholms: Södermalm, Bergsundsstrand 23. Lichtlos und kalt ist die Wohnung, die Fenster gehen zum Hof, Margarete Sachs ist alt und krank, Nelly einsam und verängstigt, beide sind überfordert mit der Verrichtung der alltäglichen Dinge in der neuen Umgebung. Erst 1948 wird ihnen der Umzug in eine etwas größere Wohnung im selben Haus ermöglicht, die im zweiten Obergeschoss liegt, ein Zimmer mit Küche, mit Fenstern zur Wasser- und Sonnenseite. Hier wird Nelly Sachs bis zu ihrem Tode bleiben. Auch wenn die Ankunft in Stockholm, im Exil mit zahllosen Schwierigkeiten, Heraus- und Überforderungen verbunden ist, regt der erste Sommer in Schweden Nelly Sachs doch zu dem Gedichtzyklus Miniaturen um Schloß Gripsholm an, der, von Melancholie durchzogen, dennoch von Hoffnung spricht und als Hommage an ihren Zufluchtsort gelesen werden kann: 8. Bauerngarten Ich sehe zwei Schwalben üben Den Abschied, und sehe den Baum An einem Mäuerchen trüben Die Sonne mit nächtlichem Traum. Die Ringelblume steht offen, Die Lilie duftet von weit … Ein Engel pflanzte das Hoffen In die Beete der Einsamkeit.³³
Sachs, Nelly: Miniaturen um Schloss Gripsholm. Typoskript. Kungl. Biblioteket Stockholm, L 90:5:11:3.
208
Anna-Dorothea Ludewig
Schon früh entsteht um Nelly Sachs und ihre Mutter wieder ein Freundeskreis, der den beiden Frauen, ähnlich wie bereits in Berlin, in schwierigen Situationen zur Seite steht. Zu nennen ist hier zunächst Walter A. Berendsohn, der zu einem ihrer engsten Vertrauten, zu ihrem Förderer und Bewunderer wird. Schon in den „ersten ungedruckten Gedichten“ erkennt er „melodisch-rhythmische Gebilde einer Dichterin von hohem Rang“.³⁴ Ein weiterer Unterstützer ist Enar Sahlin, ein Freund Selma Lagerlöfs, der Mutter und Tochter in ihrem ersten Stockholmer Sommer sein Haus zur Verfügung stellt. Und auch mit dem Komponisten Moses Pergament verbindet sie bald eine tiefe Freundschaft, die auch seine Frau Ilse mit einschließt.³⁵ Die Zusammenarbeit der beiden, Pergament vertont u. a. das Mysterienspiel Eli, verlief allerdings nicht ohne Konflikte, und die Verbindung zerbrach 1960 an einer ihrer schweren psychischen Krisen. Durch Übersetzungen aus dem Schwedischen verdient Nelly Sachs ein wenig Geld, obwohl sie die Sprache wohl nie gut schreibt und spricht, hat „sie zu der jüngeren schwedischen Lyrik […] sofort einen Zugang, und ihre Übersetzungen ins Deutsche werden sehr bald schon anerkannt“.³⁶ Sie schreibt nachts, wenn die Mutter schläft, und 1947 erscheint auch ihr erster eigener Gedichtband beim Berliner Aufbau-Verlag: In den Wohnungen des Todes, der übrigens nie vergütet wird, weil sich ein Transfer des Honorar von Ost-Berlin nach Stockholm als unmöglich erweist.³⁷ Wie ist es dazu gekommen, dass Nelly Sachs, mit 55 Jahren, aus dem buchstäblichen Nichts heraus, ihre Sprache findet, mehr noch: Worte für das Unsagbare findet? Denn auch wenn sie immer geschrieben hat, bereits als Kind und später als ‚Therapie‘, und vereinzelt auch Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften publizieren konnte, ist sie doch bis zu diesem Zeitpunkt als Schriftstellerin nie wirklich in Erscheinung getreten und wahrgenommen worden. Hinzu kommt, dass das Judentum für sie eine Exilerfahrung ist: In ihren Berliner Jahren scheint sie, soweit sich das nachvollziehen lässt, kein großes Interesse an ihren religiösen Wurzeln gehabt zu haben. Die Familie pflegte – wenn überhaupt – ein säkulares Judentum, wie es die Mehrheit der bürgerlichen Familien tat. Hervorzuheben sind ihre Beschäftigung mit der Romantik, insbesondere mit Novalis und Hölderlin,
Berendsohn, Walter A.: Weltruhm im biblischen Alter. In: Berendsohn, Nelly Sachs, S. 121– 128, hier S. 126. Zur Ankunft in Schweden vgl. auch Fritsch-Vivié, Nelly Sachs, S. 82 ff. Fritsch-Vivié, Nelly Sachs, S. 84. In einem Brief vom 16. 9. 1946 stellt der Aufbau-Verlag in Aussicht, die Honorare „bei unserer Bank für Sie [zu] deponieren. […] Falls Sie in Deutschland – in der russischen Zone bestehen überhaupt keine Überweisungsschwierigkeiten – eine sofortige Überweisung wünschen, sehen wir ihrer Mitteilung gerne entgegen.“ Kungl. Biblioteket, L 90:1.
„Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“
209
und mit der Gestalt des Franz von Assisi, dem sie Sonette widmet; beides verweist auf eine zeittypisch bürgerlich-christliche Bildung und Prägung. Erst mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wird Nelly Sachs zwangsläufig mit ihrem Judentum konfrontiert: Sie kann, soweit sie das überhaupt tut, nur noch in jüdischen Periodika publizieren, ihre Gedichte erscheinen in der C.V.-Zeitung und in Der Morgen, und ihre Werke werden bei Veranstaltungen des Jüdischen Kulturbundes vorgetragen. Aber auch in dieser Zeit stehen jüdische Themen nicht im Vordergrund ihrer Dichtung. Wenige Jahre später, im schwedischen Exil, ist es Nelly Sachs, die dem Chor der jüdischen Opfer eine Stimmer verleiht, die Totenklagen und Verse der Erinnerung dichtet, zu einer Chronistin der Shoah wird, die „Gedichte die, […] ganz plötzlich wie ein Blutstrom aufsprangen“³⁸ schreibt: Die furchtbaren Erlebnisse, die mich selbst an den Rand des Todes und in die Verdunklung gebracht haben, sind meine Lehrmeister gewesen. Hätte ich nicht schreiben können, so hätte ich nicht überlebt. Der Tod war mein Lehrmeister. Wie hätte ich mich mit etwas anderem beschäftigen können; meine Metaphern sind meine Wunden. Nur daraus ist mein Werk zu verstehen.³⁹
Selbst dem Tod entronnen zu sein, wird angesichts des Leides des jüdischen Volkes zu einer traumatischen Erfahrung, zu einem existenziellen Problem und führt fast zwangsläufig wenn nicht zu einer religiösen Hinwendung so doch zu einer Auseinandersetzung mit dem Judentum. Die jüdische Geschichte und Mystik werden nun zu zentralen Themen ihres Lebens: Martin Bubers chassidische Legenden regen sie zu einer Beschäftigung mit der jüdischen Mystik, insbesondere mit der Kabbala an. Neben dieser theoretischen Auseinandersetzung mit ihrem Judentum und dem Judentum als Schicksals- und Leidensgemeinschaft wird die Begegnung mit der knapp 40 Jahre jüngeren Lenke Rothmann ein entscheidendes Moment im Leben der Nelly Sachs: 1951 treffen sich eine junge ungarische Jüdin, die mit 15 Jahren nach Auschwitz deportiert wurde, dort nahezu ihre gesamte Familie verlor, drei Lager überlebte und physisch und psychisch schwer geschädigt in Schweden versorgt wurde, und eine ältere Dichterin, deren Wunden weniger körperlicher als seelischer Natur sind, die mit Worten um ihr Überleben ringt, und werden Freundinnen. Mit Lenke Rothmann, die aus einer chassidischen Familie stammt und tief in einem mystischen Judentum verwurzelt ist, werden Chassidismus und Shoah für Nelly Sachs erfahrbar. Die junge Frau eröffnet ihr
Brief von Nelly Sachs an Paul Celan vom 27. 5. 1958. In: Paul Celan/Nelly Sachs Briefwechsel. Hrsg. Von Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M. 1996. S. 17. Brief von Nelly Sachs an Gisela Dischner vom 12. 7. 1966. Zit. nach: Schweizer, Erika: Geistliche Geschwisterschaft. Nelly Sachs und Simone Weil – ein theologischer Diskurs. Mainz 2005. S. 19
210
Anna-Dorothea Ludewig
einen konkreten Zugang zur Spiritualität, die sich in ihrer Lyrik entfalten kann und die für die nach dem Tod der Mutter einsamen Nelly Sachs ein großer Trost wird. Auch diese enge Bindung löst sich zwangsläufig mit der Heirat von Lenke Rothmann, wieder ein Einschnitt, der für Nelly Sachs nur schwer zu verkraften ist.⁴⁰
Krankheit und Ruhm In Stockholm ist ihr Freundeskreis bemüht, die immer wiederkehrenden Schübe psychischer Instabilität zu kompensieren. Der bereits erwähnte Tod der Mutter im Jahr 1950 stürzt Nelly Sachs in eine tiefe Krise: Mit Margarete Sachs war ihre wichtigste, ihre zentrale Bezugsperson gestorben, mit ihr hatte sie immer zusammengelebt und nach dem Tod des Vaters im Jahr 1930 hatte sich diese Symbiose, wenn überhaupt möglich, noch verstärkt. Die lange Krankheit und Bettlägerigkeit des „geliebten Muttchens“ hatten sie zudem so stark in Anspruch genommen, dass die entstandene Lücke umso größer war. Und mit dem Tod der Mutter war der Lebensfaden nach Berlin und die Erinnerung an glücklichere Tage endgültig durchtrennt „Für ihre Tochter […], deren Seelenbahn sie bis in die kleinsten Verzweigungen hinein mit Licht erfüllte, ist der Mantel einer Heimat abgefallen und kein Trost der Welt reicht aus für diese Beraubung.“⁴¹ Auch Enar Sahlin stirbt in diesem Jahr; für Nelly Sachs bleibt die Einsamkeit des Exils, die weder Freunde noch die langsam einsetzende internationale Anerkennung zu kompensieren vermochten. Aus ihrem Gedicht Kommt einer von ferne spricht der unüberwindliche Verlust von Heimat: Kommt einer von ferne mit einer Sprache die vielleicht die Laute verschließt mit dem Wiehern der Stute oder dem Piepen
Vgl. Olsson, Anders: Nelly Sachs and Lenke Rothmann: Fragments. In: Sternverdunkelung: Lotte Laserstein och Nelly Sachs – Life in Exile. Ausstellung im Jüdischen Museum Stockholm, 17. April–31. August 2005. Stockholm 2005. S. 13 – 20. Sachs, Nelly: Margarete Sachs, geborene Karger, geboren den 9. Juni 1871, gestorben den 7. Februar 1950 am Geburtstag ihres verstorbenen Mannes (1950). In: Sachs, Nelly: Werke, Bd. IV: Prosa und Übertragungen. Hrsg. von Aris Fioretos. Berlin 2010. S. 28 – 29, hier S. 29.
„Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“
211
junger Schwarzamseln oder auch wie eine knirschende Säge die alle Nähe zerschneidet – […] Ein Fremder hat immer Seine Heimat im Arm Wie eine Waise Für die er vielleicht nichts als ein Grab sucht.⁴²
In dieser schweren Zeit sucht Nelly Sachs wieder Zuflucht in der Arbeit, die aber einen Zusammenbruch nicht mehr verhindern kann. Auch diese Krise lässt sich wieder an ihrem körperlichen Zustand ablesen: Der Körper wird zum symbolischen Hilferuf von […] Frauen, die irgendwann in ihrer Geschichte verstummt sind, weil sie gelernt haben, gesellschaftliche Rollenerwartungen über eigene Bedürfnisse zu setzen und diese schließlich durch fremde Vorgaben zu ersetzen.⁴³
Die Bemühungen der Nelly Sachs, sich anzupassen, zu verschwinden, unsichtbar zu sein, bleiben ein Leitmotiv ihres Lebens. Doch was in Berlin, in der seit Kindertagen vertrauten bürgerlichen Umgebung noch möglich war und in Stockholm der bedürftigen Mutter zuliebe noch aufrechterhalten werden musste, kann ihr nun nicht mehr gelingen. Zu tief sind die Wunden, zu dicht „das Netz aus Angst und Schrecken“,⁴⁴ um dagegen anzuschreiben. Die selbstgewählte Isolation, die „Flucht in einen rein geistigen Raum“⁴⁵ wird nach dem Tod der Mutter zum paranoiden Gefängnis; Wahnvorstellungen führen in den folgenden Jahren zu mehreren Zusammenbrüchen und zu einer Einweisung in die Psychiatrie. Wieder isst sie nicht mehr, leidet unter lebensbedrohlichem Untergewicht, scheint sich damit den Opfern der Shoah, die für sie allgegenwärtig sind, auch körperlich anzunähern, wird zeitweise entmündigt und muss sich Behandlungen mit Elektroschocks unterziehen. An Paul Celan schreibt sie 1960, mitten aus einer ihrer schwersten psychischen Krisen:
Sachs, Nelly: Kommt einer von ferne. In: Sachs, Nelly: Werke, Bd. II: Gedichte 1951– 1970. Hrsg. von Ariane Huml u. Matthias Weichelt. Berlin 2010. S. 95. Lausus, Codierung des Körpers, S. 60. Brief von Nelly Sachs an Paul Celan vom 16. 8. 1960. In: Paul Celan/Nelly Sachs Briefwechsel, S. 57. Fähnle, Johannes: Krankheit und Tod im deutschsprachigen Exil des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2012. S. 268.
212
Anna-Dorothea Ludewig
Eine Nazi-Spiritisten-Liga jagt mich so schrecklich raffiniert mit Radiotelegraph, sie wissen alles, wohin ich den Fuß setzte. Versuchten mit Nervengas als ich reiste. Schon seit Jahren heimlich in meinem Haus, hören durch Mikrophon durch Wände […].⁴⁶
Eine Zuflucht, einen sicheren Ort konnte es für Nelly Sachs nicht geben, weder im schwedischen Exil noch anderswo. Das letzte Lebensjahrzehnt, sie stirbt 1970 im Alter von 78 Jahren, ist geprägt von Krankheit und Erfolg: Ihr Werk erfährt zahlreiche Ehrungen, während sie, kaum psychisch stabilisiert, mit starken Herzproblemen zu kämpfen hat und schließlich an Krebs erkrankt. Das hohe Alter hat sie sich abgerungen, der Sehnsucht nach den „geliebten Toten“⁴⁷ nicht nachgegeben, das Weiterleben als Verpflichtung empfunden. Dennoch ist die Verleihung des Literaturnobelpreises für sie ein herausragendes Ereignis, denn mit dieser Würdigung erfahren ihr Werk, ihre Persönlichkeit und ihr Schicksal internationale Anerkennung – und damit auch die Opfer der Shoah, denen ihre Dichtung gewidmet ist. Doch es gibt auch noch eine andere, eine persönliche Ebene, die Walter A. Berendsohn in seinen Glückwünschen zum Nobelpreis und zum 75. Geburtstag formuliert: „[…] der Dir zugleich zum wahrlich ‚märchenhaften‘ Ehrentag wurde mit dem König selbst als Deinem artigen Kavalier, der Dir die Hand küßte, ehe er Dich zu Tische führte.“⁴⁸ Nelly Sachs’ Leben hatte, bei aller Härte ihres Schicksals und bei aller Hingabe und Selbstaufopferung, immer auch „märchenhafte“ Elemente, so sieht es Berendsohn, so schreibt es Gudrun Dähnert⁴⁹ und so formuliert es auch Nelly Sachs selbst: Chelions Traumwelt, so scheint es, blieb auch für die betagte Nelly Sachs ein Sehnsuchtsort. „Das Exil ist eine Krankheit“,⁵⁰ konstatiert Hilde Spiel, und dieses Schicksal teilt Nelly Sachs mit zahlreichen anderen Flüchtlingen aus Hitler-Deutschland: Heimweh, (selbstgewählte) Isolation, Schuldgefühle, unbewältigte Traumata sind nur einige wenige Faktoren, die zu Krankheit und Tod führten, immer wieder auch zum Freitod. Zudem erschwerten Nelly Sachs’ instabile psychische und physische Konstitution sowie ihr fortgeschrittenes Alter zusätzlich ein Ankommen in Schweden: Als Tochter hatte sie nie ihr Elternhaus verlassen und auch ihrer Heimatstadt Berlin kaum je den Rücken gekehrt. Doch auch Kosmopoliten wie Brief von Nelly Sachs an Paul Celan vom 25. 7. 1960. In: Paul Celan/Nelly Sachs Briefwechsel, S. 52 f. Brief von Nelly Sachs an Paul Celan vom 16. 8. 1960. In: Paul Celan/Nelly Sachs Briefwechsel, S. 57. Brief von Walter A. Berendsohn an Nelly Sachs vom 19. 12. 1966. Kungl. Biblioteket, L 90:1. Gudrun Dähnert spricht insbesondere in Bezug auf die geglückte Flucht von Nelly Sachs mehrfach von einem „Märchen“, einer „Märchenzauberformel“ etc. Spiel, Hilde: Psychologie des Exils. In: Neue Rundschau 3 (1975). S. 424– 439, hier S. 424.
„Hier oben in der Nähe des Polsternes ist die Einsamkeit zu Hause.“
213
Stefan Zweig oder Ernst Toller verkrafteten das Exil nicht, sie wählten den Freitod, während Nelly Sachs sich weiblich-angepasst ihrem Schicksal ergab und für andere weiterlebte. Tochter blieb sie bis zuletzt: In den Jahren 1965 und 1966 bemühte sie sich bei der Jüdischen Gemeinde erfolgreich um einen Grabplatz auf dem jüdischen Teil des Norra begravningplatsen in Solna: „Durch einen schmalen Gang getrennt gegenüber [dem elterlichen Grab] liegt ein kleines Stück ungenützter Erde, im Sommer mit Gras bedeckt. Dieses Stück genügte für ein Grab für mich.“⁵¹ Im Tode wieder mit ihren beiden Eltern, die Urne des Vaters hatte sie nach dem Krieg nach Schweden holen und gemeinsam mit der Mutter beisetzen lassen,⁵² vereinigt zu sein, war einer ihrer letzten Wünsche, vielleicht sogar ihr letzter Wunsch überhaupt. 1952 wurde Nelly Sachs schwedische Staatsbürgerin, aber zu einer Heimat wurde ihr das Exilland nicht. Doch sie fand einen Zugang über einzelne Menschen, die ihr sehr nahestanden und nicht zuletzt über die schwedische Lyrik, der sie durch ihre Übersetzungen teilhaftig wurde. Von ihrem Netzwerk in Schweden zeugt nicht zuletzt ein Teil ihrer Bibliothek: Ein kleiner Bücherschrank ist fast ausschließlich gefüllt mit Widmungsexemplaren zeitgenössischer schwedischer Dichtung, an denen sich ihre Wirkung auf und ihre Bedeutung für insbesondere die jüngere Schriftstellergeneration ablesen lässt.⁵³ Und diese Wertschätzung äußerte sich bereits in ihrer ersten öffentlichen Ehrung: 1958 war sie die erste Empfängerin des vom Schwedischen Schriftstellerverbandes neu eingerichteten Lyrik-Preises. Im Kontrast zu ihrer scheinbaren Passivität, die von ihr selbst auch immer wieder betont wurde, steht ein großes und kraftvolles lyrisches Werk, das fast vollständig in der Exilzeit entstanden ist und zwar spät, aber doch noch zu ihren Lebzeiten internationale Anerkennung erfuhr und mit bedeutenden Literaturpreisen geehrt wurde. Dieser Widerspruch zwischen Leben und Werk bleibt unauflösbar, festzuhalten ist jedoch, dass Nelly Sachs, aus Deutschland vertrieben und mit nichts ausgestattet als mit einem schwedischen Transmigrationsvisum, ihre Heimat gefunden hat; nicht in Berlin und nicht in Stockholm, sondern in ihrem Werk: Sie wohnte in den Worten.
Brief von Nelly Sachs an die Mosaiska Församlingen Stockholm vom 24. 1. 1966. Nelly Sachs samling, Kungl. Biblioteket Stockholm, L 90:2. Vgl. Brief von Nelly Sachs an die Mosaiska Församlingen Stockholm vom 24. 1. 1966. Nelly Sachs’ Bibliothek und Wohnungseinrichtung sind in einem Erinnerungsraum in der Kungl. Biblioteket fast vollständig erhalten. Für die kundige Führung und die unbürokratische Unterstützung bei der Arbeit im Archiv sei Jan-Eric Ericson sehr herzlich gedankt.
Henrik Rosengren
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden¹ Die NS-Ideologie und Gewaltherrschaft führten dazu, dass große Gruppen von Menschen Nazideutschland und Österreich verließen, um Gewalt, Verfolgung und Tod zu entkommen. Die Mehrheit floh, weil sie von der Rassengesetzgebung betroffen war, andere flohen, weil sie politische Gegner des Regimes und seiner Ideen waren oder als solche aufgefasst wurden. In beiden Fällen waren sie eine vermeintliche Gefahr für das national Deutsche oder Nazistische. Das Gebiet der Musik war dasjenige im gesamten Kulturbereich, für welches das NS-Regime besonders viele Mittel aufwandte, um die deutsche Gesellschaft zu verwandeln. Dass deutsch-jüdische Musiker zu den frühen Opfern dieser neuen Nazi-Kulturpolitik gehörten, verwundert dabei weniger. Viele Musiker verließen Nazideutschland in Richtung USA, andere in Richtung Großbritannien oder Sowjetunion.² Einige wenige begaben sich aber auch nach Schweden.Wie Uta Kristin Kretschmann belegt hat, kamen von 1933 bis 1944 insgesamt 64 Exilanten, die beruflich Musik ausübten, aus Nazideutschland oder aus den von den Nazis besetzten Gebieten nach Schweden. 38 von ihnen waren Opfer der NS-Rassengesetzgebung. An Hand einiger Beispiele aus dieser Gruppe möchte ich in dem vorliegenden Aufsatz Einblicke in die existentiellen und beruflichen Bedingungen geben, unter denen diese Exilanten lebten. Darüber hinaus hat mich sehr interessiert, in welcher Weise sie zur Entwicklung des schwedischen Musiklebens beitrugen, das zu diesem Zeitpunkt vor einer kräftigen Expansion stand, während gleichzeitig der jahrhundertelange und tiefe Kontakt mit der deutschsprachigen Musik- und Kulturwelt durch die Erfahrungen, die man mit dem Nazismus machte, infrage gestellt wurde. Exil bedeutet Aufbruch und Anpassung, aber auch ein Bedürfnis nach Kontinuität. Die Exilanten brachten Erfahrungen, Kenntnisse und Vorstellungen mit, die man teils aufgab, teils betonte, und die den Zweck hatten, eine Kontinuität herzustellen, die während dieser turbulenten Perioden und Veränderungen im Umfeld Geborgenheit vermitteln sollten. Für die Staaten, die die Exilanten auf-
Der Aufsatz fußt auf meinem Buch Från tysk höst till tysk vår. Fem musikpersonligheter i svensk exil i skuggan av nazismen och kalla kriget. Lund 2013. Im Frühjahr 2016 ist es in deutscher Sprache unter dem Titel „Fünf Musiker im Schwedischen Exil. Nazismus – Kalter Krieg – Demokratie“ im Bockel Verlag, Neumünster, erschienen. Raab Hansen, Jutta: NS-verfolgte Musiker in England. Spuren deutscher und österreichischer Flüchtlinge in der britischen Musikkultur. Hamburg 1996; Heister, Hanns-Werner [u. a.] (Hrsg.): Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die Internationale Musikkultur. Frankfurt a. M. 1993. https://doi.org/9783110532289-012
216
Henrik Rosengren
nahmen, lieferten diese Personen im vielen Fällen innovative Beiträge für die dortigen Bereiche der Politik, Wissenschaft und Kultur. Sie waren „Hitlers Geschenk“ an das Aufnahmeland. In schwedischem Zusammenhang betonte der Journalist Per T. Olsson in einer eleganten Formulierung, dass und wie die Flüchtlinge „die Fenster des Volksheims nach Mitteleuropa hin“ öffneten.³ Ihr Beitrag zum schwedischen Kulturleben bedeutete ein weiteres Scheitern des Nazismus. Es ist kein Zufall, dass deutschsprachige Musikpersönlichkeiten mit jüdischem Hintergrund im Mittelpunkt dieser Studie stehen. Wie die Musikwissenschaftlerin Dörte Schmidt hervorgehoben hat, kann eine Studie über den Musikbereich, die von der Vorstellung ausgeht, dass Musik ein Kommunikationsmittel ohne Grenzen ist, auch auf einer allgemeinen Ebene neue und in Bereichen wie Geschichte des Alltags, Integration, Identitätsforschung u. a. vertiefte, aufschlussreiche Einblicke in die wissenschaftliche Exilproblematik vermitteln.⁴ Natürlich kann Musik auch als etwas Übernationales verstanden werden, als eine Sprache, die keine politischen, geografischen oder sprachlichen Grenzen kennt. Aber in einem Kontext wie dem dieses Aufsatzes steht eher der nationale Nimbus im Mittelpunkt, mit dem Musik – und hier besonders die sogenannte klassische Musik – auch verbunden werden kann. Seit dem 19. Jahrhundert galt Musik als die deutscheste aller Kunstarten. Diese Sichtweise, in Verbindung mit der Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Auffassung, die Juden seien eine nationale Bedrohung des „Deutschen“, verlangt förmlich nach geschichtswissenschaftlichen Analysen zu deutschsprachigen Persönlichkeiten im Musikleben, die von ihrer Umwelt als Juden betrachtet wurden. Eine interessante Spannweite ergab sich auch aus den starken kulturellen Verbindungen, die zwischen Deutschland und Schweden bestanden, und ihrer Wandlung während der untersuchten Periode. Die Exilanten verließen Nazideutschland und dessen Politik als vermeintliche Feinde eben dieses Landes und des „Deutschen“. Doch als Träger des Kulturerbes der deutschsprachigen Länder kamen sie zu einem Zeitpunkt nach Schweden, als die kulturelle Hegemonie des Deutschtums immer mehr infrage gestellt wurde.
Medawar, Jean/Pyke, David: Hitler’s Gift. The True Story of the Scientists Expelled by the Nazi Regime. Melbourne 2012; Ohlsson, Per T.: En gåva till Sverige. In: Sydsvenska Dagbladet, 7. 3. 2010. Schmidt, Dörte: Kulturelle Räume und ästhetische Universalität oder: Warum Musik für die aktuelle Debatte über das Exil wichtig ist. In: Krohn, Claus-Dieter [u. a.] (Hrsg.): Kulturelle Räume und ästhetische Universalität. Musik und Musiker im Exil. Gesellschaft für Exilforschung. Jahrbuch 2008. S. 1– 7.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
217
Das Exil – Kontinuitäten und Wendepunkte Bekanntermaßen gibt es ein inneres, aber auch ein äußeres Exil. Ersteres wird ganz allgemein durch eine Situation gekennzeichnet, in der politische Restriktionen das Individuum daran hindern, frei in seiner ursprünglichen Umgebung zu wirken. Auf einer eher abstrakten Ebene hat man das Exil aber gelegentlich auch als Quelle von Kreativität betrachtet. Dieser Auffassung nach führt eine solche Ausgrenzung zu neuen und bahnbrechenden Ideen.⁵ Das äußere Exil wird durch den Abschied von der ursprünglichen Umgebung und der neuen Situation im Exilmilieu bestimmt. Es kann als ein Wendepunkt verstanden werden, als Bruch mit dem Alten, als Diskontinuität. Aber gleichzeitig führt die Situation des Exils es auch mit sich, dass man Kontinuität anstrebt und bereits ausgetretenen Pfaden folgt. Sie beinhaltet, dass man sowohl von dem Ursprünglichen als auch von dem Neuen und Unbekannten Abstand nimmt, aber sie kann gleichzeitig auch ihren Ausdruck darin finden, dass man seine Loyalität deutlicher gegenüber dem manifestiert, was man verlassen hat, den eigenen Wurzeln – und letztendlich wünscht, an dem Alten festzuhalten. Andererseits kann das Exil aber auch dazu führen, dass man eine größere Loyalität gegenüber dem neuen Heimatland, seinem Milieu und seiner Kultur verspürt – vielleicht als Folge eines psychologischen Zwangs, dass man dazugehören möchte – und dass dies den Prozess der Integration in die neue Umgebung verstärkt.⁶ So gesehen, kann das Exil als Katalysator der Vorstellungen, des künstlerischen Ausdrucks, der Loyalitäten und der Bearbeitungen der eigenen Erfahrungen dienen. Wie 70 Prozent der deutschsprachigen Emigranten jener Zeit, so kehrte auch keine der Personen, die ich untersucht habe, wieder in ihre Heimat zurück. Dagegen kann künstlerisches Schaffen, Wissenschaft und die Verankerung in einem Kulturerbe eine Kontinuität zur ursprünglichen kulturellen und intellektuellen Heimat herstellen und damit Rückkehr, ein Asyl in bildlicher Form, bedeuten. Lydia Goehr bezeichnet dies als den Dualismus des Exils. Statt von einem „Entweder – Oder“, einem „Vor“ und einem „Nach“ der Emigration möchte ich lieber von einem „Sowohl – Als auch“ ausgehen, einer Lage, in der Erfahrungen, Loyalitäten und Vorstellungen miteinander im Widerstreit stehen und als Kontinuitäten im Rahmen der Anforderungen des Exils dienen. Dieser
Tabori, Paul: The Anatomy of Exile. A Semantic and Historical Study. London 1972. S. 32. Hirschman, Albert O.: Sorti eller protest. En fråga om lojaliteter. Lund 2008. S. 126.
218
Henrik Rosengren
Dualismus steht vor allem mit den Spannungen und Diskontinuitäten in Verbindung, die die Exilsituation mit sich bringt.⁷
Fünf Persönlichkeiten – fünf Fenster zu den Bedingungen des Exils Zu den deutschsprachigen Exilmusikern, die in einem überaus großen Ausmaß in der schwedischen Musiköffentlichkeit wirkten, gehören unter anderem Maxim Stempel, Ernst Emsheimer, Richard Engländer, Hans Holewa und Herbert Connor. Sie bilden weder eine einheitlich ästhetische oder professionelle Gruppe, noch einte sie politische Überzeugung. Eher könnte man hervorheben, dass ihre Tätigkeit, ihre Erfahrungen und Auffassungen sogar recht unterschiedlich, wenn auch im gleichen klassischen deutschsprachigen Musik- und Kulturerbe verankert waren, sodass sie sich als Spiegel für einen breiten Widerschein des schwedischen Musiklebens verwenden lassen. Den fünf Exilanten ist gemeinsam, dass sie in einem deutschsprachigen Musikmilieu aufgewachsen und aufgrund ihres jüdischen Hintergrundes ab 1933 von der NS-Rassenpolitik betroffen waren. Weiterhin eint sie, dass sie sich nach dem Krieg dafür entschieden, in Schweden zu bleiben, während ihr Leben vor der Ankunft in Schweden völlig unterschiedlich verlaufen war.⁸ Maxim Stempel kam 1937 von Wien aus nach Schweden, das heißt, noch vor der Besetzung Österreichs durch die Nazis. Er wurde 1898 in Odessa als Kind jüdischer Eltern geboren und wuchs zusammen mit fünf älteren Geschwistern auf. Seine Muttersprachen waren Deutsch und Russisch. Die Familie zog 1905 nach Wien und im Jahr danach nach Düsseldorf. Maxim Stempel wurde an einer evangelischen Schule eingeschult, was darauf hindeutet, dass die Familie, auf jeden Fall was ihren Sohn betrifft, mit der jüdischen Tradition brechen wollte. Die Taufe fand im Juni 1908 statt als eine Voraussetzung für eine Assimilation.⁹
Goehr, Lydia: Music and Musicians in Exile. The Romantic Legacy of a Double Life. In: Driven into Paradise: The Musical Migration from Nazi Germany to the United States. Hrsg. von Reinhold Brinkmann u. Christoph Wolff. Berkeley/Los Angeles 1999. S. 66 – 71. Für ausführlichere biografische Beschreibungen zu diesen fünf Männern verweise ich auf das Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit. http://www.lexm.uni-hamburg.de/con tent/below/index.xml (30. 6. 2015). Rosengren, Henrik: Från tysk höst till tysk vår. Fem musikpersonligheter i svensk exil i skuggan av nazismen och kalla kriget. Lund 2013. S. 54 f.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
219
Maxim machte 1915 sein Abitur und meldete sich noch im selben Jahr als Freiwilliger zur österreichischen Armee, in der er unter anderem als Dolmetscher diente. Nach dem Ersten Weltkrieg betrieb er in Düsseldorf und Wien Musikstudien, und nach seinem Examen 1924 arbeitete er als Kapellmeister, Musiklehrer, Klavierbegleiter und Chorleiter sowie als Musik- und Kulturjournalist in Deutschland und Österreich. Im Mai 1933 wurde er gezwungen, Deutschland zu verlassen, und zog nach Wien, wo er als Dozent beim Volksbildungsverband der Stadt arbeitete, der von Sozialdemokraten dominiert wurde. Stempel konnte seine Tätigkeit als Kritiker wieder aufnehmen und arbeitete als solcher bis zu seiner Reise nach Schweden am 3. April 1937.¹⁰ Hier in Schweden war er in erster Linie als Musikkritiker und Kulturjournalist für die kommunistische Tageszeitung Ny Dag tätig. Er arbeitete aber auch als Sprachlehrer, unter anderem für die Angestellten der Sowjetischen Botschaft. Aufgrund seiner Loyalität dem Kommunismus gegenüber und seiner Verbindungen zu Vertretern der Sowjetunion wurde er ständig von SÄPO, die schwedische Sicherheitspolizei, überwacht. Maxim Stempel starb 1972. Der Musikethnologe Ernst Emsheimer wurde 1904 in Frankfurt am Main geboren und starb 1998 in Stockholm. Er wuchs zusammen mit seinem Bruder Rudi und seiner Schwester Olga in einer bürgerlichen vermögenden jüdischen Familie auf. Während seiner Jugendjahre „pendelte“ Emsheimer zwischen Universitätsstudien in Jura und Volkswirtschaft einerseits, Klavierunterricht und Musiktheorie andererseits. Quasi als Kompromiss zwischen seinem Wunsch, Klavier- und Kompositionsstudien auf höherem Niveau zu betreiben, und vor allem dem des Vaters, er solle eine juristische Laufbahn einschlagen, begann Emsheimer musikwissenschaftliche Studien in Heidelberg, Wien und Freiburg bei akademischen Lehrern wie Guido Adler,Wilhelm Fischer,Willibald Gurlitt und Heinrich Besseler. 1927 promovierte er mit der musikgeschichtlich ausgerichteten Abhandlung Johann Ulrich Steigleder, sein Leben und seine Werke. ¹¹ Das immer härter werdende politische Klima in Deutschland und seine Neugier auf das sowjetische Gesellschaftssystem sowie die neuen Möglichkeiten in dem wissenschaftlichen Bereich, der Emsheimer besonders interessierte, entschieden 1932 über seinen Umzug nach Leningrad, wo er bis 1936 an der Staatlichen Akademie für Kunstwissenschaften arbeitete. Gleichzeitig beriet er die Eremitage in musikalischen Fragen, wobei er auch musikethnologische Expeditionen unternahm, so um unter anderem ossetische und georgische Volksmusik im nördlichen Kaukasus aufzunehmen. Dass er seinen Pass verlängern lassen
Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 55 – 59. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 127– 128.
220
Henrik Rosengren
musste bzw. dass er nach einem so langen Aufenthalt gezwungen gewesen wäre, einen Antrag auf sowjetische Staatsbürgerschaft zu stellen, wenn er bleiben wollte, waren praktische Gründe dafür, dass er 1936 die Sowjetunion wieder verließ. Gleichzeitig hatte Emsheimer berechtigte Angst davor, das Schicksal der Intellektuellen zu teilen, die von Stalins Säuberungswellen in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre betroffen waren. Mit Hilfe seiner wissenschaftlichen Kontakte in Schweden gelang es ihm, 1936 nach Schweden zu kommen. Hier war er als Musikethnologe tätig und wurde 1949 Direktor des Musikmuseums in Stockholm. 1960 wurde er Ehrendoktor der Universität Uppsala sowie Mitglied der Musikalischen Akademie. 1967 wurde er zum Professor ernannt.¹² Der Musikhistoriker Richard Engländer wurde 1899 in Leipzig geboren und stammte aus einer deutsch-jüdischen Familie, die in den 1880er-Jahren zum Protestantismus übergetreten war.Vater Bernhard war Richter am Reichsgericht in Leipzig. Die Mutter Rosalie, geborene Pringsheim, war sowohl mit Thomas Manns Frau, Katja, als auch mit Max Liebermann verwandt, einem der größten Impressionisten Deutschlands. Als Schüler an der Thomas-Schule in Leipzig kam Engländer frühzeitig mit klassischer deutscher Bildung auf protestantischem Grund in Berührung. Ostern 1908 zog er nach Berlin, um seine musikwissenschaftlichen Studien fortzusetzen. Hier kam er in Kontakt mit zahlreichen namhaften Musikwissenschaftlern und akademischen Lehrern, darunter Hermann Kretzschmar, der wie Engländer seine wissenschaftliche Tätigkeit mit praktischer Musikausübung kombinierte. Um 1910 machten Engländers Eltern in Leipzig die Bekanntschaft Nathans Söderbloms, des musikinteressierten zukünftigen Erzbischofs von Schweden, und seiner Frau Anna. Es ist durchaus möglich, dass Engländers Interesse für die Verbindungen zwischen deutschem und schwedischem Musikleben im 18. Jahrhundert, einem der wichtigsten Gebiete seiner Forschung, das Ergebnis der Bekanntschaft zwischen seinen Eltern und Söderblom war. 1913 veröffentlichte er seinen ersten Text, in dem er die Musik Christoph Willibald Glucks behandelte, eines Komponisten des 18. Jahrhunderts, dessen Opern stilbildend wurden – ein Forschungsbereich, dem Engländer für den Rest seines Lebens treu bleiben sollte. 1914, als Nathan Söderblom zum Erzbischof ernannt und geweiht wurde, schloss er seine Dissertation, Johann Gottlieb Naumann als Opernkomponist, ab. 1916 wurde er promoviert.¹³ Während des Ersten Weltkrieges diente Engländer als Unteroffizier nordöstlich von Dresden. Er wurde mit dem Eisernen Kreuz Zweiter Klasse ausgezeichnet. Nach dem Krieg arbeitete er in Dresden als Chorleiter, Kapellmeister, Cembalist,
Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 129 – 131. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 186 f.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
221
Klavierbegleiter, Universitätslehrer und Musikkritiker. 1922 publizierte er eine wesentlich erweiterte Fassung seiner Dissertation, diesmal unter dem Titel Johann Gottlieb Naumann als Opernkomponist. Mit neuen Beiträgen zur Musikgeschichte Dresdens und Stockholms, die Carl-Axel Moberg, Professor für Musikgeschichte der Universität Uppsala, als Höhepunkt der Forschungen Engländers zu Naumann bezeichnete. 1922– 1926 war Engländer Assistent von Fritz Busch, dem Leiter der Staatsoper in Dresden, und ab 1924 Erster Kapellmeister der Oper des Bühnenvolksbundes in derselben Stadt. In den 1920er- und 1930er-Jahren arbeitete er zeitweise als Dozent für Musikwissenschaft an der Orchesterschule der Staatskapelle Dresden und ihrem pädagogischen Seminar.¹⁴ Auch wenn Engländer in der ersten Hälfte der 1930er-Jahre noch ziemlich ungestört arbeiten konnte – unter anderem weil er für seine Jahre im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet worden war –, so ereilte ihn die NS-Rassengesetzgebung dennoch nach einigen Jahren. 1935 wurde er gezwungen, seine Lehrtätigkeit an der Staatskapelle Dresden völlig einzustellen, er konnte aber noch Privatunterricht erteilen. 1936 musste er seine mehrjährige Zusammenarbeit mit dem Reichssender Hamburg beenden, nachdem er aufgefordert worden war, seine „arische Herkunft“ nachzuweisen. Die Schlinge zog sich immer mehr zusammen. Die Gestapo verhörte ihn 1937, und Anfang 1939 wurde er im Kielwasser der Novemberpogrome von 1938 verhaftet, aber dank der Hilfe von Vertretern der Spediteurfirma Heinicke und des sächsischen Justiz- und späteren Reichsjustizministers Otto George Thierack, dessen Frau seine Schülerin gewesen war, wurde er wieder entlassen. Nach Verhör und Verhaftung sah sich Engländer gezwungen, seine Abreise vorzubereiten, in erster Linie in die USA. Er beabsichtigte aber, die Wartezeit auf eine Einreisegenehmigung in Schweden zu verbringen, und er erhielt, unter anderem durch die Bemühungen der Witwe Nathan Söderbloms, 1939 eine Einreisegenehmigung nach Schweden, verbunden mit einer zeitlich begrenzten Aufenthaltserlaubnis unter dem Vorbehalt, dass er in ein drittes Land ausreisen werde. Seine Weiterreise in die USA misslang aber, und so blieb er in Schweden, in Uppsala, wo er seine musikgeschichtlichen Forschungen, abwechselnd mit Engagements als Musiker, Vortragstätigkeit und Lehre, fortsetzen konnte.¹⁵ Er starb 1966. Hans Holewa wurde am 26. Mai 1905 geboren. Er stammte aus einer bürgerlich-jüdischen Familie. Sein Vater war Kaufmann in der Damenkonfektionsbranche und arbeitete für eine deutsche Firma in Berlin. Holewas Familie ist als intellektuell beschrieben worden, und vor allem die Mutter, Johanna, geborene
Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 190 f. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S.192– 194.
222
Henrik Rosengren
Kleineibst, kümmerte sich sehr um das Musikalische. Ähnlich wie Engländer, Stempel und Emsheimer hatte die Familie Holewa frühzeitig in der Zwischenkriegszeit Kontakt mit Schweden, und die geschäftlichen Verbindungen entschieden vermutlich darüber, dass Holewa dann in Schweden seine Zuflucht suchte.¹⁶ Von 1909 bis 1917 wohnte die Familie in Berlin, wo der Junge eine jüdische Schule besuchte. 1917 zog die Familie nach Wien um; Hans Holewa war Gymnasiast und studierte nach der Matura drei Semester Jura. Zur gleichen Zeit war er Schüler am Neuen Wiener Konservatorium, wo er am Kapellmeisterunterricht teilnahm, allerdings ohne ein Examen abzulegen. Er studierte Klavier und Musiktheorie bei H. J. Heintz, dem Schüler des italienisch-schweizerischen Klaviervirtuosen, Komponisten und Musiktheoretikers Ferruccio Busoni. Holewas Studien blieben fragmentarisch, und er hielt sich selbst für einen Autodidakten auf allen Gebieten der Musik. Während der ersten Hälfte der 1930er-Jahre war er Repetitor an der Volksoper in Wien sowie musikalischer Leiter des radikalen „Theaters für 49“.¹⁷ Hans Holewa geriet in große materielle Schwierigkeiten, als KPÖ und SPÖ 1933 bzw. 1934 verboten wurden. Er hatte mehrere Chöre der sozialdemokratischen Jugendbewegung geleitet sowie Klavierunterricht erteilt und dadurch seinen Lebensunterhalt verdient. Nun musste er sich durch vereinzelte Aufträge als Musiker an Theatern und Kabaretts über Wasser halten, er bewahrte aber seinen Traum, seinen Lebensunterhalt als Komponist verdienen zu können. Während seiner Jahre in Wien beendete er mehrere Kompositionen, von denen er jedoch später nichts mehr wissen wollte. 1937 beschloss Holewa dann, Österreich zu verlassen und vor dem Hintergrund seiner früheren Kontakte nach Schweden zu reisen. In Schweden arbeitete er vor allem als Komponist, Musiker und am Rundfunk. Er starb 1991.¹⁸ Herbert Connor wurde als Sohn von Arthur und Olga Connor, die beide jüdischer Herkunft waren, am 5. Dezember 1907 in Berlin geboren. Mutter Olga, geborene Lewin, wurde im damals russischen Litauen geboren und floh nach Dänemark. Vater Arthur war in Berlin geboren und führte den Titel Direktor, unklar in welcher Branche. Aus beruflichen Gründen zog er mit seinem Sohn nach Wien, der dort das Gymnasium besuchte. Die Eltern wurden 1921 geschieden. Aus wirtschaftlichen Gründen musste Herbert Connor später das Gymnasium verlassen und beschäftigte sich seit seinem 21. Lebensjahr wechselweise mit sporadi-
Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 230. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 230 f. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 231– 235.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
223
schen Musikstudien, privatem Musikunterricht und Schreiben. Zeitweise studierte er in Warschau Klavier bei dem Klavierlehrer, Komponisten und Dirigenten Juliusz Wertheim. Er zog danach nach Berlin und wurde als Musikkritiker an der Berliner Zeitung fest angestellt. Connor studierte am Stern’schen Konservatorium, dessen Glanzzeiten sich zu diesem Zeitpunkt jedoch schon ihrem Ende näherten. Von 1915 und 1930 hatte Alexander von Fielitz das Konservatorium geleitet, 1930 übernahm Paul Graener, ein Nazi-Sympathisant, sein Amt. 1936 wurde der Name in „Konservatorium der Reichshauptstadt“ geändert, und damit passte sich diese Ausbildungsanstalt völlig der NS-Gleichschaltungspolitik an.¹⁹ 1933 entließ die Börsen-Zeitung Connor aufgrund seiner jüdischen Herkunft. Bis April 1935 konnte er mit Hilfe von Bekannten seinen Lebensunterhalt durch anonyme journalistische Aufträge verdienen, aber danach teilte ihm die Reichskulturkammer in Berlin mit, er sei nicht berechtigt, irgendeine Tätigkeit in Deutschland auszuüben, da er nicht „arischer Herkunft“ sei. Um nicht verhaftet zu werden, floh er nach Dänemark, wo er am 18. April 1935 ankam.²⁰ In Dänemark wurde er vom Intellektuellen-Komitee, dem sogenannten NielsBohr-Komitee, unterstützt. Connor arbeitete fortan als Lehrer und Vortragsreisender, aber ohne größeren Erfolg. Da es schwierig war, sich über Wasser zu halten, nahm er daraufhin Verbindung zu Vertretern der Volksbildung in Schweden auf – in der Hoffnung, dort vielleicht Aufträge zu erhalten. Von November 1935 bis April 1937 trat er zusammen mit seiner Frau Elsbeth, die Sängerin war, oft in Schweden auf. Während eines längeren Aufenthalts an der Heimvolkshochschule Wendelsberg der Abstinenzler-Organisation IOGT/NTO kam er in Kontakt mit der schwedischen Absolutisten-Bewegung, in deren Zeitschrift er Aphorismen, Gedichte und Artikel publizieren konnte.²¹ In den folgenden Jahren war Vortragstätigkeit die wichtigste Einkommensquelle von Herbert Connor. Am Anfang wollte er noch in Kopenhagen wohnen und Schweden zum Arbeitsfeld haben, was sich aber praktisch und wirtschaftlich als undurchführbar erwies. Infolgedessen entschieden sich Connor und seine Frau dafür, sich in Schweden niederzulassen. Über die Åland-Inseln erreichten sie am 1. September 1937 Schweden.²² Hier war Connor als Musikjournalist, Pädagoge und Schriftsteller tätig und nahm lebhaft an der Musikdebatte teil. Er starb 1983.
Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 278 f. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 279. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 280 – 282. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår, S. 280.
224
Henrik Rosengren
Jüdische, nationale und ideologische Loyalitäten Die jüdische Thematik ist in den bisherigen Arbeiten über die deutschsprachigen Exilanten in Schweden kaum hervorgehoben worden, wenn man davon absieht, dass einige von ihnen aus antisemitischen Gründen benachteiligt wurden. Eine öffentlich manifestierte jüdische Loyalität spielte bei den Exilanten, die ich in meiner Studie behandle, während ihres schwedischen Exils keine hervortretende Rolle, war aber dennoch nicht von untergeordneter Bedeutung. Auch wenn diese jüdische Loyalität in der Öffentlichkeit kaum hervortrat, konnte sie beispielsweise im Fall von Maxim Stempel ein überaus wichtiger existentieller Ausgangspunkt sein. Er verheimlichte seinem Sohn seinen jüdischen Hintergrund, aber aus seinen Briefen geht hervor, dass er für seine eigene Existenz eine wichtige Rolle spielte. Für Stempel war Schweden ein Land, das für seinen Sohn zu einem festen Punkt werden sollte, so dass dieser nicht das Schicksal eines entwurzelten „ewigen Juden“ erleiden sollte, wie Stempel es ausdrückte. Er war kein Mitglied der Mosaischen Gemeinde, wohl aber Emsheimer und Holewa. Emsheimer trat jedoch nach einiger Zeit aus. Holewa blieb dagegen sein ganzes Leben lang Mitglied und wurde auf einem jüdischen Friedhof in Stockholm begraben. Er war auch der einzige, der die Erfahrungen der Shoah in künstlerischer Form, so in der Ghetto-Kantate und den Lamenti, bearbeitete. Holewa arrangierte ferner traditionelle jüdische Musik und trat mehrfach bei Anlässen auf, bei denen jüdische Erfahrungen und jüdische Kultur im Mittelpunkt standen. So beispielsweise bei Veranstaltungen der „Emigrantenselbsthilfe“, einer Selbsthilfeorganisation der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland, an denen auch Maxim Stempel und Ernst Emsheimer zwischen 1938 und 1950 häufig teilnahmen. Emsheimer war ferner 1938 an der Gründung der Organisation beteiligt.²³ Da einige der Gründer auch Kommunisten waren, mussten sich in diesem Zusammenhang kommunistische Loyalitäten mit jüdischen vertragen; die Erfahrung, vor den NS- Rassengesetzen geflohen zu sein, war das einigende Band. Die Loyalität der Exilanten gegenüber dem Kulturerbe des deutschsprachigen Mitteleuropa war durchgängig gespalten; so nahmen Holewa und Connor eindeutig Abstand von Deutschland und dem deutschen Volk, während in erster Linie Engländer, aber auch Stempel und Emsheimer auf ein wiederbelebtes Kulturerbe hofften. Engländers, Emsheimers, Stempels und Connors Reisen nach West- und Ostdeutschland Ende der 1940er- und während der 1950er-Jahre zeigten ihr Interesse für die Frage, ob und wie sich das deutsche Musikleben nach dem
Siehe zur Emigrantenselbsthilfe auch den Beitrag von Helmut Müssener und Michael Scholz in diesem Band.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
225
Nationalsozialismus hatte erneuern können, wobei die Ansichten der Exilanten mit denen von Vertretern des schwedischen Musiklebens in Einklang standen, wie beispielsweise dem Journalisten Yngve Flykt und der Zeitschrift Musikrevy, die auch der Hoffnung auf Erneuerung Ausdruck gaben.²⁴ Der Protest gegenüber dem Nazismus konnte wie bei Emsheimer und Stempel, die beide den Kommunismus als antinazistisches Werkzeug nutzten, seinen Ausdruck auch im Rahmen ideologischer Loyalitäten finden. Mit kommunistischer Rhetorik und ausgehend von der Vorstellung, dass nur der Kommunismus und die kommunistischen Staaten den Nazismus bekämpften, wurde dieser als bürgerliches, westliches Phänomen konstruiert. Stempel sah auch in einzelnen Komponisten des Musikerbes der deutschsprachigen Länder Widerstandskämpfer, so vor allem in Gustav Mahler, dessen Musik während der NS-Zeit geächtet worden war, aber die es in Stempels Augen verdient hatte, als Widerstandskraft gegenüber einem wiedererwachten Nazismus der Nachkriegszeit hervorgehoben zu werden. Connor war der Ansicht, es sei wichtig, die Volksbildung in Deutschland zu vertiefen, um neonazistische Äußerungen zu verhindern. Antinazismus konnte aber auch seinen Ausdruck in einer Loyalität gegenüber dem „Anderen Deutschland“ finden wie beispielsweise darin, dass Stempel und Emsheimer den Aufruf zur Sammlung der Deutschen in Schweden unterzeichneten, der das Ziel hatte, ein neues, antinazistisches Deutschland zu schaffen. Der Aufruf wurde am 1. November 1943 auf Deutsch in der Politischen Information und am 11. November desselben Jahres auf Schwedisch in der kommunistischen Tageszeitung Ny Dag veröffentlicht. Bei Holewa waren die Mitgliedschaften in den national ausgerichteten österreichischen Exilvereinigungen in Schweden, der Freien Österreichischen Bewegung (FÖB) und der Österreichische Vereinigung in Schweden (ÖVS), Ausdruck seiner österreichischen Loyalität, bedeuteten aber ebenso sehr auch antinazistischen Widerstand. Die sich entwickelnde Loyalität gegenüber Schweden und dem „Schwedischen“ wurde mit der Zeit immer stärker. Familienbildung, zunehmende berufliche Sicherheit und ein allmähliches Hineinwachsen in schwedische Gesellschaft und Kultur, gekrönt von der schwedischen Staatsbürgerschaft, ließen Pläne für eine Weiterwanderung in ein drittes Land oder der Rückkehr ins Ursprungsland gegenstandslos werden. Die schwedische Loyalität hatte Oberhand gewonnen.
Siehe beispielsweise Flyckt, Yngve: Ljuset från Bayreuth [Das Licht von Bayreuth] in der Tageszeitung Expressen vom 12. 9. 1951; Tysk kontakt åter etablerad [Deutsche Verbindung wieder hergestellt], Expressen 5. 3. 1951; Tyska partitur kommer tillbaka [Deutsche Partitur kehrt zurück], Expressen 12. 11. 1951. Siehe auch die Themanummer 8 zu den westdeutsch-schwedischen Verbindungen in der Musikrevy (1951), wo ähnliche Hoffnungen den Inhalt der Artikel prägen.
226
Henrik Rosengren
Kontinuität und Diskontinuität der Loyalitäten Die jüdischen, nationalen und ideologischen Loyalitäten der Exilanten erwiesen sich als dynamisch und in Zeit und Raum veränderlich. Sie formten und manifestierten sich in einem komplexen Spiel zwischen strukturellen Bedingungen und persönlicher Überzeugung, Zwang und Freiheit, Idealismus und Opportunismus sowie gelegentlich als Überlebensstrategie. Dabei ist die Frage von Interesse, in welchem Maße diese Loyalitäten als Ausdruck von Kontinuität und/ oder Diskontinuität verstanden werden können. Bedeutet beispielsweise das Exil einen Bruch in der Beziehung zur jüdischen Loyalität? Völlig unabhängig davon, wie sich die Exilanten zu ihrer eigenen jüdischen Loyalität verhielten, wurde ihr Leben dennoch vom jüdischen Prädikament geprägt, einer Situation, die mit dem Anwachsen der europäischen Moderne seit dem 19. Jahrhundert in Verbindung steht. Es umfasst Rolle und Stellung der Juden in der Gesellschaft ebenso wie die Sicht auf sie – und wie diese in sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen ihren Ausdruck findet.²⁵ Dieses jüdische Prädikament beeinflusste alle Exilanten, wenn auch unterschiedlich. Sie alle waren von der NS-Rassenpolitik in Deutschland, dem antisemitisch geprägten Österreich oder auch während des Exils in Schweden betroffen. Ein Sonderfall ist hier Emsheimer. Er verließ Deutschland und zog vor der NS-Machtergreifung in die Sowjetunion, aber auch er wurde im schwedischen Exil von der Rassengesetzgebung betroffen, als man ihm unter anderem seinen deutschen Doktortitel aberkannte.²⁶ Die Erfahrungen der Exilanten spiegeln die Kraft des jüdischen Prädikamentes wider, Personen mit jüdischem Hintergrund zu prägen. Abgesehen von Holewa, der bereits vor seinem Exil in Schweden in jüdischem Glauben und jüdischer Kultur verankert war und in Wien am deutlichsten vom Antisemitismus betroffen war, scheint „das Jüdische“ allem Anschein nach für die Exilanten vor der Machtübernahme des Nazis eine untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Somit scheint der Nazismus, wenn auch nicht in allen Fällen, jüdische Loyalität, aber zumindest Überlegungen zu und Erfahrungen mit dem jüdischen Prädikament zur Folge gehabt zu haben. Die Exilanten waren gezwungen, sich zu einem Jüdischsein zu verhalten, das ihnen zugeschrieben worden war und in direkter Verbindung mit der NS-Rassengesetzgebung stand. Ein Beispiel dafür ist Emsheimers Agieren. Für ihn bedeutete die nazistische Drohung, eine Weiter Hammarlund, Anders: Människor bortom lustprincipen. Mähriska öden. Stockholm 2006. S. 87. Schneider, Albrecht: Berichte und Kleine Beiträge. In: Jahrbuch für Volksliedforschung Münster 1990. S. 112.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
227
wanderung nach Palästina bzw. in das Gebiet, das Israel werden sollte, in Erwägung zu ziehen. In diesem Zusammenhang gab Emsheimer seiner jüdischen Loyalität Ausdruck, als er sich in einem frühen Stadium seines schwedischen Exils um Stellen an der Hebräischen Universität in Jerusalem bewarb. Ob dies aber seiner inneren Überzeugung entsprach oder er nur die Absicht hatte, einen zukünftigen Arbeitgeber zu überzeugen, ist schwer zu entscheiden, auch wenn der allgemeine Eindruck, dass Emsheimer sich nur wenig für „das Jüdische“ interessierte, für Letzteres spricht. Wenn es darum ging, dem Nazismus zu entkommen, so konnte die jüdische Loyalität hervorgehoben werden. Für Engländer, dessen Eltern konvertiert waren, lag „das Jüdische“1933 ebenso in weiter Ferne wie der Gedanke, der NS-Antisemitismus könne ihn und seine Familie in Mitleidenschaft ziehen. Seine Zugehörigkeit zum Christentum in Verbindung mit den Kriegsauszeichnungen war Grund dafür, dass sich die nazistische Schlinge in seinem Fall langsamer zuzog. Aber die Konsequenzen des ihm zugeschriebenen Jüdischseins waren, wenig erstaunlich, für ihn besonders markant. Als Christ hatte er in Dresden keinen Zugang zum Jüdischen Kulturbund, den die Nazis kontrollierten, aber der seinen Lebensunterhalt hätten sichern können, als er wegen seiner „Zugehörigkeit zur jüdischen Rasse“ vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen war. Als Christ mit jüdischem Hintergrund konnte er in Schweden jedoch keine Unterstützung beziehen, die für „mosaische Gläubige“ bestimmt war, die vor dem Nazismus geflohen waren, während er gleichzeitig von anderen Seite gerade aufgrund seiner jüdischen Abstammung finanziell unterstützt wurde. Als „jüdischer Flüchtling“ konnte er auch in Schweden von Antisemitismus betroffen sein, so beispielsweise, als die schwedischen Behörden die antisemitischen Codes von Nazideutschland übernahmen und aller Wahrscheinlichkeit darauf bestanden, er müsse „Israel“ als zweiten Vornamen angeben, als er noch von Nazideutschland aus seinen ersten Antrag für eine Aufenthaltsgenehmigung stellte. Dass Antisemitismus auch seine Tätigkeit in Schweden behinderte, wie sein Freund, der Philosophieprofessor Ingemar Hedenius, behauptete, ist nicht ausgeschlossen, aber ich habe allerdings keinen Beweis dafür finden können.²⁷ Die jüdische Loyalität war in einigen Fällen aber auch von Diskontinuität geprägt, am deutlichsten bei Holewa, der Atheist wurde, und bei Connor, der sich als Dissident bezeichnete und der christlichen Kultursphäre zuwandte. Stempels Lebensaufgabe war es dagegen, seinen jüdischen Hintergrund zu verheimlichen. Er reflektierte über die Folgen des jüdischen Prädikaments für seinen eigenen Lebenslauf und wollte, wie bereits erwähnt, seinem Sohn das Schicksal als
Hedenius, Ingemar: Richard Engländer död [Nachruf]. Upsala Nya tidning, 17. 3. 1966.
228
Henrik Rosengren
„Kosmopolit“ und „ewiger Jude“ ersparen. Es findet sich kein Hinweis darauf, dass die Behörden Stempel bei seiner Ankunft in Schweden in irgendeiner Weise antisemitisch behandelt hätten. Sein jüdischer Hintergrund scheint aber bei seiner Tätigkeit als Journalist bei Ny Dag oder bei der Überwachung durch die schwedische Sicherheitspolizei eine Quelle für Angriffe gewesen zu sein. Der Antisemitismus, der ihn explizit traf, stammte ausdrücklich aus russischen, nazistischen und sowjetischen Kreisen. Seiner kommunistischen Loyalität verlieh er dagegen im schwedischen Exil einen deutlichen Ausdruck, vor allem als Werkzeug, um den Nazismus zu kritisieren. Schweden prägte zu diesem Zeitpunkt ein weit verbreiteter Antikommunismus, der seinen Ausdruck unter anderem in der Kulturdebatte, in einem geringer werdenden kommunistischen Wählerkreis und in der sorgfältigen Bewachung Stempels – aber auch Holewas und Emsheimers – durch die schwedische Sicherheitspolizei fand. Dennoch konnte er trotz dieser antikommunistischen Umgebung seine kommunistische Loyalität als Journalist bei Ny Dag Ausdruck verleihen, auch wenn er sei ganzes Leben lang überwacht wurde. Dies wäre in dem austrofaschistischen Milieu, das er verlassen hatte, unmöglich gewesen. Dass Maxim Stempel in seinen Wiener Jahren ab 1934 Mitglied der Vaterländischen Front und des Wiener Heimatschutz gewesen war, mag erstaunen, wenn man bedenkt, dass diese Organisationen sowohl antikommunistisch als auch antinazistisch waren.²⁸ Seine Mitgliedschaft muss wohl in erster Linie als Ausdruck seines Antinazismus gedeutet werden, aber man könnte daraus vielleicht auch schließen, dass das Exil in gewisser Hinsicht einen Bruch hinsichtlich seiner ideologischen Loyalität bedeutete. Sein Kommunismus sollte sich vor allem in der schwedischen Umgebung ausleben, wo dieser voll und ganz in seiner Treue zur Sowjetunion einen Ausdruck fand. Was Holewa betraf, so ist sein Exil von einer stetig anwachsenden Kreativität gekennzeichnet, die in seiner Hinwendung zur Zwölftontechnik ihren Ausdruck fand, einer Kompositionstechnik, die er erst in Schweden anzuwenden begann. Als Konsequenz des Exils radikalisierte sich seine ästhetische Verhaltensweise. Die radikale Kompositionstechnik, die die Nazis verboten hatte, entwickelte sich, um mit dem Exilschriftsteller Peter Weiss zu sprechen, zu einer Art „Ästhetik des Widerstands“ – Moderne als Protest gegen den Nazismus. Engländers und Emsheimers wissenschaftliche Erfolge erfüllten möglicherweise eine ähnliche Pro Payne, Stanley G.: A History of Fascism 1914– 1945. Madison 1995. S. 245 – 252; Carsten, Francis Ludwig: Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler. München 1977. S. 220 – 227; Lewis, Jill: Fascism and the Working Class in Austria 1918 – 1934. New York/Oxford 1991. S. 97– 98, 198.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
229
testfunktion. Als gefeierte Wissenschaftler in Schweden sind sie Beispiel dafür, dass die NS-Politik, „jüdische“ Wissenschaftler auszumustern, erfolglos war. Ihre wissenschaftlichen Erfolge im Exil können als ein indirekter Protest gegen den Nazismus gewertet werden.
Ästhetische Ansichten und Kalter Krieg Ein dritter Aspekt betrifft die Frage, wie die ästhetischen Ansichten der vorgestellten Exilanten zu charakterisieren sind und welche Verbindungen zu den bipolaren und ideologischen Positionen der schwedischen Kultur- und Musikdebatte während des Kalten Kriegs bestanden. Die ästhetischen Ansichten der Exilanten umfassen ein breites Spektrum von Holewas Kampf für eine radikale Zwölftontechnik bis hin zu Stempels und Connors Antimoderne, zu der sie sich deutlich bekannten. Engländers Haltung zeugt davon, dass er für radikale Musik offen war, ohne gerade einer ihrer Portalfiguren zu sein. Emsheimer scheint sich weniger für die Musik der Moderne interessiert zu haben, gehörte aber auch nicht zu ihren Widersachern. Die Rhetorik der Vertreter des Antimoderne während der 1940er- und 1950erJahre erinnerte sehr an die Töne der schwedischen Kulturdebatte während der Zwischenkriegszeit. Krankheitsmetaphern und die Ansicht, die Musik der Moderne, insbesondere die Schönberg-Tradition und die Zwölftontechnik, seien elitär, unnatürlich, äußerlich, publikumsabgewandt und nähmen von Gefühlen Abstand, kennzeichneten diese Angriffe. Stempels antimoderne Haltung wurde sogar von den Resolutionen des Zentralkomitees der KPdSU bestimmt. Die Moderne sei, so die offizielle Lesart Moskaus, mit einem vermeintlich dekadenten Westen verbunden und angeblich Ausdruck einer bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaft. Für ihn ist die moderne Musik Ausdruck eines verhassten „Kosmopolitismus“, das heißt, eine Musik ohne jegliche nationale Anbindung. Gerade diese Verankerung im Nationalen war ein Kriterium für gute Kunst, wie Stempel in seiner Tätigkeit ständig betonte und was auch 1948 in der Musikresolution des ZK der KPdSU hervorgehoben wurde. Stempel verwendet zwar den Begriff „Kosmopolitismus“ in diesem antimodernen Zusammenhang, aber er verbindet ihn nie in seinem antisemitischen Kontext, wie er völlig selbstverständlich implizit, aber auch explizit in der sogenannten antikosmopolitischen Kampagne 1948 – 1953 benutzt wird, als viele Juden in der Sowjetunion angegriffen und des Landesverrats angeklagt wurden.²⁹
Pinkus, Benjamin: Soviet Campaigns Against „Jewish Nationalism“ and „Cosmopolitism“,
230
Henrik Rosengren
Die antimoderne Haltung, die von kommunistischer Rhetorik durchzogen war, fand keine Parallele außerhalb der kommunistischen Sphäre. Man merkte indessen, dass sie auf anderen Ebenen keine ideologischen Grenzen kannte. Stempel und Connor einte ein ganzes Begriffsarsenal – zum Beispiel behauptet man, dass sich die Moderne von der volkstümlichen Musikkultur abwandte, von dem, was das Publikum zu hören wünschte, und ihr demnach einen niedrigeren ästhetischen Wert verliehe. Die Exilanten waren alle vom nazistischen, ideologischen Gebrauch des Musikerbes in Mitleidenschaft gezogen worden und in ihrem Beruf mit der sowjetischen und kommunistischen Verwendung der Musik im Allgemeinen und des deutschsprachigen Musikerbes in Sonderheit in Berührung gekommen. Wie man in Ostdeutschland Komponisten wie Händel und Bach ausnutzte, lernten Engländer und Stempel auf ihren Reisen nach Ostdeutschland Ende der 1940erJahre und am Anfang der 1950er-Jahre kennen. Während Engländer betonte, wie ähnlich die Haltung der totalitären Systeme zum Musikerbe sei, wusste Stempel zu schätzen, was Ostdeutschland seiner Meinung nach leistete, um es zu bewahren. Connor stellte im Rahmen des Totalitarismusbegriffes die Kulturpolitik Nazideutschlands auf die gleiche Stufe wie die der der Sowjetunion und kritisierte mit diesen totalitären Staaten als Ausgangspunkt auch die staatlichen Instanzen Schwedens, die seiner Ansicht nach ungerechtfertigt versuchten, die künstlerische Freiheit einzuschränken.
Wahlverwandtschaften und Integration Was kennzeichnet nun den Beitrag der Exilanten zum schwedischen Musikleben und zur Integration in die schwedische Gesellschaft? Und welche Bedeutung hatte ihre berufliche Tätigkeit für diese bzw. dafür, wie sie mit der Entwurzelung durch das Exil umgingen? Für Emsheimer und Engländer war die wissenschaftliche Arbeit das Instrument, um die Kontinuität zwischen der Zeit vor und nach dem Exil aufrechtzuerhalten. Dass sie relativ schnell in der sie umgebenden schwedischen wissenschaftlichen Umgebung aufgingen, lässt sich nicht zuletzt damit erklären, dass sie bereits vorher mit Schweden und schwedischen Wissenschaftlern Kontakt hatten. Einzelne Persönlichkeiten, darunter Carl-Allan Moberg, waren dafür von Bedeutung. Emsheimers und Engländers, aber auch
1946 – 1953. In: Soviet-Jewish Affairs 2 (1974). S. 70 f.; Clark, Katerina: Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitanism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931– 1941. Cambridge/London 2011. S. 5.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
231
Connors, Stempels und Holewas gediegene musikwissenschaftliche Kompetenz und musikalische Breite waren ebenfalls wichtig. Sie bestanden aus einer gründlichen Allgemeinbildung in allen Fragen des Kulturerbes der deutschsprachigen Länder, einer großen Kenntnis des musikalischen Repertoires, musikalischem handwerklichem Können sowie einem internationalen wissenschaftlichen Kontaktnetz. Dies alles bedeutete, dass sie durch diese Voraussetzungen vielen anderen Vertretern des schwedischen Musiklebens quantitativ und qualitativ überlegen waren. Ihre Verbindung mit dem Musikleben der deutschsprachigen Länder bestand nicht nur aus Lesefrüchten, sondern hatte ihren Grund in ihrer Anwesenheit und Tätigkeit in dynamischer musikalischer Umgebung in Städten wie Wien, Dresden und Berlin. Dadurch waren sie eine bedeutungsvolle Bereicherung des schwedischen Musiklebens im Allgemeinen und der beginnenden schwedischen Musikforschung im Besonderen. Ihre Vielseitigkeit war sozusagen auch ein Erbe ihres Hintergrundes in einem deutschsprachigen Musikumfeld; die Kombination von theoretischen, praktischen und pädagogischen Musikkenntnissen war, wie Moberg es ausdrückte, charakteristisch für „das Deutsche“.³⁰ Was nun Emsheimer und Engländer betrifft, so könnte man darüber streiten, ob und in welchem Ausmaß das schwedische Musikleben ihre Kompetenz zu nutzen wusste. Der Musikwissenschaftler Sten Dahlstedt ist der Ansicht, die Musikwissenschaft habe dies nicht getan, begründet aber nicht im Einzelnen, wie sie es hätte machen können oder warum es nicht geschehen sei.³¹ Dabei ist allerdings zu beachten, dass das schwedische Musikmilieu nicht im Geringsten die Dynamik, Breite und Größe hatte wie die berufliche musikalische Umgebung, die Engländer und Emsheimer geformt hatte. Mutmaßlich war das schwedische Musikleben allzu klein, als dass es ihr Potential hätte voll und ganz ausnutzen können. Ihre Versuche, Schweden in den 1940er-Jahren zu verlassen, die Angebote ausländischer Universitäten und die internationalen Kontakte, die sie aufrechterhalten konnten, zeugen davon, dass dies tatsächlich auch der Fall war. Allerdings gab es auch andere strukturelle Hindernisse für ihre Integration und Anerkennung als der begrenzte Umfang des schwedischen Musiklebens. Ein Revierdenken auf dem Arbeitsmarkt sowie ein struktureller Widerstand gegen Ausländer, in Sonderheit Juden, und das „Unschwedische“ machten sich in den Hindernissen und dem Argwohn bemerkbar, auf die Holewa, Emsheimer und Connor bei ihren Kontakten mit den für Ausländer zuständigen Behörden und Vertretern des Arbeitsmarktes stießen, ehe sie schwedische Staatsangehörige Moberg, Carl-Allan: Richard Engländer 75 år [Geburtstagsglückwunsch]. Svensk tidskrift för musikforskning 1964, S. 6. Dahlstedt, Sten: Fakta & förnuft. Svensk akademisk musikforskning 1909 – 1941. Göteborg 1986, S. 231.
232
Henrik Rosengren
wurden. Holewa musste nach 40 Jahren in Schweden erleben, dass ihn ein namhafter Vertreter des schwedischen Musiklebens immer noch als eine Bedrohung der vermeintlich schwedischen Werte empfand. Lars af Malmborg, u. a. Professor für Musikdramaturgie und Intendant der Stockholmer Oper, behauptete an Hand einiger vorgeblich sprachlicher Fehler in einem Libretto, das Holewa auf Schwedisch geschrieben hatte, er erweise dadurch dem Land, das ihn aufgenommen habe, mangelnden Respekt.³² Stuart H. Hughes, Pionier der Forschung zur intellektuellen Emigration aus Nazideutschland, benutzt Goethes Begriff der „Wahlverwandtschaften“, um die Zugehörigkeit zu einem deutschsprachigen kulturellen Milieu, das auf Sprache, Kultur und Geschichte gründete, oder das Wiedererkennen eines solchen bei einer Begegnung zwischen Immigranten und der neuen Umgebung zu beschreiben. In welchem Ausmaß diejenigen, die im Exil lebten, eine neue intellektuelle Tätigkeit und eine berufliche Tätigkeit entwickeln konnten, hing laut Hughes davon ab, ob und inwieweit sie ihre Verankerung in einem deutschsprachigen kulturellen Hintergrund in den neuen Kontext überführen konnten. Um eine größere Wirkung zu erzielen, war es notwendig, dass die Texte der Verfasser in die Sprache des Exillandes übersetzt oder direkt in ihr formuliert wurden. Es handelte sich darum, ein Gleichgewicht zwischen sprachlichem Verlust und intellektuellem Gewinn herzustellen.³³ Dabei ging Hughes von der Emigration in die USA aus, ein Land, in dem die deutschsprachige Kultur ihre Stellung in der wissenschaftlichen Welt bereits durch die antideutsche Stimmung des Ersten Weltkriegs verloren hatte. In Schweden hatte sie eine stärkere Stellung, auch wenn der Nationalsozialismus letztlich dafür verantwortlich war, dass das Primat der deutschsprachigen Kultur durch den Einfluss der angelsächsischen und in gewissem Umfang auch der französischen intellektuellen Welt herausgefordert wurde. Schwedens geografische Nähe zum deutschsprachigen Mitteleuropa erleichterte nach dem Krieg die Kontaktaufnahme mit dem deutschsprachigen Milieu. Weiterführende Fragen zur deutschsprachigen Emigration nach Schweden mit dem Schwergewicht auf den ästhetischen und intellektuellen Aspekten des Musikbereichs handeln davon, ob und in welchem Ausmaß die Arbeitsbedingungen der deutschsprachigen Musikerpersönlichkeiten innerhalb der schwedischen Gesellschaft durch den Begriff der Wahlverwandtschaft zwischen deutschem und schwedischem Milieu erfasst werden können. Malmborg, Lars af: Apollos dilemma. Nutida Musik 4 (1974/75). S. 30. Hughes, Stuart H.: The Sea Change. The Migration of Social Thought, 1930 – 1965. New York 1975. S. 27– 34; zu einer ähnlichen Situation siehe Henningsen, Bernd [u. a.] (Hrsg.): Wahlverwandtschaft. Skandinavien und Deutschland 1800 – 1914. Stockholm/Berlin 1997.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
233
In der Forschung über die Exilanten, die in die angelsächsische Welt gelangten, in erster Linie die amerikanische, wird betont, dass es ihnen unterschiedlich gut gelungen ist, in die neuen Gesellschaft integriert zu werden. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die wie Schriftsteller, Journalisten, Wissenschaftler und Pädagogen in ihrem Beruf auf die Sprache angewiesen sind, auf der anderen praktizierende Künstler wie Komponisten, Musiker und Dirigenten. Die ersteren sind, wenn sie sich in ihrem Beruf ausdrücken wollen, in weitaus größerem Umfang von ihrer nationalen Herkunft abhängig, und es fällt ihnen dadurch schwerer, sich außerhalb ihrer Heimat zu etablieren. Die anderen sind, so betrachtet man sie zumindest häufig, eher Vertreter einer universalen Welt, die keinen ähnlich nationalen Kontext erfordert; ihre Integration in ein neues Milieu ist weniger gefährdet und in der Regel erfolgreicher.³⁴ Inwieweit lassen sich nun solche Überlegungen für die Exilanten in dieser Untersuchung nutzen? Es ist alles andere als einfach, den Grad der Integration der beschriebenen Exilanten zu messen, aber eine grobe Differenzierung lässt sich dennoch vornehmen. Dabei wären in erster Linie Emsheimer und Engländer zu erwähnen. Sie waren hinsichtlich ihrer beruflichen Stellung und ihrer Erwähnung in musikgeschichtlichen Schriften und anderen Nachschlagewerken im schwedischen Musikleben die erfolgreichsten ihrer Gruppe. Beide wurden mit dem Professorentitel ausgezeichnet, und sie betrieben Studien, die eine hohe Wertschätzung genossen. Zusammen mit Holewa werden sie in Nachschlagewerken erwähnt und wurden allesamt Gegenstand kleinerer wissenschaftlicher Arbeiten.³⁵ Auch wenn Holewa anfänglich große Misserfolge erlebte und in seiner Eigenschaft als „Nicht-Schwede“ auf Widerstand stieß, so kann heute zusammenfassend festgestellt werden, dass er als moderner Komponist im schwedischen Musikleben Anerkennung gefunden hat. Stempel und Connor sind dagegen beide zumeist in Vergessenheit geraten, und nur wenige Wissenschaftler und Journalisten haben sich für ihre Leistungen ernsthaft interessiert.
Brinkmann, Reinhold: „Reading a letter“. In: Brinkmann, Driven into Paradise, S. 6; Lamb Crawford, Dorothy: A Windfall of Musicians. Hitler’s Émigrés and Exiles in Southern California. New Haven/London 2009. S. 33. In der zweiten Auflage des schwedischen Musiklexikons Sohlmans musiklexikon wird Engländer auf 45 Zeilen behandelt, Holewa auf 51, Emsheimer auf 72 und Connor auf 15. Stempel wird nicht erwähnt, obwohl er an der ersten Auflage (1948 – 1952) mitwirkte. In der schwedischen Nationalenzyklopädie sind Engländer, Emsheimer und Holewa jeweils zwischen 10 und 11 Zeilen gewidmet. Stempel und Connor sind nicht vertreten. Siehe Nationalencyklopedin. (1. Aufl.) Stockholm 1989 – 1996.
234
Henrik Rosengren
Für Stempel, Connor, Engländer und Emsheimer war insbesondere die schwedische Sprache ein Arbeitswerkzeug. Stempel und Connor beherrschten sie besser als Engländer und Emsheimer, was für eine gute Integration in die schwedische Gesellschaft bürgte. Für Engländer und Emsheimer waren aber schwedische Sprachkenntnisse nicht ausschlaggebend, da Deutsch damals noch in großem Umfang die Sprache der Musikwissenschaften und der musikgeschichtlichen Forschung war. In dem Milieu, in dem sie tätig waren, hatte diese Sprache eine starke Stellung, was ihre Integration erleichterte. Was Stempel betrifft, so muss die Tatsache, dass er nicht bereits früher Aufmerksamkeit gefunden hat, in erster Linie damit erklärt werden, dass er als Kommunist in Erscheinung trat. Er wirkte hauptsächlich in einem begrenzten kommunistischen Umfeld, und seine Stellung als Musikkritiker war kein hinreichend wichtiges Forum, um im schwedischen Musikleben einen bestehenden Eindruck zu hinterlassen. Mehr noch: Seine ideologisch gefärbte Musikkritik wurde mit deutlichem Argwohn aufgenommen. Eine Antwort auf die Frage, warum Connor, dessen Volksbildungsideal in der sogenannten Musikerziehung mit ihren deutschen Wurzeln verankert war, keine größere Aufmerksamkeit gefunden hat, ist alles andere als einfach. Er war in vieler Hinsicht ein Vorkämpfer für die Volksbildung im heranwachsenden Volksheim und schrieb außerdem eine der ersten umfassenden Darstellungen des schwedischen Musiklebens mit dem Titel Svensk musik. Eine Erklärung mag sein, dass die musikalische Volksbildung in der schwedischen Musikhistoriografie nicht weiter beachtet wurde. Und eine weitere, dass man seine gelegentlich reaktionären Ansichten als veraltet empfand.
Die zähe Struktur der schwedisch-deutschen Kulturverbindungen Nicht zuletzt stellt sich die Frage, was das Resultat der Untersuchung über die schwedisch-deutschen Kulturverbindungen nach dem zweiten Weltkrieg und die Sicht auf „das Deutsche“ tatsächlich aussagt. Auch wenn die Untersuchung keineswegs allumfassend ist, lässt sich deutlich erkennen, dass die Kontakte mit dem deutschen Musikleben und der deutschen Musikgeschichte sowie dem, was man als deutschsprachiges Kulturerbe betrachtete, auch nach 1945 aufrechterhalten wurden, vor allem hinsichtlich dessen, was im Mittelpunkt dieses Aufsatzes steht. Die Exilanten waren in ihrem schwedischen Exil Vermittler und Vertreter der deutschsprachigen Kultur und steuerten damit einen bedeutenden und umfassenden Beitrag zum schwedischen Musikleben bei.
Deutschsprachiges Musikexil in Schweden
235
Die Entwicklung der beschriebenen fünf Exilanten und weitere, vielfältige Beispiele aus der Musik und Musikpädagogik erlauben es, von einem zähen Festhalten am Deutschen zu sprechen – was nicht mit dem Bild übereinstimmt, das die frühere Forschung zeichnete, in der eher davon die Rede ist, dass das kulturelle und intellektuelle Deutschsprachige regelrecht entthront wurde.³⁶ Die Verbindungen des schwedischen Musiklebens mit Deutschland wurden durch Erfahrungen, die man mit dem Nationalsozialismus gemacht hatte, nicht radikal unterbrochen. Die intellektuelle und kulturelle Abwendung von der deutschsprachigen Kultur und die Hinwendung zur angelsächsischen Kultur, die in der schwedischen Gesellschaft so umfassend war, werden im Bereich des Musiklebens nicht so deutlich. Die deutschen Verbindungen wurden beibehalten, und man hoffte wohl auf ein baldiges deutsches kulturelles Wiedererwachen – ohne braune Farbe. Sogar eine Reihe deutschsprachiger Musikwissenschaftler, die dem NS-Regime gedient und dessen rassistische und menschenverachtende Wertevorstellungen akzeptiert hatten, wurden im schwedischen Musikleben sehr bald wieder rehabilitiert.³⁷
Ein Ansatzpunkt für weitere Forschung. Die Exilanten, die in dieser Untersuchung behandelt wurden, sollte man nicht nur als Vermittler des Kulturerbes der deutschsprachigen Länder würdigen, sondern in großem Ausmaß auch als Persönlichkeiten, die nationale Grenzen überschritten haben. Und dies nicht nur in ihrer Eigenschaft als Exilanten, sondern auch hinsichtlich ihres soziokulturellen Hintergrundes und – wie sie ihn verstanden – wegen ihres Musikberufes und ihrer ästhetischen Ansichten. Das deutschsprachige musikalische Erbe ist zwar von einem starken nationalen Nimbus umgeben, einer Art Germanozentrierung, und die Musik wird als deutscheste aller Kunstgattungen empfunden, aber die allgemeine Kompetenz, das Berufsverständnis und das ästhetische Verständnis hatten zur Folge, dass die transnationalen Aspekte hervortraten. Bei Stempel verschmolzen russische, deutsche und österreichische Impulse miteinander; das Interesse an nicht-europäischer Musik prägte Emsheimers wissenschaftliche Leistung, und Connor sprach davon, dass das „Blut von vier Nationen“ in seinen Adern fließe. Für Holewa war typisch, dass er vom Nationalen Abstand nahm und das Universelle bejahte, während Engländers Dahlstedt, Sten: Individ och innebörd. Forskningsinriktningar och vetenskapsteoretiska problem inom svensk akademisk musikforskning 1942– 1961. Göteborg 1999. Östling, Johan: Nazismens sensmoral. Svenska erfarenheter i andra världskrigets efterdyning. Stockholm 2008. Rosengren, Från tysk höst till tysk vår,, S. 162– 167.
236
Henrik Rosengren
Interesse für die Musik des 18. Jahrhunderts in transnationalen Vorstellungen und einem Interesse für Impulse wurzelte, die von verschiedenen europäischen Höfen ausgegangen waren. Hinzu kamen einerseits Loyalitäten zu jüdischen Gemeinschaften und Erfahrungen, die nationale Grenzen überschritten, und andererseits die Konfrontation mit antisemitischen Vorstellungen von einem entwurzelten Kosmopolitismus. Bei den fünf hier behandelten Männern ließen sich national bedingte Vorstellungen, die sich in erster Linie auf das Kulturerbe des deutschsprachigen Mitteleuropa bezogen, ebenso finden wie ästhetische Prämissen, aber auch transnationale Erfahrungen und Vorstellungen. Die Auswahl der Exilanten, die hier näher untersucht wurden, gründet vor allem darauf, dass sie in einer kulturellen Öffentlichkeit sichtbar waren. Die Mehrheit der Musiktätigen, die nach Schweden flohen, waren beispielsweise praktizierende Musiker, nicht zuletzt Frauen, die weniger sichtbar waren, aber deren Bedeutung auch nicht zu unterschätzen ist. Ihre spezifische Erfahrungen zu erforschen, wäre eine wichtige Aufgabe, die noch unerledigt ist. Ich hoffe, zu ähnlichen Arbeiten in dieser Richtung angeregt zu haben. Ausgehend von der hier vorliegenden Studie, können die Bedeutung der Musikexilanten für die Entwicklung der musikalischen Moderne in Schweden, die transnationalen und professionellen Erfahrungen – ebenso wie die im Bereich der Ausbildung, die sie mit sich brachten –, sowie die für die Verhältnisse im schwedischen Musikleben ungewöhnlichen Sympathien für eine radikale Linke, wichtige Anknüpfungspunkte sein. (Übersetzung aus dem Schwedischen: Helmut Müssener)
Fluchthilfe und Selbstorganisation 1933 – 1945
Pontus Rudberg
Deutsch-jüdischer Einfluss auf schwedisch-jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939 Seit der Gründung der Jüdischen Gemeinde in Stockholm durch deutsch-jüdische Einwanderer am Ende des 18. Jahrhunderts war der Einfluss der deutschen Judenheit entscheidend, und dies galt auch noch zum Zeitpunkt der NS-Machtübernahme in Deutschland. Alle Vorsteher der Gemeinde stammten von deutschjüdischen Emigranten ab. Einer der beiden Gemeinderabbiner wurde in Deutschland geboren, wo er während des Ersten Weltkriegs Feldrabbiner gewesen war. Mehrere der führenden Mitglieder der Gemeinde waren dort ausgebildet worden, und viele verfügten über enge Verbindungen zu Vertretern jüdischer Organisationen in Deutschland und deutschen Juden im schwedischen Exil. Der Hilfsfonds der Jüdischen Gemeinde in Stockholm für Deutschlands Juden, später Hilfskomitee genannt, erklärte 1933 in einem seiner Berichte, der größte Teil der Spenden, die man bekommen habe, und zwar 60.000 Schwedenkronen, habe man für Zwecke ausgegeben, die man gemeinsam mit der zentralen deutschen Hilfsorganisation, dem Zentralausschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau, festgelegt habe.¹ Als David Köpniwsky, ein Angestellter der Gemeinde, nach dem Krieg die Hilfstätigkeit der Gemeinde während der NS-Herrschaft in Deutschland zusammenfassend schilderte, schrieb er, man sei im großen Ganzen den Regeln gefolgt, auf die man sich während der ersten Jahre nach der Machtübernahme geeinigt habe.² Es ist daher erstaunlich, dass sich die bisherige Forschung nur wenig mit der Frage beschäftigt hat, welchen Einfluss deutsch-jüdische Organisationen wie der oben erwähnte Zentralausschuss auf die Hilfsarbeit der schwedischen Juden genommen haben. Eine Reihe von Wissenschaftlern hat stattdessen das „Wie“ der schwedisch-jüdischen Hilfsmaßnahmen mit dem Ausgangspunkt in ihren politischen und religiösen Ansichten, der ihnen zugeschriebenen Identität oder ver-
Riksarkivet (RA), Judiska församlingen i Stockholms Arkiv (JFA), Hjälpkommittén, E 2:1, Promemoria rörande den av härvarande hjälpfond för Tysklands judar hittills utövade hjälpverksamheten m. m., Stockholm 18. 10. 1935. Köpniwsky, David: Några ord och siffror […]. Mosaiska församlingen i Stockholm 1951. Opublicerad rapport. S. 4. https://doi.org/9783110532289-013
240
Pontus Rudberg
meintlich persönlichen Haltung erklärt.³ Svante Hansson, Politologe und Nestor im Bereich der Jüdischen Studien in Schweden, der ein Weißbuch über die Flüchtlingshilfe der Jüdischen Gemeinde in diesen Jahren verfasst hat, diskutiert einleitend in einem Kapitel die Frage, welchen Einfluss die deutschen jüdischen Organisationen zu nehmen versuchten, aber behandelt nicht, wie groß dieser tatsächlich war.⁴ Dagegen erwähnt er den Kontakt zwischen Marcus Ehrenpreis, dem Oberrabbiner der Stockholmer Gemeinde, und Leo Baeck, dem wichtigsten damaligen Vertreter der Juden in Deutschland, in Berlin. Er verweist mehrmals auf ein Interview mit Mauritz Grünberger, dem Kassenwart der Gemeinde, der behauptet hat, Ehrenpreis habe Baeck mehrere Male in den 1930er-Jahren in Stockholm getroffen und mit ihm diskutiert, wie man auf die antijüdischen Maßnahmen Deutschlands reagieren solle. Grünberger zufolge hätten beide Rabbiner darin übereingestimmt, eine organisierte Emigration deutsch-jüdischer Flüchtlinge nach Schweden sei nicht anzuraten; sie seien der Meinung gewesen, dass dies der Lage der Juden, die sich noch in Deutschland befanden, hätte schaden können.⁵ Wenn auch Baeck möglicherweise Ehrenpreis nie persönlich in Stockholm getroffen hat, so kannten sich die beiden Rabbiner sicher seit früher. Ehrenpreis hatte in seiner Jugend zusammen mit Baeck an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin studiert, und sie standen miteinander in Verbindung, wenn es darum ging, in verschiedenen Fragen Rat zu erteilen.⁶ Aber selbst wenn sie sich nicht persönlich getroffen hätten, so wäre es wenig erstaunlich, wenn sie nicht der Auffassung gewesen wären, die Grünberger bezeugt. Die liberale deutsch-jüdische C.-V.-Zeitung, das Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, fragte sich noch am 9. Mai 1935, warum die Juden der deutschen Regierung helfen sollten, dass jüdische Problem dadurch zu lösen, dass sie ihren eigenen Auszug organisierten, und eine ähnliche Auffassung vertraten einige der Leiter der führenden amerikanisch-jüdischen Hilfsorganisation, des American Jewish Joint Distribution Committee (JDC). Doch war dies kaum die einzige oder auch nur die allgemeine Ansicht der Vertreter der deutschen oder amerikanischen Juden.⁷
Siehe z. B. Koblik, Steven: The Stones Cry Out. Sweden’s Response to the Persecution of the Jews 1933 – 1945. New York 1988, S. 47– 50. Mehrere spätere Studien stützen sich auf Kobliks Urteil über die Hilfsleistungen der schwedischen Juden während dieser Periode. Hansson, Svante: Flykt och överlevnad – flyktingverksamhet i Mosaiska Församlingen i Stockholm 1933 – 1950. Stockholm 2004. S. 90 – 93. Hansson, Flykt och överlevnad, S. 90 – 93. Siehe z. B. RA, JFA, Hjälpkommittén E 1:1, Leo Baeck – Marcus Ehrenpreis, Berlin 16. 10. 1933. Bauer, Yehuda: My Brother’s Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929 – 1939. Philadelphia 1974. S. 115 – 116.
Deutsch-jüdischer Einfluss auf schwedisch-jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939
241
Dagegen kann kaum bezweifelt werden, dass die zentralen jüdischen Organisationen in Deutschland die Reaktion jüdischer Hilfsorganisationen in der gesamten Welt auf die nazistische Unterdrückung während der ersten Jahre NSHerrschaft beeinflusst haben. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die Jüdische Gemeinde in Stockholm eine Ausnahme war. Wie sahen nun die Richtlinien der führenden deutsch-jüdischen Organisationen aus, die man nach Schweden vermittelte, und wie bzw. in welchem Ausmaß beeinflussten sie die Hilfsarbeit der schwedischen Juden?
Eine Brücke zwischen Liberalen und Zionisten Ludwig Tietz, der Gründer des Zentralausschusses, und Max Warburg, der Vorsitzende des Hilfsvereins der Deutschen Juden, hielten sich selbst für unpolitisch und deshalb für eine natürliche Brücke zwischen liberalen und zionistischen Gruppen in Deutschland. Während Tietz über Chaim Weizmann in London mit jüdischen Organisationen in Großbritannien Kontakt aufnahm, war Warburgs Bruder Leiter des JDC in New York. Im Zentralausschuss arbeitete eine Reihe von geschickten Sozialfürsorgern und Administratoren, Leo Baeck selbst war Vorsitzender. Tietz seinerseits wurde zum ersten Generalsekretär der Organisation ernannt und leitete ihre Arbeit zusammen mit einer Gruppe von Zionisten und Mitgliedern des liberalen Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, unter ihnen Werner Senator und Karl Melchior. Zu dieser Gruppe gehörten auch eine Reihe prominenter führender Persönlichkeiten und Aktivisten wie Friedrich Brodnitz, Friedrich Borchardt, Cora Berliner, Max Kreutzberger, Salomon Adler-Rudel und Paul Epstein.Von Anfang an arbeitete der Zentralausschuss eng mit anderen jüdischen Organisationen in Deutschland zusammen und übernahm die Rolle einer Dachorganisation für die anderen größeren Hilfsorganisationen; am 1. April 1934 wurde sie der deutsch-jüdischen Zentralorganisation, der Reichsvertretung der Deutschen Juden, angeschlossen.⁸ Die Jüdische Gemeinde in Stockholm gründete ihren Hilfsfonds für Deutschlands Juden im April 1933, und die neue Organisation nahm sogleich Verbindung mit dem Zentralausschuss auf, um in Erfahrung zu bringen, ob man helfen könne. Tietz selbst antwortete brieflich am 17. Mai 1933 und fügte eine Broschüre bei, die erklärte, wie die jüdische Hilfsarbeit in Deutschland organisiert Bauer, My Brother’s Keeper, S. 109 – 110; Gottlieb, Amy Zahl: Men of Vision: Anglo-Jewry’s Aid to Victims of the Nazi Regime, 1933 – 1945. London 1998. S. 8; Bentwich, Norman: They Found Refuge. London 1956. S. 12; „Zentralauschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau“ in Encyclopedia of the Holocaust. New York 1990. S. 1732.
242
Pontus Rudberg
war. Die dem Zentralausschuss unterstellten Organisationen waren für verschiedene Bereiche zuständig. Das Palästina-Amt war für die Emigration nach Palästina verantwortlich, der Hilfsverein der deutschen Juden half bei der Vorbereitung der Emigration in andere Länder als Palästina, und es existierte ferner eine Abteilung für die Repatriierung nach Osteuropa. Auch der oben erwähnte Centralverein war ebenso wie die Zentralwohlfahrtsstelle und mehrere andere Organisationen dem Zentralausschuss angeschlossen. Laut Tietz gehörte zu den Hilfeleistungen, die die jüdischen Organisationen in Deutschland anboten, außer der Armenfürsorge die Arbeitsvermittlung für diejenigen, die in Deutschland ihre Arbeit verloren hatten, und Hilfe bei der Suche nach Erwerbsmöglichkeiten im Ausland.⁹ Im August desselben Jahres schrieb Dr. Stern, der den Zentralausschuss in Amsterdam vertrat, an die Jüdische Gemeinde in Stockholm und erbat Auskunft darüber, ob und wie man in Schweden für jüdische Flüchtlinge Umschulungen durchführen könnte. Er bat die Stockholmer Gemeinde ausdrücklich darum, vor einer Entscheidung die Frage direkt mit den leitenden Persönlichkeiten des Zentralausschusses zu besprechen und nicht mit einzelnen jüdischen Gemeinden in Deutschland.¹⁰ Die Gemeinde antwortete indessen, man wolle die Spenden, die eingesammelt worden waren, dazu benutzen, mittellosen Flüchtlingen zu helfen, die sich bereits in Schweden befanden, versuche aber, vor einer endgültigen Entscheidung über andere Hilfsmaßnahmen zuerst die Meinung des Zentralausschusses dazu einzuholen.¹¹ Bereits zu diesem Zeitpunkt beabsichtigte dieser also schon in gewissem Maße die Hilfstätigkeit der Stockholmer Gemeinde zu kontrollieren, aber diese Wünsche sollten noch deutlicher werden.
Wünsche und Anweisungen In einem anderen Brief später im August verdeutlichten die führenden Persönlichkeiten des Zentralausschusses, Tietz und Senator, die übergreifenden Gedanken und Pläne für die deutsch-jüdische Hilfstätigkeit und ließen erkennen, auf welche Hilfsmaßnahmen die schwedischen Juden sich konzentrieren sollten. Sie schilderten, wie überaus groß die Aufgaben des Ausschusses seien, dass jü-
RA, Hjälpkommittén, E 1:2 Ludwig Tietz (Zentralausschuss der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau – [ZA]) – Mosaiska församlingen i Stockholm, Charlottenburg, 17. 5. 1933. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:2, Dr. Stern (ZA) – Mosaiska församlingen i Stockholms föreståndare, Amsterdam, 16. 8. 1933. RA, JFA, Hjälpkommittén E 1:2, Mosaiska församlingens i Stockholm föreståndare – ZA, Stockholm, 23. 8. 1933. Konzept oder Kopie.
Deutsch-jüdischer Einfluss auf schwedisch-jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939
243
dische Vermögen und finanzielle Mittel schnell schrumpften und dass plötzlich Tausende vor wirtschaftlichen Schwierigkeiten ständen. Trotz sofortiger Hilfe und auch der Aussicht auf berufliche Umschulungen seien viele Juden gezwungen, Deutschland zu verlassen und ihren Lebensunterhalt in anderen Ländern zu finden. Ein besonderes Problem sei ferner, so erklärten sie, die Schulsituation jüdischer Kinder und Jugendlicher. Obwohl man so lange wie möglich versucht habe, auf eigenen Beinen zu stehen, hätte sich der Hilfsbedarf ständig erhöht, so dass der Zentralausschuss von der Hilfe britischer und amerikanischer Juden abhängig geworden sei. Tietz und Senator drückten ihre Dankbarkeit darüber aus, dass auch die Jüdische Gemeinde in Stockholm ihnen helfen wolle, und erklärten, es seien vor allem drei Gebiete, auf denen sie ihnen helfen könnte. Das erste seien Umschulungen. Die Organisation der Emigration aus Deutschland werde mit jedem Tag schwieriger, und man brauche tausende Plätze für Berufsausbildung und Umschulung, um jüdische Jugendliche auf die Emigration vorzubereiten. Der Zentralausschuss teilte mit, es sei erwünscht, dass die Jüdische Gemeinde in Stockholm so weit wie irgend möglich die Bemühungen um „Berufsumschichtung und Ausbildung“ unterstütze. Als besonders wichtig in diesem Bereich wurde die Tätigkeit der Hechaluz-Bewegung bezeichnet. Zweitens erklärten Tietz und Senator, sie hätten von der Initiative gehört, in Schweden ein Internat für jüdische Kinder zu gründen, und man wolle gern hören, was die Gemeinde in Stockholm davon halte. Die beiden schrieben auch, sie hätten Verständnis dafür, dass die jüdische Gemeinde in Schweden klein und nicht in der Lage sei, größere Summen für die Hilfstätigkeit zu sammeln, betonten aber auch, dass es dennoch für sie möglich sein sollte, mit kleineren Beträgen für die Unterstützung gewisser Bereiche – wie die Einrichtung von Schulen – beizutragen. Zum Schluss unterstrichen sie, es sei wichtig, dass Kinder und Jugendliche von Deutschland aus direkt nach Palästina fahren könnten, um dort in die Schule zu gehen oder eine Berufsausbildung zu erhalten. Sie erklärten auch, dass die deutschen Juden nur begrenzte Möglichkeiten hätten, Geld von Deutschland nach Palästina zu transferieren, und deshalb sehr davon abhängig seien, Hilfe von Juden aus dem Ausland zu erhalten.¹² In seinem Weißbuch über die Tätigkeit der Stockholmer Gemeinde erwähnt Hansson diesen wichtigen Brief mit seinen Anweisungen nicht, wohl aber beschreibt er kurz den Besuch, der Tietz im September 1933 zur Kontaktaufnahme zwischen den beiden Organisationen nach Stockholm führte.¹³ In einem Brief vom 14. September 1933 hatte Grünberger Tietz eingeladen, persönlich
RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:2, Ludwig Tietz und Werner Senator – Leodor [fälschlicherweise adressiert Olaf] Levy, Charlottenburg, 24. 8. 1933. Hansson, Flykt och överlevnad, S. 91– 92.
244
Pontus Rudberg
nach Stockholm zu kommen, um die Hilfstätigkeit der Jüdischen Gemeinde zu diskutieren und Ratschläge zu geben, Er schlug Tietz vor, am 23. desselben Monats zu kommen.¹⁴ Am selben Tag schrieb die Stockholmer Gemeinde auch an die Jüdischen Gemeinden in Göteborg und Malmö, berichtete zusammenfassend über ihre Hilfstätigkeit und erwähnte, das Hilfskomitee habe beschlossen, Tietz nach Stockholm einzuladen, um die Mitglieder des Komitees zu treffen und um über die Lage der Juden in Deutschland zu informieren. Man lud beide Gemeinden ein, Vertreter zum Treffen mit Tietz zu schicken.¹⁵ Tietz antwortete, er käme gern zum vorgeschlagenen Datum.¹⁶ Albert Zadig aus Malmö schrieb, dass kein Vertreter aus Malmö erscheinen könne, aber bat darum, anschließend informiert zu werden. Emil Glück, Regimentsveterinär und Leiter des schwedischen Zweigs der Hechaluz-Bewegung, der ebenfalls eingeladen war, unterrichtete Grünberger, auch er könne nicht teilnehmen. Die Göteborger Gemeinde war dagegen durch ihren Vorsitzenden Carl Mannheimer vertreten.¹⁷ Der Besuch von Tietz fand während eines Wochenendes vom 22. bis 24. September statt, und Grünberger berichtete darüber später in einem Brief an Glück.¹⁸ Eine erste Begegnung fand am Samstagabend statt, als Tietz mit dem Vorsteher der Jüdischen Gemeinde, Marcus Ehrenpreis, und dem Vorsitzenden der Gemeinde in Göteborg, Carl Mannheimer, zusammentraf. Hans Schäffer, der ehemalige Staatsminister im deutschen Finanzministerium, der ursprünglich im Zusammenhang mit dem Bankrott des Kreuger-Konzerns als Berater und Vertreter eines deutschen Unternehmens nach Schweden gekommen war, aber nun im Exil in Jönköping lebte, nahm ebenfalls teil. Er verfügte über gute Verbindungen zur schwedischen Industrie und Bankwelt und wurde mit Empfehlungen von Freunden – wie dem älteren Marcus Wallenberg – so allmählich auch schwedischer Staatsbürger.¹⁹ Das Treffen begann mit einem Bericht von Tietz über die
RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:2, Mauritz Grünberger – Ludwig Tietz, Stockholm, 14. 9. 1933. Konzept oder Kopie. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:2, Mosaiska församlingen i Stockholm – Mosaiska församlingen i Göteborg och Mosaiska församlingen i Malmö, Stockholm, 14. 9. 1933. Konzept oder Kopie. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:2, Ludwig Tietz (ZA) – Mosaiska församlingen i Stockholm, Berlin, 18. 9. 1933. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:2, Albert Zadig – Mosaiska församlingen i Stockholms Hjälpkommitté för Tysklands judar, Malmö, 20. 9. 1933; RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:2, Emil Glück – Mosaiska församlingen i Stockholm, Helsingborg 22. 9. 1933; RA, JFA, Hjälpkommittén E 1:18, Mauritz Grünberger – Emil Glück, Stockholm 19. 10. 1933. Kopie. Hjälpkommittén E 1:18, Mauritz Grünberger – Emil Glück, Stockholm 19. 10. 1933. Kopie. Hansson zitiert Ausschnitte aus dem Brief, siehe Hansson, Flykt och överlevnad, S. 91– 92. Lindgren, Håkan: Jacob Wallenberg 1892– 1980. Stockholm 2007. S. 207, 238.
Deutsch-jüdischer Einfluss auf schwedisch-jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939
245
allgemeine Lage der Juden in Deutschland. Grünberger zufolge hatte er erklärt, am schwierigsten sei die Situation der jüdischen Jugend und am allerschwersten, es ihnen zu ermöglichen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die jüdische Hilfstätigkeit solle in erster Linie darauf abzielen. Tietz unterstrich auch, eine großangelegte deutsch-jüdische Emigration sei unausweichlich; schätzungsweise müssten in den kommenden zehn Jahren 50.000 der rund 600.000 Juden in Deutschland emigrieren.²⁰ Man braucht kaum zu erwähnen, dass diese Schätzung aufgrund der sich verschärfenden Diskriminierung und Verfolgung bald nicht mehr aktuell war. Welchen Beitrag sollten nun die schwedischen Juden leisten, um ihren Glaubensbrüdern in Deutschland zu helfen? In erster Linie sollte Geld gespendet werden. Tietz hob jedoch hervor, man solle lediglich ausnahmsweise und dann ausschließlich auf Wunsch des Zentralausschusses Geld nach Deutschland schicken. Die schwedische Hilfe solle vor allem auf die „berufliche Umschichtung“ der deutsch-jüdischen Jugendlichen abzielen, so dass die Tätigkeit in intellektuellen Berufen durch Handwerk und Landwirtschaft ersetzt werden könne. Grünberger zufolge hatten Tietz wie Schäffer mehrmals betont, man solle nichts unternehmen, was die Lage der bereits existierenden jüdischen Minderheiten in den Ländern in Mitleidenschaft ziehen könnte, in denen die Umschulung vorgenommen werden sollte. Tietz habe auch mit „Intensität und Emphase“ erklärt, es sei absolut notwendig, dass die Hilfsarbeit eine einheitliche Leitung hätte und dass keine Maßnahmen vorgenommen werden sollten, die nicht im Voraus vom Zentralausschuss gebilligt worden waren. Schenkt man Grünberger Glauben, so gab Tietz den Anwesenden mehr oder weniger dieselben Anweisungen, die Senator und er bereits einen Monat vorher der Gemeinde brieflich erteilt hatten. Die schwedische Hilfstätigkeit solle sich auf drei Bereiche konzentrieren: Sie solle erstens die Landwirtschaftsausbildung für Jugendliche in Palästina und anderen Ländern, zweitens eine gleichartige Ausbildung der Chaluzim in Schweden und drittens das jüdische Landschulheim unterstützen, das ein deutsch-jüdisches Ehepaar, Ludwig und Charlotte (Lotte) Posener, in Schweden eröffnen wollte. Während des Treffens sei auch danach gefragt worden, wie man mit einzelnen jüdischen Flüchtlingen verfahren solle, und die beiden Befragten hätten „darauf bestanden“, man solle sehr vorsichtig sein, wenn man Flüchtlinge unterstütze, die auf eigene Faust nach Schweden gekommen seien und nicht vorher überlegt hätten, wie sie ihren Lebensunterhalt verdienen können. Man solle nur solchen Flüchtlingen helfen, die aller Wahrscheinlichkeit nach langfristig gute Chancen hätten, sich in Schweden selbst zu
RA, JFA, Hjälpkommittén E 1:18, Mauritz Grünberger – Emil Glück, Stockholm, 19. 10. 1933.
246
Pontus Rudberg
versorgen. Nicht geholfen werden solle dagegen, wenn es sicher oder sehr wahrscheinlich sei, dass eine solche Selbstversorgung aufgrund der schwedischen Ausländergesetzgebung oder der Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht möglich sein werde. Grünberger zufolge habe man diese Einstellung damit begründet, die Gelder seien mehr oder weniger „unproduktiv“, wenn sie dazu benutzt würden, „Reisekosten, Hotelrechnungen und Ähnliches“ zu finanzieren. Am Tag danach wiederholte Tietz seinen Bericht vom vorherigen Abend vor mehr als dreißig Mitgliedern der Gemeinde.²¹ Die schwedischen Juden erhielten also genaue Anweisungen von der zentralen Instanz, die eine breite Allianz deutsch-jüdischer Organisationen vertrat. Sie beinhalteten keinesfalls, dass man für eine großangelegte Emigration von Deutschland nach Schweden vorbereitet sein solle, weil man von deutscher Seite vermutlich eine solche für unmöglich hielt, wenn man die restriktive schwedische Politik gegenüber jüdischen Flüchtlingen und die hohe Arbeitslosigkeit in Schweden berücksichtigte. Dies deutete Grünberger auch in seinem Brief an Glück an. Kurz nach dem Besuch bedankten sich Tietz und Baeck brieflich bei Arthur Fürstenberg, dem damaligen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Stockholm, für den guten Empfang, den Tietz in Stockholm bekommen hatte, und fügten hinzu, sie würden sich bald wieder melden, um Stellen für eine Berufsausbildung zu diskutieren, wenn solche aufzubringen seien.²² Aber kaum einen Monat nach seiner Rückkehr aus Schweden starb Tietz plötzlich, nur 37 Jahre alt. Wie Norman Bentwich schreibt, hätte er sich das Leben genommen, „because he could not stand the stress of events“. Schenkt man dagegen der Jewish Telegraphic Agency Glauben, so handelte es sich keineswegs um Selbstmord. Er sei an einer Blutung gestorben, die Folge einer brutalen körperlichen Misshandlung, der er im vorausgegangenen Sommer ausgesetzt gewesen sei, als er zusammen mit einer Reihe deutsch-jüdischer Jugendleiter verhaftet worden war. Tietz „was severely beaten in a Nazi cellar for hours“, und der Zustand seiner Lungen, die während des Ersten Weltkriegs durch Gas bereits in Mitleidenschaft gezogen worden waren, hätte sich dadurch sehr verschlechtert.²³ Bentwich, der Zionist war, schrieb viel später, Tietz und Melchior, der fast gleichzeitig an den Folgen eines Schlaganfalls starb, seien gestorben, „worn out by the wreck of their liberal philosophy“.²⁴ Seine Formu-
RA, JFA, Hjälpkommittén E 1:18, Mauritz Grünberger – Emil Glück, Stockholm, 19. 10. 1933. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:2, Leo Baeck och Ludwig Tietz – Arthur Fürstenberg (Mosaiska församlingen in Stockholm), Berlin, 2. 10. 1933. Bentwich, They Found Refuge, S. 13; „Dr. L. Tietz Died at 37, Leader in Social Work Among German Jews“, Jewish Telegraphic Agency, 6. 11. 1933. http://www.jta.org/1933/11/16/archive/ death-of-dr-tietz-result-of-beating-by-nazis (25. 6. 2015). Bentwich, Norman: My Seventy-Seven Years. Philadelphia 1961. S. 126.
Deutsch-jüdischer Einfluss auf schwedisch-jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939
247
lierung ist interessant, weil sie einerseits etwas über die Einstellung der deutschjüdischen Leitung zu diesem Problem aussagt – „the liberal imagination“, um Tony Kushners Begriff zu benutzen²⁵ –, aber andererseits noch mehr über die innerjüdische Debatte nach der Shoah. Hier schob man die Schuld daran, dass es nicht gelungen sei, mehr Juden vor der Endlösung zu retten, der liberalen Einstellung der jüdischen Vertreter in die Schuhe, obwohl die Art und Weise der Hilfsarbeit auf einer Zusammenarbeit zwischen Zionisten und Liberalen aufbaute, die bereits in den 1920er-Jahren begonnen hatte.²⁶
Internationale Koordinierung Aber nicht nur die jüdischen Organisationen in Schweden standen unter dem Einfluss der jüdischen Organisationen in Deutschland. Während eines Wochenendes Ende Oktober/Anfang November 1933 trafen sich Delegierte der meisten größeren jüdischen Organisationen in London auf einer International Conference for the Relief of German Jewry. Marcus Ehrenpreis war Vertreter der schwedischen Gemeinden. Einige Zeit später, am 24. November, versammelte er die Mitglieder der Stockholmer Gemeinde in der Großen Synagoge, wo er über die Konferenz berichtete, aber auch einen neuen Spendenaufruf zugunsten der Hilfstätigkeit präsentierte. Hier wurde die gemeinsame Erklärung der Londoner Konferenz zitiert, dass mehr als zwei Millionen Pfund erforderlich seien, um die Emigration deutscher Juden zu finanzieren, dass Palästina im Augenblick der einzig mögliche Zufluchtsort sei und dass ein großer Bedarf an landwirtschaftlicher und anderer beruflicher Ausbildung bestünde, um junge Flüchtlinge auf die Emigration vorzubereiten.²⁷ Im Prinzip machte sich also auch die Konferenz dieselben Richtlinien zu eigen, die der Zentralausschuss einen Monat früher in Stockholm vorgetragen hatte, was natürlich nicht zufällig war. Die größeren Organisationen teilten sicherlich seine Ansichten, und darüber hinaus hatten die Teilnehmer an der Konferenz im Voraus eine schriftliche Diskussionsvorlage erhalten, die von den englischen Vertretern Neville Laski und Norman Bentwich verfasst worden war; ihr lagen Interviews mit den Vertretern deutsch-jüdischer Organisationen zugrunde. Hier schlug man vor, die Hilfstätigkeit solle zum Ziel haben, es den
Kushner, Tony: The Holocaust and the liberal imagination. Oxford 1994. Siehe beispielsweise Niewyck, Donald L.: The Jews in Weimar Germany. Brunswick (NJ) 2001. S. 20 – 22. Ausschnitte aus der Rede von Ehrenpreis in der Synagoge wurden später publiziert in Judisk Tidskrift 7:1 (1934); der Aufruf wurde in Judisk Tidskrift 6:9 (1933), S. 324– 325 und in Judisk Krönika 7:2 (1933), S. 146 – 147 veröffentlicht; siehe auch Hansson, Flykt och överlevnad, S. 71.
248
Pontus Rudberg
Flüchtlingen zu erleichtern, nach der Emigration selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, anstatt sie mit Hilfe von philanthropischen Spendenaktionen zu unterstützen. Man urteilte auch, Palästina sei der am besten geeignete Platz für eine jüdische Einwanderung.²⁸ Dies war möglicherweise aber eher das Ergebnis pragmatischer Erwägungen der Gewährsleute, die interviewt worden waren, als das politischer Überzeugung. So schrieb Bentwich 1936: „The world seemed to be divided into the countries which did not want to keep the refugees and the countries that do not want to admit them – with the single exception of Palestine for the Jews.“²⁹ In seinem Aufruf von November 1933 erklärte das Hilfskomitee der Jüdischen Gemeinde, dass bis dato die gesamte Hilfstätigkeit mit Ausnahme der Unterstützung von Flüchtlingen in Schweden darauf ausgerichtet gewesen sei, die Emigration nach Palästina oder die Vorbereitungen dazu zu unterstützen.³⁰
Die Praxis deutsch-schwedischer Hilfstätigkeit Wie bereits erwähnt, folgte die Hilfstätigkeit der Jüdischen Gemeinde bis Mitte 1938 im Großen und Ganzen dem Muster, das während der ersten Jahre nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland festgelegt worden war. Außer der Unterstützung der Flüchtlinge, die auf eigene Faust nach Schweden gekommen waren, unterstützte das Hilfskomitee der Stockholmer Gemeinde auch die Arbeit, die von Organisationen in anderen Ländern geleistet wurde. Obwohl die Gemeindeleitung zum größten Teil aus Personen bestand, die nicht Zionisten waren, ging dennoch der Hauptteil der Auslandshilfe in die Palästina-Arbeit, die letztlich den Zweck hatte, jüdischen Flüchtlingen ein neues Heim in Palästina zu schaffen. Beispielsweise unterstützte das Komitee eine Spendenaktion für Patenschaften, die durch die Jugend-Alijah und die Jewish Agency vermittelt wurden und die die Reise nach Palästina und dort für zwei Jahre den Lebensunterhalt finanzieren sollten. Mit einer solchen Patenschaft, die 1.400 Schwedenkronen kostete, als Garantie konnten die Kinder das Zertifikat erhalten, das für die Einwanderung erforderlich war. Die Kinder- und Jugendalijah in Deutschland unterstützte die schwedische Spendenaktion aktiv. So besuchte Martha Goldberg als Vertreterin der Organisation 1937 von Berlin aus Schweden, um bei der Spendenaktion zu helfen. Insgesamt finanzierte man von schwedischer Seite Patenschaften für 45 RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:1, „The Jewish Position in Germany: Report on a Visit to Amsterdam, Brussels, Geneva, Frankfurt and Berlin – June 1st–12th“, Neville Laski u. Norman Bentwich. Bentwich, Norman: The Refugees from Germany 1933 – 1935. London 1936. S. 144. Judisk Tidskrift 6:9 (1933), S. 324– 325; Judisk Krönika 7:2 (1933), S. 146 – 147.
Deutsch-jüdischer Einfluss auf schwedisch-jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939
249
Kinder, bis diese Unterstützung 1938 eingestellt wurde und man sich stattdessen darauf konzentrierte, die Flüchtlinge in Schweden zu unterstützen.³¹ Im Übrigen konzentrierte sich die Flüchtlingshilfe des Hilfskomitees auf die beiden Transmigrationsquoten, die die Gemeinde 1933 bei der Obersten Sozialbehörde hatte erwirken können, zum einen das Kontingent für Landwirtschaftsschüler, die ihre Auslands-Hachscharah, ihre landwirtschaftliche Lehrlingsausbildung, durch die Hechaluz-Bewegung absolvieren konnten, und zum anderen das Kontingent für die Schüler im Landschulheim Kristinehov. In beiden Fällen waren deutsch-jüdische Organisationen daran beteiligt, dass die Kontingente zustande kamen. Dass eine Quote für Landwirtschaftsschüler bewilligt wurde, lag nicht nur völlig auf der Linie des Zentralausschusses, sondern vorausgegangen war auch der Besuch von zwei Vertretern des Wohlfahrts- und JugendfürsorgeAmtes der jüdischen Gemeinde in Berlin, der Herren Robert und Wollheim, bei den Jüdischen Gemeinden in Stockholm und Malmö. Mehrere Chaluzim, die ihre Hachscharah in Dänemark absolvierten, besuchten auch die lokale zionistische Vereinigung Herzlia.³² Dem Leiter des schwedischen Hechaluz, Emil Glück, gelang es ferner, eine Bescheinigung des deutschen Palästina-Amtes zu erhalten, aufgrund derer alle Jugendlichen, die ihre Hachscharah in Schweden absolviert hatten, die Genehmigung für die Auswanderung nach Palästina erhalten sollten. Das war vermutlich der Grund dafür, dass die schwedischen Behörden dem Antrag, die Tätigkeit in Schweden zu beginnen, stattgaben.³³ Das Kontingent für Landwirtschaftsschüler wuchs nach 1933, als zehn Jugendliche nach Schweden kamen, schrittweise, aber beständig bis auf mehr als 300 nach den Novemberpogromen 1938 an. Insgesamt lebten im Rahmen dieses Kontingents 490 Jugendliche in Schweden.³⁴ Ein zweites Beispiel dafür, dass deutsch-jüdische Organisationen die schwedische Hilfsarbeit beeinflussten, ist das Landschulheim Kristinehov. Am 25. April 1933 hatte man in Deutschland ein Gesetz erlassen, dass den Anteil „nichtarischer“ Schüler und Studenten an deutschen Schulen und Universitäten auf höchstens fünf Prozent begrenzte. Aber durch Ausnahmeregelungen für
RA, JFA, A 1:1, Protokoll hållet vid hjälpkommitténs sammanträde onsdagen den 16 augusti 1939. § 15. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:1, Albert Zadig – Mosaiska församlingen i Stockholm, Malmö, 31. 7. 1933. RA, JFA, Hjälpkommitté, E 1:2, Emil Glück – Mosaiska församlingen i Stockholm, Helsingborg, 22. 9. 1933. Für eine ausführliche Schilderung der Tätigkeit des Hechaluz in Schweden siehe Thor, Malin: Hechaluz – en rörelse i tid och rum. Tysk-judiska ungdomars exil i Sverige 1933 – 1943. Dissertation. Växjö 2005.
250
Pontus Rudberg
Kinder von Kriegsveteranen und Kinder, die einen arischen Elternteil hatten, stellte sich zum großen Erstaunen der Nazis heraus, dass sie für 75 Prozent der „nichtarischen“ Kinder galten. Dennoch begann der Druck auf die jüdischen Kinder bereits am gleichen Tag, an dem das Gesetz erlassen wurde.³⁵ Wollte man sich dieser Diskriminierung und Unterdrückung entziehen, so bestand eine Möglichkeit darin, deutsch-jüdische Schulen in andere Länder zu überführen oder sie dort neu zu gründen für diejenigen Schüler, die die Möglichkeit hatten, Deutschland zu verlassen. Lehrerinnen und Lehrer sowie andere Pädagoginnen und Pädagogen, die Deutschland aufgrund ihrer Abstammung oder ihrer politischen Überzeugung hatten verlassen müssen, gründeten nach 1936 außerhalb Deutschlands insgesamt mehr als 20 solcher Schulen, eine davon in Schweden.³⁶ Ludwig und Lotte Posener beabsichtigten bereits im Mai 1933, nach Schweden zu reisen, um zu untersuchen, ob es möglich war, dort ein Internat zu etablieren. Die Kinder sollten dort in den gewöhnlichen Schulfächern, aber auch in Hebräisch unterrichtet werden sowie Werkunterricht erhalten. Kurt Blumenfeld, Präsident der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, des deutschen Zweiges der zionistischen Bewegung, schrieb an Marcus Ehrenpreis und empfahl die Poseners aufs Wärmste. Blumenfeld zufolge war Ludwig Posener nicht nur Mathematiker und Physiker, sondern auch des Englischen und Hebräischen mächtig sowie ein außerordentlicher Pädagoge und hingebungsvoller Zionist. Seiner Meinung nach wäre viel für „die Sache“ gewonnen, wenn Poseners Pläne, eine Schule zu gründen, verwirklicht werden könnten.³⁷ Die Gemeinde antwortete, diese seien bereits in Stockholm und hätten ihren Vorschlag dem Hilfskomitee unterbreitet, das die Pläne sehr begrüße.³⁸ Auch der Zentralausschuss unterstützte Poseners Pläne, was von großer Bedeutung war. Kurz danach beantragte das Hilfskomitee zeitbegrenzte Aufenthaltsgenehmigungen für zunächst 60 Schülerinnen und Schüler, obwohl ihre Anzahl in Wirklichkeit 35 nicht übersteigen sollte. Es konnte im Oktober 1933 bekanntgeben, der Antrag sei bewilligt worden und die Poseners könnten eine Schule für Kinder im Alter zwischen 12 und 16 Jahren eröffnen. Die Schule lag in Löberöd in Schonen und erhielt den Namen Landschulheim Kristinehov. Es wurde am 1. Mai 1934 feierlich in der Gegenwart von 24 Schülern und
Dwork, Debórah: Children with a Star. London 1991. S. 14 f., 19. Baumel-Schwartz, Judith Tydor: Never Look Back: The Jewish Refugee Children in Great Britain, 1938 – 1945. West Lafayette (IN) 2012. S. 29. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:1, Kurt Blumenfeld – Marcus Ehrenpreis, Berlin, 5. 5. 1933. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:1, Hjälpkommittén – Kurt Blumenfeld, Stockholm, 21. 6. 1933, Kopie. Siehe auch Hansson, Flykt och överlevnad, S. 214.
Deutsch-jüdischer Einfluss auf schwedisch-jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939
251
10 Lehrern eröffnet.³⁹ Anfangs war man davon ausgegangen, dass die Eltern den Schulbetrieb finanzieren würden und das Hilfskomitee lediglich die Einrichtung der Schule finanzieren sollte. Aber da die deutschen Behörden nur einige Monate später die Geldüberweisungen stoppten, geriet die Schule in eine immer größer werdende Abhängigkeit von den Jüdischen Gemeinden in Schweden. Die Zukunft der Schule und die Frage, ob man sie schließen müsse, wurden mehrmals diskutiert, und Vertreter mehrerer deutsch-jüdischer Organisationen nahmen daran teil, so beispielsweise 1938, als die Existenz der Schule erneut bedroht war. Als die Frage im Hilfskomitee diskutiert wurde, nahmen zwei Vertreter der Reichsvertretung der Deutschen Juden, Solomon Adler-Rudel und Leo Rabau, daran teil. Sie plädierten – ebenso wie drei schriftliche Eingaben aus Deutschland – dafür, dass es wichtig sei, die Schule auch weiterhin offen zu halten, und unterstrichen ihre symbolische Bedeutung in Deutschland. Die Eingaben waren unterzeichnet vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Berlin, der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und von der Reichsvertretung der Deutschen Juden, letztere von Leo Baeck. Kristinehov war gerettet, zumindest für diesen Augenblick. Denn im Anschluss daran beschloss das Hilfskomitee, Gelder zuzuschießen, um den Schulbetrieb auch weiterhin fortzuführen.⁴⁰ Als die Schule schließlich unter anderem wegen ihrer finanziellen Schwierigkeiten geschlossen werden musste, beschloss man, die verbliebenen 35 Schüler in ein Kinderheim in Ebbarp zu überführen und die rund 10 Lehrerinnen und Lehrer, die in Schweden keine Anstellung finden konnten, durch das Hilfskomitee zu unterstützen. Dank des Landschulheims Kristinehov konnten 175 Kinder den Verfolgungen in Deutschland entkommen, zumindest während ihrer Zeit in Schweden. Denn 63 Kinder kehrten nach ihrer Ausbildung nach Deutschland zurück, um diese dort fortzusetzen. Ihr Schicksal ist immer noch unbekannt.⁴¹ Auch nach 1938 waren deutsch-jüdische Vertreter weiterhin an der Hilfstätigkeit beteiligt, als die Jüdische Gemeinde in Stockholm und das Hilfskomitee gezwungen waren, ihre Hilfe der sich stetig verschärfenden Lage für Deutschlands Juden anzupassen, da sich der Druck verstärkte und zudem jetzt auch die österreichischen Juden umfasste. Denn als die Jüdische Gemeinde mit der schwedi-
RA, JFA, Hjälpkommittén, F 4:1, Vördsam promemoria rörande de mosaiska församlingarnas hjälpkommittéer helt eller delvis underhållna hem för judiska flyktingbarn i Sverige. [Untertänigstes Memorandum betreffs der Heime für jüdische Flüchtlingskinder in Schweden, die durch die Hilfskomitees der Mosaischen Gemeinden ganz oder teilweise finanziert werden], ohne Datum. RA, JFA, Hjälpkommittén, A 1:1, Protokoll fört vid hjälpkommitténs sammanträde den 21 februari 1938 med bilagor; Hansson, Flykt och överlevnad, S. 214– 225. RA, JFA, Hjälpkommittén, F 4:1, Vördsam promemoria.
252
Pontus Rudberg
schen Regierung und den Behörden darüber verhandelte, die Quote für Landwirtschaftsschüler zu erhöhen und zwei neue Flüchtlingsquoten zu schaffen, eine für Kinder und eine für erwachsene Transmigranten, basierte das gesamte System auf der Zusammenarbeit mit den deutschen und österreichischen jüdischen Zentralorganisationen.⁴² Um die Hilfe der Gemeinde für die Flüchtlingskinder zu leiten, wurde Eva Warburg aus Hamburg nach Stockholm geholt, wo ihre Eltern Fritz und Anna Warburg bereits lebten. Von deren Wohnung aus leitete sie auch die schwedische Abteilung der Kinder- und Jugendalijah. Mit Wilhelm Michaeli und Kurt Stillschweig stellte die Gemeinde auch zwei deutsch-jüdische Juristen an, die das Hilfskomitee als Sachverständige unterstützen sollten. Und als die Gemeinde 1939 versuchte, die Behörden dazu zu bringen, die jüdische Flüchtlingsquote zu erhöhen, stand Cora Berliner von der neu etablierten Reichsvereinigung der Juden in Deutschland Mauritz Grünberger bei den Verhandlungen zur Seite.⁴³ Auch deutsch-jüdische Privatpersonen waren in die schwedische Hilfstätigkeit involviert. Im Frühjahr 1939 versuchte der ehemalige Generalkonsul Schwedens in New York, Olof H. Lamm, zusammen mit dem bereits erwähnten Hans Schäffer das amerikanische State Department dazu zu bewegen, die Visaerteilung für Juden aus Deutschland, die über Schweden fliehen wollten, generöser zu handhaben. Dabei wollte zum einen Lamm zusammen mit Gunnar Josephson, dem Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Stockholm, den Staatssekretär im schwedischen Außenministerium Erik Boheman dazu bewegen, auf das amerikanische Konsulat in Stockholm Druck auszuüben. Zum anderen sandte man eine Bittschrift, die Lamm abgefasst hatte, an den Under-Secretary im State Department George S. Messersmith. Beigefügt war ein Brief von Schäffer, der Messersmith seit früher kannte. Zudem sollte der deutsche, exilierte Bankier Erich Warburg in Washington vorstellig werden. Sowohl Lamm als auch Schäffer hoben hervor, es bestünde die Gefahr, dass sich die Lage der Juden in Deutschland weiter verschlechtere und dass sie bei einem möglichen Kriegsausbruch massakriert würden.⁴⁴ Messersmith antwortete jedoch, es sei nicht im Sinn der Politik der
Siehe hierzu Lomfors, Ingrid: Förlorad barndom – återvunnet liv. De judiska flyktingbarnen från Nazityskland. Dissertation. Göteborg 1996. RA, JFA, Hjälpkommittén E 1:13, Mauritz Grünberger – Marcus Ehrenpreis, Stockholm, 4. 8. 1939. Stockholms stadsarkiv, Generalkonsul Olof Herman Lamms arkiv, B 85, Lamm, Olof H.: Some thoughts on the German Refugee Problem. Memorandum, ohne Datum, aber mit der Notiz, es sei am 15. Februar 1939 an Hans Schäffer sowie am 20. März 1939 an Erich Warburg abgesandt worden. Center for Jewish History (CJH) New York, Leo Baeck Institute (LBI), Hans Schäffer Papers, Series 1: Box 2, Folder 11, Hans Schäffer – George S. Messersmith.
Deutsch-jüdischer Einfluss auf schwedisch-jüdische Rettungsarbeit 1933 – 1939
253
USA, die Flucht jüdischer Flüchtlinge nach den USA zu erleichtern, und notleidenden Menschen helfe man am besten in ihren Heimatländern.⁴⁵
Schlusswort Obwohl die frühere Forschung zwar bemerkt hat, dass jüdische Organisationen in Schweden in enger Verbindung mit den einflussreichsten jüdischen Organisationen und ihren Vertretern in Deutschland wie Leo Baeck und Ludwig Tietz gestanden hatten, hat sie nicht weiter untersucht, in welchem Ausmaß deutschjüdische Impulse die schwedisch-jüdische Hilfstätigkeit während der NS-Herrschaft in Deutschland beeinflusst haben. Die Richtlinien der deutsch-jüdischen Organisationen dafür, wie die Hilfstätigkeit betrieben werden sollte, beeinflussten die großen internationalen Hilfsorganisationen, so u. a. in den USA und Großbritannien. Wäre es dann nicht eher seltsam, wenn die jüdischen Organisationen in Schweden, die bereits in so hohem Maße vom jüdischen Leben in Deutschland beeinflusst waren, nicht auch davon beeinflusst wurden? In diesem Aufsatz habe ich gezeigt, dass die Jüdische Gemeinde in Stockholm 1933 durch Schreiben und persönliche Begegnungen mehrfach konkrete Wünsche und Anweisungen vom Zentralausschuss, der zentralen jüdischen Hilfsorganisation in Schweden, entgegennahm. Ich habe zeigen können, dass die Hilfstätigkeit für Deutschlands Juden, die von der Jüdischen Gemeinde in Stockholm und anderen jüdischen Organisationen, mit denen die Gemeinde zusammenarbeitete, betrieben wurde, mit den Wünschen übereinstimmte, die bis zum Kriegsausbruch von Deutschland aus vorgebracht wurden. Diese Hilfstätigkeit, die vom Zentralausschuss empfohlen wurde, bestand aus Berufsausbildung, Umschulung und Unterstützung für ein Internat für deutsch-jüdische Kinder in Schweden sowie verschiedene Formen materieller Hilfe, die im Endeffekt auf Emigration und Wiederaufbau in Palästina abzielten. Sie sollten bis zum Kriegsausbruch für die schwedisch-jüdische Hilfstätigkeit entscheidend bleiben. Es ist zwar keineswegs erstaunlich, dass sich die schwedisch-jüdischen Organisationen den Wünschen, die die Vertreter der Hilfsempfänger vorbrachten, anzupassen versuchten, wohl aber, dass die frühere Forschung dies ebenso wenig berücksichtigt hat wie die Grenzen der schwedischen restriktiven Flüchtlingspolitik. Sie deutete stattdessen die jüdische Reaktion als einen Ausdruck der
CJH, LBI, Hans Schäffer Papers, Series 1: Box 2, Folder 11, George S. Messersmith – Hans Schäffer, Washington, 27. 3. 1939. Kopie.
254
Pontus Rudberg
politischen Ansichten, der Haltung und der Sympathien des jüdischen Establishments und einzelner ihrer leitenden Persönlichkeiten. (Übersetzung aus dem Schwedischen: Helmut Müssener)
Pär Frohnert
„Seinen christlichen Auftrag gegenüber diesen Brotlosen und Unbehausten erfüllen“. Schwedische christliche Flüchtlingshilfe für österreichische Judenchristen 1938 – 1945¹ Nach dem sogenannten Anschluss im März 1938 wurde die Lage der Juden in Österreich durch die Verfolgungsmaßnahmen der nationalsozialistischen Behörden immer gefährlicher. Juden, die zum Christentum übergetreten waren – Judenchristen im damaligen Sprachgebrauch² –, gerieten in eine besonders schwierige Situation. Die Evangelische Kirche Österreichs schloss die protestantischen Juden bald danach aus, da sie nach den neuen Rassengesetzen „Juden“ waren, während die Jüdische Gemeinde Wien, bis März 1938 die Israelitische Kultusgemeinde Wien, nur den Glaubensjuden und nicht den Protestanten half. Christliche oder jüdische Hilfsorganisationen anderer Länder waren keineswegs daran interessiert, in erster Linie protestantischen Juden Unterstützung zu gewähren.
Von der schwedischen Judenmission in Wien zum Flüchtlingslager des Missionsbundes Seit 1920 unterhielt die Schwedische Israelmission (SIM) eine Station in Wien, deren Ziel es war, Juden zum Protestantismus zu bekehren. Aber die sich während der 1930er-Jahre dramatisch verändernde Lage hatte zur Folge, dass man auch bei der Auswanderung half und materiellen Beistand leistete. Insgesamt gesehen hat die SIM etwa 2.000 Personen – die genaue Zahl ist unsicher – die Ausreise aus Österreich ermöglicht, von denen um die 250 nach Schweden kamen.³ Erzbischof
Zitiert nach dem Spendenaufruf für das Flüchtlingslager in Tostarp in der Zeitung des Schwedischen Missionsbundes, Mai 1939. Riksarkivet (RA), Arninge, Svenska Missionsförbundets (SMF) flyktingkommitté, A I:1. In diesem Aufsatz werde ich von getauften, konvertierten oder protestantischen Juden sprechen. Summiert man die Angaben in den Tätigkeitsberichten der Israelmission für die Jahre 1938 – 1941, so kommt man auf etwa 1.900 Personen. Aus den Vorstandsprotokollen (Svenska Kyrkans https://doi.org/9783110532289-014
256
Pär Frohnert
Erling Eidem hatte die Initiative zur Gründung des Flyktingkommittén av den 6 september 1938 [Flüchtlingskomitees vom 6. September 1938] ergriffen, um zu untersuchen, wie judenchristliche Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Wien in Schweden für kurze Zeit eine Freistatt vor der Weiterwanderung in andere Länder bekommen konnten. Dem Komitee gehörten Vertreter aus mehreren Flüchtlingshilfsorganisationen an, darunter einige christliche, so unter anderem Missionsdirektor Birger Pernow, Leiter der SIM. Ihm gelang es im Oktober 1938, von Sigfrid Hansson, dem Generaldirektor der Obersten Sozialbehörde und Bruder des schwedischen Ministerpräsidenten, „unter der Hand das Versprechen“ für ein Einreisekontingent einiger Hundert „getaufter Kinder jüdischer Herkunft“ zu erhalten, die im Februar 1939 auch ankamen, sowie zusätzlich für 50 Jugendliche. Durch diese Beschränkung auf Kinder und Jugendliche wollte man mutmaßlich eine flüchtlingsfeindliche öffentliche Meinung beschwichtigen. Zu diesem Zeitpunkt war auch die Arbeit der jüdischen Hilfsorganisationen in Deutschland darauf ausgerichtet, Minderjährigen bei der Auswanderung zu helfen.⁴ Das Quotensystem für jüdische Flüchtlinge war 1933 mit dem Chaluz-Kontingent für deutsche Jugendliche eingeführt worden, die in Schweden für die Arbeit in der Landwirtschaft ausgebildet wurden und danach nach Palästina weiterwandern sollten.⁵ Die Kontingente waren inoffiziell und galten vor allem für Minderjährige. Mutmaßlich hing dieses System damit zusammen, dass eine staatliche Organisation für die Aufnahme von Flüchtlingen fehlte, und die gesamte Verantwortung stattdessen privaten Organisationen überlassen blieb. Bemerkenswert ist, dass das mit 500 Kindern zahlenmäßig größere Kinderkontingent der Jüdischen Gemeinde in Stockholm nach der sogenannten Kristallnacht genehmigt wurde, während der erste Transport jedoch schon Ende 1938 nach Schweden kam.⁶ Im Frühjahr 1939 wurde das Kontingent der Israelmission auf insgesamt 275 Personen erhöht, aber es konnte nie vollständig ausgenutzt wer-
Arkiv, Uppsala) geht hervor, dass weitere 30 – 40 Personen noch 1941 gerettet werden konnten, so unter anderem einige, die für die SIM gearbeitet hatten. Diese Übereinkunft wurde allem Anschein nach nie schriftlich fixiert. RA, Stockholm, Socialstyrelsens hemliga arkiv rörande utlänningsärenden E IV:1 (Div. korrespondens), chefen för Socialstyrelsens utlänningsbyrå Kurt Bergström till generalkonsul T. Bergendahl i Wien 7/12 1938; Lindberg, Hans: Svensk flyktingpolitik under internationellt tryck 1936 – 1941. Dissertation. Stockholm 1973. S. 162– 163; Lomfors, Ingrid: Förlorad barndom återvunnet liv. De judiska flyktingbarnen från Nazityskland. Dissertation. Göteborg 1996. S. 68 – 70. Thor, Malin: Hechaluz – en rörelse i tid och rum. Tysk-judiska ungdomars exil i Sverige 1933 – 1943. Dissertation. Växjö 2005. S. 143 – 146. Lomfors, Barndom, S. 19, 63 – 65, 167.
„Seinen christlichen Auftrag erfüllen“
257
den.⁷ Die Kinder wurden nach einiger Zeit in einem Kinderheim bei Familien untergebracht. Auf diese Gruppe kann im Rahmen dieses Beitrages nicht tiefer eingegangen werden, ebenso wenig wie auf die Arbeit der Mission in Wien.⁸ Etwas mehr als 20 Personen, fast ausnahmslos aus Wien, wurden ab Mai 1939 in einem kleineren Flüchtlingslager in Tostarp bei Hässleholm in Schonen untergebracht. Das Lager wurde vom Schwedischen Missionsbund [Svenska Missionsförbundet] (SMF) aufgebaut und betrieben. Der SMF war eine Freikirche, während die Israelmission eng mit der schwedischen Staatskirche in Verbindung stand.⁹ Die Missionare der SIM waren Geistliche, und die SIM arbeitete gemäß der theologischen Ordnung der Kirche. Die enge Verbindung mit der Staatskirche geht auch daraus hervor, dass der Vorsitzende des Vorstandes ein Bischof war. In diesem hier vorliegenden Text liegt das Hauptgewicht auf der Flüchtlingshilfsarbeit des Missionsbundes.¹⁰ Wie interagierte der SMF nun als Hilfsorganisation zwischen Flüchtlingen, Behörden und der Zivilgesellschaft? Wie sahen die Beziehungen zwischen dem SMF und den Flüchtlingen aus? Wie drückte der SMF sich aus, wenn man über Flüchtlinge sprach? Welche Bedeutung hatte es für seine Tätigkeit, dass es sich um eine christliche Hilfsorganisation handelte? Bereits 2008 schrieb ich einen Aufsatz über dieses Thema auf Schwedisch, wobei ich u. a. vom Archiv des SMF-Flüchtlingskomitees ausging;¹¹ für den hier vorliegenden Text konnte ich außerdem das Archiv des Flüchtlingslagers Tostapsgården benutzen, das nach 2008 zugänglich wurde, wie auch weitere Sekundärliteratur.
Svenska Israelsmissionen. Verksamhetsberättelse. [Tätigkeitsberichte der Schwedischen Israelmission]. Schon im Frühjahr 1938 hatte die SIM die Erlaubnis bekommen, Frauen aus Wien als Dienstmädchen ins Land zu bringen; nur wenige erhielten allerdings eine Einreiseerlaubnis. Lindberg, Svensk flyktingpolitik, S. 162– 163, 330; Åsbrink, Elisabeth: Och i Wienerwald står träden kvar. Stockholm 2011. S. 49 – 50. Hansen, Lars-Erik: Önskas: frisk 3-års arisk flicka: flyktinghjälp 1938 – 1948 speglat i ett personarkiv. In: Krig och fred i källorna. Hrsg. von Kerstin Abukhanfusa. Stockholm 1998. S. 231– 237. Siehe Frohnert, Pär: „De behöva en fast hand över sig“. Missionsförbundet, Israelsmissionen och de judiska flyktingarna 1939 – 1945. In: En problematisk relation? Flyktingpolitik och judiska flyktingar i Sverige 1920 – 1950. Hrsg. von Lars M. Andersson u. Karin Kvist Geverts. Uppsala 2008. S. 227– 248. Zur Verbindung mit der Staatskirche, siehe Fornberg, Tord: The Swedish Theological Institute in Jerusalem: Turbulent Times and Changing Emphases. In: Swedish Missiological Themes 91, No. 3 (1991), S. 417– 428. Meine Forschung zur SIM ist noch nicht abgeschlossen. Sie ist Teil meines Projektes über die schwedischen Flüchtlingshilfsorganisationen, so u. a. über die Flüchtlingshilfe der Arbeiterbewegung [Arbetarrörelsens flyktinghjälp] und die Rote Hilfe [Röda hjälpen]. Frohnert, En fast hand.
258
Pär Frohnert
Zum Stand der Forschung Seine Jahre als Leiter der Station der Israelmission in Wien von 1938 bis 1940 schildert der Vorsteher, Pastor Göte Hedenquist, in einem Buch. Es ähnelt eher Memoiren, aber es enthält dennoch wichtige Informationen, obwohl er gewissen gewichtigen Fragen aus dem Weg geht.¹² Die grundlegende Arbeit über die Israelmission ist die kirchengeschichtliche Dissertation von Lars Edvardsson.¹³ Sie ist rein deskriptiv und vermittelt etliche Auskünfte, die jedoch gelegentlich aufgrund mangelnder Quellenkritik infrage gestellt werden können.¹⁴ So beziffert er an Hand der Tätigkeitsberichte die Anzahl der Flüchtlinge, die die SIM aus Österreich retten konnte, auf ungefähr 1.900, macht sich aber dennoch die Angabe Pernows aus dem Jahre 1945 zu eigen, es habe sich um insgesamt 3.000 Personen gehandelt. Edvardsson hebt auch hervor, die SIM habe versucht, noch wesentlich mehr Leuten zu helfen, habe aber dafür nicht über die finanziellen Mittel verfügt. Dass die Organisation vor allem protestantischen Juden geholfen habe, sei, so meint er, „an und für sich selbstverständlich gewesen, wenn man bedenke, welchen Kontakt man mit ihnen gehabt habe“.¹⁵ Edvardsson hebt auch das apokalyptische Element in Pernows Beweggründen hervor. Die zunehmende Verfolgung der Juden, die von Gott gestraft würden, nachdem sie einst den Messias verworfen hätten, solle sie auf die Erlösung vorbereiten und damit Jesu Rückkehr und das Ende aller Zeiten verkünden. Er schrieb 1938, die Verfolgung sei „der Frühlingssturm, der den wunderbaren Sommer des Reiches Gottes vorbereite“.¹⁶ Anna Bessermann hat beschrieben, wie sich die apokalyptische Sichtweise auf die Juden und das Judentum innerhalb der volkskirchlichen Erweckungsbewegung um 1900 und danach entwickelt hat. Ihrer Meinung nach sei diese Bewegung eng mit traditionellem Antijudaismus und Antisemitismus verbunden gewesen. Ende der 1930er-Jahre begannen aller-
Hedenquist, Göte: Undan förintelsen. Svensk hjälpverksamhet i Wien under Hitlertiden. Älvsjö 1983. Beispielsweise schreibt Hedenquist nichts über seinen Beitrag zum Sammelband aus dem Jahre 1943: Kan Judafolket räddas? [Kann das Judenvolk gerettet werden?]. Dort stellt er Überlegungen darüber an, ob die aktuelle Verfolgung der Juden nicht die Vermutung zuließe, dass sie jetzt erlöst werden könnten. Vgl. Sjögren, Monika: Det var en gång en vallareman. Boken om Göte Hedenquist – en modig präst och en ovanlig pappa. Stockholm 2013. Sie nimmt zur Kritik Elisabeth Åsbrinks an ihrem Vater Stellung. Edvardsson, Lars: Kyrka och judendom. Svensk judemission med särskild hänsyn till Svenska Israelsmissionens verksamhet 1875 – 1975. Dissertation. Lund 1976. Ingmar Brohed veröffentlichte 1976 eine kritische Rezension in Kyrkohistorisk årsskrift (Band 76), 1976, S. 324– 332. Edvardsson, Kyrka och judendom, S. 92, 102 (Zitat). Edvardsson, Kyrka och judendom, S. 109 – 112 (Zitat 112).
„Seinen christlichen Auftrag erfüllen“
259
dings vereinzelt Verfasser innerhalb der SIM damit, gewisse antisemitische Vorstellungen zurückzuweisen. Der Theologe Ulf Carmesund hat Pernows Sichtweise auf die Juden gründlich analysiert; er bezeichnet seine Verhaltensweise als „superstitious“. Gleichzeitig hebt er hervor, dass Pernows Mahnung, den Juden bereits im Diesseits zu helfen, ehrlich gemeint gewesen sei und mit einem christlichen Verantwortungsgefühl in enger Verbindung gestanden habe.¹⁷ Der amerikanische Historiker Steven Koblik schätzte dagegen 1988 die Arbeit der Israelmission wesentlich kritischer ein als Edvardsson. Er behauptete, Pernow habe eine sehr zentrale Rolle gespielt, da er in der Schwedischen Kirche der Sachverständige für jüdische Fragen gewesen sei. Koblik bezeichnet die Flüchtlingshilfe als „nur begrenzt erfolgreich“; Kinder und Jugendliche hätten im Mittelpunkt gestanden, weil die SIM dadurch eine bessere Kontrolle hätte ausüben können. Der Autor hebt auch hervor, dass die Mission sogar bis hin zu Einzelheiten über die Shoah unterrichtet war, aber nicht versucht habe, dieses Wissen über die eigene Organisation hinaus zu verbreiten. Die SIM habe auch an ihrer Missionsaufgabe festgehalten, völlig unabhängig davon, dass die Shoah immer größere Ausmaße annahm.¹⁸ 2011 erregte das Buch der Journalistin Elisabeth Åsbrink Och i Wienerwald står träden kvar in den Massenmedien eine gewisse Aufmerksamkeit.¹⁹ Otto Ullmann, ihr Protagonist, war mit dem Kindertransport der SIM nach Schweden gekommen, und sie hatte von seiner Tochter die Briefe bekommen, die seine Eltern nach Schweden geschickt hatte. Die Eltern wurden ermordet. Die Briefe geben ein erschreckendes Bild der Bedingungen, unter denen die Juden lebten, denen es nicht gelungen war, Österreich zu verlassen. Das besonders große In-
Besserman, Anna: Den lågkyrkliga väckelsens syn på judar och judendomen. In: Judarna i det svenska samhället. Identitet, integration, etniska relationer. Hrsg. von Kerstin Nyström. Lund 1991. S. 51– 78. Auch Carlsson behandelt Pernows apokalyptische Vorstellungen: siehe Carlsson, Carl Henrik: J Birger Pernow. In: Svenskt biografiskt lexikon, Band 29. Stockholm 1995 – 1997; Bachner behandelt apokalyptische Einschläge bei Pfarrer Seth Asklund, der in der Israelmission tätig war, siehe Bachner, Henrik: „Judefrågan“. Debatt om antisemitism i 1930-talets Sverige. Stockholm 2009; Carmesund, Ulf: Refugees or Returnees. European Jews, Palestinian Arabs and the Swedish Theological Institute in Jerusalem around 1948. Dissertation. Uppsala 2010, insbesondere S. 50, 63, 89 – 93, 152– 153. Noch 1945 spricht Pernow davon, es habe sich in Wien darum gehandelt, „die Ernte einzufahren“, und trotz der Shoah sei es die Hauptaufgabe gewesen, den Juden das Evangelium zu verkünden. Pernow, Birger: 70 år för Israel. Svenska Israelsmissionen 1875 – 1945. Stockholm 1945. S. 39, 42, 68. Koblik, Steven: The Stones Cry out. Sweden’s Response to the Persecution of the Jews. 1933 – 1945. New York 1988. S. 81, 89 – 90, 92, Zitat 90, 100 – 101, 108 – 109. Das Buch erschien 2014 unter dem Titel „Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume“. Ein jüdisches Schicksal in Schweden in deutscher Übersetzung.
260
Pär Frohnert
teresse an diesem Buch resultierte auch daraus, dass Otto als Knecht auf den Bauernhof der Familie Kamprad geriet, wo er sich mit Ingvar Kamprad, dem späteren Gründer des IKEA-Konzerns und damaligen Nazi, anfreundete. Åsbrink beurteilt die SIM und die Flüchtlingshilfe der Schwedischen Kirche äußerst negativ und klagt Pernow wie Eidem an, nur daran interessiert gewesen zu sein, jüdische Seelen für das Christentum „zu angeln“, und nicht so sehr daran, „ihr Leben zu retten“; dies habe mit der Vorstellung in Zusammenhang gestanden, dass die Erlösung der Juden der Rückkehr Christi vorausgehe. Sie hat Recht darin, dass Pernow diese apokalyptische Sichtweise teilte, aber es stimmt nicht, dass die humanistischen Überlegungen für Pernow unwesentlich gewesen seien. Es ist nicht schwierig, in den Texten der Israelmission die Freude über die Erlösung der Juden zu belegen, so wenn es 1944 heißt: „Der größte Teil der einstmals blühenden Wien-Gemeinde ist, wie wir glauben, zusammen mit anderen ebenfalls deportierten Christen aus Israels Stamm in der triumphierenden Gemeinde aufgegangen.“²⁰ Åsbrink schreibt, Kinder und Jugendliche seien vor der Abreise nach Schweden „am laufenden Band getauft“ worden. Im Kontrast dazu steht allerdings die Tatsache, dass sich ihr Protagonist so lange zum mosaischen Glauben bekannte, bis er mehrere Jahre später, als er die schwedische Staatsangehörigkeit beantragte, angab, „konfessionslos“ zu sein. Viele von Åsbrinks Tatsachenbehauptungen müssen infrage gestellt werden. Sie hat umfangreiche Archivstudien unternommen und Quellen gefunden, die vorher nicht bekannt waren, aber da Quellenangaben in ihrem Buch fehlen, ist es schwierig, zwischen Fakten und Fiktion zu unterscheiden.²¹ Das Buch wurde 2011 in der Kategorie Sachbuch mit dem renommierten August-Preis des Schwedischen Buchhandels ausgezeichnet. Die Hilfstätigkeit in Wien ist vor kurzem von Thomas Pammer untersucht worden, der sich außer auf die SIM-Quellen auch auf die österreichische Forschung stützt. Er behandelt zudem die Pressedebatte über Åsbrinks Publikation und ist dabei in mehreren Punkten Åsbrinks Buch gegenüber kritisch, welches er als einen „Frontalangriff auf die SIM“ bezeichnet.²² Pammer widerspricht ferner
Zitat: Svenska Israelsmissionen. Verksamhetsberättelse [Tätigkeitsbericht] för 1943, S. 43. Åsbrink Wienerwald, besonders S. 5 – 6, 40, 42, 47, 65 – 67, (Zitate S. 42, 65, 71). Sie hat weder die Dissertation von Ingrid Lomfors über das weitaus größere Kinderkontingent der Jüdischen Gemeinde noch Edvardssons Arbeit über die Geschichte der SIM benutzt. Pammer, Thomas: „Barnen som var räddning värda?“. Die Schwedische Israelsmission in Wien 1938 – 1941, ihre Kindertransporte und der literarische und wissenschaftliche Diskurs. Diplomarbeit, Mag.phil, Universität Wien 2012. Ungedruckt. http://othes.univie.ac.at/23543 (2. 9. 2015), insbesondere S. 9, 14 (Zitat), 87– 88, 90 – 91. Er widerspricht auch der Behauptung, es sei zu Zwangstaufen gekommen, aber hebt hervor, die aufnehmenden Familien hätten erwartet,
„Seinen christlichen Auftrag erfüllen“
261
Åsbrinks Ansicht, die Begrenzung der Hilfe auf Konvertiten sei verwerflich. Zum einen hätten die verschiedenen Hilfsorganisationen tatsächlich nicht allen helfen können und zum anderen habe die Israelitische Kultusgemeinde [!] ihre Hilfeleistungen auch auf die ihrigen begrenzt, sogar was Krankenpflege betraf. Man solle stattdessen die Schwedische Kirche kritisieren, die keine umfassendere finanzielle Hilfe geleistet hätte.²³ Pammer ist der Ansicht, die Forschung habe ohne allzu große Kritik akzeptiert, dass die SIM 3.000 Personen gerettet habe, und behauptet unter Bezugnahme auf das SIM-Archiv, es habe sich nur um 1.500 Personen gehandelt.²⁴
Schwedische Flüchtlingspolitik und die schwedischen Kirchen²⁵ Die sozialdemokratische Regierung Schwedens betrieb während der 1930er-Jahre und in den ersten Kriegsjahren eine sehr restriktive Flüchtlingspolitik, die politischen Flüchtlingen zwar gewisse Möglichkeiten zu entkommen gab, aber Juden
dass sich die Kinder in Schweden taufen lassen. Dass Ullmann in Wien gezwungen worden sei, sich taufen zu lassen, lasse sich durch das Quellenmaterial nicht belegen. Hellmuth Weiss, der mit der Jugendgruppe der SIM nach Schweden kam, schreibt, die Juden in Wien hätten davon gesprochen, sich taufen zu lassen, falls dies bedeute, sich nach Schweden retten zu können. Selbst empfand er zwar einen gewissen Druck von Seiten seiner schwedischen Umgebung, sich taufen zu lassen, aber er blieb dennoch konfessionslos (Weiss, Hellmuth: Ein „Mischling“ im Exil und Leben. In: Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Hrsg. von Irene Nawrocka. Wien 2013. S. 269. Pammer, Barnen, S. 29 – 31. Carlsson schreibt, die getauften Juden seien in „eine schwierige Lage zwischen den Fronten geraten“ und die jüdischen Organisationen hätten sie „in gewisser Hinsicht als Verräter“ betrachtet. Auch Thor hebt hervor, man solle die Aufteilung in verschiedene Flüchtlingskategorien nicht nur als „Ausdruck von Machtbeziehungen“ betrachten, sondern sie sei „auch praktischer Natur“ gewesen. Als Beispiel dafür erwähnt sie, die Jüdische Gemeinde in Stockholm habe sich geweigert, Katholiken jüdischer Abstammung zu helfen. Siehe Thor, Malin: Gemenskapernas förutsättningar och gränser. En intersektionell analys av „judisk“ flyktingverksamhet i Sverige under 1930- och 1940-talen. In: Judarna i Sverige – en minoritets historia. Fyra föreläsningar. Hrsg. von Helmut Müssener. Uppsala 2011. S. 112, 115. Pammer, Barnen, S. 32. Übersichten über die schwedische Flüchtlingspolitik und die Flüchtlingsaufnahme finden sich bei Lindberg, Svensk flyktingpolitik; Åmark, Klas: Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och Förintelsen. Stockholm 2011 und im Sammelband Byström, Mikael/Frohnert, Pär: (Hrsg.): Reaching a State of Hope. Refugees, Immigrants and the Swedish Welfare State, 1930 – 2000. Lund 2013. Eine Übersicht über die Kirchen in Brohed, Ingmar: Sveriges kyrkohistoria 8, Religionsfrihetens och ekumenikens tid. Kap. 14: Kyrkorna under andra världskriget. Stockholm 2005.
262
Pär Frohnert
in nur sehr begrenztem Umfang. Die Politik hatte somit eine antisemitische Spitze. Die Lösungen, die angeboten wurden, waren immer nur zeitbegrenzt und boten den Flüchtlingen in der Regel nur Transitrechte auf ihrer Flucht in andere Länder. Falls sie keine schwedischen Verwandten oder Beziehungen bzw. keine Geldmittel hatten, waren sie auf private Hilfsorganisationen angewiesen – sie durften „der Allgemeinheit nicht zur Last fallen“. Der gemeinsame Name für die Hilfsorganisationen war „Flüchtlingskomitee“, das wichtigste war das der Jüdischen Gemeinde in Stockholm, das in diesem Band an anderer Stelle behandelt wird. Anfangs zahlte man nur Unterstützungsgelder aus, wobei es den Flüchtlingen nicht gestattet war zu arbeiten, denn sie sollten schwedischen Arbeitskräften keine Konkurrenz machen. Nach und nach wurde der Arbeitsmarkt offener, aber eine Arbeitserlaubnis war notwendig, wobei die Lage auf dem Arbeitsmarkt berücksichtigt wurde. 1939 wurden erstmalig staatliche Mittel für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt, was im europäischen Vergleich früh war, aber diese wurden während der ersten Jahre durch die Komitees weiterverteilt und erst später individuell ausgezahlt.²⁶ Die Schwedische Kirche stand den Judenverfolgungen in Deutschland zwar sehr kritisch gegenüber, aber enthielt sich lange – wie nicht zuletzt Erzbischof Eidem selbst – öffentlicher Stellungnahmen, die man als Kritik der eigenen Regierung gegenüber hätte auffassen können. Koblik kritisiert deshalb die Schwedische Kirche, nicht zuletzt Eidem, sehr scharf, während der Kirchenhistoriker Anders Jarlert und der Historiker Harald Runblom gegenüber Koblik Einwände erheben.²⁷ So wandten sich im Dezember 1938 sämtliche Bischöfe – mit dem Erzbischof an der Spitze – mit einem Appell an die Öffentlichkeit, Judiska barnhjälpen [Die Jüdische Kinderhilfe] über Diakonistyrelsen [die Leitung des Diakonischen Werkes] finanziell zu unterstützen. Eidem war gleichzeitig auch Erstunterzeichner des Aufrufes des Ökumenischen Rates Schwedens an alle Kirchenangehörigen, sich antisemitischer Propaganda zu widersetzen. Unter den
Byström, Mikael: Utmaningen. Den svenska välfärdsstatens möte med flyktingar i andra världskrigets tid. Lund 2012. Allgemein zur Schwedischen Kirche und dem Nationalsozialismus: Åmark, Att bo granne med ondskan; Koblik, The Stones Cry out, S. 100 – 101, 113 – 114, 153, 165; Jarlert, Anders: „Våra pinade bröder av Israels stam“. Till frågan om Svenska kyrkan och förföljelsen av de skandinaviska judarna åren 1942– 43. Tro og Tanke, Supplement 5:93. Uppsala, 1993, insbesondere S. 15 – 17. Beide Verfasser beziehen sich in wichtigen Punkten auf Montgomery, Ingun: „Den svenska linjen är den kristna linjen.“ Kyrkan i Sverige under kriget. In: Kirken, krisen og krigen. Hrsg. von Stein Ugelvik Larsen u. Ingun Montgomery. Bergen [u. a.] 1982. S. 354– 356; Runblom, Harald: Chapter 4. Sweden and the Holocaust from an international perspective. In: Sweden’s relations with Nazism, Nazi Germany and the Holocaust. Hrsg. Von Stig Ekman, Klas Åmark u. John Toler. Stockholm 2003. S. 197– 249.
„Seinen christlichen Auftrag erfüllen“
263
Unterzeichnern war auch Axel Andersson, der Vorsteher des Schwedischen Missionsbundes.²⁸ Man bat um Unterstützung für die Flüchtlingshilfe des Rates, insbesondere für „Christen nichtarischer Abstammung“, und berichtete über die geplanten Hilfeleistungen.²⁹ Die schwedischen Freikirchen, nicht zuletzt der Missionsbund, kritisierten die Politik der Regierung schärfer als die Staatskirche.³⁰ So verurteilt Andersson 1940 in seinem Buch De landsflyktiga och vi [Die Landesflüchtlinge und wir] äußerst scharf die flüchtlingsfeindliche öffentliche Meinung: Schwedens harte Beschränkungen […] haben diejenigen erfahren müssen […], die ihre Zuflucht in Schweden gesucht hatten, aber unbarmherzig ins Ursprungsland zurückgeschickt wurden. Was hat es letztlich bedeutet, dass sie dem Tod entgegengingen, wenn wir nur darauf verzichtet hätten, „unseren Lebensstandard zu senken“.
Das Argument einer bedrohlichen „Rassenmischung“ lehnte er mit dem Hinweis ab, es handele sich schließlich nicht um „Hottentotten oder Australneger“. Allem Anschein nach ist also auch Andersson Anhänger einer Rassenhierarchie.³¹ Ebenso offensichtlich ist er Vertreter einer flüchtlingsfreundlichen öffentlichen Meinung, aber er teilt auch Pernows apokalyptische Ideologie. In einem Brief an den Vorsteher in Tostarp schreibt er 1941 in vollem Bewusstsein des Massenmordes, er sei sich ziemlich sicher, „dass im Augenblick ja doch in großem Maßstab Vorbereitungen auf das kommende Reich Gottes getroffen würden“.³² Im Herbst 1942 hatte die Deportation der norwegischen Juden durch die Deutschen große Proteste der Kirche zur Folge, so unter anderem in der Adventsbotschaft der Bischöfe.³³ Jedoch muss man im Hinblick auf die gesellschaftliche Position der Kirche und ihre Mittel feststellen, dass ihr Engagement eher schwach war. Man hätte mehr für die Flüchtlinge tun können, und weitere wissenschaftliche Untersuchungen sind notwendig, um Genaueres sagen zu können.
Svenska män och kvinnor. Bd. 1. Stockholm 1942: Axel Andersson. Beide Texte in extenso in Jarlert,Våra pinade bröder, S. 33 – 36; siehe auch S. 16. Svanberg und Tyden geben an, die Texte seien in der Zeitschrift Kristen Gemenskap [Christliche Gemeinschaft] publiziert worden: Svanberg, Ingvar/Tydén, Mattias: Sverige och Förintelsen. Debatt och dokument om Europas judar 1933 – 1945. Stockholm 2005. S. 155 – 156. Brohed, Sveriges kyrkohistoria 8. Andersson, Axel: De landsflyktiga och vi. Stockholm 1940. Zitate S. 7, 27, 44. Bachner hebt das Hottentotten-Zitat hervor, unterstreicht aber gleichzeitig, Andersson habe sich von der Verfolgung distanziert, auch wenn er andeute, gewisse Juden hätten „so einiges auf dem Gewissen“: Bachner, Judefrågan, Zitat S. 174. RA, Arninge, Tostarpsgårdens flyktingläger, Serie 1, vol. 3, bunt 3, 17/12 1941. Koblik, The Stones Cry out; Jarlert, Våra pinade bröder.
264
Pär Frohnert
Ein Durchgangs-Lager auf ideeller und philanthropischer Basis³⁴ Die Leitung des Missionsbundes, der Bundesvorstand, beschloss im April 1939, ein Durchgangslager [Transito-Flyktingläger] einzurichten, um Jugendliche aus dem Flüchtlingskontingent der Israelmission aufzunehmen. In einer Pressemitteilung sollte „hervorgehoben werden, das Lager sei ganz allgemein für Flüchtlinge und nicht ausschließlich für jüdische Flüchtlinge bestimmt; es sei ein Durchgangslager und trage damit nicht dazu bei, die Landesflüchtigen in Schweden unterzubringen.“ Offensichtlich wollte man damit die öffentliche Meinung besänftigen, die man für flüchtlingsfeindlich hielt. Im Hintergrund stand eine Initiative mehrerer Personen, unter ihnen auch Pernow, die im März 1939 an den Erzbischof appelliert und ein Durchgangslager vorgeschlagen hatten, das dem bereits existierenden Jugendlager des Missionsbundes angeschlossen werden könne. Es sollte vom Missionsbund verwaltet werden, der eigens ein Lagerkomitee unter der Leitung von Axel Andersson eingesetzt hatte. Die laufende Arbeit wurde einem Vorsteher übertragen. Bis 1944 wurde dieser Posten von einem Auslandsmissionar und danach von einem Seemannspastor bekleidet. Das Komitee traf sich regelmäßig in Tostarp, wobei der Lagervorsteher öfters an den Sitzungen teilnahm.³⁵ Die Frauen der Vorsteher übernahmen die Rolle der Hausmutter für das Lager. Da Pernow das Flüchtlingskontingent durchgesetzt hatte, war er der Obersten Sozialbehörde gegenüber verantwortlich.³⁶ Das Lager wurde auf Anderssons Hof in Tostarp eingerichtet, dagegen das Jugendlager geschlossen. Die Tätigkeit wurde vom Missionsbund und damit aus reiner Menschenfreundlichkeit finanziert. Ab Dezember 1939 erhielt er jedoch einen kleinen Teil staatlicher Mittel, aber erst 1943 deckten diese 30 Prozent der
Zusammenfassende Information in: Uppgifter om Flyktinglägret i Tostarp 1939 – 1944, RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté A I:1. Zur ursprünglichen Initiative siehe Perwe, Johan: Bombprästen. Erik Perwe på uppdrag i Berlin under andra världskriget. Stockholm 2006. S. 38. Die Mittel stammten aus einer Sammelaktion für die Tschechoslowakei. RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, protokoll 28. 4. 1939, bilaga Missionsstyrelsens protokoll. Das Protokoll des Komitees ist die wichtigste Quelle dieses Beitrags. Zur öffentlichen Meinung siehe auch Lindberg, Svensk flyktingpolitik; Larsmo, Ola: Djävulssonaten. Ur det svenska hatets historia. Stockholm 2007 und Åmark, Att bo granne med ondskan. Im Rahmen des Missionsbundes unterschied man zwischen zwei Flüchtlingskomitees: ein allgemeines und ein zweites für das Lager in Tostarp; im Folgenden bezeichnet als Flüchtlingskomitee. Die Entwicklung nach 1943 schildere ich nicht in allen Einzelheiten, da die Mehrzahl der Flüchtlinge aus Wien zu diesem Zeitpunkt das Lager verlassen hatte.
„Seinen christlichen Auftrag erfüllen“
265
Kosten.³⁷ Das Lager war somit während seiner gesamten Existenz – es wurde erst 1954 geschlossen – von Spenden abhängig. Die Israelmission und der Missionsbund baten in der christlichen Tagespresse sowie in ihren eigenen Zeitungen immer wieder um Spenden, und Pernow wie auch die Vorsteher unternahmen Vortragsreisen, an denen manchmal Flüchtlinge teilnahmen, um Spenden zu sammeln. Viele Frauen setzten sich mit den Vorstehern in Verbindung, um Gaben aller Arten, unter anderem Handarbeiten, zu spenden. Andere Frauen waren in lokalen Flüchtlingskomitees aktiv, die die Verantwortung für einzelne Flüchtlinge übernahmen oder übernommen hatten. In einem Fall erklärte sich die Frau eines Professors aus Lund bereit, in Wien für die SIM ideell zu arbeiten. Viele Spenden wurden auch in natura abgeliefert – alles Mögliche von Öfen bis zu Schweinen und Preiselbeergelee. Der Bund wandte sich mit Bitten um Spenden auch an Mitglieder, die Unternehmer waren, und fand oft Gehör. Einige waren auch bereit, ältere Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. An einigen Orten bildeten sich kleinere Vereine, die sich bereit erklärten, monatlich einen gewissen Betrag zu spenden. Der Ausbruch des Winterkrieges im Spätherbst 1939 erschwerte allerdings die Spendenaktionen, da sich die Allgemeinheit danach für Finnland engagierte. Der größte Teil der Flüchtlinge, die nach Tostarp kamen, hatten an der Jugendarbeit der Israelmission in Wien teilgenommen, aber es kamen auch etliche Erwachsene und Ältere. Fast alle waren männlich. Das Lager beherbergte im Allgemeinen 25 bis 30 Personen. Die meisten stammten aus dem Bürgertum, und die Mehrheit von ihnen hatten die Matura. Das Jugendkontingent der SIM scheint damit das Kriterium für „gut erzogene Kinder mit wohlangesehenen Eltern“ erfüllt zu haben, das Pernow unaufgefordert der Obersten Sozialbehörde angeboten hatte.³⁸ Die meisten waren protestantische Juden. Einige waren Glaubensjuden, darunter Otto Ullmann, einige Katholiken und einige wenige hatten angegeben, sie seien konfessionslos.³⁹ Die Bedingung, einer gewissen Religion angehören zu müssen, um im Lager wohnen zu können, existierte nicht.⁴⁰ Ullman, Jahrgang 1925, der zum Kinderkontingent gehörte, lebte um den Jahreswechsel 1939/1940 RA, Statens flyktingsnämnd F 4:1, del 3, nr 3, sammanställning av utbetalningar; RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté (allmänna), A I:1, prot. 6/3 1946. Svenska kyrkans arkiv, SIM, F I b:9, prot. för flyktingkommittén av den 6 september 1938. RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, „Rapport till Missionsstyrelsen rörande flyktinglägrets i Tostarp verksamhet den 15/5 1939 – 31/3 1940“, Bil. I. Die Katholische Kirche hatte ein eigenes Flüchtlingskomitee, und in einem Fall übernahm man einen Flüchtling aus dem Lager, für den man die Kosten für den Besuch eines Gymnasiums zahlte. Nationella arkivdatabasen: Katolska biskopsämbetet, Hjälpkommittén för katolska flyktingar i Sverige. RA, Arninge, Tostarpsgårdens flyktingläger, serie 1, vol. 3, bunt 3, föreståndaren till berörd flykting 14/6 1941. RA, Arninge, Tostarpsgårdens flyktingläger, serie 1, vol. 3, bunt 2, odaterad rapport om lägrets „historia“.
266
Pär Frohnert
einige Wochen im Lager.⁴¹ Einige wenige Juden des Lagers traten zum Christentum über, was das Komitee mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.⁴² Während der ersten Kriegsjahre gelang es allem Anschein nach nur wenigen Lagerinsassen, Schweden zu verlassen. Indizien deuten allerdings darauf hin, dass man die Weiterreise von etwa 40 Kindern bewerkstelligen konnte.⁴³ Das Flüchtlingskomitee betont in einigen Fällen, man habe Flüchtlinge, die von anderen Organisationen betreut wurden, nicht übernommen. Noch im Sommer 1941 zählten die meisten Flüchtlinge zur Flüchtlingsquote der SIM, auch wenn sie nicht der ursprünglichen Gruppe angehörten.⁴⁴ Zwar wurden die übergreifenden Fragen von der Israelmission direkt behandelt, aber wenn es um Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen ging, waren das Komitee und die Vorsteher für Kontakt mit der Obersten Sozialbehörde verantwortlich. Gelegentlich wurde sie von Vertretern des Komitees persönlich aufgesucht.⁴⁵ Das Komitee stand auch in Verbindung mit anderen Flüchtlingshilfsorganisationen, darunter den Quäkern, der Sammlung für landesflüchtige Intellektuelle und der Jüdischen Gemeinde. Die meisten Arbeitsplätze, die der SMF und die SIM beschaffen konnten, befanden sich in der Landwirtschaft. Hier und in der Forstwirtschaft konnte man immer mit einer Arbeitserlaubnis rechnen, da diese Bereiche nicht attraktiv waren und zudem viele Männer zum Militär eingezogen wurden, als 1939 der Krieg ausbrach. Die Oberste Sozialbehörde forderte im April 1940 die Flüchtlingskomitees auf, darauf zu achten, dass die Flüchtlinge in der Landwirtschaft Arbeit fanden: „Dies ist wünschenswert im Hinblick auf die Lage auf dem Arbeitsmarkt, aber auch im Hinblick auf die Loyalität, die die Flüchtlinge dem Land gegenüber schuldig sind, das ihnen Asyl gewährt.“⁴⁶ Schwedische Gastfreundschaft sollte mit Arbeit abgegolten werden. Gelegentlich meinte man auch, das Lager sei für die „Umschulung“ zu Kolonisierungsprojekten in außereuropäischen Ländern geeignet, so hatte zum Beispiel im Herbst 1938 die Israelmission in Wien den Plan
RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, prot. 22/1 1940, § 7. Ullmans Aufenthalt wurde teilweise von Carola Eklund finanziert, der Sekretärin eines Flüchtlingskomitees in Lund. RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, prot. 4/7, 11/12 1939; 11/4 1940. Svenska Israelsmissionen. Verksamhetsberättelse för 1940. RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1. Zum Beispiel RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, prot. 10/2, 29/8, 9/12 1941 sowie „Rapport“ vom April 1940. Byström, Mikael: En broder, gäst och parasit. Uppfattningar och föreställningar om utlänningar, flyktingar och flyktingpolitik i svensk offentlig debatt 1942– 1947. Dissertation. Stockholm 2006. S. 184– 185; RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, Socialstyrelsen till flyktingkommittéerna april 1940 (Zitat).
„Seinen christlichen Auftrag erfüllen“
267
für eine landwirtschaftliche Kolonie in Ecuador.⁴⁷ Das Lager in Tostarp bekam oft Briefe von Bauern, die Landarbeiter suchten. Aber nicht zuletzt auf Grund ihrer familiären Herkunft waren die meisten Flüchtlinge körperliche Arbeit nicht gewohnt, was gelegentlich zu Reibereien zwischen den Jugendlichen, den Vorstehern und den Arbeitgebern führte. Aber im Großen und Ganzen gingen auch diese Arbeitsplätze als solche für „Landwirtschaftsschüler“ durch. Die Arbeit hier war zum großen Teil Saisonarbeit; die Flüchtlinge zogen im Frühling auf die Höfe und kamen im Spätherbst zurück. Die Oberste Sozialbehörde holte in allen anderen Bereichen als Land- und Forstwirtschaft die Stellungnahme der Gewerkschaften ein und verweigerte daraufhin sehr oft Flüchtlingen eine Arbeitsgenehmigung, so zum Beispiel im Fall eines Friseurs, dem Arbeit in Hässleholm angeboten worden war. Ein Vorsteher formulierte seine Kritik in einem Schreiben an den Vorstand des Missionsbundes mit den Worten: „Die Ausländergesetzgebung verhindert in großem Ausmaß eine Arbeitsaufnahme, da eine Arbeitsgenehmigung in anderen Berufen nur dann erteilt wird […], wenn schwedischen Arbeitskräfte fehlen“.⁴⁸ Dennoch konnte man nach und nach fast allen Arbeit verschaffen, eine Person wurde beispielsweise als Tennistrainer angestellt, eine als Kürschner, einige als Krankenpfleger.⁴⁹ Einigen wenigen finanzierte der SMF eine akademische Ausbildung. Ein älteres Paar blieb bis zum Ende im Lager. Der Mann war Missionar in Hamburg und danach in Wien gewesen, wohin er 1933 geflohen war. Dort war er bei der Israelmission tätig, ehe dem Paar 1941 die Ausreise bewilligt wurde. Sie arbeiteten beide im Haushalt, und der Mann erteilte sicherlich auch christlichen Religionsunterricht.⁵⁰
„Prächtige christliche Knaben unter fester Hand“ Der Alltag im Lager war fest eingeteilt und bestand aus praktischer Arbeit und Studien in Fächern wie Schwedisch, Englisch und christlicher Religion, für die ein angestellter Studienleiter verantwortlich war. Der Tag wurde mit einer Andacht auf Schwedisch begonnen und endete mit einer Abendandacht auf Deutsch;
1939 adressiert die SIM in Wien ihre Briefe oft an „Omskolningslägret“ [das Umschulungslager]; RA, Arninge, Tostarpsgårdens flyktingläger; Hedenquist, Undan förintelsen, S. 49; Svenska kyrkans arkiv, SIM F V:9, Pernow till Hedenquist 25/11 1938. RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, „Rapport“ april 1940 (Zitat); E I:1, Friseur an Komitee 30/6 1939. Svenska Israelsmissionen. Verksamhetsberättelse för 1944, 13. RA, Arninge, Tostarpsgårdens flyktingläger, serie 1, vol. 2, bunt 3, monatliche Listen über die Flüchtlinge.
268
Pär Frohnert
sonntags fand ein Gottesdienst statt.⁵¹ Die meisten Flüchtlinge scheinen schnell Schwedisch gelernt zu haben.Während des ersten Jahres wurde ein großer Teil der Zeit im Lager dadurch in Anspruch genommen, neue Bauten zu errichten und die Routine für alltägliche Arbeit im Lager einzuführen – wie die Arbeit im Haushalt und Garten sowie Holzhacken für die Heizung. Jeder Lagerinsasse erhielt wöchentlich einen Stundenplan. Für die damalige Genderauffassung ist typisch, dass der Vorsteher, allerdings vergeblich, die Israelmission darum bat, zur Arbeit im Haushalt weibliche Flüchtlinge ins Lager zu schicken. Die jungen Männer hackten auch Holz für Axel Andersson selbst, wobei ein Teil des Gewinns an die Flüchtlinge ausgezahlt wurde. Alle Lagerinsassen erhielten „Taschengeld“. Eine wichtige Aufgabe für den Vorsteher bestand darin, den Behörden zu berichten, welche Flüchtlinge im Lager wohnten und für jeden von ihnen Arbeitsfähigkeit und „Charakter“ zu beschreiben. Die positiven Urteile dominierten, aber einer der Vorsteher äußerte sich sehr negativ über einige Flüchtlinge.⁵² Auch in seiner Korrespondenz mit den Flüchtlingen drückte er sich gelegentlich grob und kränkend aus. Andererseits nahm er gegenüber Pernow und dem Flüchtlingskomitee für die Flüchtlinge Stellung und beschrieb ihre Situation auf Grund ihrer traumatischen Erlebnisse und der Trennung von den Angehörigen als schwierig. Einige wenige Ältere waren im Konzentrationslager gewesen, worauf die Vorsteher mehrfach verwiesen. Die Lagerleitung beschrieb zudem gelegentlich ihre Schutzbefohlenen als „nervenschwach“.⁵³ Einige wenige Male äußerte sich der bereits erwähnte Vorsteher negativ über die jüdische Rasse; in einem anderen Zusammenhang sprach er von einer „Zerstörungslust“ der deutschen Rasse.⁵⁴ Ich finde jedoch keine Spuren einer antisemitischen Ausdrucksweise, mit denen die Lagerbewohner direkt konfrontiert wurden. Das Bild, das die Schwedische Israelmission abgibt, ist unterschiedlich. In ihren Texten finden sich Hinweise darauf, dass die Verantwortlichen darüber betroffen waren, wie weit verbreitet der Antisemitismus auf dem Lande war.⁵⁵ Gleichzeitig ist offenkundig, dass es Vertreter gab, die einen traditionellen Anti-
RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, „Rapport „ april 1940. Svenska Israelsmissionen, verksamhetsberättelse för 1940, S. 12. RA, Arninge, Tostarpsgårdens flyktingläger, serie 1, vol. 2, bunt 3 och vol. 3, bunt 2, lista 1/11 1940; RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, uppställning 14/3 1941. RA, Arninge, Tostarpsgårdens flyktingläger, serie 1, vol. 3, bunt 3, brev till enskild flykting 14/6 1941; RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, E I:1, föreståndaren till kommitténs sekreterare 8/3 1940; ebd., A I:1, prot. 11/4 1940. So beispielsweise der Vorsteher an Svensk Missionsungdom, 4/5 1941; RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, E I:1. Svenska Israelsmissionen. Verksamhetsberättelse för 1942, S. 27– 28.
„Seinen christlichen Auftrag erfüllen“
269
judaismus und Antisemitismus hegten. Bezeichnend dafür sind Pernows Formulierungen in seinem Buch Kan Judafolket räddas? [Kann das Judenvolk gerettet werden?], das 1943 im vollem Bewusstsein der gleichzeitig stattfindenden Shoah herausgegeben wurde. Über die jüdische Eigenart schreibt er: Sie besteht nicht nur in der bekannten Energie, die leider oft in der unsympathischen Angewohnheit ihren Ausdruck findet, sich mit Hilfe der Ellenbogen durchzusetzen […]. Aber die größte Schuld des Judenvolkes besteht nicht in Wucher und Betrug, sondern darin, dass es den Messias verworfen hat.⁵⁶
Die antijüdischen und antisemitischen Ausdrücke werden jedoch in den letzten Kriegsjahren abgemildert. Für den Missionsbund wurde vergleichbares Material nicht untersucht. Als man ab 1942 auch Flüchtlinge mit einer anderen Nationalität aufnahm, die durch die Oberste Sozialbehörde zugewiesen wurden, standen Schwedisch sprechende Estlandschweden an der Spitze der ethnischen Hierarchie im Lager, darauf folgten die Norweger und Dänen, auch wenn das Verhältnis zu letzteren gespalten war. An letzter Stelle rangierten die Juden, ob sie nun Christen waren oder nicht.⁵⁷ Insgesamt gesehen erhält man aber den Eindruck, dass man sich sehr gut um die einzelnen Flüchtlinge bemühte. Personal, Flüchtlingskomitee und Missionsdirektor Pernow bemühten sich sehr darum, Arbeits- und gelegentlich auch Studienplätze zu beschaffen, sie versuchten auch, Einreisegenehmigungen für die Eltern der Jugendlichen zu erwirken. Gelegentlich betonte man im Briefwechsel, nicht zuletzt mit Privatpersonen, es sei Christenpflicht, seinen Mitmenschen Beistand zu leisten. Auch Pernows laufende Kontakte mit dem Vorsteher und dem Komitee können nicht anders gedeutet werden, obwohl sich bei ihm Beispiele einer apokalyptischen Sichtweise für die Bedeutung der Erlösung der Juden finden. Er besuchte das Lager mehrere Male und konnte die Flüchtlinge persönlich treffen. Auch die Schweden, die in Wien gearbeitet hatten, besuchten das Lager und die „Jungen“. Gelegentlich öffneten sie und die Studienleiter ihr Heim auch einem oder mehreren Flüchtlingen für kürzere oder längere Zeit, in einem Fall sogar für mehrere Monate. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass Flüchtlinge, die das Lager verlassen hatten, wieder zu Besuch kamen. Den Eindruck, den Elisabeth Åsbrink vermittelt, dass die Israelmission nur daran interessiert gewesen sei, konvertierte Judenseelen zu zählen, und nicht etwa, Leben zu retten, findet in den Quellen zum SMF und zur SIM, die ich analysiert habe, keinerlei Unterstützung. Pernow, Birger (Hrsg.): Kan Judafolket räddas? Stockholm 1943. S. 10 – 11. In einigen Fällen drückte sich der Vorsteher gegenüber den Lagerbewohnern sehr grob aus.
270
Pär Frohnert
In den ersten Jahren war es nicht ungewöhnlich, dass die Flüchtlinge Ausgang erhielten. Aber nachdem die Polizei Bedenken geäußert hatte, wurde dies nur seltener erlaubt. Etliche der jungen Männer im Lager interessierten sich für Mädchen, ein Problem für den Vorsteher. Daher begrenzte er weibliche Besuche im Lager und verbot den Insassen, dass sie die weiblichen Angestellten auf ihren Zimmern besuchten. Ein Flüchtling, der Arbeit an einem anderen Ort gefunden hatte, schwängerte eine Frau. Da die SIM und der SMF aufgrund des Quotensystems auch die juristische Verantwortung für die Flüchtlinge hatten, mussten auch sie sich damit beschäftigen. Die Höhe des Unterhalts wurde festgelegt, und der Mann bekundete seine Reue. Die Bezeichnungen für Personen, die der SMF und die SIM betreuten, sind in der Regel „Flüchtlinge“ und „Fremde“ sowie dann und wann „Klientel“.⁵⁸ Die beiden ersten Ausdrücke waren damals üblich, und vermutlich war der dritte ein Synonym für „Patienten“, d. h. für Personen, die man zu betreuen hatte. Aber auch andere Wörter finden sich immer wieder, die von Fürsorge zeugen. So spricht man von „Knaben“, „unseren Jungen“ und „prächtigen christlichen Jungen“.⁵⁹ Diese Wortwahl zeugt natürlich auch davon, dass man die Jugendlichen, völlig unabhängig von ihrem Alter, als Kinder betrachtete. Man sollte dabei allerdings berücksichtigen, dass viele von ihnen auch noch sehr jung waren. Als der Sekretär des Komitees nach vielen Reibereien mit dem Vorsteher Verbindung aufnahm, schrieb er: „Man muss ihnen natürlich mit Liebe und Freundlichkeit begegnen, aber mit ihnen ist es wie mit Kindern, sie brauchen eine feste und unerschütterliche Hand.“⁶⁰ In den beiden ersten Jahren standen die Vorsteher ständig mit Wien – und mit Pernow sowie dem Komitee – in Verbindung, um dafür zu sorgen, dass neue Flüchtlinge nach Schweden kommen konnten. Wichtige wie weniger wichtige Fragen waren zu beantworten. Dass das Lager überhaupt existierte, sprach sich schnell herum, und einzelne Juden in Europa schrieben direkt an das Lager und baten um Hilfe. Die Postverbindung mit Wien scheint funktioniert zu haben, und obwohl die Briefschreiber sicherlich gezwungen waren, auf die Briefzensur Rücksicht zu nehmen, fällt auf, wie gut die Flüchtlinge in Tostarp und die Verantwortlichen über die Besorgnis erregende Entwicklung in Wien unterrichtet
RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, prot. 24/7 1939, 30/9 1942; E I:1., kommitténs sekreterare till föreståndaren 29/9 1939. RA, Arninge, Tostarpsgårdens flyktingläger, serie 1, vol. 1, bunt „Korrespondens 1939“, 27/7 och 12/8 1939, föreståndarens brev till privatpersoner; serie 1, vol. 3, bunt „Korrespondens 1940“, Pernow till föreståndaren 1/6 1940. RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, E I:1, sekreteraren till föreståndaren 30/1 1940.
„Seinen christlichen Auftrag erfüllen“
271
waren. Die Israelmission half den Emigranten dennoch bis zum Sommer 1941, als die deutschen Behörden ihre Tätigkeit schließlich verboten. Die Flüchtlinge in Tostarp versuchten natürlich alles Menschenmögliche, um ihre Eltern und Angehörige aus Österreich herauszubekommen. Noch bis Neujahr 1942 strengten sich Vorsteher, Flüchtlingskomitee und Missionsdirektor Pernow ungemein an, um Einreisegenehmigungen zu erwirken. Für die größten Hindernisse bei den Bemühungen, diese Menschen aus Wien herauszubekommen, waren bis Sommer 1941 die Oberste Sozialbehörde und indirekt die Regierung verantwortlich, die sich weigerte, Einreisegenehmigungen zu bewilligen. Dass die Behörde damit geizte, war natürlich bekannt, und Birger Pernow war zu diesem Zeitpunkt darum bemüht, „christlichen Juden“ zu bevorzugen, worauf der Vorsteher im April 1941 enttäuscht antwortete, dass dann „eine beträchtliche Anzahl“ nicht im Frage kommen dürfte. In Tostarp war man sehr düster gestimmt, und im Juni 1941 schrieb der Vorsteher an ein Mitglied des Komitees: „In dieser Welt, die von Satan & Co. regiert wird, gibt es noch eine Menge zu tun.“⁶¹ Er teilte offensichtlich die Ansicht Pernows, „Gott sei am Werk“.⁶² In den Anträgen auf eine Einreisegenehmigung an die Oberste Sozialbehörde garantierten der SMF und die SIM stets, die Aufenthaltskosten zu übernehmen. In einigen wenigen Fällen war man erfolgreich, und die Personen konnten nach Schweden entkommen. Aber die Behörde hielt diensteifrig an Schwedens Grenze Wache, und man teilte Ende 1941 dem Missionsbund mit, er sei nicht länger berechtigt, Aufenthaltskosten für neue Flüchtlinge zu garantieren, da das Lager staatliche Unterstützung bekäme.
Schlussbemerkungen Der Missionsbund betrieb mit seinem Flüchtlingslager eine humanitäre Hilfsaktion auf christlicher Grundlage. Die Verantwortlichen sahen ihre Tätigkeit als Ausdruck christlichen Barmherzigkeit. Es war eben Christenpflicht, seinen Mitmenschen zu helfen. Der äußere Rahmen war christlich: Der Alltag im Lager war durch Gebete und Gottesdienst streng gegliedert. Man war bemüht, vor allem der eigenen Gruppe, den getauften Juden, zu helfen, aber auch andere gelangten ins
Ob man Pernows Linie gefolgt ist, habe ich nicht näher untersucht. RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, föreståndaren till en ledamot i kommittén 16/4, och 16/6 1941. Pernows Worte sind jedoch von Februar 1939, als er in Missionstidning för Israel die Novemberpogrome kommentierte. Nach Carmesund, Refugees or Returnees, S. 159; RA, Arninge, SMFs flyktingkommitté, A I:1, „Rapport“, april 1940, und protokoll 9/12 1941; Deutsch, Kurt Egon: Livets rikedom genom Guds nåd. In: Svenska Israelsmissionen 90 år!. Hrsg. von Göte Hedenquist u. Johannes Jellinek. Stockholm 1965. S. 33 – 37.
272
Pär Frohnert
Lager. Die Getauften brauchten nicht mehr einer Mission ausgesetzt zu werden; andere konvertierten, aber nicht alle. Davon ist in den Quellen nicht viel zu sehen. Die Verantwortlichen drückten sich positiver über die Christen aus, antisemitische Äußerungen waren selten. Die Flüchtlingsquote der Israelmission war die Grundlage des Lagers. Die Behörden, die über Einreise-, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen entschieden, bestimmten die Lebensbedingungen auch im Lager. Alle Betroffenen waren bemüht, das Lager so zu verwalten, dass die Behörden keinen Grund zur Klage hatten. Nach und nach nahm jedoch die Finanzierung durch den Staat und damit die Abhängigkeit von ihm zu. Die Tätigkeit wurde auf privater und ideeller Grundlage betrieben. Ihrem Charakter nach war sie philanthropisch und für seine Existenz völlig von der umgebenden Gesellschaft abhängig – ohne den ständigen Zufluss von Spenden hätte man das Lager nicht betreiben können. Man hielt fortlaufend Kontakt mit anderen Flüchtlingskomitees, dieselben Namen tauchen immer wieder auf, und es ist klar, dass es im Bereich der Flüchtlingshilfe Netzwerke gab. Frauen spielten für die philanthropischen Kontakte und die Flüchtlingsnetzwerke eine wichtige Rolle. Die Schwedische Israelmission, der Schwedische Missionsbund und die Lagerleitungen betrachteten die Flüchtlinge als Kinder, die man unter seine Fittiche genommen hatte. Viele der Kinder waren auch auffallend jung. Die Tätigkeit, die sehr kompliziert gewesen sein muss, zeugt davon, dass man sich sorgfältig um jeden einzelnen Flüchtling kümmerte. Apokalyptische Vorstellungen, Antijudaismus und Antisemitismus, die es innerhalb der Israelmission gab, machten sich in der Lagertätigkeit nicht bemerkbar. Auch wenn die Vorsteher des Lagers, das ja vom Missionsbund betrieben wurde, gelegentlich diese Vorstellungen teilten, hinderte dies die Hauptverantwortlichen der beiden Organisationen nicht daran, humanitäre Hilfeleistungen zu leisten, für diese zu werben und antisemitische Äußerungen zu verurteilen. Sowohl der Schwedische Missionsbund als auch die Schwedische Israelmission waren bemüht, noch mehr Flüchtlinge vor der Shoah zu retten, was nicht zuletzt ihre Versuche beweisen, Angehörige der Flüchtlinge zu retten. Sie stellten auch Mittel zur Verfügung. In meinem Text habe ich das Verhältnis zur Schwedischen Kirche nicht behandelt. Es ist eine hypothetische Frage, ob ein stärkerer Druck von Seiten der Kirche etwas hätte bewirken können. Das wissen wir nicht. Dagegen wissen wir, dass es die Oberste Sozialbehörde – und damit indirekt die Regierung – war, die diejenigen, die sich in Not befanden, daran hinderten, nach Schweden zu kommen. (Übersetzung aus dem Schwedischen: Helmut Müssener)
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
Von Hilfe zur Selbsthilfe. Die Emigrantenselbsthilfe und ihre Tätigkeit von der Gründung bis in die 1950er-Jahre Teil I: Die Tätigkeit der Emigrantenselbsthilfe von ihrer Gründung bis zum Kriegsanfang (Michael F. Scholz) Nach einer zeitgenössischen deutschen Statistik fanden bis zum Herbst 1941 5.613 jüdische Emigranten in Nordeuropa eine Zuflucht. Größtenteils konnten sie sich bis zum Kriegsende nach Schweden retten. Nach 1945 kamen über die schwedischen Hilfsaktionen 19.000 ehemalige KZ-Häftlinge nach Schweden, darunter eine nicht näher bekannte, doch große Zahl von Juden.¹ Jüdische Flüchtlinge und Emigranten werden oft als Objekte oder Opfer beschrieben. Dieses Bild soll mit der Präsentation der Emigrantenselbsthilfe, einer jüdischen Selbsthilfeorganisation in Schweden, infrage gestellt bzw. korrigiert werden.² Die Emigrantenselbsthilfe, auch unter dem Namen Emigranternas Självhjälp oder „ES“ bekannt, ist zwar nicht vergessen, doch ist über diese deutsch-jüdische Hilfsorganisation in Schweden und Deutschland nur wenig bekannt. So fehlt etwa ein lexikalischer Eintrag in zentralen Nachschlagewerken oder bei Wikipedia.³ Sehr allgemein kann man erfahren, dass die ES ab 1938 existierte und eine gewisse Bedeutung als Kultur- bzw. Kunstvermittler hatte. Jedoch wird kaum die tatsächliche Bedeutung dieser jüdischen Selbsthilfeorganisation deutlich; weder ihre Rolle für das Stockholmer Kulturleben in der Kriegszeit noch die als einer Organisation von Hilfe zur Selbsthilfe. Vergessen scheint auch die erfolgreiche frühzeitige Arbeit des Informationsausschusses der ES, der Transemigranten mit Informationen über Berufsaussichten und Lebensverhältnisse in den Ländern, in
Wilhelmus, Wolfgang: Hitlerdeutschland, Schweden, Skandinavien und die Juden. In: Hitlerflüchtlinge im Norden: Asyl und politisches Exil, 1933 – 1945. Hrsg. von Klaus-Joachim LorenzenSchmidt u. Hans Uwe Petersen. Kiel 1991. S. 33 – 40. Teil I und Teil III dieses Beitrags werden von Michael F. Scholz verantwortet, Teil II von Helmut Müssener. Die gesamte, sehr umfangreiche Geschichte und Tätigkeit der ES in diesem Zeitraum kann hier nur andeutungsweise an Hand einiger Kostproben skizziert werden. Eine ausführliche Darstellung muss der Dokumentation vorbehalten bleiben, die Helmut Müssener und Michael F. Scholz vorbereiten. Dort sollen auch die maßgebenden Vertreter der ES eingehender vorgestellt werden. Stand: 13. 7. 2015. https://doi.org/9783110532289-015
274
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
die sie sich von Schweden aus begeben wollten, versorgte, noch bevor die Jüdische Gemeinde in Stockholm dies systematisch in Angriff nahm. Im Folgenden soll an die erfolgreiche Arbeit dieser Selbsthilfeorganisation sowie an zwei ihrer wichtigsten Vertreter, Fritz Hollander (1915 – 2004) und Wolfgang Steinitz (1905 – 1967), erinnert werden. Es wird dabei auch die Frage aufgeworfen, warum diese jüdische Hilfsorganisation in der historischen und Exilforschung beider deutscher Staaten und Schwedens weitgehend dem Vergessen anheimgefallen ist.
Abb. 1: Fritz Hollander, Anfang der 1930er-Jahre. Foto: Privatarchiv der Familie Hollander
Ausgangspunkt ist die Darstellung zur ES von Helmut Müssener in seiner grundlegenden Studie zum deutschen Exil in Schweden aus dem Jahr 1974. Diese konnte sich auf eine 1948 publizierte Jubiläumsschrift stützen sowie auf einige Aufrufe und Dokumente der ES.⁴ Die Quellenlage hat sich seitdem verbessert, viele Nachlässe von Einzelpersonen sind hinzugekommen und befinden sich heute in verschiedenen Archiven und Bibliotheken. Hauptquelle für die folgende Untersuchung war die in der Carolina, der Bibliothek der Universität Uppsala, verwahrte Sammlung Jacobowsky, die in zwei Konvoluten 268 Blätter mit Rechenschaftsberichten, Programmen, Einladungen etc. zur ES umfasst.⁵
Müssener, Helmut: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. München 1974. S. 111– 113; Emigrantenselbsthilfe, 1938 – 1948 ES, [s. n.], [Stockholm], 1948. Emigranternas självhjälp (Stockholm). OKAT-material. Stockholm: 1939 – 1974 (Sammlung Jacobowsky, Uppsala Universitätsbibliothek, Carolinabiblioteket), im Folgenden: „Sammlung Jacobowsky, UU“. Zur Sammlung Jakobowsky vgl.: Nordesjö, Hans: Jacobowsky-samlingen på Carolina Rediviva: ett bibliotek för judisk kultur och historia. In: Multiethnica 16/17 (1996).
Von Hilfe zur Selbsthilfe
275
Abb. 2: Wolfgang Steinitz, 1946, Foto: Privat
Die Bildung der Emigrantenselbsthilfe erfolgte unter dem direkten Eindruck der nazistischen Novemberpogrome 1938.⁶ Schon zuvor war in Stockholm im Kreis deutsch-jüdischer Emigranten um Moritz Pinkus (Pineas), Rechtsanwalt aus Frankfurt am Main, diskutiert worden, ob nicht diejenigen, die bereits festen Fuß in Schweden gefasst hatten, durch eigene Initiativen die schwedischen Behörden und die schwedisch-jüdischen Hilfsorganisationen entlasten könnten. In der Stockholmer Jüdischen Gemeinde (Mosaiska Församlingen), der damals die
S. 40 – 44. Weitere Nachlässe mit ES-Bezug: Sammlung Hollander im Reichsarchiv Stockholm (Baltiska Skinnkompaniet 1862– 1996, SE/RA/740105), im Folgenden „Sammlung Hollander, RA“. Die Sammlung von Jacob Ettlinger, die sich im Reichsarchiv befindet, sowie die von Herbert Friedländer in der Kungliga Biblioteket in Stockholm waren uns bisher nicht bekannt. Sie werden in der geplanten Dokumentation zur Tätigkeit der ES berücksichtigt werden. Zu den Hintergründen siehe die Bilanz, die Ernst Baburger zum 10. Jahrestag 1948 zog: Emigrantenselbsthilfe, 1938 – 1948 ES, [s. n.], [Stockholm], 1948, im Folgenden „Baburger (1948)“. Ernst Baburger (1902– 1981), der aus Fürth stammte, kam bereits im März 1933 nach Schweden, wo er seit 1936 in Stockholm als Anwalt tätig war.
276
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
Hauptsorge für die Flüchtlinge oblag, bestanden jedoch Bedenken gegen eine weitere Organisation, da man eine unnötige und unproduktive Splitterung der sozialen Hilfsarbeit befürchtete. Doch als nach der Pogromnacht des 9. November 1938 in Schweden vorübergehend die Einwanderungssperre für die nächsten Angehörigen, vor allem für die Eltern der bereits im Lande befindlichen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich, aufgehoben wurde und zahlreiche ältere Leute, zum großen Teil von allen Hilfsmitteln entblößt, nach Schweden kamen, wurden diese Bedenken von Moritz Pinkus (Pineas) und seiner Frau Karla beiseitegeschoben. Zusammen mit anderen, darunter Fritz Hollander und Wolfgang Steinitz, verfassten sie noch im November 1938 einen Aufruf zur Gründung einer jüdischen Selbsthilfeorganisation, der Emigrantenselbsthilfe.⁷ Fritz Hollander und Wolfgang Steinitz waren nicht nur Mitgründer und Vorstandsmitglieder der Emigrantenselbsthilfe, sondern trugen und prägten die Hilfsarbeit entscheidend mit. Fritz Hollander aus Hamburg-Altona war bereits 1933 nach Schweden emigriert, wo er nach dem frühen Tod seines Vaters sehr jung geschäftsführender Direktor der F. Hollander & Co. AB und der Leder- und Häutehandlung AB Baltiska Skinnkompaniet sowie Aufsichtsratsmitglied der Hollander-Filialen in einer Vielzahl von Ländern wurde. 1934 gründete er Zeira Mizrachi, eine jüdische linke orthodoxe Jugendorganisation, in der er bis 1940 sehr aktiv war. 1938 wurde der 23-jährige Hollander Mitgründer und Vorstandsmitglied der ES. Ab 1944 war er auch Vorstandsmitglied bzw. Generalsekretär der schwedischen Sektion des Jüdischen Weltkongresses (World Jewish Congress, WJC).⁸ Wolfgang Steinitz, promovierter Sprachwissenschaftler, hatte das Emigrantenschicksal im November 1937 nach Stockholm verschlagen. 1905 in Breslau als Sohn eines jüdischen Rechtsanwalts geboren, wurde er während seines Studiums in Berlin Mitglied der KPD. Frühzeitig arbeitete er auch in der Illegalität, so 1929 bis 1931 in Finnland und Estland, 1933/1934 in Berlin. Auch seine anschließende Lehrtätigkeit in Leningrad, wo er eine Professur für finnisch-ugrische Sprachwissenschaft innehatte, galt im Komintern-Sprachgebrauch als „Spezialarbeit“ und war ebenfalls mit verdeckten Aufgaben verbunden. Deshalb war Steinitz auch in der UdSSR von der kommunistischen Parteiarbeit isoliert, was wiederum in den Wirren der Stalinschen Säuberungen dazu führte, dass sein Visum nicht verlän-
Gründungsaufruf, November 1938. Alle Drucksachen, wenn nicht anders angegeben, nach Sammlung Jacobowsky, UU. Vgl. Svante Hanssons Nachruf für Fritz Hollander. In: Svenska Dagbladet, 6. 6. 2004. Hollanders Rolle in der Hilfstätigkeit wird erst allmählich deutlich, zum Beispiel in den jetzt zugänglichen Unterlagen des WJC von Anfang 1945, http://www.fdrlibrary.marist.edu/_resources/imaGes/wrb/ wrb0994.pdf (26. 6. 2015).
Von Hilfe zur Selbsthilfe
277
gert wurde. Im November 1937 kam er nach Stockholm, wo er Verwandte besaß. Bei der Einreise gab er als Grund „wissenschaftliche Arbeit in Schweden“ und als Referenz „Professor Oskar Klein“ an. Der international renommierte Physiker Oskar Klein war Steinitz’ Vetter, den er als Kind gern in den Sommerferien in Schweden besucht hatte. Bald folgte aus der UdSSR Steinitz’ Familie nach. Offiziell blieb Steinitz unpolitisch und meldete sich auch bei keinem Flüchtlingskomitee. Natürlich unterhielt er Verbindungen zur KPD-Gruppe in Stockholm, der er seit März 1938 auch organisatorisch angehörte. Sein Arbeitsfeld wurde, wie er später in einem Lebenslauf für seine Partei schrieb, „Volksfrontarbeit, wobei ich als ‚linker Intellektueller‘ auftrat, nie als Parteimitglied“. Seine „Volksfrontarbeit in den Kreisen deutscher und schwedischer Intellektueller“ war unter anderem eng mit dem Heinrich-Mann-Kreis, dem Schutzverband deutscher Schriftsteller und der Emigrantenselbsthilfe verbunden. Im Januar 1946 konnte er nach Deutschland, in die Sowjetisch Besetzte Zone, zurückkehren. Er arbeitete an der Berliner Humboldt-Universität als Ethnologe und Sprachwissenschaftler und war später u. a. Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR.⁹ Der im November 1938 von Hollander und Steinitz mitverfasste zweisprachige Aufruf zur Gründung der ES mahnte zur Hilfe für die jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland. Nach den Ereignissen der letzten Wochen dürfe niemand mehr abseits stehen, wenn zur Hilfe für die Heimatlosen aufgerufen werde. Mit einer neuen Hilfsorganisation, der Emigrantenselbsthilfe, wolle man „die schon bestehende großzügige Hilfsarbeit der Jüdischen Gemeinde Stockholms und der anderen Organisationen“ ergänzen.¹⁰ Die bereits heimisch gewordenen Flüchtlinge sollten den Neuankommenden ihre gesammelten Erfahrungen zugänglich machen und ihnen die „Einordnung in die neuen Verhältnisse“ erleichtern. Gedacht war an kostenfreie schwedische Sprachkurse, an Hilfestellungen bei Übersetzungen oder bei der Wohnungssuche. Die Gründungsmitglieder der ES wussten auch um die furchtbaren seelischen Leiden der Emigranten, die nun ohne Heim und ohne Arbeit waren. Geistige Anregung in Form von Vorträgen, Arbeitsgemeinschaften und künstlerischen Veranstaltungen sollte hier Erleichterung bringen. Unterschrieben hatten den Aufruf neben Wolfgang Steinitz, Fritz Hollander, dessen Frau Camilla und deren Mutter Jeanette Ettlinger vor allem jüdische Intellektuelle. Dabei wird deutlich, wie wenig dieser Aufruf von
Leo, Annette: Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz. Kommunist, Jude, Wissenschaftler. Berlin 2005, besonders das Kapitel „Die schwedischen Jahre (1937– 1945)“, S. 145 – 181, von Michael F. Scholz. Zu Steinitz siehe auch Steinitz, Klaus (Hrsg.): Wolfgang Steinitz – Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. Berlin 2006. Gründungsaufruf, November 1938.
278
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
„Schweden und Nichtschweden“ in der nichtjüdischen schwedischen Gesellschaft verankert war.¹¹ Nach der offiziellen Gründung der Emigrantenselbsthilfe auf einer Zusammenkunft am 30. November 1938 konstituierte sich Anfang Dezember ein Vorstand, dem auch Steinitz und Hollander angehörten. In den rein männlichen Kreis wurde auf der Leitungssitzung am 25. Januar 1939 auch eine Frau – „Fräulein Karo Salomon“ (Karo Samson) – aufgenommen.¹² Wohl zeittypisch stand der Anteil der Frauen unter den Aktiven der ES deutlich im Gegensatz zur Repräsentanz in den Leitungen. Der Vorsitz rotierte von Leitungssitzung zu Leitungssitzung; Anfang 1939 übernahm Fritz Hollander diese Funktion von Erich Adler.¹³ In einem vertraulichen Rundschreiben informierte der Vorstand noch Ende 1938 über die Richtlinien der künftigen Arbeit, wiederum zweisprachig, deutsch und schwedisch. Nochmals wurde darauf aufmerksam gemacht, strengste Diskretion zu wahren, keine offiziellen Erklärungen abzugeben oder Namenslisten oder statistische Angaben herauszugeben.¹⁴ Die Aufgaben wurden auf fünf Ausschüsse verteilt: Kulturarbeit (Vorträge, künstlerische und gesellige Veranstaltungen, Sprachkurse u. ä.); Heimfürsorge, Kranken- und Kinderbetreuung (Unterstützung bei der Wohnungssuche, Haushaltshilfe für Neuankömmlinge und im Krankheitsfall, Abendwache bei Kindern, Arzthilfe u. ä.); Berufsumschulung (Beratung in Arbeitsfragen u. ä.); Informationen (Durchwanderungsfragen, Orientierung über Verhältnisse in Übersee u. ä.) sowie Rat und Hilfe an Emigranten im Kontakt mit der Jüdischen Gemeinde, Stockholm.¹⁵ Der Ausschuss für Kulturarbeit kümmerte sich unter anderem um Vorträge, organisierte Arbeitsgemeinschaften und künstlerische Veranstaltungen, bot Sprachunterricht an und entwickelte Initiativen für sportliche Aktivitäten. Eine zentrale Aufgabe der ES war die Arbeitsvermittlung. Hier erleichterte eine fortlaufend geführte Kartothek über Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitssuche. Dem standen allerdings gesetzliche Einschränkungen entgegen, Gründungsaufruf, November 1938. Baburger nennt für 1938 als Vorstandsmitglieder: Erich Adler, Ernst Baburger, Fritz Hollander, L. M. Joseph, Max Korngold, Richard Meyer, Moritz Pineas, Wolfgang Steinitz, Alfred Ullmann sowie Karo Samson. Siehe Baburger (1948), S. 4; Protokoll der Leitungssitzung vom 25. 1. 1939, in Sammlung Hollander, RA. Auf nähere Angaben zu den einzelnen Persönlichkeiten wurde hier aus Platzgründen verzichtet. Wir verweisen auf die kommende Dokumentation. Protokoll, 25. 1. 1939, Sammlung Hollander, RA. An unsere Freunde! (Stockholm, im Dezember 1938, zweisprachige Drucksache der Emigrantenselbsthilfe). An unsere Freunde! (Stockholm, im Dezember 1938, zweisprachige Drucksache der Emigrantenselbsthilfe).
Von Hilfe zur Selbsthilfe
279
denn Flüchtlingen war Erwerbsarbeit verboten. So erklärt sich auch der offizielle Name des Ausschusses, „Berufsumschulung“. Der Ausschuss für Heimfürsorge, Kranken- und Kinderbetreuung half bei der Wohnungssuche, organisierte gelegentliche Hilfe in der Hauswirtschaft oder bei der Kinderbetreuung und erleichterte den Emigranten so die Einordnung in die neuen Verhältnisse. Der Ausschuss für Informationen sah sein Arbeitsgebiet in der Beschaffung von Auskünften über die Verhältnisse in anderen Immigrationsländern und über die Auswanderungsbzw. Weiterwanderungsmöglichkeiten. Der Beratungsausschuss bot regelmäßig Sprechstunden für Rat und Hilfe suchende Emigranten an.¹⁶ Bis zur Pogromnacht am 9. November 1938 waren jüdische Flüchtlinge in Schweden, abgesehen von einzelnen Attacken, noch kein Thema. Insgesamt war die schwedische Bevölkerung relativ positiv gegenüber den jüdischen Hilfesuchenden eingestellt. Doch mit der verstärkten Einwanderung sollte es bald auch hier zu antisemitischen Kampagnen kommen.¹⁷ Zur Jahreswende 1938/1939 war sich die Leitung der ES der aufkommenden antisemitischen Stimmungen durchaus bewusst. Vorbeugend wurde den jüdischen Flüchtlingen allgemeine Zurückhaltung empfohlen, wobei man sich auch auf entsprechende Erfahrungen aus anderen Ländern stützte. Der Informationsausschuss beschaffte aus England das Merkblatt für das Benehmen der Emigranten in England, um dessen zentrale Punkte auch unter den jüdischen Emigranten in Schweden zu verbreiten. Bald wurde von der ES ein Merkblatt mit entsprechenden Ratschlägen und Hinweisen in deutscher Sprache verteilt, die zu Zurückhaltung in jeder Beziehung ermahnten, so etwa in Unterhaltungen mit Fremden, im Benehmen oder in Kleidungsfragen.¹⁸ Unter den organisatorischen Problemen musste die ES zunächst die Lokalfrage lösen. Ein Büroraum wurde von „privater Seite provisorisch“ in der Stockholmer Drottninggatan 10III zur Verfügung gestellt.¹⁹ Was einen Versammlungsund Veranstaltungsraum betraf, hatte Moritz Pinkus vom Direktor von Birkagården, einem Kulturhaus in der Tradition der englischen Settlement-Bewegung, Unterstützung zugesagt bekommen. In allen Aktionen zeigte sich der ES-Vorstand ausdrücklich darum bemüht, nicht mit der Jüdischen Gemeinde zu konkurrieren,
Richtlinien für unsere aktiven Mitarbeiter (Vertraulich!). Emigrantenselbsthilfe, Vorstand. Vgl. Koblik, Steven: „Om vi teg, skulle stenarna ropa“. Sverige och judeproblemet 1933 – 1945. Stockholm 1987; Levine, Paul A.: From Indifference to Activism. Swedish Diplomacy and the Holocaust 1938 – 1944. Uppsala 1996. Hinweise für Emigranten, o. D. An unsere Freunde!, Dezember 1938 (zweisprachig).
280
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
sondern zusammenzuarbeiten. Zum Beispiel wurde eine Kleidersammlung zusammen mit deren Frauenverein (Judiska kvinnoklubben) durchgeführt.²⁰ Die Arbeit der Emigrantenselbsthilfe bestand in der organisierten Hilfe für neu ankommende Flüchtlinge. Diese wurden bei ihrer Ankunft in Stockholm zumeist persönlich von Fritz Hollander und Wolfgang Steinitz in Empfang genommen.²¹ Hollander setzte sich besonders für die Jugendarbeit und die Berufsberatung junger Menschen ein. Steinitz war treibende Kraft im Kulturausschuss. Die zentralen Aufgaben auf sozialem Gebiet waren beim Sekretär angebunden. Nach Ludwig Lewy übernahm diese Aufgabe im Oktober 1939 der sechzigjährige Architekt Siegfried Pawel, der 1938 über das KZ Sachsenhausen nach Schweden gekommen war.²² Mit seiner Jugendarbeit geriet Hollander in eine damals heftig geführte Kontroverse über die Identitätsausbildung jüdischer Flüchtlingskinder. Nachdem der namhafte Wirtschaftshistoriker Eli Heckscher ein Manuskript über Einwanderung und Nationalismus in weiten Kreisen hatte kursieren lassen, kam es zwischen ihm und dem Historiker Hugo Valentin zu einer Diskussion. Auf Grund eigener Erfahrungen in der Arbeit mit Jugendlichen konnte Hollander dabei Valentin beistehen.²³ Ausführlich berichtete er diesem im Juni 1939 über die von ihm geleitete Jugendarbeit in der ES. Damals bestanden sieben Jugendgruppen, davon fünf im Alter von 12 bis 17 Jahre und zwei ältere Gruppen. Unter den Jugendlichen waren, wie Hollander schrieb, zionistische und antizionistische, religiöse und nichtreligiöse Auffassungen vertreten. Ihm war aber an einer „neutralen“ Arbeit gelegen, die allen Auffassungen in der Jugendgruppe wie in der ES Raum lassen sollte. Dabei stützte er sich auch auf die Gedanken der „deutschen Jugendbewegung“. Als wichtige Aufgabe sah er aktuell die Vermittlung von Kenntnissen, die an den deutschen Schulen vernachlässigt oder verzerrt gelehrt wurden. Vor allem die Geschichte der letzten 150 Jahre wurde auf Wunsch der Jugendlichen in den ESGruppen unterrichtet. Und man las Henrik Ibsen und Selma Lagerlöf. Für diejenigen, die bald weiteremigrieren wollten, wurde auf Anraten Hollanders neben dem Studium schwedischer Verhältnisse bzw. schwedischer Geschichte bereits mit der Vermittlung der Geschichte der künftigen Zielländer begonnen.²⁴
Vorstandssitzung vom 7. 12. 1938, Protokoll in Sammlung Hollander, RA. Gespräch des Verfassers mit Fritz Hollander am 16. 5. 1994 in Stockholm. Nordlund, Sven: Belastung oder Gewinn. In: Ein sehr trübes Kapitel? Hitlerflüchtlinge im nordeuropäischen Exil 1933 bis 1950. Hrsg. von Einhart Lorenz. Hamburg 1998. S. 99. Hansson, Svante: Flykt och överlevnad. Flyktingverksamhet i Mosaiska församlingen i Stockholm 1933 – 1950. Stockholm 2004. S. 240 ff. Hollander an Valentin, 7. 6. 1939, Sammlung Hollander, RA.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
281
Auf der ersten Zusammenkunft des Kulturausschusses am 8. Dezember 1938 bei Professor David Katz²⁵ unterbreitete Steinitz die in Aussicht genommenen Tätigkeitsgebiete. Für viele Veranstaltungen hatte er aufgrund seiner guten persönlichen Kontakte in breite Kreise Stockholms bereits Zusagen erhalten. Auf der Zusammenkunft betonte Abraham Brody, der zuletzt in der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin gearbeitet hatte und nun an der Stockholmer Universität lehrte, die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit den bestehenden jüdischen Vereinen. Herbert Friedländer, ein junger Lehrer und wohl der einzige Schwede in diesem Kreis, regte an, ein Mitteilungsblatt mit den Programmen aller Veranstaltungen herauszugeben. Auch künstlerische Veranstaltungen sowie Sprachunterricht und Sport wurden eifrig diskutiert.²⁶ Wichtiges Engagement in der Kulturarbeit zeigten in den kommenden Jahren auch der Regisseur und Schauspieler Hermann Greid (1892– 1975)²⁷ sowie der Komponist, Pianist und Musikpädagoge Hans Holewa (1905 – 1991), der 1937 aus Österreich als Flüchtling nach Schweden gekommen war. Als offizieller Beginn der Kulturarbeit der ES gilt der Vortrag des Stockholmer Oberrabbiners Marcus Ehrenpreis (1869 – 1951) am 31. Januar 1939 im Versammlungssaal der Jüdischen Gemeinde über Die Judenaustreibung aus Spanien 1492. Ehrenpreis zog dabei Parallelen zur aktuellen Situation. Der Beschluss der ESLeitung vom 25. Januar 1939, dass nicht der ursprünglich vorgesehene David Katz, sondern Ernst Baburger als Vertreter der Leitung diese erste öffentliche Veranstaltung der Emigrantenselbsthilfe einleiten sollte, führte dazu, dass Katz den Vorsitz im Kulturausschuss niederlegte und sich aus der Arbeit der ES zurückzog.²⁸ Als zweite Veranstaltung der ES folgte am 13. und 14. Februar ein LessingProgramm. Im einleitenden Vortrag über Lessing und die Jugend zog der ehemalige Redakteur Erich Landsberg Parallelen zwischen der Stellungnahme des Dramatikers gegen den Antijudaismus seiner Zeit und dem gegenwärtigen Wi-
David Katz (1884– 1953) war bis 1933 Professor an der Universität Rostock. 1937 wurde er auf den Pädagogik-Lehrstuhl der Hochschule in Stockholm, ab 1952 Universität Stockholm, berufen. Seine Berufung war umstritten. Bei der Probevorlesung Herbst 1937 kam es zu heftigen antisemitischen Protesten. Protokoll. Sitzung des Kulturausschusses am 8. 12. 1938, Archiv des Verfassers. Teilnehmer: Katz, Steinitz, Greid, Brody, Friedländer, Emsheimer und Adler. Hermann Greid stammte aus Wien, war jüdischer Herkunft und Kommunist. Bereits 1933 floh er aus Deutschland nach Schweden, wurde 1938 schwedischer Staatsbürger und trat nach 1940 zum evangelischen Christentum über. ES (Vorstand) an Katz, 10. 2. 1939, Sammlung Hollander, RA. Katz gab als Grund „unerhörte Arbeitsbelastung“ an und brach den Kontakt nicht völlig ab. Katz an Adler, 12. 2. 1939, Archiv des Verfassers.
282
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
derstand gegen den Antisemitismus in Hitlerdeutschland. Dem Vortrag folgte die Aufführung der Ringparabel aus Nathan der Weise mit Hermann Greid als Nathan und dem Schauspieler Curt Trepte als Sultan. Dialog und Schlusschor aus Stefan Zweigs Jeremias trug anschließend Greid zusammen mit Mitgliedern der schwedisch-jüdischen Jugendvereinigung „Zeire Misrachi“ vor. Unter diesen befanden sich Camilla Hollander und ihr Bruder Joseph Ettlinger sowie einige Emigranten. Nach einer Mozart-Sonate schloss der Abend mit Lessings Einakter Die Juden, in schwedischer Sprache, gespielt von Mitgliedern der genannten Jugendvereinigung.²⁹ Mit der Programmauswahl sollte noch einmal unterstrichen werden, dass auch andere Einstellungen als die der Nationalsozialisten zur Judenfrage in Deutschland existiert hatten. Am 25. Februar 1939 hielt Prof. Ernst Cassirer im Sitzungssaal der Jüdischen Gemeinde einen Vortrag über Kant und Rousseau.³⁰ In seiner Einführung hob Wolfgang Steinitz die ungewollte Aktualität des Vortrages hervor. Zur selben Zeit versuchte man in Hitlerdeutschland, Kant und Rousseau für den Nationalsozialismus und einen hasserfüllten Rassismus zu vereinnahmen, was Steinitz als „geradezu grotesk“ abwehrte. Doch dürften diese Versuche von der kulturellen Emigration nicht unwidersprochen bleiben. Den Referenten stellte Steinitz als einen der „hervorragendsten Vertreter der geistigen Emigration“ vor, „die das kulturelle Leben ihres Gastlandes bereichern, und keinem Schweden eine Stellung wegnehmen“. Das könne man gerade jetzt, so Steinitz, „beim Kampf gegen den sogenannten Intellektuellenimport“ sagen.³¹ Im März organisierte die ES einen Lichtbildervortrag über Wissenschaft und Rassenlehre im Saal des „Birkagården“. Der Vortragende Dr. Paul Leser leitete auch eine Arbeitsgemeinschaft über Rassenforschung, die ihre Diskussionsabende – beginnend am 2. Mai – in den Schulräumen der jüdischen Gemeinde abhielt. Ebenfalls dort fanden donnerstags Übungsstunden des Chors unter Leitung von Holewa statt.³² Für einen Festvortrag aus Anlass des 60. Geburtstages
Hoffmann, Ludwig/Trepte, Curt: Kunst und Literatur im skandinavischen Exil. In: Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945. Hrsg. von Ludwig Hoffmann. Bd. 5: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina. Leipzig 1980. S. 400 f. Kant und Rousseau (zweisprachige Einladung). Ernst Cassirer (1874– 1945) emigrierte 1933 nach Großbritannien, wurde 1935 als Professor an die Hochschule, die spätere Universität Göteborg berufen und 1939 schwedischer Staatsbürger. 1941 ging er in die USA. Redemanuskript Steinitz, im Archiv des Verfassers; zu diesem Zeitpunkt protestierten nicht zuletzt schwedische Ärzte und die Studentenschaft einiger Universitäten gegen eine geplante und organisierte Aufnahme von sieben jüdischen Medizinern in Schweden. Mitteilungen der Emigrantenselbsthilfe. Paul Leser (1899 – 1984), deutsch-amerikanischer Ethnologe jüdischer Abstammung floh 1936 aus Deutschland über Dänemark 1937 nach Schweden, ab 1942 in den USA. 1952 bis 1967 Professor für Anthropologie in Hartford/Connecticut. Als Gastprofessor wirkte er 1958 an der Universität Köln und 1966/1967 an der Universität Wien.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
283
von Albert Einstein am 1. April im Saal der Jüdischen Gemeinde hatte Steinitz Professor Oskar Klein gewonnen. Im April folgten Konzertabende mit Werken von Bach, Mozart, Beethoven, Mahler und Debussy, Dohnanyi und Respighi sowie Holewa. Am 29. April hielt Prof. Walter A. Berendsohn (1884– 1984), damals noch in Kopenhagen, im Gemeindesaal einen Vortrag über Thomas und Heinrich Mann.³³ Zur „Maifeier der Emigranten und ihrer schwedischen Freunde“ wurde in Birkagården am 1. Mai zu einem kleinen Kulturprogramm mit Herta Fischer, Hermann Greid und Hans Holewa sowie einem Beisammensein am Teetisch geladen. Im Programm finden wir Mozart und Beethoven sowie Goethe und Schiller. Doch auch die Lieder Die Moorsoldaten und das Solidaritätslied wurden vorgetragen.³⁴ Für einen Großteil der Anwesenden dürfte eine Feier zum Internationalen Kampftag der Arbeiterbewegung bisher nicht zur Normalität gehört haben. Sogar in der Deutschen Volkszeitung (21. 5. 1939), die die KPD in Paris herausgab, fand die Veranstaltung erfreute Aufmerksamkeit. Auch Josef „Willi“ Wagner, einer der KPD-Führer in Schweden, lobte die Maifeier in einem Brief an Greid als „glückliche Vermählung“ von Kunst und Politik; diese Veranstaltung habe sicher „manchen Emigranten aus der latenten Depression herausgerissen“.³⁵ Führungen in der Gemäldegalerie des Nationalmuseums fanden unter Leitung von Lotte Laserstein (1898 – 1993) im Frühjahr 1939 an Freitagvormittagen statt. Kunstgewerbliche und handwerkliche Arbeiten von Emigranten wurden im Mai im Saal der Jüdischen Gemeinde ausgestellt. Dr. Ari Wohlgemut, Studienrat am Jüdischen Realgymnasium in Riga, sprach am 1. Juni über Uriel da Costa und das Toleranzproblem im Judentum. ³⁶ Der Schwerpunkt der sozialen Arbeit lag beim Beratungsausschuss. In 120 Sprechstunden waren 600 Fälle zur Beratung gekommen.³⁷ Diese Arbeit fand in enger Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde und bei Bedarf auch mit anderen Hilfsorganisationen statt. Typische Fragen waren Berufsangelegenheiten, Weiterwanderung, Vermittlung von Arzthilfe, Nachweis von Wohnungen, finanzielle Unterstützung, etwa für Zahnbehandlung, Medikamente, Passgebühren
Nach Mitteilungen der Emigrantenselbsthilfe. Einladung. Müssener, Helmut: Deutschsprachige Theater im skandinavischen Exil. In: Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933 – 1945, Bd. 1: Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler. Hrsg. von Frithjof Trapp [u. a.]. Mü nchen 1999. S. 319 – 339, 329; Mitteilungen der Emigrantenselbsthilfe. In den Laserstein-Ausstellungen 2004 in Berlin (mit umfangreichem Katalog) sowie 2006 im Jüdischen Museum Stockholm und in Bror Hjorths Hus in Uppsala wurden die Emigrantenselbsthilfe bzw. Lasersteins Engagement erwähnt. Tätigkeitsbericht, September 1939.
284
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
u. v. m. Es konnten im ersten Jahr ca. 130 Wohnungen und Zimmer nachgewiesen und etwa 100 Empfehlungen für Pensionen und Hotels erteilt werden. Zur kostenlosen Behandlung von Emigranten hatten sich sechs schwedische Ärzte und Zahnärzte zur Verfügung gestellt. Für Kinder zwischen ein und fünf Jahren waren Patenschaften übernommen worden; auch wurden Babyausstattungen und Kinderwagen beschafft oder erkrankten Hausfrauen Helferinnen gestellt. In 25 Fällen konnten „in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften für Emigranten Arbeit vermittelt werden“. Kostenlose Teeabende und Arbeitsgemeinschaften hatten neue Kontakte ermöglicht. An den ebenfalls kostenlosen Sprachkursen hatten fast 400 Schüler teilgenommen: Schwedisch 200, Englisch 140, Französisch 15, Spanisch 18, Portugiesisch 3 und Hebräisch 14.³⁸ Der erste Tätigkeitsbericht der ES zog im September 1939 deshalb auch eine gute Bilanz hinsichtlich der Arbeit sowohl im sozialen Bereich als auch auf dem Gebiet der Kultur. Gerade die kulturellen Veranstaltungen dürften wohl geholfen haben, die Beschwerden des Alltags zu vergessen und Mut zum Weiterleben gegeben haben, wie Helmut Müssener bereits 1974 schrieb.³⁹
Teil II: Die Tätigkeit der Emigrantenselbsthilfe von Kriegsanfang bis Mitte der fünfziger Jahre. (Helmut Müssener) Die öffentliche Tätigkeit der Emigrantenselbsthilfe nach Beginn des Zweiten Weltkriegs lässt sich mit Hilfe der Sammlung Jacobowsky und der in ihr wohl fast lückenlos erhaltenen Rechenschaftsberichte, Rundschreiben und Mitteilungsblätter sowie Programme und Einladungen bis 1955 weitgehend rekonstruieren, während sie verständlicherweise über die interne Arbeit und Diskussionen innerhalb des Vorstandes und anderer Gremien sowie nach den Veranstaltungen nichts aussagen⁴⁰.
Rechenschaftsberichte Die Rechenschaftsberichte, die ausnahmslos auf Deutsch geschrieben sind, liegen in der Sammlung vervielfältigt allerdings erst wieder für das Jahr 1948 und da Tätigkeitsbericht, September 1939. Müssener, Exil in Schweden, S. 113. Unterlagen für die Jahre nach 1956 fehlen in der Sammlung Jacobowsky. Das letzte Dokument ist eine Einladung zur Generalversammlung der ES am 21. Februar 1957. Unklar ist bisher auch, bis wann die ES existierte.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
285
nach bis für das Jahr 1955 vor. Sie wurden auf einer jährlich im Februar/März stattfindenden Generalversammlung vorgelegt und informieren über die Finanzen der ES und ihre Tätigkeit im sozialen Bereich sowie über die Veranstaltungen, die im Rechnungsjahr durchgeführt wurden, nennen die Vorstandsmitglieder und geben indirekt auch Auskunft über die Lebensverhältnisse des Emigrantenkollektivs. Ihnen ist ferner zu entnehmen, dass die Stockholmer Jüdische Gemeinde die Arbeit der Emigrantenselbsthilfe finanziell nicht direkt unterstützte, wohl aber indirekt, so „durch die unbeschränkte Bereitstellung der Räume“⁴¹ im Gemeindehaus zu sämtlichen Veranstaltungen. 1949 zählte die ES 501 Mitglieder, und der Rechenschaftsbericht konstatiert stolz, die ES sei „der Mitgliederzahl nach die größte jüdische Vereinigung in Stockholm“, d. h. im Rahmen der Jüdischen Gemeinde in Stockholm. Danach ging die Zahl der Mitglieder aber jährlich durch die Weiterwanderung nach den USA und gelegentlich auch nach Israel, vor allem aber durch Todesfälle zurück. 1953 zählte sie noch 415 Mitglieder, und 1955 war ihre Zahl auf 345 gesunken.⁴² Die Einkünfte der ES aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden, vornehmlich aus Anlass von jüdischen Feiertagen, und Eintrittsgeldern für die Veranstaltungen, gehen für jedes Jahr aus den „Kassenberichten“ hervor. „Beihilfen“ dominierten unter den Ausgaben; ihr Anteil lag wie beispielsweise 1950 stets bei 75 Prozent und mehr. Die Sozialarbeit der ES, über die sonst wenig bekannt ist und die nicht mit der Hilfsarbeit der Jüdischen Gemeinde verwechselt werden darf, stand regelmäßig und ausführlich im Zentrum der Rechenschaftsberichte, und die ersten Zeilen des Berichtes für das Jahr 1953, der auf der Generalversammlung am 11. Februar 1954 vorgelegt wurde, konstatierten lakonisch: „Am 30. November 1953 besteht die ES 15 Jahre, und wenn auch die Aufgaben unserer Organisation geringer geworden sind, ist die Aufrechterhaltung unserer Sozialarbeit, deretwegen die ‚ES‘ s. Zt. gegründet wurde, noch immer eine Notwendigkeit“. Wie notwendig diese Sozialarbeit im Einzelnen war, geht im Jahr zuvor aus dem „Rechenschaftsbericht der Emigrantenselbsthilfe für das Jahr 1951“ hervor, den der Sekretär der ES, der Architekt Siegfried Pawel⁴³, „anlässlich der Gene-
Rechenschaftsbericht für das Jahr 1950, S. 3. Rechenschaftsbericht für das Jahr 1950, S. 3. Siegfried Pawel wurde 1878 in Oppeln geboren und besaß ein Architektenkontor in Stettin. Nach der sogenannten Kristallnacht am 9. November 1938 wurde er zunächst in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingeliefert, konnte aber nach seiner Freilassung nach Schweden entkommen. In Stockholm betrieb er ein Schreibbüro und war als Sekretär und Kassierer weitgehend für die tägliche Arbeit der ES verantwortlich. Er starb 1968.
286
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
ralversammlung am 6. März 1952“ erstattet und der wie stets mit anschaulichen, jedoch anonymen Beispielen nicht spart. Dort heißt es eingangs: Seit vielen Jahren habe ich als Sekretär und Kassierer unserer Organisation alljährlich anlässlich der Generalversammlung den Rechenschafts- und Kassenbericht der Organisation zu erstatten, und jedes Jahr hoffte ich im nächsten Jahr auf der Generalversammlung mitteilen zu können, dass die Hauptaufgabe, deretwegen die Emigranten-Selbsthilfe einst gegründet worden war, nämlich die Aufgabe, Sozialarbeit zu leisten, nicht mehr notwendig sei. Ich hoffte immer wieder, dass alle Emigranten, die ja meist zehn Jahre und länger im Lande weilen, sich so in das Wirtschaftsleben würden einordnen können, dass eine Notlage in unserem Kreise nicht mehr vorkomme. Leider ging diese meine Erwartung bisher nicht in Erfüllung.⁴⁴
Mitteilungen und Einladungen Vervielfältigte Mitteilungen der ES, die auf Deutsch abgefasst waren, im Allgemeinen nur 1– 2 Seiten umfassten und mit der Post versandt wurden, erschienen ab 1943 nicht nummeriert, aber regelmäßig monatlich, wenn auch nicht während der Sommermonate Juni/Juli, in denen auch für Emigranten das absolute schwedische Sommerferiengebot galt.⁴⁵ Sie werden ihrer Bezeichnung gerecht, denn sie enthalten ein wechselndes Sammelsurium von aktuellen Hinweisen auf Sprechstunden, Stellen- und Zimmer-, Kauf- und Verkaufsangebote, Veranstaltungs- und Vortragsankündigungen sowie Spendenaufrufe. Alles in allem sind sie für Lebensverhältnisse und Alltag der Emigranten in Stockholm äußerst aufschlussreich. So fehlte bezeichnenderweise bis weit nach Kriegsende bei nahezu allen Veranstaltungen nie die aufschlussreiche Bitte, man möge für das „Beisammensein“ nach einer Veranstaltung doch „einen Teelöffel Tee mitbringen und sich mit Zucker […] versehen“. Die Veranstaltungstätigkeit, die im Folgenden durch einige wenige Beispiele vorgestellt werden soll, war äußerst rege; pro Frühjahrs- und Herbstsaison fanden
Dass die ES unbürokratisch handeln konnte und auch „Ariern“ half, wird deutlich, als sie anfangs 1944 Helene Warnke, der Frau des kommunistischen Gewerkschafters Herbert Warnke, einen Zuschuss für eine Kur bewilligte. Dies geht aus einem Briefwechsel zwischen Herbert Warnke und Wolfgang Steinitz im Nachlass Steinitz [Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Nachlass Steinitz, Ordner 40, Bd. I] hervor. Fritz Hollander unterstützte diesen Antrag an die ES, siehe Hollander an Pawel, 29. 2. 1944, in: Sammlung Hollander, RA. – Den Hinweis verdanke ich Michael Scholz. Bereits ab 1940 liegen in der Sammlung Jacobowsky Mitteilungen an die Mitglieder der ES, die aber nicht regelmäßig erschienen, Einladungen zu einzelnen Veranstaltungen, so zu Purim-Revuen und musikalischen Veranstaltungen, und kurze Kassenberichte vor.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
287
bis zu fünf Veranstaltungen, d. h. jeden Monat eine, statt, wobei Mitwirkende ein Honorar erhielten und die Kosten durch die Eintrittsgelder im Allgemeinen nicht gedeckt waren, sondern subventioniert wurden. Die gesonderten Einladungen, die mit der Post verschickt wurden, ähneln gelegentlich den Mitteilungen, da auch sie oft mit allgemeinen Hinweisen versehen sind. Regelmäßig wurde zu allen jüdischen Feiertagen wie Purim, Pessach und Chanukkah eingeladen, aber auch zu Spenden-Aktionen anlässlich von Rosch Haschanah. Gelegentlich veranstaltete die ES sogar Purim-Revuen, so 1942 die Revue Alles schon dagewesen. Darum diesmal etwas Neues nach einem Manuskript des österreichischen Emigranten Robert Peiper in der Regie von Hermann Greid und begleitet von Hans Holewa am Flügel. Die Chanukkah-Feiern wurden im Allgemeinen unter dem Motto „Hjälp dem!“ (Hilf Ihnen!) mit einem Basar oder „marknad“ (Markt) eingeleitet. Dabei waren die Einladungen ausnahmslos auf Schwedisch abgefasst, da man auch auf schwedische Besuche und damit schwedische Wohltätigkeit hoffte.⁴⁶ Denn wie es November 1947 hieß, sollten „hela inkomsten“ (alle Einkünfte), d. h. die Gewinne aus der Tombola, „med synnerligen värdefulla vinster“ (mit äußerst wertvollen Gewinnen), aus dem Verkauf von Kunsthandwerk und anderen Dingen, „tillverkade av emigranter och flyktingar“ (angefertigt von Emigranten und Flüchtlingen) wie auch die Einkünfte von Kaffee und Kuchen und Kinderbetreuung, wo „alla barn roa sig under sakkunnig ledning“ (alle Kinder sich unter sachverständigen Leitung amüsieren können) „oavkortat går till nödlidande emigranter och 1945 års räddade“ (ungekürzt an notleidende Emigranten sowie an die 1945 geretteten KZHäftlinge) gehen. Äußerst beliebt waren Musikabende, deren Thematik alle Ansprüche eines gehobenen, anspruchsvollen, konservativen und sicherlich meist deutschen Bildungsbürgertums erfüllt haben dürfte. Sie standen oft zweimal pro Saison auf dem Programm und wurden bis in die letzten Jahre, die hier nachgewiesen werden können, durchgeführt. Einige von ihnen aus den Jahren 1941 und 1942 sollen hier kurz, aber für die Programmgestaltung exemplarisch erwähnt werden. So begann der Musikabend am 16. April 1941 beispielsweise mit einem „Rondo A-Dur für Klavier zu 4 Händen“, gespielt von dem Musikwissenschaftler und Pianisten Dr. Hans Eppstein – der Doktor-Titel wird ausdrücklich im Programm hervorgehoben – und dem Komponisten, Schönberg-Schüler und Pia-
Dass diese Hoffnung nicht vergeblich war, zeigt eine Bemerkung im Rechenschaftsbericht für das Jahr 1950, S. 3, in dem der Chanukkah-Markt als „unsere beste Einnahmequelle“ bezeichnet wird.
288
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
Abb. 3: Einladung zur Purim-Revue am 10. und 11. März 1942.
nisten Hans Holewa⁴⁷, gefolgt von einigen seiner eigenen Lied-Kompositionen „zu Texten von Kindern“, und der „Phantasie F-Moll für Klavier zu 4 Händen“. Hans Holewa (1905 – 1991) war 1937 als politisch Verfolgter aus Wien nach Schweden emigriert. Er wirkte an vielen Veranstaltungen der ES mit und war Mitglied der FÖB (Freie Österreichische Bewegung) in Schweden, die der KPÖ nahestand. Zusammen mit Maxim Stempel war er eines der wenigen Mitglieder der ES, die aus Österreich stammten. – Siehe auch den Beitrag von Henrik Rosengren in diesem Band.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
289
Abb. 4: Einladung zum Chanukkah-Markt am 30. November 1947. Die Zeichnung stammt von Lotte Laserstein.
Nach der Pause standen dann Arien sowie Duette und Terzette aus Opern von Nicolai („Die lustigen Weiber von Windsor“), Mozart („Die Zauberflöte“) und Offenbach („Hoffmanns Erzählungen“) auf dem Programm, das mit einer „Szene aus dem 1. Akt Rigoletto“ von Verdi beendet wurde. Hier wirkten u. a. der Oberkantor der Jüdischen Gemeinde Leo Rosenblüth und Mitglieder der ES mit.
290
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
Am 24. Februar 1942 fand ein „Mozart-Abend“ statt, der am 25. Februar wiederholt wurde. Ein Vortrag des Musikwissenschaftlers Maxim Stempel⁴⁸ führte in den Abend ein; ihm folgten Klavierstücke und Opern-Arien aus „Figaros Hochzeit“ und Szenen aus „Don Juan“, auch hier u. a. unter Mitwirkung des Oberkantors Rosenblüth und Hans Holewas. Nach der Pause führten die Schauspieler Curt Trepte und Peter Winner, die aus politischen Gründen emigriert waren und später zum Ensemble der Freien Bühne gehörten, „eine dramatische Skizze“ von A. S. Puschkin, „Mozart und Salieri“, auf. Quasi als Zugabe schloss der Abend dann mit Klavierauszügen aus Mozarts „Requiem“ ab. Maxim Stempel, der bereits am 24. Februar 1942 den Mozart-Abend (s. o.) eingeleitet hatte, bestritt auch einen Großteil des Kammerkonzertes am 14. November 1942. Er sprach die „einführenden Worte“, begleitete am Klavier eine Sonate für Klarinette und Klavier von Brahms und eine eigene Komposition, eine „kleine Suite“, sowie Lieder von Edvard Grieg und die „Gesangszene ,Der Hirt auf dem Felsen‘“. Ferner spielte der emigrierte Pianist Alfred Klein die „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgski. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch noch ein „künstlerischer Abend“, der nach Kriegsende am 26. September 1945 stattfand. Er wurde von zwei Auszügen aus Kompositionen Tschaikowskis eingeleitet und mit Werken der jüdischen Komponisten Achron, Wieniawski und Lalo abgeschlossen. Sie rahmten den zweiten Programmpunkt, den Höhepunkt des Abends, ein: „Jüdisches Schicksal. Gedichte von Nelly Sachs“, vorgetragen von Herman[!] Greid, in der erstmals die Gedichte der späteren Nobelpreisträgerin einer Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Vor allem in den ersten Jahren nahmen Vorträge, meist über kulturelle Themen deutscher Provenienz, aber gelegentlich auch „aus gegebenem Anlass“ einen großen Platz ein.⁴⁹ Dabei wurde in den Mitteilungen nicht nur die Veranstaltung selbst angekündigt, sondern auch allgemeine Hinweise gegeben, die von großem Interesse waren. Beispielsweise findet sich in der Einladung zum Vortragsabend am 26. Mai 1942, als der schwedisch-jüdische Studienrat Wulff Fürstenberg über das Thema „Strindberg und die Juden“, sprach, auch die höchst aktuelle Notiz: „Die Nachrichten über von Deutschland nach dem Osten deportierten Juden
Maxim Stempel (1898 – 1972) war Pianist, Dirigent, Musikkritiker und Musikpädagoge sowie Mitglied der FÖB (Freie Österreichische Bewegung) in Schweden, die der KPÖ nahestand. – Siehe auch den Beitrag von Henrik Rosengren in diesem Band. Das Interesse nahm nach Kriegsende ab. Im Rechenschaftsbericht für das Jahr 1951 heißt es expressis verbis: „Wie wir feststellen mussten, ist für Vorträge nur noch geringes Interesse vorhanden, daher haben wir uns mehr auf musikalische Darstellungen eingestellt.“ – Rechenschaftsbericht 1951, S. 3.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
291
laufen nur spärlich ein. Mosaiska Församlingen versucht z. Z., die Adressen von Gesuchten zu ermitteln. Herr Dr. Michaeli ist gern bereit, Auskunft im Einzelnen zu geben.“ Die systematische Ausrottung auch der deportierten deutschen Juden war nicht mehr zu übersehen. In den Mitteilungen von August 1943 wurde für September ein Vortrag von Wolfgang Steinitz über „Die Juden in Osteuropa“ angekündigt; auf dem gleichen Blatt wurden auch die ersten Aufführungen der „Freien Bühne“ erwähnt sowie vor allem auf die bereits ein Jahr vorher [!] möglich gewordene „Streichung der Zusatznamen ‚Israel‘ und ‚Sara‘“ durch die schwedischen Behörden hingewiesen. In der Notiz heißt es einleitend: Emigranten, die ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren haben, können, um die ihnen s. Z. gesetzlich auferlegten zusätzlichen Vornamen „Israel“ bzw. „Sara“ aus den hiesigen amtlichen Dokumenten gestrichen zu bekommen – die Fortlassung der Zusatznamen in den Fremdenpässen allein genügt nicht – ein entsprechendes Gesuch mögl. in Schreibmaschinenschrift an das Statistische Zentralamt lt. Nachstehender Fassung richten, falls in dem „Flyttningsbetyg“ [Umzugsbescheinigung] die Zusatznamen mitaufgeführt sind.
Danach folgt ein Muster für ein solches Gesuch, in dem auf den Regierungserlass vom 16. Oktober 1942 hingewiesen wird, der die Annullierung der beiden Zwangsvornamen ermöglicht. In der Mitteilung von September heißt es dann, dass „Familienmitglieder, die in einer Wohngemeinschaft leben, nur einen Antrag einzureichen [brauchen]“ und dass der „Antrag persönlich […] abzugeben“ ist. Als dann im Februar 1944 ein Vortrag von „Dr. Hans Joachim Schoeps“ über das Thema „Vom göttlichen Auftrag und geschichtlichen Schicksal des Volkes Israel“ angekündigt wurde, fand sich in den „Mitteilungen“ der Hinweis auf eine nicht öffentliche Vorführung „nur für Mitglieder der ‚E.S.‘“ des englischen Filmes „Pimpernel Smith“, in dem ein englischer Archäologie-Professor, gespielt von Leslie Howard, unter Abenteuern Juden vor deutscher Verfolgung rettet; er dürfte zu diesem Zeitpunkt vor allem den guten Zweck einer moralischen Aufrüstung der Mitglieder der ES erfüllt haben.⁵⁰
Solche Filmveranstaltungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit und „nur für Mitglieder“ fanden mehrmals statt. So wurde am 22. Oktober 1944, wohl durch Vermittlung von Wolfgang Steinitz, ein russischer Dokumentarfilm „Der Charkower Prozess“ über den ersten Prozess in der Sowjetunion gegen deutsche Kriegsverbrecher gezeigt. Diese privaten Vorführungen waren ein erlaubter Weg, die schwedische Filmzensur, die auf strikte Neutralität bedacht war, zu umgehen.
292
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
Hilfsbedürftige helfen Hilfsbedürftigen Ab Herbst 1944 wurde dann in nahezu allen Mitteilungen die Lage der Juden im deutschbesetzten Europa bzw. im Nachkriegseuropa angesprochen, wobei Vorträge und andere Veranstaltungen als solche aus gegebenem, d. h. aktuellem Anlass in den Hintergrund traten und die selbst noch Hilfsbedürftigen gebeten wurden, andere Schicksalsgenossen, die noch hilfsbedürftiger waren, zu unterstützen. Diese Entwicklung kündigte sich bereits am 13. November 1943 an, als ein musikalischer „Heine-Abend“ stattfand, eine „Wohltätigkeitsveranstaltung zum Besten der Flüchtlinge aus Dänemark“, die nach dem 10. Oktober 1943 aus Dänemark über den Öresund gerettet werden konnten und unter denen sich auch etliche deutsche Juden befanden, die bis zu diesem Zeitpunkt in Dänemark Asyl gefunden hatten. Im Dezember 1944 ging es dann in den Mitteilungen um die Möglichkeit von „Paketsendungen nach Theresienstadt, Bergen-Belsen usw.“, und es findet sich als Anlage das Flugblatt „Arbetsutskottets och kongressens pakethjälp för judar“ [Hilfspakete des Arbeitsausschusses und des Kongresses] der schwedischen Sektion des World Jewish Congress (JWC), in dem es unter anderem heißt: „Bis auf Weiteres nehmen wir keine Aufträge für Sendungen in die Lager in Oberschlesien entgegen.“ Am 6. Juni 1945, also kurz nach Kriegsende, sprachen dann laut Einladung „Herr Norbert Masur“⁵¹ über „Meine Verhandlungen mit Himmler“ und „Herr Gilel Storch“⁵² über „Die Rettungsaktion für die europäischen Juden von Schweden aus“. Ausdrücklich wird vermerkt „Keine Voranmeldung. Eintritt frei“. Aber der normale Alltag machte sich wie stets auch jetzt bemerkbar. Auf der Einladung finden sich detaillierte Mitteilungen zu „Wohnungstausch“, „Zimmerangebot“, „Sommeraufenthalt in Stocksund“ und einem „Sommeraufenthalt bei Familie auf dem Lande für 8jähriges Mädchen“.
Norbert Masur (1901– 1971) war Angestellter der Baltiska Skinnkompaniet Fritz Hollanders. Er war bereits 1923 nach Schweden gekommen. Masur verhandelte im April 1945 als Vertreter des JWC mit Heinrich Himmler über die Freilassung von Juden. Unmittelbares Resultat der Verhandlungen war die Freilassung von mehr als 7.000 jüdischen Frauen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück. Sie wurden mit den „Weißen Bussen“ des Schwedischen Roten Kreuzes unter Folke Bernadotte nach Schweden gebracht. Gilel Storch (1902– 1983) war führender Zionist und lettischer Geschäftsmann. Er war bereits in seinem Heimatland Vertreter der „Jewish Agency“ und konnte 1940 nach der russischen Okkupation des Landes nach Schweden entkommen. Im Auftrag des JWC stand er in Verbindung zu Heinrich Himmler und bereitete den Besuch Norbert Masurs in Deutschland vor.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
293
In den eigentlichen „Mitteilungen“ desselben Monats ging es dann auf vier engbeschriebenen Seiten um „Das Lager der jüdischen Staatenlosen“, d. h. gebürtiger deutscher Juden, die im Rahmen schwedischer Aktionen aus den Konzentrationslagern nach Schweden gerettet werden konnten und die in Smålandsstenar, einem kleinen Ort in Südschweden, untergebracht worden waren. Die Emigrantenselbsthilfe forderte in einem ausführlichen Bericht u. a. dazu auf, „den Staatenlosen doch den wichtigen moralischen Halt durch die persönliche Anteilnahme“ zu geben, der „die Vertretung aller Länder ihren Angehörigen zuteilwerden lässt“. Man habe daher das Vorstandsmitglied Elsa Meyring „bereits in das Lager entsandt“, um erste Kontakte zu knüpfen. Eine alphabetische Liste von 90 Frauen und 40 Männern ist beigefügt, aus der außer den Namen auch das Geburtsjahr, der Heimatort und der Beruf hervorgehen; bis auf acht Personen aus Wien scheinen sie alle aus dem Reichsgebiet, vornehmlich aus Westdeutschland, zu kommen. Es heißt ausdrücklich, man habe den Beruf erwähnt, um „durch Mitwirkung unserer Mitglieder die Eingliederung in das Erwerbsleben zu bewerkstelligen. Es handelt sich um gut ausgebildete, vorwiegend jüngere Kräfte.“ Es findet sich ferner unter der Überschrift „Smålandsstenarhilfe“ eine äußerst umfangreiche Wunschliste für Dinge des täglichen Bedarfs, die von „Deutsche und englische Literatur“ und „Schwedische und englische Lehr- und Wörterbücher“ über „Schreibhefte“ und „Luftpost- und anderes Briefpapier“ sowie „Halstücher für Männer“ und „Kopftücher für Frauen“ bis zu „Frauenschuhe 36 – 38, niedrige Absätze“ und „Einfache Kleiderstoffe“ sowie „Stoffreste“ und „Einfache Kleider Größe 42– 46“ reicht. Danach trat die chaotische Lage im deutschsprachigen Mitteleuropa in den Vordergrund. So sprachen am 8. Januar 1946 der schwedisch-jüdische Rechtsanwalt Ragnar Gottfarb als Vertreter der amerikanischen jüdischen Hilfsorganisation Joint Distribution Committee in Schweden über seine „Eindrücke von einer Reise nach Hamburg und Berlin“, und Dr. Wilhelm Michaeli, ein deutsch-jüdischer Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde in Stockholm, der später für Wiedergutmachungsfragen zuständig werden sollte, über seine „Reise in die Schweiz zum Studium der Flüchtlingsprobleme“. Zu einem ersten Besuch aus der alten Heimat kam es dann bereits am 7. Februar 1946, keine zehn Monate nach Kriegende, als „Dr. Leo Löwenstein, früher Vorsitzender des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten, z. Z. Mitglied des Vorstandes der jüdischen Gemeinde zu Berlin“ über „Erinnerung und Zukunftshoffnung eines mitteleuropäischen Juden“ sprach, während auf der Generalversammlung am 20. Februar, also keine 14 Tage später, „Direktor Fritz Hollander“ über sein „Kurzes Wiedersehen mit Deutschland“ berichtete. In den folgenden Jahren wurden die Mitglieder der ES dann immer wieder aufgefordert, bedürftigen Schicksalsgenossen in Europa zu helfen, so als im März
294
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
Abb. 5: Mitteilungen vom Juni 1945, S. 2.
1946 der WJC mitteilte, dass er nun in der Lage sei, Lebensmittelpakete verschiedener Größe, deren Inhalt genau aufgeschlüsselt werde, zu einem festen Preis „nach Belgien, Deutschland, England, Frankreich, Luxemburg, Österreich, Polen, Schweiz, Ungarn“ zu schicken.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
295
Zweieinhalb Jahre später, im August 1948, erging in den Mitteilungen für diesen Monat ein Aufruf zu einer „Hilfsaktion für Juden in Berlin“; vorausgegangen war ein Besuch aus Berlin, über den man erfuhr: „Das Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Dr. Hans Erich Fabian, macht anläßlich seines Besuches in Stockholm auf die schwierige Lage der Berliner Juden aufmerksam. Die jüdische Gemeinde zu Berlin zählt gegenwärtig 7.800 Mitglieder. Von diesen sind über 50 % über 50 Jahre alt.“ Aber ein enger Kontakt mit Berlin war allem Anschein nach schon vorher hergestellt worden, denn bereits zum gleichen Zeitpunkt konnte die ES unter der Überschrift „Jüdische Kinder aus Berlin in Schweden“ stolz darüber berichten, man habe „durch private Hilfsbereitschaft […] 30 jüdischen Kindern aus Berlin einen Ferienaufenthalt in Schweden“ ermöglicht, und bitte nun „unsere Kreise“ um „gebrauchte oder neue Bekleidungsstücke“ sowie „warme Unterwäsche, Strümpfe und Schuhe“ für ihre Schutzbefohlenen.
Rückerstattung und Schadenersatz Verständlicherweise nehmen nach Kriegsende Fragen zur Rückerstattung von Vermögen und Eigentum und zu Schadenersatzansprüchen einen immer größeren Platz in den Mitteilungen der ES sowie den Anlagen dazu ein. Bereits im September 1946 findet sich ein Hinweis auf eine „Interessenvertretung der aus Deutschland ausgewanderten Juden“ und verschiedene Wiedergutmachungsfragen, während im Monat danach eine „Mitteilung für Personen, die Schadensersatzansprüche innerhalb der englischen Zone in Deutschland geltend machen wollen“, ergeht. Einleitend heißt es: Das britische Außenministerium hat die schwedischen Behörden davon verständigt, dass auch Personen, die nicht englische Staatsangehörige sind und die ihren Wohnsitz außerhalb des britischen Weltreichs [!] haben, soweit sie durch die Naziverfolgung ihres Besitzes in der britischen Zone in Deutschland beraubt worden sind, ihre Ansprüche in England anzumelden.
Die Betroffenen werden aufgefordert, ihre „Ansprüche in vierfacher Ausfertigung anzumelden“. Das englische Original eines „Specimen Declaration as to Property“ wird zusammen mit der Übersetzung beigefügt. Für den 1. März 1948, als in den vier Besatzungszonen vorläufige Ordnung eingetreten zu sein scheint, wird zu einer Versammlung eingeladen. Nach der „Einleitung: Dr. Wilhelm Michaeli“ folgt als Punkt 2 der Tagesordnung „Die Anmeldung von Forderungen gegen deutsche Schuldner gemäß der schwedischen Bekanntmachung vom 16. Januar 1948. Berichterstatter Dr. Julius Hepner“. In Punkt 3 geht es um „Die Wiedergutmachungsansprüche in Deutschland. Be-
296
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
richterstatter: Advokat Dr. Ernst Baburger“, dem, viertens, eine Aussprache folgt. Die Einladung wird von mehreren Organisationen unterschrieben, und zwar von „Emigranternas självhjälp“, „Emigranternas skyddsförening“⁵³ und „Tyska socialdemokratiska partistyrelsens representant i Sverige“.⁵⁴ Eine Intervention dieses Kreises bei den schwedischen Behörden blieb aber erfolglos. Im August des Jahres ging es dann in zwei Notizen der Mitteilungen laut Überschrift um die „Rückerstattung von Vermögen in Deutschland“ bzw. um die nun angeblich möglich gewordene „Rückführung von persönlichem Eigentum, Wertsachen, Möbeln, Hausrat u.s.w. aus Deutschland, Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei“.
Pflege- und Altersheim der Jüdischen Gemeinde Wie aus den Mitteilungen der Jahre nach 1945 hervorgeht, trug man sich in der ES mit dem Gedanken, mit eventuellen Wiedergutmachungsmitteln ein „KollektivHaus“ bzw. „Pflege- und Altersheim“ für Mitglieder der ES zu errichten. So schlug Siegfried Pawel am 17. Februar 1949 auf einer Generalversammlung die Gründung eines Heims für ältere Mitglieder vor und bat bereits im Dezember 1949 etwaige Interessenten darum, sich anzumelden. Beigefügt ist ein Formular „Unverbindliche Anmeldung für das geplante Kollektivhaus“. Allerdings wurde bereits 1951 im Rechenschaftsbericht für 1950 das vorläufige Scheitern des Projekts aus praktischen Gründen angekündigt. Dennoch wurde der Plan nicht aufgegeben,
Die „Interessengemeinschaft deutschsprachiger Emigranten“ (IDE) wurde bereits am 19. 7. 1944 gegründet. Ihr ging es um die Sammlung aller aus Deutschland nach Schweden gekommenen Emigranten zur Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Interessen. Sie wurde bei ihrem Start von der Obersten Schwedischen Sozialbehörde (Socialstyrelsen) und der Jüdischen Gemeinde unterstützt und verstand sich selbst als unpolitisch. Sie erlangte keine größere Bedeutung und wurde im November 1949 aufgelöst. Ihr Vorsitzender war der aus Deutschland geflohene jüdische Rechtsanwalt Julius Hepner. – Aufschlussreich ist ein „Rundbrief 5“ der IDE, der diesen „Mitteilungen“ beiliegt. Dort heißt es über eine Veranstaltung der IDE: „In seinem Schlusswort berichtete Advokat Dr. Fischler u. a., daß ihm ein aus einem deutschen Konzentrationslager heimgekehrter Norweger berichtet habe, die dortigen politischen und kriminellen Internierten hätten im allgemeinen an der Judenpolitik keinen Anstoß genommen.“ Bei diesem Repräsentanten der deutschen Sozialdemokratie in Schweden handelt es sich um den ehemaligen Reichstagsabgeordneten Kurt Heinig (1886 – 1956), der 1933 nach Dänemark emigrierte und 1940 nach Schweden weiterfliehen konnte. Hier war er der sehr umstrittene Vertreter des nach London emigrierten Parteivorstandes der SPD in Schweden. Er war „Arier“, dagegen war seine Frau von der NS-Rassengesetzgebung betroffen.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
297
und 1956 kündigte der Rechenschaftsbericht an, 1957 werde mit dem Bau eines Pflege- und Altersheims begonnen.
„Helft Emigranten durch Aufträge!“ (Arbeitsvermittlung) Eine der wichtigsten, praktischen Aufgaben der ES war die Arbeitsvermittlung. Sie wird regelmäßig bis Mitte der fünfziger Jahre durch kleinere Anzeigen in den Mitteilungen, aber auch durch alphabetisch nach Berufsgruppen geordnete Verzeichnisse, die möglicherweise jedes Jahr erschienen, aber dann in der Sammlung Jakobowsky nicht alle vorliegen, unter der Überschrift „Helft Emigranten“ bzw. „Helft Emigranten durch Aufträge“ betrieben. Sie lassen erkennen, wie vielfältig die Zahl der Berufe war, die die Emigranten in ihrer Heimat ausgeübt hatten und in Schweden ausüben wollten, sowie welche „Nischen“ sie zu besetzen versuchten. 1940 reichte das Angebot von „Bridgeunterricht“ und „Briefmarken[expertise]“ über „Buchführung“ und „Fleckentfernung“ sowie „Übersetzungen“ – „Dr. Steinitz“ bietet seine Hilfe in den Sprachen „Russisch, Finnisch, Estnisch, Ungarisch, Schwedisch“ an – und „Wäsche (Anfertigung)“ bis hin zu „Wäschewaschen und Reparaturen“ und „Zuschneide- und Nähunterricht“. Des Öfteren offerieren mehrere Personen ihre Dienste unter derselben Rubrik: „Kinderbetreuung und Kinderwache“, „Klavierunterricht“ und „Kleidung (Anfertigung“) wird von jeweils sechs Personen versprochen. 1945 orientiert dann ein ausführliches „Ärzteverzeichnis“ mit Name, Adresse und Fachgebiet über 23 Ärztinnen und Ärzte, von denen nun 16 nach vielen Jahren der Arbeitslosigkeit „zur Behandlung von Emigranten aus Deutschland zugelassen“ sind, drei „zur Behandlung von Emigranten aus Österreich“ und ebenfalls drei „zur Behandlung von Emigranten aus der Tschechoslowakei“; der Umgang mit den Medizinerinnen und Medizinern, die aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa hatten fliehen müssen, weil sie von der NS-Rassenpolitik ausgegrenzt wurden, ist im Übrigen alles andere als ein Ruhmesblatt schwedischer Einwanderungs- und Arbeitsmarktpolitik. Die deutsch-jüdische Emigrantenselbsthilfe in Stockholm hat seit ihrer Gründung 1938 im Kriege 1939 – 1945 und in den ersten Nachkriegsjahren vorbildliche Sozialarbeit geleistet sowie durch Arbeits- und Wohnungsvermittlung, ihre aktuellen Informationen und ihre individuelle psychologische Betreuung erfolgreich dazu beigetragen, den Emigranten ihr Schicksal zu erleichtern. Darüber hinaus hat sie durch ihre Vorträge zu aktuellen und kulturellen Themen und nicht zuletzt durch ihre Musikabende ihren Mitgliedern, fast ausnahmslos durch die NS-Gewaltherrschaft heimatlos gewordenen Vertretern eines deutsch-jüdi-
298
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
schen Bildungsbürgertums, das Gefühl gegeben, der altgewohnten Kultur auch weiterhin anzugehören und gemeinsam mit Schicksals- und Leidensgenossen das Bild der Heimat im Gespräch bei dem folgenden Beisammensein bei einer Tasse Tee und einem Löffel Zucker zu bewahren, auch wenn man diese „Lebens-Mittel“ mitzubringen hatte. Die aufbauende psychologische Wirkung auf den Einzelnen, der nach seiner Flucht ohne Heimat und Arbeit war, dürfte dabei von kaum zu überschätzender, wenn auch nicht messbarer Bedeutung gewesen sein. Die ES hat ihr selbstgestecktes Ziel verwirklichen können. Sie hat die Arbeit der Behörden und der Jüdischen Gemeinde in Stockholm wesentlich erleichtert und vor allem „Hilfe zur Selbsthilfe“ vermitteln können.
Teil III: Die Emigrantenselbsthilfe in der historischen und Erinnerungsliteratur (Michael F. Scholz) Aus Anlass des 10. Jahrestages der Bildung der Emigrantenselbsthilfe war 1948 eine kleine Jubiläumsschrift, von Ernst Baburger verfasst, hektografiert erschienen, wohl in einer Auflage von 700 Exemplaren.⁵⁵ Neben dieser fand die ES zunächst allein bei Walter A. Berendsohn (1884 – 1984) im zweiten Teil seiner Arbeit Die humanistische Front Beachtung. Obwohl das Manuskript im Januar 1949 abgeschlossen worden war, erschien es erst 1976 in der Schriftenreihe Deutsches Exil 1933 – 1945. ⁵⁶ „Durch eine Verkettung ungünstiger Umstände“ war das Buch ungedruckt geblieben, wie Berendsohn später schrieb. Als eine Ursache nannte er „den starken Widerstand gegen die Emigranten in der Bundesrepublik“. Immerhin sei das Manuskript in der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main zugänglich gewesen; Interessenten seien – zum Preis von 100 DM – auch mit Kopien versorgt worden. Bei Erscheinen war Berendsohns Buch wissenschaftlich in Einigem überholt, doch zeichnet es sich durch persönliche Erlebnisse und Einschätzungen des Verfassers aus. Dazu gehört auch sein interessantes Bild der Emigrantenselbsthilfe, ihrer sozialen Hilfstätigkeit und kulturellen Arbeit. Wie erwähnt, hatte Berendsohn mit der ES noch in seinem Kopenhagener Exil Kontakt gefunden und war in Stockholm auch als Gastreferent aufgetreten. 1943 hatte er dann in Schweden Zuflucht gefunden. Als zentrale Persönlichkeiten der ES nennt Berendsohn deren erste Sekretäre, anfangs Redakteur Ludwig Lewy, dann Architekt Siegfried Pawel. Zu den „aktivsten Mitarbeitern“ zählte er Elsa Meyring Emigrantenselbsthilfe, 1938 – 1948 ES, [s. n.], [Stockholm] 1948. Berendsohn,Walter Arthur: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche EmigrantenLiteratur. Zweiter Teil: Vom Kriegsausbruch 1939 bis Ende 1946.Worms 1976. (Deutsches Exil. Eine Schriftenreihe 1972– 1982).
Von Hilfe zur Selbsthilfe
299
und Wolfgang Steinitz, von dem er Anfang 1949 wusste, dass dieser nach seiner Rückkehr nach Deutschland in die Sowjetische Besatzungszone Professor an der Humboldt-Universität in Berlin war. Über Tätigkeit und Ziele der ES schrieb Berendsohn: Sie bemühte sich vor allem, ihren Mitgliedern, meist älteren bürgerlichen Juden, die Assimilation in Schweden zu erleichtern. Sie gab ein vervielfältigtes Mitteilungsblatt heraus. Mit etwa 100 000 Kr. konnte sie in zehn Jahren in bescheidenem Umfang Hilfe leisten. Als durch die Aktion des Grafen Bernadotte 1945 die Insassen der deutschen Lager ins Land kamen, griff sie helfend mit ein. Außer Sprachkursen und Vorführungen von Filmen, die nur in geschlossenem Kreis gezeigt werden durften, veranstaltete sie regelmäßig kulturelle Abende in den Räumen der jüdischen Gemeinde, Konzerte, kleine Aufführungen, die im allgemeinen gut besucht waren und vielen deutschen Emigranten Gelegenheit boten, zu zeigen, was sie konnten, wobei die deutsche Literatur und Kultur natürlich einen hervorragenden Platz einnahmen. Bis zur Gründung des Freien deutschen Kulturbundes waren diese deutschen Kulturabende die Hauptereignisse im geistigen Leben der deutschen Emigration in Stockholm.⁵⁷
Helmut Müssener hatte sich bereits in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre in seinem bis heute gültigen Standardwerk Exil in Schweden der Emigrantenselbsthilfe wissenschaftlich angenommen.⁵⁸ Müssener ist es auch zu danken, dass die ES in der Ausstellung der Akademie der Künste in West-Berlin 1986/1987 – Exil in Schweden – Aufmerksamkeit fand. In der Ausstellung, Müssener war hier „Berater“, waren der ES unter dem Thema „Hilfsorganisationen“ zwölf Exponate gewidmet; auch in anderen Bereichen wurden Spuren ihrer umfangreichen Kulturarbeit deutlich.⁵⁹ Müssener hat auch später immer wieder die Arbeit der ES gewürdigt, so 1999 in einem Beitrag für das Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933 – 1945. ⁶⁰ In der DDR-Exilforschung hat die Emigrantenselbsthilfe kaum Erwähnung gefunden. Dies gilt zumindest bis 1989 auch für den Historiker Jan Peters (1932– 2011). Als Sechsjähriger hatte er mit seinen Eltern in Schweden Zuflucht gefunden. Nach der Rückkehr der Eltern in die Sowjetische Besatzungszone fand er einige Zeit eine Heimstatt bei Hollanders, bis er nach Erhalt der Hochschulreife seinen Eltern nach Berlin folgte. Wolfgang Steinitz war sein Onkel, der Bruder seiner Mutter. Durch diesen persönlichen Kontakt und durch eine während mehrerer
Berendsohn, Die humanistische Front, S. 81. Müssener, Exil in Schweden, S. 111– 113. Akademie der Künste, 1986. Müssener, Helmut: Deutschsprachige Theater im skandinavischen Exil. In: Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933 – 1945, Bd. 1: Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler. Hrsg. von Frithjof Trapp [u. a.]. Mü nchen 1999. S. 319 – 339.
300
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
Schweden-Aufenthalte in den 1960er-Jahren aufgebaute Exilsammlung für seine Habilitation über das Exilland Schweden, abgeschlossen im Jahr 1975, hatte Peters zweifellos einen guten Einblick in die Arbeit der ES. Doch zeigte er hier eine bemerkenswerte Zurückhaltung. Für die in der DDR bei Reclam 1980 erschienene siebenbändige Reihe Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945 behandelte Peters die politischen Voraussetzungen des Exils in Schweden für den von Ludwig Hoffmann und Curt Trepte verantworteten Teil „Exil in Skandinavien“. Ausführlich diskutierte er hier Formen der überparteilichen Zusammenarbeit, ohne jedoch dabei die ES zu erwähnen.⁶¹ Dafür würdigte er den von Steinitz angeregten Zusammenschluss deutscher Forscher im schwedischen Exil, dem allerdings wenig Erfolg beschieden war. Aufgrund der in schwedischen Universitätskreisen weitverbreiteten Emigrantenfeindlichkeit sei, wie Peters meinte, diesem kein langes Leben beschieden gewesen. Er erwähnte ferner Persönlichkeiten, die einem im April 1939 gebildeten Heinrich-Mann-Kreis angehörten, nicht aber, dass sie in der von ihm ja verschwiegenen Emigrantenselbsthilfe aktiv waren. Als der Kreis dem Vorwurf ausgesetzt wurde, es handle sich um eine kommunistische Tarnorganisation, habe dies viele von der Mitarbeit abgeschreckt. Daraufhin habe sich wenig später auf Steinitz’ Initiative ein Schutzverband Deutscher Schriftsteller in Schweden in ähnlicher Zusammensetzung gebildet. Als Vorsitzenden habe Steinitz Bert Brecht gewonnen, dem er als Sekretär zur Seite stand. In Peters Darstellung fließen die Aktivitäten der Emigranten auf kulturellem Gebiet mit denen der bei ihm nicht erwähnten deutsch-jüdischen Hilfsorganisation Emigrantenselbsthilfe zusammen.⁶² Im Hauptteil desselben Bandes erwähnt jedoch der Theaterwissenschaftler und ehemalige Schweden-Emigrant Curt Trepte (1902– 1990) die ES. Zu ihr heißt es in seinem Teil „Theaterarbeit deutscher Emigranten in Schweden“: Mit dem Anwachsen des Flüchtlingsstroms nach Schweden erwies es sich als notwendig, zusätzlich eine eigene, von den Emigranten selbst geleitete Hilfsorganisation für Flüchtlinge zu schaffen, die „Emigrantenselbsthilfe“, deren Aufgabe neben materieller Unterstützung einzelner Flüchtlinge auch die Finanzierung von kulturellen Veranstaltungen war. Die Gelder wurden durch Spenden aufgebracht.⁶³
Peters, Jan: Die politischen Voraussetzungen des Exils in Skandinavien und dessen besondere Züge. In: Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945. Hrsg. von Ludwig Hoffmann. Bd. 5: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina. Leipzig 1980. S. 309 – 364. Peters, Die politischen Voraussetzungen, S. 351.Vgl. Peters, Jan: Exilland Schweden. Deutsche und schwedische Antifaschisten 1933 – 1945. Berlin (DDR) 1984. S. 89, 115. Hoffmann/Trepte, Kunst und Literatur im skandinavischen Exil, S. 401.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
301
Trepte, der in der DDR zu den Initiatoren systematischer Exilforschung gehörte, nennt hier zwar die ES, doch ohne ihr die Bedeutung zukommen zu lassen, die ihr im Stockholmer Kulturleben gebührt. So rühmt er eine Reihe von Kulturveranstaltungen der ES, an denen er zum Teil selbst aktiv beteiligt war, ohne diese dabei als Träger der Veranstaltungen zu erwähnen. Zum Beispiel würdigt er den LessingZweig-Abend am 13. und 14. Februar 1939 als „ersten Theaterabend der deutschen Emigration in Stockholm“, ohne die ES als Veranstalter zu nennen. Erst im Zusammenhang mit einem Mozart-Abend anlässlich des 150. Todestages des Komponisten im Februar 1942 tritt bei Trepte die Emigrantenselbsthilfe als Veranstalter in Erscheinung. Mit der Erwähnung dieses Abends von 1942 als „erste Veranstaltung“ der Emigrantenselbsthilfe unterschlägt er dabei glatt drei Jahre erfolgreicher Kulturarbeit dieser jüdischen Organisation.⁶⁴ Bei Jan Peters findet die ES auch in seiner Habilitationsschrift von 1975, die aufgrund von Ränkespielen erst 1984 erscheinen konnte, keine Erwähnung.⁶⁵ Jedoch – wohl eine List von Peters gegenüber den Zensoren (es existiert ein vielbändiger Sondervorgang beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zu dieser Habilitation) – werden im Abbildungsteil eine Einladung und eine Ensemble-Aufnahme zu einem Kulturabend der Emigrantenselbsthilfe gezeigt.⁶⁶ Kurz vor dem Zusammenbruch der DDR 1989 veröffentlichte Peters die Korrespondenz seiner Eltern und des Paares Steinitz aus der unmittelbaren Nachkriegszeit und erwähnt hier auch die Emigrantenselbsthilfe und das Engagement von Wolfgang Steinitz und Fritz Hollander. Hollander, dessen Name bis dahin nie gefallen war, wird bei Peters als einer der Aktiven aus dem Kreis um Steinitz und als „führend in der Jüdischen Gemeinde Stockholm und aktiver Helfer antifaschistischer Emigranten“ vorgestellt.⁶⁷ Die Beziehungen Fritz Hollanders zur KPD-Emigration und Wolfgang Steinitz werden erstmals in einer Biografie über Herbert Wehner und seine Exil-Jahre in Schweden (1995/1997) behandelt.⁶⁸ Sie spielen auch eine Rolle in der Steinitz-
Hoffmann/Trepte, Kunst und Literatur im skandinavischen Exil, S. 400 ff. Peters, Exilland Schweden. Dazu Scholz, Michael F.: Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration. Die ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien und ihr weiteres Schicksal in der SBZ/DDR. Stuttgart 2000. S. 314– 319. Kulturabend der Emigrantenselbsthilfe. Ensemble-Aufnahme zu Lessings „Die Juden“. In: Peters, Exilland Schweden, Bildteil zwischen den Seiten 114 u. 115. Peters, Jan (Hrsg.): Zweimal Stockholm–Berlin 1946. Briefe nach der Rückkehr: Jürgen Peters und Wolfgang Steinitz. Leipzig 1989. S. 165. Scholz, Michael F.: Herbert Wehner in Schweden 1941– 1946 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 70). München 1995. S. 314– 319; Scholz, Michael F.: Herbert Wehner in Schweden 1941– 1946 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 70). Berlin 1997 (durch Dokumente erweitert). S. 260 – 262.
302
Helmut Müssener, Michael F. Scholz
Biografie (2005).⁶⁹ In der im Jahr darauf von Freunden und Kollegen publizierten weiteren Steinitz-Biografie fehlen allerdings Hinweise auf die Emigrantenselbsthilfe bzw. auf Hollander, die man vor allem im Beitrag von Jan Peters erwartet hätte.⁷⁰ Fritz Hollanders wichtige Rolle für die jüdische Emigration wurde auch in Schweden erst spät entdeckt. Zehn Jahre nach der ersten Erwähnung bei Peters wird Fritz Hollander von Lena Einhorn für ihr Buch Handelsresande i liv interviewt. Das Buch handelt von dem Versuch, kurz vor Kriegsende mit deutschen Behörden, darunter mit SS-Chef Heinrich Himmler, über eine Rettung von Juden zu verhandeln. Hollander wird von Einhorn vorgestellt als „Geschäftskollege“ von Norbert Masur und „jüdischer Aktivist“.⁷¹ Dabei war Hollander als Vorstandsmitglied bzw. Generalsekretär der schwedischen Sektion des Jüdischen Weltkongresses treibende Kraft hinter den Verhandlungen, die sein ehemaliger Mentor und späterer Angestellter Norbert Masur mit Himmler über die Freilassung von KZ-Häftlingen führte. Die Konzentration des Einhorn-Buches auf Gilel Storch und Norbert Masur ließ wohl wenig Raum für eine Würdigung der tatsächlichen Bedeutung Hollanders; er bleibt hier mehr Beobachter des Geschehens.⁷² Ein weiteres Jahrzehnt später erfährt die Emigrantenselbsthilfe bei Peters endlich eine Würdigung, und zwar in seinen Memoiren, die wenige Wochen nach seinem Tod 2011 erschienen. Peters nennt die ES „eine wichtige Hilfsorganisation vornehmlich für jüdische Flüchtlinge, faktisch aber auch für die illegal im Land sich aufhaltenden Linken“. Dies sei ausdrücklich ein Verdienst von Wolfgang Steinitz. Steinitz konnte sich dabei, so Peters, „auf viele wohlhabende jüdische Einwanderer und auf die Jüdische Gemeinde stützen, vor allem auf Fritz und Camilla Hollander, aber auch auf manche andere schwedische Intellektuelle, etwa den Historiker Hugo Valentin“.⁷³ Zumindest in Ansätzen ging Peters hier auch auf sein persönliches Verhältnis zu Hollanders ein: „Für mich selbst haben Camilla und Fritz Hollander viel bedeutet, nicht zuletzt in der Endphase meines
Leo, Leben als Balance-Akt. Kapitel: Die schwedischen Jahre (von Michael F. Scholz). Peters, Jan: Wolfgang Steinitz’ Weg als politischer Wissenschaftler. In: Wolfgang Steinitz – Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. Hrsg. von Klaus Steinitz. Berlin 2006. S. 9 – 62. Einhorn, Lena: Handelsresande i liv. Stockholm 1999. S. 520. (dt. 2002 Menschenhandel unterm Hakenkreuz). Einhorn, Handelsresande i liv, S. 520. Peters, Jan: Menschen und Möglichkeiten. Ein Historikerleben in der DDR und anderen Traumländern. Stuttgart 2011. S. 67. Valentin wird bei Peters früher erwähnt im Zusammenhang mit dem Intellektuellenkomitee 1933/1934, in: Peters, Exilland, S. 80.
Von Hilfe zur Selbsthilfe
303
Schweden-Lebens, als sie mir hilfreich mit allerlei organisatorischen Dingen zur Seite standen.“⁷⁴ Die Nichtnennung der Emigrantenselbsthilfe in den DDR-Veröffentlichungen findet eine Erklärung in der Nachkriegsgeschichte. Anfang der 1950er-Jahre war es in der DDR bzw. der SED wie in allen anderen Staaten im sowjetischen Einflussbereich zu sogenannten Säuberungsaktionen innerhalb der Partei gekommen. Diese hatten sich allgemein gegen West-Emigranten gerichteten, trugen dabei aber auch antisemitische Züge.⁷⁵ Eine Thematisierung der engen Zusammenarbeit bzw. freundschaftlichen Kontakte von kommunistischen Emigranten mit einer jüdischen Hilfsorganisation, deren Vertreter zudem aktive Zionisten waren und ausgesprochene Israel-Freunde werden sollten, blieb in der DDR auch späterhin ein heikles Thema. Der kalte Krieg wird seine Schatten aber auch auf die schwedische Erinnerungskultur geworfen haben. Es ist zu vermuten, dass eine Zusammenarbeit mit Linken oder Kommunisten auch hier nichts war, was man gern anführte oder woran man sich erinnern wollte.
Peters, Menschen und Möglichkeiten, S. 67. Vgl. dazu Scholz, Skandinavische Erfahrungen, S. 89 ff.
Rettungsaktionen für Kinder und Jugendliche 1933 – 1945
Merethe Aagaard Jensen
Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden – betrachtet aus einem skandinavischen Blickwinkel Als Staatenlose mussten Norbert und ich uns ständig bei der Fremdenpolizei melden. Wir setzten dies solange fort, bis die Polizei uns eines Tages fragte, warum wir nicht die norwegische Staatsbürgerschaft beantragten. Wir tun das, obwohl Mama und Papa am liebsten hätten, dass wir wieder zusammenwohnen und die Familie werden, die wir vor dem Krieg waren. Aber das ist nicht möglich. Wir sind keine Kinder mehr. Und keiner kann uns die Kindheit zurückgeben. Keiner hat es gewusst. Aber an dem Tag im Juni 1938, als sich der Zug am Bahnhof in Wien in Bewegung setzte, habe ich eine Reise begonnen, für die es niemals eine Rückfahrkarten geben wird.¹
Diese Worte stammen von Siegmund Korn, der im Sommer 1938 als Neunjähriger gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Norbert mit einer Gruppe von 20 jüdischen Kindern aus Wien nach Norwegen kam. Damit gehörte Siegmund Korn zu den ersten der rund über 340² jüdischen Kinder und Jugendlichen aus Österreich, die ohne Eltern in den skandinavischen Ländern Norwegen, Dänemark und Schweden der nationalsozialistischen Verfolgung entkommen konnten. Erst nach acht Jahren Trennung trafen Siegmund und Norbert Korn ihre Eltern wieder. Das Zitat verdeutlicht, dass die Verfolgung und die erzwungene Emigration nicht nur die Kindheit der jüdischen Flüchtlingskinder, sondern auch die Beziehung zu den überlebenden Familienmitgliedern zerstörte, die aufgrund der jahrelangen Trennung – falls überhaupt möglich – nur sehr mühsam wieder aufgebaut werden konnte. Die Kinder und Jugendlichen gerieten in manchen Fällen in ein emotionales Dilemma zwischen den Pflegeeltern und Pflegegeschwistern, bei
Komissar, Vera: Nådetid. Norske jøder på flukt 1942. Oslo 1992. S. 152. Übersetzung aus dem Norwegischen von Merethe Aagaard Jensen. Dies ist ein vorläufiges Forschungsergebnis. Die österreichisch-jüdischen Kinder und Jugendlichen waren Teil einer größeren Gruppe von ungefähr 1.000 jüdischen Flüchtlingskindern aus dem Deutschen Reich, die nach Dänemark, Schweden und Norwegen kamen.Vgl. Lomfors, Ingrid: Förlorad barndom – återvunnet liv. De judiska flyktingbarnen från Nazityskland. Göteborg 1996. S. 65, 96; Rünitz, Lone: Diskret ophold. Jødiske flygtningebørn under besættelsen. En indvandrerhistorie. Odense 2010. S. 9 f.; Lorenz, Einhart: Exil in Norwegen. Lebensbedingungen und Arbeit deutschsprachiger Flüchtlinge 1933 – 1943. Baden-Baden 1992. S. 287 f.; Archiv der Schwedischen Kirche, Uppsala, Archiv der Schwedischen Israelmission, SvKA/SIM/E VIa: 5, Brief vom 25. 11. 1938. https://doi.org/9783110532289-016
308
Merethe Aagaard Jensen
denen sie einen wesentlichen Teil ihrer Kindheit verbracht hatten, und den leiblichen Eltern und Geschwistern, die sie kaum mehr kannten.³ Im Spätherbst 1942 wurden Siegmund und Norbert Korn während der Verhaftungsaktion und späteren Deportation der Juden in Norwegen nach Schweden gerettet, wo sie auf ein schwedisches Hilfsnetzwerk für jüdische Flüchtlingskinder trafen. Das Schicksal der Zwillingsbrüder verdeutlicht, dass ein transnationaler und die Hilfsorganisationen umspannender Blickwinkel zu neuen Erkenntnissen führen kann. Dies ist auch der Ausgangspunkt meines Dissertationsprojekts Die Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Skandinavien 1938 – 1940. Geschichte und Erinnerung, aus welchem die Forschungsergebnisse des vorliegenden Artikels stammen.⁴
Die Quellenlage Als Grundlage für das Forschungsvorhaben dienen in erster Linie die dänischen, schwedischen und norwegischen Forschungen über die unbegleiteten, d. h. ohne Eltern reisenden jüdischen Flüchtlingskinder aus dem Deutschen Reich, die in Skandinavien Zuflucht fanden.⁵ Während der Ausarbeitung ihrer wissenschaftlichen Publikationen haben skandinavische Forscher/-innen schriftliche Quellen und Datenbanken über bzw. Oral-History-Interviews mit den Betroffenen ge-
Oral-History-Interviews mit Siegmund Korn (Oslo, 26. 10. 2012) und Josef Fenster (Oslo, 27. 10. 2012), durchgeführt von Merethe Aagaard Jensen; fernerhin: SvKA/SIM/F Ia, Mappe von LB, Briefe vom 20. 7. 1946 und 31. 8. 1946; Regions- und Stadtarchiv Göteborg, Göteborg, Das Archiv Ingrid Lomfors’ über die jüdischen Flüchtlingskinder, SE/O258G/GSAF/5137– 1, Interview mit LF, MC, LB und IR. (Bei diesen Abkürzungen handelt es sich um eine Anonymisierung von Namen der nach Skandinavien geretteten jüdischen Kinder und Jugendlichen) Die Autorin ist Dissertantin an der Universität Wien. Die Standardwerke: Hæstrup, Jørgen: Dengang i Danmark. Jødisk ungdom på træk 1932– 1945. Odense 1982. 1983 auf Englisch publiziert unter dem Titel: Passage to Palestine. Young Jews in Denmark 1932– 45; Lomfors, Barndom; Rünitz, Ophold; Åsbrink, Elisabeth: Och i Wienerwald står träden kvar. Stockholm 2011. 2014 auf Deutsch publiziert unter dem Titel Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden; Grünfeld, Nina F./Holm, Espen: Ninas barn. Fortellingen om det jødiske barnehjemmet i Oslo. Oslo 2015. Bruland, Bjarte: Holocaust i Norge. Registrering, Deportasjon, Tilintetgjørelse. Oslo 2017. Darüber hinaus hat die deutsche Historikerin Claudia Schoppmann in Das war doch jenseits jeder menschlichen Vorstellungskraft. Hilfe für verfolgte Juden im deutsch besetzten Norwegen 1940 – 1945, publiziert im Lukas Verlag 2016, einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der jüdischen Flüchtlingskinder in Norwegen geleistet.
Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden
309
sammelt, die für das Forschungsprojekt von großem Wert sind.⁶ Außerdem basiert die Forschung auf den Akten der an der Rettung der österreichisch-jüdischen Kinder und Jugendlichen nach Skandinavien beteiligten Organisationen. Dies waren die jüdischen Gemeinden in Österreich, Norwegen, Dänemark und Schweden, die Jugendalijah, die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, die Schwedische Israelmission sowie die Nansen-Hilfe. Laut mehreren Flüchtlingshilferinnen wurden Akten der erwähnten Hilfsorganisationen schon während der deutschen Besatzung Dänemarks und Norwegens vernichtet, um zu vermeiden, dass diese in deutsche Hände fielen. In erster Linie sollen Karteikarten über die Kinder und Jugendlichen und deren Aufenthaltsorte verbrannt worden sein, aber auch andere Akten scheinen verloren gegangen zu sein.⁷ Deswegen sind Anzahl, Aufenthaltsorte und andere Informationen über die jüdischen Flüchtlingskinder im Nachhinein nur mit einer gewissen Ungenauigkeit feststellbar.
Die Anfänge der Hilfsaktionen Die Verbindung zwischen Österreich und skandinavischen Hilfsorganisationen bzw. Flüchtlingshelfer/-innen bestand schon vor den Rettungsaktionen für jüdische Kinder und Jugendliche.⁸ Bereits ungefähr einen Monat nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 schickte der norwegische Rechtsanwalt Leo Hersson, Mitglied des neu
Das Archiv von Jørgen Hæstrup befindet sich in der Handschriftensammlung des Staatsarchivs von Dänemark, Kopenhagen, Signatur 860. Ingrid Lomfors hat ihre private Quellensammlung dem Regions- und Stadtarchiv Göteborg überlassen, Signatur SE/O258G/GSAF/5137– 1. Lone Rünitz nahm bei der Erstellung der Flüchtlingsdatenbank 1933 – 1945 des Dänischen Institutes für Internationale Studien teil, die in diesem Forschungsvorhaben gleichfalls verwendet wurde. Sie befindet sich im Staatsarchiv von Dänemark, Signatur AV 12394. Im Nina F. Grünfelds Dokumentarfilm Ninas Barn sind Interviews mit vier der jüdischen Flüchtlingskinder in Norwegen zu sehen. Ich danke den norwegischen Historikern Bjarte Bruland und Mats Tangestuen für ihre Hilfe mit Informationen über das Schicksal der österreichischen Flüchtlingskinder, die nach Norwegen kamen. Archiv Lomfors, Interview mit Eva Warburg; Oppenhejm, Mélanie: Menneskefælden. Om livet i KZ-lejren Theresienstadt. København 1981. S. 10; Lund, Sigrid Helliesen: Alltid underveis. Oslo 1981. S. 77. Die Schwedische Israelmission war seit Anfang der 1920er-Jahre in Wien tätig. Gerda Marcus wohnte in der Zwischenkriegszeit in Wien und engagierte sich im Rahmen der schwedischen Rädda Barnen (Save the Children) für notleidende Kinder in Österreich. Gleichfalls half die Nansen-Hilfe bis März 1938 notleidenden Kindern im Land. Hatje, Ann-Katrin: Svenskt biografiskt lexikon. (Schwedisches biographisches Lexikon). Die Biografie über Gerda F Marcus. Internet: urn:sbl:9083 (25. 8. 2015); Staatsarchiv Norwegen, Oslo, RA/S-2220/O/Ob/L0235, J. No. 3433.
310
Merethe Aagaard Jensen
gegründeten „Komitees der Wienerkinder“, einen Vorschlag nach Wien, in welchem er einer Gruppe von notleidenden jüdischen Kindern einen Sommeraufenthalt in Norwegen anbot. Die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG Wien) nahm das Angebot an, und am Abend des 13. Juni 1938 reisten 20 Kinder, darunter Siegmund und Norbert Korn, mit der Bahn nach Norwegen.⁹ Zum gleichen Zeitpunkt nahmen die Vorbereitungen für Einreisen nach Schweden ihren Anfang. Laut Gerda Marcus, der späteren Leiterin der Kinderabteilung¹⁰ der Jüdischen Gemeinde in Stockholm,¹¹ erhielten sie und die jüdische Vertretung im Sommer 1938 unzählige Briefe aus Deutschland und Österreich, in welchen eindringlich um eine Unterbringung von jüdischen Kindern aus diesen Ländern in Schweden gebeten wurde. Dies führte zu ersten Treffen zwischen Marcus und Vertretern der Jüdischen Gemeinde in Stockholm, wobei eine Kinderhilfsaktion besprochen wurde.¹² Anfang Dezember 1938 war man so weit, dass Gerda Marcus die IKG Wien über die geplante Rettungsaktion informierte und um deren Mitarbeit ansuchte. Bei den Kindertransporten, die mithilfe der IKG Wien zustande kamen, waren es die Leiterin der Jugendfürsorge Rosa Rachel Schwarz und ihre Mitarbeiterinnen, die Kontakt zu den ausländischen Hilfsorganisatoren hielten, an der Auswahl der Kinder und Jugendlichen beteiligt waren und sie auf der Reise begleiteten.¹³ Im
Archiv der IKG Wien, Bestand Wien (A/W), A/W 1993. (Bei allen Quellenhinweisen zum Archiv der IKG Wien handelt es sich um Akten, deren Original sich im The Central Archives for the History of the Jewish People befinden.) Zu den Arbeitsaufgaben der Kinderabteilung gehörten u. a. die Organisation der Kindertransporte gemeinsam mit den jüdischen Gemeinden in Deutschland und Österreich, Behördengänge in Schweden (z. B. Aufenthaltserlaubnis der Flüchtlingskinder), Pflegefamilien zu organisieren, Empfang der Kindertransporte, Verteilung der Betroffenen an Pflegefamilien oder Kinderheime. Danach folgte eine Aufsichtsfunktion über die Kinder und Jugendlichen. Vgl. Staatsarchiv Schweden, Stockholm, Die Jüdische Gemeinde in Stockholm, Die Kinderabteilung, A 1:1, Übersicht über die Tätigkeiten der Kinderabteilung vom 20. 6. 1939, S. 1. Auf Schwedisch wird die Gemeinde Judiska Församlingen i Stockholm genannt. Zur Zeit der Kinderhilfsaktion hieß sie aber Mosaiska Församlingen i Stockholm (übersetzt: die Mosaische Gemeinde in Stockholm). Staatsarchiv Schweden, Die Jüdische Gemeinde in Stockholm, Die Kinderabteilung, A 1:1, Tätigkeitsbericht der Kinderabteilung für den Zeitraum September 1938 – 31. Dezember 1939. Verfasst von Gerda Marcus. Archiv der IKG Wien, A/W 1995 und 1996; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Signatur 2737, Schwarz, Rosa Rachel: Zwei Jahre Fürsorge der Kultusgemeinde Wien unter Hitler. Manuskript niedergeschrieben im April 1940. (Das Original befindet sich im Archiv von Yad Vashem). S. 5 – 6, Signatur 515; Interview mit Franzi Danneberg-Löw, S. 37; Vgl. Rabinovici, Doron: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938 – 1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt a. M. 2000. S. 72, 140; Curio, Claudia: Verfolgung, Flucht, Rettung. Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien. Berlin 2006. S. 72 ff.
Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden
311
Auftrag der von Gerda Marcus geleiteten Kinderabteilung nahm auch die in Wien wohnhafte Schwedin Kerstin Hellner bei der Auswahl und Fahrt der Flüchtlingskinder aus Österreich nach Schweden teil. Marcus begründete dies folgendermaßen: „Da diese Dame die schwedischen Verhältnisse doch gut kennt und am besten weiß, welche Kinder sich am schnellsten und besten hier einordnen würden.“¹⁴ Am 1. Oktober 1938 informierte der Direktor der Schwedischen Israelmission, Pastor Birger Pernow, den Leiter der Missionsstation in Wien, Pastor Göte Hedenquist, über die schon vorhandenen Pläne, Kinder und Jugendliche nach Schweden in Sicherheit zu bringen. Daher müssen die Überlegungen zur Hilfsaktion spätestens im September 1938 erfolgt sein. Die Auswahl der nach Schweden geretteten Personen fand in einer Kooperation zwischen Pastor Pernow und den Mitarbeiter/-innen der Missionsstation in Wien statt.¹⁵ Gleichfalls im Herbst 1938 nahm die Unterbringung der Jugendalijah-Teilnehmer/-innen in Skandinavien ihren Anfang. Vorhandene Quellen lassen vermuten, dass es der zu diesem Zeitpunkt in Wien stationierte Jugendalijah-Mitarbeiter Marduk Schattner war, der ursprünglich auf die Idee kam, die Jugendlichen vorübergehend ins neutrale Ausland, darunter Dänemark und Schweden, zu schicken, bis sie ein Zertifikat für die Einreise nach Palästina bekämen.¹⁶ Im Spätherbst 1938 begann in den zwei skandinavischen Ländern die Vorbereitung für die Jugendalijah-Hilfsaktion, und schon Mitte Januar 1939 kamen die ersten Jugendalijah-Teilnehmer/-innen aus Österreich in Schweden an. Dagegen dauerte es bis Herbst 1939, bis alle Formalitäten in Ordnung gebracht waren, und jüdische Jugendliche aus Österreich auch in Dänemark einreisen konnten.¹⁷
Archiv der IKG Wien, A/W 1995, Brief vom 30. 1. 1939; Staatsarchiv Schweden, Die Jüdische Gemeinde in Stockholm, Die Kinderabteilung, A 1:1, Übersicht über die Tätigkeiten der Kinderabteilung vom 20. 6. 1939, S. 4. SvKA/SIM/E VI a:5, Briefe vom 1. 10. 1938 und 17. 12. 1938. Der zionistische Gedanke, jüdische Kinder und Jugendliche ohne ihre Eltern nach Palästina zu schicken und sie dort in kollektiven Siedlungen einer landwirtschaftlichen Ausbildung zu unterziehen, geht auf die deutsche Jüdin Recha Freier zurück. Erst im Jahr 1938 erfolgte die Ausdehnung der Arbeit der Jugendalijah auf Österreich. Archiv Hæstrup, Mappe von Eva Michaëlis-Stern; Archiv der IKG Wien, A/W 2955, Brief vom 1. 12. 1938; Michaelis, Dolf/Michaelis-Stern, Eva: Emissaries in Wartime London. 1938 – 1945. Jerusalem 1989. S. 18; Anderl, Gabriele: Emigration und Vertreibung. In: Vertreibung und Neubeginn. Israelische Bürger österreichischer Herkunft. Hrsg. von Erika Weinzierl u. Otto D. Kulka. Wien [u. a.] 1992. S. 167– 337, hier S. 225; Glück, Emil: På väg till Israel. Hachscharah i Sverige 1933 – 1948. Transmigrationen av judisk ungdom från Nazi-Tyskland för utbildning i lantbruk m.m. och vidare vandring till Palestina. Stockholm 1985. S. 143 f.; Rudberg, Pontus: The Swedish Jews and the victims of Nazi terror, 1933 – 1945. Uppsala 2015. S. 160; Kumar, Victoria: Land der
312
Merethe Aagaard Jensen
Die Verteilung der österreichisch-jüdischen Kinder und Jugendlichen auf die skandinavischen Länder Die über 340 jüdischen Kinder und Jugendlichen aus Österreich, die mit Kindertransporten nach Skandinavien gebracht wurden, stammten hauptsächlich aus Wien. Durch die IKG Wien und IKG Graz kamen dabei rund 25 der Flüchtlingskinder aus Graz nach Schweden.¹⁸ Die Verteilung auf die Aufnahmeländer sah folgendermaßen aus: 20 Kinder kamen mit Hilfe der IKG Wien im Sommer 1938 nach Norwegen. Im Herbst 1939 gelang es der Nansen-Hilfe, 38 Kindern, hauptsächlich aus Prag und Preßburg, einen Aufenthalt in Norwegen zu ermöglichen. Von diesen Kindern stammten vier Buben ursprünglich aus Österreich. 86 Jugendliche kamen vom Herbst 1939 bis März 1940 entweder über die Jugendalijah in Wien oder Prag nach Dänemark. Rund 90 Kinder¹⁹ und Jugendliche kamen mit Hilfe der IKG Wien und ungefähr 50 Jugendliche durch die Jugendalijah hauptsächlich vom Januar bis Juni 1939 nach Schweden. 1939 gelangten zudem überwiegend in den Monaten Februar bis August rund 90 Jungen und Mädchen mit Hilfe der Schwedischen Israelmission in dieses Land. Dokumentiert wurden Personen, die in Österreich geboren oder vor März 1938 dort wohnhaft waren, mit Hilfe der erwähnten Organisationen entweder in Norwegen, Schweden oder Dänemark in Sicherheit gebracht wurden und zum Zeitpunkt der Abreise das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten.²⁰ Durch diese Verheißung – Ort der Zuflucht. Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945. Innsbruck 2016. S. 152 ff.; Hæstrup, Danmark, S. 89 ff.; Rünitz, Ophold, S. 66 f. Staatsarchiv Schweden, Die Jüdische Gemeinde in Stockholm, Die Kinderabteilung, D 1 a:1, D 1 b:1 und D 1 b:2; Archiv der IKG Wien, A/W 1996, u. a. Briefe vom 25. 3. 1939, 31. 3. 1939 und 9. 4. 1939. Diese von der Autorin berechnete Anzahl stimmt mit anderen statistischen Angaben überein. Curio, Verfolgung, S. 64. Die ausgewerteten Quellen sind: Archiv der IKG Wien, A/W 1993, A/W 1995, A/W 1996; Staatsarchiv Dänemark, Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, 10402/7, 10402/9 sowie die Flüchtlingsdatenbank 1933 – 1945, AV 12394; Staatsarchiv Schweden, Die Jüdische Gemeinde in Stockholm, Die Kinderabteilung, D 1 a:1, D 1 b:1, D 1 b:2 und D 1 d:1; SvKA/SIM/F I a:1– 16 und F I b:4; Archiv Lomfors, die Karteikarten; Bergmann, A. (Hrsg.): [u. a.]: Hachsharah i Danmark 50 år efter. København 1989; Usaty, Simon: Namentliche Erfassung österreichischer ExilantInnen in Schweden. Ein Projektbericht. In: Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Hrsg. von Irene Nawrocka. Wien 2013. S. 110 – 136, hier S. 119. Informationen des österreichischen Historikers Thomas Pammer vom 14. 9. 2015. Informationen des norwegischen Historikers Bjarte Bruland vom 2. 4. 2017.
Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden
313
Kategorisierung unterscheiden sich die Forschungsergebnisse statistisch etwas von der bisherigen Forschungsliteratur.²¹
Jüdische Kinder und Jugendliche In den Akten der Hilfsorganisationen werden die Betroffenen in vielen Fällen Kinder genannt, auch als sie mit der Zeit junge Erwachsene wurden. Der Umgang dieser Organisationen mit den Kindern und Jugendlichen war sehr ähnlich und aus heutiger Sicht öfters nicht kindgerecht. Die Flüchtlingshelfer/-innen erwarteten besonders von den Jugendlichen ein hohes Maß an Reife, Gehorsam, Lernund Anpassungsfähigkeit, Fleiß, Dankbarkeit sowie Zuneigung zu Schweden und den Pflegefamilien. Entsprach das Verhalten der Betroffenen nicht der Erwartungen, wurde mit Sanktionen gedroht – darunter auch einer möglichen Rücksendung nach Nazi-Deutschland.²² Der Ausdruck „jüdische Kinder und Jugendliche“ bezieht sich hier auf die Sprachregelung der Nürnberger Rassengesetze, die kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme auch in Österreich eingeführt worden waren.²³ Dass die Betroffenen sich selbst nicht notwendigerweise als jüdische Personen sahen, wird vor allem bei denjenigen deutlich, die durch die Schwedische Israelmission in Schweden Zuflucht fanden. Über 35 von ihnen wurden als Zugehörige der evangelisch-lutherischen Kirche, rund 20 entweder als evangelisch-reformiert,
Lone Rünitz berücksichtigt die in den Akten angegebene Staatsangehörigkeit der Jugendalijah-Teilnehmer/-innen. Allerdings war das Land der Geburt bzw. des Wohnorts vor März 1938 nicht immer identisch mit der Staatsangehörigkeit der Betroffenen. Vgl. Rünitz, Ophold, S. 75. Thomas Pammer berücksichtigt in seinen Angaben über die von der Schwedischen Israelmission nach Schweden Geretteten auch Personen über 18 Jahre. Vgl. Pammer, Thomas: Die Schwedische Israelmission und ihre Kindertransporte. In: Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Hrsg. von Irene Nawrocka. Wien 2013. S. 137– 148, hier S. 137. SvKA/SIM/F Ia, Mappe von VA, Brief vom 30. 5. 1939, Mappe von GB, Brief vom 17. 2. 1939, Mappe von SS, Briefe vom 9. 2. 1939 und 25. 8. 1939; Regions- und Stadtarchiv Göteborg, Archiv der Jüdischen Gemeinde in Göteborg, SE/O258G/GSAF/1778 – 1, Korrespondenz mit Dr. Löb, Flüchtlingshilfe 1933 – 1948, Brief von Marie-Louise de Vylder-Lehmann an ihre rund 70 Schützlinge vom 1. 7. 1939; Staatsarchiv Schweden, Die Jüdische Gemeinde in Stockholm, Die Kinderabteilung, A 1:1, Protokoll der Sitzung vom 28. 3. 1939, S. 3; Archiv der IKG Wien, A/W 1996, Brief vom 11. 8. 1939; Koeb, Daisy: Liebste Mama. Die Geschichte einer Familie. Berlin 2011. S. 89; Rünitz, Ophold, S. 109 ff. Verordnung über die Einführung der Nürnberger Rassengesetze in Österreich. http://alex.onb. ac.at/cgi-content/alex?apm=0&aid=glo&datum=19380004&seite=00000420&zoom=2 (9. 9. 2015).
314
Merethe Aagaard Jensen
anglikanisch oder katholisch, rund 15 als konfessionslos und zehn als mosaisch erfasst.²⁴ Die Behauptung von Elisabeth Åsbrink: „[…] die Taufe [war] eine von [Missionsdirektor, Anm. d. Verf.] Pastor Pernows Bedingungen. Ohne sie keine Reise. Die Kinder, die nach Schweden fahren sollten, wurden am laufenden Band getauft“,²⁵ kann anhand der Quellen nicht verifiziert werden. Im Taufbuch der Missionsstation Wien sind in den Jahren 1938 – 1941 „nur“ die Namen von vier der nach Schweden geretteten Kindern und Jugendlichen zu lesen.²⁶ Die meisten Getauften scheinen den christlichen Religionsgemeinschaften eher von Geburt an angehört zu haben. In Schweden angekommen, wurden die Betroffenen oft bei Mitgliedern tiefreligiöser Freikirchen sowie bei Kirchenangestellten untergebracht. Dies führte gleichwohl dazu, dass sie in manchen Fällen einem großen religiösen Druck ausgesetzt waren. Zumindest einige der Nicht-Getauften wurden mit der Zeit in Schweden getauft.²⁷
Der Begriff „Kindertransport“ In der bisherigen historischen Forschung umfasst die Verwendung des Begriffs „Kindertransport“ häufig „nur“ die Rettung der rund 10.000 jüdischen Kinder und Jugendlichen, die zwischen Dezember 1938 und September 1939 mit solchen nach Großbritannien in Sicherheit gebracht wurden.²⁸ In den Akten der IKG Wien und der Schwedischen Israelmission über die Rettungsaktionen nach Schweden sowie in den Fragebögen der Jugendalijah findet der Begriff „Kindertransport“ aber ebenfalls Verwendung.²⁹ In der Tat waren die jüdischen Kinder und Jugendlichen, die nach Skandinavien kamen, mit den gleichen Problemen konfrontiert wie jene in Großbritannien. Wie diese durchlebten sie die schmerzhafte Trennung von
Diese Auswertung basiert auf der Aufarbeitung von sämtlichen Mappen der Schwedischen Israelmission über die Flüchtlingskinder aus Österreich. SvKA/SIM/F I a:1– 16. Bei einer kleineren Anzahl der Betroffenen ist die religiöse Zugehörigkeit noch ungeklärt. Åsbrink, Wienerwald, S. 84. SvKA/SIM/C 8. Oral-History-Interviews mit Hellmut Weiss (Stockholm, 11. 11. 2014) und Gertraud Fletzberger (Wien, 5. 6. 2015), durchgeführt von Merethe Aagaard Jensen; SvKA/SIM/F Ia, Mappe von RB, Brief vom 16. 6. 1942. Ein paar Beispiele: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Lexikon des Holocaust. München 2002. S. 121 f.; Homepage der Kindertransport Organisation Deutschland: http://www.kindertransporte-1938 -39. eu/ (9. 9. 2015); siehe auch den im Jahr 2000 mit einem Oscar ausgezeichnete Dokumentarfilm Into the Arms of Strangers von Mark Jonathan Harris. Archiv der IKG Wien, A/W 1995; SvKA/SIM/E VI a:5; Staatsarchiv Dänemark, Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, 10402/7.
Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden
315
ihren Eltern und die Sorge um diese, Anpassungsschwierigkeiten und Einsamkeit.³⁰ Dies verdeutlicht die Notwendigkeit, die Begriffsdefinition zu erweitern und die unbegleiteten jüdischen Flüchtlingskinder in Skandinavien auch als Teil dieser Rettungsbemühungen zu sehen. Es gibt aber auch einige wesentliche Unterschiede. Zwei Beispiele: Die Kinder und Jugendlichen reisten in kleineren Gruppen, mitunter auch alleine in die skandinavischen Länder. In Dänemark und Norwegen wurden sie von der nationalsozialistischen Verfolgung wieder eingeholt, wodurch einige von ihnen in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert wurden und dort ums Leben kamen.
„Kinder ohne Eltern sind viel schlimmer als Kinder und Eltern“³¹ Dies sagte der norwegische Justizminister Trygve Lie bei einer Sitzung u. a. mit Repräsentanten der Nansen-Hilfe wenige Tage nach den Novemberpogromen 1938. Aufgrund des zunehmenden Flüchtlingsstroms aus Nazi-Deutschland hielten hohe Ministerialbeamten und leitende Polizisten auf Aufforderung der dänischen und schwedischen Regierung Ende der Dreißigerjahre Konferenzen mit Teilnehmern aus Norwegen, Dänemark und Schweden ab, bei welchen die Teilnehmer die Handhabung der Flüchtlingsfrage in den einzelnen Ländern besprachen und auch prinzipielle Standpunkte hinsichtlich des Flüchtlingsbegriffes vorlegten. Aus den Referaten dieser Treffen geht hervor, dass eine ablehnende Haltung gegenüber den jüdischen Flüchtlingen bzw. den unbegleiteten Kindern durchaus verbreitet war. Bezüglich der jüdischen Flüchtlingskinder gab es die Befürchtung, dass es nicht möglich sein werde, sie wieder aus dem Land zu bekommen, weil ihre leibliche Eltern nicht emigrieren konnten, die Pflegeeltern zu sehr am Kind hingen und sie sich generell zu viel in den skandinavischen Gesellschaften in-
Ein eindrucksvolles Bild der alltäglichen Sorgen der Kinder und Jugendlichen in den ersten Jahren der Emigration geben deren Briefwechsel mit den Hilfsorganisationen. Diese befinden sich u. a. im Archiv der jüdischen Gemeinde in Stockholm unter der allgemeinen Korrespondenz der Kinderabteilung, E 2 a:1– 18, im Archiv Lomfors unter den Briefen der Flüchtlingshelferin MarieLouise de Vylder-Lehmann; im Archiv der Schwedischen Israelmission, SvKA/SIM/F I a:1– 16, in den Mappen über die einzelnen Flüchtlingskinder; im Archiv der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit in Dänemark, 10402/2– 5, unter der Korrespondenz mit den Mitarbeiterinnen der Organisation und den Jugendalijah-Teilnehmer/-innen. Staatsarchiv Norwegen, RA/S-2220/O/Ob/L0233, J. No. 957, Protokoll der Sitzung am 21. 11. 1938, S. 3. Übersetzung aus dem Norwegischen von Merethe Aagaard Jensen.
316
Merethe Aagaard Jensen
tegrieren könnten. Der Aufenthalt in Skandinavien war deswegen nur als Übergangslösung gedacht, bis die Eltern eine neue Existenz in einem dritten Land aufbauen und wieder für die Kinder hätten sorgen können. Im Fall der Jugendalijah-Teilnehmer/-innen wurde mit einer Emigration nach Palästina gerechnet. Aufgrund des politischen Widerwillens zu helfen, wurde die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher von Hilfsorganisationen organisiert, die dann auch für sie bürgen und für ihren Lebensunterhalt sorgen mussten, damit sie den Staaten nicht zur Last fielen.³²
Die „Wienerkinder“ in Norwegen Die ersten Monate verbrachten die 20 österreichisch-jüdischen Kinder, die im Sommer 1938 nach Norwegen kamen, in einem Ferienheim der Jüdischen Jugendvereinigung im Osloer Vorort Bærum. Als sich die Situation der jüdischen Bevölkerung in Wien – und deren Möglichkeiten, auszuwandern – verschlechterte, beschloss man, auf eine Verlängerung des Aufenthalts der Kinder in Norwegen hinzuarbeiten. Sie wurden bei jüdischen Pflegefamilien in Oslo und Umgebung untergebracht, bis sie Ende des Jahres 1938 im jüdischen Kinderheim in Oslo einzogen.³³ Die Leiterin dieses Heimes war Nina Hasvoll, die selbst zu den jüdischen Flüchtlingen in Norwegen gehörte und eine Ausbildung in Pädagogik und Psychologie absolviert hatte.³⁴ Von Dezember 1938 bis nach Kriegsende war sie für die Kinder eine sehr geliebte und wichtige Bezugsperson.³⁵ Ab Januar 1942 waren die Juden in Norwegen einer verstärkten antisemitischen Politik ausgesetzt, die im Herbst desselben Jahres in einer Verhaftungsaktion gipfelte. Nina Hasvoll hatte die Notwendigkeit einer Flucht nach Schweden vorhergesehen und ge-
Staatsarchiv Norwegen, RA/S-2220/O/Ob/L0235, J. No. 5696, 4110, 7386. Siehe auch Rünitz, Ophold, S. 46 ff.; Lomfors, Barndom, S. 64; Lorenz, Exil, S. 69, 289. Nicht alle „Wienerkinder“ zogen im jüdischen Kinderheim in Oslo ein: Vier kehrten auf Wunsch der Eltern nach Wien zurück, und eines blieb bei seiner norwegischen Pflegefamilie.Von diesen fünf Kindern wurden zumindest drei Opfer des Holocaust. Drei der 20 Kinder gelang die Emigration nach Australien bzw. in die USA. Archiv der IKG Wien, A/W 1993; Hatikwok. Månedsblad for jøder i Norge 8 – 9 (1938), S. 10 und 11– 12 (1938), S. 18.Vgl. Grünfeld/Holm, Ninas, S. 51, 57. (Die Seitenangaben beziehen sich auf die elektronische Version des Buches). In verschiedenen Fragebögen bezeichnete Nina Hasvoll sich selbst als Kinderpsychologin. Staatsarchiv Norwegen, Internet: URN_NBN_no-a1450-db20100219310006.jp (28. 9. 2016); Staatsarchiv Schweden, Statens utlänningskommission, Kanslibyrån, m. vol. F1ABA:1281, Mappe von Nina Hasvoll. Oral-History-Interviews mit Siegmund Korn (Oslo, 26. 10. 2012) und Josef Fenster (Oslo, 27. 10. 2012), durchgeführt von Merethe Aagaard Jensen.
Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden
317
meinsam mit Helfern vorbereitet. Die Flucht der Kinder des jüdischen Kinderheims gelang in zwei Gruppen u. a. mit Hilfe von Taxifahrern, die die Kinder mit ihren Autos in die Nähe der Grenze brachten, von wo sie ortskundige Personen zu Fuß durch die schneebedeckte und unwegsame Landschaft zur schwedischen Grenze begleiteten.³⁶ Nach der Ankunft in Schweden wurden die Kinder mit Hilfe der Jüdischen Gemeinde in Göteborg in einer Villa in der Stadt Alingsås untergebracht. Unterstützt von zwei norwegischen Haushaltshelferinnen, führte Hasvoll dort das Heim unter dem Namen „Engabo Kinderheim“ fort.³⁷ In Alingsås begannen die österreichisch-jüdischen Kinder nun zum dritten Mal in ihrem kurzen Leben ihre Ausbildung von neuem. Nach beendetem Schulgang fingen sie in Schweden eine Berufsausbildung an. Im Laufe der Zeit wurden neben den ursprünglichen Bewohnern des Kinderheimes auch mehrere „Nansen-Kinder“ sowie Flüchtlingskinder, die unter der Obhut der Kinderabteilung der Jüdischen Gemeinde in Stockholm waren, im von Hasvoll geleiteten Heim betreut.³⁸ Die Nansen-Hilfe ermöglichte, wie schon erwähnt, 38 Kindern einen vorübergehenden Aufenthalt in Norwegen. Die vier Buben aus Österreich, die Teil dieser Gruppe waren, wurden in Norwegen bei Pflegefamilien und in Heimen untergebracht. Zwei der österreichisch-jüdischen Kinder wurden später Opfer des Holocaust, zweien gelang im Dezember 1942 und Januar 1943 die Flucht nach Schweden. Nach einem Aufenthalt in Nolhaga, einem Erstaufnahmelager für staatenlose Juden bei Alingsås, kamen sie zu Pflegefamilien in Göteborg.³⁹
2006 erhielten die Fluchthelfer/-innen (es waren außer Nina Hasvoll, Nic Waal, Sigrid Helliesen Lund, Gerda Tanberg, Martin Solvang, Ola Rauken und Ola Breisjøberget) für die Rettung der Kinder des jüdischen Kinderheims nach Schweden die Auszeichnung Righteous Among the Nations – Siehe die Datenbank über die Righteous Among the Nations auf der Homepage von Yad Vashem. Dabei wurde bei dieser Ernennung u. a. die zentrale Rolle von Stefi Pedersen übersehen. Nachdem Nina Hasvoll die sechs älteren Jungen des Heimes nach Schweden in Sicherheit gebracht hatte, folgten ein paar Tage später die übrigen Kinder des Heimes in Begleitung von Stefi Pedersen. Staatsarchiv Schweden, Statens utlänningskommission, Kanslibyrån, m. vol. F1ABA:1281, Mappe von Nina Hasvoll und F1ABB:2279, Mappe von Ellen Stephanie Pedersen; Pedersen, Stefi: Psykoanalyse i vår tid. Tillitskrise og fremmedgjøring. Oslo 1970. S. 7. Vgl. Schoppmann, Vorstellungskraft, S. 135 ff, Grünfeld/Holm, Ninas, S. 100 ff. In machen Quellen auch Ängabo Kinderheim genannt. Regions- und Stadtarchiv Göteborg, Die Jüdische Gemeinde in Göteborg, DVII:1; Staatsarchiv Schweden, Socialstyrelsen, Avdelningen för utlänningsförläggningar, Sekretärin Tove Filseths Korrespondenz, 1942– 1943, Ö 1:2; Segerstedt Wiberg, Ingrid: Från förintelsens tid. In: Göteborgs mosaiska församling 1780 – 1980. Minnesskrift till Göteborgs mosaiska församlings 200-årsjubileum. Göteborg 1980. S. 143 – 155, hier S. 152; Komissar, Nådetid, S. 151 f. Lund, Underveis, S. 66 ff.; Lorenz, Exil, S. 288; Informationen des norwegischen Historikers Bjarte Bruland vom 1. 9. 2015); Bruland, Holocaust, S. 432 f.; Tangestuen, Mats: „Også jødene kom
318
Merethe Aagaard Jensen
Die Jugendalijah-Teilnehmer/-innen in Schweden und Dänemark In Schweden war ein wesentlicher Teil der rund 50 Jugendalijah-Teilnehmer/-innen aus Österreich in Heimen untergebracht. Oskar Bern gibt in seinem Tagebuch einen Einblick in das Leben der Jungen im Gunnarpshemmet in Tjörnarp, Skåne, wo 17 der österreichischen Jugendalijah-Teilnehmer eine Zeit lang wohnten: Tagsüber arbeitete er bei den Bauern in der Umgebung, um landwirtschaftliche Erfahrung für die Siedlungstätigkeit in Palästina zu sammeln. Er verrichtete dort schwere körperliche Tätigkeiten, wie Holz-, Stall- und Feldarbeit, Abbau von Torf und Schnee schaufeln. In seiner Freizeit spielte er Fußball und Theater, sang Lieder und hörte gemeinsam mit den anderen Jungen im Heim Vorträge über jüdische bzw. zionistische Themen. Im Herbst 1939 zog Oskar Bern in der Nähe der Stadt Falun, Dalarna, und kam in dem Jugendalijah-Heim Hälsinggården unter.⁴⁰ Im Dezember 1940 und März 1941 war für zwei Gruppen der „dänischen“ Jugendalijah-Teilnehmer/-innen Schweden das erste Transitland auf ihrer langen Reise nach Palästina.⁴¹ Danach wurde Schweden für die Mehrheit der übrigen Jugendlichen das Zielland, nachdem die deutsche Besatzungsmacht im Oktober 1943 eine gegen die Juden in Dänemark gerichtete Verhaftungsaktion durchführte.⁴² Nach der Ankunft in Schweden traf sich zumindest ein Teil von ihnen mit der Repräsentantin der Jugendalijah in Schweden, Eva Warburg. Sie besorgte den „dänischen“ Jugendalijah-Teilnehmer/-innen u. a. Kleidung und informierte sie über das Heim Hälsinggården.⁴³ Einige entschieden sich dafür, sich dort niederzulassen.⁴⁴ Da die Jugendlichen in Dänemark auf Verlangen der dänischen Be-
for øvrig over grensen høsten 1942“. Jødiske flyktninger fra Norge i Sverige 1940 – 1945. Magisterarbeit. Bergen 2004. S. 58. Im Privatbesitz von Eva Carina Kainz. Staatsarchiv Dänemark, Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit, 10402/8; Rünitz, Ophold, S. 141 ff. Von den österreichischen Jugendalijah-Teilnehmer/-innen in Dänemark wurden neun verhaftet und mit weiteren in Dänemark verhafteten Juden nach Theresienstadt deportiert. Im April 1945 wurden sie, noch vor Kriegsende, gemeinsam mit den übrigen überlebenden Juden aus Dänemark vom Schwedischen Roten Kreuz mit den sogenannten „Weißen Bussen“ nach Schweden gebracht. Bei der Ankunft der „dänischen“ Jugendalijah-Teilnehmer/-innen befand sich das Jugendalijah-Heim in der Internatsschule Hälsingstrand. Kaufmann, Hans: Livet på kibbutz Hälsinggården. In: Kibbutzer i Sverige. Judiska lantbrukskollektiv i Sverige 1936 – 1946. Hrsg. von Malin Thor Tureby. Stockholm 2012. S. 11– 42, hier S. 15; Enevig, Anders: Unge jøders flugt 1939 – 1945. Viborg 2008. S. 100; Archiv Hæstrup, Mappe von Harry Medak.
Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden
319
hörden einzeln bei Bauern gewohnt hatten, waren sie ein selbstständiges, eher individuell gestaltetes Leben gewöhnt und wollten sich nicht ohne weiteres der Leitung und dem kollektiven Leben auf Hälsinggården, das einem Kibbutz glich, unterordnen. Deswegen blieben die Neuankömmlinge in vielen Fällen nicht lange dort.⁴⁵ Aufgrund des Arbeitskräftemangels in Schweden waren die Jugendlichen nicht – wie in Dänemark – dazu gezwungen, unentgeltlich in der Landwirtschaft oder im Haushalt tätig zu sein. Die „dänischen“ Jugendalijah-Teilnehmer/-innen ergriffen die neuen Möglichkeiten und bekamen Jobs und Ausbildungen in Branchen ihrer Wahl. ⁴⁶
Die jüdischen Kinder und Jugendlichen bei schwedischen Pflegefamilien Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen, die entweder unter der Obhut der Schwedischen Israelmission oder der Kinderabteilung der Jüdischen Gemeinde in Stockholm waren, wurden bei Pflegefamilien untergebracht. Ob bei jüdischen oder nicht-jüdischen Pflegefamilien, das Zusammenleben funktionierte aufgrund der verschiedenen Erwartungen nicht immer reibungslos, sodass viele ihre Pflegefamilien mit der Zeit oft mehrmals wechseln mussten. Besonders die älteren Kinder hatten es in der Beziehung zu den Pflegeeltern nicht leicht. Einem Teil der Jugendlichen wurde der Schulbesuch verwehrt, weil sie Arbeit im Haushalt oder am Hof der Pflegefamilie verrichten mussten. Andere fingen in jungen Jahren das Berufsleben an, um sich selbst versorgen zu können. Vor allem auf dem Land war es üblich, dass man nach der Pflichtschule zu arbeiten anfing. Die Flüchtlingskinder, die in vielen Fällen aus der Mittelschicht einer Großstadt kamen, in der Wert auf Bildung gelegt wurde, fanden die fehlenden Ausbildungsmöglichkeiten zum Verzweifeln, weil es ihr ganzes bisheriges Lebenskonzept zerstörte. ⁴⁷ Im Jahr
Archiv Lomfors, Interview mit DS und EW; Kaufmann, Livet, S. 16 ff.; Rünitz, Ophold, S. 56 f.; Enevig, Flugt, S. 107; Nilsson, Staffan: Kibbutz Hälsinggården i Falun 1939 – 1946. In: Kibbutzer i Sverige. Judiska lantbrukskollektiv i Sverige 1936 – 1946. Hrsg. von Malin Thor Tureby. Stockholm 2012. S. 44– 65, hier S. 58 f. Im Mats Carlsson Lénarts Dokumentarfilm Kibbutzen i Falun [Der Kibbutz in Falun] sind Interviews mit Eva Warburg und zehn der ehemaligen Bewohner/-innen des Hälsinggården zu sehen. Rünitz, Ophold, S. 89, 171; Archiv Hæstrup, die Mappen von Harry Medak und Kurt Piczenik; Enevig, Flugt, S. 35 ff., 106 ff.; Sommerstein, Walter: Rückblicke. Bjärred 1995. S. 142 ff. Staatsarchiv Schweden, Die Jüdische Gemeinde in Stockholm, Die Kinderabteilung, D 1 a:1, D 1 b:1 und D 1 b:2; SvKA/SIM/F Ia: 1– 16; Lomfors, Barndom, S. 173 ff.; Archiv Lomfors, Fragebögen von HH, JH, JK, JB, KB, AZ, EP und Interview mit SN; Interview mit Friedrich Schächter. http://
320
Merethe Aagaard Jensen
1989 schrieb Helga⁴⁸ in einem Brief an die schwedische Historikerin Ingrid Lomfors über ihr damaliges Selbstbildnis: Ich wurde 13½ Jahre alt bei meiner Ankunft in Schweden. Dass die totale Veränderung in Status und Lebenssituation praktisch von einem Tag auf den anderen passierte, darauf war ich nicht vorbereitet und darauf hätte ich mich auch nicht vorbereiten können. In meinen eigenen Augen war ich noch immer das Mädchen aus Wien, das aus einem „feinen Haus“ kam und das gut in der Schule war und das eines Tages Ärztin oder so was Ähnliches werden würde. Richtig oder falsch: ich habe mich geweigert nur auf ein Flüchtlingskind reduziert zu werden.⁴⁹
Manche Kinder und Jugendlichen wollten am liebsten in Kinderflüchtlingsheimen leben, weil sie dadurch mit Gleichaltrigen mit ähnlichem Schicksal zusammen sein konnten und sich dort auch bessere Ausbildungsmöglichkeiten erhofften.⁵⁰
Die Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit In der Hilfsarbeit für die jüdischen Flüchtlingskinder in Skandinavien trifft man in verschiedenen Zusammenhängen auf Mitglieder der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit.⁵¹ Die Frauenliga war in erster Linie in Dänemark tätig, wo deren engagierte Frauen hauptverantwortlich für die alltägliche Betreuung der Jugendalijah-Teilnehmer/-innen waren.⁵² Das Engagement der Frauenliga bildet ein hervorragendes Beispiel für das transnationale Hilfsnetzwerk für diese Flüchtlingsgruppe. Ein Beispiel: In Norwegen gehörten Mitarbeiterinnen der Nansen-Hilfe der Frauenliga des Landes an.⁵³ Als die „Nansen-Kinder“ nach Norwegen reisten, kamen sie durch die schwedische Stadt Trelleborg, wo sie von
www.oesterreich-am-wort.at/treffer/atom/02502E09 - 03D-00130 - 00000 A1C-024F56D4/page/ list/o/0/ (20. 9. 2015); Schein, Harry: Schein. Stockholm 1980. S. 41 ff. Aufgrund des Datenschutzes wird ihr Nachname nicht erwähnt. Archiv Lomfors, Fragebögen, Brief von Helga, S. 1, 2. Übersetzung aus dem Schwedischen von Merethe Aagaard Jensen. Koeb, Mama, S. 104; Archiv Lomfors, Fragebögen von HS, EW und EI sowie Interview mit Selma Neuhauser S. 22 f.; Lomfors, Barndom, S. 174. Das Ausmaß der Beteiligung von Mitgliedern der Frauenliga an Hilfsaktionen für jüdische Flüchtlingskinder in den einzelnen skandinavischen Ländern muss in Relation zur Mitgliederzahl gesehen werden. In den 1940er-Jahren hatte die Frauenliga in Dänemark über 22.000 Mitglieder. Dagegen war die Mitgliedszahl in Schweden nur rund 5.500. Siehe das umfassende Archiv der dänischen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit im Staatsarchiv Dänemark. 10402. Lund, Underveis, S. 64.
Die Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Schweden
321
Mitgliedern der Frauenliga empfangen und versorgt wurden. Nachdem sich ein Teil dieser Kinder während der Judenverfolgung in Norwegen nach Schweden gerettet hatte, trafen sie wieder auf die Hilfsbereitschaft dieser Frauen, die ihnen Pflegefamilien besorgten sowie ihnen mit Behördenwegen und finanziellen Mitteln halfen.⁵⁴ Aus den Quellen geht hervor, dass sich die schwedischen Mitglieder der Organisation vielseitig und nicht nur länder-, sondern auch organisationsübergreifend für die jüdischen Kinder und Jugendlichen einsetzten. Sie sammelten u. a. Geldspenden für die Hilfsarbeit der Schwedischen Israelmission und der Jugendalijah. Darüber hinaus waren Mitglieder der Frauenliga aktiv in der Jugendalijah in Schweden, und sie halfen bei der Unterbringung der JugendalijahTeilnehmer/-innen im Land.⁵⁵ Am meisten involviert waren die Mitglieder des westschwedischen Distrikts der Frauenliga rund um deren Leiterin Marie-Louise de Vylder-Lehmann, die eng mit den jüdischen Gemeinden in Göteborg und Stockholm zusammenarbeiteten. Anhand der Zusammenarbeit mit der Kinderabteilung der Jüdischen Gemeinde in Stockholm waren sie für eine größere Gruppe⁵⁶ von jüdischen Flüchtlingskindern verantwortlich. Sie halfen bei der Suche nach Pflegefamilien und waren für die Aufteilung und spätere Betreuung der Kinder und Jugendlichen zuständig. Dazu waren sie auch bei der Gründung des Kinderflüchtlingsheimes für Mädchen in Göteborg und der Obsorge dessen Bewohnerinnen tätig.⁵⁷ Marie-Louise de Vylder-Lehmann pflegte auch Kontakte zur Schwedischen Israelmission in Stockholm, wobei die mögliche Unterbringung von Flüchtlingskindern in der Obhut der Mission bei Pflegefamilien durch Vylder-
Lund, Underveis, S. 68; Segerstedt Wiberg, Ingrid: Den sega livsviljan. Flyktingöden under förintelsens och förvirringens tid. Stockholm 1979. S. 129, 134 ff.; Informationen des norwegischen Historikers Bjarte Bruland vom 1. 9. 2015; Nationalbibliothek Schweden, Stockholm, Die Jahresberichte der schwedischen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit aus den Jahren 1943, S. 12 f., und 1945, S. 16. Die Jahresberichte der Frauenliga aus den Jahren 1939, S. 3, 11, 1940, S. 4, 1943, S. 5, 1945, S. 7; Fred och Frihet 1 (1939), S. 7. In den Quellen ist von einer Gruppe von ungefähr 90 bis über 100 Personen die Rede. Archiv Lomfors, Interview mit Marie-Louise de Vylder-Lehmann und Ingrid Segerstedt Wiberg; Segerstedt Wiberg, Förintelsen, S. 149 f.; Segerstedt Wiberg, Livsviljan, S. 71 ff.; Die Jahresberichte der Frauenliga aus den Jahren 1939, S. 7, 1940, S. 9; Fred och Frihet 1 (1940), S. 7 f. und 2 (1940), S. 8 ff. Siehe auch das Privatarchiv von Marie-Louise de Vylder-Lehmann, das ein Teil von Ingrid Lomfors’ Archiv ist. In Lomfors’ Archiv befinden sich auch Interviews mit DK, FL, SN und SG, die Bewohnerinnen bzw. Mitarbeiterinnen des Heimes waren. Daisy Koeb wohnte vom April 1939 bis Mai 1946 im Heim. Aus dieser Zeit stammen ihre Briefe an Familienmitglieder in Liebste Mama. Die Geschichte einer Familie.
322
Merethe Aagaard Jensen
Lehmann besprochen wurde. In welchem Umfang dies dann tatsächlich realisiert wurde, ist noch zu erforschen. ⁵⁸
Abschlussbemerkung Wie aus diesem Artikel hervorgeht, war Schweden das erste skandinavische Land, das einer größeren Gruppe von unbegleiteten jüdischen Flüchtlingskindern aus dem Deutschen Reich die Einreise erlaubte. Im Laufe der Vierzigerjahre wurde Schweden ein Transitland auf der Weiterreise nach Palästina und nicht zuletzt das lebensrettende Zufluchtsland für die jüdischen Kinder und Jugendlichen, die sich während der nationsozialistischen Judenverfolgung in Norwegen und Dänemark aufhielten. Dadurch wurde Schweden mit der Zeit der Sammelpunkt eines großen Teils der Flüchtlingskinder in Skandinavien. Für manche von ihnen wurde Schweden die Heimstätte für den Rest ihres Lebens und sie wurden schwedische Staatsbürger. Ein Teil entschied sich nach dem Ende des Krieges, ihr Leben außerhalb Skandinaviens neu zu beginnen, zumeist in Israel, Großbritannien oder den USA. Einige von ihnen kehrten nach Norwegen oder Dänemark bzw. in die alte Heimat Österreich zurück.⁵⁹
Fred och Frihet 1 (1940), S. 7; Archiv de Vylder-Lehmann, Die Briefsammlung, Korrespondenz zwischen der Schwedischen Israelmission und Marie-Louise de Vylder-Lehmann vom 26. 4. 1939 und 15. 11. 1939. Es ist schwer, genaue Zahlen zu ermitteln, da sich die Betroffenen nach 1945 auf einige Länder verteilten und öfter mehrmals das Land des Wohnortes wechselten.
Clemens Maier-Wolthausen
Rettung über die Ostsee. Die Kindertransporte nach Schweden In London steht seit 2003 vor dem Bahnhof Liverpool Street ein unscheinbares aber eindringliches Mahnmal. Es erinnert an die annähernd 10.000 mit den sogenannten Kindertransporten nach Großbritannien geretteten jüdischen Kinder aus Deutschland und Österreich. In Berlin und Wien sind ähnliche Denkmale entstanden. Aber nur wenigen außerhalb des Kreises der Geretteten ist bekannt, dass es weitere Länder gab, in die die organisierten Transporte von Dezember 1938 bis zum Kriegsbeginn gingen. Auch nach Schweden wurden einige Hundert jüdische Kinder gerettet. Sie wurden durch die Anstrengungen der schwedischen Juden in einer mit deutschen jüdischen Hilfsorganisationen gemeinsam koordinierten Verschickungsaktion in Sicherheit gebracht. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Zustandekommen, dem Ablauf und den Problemen der Aktion und problematisiert sie im Kontext jüdischer Hilfe und Selbsthilfe zwischen 1933 und 1945.¹
Kinderverschickung Schritt für Schritt hatten Kinder im Alltag nationalsozialistischer Verfolgung mehr zu leiden. Der Schulweg wurde zum Hindernisrennen vor den Belästigungen und Gewalttaten Gleichaltriger. Zudem durften jüdische Schüler bald gar keine öffentliche Schule mehr besuchen. Jüdische Eltern sahen sich vor die Frage gestellt, wie sie ihre Kinder beschulen sollten. Eine Unterbringung im Ausland bot eine mögliche Lösung, auch wenn es bedeutete, dass die Kinder von der Familie getrennt werden würden. Die durch die Diskriminierungen verursachten Einkommensverluste der Eltern betrafen auch die Kinder, die nun schlechten Wohnverhältnissen und schlechter Ernährung ausgesetzt waren.² Oder aber die Eltern
Der Beitrag beruht auf Recherchen im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin zu Netzwerken der Flüchtlingshilfe für Juden in Schweden. Das geht u. a. aus den Fragebögen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien zur Situation der Kinder hervor. Einige finden sich zu den Kindertransporten nach Großbritannien im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, Bestand Wien (A/W) 1968; weitere Fragebögen der Fürsorgeabteilug zu den Lebensverhältnissen sind in A/W 2589. https://doi.org/9783110532289-017
324
Clemens Maier-Wolthausen
wurden unter Androhung von Haft gezwungen, schnellstmöglich das Land zu verlassen, was manchmal nur ohne die Kinder möglich war. Die Entscheidung, das eigene Kind zu Verwandten oder Freunden im Ausland oder auf einen der sogenannten Kindertransporte zu schicken, war in jedem einzelnen Fall schwer und erzwungen. Und dennoch bewarben sich mehr Eltern um Plätze für ihre Kinder als zur Verfügung standen. Letztlich sind wohl an die 18.000 „unaccompanied children“ vor dem Verbot der Ausreise 1941 aus Deutschland herausgebracht worden.³ Darunter annähernd 500 nach Schweden.
Die Einführung von Quoten Aber auch für die Schwächsten unter den Verfolgten machte das schwedische Einwanderungsgesetz von 1927, welches 1937 novelliert worden war, keine Ausnahmen. Es sah eine langfristige Aufnahme von Menschen ohne den Nachweis einer Erwerbsmöglichkeit nicht vor. Die schwedischen jüdischen Gemeinden hatten aber in den ersten fünf Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft begonnen, Netzwerke und Mechanismen zu entwickeln, mit deren Hilfe einige deutsche Juden zumindest vorübergehende Aufenthaltserlaubnisse erhalten hatten. Die Hauptverantwortung für diese Hilfsarbeit lag in Stockholm. Dort unterstützte seit 1933 ein „Hilfskomitee der Mosaischen Gemeinde“ (Mosaiska församlingens hjälpkommittén) die nach Schweden kommenden jüdischen Flüchtlinge. Im Frühsommer 1938 trafen vermehrt Bittschreiben aus dem „angeschlossenen“ Österreich bei der Jüdischen Gemeinde in Stockholm ein.⁴ Dort hatte sich seit dem Frühjahr die Lage für Juden rapide verschlechtert. Im August wandte sich zudem die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) in Wien an die Schweden mit der Bitte, über neue Wege nachzudenken, um österreichische Kinder aus dem Land zu bringen. Eines der Schreiben schlug neben der Unterbringung von Schülern in Privathaushalten die Einrichtung von Heimen vor.⁵ Der Stockholmer Rabbiner Marcus Ehrenpreis antwortete im September, dass man in Schweden so etwas erwäge und sich bei konkreten Plänen mit der IKG Wien in Verbindung setzen
Strauss, Herbert A.: Jewish Emigration From Germany – Nazi Policies and Jewish Responses. In: Leo Baeck Institute Year Book (LBIYB) XXV (1980). S. 313 – 361, hier S. 328. Gerda Marcus, Rapport angående Barnavdelningens verksamhet sept. 1938 – 31 dec. 1939. Riksarkivet Stockholm (RA), Judiska församlingens arkiv (JFA), Flyktingsektionen, F 4 a:3. Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien, Beratungsstelle für Jugend und Lehrer an Rabbiner Ehrenpreis, 3. 8. 1938. RA, JFA, Överrabin Marcus Ehrenpreis arkiv, E 1:24.
Rettung über die Ostsee. Die Kindertransporte nach Schweden
325
würde.⁶ Unter dem Eindruck der Novemberpogrome im damaligen Deutschen Reich, die auch in der schwedischen Presse Beachtung fanden, stieg die Zahl der Anfragen an die Jüdischen Gemeinden von schwedischen Staatsbürgern oder in Schweden lebenden deutschen Juden, die Kinder von Verwandten oder Bekannten nach Schweden holen wollten. Auch aus Deutschland kamen nun täglich Bittbriefe um Hilfe für die Kinder. Es war nur natürlich, dass die Gemeindeleitungen in Schweden jetzt über eine konkrete „Kinderaktion“ nachdachten. Auch wird die beginnende englische Hilfsaktion, die sehr schnell konkrete Formen angenommen hatte, eine Inspirationsquelle für eine großangelegte Hilfsaktion gewesen sein. Dazu kam zeitgleich eine Initiative der Schwedischen Missionskirche, die in diesem Band von Thomas Pammer beschrieben wird. Wie zu sehen ist, lag die Idee von Kindertransporten auch nach Schweden förmlich „in der Luft“. Letztlich musste, neben den wenigen Fällen der Familienzusammenführung, eine Einwanderungsquote für Kinder geschaffen werden. Um die Behörden zur Erteilung einer solchen Quote und Aufenthaltsgenehmigungen zu bewegen, musste zunächst Geld gesammelt werden. Die Kinder durften der Öffentlichkeit nicht zur Last fallen. Prominente und wohlhabende schwedische Juden reagierten schnell und sammelten gemeinsam eine zur damaligen Zeit beeindruckende Summe von 250.000 Kronen. Mit dieser großen Garantiesumme im Rücken suchten die beiden leitenden Persönlichkeiten der Stockholmer Gemeinde – Rabbiner Marcus Ehrenpreis und der Vorsitzende Gunnar Josephson – das Gespräch mit Außenminister Rickard Sandler und baten im Anschluss offiziell am 6. Dezember 1938 die Regierung um eine Einreisequote für 200 deutsche Juden. Der größere Teil der zu erteilenden Quotenplätze sollte an Kinder und Jugendliche und der kleinere an sogenannte Transmigranten vergeben werden.⁷ Es war nicht beabsichtigt, dass die Kinder in Schweden bleiben. Die Gemeinde ging davon aus, dass sie mit ihren Eltern in einem Drittland wieder vereint würden. Man ging von höchstens 18 Monaten aus, die die Kinder in Schweden verbringen würden und war sich anscheinend relativ sicher, dass die Quote zustande kommen würde. In Stockholm und Göteborg hatten Vertreter der Sozialdemokraten und der konservativen Volkspartei auf öffentlichen Veranstaltungen nach den Novemberpogromen unter dem Applaus der Zuhörer humanitäre Gesten gefordert.⁸ Auch konnten Politiker und Öffentlichkeit in jenen Wochen von
Mosaiska församling an IKG, 5. 9. 1938, A/W 1995. Mosaiska församlingen i Stockholm (MfiS) an Außenminister Rickard Sandler, 6. 12. 1938 mit Referenz zu dem Gespräch am 26. November mit Sandler. RA, JFA, Flyktingsektionen, A 1:1. Värdigt opinionsmöte mot judeförföljelserna. In: Dagens Nyheter, 22. 11. 1939, S. 1 u. 16.
326
Clemens Maier-Wolthausen
Hilfsaktionen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden lesen.⁹ Daher bereitete man diese bislang umfassendste Rettungsaktion bereits praktisch vor. Anfang Dezember 1938 fragte die Jüdische Gemeinde in Stockholm (Mosaiska församling) die Israelitische Kultusgemeinde in Wien, ob sie „mit Transportfragen und Formalitäten behilflich“ sein könne. Wien sollte für die von Schweden benannten Kinder ärztliche Atteste und Pässe besorgen und geeignete Begleitpersonen stellen.¹⁰ Es ist wahrscheinlich, dass die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in Berlin ein gleichlautendes Schreiben bekommen hat. Mitte Dezember arrangierte die Jüdische Gemeinde ein Treffen mit Repräsentanten aus allen für die Aktion wichtigen Organisationen in Deutschland und Schweden in Stockholm.¹¹ Nun wurden die Modalitäten der Aktion erneut besprochen und die Zusammenarbeit mit den jüdischen Organisationen südlich der Ostsee präzisiert. Zunächst wurden die Kinder von Flüchtlingen, die sich bereits in Schweden aufhielten, berücksichtigt. Anschließend sollten die Reichsvereinigung und die Israelitische Kultusgemeinde die Auswahl übernehmen. Das war eine pragmatische Vorgehensweise, da so bereits bekannte Namen und zur Verfügung stehende Plätze genutzt werden konnten. Zum Zeitpunkt der Unterredung lagen bereits 175 Zusagen für Plätze in Familien vor, und einige Spender hatten die finanzielle Unterstützung von Kindern in Gastfamilien zugesagt.¹² Dafür wurden 50 Kronen im Monat veranschlagt.¹³ Sämtliche Anmeldungen bei den Behörden sollten aber ausschließlich über die Stockholmer Gemeinde laufen.
Die Auswahlkategorien Unabhängig davon, ob die Unterbringung eines Kindes in einer Familie oder in einem der neu eröffneten Heime stattfand, ein Antrag wurde „in der Regel erst gestellt, nachdem die Kinderabteilung einem Platz gefunden hatte“.¹⁴ Noch glaubte man sicher, dass die Plätze sich schon finden würden und reagierte auf die große Nachfrage mit Verhandlungen mit der Regierung. Das Stockholmer
Franska kolonier öppnas för judiska flyktingar. In: Dagens Nyheter, 3. 12. 1939; Tre tusen judiska flyktingar lämnar Wien. In: Dagens Nyheter, 7. 12. 1939, S. 8. MfiS an IKG, 8. 12. 1938, A/W 1996. Protokoll des Treffens in der Mosaiska församling in Stockholm vom 15. 12. 1938. RA, JFA, Flyktingsektionen, A 1:1. Die folgenden Informationen beruhen größtenteils auf diesem Protokoll. Spendenquittungen hierzu finden sich in RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:13. Das galt für Kinder, die in Familien untergebracht waren und geht aus einer Budgetaufstellung der Abteilung Kinderhilfe vom 20. 4. 1939 hervor. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:13. Marcus, Rapport, RA, JFA, Flyktingsektionen, F 4 a:3.
Rettung über die Ostsee. Die Kindertransporte nach Schweden
327
Hilfskomitee konnte eine Erhöhung um weitere 140 Plätze auf nun insgesamt 300 und später gar auf 500 erreichen.¹⁵ Ende Juli, Anfang August 1939 verhandelte die Gemeinde gar zusammen mit Cora Berliner von der Reichsvereinigung mit den Behörden in Schweden bereits über eine Erhöhung der Kinderquote auf 600 Plätze.¹⁶ Zu dieser ist es allerdings nie gekommen. Mit einer Einreiseerlaubnis nach Schweden war allerdings nicht automatisch eine Ausreiseerlaubnis aus Deutschland verbunden. Diese musste vom „Hilfsverein der deutschen Juden“ in Berlin und den lokalen Zweigen der Reichsvertretung beschafft werden. Es war nicht einfach, für alle aus Schweden angeforderten Kinder rechtzeitig eine Ausreisegenehmigung, Pässe oder Kinderausweise zu beschaffen. Auch stimmten die schwedischen Auswahlkriterien nicht mit denen der deutschen jüdischen Fürsorgemitarbeiterinnen und -mitarbeitern überein. Diese verwiesen von Anfang an darauf, dass man über eine eigene Kartei von Fällen verfügte, aus der man die dringlichsten am schnellsten abgefertigt sehen wollte.¹⁷ Zunächst einmal aber blieben es die Schweden, die den jüdischen Organisationen in Berlin und Wien die Kinder avisierten. Hier zeigen sich Konfliktlinien in der Flüchtlingsarbeit über die Ostsee hinweg, denn die jüdischen Organisationen in Berlin und Wien waren mit einer wachsenden Anzahl dringender Fälle konfrontiert. Ende Januar 1939 scheint es dann zu einer gewissen Auflockerung gekommen zu sein und die Schweden boten der IKG an, aus einer Liste die dringendsten Fälle auszusuchen.¹⁸ Für die Schweden war es wichtig, dass die Kinder sich gut einleben konnten und den Familien oder der Gemeinde nicht zur Last fielen – auch um die Gesamtaktion nicht zu gefährden. Das war sicherlich auch ein Kriterium für die entsendenden Gemeinden. Ein Problemfall, der die Aufnahmebereitschaft der ausländischen Hilfsorganisationen herabsetzen könnte, war nicht gewollt. Und dennoch war ihnen noch mehr als dem Hilfskomitee in Stockholm die Dringlichkeit mancher Fälle vertraut. Sie berieten die Familien und hatten persönlichen Kontakt mit den Eltern.
David Köpniwsky, Några ord och siffror om Mosaiska Församlingens i Stockholm flyktningverksamhet under åren 1933 – 1950. RA, JFA, Flyktingsektionen, F 4 a:10. Durchschlag eines Berichts eines Mitarbeiters des Hilfskomitees (ohne Unterschrift) an Rabbiner Ehrenpreis, der sich zu diesem Zeitpunkt in Genf aufhielt, vom 4. 8. 1939. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:13. Hanna Karminski an Mosaiska församlingen, 29. 12. 1938. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:5. MfiS an IKG, 30. 1. 1939, A/W 1995.
328
Clemens Maier-Wolthausen
Mädchen bevorzugt Dass es bestimmte Kategorien von Kindern leichter hatten, nach Schweden zu kommen als andere, zeigt ein Schreiben des schwedischen Hilfskomitees nach Wien vom Februar 1939. In einem Nachsatz zu einer Liste der neu akzeptierten Kinder werden die Wiener darüber informiert, dass man in Schweden jederzeit kleine Mädchen nehmen werde – gar zur Adoption. Die aus Deutschland stammende und nun für die Kinderabteilung der Stockholmer Gemeinde arbeitende Eva Warburg schrieb: „Wir sind an Mädchen im Alter von 2– 5 Jahren zur Adoption interessiert, wenn Sie solche Kinder haben, senden Sie uns bitte deren Bilder und Unterlagen zu.“¹⁹ Es stellte sich schnell heraus, dass Jungen schwerer an Familien zu vermitteln waren als Mädchen und dass außerdem jüngere Kinder bevorzugt wurden. Am wenigsten Bereitschaft gab es für die Unterbringung von Jungen im Heranwachsendenalter. Auch in Großbritannien hatte das Movement for the Care of Children from Germany größere Schwierigkeiten, jugendliche männliche Flüchtlinge unterzubringen.²⁰ Dabei waren diese ständig von Verhaftung bedroht. Zudem fiel es Eltern leichter, sich von Heranwachsenden zu trennen als von Kleinkindern. Auch schien es logischer, Jugendliche vorzuschicken, die bereits alt genug waren, eine Ausbildung zu machen und Arbeit zu finden, als solche, die noch längere Zeit Betreuung brauchten. Es ist daher nicht erstaunlich, dass die Gemeinden in Deutschland und Österreich versuchten, diese jungen Männer in die Transporte zu integrieren, um sie der Gefahr zu entziehen.²¹ Im Februar 1939 bat die Israelitische Kultusgemeinde in Wien, die Brüder Heinz und Fritz Lustig für ein halbes Jahr in Schweden unterzubringen. Beide hatten ein Affidavit für die USA und waren zuvor in Haft gewesen. Nach Ansicht der IKG war es wichtig, dass sie ihre endgültige Auswanderung in Sicherheit abwarten konnten. Man betonte in dem Schreiben, dass beide groß und kräftig seien.²² Das Schicksal der beiden Jungen ist unbekannt, in den Quellen aber findet sich kein Hinweis darauf, dass sie es nach Schweden geschafft haben. Die Bedürfnisse der Kinder standen also nicht immer im Vordergrund. Die Leiterin der Kinderabteilung der Stockholmer jüdischen Gemeinde sagte im Rückblick auf das erste Jahr ihrer Arbeit, dass man sich bemüht habe, für die Kinder eine Umgebung zu finden, in der sie sich gut einfinden würden. Auf der anderen Seite aber habe man die Pflegeeltern
Abteilung Kinderhilfe der MfiS an IKG, 8. 2. 1939, A/W 1996. Gottlieb, Amy Zahl: Men of Vision: Anglo-Jewry’s Aid to Victims of the Nazi Regime, 1933 – 1945. London 1998. S. 118. Curio, Claudia: Verfolgung, Flucht, Rettung. Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien. Berlin 2006. (Reihe Dokumente, Texte, Materialien, hrsg. v. Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin 59). S. 58. Durchschrift eines Schreibens der IKG an Kerstin Hellner, 5. 2. 1939, A/W 1995.
Rettung über die Ostsee. Die Kindertransporte nach Schweden
329
zufrieden stellen müssen, die häufig sehr präzise Wünsche das Alter, die Herkunft und das Geschlecht betreffend hatten.²³ Das Hilfskomitee war sich früh bewusst, wie schwer die Vermittlung der älteren Kinder sein werde. Am 2. März 1939 schrieb die Jüdische Gemeinde in Stockholm an die Wiener jüdische Jugendpflege: „Allerdings wird es schwer fallen, die größeren zu placieren und [wir] bitten Sie, den Kindern keine Hoffnungen zu machen.“²⁴ Zunächst einmal bemühte sich die Gemeinde dennoch verstärkt um Unterbringungsmöglichkeiten für die Älteren. Unter der Überschrift Ein Appell findet sich im Archiv des Hilfskomitees ein handschriftlicher Entwurf für einen Aufruf an die Gemeindemitglieder. Es ist denkbar, dass er damals für das Gemeindeblatt vorgesehen war. Dort heißt es auf der zweiten Seite: Ziemlich bald nach Beginn der Aktion zeigte es sich, dass es sehr schwer war, Heime und Pflegeeltern für die größeren Jungs zu beschaffen. Für ein kleines Mädchen oder einen kleinen Jungen ist es nicht so schwierig, ein Zuhause zu finden, sogar ein etwas größeres Mädchen kann man platzieren, schließlich kann sie ja im Haushalt helfen. Aber für die halb erwachsenen Jungen ist es schlimmer. Sie nehmen mehr Platz im Haushalt ein und es ist nicht so leicht ihnen für die Nacht ein Lager auf dem Sofa im Salon zu bereiten, geschweigen denn eine Ecke für sie am Tag zu beschaffen.²⁵
Die Quellen vermitteln durchweg den Eindruck, dass auf der aufnehmenden Seite die Erwartung herrschte, dass „die kleinen Mädchen“ am unkompliziertesten sein werden, und oft findet sich die unverschleierte Hoffnung auf eine Adoption.
Unterbringung in nichtjüdischen Familien Bald nach der Einführung der Kinderquote wurde deutlich, dass nicht alle Kinder in jüdischen Familien würden unterkommen können. Die Gemeinden baten ihre Mitglieder darum, ihre Häuser zu öffnen und einflussreiche jüdische Persönlichkeiten riefen in Gemeindeblättern und jüdischen Zeitschriften zur Hilfe auf. Rabbiner Ehrenpreis warb sogar in seinen Predigten für die Aufnahme von Kindern.²⁶ Eine ausreichende Zahl jüdischer Familien konnte aber nicht gefunden werden. Die schwedisch-jüdische Gemeinschaft war und ist klein. Obwohl einige Familien sogar mehrere Kinder aufnahmen, blieb der Gemeindeleitung nichts Marcus, Rapport, RA, JFA, F 4 a:3. MfiS an IKG, 2. 3. 1939, A/W 1996. „En vädjan“ in RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:13. Lomfors, Ingrid: Förlorad barndom – Återvunnet liv. De judiska flyktingbarnen från Nazityskland. Göteborg 1996. S. 96 f.
330
Clemens Maier-Wolthausen
anderes übrig, als auch auf die Angebote nichtjüdischer Familien einzugehen, wollte man so viele Kinder wie Plätze auf der Quote zur Verfügung standen retten. Bereits am 30. Januar – also weniger als einen Monat nach dem Beginn der Kinderaktion – informierte die Jüdische Gemeinde in Stockholm die Israelitische Kultusgemeinde in Wien, dass die Kinder von nun an nur noch in nichtjüdischen Familien untergebracht werden können und bat darum, dieses bei der Auswahl zu berücksichtigen.²⁷ Letztlich fanden nur ein Drittel der evakuierten Kinder ein Heim in einer jüdischen Familie.²⁸ Die jüdischen Hilfsorganisationen waren nicht prinzipiell gegen eine Aufnahme in nichtjüdischen Familien, aber in religiösen Familien gab es Vorbehalte gegen eine Unterbringung in einer säkularen jüdischen oder gar nichtjüdischen Familie. Vor die Wahl zwischen dem Verlust der religiösen Identität und dem der Lebensgrundlage gestellt, nahmen viele ersteres in Kauf. Es ist heute schwer nachzuvollziehen, wie groß die Zahl der Eltern war, die auf der Unterbringung in einer jüdischen Familie Wert legten, und wie vielen es unabhängig davon um eine Unterbringungsmöglichkeit im Ausland ging. Von den 246 ausgefüllten Fragebögen im Archiv der Kinderabteilung der Gemeinde in Stockholm, die sich wahrscheinlich alle auf Kinder beziehen, die nach Schweden kamen, tragen nur fünf den Vermerk, dass eine Unterbringung in einer jüdischen Familie und eine koschere Lebensführung gewünscht werde.²⁹ Für einige Eltern stellte die Aussicht, ihr Kind in einer nichtjüdischen Umwelt unterzubringen, einen echten Grund dar, erst einmal abzuwarten oder ganz auf eine Teilnahme an der Kinderaktion zu verzichten.³⁰ Die Angst der Eltern vor einer Konversion ihrer Kinder war nicht unbegründet, da sich diese in einer Phase emotionaler Verunsicherung befanden. Angebote von religiösen Christen, die Sicherheit und Geborgenheit versprachen, konnten bei dem einen oder anderen Kind vielleicht auf Entgegenkommen stoßen. Problematisch war es, wenn die Gastfamilien die anvertrauten Minderjährigen zur Konversion drängten oder sie einer christlichen Erziehung aussetzten. Angesichts des massenhaften Mordes an Kindern im Holocaust erscheinen solche Befürchtungen heute manchem vielleicht unwichtig. Damals aber musste zumindest im Prinzip noch damit gerechnet werden, dass die Kinder mit ihren Eltern wiedervereint werden würden. Sollten nichtjüdische Familien die religiösen Bedürfnisse ihrer Schutzbefohlenen nicht respektieren, konnte das Ergebnis eine schwere
MfiS an IKG, 30. 1. 1939, A/W 1995. Hansson, Svante: Flykt och överlevnad. Flyktningverksamhet i Mosaiska församlingen i Stockholm 1933 – 1950. Stockholm 2004. S. 227. Diese in RA, JFA, Barnavdelningen, E 4:1. Durchschrift IKG an MfiS, 3. 5. 1939, A/W 1996. Für die Kinder von zwei Familien waren bereits Einreisebewilligungen vorhanden. Zudem IKG an MfiS (Barnhjälpen), 4. 6. 1939, A/W 1995.
Rettung über die Ostsee. Die Kindertransporte nach Schweden
331
Belastung der jüdischen Familien sein. Im Mai 1939 wandte sich die IKG in Wien mit Sorge an die Jüdische Gemeinde in Stockholm, nachdem Flüchtlingskinder ihren Eltern von versuchter Zwangskonvertierung und erzwungenen Kirchenbesuchen berichtet hatten.³¹ Nachforschungen der Kinderabteilung der Gemeinde ergaben jedoch, dass die Vorwürfe nicht stimmten, die Familie vegetarisch lebte und die Kinder kein nicht-koscheres Fleisch essen mussten. Auch seien so viele Gottesdienste, wie in der Beschwerde der Kinder beschrieben, in Schweden gar nicht üblich. Es liegt also nahe, dass die Kinder vielleicht in ihrem Heimweh hofften, durch solche Beschwerden bei den Eltern wieder zu ihnen zurück zu dürfen. Solcherlei Verzweiflungstaten zeigen, welch dramatischen Einschnitt der Aufenthalt im Ausland ohne ihre Eltern für die Kinder bedeutete. Kaum jemand verfügte 1939 über das pädagogische und psychologische Spezialwissen, welches heute als notwendig für die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien erachtet wird. Die Stockholmer Jüdische Gemeinde warnte nun: Ganz prinzipiell möchte ich bei dieser Gelegenheit nochmals betonen, dass wir keine jüdischen Familien mehr frei haben, die gewillt sind, Kinder aufzunehmen. (Aber selbst wenn wir sie hätten, muss ich gleich erklären, dass die schwedischen jüdischen Familien (bis auf wenige Ausnahmen) nicht orthodox sind, keinen Sabbath halten und alles essen, sodass fromm erzogene Kinder also auch bei Juden nicht wunschgemäss untergebracht wären. Wir bitten ausdrücklich, alle Eltern der bewilligten Kinder demgemäss zu informieren und alle Kinder von der Liste zu streichen, die nicht bereit sind, zu Christen zu gehen.³²
Ende Mai bat Stockholm noch einmal die IKG: „Wir erbitten eine ausdrückliche Einverständniserklärung der Eltern, damit wir später nicht wieder Wunschbriefe bekommen, die Kinder in jüdische und sogar noch orthodoxe Familien umzuplacieren.“³³ Diese Fragen waren nicht nur in Schweden ein Problem. In Großbritannien hatte das Movement for the Care of Children from Germany ursprünglich nicht damit gerechnet, dass sich angesichts der großen britisch-jüdischen Gemeinschaft keine ausreichende Anzahl jüdischer Familien finden würde.³⁴ Im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien finden sich Einverständniserklärungen von Eltern auf Vordrucken der IKG, dass ihre Kinder in Großbritannien auch bei nichtjüdischen Familien aufgenommen werden können.³⁵
IKG an MfiS, 1. 5. 1939, A/W 1996. MfiS an IKG, 3. 5. 1939, A/W 1996. MfiS an IKG, 22. 5. 1939, A/W 1996. Gottlieb, Men of Vision, S. 130. Z. B. die Einverständniserklärung Wilhelm Monias für seine Tochter Hanna vom 15. 8. 1938. Schreiben vom Movement for the Care of Children from Germany an Reichsvertretung der Juden in Deutschland, 22. 5. 1939, A/W 1962.
332
Clemens Maier-Wolthausen
Es mangelte der Gemeinde nicht nur an jüdischen Pflegefamilien. Auch Geschwisterpaare waren schwer zu vermitteln, da noch weniger Familien bereit waren, gleich zwei oder mehr Kinder aufzunehmen. Dabei scheinen die Geschwisterpaare keine Seltenheit gewesen zu sein. Von den 246 Fragebögen, die im Bestand der Kinderabteilung zu finden sind, sind 33 durch Nachnamen und Geburtsort als Geschwisterpaare zu identifizieren.³⁶ Für die Eltern von Geschwistern war es wichtig, dass ihre Kinder zusammenbleiben konnten. Nicht immer war diese gemeinsame Betreuung aber möglich und ratsam. So musste die Kinderabteilung die unterschiedliche Vorbildung und das Alter der Kinder in ihre Entscheidungen zur Unterbringung mit einbeziehen. Wenn ein Geschwisterteil älter war und bereits mit einer Ausbildung beginnen konnte, das andere aber noch zur Schule gehen musste, war eine gemeinsame Unterbringung nicht möglich. Für Eltern stellte das Auseinanderreißen ihrer Kinder selbstverständlich einen Grund zur Sorge dar. Berthold Elias schrieb im September 1940 aus Hamburg einen sorgenvollen Brief an die Jüdische Gemeinde in Stockholm. Seine Kinder waren bislang bei einer Familie Stern untergebracht gewesen und nun hatte er die Mitteilung bekommen, dass sie auseinandergerissen worden seien. Er und seine Frau hatten aber ausschließlich einer gemeinsamen Familienunterbringung zugestimmt. Die Gemeinde verstand die Sorgen und antwortete schnell. Die Familie sei unpässlich gewesen, nun seien die Kinder dort aber wieder vereint.³⁷
Kein Platz für behinderte Kinder Wie bei den Kindertransporten nach Großbritannien mussten die Kinder auch vor einer Einreise nach Schweden eine ärztliche Untersuchung über sich ergehen lassen. Kranke oder gar behinderte Kinder sollten nicht auf die Liste. Solche Kinder waren bei den Gasteltern nicht erwünscht und banden bei den Hilfskomitees Mittel, die eventuell mehreren anderen Kindern zugutekommen konnten. Alle Pflegestellen kosteten die Gemeinde Geld. Kostenfreie Unterbringungsangebote gab es wenige und die Krisensituation in Europa ließ die allgemeinen Lebenshaltungskosten steigen.³⁸ Die Kosten für die Kinderabteilung entwickelten
Das bezieht sich auf die Fragebögen in RA, JFA, Barnavdelningen, E 4:1. Eine Überprüfung der Namen ergab, dass die allermeisten nachweislich auch nach Schweden eingereist sind, was den Schluss nahelegt, dass dieser Bestand der Fragebögen nur tatsächlich Eingereiste umfasst. Schreiben vom 4. und 25. 9. 1940 in RA, JFA, Barnavdelningen, E 2 a:2. P. M. angående barnavdelningen, RA, JFA, Flyktingsektionen, F 4 a:1.
Rettung über die Ostsee. Die Kindertransporte nach Schweden
333
sich zu einem der größten Einzelposten des Budgets des Hilfskomitees.³⁹ Zudem sahen die strengen Richtlinien der Einwanderungsbehörden in praktisch allen Fluchtländern vor, dass nur gesunde Personen ins Land kommen durften, die nicht zu einer Belastung der öffentlichen Haushalte werden würden. Aus Sicht der entsendenden Hilfsorganisationen aber wären insbesondere die Fälle der Kranken dringend gewesen. In ihren Heimatländern von der allgemeinen Gesundheitsversorgung ausgeschlossen und dem Hunger ausgesetzt, hätten sie den Anschluss an einen Kindertransport sicher nötig gehabt. So wurde die ärztliche Untersuchung zu einer ersten ernstzunehmenden Hürde.⁴⁰ Es ist vorstellbar, dass mancher Arzt oder Fürsorger auch den einen oder anderen Zweifelsfall durch die Maschen schlüpfen ließ, wenn sie sich davon eine Hilfe für die Eltern oder die Kinder versprachen. Um die Transporte und das Wohlwollen jener nicht ganz zu verspielen, blieb es aber wohl bei Einzelfällen. Bei einem der Kinder, welches im Frühjahr 1939 als Quotenkind aus Wien nach Schweden kam, wurde nach seiner Ankunft eine leichte Behinderung festgestellt.⁴¹ Die Jüdische Gemeinde meinte, eine derartige Belastung nicht auf sich nehmen zu können und beabsichtigte, den Knaben mit dem nächsten Transport wieder zurück zu schicken.⁴² Allerdings stellte man den Eltern eine finanzielle Unterstützung für das Kind in Aussicht. In Wien war man nun in einer doppelten Zwangslage. Zum einen war man sicherlich unglücklich darüber, das Kind, was doch bereits in Sicherheit war, wieder in die Unsicherheit der Verfolgung zurückzubringen. Auch machte es „grosse Schwierigkeiten, von den Behörden eine Rückreiseerlaubnis zu bekommen“.⁴³ In Schweden war das Problem aber eklatant; für den Knaben mussten im Herbst 1939 monatlich 250 Kronen für die Unterbringung gezahlt werden.⁴⁴ Also das Vier- bis Fünffache des Regelsatzes. Das war das grundsätzliche Dilemma der Gemeinde in Bezug auf die Aufnahme kranker Kinder. Der Junge wurde letztlich nicht wieder zurückgeschickt, sein Zustand besserte sich aber leider nicht. Er blieb den Rest seines Lebens in
Allmän redogörelse för den judiska flyktinghjälpen i Sverige 1933 – 1941. RA, JFA, Flyktingsektionen, F 4 a:1. Eine Liste – wahrscheinlich Frühjahr 1939 – in A/W 1995 verzeichnet einen Jungen unter der Rubrik „Aerztlich abgelehnt“. Die Aufenthaltsgenehmigung für die Zeit vom 21. 3. 1939 bis zum 10. 9. 1939 wurde dem Wiener Konsulat am 20. 3. 1939 durch das Außenministerium mitgeteilt. Erich S., Centraldossier, Migrationsverket arkiv, #1– 404965. Aus Gründen des Datenschutzes wird in diesem Fall auf eine Namensnennung verzichtet. MfiS an IKG, 1. 6. 1939 und 29. 6. 1939, A/W 1995. Durchschrift IKG an MfiS, 4. 7. 1939, A/W 1995. Gerda Marcus an Marie de Vylder-Lehmann, o. D., Region- och stadsarkivet Göteborg (RSG), Folkrörelsernas arkiv, Ingrid Lomfors handlingar rörande judiska flyktingbarn.
334
Clemens Maier-Wolthausen
Schweden dauerhaft auf umfassende Versorgung angewiesen. Seine Eltern wurden beide ermordet; sie durften allerdings noch erleben, dass ihr Sohn sich letztlich gut in Schweden einlebte.
Kindertransporte – eine geglückte Gruppenrettung? Es ist deutlich geworden, wie viel Arbeit und Aufwand hinter jedem einzelnen Fall in den Kindertransporten steckte und auch wie viel Tragik. Die schwedisch-jüdische Gemeinschaft hat versucht, Kinder den schweren Lebensverhältnissen in Deutschland und Österreich zu entziehen. Den Eltern sollte die Auswanderung erleichtert werden und gefährdete Jugendliche sollten dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen werden. Ist das geglückt? Die Bilanz der Kindertransporte lässt sich – je nach Standpunkt unterschiedlich lesen. Im Bericht des Hilfskomitees vom 23. November 1939 wurden insgesamt 466 Kinder gezählt, die nach Schweden gekommen waren, elf Anträge waren noch ausstehend und drei Kinder wurden demnächst erwartet. 16 Kinder wurden als „weitergewandert“ verzeichnet.⁴⁵ Bis zum Verbot der Emigration aus Deutschland und damit dem Ende der Flucht könnten noch einmal etwa 100 Kinder das Land verlassen haben. David Köpniwsky gab in seinem bereits zitierten Bericht über die Flüchtlingshilfe der Stockholmer Jüdischen Gemeinde in den 1950er-Jahren an, dass 1941 noch 385 Kinder im Land waren.⁴⁶ Das Ziel einer nur vorübergehenden Aufnahme zerbrach an der Wirklichkeit des nationalsozialistischen Völkermordes. Aber ging man wirklich davon aus, dass alle Kinder, oder doch ein Großteil von ihnen, das Land zur Wiedervereinigung mit ihren Eltern verlassen würden? Oder konnte man schon Anfang 1939 absehen, dass es hier um Fragen von Leben und Tod ging und war man darauf gefasst, dass es bedeuten würde, nur die Kinder zu retten? Dafür, dass man sich bewusst war, dass es immer schwieriger für die deutschen Juden war, ein Fluchtland zu finden und einige Kinder lange würden bleiben müssen, spricht, dass man den Behörden gegenüber keine pauschale Garantie übernahm, dass die Kinder auch ausreisen würden. Ein Memorandum vom Dezember 1940 erwähnt aber, dass mehr Kinder, als anfangs zu vermuten war, bleiben mussten.⁴⁷ Es scheint, als hätte eine gewisse Ambivalenz geherrscht. Vielleicht reagierten die schwedisch-jüdischen Organisationen aber auch zunächst vor allem auf die Bitten der deutschen Partner und der Eltern. Statistiska uppgifter per den 23. November 1939. RA, JFA, Hjälpkommittén, E 1:13. Köpniwsky, Några ord, S. 22. RA, JFA, Flyktingsektionen, F 4 a:10. Promemoria angående den s. k. „Barnhjälpen“, 12. 12. 1940. RA, JFA, Flyktingsektionen, F 4 a:1.
Rettung über die Ostsee. Die Kindertransporte nach Schweden
335
Alle diese Fälle und Kategorien weisen auf eine grundsätzliche Problematik der damaligen Rettungsaktionen hin. So grausam es heute erscheint, so sehr lag die Auswahl besonderer Gruppen und der Ausschluss von Kindern mit besonderen Bedürfnissen in der damaligen Logik der helfenden Gemeinden. Man wiederholte hier in kleinem Rahmen, was die Regierungen und Behörden der großen Fluchtländer USA und Großbritannien vormachten. Hier offenbart sich eine oft übersehene und in der Rückschau für jüdische Kinder fatale Wirklichkeit der Kindertransporte. Die empfangenden Länder und Hilfskomitees legten Wert auf die intelligentesten, begabtesten und anpassungsfähigsten – oder aber so brutal es klingt, die „begehrtesten“ Kinder. Diese konnten in den Aufnahmeländern erfolgreich vermittelt und integriert werden. Für Kinder und Jugendliche, die unangepasst waren, deren Elternhäuser weniger gebildeten Schichten zugehörten oder die traumatisiert waren, verringerten sich somit die Flucht- und damit Überlebenschancen. Der Flüchtlingshilfe wurde hier eine sozial selektierende Funktion zuteil. Für einige Vertreter jüdischer Organisationen in Deutschland waren die Kindertransporte zudem ein zweischneidiges Schwert. In seinem Bericht über seine Unterredungen mit der US-amerikanischen Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee und Vertretern aus anderen Fluchtländern berichtete der Berliner Rabbiner und Zionist Joachim Prinz im Dezember 1938: Über die Kinderverschickung wurde ausführlich berichtet, doch war man sich darüber einig, dass es unter keinen Umständen dahin kommen dürfe, dass das Ausland sich durch Aufnahme jüdischer Kinder sozusagen loskaufe von der dringlichsten Verpflichtung zur Aufnahme von Erwachsenen, insbesondere von Männern im arbeitsfähigen Alter, deren Auswanderung aus Deutschland vor allem erstrebt werden müsse.⁴⁸
Aus Sicht der meisten Eltern und der deutsch-jüdischen Hilfsorganisationen stellten die Kindertransporte eine Chance dar, die Kinder aus der beklemmenden Atmosphäre alltäglicher Gewalt und Entwürdigung herauszunehmen. Allerdings war es logisch anzunehmen, dass die männlichen Flüchtlinge am ehesten in der Lage gewesen wären, Arbeit zu finden und ihre Familie nachzuholen und so zu retten. Bei aller guten Intention wird hier deutlich, welchen Herausforderungen die Helfer in Deutschland und dem Ausland durch den permanent steigenden Verfolgungsdruck ausgesetzt waren. Ein Königsweg war gar nicht möglich. Für die Kinder und deren Eltern, die eine geglückte Wiedervereinigung erleben durften, bedeutete der Zwischenaufenthalt in Schweden wohl eine Erleich-
Rundschreiben B Nr. 353 des Hilfsvereins an alle Auswandererberater im Reich vom Januar 1939, A/W 2596.
336
Clemens Maier-Wolthausen
terung. Die Tragik der Kindertransporte aber ist, dass ein übergroßer Teil der geretteten Kinder letztlich zu Waisen wurden. Sie mussten neben der oft schwierigen Eingewöhnung in die neue Umwelt und Sprache, der dauernden Angst um die zurückgebliebenen Familienangehörigen letztlich den Verlust ihrer Familien verarbeiten.⁴⁹
Kröger, Marianne: Kindheit im Exil. Ein Forschungsdesiderat. In: Die Kindertransporte 1938/ 39. Rettung und Integration. Hrsg. von Wolfgang Benz [u. a.]. Frankfurt a. M. 2003. S. 17– 33, hier S. 19.
Malin Thor Tureby
Flüchtlinge und Pioniere. Deutsch-jüdische Jugendliche während der 1930er- und 1940er-Jahre auf dem schwedischen Land Kurz nach der nationalsozialistischen Machtergreifung reiste Emil Glück, schwedischer Tierarzt und Zionist, im Frühjahr 1933 zum Zentralbüro des deutschen Landesverbandes des Hechaluz in Berlin. Er unterbreitete das Angebot, nach dänischem Vorbild für die Mitglieder des Verbandes eine praktische Ausbildung (Hachschara) in Schweden zu organisieren.¹ Ihm war es gelungen, bei den Behörden in Schweden eine Chaluz-Quote, wie sie später hieß, durchzusetzen. Dies bedeutete, dass zehn schwedische Jugendliche aus Deutschland eine Genehmigung zur Einreise als Transmigranten nach Schweden erhielten um dort eine 18 Monate dauernde landwirtschaftliche Ausbildung zu bekommen und im Anschluss daran nach Palästina weiterzureisen.² Dass diese Chaluz-Quote genehmigt wurde, steht in direkter Verbindung mit der schwedischen Flüchtlingspolitik während der 1930er–Jahre. Sie war restriktiv und einerseits begründet durch die Furcht vor einer vermehrten Arbeitslosigkeit als Folge der Einwanderung, andererseits geprägt durch „Rassen“-Denken und Antisemitismus. Aus der Perspektive der Flüchtlingspolitik war die Chaluz-Quote daher ideal, weil sie ja nur zeitlich begrenzte Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen zur Folge hatte. Der folgende Text wird die schwedische Flüchtlingspolitik jedoch nur am Rande diskutieren. Das Augenmerk ist stattdessen auf die Hechaluz-Bewegung und ihre Mitglieder, die mit Hilfe dieser Quote nach Schweden kamen, sowie die Beurteilung ihrer Situation im Exil gerichtet.³ Die Bedeutung der Chaluz-Quote beschränkte sich nicht nur darauf, dass jüdischen Jugendlichen die Flucht aus Nazideutschland ermöglicht wurde, durch Hechaluz steht im Hebräischen für „der Pionier“ (Pluralform: chaluzim). Eine Hachschara, d. h. eine Ausbildungseinrichtung für landwirtschaftliche Siedlungspioniere, existierte in Dänemark seit 1932. Hauptverantwortlicher für deren Tätigkeit war Benjamin Slor, der Schwager von Emil Glück. Siehe Haestrup, Jørgen: Dengang i Danmark. Jødisk ungdom på traek 1932– 1945. Odense 1982. Glück, Emil: På väg till Israel. Hachscharah i Sverige 1933 – 1948. Transmigration av judisk ungdom från Nazi-Tysland för utbildning i lantbruk m. m. och vidare vandring till Palestina. Stockholm 1985. S. 15. Zu einer ausführlicheren Diskussion über meine Definition des Exilbegriffs siehe Thor, Malin: Hechaluz – en rörelse i tid och rum. Tysk-judiska ungdomars exil i Sverige 1933 – 1943.Växjö 2005. S. 41– 52. Mein Beitrag baut weitgehend auf dieser Dissertation auf. https://doi.org/9783110532289-018
338
Malin Thor Tureby
sie kam die wegbereitende Jugendbewegung Hechaluz erstmalig auch nach Schweden. Um diese Organisation, zunächst eine Auslandsabteilung der deutschen Mutterorganisation, ihre Etablierung und ihre Entwicklung sowie Selbstbild, Zukunftserwartungen und Tätigkeit ihrer Mitglieder zu verstehen, ist es jedoch notwendig, zunächst das Selbstverständnis der internationalen und hier vor allem der deutschen Bewegung zu schildern wie auch ihre Absichten und Ziele.
Hechaluz – ein Teil der jüdischen Arbeiterbewegung im Exil Der Pioniergeist (Chaluziut), d. h. der Wille, sich in Palästina niederzulassen und sein Leben mit Arbeit zu verbringen, um auf diese Weise die nationale und soziale Neugeburt des jüdischen Volkes und des jüdischen Heimatlandes voranzutreiben, vereinte all jene Jugendorganisationen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Osteuropa und einige Jahrzehnte später auch in mehreren Ländern Westeuropas herangewachsen waren. Die Jugendbewegung muss im Hinblick darauf verstanden und gesehen werden, dass die zionistische Bewegung Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts enorm aufblühte und sich 1897 auf dem ersten Zionistenkongress auch politisch in der Zionistischen Organisation (ZO) organisierte. 1922 wurde dann in Palästina die Jewish Agency for Palestine (JA), in etwa eine jüdische Regierung, gebildet, die sich mit den Behörden des britischen Mandats beraten und mit ihr zusammenarbeiten sollte. Man vereinbarte, dass die britische Verwaltung in Zusammenarbeit mit der JA auf geeignete Weise die jüdische Einwanderung nach Palästina erleichtern sollte. Dennoch führten die Briten als Reaktion auf die arabische Opposition gegen die jüdische Einwanderung ein Zertifikat-System ein, um die jüdische Einwanderung zu reglementieren. Nach diesem System entschieden die Briten alle halbe Jahre neu darüber, wie viele und welche jüdischen Einwanderer während der folgenden sechs Monate nach Palästina kommen durften. Es gab verschiedene Zertifikate für verschiedene soziale Gruppen, so ein A-Zertifikat für „Kapitalisten“, ein B-Zertifikat für Angehörige von Männern, die religiöse Berufe ausübten, sowie für Studenten und Jugendliche, die sogenannte Jugend-Alijah, und ein C-Zertifikat für Arbeiter, das auch für die Mitglieder des Hechaluz galt.⁴ Die Chaluzim bildeten die einzige Zertifikat-Gruppe, für die ZO und JA die direkte Verantwortung trugen, denn sie durften nach eigenem Gutdünken Ar Benz, Wolfgang: Die Jüdische Emigration. In: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn [u. a.]. Darmstadt 1998. S. 8; Wetzel, Juliane: Auswanderung aus Deutschland. In: Die Juden in Deutschland 1933 – 1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. Hrsg. von Wolfgang Benz. München 1988. S. 451.
Flüchtlinge und Pioniere
339
beiter-Einwanderern ein Visum ausstellen. Dagegen entschieden die britischen Behörden an Hand der individuellen Qualifikationen der Antragsteller über die Visa der übrigen Zertifikat-Gruppen. Die Bestimmungen, wer für ein ArbeiterZertifikat infrage kam, waren eindeutig: Es handelte sich um Personen im Alter von 18 bis 35 Jahren mit hebräischen Sprachkenntnissen und grundlegenden Fertigkeiten als Landarbeiter oder Handwerker. Die verschiedenen NeusiedlerBewegungen in Europa konnten daraufhin gemäß diesen allgemeinen Richtlinien selbst die Bedingungen spezifizieren, die die Mitglieder erfüllen mussten, um für ein Zertifikat infrage zu kommen. Der Hechaluz sollte dadurch eine bedeutende Rolle in der zionistischen Bewegung erhalten, da er die Verantwortung für Ausbildung und Auswahl der Arbeiter-Einwanderer nach Palästina übernahm. Somit gab es mit ZO und JA politische Organisationen, die das jüdische Volk sowohl in Europa als auch in Palästina vertraten. Die Personen und Bewegungen, die in erster Linie vom Pioniergeist, vom Chaluziut, getrieben wurden, befürworteten jedoch schon früh eine zusätzliche Organisation, die für jene sprechen sollte, die sich auf ein Leben als Arbeiter in Palästina vorbereiteten oder bereits dort lebten und arbeiteten, völlig unabhängig davon, ob eine offizielle Anerkennung des Rechtes des jüdischen Volkes auf eine Rückkehr in sein Heimatland vorlag oder nicht. Als 1920 die Histradrut als jüdische Gewerkschaft gegründet wurde, wurde damit auch eine politische Organisation in Palästina geschaffen. Der Hechaluz betrachtete sich danach in erster Linie als deren Zweigorganisation im Exil, und alle ihre Mitglieder verpflichteten sich, nach ihrer Ankunft in Palästina sich ihr anzuschließen. Sie trug auch durch Schlichim, durch Kulturbeauftragte, die in Europa an den verschiedenen nationalen Zentralstellen des Hechaluz stationiert wurden, zur Vorbereitung auf den Aufenthalt in Palästina bei. Die Existenz einer Reihe von Siedlerbewegungen in den verschiedenen europäischen Ländern hatte zur Folge, dass die Forderung nach einer länderübergreifenden Organisation im Exil laut wurde. Sie sollte die Alijah-Zertifikate zwischen den einzelnen Landesverbänden verteilen und die Transporte der Chaluzim, die ihre Ausbildung abgeschlossen hatten, koordinieren, aber auch darüber verhandeln, welchen Kibbutzim sie nach der Ankunft in Palästina zugeteilt werden sollten. Eine solche administrative Organisation, die Merkas Olama (Weltzentralstelle) genannt wurde, entstand 1924 in Warschau. 1940 wurde ihr Sitz nach Genf in der Schweiz verlegt. Doch schon ab Mitte der 1920er-Jahre konnte man von einer Jugendneusiedlerbewegung in Europa mit einer gemeinsamen Verwaltungsorganisation und einer grundlegenden Ideologie sprechen, die Teil der Zionistischen Bewegung war, sich aber in erster Linie mit der Histradrut und der jüdischen Arbeiterbewegung in Palästina identifizierte.
340
Malin Thor Tureby
Der deutsche Landesverband des Hechaluz Der Hechaluz in Deutschland wurde 1922/1923 von Jugendlichen gegründet, die sich zusammengefunden hatten, um landwirtschaftliche und handwerkliche Berufe zu erlernen und sich dadurch auf die Ankunft in Palästina und den dortigen Aufbau eines neuen jüdischen Gemeinwesens vorzubereiten. Mit Hilfe der Schlichim, der Kulturbeauftragten aus Palästina, wurde ein deutscher Landesverband des Hechaluz gegründet, dessen innere Organisation mit der der übrigen Landesverbände übereinstimmte.⁵ Seine Aufgabe bestand darin, die Mitglieder, die zwischen 18 und 35 Jahren alt sein sollten, für diesen Veränderungsprozess zu qualifizieren. Diese Altersvorgabe lässt zum einen erkennen, dass der Hechaluz die Absicht besaß, insbesondere die junge Generation für den Aufbau des neuen jüdischen Gemeinwesens in Palästina zu gewinnen. Zum anderen entsprach diese Spanne aber genau jener Altersgruppe, die für ein Arbeiter-Zertifikat infrage kam. Die Hachschara, die Ausbildung, zielte jedoch nicht nur darauf ab, die Mitglieder in verschiedenen handwerklichen und landwirtschaftlichen Berufen auszubilden. Sie war Teil jenes ambitionierten Vorhabens, einen neuen jüdischen Menschen zu formen, der von hebräischen, zionistischen und sozialistischen Idealen und Werten geprägt sein sollte. Die jüdische Einwanderung nach Palästina und die Arbeit dort sollten nach Ansicht des Hechaluz in geordneten Formen vor sich gehen. Einheit, Organisation und Disziplin galten als Voraussetzungen für einen erfolgreichen Aufbau des Landes. Die gesamte Ausbildung zielte darauf ab, den Mitgliedern bewusst zu machen, dass sie Teil einer jüdischen Nation waren, aber auch, und vor allem, Arbeiter, werdende Mitglieder eines Kibbutz und zukünftige Mitglieder der jüdischen Arbeitergewerkschaft Histadrut. Die Mitglieder sollten lernen, dass die Histadrut alle körperliche Arbeit hoch bewertete und sich für eine einheitliche zionistische Arbeiterbewegung einsetzte, die alle Juden umfassen sollte. Zentraler Gedanke des Hechaluz war, dass jüdische Arbeiter eine jüdische Nation führen sollten. Das Ziel jedes einzelnen Mitgliedes und der Bewegung war die Alijah, die Übersiedlung nach Palästina. Wer oder welche Mitglieder dafür infrage kamen, wenn dem Hechaluz von der JA eine Anzahl Zertifikate zugeteilt worden waren, sollte dadurch entschieden werden, dass man beurteilte, ob die einzelnen Mitglieder die festgelegten Ziele der Bewegung erreicht hatten: ausreichende Erfahrung in praktischer, körperlicher Arbeit und ausreichende Kenntnisse des He-
Leshem, Perez: Straße zur Rettung. 1933 – 1939 aus Deutschland vertrieben – bereitet sich jüdische Jugend auf Palästina vor. Jerusalem 1973. S. 14.
Flüchtlinge und Pioniere
341
bräischen, der jüdischen Geschichte, des Zionismus und der Geografie Palästinas. Diese Kenntnisse sollten die Einordnung in die jüdische Arbeiterklasse erleichtern und sicherstellen, dass die Mitglieder der Kibbutz-Bewegung und der Histradrut die Treue hielten. Erst wenn jemand diese Anforderungen erfüllte, konnte man beim Palästina-Büro des JA in Berlin den Vorschlag einreichen, ein Alijah-Zertifikat zu bewilligen. Die ersten zehn Jahre hatte der Hechaluz in Deutschland einige Hundert Mitglieder. Dabei deckte sich die Zahl derjenigen, die nach einer fertigen Ausbildung auswandern konnten, nicht immer mit dem Zustrom neuer Mitglieder. Nach der Machtübernahme der Nazis stieg ihre Zahl so stark an, dass sie allein von 500 im April 1933 auf nahezu 13.000 im Mai 1933 hochschnellte. Dadurch entwickelte sich der Hechaluz in Deutschland von einer verhältnismäßig kleinen Bewegung zu einer wichtigen Dachorganisation für verschiedene Neusiedlerbewegungen. Gleichwohl versuchte man, die ideologische Zielsetzung beizubehalten, und die Hachschara-Ausbildung war während der gesamten 1930er-Jahre bis zum Anfang der Vierzigerjahre trotz immer stärker werdender wirtschaftlicher und politischer Schwierigkeiten ideologisch ausgerichtet. Im Januar 1939 wurden schließlich alle jüdischen Parteien und Organisationen von den Nazis verboten. Als einzige zugelassene Organisation verblieb die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, der die gesamte jüdische Bevölkerung angehören musste. Unter ihrem Dach konnte der Hechaluz seine Tätigkeit als „Abteilung Berufsvorbereitung I“ fortsetzen. Die ideologischen Ziele und das Urteil darüber, inwieweit die Mitglieder fähig waren, diese Verpflichtungen zu erfüllen, waren Kriterien dafür, in welcher Reihenfolge die Mitglieder Nazi-Deutschland verlassen und nach Palästina reisen durften. Nicht jede Bewerberin und nicht jeder Bewerber konnten also mit Hilfe des Hechaluz aus dem Land entkommen. Zudem erhielt der Hechaluz zu wenige Zertifikate, so dass die Organisation der Ausbildung im Ausland, die Auslandshachschara, ab Frühjahr 1933 immer wichtiger wurde. Dem deutschen Landesverband gelang es danach, eine solche in dreizehn verschiedenen europäischen Ländern zu installieren. Sie richtete sich weitgehend daran aus, welche Voraussetzungen in den verschiedenen Ländern gegeben waren.
Die Auslandshachschara Schweden Die Tätigkeit des Hechaluz in Schweden begann, wie oben bereits erwähnt, mit der Genehmigung der Chaluz-Quote durch die schwedischen Behörden. Die Abteilung Auslandshachschara Schweden war Teil des deutschen Hechaluz und wurde von dort aus geführt. In der Praxis plante jedoch Emil Glück ihre Tätigkeit
342
Malin Thor Tureby
und leitete sie. Er empfing die Jugendlichen, beschaffte Arbeitsplätze und kümmerte sich gelegentlich auch um ihre finanziellen Probleme. Die Mitglieder kamen nach Schweden, erhielten eine landwirtschaftliche Ausbildung, indem sie bei verschiedenen Bauern arbeiteten, und fuhren nach Palästina oder in ein anderes Land weiter. Die Ausbildung, sofern man überhaupt von Ausbildung sprechen kann, bestand vor allem in praktischer Arbeit. Theoretische Schulung oder Hebräisch-Unterricht dürften nicht vorgekommen sein. In diesen ersten Jahren war von einer ideologischen Hachschara, die dem Konzept des Hechaluz entsprochen hätte, nicht die Rede, sondern es ging eher um die Transmigration jüdischer Jugendlicher im Rahmen der Vorschriften schwedischer Behörden für die ChaluzQuote. Trotz der offensichtlichen Mängel in der Ausbildung, wenn man diese unter der Perspektive eines ideologischen Lernprozesses betrachtet, wanderten eine Reihe von Chaluzim nach Palästina aus – immerhin ein kleiner Erfolg für das Projekt. Der deutsche Hechaluz erhob jedoch den Anspruch, der Aufenthalt in Schweden solle eine sinnvolle Periode in der Ausbildung ihrer Mitglieder zu hebräischen Arbeitern sein. Bis zum Kriegsausbruch besuchten ihre Vertreter von Berlin aus Schweden ungefähr jeden dritten Monat. Sie untersuchten und bewerteten die Vor- und Nachteile der Abteilung in Schweden und erstatteten danach den zionistischen Organisationen in Palästina – wie JA, Histradrut und Kibbutz-Bewegung – entsprechend Bericht. Anfang 1936 reiste einer der Führer des deutschen Hechaluz nach Schweden, um zu diskutieren, ob es möglich wäre, die Ausbildung in Schweden zu verbessern, indem man einen Trainings-Kibbutz startete, und im November des gleichen Jahres wurde auch der Kibbutz Svartingstorp eröffnet. Der Kauf des Hofes und die dortige Tätigkeit wurden durch die Stiftelsen för Lantbruksutbildning, die Stiftung für Landwirtschaftsausbildung, finanziert. Vorsitzender war Eli Heckscher, Professor für Volkswirtschaft sowie später für Wirtschaftsgeschichte an der Handelshochschule Stockholm und eigentlich ein bekannter Anti-Zionist –, sodass man sich fragen muss, warum er dieses Projekt unterstützte. Die Antwort darauf ist sicherlich, dass das Programm mit der schwedischen Flüchtlingspolitik in Einklang stand und die Forderungen Heckschers nach einer praktisch orientierten Flüchtlingshilfe erfüllte. Heckscher verlangte jedoch, dass die Tätigkeit auf dem Hof sowohl ideologisch als auch politisch neutral sein müsste. Svartingstorp sollte eine Landwirtschaftsschule sein, die all jenen offenstand, die – und das war die einzige Bedingung – „der jüdisch-religiösen Gemeinschaft“ angehörten. Eine Eingrenzung auf Zionisten wurde als intolerant verurteilt. Als Folge davon entwickelten sich auf dem Hof eine Reihe von Konflikten zwischen den Chaluzim und nicht-zionistischen Jugendlichen sowie zwischen den Chaluzim und dem schwedischen Diplom-Landwirt, den die Stiftung als
Flüchtlinge und Pioniere
343
Leiter der Ausbildung eingesetzt hatte. Die Unzufriedenheit der Chaluzim führte dazu, dass sie an die Histradrut schrieben und um einen erfahrenen Schaliach, einen Kulturbeauftragten, baten, der die Leitung des Kibbutz Svartingstorp übernehmen konnte und mit den ideologischen Zielen des Hechaluz vertraut war. Diese erklärte Bitte lässt erkennen, dass eine Reihe von ihnen das Exil in Schweden als einen Lernprozess für die zukünftige Einwanderung nach Palästina auffasste.⁶ Die Möglichkeiten des Hechaluz, Form und Inhalt der Hachschara zu bestimmen, waren somit sowohl von der schwedischen Umgebung als auch von dem Kontakt mit dem Heimatland, mit Eretz Israel, abhängig. Die kollektive Identität der Chaluzim wurde damit nicht nur im Rahmen der Bewegung definiert, sondern auch im Hechaluz und durch die Beziehungen der Mitglieder zu anderen Individuen und Kollektiven in der schwedischen Umgebung. Die Gegensätze zwischen den Chaluzim, den nicht-zionistischen Jugendlichen und dem Diplom-Landwirt belegen dies deutlich. Für die Stiftung und die Jüdische Gemeinde in Stockholm, die hinter dem Kibbutz oder aus ihrer Perspektive eher hinter der Landwirtschaftsschule standen, wie auch für ihren Vertreter, den Diplom-Landwirt, waren die Jugendlichen in erster Linie Flüchtlinge, die ihre Visa als Transmigranten auswiesen und die eine Chance bekommen hatten, sich im landwirtschaftlichen Bereich auszubilden. Die Jugendlichen selbst und ihre Führer akzeptierten indessen diese begrenzte Rolle nicht, sondern waren bestrebt, ihre Ausbildung nach den zionistischen Prinzipien zu gestalten, die sie sich in Deutschland angeeignet und nach Schweden mitgenommen hatten. Für die Mitglieder in Schweden und die Leitung in Deutschland war der Auszug aus Deutschland, dem Land ihrer Geburt, nur von untergeordneter Bedeutung; das Exil in Schweden sollte lediglich dazu dienen, sich für ein Leben als Neusiedler vorzubereiten und danach aus einem bedeutend länger währenden Exil ins Heimatland, nach Eretz Israel, zurückzukehren. Den Anspruch der Stiftung, über das Wie der Ausbildung zu entscheiden, empfand man ebenso belastend wie die Wohngemeinschaft mit Nicht-Zionisten.
Der Hechaluz in Schweden wird selbstständig In den Jahren 1938 bis 1939 wurde immer deutlicher, dass die schwedische Hachschara sich organisatorisch in zunehmendem Maße vom Hechaluz in
Zum Kibbutz Svartingstorp und anderen Kibbutzim in Schweden während der 1930er- und 1940er-Jahre in der Regie von Hechaluz siehe Thor Tureby, Malin (Hrsg.): Kibbutzer i Sverige. Judiska lantbrukskollektiv i Sverige 1936 – 1946. Stockholm 2013.
344
Malin Thor Tureby
Deutschland zu lösen begann. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 stimmten die schwedischen Behörden dem Antrag zu, die Chaluz-Quote auf 300 Personen zu erhöhen. Die Mitglieder waren nun gezwungen, sich selbständig um alle die organisatorischen Probleme zu kümmern, die durch die erhöhte Quote entstanden, da der Kontakt mit dem deutschen Hechaluz des Öfteren unterbrochen wurde. Um dieses Mehr an Aufgaben zu bewältigen, wurde eine zentrale Leitung erforderlich. Hierfür wählte man zum ersten Mal eine Maskirut, ein Sekretariat, für Schweden, die aus mehreren Mitgliedern bestand. Am Anfang hatte sie ein Büro im Kibbutz Svartingstorp. Das Büro wurde später in eine Wohnung in der benachbarten Stadt Hässleholm verlegt. Dadurch entstand eine ständig wachsende Kluft zwischen den Mitgliedern, die als Leitung gewählt wurden, und denen, die auch weiterhin bei schwedischen Bauern arbeiteten. Ende 1938 kam der erste Schaliach, Raffael Kleinschmidt, aus Palästina. Er sollte die Kulturarbeit, darunter in erster Linie den Hebräisch-Unterricht, verantworten, zionistische Theorie unterrichten und vor allem auch Kenntnisse über Eretz Israel vermitteln. Ein weiterer Schaliach, Akiba Eger, gelangte im August 1938 ins Land. Es stellte sich schnell heraus, dass nicht alle neu hinzugekommenen Mitglieder, die durch die erhöhte Quote nach Schweden gelangten, überzeugte Zionisten waren. Daher führte man eine sogenannte „Säuberung“ durch und schloss alle diese Mitglieder aus. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen ließen es nicht zu, dass die Bewegung noch weitere Ausbildungs-Kibbutzim neben Svartingstorp gründete, der übrigens im Frühjahr 1940 aufgrund der vielen Auseinandersetzungen zwischen den Chaluzim und der Stiftung seine Tätigkeit einstellte. Nach einiger Zeit gelang es allerdings den Mitgliedern, neue Gruppen und Zentren zu gründen, wo man im Kollektiv wohnte und eine gemeinsame Kasse hatte. Sie betrieben eine gemeinsame Kulturarbeit und studierten intensiv Hebräisch. Gemeinsames Wohnen und gemeinsames Wirtschaften waren Teil der Ausbildung, um die Mitglieder zu einem Leben im Kollektiv zu erziehen. Im Herbst 1939 diskutierte man innerhalb des Hechaluz ständig darüber, was es bedeutete, ein Chaluz zu sein. Dabei zeigte sich immer wieder, dass die kollektive Chaluz-Identität vor allem im Gegensatz zu den Mitgliedern, die ausgeschlossen worden waren oder die Bewegung freiwillig verlassen hatten, gesehen wurde. Man führte auch intensive Diskussionen darüber, inwieweit die zionistische oder die sozialistische Identität im Vordergrund stehen sollte. Es ging im Wesentlichen um die Frage, ob der Hechaluz und seine Mitglieder sich mit der internationalen Arbeiterbewegung identifizieren sollten und ob sie in erster Linie Sozialisten oder Zionisten waren. Schließlich siegte die letzterwähnte Linie, was unter anderem darin seinen Ausdruck fand, dass zwar die Internationale bei
Flüchtlinge und Pioniere
345
Veranstaltungen und internen Treffen der Leitung nicht länger gesungen werden sollte, wohl aber die blauweiße, zionistische und die rote, sozialistische Fahne zusammen gehisst werden sollten. Im November 1938 erklärte der Hechaluz in Schweden seine Selbstständigkeit. Dieser Beschluss war eine Folge der Entwicklung in Deutschland, wo der deutsche Landesverband seine Entscheidungsfreiheit verloren hatte. Der Hechaluz in Schweden offenbarte sich nunmehr als ein selbstständiger Akteur, und dies sowohl nach innen, den eigenen Mitgliedern gegenüber, als auch nach außen gegenüber den zionistischen Organisationen. Der schwedische Hechaluz erklärte in einer Resolution, die an die Histradrut und die Kibbutz-Bewegung geschickt wurde, seine Treue gegenüber dem zionistischen Projekt und der Arbeiterbewegung in Palästina. Gleichzeitig verlangte man von den zionistischen Organisationen, sie sollten eine baldige Alijah für die gut vorbereiteten Chaluzim in Schweden organisieren.
Die Alijah und die Auswanderung aus Schweden Die Alijah konnte man sowohl als Ziel des kollektiven zionistischen Projekts als auch des einzelnen Chaluz verstehen. Der Hechaluz verpflichtete jedes Mitglied dazu, die Alijah in Angriff zu nehmen, sobald die Bewegung es für richtig hielt. Es muss jedoch hervorgehoben werden, dass die Bewegung nicht selbst diese Bedingungen diktierte, sondern dass ihr Handlungsspielraum durch die weltpolitische Lage weitgehend begrenzt wurde. So machten die Einwanderungspolitik der britischen Mandats-Behörden und der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges es unmöglich, dass alle fertig ausgebildeten Chaluzim nach Palästina reisen konnten, denn der Hechaluz war davon abhängig, wie die Zertifikate verteilt wurden. Im Rahmen der schwedischen Quote erhielt der Hechaluz eine neue Einreisegenehmigung für jeden Chaluz, der das Land verließ. Vermutlich forderte die Bewegung daher vor allem Mitglieder, die abgesprungen waren, auf, nach anderen Ländern als Palästina auszuwandern, da dadurch eine neue Person aus Nazideutschland ausreisen konnte. Nach 1942 konnten aufgrund der politischen Entwicklung in Europa keine weiteren Chaluzim Schweden verlassen. Zudem wurde nach Kriegsausbruch ebenfalls die Einreise nach Schweden erschwert, auch wenn durch Auswanderung Plätze freigeworden waren. Als im Oktober 1941 den Juden schließlich verboten wurde, Deutschland zu verlassen, hatte dies natürlich auch zur Folge, dass keine neuen Chaluzim nach Schweden einreisen konnten. Insgesamt wanderten von 1933 bis 1941 490 Personen in Rahmen der ChaluzQuote nach Schweden aus. Von diesen unternahmen im gleichen Zeitraum 253
346
Malin Thor Tureby
Personen eine Alijah nach Palästina – oder genauer genommen: 252 Deutsche und eine Schwedin, die einen Chaluz geheiratet hatte. 102 Personen wanderten in ein anderes Land aus.⁷ Wenn der schwedische Hechaluz Zertifikate erhielt, beurteilte die Leitung Verdienste und Mängel der einzelnen Mitglieder und erstellte Gutachten über die Mitglieder, die letztendlich benannt wurden. Die Kriterien für die Auswahl zur Alijah im Rahmen des Hechaluz richteten sich, wie bereits erwähnt, stark nach den Zielen der Bewegung. Die Gutachten, die während der 1930er-Jahre erstellt wurden, enthielten allerdings kaum Angaben zu der eigentlichen Befähigung der Mitglieder. Das Prinzip „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ scheint darüber entschieden zu haben, wer seine Alijah machen durfte. Mitglieder, die auf die 35 Jahre zugingen und zu alt zu werden drohten, um noch ein Arbeiter-Zertifikat zu erhalten, wurden bevorzugt. Dies wurde vom schwedischen Hechaluz als Argument dafür verwendet, um zusätzliche Zertifikate von denen zu erhalten, die der europäischen Hechaluz-Bewegung zugeteilt worden waren. Die Mitglieder, die am ältesten waren, dürften allerdings auch die längste Zeit in der Hachschara hinter sich gehabt haben und damit wohl auch am besten auf die Alijah vorbereitet gewesen sein. Selbst Mitglieder, die negativ bewertet worden waren, wurden zur Alijah vorgeschlagen, weil sie, so hieß es, schon lange an der Hachschara teilgenommen hatten oder mit geeigneten Personen verheiratet waren. Dies galt besonders für weibliche Mitglieder, die in Schweden in der Minderheit waren. Dennoch wurden in Schweden fast genauso viele Frauen wie Männer zur Alijah vorgeschlagen, was sich dadurch erklären lässt, dass dem schwedischen Hechaluz vor allem Familien- und Frauen-Zertifikate zugeteilt wurden. Der Handlungsspielraum der Bewegung wurde also nicht nur dadurch begrenzt, wie viele Zertifikate man erhielt, sondern auch welche. Die JA gab am liebsten Familien-Zertifikate aus, wodurch Ehepaare bevorzugt wurden, da es so einfacher war, zwei Personen mit einem Zertifikat nach Palästina zu schicken. Es kam sogar vor, dass man fiktive Paare zur Alijah vorschlug, um auf diese Weise die Entsendung zweier Personen auf einem Zertifikat zu ermöglichen. Der schwedische Hechaluz erhielt auch verhältnismäßig viele Frauen-Zertifikate, mit denen wahrscheinlich auch Alleinstehende reisen konnten. Dennoch wurden in den Gutachten Frauen stets als Anhang zu ihren echten oder fiktiven Ehemännern behandelt, während der umgekehrte Fall nie vorkam. Eine Frau mit schlechten Hebräisch-Kenntnissen oder einem undisziplinierten Benehmen
Glück, På väg till Israel, S. 49; Hansson, Svante: Flykt och överlevnad. Flyktingverksamhet i mosaiska församlingen i Stockholm 1933 – 1950. Stockholm 2004. S. 209.
Flüchtlinge und Pioniere
347
konnte somit ganz im Gegensatz zur Ideologie mit der Begründung zur Alijah ausgewählt werden, sie sei die Frau eines guten Arbeiters. Die Zertifikate, die dem schwedischen Hechaluz zugeteilt wurden, konnten jeweils an einer Hand abgezählt werden. Dies war ein großes Problem, da die Mitglieder sich jeweils nur anderthalb Jahre im Lande aufhalten durften, aber auch weil ihr Mut und Wille sich zunehmend verringerten, da die Aussichten, nach Palästina zu kommen, ständig schlechter wurden.
Alijah Bet – eine illegale Alijah Ähnliche Probleme mit allzu wenigen Zertifikaten gab es in ganz Europa, und außerdem wurde es nach und nach in vielen Ländern für Juden immer gefährlicher, weiterhin dort zu bleiben. Den ersten ernstzunehmenden Vorschlag, eine illegale Einwanderung nach Palästina zu organisieren, hatte Yitzhak Tabenkin, ein Vertreter der Kibbutz-Bewegung Hakibbutz Hameuchad, bereits 1928 unterbreitet. Jedoch wurden erst 1934 praktische Maßnahmen ergriffen, als die Hachschara-Kibbutzim des polnischen Hechaluz zu diesem Zeitpunkt auch durch deutsche Chaluzim überfüllt waren, ohne dass ein Zertifikat in Sicht war. Damals begannen mehrere zionistische Jugendbewegungen, eine Alijah Bet, eine illegale Alijah, zu organisieren. Vom Standpunkt der zionistischen Bewegung aus gab es keine „illegale“ Einwanderung nach Palästina, da allen Juden das Recht zustand, in ihr eigentliches Heimatland zu ziehen. Der Hechaluz und die Kibbutz-Bewegung Hakibbutz Hameuchad führten im Juli und November 1934 mit dem griechischen Schiff „Velos“ zwei Reisen durch, aber die Briten beschlagnahmen das Schiff schon auf seiner zweiten Reise und schickten die Passagiere umgehend nach Polen zurück. Der zionistischen Jugendorganisation Betar gelang es, im August 1934 das Schiff „Union“ nach Palästina zu schicken, aber der Nachfolger „Wanda“ sank schon im Danziger Hafen.⁸ In politischer Hinsicht war die Alijah Bet, die illegale Alijah, die vor allem die zionistischen Jugendbewegungen in Europa in die Wege geleitet hatten, ein großes Streitthema, und anfangs war die zionistische Führung in Palästina ihr gegenüber keineswegs positiv eingestellt. Die zunehmende Verschlechterung der Situation in Europa und die immer restriktivere Einwanderungspolitik der britischen Behörden in Palästina führten jedoch dazu, dass die zionistische Führung
Bauer, Yehuda: Jews for sale? Nazi-Jewish Negotiations, 1933 – 1945. London 1994. S. 44; Oppenheim, Israel: The struggle of Jewish youth for productivization. The Zionist youth movement in Poland. New York 1989. S. 141.
348
Malin Thor Tureby
ihre Haltung änderte. Im November 1938 schlug David Ben Gurion sogar vor, man solle eine drastisch gesteigerte illegale Einwanderung nach Palästina einleiten, um die britische Verwaltung zu Fall zu bringen. Sein Vorschlag wurde von der Histradrut zurückgewiesen, aber dennoch schickte der Hechaluz eine Reihe von Aktivisten von Palästina aus nach Europa, um das Projekt in die Wege zu leiten, Schiffe zu kaufen und geeignete Kandidaten für eine Alijah Bet auszuwählen. Dies geschah auf dieselbe Art und Weise wie die gewöhnliche Alijah.⁹ Im Januar 1939 wurde eine Gruppe von 65 Mitgliedern des Hechaluz und der zionistischen Jugendbewegung Bachad in Schweden ausgewählt, um zusammen mit einer größeren Gruppe aus Dänemark eine Alijah Bet durchzuführen. Die 65 Jugendlichen kündigten an ihren Arbeitsplätzen und versammelten sich in einer Jugendherberge in Finja in der Nähe von Hässleholm in Schonen, um weitere Instruktionen abzuwarten. Jeden Freitag warteten sie auf das Signal zur Abreise, aber die Wochen gingen dahin, ohne dass etwas passierte. Für die Wartenden, die auf eine Entscheidung hofften und abreisen wollten, war dies ebenso belastend und auf Dauer unzumutbar wie für die Bewegung, die die finanziellen Ausgaben zu organisieren hatte. Nachdem bis zum April keine Entscheidung gefallen war, kehrten die reisefertig Wartenden zu ihren Arbeitsplätzen zurück.¹⁰ Fritz Lichtenstein, der Vertreter des Hechaluz in London, und Emil Glück waren daran beteiligt, die Alijah Bet von Schweden aus zu organisieren.¹¹ Glück versuchte, das Hilfskomitee der Jüdischen Gemeinde in Stockholm davon zu überzeugen, das Projekt zu finanzieren, aber dort war man nicht gewillt, eine illegale Tätigkeit zu unterstützen.¹² Danach beteiligte man sich in Schweden bis nach Kriegsende nicht mehr an solchen Unternehmungen und Aktionen. Dennoch lassen der beschriebene wie auch andere misslungene Versuche, nach Palästina zu entkommen, erkennen, dass der Hechaluz in Schweden in ständiger Verbindung mit den zionistischen Organisationen in Palästina und der zionistischen Bewegung in Europa stand und dass man sich ständig darum bemühte, nach Eretz Israel zu kommen.¹³ Zwar war der Wille der Mitglieder, die Alijah Die Initiative der europäischen Hechaluz-Bewegung für die Alijah Bet und ihr Engagement dafür werden ausführlich dargestellt bei Bauer, Jews for Sale?; Near, Henry: The Kibbutz Movement. A History. Bd. I.: Origins and Growth, 1909 – 1939. Oxford 1992. S. 328 – 335. Yad Vashem Archives (YVA) 074/1; Smulowicz, Seew: Die Schwedische Hachscharah 1933 – 1949 und die Geschichte des Schwedischen Hechaluz, 1949 (vervielfältigter Bericht). S. 31– 32. Glück, På väg till Israel, S. 32– 35. Hansson, Flykt och överlevnad, S. 206 – 207. In Dänemark versuchte eine Gruppe, die sich „Der Neue Weg“ nannte, auf höchst abenteuerliche Art und Weise, Palästina zu erreichen. Als alle legalen Wege gesperrt waren, versteckten sich die Mitglieder der Gruppe unter Waggons, die auf dem Weg in die Türkei sein sollten. Der Zug fuhr jedoch nicht in die Türkei, sondern in die Schweiz. Nur ein Mitglied der Gruppe, Alfred Israel
Flüchtlinge und Pioniere
349
anzutreten, auch in Schweden groß, aber im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern drohte keine Lebensgefahr, die zur Auswanderung gezwungen hätte. Die Bewegung in Schweden versuchte aber, auf unterschiedliche Art und Weise den Mitgliedern zu helfen, die im besetzten Europa in Lebensgefahr schwebten.
Hilfsaktionen für Chaluzim im besetzten Europa Während der ersten Kriegsmonate erfuhr der Hechaluz in Schweden, dass Mitglieder, die ihre Hachschara-Ausbildung in Polen erhielten, dort jetzt unter extrem schwierigen Umständen lebten. Sie waren nach dem deutschen Angriff zu Fuß nach Wilna geflohen. Dort versuchte man mit aller Kraft denjenigen, die sich vor den Nazis gerettet hatten, ein annehmbares Leben zu ermöglichen, während man gleichzeitig aktiv daran arbeitete, nach Eretz Israel zu gelangen. Der Hechaluz in Schweden bemühte sich darum, mit Hilfe der schwedischen Gesandtschaft Informationen über die Lage der Genossen in Polen, Litauen und Lettland zu erhalten, und leitete diese an die zionistischen Organisationen in Europa und Palästina weiter, die ihrerseits das, was sie in Erfahrung gebracht hatten, nach Schweden berichteten.¹⁴ Anfang November 1939 erhielt der Hechaluz in Schweden einen Brief von Arjeh Golani, dem Leiter der Gruppe in Litauen, in dem er die katastrophale Situation der Chaluzim in Osteuropa beschrieb. So berichtet er unter anderem, dass über 500 Mitglieder im Hachschara-Kibbutz Schecharia wohnten. Viele von ihnen seien zu Fuß von anderen Orten geflohen und besäßen nur das, was sie auf dem Leibe trügen. Golani bat daher den Hechaluz in Schweden, zugunsten der Genossen in Wilna zu spenden, was man in Schweden auch tat.¹⁵ Man sammelte Kleidung und Bettwäsche und schickte sie nach Litauen, um zu zeigen, dass man die Genossen noch nicht vergessen hatte. Außerdem plante man, 300 der Chaluzim in Wilna für einige Zeit nach Schweden zu holen. Man wollte ihnen Gelegenheit geben, sie in schwedischer
Glück, überlebte. Er wurde an der Schweizer Grenze festgenommen und nach Auschwitz gebracht. Im April 1945 wurde er befreit. (Interview Malin Thor mit Alfred Israel Glück am 18. 2. 2001). Ghetto Fighters’ Museum and Archives (GFMHA) Z8/4– 34, Brief an Maskiruth Hakibbutz Hameuchad, Tel Aviv, vom Hechaluz in Schweden (Akiba Eger vom 2. 11. 1939). Der Brief wurde in Kopie auch geschickt an Waad Hapoel schel Hahistadruth, Maskiruth lemaaraw Europa, Pino Ginsburg sowie Uri Koch in Amsterdam, Chanan Reichmann in Köpenhamn und Dobkin in Tel Aviv. GFMHA Z8/4– 34, Brief an die Chawerim in Schweden von Arjeh Golani, Riga, 8. 11. 1939.
350
Malin Thor Tureby
Sicherheit auf ein Zertifikat warten zu lassen und einen gangbaren Weg nach Palästina zu finden. Für Probleme verschiedener Art, wie den fehlgeschlagenen Versuch, Transportmöglichkeiten von Litauen nach Schweden zu finden, die hohen Kosten für eine Übersiedlung und Unterbringung in Schweden und die Frage, wer für ihre Aufenthaltskosten in Schweden aufkommen sollte, fand sich allerdings keine Lösung. Dadurch konnte der Plan nie verwirklicht werden. Den meisten deutschen Chaluzim in Wilna sollte es allerdings gelingen, nach einer Reise durch die Sowjetunion nach Palästina zu entkommen.¹⁶ Der Hechaluz in Schweden blieb auch weiterhin darum bemüht, Mitglieder, die in Europa interniert waren, während des ganzen Krieges zu unterstützen und ihnen zu helfen, so durch monatliche Zahlungen an Nathan Schwalb im Hechaluz merkas olami, der Weltzentralstelle des Hechaluz, die ab 1940 in der Schweiz, in Genf, ansässig war. Er vermittelte Briefe, Pakete und finanzielle Unterstützung an Genossen und Familienmitglieder, die von den Nazis in Europa in Gewahrsam genommen waren, und stellte auch die Verbindung zwischen dem Hechaluz in Schweden und den zionistischen Organisationen in Palästina her, wohin er auch Briefe an Familien und Freunde weiterleitete.
Aus Neusiedlern werden Gastarbeiter Mit Kriegsausbruch und den internationalen Auswirkungen wurde es immer schwieriger, Schweden zu verlassen und nach Palästina zu kommen. 1940 reisten die beiden Schlichim Raffael Kleinschmidt und Akiba Eger zurück nach Palästina. Der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941 hatte zur Folge, dass die 237 Mitglieder, die noch in Schweden lebten, ohne Postverbindung mit Palästina und ohne Schlichim vor der Aufgabe standen, die Bewegung zusammenzuhalten und nicht die Hoffnung zu verlieren, dass der Krieg eines Tages doch aufhören und sich ein Weg nach Eretz Israel öffnen werde. Während der frühen 1940er-Jahre zeichnete sich im Hechaluz ab, dass er seinen Mitgliedern mehr organisatorische und individuelle Selbstständigkeit zugestehen wollte. Beschlüsse, die auf Vollversammlungen gefasst worden waren, gaben ihnen größere Freiheit bei der Wahl des Wohnortes und der Wohnweise; die Zahl der Berufe, die genehmigt wurden, vergrößerte sich. Für den Wechsel des Berufes war jedoch weiterhin entscheidend, dass der gewählte Beruf für den Aufbau von Eretz Israel eine Bedeutung hatte. Alle neu angenommenen Mitglie-
GFMHA Z8/4– 34: Abschrift. Aus einem Brief von Akiba Eger, vom 19. 11. 1939; YVA 074/1 (2B), Smulowicz, Die Schwedische Hachscharah, S. 32– 33.
Flüchtlinge und Pioniere
351
der sollten sich zudem dazu verpflichten, eine einjährige landwirtschaftliche Hachschara mitzumachen oder sich, wenn möglich, in ein gemeinsames Kollektiv einzuordnen und körperliche Arbeit zu verrichten, unabhängig von früheren beruflichen Qualifikationen. Man kann diesen Beschluss als einen Kompromiss deuten. Arbeit sollte auch weiterhin als Lernprozess auf das künftige Leben im Heimatland vorbereiten, aber der Rahmen für genehmigte Berufe wurde etwas erweitert, so dass auch unqualifizierte Arbeit infrage kommen konnte – sofern man entschied, dass sie für den Wiederaufbau der historischen Heimat von Bedeutung war. Im Oktober 1942 entschied die Oberste Sozialbehörde in Schweden, der Hechaluz solle bei Anträgen auf die Verlängerung der Arbeitsgenehmigung für seine Mitglieder nicht länger die Bezeichnung „Landwirtschaftsschüler“, sondern „Landarbeiter“ benutzen. Zuvor hatte sie stets betont, die Chaluzim seien keine Arbeiter, sondern hervorgehoben, sie seien Transmigranten und Landwirtschaftsschüler beziehungsweise Landhaushaltschülerinnen, vermutlich wohl, weil ein Schüler keine vollwertige Arbeitskraft war und einen erfahrenen schwedischen Arbeiter nicht ersetzen konnte, also schwedische Arbeitsplätze nicht bedrohte. Diese geänderte Haltung gegenüber den Chaluzim dürfte einerseits mit deren extrem schwieriger Situation zusammengehangen haben: Weltweit waren fast keine Aufnahmeländer mehr zu finden, und damit konnten sie auch Schweden (noch) nicht verlassen. In erster Linie dürfte aber auch die neue Lage am gesamten schwedischen Arbeitsmarkt eine Rolle gespielt haben. Die hatte sich Anfang der Vierzigerjahre deutlich verbessert, so dass in der Landwirtschaft sogar Arbeitskräfte fehlten. Die Mitglieder des Hechaluz bedrohten somit nicht länger die Arbeitsplätze schwedischer Arbeiter, sondern konnten sogar, wenn auch in begrenztem Umfang, Arbeit auch außerhalb der Landwirtschaft suchen – ein Umstand, der kurz zuvor noch nahezu undenkbar war. Den staatlich veränderten Status weg vom „Schüler“ hin zum „Arbeiter“ betrachtete man allerdings im Hechaluz mit gemischten Gefühlen. Die Mitglieder begannen nämlich immer mehr ihre Chaluz-Identität zu verlieren und damit den Aufenthalt im schwedischen Exil nicht länger als Lernprozess zu betrachten. Sie suchten nach neuen Wegen und neuem Sinn für ihre Existenz, denn niemand wusste, wann der Krieg aufhören und der Weg nach Palästina sich wieder öffnen würde. Ein Hechaluz-Mitglied namens Michael Wächter beschrieb den Hintergrund für die veränderte Haltung und Identität der Mitglieder am Jahreswechsel 1942/1943 in einer Rede bei der Eröffnung eines Seminars: Es hat sich herausgestellt, dass die Anstrengungen, die in der Aussicht auf baldige Verwirklichung unserer Vorstellungen, möglich waren, nicht beibehalten werden konnten, als wir erkennen mussten, dass nicht nur die Zukunft, sondern auch die tödliche Einförmigkeit
352
Malin Thor Tureby
des Alltags unser Leben ausfüllte, als wir erkennen mussten, dass unser Leben nicht länger nur eine Vorbereitung auf ein Morgen, sondern auch ein Kampf um die Existenz in der Gegenwart war. Dies bedeutet heute, dass wir uns nicht länger auf ein Leben als Arbeiter in Eretz Israel vorbereiten müssen, sondern dass wir Arbeiter geworden sind mit all den Problemen, die die Tatsache mit sich bringt, dass wir Arbeiter in einem Land sind, in dem wir Fremde sind.¹⁷
Die zuvor starke Identität als Chaluz verlor zusehend an Inhalt. Die Mehrheit der Mitglieder fühlte sich nun nicht länger als Pioniere auf dem Weg ins Heimatland, sondern als Gastarbeiter auf dem schwedischen Arbeitsmarkt. Dennoch versuchte eine kleine, höchst aktive Gruppe die Bewegung weiter zusammenzuhalten und schickte von dem gerade erwähnten Seminar ein Telegramm an die Histradrut in Palästina: „Die Chaluz-Bewegung Schweden schickt herzliche Grüße von einem Seminar als Zeichen unser innigen Verbindung und in der Hoffnung, dass sie sich bald verwirklichen wird“. Es gab also 1943, zehn Jahre nach dem Beginn der Tätigkeit in Schweden, immer noch den Willen, der Histradrut in Schweden zu zeigen, dass Unterricht und Erziehung in Schweden weitergingen und dass der Hechaluz in Palästina immer noch der Ansicht war, er sei auch weiterhin ein Partner der Arbeiterbewegung in Palästina und ein Zweig der Histradrut im Exil. Ausdrücklich wurde betont, dass es Mitglieder in Schweden gab, die sich selbst als Chaluzim bezeichneten und danach strebten, ins historische Heimatland zu gelangen – auch wenn die Zukunft und der Ausgang des Krieges zu diesem Zeitpunkt unsicher waren. (Übersetzung aus dem Schwedischen: Helmut Müssener)
Wächter, Michael: Einleitungsreferat zum „Hechaluz beschwedia“-Seminar, 28. 12. 1942– 7. 1. 1943. März 1943, S. 2. Maschinenschriftlich. Kopie im Besitz der Verfasserin.
Anhang
Literaturverzeichnis Aberstén, Simon: Judisk litteratur på svenska. Judisk tidskrift. [Jüdische Literatur auf Schwedisch]. Stockholm 1933. Agrell, Göran: Samuel A. Fries som bibelforskare, teolog och kyrkoman. [Fries als Bibelforscher, Theologe und Mann der Kirche]. In: Sällskapet. Tro och vetande i 1900-talets Sverige. Hrsg. von Susanne Olsson. Stockholm 2013. S. 74 – 130. Ågren, Maria: Domestic Secrets. Women & Property in Sweden 1600 – 1857. The University of North Carolina Press 2009. Åmark, Klas: Att bo granne med ondskan. Sveriges förhållande till nazismen, Nazityskland och Förintelsen. [Nachbar sein des Bösen. Schwedens Verhältnis zu Nazi-Deutschland und der Shoah]. Stockholm 2011. Améry, Jean: At the Mind’s Limits: Contemplations by a Survivor on Auschwitz and Its Realities. Bloomington (IN) 2009. Anderl, Gabriele: Emigration und Vertreibung. In: Vertreibung und Neubeginn. Israelische Bürger österreichischer Herkunft. Hrsg. von Erika Weinzierl u. Otto D. Kulka. Wien [u. a.] 1992. S. 167 – 337. Andersson, Axel: De landsflyktiga och vi. [Die Landesflüchtigen und wir]. Stockholm 1940. Andersson, Lars M./Carlsson, Carl Henrik (Hrsg.): Från sidensjalar till flyktingmottagning. Judarna i Sverige – en minoritets historia. [Von Seidenschals bis zur Aufnahme von Flüchtlingen. Die Juden in Schweden – die Geschichte einer Minderheit]. Uppsala 2013. Andersson, Lars M.: En jude är en jude är en jude. Representationer av „juden“ i svensk skämtpress omkring 1900 – 1930. [Ein Jude ist ein Jude ist ein Jude. Darstellungen des „Juden“ in den schwedischen satirischen Zeitschriften]. Lund 2000. Åsbrink, Elisabeth: 1947. Stockholm 2016. Åsbrink, Elisabeth: Och i Wienerwald står träden kvar. [Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume]. Stockholm 2011. Åsbrink, Elisabeth: Scheins Houdinitrick misslyckades. [Scheins Houdini-Trick misslang]. Dagens Nyheter, 13. 3. 2017. Åsbrink, Elisabeth: Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume. Ein jüdisches Schicksal in Schweden. Zürich/Hamburg 2014. Auerbach, Hirsch Benjamin: Die Halberstädter Gemeinde 1844 bis zu ihrem Ende. Tel Aviv 1967. Bachner, Henrik: „Judefrågan“. Debatt om antisemitism i 1930-talets Sverige. [„Die Judenfrage“. Die Antisemitismus-Debatte in den 1930er-Jahren in Schweden]. Stockholm 2009. Barbian, Jan-Pieter: Literaturpolitik im „Dritten Reich“. Institutionen, Kompetenzen, Betätigungsfelder. München 1995. Bauer, Yehuda: Jews for sale? Nazi-Jewish Negotiations, 1933 – 1945. London 1994. Bauer, Yehuda: My Brother’s Keeper. A History of the American Jewish Joint Distribution Committee 1929 – 1939. Philadelphia 1974. Baumel-Schwartz, Judith Tydor: Never Look Back: The Jewish Refugee Children in Great Britain, 1938 – 1945. West Lafayette (IN) 2012.
https://doi.org/9783110532289-019
356
Literaturverzeichnis
Bedoire, Fredric: En judisk 1800-tals kultur – mönster för borgerligheten, i Josef Frank – arkitekt och outsider. [Jüdische Kultur des 19. Jahrhunderts – Muster für das Bürgertum. Josef Frank – Architekt und Außenseiter]. Stockholm 2007. Bentwich, Norman: My Seventy-Seven Years. Philadelphia 1961. Bentwich, Norman: The Refugees from Germany 1933 – 1935. London 1936. Bentwich, Norman: They Found Refuge. London 1956. Benz, Wolfgang (Hrsg.): Lexikon des Holocaust. München 2002. Benz, Wolfgang: Die Jüdische Emigration. In: Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933 – 1945. Hrsg. von Claus-Dieter Krohn [u. a.]. Darmstadt 1998. S. 5 – 15. Berendsohn, Walter A.: Nelly Sachs. Einführung in das Werk der Dichterin jüdischen Schicksals. Darmstadt 1974. Berendsohn, Walter Arthur: Die humanistische Front. Einführung in die deutsche Emigranten-Literatur. Zweiter Teil: Vom Kriegsausbruch 1939 bis Ende 1946. Worms 1976 (Deutsches Exil. Eine Schriftenreihe 1972 – 1982). Berg, Gösta/Kempff, Curt/Furtenbach, Börje: Svenska släktkalendern. [Schwedischer Abstammungskalender]. Stockholm 1967. Bergman, Jan: The History of Religions. In: Faculty of Theology at Uppsala University, Acta Universitatis Upsaliensis, Uppsala University 500 Years. Bd. 1. Uppsala 1976. S. 3 – 24. Bergmann, A. [u. a.]: Hachsharah i Danmark 50 år efter. [Hachscharah in Dänemark 50 Jahre danach]. Kopenhagen 1989. Bermann Fischer, Gottfried/Bermann Fischer, Brigitte: Briefwechsel mit Autoren. Frankfurt a. M. 1990. Bermann Fischer, Gottfried: Bedroht – Bewahrt. Der Weg eines Verlegers. Frankfurt a. M. 1971. Bermann Fischer, Gottfried: Wanderer durch ein Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1994. Besserman, Anna: Den lågkyrkliga väckelsens syn på judar och judendomen. In: Judarna i det svenska samhället. Identitet, integration, etniska relationer. Hrsg. von Kerstin Nyström. [Die Sicht der volkskirchlichen Erweckungsbewegung auf Juden und Judentum. In: Juden in der schwedischen Gesellschaft. Identität, Integration, ethnische Beziehungen]. Lund 1991. S. 51 – 78. Bleich, Judith: Jacob Ettlinger, his Life and Works. The Emergence of Modern Orthodoxy in Germany. Phil. Dissertation. New York 1974. Boyarin, Daniel: A travelling Homeland: Babylonian Talmud as Diaspora. Philadelphia 2015. Bredefeldt, Rita: Judiskt liv i Stockholm och Norden. Ekonomi, identitet och assimilering. [Jüdisches Leben in Stockholm und Norden. Wirtschaft, Identität und Assimilierung]. Stockholm 2008. Brinkmann, Reinhold: „Reading a letter“. In: Driven into Paradise: The Musical Migration from Nazi Germany to the United States. Hrsg. von Reinhold Brinkmann u. Christoph Wolff. Berkeley/Los Angeles 1999. S. 3 – 20. Broberg, Gunnar/Runblom, Harald/Tydén, Mattias: Judiskt liv i Norden. [Jüdisches Leben im Norden]. Uppsala 1988. Brohed, Ingmar: Recension av Edvardsson, Kyrka och judendom. [Kirche und Judentum]. Kyrkohistorisk årsskrift 76 (1976), S. 324 – 332. Brohed, Ingmar: Sveriges kyrkohistoria 8, Religionsfrihetens och ekumenikens tid. Kap. 14: Kyrkorna under andra världskriget. [Schwedische Kirchengeschichte, Religionsfreiheit und die Zeit der Ökumene]. Stockholm 2005. Bromé, Janrik: Karlskrona stads historia. Del III 1862 – 1930. Karlskrona 1930.
Literaturverzeichnis
357
Byrne, Peter: The Foundations of the Study of Religion in the British Context. In: Religion in the Making. The Emergence of the Sciences of Religion. Hrsg. von Arie L. Molendijk u. Peter Pels. Studies in the History of Religions LXXX. Leiden 1998. S. 45 – 65. Byström, Mikael/Frohnert, Pär (Hrsg.): Reaching a State of Hope. Refugees, Immigrants and the Swedish Welfare State, 1930 – 2000. Lund 2013. Byström, Mikael: En broder, gäst och parasit. Uppfattningar och föreställningar om utlänningar, flyktingar och flyktingpolitik i svensk offentlig debatt 1942 – 1947. [Ein Bruder, Gast und Parasit. Auffassungen und Vorstellungen von Ausländern, Flüchtlingen und Flüchtlingspolitik in der öffentlichen Debatte Schwedens]. Dissertation. Stockholm 2006. Byström, Mikael: Utmaningen. Den svenska välfärdsstatens möte med flyktingar i andra världskrigets tid. [Die Herausforderung. Die Begegnung des schwedischen Wohlfahrtstaates mit Flüchtlingen im Zweiten Weltkrieg]. Lund 2012. Børresen, Kari Elisabeth: Religious Feminism and Catholic Theology. In: The Relevance of Theology. Nathan Söderblom and the Development of an Academic Discipline. Hrsg. von Carl Reinhold Bråkenhielm u. Gunhild Winqvist Hollman. Uppsala studies in faiths and ideologies 11. Uppsala 2002. S. 143 – 156. Carlsson, Carl Henrik: Att få bli en riktig svensk. Invandringspolitik, utlänningskontroll och medborgarskap kring tiden för första världskriget. In: Historielärarnas förenings årsskrift. Hrsg. von Bengt Nilson. [Ein richtiger Schwede werden. Einwanderungspolitik, Ausländerkontrolle und Staatsangehörigkeit in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg]. Stockholm 2014. S. 109 – 128. Carlsson, Carl Henrik: J Birger Pernow. In: Svenskt biografiskt lexikon, Band 29. Stockholm 1995 – 1997. Carlsson, Carl Henrik: Judisk invandring från Aaron Isaac till idag. In: Judarna i Sverige – en minoritets historia. Fyra föreläsningar. Hrsg. von Helmut Müssener. [Jüdische Einwanderung von Aaron Isaac bis in unsere Zeit. In: Die Juden in Schweden – die Geschichte einer Minorität. Vier Vorlesungen]. Uppsala 2011. S. 17 – 54. Carlsson, Carl Henrik: Judiska invandrare i Sverige under första världskriget. Fyra fallstudier. In: Första världskriget i svenska arkiv. Årsbok för Riksarkivet och Landsarkiven. Hrsg. von Carl Henrik Carlsson [Jüdische Einwanderer nach Schweden während des Ersten Weltkriegs. Vier Fallstudien. In: Der Erste Weltkrieg in schwedischen Archiven]. Stockholm 2014. S. 152 – 177. Carlsson, Carl Henrik: Medborgarskap och diskriminering. Östjudar och andra invandrare i Sverige 1860 – 1920. [Staatsangehörigkeit und Diskriminierung. Ostjuden und andere Einwanderer nach Schweden]. Dissertation. Uppsala 2004. Carmesund, Ulf: Refugees or Returnees. European Jews, Palestinian Arabs and the Swedish Theological Institute in Jerusalem around 1948. Dissertation. Uppsala 2010. Carsten, Francis Ludwig: Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler. München 1977. Celan, Paul/Sachs, Nelly: Briefwechsel, hrsg. von Barbara Wiedemann. Frankfurt 1996. Cesarani, David/Romain, Gemma: Jews and Port Cities 1590 – 1990. Commerce, Community and Cosmopolitanism. London 2006. Clark, Katerina: Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitanism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931 – 1941. Cambridge/London 2011. Cohen, Hermann: Judentum und Deutschtum. Gießen 1915.
358
Literaturverzeichnis
Curio, Claudia: Verfolgung, Flucht, Rettung. Die Kindertransporte 1938/39 nach Großbritannien. Berlin 2006. (Reihe Dokumente, Texte, Materialien, hrsg. v. Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin 59). Dahlstedt, Sten: Fakta & förnuft. Svensk akademisk musikforskning 1909 – 1941. Göteborg 1986. Dahlstedt, Sten: Individ och innebörd. Forskningsinriktningar och vetenskapsteoretiska problem inom svensk akademisk musikforskning 1942 – 1961. [Individuum und tiefere Bedeutung. Forschungsrichtungen und wissenschaftstheoretische Probleme in der akademischen schwedischen Musikforschung]. Göteborg 1999. Dahm, Volker: Das jüdische Buch im Dritten Reich. München, 2. überarbeitete Aufl. 1993. Dencik, Lars: The Dialectics of Diaspora in Contemporary Modernity. In: Reconsidering Israel-Diaspora Relations. Hrsg. von Eliezer Ben-Rafael, Judit Bokser Liwerant u. Yosef Gorny. Leiden 2014. Deutsch, Kurt Egon: Livets rikedom genom Guds nåd [Der Reichtum des Lebens durch Gottes Gnade]. In: Svenska Israelsmissionen 90 år!. Hrsg. von Göte Hedenquist u. Johannes Jellinek. Stockholm 1965. S. 33 – 37. Dinesen, Ruth: Nelly Sachs. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 1994. Dubin, Lois C.: ‘Wings on their feet … and wings on their head’. Reflection on the Study of Port Jews. London 2006. Dwork, Debórah: Children with a Star: Jewish Youth in Nazi Europe. New Haven (CT)/London 1991. Dünzelmann, Anne E.: Stockholmer Spaziergänge. Auf den Spuren deutscher Exilierter 1933 – 1945. Nordersted 2016. Dähnert, Gudrun: Wie Nelly Sachs 1940 aus Deutschland entkam. In: Sinn und Form 2 (2009). S. 226 – 275. Edvardsson, Lars: Kyrka och judendom. Svensk judemission med särskild hänsyn till Svenska Israelsmissionens verksamhet 1875 – 1975. [Kirche und Judentum. Schwedische Judenmission unter besonderer Berücksichtigung der Tätigkeit der Schwedischen Israelmission 1875 – 1975]. Dissertation. Lund 1976. Ehnwall, Annika: Det hinner bli krångligt på 200 år. [In 200 Jahren wird so manches kompliziert]. Museibladet 4 (2015). S. 13 – 17. Einhorn, Lena: Handelsresande i liv. Stockholm 1999. [dt. 2002 Menschenhandel unterm Hakenkreuz]. Einhorn, Lena: Handelsresande i liv: om vilja och vankelmod i krigets skugga. [Ein Geschäftsreisender in Menschenleben. Über Wille und Wankelmut im Schatten des Krieges]. Stockholm 1999. Einhorn, Lena: Menschenhandel unterm Hakenkreuz. Stuttgart 2002. Eloni, Yehuda: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914. Gerlingen 1987. Endelman, Todd M.: Radical assimilation in English Jewish History, 1656 – 1945. Bloomington 1990. Endelman, Todd M.: The Jews of Britain 1656 to 2000. Berkley 2002. Enevig, Anders: Unge jøders flugt 1939 – 1945. [Die Flucht junger Juden 1939 – 1945]. Viborg 2008. Engelbertsson, Bob: Arkivarbetare vid Uppsala universitet 1934 – 1980. En studie av en arbetskraftsresurs ur ett systemperspektiv. [Archivarbeiter an der Universität Uppsala. Eine Studie über Arbeitsmarktquelle aus einer Systemperspektive]. Uppsala 1997.
Literaturverzeichnis
359
Ericson, Paul: Sydöstra Sveriges Dagblad under 50år. [50 Jahre Sydöstra Sveriges Dagblad]. Karlskrona 1954. Ettlinger, Kaj: Introduktion till Jacob Ettlingers arkiv. [Einführung in Jacob Ettlingers Archiv]. Opublicerat manuskript, daterat oktober 1997, i Jacob Ettlingers arkiv 1916 – 1952. Riksarkivet Marieberg. Faber, Richard: Deutschbewusstes Judentum und jüdisch-bewusstes Deutschtum. Der historische und politische Theologe Hans-Joachim Schoeps. Würzburg 2008. Fähnle, Johannes: Krankheit und Tod im deutschsprachigen Exil des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2012. Ferm, Anders: Den tredje mannen. [Der dritte Mann]. In: Citizen Schein. Hrsg. von Lars Ilshammar [u. a.]. Stockholm 2010. Feuerring, Isaak: Nüchterner Idealismus. In: Herzl-Bund-Blätter 35 (1917). S. 390−395. Feuk, Lars: Historiska Skizzer och Silhouetter från Carlskrona af Larifari. [Historische Skizzen und Silhouetten von Carlskrona af Larifari] Christianstad 1883. Fioretos, Aris: Flucht und Verwandlung. Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm. Berlin 2010. Fornberg, Tord: The Swedish Theological Institute in Jerusalem: Turbulent Times and Changing Emphases. In: Swedish Missiological Themes 91, No. 3 (1991), S. 417 – 428. Fritsch-Vivié, Gabriele: Nelly Sachs. Reinbek 2010. Fritz, Sven: Louis Fraenkel 1851 – 1911. Bankman och finansman. [Banker und Finanzmann]. Stockholm 1994. Frohnert, Pär: „De behöva en fast hand över sig“ – Missionsförbundet, Israelmissionen och de judiska flyktingarna 1939 – 1945 [„Sie müssen eine feste Hand spüren“ – Der Missionsverband, die Israelsmission und die jüdischen Flüchtlinge 1939 – 1945]. In: En problematisk relation? Flyktingpolitik och judiska flyktingar i Sverige 1920 – 1950. Eine problematische Beziehung? Flüchtlingspolitik und jüdische Flüchtlinge in Schweden 1920 – 1950]. Hrsg. von Lars M. Andersson u. Karin Kvist Geverts. Stockholm 2008. S. 227 – 248. Fry, Helen: Port Jews: Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550 – 1950. European Judaism 36.2 (2002). S. 151 – 152. Glete, Jan: Regioner, nätverk, storföretag och grupper – något om mesonivån i finans- och företagshistorisk forskning. [Regionen, Netzwerke, Großunternehmen und Gruppen – etwas zur Regionalebene in finanz- und wirtschaftsgeschichtlicher Forschung]. In: Aspekter på Näringslivets historia. Hrsg. von Hans Sjögren. Stockholm 1995. S. 81 – 98. Glück, David/Neuman, Aron/Stare, Jacqueline (Hrsg.): Det judiska Stockholm. [Das jüdische Stockholm]. Stockholm 1998. Glück, Emil: På väg till Israel. Hachscharah i Sverige 1933 – 1948. Transmigration av judisk ungdom från Nazi-Tysland för utbildning i lantbruk m. m. och vidare vandring till Palestina. [Auf dem Weg nach Israel. Hachscharah in Schweden 1933 – 1948. Transmigration jüdischer Jugendlicher aus Nazi-Deutschland zu landwirtschaftlicher Ausbildung und anderem mehr sowie ihre Weiterwanderung nach Palästina 1933 – 1948]. Stockholm 1985. Goehr, Lydia: Music and Musicians in Exile. The Romantic Legacy of a Double Life. In: Driven into Paradise: The Musical Migration from Nazi Germany to the United States. Hrsg. von Reinhold Brinkmann u. Christoph Wolff. Berkeley/Los Angeles 1999. S. 66 – 91.
360
Literaturverzeichnis
Goldstein, Walter: Chronik des Herzl-Bundes 1912−1962. Die Geschichte einer Zions-Sehnsucht. Hrsg. vom Präsidium des Herzl-Bundes. Tel Aviv 1962. Gottlieb, Amy Zahl: Men of Vision: Anglo-Jewry’s Aid to Victims of the Nazi Regime, 1933 – 1945. London 1998. Grass, Martin: Den tyskspråkiga exilen i ARAB:s magasin. Arbetarrörelsens arkiv. [Das deutschsprachige Exil im Magazin der Arbeiterbewegung]. Stockholm 2012. Greider, Göran: Rudolf Meidner – skärvor ur ett nittonhundratalsliv. [Scherben aus einem Leben im Zwanzigsten Jahrhundert]. Stockholm 1997. Grunwald, Max: Hamburgs deutsche Juden bis zur Auflösung der Dreigemeinden 1811. Hamburg 1904. Grünfeld, Nina F./Holm, Espen: Ninas barn. Fortellingen om det jødiske barnehjemmet i Oslo. [Ninas Kinder. Bericht über das Jüdische Kinderheim in Oslo]. Oslo 2015. Göransson, Anita: Kön, släkt och ägande: borgerliga maktstrategier 1800 – 1850. Historisk Tidskrift. [Geschlecht, Familie und Eigentum. Bürgerliche Machtstrategien]. Stockholm 1990. Haestrup, Jørgen: Dengang i Danmark. Jødisk ungdom på traek 1932 – 1945. [Damals in Dänemark. Jüdische Jugend auf Fahrt 1932 – 1945]. Odense 1982. Hæstrup, Jørgen: Passage to Palestine. Young Jews in Denmark 1932 – 45. Odense 1983. Hall, Murray G.: Der Paul Zsolnay Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. Tübingen 1994. Hall, Murray G.: Österreichische Verlagsgeschichte 1918 – 1938. Bd. 2: Belletristische Verlage der Ersten Republik. Wien [u. a.] 1985. Hall, Patrik: Den svenskaste historien – Nationalism i Sverige under sex sekler. Oskarshamn 2000. Hammar, Tomas: Sverige åt svenskarna: invandringspolitik, utlänningskontroll och asylrätt 1900 – 1932. [Schweden den Schweden: Einwanderungspolitik, Ausländerkontrolle und Asylrecht 1900 – 1932]. Dissertation. Stockholm 1964. Hammarlund, Anders: En bön för moderniteten: kultur och politik i Abraham Baers värld. [Ein Gebet für die Modernität. Kultur und Politik in Abraham Baers Welt]. Stockholm 2013. Hammarlund, Anders: Människor bortom lustprincipen. Mähriska öden. [Menschen hinter dem Lustprinzip. Mährische Schicksale]. Stockholm 2006. Hammarström, Per: Nationens styvbarn. [Die Stiefkinder der Nation]. Falun 2007. Hammer-Schenk, Harold: Baugeschichte und Architektur der Neuen Synagoge. In „Tuet auf die Pforten“. Die Neue Synagoge 1866 – 1995. Hrsg. von Hermann Simon u. Jochen Boberg. Berlin 1995. Hansen, Lars-Erik: Önskas: frisk 3-års arisk flicka: flyktinghjälp 1938 – 1948 speglat i ett personarkiv. [Gewünscht: Gesundes 3-jähriges arisches Mädchen: Flüchtlingshilfe 1938 – 1948 im Spiegel eines Personenarchivs]. In: Krig och fred i källorna. Hrsg. von Kerstin Abukhanfusa. Stockholm 1998. S. 231 – 237. Hansson, Svante: Flykt och överlevnad – flyktingverksamhet i Mosaiska Församlingen 1933 – 1950. [Flucht und Überleben. – Die Flüchtlingshilfe der Mosaischen Gemeinde 1933 – 1950]. Stockholm 2004. Hedenquist, Göte: Undan förintelsen. Svensk hjälpverksamhet i Wien under Hitlertiden. [Der Shoah entkommen. Schwedische Hilfstätigkeit im Wien der Hitler-Zeit]. Älvsjö 1983. Heigl-Evers, Annaliese/Boothe, Brigitte: Der Körper als Bedeutungslandschaft. Die unbewusste Organisation der weiblichen Geschlechtsidentität. 2. korr. Aufl. Bern [u. a.] 1997.
Literaturverzeichnis
361
Heister, Hanns-Werner [u. a.] (Hrsg.): Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die Internationale Musikkultur. Frankfurt a. M. 1993. Henningsen, Bernd [u. a.] (Hrsg.): Wahlverwandtschaft. Skandinavien und Deutschland 1800 – 1914. Stockholm/Berlin 1997. Herzberg, Arno: A Town in Eastern Germany. The Story of Filehne – A Memoir. In: Leo Baeck Institute Year Book 1997. S. 327 – 336. Herzl, Theodor: Protestrabbiner. In: Die Welt, 16. 7. 1897, S. 1−2. Hirsch, Salli: בציונות ובכלכלה. In: Isaak Feuerring. 26. Dezember 1889−26. Dezember 1937. Tel Aviv 1938. S. 35−36. Hirschman, Albert O.: Sorti eller protest. En fråga om lojaliteter. [Abschied oder Protest. Eine Frage der Loyalität]. Lund 2008. Hoffmann, Ludwig/Trepte, Curt: Kunst und Literatur im skandinavischen Exil. In: Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945. Hrsg. von Ludwig Hoffmann. Bd. 5: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina. Leipzig 1980. S. 365 – 506. Hughes, Stuart H.: The Sea Change. The Migration of Social Thought, 1930 – 1965. New York 1975. Jacobowsky, C. Vilhelm: Nyare svensk-judisk litteratur. [Neuere schwedisch-jüdische Literatur]. Judisk krönika. 1952, II. Jacobowsky, C. Vilhelm: Svenskt-Judiskt Herrgårdsliv. [Schwedisch-jüdisches Leben auf dem Herrenhof]. Stockholm. 1967. Jacoby, Ruth/Schikorski, Felix (Hrsg.): Mensch – Land – Gerechtigkeit. Die Erinnerungen Erich Helmuth Jacobys (1903 – 1979) „Ein Leben im Spiegel der Zeit“. (= Jüdische Memoiren 19). Berlin 2013. Jarlert, Anders: „Våra pinade bröder av Israels stam“. Till frågan om Svenska kyrkan och förföljelsen av de skandinaviska judarna åren 1942 – 43. [Unsere gepeinigten Brüder von Israels Stamm. Zur Frage der Schwedischen Kirche und der Verfolgung der skandinavischen Juden 1942 – 43]. Tro och Tanke, Supplement 5:93. Uppsala 1993. Karády, Victor: The Jews of Europe in the Modern Era – A Socio-historical Outline. Budapest 2004. Kaufmann, Hans: Livet på kibbutz Hälsinggården. [Das Leben im Kibbutz Hälsinggård]. In: Kibbutzer i Sverige. Judiska lantbrukskollektiv i Sverige 1936 – 1946. Hrsg. von Malin Thor Tureby. Stockholm 2012. S. 11 – 42. Kebir, Sabine: Helene Weigel. Abgestiegen in den Ruhm. Berlin 2000. Kerr, Philip: The Ending of Armageddon. Oxford 1939. Klautke, Egbert: The Mind of the Nation: The debate about Völkerpsychologie, 1851 – 1900. In: Central Europe 8.1 (2010). S. 1 – 19. Klein, Ernst: Till 100-årsminnet av Gottlieb Kleins födelse. [Zum 100. Geburtstag von Gottlieb Klein]. In: Mosaiska församlingens församlingsblad 1 (1952). Klein, Gottlieb: Den nya teologiska professuren i Uppsala. [Die neue theologische Professur in Uppsala]. In: Svenska Dagbladet, 20. 1. 1910. Klein, Gottlieb: Sem och Japhet. Predikan hållen i Stockholms synagoga den 8 december 1894 till firandet av Gustaf II Adolfs 300-åriga minne. [Sem und Japhet. Eine Predigt anlässlich des 300. Geburtstages Gustaf Adolfs II., gehalten am 8. Dezember 1894 in der Synagoge zu Stockholm. Stockholm 1894.
362
Literaturverzeichnis
Klein, Helle: Gottlieb Klein – rabbinen, forskaren och folkbildaren. [Gottlieb Klein – Rabbiner, Wissenschaftler und Volksbildner]. In: Sällskapet. Tro och vetande i 1900-talets Sverige. Hrsg. von Susanne Olsson. Stockholm 2013. S. 131 – 165. Koblik, Steven: „Om vi teg, skulle stenarna ropa“. Sverige och judeproblemet 1933 – 1945. [„Wenn auch diese schwiegen, so würden doch die Steine rufen“. Schweden und das Judenproblem 1933 – 1945]. Stockholm 1987. Koblik, Steven: The Stones Cry out. Sweden’s Response to the Persecution of the Jews. 1933 – 1945. New York 1988. Koeb, Daisy: Liebste Mama. Die Geschichte einer Familie. Berlin 2011. Komissar, Vera: Nådetid. Norske jøder på flukt 1942. [Gnadenfrist. Norwegische Juden auf der Flucht 1942]. Oslo 1992. Krausse, Anna-Carola: Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit. Berlin 2003. Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. 5. Aufl. München 2006. Kröger, Marianne: Kindheit im Exil. Ein Forschungsdesiderat. In: Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration. Hrsg. von Wolfgang Benz [u. a.]. Frankfurt a. M. 2003. S. 17 – 33. Kumar, Victoria: Land der Verheißung – Ort der Zuflucht. Jüdische Emigration und nationalsozialistische Vertreibung aus Österreich nach Palästina 1920 bis 1945. Innsbruck 2016. Kushner, Tony: The Holocaust and the Liberal Imagination: A Social and Cultural History. Oxford 1994. Kvist Geverts, Karin: Ett främmande element i nationen. Svensk flyktingpolitik och de judiska flyktingarna 1938 – 1944. [Ein fremdes Element in der Nation. Schwedische Flüchtlingspolitik und die jüdischen Flüchtlinge 1938 – 1944]. Uppsala 2008. Kvist Geverts, Karin: A foreign element within the Nation: Swedish refugee policy and Jewish refugees in an International perspective 1938 – 1944. In: Reaching a State of Hope. Refugees, Immigrants and the Swedish Welfare State, 1930 – 2000. Hrsg. von Mikael Byström u. Pär Fronert. Lund 2013. Lamb Crawford, Dorothy: A Windfall of Musicians. Hitler’s Émigrés and Exiles in Southern California. New Haven/London 2009. Landshoff, Fritz H.: Amsterdam, Keizersgracht 333, Querido Verlag. Erinnerungen eines Verlegers. Berlin 2001. Larsmo, Ola: Djävulssonaten. Ur det svenska hatets historia. [Die Teufelssonate. Aus der Geschichte des schwedischen Hasses]. Stockholm 2007. Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert. Göttingen 2004. Lausus, Nicola Isabelle: Die Codierung des Körpers. Essstörungen – Anorexia nervosa – im soziokulturellen Kontext der modernen Wohlstandsgesellschaft. Konstanz 2002. Lazarus, Moritz: Aus meiner Jugend. Autobiographie von M. Lazarus. Mit Vorwort und Anhang hrsg. von Nahida Lazarus. Frankfurt a. M. 1913. Lazarus, Moritz: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft. Neu hrsg. von Klaus Christian Köhnke. Hamburg 2003. Lazarus, Moritz: Was heisst und zu welchem Ende studiert man jüdische Geschichte?. Populärwissenschaftliche Vorträge über Juden und Judentum. Leipzig 1900. Leo, Annette: Leben als Balance-Akt. Wolfgang Steinitz. Kommunist, Jude, Wissenschaftler. Berlin 2005.
Literaturverzeichnis
363
Leshem, Perez: Straße zur Rettung. 1933 – 1939 aus Deutschland vertrieben – bereitet sich jüdische Jugend auf Palästina vor. Jerusalem 1973. Levine, Paul A.: From Indifference to Activism. Swedish Diplomacy and the Holocaust 1938 – 1944. Uppsala 1996. Lewis, Jill: Fascism and the Working Class in Austria 1918 – 1934. New York/Oxford 1991. Lindberg, Hans: Svensk flyktingpolitik under internationellt tryck 1936 – 1941. [Schwedische Flüchtlingspolitik unter internationalem Druck]. Dissertation. Stockholm 1973. Lindeskog, Gösta: Hans-Joachim Schoeps Studiosus Upsaliensis. In: Wider die Ächtung der Geschichte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Joachim Schoeps, hrsg. von Kurt Töpner. München [u. a.] 1969. S. 15 ff. Lindgren, Håkan: Jacob Wallenberg 1892 – 1980. Stockholm 2007. Lipp, Gerhard: Das musikanthropologische Denken von Viktor Zuckerkandl. Tutzing 2002. Lomfors, Ingrid: Förlorad barndom – återvunnet liv. De judiska flyktingbarnen från Nazityskland. [Verlorene Kindheit – wiedergewonnenes Leben. Die jüdischen Flüchtlingskinder aus Nazideutschland]. Dissertation. Göteborg 1996. Lorenz, Einhart/Misgeld, Klaus/Müssener, Helmut/Petersen, Hans Uwe (Hrsg.): Ein sehr trübes Kapitel. Hitlerflüchtlinge im nordeuropäischen Exil 1933 bis 1950. Hamburg 1998. Lorenz, Einhart: Exil in Norwegen. Lebensbedingungen und Arbeit deutschsprachiger Flüchtlinge 1933 – 1943. Baden-Baden 1992. Lund, Sigrid Helliesen: Alltid underveis. [Immer unterwegs]. Oslo 1981. Lybeck, Otto: Svenska flottans historia. 3 Bde. Malmö 1945. Maier-Wolthausen, Clemens: „Es liegt mir daran daß Fräulein Nelly Sachs Aufnahme in Schweden findet.“ Der Kampf um die Rettung der Nelly Sachs. In: Skandinavien als Zuflucht für jüdische Intellektuelle 1933 – 1945. Hrsg. von Izabela A. Dahl u. Jorunn Sem Fure. Berlin 2014. S. 158 – 185. Mann, Thomas: Briefwechsel mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer 1932 bis 1955, hrsg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1975. Mark, Kerstin: Gömda och glömda kvinnor. [Versteckte und vergessene Frauen]. Göteborg 2009. Medawar, Jean/Pyke, David: Hitler’s Gift. The True Story of the Scientists Expelled by the Nazi Regime. Melbourne 2012. Mehmel, Astrid: „Ich richte nun an Sie die große Bitte, eine zweckdienliche Eingabe in dieser Sache zu machen …“. Zwei Briefe von 1942 an Sven Hedin von Hans-Joachim Schoeps. In: ZRGG 1 (2000). S. 38 – 46. Michaelis, Dolf/Michaelis-Stern, Eva: Emissaries in Wartime London. 1938 – 1945. Jerusalem 1989. Molendijk, Arie L.: Introduction. In: Religion in the Making. The Emergence of the Sciences of Religion. Hrsg. von Arie L. Molendijk u. Peter Pels. Studies in the History of Religions LXXX. Leiden 1998. S. 6. Montgomery, Ingun: „Den svenska linjen är den kristna linjen.“ Kyrkan i Sverige under kriget. [„Die schwedische Linie ist die christliche Linie“. Die Kirche in Schweden während des Krieges]. In: Kirken, krisen og krigen. Hrsg. von Stein Ugelvik Larsen u. Ingun Montgomery. Bergen [u. a.] 1982. S. 353 – 364. Müller, Max: Chips from a German Workshop. Bd. 1. London 1867. Müssener, Helmut: Den tysk-judiska emigrationen till Sverige efter 1933. [Die deutsch-jüdische Emigration nach 1933 nach Schweden]. In: Nordisk Judaistik 1 (1975). S. 27 – 40.
364
Literaturverzeichnis
Müssener, Helmut: Deutschsprachige Theater im skandinavischen Exil. In: Handbuch des deutschsprachigen Exiltheaters 1933 – 1945, Bd. 1: Verfolgung und Exil deutschsprachiger Theaterkünstler. Hrsg. von Frithjof Trapp [u. a.]. Mü nchen 1999. S. 319 – 339. Müssener, Helmut: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933. Stockholm/München 1974. Müssener, Helmut: Von Ilse Aichinger und Peter Altenberg bis Franz Zistler und Stefan Zweig. Österreichische Belletristik in schwedischer Übersetzung 1870 – 1933. Bibliographie (I) und Kommentar (II). Roskilde 2001. Narrowe, Morton H.: Zionism in Sweden. Its Beginnings until the End of World War I. Dissertation. New York 1990. Nawrocka, Irene (Hrsg.): Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Wien 2013. Nawrocka, Irene: Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. Der Bermann-Fischer Verlag im Exil (1933 – 1950). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 53 (2000), S. 1 – 209. http://www.degruyter.com.degruyterebooks.han.onb.ac.at/viewbooktoc/ product/28600. Near, Henry: The Kibbutz Movement. A History. Bd. I.: Origins and Growth, 1909 – 1939. Oxford 1992. Niewyck, Donald L.: The Jews in Weimar Germany. Brunswick (NJ) 2001. Nilsson, Staffan: Kibbutz Hälsinggården i Falun 1939 – 1946. [Der Kibbutz Hälsinggården 1939 – 1946 in Falun]. In: Kibbutzer i Sverige. Judiska lantbrukskollektiv i Sverige 1936 – 1946. Hrsg. von Malin Thor Tureby. Stockholm 2012. S. 44 – 65. Norberg, Erik: Östersjön som handelsområde. In: Stormakten som sjömakt. [Die Großmacht als Seemacht]. Hrsg. von Björn Asker. Lund 2004. S. 21 – 25. Nordesjö, Hans: Jacobowsky-samlingen på Carolina Rediviva: ett bibliotek för judisk kultur och historia. [Die Sammlung Jakobowsky in der Carolina Rediviva: eine Bibliothek für jüdische Kultur und Geschichte]. In: Multiethnica 16/17 (1996). S. 40 – 44. Nordlund, Sven: Belastung oder Gewinn. In: Ein sehr trübes Kapitel? Hitlerflüchtlinge im nordeuropäischen Exil 1933 bis 1950. Hrsg. von Einhart Lorenz [u. a.]. Hamburg 1998. S. 87 – 113. Nyman, Magnus: Press mot friheten: Opinionsbildning i de svenska tidningarna och åsiktsbrytningar om minoriteter 1772 – 1786. [Freiheit unter Druck. Meinungsbildung in schwedischen Zeitungen und Meinungsverschiedenheiten zu Minderheiten]. Acta Universitatis Upsaliensis. Uppsala 1988. Nyström, Kerstin (Hrsg.): Judarna i det svenska samhället. Identitet, integration, etniska relationer. [Juden in der schwedischen Gesellschaft. Identität, Integration, ethnische Beziehungen]. Lund 1991. Offerman, Ove: Lyckeby i svunnen tid. Några kapitel ur ett gammalt samhälles historia. [Lyckeby in verschwundener Zeit. Einige Kapitel aus der alten Geschichte eines Ortes]. Karlskrona 1953. Ohlsson, Per T.: En gåva till Sverige. [Ein Geschenk für Schweden]. In: Sydsvenska Dagbladet, 7. 3. 2010. Ohlsson, Per T.: Konservkungen Herbert Felix – ett flyktingöde i 1900-talets Europa. [Der Konservenkönig Herbert Felix – ein Flüchtlingsschicksal im Europa des 20. Jahrhunderts]. Bromma 2015.
Literaturverzeichnis
365
Olsson, Anders: Nelly Sachs and Lenke Rothmann: Fragments. In: Sternverdunkelung: Lotte Laserstein och Nelly Sachs – Life in Exile. Ausstellung im Jüdischen Museum Stockholm, 17. April–31. August 2005. Stockholm 2005. S. 13 – 20. Olsson, Susanne (Hrsg.): Sällskapet. Tro och vetande i 1900-talets Sverige. [Gesellschaft, Glaube und Wissen im 20. Jahrhundert in Schweden]. Stockholm 2013. Oppenheim, Israel: The struggle of Jewish youth for productivization. The Zionist youth movement in Poland. New York 1989. Oppenhejm, Mélanie: Menneskefælden. Om livet i KZ-lejren Theresienstadt. [Die Menschenfalle. Über das Leben im KZ Theresienstadt]. København 1981. Östling, Johan: Nazismens sensmoral. Svenska erfarenheter i andra världskrigets efterdyning. [Die Lehre aus dem Nazismus. Schwedische Erfahrungen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg]. Stockholm 2008. Palmstierna-Weiss, Gunilla: Minnets spelplats. [Spielplatz des Gedächtnisses]. Stockholm 2013. Pammer, Thomas: „Barnen som var räddning värda?“ [Kinder, die es sich lohnte zu retten?] Die Schwedische Israelmission in Wien 1938 – 1941, ihre Kindertransporte und der literarische und wissenschaftliche Diskurs. Diplomarbeit, Mag.phil. Universität Wien 2012. Ungedruckt. http://othes.univie.ac.at/23543. Pammer, Thomas: Die Schwedische Israelmission und ihre Kindertransporte. In: Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Hrsg. von Irene Nawrocka. Wien 2013. S. 137 – 148. Payne, Stanley G.: A History of Fascism 1914 – 1945. Madison 1995. Pedersen, Daniel: Förvandlingen i flykten – Nelly Sachs i Sverige. [Die Verwandlung in der Flucht. Nelly Sachs in Schweden]. Stockholm universitet, 4. Mai 2016. (www.su.se.). Pedersen, Daniel: Tårarnas poetik: Nelly Sachs författarskap fram till och med „In den Wohnungen des Todes“. [Poetik der Tränen. Das Werk der Nelly Sachs bis zu der Sammlung „In den Wohnungen des Todes“]. Stockholm 2016. Pedersen, Stefi: Psykoanalyse i vår tid. Tillitskrise og fremmedgjøring. [Psychoanalyse in unserer Zeit. Vertrauenskrise und Entfremdung]. Oslo 1970. Pernow, Birger (Hrsg.): Kan Judafolket räddas? [Kann das Judenvolk gerettet werden?]. Stockholm 1943. Pernow, Birger: 70 år för Israel. Svenska Israelsmissionen 1875 – 1945. [70 Jahre für Israel]. Stockholm 1945. Perwe, Johan: Bombprästen. Erik Perwe på uppdrag i Berlin under andra världskriget. [Der Bombenpfarrer. Erik Perwe während des Zweiten Weltkriegs im Auftrag in Berlin]. Stockholm 2006. Peters, Jan (Hrsg.): Zweimal Stockholm–Berlin 1946. Briefe nach der Rückkehr: Jürgen Peters und Wolfgang Steinitz. Leipzig 1989. Peters, Jan: Die politischen Voraussetzungen des Exils in Skandinavien und dessen besondere Züge. In: Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945. Hrsg. von Ludwig Hoffmann. Bd. 5: Exil in der Tschechoslowakei, in Großbritannien, Skandinavien und in Palästina. Leipzig 1980. S. 309 – 364. Peters, Jan: Exilland Schweden. Deutsche und schwedische Antifaschisten 1933 – 1945. Berlin (DDR) 1984. Peters, Jan: Menschen und Möglichkeiten. Ein Historikerleben in der DDR und anderen Traumländern. Stuttgart 2011.
366
Literaturverzeichnis
Peters, Jan: Wolfgang Steinitz’ Weg als politischer Wissenschaftler. In: Wolfgang Steinitz – Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. Hrsg. von Klaus Steinitz. Berlin 2006. S. 9 – 62. Pfäfflin, Friedrich/Kussmaul, Ingrid: S. Fischer, Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil. 2. durchgesehene Aufl., Marbach 1986. Pinkus, Benjamin: Soviet Campaigns Against „Jewish Nationalism“ and „Cosmopolitism“, 1946 – 1953. In: Soviet-Jewish Affairs 2 (1974). S. 53 – 72. Post, Ingrid Marie von: Gottlieb Klein. In: Svenskt biografiskt lexikon. Bd. 21. Stockholm 1975 – 1977. S. 261. Raab Hansen, Jutta: NS-verfolgte Musiker in England. Spuren deutscher und österreichischer Flüchtlinge in der britischen Musikkultur. Hamburg 1996. Rabinovici, Doron: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938 – 1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt a. M. 2000. Riedel, Georg: En bunt visor för Pippi, Emil och andra. [Ein Liederstrauß für Pippi, Michel und andere]. Stockholm 1978. Rohlén-Wohlgemuth, Hilde: Svensk-judisk bibliografi 1. Facklitteratur 1951 – 1976, skönlitteratur 1900 – 1976. Stockholm 1977. Rohlén-Wohlgemuth, Hilde: Svensk-judisk bibliografi 1987 – 1988. Bilaga [Särtryck] till Jud. Krönika. 6/89. [Anlage. Sonderdruck]. Rohlén-Wohlgemuth, Hilde: Svensk-judisk litteratur 1775 – 1991: en litteraturhistorisk översikt. Särtryck ur: Nordisk Judaistik 12,2 (1991) [Eine literaturgeschichtliche Übersicht. Sonderdruck]. Rohlén-Wohlgemuth, Hilde: Svensk-judisk litteratur 1775 – 1994: en litteraturhistorisk översikt. Stockholm 1995. Rosengren, Henrik: Från tysk höst till tysk vår. Fem musikpersonligheter i svensk exil i skuggan av nazismen och kalla kriget. Lund 2013. [dt. Fünf Musiker im Schwedischen Exil. Nazismus – Kalter Krieg – Demokratie. Neumünster 2016]. Roth, Walter: Nuechterner Idealismus. In: Isaak Feuerring. 26. Dezember 1889−26. Dezember 1937. Tel Aviv 1938. S. 18−26. Rudberg, Pontus: The Swedish Jews and the victims of Nazi terror, 1933 – 1945. Uppsala 2015. Runblom, Harald: Chapter 4. Sweden and the Holocaust from an international perspective. In: Sweden’s relations with Nazism, Nazi Germany and the Holocaust. A survey of research. Hrsg. Von Stig Ekman, Klas Åmark u. John Toler. Stockholm 2003. S. 197 – 249. Ruppin, Arthur: Memoirs, Diaries, Letters. New York 1971. Rünitz, Lone: Diskret ophold. Jødiske flygtningebørn under besættelsen. En indvandrerhistorie. [Diskreter Aufenthalt. Jüdische Flüchtlingskinder während der Besatzung. Eine Einwanderergeschichte]. Odense 2010. Sachs, Nelly: Chelion. Eine Kindheitsgeschichte. Unveröffentl. Typoskript. Kungl. Biblioteket Stockholm: L 90:5:12:3 (Abschrift des Originals). Sachs, Nelly: Fahrt ins Staublose. Frankfurt a. M 1961. Sachs, Nelly: Kommt einer von ferne. In: Sachs, Nelly: Werke, Bd. II: Gedichte 1951 – 1970. Hrsg. von Ariane Huml u. Matthias Weichelt. Berlin 2010. Sachs, Nelly: Miniaturen um Schloss Gripsholm. Typoskript. Kungl. Biblioteket Stockholm, L 90:5:11:3. Sachs, Nelly: Prosa und Ü bertragungen. Hrsg. von Aris Fioretos. Berlin 2010.
Literaturverzeichnis
367
Sanner, Inga: Sekelskiftets Stockholm. [Das Stockholm der Jahrhundertwende]. In: Sällskapet. Tro och vetande i 1900-talets Sverige. Hrsg. von Susanne Olsson. Stockholm 2013. S. 17 – 39. Schein, Harry: Schein. Stockholm 1980. Schmidt, Dörte: Kulturelle Räume und ästhetische Universalität oder: Warum Musik für die aktuelle Debatte über das Exil wichtig ist. In: Kulturelle Räume und ästhetische Universalität. Musik und Musiker im Exil. Gesellschaft für Exilforschung. Jahrbuch 2008. Schneider, Albrecht: Berichte und Kleine Beiträge. In: Jahrbuch für Volksliedforschung. Münster 1990. Schoeps, Hans-Joachim: „Bereit für Deutschland“! Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus. Frühe Schriften 1930 – 1939. Eine historische Dokumentation. Berlin 1970. Schoeps, Hans-Joachim: Ja – Nein – und Trotzdem. Erinnerungen-Begegnungen-Erfahrungen. Mainz 1974. Schoeps, Hans-Joachim: Rückblicke. Die letzten dreissig Jahre (1925 – 1955) und danach. Berlin 1963. Schoeps, Julius H.: „Hitler ist nicht Deutschland“. Der Nationalsozialismus, das Exil in Schweden und die Rückkehr von Hans-Joachim Schoeps in die einstige Heimat. In: Über Juden und Deutsche. Historisch-politische Betrachtungen (= Deutsch-jüdische Geschichte durch drei Jahrhunderte, Bd. 4). Hildesheim 2010. S. 201 f. Schoeps, Julius H.: Erlösungswahn und Vernichtungswille. Die sogenannte „Endlösung der Judenfrage“ als Vision und Programm des Nationalsozialismus. In: Der Nationalsozialismus als politische Religion. Hrsg. von Michael Ley u. Julius H. Schoeps. Bodenheim 1997. S. 262 – 271. Scholz, Michael F.: Herbert Wehner in Schweden 1941 – 1946 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 70). München 1995 (durch Dokumente erweitert, Berlin 1997). Scholz, Michael F.: Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration. Die ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien und ihr weiteres Schicksal in der SBZ/DDR. Stuttgart 2000. Schoor, Kerstin: Verlagsarbeit im Exil. Untersuchungen zur Geschichte der deutschen Abteilung des Amsterdamer Allert de Lange Verlages 1933 – 1945. Amsterdam/Atlanta (GA) 1992. Schoppmann, Claudia: Das war doch jenseits jeder menschlichen Vorstellungskraft. Hilfe für verfolgte Juden im deutsch besetzten Norwegen 1940 – 1945. Berlin 2016. Schueler, Kaj: Flykten från Berlin 1942. [Die Flucht aus Berlin 1942]. Stockholm 2008. Schweizer, Erika: Geistliche Geschwisterschaft. Nelly Sachs und Simone Weil – ein theologischer Diskurs. Mainz 2005. Schön, Lennart: En modern svensk ekonomisk historia. Tillväxt och omvandling under två sekel. [Eine moderne schwedische Wirtschaftsgeschichte. Zuwachs und Umwandlung in zwei Jahrhunderten]. Falun 2012. Segerstedt Wiberg, Ingrid: Den sega livsviljan. Flyktingöden under förintelsens och förvirringens tid. [Der zähe Lebenswille. Das Flüchtlingsleben während der Zeit der Vernichtung und Verwirrung]. Stockholm 1979. Segerstedt Wiberg, Ingrid: Från förintelsens tid. [Aus der Zeit der Vernichtung]. In: Minnesskrift till Göteborgs mosaiska församlings 200-årsjubileum. Göteborg 1980. S. 143 – 155.
368
Literaturverzeichnis
Sharpe, Eric J.: The Secularization of the History of Religions. In: Gilgul. Essays on Transformation, Revolution and Permanence in the History of Religions. Hrsg. von Shaul Shaked [u. a.]. Leiden 1987. S. 257 – 269. Shoham, Sew: בשודיה. In: Isaak Feuerring. 26. Dezember 1889−26. Dezember 1937. Tel Aviv 1938. S. 27−30. Shuster, Martin: A phenomenology of Home: Jean Améry on Homesickness. In: Journal of French and Francophone Philosophy – Revue de la philosophie française et de langue française. Vol. XXIV, No. 3 (2016). S. 117 – 127. Sjögren, Hans: Bankinspektör Folke von Krusenstjernas vitbok – Anteckningar från bankkrisen 1922/23. [Das Weißbuch des Bankinspektors Folke von Krusenstjerna – Notizen von der Bankkrise 1922/23]. Uppsala 1994. Sjögren, Monika: Det var en gång en vallareman. Boken om Göte Hedenquist – en modig präst och en ovanlig pappa. [Es war einmal ein Hirte. Das Buch über Göte Hedenquist – ein mutiger Pastor und ein ungewöhnlicher Papa]. Stockholm 2013. Sjöstedt, C. H.: Sveriges Bankmatrikel. Uppsala 1905. Smulowicz, Seew: Die Schwedische Hachscharah 1933 – 1949 und die Geschichte des Schwedischen Hechaluz, 1949 (vervielfältigter Bericht). Sommerstein, Walter: Rückblicke. Bjärred 1995. Sommestad, Lena: Från mejerska till mejerist: en studie av mejeriyrkets maskuliniseringsprocess. [Von Molkereiarbeiterin zum Molkereiarbeiter. Eine Studie zum Vermännlichungsprozesses des Meiereiberufes]. Lund 1992. Sorkin, David: Port Jews and the Three Regions of Emancipation. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centres, 1550 – 1950. London 2002. Spiel, Hilde: Psychologie des Exils. In: Neue Rundschau 3 (1975). S. 424 – 439. Steinitz, Klaus (Hrsg.): Wolfgang Steinitz – Ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. Berlin 2006. Strauss, Herbert A.: Jewish Emigration From Germany – Nazi Policies and Jewish Responses. In: Leo Baeck Institute Year Book (LBIYB) XXV (1980), S. 313 – 361. Suhrkamp, Peter: Zur Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern, vorgelegt von Siegfried Unseld. Frankfurt a. M. 1975. Sutcliffe, Adam: Identity, Space and Intercultural Contact in the Urban Entrepôt: The Sephardic Bounding of Community in Early Modern Amsterdam and London. In: Jews and Port Cities 1590 – 1990. Commerce, Community and Cosmopolitanism. Hrsg. von David Cesarani u. Gemma Romain. London 2006. S. 93 – 106. Svanberg, Ingvar/Runblom, Harald (Hrsg): Det mångkulturella Sverige. En handbok om etniska grupper och minoriteter. [Das multikulturelle Schweden. Ein Handbuch zu ethnischen Gruppen und Minderheiten]. Uppsala/Stockholm 1988. Svanberg, Ingvar/Tydén, Mattias (Hrsg.): Tusen år av invandring. En svensk kulturhistoria. [Tausend Jahre Einwanderung. Eine schwedische Kulturgeschichte]. Stockholm 1992. Svanberg, Ingvar/Tydén, Mattias: Sverige och Förintelsen. Debatt och dokument om Europas judar 1933 – 1945. [Schweden und die Shoah. Debatten und Dokumente über Europas Juden 1933 – 1945]. 3. Aufl. Stockholm 2005. Svenskt Biografiskt Lexikon [Schwedisches Biografisches Lexikon]. Stockholm 1971 Svensson, Harry: The Case of Fabian Philip, Karlskrona’s First Jewish Entrepreneur: A Swedish Example of the Port Jews Phenomenon. Sjuttonhundratal. Nordic Yearbook for Eighteenth-Century Studies 11 (2014), S. 69 – 89.
Literaturverzeichnis
369
Söderberg, Johan: Sveriges ekonomiska och sociala historia. [Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schwedens]. Malmö 1996. Söderblom, Nathan: Studiet av religionen. Stockholm 1908. Söderlund, Ernst: Benckerts testamente. Konfidentiella anteckningar angående bankinspektionens verksamhet. [Benckerts Testament. Vertrauliche Aufzeichnungen betreffs der Tätigkeit der Bankenaufsicht]. Stockholm 1976. Södling, Maria: En alternativ teologi. Personlighet, frihet och ansvar hos Lydia Wahlström. [Eine alternative Theologie. Persönlichkeit, Freiheit und Verantwortung bei Lydia Wahlström]. In: Sällskapet. Tro och vetande i 1900-talets Sverige. Hrsg. von Susanne Olsson. Stockholm 2013. S. 166 – 217. Tabori, Paul: The Anatomy of Exile. A Semantic and Historical Study. London 1972. Tangestuen, Mats: Også jødene kom for øvrig over grensen høsten 1942. [Auch Juden flohen übrigens im Herbst 1942 über die Grenze. Jüdische Flüchtlinge aus Norwegen in Schweden]. Jødiske flyktninger fra Norge i Sverige 1940 – 1945. Diplomarbeit. Bergen 2004. Tarschis, Mauritz: Zionismen i Sverige: minnen från 35 års verksamhet. [Zionismus in Schweden. Erinnerungen aus einer 35jährigen Tätigkeit]. In: Judisk tidskrift 15 (1942). S. 318−326. Tempsch, Rudolf: Aus den böhmischen Ländern ins skandinavische Volksheim. Sudetendeutsche Auswanderung nach Schweden 1938 – 1955. Göttingen 2017. Thor Tureby, Malin (Hrsg.): Kibbutzer i Sverige. Judiska lantbrukskollektiv i Sverige 1936 – 1946. [Kibbutzim in Schweden. Jüdische landwirtschaftliche Kollektive in Schweden 1936 – 1946]. Stockholm 2013. Thor, Malin: Gemenskapernas förutsättningar och gränser. En intersektionell analys av „judisk“ flyktingverksamhet i Sverige under 1930- och 1940-talen. In: Judarna i Sverige – en minoritets historia. Fyra föreläsningar. [Voraussetzungen und Grenzen von Gemeinschaften. Eine intersektionelle Analyse „jüdischer“ Flüchtlingstätigkeit während der 1930er- und 1940er-Jahre]. Hrsg. von Helmut Müssener. Uppsala 2011. S. 99 – 124. Thor, Malin: Hechaluz – en rörelse i tid och rum. Tysk-judiska ungdomars exil i Sverige 1933 – 1943. [Hechaluz – eine Bewegung in Zeit und Raum. Deutsch-jüdische Jugendliche im Exil in Schweden 1933 – 1943]. Dissertation. Växjö 2005. Töpner, Kurt: Tagebuchnotizen von Hans-Joachim Schoeps, in: ZRGG 4 (1980). S. 364 ff. Torbacke, Jarl: Torgny K Segerstedt. In: Svenskt biografiskt lexikon, Bd. 31, 2000 – 2002. S. 777. Törnquist, Leif: Befästningskonstens utveckling. Fortifikationen 350 år 1635 – 1985. [Die Entwicklung der Befestigungskunst. 350 Jahre Befestigungen 1635 – 1985]. Stockholm 1986. Trivellato, Francesca: The Port Jews of Livorno and their Global Networks of Trade in the Early Modern Period. In: Jews and Port Cities 1590 – 1990. Commerce, Community and Cosmopolitanism. Hrsg. von David Cesarani u. Gemma Romain. London 2006. S. 31 – 48. Uberti, Carlotta Ferrara degli: The „Jewish Nation“ of Livorno: A Port Jewry on the Road to Emancipation. In: Jews and Port Cities 1590 – 1990. Commerce, Community and Cosmopolitanism. Hrsg. von David Cesarani u. Gemma Romain. London 2006. S. 157 – 170.
370
Literaturverzeichnis
Usaty, Simon: Namentliche Erfassung österreichischer ExilantInnen in Schweden. Ein Projektbericht. In: Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Hrsg. von Irene Nawrocka. Wien 2013. S. 110 – 136. Valentin, Hugo: Judarna i Sverige. Från 1774 till 1950-talet. [Die Juden in Schweden. Von 1774 bis in die 1950er-Jahre]. Stockholm 1954 [Gekürzte u. erw. Neuausgabe 1964; Neudruck Stockholm 2013]. Valentin, Hugo: Judarnas historia i Sverige. [Die Geschichte der Juden in Schweden]. Stockholm 1924. Valentin, Hugo: Urkunder till Judarnas historia i Sverige. Stockholm 1924. Wachtmeister, Hugo: Blekinge läns Kungl. Hushållnings-sällskaps historia 1814 – 1914. [Die Geschichte der Landwirtschaftskammer in Blekinge]. Karlskrona 1914. Wächter, Torkel: 32 Postkarten – Post aus Nazi-Deutschland. Hamburg, 2014. Walter, Hans-Albert: Fritz H. Landshoff und der Querido Verlag (Marbacher Magazin 78). Marbach 1997. Wandel, Eckhard: Hans Schäffer. Steuermann in wirtschaftlichen und politischen Krisen 1886 – 1967. Stuttgart 1974. Weiss, Hellmuth: Ein „Mischling“ im Exil und Leben. In: Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren. Hrsg. von Irene Nawrocka. Wien 2013. S. 264 – 270. Weiss, Peter: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968. Wetzel, Juliane: Auswanderung aus Deutschland. In: Die Juden in Deutschland 1933 – 1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. Hrsg. von Wolfgang Benz. München 1988. S. 413 – 498. Wilhelmus, Wolfgang: Hitlerdeutschland, Schweden, Skandinavien und die Juden. In: Hitlerflüchtlinge im Norden: Asyl und politisches Exil, 1933 – 1945. Hrsg. von Klaus-Joachim Lorenzen-Schmidt u. Hans Uwe Petersen. Kiel 1991. S. 33 – 40. Wolfe, Alan: At home in exile. Why diaspora is good for Jews. Boston 2014.
Über die Autorinnen und Autoren Merethe Aagaard Jensen, M. A., ist Dissertantin an der Universität Wien. Studium der Geschichte an der Universität Süddänemark und der Universität Wien. Veröffentlichung von Artikeln im deutschsprachigen Raum und Skandinavien zu den Themen Holocaust und Geschichte der Juden in Österreich, u. a. in: Ordnung muss sein. Das Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, hrsg. von Felicitas Heimann-Jelinek [u. a.], Wien 2007, sowie über die dänischen und norwegischen Häftlinge im KZ Mauthausen, u. a. in: De nazistiske koncentrationslejre. Studier og bibliografi, hrsg. von Therkel Stræde, Odense 2009, und im Rahmen des „Mauthausen Survivors Research Project“ (voraussichtlich publiziert 2017/2018). In ihrem Dissertationsprojekt untersucht sie die Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich nach Skandinavien 1938 – 1940. Lars M. Andersson, Dr. phil., lehrt am Institut für Geschichtswissenschaften an der Universität Uppsala und forscht über Antisemitismus und Flüchtlingspolitik. Zwischen 2002 und 2006 war er Herausgeber der schwedischen Geschichtszeitschrift Historisk tidskrift und Mitherausgeber der Schriftenreihe Lagerbingbiblioteket. Er ist Mitglied des Redaktionsbeirats der Zeitschrift Nordisk Judaistik. Seit 2007 ist Lars M. Andersson Mitglied der Leitungsgruppe des Forschungsnetzwerkes „Juden in Schweden – eine Minderheitengeschichte“ und Vorstand für das Forum für jüdische Studien. Zu seinen neueren Werken zählt die gemeinsam mit Carl Henrik Carlsson herausgegebene Anthologie Från sidensjalar till flyktingmottagning. Judarna i Sverige – en minoritets historia (Von Seidentüchern zur Flüchtlingsaufnahme. Juden in Schweden – eine Minderheitengeschichte). Carl Henrik Carlsson, Dr. phil., promovierte an der Universität Uppsala. Er arbeitet als Redakteur im Schwedischen Reichsarchiv und als Forscher am Hugo-Valentin-Zentrum der Universität Uppsala. Seine Dissertation Medborgarskap och diskriminering. Östjudar och andra invandrare i Sverige 1860 – 1920 (Uppsala 2004) erhielt 2005 den Benzelius-Preis der Königlichen Vetenskaps-Societet in Uppsala und 2007 den Gustav-Geijer-Preis der Universität Uppsala. Er publizierte Artikel zur schwedisch-jüdischen Geschichte, so Jewish Transmigrants from Eastern Europe to Sweden 1860 – 1914, in: Points of Passage. Jewish Transmigrants from Eastern Europe in Germany, Britain, Scandinavia and other Countries, hrsg. von Tobias Brinkmann, New York 2013 und Säg det i toner och inte i ord. Pogromparadigmet i svensk-judisk historieskrivning, in: Den breda nationens framväxt 1750 – 1920. Festskrift till Torkel Jansson, hrsg. von Henrik Edgren [u. a.], Uppsala 2013. Lars Dencik, ist Professor em. für Psychologie an der Universität Roskilde (Dänemark), er lebt in Stockholm. Dencik ist Vorstandsmitglied der Universität Malmö und der Gesellschaft für Jüdische Kultur in Schweden. Zahlreiche internationale Gastprofessuren, u. a. für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Konstanz. Gegenwärtig forscht Lars Dencik u. a. zum Verhältnis von gesellschaftlicher Modernisierung und jüdischem Leben. Jüngste Publikationen u. a.: The Dialectics of Diaspora: On the Art of being Jewish in the Swedish Modernity, in: A Road to Nowhere? Jewish Experiences in Unifying Europe, hrsg. von Julius H. Schoeps u. Olaf Glöckner, Leiden/Boston 2011; The Dialectics of Diaspora in Contemporary Modernity, in: Reconsidering Israel-Diaspora Relations, hrsg. von Eliezer Ben-Rafael [u. a.] Leiden/Boston 2014;
372
Über die Autorinnen und Autoren
Different antisemitisms: Perceptions and experiences of antisemitism in Sweden and across Europe (zus. mit Karl Marosi), London 2017. Pär Frohnert, Dr. phil., ist Dozent und seit 2002 Wissenschaftlicher Rat an der Universität Stockholm. Er promovierte 1993. 1996 – 2001 war er Forschungsassistent an der Universität Lund und 1997 – 2000 Redakteur der Historisk Tidskrift. Unter seinen Publikationen sind zu nennen: Reaching a state of hope. Refugees, immigrants and the Swedish welfare state 1930 – 2000, hrsg. zusammen mit Mikael Byström, Lund 2013; Social-democratic solidarity. The Labour Movement Refugee Relief, refugees, and the Swedish state, 1933 – 1945, in: Reaching a state of hope; und De behöva en fast hand över sig. Missionsförbundet, Israelsmissionen och de judiska flyktingarna 1939 – 1945, in: En problematisk relation? Flyktingpolitik och judiska flyktingar i Sverige 1920 – 1950, hrsg. von Lars M Andersson u. Karin Kvist Geverts, Uppsala 2008. Olaf Glöckner, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind jüdische Migration in Geschichte und Gegenwart, europäisches Judentum nach 1989 und moderner Antisemitismus. In den letzten Jahren hat er sich verstärkt auch mit der Entwicklung der deutsch-israelischen Beziehungen und mit Pluralisierungstendenzen in der israelischen Gesellschaft auseinandergesetzt. Jüngste Publikationen: Handbook of Israel. Major Debates, hrsg. zusammen mit Eliezer Ben-Rafael, Julius H. Schoeps und Yitzhak Sternberg, Berlin/Boston 2016; Deutschland, die Juden und der Staat Israel, hrsg. zusammen mit Julius H. Schoeps, Hildesheim 2016; Being Jewish in 21st Century, hrsg. zusammen mit Haim Fireberg, Berlin/Boston 2015. Anders Hammarlund ist Musikethnologe, Kulturhistoriker und Schriftsteller. Studien an der Universität Stockholm; tätig als Produzent in der Musikabteilung von Sveriges Radio und als Forscher und Lehrer an den Universitäten von Stockholm, Uppsala und Göteborg. Danach Forschungskoordinator von Svenskt visarkiv (Centre for Swedish Folk Music and Jazz Research) und der musikethnologischen Forschungsabteilung von Statens Musikverk (Swedish Performing Arts Agency) in Stockholm. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kulturelle Identität und Migration, besonders im jüdischen Kontext. Publikationen u. a.: Dissidents and freethinkers. The Graanboom family – Swedish converts in eighteenth-century Jewish Amsterdam, in: The Swedes and the Dutch were made for each other, hrsg. von Kristian Gerner, Lund 2014; En bön för moderniteten. Kultur och politik i Abraham Baers värld, Stockholm 2013, auch online erschienen als A Prayer for Modernity. Politics and Culture in the World of Abraham Baer at http://musikverket.se. Elke-Vera Kotowski, Dr. phil., studierte Politische Wissenschaft, Literaturwissenschaft, Philosophie und Kulturwissenschaften in Duisburg und Berlin. Promotion in Jüdischen Studien. Von 1994 – 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte II (deutsch-jüdische Geschichte) an der Universität Potsdam. Seit 2000 Forschung und Lehre am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Forschungsschwerpunkte: europäischjüdische Kultur- und Sozialgeschichte; aktuelles Forschungsfeld: „Kultur und Identität. Deutsch-jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland“. Publikationen: Salondamen und Frauenzimmer. Selbstemanzipation deutsch-jüdischer Frauen in zwei Jahrhunderten (Hrsg.), Berlin [u. a.] 2016; Zweisamkeiten. 12 außergewöhnliche Paare in Berlin, hrsg. zusammen mit Anna-Doro-
Über die Autorinnen und Autoren
373
thea Ludewig u. Hannah Lotte Lund, Berlin 2016; Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden. Eine Spurensuche in den Ursprungs-, Transit- und Emigrationsländern (Hrsg.), Berlin [u. a.] 2015. Anna-Dorothea Ludewig, Dr. phil., Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Buchwissenschaft und Rechtswissenschaft an den Universitäten Bonn und Mainz, Promotion 2007 an der Universität Potsdam mit einer Arbeit über Karl Emil Franzos. 2005 – 2007 Koordinatorin des DFG-Graduiertenkollegs MAKOM an der Universität Potsdam; seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien. Forschungsschwerpunkte: „Jüdinnenbilder“ und jüdisch-weibliche Körperbilder in Literatur und Kunst (ab 1870); Juden und Judentum in der Trivialliteratur (Detektivroman); „Marranentum“ in der Moderne; Raubkunst und Restitution. Aktuelle Publikationen (Auswahl): Zweisamkeiten. Zwölf außergewöhnliche Paare in Berlin, Berlin 2016. (hrsg. zusammen mit Elke-Vera Kotowski u. Hannah Lotte Lund); Biographien jüdischer Frauen: „Erlöserin der Sprache“? Nelly Sachs zum 125. Geburtstag und zum 50. Jahrestag der Literaturnobelpreisverleihung, in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 10 (2016), 19, S. 1 – 5, online: http://www.medaon.de/pdf/medaon_19_Ludewig+Schneider.pdf (mit Ulrike Schneider). Clemens Maier-Wolthausen, Dr. phil., hat an der Freien Universität Berlin und der Universität von Bergen/Norwegen Geschichte studiert. Von 2003 bis 2007 arbeitete er am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz und am Graduiertenkolleg der Universität Lund an seiner Dissertation zur Erinnerungspolitik an den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Besatzung in Dänemark und Norwegen. Nach seinem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützten Projekt am Zentrum für Antisemitismusforschung zur Flüchtlingshilfe für deutsche Juden in Schweden hat er mehrere Ausstellungsprojekte für das Deutsche Historische Museum und in eigener Regie durchgeführt – zuletzt für die Zoologischer Garten Berlin AG. Er ist Lektor des Deutschland Archivs online der Bundeszentrale für politische Bildung. Helmut Müssener, Dr. phil., ist Professor em. für Germanistik an der Universität Stockholm und seit 2002 als senior researcher am Hugo-Valentin-Institut der Universität Uppsala tätig. Er promovierte 1964 an der Universität Mainz mit einer Arbeit über August Strindberg und habilitierte sich 1974 an der Universität Stockholm mit: Exil in Schweden. Politische und kulturelle Emigration nach 1933, München/Stockholm 1974. Er publizierte zahlreiche Aufsätze zum deutschsprachigen Exil und seinen Vertreterinnen und Vertretern in Schweden. Er war mehrere Jahre für die Arbeit des Netzwerkes Judarna i Sverige – en minoritets historia verantwortlich und gab 2011 die Anthologie Judarna i Sverige – en minoritets historia. Fyra föreläsningar heraus, Uppsala Multiethnic Papers 53. Irene Nawrocka, Dr. phil., Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft, Skandinavistik und Germanistik in Wien, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung, Forschungsbereich Österreichisches Biographisches Lexikon), Exilforscherin und Verlagshistorikerin, Gründungsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung (öge), Mitglied im wissenschaftlichen Beirat und der Frauen AG der öge, Vorstandsmitglied der Theodor-Kramer-Gesellschaft. Publikationen zu Exilliteratur und Exilverlagen, u. a. über den Bermann-Fischer Verlag im Exil: Verlagssitz: Wien, Stockholm, New York, Amsterdam. Der Bermann-Fischer Verlag im Exil (1933 –
374
Über die Autorinnen und Autoren
1950), in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 53 (2000), S. 1 – 209; Carl Zuckmayer – Gottfried Bermann Fischer: Briefwechsel 1935 – 1977 (Hrsg.), Göttingen 2004, Taschenbuchausgabe Frankfurt a. M. 2007; Im Exil in Schweden. Österreichische Erfahrungen und Perspektiven in den 1930er und 1940er Jahren (Hrsg.), Wien 2013; Mitherausgeberin von „Exilforschung: Österreich. Leistungen, Defizite u. Perspektiven“ (erscheint 2017). Lena Roos, Dr. habil., ist Akademischer Rat für Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Uppsala und Direktorin des Forums für jüdische Studien. Ihre Forschungsinteressen sind vor allem Judentum (Schwerpunkt Beziehungen zwischen Juden, Christen und Muslimen im Mittelalter), Religion und Sexualität, Religionsdidaktik, Religion und Populärkultur. Publikationen u. a.: If I am only for myself, who am I. Volunteering and righteousness in Judaism, in: Religion and volunteering. Complex, contested and ambiguous relationships, hrsg. von Lesley Hustinx [u. a.], Heidelberg 2015, S. 41 – 58; The Story of Elijakim, commonly known as Gottschalk. Jewish and Christian Sources to the History of Medieval Germany, in: Den okände (?) grannen. Tysklandsrelaterad forskning i Sverige, hrsg. von Mai-Brith Schartau u. Helmut Müssener, [Schwedishe Perspektiven. Schriften des Zentrums für Deutschlandstudien 4 (2005), S. 467 – 478.] Henrik Rosengren, Dr. phil., ist Dozent und Wissenschaftlicher Rat an der Universität Lund. Seit 2014 ist er Redakteur der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift Scandia. Er veröffentlichte u. a. „Judarnas Wagner“. Moses Pergament och den kulturella identifikationens dilemma, Dissertation 2007; Från tysk höst till tysk vår. Fem musikpersonligheter i svensk exil i skuggan av nazismen och kalla kriget, Lund 2013 [dt. Fünf Musiker im Schwedischen Exil. Nazismus – Kalter Krieg – Demokratie, Neumünster 2016]; sowie Mellan kulturpolitisk anpassning och estetiska objektivitetsideal. Musikkritik och musikpolitik i Dagsposten 1941 till 1945, in: De intellektuellas förräderi?, hrsg. von Patrick Lundell [u. a.], Lund 2016. Er war an der Datensammlung für das Lexikon verfolgter Musiker und Musikerinnen der NS-Zeit beteiligt. Pontus Rudberg, Dr. phil., ist Postdoktorand am Oxford Changing Character of War Programme (CCW) der Universität Oxford. Er promovierte 2015 an der Universität Uppsala mit der Dissertation The Swedish Jews and the Victims of Nazi Terror, 1933 – 1945 und publizierte Artikel über die Hilfsarbeit der schwedischen Juden während der Shoah. Sein Buch The Swedish Jews and the Holocaust erscheint 2017 im Routledge Verlag London in der Reihe Routledge Studies in Second World War History. Julius H. Schoeps, Prof. em., lehrte von 1992 bis 2007 Neuere Geschichte (Schwerpunkt deutsch-jüdische Geschichte) an der Universität Potsdam; Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien. Publikationen zum Thema dieses Buches u. a.: Mein Weg als deutscher Jude. Autobiographische Notizen, Zürich 2003, S. 14 ff.; Über Juden und Deutsche. Historisch-politische Betrachtungen (= Deutsche-jüdische Geschichte durch drei Jahrhunderte 4), Hildesheim 2010, [darin: „Hitler ist nicht Deutschland“. Der Nationalsozialismus, das Exil in Schweden und die Rückkehr von Hans-Joachim Schoeps in die einstige Heimat, S. 193 – 218, „Nil inultum remanebit“. Die Erlanger Universität und ihr Umgang mit dem deutsch-jüdischen Remigranten Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980), S. 219 – 234 u. Jüdische Identität und jüdisches Bewusstsein in Zeiten der Bedrängnis und Verfolgung. Ein im Jahre 1943 von Hans-Joachim Schoeps im schwedischen Exil an seinen Sohn geschriebener Barmizwah-Brief, S. 307 – 312].
Über die Autorinnen und Autoren
375
Michael F. Scholz, Dr. phil., Professor für Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Uppsala – Campus Gotland. 1981 – 1986 Studium in Greifswald; 1990 Promotion; 1999 Habilitation und Privatdozent; anschl. Projektmitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, seit November 2000 in Visby. Publikationen u. a. Gusti Jirku-Stridsberg („Klara“) und die finnische Friedensopposition 1943/44, in: Finnland im Blick, Berlin 2014; „Jag känner ju Sverige inifrån“: Herbert Wehner, in: … faror för staten av svåraste slag, Stockholm 2012; Wollweberligan: Ernst Wollweber, ebd.; Die DDR 1949 – 1990, Stuttgart 2009; Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration, Stuttgart 2000; Herbert Wehner in Schweden 1941 – 1946, München 1995 (erw. Aufl., Berlin 1997). Harry R. Svensson hat seit 2011 eine Doktorandenstelle am Historischen Institut und am Zentrum für Maritime Studien an der Universität Stockholm inne. Seine Dissertation wird, ausgehend vom Port-Jews-Phänomen, die Stadt Karlskrona als Kriegshafen und ihre Mosaische Gemeinde behandeln. Bisher sind von ihm u. a. folgende Aufsätze erschienen: Den östjudiska invandringen till Karlskrona 1862 – 1920, in: Nordisk Judaistik. Åbo 2016; The Cultural Impact of Swedish Royal Naval Officers’ Foreign Duty on Karlskrona Society, in: Marinmusei årsbok Karlskrona 2016; und The Case of Fabian Philip, Karlskrona’s First Jewish Entrepreneur, a Swedish example of the Port Jews Phenomenon?, in: Sjuttonhundratal. Nordic Yearbook for Eighteenth-Century Studies 11 (2014), S. 69 – 89. Malin Thor Tureby, Dr. phil., ist Professorin an der Universität Linköping. Sie promovierte 2005 an der Universität Växjö mit der Dissertation Hechaluz – en rörelse i tid och rum. Tysk-judiska ungdomars exil i Sverige 1933 – 1943. Danach publizierte sie u. a. die Aufsätze To hear with the collection. Contextualisation and recontextualisation of archived interviews, in: Oral History 41.2 (2013); Swedish Jews and Jewish Survivors. The first public narratives about the survivors in Swedish-Jewish Press, in: Reaching a state of hope, hrsg. von Mikael Byström u. Pär Frohnert, Lund 2013; und Svenska änglar och hyenor möter tacksamma flyktingar. Mottagningen av befriade koncentrationslägerfångar i skånsk press under året 1945, in: Historisk tidskrift 2 (2015). Zurzeit forscht sie über intersektionelle und historische Perspektiven jüdischer Frauen in Schweden während des 20. und 21. Jahrhunderts. Anne Weberling studierte Nahoststudien und Politikwissenschaft an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und Jüdische Studien an der Universität Potsdam. Sie ist Editorial Manager des Handbook of Israel. Major Debates, hrsg. von Eliezer Ben-Rafael, Julius H. Schoeps, Yitzhak Sternberg u. Olaf Glöckner, München 2016. Ihre Forschungsinteressen sind Zionismus in Deutschland und Skandinavien, Gedenk- und Erinnerungskulturen in Deutschland und Israel sowie jüdische Religion in der Gegenwart. Derzeit Studien zum Leben und Werk des deutschen Zionisten Isaak Feuerring. Jüngste Veröffentlichung: Gedenk- und Erinnerungspolitik in Deutschland und Israel. In: Deutschland, die Juden und der Staat Israel. Eine politische Bestandsaufnahme, hrsg. von Olaf Glöckner u. Julius H. Schoeps, Hildesheim 2016.
Abbildungsverzeichnis Carl Henrik Carlsson: Jacob Ettlinger - kein typisch deutscher Jude in Schweden Abb. 1: Schwedisches Riksarkiv (Reichsarchiv) Stockholm/Marieberg. Archiv Jacob Ettlinger Band 1:1 Irene Nawrocka: Gottfried Bermann Fischer und seine Zusammenarbeit mit der schwedischen Verlegerfamilie Bonnier Abb. 1: Archiv des Bonnier Verlages, Stockholm Abb. 2: Kungliga Biblioteket, Stockholm Elke-Vera Kotowski: Abend über Potsdam. Identitäts- und Exilerfahrungen der Malerin Lotte Laserstein Abb. 1: Privatbesitz Schweden Abb. 2: Privatbesitz Schweden Abb. 3: VG Bild–Kunst Abb. 4: Privatbesitz Schweden Abb. 5: VG Bild–Kunst Abb. 6: VG Bild–Kunst Abb. 7: VG Bild–Kunst Abb. 8: VG Bild–Kunst Abb. 9: VG Bild–Kunst Abb. 10: VG Bild–Kunst Abb. 11: Privatbesitz Schweden Abb. 12: Nachlass Lotte Laserstein, Berlinische Galerie Abb. 13: Nachlass Lotte Laserstein, Berlinische Galerie Abb. 14: VG Bild-Kunst Michael F. Scholz, Helmut Müssener:Von Hilfe zur Selbsthilfe. Die Emigrantenselbsthilfe und ihre Tätigkeit von der Gründung bis in die 1950er-Jahre Abb. 1: Fritz Hollander, Foto: Privatarchiv der Familie Hollander Abb. 2: Wolfgang Steinitz, Foto: Privat Abb. 3, 4, 5: Sammlung Jacobowsky in der Universitätsbibliothek Uppsala. Uppsala universitetsbibliotek. Carl Vilhelm Jacobowskys judaicasamling, Bestand: Emigraternas självhjälp
https://doi.org/9783110532289-020
Personenregister Aberstén, Simon 4 Adler, Erich 278, 281 Adler, Guido 219 Adler-Rudel, Solomon 241, 251 Adorno, Theodor W. 98 Almkvist, Hermann Napoleon 124 f., 130 Altenberg, Peter 19, 167, 171 Améry, Jean 69, 84 Andersson, Axel 5, 8, 11, 16 – 18, 257, 263 f., 268 Arendt, Hannah 98 Asch, Herman 14 Aschberg, Olof 14 Aubert, Hélène 203, 205 f. Auernheimer, Raoul 171 Baburger, Ernst 72, 275, 278, 281, 296, 298 Baeck, Leo 112, 135, 240 f., 246, 251 – 253, 324 Baer, Abraham 48, 133 – 135, 145 f. Bang, Herman 168 Bauer, Fritz 16, 70, 240 f., 267, 318 f., 342, 344, 347 f. Bauman, Zygmunt 58 Bedoire, Frederic 81 Beer-Hofmann, Richard 171 Ben Gurion, David 348 Benckert, Robert 39 – 41 Bender, Kurt 106 Benedict, Ruth 144 Benedikt, Ernst 10, 76 Benjamin, Walter 98, 148, 229, 337 Bentwich, Norman 241, 246 – 248 Berend, Alice 171 Berendsohn, Walter A. 10, 69, 199 f., 202, 205, 208, 212, 283, 298 f. Berliner, Cora 98, 101, 110, 133, 135, 139, 151, 167, 176, 193, 208, 223, 241, 252, 277, 295, 327, 335 Berman, Thomas 161, 167, 169 – 182 Bern, Oskar 9, 139 f., 148, 204, 318 Bernadotte, Graf Folke 32, 79, 90, 292, 299 Beskow, Gunnar 8 Besseler, Heinrich 219 https://doi.org/9783110532289-021
Bing, Siegmund 171 Birnbaum, Elsa 183, 184 Birnbaum, Karl 76 Bischoff, Karl Heinrich 177 f. Bjørnsen, Bjørnstjerne 168 Blachstein, Peter 10, 108 Blech, Leo 76 Blumenfeld, Kurt 154, 162, 250 Boas, Franz 133, 144, 146 Boheman, Erik 252 Bonnier, Åke 167, 169, 173 – 176, 180 f., 377 Bonnier, Albert 168, 172 – 176, 180 f., 377 Bonnier, Karl Otto 172 Bonnier, Tor 167, 169, 173 – 176, 180 f., 377 Borchardt, Friedrich 241 Bouglé, Celestin 144 Brandes, Edvard 168 Brandt, Willy 76, 83 Brann, Ludwig 72 Branting, Hjalmar 155 Brecht, Bertolt 69, 169, 300 Breisjøberget, Ola 317 Brenner, Arvid 8 Brod, Max 10, 27 Brodnitz, Friedrich 241 Brody, Abraham 281 Brüning, Heinrich 112 Buber, Margareta 10 Buber, Martin 10, 209 Busch, Felix 112 Busch, Fritz 221 Busoni, Ferruccio 222 Cassirer, Ernst 10, 76, 108, 282 Cassirer, Richard 205 Celan, Paul 84, 94, 209, 211 f. Cemal Pascha 157 Chasanowitsch, Leon 155 f. Cohen, Hermann 101 Connor, Arthur 223 – 225, 227, 229 – 231, 233 – 235 Connor, Herbert 6, 218, 222 – 225, 227, 229 – 231, 233 – 235
380
Personenregister
Connor, Olga 222 – 225, 227, 229 – 231, 233 – 235 Croner, Fritz 76 Curie, Eve 177 Curie, Marie 177 Dähnert, Gudrun 201, 203, 205 f., 212 Dallmann, Günter 76 Daus, Levy 44 Dietrich, Hermann 112 Dix, Otto 184 Döblin, Alfred 167, 169, 171, 178 Drews, Arthur 131 Dreyfuss, Willy 134 Dulles, Allen W. 112 Eger, Akiba 344, 349 f. Ehrenpreis, Marcus 8, 10, 108, 158 f., 163, 240, 244, 247, 250, 252, 281, 324 f., 327, 329 Ehrensvärd, Carl August 32 Eidem, Erling 256, 260, 262 Einstein, Albert 283 Eisler, Hans 101 Ekman, Johan August 123, 262 Elbogen, Ismar 133 f., 143 Elias, Berthold 13, 28, 332 Eloesser, Arthur 171 Emsheimer, Ernst 6, 76, 218 – 220, 222, 224 – 231, 233 – 235, 281 Engländer, Richard 6, 218, 220 – 222, 224, 227 – 231, 233 – 235 Engzell, Gösta 63 Eppstein, Hans 287 Epstein, Paul 241 Erlander, Tage 79 Ettlinger, Jacob 47 – 56, 275, 377 Ettlinger, Jeanette 47, 50 f., 53 – 56, 277 Ettlinger, Joseph 47, 50 f., 53 – 56, 282 Ettlinger, Mayer 47, 50 f., 53 – 56 Fabian, Hans Erich 31, 37, 295 Falck, Gertrud 149, 159 Felix, Herbert 78, 86 Fenster, Josef 95, 207, 216, 218, 308, 316 Feuchtwanger, Lion 10
Feuerring, Gertrud 147 – 152, 154 – 156, 158 – 163 Feuerring, Isaak 147 – 151, 154 – 156, 158 – 163 Feuerring, Ralph R. 147 – 152, 154 – 156, 158 – 163 Fielitz, Alexander von 223 Fischer, Gottfried Bermann 167 – 182, 219, 377 Fischer, Herta 167 – 183, 219 Fischer, Samuel 168 – 182, 219 Fischler, Ernst 10, 296 Fischler, Josef 72 Fischler, Josef 72, 296 Flykt, Yngve 5, 59, 86, 225, 240, 243 f., 247, 250 f., 280, 330, 346, 348 Forsell, Cissie 45 Fraenkel, Louis 36, 38 f. Frank, Alfred 1, 81, 114 f., 151 Frank, Josef 1, 75, 80 f., 102, 114 f. Frankl, Hai 106 Franzos, Karl Emil 18 Freud, Sigmund 10, 106, 119, 178, 194, 260 Freudenthal, Heinz 76 Friedländer, Herbert 112, 275, 281 Friedländer, Otto 76, 112, 281 Friedrichsen, Anton 107 Fries, Samuel 127 f. Frisch, Justinian 137, 176 f. Fröding, Gustaf 172 Fromm, Erich 98 Fürstenberg, Arthur 246 Fürstenberg, Wulff 290 Garborg, Arne 168 Geiger, Abraham 120, 141 – 144 Geijerstam, Gustav af 168 Glaser, Werner Wolf 76 Gluck, Christoph Willibald 220 Glück, Emil 103, 194, 244 – 246, 249, 277, 302, 311, 337, 341, 346, 348 f. Goebbels, Joseph 168 – 170, 178 Golani, Arjeh 349 Goldberg, Martha 248 Goldstein, Heinz 106, 151 Goldstein, Max 75, 151 Goldziher, Ignaz 128
Personenregister
Gordan, Dan 62, 78, 85 Gordan, Kurt 62, 77 f., 85 Gordan, Peter 62, 78 Göring, Hermann 76 Gottfarb, Ragnar 1, 293 Graener, Paul 223 Granath, Axel 62 – 64, 66 Greid, Hermann 14, 80, 281 – 283, 287, 290 Grimm, Jakob 107 Gross, Walter 10, 108 Grosz, George 184 Grünberger, Mauritz 240, 243 – 246, 252 Grünhut, Ladislav 62 Gumpert, Martin 171 Gurlitt, Willibald 219 Gustav II. Adolf 119 Gustav III. 23, 26 Hamburger, Käte 10, 23, 32, 76, 108 Hansson, Per Albin 5, 92, 240, 243 f., 247, 250 f., 276, 280, 330, 346, 348 Hansson, Sigfrid 5, 240, 243 f., 247, 250 f., 256, 276, 280, 330, 346, 348 Hantke, Arthur 162 Harlan, Gudrun 203, 206 Harnack, Adolf von 128 Hasvoll, Nina 316 f. Hauptmann, Gerhart 168 Hauser, Hans 68 Heckscher, Eli 13, 54, 129, 280, 342 Heckscher, Gunnar 13, 54, 78, 129, 342 Heckscher, Isidor 13, 54, 129, 342 Heckscher, Johann Gustav Wilhelm Moritz 13, 54, 129, 342 Heckscher, Sophie 13, 54, 129, 342 Hedenius, Ingemar 227 Hedenquist, Göte 258, 267, 271, 311 Hedin, Sven 2, 18, 112 Heidegger, Martin 74, 101 Heidenstamm, Verner von 172 Heimann, Moritz 171 Heine, Heinrich 74, 292 Hellner, Kerstin 311, 328 Hentig, Werner Otto von 105 Hepner, Julius 295 f. Herzberg, Arno 135, 137 Herzog, Peder 2, 14
381
Hesse, Hermann 168, 172 Heydenau, Friedrich 171 Hirsch, Oscar 55, 148 – 150, 158 f. Hitler, Adolf 55, 77, 80, 87, 102, 105 f., 110, 114 f., 160, 179, 193, 212, 216, 228, 233, 310 Hitzig, Ferdinand 120 Hoffmann, Ludwig 282, 289, 300 f. Holewa, Hans 6, 76, 218, 221 f., 224 – 229, 231 – 233, 235, 281 – 283, 287 f., 290 Hollander, Camilla 274 – 278, 280 f., 286, 299, 301 f., 377 Hollander, Fritz 56, 79, 274, 276 – 278, 280, 286, 292 f., 299, 301 f., 377 Holm, Pelle 15 f., 308, 316 f. Horch, Franz 167 f. Horkheimer, Max 98 Howard, Leslie 291 Humboldt, Wilhelm von 138, 144, 277, 299 Ibsen, Henrik 168, 280 Isaac, Aaron 6, 12, 31 – 34, 44, 48 Israel, Joachim 3, 54, 70, 74, 76 – 78, 93, 95, 97, 101, 111, 126, 142, 151, 161, 227, 259 f., 262, 271, 285, 291, 303, 311, 322, 337, 343 f., 346 – 350, 352 Jabotinsky, Wladimir 162 Jackson, Olive 45 Jacobowsky, Carl Vilhelm 4, 28, 274, 276, 284, 286, 377 Jacobs, Willi 106 Jacobsen, Jan Peter 168 Jacobson, Emma 76, 157 f. Jacobson, Malte 76, 157 f. Jacobson, Victor 157 Jacoby, Erich 86 Jacoby, Ruth 86, 87 Jansson, Ewald 66 Josephson, Gunnar 252, 325 Juster, Kurt 10 Kafka, Franz 10, 108 Kamprad, Ingvar 260 Kanter, Johann Jakob 133 Karlweis, Marta 171 Katz, David 76, 281
382
Personenregister
Kempe, Anders Pederssohn 107 Kemper, Johann 107 Kessler, Harry Graf 171 Key, Ellen 168, 172 Kihlén, Carl 129 f. Kjellgren, Josef 8 Klein, Alfred 119 – 121, 123 – 132, 152, 226, 290 Klein, Gottlieb 119 – 121, 123 – 132, 152, 226 Klein, Oskar 119 – 121, 123 – 132, 152, 226, 277, 283 Kleinschmidt, Raffael 344, 350 Knoblauch, Eduard 141 Kohen, R. Schlomo 148, 150 Kolb, Annette 171 Köpniwsky, David 239, 327, 334 Korn, Norbert 307 f., 310 Korn, Siegmund 307 f., 316 Krausse, Anna-Carola 183 f., 187, 191, 193 f. Kretzschmar, Hermann 220 Kreutzberger, Max 241 Kroeber, Alfred 144 Kunzendorff, Hilde 68 Lachmann, Vera 206 Lagerlöf, Selma 58, 172, 206, 208, 280 Lamm, Olof H. 252 Landsberg, Erich 281 Langbehn, Julius 18 Lasch, Karol 75 Laserstein, Hugo 183 – 189, 196, 283 Laserstein, Käte 184 – 189, 196, 283 Laserstein, Lotte 70, 76, 183 – 189, 191 – 194, 196 – 198, 210, 283, 289, 377 Laserstein, Meta 184 – 189, 196, 283 Lasker-Schüler, Else 10 Laski, Neville 247 f. Lazarus, Aaron 137 Lazarus, Moritz 137, 140, 142, 143 Leche-Löfgren, Mia 8 Leiser, Erwin 10, 75, 108 Leja, Benjamin 14 Leja, Joseph 14 Lernet-Holenia, Alexander 169 Leser, Paul 105, 134, 282 Levertin, Oscar 172 Lewy, Ludwig 280, 298
Lichnowsky, Mechtilde 171 Lichtenstein, Fritz 348 Liebermann, Max 220 Lindeskog, Gösta 107 f. Lindgren, Astrid 83, 244 Lindhagen, Carl 155 Locker, Berl 155 f. Loewald, Rosel 194 Lord Lothian 102 Löwenstein, Leo 293 Lublin, Gurli 9, 44 f. Lublin, Josef 9, 44 f. Lund, Sigrid Helliesen 5 f., 23, 26, 34, 60, 78, 99, 124, 127, 129, 152, 215, 217 f., 258 f., 261 f., 265 f., 309, 317, 320 f. Lustig, Fritz 328 Luther, Martin 113, 119, 128 Madelung, Aage 168 Magnus, Hermann Martin 26, 44 Mahler, Alma 10, 283 Mahler, Gustav 225, 283 Maimonides 141 Malmar, Folke 62 Malmborg, Lars af 232 Mammen, Jeanne 183 Mann, Heinrich 17, 28, 33, 35, 43, 65, 82, 86, 90, 133, 138, 147 f., 160 f., 179, 183, 203, 210, 267, 270, 277, 283, 300 Mann, Katja 17, 28, 33, 35, 43, 65, 82, 86, 90, 133, 138, 147 f., 160 f., 179, 183, 203, 210, 267, 270, 277, 300 Mann, Klaus 17, 28, 33, 35, 43, 65, 82, 86, 90, 133, 138, 147 f., 160 f., 169, 179, 183, 203, 210, 267, 270, 277, 300 Mann, Thomas 10, 17, 28, 33, 35, 43, 65, 82, 86, 90, 133, 138, 147 f., 160 f., 171 f., 178 – 181, 183, 203, 210, 220, 267, 270, 277, 300 Mannheim, Karl 51, 143 Mannheimer, Carl 244 Marcus, Gerda 6, 309 – 311, 324, 326, 329, 333 Marcus, Sven 6, 194, 309 – 311, 326, 329 Marr, Friedrich 18 Masaryk, Tomas 68 Masur, Kurt 79, 292
Personenregister
Masur, Norbert 292, 302 Maurois, André 171 May, Rosa 13, 69 May, Theresa 101 Meidner, Rudolf 76, 80 Meinecke, Friedrich 10 Meinke, Willi 95 f. Meitner, Lise 70, 76, 176 Melchior, Karl 93, 241, 246 Meyerson, Philippine Amanda 44 f. Meyring, Elsa 293, 298 Michaeli, Wilhelm 252, 291, 293, 295, 311 Michel, Wilhelm 186 Moberg, Åsa 82, 231 Moberg, Carl-Allan 230, 231 Moberg, Carl-Axel 221, 231 Moberg, Vilhelm 172, 231 Moldenhauer, Paul 112 Monnet, Jean 112 Moritz, Manfred 31 f., 44, 76, 138, 140, 143, 278 Moskowitz, Louise 134 Müller, Max 122 Müller-Hofmann, Hermine 176 Münzenberg, Rudolf 14 Nansen, Peter 168, 309, 312, 315, 317, 320 Napoleon III. 14 Narrowe, Morton 147, 152 – 159, 161 – 163 Neumann, Alfred 10, 149 Norrman, Märit 45 Nycop, Carl-Adam 102 Olsson, Per T. 121, 127 f., 210, 216 Oscar II. 124, 168 Palme, Olof 79 f., 82 Palmstierna-Weiss, Gunilla 2, 14 Patera, Paul 10 Pauli, Oliger 107 Pawel, Siegfried 280, 285 f., 296, 298 Pedersen, Stefi 57 – 59, 101, 317 Peiper, Robert 287 Pergament, Moses 208 Pernow, Birger 256, 258 – 260, 263 – 265, 267 – 271, 311, 314 Peters, Jan 6 1, 70, 115, 273, 299, 300 – 303
383
Peters, Jürgen 61, 70, 115, 273, 300 – 303 Philip, Eleonora 23, 25, 27, 36, 39, 42 – 45, 102 Philip, Fabian 23 – 33, 35 f., 40, 43, 45, 102 Philip, Jeanette 23, 25, 27, 36, 39, 42 – 45, 53, 102 Philip, Rosa 23, 25, 27, 30 f., 33, 36, 39, 42 – 45, 102 Pinkus, Moritz 229, 275 f., 279 Posener, Charlotte (Lotte) 245, 250 Posener, Ludwig 245, 250 Prinz, Joachim 206, 335 Quarfort, Wilhelm
41
Rabau, Leo 251 Rapoport, Anatole 99 Rauken, Ola 317 Rickmann, Alfred 180 Riedel, Georg 76, 83 Ringenson, Sofia 45 Riwkin, Anna 102 Rohlén-Wohlgemuth, Hilde 4 Rose, Traute 44 f., 57, 185, 187, 189, 194, 196 f., 202 Rosenblüth, Josef 92, 151, 290 Rosenblüth, Leo 92, 289, 290 Rosenblüth, Ze‘ev 92, 290 Rosenzweig, Franz 108 Rössler, Carl 171 Rothmann, Lenke 209 f. Ruben, Adele Fredrika 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Adeline 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Alfred Julius 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Anton 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Anton Nathanael 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Arvid 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Edvard 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Elise 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Emma 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Gerhard 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Isaac 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Lennart 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Leopold 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Ludvig M. 23, 25, 27, 30 – 45, 78
384
Personenregister
Ruben, Ludwig Moritz 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Moritz 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Otto 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Rebecka 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruben, Reinhold 23, 25, 27, 30 – 45, 78 Ruppin, Arthur 157 f. Rydberg, Viktor 145, 172 Sacher-Masoch, Leopold von 18 Sachs, Georg William 14, 57, 199 – 202, 204, 206 f., 210 f. Sachs, Leonie 14, 57, 199 – 202, 204, 206 f., 210 f. Sachs, Margarete 14, 57, 199 – 202, 204, 205 f., 210 f. Sachs, Nelly 10, 14, 57 – 59, 70, 74 f., 84, 108, 199 – 202, 204, 206 f., 210 f., 213, 290 Sachs, Simon 14, 57, 199 – 202, 204, 206 f., 210 f. Sahlin, Enar 208, 210 Salomon, Karo 241, 278 Salten, Felix 168 Salten, Gerd 105 Sandler, Rickard 325 Sapir, Edward 144 Schad, Christian 184 Schäffer, Hans 8, 112 – 114, 244 f., 252 f. Schattner, Marduk 311 Schéele, Knut Henning Gezelius von 123 Schein, Harry 76 f., 81 – 83, 85, 320 Schickele, René 167, 171 Schnitzler, Arthur 167, 169, 171 Schoeps, Dorothee 3, 8, 105 – 115, 291 Schoeps, Hans-Joachim 3, 8, 10, 70, 101, 105 – 110, 112, 115 f., 291 Schueler, Kaj 85 f. Schütz, Adolf 75 Schwalb, Nathan 207, 350 Schwarz, Rosa Rachel 169, 310 Segerstedt, Torgny 129 f., 317, 321 Seligsohn, Arnold 134 Senator, Werner 241 – 243, 245 Shaw, Bernard 171 Simmel, Georg 133, 143 f., 146
Simon, Heinrich Veit 13, 134, 136, 141, 209, 312 Simonsen, David 163 Singer, Walter 176, 181 Söderberg, Hjalmar 172 Söderblom, Nathan 122 – 127, 129 f., 132 Solvang, Martin 317 Sommer, Ernst 10, 58, 61 f., 64 f., 68, 72, 78 f., 83, 92, 96, 137, 207 f., 213, 246, 258, 266, 271, 307, 310, 312, 316 Specht, Richard 171 Stein, Freiherr vom 73 f., 114, 177, 262 Steinitz, Wolfgang 70, 109 – 111, 115, 274 – 278, 280 – 283, 286, 291, 297, 299 – 302, 377 Steinthal, Heymann 139 f., 143 f., 146 Stempel, Maxim 6, 76, 218 f., 222, 224 f., 227 – 231, 233 – 235, 288, 290 Stern, Annie 176, 223, 242, 311, 332 Stillschweig, Kurt 252 Stoecker, Adolf 18 Storch, Gilel 78 f., 292, 302 Strand, Axel 62, 64 Strindberg, August 172, 290 Suhrkamp, Peter 170 f. Symons, Rebecca 44 Szende, Stefan 76 Tabenkin, Yitzhak 347 Tanberg, Gerda 317 Tarschis, Mauritz 152 – 154, 161 – 163 Taub, Siegfried 63 f. Thierack, Otto George 221 Thomas, William Isaac 144, 220, 260, 283, 312 f., 325 Tietz, Ludwig 241 – 246, 253 Tiso, Josef 61 Torberg, Friedrich 10 Trebitsch, Siegfried 171 Trepte, Curt 282, 290, 300 f. Trump, Donald 101 Ullmann, Alfred 261, 278 Ullmann, Otto 259, 261, 265 Ussischkin, Menachem 162
Personenregister
Valentin, Hugo 2 – 4, 6, 11 – 13, 15, 17, 23, 26, 31, 43, 48, 107, 109, 145, 280, 302 Valentin, Isaac Philip 3, 6 f., 11 – 13, 15, 17, 23, 26, 31, 43, 48, 145, 280, 302 Vierkandt, Alfred 143 Vylder-Lehmann, Marie-Louise de 313, 315, 321 f., 333 Waal, Nic 317 Wächter, Michael 77 f., 85, 351, 352 Wächter, Ruth 77 f., 85, 352 Wächter, Torkel 85, 352 Wagner, Josef „Willi“ 106, 283 Wagner, Richard 101, 106 Wahlström, Lydia 127 Wallenberg, Marcus 112, 129, 244 Warburg, Anna 13, 241, 252 Warburg, Erich 13, 241, 252 Warburg, Eva 13, 241, 252, 309, 318 f., 328 Warburg, Karl 13, 145, 241 Warburg, Max 13, 241 Wassermann, Jakob 10, 167, 169, 171 Weber, Max 143 Wehner, Herbert 301 Weigand, Hermann J. 206
385
Weill, Kurt 101 Weiß, Emil Rudolf 176 Weiss, Alexander 71 f., 261, 314 Weiss, Peter 2, 65, 70 – 73, 84, 228, 261, 314 Weizmann, Chaim 241 Weltsch, Felix 10 Werfel, Franz 167, 177 f., 181 Wertheim, Juliusz 223 Wiese, Leopold von 143 Wilhelm I. 93 Winner, Peter 290 Wohlgemut, Ari 283 Wolf, Elise 44 f., 74, 96 Wolff, Moritz 145, 218 Wolfsfeld, Erich 183, 185 Zadig, Albert 244, 249 Zuckerkandl, Emil 176 Zuckerkandl, Rudolf 176 Zuckerkandl, Viktor 176 Zuckmayer, Carl 167, 171, 178, 181 Zweig, Stefan 19, 45, 177, 213, 244, 250, 282, 301, 327, 352 Zweigbergk, Eva von 102