Deutschland und Europa: Wächst zusammen, was zusammen gehört? 9783110296433, 9783110295948

eBook open access Is Europe in crisis? Is there such a thing as European identity beyond economic and political integr

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Table of contents :
Statt eines Vorwortes
EUtopia - Wo liegt Europa?
Die deutsche Frage und Europa
Krisen des Mittelalters? Zerstörung und Aufbau historischer Identitäten in Zeiten der Europäisierung und Globalisierung
Angesichts der Krise: Wegstrecken europäischer Gedächtnisse
Ganz viele Sonderwege Religiöse Vielfalt in Deutschland und Europa
Deutschland in Europa: Visionen von Vielfalt und Verständigung
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Deutschland und Europa: Wächst zusammen, was zusammen gehört?
 9783110296433, 9783110295948

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Deutschland und Europa: Wächst zusammen, was zusammen gehört?

Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Hamburg

Band 3

Deutschland und Europa: Wächst zusammen, was zusammen gehört? Vorträge herausgegeben von Heimo Reinitzer

Die Akademie der Wissenschaften in Hamburg ist Mitglied in der

ISBN 978-3-11-029594-8 e-ISBN 978-3-11-029643-3 ISSN 2193-1933 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Hubert Eckl, KommunikationsDesign Redaktion: Elke Senne Satz: Michael Peschke, Berlin Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Statt eines Vorwortes Ich bin nicht nur überzeugt, daß das, was ich sage, falsch ist, sondern auch das, was man dagegen sagen wird. Trotzdem muß man anfangen, davon zu reden; die Wahrheit liegt bei einem solchen Gegenstand nicht in der Mitte, sondern rundherum wie ein Sack, der mit jeder neuen Meinung, die man hineinstopft, seine Form ändert, aber immer fester wird. Robert Musil, Das hilflose Europa, 1922

Europa, so sagen es Politiker aller Parteien und Kommentatoren aller Medien, befinde sich in einer Krise und stelle eine Herausforderung dar, auf die man eine Antwort finden müsse. Europa, so tönt es auf den Straßen einiger Regionen, trage Schuld am sozialen Niedergang der Massen, die Armen würden ärmer und die Reichen reicher. In Europa wachse die Gefahr einer Revolution, orakelt ein Elder Statesman, der erfahren hat, dass Revolutionen sich nicht ganz haben parlamentarisieren lassen. „Raus aus Europa“, drohen die einen, „raus aus Europa“, wünschen sich andere. Und eine immer noch wachsende Zahl von Staaten will nach Europa und in seine Währung, den Euro. Um ihn zu stabilisieren, spannt man für ihn, für die ‚Schuldenländer‘ und die Banken immer größere Rettungsschirme auf. Die Metapher vom ‚Rettungsschirm‘ signalisiert eine gewisse Ratlosigkeit. Selbst unter dem größten Parasol oder Parapluie finden nur wenige Platz, und je größer er ist, umso eher schlägt er um und wird nutzlos, wenn der Sturmwind unter ihn fährt. Aber vielleicht soll man beim Rettungsschirm an einen Parachute denken – er rettet zwar nicht vor dem Fall, setzt ihn geradezu voraus, verzögert ihn jedoch und lindert beim Lapsus lebensrettend den Aufprall. Wie auch immer: Die Krise Europas ist jedem von uns gegenwärtig, eine tiefgreifende wie folgenreiche Analyse ihrer Ursachen hat noch nicht stattgefunden. Vielleicht lohnt sie die Mühe nicht, da man ahnen mag, dass es zu einer vernunftgesteuerten Besinnung und Orientierung nicht kommen wird. Schweigsame Skepsis war freilich noch nie hilfreich, weshalb Philosophen wie Jürgen Habermas oder Poeten wie Adolf Muschg das Wort und die Feder zu Europa ergreifen – und sie sind nur die Spitze eines gedankenreichen Eisberges. Es ist, beispielhaft genommen, ein Zeichen des Ernstes

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 Statt eines Vorwortes

der Lage, vor allem aber auch ein Zeichen politischer Reife und journalistischen Verantwortungsbewusstseins, wenn die ‚Frankfurter Allgemeine Zeitung‘ unter dem Titel „Welches Europa wollen wir“ engagierten und sachkundigen Antworten von Politikern, Philosophen, Rechtsgelehrten, Wirtschaftswissenschaftlern oder Poeten über Monate hin breiten Raum gibt. Der vorliegende Sammelband kann und will damit nicht konkurrieren und soll doch engagiert zum Ausdruck bringen, dass ‚Europa‘ ein Thema auch der Wissenschaftsakademien in Deutschland und auch ein Thema der Akademie der Wissenschaften in Hamburg ist, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, ein sichtbarer Faktor in der Gestaltung unserer Wirklichkeit zu sein, und dies nicht erst seit heute. Er basiert auf den Vorträgen, die im Winter 2011/2012 im Rahmen der Akademievorlesungsreihe „Deutschland und Europa: Wächst zusammen, was zusammen gehört?“ gehalten wurden. Nach der Befreiung Deutschlands aus der selbst gewählten Barbarei Hitlers, seiner Helfer und Helfershelfer, kam man in Hamburg zu der Erkenntnis, dass die 1919 neugegründete Universität nicht ernsthaft, jedenfalls nicht wirkungsvoll genug Widerstand geleistet hat gegen ein Regime, das einer freien, demokratisch gesinnten und ihrer eigenen Fehlbarkeit bewussten Wissenschaft grundsätzlich und von Anbeginn an feindlich und vernichtungsbereit gegenüberstand. Als Antwort auf diesen Befund betraute man den so fragilen wie widerständigen und großgesinnten Emil Wolff 1945 mit dem ersten Rektorat der wiedereröffneten Universität und gründete eine Akademie der Wissenschaften, der man ganz bewusst nicht den Rang einer öffentlich-rechtlichen Einrichtung, sondern den staatsunabängigeren Status eines privatrechtlich eingetragenen Vereins zumaß. Der erste Präsident der Joachim JungiusGesellschaft der Wissenschaften e. V. wurde 1947 Bruno Snell. Als er die Nachfolge Wolffs im Rektorat der Universität antrat, übernahm dieser 1949 das Amt des Präsidenten der Akademie. Kurz vor seinem Tod am 24. Februar 1952 war es Emil Wolff gelungen, den Schweizer Historiker und ehemaligen Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes, Carl J. Burckhardt, nach Hamburg einzuladen. Er sprach über ‚Sullys Plan einer Europaordnung‘, machte also 1952 in Übereinstimmung mit Emil Wolff und Bruno Snell ‚Europa‘ zum Thema der Akademie. Sullys Plan war freilich nicht geeignet, Vorbild für eine europäische Ordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu sein. Dieser Plan hatte die Vernichtung der Habsburgischen Monarchie und Hegemonie zur Voraussetzung, wie man zwei Jahrhunderte später sich Europa auch nur denken

Statt eines Vorwortes 

konnte, wenn Napoleon besiegt war. An ein Europa mit den Habsburgern oder mit Napoleon konnte wohl niemand denken. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar Sieger und Besiegte, aber alle Staaten Europas waren zutiefst erschöpft, die Überlebenden aller Nationen sehnten sich gemeinsam nach Frieden. In dieser Situation gewann Robert Schuman Konrad Adenauer für die Idee, die Sicherung des europäischen Friedens durch vertrauensbildende Maßnahmen, durch die Kontrollierbarkeit kriegswichtiger Güter, Kohle und Stahl, zu ermöglichen. Den Staaten der sich bildenden Gemeinschaft, der Montanunion, blieb die größtmögliche Freiheit bei gleichzeitiger Einbindung in die höchstnötige friedensstiftende und von allen zu tragende gegenseitige Verantwortung. Europa funktioniert heute sehr anders und so, dass es vielen Bürgern ein Ärgernis ist. Das Verhältnis von Freiheit und Einheit stimmt nicht. Das norwegische Nobel-Komitee hat deshalb Europa den Friedensnobelpreis 2012 verliehen – nicht nur als Auszeichnung für einen oft hart und nicht immer gewaltfrei erkämpften Frieden der europäischen Staaten seit 1945, sondern wohl auch als Ansporn und als Zeichen der Ermutigung für die Zukunft. Zur Einheit Europas, zur verantwortungsvollen Einbettung Deutschlands in dieses Europa gibt es, die Bundeskanzlerin und ihr Finanzminister sagen es ganz zu Recht, keine Alternative. Angela Merkel und Wolfgang Schäuble wären wohl würdige Träger des Nobelpreises gewesen. Aber das Preiskomitee hat weise gehandelt, ganz Europa ausgezeichnet – und in die Pflicht genommen. Der Wege zu einem weiterhin friedlichen und Frieden stiftenden Europa gibt es viele, vor allem Frankreich und Deutschland sind auch künftig gefordert, den besten zu finden, der gewiss keine bequeme Straße, vielmehr ein mühseliger Steig und enger Pfad ist. Die Lektüre des vorliegenden Bandes erleichtert nicht seine Begehbarkeit, erinnert aber aus unterschiedlichen Blickwinkeln an das unaufgebbare Ziel eines gemeinsamen Europas. Hamburg, im November 2012 Heimo Reinitzer

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Inhalt Statt eines Vorwortes 

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Heimo Reinitzer EUtopia – Wo liegt Europa? 

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Gabriele Clemens Die deutsche Frage und Europa 

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Michael Borgolte Krisen des Mittelalters? Zerstörung und Aufbau historischer Identitäten in Zeiten der Europäisierung und Globalisierung   27 Dan Diner Angesichts der Krise: Wegstrecken europäischer Gedächtnisse  Friedrich Wilhelm Graf Ganz viele Sonderwege Religiöse Vielfalt in Deutschland und Europa 

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Anja Pistor-Hatam Deutschland in Europa: Visionen von Vielfalt und Verständigung 

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Heimo Reinitzer

EUtopia – Wo liegt Europa? Alle reden von Europa - wir tun es auch. Wir tun es und wissen gleichwohl, dass wir nur ein Votum sind in einem vieltausendstimmigen Chor, der seinen oder seine Dirigenten nicht kennt und über keine gemeinsame Partitur verfügt. Unser vokaler und instrumental gut vorbereiteter Einsatz ist selbstverfügt und allein von der Überzeugung geleitet, den Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Hamburg und darüber hinaus, aber auch den politisch Verantwortlichen, also nicht nur politisch Interessierten, zu einer Stellungnahme zu einer Thematik verpflichtet zu sein, die unser aller Gegenwart und unsere Zukunft bestimmt. Wissenschaftsakademien haben das Recht, sich Themen zu widmen, die weitab des tagespolitischen Interesses liegen. Sie haben aber auch die Pflicht, am Wege zu bauen und Stellung zu beziehen zu dem, was uns alle bewegt. Dass ich als Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg das Wort ergreife, soll ein Zeichen sein der Pflichterfüllung, kein Zeichen der Autorität. Mein Amt und meine Institution sind per se keine Garanten besseren Wissens. Wir haben das Thema unserer Vorlesungsreihe mit einem Satz Willy Brandts unterlegt, der allen Zweiflern in seiner Partei zum Trotz mit seiner ihm eigenen, rauen, Charisma tragenden und Emotionen weckenden Stimme den Deutschen in West und Ost zurief, es wachse zusammen, was zusammen gehört. Gut zwanzig Jahre später fragen viele Bürgerinnen und Bürger in Berlin Mitte, Dresden, Neubrandenburg, Magdeburg, Erfurt oder sonst wo in den jungen Bundesländern dringlicher und öfter als in den Ländern der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland: Ist die Koalition gelungen, was war ihr Preis und wie viele Opfer hat die Konjunktion gefordert? Willy Brandts Satz ist mit dem gleichen Optimismus formuliert wie Helmut Kohls Wort von den blühenden Landschaften, die er auf dem Boden der ehemaligen DDR entstehen sah. Wir alle, wenn wir die Augen aufmachen, sehen blühende Landschaften, sehen aber auch die Brachen und Wüstungen, die geblieben sind oder gar neu geschaffen wurden. Brandts wie Kohls Visionen sehen viele heute weniger klar als vor gut 20 Jahren. Wir haben Erfahrungen gesammelt, sind nicht mutlos, aber doch skeptisch geworden. Brandts Diktum haben wir im Titel unserer Vorlesungsreihe auf Europa übertragen und dabei nicht im Original übernommen, sondern mit einem, eben skeptischen, Fragezeichen versehen. Es geht uns um

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Fragen, um ein Wissen um Problemkonstellationen, wir erhoffen uns auch Antworten, nicht endgültige, sondern eher solche, die neue Fragen hervorrufen. Europa ist, nach einem Jahrzehnt großer Selbstzufriedenheit und Selbstgewissheit zum Problem geworden, zu einem Problem, das uns, wenn alles gut geht, noch lange begleiten wird. In der Akademie der Wissenschaften in Hamburg hat sich deshalb eine Arbeitsgruppe gebildet, die sich ‚Region, Nation, Europa‘, die sich Fragen von regionaler wie nationsübergreifender Identität zum Thema gemacht hat. Dieser Arbeitsgruppe gehören Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen an, Historiker, Literatur-, Kultur- und Islamwissenschaftler ebenso wie Juristen. Bislang nicht vertreten sind Ökonomen und Wirtschaftswissenschaftler, Sozial- oder auch Technikwissenschaftler, aus gutem oder auch schlechtem Grund. Sie alle wissen wie ich, dass die gegenwärtige Krise Europas keineswegs nur eine Krise der Staatsfinanzen und der Bankenfinanzierung ist, sondern eine Krise, in der niemand, kein Politiker, kein mürrischer Elder Statesman, keine Kanzlerin, kein Kanzlerkandidat und kein selbst- oder fremdernannter Wirtschaftsweiser, kein Direktor eines Wirtschaftsinstituts und natürlich auch keine Wissenschaftsakademie wirklich und sicher weiß, wie sie zu lösen ist. Jede Maßnahme, jede Vereinbarung, jede Entscheidung zieht neue Maßnahmen, Vereinbarungen und Entscheidungen nach sich, learning by doing, agieren und reagieren. Der Mitspieler sind viele, neben Staaten, Politikern, Banken, Rating-Agenturen und Finanzfachleuten auch und nicht wenige Hasardeure. Alle Innovationen, die unterlassenen wie die inszenierten, ziehen Folgelasten nach sich, die wir zu tragen haben werden, wir, also auch Sie und ich. Zu einem gemeinsamen Europa gibt es keine Alternative, wohl aber zur Vorstellung von den Vereinigten Staaten von Europa. Unsere Vorlesungsreihe im Sommer 2011 behauptete mit Goethe, am Gelde hänge doch alles. Jetzt, im weniger warmen Winter 2011/2012, wollen wir uns selbst widersprechen und sagen: Europa: das ist nicht nur Geld, nicht nur Finanzmarkt und Ökonomie, nicht nur Verschuldung und Rettungsschirm. Rettungsschirm wäre übrigens mein Vorschlag für das Unwort des Jahres. Aber, so ist meine Grundthese: Europa ist nichts ohne gesunde Finanzen. In das Thema der Vorlesungsreihe möchte ich Sie einführen mit der Frage, wo sich Europa denn befindet, wo man es finden kann, und ich habe für den Titel ein Kunstwort gewählt, EUtopie, von dem ich nicht weiß, wie Sie es gelesen, wie Sie es verstanden haben.

EUtopia – Wo liegt Europa? 

Vielleicht als Eutopia, als esoterisch angehauchte, griechisch-französisch-deutsche Hybridbildung, die man übersetzen könnte als Gutort, gutes Land, irdisches Paradies – dieses freilich liegt so nahe nicht, aber ist es ganz fern? Vielleicht als €-Utopie, E mit den zwei Strichen in der Mitte, also Euro-Utopie, doch wir wollten nicht schon wieder vom Geld reden. Vielleicht mit einer constructio apo koinou als EU-Utopie, ja, warum nicht, auch wenn die Europäische Union noch nicht ganz Europa ist, nicht sein kann und sein will. Vielleicht aber auch und eben schließlich als E-Utopie, E als internationales Kfz-Kennzeichen, gesetzt dann für Europa-Utopie. Die Frage, wo Europa liegt, ist auch für einen Europäer nur scheinbar trivial. Denken Sie, Sie befänden sich auf einem Schiff auf hoher See. Sie wissen: Sie sind auf dem Schiff, und doch wollen Sie vom Navigator erfahren: Wo befinden wir uns? Um Auskunft zu erhalten, greife ich zu See- bzw. Landkarten, zunächst zu zwei alten, die beide nach Osten ausgerichtet sind. Die erste zeigt ein T bzw. weit geöffnetes Y,¹ um das herum die drei in der Antike bekannten Erdteile liegen, im Osten Asien, im Süden Afrika und im Norden Europa. Auf dieser kleinen, im Radius nur 4,3 cm messenden Radkarte aus dem Frankreich des 12. Jahrhunderts werden nur 5 Städte eingezeichnet: Troia im Zentrum, darüber Jerusalem, darunter Rom. Links von Troja Konstantinopel. Drei ‚Flüsse‘ trennen die Kontinente: Zwischen Afrika und Asien fließt der Nil, zwischen Europa und Asien der Tanais/Don, Europa und Afrika trennt das mare nostrum, das Mittelmeer. Im Mittelpunkt dieser Karte liegt, wie schon gesagt, Troia, nach Auffassung einiger mittelalterlicher Historiker der Ausgangspunkt imperialer Herrschaft, die dann nach Rom und schließlich in das Frankenreich Karls des Großen wanderte. Dieser Gedanke der translatio, der Herrschaftsübertragung, spiegelt sich aber in der Karte nicht, vielmehr erinnert sie mit Konstantinopel an das oströmische Reich, das bis zum Untergang der Stadt im Jahr 1453 die römischen Könige und Kaiser nicht vergessen ließ, wo der unmittelbare Nachfolger des augusteischen Weltreichs saß. In einer anderen Radkarte, der vielen von Ihnen wohlbekannten Ebstorfer Weltkarte,² die um 1300 entstanden ist, liegt Jerusalem

1 Paris, Bibliothèque Nationale, MS Lat. 16679, fol. 33v; vgl. Alessandro Scafi: Mapping Paradise. A History of Heaven on Earth. London 2006. S. 90. Abb. 5.3. 2 Vgl. z. B. Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988. Hrsg. von Hartmut Kugler in Zusammenarbeit mit Eckhard Michael. Mit Beiträgen von Horst Appuhn [u. a.]. Weinheim 1991. Die großformatige Abbildung der Weltkarte ist als Falttafel auf der Innenseite des hinteren Buchdeckels eingefügt – aber

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im Zentrum. Dieser von Christus gehaltene orbis terrarum zeigt wieder, und diesmal höchst elaboriert, eine T-O-Struktur, das obere Kreissegment gehört Asien und den Wundern des Ostens, des Orients, von dem her das Licht kommt. Das Paradies liegt ganz oben, unter dem Haupt Christi. Den Okzident besetzen rechts Afrika, links, der dunkle Norden: Europa. Auch er ist detailfreudig ausgestaltet, erzählintensiv gerade dort, wo die Karte entstanden ist, rund um Braunschweig. Wer immer die Karte gelesen hat: Vor Augen hatte er Jerusalem als Nabel der Welt, als Ort der Auferstehung Christi. Der Weg zu dieser Stadt war ihm wohl verschlossen, die räumliche Entfernung, die Unwegbarkeit ihm bewusst. Aber Christus, der auf der Karte und in Jerusalem, dem omphalos, dem Nabel der Welt, aufersteht, ist mit seinem Haupt und Leib nach Norden gewandt, sein Sieg über Sünde und Tod gilt auch für den, der auf das Heil dort wartet. Denn Jerusalem als Stadt ist weit, Jerusalem im Herzen der Gläubigen ist überall. Der Weg führt sie nicht in die Stadt, vielmehr kommt Jerusalem in sie, gewaltlos. Eine Vision des Friedens und der Erlösung, unerfüllt bis heute. Nun werden Sie sich fragen, was das mit Europa zu tun hat. Eben nicht sehr viel, ist meine Antwort, aber eben das wollte ich Ihnen deutlich machen. Im ganzen Mittelalter kannte man Europa, aber dieses Europa hat mit dem, was wir heute darunter verstehen, räumlich wie von der Idee her, wenig zu tun. Das Bewusstsein jener Zeit war christlich geprägt, in der zurückliegenden Antike vom um das Mittelmeer versammelten Imperium Romanum, im Mittelalter von seiner christlichen Wiederentdeckung und Verwandlung, durch die dem Papst die Macht zugewachsen war, den Kaiser zu krönen. Viel menschlicher Verstand wurde aufgewendet, um zu erklären, wer an der Spitze der hierarchisch geordneten Welt stand, Papst oder Kaiser. Dieser musste und konnte schließlich darauf verzichten, die Insignien seiner Macht aus der Hand des Papstes zu empfangen. Gleichwohl behielt er die Rolle, Schutzherr für die gesamte Christenheit zu sein, eine Rolle, die ihn dazu zwang, die Reformation anzuerkennen, um die protestantischen Fürsten zur Hilfe gegen die Türken zu verpflichten. Schutzmacht für die gesamte Christenheit war der Kaiser als Herr über das Heilige Römische Reich deutscher Nation nie, europäische Großmächte, die Könige von England und Frankreich, hätten sich die kaiserliche Einmischung in ihre eigenen Angelegenheiten verbeten. Auch Nordeuropa lag jenseits der imperialen Macht des Römischen Kaisers, dessen Untergang im Dreißigjährigen Krieg nur durch den Tod des Schwedenkönigs Gustav Adolph verhindert wurde.

natürlich kann man die Karte heute auch bequem und global googlen und sich vor Augen halten.

EUtopia – Wo liegt Europa? 

Wo liegt Europa?³ Die Antwort auf die Frage ist schwieriger geworden, nicht deshalb, weil wir wissen, dass die Welt größer ist, als der mittelalterliche Mensch sie denken konnte. Mit der Entdeckung Amerikas, mit der Erfahrung der wahren Größe Asiens und Afrikas wurde Europa verhältnisgemäß klein, aber nicht randständig. Einzelne seiner Staaten, Portugal, Spanien, die Niederlande, England und Frankreich eroberten die Welt. Unter dem Prätext, der Menschheit die Botschaft Jesu Christi und das Heil zu bringen, wurden Millionen Menschen getötet, Kulturen vernichtet, Reichtümer gestohlen und transferiert – ein Goldenes Zeitalter, nicht für Europa, aber für einzelne europäische Staaten, deren Machtverlust mit der Unabhängigkeitserklärung Amerikas begann und bis heute nicht ganz beendet ist. Wo liegt Europa? Die Antwort auf diese Frage fällt vor allem deshalb schwerer, weil wir uns bewusst geworden sind, dass der Blick auf die Welt nur unter bestimmten Aspekten und von verschiedenen gleichrangigen Standpunkten her möglich ist und ein jeweils ganz anderes Bild ergibt. Wenn Europa in der Welt Mitte liegt, so gilt das heute mehr denn je nur für uns Europäer, die wir gut daran tun zu wissen, wie einseitig und begrenzt dieser Blick ist. Mit dieser Maßgabe, die sich jeder Anmaßung verschließt, wollen wir die Augen offen halten und Ausschau halten nach Europa. Nach allem Gesagten wird es Sie nicht verwundern, wenn ich behaupte, dass old Europe eine recht junge Erfindung ist.⁴ Sie wurde nach katastrophalen Erfahrungen gemacht, gemacht nicht in den Türkenkriegen, nicht im bestialischen dreißigjährigen Krieg und Religionsgemetzel, sondern, in Deutschland wenigstens, nach den Eroberungskriegen Napoleons, der sich die Kaiserkrone aufs Haupt setzte, dem Heiligen Römischen Reich ein Ende bereitete und ein Europa unter der Vorherrschaft Frankreichs schaffen wollte. Erst heute erkennen wir und haben es durch eine großartige Ausstellung in Bonn vor Augen geführt bekommen, wieviel Positives Napoleon bei uns bewirkte. Zu seiner Zeit aber glaubten 3 Diese Frage stellt sich eingangs auch die imposante Ausstellung: Idee Europa. Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union. Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Berlin, zur Neueröffnung der Ausstellungshalle von I. M. Pei, 25. Mai bis 25. August 2003. Hrsg. von Marie-Louise von Plessen. Berlin 2003. 4 Das stimmt natürlich nur begrenzt: Zur Geschichte der Europa-Idee seit Dante, Enea Silvio de Piccolomini und Sully vgl. Louis Krompotic (Hrsg.): Die EU und ihre Ahnen im Spiegel historischer Quellen. 6 Bände in 15 Teilen. Hannover 2006. Immer noch lesenswert: Jacob ter Meulen: Der Gedanke der Internationalen Organisation in seiner Entwicklung 1300–1800. 2 Bände in 3 Teilen. Haag 1917–1940.

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nicht wenige, in ihm den Antichrist sehen zu sollen und hielten, wie etwa Novalis und andere Romantiker, ihm und Frankreich die Idee eines im universalen Katholizismus geeinten Europas entgegen, dessen Zentrum in einem neuen Jerusalem liegen sollte. Es ist gut, dass daraus nichts geworden ist. Die Entstehung mehrerer Kaiserreiche und Nationalstaaten, die restaurative Politik Metternichs haben die Idee eines geeinten Europas beflügelt, ihrer Realisierung aber keine Chancen eröffnet. Zu erinnern ist an den Abgeordneten der Paulskirchen-Versammlung Arnold Ruge, der in seiner Rede am 22. Juli 1848 auf der 45. Sitzung der Deutschen Nationalversammlung die Bildung einer demokratischen europäischen Konföderation, eines europäischen Völkerbundes forderte. Er fand kaum Gehör. Nur wenige Parlamentarier folgten ihm, unter ihnen Hermann von Beckerath, der die Realisierung der emanzipatorischen Utopie einer späteren Generation auftrug. An dieser Stelle sei erwähnt, dass vergleichbare Ideen einer europäischen Zusammenarbeit auch in anderen Staaten geäußert wurden, in Frankreich von Victor Hugo, in Italien von Giuseppe Mazzini, in England von Charles Mackay, alle mit gleichem oder gar noch weniger Erfolg. Haben Sie bitte Verständnis, wenn ich mich auf deutschsprachige Stimmen beschränke und auch hier nur das Wenigste auswähle, zudem mein Bild mit dickem Griffel male. Der Ruf nach Europa wurde wieder besonders laut in und nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs, ich erinnere nur an Hugo von Hofmannsthal und Heinrich Mann. Der erste glaubte 1922 an ein Europa im Geist Goethes,⁵ der mit entsagender Einsicht das menschliche Leiden bekämpfte, anders als Dostojewskij, der sich dem Leiden hingab, es zu sich rief und sich ihm auslieferte. Der andere, Heinrich Mann, forderte 1924 die Vereinigten Staaten von Europa, nicht zuletzt aus Sorge, es könnten Mächte entstehen, denen die einzelnen Staaten Europas nicht gewachsen wären. Er sagte: „Demokraten können nach ihrem Wesen und allen gegebenen Tatsachen zufolge nur für den Frieden Europas und seine Einigung sein. Das heißt nicht „Pazifismus“. Wer den nächsten europäischen Krieg für nackten Wahnsinn hält, muss noch nicht im Krieg schlechthin eine sogleich zu beseitigende Form des Lebenskampfes sehen; aber er wird sich überzeugen, dass Krieg gegen einst vielleicht drohende Weltmächte besser von einem starken, einigen Europa geführt wird. Es ist nicht Zweck des Vereinigten Europas; mit wem würde Gesamt-Europa lieber in Frieden und Freundschaft leben als mit dem verwandten, gleichstrebenden Amerika,

5 Hugo von Hofmannsthal: Blick auf den geistigen Zustand Europas (1922). In: Paul Michael Lützeler (Hrsg.): Hoffnung Europa. Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger. Frankfurt/Main 1994. S. 250–261.

EUtopia – Wo liegt Europa? 

das seine Erneuerung hilfreich erleichterte. Nur gegen Angreifer die gemeinsame Rüstung. Zweck des sich gründenden Europas ist nicht Krieg und nicht Hass. Es ist Sicherheit und gemeinsames Gedeihen, größere Freiheit des Körpers und der Seele, als die eingeengten, aus Not tyrannischen Einzelstaaten gewähren können. Es ist Wiedervereinigung derselben Kraft, die zerrissen war, desselben Menschentums, das endlich ganz werden will. Es ist nicht Hass, eher Liebe.“⁶

Es ist anders gekommen, der nackte Wahnsinn, von dem Heinrich Mann gesprochen hatte, der Zweite Weltkrieg, ging nicht von einer neu entstandenen Großmacht, sondern von deutschem Boden aus. Von allem Tod, Verderben und Leid abgesehen führte er zur Teilung Deutschlands und zur Teilung Europas. Er führte zur Gründung der UNO, der alle Staaten angehören durften, die, wann immer, und selbst wenige Tage vor Kriegsende, Deutschland und Japan den Krieg erklärt hatten. Über diese Institution, deren Sicherheitsrat und deren Instrumentalisierung durch die Großmächte, durch die USA, Russland und China, mag man sich ärgern, aber eine vernünftige Alternative zu diesem Forum internationaler Politik gab und gibt es bis heute nicht. Eine Alternative zur Einsicht, dass sich die Staaten Europas vereinigen müssen, gibt es ebenfalls bis heute nicht. Mir wie Ihnen fallen die medial inszenieren Liebkosungen von Frau Merkel und Herrn Sarkozy auf die Nerven, aber die Aussöhnung Frankreichs und Deutschlands, die Idee Schumans und Adenauers, später de Gaulles, aber nicht Erhardts oder Hallsteins, von einem geeinten Europa gehören für mich zu den größten und wunderbarsten Ereignissen der Weltgeschichte auch deshalb, weil meine Generation zu den eigentlichen Gewinnern des hoffentlich letzten Weltkriegs gehört. Wer meint, die Freiheit Deutschlands und Europas am Hindukusch verteidigen lassen zu müssen, hat diesen Gewinn, hat dieses unverdiente Privileg meiner Generation unnötigerweise verspielt. Ich weiß nicht, ob wir unseren Kindern werden erklären können, warum wir das getan haben. Es waren die Dichter und Denker, es waren die Poeten und Historiker, die den Wunsch nach einem einigen Europa formulierten. In einer nachgelassenen und erst 1929 und dann wieder 1957 veröffentlichten Schrift Jakob Burckhardts liest man: „Europäisch ist: Das sich Aussprechen aller Kräfte, in Denkmal, Bild und Wort, Institutionen und Partei, bis zum Individuum – das Durchleben des Geistigen nach nach allen Seiten und Richtungen –, das Streben des Geistes, von Allem, was in ihm ist, Kunde zu hinterlassen, sich nicht an Weltmonarchien und Theokratien wie

6 Heinrich Mann: VSE (Vereinigte Staaten von Europa) (1924). In: Hoffnung Europa (wie Anm. 5). S. 262–271, hier S. 270f.

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Orient, lautlos hinzugeben. Von einem hohen und fernen Standpunkt aus, wie der des Historikers sein soll, klingen Glocken zusammen schön, ob sie in der Nähe disharmonieren oder nicht: Discordia concors.“⁷

Und an späterer Stelle merkt er an: „Denn Europäisch ist: Nicht bloß Macht und Götzen und Geld, sondern auch den Geist zu lieben.“⁸ Die Baumeister Europas haben den Ungeist wahrhaft gehasst und den Geist geliebt, und dennoch wohl darin gehandelt, Europa kleinräumig und als wirtschaftlich funktionstüchtige Gemeinschaft zu konzipieren – als Montanunion, als Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Sie garantierte für ein halbes Jahrhundert den Mitgliedsländern, Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Deutschland, den zollfreien Zugang zu Kohle und Stahl und legte damit den Grundstein für den Wiederaufbau Deutschlands, aber auch Europas. Der in Paris am 28. April 1951 geschlossene Vertrag trat am 23. Juli 1952 in Kraft und trug die Handschrift des französischen Außenministers Robert Schuman, der durch Vergemeinschaftung der damals kriegswichtigsten Güter, eben Kohle und Stahl, die Wiederholung des eben erlebten, alles verheerenden Krieges vermeiden wollte. Durch die Römischen Verträge vereinigten sich 1957 die sechs Staaten der Montanunion zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), in deren gemeinsamem Markt sich Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte frei bewegen konnten. Durch die zugleich geschaffene Europäische Atomgemeinschaft (EAG und Euratom) sollte eine gemeinsame Entwicklung zur friedlichen Nutzung der Atomenergie ermöglicht werden. Der wirtschaftliche Erfolg der EWG provozierte die Bildung einer weiteren Europäischen Gemeinschaft, der am 4. Januar 1960 in Stockholm gegründeten EFTA, European Free Trade Association. Ihr gehörten als Gründungsmitglieder an: Dänemark, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, die Schweiz und das United Kingdom. Ziel dieser Vereinigung war, sich wirtschaftlich stark zu machen und gemeinsam für die Aufnahme in die EWG zu positionieren. Dieses Ziel ist nicht erreicht worden, die einzelnen Mitgliedsländer wanderten zu unterschiedlichen Zeiten zur EG, Dänemark und das Vereinigte Königreich 1973, Portugal 1986, Finnland, Österreich und Schweden 1995. Der EFTA, deren Existenz wir kaum

7 Jacob Burckhardt: Einleitung in die Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts (1598–1763). In: Ders.: Historische Fragmente. Aus dem Nachlass gesammelt von Emil Dürr. Mit einem Vorwort von Werner Kaegi. Stuttgart 1957. S. 191–214, hier S. 192f. 8 Jacob Burckhardt: Einleitung (wie Anm. 7). Hier S. 193.

EUtopia – Wo liegt Europa? 

mehr wahrnehmen, gehören heute noch vier Staaten an: Norwegen, Liechtenstein, die Schweiz und Island. Die Europäische Union umfasst heute 27 Staaten, mit dem gemeinsamen Rat, dem gemeinsamen Parlament, der Kommission der Zentralbank, dem Gerichtshof und dem Rechnungshof sind beachtliche Instrumente Europäischer Politik geschaffen. Mit den Kopenhagener Kriterien von 1994 wurden Prinzipien formuliert, die für Beitrittsländer verbindlich gelten sollten: – – –

Stabile Institutionen als Garantie für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten Eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften innerhalb der EU standzuhalten Die Fähigkeit, alle Pflichten der Mitgliedschaft, insbesondere das EURecht, zu übernehmen und mit den Zielen der politischen sowie der Wirtschafts- und Währungsunion einverstanden zu sein

Der gemeinsame Markt, die enge Verflochtenheit von Wirtschaftsinteressen und Unternehmen machen Europa zu einer nicht mehr umkehrbaren Größe, aber eben diese Größe und die Gründe ihrer Ausformung verursachen, wie es scheint, unumkehrbare Probleme. Die Kopenhagener Kriterien lassen fragen, wer ihnen eigentlich wirklich entspricht, und für das Funktionieren des Europäischen Rechts genüge der Hinweis, dass dem Gerichtshof in Luxemburg derzeit 180.000 offene Fälle vorliegen, für die 47 Richter zuständig sind. Montanunion und EWG basierten auf zerstörten, aufbauwilligen und aufbaufähigen Staaten, die Aufnahmen seit 1981 funktionierten vielfach anders. 1981 wurde Griechenland, 1986 wurden Portugal und Spanien Mitglieder, alle drei lange schon beitrittswillig, aber nicht beitrittswürdig. Griechenland war zwar Mitglied der NATO, hatte aber lange unter der Militärdiktatur Georgios Papadopoulos gestanden, die zahllose Morde an Kommunisten und Sozialisten, u. a. an Mikis Theodorakis, zu verantworten hatte, und war erst unter Konstantin Karamanlis zur Demokratie zurückgekehrt. Auch Portugal gehörte seit Ende des 2. Weltkrieges der NATO an, war aber in einen bestialisch geführten Kolonialkrieg verstrickt, dem erst die Nelkenrevolution ein Ende bereitete mit dem Erfolg, dass Mario Soares demokratisch legitimiert regieren konnte. Und Spanien? Nach dem Tod Francos 1975 hatte Juan Carlos einen behutsamen Demokratisierungsprozess in Gang gesetzt, der 1982 durch den Putschversuch der Guardia Civil gestört, aber nicht zerstört wurde. Im selben Jahr noch übernahm Felipe González die Regierung.

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Mit der Aufnahme dieser ehemaligen, wie man heute in Amerika sagen würde, Schurkenstaaten ist ein nicht an der Wirtschaftskraft, sondern ein am Demokratiewillen orientiertes Moment in die Aufnahmepolitik geraten, das in der Osterweiterung nochmals expandierte in die Dankbarkeit für die Hilfe bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Das hat sich bis heute nicht immer ausgezahlt. Die Schwierigkeiten, in denen Europa heute steckt, sind aber nicht alle selbst- und systemverschuldet. Die Rating-Agenturen, die heute Griechenland und Italien, gestern Portugal und Spanien und morgen Frankreich und Deutschland herabstufen, nehmen Nationalstaaten in den Blick, nie Europa. Das hat Methode. Methode hat es aber auch, wenn Deutschland seinen Ausstieg aus der Atomenergie allein nationalstaatlich organisiert, obwohl die Energieversorgung in der Zukunft national nicht mehr geregelt werden kann. Methode hat es auch, wenn Frankreich sich entschließt, Libyen zu bombardieren und das Ende Gaddafis zu erwirken. Deutschlands Nein ist moralisch gut und richtig, politisch aber ein Fehler. In der Europäischen Gemeinschaft stimmt man eben nicht gegen seine eigenen Brüder, und schon gar nicht gemeinsam mit Russland und China. Traurig, aber wahr. Freilich: Wir werden sehen, wie sich Libyen und die Region entwickeln, die gegenwärtigen Ereignisse in Ägypten lassen für die gesamte Region nichts Gutes erwarten. Sehr geehrte Damen, meine Herren, erlauben Sie mir nochmals einen Schritt zurück und in die frühen Sechzigerjahre. Bis dahin war für mich und die meisten meiner Zeitgenossen klar, wo Europa liegt und was Europa ist. Europa lag diesseits des Eisernen Vorhangs, hinter dem der waffenstarrende Ostblock lauerte. Europa war Garant für die Freiheit und bildete den Schutzwall gegen den Kommunismus. Schon Winston Churchill hatte als Führer der britischen Opposition in seiner Züricher Rede vom 19. September 1946 für die Bildung der ‚Vereinigten Staaten von Europa‘ (ohne Great Britain!) plädiert und als ersten Schritt die Gründung des Europarates bezeichnet, der wohl geeignet schien, ein antisowjetisches Machtinstrumentarium zu entwickeln. In der Bundesrepublik Deutschland fiel dieser Gedanke, trotz oder wegen der beklagten deutschen Teilung, auf fruchtbaren Boden. Europa übernahm eine Rolle, die sich Deutschland im eben beendeten Krieg selbst zugedacht hatte und die längst noch nicht vergessen war. Nach der Schlacht von Stalingrad hielt Hermann Göring eine Rede im Berliner Sportpalast, die am 2. Februar 1943 im ‚Völkischen Beobachter‘ abgedruckt wurde, und in der er den Todeskampf deutscher Soldaten mit dem Untergang der Nibelungen vergleicht, deren Ruhm auch der Ruhm der toten Deutschen sein wird, ich zitiere:

EUtopia – Wo liegt Europa? 

„Ein solcher Kampf tobt heute dort, und noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit heiligem Schauer von diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erinnern, dass dort trotz allem Deutschlands Sieg entschieden worden ist. Europa beginnt jetzt vielleicht zu verstehen, was dieser Kampf bedeutet. Europa und nicht zuletzt die Staaten, die heute in einem neutralen Wohlleben noch dahindämmern, lernen nun begreifen, dass diese Männer, die todesmutig dort noch bis zum letzten Widerstand leisten, nicht allein Deutschland, sondern die ganze europäische Kultur vor der bolschewistischen Vernichtung retten. England war nie fähig, für Europa einzutreten [...] Aber, meine jungen Soldaten, umso stolzer und freudiger muss das Herz in eurer Brust jetzt schlagen, einem solchen Volk, einer solchen Wehrmacht angehören zu dürfen. Und es ist schon ein wunderbares Gefühl, das über einen kommt, wenn man weiß: Hier stehe ich zu meinem Volk, das heute der Garant dafür ist, dass Deutschland und Europa bestehen können. Das europäische Schicksal liegt in unserer Hand und damit auch Deutschlands Freiheit, seine Kultur und seine Zukunft.“

Deutschland, und nur Deutschland, das Deutschland der Nationalsozialisten als Garant für Freiheit und Kultur Europas: Diese absurde, aberwitzige Vorstellung war geglaubte Realität und hielt sich in das zerstückelte, von drei Siegermächten besetzte Deutschland West und in den Paradigmenwechsel Deutschland – Europa hinein. Von Westblock hat niemand geredet. Ich und keiner von uns ahnten, dass die USA eine Bombe gebaut hatten, die die sechshundertfache Zerstörungskraft der Atombombe auf Hiroshima besaß. Und niemand in meiner Generation wäre auf die Idee gekommen, den Gräueltaten des Nazireiches etwas Vergleichbares zur Seite zu stellen. Die Ereignisse von Vietnam bis Guantanamo haben Zweifler geweckt. Das Gefühl vom (moralisch intakten) Westen ist unsicher geworden. Der Ostblock, dessen Existenz Europa West eine Vorstellung von Identität gab, dieser Ostblock verdankte seine Existenz nackter Gewalt: Der Volksaufstand in der DDR wurde 1953, in Ungarn 1956 niedergeschlagen, russische Panzer beendeten 1968 den Prager Frühling, 1981 verhängte Jaruzelski das Kriegsrecht in Polen, um Lech Walęsas Solidarnoź zu unterdrücken. Die Bemühungen des Ostblocks um eine europäische Sicherheitskonferenz, die zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1973 in Helsinki und den Folgekonferenzen führten, die Ostpolitik Brandts, Wandel durch Annäherung, letztlich aber Michail Gorbatschows Glasnost und Perestroika haben Polens, Ungarns, Tschechiens und die deutschen Freiheitsbewegungen gestärkt und ermöglicht, dass die Mauer fiel. Mit dem Mauerfall fiel aber auch die Identität Westeuropas als eines Bollwerks gegen den Kommunismus in sich zusammen.

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Es kann sein, dass eine neue Identität weniger gefunden, als gesucht wird in einem Europa, das sich im Kampf gegen den Islamismus oder gar den Islam vereint fühlt. Das wäre verhängnisvoll. Hans Magnus Enzensberger hat einmal, 1989, gegen Brüssel gerichtet gesagt, Europa habe keine gemeinsame Idee, sondern nur gemeinsame Interessen.⁹ Wäre das so schlecht? Ein in seinen Interessen geeintes Europa – das wäre doch was. Frau Merkel könnte dann allerdings keinen Alleingang beim Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Atomenergie wagen, sondern müsste die Europäischen Partner fragen, die doch auch zustimmen müssen, wenn es um die europaweiten Transportwege für Strom und die europa- und weltweiten Lagerstätten für Atommüll geht, der vielleicht noch eine halbe Million Jahre zu strahlen vermag. Gemeinsame Interessen: Mit ihnen wäre viel erreicht, wenn sie sich nicht mit Macht und Gewalt gegen andere richten. Europa ist keine Insel der Seligen, kein irdisches Paradies, aus dem man ausbricht oder in das man eindringt, wann immer es beliebt. Die Europäische Union ist keine Utopie, sie ist unumkehrbar Realität, die zu gestalten Ziel europäischer Politik ist in den Bereichen Finanzen, Wirtschaft, Energie und Verteidigung. Und Europa hat Ziele, eine aufgeklärte Utopie, Europa hat Ideen, die ihm, jenseits und über alle regionalen oder nationalen Merkmale hinaus, Identität verleihen können. Diese Utopie kennen Sie alle. Sie wurde, eingeschränkt, in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und in der Französischen Revolution formuliert und gilt den bis heute nie und nirgendwo ganz realisierten Menschenrechten, der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit. Freiheit meint für mich Respekt vor dem Mitmenschen und Anerkennung staatsbürgerlicher Pflichten, Freiheit, sich wissenschaftlich und mit dem Gewissen konform zu äußern, Freiheit der Berufswahl und des Wohnsitzes, Freiheit der Presse. Bei aller Unterschiedlichkeit der Menschen: Gleichheit bedeutet für mich die Gleichheit aller Personen vor dem Gesetz. In der Bibel steht, die Menschen seien vor Gott alle gleich. Das hat dazu geführt, dass man bestimmte Menschen für auserwählt und die Menschheit hierarchisch gegliedert ansah. Noch in der Unabhängigkeitserklärung Amerikas gilt Gleichheit nur für wehrhafte Männer, nicht für Frauen, Sklaven, Schwarze oder Kinder. Brüderlichkeit heißt für mich menschlich bewusstes Bemühen um soziale Gerechtigkeit und Gewaltverzicht. Natürlich: Brüder, Geschwister 9 Hans Magnus Enzensberger: Brüssel oder Europa – eins von beiden (1989). In: Hoffnung Europa (wie Anm. 5). S. 500–506, hier S. 501.

EUtopia – Wo liegt Europa? 

können streiten, aber in aller Kränkung muss der Segen der Widerruflichkeit liegen. Nur ein wirtschaftlich starkes, ein durch gemeinsame Interessen verbundenes Europa kann fähig sein, diese Utopie wie noch kein anderer Kontinent auf Erden zu verwirklichen.¹⁰

10 Aus der unübersehbaren Fülle an Literatur nenne ich abschließend nur, was ich aus eigener und eben sehr begrenzter Anschauung empfehlen kann: Vereinigtes Europa und nationale Vielfalt – Ein Gegensatz? Referate, gehalten auf dem Symposium der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg am 29.–30. Oktober 1993. Hrsg. von Gerhard Seifert. Göttingen 1994 (Veröffentlichungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 77); Wulf Segebrecht (Hrsg.): Europavisionen im 19. Jahrhundert. Vorstellungen von Europa in Literatur und Kunst, Geschichte und Philosophie. Redaktion: Monica Fröhlich und Ulrich Simon. Würzburg 1999 (Literatura. Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte 10). Petr Drulák (Hrsg.): National and European Identities in EU Enlargement. Views from Central and Eastern Europe. Prag 2001; Karl Acham und Katharina Scherke (Hrsg.): Kontinuitäten und Brüche in der Mitte Europas. Lebenslagen und Situationsdeutungen in Zentraleuropa um 1900 und um 2000. Wien 2003 (Studien zur Moderne 18); Ute Frevert: Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/ Main 2003 (Europäische Geschichte. Fischer Taschenbuch 60146); Karl Acham (Hrsg.): Zur geistigen Signatur des künftigen Europa. Wien 2004 (Zeitdiagnosen. Studien zur Geschichts- und Gesellschaftsanalyse 5); Adolf Muschg: Was ist europäisch? Reden für einen gastlichen Erdteil. München 2005; Olaf Asbach: Europa – Vom Mythos zur Imagined Community? Zur historischen Semantik ‚Europas‘ von der Antike bis ins 17. Jahrhundert. Hannover 2011 (Europa und die Moderne 1); Jürgen Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay. Berlin 2011; Olaf Müller und Bernd Vincken (Hrsg.): Herausforderungen im Zeichen der Krise. Verleihung des Internationalen Karlspreises zu Aachen 2011 an Jean-Claude Trichet. Aachen 2011; Karl Acham: Kulturelle, politische und wirtschaftliche Ordnungskonzepte Europas. Über Möglichkeiten und Grenzen ihrer Universalisierung im Lichte jüngerer Entwicklungen in Religion, Wissenschaft und Gesellschaft. In: Paul Messerli/Rainer C. Schwinges/Thomas Schmid (Hrsg.): Entwicklungsmodell Europa. Entstehung, Ausbreitung und Herausforderung durch die Globalisierung. Zürich 2011 (Forum für Universität und Gesellschaft Universität Bern). S. 101–125.

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Die deutsche Frage und Europa¹ Im Zuge der Euro-Krise war bzw. ist von deutschen Politikern immer wieder zu hören oder zu lesen, dass Deutschland in und für Europa eine besondere Verantwortung habe. So unter anderem in der Rede der Bundeskanzlerin im Rahmen der Bundestagsdebatte am 7. September 2011 oder im Beschluss des SPD-Parteivorstandes vom 12. März 2012.² Warum hat Deutschland diese besondere Verantwortung? Darauf werde ich in meinem folgenden Beitrag über die deutsche Frage und Europa eingehen. Die Antwort darauf liegt in der Entstehungsgeschichte sowohl der Bundesrepublik als auch des europäischen Integrationsprozesses, d. h. jenes Prozesses, der zur Bildung der heutigen EU führte. Voranstellen möchte ich die These, dass ohne die Notwendigkeit der Lösung der deutschen Frage sich nach dem Krieg vermutlich nicht so rasch und umfassend der europäische Einigungsprozess entwickelt hätte, und umgekehrt ohne die europäische Einigung die Bundesrepublik nicht so schnell zu einem – wenn auch begrenzt – souveränen Staat geworden wäre. Was versteht man unter der deutschen Frage? Damit ist die Frage gemeint, was mit Deutschland, das in der Vergangenheit zwei Weltkriege verursacht hatte, nach diesem zweiten Weltkrieg geschehen sollte. Sollte Deutschland auf Dauer niedergehalten, unter Vormundschaft gestellt, vielleicht zerstückelt werden oder – Sie erinnern sich an den Morgenthau-Plan – in ein Agrarland umgewandelt werden, um sicherzugehen, dass von diesem Land niemals wieder ein Krieg ausgehen würde? Oder sollte Deutschland zu diesem Zwecke in ein vereinigtes Europa integriert werden? Das waren Fragen, mit denen sich bereits während des Krieges Widerstandsgruppen und Exilpolitiker in den europäischen Staaten auseinandersetzten und die auch die Siegermächte bewegten, die sich seit 1942/43 mit den Planungen für die Nachkriegszeit befassten. In den westeuropäischen Widerstandsgruppen, die sich ab 1942 in den vom Deutschen Reich besetzten Ländern herausgebildet hatten, wurde diese Frage intensiv diskutiert.³ Und man kam dort übereinstim1 Der Vortragsstil wurde im Folgenden beibehalten. 2 Siehe u. a. www.angela-merkel.de/page/103.htm; www.spd.de/aktuelles/Pressemitteilungen/Pressemitteilung 068/121. (19.04.2012). Siehe auch den Leserbrief von Burkhard Hirsch in der FAZ vom 03.12.2011. 3 Siehe dazu Walter Lipgens: Europa-Föderationspläne der Widerstandsbewegungen 1940–1945. Eine Dokumentation. München 1968; Wilfried Loth: Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939–1957. 3. durchgesehene Auflage. Göttingen

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mend zu dem Ergebnis, dass allein die Integration Deutschlands in ein vereinigtes Europa langfristig den Frieden in Europa sichern sowie die politische und wirtschaftliche Rekonstruktion des Kontinents gewährleisten würde. Denn, so hieß es beispielsweise in einer Schrift aus dem französischen Widerstand mit dem bezeichnenden Titel „Que faire de l’Allemagne“: „Deutschland stellt insgesamt einen viel zu großen Komplex im Herzen des Kontinents dar, und die Deutschen sind viel zu aktive und unternehmende Menschen, als daß man Deutschland auf die Rolle des armen Verwandten beschränken könnte.“⁴ Und wenn alle Staaten außer Deutschland weiterhin ihre Streitfragen wie in der Vergangenheit mit den Waffen regeln könnten, wäre nichts verlockender als der Versuch, diese Massen von Deutschen gegen die anderen Mächte einzusetzen. Eine dauerhafte Niederhaltung Deutschlands inmitten Europas – so die übereinstimmende Meinung der Widerstandsgruppen – würde nur erneut Revanche und Rachegefühle herausfordern oder zu kriegerischen Auseinandersetzungen führen; Deutschland bliebe stets ein neuralgischer Punkt. Deshalb sei eine europäische Föderation, an die alle Staaten Souveränität in den Bereichen von Außen-, Verteidigungs- sowie Wirtschaftspolitik abgeben würden, die einzig mögliche Lösung des Deutschlandproblems. Ebenso entwarfen einzelne Exilpolitiker aus ost- und westeuropäischen Staaten, die während des Krieges in London Zuflucht gefunden hatten, Pläne für künftige regionale Zusammenschlüsse als Ausgangspunkt einer späteren gesamteuropäischen Föderation. Erinnert sei hier unter anderem an das von Sikorski und Beneš 1942 unterzeichnete Abkommen zur Bildung einer „Polnisch-Tschechoslowakischen Konföderation“, an Graf Sforzas Pläne zur Bildung einer „Mittelmeer-Föderation“ oder an die Bestrebungen Spaaks zu einem Zusammenschluss der Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg. Anders hingegen sahen die Nachkriegsplanungen der USA und der Sowjetunion aus. Während der amerikanische Präsident Roosevelt von den künftigen vier Weltpolizisten träumte – USA, Sowjetunion, China und Großbritannien –, die allein über Waffen verfügen und die Abrüstung der übrigen Welt kontrollieren sollten, und sein Außenminister Cordell Hull für eine weltumfassende Friedensorganisation ohne regionale Untergliederungen eintrat, strebte die Sowjetunion die Wiederherstellung zahlrei-

gen 1996; Frank Niess: Die europäische Idee – aus dem Geist des Widerstands. Frankfurt/Main 2001. 4 Francis Gérard: Was tun mit Deutschland? (November 1943). Auszug aus dem Buch: Que faire de l’Allemagne?. In: Lipgens: Europa-Föderationspläne (wie Anm. 3). S. 218–222, S. 220.

Die deutsche Frage und Europa 

cher kleiner Nationalstaaten in Europa und die Ausdehnung ihres eigenen Einflussbereiches über Ostmitteleuropa an. In allen diesen Plänen war für den Gedanken einer europäischen Föderation unter Einschluss Deutschlands, wie er von den Widerstandsgruppen und Exilpolitikern vertreten worden war, kein Platz. Lediglich die britische Regierung unter Premierminister Churchill hatte während des Krieges mehrfach den Gedanken zur Bildung eines „Council of Europe“, in dem sich die europäischen Völker zusammenschließen und ihre Streitigkeiten friedlich schlichten könnten, geäußert. Sowohl die Inanspruchnahme durch die Kriegsführung als auch die schwache Position Großbritanniens innerhalb des alliierten Kriegsbündnisses führten dazu, dass diese Gedanken über das Stadium einer Absichtserklärung oder vagen Zukunftsvision nicht hinausgelangten.⁵ Das Ergebnis ist bekannt: Nach dem Kriege wurde in Europa das System der souveränen Nationalstaaten wieder hergestellt, und Deutschland wurde – aufgeteilt in vier Besatzungszonen – der alliierten Kontrolle unterstellt. Deutschlands Zukunft war ungewiss. Vor allem Frankreich, der direkte Nachbar Deutschlands, strebte die dauerhafte Entmachtung und Zerstückelung Deutschlands an, um Sicherheit vor dem Nachbarn im Westen zu erlangen. Stichworte hierzu sind: Abtretung linksrheinischer Gebiete sowie des Ruhrgebietes, Annexion des Saarlandes, Aufteilung Rest-Deutschlands in kleine machtlose Einheiten.⁶ Frankreich konnte diese Politik allerdings längerfristig nicht durchsetzen, da die USA im Zuge des beginnenden Kalten Krieges die Wiederaufrichtung Deutschlands und Europas als Bollwerk gegen den Kommunismus anstrebten, zudem ein prosperierendes Europa als Handelspartner und Absatzmarkt für ihre Produkte benötigten. Ausdruck dieser neuen Deutschland- und Europapolitik war der Marshallplan, der auf die wirtschaftliche und politische Stabilisierung des Kontinents zielte und zu diesem Zwecke die Bildung einer supranationalen europäischen Organi-

5 Zu den Nachkriegsplanungen der Siegermächte siehe Lipgens: Europa-Föderationspläne (wie Anm. 3); siehe auch Gabriele Clemens/Alexander Reinfeldt/Gerhard Wille: Geschichte der europäischen Integration. Ein Lehrbuch. Paderborn 2008. S. 62ff. 6 Zur französischen Deutschlandpolitik siehe u. a. Dietmar Hüser: Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“. Dynamik aus der Defensive ‒ Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten, 1944–1950. Berlin 1996; Stefan Martens (Hrsg.): Vom „Erbfeind“ zum „Erneuerer“. Aspekte und Motive der französischen Deutschlandpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Sigmaringen 1993; Andreas Wilkens: Von der Besetzung zur westeuropäischen Integration: die französische Deutschlandpolitik der Nachkriegszeit (1945–1950). In: Historische Mitteilungen 4 (1991). S. 1–21.

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sation vorsah.⁷ Für die USA war klar, dass Deutschland in diese Organisation einbezogen werden musste. Forscher wie John Gimbel gehen sogar davon aus, dass der Marshallplan allein lanciert wurde, um das Deutschlandproblem zu lösen.⁸ Um für Frankreich den wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau Deutschlands akzeptabel zu machen, sei, so Gimbel, ein Wiederaufbauprogramm für ganz Europa aufgelegt worden, der deutsche also mit dem europäischen Wiederaufbau verzahnt worden. Frankreich wurde als Kompensation für seine Zustimmung zu einem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau Deutschlands der Wiederaufbau der eigenen Wirtschaft in Aussicht gestellt, zudem Sicherheit durch die Errichtung einer umfassenden europäischen Organisation. Manfred Knapp schlussfolgert: „Im Wasserzeichen der Geburtsurkunde der Bundesrepublik sind deshalb die Buchstaben ERP [European Recovery Program, Anm. G. C.] eingeprägt“.⁹ 1949 kam es zur Gründung eines westdeutschen Staates. Eine starke supranationale europäische Organisation wurde allerdings aufgrund des Widerstandes einer Reihe europäischer Staaten nicht errichtet. Die 1948 gegründete OEEC (Organisation for European Economic Cooperation) war nur eine lockere, intergouvernementale Organisation, die Frankreichs Wunsch nach dauerhafter Sicherheit vor Deutschland nicht gewährleisten konnte. Sicherheit boten lediglich das gleichzeitig mit der Gründung der Bundesrepublik erlassene Besatzungsstatut sowie das Internationale Ruhrstatut. Aufgrund der amerikanischen Politik, die auf eine baldige Wiederaufrichtung Deutschlands zielte, war allerdings abzusehen, dass diese Kontrollmechanismen nicht auf Dauer Bestand haben würden. Die neue amerikanische Deutschland- und Europapolitik, die von Großbritannien unterstützt wurde, stellte Frankreich vor ein Dilemma: Auf der einen Seite benötigte Frankreich die von den USA angebotenen 7 Zur amerikanischen Europapolitik sowie zum Marshallplan siehe u. a. Gerd Hardach: Der Marshallplan. Auslandshilfe und Wiederaufbau in Westdeutschland 1948–1952. München 1994; Michael J. Hogan: The Marshall Plan. America, Britain, and the Reconstruction of Western Europe, 1947–1952. Cambridge 1987 [Repr. 1995]; Geir Lundestad: The United States and Western Europe since 1945. From „empire“ by invitation to transatlantic drift. Oxford 2003; Alan S. Milward: The Reconstruction of Western Europe 1945–51. London 1984; Beate Neuss: Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1945–1958. Baden-Baden 2000; HansJürgen Schröder (Hrsg.): Marshallplan und westdeutscher Wiederaufstieg. Positionen ‒ Kontroversen. Stuttgart 1990. 8 John Gimbel: The Origins of the Marshall Plan. Stanford 1976; Ders.: Die Entstehung des Marshall-Plans. In: Schröder: Marshallplan (wie Anm. 7). S. 11–21. 9 Manfred Knapp: Deutschland und der Marshallplan: Zum Verhältnis zwischen politischer und ökonomischer Stabilisierung in der amerikanischen Deutschlandpolitik nach 1945. In: Schröder: Marshallplan (wie Anm. 7). S. 35–59, S. 54.

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finanziellen Mittel zum Wiederaufbau des eigenen Landes, andererseits aber konnte es sich nicht mit der angestrebten Wiederaufrichtung Deutschlands abfinden. Die Lösung dieses Dilemmas bestand in der festen Einbindung Deutschlands in ein geeintes Europa unter Kontrolle Frankreichs und anderer europäischer Mächte. Dies war die Geburtsstunde des Schuman-Planes bzw. der daraus hervorgegangenen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Den konkreten Anlass für diese Initiative bildete die Außenministerkonferenz der drei Westmächte vom 10. bis 13. Mai 1950, auf der auf anglo-amerikanischen Wunsch hin die Aufhebung der Begrenzung der westdeutschen Stahlproduktion sowie eine Lockerung des Besatzungsstatuts beschlossen werden sollten. Die Folgen dieses Vorgehens für Frankreich schilderte der französische Planungskommissar Jean Monnet in einem dramatischen Appell an Ministerpräsident Bidault und Außenminister Schuman: „Wirtschaftsaufschwung in Deutschland; deutsches Ausfuhrdumping; Ruf nach Schutzmaßnahmen für die französische Industrie; Stillstand oder Verwässerung der Liberalisierung des Handels; Wiedererstehen der Vorkriegskartelle; unter Umständen Ausrichtung der deutschen Wirtschaft nach Osten als Vorspiel für politische Vereinbarungen; Rückfall Frankreichs in die alten Gleise einer begrenzten und geschützten Produktion. […] Deutschland wird sich schnell entwickeln, und wir werden die deutsche Aufrüstung nicht verhindern können. Frankreich aber wird seinem herkömmlichen Malthusianismus verfallen, und diese Entwicklung wird zwangsläufig zur Folge haben, daß unser Land von der Bildfläche verschwindet.“¹⁰ Nach Auffassung Monnets konnte die Wiederaufrichtung Frankreichs nicht mehr weitergehen, wenn nicht die Frage der industriellen Produktion Deutschlands und seiner Konkurrenzkapazität schnell eine Regelung finden würde. Da Deutschland über die hochwertige Ruhrkohle verfügte, konnte es Stahl zu einem Preis produzieren, mit dem Frankreich nicht konkurrieren konnte. Frankreich benötigte für seine eigene Stahlproduktion die Ruhrkohle, und es fürchtete, nach Lockerung des Besatzungsstatuts und der Internationalen Ruhrkontrolle nicht mehr zu den gleichen Bedingungen wie Deutschland über diesen Rohstoff verfügen zu können. Deshalb war rasches Handeln angesagt, und Monnet sah die einzige Lösung des Problems in der Bildung einer supranationalen Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Ein wichtiger Punkt in dem von Robert Schuman schließlich aufgegriffenen Vorschlag zur Bildung der Kohle- und 10 Monnet-Memorandum vom 3. Mai 1950. In: Europäische Gemeinschaft 7 (1970). S. 31–32 (von Jean Monnet autorisierte deutsche Übersetzung des Memorandums, das zuerst abgedruckt wurde in: Le Monde, 9. Mai 1970, S. 6).

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Stahlgemeinschaft bestand dann auch in dem gleichberechtigten Zugang zu allen Rohstoffen, sprich deutsche Ruhrkohle. In seiner Rede vom 9. Mai 1950, die als Schuman-Plan in die Geschichte eingegangen ist, fügte der französische Außenminister noch einen anderen Aspekt hinzu: Die Zusammenfassung der Kohle- und Stahlproduktion von Deutschland und Frankreich sowie weiterer Länder unter eine Oberste Hohe Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein sollten, würde in Zukunft jeden Krieg nicht nur undenkbar, sondern materiell auch unmöglich machen.¹¹ Mehrere Motive lagen der Lancierung des Schuman-Plans zugrunde: Die Erlangung von Sicherheit vor Deutschland, die Verhinderung eines unkontrollierten wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstiegs Deutschlands sowie die Wiederaufrichtung der französischen Industrie. Besonders letzteres lag dem französischen Planungskommissar Monnet am Herzen, der in der Errichtung einer Kohle- und Stahlgemeinschaft die Möglichkeit erblickte, den französischen Modernisierungsplan für die Wirtschaft zu retten.¹² Die Lösung des Deutschlandproblems – konkret die französische Furcht vor der wirtschaftlichen und dann zu erwartenden politischen Wiederaufrichtung Deutschlands – hatte somit den ersten Schritt in Richtung der Europäischen Gemeinschaften initiiert. 1951 wurde der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl von sechs

11 Erklärung der französischen Regierung über eine gemeinsame deutsch-französische Schwerindustrie vom 9. Mai 1950. In: Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung. Zweiter Teilband. München 1962. S. 680–682. 12 Zu den Motiven für die Lancierung des Schuman-Plans siehe u. a. John Gillingham: Coal, Steel, and the Rebirth of Europe, 1945–1955. The Germans and French from Ruhr Conflict to Economic Community. Cambridge 1991; Constantin Goschler/Christoph Buchheim/Werner Bührer: Der Schumanplan als Instrument französischer Stahlpolitik. Zur historischen Wirkung eines falschen Kalküls. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 37 (1989). S. 171–206; Hüser: Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“ (wie Anm. 6); Matthias Kipping: Zwischen Kartellen und Konkurrenz. Der Schuman-Plan und die Ursprünge der europäischen Einigung 1944–1952. Berlin 1996; Ulrich Lappenküper: Der Schuman-Plan. Mühsamer Durchbruch zur deutsch-französischen Verständigung. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994). S. 401–445; Milward: The Reconstruction of Western Europe (wie Anm. 7); Raymond Poidevin: Die europapolitischen Initiativen Frankreichs des Jahres 1950 ‒ aus eine Zwangslage geboren? In: Ludolf Herbst/ Werner Bührer/Hanno Sowade (Hrsg.): Vom Marshallplan zur EWG. Die Eingliederung der Bundesrepublik in die westliche Welt. München 1990. S. 257–262; Andreas Wilkens (Hrsg.): Le Plan Schuman dans l’histoire. Intérêts nationaux et projet européen. Brüssel 2004; Ders. (Hrsg.): Interessen verbinden. Jean Monnet und die europäische Integration der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1999.

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Staaten unterzeichnet und damit die erste der drei supranationalen Europäischen Gemeinschaften errichtet.¹³ Für die Bundesrepublik wiederum bedeutete die gleichberechtigte Aufnahme in die Sechsergemeinschaft einen wichtigen Schritt hin zum Ziel der Erlangung von Gleichberechtigung und Souveränität.¹⁴ Auch die weiteren Integrationsschritte, d. h. der Plan zur Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und die Errichtung von EWG und Euratom 1958, erwuchsen aus dem Wunsch, Deutschland fest in Europa einzubinden und seinen unkontrollierten wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg zu verhindern. Frankreichs im Oktober 1950 von Ministerpräsident René Pleven verkündeter Vorschlag, deutsche Truppen im Rahmen einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft aufzustellen, war eine Reaktion auf den Ausbruch des Koreakrieges und den Wunsch der USA nach einer Wiederbewaffnung Deutschlands. Das Ansinnen der USA, deutsche Truppen im Rahmen der NATO aufzustellen, war für Frankreich zu diesem Zeitpunkt undenkbar. Auf der anderen Seite hatten die USA finanzielle Zusagen an Frankreich zum Aufbau der eigenen Armee und eine von Frankreich gewünschte stärkere militärische Präsenz der USA auf dem Kontinent davon abhängig gemacht, dass Frankreich der Wiederbewaffnung Deutschlands zustimmte. Aus diesem Dilemma heraus entstand dann der französische Vorschlag zur Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft, an der Deutschland – wenn auch keineswegs gleichberechtigt – teilnehmen würde.¹⁵ Die EVG scheiterte zwar schließlich an Frankreich selbst, aber die gefundene Ersatzlösung, nämlich Bildung der WEU und Eingliederung deutscher Truppen in die NATO, führte Deutschland ein Stück weiter in die Souveränität und Gleichberechtigung. Im Rahmen der 1954 unterzeichneten Pariser Verträge wurde nicht nur die Aufnahme Deutschlands in die NATO geregelt, zugleich wurde das Besatzungsstatut 13 Der Vertrag wurde am 18. April 1951 in Paris von Belgien, der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und den Niederlanden unterzeichnet. Nach der Ratifizierung in den sechs Staaten trat er am 23. Juli 1952 in Kraft. 14 Aus diesem Grunde hatte der deutsche Bundeskanzler Adenauer, der bereits am 7. Mai 1950 von dem Plan in Kenntnis gesetzt wurde, diesem Vorschlag sogleich zugestimmt. 15 Zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft siehe Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hrsg.): Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945–1956. Bd. 2: Die EVG-Phase. München 1990; Kevin Ruane: The Rise and Fall of the European Defence Community. Anglo-American Relations and the Crisis of European Defence. 1950–1955. New York 2000; Gilbert Trausch (Hrsg.): Die Europäische Integration vom SchumanPlan bis zu den Verträgen von Rom. Baden-Baden 1993; Hans-Erich Volkmann/Walter Schwengler (Hrsg.): Die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Stand und Probleme der Forschung. Boppard 1985.

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abgeschafft und der Bundesrepublik mit dem Deutschlandvertrag die – wenn auch noch begrenzte – Souveränität zugestanden. Für Frankreich war diese Lösung nicht zuletzt deshalb akzeptabel, weil Deutschland durch den Integrationsprozess eng in Westeuropa eingebunden war. Durch die Bildung von EWG und Euratom im Jahre 1958 wurde diese Einbindung und enge Verflechtung der europäischen Staaten weiter verstärkt.¹⁶ Die Rückführung Deutschlands in den Kreis der europäischen Mächte und die Erlangung von Souveränität und Gleichberechtigung des nach dem Kriege alliierter Kontrolle unterworfenen westdeutschen Staates waren durch die Zustimmung zur europäischen Integration möglich geworden. Die Bundesrepublik blieb auch in den folgenden Jahrzehnten eine vehemente Unterstützerin und Förderin des europäischen Integrationsprozesses,¹⁷ was allerdings nicht bedeutete, dass sie auf die Durchsetzung eigener nationaler Interessen verzichtet hätte. Dies zeigte sich beispielsweise bei der Gestaltung der gemeinsamen Agrarpolitik.¹⁸ Auf der anderen Seite aber unterstützte sie stets diverse Maßnahmen zur Bildung einer Politischen Union Europas. Die skizzierte enge Verbindung zwischen europäischer Integration und deutscher Frage wurde wiederum deutlich bei der Entstehung der Europäischen Union durch den Maastrichter Vertrag zu Beginn der 1990er-Jahre: Gespräche über die Errichtung einer Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) als logische Folgerung aus dem mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) angestrebten Binnenmarktprojekt waren bereits seit dem Ende der 1980er-Jahre im Gange. Insbesondere Frankreich unter Staatspräsident François Mitterrand strebte eine Wiederaufnahme des 16 Zur Entstehung von EWG und Euratom siehe u. a. Michael Gehler (Hrsg.): Vom gemeinsamen Markt zur europäischen Unionsbildung. 50 Jahre Römische Verträge 1957–2007. Wien/Köln/Weimar 2009; Rudolf Hrbek/Volker Schwarz (Hrsg.): 40 Jahre Römische Verträge: Der deutsche Beitrag. Dokumentation der Konferenz anlässlich des 90. Geburtstages von Dr. h. c. Hans von der Groeben. Baden-Baden 1998; Hanns Jürgen Küsters: Die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Baden-Baden 1982; Peter Weilemann: Die Anfänge der Europäischen Atomgemeinschaft. Zur Gründungsgeschichte von Euratom 1955–1957. Baden-Baden 1983; Clemens/Reinfeldt/Wille: Geschichte der europäischen Integration (wie Anm. 5). S. 123–137. 17 Zur deutschen Europapolitik siehe u. a. Gisela Müller-Brandeck-Bocquet [u. a.]: Deutsche Europapolitik. Von Adenauer bis Merkel. 2. aktual. u. erw. Auflage. Wiesbaden 2010; Claudia Hiepel: Willy Brandt und Georges Pompidou. Deutsch-französische Europapolitik zwischen Aufbruch und Krise. München 2012; Henning Türk: Die Europapolitik der Großen Koalition. 1966–1969. München 2006. 18 Siehe dazu Kiran Klaus Patel: Europäisierung wider Willen. Die Bundesrepublik Deutschland in der Agrarintegration der EWG 1965–1973. München 2009.

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früheren, aufgrund unterschiedlicher konzeptioneller Vorstellungen gescheiterten Werner-Planes zur Bildung einer Wirtschafts- und Währungsunion an, um die geld- und währungspolitische Dominanz der deutschen Bundesbank in Westeuropa zu überwinden.¹⁹ In der Bundesrepublik hingegen stießen die Pläne für eine WWU auf Skepsis und Zurückhaltung, da eine Aufgabe der auf Preisstabilität ausgerichteten, erfolgreichen deutschen Währung zugunsten einer europäischen Währung nicht im deutschen Interesse lag. Die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Kohl verfolgte vielmehr das Projekt der Schaffung einer Politischen Union, erklärte aber aus integrationspolitischen Gründen ihre grundsätzliche Bereitschaft, den Gedanken der Währungsunion weiterzuverfolgen. Seit Ende 1987 wurden von der Europäischen Kommission und den Regierungen einiger EG-Mitgliedstaaten verschiedene Vorschläge dazu erarbeitet. Sehr zum Verdruss der französischen Regierung zögerte die deutsche Regierung allerdings, einen verbindlichen Termin für die Einberufung einer Regierungskonferenz zur Beratung über die weiteren Schritte festzulegen. Erst die zunehmenden Auflösungserscheinungen in Ostdeutschland und der Druck der europäischen Partner auf Deutschland, die innerdeutsche Entwicklung in den europäischen Einigungsprozess einzubetten, führten dazu, dass Kohl nach vorheriger Absprache mit Mitterrand auf dem Gipfel des Europäischen Rates in Straßburg am 8./9. Dezember 1989 der Einsetzung einer Regierungskonferenz zur Wirtschafts- und Währungsunion noch vor Ende 1990 zustimmte.²⁰ Auf dem Treffen in Dublin am 25./26. Juni 1990 beschloss der Europäische Rat die Einsetzung einer weiteren Regierungskonferenz zur Schaffung einer Politischen Union. Beide Regierungskonferenzen (WWU und Politische Union) sollten ihre Arbeiten so rechtzeitig abschließen, dass ein Vertrag vor der Vollendung des Binnenmarktes in Kraft treten konnte.

19 Zu den Plänen für eine Wirtschafts- und Währungsunion sowie eine Politische Union Europas siehe Franz Knipping: Rom, 25. März 1957. Die Einigung Europas. München 2004. S. 218–256. 20 Zu den Vorgängen der Jahre 1989/1990 siehe insbesondere: Dokumente zur Deutschlandpolitik, Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. Bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann. München 1998; Diplomatie für die deutsche Einheit: Dokumente des Auswärtigen Amts zu den deutschsowjetischen Beziehungen 1989/90. Hrsg. von Andreas Hilger. München 2011; Documents on British Policy Overseas. Ser. 3, Vol. 7 (German Unification, 1989–1990). Ed. by P. Salmon/K. A. Hamilton/S. R. Twigge. London 2010; Hanns Jürgen Küsters: Das Ringen um die deutsche Einheit. Die Regierung Helmut Kohl im Brennpunkt der Entscheidungen 1989/90. Freiburg 2009.

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Insbesondere Großbritannien unter Margaret Thatcher und Frankreich unter François Mitterrand sahen der sich abzeichnenden Wiedervereinigung Deutschlands mit gemischten Gefühlen entgegen und hofften, diesen Prozess noch verhindern oder wenigstens verzögern zu können.²¹ Fürchtete Thatcher von einem wiedervereinigten Deutschland eine künftige deutsche Hegemonie in Europa, so glaubte Mitterrand, dass ein wiedervereinigtes Deutschland das Interesse an einer Stärkung der Europäischen Gemeinschaften verlieren würde. In der Phase, als die deutsche Wiedervereinigung unvermeidlich schien, verfolgte Frankreich im Grunde seine seit Ende der 1940er-Jahre betriebene Deutschlandpolitik weiter, indem es die Einbindung Deutschlands in eine gestärkte Gemeinschaft bzw. Union forcierte und eine Vertiefung des Integrationsprozesses forderte. Und um Mitterrand zu besänftigen oder um ihm entgegenzukommen, machte Kohl eine Reihe von Zugeständnissen in Bezug auf die weitere Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses, die er unter anderen Umständen vermutlich nicht gemacht hätte.²² Dazu zählten die Zugeständnisse bei der Wirtschafts- und Währungsunion. Im August 1990 (31.8.) erfolgte die politische Einigung der beiden deutschen Staaten in Form eines Vertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR „über die Herstellung der Einheit Deutschlands“ (Einigungsvertrag). In diesem Vertrag enthalten ist zugleich das Bekenntnis des wiedervereinigten Deutschlands, „durch die deutsche Einheit einen Beitrag zur Einigung Europas und zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung zu leisten“.²³ Am 12. September 1990 wurde der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ unterzeichnet, der sog. Zwei-plus-Vier-Vertrag, durch den die vier Siegermächte ihre Rechte und Verantwortlichkeiten „in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“ beendeten.²⁴ Mit seinem Inkrafttreten am 15. März 1991 hatte 21 Aus der Fülle an Literatur zur deutschen Wiedervereinigung siehe u. a. German Unification. Expectations and Outcomes. Ed. by Peter C. Caldwell/Robert R. Shandley. New York 2011; Klaus-Rainer Jakisch: Eisern gegen die Einheit: Margaret Thatcher und die deutsche Wiedervereinigung. Frankfurt/Main 2004; Andreas Rödder: Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. München 2011. 22 Jacques Lévesque: In the Name of Europe’s Future: Soviet, French and British Qualms about Kohl’s Rush to German Unification. In: Europe and the End of the Cold War: A Reappraisal. Ed. by Frédéric Bozo [u. a.]. London/New York 2008. S. 95–118. 23 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands (Einigungsvertrag), unterzeichnet in Berlin am 31. August 1990 (Auszug). In: Curt Gasteyger (Hrsg.): Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945 bis 1993. Darstellung und Dokumentation. Bonn 1994. S. 444–451, Präambel S. 444. – Am 3. Oktober 1990 wurde die Vereinigung der beiden deutschen Staaten feierlich vollzogen. 24 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen

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Deutschland seine volle Souveränität erlangt. Am 10. Dezember 1991 wurde dann von den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaften der Vertrag über die Europäische Union paraphiert und am 7. Februar 1992 von den Außen- und Finanzministern in Maastricht unterzeichnet, somit die EU gegründet.²⁵ Das heißt: Der politische Umbruch in Mittel- und Osteuropa sowie vor allem die sich abzeichnende Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten hatten den bereits in Gang gekommenen Prozess zur Verwirklichung einer Wirtschafts- und Währungsunion beschleunigt und auch dem Projekt zur Bildung einer Politischen Union weiteren Auftrieb gegeben. Sowohl den Partnern der Bundesrepublik als auch der deutschen Bundesregierung selbst war nämlich daran gelegen, die Wiedervereinigung Deutschlands in einen europäischen Rahmen einzubetten und keinen Zweifel an der europäischen Bindung der neuen Bundesrepublik aufkommen zu lassen. Ohne die sich abzeichnende Wiedervereinigung Deutschlands und somit die Notwendigkeit, erneut die „deutsche Frage“ zu lösen, wäre vermutlich die Europäische Union nicht so zügig und vielleicht auch nicht in der jetzt bestehenden Form gegründet worden. Die Skepsis der Regierung Kohl gegenüber dem Projekt einer Wirtschaftsund Währungsunion sowie auch das Scheitern früherer Versuche zur Bildung einer Währungsunion sprechen für diese Vermutung. Aber ohne Zugeständnisse im europäischen Integrationsprozess wäre die deutsche Wiedervereinigung schwieriger geworden. In seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1991 unterstrich Kohl die enge Verbindung von deutscher Frage und europäischer Integration: „Maastricht“ – so Kohl – „ist der Beweis dafür, dass das vereinte Deutschland seine Verantwortung in und für Europa aktiv wahrnimmt und zu dem steht, was wir immer gesagt haben, nämlich dass die deutsche Einheit und die europäische Einigung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind.“²⁶ Mit diesen knappen Ausführungen zur Entwicklung Deutschlands und des europäischen Integrationsprozesses sollte meine Ausgangsfrage nach der besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Europa beantwortet sein. Beides, die Entwicklung des westdeutschen Staates hin Republik, Frankreich, Großbritannien, der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland, unterzeichnet in Moskau am 12. September 1990. In: Gasteyger (Hrsg.): Europa zwischen Spaltung und Einigung (wie Anm. 23). S. 452–456, S. 452. 25 Nach der Ratifizierung in den beteiligten Staaten trat der Maastrichter Vertrag am 1. November 1993 in Kraft. 26 Zitiert nach Ulrike Kessler: Deutsche Europapolitik unter Helmut Kohl: Europäische Integration als „kategorischer Imperativ“? In: Müller-Brandeck-Bocquet [u. a.]: Deutsche Europapolitik (wie Anm. 17). S. 119–171, S. 155.

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zu voller Souveränität und die Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses bis hin zur Europäischen Union, ist untrennbar miteinander verknüpft, das eine wäre ohne das andere so nicht zustande gekommen. Die Außenpolitik eines Staates wird durch verschiedene Faktoren bestimmt: Neben wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Interessen spielen auch Traditionen, Erinnerungen und geschichtliche Entwicklungen – man kann auch sagen, die Identität eines Landes – eine Rolle, alles Faktoren, die eine Kontinuität in der Außenpolitik über alle Parteigrenzen hinweg bewirken. Das heißt in dem konkreten Falle, dass die historisch bedingte, enge Verwobenheit zwischen der Bildung eines souveränen westdeutschen Staates und europäischer Integration Teil der bundesdeutschen Identität ist und stets ein Faktor im außenpolitischen Denken und Handeln bundesrepublikanischer Regierungen war und sein wird. Die grundsätzlich positive Haltung gegenüber dem europäischen Integrationsprozess gehört ebenso wie die deutschfranzösische Verbundenheit und die engen Beziehungen zu den USA zu den Kontinuitätslinien bundesdeutscher Politik. Von daher ist davon auszugehen, dass die Bundesrepublik in absehbarer Zeit sich auch weiterhin verpflichtet fühlt, eine grundsätzlich proeuropäische Haltung einzunehmen, d. h. den Integrationsprozess zu fördern, ohne dabei deutsche Interessen zu vernachlässigen.

Michael Borgolte

Krisen des Mittelalters? Zerstörung und Aufbau historischer Identitäten in Zeiten der Europäisierung und Globalisierung Wenn wir über eine künftige Gesellschaft in Deutschland nachdenken, wie es in dieser Vorlesungsreihe geschieht, können wir von der Geschichte nicht absehen. Diese ist allerdings keine unveränderliche Vergangenheit, sondern sie wandelt sich mit den Erfahrungen der Gegenwart und den Bedürfnissen der Zukunft. Als Wissenschaft wird Geschichte deshalb nicht beliebig, sie liefert sich auch nicht Augenblicksimpulsen oder Opportunitäten aus. Ihre nie nachlassende Bedeutung für ein Gemeinwesen liegt aber in den Antworten, die ihre Erforschung für Probleme ihres Publikums sucht und findet. Die Hamburger Akademie sah im Verhältnis Deutschlands zu Europa die entscheidende Frage, wie der Titel der Veranstaltung belegt; unter Verwendung eines Wortes von Willy Brandt wird bang auf die Chancen einer Heilung geschaut, durch die ein abgetrenntes oder frei vagierendes Gliedmaß sich wieder enger mit dem Ganzen des Körpers verbinden könnte. Woher der herrschende Zwiespalt rührt, wird nicht angedeutet, aber die Last, ihn zu überwinden, wird nur der künftigen Gesellschaft in Deutschland zugeschoben. Gehörte unser Land aber nicht immer schon zu Europa – geographisch ohnehin, auch politisch niemals zu übersehen und kulturell oft als sein Repräsentant? Sollten wir trotzdem ein Problem mit Europa haben oder haben wir vielleicht noch nicht recht erkannt, was wir Europa schuldig sind? Tatsächlich ist die Gestaltung ihres Kontinents in die Hände der Europäer zurückgelegt, seitdem die kommunistischen Regime gefallen sind. Nach Auflösung der eurasischen Supermacht im Osten und Abschwächung der Bindungen über den Atlantik nach Westen finden sich die Europäer in Einigungsprozessen zusammen, die nur durch Verständigung über gemeinsame Werte und Ordnungen Bestand haben können. Neben der Frage, ob dabei zusammenwachsen kann, was zusammen gehört, geht es darum, ob auch zusammenwachsen soll, was – jedenfalls nach der Meinung vieler – gar nicht zusammen passt. Hier kann und muss Geschichte als Wissenschaft helfen; Historiker reproduzieren dabei nicht bloß alte Einsichten, sondern erzielen durch neues Nachdenken Erkenntnisse, die Geschichtsbilder korrigieren. Historie ist ja nicht dazu da, Identitäten zu konservieren, die eine Gesellschaft zu ihrem Bestand

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zu benötigen glaubt; sie bedient keine Ideologien, sondern versteht sich als kritische Forschung. Über die Rolle Deutschlands in Europa kann man allerdings im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft nicht urteilen, ohne die offenbar unaufhaltsame Dynamik der Globalisierung zu berücksichtigen. Wenn Globalisierung richtig verstanden wird, geht es nicht nur um eine umfassende Vernetzung aller Menschen und menschlichen Ansiedlungen, sondern zugleich um die Aufhebung der räumlichen Grenzen. Wo sich Netzwerke der Kommunikation und des Handels über den Globus spannen, treten staatlich-politische und geographische Einheiten in ihrer Bedeutung deshalb zurück. Könnte, wer heute nach Deutschland in Europa fragt, geradezu die entscheidenden Faktoren gegenwärtiger und künftiger Vergesellschaftung verfehlen? Europäisierung und Globalisierung unserer Welt scheinen sich gleichzeitig zu vollziehen. Mit ihnen muss sich das Bild vom Mittelalter wandeln, ja man kann von Krisen des Mittelalters im Bewusstsein unserer Geschichte sprechen. Umgekehrt aber sind es diese unvermeidlichen Prozesse historischer Revision, die uns auf komplizierte Weise helfen, mit unserer Lebenslage fertig zu werden. *** In der Gegenwart unterscheide ich drei Möglichkeiten, die Geschichte des Mittelalters zu erzählen: Man kann sie darstellen als partikulare Geschichte Europas oder als Gesamtgeschichte Europas oder als Geschichte eines Jahrtausends mit verschiedenen Welten, von denen eine Europa mit Asien und Nordafrika verbunden hat. Bei der ersten Variante wird Europa mit der lateinischen Kultur, dem Bereich der römisch-katholischen Kirche, dem Okzident oder dem Abendland identifiziert. Auch wenn über die weltanschaulichen Prämissen dieser Auffassung schon viel, auch in kritischer Absicht, geschrieben worden ist, handelt es sich wohl noch immer um die herrschende Lehre vom Mittelalter. Erst vor kurzem orientierte ein deutscher Universitätshistoriker seine Geschichte Europas im Mittelalter an der angeblichen „Einheit des Abendlandes“, die auf einem christlichen Grundkonsens als kulturellem Fundament beruhe.¹ Eine andere Mediävistin zog eine Linie von den „Ursprüngen 1 Egon Boshof: Europa im 12. Jahrhundert. Auf dem Weg in die Moderne. Stuttgart 2007. S. 271, 268. Bereits kritisch dazu: Michael Borgolte: Über den Tag hinaus. Was nach dem Schwerpunktprogramm kommen könnte. In: Ders./Bernd Schneidmüller (Hrsg.): Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer internationalen Frühlingsschule. Berlin 2010 (Europa im Mittelalter. Abhandlungen und und Beiträge zur historischen Komparatistik [im Weiteren: EMA] 16). S. 309–328, hier S. 313.

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Europas“ bis zur Gegenwart und schied Europa strikt vom Osten: „Europa – das war (…) die mittelalterliche Welt in Abgrenzung zu Byzanz und zum Islam.“² Auch sonst wird immer wieder versucht, Europa eine historische Identität von Dauer zuzuschreiben und diese aus mittelalterlichen Anfängen abzuleiten.³ Gelegentlich wird dem Volk der Franken, Karl dem Großen oder seiner Dynastie die Kreation Europas zugeschrieben⁴; dagegen wollte ein Engländer „The Making of Europe“ erst in die Zeit der Kreuzzüge datieren und auf die „Expansion der lateinischen Christenheit“ zurückführen.⁵ Besonders nachdrücklich hat der berühmteste aller lebenden Mittelalterhistoriker, der Franzose Jacques Le Goff, in den letzten Jahren die These vertreten, dass Europa im Mittelalter „geboren“ worden sei.⁶ Das „mittelalterliche Erbe“ sei sogar „das wichtigste aller Vermächtnisse, die im Europa von heute und morgen ihre Wirkung entfalten“.⁷ Trotz der Ursprünge in der griechischen Mythologie sei die eigentliche Entstehung Europas erst in die Zeit nach dem Römerreich zu datieren; das Imperium Romanum selbst sei ein Irrweg Europas gewesen und habe eher der Geschichte des Mittelmeerraums angehört.⁸ Das Erbe der Römer für Europa sei aber schon die Spaltung in einen lateinischen Westen und einen griechischen Osten gewesen. Die größte religiöse und kulturelle Neuheit des Westens seit dem 4. Jahrhundert, das Christentum, habe diese Trennung noch verschärft. Die frühmittelalterliche Ausbildung eines römischen und eines griechischen Christentums habe dann

2 Verena Postel: Die Ursprünge Europas. Migration und Integration im frühen Mittelalter. Stuttgart 2004. S. 11; kritisch: Borgolte: Über den Tag hinaus (wie Anm. 1). S. 313. 3 Vgl. Michael Borgolte: Perspektiven europäischer Mittelalterhistorie an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Ders. (Hrsg.): Das europäische Mittelalter im Spannungsbogen des Vergleichs. Zwanzig internationale Beiträge zu Praxis, Problemen und Perspektiven der historischen Komparatistik. Berlin 2001 (EMA 1). S. 13–27, hier S. 17 f. 4 Vgl. C. Delisle Burns: The First Europe. London 1947; Die Franken – Wegbereiter Europas. Vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben. 2 Bde. Mainz 1996; Christopher Dawson: The Making of Europe. An Introduction to the History of European Unity. London 1932; dt.: Gestaltung des Abendlandes. Köln 1950. S. 276 ff. 5 Robert Bartlett: The Making of Europe. Conquest, Colonization and Cultural Change. 950–1350. London 1993; dt.: Die Geburt Europas aus dem Geist der Gewalt. Eroberung, Kolonisierung und kultureller Wandel von 950 bis 1350. München 1996. 6 Jacques Le Goff: L’Europe est-elle née au Moyen Age. Paris 2003; dt.: Die Geburt Europas im Mittelalter. München 2004. 7 Ebd. (dt. Version), S. 15. Zur Kritik dieses Buches bereits ausführlich: Michael Borgolte: Kein Platz für Karl. Jacques Le Goff beschreibt die Geburt Europas aus dem Mittelalter. In: Frankfurter Allgemeine vom 24.3.2004. S. L 17. 8 Jacques Le Goff: Das alte Europa und die Welt der Moderne. München 1994. S. 9; das Folgende ebd., S. 9–13. Vgl. Borgolte: Perspektiven (wie Anm. 3). S. 17.

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eine kulturelle Grenze langer Dauer geschaffen, die durch die politischen Grenzen verhärtet worden sei. Diese Scheidelinie habe, von Skandinavien bis Kroatien reichend, Balten, Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn und Slowenen eingeschlossen, auf der anderen Seite aber Russland und Griechenland abgetrennt. Die Grenze habe dem römischen Papsttum die griechische Kirche endgültig entzogen und die westliche Christenheit von Byzanz und der orthodoxen Welt geschieden. So hätten sich auf der einen Seite das prunkvolle Byzanz, Erbe des antiken Römerreiches, sowie die russische Welt und auf der anderen Seite der Okzident gegenübergestanden; dieser sei geteilt, barbarisiert und nur unzureichend durch zwei Oberhäupter, nämlich Papst und Kaiser, geeint gewesen. Dennoch haben sich hier ein außergewöhnlicher wirtschaftlicher, politischer und kultureller Aufschwung und eine immer stärkere Expansion ereignet. Diese Welt, das lateinische Christentum, sei das mittelalterliche Europa gewesen. Neben der Gemeinschaft des Christentums seien es die Königtümer gewesen, die den ersten Entwurf Europas prägten. So sei das „Europa der Nationen“ als mittelalterliche Vielfalt in der Einheit vorweggenommen worden. Diese Sicht der Dinge, die Le Goff nicht erfunden, sondern nur entfaltet und profiliert hat, fand natürlich von jeher den Widerspruch von Osteuropahistorikern und Byzantinisten. Zu Recht wiesen sie auf die gemeinsamen kulturellen und religiösen Traditionen von Ost- und Westeuropa hin und machten sogar Verwandtschaften in den politischen Strukturen geltend.⁹ Gleichfalls kann man gegen Le Goffs Geschichtsauffassung einwenden, dass er keine Lösung für die Frage fand, welche Rolle dem Islam in der mittelalterlichen Geschichte Europas zukam. Seine Darlegungen und Urteile dazu sind widersprüchlich und wenig durchdacht.¹⁰ Nicht viel besser behandelte er die Juden.¹¹ Andere Autoren haben dementspre9 Bereits Oskar Halecki: The Limits and Divisions of European History. London/New York 1950; dt.: Europa. Grenzen und Gliederung seiner Geschichte. Darmstadt 1957; vgl. Borgolte: Perspektiven (wie Anm. 3). S. 18; Ders.: Ostmitteleuropa aus der Sicht des Westens. In: Marian Dygo/Sławomir Gawlas/Hieronim Grala (Hrsg.): Ostmitteleuropa im 14.–17. Jahrhundert – eine Region oder Region der Regionen? Warszawa 2003 (Zentrum für ostmitteleuropäische Geschichte des Historischen Instituts der Universität Warschau, Colloquia 3.). S. 5–19, hier S. 9–11. 10 Vgl. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter (wie Anm. 6). S. 51 f., 107, 251 f., 265 f. Dazu bereits kritisch Michael Borgolte: Europeiskii monoteism i problema kul‘turnogo edinstva v srednie veka (russisch; dt.: Der europäische Monotheismus und das Problem kultureller Einheit im Mittelalter). In: Obrazi proshlogo. Sbornik pamiati A. Ja. Gurevicha. Sankt-Petersburg 2011 (Bilder der Vergangenheit. Gedenkschrift für Aaron Gurjewitsch) S. 605–627, bei Anm. 27 ff. 11 Vgl. Le Goff: Die Geburt Europas im Mittelalter (wie Anm. 6). S. 221–224, vgl. S. 120ff.; Borgolte: Europeiskii monoteism i problema kul‘turnogo edinstva v srednie veka (wie

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chend kategorisch erklärt, es verbiete sich, „Europa weiterhin mit der Christenheit oder auch nur einer Christenheit gleichzusetzen“; ihrerseits sei die westliche Welt „nicht einfach ein Synonym für Europa“.¹² Aus der Wissenschaft selbst wurde also im 20. Jahrhundert die Identifikation von Europa mit dem Abendland bestritten; dabei ging es auch um die Selbstbehauptung kleinerer Fächer gegen eine Mediävistik, die ihre lateinischen Quellen als Kern und Grundlage des Wissens vom Mittelalter betrachtete. Den Durchbruch zu einem anderen, umfassenden Verständnis vom mittelalterlichen Europa brachte aber erst die politische Einigungsbewegung unseres Kontinents, besonders seit den Ereignissen von 1989/90. Der sukzessive Beitritt ostmitteleuropäischer Staaten zur Europäischen Union und die Diskussion über die Zugehörigkeit der islamisch geprägten Türkei zwangen die Historiker zum neuen Nachdenken über die Grenzen und die Identität Europas. Ziel war dabei nicht, mit dem Blick auf die Vergangenheit der Politik Lösungen für ihre Aufgaben nahezubringen, sondern im Lichte aktueller Probleme Geschichte neu zu entdecken. Wer nun freilich neben den bisher schon konstitutiven lateinischen Christen auch die anderen religiösen Gruppen auf dem Boden Europas ernst nahm – neben den orthodoxen Christen im Osten und den Juden in ihren verstreuten Siedlungen vor allem die Muslime in Spanien, Sizilien, Unteritalien, in Bulgarien, Ungarn und später auf der Balkanhalbinsel – dem löste sich die gewohnte kulturelle Einheit des Kontinents auf den Seiten seiner Manuskripte auf. Die beliebte Denkform von Europa als Einheit in Vielfalt auf christlicher Grundlage wird unbrauchbar, wenn das Andere und vermeintlich Fremde in Europa und seiner Geschichte anerkannt wird. Wenn es also sachlich geboten ist und einem politischen Orientierungsbedürfnis entspricht, Europa nicht mehr partikular als Abendland, sondern möglichst als geographisches Ganzes und in kultureller Vielfalt in den Blick zu nehmen, dann scheint es unmöglich zu werden, Aussagen über seine Identität zu machen. In diesem Sinne hat der französische Sozialwissenschaftler Edgar Morin erklärt, Europa zu denken bedeute, es als einen Komplex anzuerkennen, der „die größten Unterschiede in sich vereinigt, ohne sie zu vermengen“, und der „Gegensätze untrennbar miteinander verbindet“.¹³ Man müsse die Idee von einem einheitlichen und

Anm. 10). Bei Anm. 31 f. 12 Franco Cardini: Europa und der Islam. Geschichte eines Missverständnisses. München 2000. S. 11. 13 Edgar Morin: Penser l’Europe. Paris 1987; dt.: Europa denken. Frankfurt/Main/ New York 1991. S. 19. Vgl. Michael Borgolte: Mediävistik als vergleichende Geschichte Europas. In: Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut (Hrsg.): Mediävistik im 21. Jahrhundert.

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klar abgegrenzten Europa aufgeben; das Wichtige an der europäischen Kultur seien nicht nur ihre Schlüsselideen, sondern zugleich die Tatsache, „daß alle diese Ideen auch Gegensätze haben“. Morin leitete daraus das „Prinzip der Dialogik“ ab; er gab der europäischen Geschichtsforschung die Aufgabe auf den Weg, das befruchtende Aufeinandertreffen von Unterschieden, Antagonismen, Konkurrenzen und Komplementaritäten zu untersuchen. Dass die Identität Europas in Geschichte und Gegenwart in seiner Nichtidentität bestehe, hat auch 1996 der englische Historiker Norman Davies zum Ausgangspunkt seiner monumentalen Gesamtgeschichte Europas, dem bisher einzigen Werk seines Anspruches, gemacht. Alle europäischen Länder, so Davies, seien anders als die anderen, auch bei den westlichen dominierten die Unterschiede.¹⁴ Europa, eigentlich erst eine Idee der Aufklärung, sei noch nie vollendet gewesen. Ohne politische Einheit sei Verschiedenheit eines seiner stabilsten Kennzeichen. Im Unterschied zur ganzen Welt und ihrer Geschichte fehlt Europa der verbindende Mythos eines Ursprungs¹⁵ und die unbestrittene Vision seiner endlichen Bestimmung. Da es aber mehr denn je zusammenzuwachsen scheint, können seine Bürger eine neue Geschichtsschreibung verlangen. Kritische Historiker, die europäische Geschichte aus den genannten Gründen als Darstellung aus einer besonderen Idee und entlang einer bestimmten Linie für unrichtig halten, haben es schwer, das Desiderat zu erfüllen. Methodisch bleibt ihnen der Weg, komparativ vorzugehen.¹⁶ Nur im Vergleich sind, so können sie geltend machen, jede der Kulturen und jedes Land Europas im Einzelnen angemessen zu würdigen; denn nur so könne vermieden werden, das eine oder andere Besondere hinter dem vermeintlich Wichtigeren zu marginalisieren. Der Vergleich ist zugleich die Klammer, die das Disparate und IrreduzibelBesondere formal aufeinander bezieht. Die Erkenntnis der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und der Ähnlichkeiten im Verschiedenen sind

Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung. München 2003 (MittelalterStudien 1.). S. 313–323, hier S. 320 f. 14 Norman Davies: Europe. A History. Oxford/New York 1996. S. 28; vgl. Borgolte: Perspektiven (wie Anm. 3). S. 25 f. 15 Vgl. Davies: Europe (wie Anm. 14). S. 14 f., 35, 45; Joscha Schmierer: Mein Name sei Europa. Einigung ohne Mythos und Utopie. Frankfurt/Main 1996; Wolfgang Schmale: Scheitert Europa an seinem Mythendefizit? Bochum 1997; Michael Borgolte: Historie und Mythos. In: Mario Kramp (Hrsg.): Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos 2. Ausstellungskatalog Aachen 2000. Mainz 2000. S. 839–846, hier S. 845. 16 Borgolte: Mediävistik als vergleichende Geschichte Europas (wie Anm. 13). Hier bes. S. 321.

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die naheliegendsten allgemeinen Ergebnisse, die europäische Geschichte aus unendlich variierenden Operationen des Vergleichs erwarten kann.¹⁷ Freilich ist eine solche Geschichte eine Geschichte ohne Botschaft, und so fragt es sich, ob sie auf Dauer genügt. Europäische Geschichte unter eine Leitidee zu stellen, ist aber dann erlaubt, wenn stets präsent gehalten wird, dass jede subjektive Konstruktion nur eine Möglichkeit unter vielen anderen ist. Sie findet ihre Existenzberechtigung geradezu darin, dass sie andere Werke ihrer Art nach sich zieht.¹⁸ In diesem Sinne habe ich in den letzten Jahren wiederholt die Auffassung vertreten, dass wir statt vom christlichen von einem monotheistischen Europa des Mittelalters sprechen sollten¹⁹, und dazu auch eine Darstellung vorgelegt.²⁰ Die Eigenart des Mittelalters kann in der Tat gegenüber der vorangegangenen Epoche in religionsgeschichtlicher Betrachtung profiliert werden. Die vorchristliche Antike war nämlich durch die Verehrung einer Mehrzahl von Göttern geprägt gewesen.²¹ Der Bestand dieses Götterhimmels wurde niemals fixiert, und von den Bürgern verlangte die Obrigkeit nur den treuen Vollzug der Riten, nicht aber das Bekenntnis zu einem Glauben. Überhaupt gab es kaum schriftliche Dokumente der religio und schon gar keine theologischen Traktate mit der Begründung von Dogmen. In Rom bewies das Pantheon Jahrhunderte lang seine Aufnahmefähigkeit für neue Götter; diese gruppierten sich locker um die kapitolinische Trias mit Iuppiter an der Spitze. Obschon vom Kult der Götter das Heil des Staates abhing, haben sich die Römer bei ihren Eroberungen nie darum bemüht, die eigenen Gottheiten und Bräuche systematisch zu verpflanzen.

17 Vgl. Michael Borgolte: Europa entdeckt seine Vielfalt, 1050–1250. Stuttgart 2002 (Handbuch der Geschichte Europas 3.). 18 Vgl. Michael Borgolte: Wie Europa seine Vielfalt fand. Über die mittelalterlichen Wurzeln für die Pluralität der Werte. In: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hrsg.): Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt/Main 2005. S. 117–163, hier S. 124; Ders.: Europäische Geschichten. Modelle und Aufgaben vergleichender Historiographie: In: Marc Löwener (Hrsg.): Die „Blüte“ der Staaten des östlichen Europa im 14. Jahrhundert. Wiesbaden 2004. S. 303–328. 19 Z. B. Borgolte: Europeiskii monoteism i problema kul‘turnogo edinstva v srednie veka (wie Anm. 10); Ders.: Wie Europa seine Vielfalt fand (wie Anm. 18). 20 Michael Borgolte: Christen, Juden, Muselmanen. Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300 bis 1400 n. Chr. München 2006 (Siedler Geschichte Europas). 21 Das Folgende nach Ders.: Wie Europa seine Vielfalt fand (wie Anm. 18). S. 140–153 (mit Lit.). Vgl. auch Christoph Auffarth: Religiöser Pluralismus im Mittelalter? Besichtigung einer Epoche der europäischen Religionsgeschichte. Berlin 2007 (Religionen in der pluralen Welt. Religionswissenschaftliche Studien 1); Hans G. Kippenberg/Jörg Rüpke/Kocku von Stuckrad (Hrsg.): Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus. 2 Bde. Göttingen 2009.

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zen. An den Grenzen ihres Reiches trafen die Soldaten und Beamten auf „Barbaren“, die ebenfalls vielen Göttern anhingen. Im Norden der Alpen waren dies „Kelten“ und „Germanen“. Polytheistische Kultreligionen sind durchaus in der Lage gewesen, größere Gesellschaften zu integrieren; sie konnten nämlich lokale, zerstreut lebende Gruppen mit ihren besonderen Ritualen zu größeren Einheiten zusammenschließen. Die Ortsgottheiten gingen dabei in regionalen oder überregionalen Pantheons auf. In Europa hat zuletzt der Fürst Vladimir von Kiew versucht, sein multiethnisches Reich auf der Basis eines heidnischen Vielgötterkultes zu einen. Er musste aber die mangelnde Akzeptanz dieser Religionspolitik einsehen, brach sie ab und führte die Rus’ 988 dem Christentum zu. Diese Entscheidung bedeutete nicht nur den Vorzug eines Gottes vor den vielen Göttern, sondern die Anerkennung von religiösen Lebensnormen, die den einzelnen viel stärker bestimmen sollten als es der theologisch indifferente Polytheismus verlangte. Das Mittelalter brachte die Abwendung vom antiken Polytheismus; stattdessen wurde der Durchbruch des Monotheismus der entscheidende Vorgang der europäischen Geschichte. Er bedeutete mehr als alles andere die Geburt Europas im Mittelalter. Allerdings wurde Europa nicht nur von einer, sondern von drei monotheistischen Religionen geprägt. Unter diesen hatten sich Judentum und Christentum schon zur Römerzeit im Reich und darüber hinaus verbreitet, der Islam kam erst im siebten, achten Jahrhundert hinzu. Zuerst haben die Gläubigen des mosaischen Gesetzes in Europa eine Bleibe gesucht; in Rom bestand eine jüdische Siedlung schon vor Christi Geburt. Ob die Zerstörung des Zweiten Tempels durch Kaiser Titus dann eine verstärkte Auswanderung der Juden aus ihren angestammten Siedelgebieten in Vorderasien veranlasste, ist neuerdings heftig umstritten.²² In Europa bildete jedenfalls das spanische Judentum ein erstes Zentrum ihrer Religion und Kultur, im dritten Jahrhundert sind auch in südfranzösischen Städten jüdische Niederlassungen nachgewiesen. Während des frühen Mittelalters haben die muslimischen Eroberungen in Palästina und Spanien weitgreifende Siedlungsbewegungen ausgelöst, die sich fortan mehrfach wiederholten. Man traf Juden aber keineswegs überall in Europa an; charakteristisch für sie war auch, dass sie ohne eigenen Staat stets verstreut als Minderheit unter Christen und Muslimen lebten. 22 Vgl. Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand. Berlin 2010: Bes. S. 199 ff.; kritisch aufgrund neuer Erbgutuntersuchungen jetzt Michael Toch: The Jews – Medieval Era. In: Immanuel Ness [u. a.] (Hrsg.): Encyclopedia of Global Human Migration. Im Druck.

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Die Christianisierung Europas hat mit den Missionsreisen des Apostels Paulus nach Philippi, Thessaloniki und Korinth in Makedonien und Griechenland eingesetzt; vom Süden nach Westen fortschreitend, konzentrierte sie sich dann Jahrhunderte lang vor allem auf die Bekehrung von Polytheisten. Den Endpunkt markierte im Mittelalter die Konversion Litauens 1386; der Einbruch der multireligiös-indifferenten Mongolen schon im Jahrhundert zuvor hatte indessen die Christianisierung Lapplands, Kumaniens sowie einiger Völker an der Wolga unterbrochen. Der ungeheuer lange Zeitraum der europäischen Missionsgeschichte, die niemals zur Vollendung kam, lässt allenthalben auf erhebliche Widerstände und ein durchaus wechselndes Engagement der christlichen Bischöfe und Glaubensboten schließen. Als die Muslime nach Europa vordrangen, hatten sie sich kaum mehr mit Polytheisten, sondern nur noch mit Christen und Juden auseinanderzusetzen. Bevor die Glaubenskämpfer 711 von Nordafrika nach Gibraltar übersetzten, hatten sie bereits von Arabien aus Damaskus, Jerusalem, Antiochien und Ägypten erobert; an der Einnahme Konstantinopels waren sie jedoch mehrfach gescheitert. Im westlichen Europa glückten Arabern und Berbern jetzt in kurzer Zeit die Vernichtung des christlichen Reiches der Westgoten und die Einnahme fast ganz Spaniens bis zu den Pyrenäen; bald darauf besetzten sie auch Sizilien. Andererseits entstand in Asturien eine Zelle des Widerstandes gegen die fremden Herren; von dort aus konnten die Christen zu einer Rückeroberung ihrer Heimat ansetzen. Die Reconquista sollte Jahrhunderte dauern, einen Durchbruch bedeutete jedoch der militärische Sieg des Jahres 1212, durch den die Muslime Spaniens auf Granada zurückgeworfen wurden. Etwa zur gleichen Zeit verdrängten die Normannen und endgültig Kaiser Friedrich II. die „Sarazenen“ aus Sizilien. Dafür gewann der Islam während des späten Mittelalters bedeutende Länder im Südosten. Die Wolgabulgaren, die bereits im frühen zehnten Jahrhundert den Islam angenommen und ein Reich geschaffen hatten, wurden zwar durch die Mongolen unterworfen; doch konvertierte der Khan der „Goldenen Horde“, zu der jetzt auch der größte Teil der christlichen Rus’ gehörte, bald selbst zum Islam. Noch einschneidender waren Ausgriffe und Eroberungen der islamisierten Türken in Byzanz und auf dem Balkan; mit dem Fall Konstantinopels 1453 trat das Reich der Osmanen endgültig an die Stelle des christlichen Imperiums. Obwohl die muslimische Restherrschaft in Granada 1492 fiel, behauptete sich der Islam also in Europa bis zum Ende des Mittelalters und darüber hinaus, wenn auch in anderen Regionen als in seiner Frühzeit. Das religiöse Bekenntnis, das der Eingottglaube verlangte, war eine schier unerschöpfliche Quelle von Konflikten; das gilt auch dort, wo Christen, Juden und Muslime nicht zusammenlebten oder aufeinander

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stießen. Denn auch innerhalb der drei Religionen musste stets um den rechten Glauben gerungen werden; Schismen und Häresien haben deshalb die Geschichte der monotheistischen Religionen von Anfang an begleitet. Es wäre aber falsch zu behaupten, dass religiöse Gegensätze unweigerlich zu Auseinandersetzungen, ja mörderischen Vernichtungskämpfen geführt haben.²³ Nicht zu übersehen ist ja, dass keine der drei Religionen in Europa ausgerottet wurde und dass sie sich sowohl nach rechtlichen Regelungen wie in praktischen Kompromissen gegenseitig duldeten. Viel entschiedener gingen alle drei gegen ihre Ketzer und Apostaten vor, und das sogenannte Heidentum haben sie als gemeinsamen Gegner so erfolgreich bekämpft, dass es, jedenfalls als anerkannte Religion, verschwunden ist. Da alle ihre Angehörigen an einen Gott glaubten, der Himmel und Erde geschaffen hat, konnten sie gegeneinander nicht gleichgültig bleiben, wie dies von Polytheisten galt; sie mussten vielmehr miteinander ins Gespräch kommen – kontrovers, aber auch mit dem Willen zu gegenseitigem Respekt. Der Eingottglaube begünstigte zweifellos die Kohärenz Europas, bedrohte diese aber auch andererseits durch die religiösen Gegensätze. In der ungelösten Spannung zwischen Einheitspostulat und nie vollständig integrierbaren Abweichungen hat Europa im Mittelalter, wie man sagen könnte, zu seiner unverwechselbaren historischen Gestalt gefunden.²⁴ In der Mittelalterforschung sind aus dieser Einsicht schon methodische Folgerungen gezogen worden; so hat man die Geschichte des mittelalterlichen Europas als einen ständigen Prozess von kulturellen Integrationen und Desintegrationen auf religiöser Grundlage studiert.²⁵ Wenn Europa also im Mittelalter auch keine Einheitskultur gewesen ist, so die Überlegung, dann könnte ihm doch vielleicht eine Identität zu23 Borgolte: Wie Europa seine Vielfalt fand (wie Anm. 18). S. 145–147, 153 ff., in Auseinandersetzung mit den Thesen von Jan Assmann; Michael Borgolte: Ein einziger Gott für Europa. Was die Ankunft von Judentum, Christentum und Islam für Europas Geschichte bedeutete. In: Winfried Eberhard/Christian Lübke (Hrsg.): Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume. Beiträge einer internationalen Konferenz 6. bis 9. Juni 2007. Leipzig 2009. S. 581–590. 24 Vgl. Borgolte: Europeiskii monoteism i problema kul‘turnogo edinstva v srednie veka (wie Anm. 10). 25 Michael Borgolte/Julia Dücker/Marcel Müllerburg/Bernd Schneidmüller (Hrsg.): Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter. Berlin 2011 (EMA 18); Michael Borgolte/Juliane Schiel/Bernd Schneidmüller/Annette Seitz (Hrsg.), Mittelalter im Labor. Die Mediävistik testet Wege zu einer transkulturellen Europawissenschaft. Berlin 2008 (EMA 10); Michael Borgolte/Bernd Schneidmüller (Hrsg.): Hybride Kulturen im mittelalterlichen Europa. Vorträge und Workshops einer Frühlingsschule. Hybrid Cultures in Medieval Europe. Papers and Workshops of an International Spring School. Berlin 2010 (EMA 16).

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geschrieben werden, die durch das Wechselspiel verschiedener Kulturen geprägt war; seine Dynamik könnte darauf zurückgeführt werden, dass die religiösen Differenzen zu ständigen Auseinandersetzungen Anlass gaben. Gegen diese These sind allerdings Einwände möglich und wohl auch nötig.²⁶ Wer das europäische Mittelalter vom Monotheismus in verschiedenen Erscheinungsformen geprägt sieht, muss anerkennen, dass Gleiches auch für das nördliche Afrika und Vorderasien gilt. Auch in diesen Großregionen haben die monotheistischen Religionen dominiert, wenngleich hier im Unterschied zu Europa der Islam an erster Stelle stand. Im Osten erlahmte die Durchschlagskraft des Eingottglaubens erst am Indus, wo die Lehre Mohammeds, ganz zu schweigen von der christlichen Mission, den sogenannten Hinduismus und den Buddhismus nicht verdrängen konnte. Man müsste also statt vom monotheistischen Europa von einer monotheistischen Weltzone vom Atlantik bis zum Arabischen Meer sprechen.²⁷ Andererseits lässt sich nicht verkennen, dass es im mittelalterlichen Europa neben monotheistischen Juden, Christen und Muslimen außer Resten des Polytheismus auch Dualisten und wohl auch Atheisten gegeben hat.²⁸ Schließlich ist es gewiss zu einfach, Kulturen aus Religionen abzuleiten und ihnen bestimmte Räume zuzuweisen. Die Schwierigkeiten mit einer Gesamtgeschichte Europas, so hat sich schon bei der Beschreibung der monotheistischen Weltzone gezeigt, rühren vor allem von der Unklarheit der Grenze im Osten her. Noch heute stellt die Frage, ob Russland und die Türkei zu Europa gehören, und zwar geographisch, ökonomisch, politisch und kulturell, ein ungelöstes Problem dar.²⁹ Entgrenzung der Räume ist aber gerade das Kennzeichen von Globalisierung; so wie in deren Horizont die Menschen in Deutschland und Europa ihren Platz neu bestimmen müssen, bietet sie auch für die Geschichte des Mittelalters neue Koordinaten an.

26 Vgl. bereits Borgolte: Über den Tag hinaus (wie Anm. 1). S. 319 f. 27 Vgl. Michael Borgolte: Juden, Christen und Muslime im Mittelalter. In: Ludger Honnefelder (Hrsg.): Albertus Magnus und der Ursprung der Universitätsidee. Die Begegnung der Wissenschaftskulturen im 13. Jahrhundert und die Entdeckung des Konzepts der Bildung durch Wissenschaft. Berlin 2011. S. 27–48, 423–437. 28 „Heiden“ und Dualisten waren allerdings in meiner Darstellung schon berücksichtigt, s. Borgolte: Christen, Juden, Muselmanen (wie Anm. 20). Bes. S. 212–242. Zu Atheisten: Peter Dinzelbacher: Unglaube im „Zeitalter des Glaubens“. Atheismus und Skeptizismus im Mittelalter. Badenweiler 2009, und bahnbrechend jetzt: Dorothea Weltecke: „Der Narr spricht: Es ist kein Gott.“ Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit. Frankfurt/Main/New York 2010 (Campus Historische Studien 50.). 29 Borgolte: Wie Europa seine Vielfalt fand (wie Anm. 18). S. 127 f.

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Globalgeschichte, die der Globalisierung entspricht, muss die Beziehungen und Wechselwirkungen von Menschen verschiedener Völker, Kulturen und Religionen in ihren Mittelpunkt stellen.³⁰ Sie will nicht die Geschichte verschiedener Zivilisationen erforschen und miteinander vergleichen, wie dies die jüngere europäische Geschichte getan hat; die Festschreibung von Großkulturen, etwa des Abendlandes als Bereich der westeuropäischen Christenheit oder der Welt des Islam von Spanien bis Iran, gelten ihr als suspekt, da sie Kulturen zu ontologischen Größen macht, obwohl es sich um einfache gedankliche Konstrukte handelt. Allerdings will Globalgeschichte auch nicht, wie die alte Universalgeschichte, Geschichte der ganzen Welt sein; sie bindet ihren Erfolg auch nicht an weiträumige Studien, sondern will nicht zuletzt Kulturkontakte und -verflechtungen lokal oder regional studieren. Sie kann also für jeden Ort der Vergangenheit betrieben werden, wo es zum Austausch verschiedener Kulturen – oder besser: von Einheimischen mit Fremden – kam. Allerdings verlangt sie, dass auch solche Studien in globale Zusammenhänge gestellt werden. Globalhistorische Studien im Mittelalter zielen also auf interkulturelle Kontakte und mehr noch auf transkulturelle Verflechtungen ab. Noch steht trotz mancher Ansätze und Versuche eine gelungene Darstellung der Globalgeschichte zwischen 500 und 1500 n. Chr. aus³¹; welchen Platz Europa und Deutschland dabei einnehmen könnten, zeichnet sich deshalb nur schemenhaft ab. Die erste bedeutende Tatsache des mittelalterlichen Jahrtausends in globalhistorischer Perspektive ist die

30 Zum Folgenden mit weiteren Literaturhinweisen: Michael Borgolte: Mittelalter in der größeren Welt. Eine europäische Kultur in globaler Perspektive. In: Historische Zeitschrift 295 (2012). S. 35–61; Ders.: Über europäische und globale Geschichte des Mittelalters. Historiographie im Zeichen globaler Entgrenzung. In: Steffen Patzold/Klaus Ridder (Hrsg.): Die Aktualität der Vormoderne. Epochenentwürfe und europäische Identitäten. Im Druck; Ders.: Migrationen als transkulturelle Verflechtungen im mittelalterlichen Europa. Ein neuer Pflug für alte Forschungsfelder. In: Historische Zeitschrift 289 (2009) S. 261–285. 31 Für die deutschsprachige Forschung vgl. Thomas Ertl: Alle Wege führten nach Rom. Italien als Zentrum der mittelalterlichen Welt. Ostfildern 2010; Ders.: Seide, Pfeffer und Kanonen. Globalisierung im Mittelalter. Darmstadt 2008; Johannes Fried/Ernst-Dieter Hehl (Hrsg.): Weltdeutungen und Weltreligionen, 600 bis 1500. Darmstadt 2010 (WBGWeltgeschichte. Eine Globalgeschichte von den Anfängen bis ins 21. Jahrhundert 3.); Peter Feldbauer/Bernd Hausberger/Jean-Paul Lehners (Hrsg.): Globalgeschichte. Die Welt 1000–2000. Wien 2008/2009, darunter: Angela Schottenhammer/Peter Feldbauer (Hrsg.): Die Welt 1000–1250. Wien 2011; Thomas Ertl/Michael Limberger (Hrsg.): Die Welt 1250–1500. Wien 2009. Ferner: Friedrich Edelmayer/Peter Feldbauer/Marija Wakounig (Hrsg.): Globalgeschichte 1450–1620. Anfänge und Perspektiven. Wien 2002 (Edition Weltregionen 4.).

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Vollendung der menschlichen Ausbreitung über die Erde.³² Nachdem sich die Migrationen des homo sapiens sapiens zuvor in sehr langen Zeiträumen auf die Landmassen und küstennahe Inseln konzentriert hatten, erreichten sie erst im Mittelalter durch hochseetaugliche Schiffe auch die abgelegensten Eilande. Das zeigt sich im Pazifischen Ozean und Nordatlantik. Um 600 griff der Prozess der menschlichen Expansion vom westlichen aufs östliche Polynesien über und erfasste um 1280 als letztes großes Gebiet der Erde Neuseeland. Die Ankunft des Menschen bezeugen hier die Knöchelchen der alles fressenden pazifischen Ratte und die Spuren ihrer Zähne an angeknabberten Getreidekörnern.³³ In Südostpolynesien bestand zwischen 1000 und 1450 schon ein florierendes Handelsnetz; nicht einbezogen war die Osterinsel, 2.000 Kilometer von der nächsten Population entfernt. Nach ihrer Besiedlung konnte eine Gruppe von vielleicht 15.000 Menschen ohne Kontakt mit der Außenwelt überleben, bis Europäer die Insel 1722 wieder entdeckten.³⁴ Etwa zur gleichen Zeit wie die Osterinsel durch Polynesier wurden Island und Grönland besiedelt, und zwar durch Kelten und vor allem Norweger, also Germanen.³⁵ Kurz nach der Jahrtausendwende versuchten sich die Europäer auch in Nordamerika niederzulassen, wurden aber von Indianern vertrieben. Auf Grönland waren die Wikinger allerdings nicht die ersten Siedler überhaupt; amerikanische Ureinwohner, die sogenannten Dorset-Leute, waren schon um 800 vor Christus auf die größte Insel der Erde vorgestoßen und hatten mehr als ein Jahrtausend lang eine eigene Kultur entwickelt. Ob die Wikinger mit den Dorset-Leuten in Kontakt traten, ist offen; sie selbst gaben Grönland um 1400 auf, nachdem viele ihrer Generationen mit der norwegischen Heimat und dem übrigen Europa Handel getrieben hatten. Vielleicht waren sie durch Inuit verdrängt worden. Historiker betonen gern, dass sich bei der Begegnung der Wikinger aus dem Osten mit den Amerikanern aus dem Westen ein

32 Vgl. Michael Borgolte: Medieval Period – A Survey. In: Ness [u. a.] (Hrsg.): Encyclopedia of Global Human Migration (wie Anm. 22). Im Druck. 33 Janet W. Wilmshurst/Atholl J. Anderson/Thomas F. G. Higham/Trevor H. Worthy: Dating the late prehistoric dispersal of Polynesians to New Zealand using the commensal Pacific rat. Ed. by Patrick V. Kirch, approved April 7, 2008 (received for review February 14, 2008). In: www. Pnas.org/content/105/22/7676.full (09.10.2010); vgl. Peter Bellwood/Eusebio Dizon: Austronesian cultural origins. Out of Taiwan, via the Batanes Islands, and onwards to Western Polynesia. In: Alicia Sanchez-Mazas/Roger Blench/ Malcolm D. Ross/Ilia Peiros/Marie Lin (Hrsg.): Past Human Migrations in East Asia. Matching archaeology, linguistics and genetics. London/New York 2008. S. 23–39. 34 Vgl. Jared Diamond: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt/Main 2006, 42010. S. 103–153. 35 Ebd. S. 266–347.

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Kreis welthistorischer Migrationsprozesse geschlossen habe³⁶; dabei wird aber übersehen, dass die frühen Siedlungen auf Grönland beziehungsweise Neufundland und die transkontinentalen Verbindungen noch sehr instabil waren. Ein weltumspannendes Kommunikationsnetz im Sinne der Globalisierung ist während des Mittelalters durch Verbreitung des sogenannten „modernen Menschen“ nicht entstanden. Die verschiedenen Welten des mittelalterlichen Jahrtausends waren auch sonst voneinander geschieden; welche Kommunikationsstrukturen in ihnen selbst ausgebildet waren, lässt sich zum Teil kaum erkennen. In den beiden Amerikas war die Mobilität dadurch beschränkt, dass dort zwar Rad und Wagen bekannt waren, Trag- und Zugtiere für den Landtransport, also Ochsen, Kamele und Pferde, aber fehlten. Im Nordosten der heutigen USA wird der „Hopewell tradition“ ein ausgedehntes exchange-system zugeschrieben³⁷; die hoch- und spätmittelalterliche Mississippikultur könnte mit ihrem Maisanbau und ihren Städten dem Vorbild Mesoamerikas gefolgt sein.³⁸ Die südamerikanischen Inka bauten zwar mindestens 24.000 Kilometer Straßen, die aber nur Lastenträger, wenn nicht Krieger und Boten, begehen konnten. Bei ihnen sowie den mittelamerikanischen Maya und Azteken gab es indessen Fernhändler, die, wo immer es ging, auch Wasserstraßen benutzten.³⁹ Noch weniger als über die Amerikas lässt sich über Afrika südlich der Sahelzone sagen. In welchem Maße die jahrtausendelange Ausbreitung

36 Vgl. Albrecht Jockenhövel: Ausblick. In: Ders. (Hrsg.): Grundlagen der globalen Welt. Vom Beginn bis 1200 v. Chr. Darmstadt 2009 (WBG Weltgeschichte. Eine globale Geschichte von den Anfängen bis ins 12. Jahrhundert 1). S. 460–472, hier S. 468 ff. 37 Wikipedia-Eintrag: Native Americans in the United States, Kap.: History, Pre-Columbian (08.10.2010); Wikipedia-Eintrag: Hopewell tradition (08.10.2010); Wikipedia-Eintrag: The Woodland Period (ca. 200 B.C. – A.D. 1000) (08.10.2010). 38 Wikipedia-Eintrag: Mississippi-Kultur (08.10.2010); Wikipedia-Eintrag: Native Americans (wie Anm. 37); Werner Arens/Hans-Martin Braun: Die Indianer Nordamerikas. Geschichte, Kultur, Religion. München 2004. S. 16f.; Sissel Schroeder: Die Inbesitznahme von Gebieten und die Entdeckung der Ungleichheit in frühen amerikanischen Indianergesellschaften. In: James A. Robinson/Klaus Wiegandt (Hrsg.): Die Ursprünge der modernen Welt. Geschichte im wissenschaftlichen Vergleich. Frankfurt/Main 2008. S. 375–430, hier S. 407–421. 39 Nikolai Grube: Die Kulturen des Alten Amerika. In: Jockenhövel (Hrsg.): Grundlagen der globalen Welt (wie Anm. 36). S. 412–441; Catherine Julien: Die Inka. Geschichte, Kultur, Religion. München 42007; Berthold Riese: Die Maya. Geschichte, Kultur, Religion. München 62006; Hanns J. Prem: Die Azteken. Geschichte, Kultur, Religion. München 4 2006; David Webster: Vom Ge- und Missbrauch der alten Maya. In: Robinson/Wiegandt (Hrsg.): Die Ursprünge der modernen Welt (wie Anm. 38). S. 255–326.

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der Bantusprachen von Kamerun aus Rückschlüsse auf menschliche Wanderungen zulässt, ist in der Forschung umstritten.⁴⁰ Weiträumige Kommunikation kann im Mittelalter nur im Hinblick auf jene drei Kontinente beobachtet werden, die damals selbst als Ökumene galten: Asien, Europa und Afrika.⁴¹ Nach den Weltkarten der Lateiner waren sie durch Gewässer voneinander geschieden: Europa von Afrika durch das Mittelmeer und beide von Asien durch die Flüsse Don und Nil. Indessen bildeten diese technisch niemals unüberwindliche Hindernisse, während der Weltozean, der die drei Erdteile zu umschließen schien, in der Vorstellung der mittelalterlichen Menschen die Ökumene von den unbewohnten Teilen oder einem vierten Kontinent trennte, in dem womöglich die Monstren hausten.⁴² Tatsächlich war am Ende des Mittelalters von den drei Großmeeren der Weltkugel am besten das kleinste, der Indische Ozean, erschlossen; den Atlantik befuhr man regelmäßig allenfalls im Nordosten, während der Pazifik, größer als die beiden anderen zusammengenommen, meist nur an seinem chinesisch-japanischen Saum überbrückt wurde.⁴³ Über den Zusammenhang der drei Kontinente des Mittelalters entschieden die Ost-West-Verbindungen zwischen China und Lateineuropa; obschon noch Fernwege auf dem Lande zur Verfügung standen⁴⁴, ver40 Wikipedia-Eintrag: Bantu (04.12.2010); Wikipedia-Eintrag: Geschichte Simbabwes (08.10.2010); Manfred K. H. Eggert: ‚Bantuwanderungen‘ in der Südhälfte Afrikas. Historische Sprachwissenschaft – Archäologie – Archäobotanik – Archäogenetik. In: Michael Borgolte/Julia Dücker/Marcel Müllerburg/Paul Predatsch/Bernd Schneidmüller (Hrsg.): Europa im Geflecht der Welt. Mittelalterliche Migrationen in globalen Bezügen. Berlin 2012 (EMA 20). S. 193–216. 41 Das Folgende fast wörtlich nach: Michael Borgolte: Kommunikation – Handel, Kunst und Wissenstausch. In: Fried/Hehl (Hrsg.): Weltdeutungen und Weltreligionen (wie Anm. 31). S. 17–56, 469 f., hier S. 18 f. 42 Vgl. Anna-Dorothee von den Brincken: Studien zur Universalkartographie des Mittelalters. Hrsg. von Thomas Szabó. Göttingen 2008 (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 229); Dies.: Fines Terrae. Die Ende der Erde und der vierte Kontinent auf mittelalterlichen Weltkarten. Hannover 1992 (Monumenta Germaniae Historica. Schriften 36); Michael Borgolte: Christliche und muslimische Repräsentationen der Welt. Ein Versuch in transdisziplinärer Mediävistik. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berichte und Abhandlungen 14. Berlin 2008. S. 89–147, hier S. 132 ff.; Marina Münkler: Monstra und mappae mundi. Die monströsen Völker des Erdrands auf mittelalterlichen Weltkarten. In: Jürg Glauser/Christian Kiening (Hrsg.): Text – Bild – Karte. Kartographie der Vormoderne. Freiburg 2007. S. 149–173; John Block Friedman: The Monstrous Races in Medieval Art and Thought. Cambridge, Mass./London 1981. 43 Vgl. Rainer F. Buschmann: Oceans in World History. Boston [u. a.] 2007. 44 Xinru Liu/Lynda Norene Shaffer: Connections Across Eurasia. Transportation, Communication, and Cultural Exchange on the Silk Roads. Boston [u. a.] 2007.

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knüpften diese Antipoden besonders Schiffe auf dem Indischen Ozean und dem Mittelmeer. Viele Küstenstädte unterwegs wurden angesegelt, die ihrerseits über große Flussläufe und Straßen weiter auf andere Zentren verwiesen; mit den Waren und Menschen konnten so auch an vielen Stationen Ideen, technische Errungenschaften und Werke mustergültiger Schönheit aus der Fremde an Bord kommen. Da weder die Gegensätze der Religionen noch die Unterschiede der Lebensweisen die Suche nach Wissen, die Neugier auf das Überraschende und das Streben nach Besitz, Genuss oder Gewinn nachhaltig zu hindern vermochten, störten die Kommunikation der Menschen empfindlich nur Herrschaft und Gewalt. Dort, wo die Erdteile aneinanderstießen, am Schwarzen Meer und in der Levante, lag das Scharnier für das Gefüge der mittelalterlichen Welt. Eine Schlüsselrolle kam demjenigen zu, der die Wasserstraßen zwischen diesen beiden Meeren beherrschte; im Osten waren dies das Zweistromland in Irak und der Persische Golf, im Westen der Nil und das Rote Meer. In älteren Zeiten hatten das schon die Perser gewusst oder Alexander der Große oder die Römer; seit dem siebten Jahrhundert rückten aber die islamisierten Araber in die zentrale Position ein, „von der aus sie die beiden großen wirtschaftlichen Einheiten des Mittelmeers und des Indischen Ozeans miteinander verbinden“ konnten.⁴⁵ Bis ins elfte Jahrhundert haben die Muslime alle wichtigen Wirtschaftsrouten zu Wasser und zu Lande kontrolliert. Später nahm das Gewicht westeuropäischer Händler zu; die italienischen Seestädte Amalfi und Venedig, Genua und Pisa orientierten sich nach dem östlichen Mittelmeer und errichteten bis zu den Küsten des Schwarzen Meeres ihre Kolonien.⁴⁶ Die Reichsbildung der Mongolen im 13. Jahrhundert, die im Osten auch China erfasste und sich im Westen bis nach Europa und Vorderasien ausdehnte, begünstigte die Dynamik der lateinischen Kaufleute; sie konnten nun auch am innerasiatischen Handel partizipieren. Allerdings blieb das Tor nach Ostasien für die Westeuropäer nur bis zur Mitte des vierzehnten Jahrhunderts offen.⁴⁷

45 André Wink: Al-Hind. The Making of the Indo-Islamic World I: Early Medieval India and the Expansion of Islam, 7th–11th Centuries. Boston/Leiden 2002. S. 10 (Übersetzung oben aus dem Englischen). 46 Vgl. Peter Feldbauer/Gottfried Liedl/John Morrissey (Hrsg.): Mediterraner Kolonialismus. Expansion und Kulturaustausch im Mittelalter. Essen 2005 (Expansion – Interaktion – Akkulturation. Historische Skizzen zur Europäisierung Europas und der Welt 8); Michael Mitterauer/John Morrissey: Pisa. Seemacht und Kulturmetropole. Essen 2007 (Expansion – Interaktion – Akkulturation. Historische Skizzen zur Europäisierung Europas und der Welt 13). 47 Vgl. Felicitas Schmieder: Nomaden zwischen Asien, Europa und dem Mittleren Osten. In: Fried/Hehl (Hrsg.): Weltdeutungen und Weltreligionen (wie Anm. 31). S. 179–202, hier S. 189 ff.

Krisen des Mittelalters? 

Auf der Basis der Handelsgeschichte ist die bisher mutigste These zur Globalgeschichte des Mittelalters entwickelt worden.⁴⁸ Die amerikanische Soziologin und Historikerin Janet Abu-Lughod hat bereits 1989 nachzuweisen versucht, dass es schon zwischen 1250 und 1350 ein Weltsystem des Handels und des kulturellen Austauschs gegeben habe, das sich zwischen den beiden Extremen Nordwesteuropa und China erstreckte. Sie widersprach damit der Annahme, ein solches Weltsystem sei erst im 16. Jahrhundert, im Zeitalter der Entdeckungen, entstanden. Nach Abu-Lughod haben sich in dem genannten Jahrhundert ökonomische Systeme miteinander verzahnt, die vorher bereits in regionaler Isolation existierten; man muss sich das neue System also als eine Kette von miteinander verbundenen Ringen vorstellen. Deshalb ist auch nicht davon auszugehen, dass die Händler vom Atlantik bis ans Gelbe Meer reisten, sondern dass ihre Waren an mehreren Zwischenstationen umgeschlagen und weiterverkauft wurden. Unterschieden werden drei Kulturregionen – Ostasien, Arabien und Westeuropa – und acht ökonomische Subsysteme. Europa war durch ein System einbezogen, das sich auf die Messen in der Champagne, die flandrischen Städte Brügge und Gent sowie die italienischen Seestädte Genua und Venedig konzentrierte. Sein Subsystem wurde im zwölften Jahrhundert mit der euromediterranen Zone verknüpft. Deutschland war nur am Rande betroffen; einerseits erreichten flandrische Schiffe Köln am Rhein, andererseits intensivierten die Venezianer im 14. Jahrhundert den Handel mit dem Reich über die Alpenpässe. Man darf sich allerdings nicht vorstellen, dass das mittelalterliche Weltsystem alle Menschen und Räume vereint hat, wie wir dies von der gegenwärtigen Globalisierung zu wissen glauben; es bestand vielmehr aus einem inselartigen Meer bedeutender Städte. Der Austausch zwischen diesen Zentren sei auch vergleichsweise gering gewesen, das Netzwerk noch zart entwickelt. Bemerkenswert war, und darauf kam es Janet Abu-Lughod besonders an, dass zwischen Ost und West ein Gleichgewicht herrschte, das jederzeit zugunsten eines jeden Kontrahenten hätte umschlagen können.⁴⁹ Vom Weltsystem des Mittelalters hätte also auch eine Dominanz Chinas ausgehen können, die dem Aufstieg Europas in der Neuzeit im Wege gestanden hätte. Dass vom Weltsystem des Mittelalters keine direkte Linie zur Moderne führte, verhinderte aber gerade die weltweite Vernetzung des ersten Systems. Denn die Pestepidemie, die es

48 Janet L. Abu-Lughod: Before European Hegemony. The World System A. D. 1250– 1350. New York/Oxford 1989; Janet Lippmann Abu-Lughod: Das Weltsystem im 13. Jahrhundert. Sackgasse oder Wegweiser? In: Feldbauer/Liedl/Morrissey (Hrsg.): Mediterraner Kolonialismus (wie Anm. 46). S. 131–156. 49 Lippmann Abu-Lughod, Das Weltsystem im 13. Jahrhundert (wie Anm. 48), S. 133.

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Mitte des vierzehnten Jahrhunderts zu Fall brachte, hatte sich auf denselben transkontinentalen Handelswegen verbreitet, die seine eigene Grundlage gewesen waren. Auch wenn die globalhistorische Mittelalterforschung noch ganz am Anfang steht, zeichnen sich doch schon gravierende Änderungen unseres Geschichtsbildes ab. Europa rückt in dieser Perspektive an den Rand der Ökumene. Mit dem Rücken zum Atlantik, den seine Seefahrer nur zögernd zu erschließen wagten, schaute es nach Osten, wo fast immer Muslime beziehungsweise Asiaten die Fernbeziehungen kontrollierten. Im Unterschied zur Antike hatte selbst das Mittelmeer seine herausragende Bedeutung verloren. Dass von unserem Kontinent später die ganze Welt geprägt werden sollte, war keineswegs langfristig angelegt und ist auch kein Naturgesetz für alle Zeiten. Erst recht marginal war der Anteil der Deutschen an der, wenn auch nur rudimentären, weltweiten Vernetzung des Mittelalters. In neueren Zeiten hat sich dies geändert, wie man nicht zuletzt in Hamburg weiß, das sich mit seinem Hafen als „Tor zur Welt“ versteht. Die Globalgeschichte des mittelalterlichen Jahrtausends kann aber daran erinnern, dass Deutschland mitten in Europa liegt. Während die Länder im Westen, Süden und sogar Osten des Kontinents relativ leicht in globale Fernbeziehungen einbezogen wurden, waren das Reich und seine Bewohner viel stärker auf ihre unmittelbaren Nachbarn verwiesen. Man kann in unserer unabänderlichen geographischen Lage einen Nachteil sehen, der durch die weltweite Vernetzung der Gegenwart an Bedeutung verloren hat. Virtuell ist heute jedermann an jedem Ort der Welt präsent. Es mag aber sein, dass die Aufregung über die Globalisierung schon bald abklingt und der Mensch als Wesen von Körper, Geist und Seele wiederentdeckt wird, das nur an einem Ort gegenwärtig sein und mit seiner ganzen Person auf andere seiner Art einwirken kann. Eine Renaissance der Nachbarschaften würde auch einer Geschichte Deutschlands im mittelalterlichen Europa neue Aktualität verleihen.

Dan Diner

Angesichts der Krise: Wegstrecken europäischer Gedächtnisse Kollektive Gedächtnisse sind Arsenale der Erinnerung. Unter Erinnerung sind nicht allein Reminiszenzen transgenerationeller Zugehörigkeiten zu verstehen, die zur kulturellen Vergewisserung in höchst komplexen Lebenslagen dienen. Erinnerung kann weiter reichen, etwa in Bereiche hinein, die sich aus Chiffren wie Codierungen habitueller Gewohnheiten und sozialer Tugenden fügen und tief in das materielle, in das lebensweltliche Gewebe eines Kollektivs eingewachsen sind – und dies mit weitreichenden Folgen. Mehr noch mag verwundern, wenn diese partikular verschiedenen tradierten kollektiven Merkmale und Embleme von Zugehörigkeit angesichts der aktuellen Schulden- und Finanzkrise Europas in einer Weise von sich reden machen wie kaum jemals zuvor. Es geht vornehmlich um die jeweils verschiedenen habituellen Tugenden des Wirtschaftens und Haushaltens – und dies im Zeichen einer gemeinsamen Währung. Schließlich ist die Währung der symbolisch verdichtete Ausdruck eines verbindenden und verpflichtenden Wertmaßes, genauer: eben jener Tugenden, die in ihm verschlüsselt sind. Nur scheinbar paradox ist der Umstand, dass jenes in der gemeinsamen Währung enthaltene Maß vor dem Hintergrund einer vorgeblich bestehenden Gleichheit der sich ihr unterwerfenden Volkswirtschaften erst die tatsächlich bestehenden Unterschiede und Differenzen ins Auge stechen lässt – mithin einer Wahrnehmung Vorschub leistet, die anderweitig, also bei fortwährendem Bestehen verschiedener, sich beständig untereinander abgleichender Währungen, so wohl kaum sichtbar geworden wäre. Es mag abermalig paradox anmuten, aber die sichtbar gewordene Verschiedenheit der europäischen Tugenden und habituellen Prägungen ist im Übrigen Ausdruck einer durchaus gelungenen Integration. In nicht weit zurückliegender Vergangenheit waren die jeweils national aufgeladenen und sich im Wesentlichen negativ voneinander abgrenzenden Gedächtnisse noch vom nicht weit zurückliegenden Großereignis der europäischen Geschichte, dem Zweiten Weltkrieg bestimmt gewesen. Zwar werden auch in der gegenwärtigen Schulden- und Finanzkrise in dem einen oder anderen Land an jene Zeit erinnernde Gedächtnisse evoziert. Aber sie erscheinen eher als anachronistische Residuen längst versunkener Vergangenheiten denn aktuelle Wirklichkeiten reflektierende Aufwallungen. Blickt man zurück in den Gedächtnisraum der europäischen Geschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so wird offen-

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bar, dass vieles, was zu den historischen Kalamitäten Europas und den mit ihnen verbundenen Verwerfungen geführt hat, längst erloschen ist und vornehmlich im Kulturellen seinen musealisierten Niederschlag findet. Schaut man etwa von der Mitte Europas, von Deutschland her nach Westen, nach Frankreich, so gelten die historischen Konfliktlagen als abgelebt. Weder ist die deutsch-französische Grenze umstritten noch wird waffenstarrend über Hegemonie und Revanche gesonnen. Was die territoriale Symbolik als Maß von Macht und Geltung angeht, hat sich der deutsch-französische Gegensatz aufgelöst. Dazu bedurfte es die Dauer eines halben Jahrhunderts bei Verwandlung beider Gemeinwesen. Deutschland ist aus zwei Weltkriegen und den mit ihnen verbundenen Niederlagen sowie dem Geist der Zeit folgend, als eine durch und durch zivile Macht hervorgegangen. Auch Frankreich hat sich vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts, dem Jahrhundert der Nationalismen, grundständig verändert, sich mit dem Verlust seiner vormals hegemonialen Stellung auf dem Kontinent ebenso abgefunden wie mit dem seines Kolonialreiches. Zuvor war Frankreich mehr gewesen als das Hexagon. Es verstand sich als Macht mit einem universellen, zivilisatorischen Auftrag. Der Rückzug aus diesem, der sich selbstverständlich auch als Rückzug aus den Kolonien gestaltete, zog den Einzug Frankreichs nach Europa nach sich. Und dieser Einzug nach Europa bedeutete neben der längst überfälligen industriellen Modernisierung der französischen Republik auch die sichtbare Aussöhnung mit Deutschland, genauer: der Bundesrepublik. Dass das Datum der deutsch-französischen Aussöhnung, besiegelt im Treffen zwischen Adenauer und de Gaulle in Reims, dem mittelalterlichen Krönungsort der heiligen französischen Könige, mit dem Jahr der Beendigung des Algerienkrieges 1962 zusammenfiel, macht symbolisch diesen historischen Zweischritt deutlich. Nach Osten hin bereitete die Brandt’sche Ostpolitik der frühen 70erJahre die Aussöhnung mit Polen durch die de facto-Anerkennung der polnischen Westgrenze vor. Dass mit diesem Vertragsschluss auch von einer volksdemokratischen, also kommunistischen polnischen Regierung der Umstand ignoriert worden war, dass zwischen Volkspolen und der Bundesrepublik noch ein weiteres Gemeinwesen, nämlich die DDR gelegen war, mag Bände sprechen und nimmt des Weiteren Zukünftiges gleichsam vorweg, zumal der mit dem Jahre 1989 eingetretene Wandel nicht zuletzt auch von der bundesdeutschen Ostpolitik mit ermöglicht worden war, die mit eben jener Politik der Anerkennung der territorialen Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges in Volkspolen einen innergesellschaftlichen Prozess ermöglichte, der letztendlich und in Zusammenspiel mit den von Gorbatschow in der Sowjetunion Mitte der 80er-Jahre eingeleiteten Veränderungen letztendlich zum Sturz des Regimes beitrug. Auch die bis tief ins 19. Jahr-

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hundert zurückreichenden Konfliktlinien scheinen bei allem vornehmlich polnischen Misstrauen sich merklich abgekühlt zu haben. Zwar mag die Gedächtnisikone Katýn in der polnischen Erinnerung von interessierter Seite immer wieder aufs Neue aktualisiert werden – von einem schwärenden polnisch-russischen Konflikt um territoriale Markierungen oder ähnlicher Symbolik von Macht und Geltung kann auch im östlichen Europa nicht mehr die Rede sein. Zwar hat der jugoslawische Sezessionskrieg in den 90er-Jahren, verbunden mit den dort damals verübten Gräueln, die Befürchtung heraufbeschworen, hier bilde sich eine an die Balkankriege zu Beginn des 20. Jahrhunderts erinnernde Konstellation heraus, die damals schließlich zur unmittelbaren Vorgeschichte des europäischen Kontinental- und Weltenbrandes von 1914 gehörte. Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Aber über die Dauer eines Jahrzehnts schienen sich in östlichen wie südöstlichen Gegenden Europas Konfliktlagen in Erinnerung zu rufen, die in wenig anheimelnder Weise negativ an das Gedächtnis der Zwischenkriegszeit appellierten. Dass Europa diesen von den Rändern ausgehenden Gefährdungen seines Projektes mit einer entsprechenden Propaganda seiner kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Attraktivität zu begegnen vermochte, war nicht zuletzt jenem militärischen Bündnis geschuldet, aus dessen sicherheitspolitischem Kapital sich das europäische Projekt nicht zuletzt nährt: die NATO. Die europäische Integration war ein Projekt der Neutralisierung der konflikthaften europäischen Vergangenheiten gewesen. Und es ist paradoxerweise eben dieser Erfolg, der gegenwärtig die historisch gewachsenen Unterschiede an die Oberfläche treibt. Nicht als politische, gar militärische Konflikte treten diese europäischen Unterschiede an die Oberfläche, sondern in Gestalt von sich aneinander reibenden unterschiedlichen Kulturen des Wirtschaftens und Haushaltens. Dies sind die aktuellen Arsenale des Gedächtnisses. Und dieses Gedächtnis nimmt die Gestalt von Sekundärtugenden und anderem Habituellen an. Das Gedächtnis schlägt sich kulturell in den Emblemen des Sozialen, des Ökonomischen und des Finanziellen nieder – mithin den materiellen Verdichtungen von Lebenswelt. Tatsächlich sind die europäischen Kulturen des Wirtschaftens und Haushaltens ebenso verschieden wie die ihnen vorausgehenden nationalen Gedächtnisse. Daran knüpft sich die Frage nach den sie begründenden historischen Erfahrungen an. Werte und Tugenden schlagen sich in der Währung als dem wohl abstraktesten gesellschaftlichen Maß nieder. Lässt man die jeweilig verschiedenen europäischen Erinnerungen Revue passieren, so werden – wie für Europa allenthalben symptomatisch – unterschiedliche Neigungen, Vorlieben, Befürchtungen und Ängste erkennbar. Soll die Geldwertstabilität als ein nicht zu hintergehendes

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habituelles Sanktuarium absolut gesetzt werden, so wie es dem von Inflationserfahrung und Währungsreform gebeutelten deutschen Gedächtnis entspricht? Die über drei Generationen – die als gültig erachtete anthropologische Dauer einer kollektiven Gedächtnisbildung – gewachsenen deutschen Tugenden von Sozialverhalten neigen schließlich wesentlich dazu, die Geldwertstabilität überaus hoch zu bewerten. Dem entgegenstehende Tugenden werden indes als geringer erachtet – und dies im Unterschied etwa zu Frankreich, das einer eher klassenkämpferischen Erinnerung folgend die Maßgaben von Vollbeschäftigung denen der Geldwertstabilität vorzieht. Der rhetorisch aufgeladene Vorrang des sozialen Gegensatzes in Frankreich im Unterschied zur ausgleichenden, korporativen Tradition der Sozialpartnerschaft in Deutschland lässt andere habituelle Neigungen gelten, wenn es um Fragen ökonomischen Fühlens und Handelns geht. Überhaupt ließe sich in Europa so etwas wie eine Topographie europäischer Sekundärtugenden abbilden, eine fein sich ausdifferenzierende Farbenskala der Übergänge, mittels derer sich so etwas wie eine Archäologie der Herausbildung und Geltung weiterhin wirksamer Tugenden des Wirtschaftens und des Haushaltens betreiben ließe. Dabei ist von europäischen Gemeinwesen wie dem Vereinigten Königreich, das aus traditioneller Distanz der Insel zum europäischen Kontinent heraus der Eurogruppe ohnehin fern geblieben war und aufgrund seiner dominanten Tradition des Handels, der Finanzen und der Dienstleistungen durchaus anderen Tugenden huldigt, nicht einmal die Rede. Die Wahrheit der gemeinsamen Währung offenbart mittels der bereits eine geraume Weile sich hinziehenden Schuldenkrise eine untergründige, bislang eher verborgen gebliebene und als extrem unausgewogen sich erweisende Statik des europäischen Projekts. Diese als unausgewogen erachtete Architektur lässt mittels der Krise eine über die nationalen Differenzen hinaus sich als denkwürdig erweisende europäische Topographie habitueller Tugenden sichtbar werden – so den Umstand, dass die Länder des europäischen Nordens und die Länder des europäischen Südens offenbar auseinandertreten. Eine solche Topographie der Tugenden des Wirtschaftens und Haushaltens scheint mit denen konfessioneller Zugehörigkeit affin zu sein. So weist das Wirtschafts- und Sozialverhalten der Länder des Nordens eine auffällige Nähe zu den als protestantische Traditionsbestände erachteten Sekundärtugenden auf. Dem ideengeschichtlich Informierten wird dabei die anhand empirischer Belege von der Geschichtswissenschaft gern zurückgewiesene These Max Webers von der protestantischen Ethik und dem Geist des Kapitalismus in den Sinn kommen. Webers provokative religionssoziologische These muss derweil im Einzelnen nicht zutreffen, um gleichwohl den aufdringlichen Eindruck hervorzurufen, Europa werde von einer Art tektonischer

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Bruchlinie historisch tradierter Unterschiede des Sozialverhaltens im Allgemeinen und des Wirtschaftens wie Haushaltens im Besonderen durchzogen, wobei, wie insinuiert, Topographie und Konfession sich in einer denkwürdigen Weise zu überlagern scheinen. Ein historisch geschärfter Blick vermag in der erschütterten europäischen Statik weitere traditionelle Anlagerungen von Kontinuitäten kulturhistorischen Ursprungs erkennen – so etwa den Umstand, dass das von der Schuldenkrise besonders gebeutelte Griechenland weder aus dem protestantischen noch dem katholischen Traditionszusammenhang hervorgegangen ist, sondern seine Wurzeln in Byzanz hat und zudem dem Osmanischen Reich zugehörte. Dort scheinen habituelle Voraussetzungen rationaler Verwaltung, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, die Trennung der Sphären von privat und öffentlich weniger scharf gezogen, als in den Kernländern des protestantischen Nordens, in denen auch die lebensweltliche, Sozial- und Alltagsverhalten berührende Seite des Katholizismus sich ohnehin „protestantisiert“ hatte, sich mithin den Erfordernissen der Moderne und ihren Modi der Beschleunigung angepasst hat. Die Vielfalt Europas, eben jener kulturelle Segen einer produktiven Verschiedenheit, erweist sich unter Maßgaben einer gemeinsamen Währung und im Zeichen der Schuldenkrise als strukturelle Gefährdung von über Jahrzehnte hinweg erlangten Gemeinsamkeiten. Die gemeinsame Währung transformiert die zu ernstzunehmenden Gefällen sich verdichtenden Unterschiede von Habitus, Sozialverhalten, Produktivität und Wirtschaften in ein Verhältnis, in dem die Gemeinwesen sich zueinander hierarchisch zu stellen beginnen. Diese Hierarchie findet ihren Ausdruck nicht etwa in archaisch anmutenden Formen von politischer Überlegenheit und Unterlegenheit, also in der Symbolik wie in den Realien von Macht und Herrschaft, sondern in den abstrakten Semantiken und Semiotiken einer Zahlenwelt, deren Sinnkriterien zu verstehen offenbar nur wenigen gegeben ist. Deshalb macht die Krise der europäischen Währung unter deren Namen sich eine Gruppe von Staaten zusammengefunden hat, auch eine Krise des europäischen Einigungsprozesses offenbar. Die sich als Schulden- und Finanzkrise niederschlagende Krise Europas legt nahe, sich abermals den historischen Bedingungen und Umständen des Einigungsprozesses als solchem zuzuwenden, um dabei nachzusinnen, inwieweit die erzählte Geschichte des europäischen Zusammenschlusses, gleichsam das vorherrschende Narrativ, tatsächlich die gewesene Wirklichkeit abbildet. Sich der Geschichtserzählung zuzuwenden, ist nicht einem abstrakten historischen Interesse geschuldet, sondern mag für gegenwärtiges wie zukünftiges Handeln durchaus bestimmend sein. Schließlich hat die erzählte Geschichte einen nach vorne gerichteten legitimatorischen Charakter insofern, als aus der gesponnenen

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Geschichtserzählung politische Konsequenzen erwachsen. Dabei wird dem nachdenklichen Beobachter auffällig, dass die Geschichte Europas wesentlich teleologisch erzählt wird, will heißen: Von der Idee der europäischen Einigung als Friedensprojekt hin zum eingetretenen Erfolg wird eine Kausalität insinuierende Linie gezogen. Eine solche Linienführung dürfte sich bei näherem Hinsehen als nicht stichhaltig erweisen. Denn ein solches Narrativ ignoriert den großen historischen Rahmen, in dem sich die Idee der europäischen Einigung zu realisieren vermochte, ihr eigentlicher politischer Humus. Und dieser Humus findet seine Ingredienzien im Milieu des Kalten Krieges, genauer: In den ordnungspolitischen, also wirtschaftlichen wie institutionellen amerikanischen Ansinnen, die Integration des westlichen Teils Europas im Kontext des sich langsam aufbauenden Gegensatzes zwischen Ost und West zu betreiben. Dieses Vorhaben hob an mit dem Marshallplan 1947, um sich mit der Etablierung des deutschen Weststaates, der Bundesrepublik, fortzusetzen. Es nahm des Weiteren Form an mit dem Ausbruch des Koreakrieges, der Etablierung der europäischen Behörde für Kohle und Stahl, also der Montanunion, und den amerikanisch-britischen Plänen der Begründung von integrierten europäischen Streitkräften – ein Begehren im Übrigen, das schließlich 1954 an der ablehnenden Haltung der französischen Nationalversammlung scheiterte, und an dessen Statt in der Aufnahme der Bundesrepublik nebst eigenen Streitkräften, der Bundeswehr, in die NATO mündete. In gewisser Hinsicht waren die NATO und die Bestrebungen zur europäischen Einigung ebenso parallele wie miteinander verbundene Vorhaben: Die NATO war in Europa so etwas wie ein Ersatz für die misslungene europäische militärische Integration und damit für das politische Projekt der europäischen Einigung, an der Europa weiterhin krankt. Vor solch komplexem Hintergrund von Kaltem Krieg und europäischer Einigung ist die deutsch-französische Annäherung zu verstehen. Ohne eine Integration eines westdeutschen Staates in den Westen wäre Frankreich auf dem Kontinent nach 1945 relativ alleine der bis ins westliche Mitteleuropa reichenden sowjetischen Militärpräsenz ausgeliefert gewesen. Westdeutschland an Frankreich zu binden erfolgte mittels einer diesem Vorhaben vorausgehenden Neutralisierung des deutschen Rüstungspotentials an Rhein und Ruhr. Dafür bot sich eben jene gemeinsame Behörde für Kohle und Stahl an, der sich weitere westeuropäische Länder anschlossen, um jene Sechsergruppe der europäischen Integration zu bilden. Dass sich dem vorausgehend auch Personen und Persönlichkeiten mit der Absicht zu Worte meldeten, die Idee Europas zu befördern, steht zum alles beherrschenden Kalten Kriege in keinem Gegensatz. Auch die gemeinhin in den Lehrbüchern zur Geschichte der europäischen Einigung als Gründungsrede zitierte, 1946 an der Universität Zürich gehaltene

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Ansprache Winston Churchills widerspricht diesen Parametern nicht – im Gegenteil. Churchill rief die Völker Europas zur Einigung auf ohne dabei eine Beteiligung Britanniens in Aussicht zu stellen. Eher sollten die Kontinentaleuropäer zu einem Zusammenschluss veranlasst werden, um die durch die massive Präsenz der Sowjetunion gestörte Balance auf dem europäischen Festland wieder ins Lot zu bringen – eine Perspektive, die der traditionellen Haltung der imperialen Inselmacht entsprach, sich aus den europäischen Händeln herauszuhalten, wobei eine Wahrung eines europäischen Gleichgewichts hierfür gleichsam konstitutiv war. Zudem war Churchill damals nicht mehr wie auch noch nicht wieder im Amt des britischen Premiers – ein Zustand, der den Entwurf großer Horizonte erleichterte. Bei anderen Personen und Persönlichkeiten, mit deren Namen das europäische Einigungsstreben auf das Engste verbunden ist, dürfte die Europaidee durchaus jenseits der Konstellation des Kalten Krieges gelegen haben, obschon sie ebendort ihre realpolitische Verankerung fand. Hier ist von dem europäischen Dreigestirn Adenauer, de Gasperi und Schuman die Rede. Alle drei zeichneten sich schon allein dadurch aus, dass sie der Peripherie ihrer jeweiligen Nationalstaaten entstammten, in der Erfahrungswelt des 19. Jahrhunderts verwurzelt und politisch aktive Katholiken waren. Zudem kommunizierten sie untereinander auf Deutsch. Diese Umstände sind keine Bedingung von Politik, machen aber symbolisch deutlich, wie stark sich die politische Idee Europas aus Umständen heraus gestaltete, die von den Rändern her gespeist wurden – Ränder im Sinne der Topographien ihrer jeweiligen Gemeinwesen ebenso wie der historischen Zeiten. Konrad Adenauer, Jahrgang 1876, war als bekennender Katholik ohne Zweifel eine Person, die der protestantischen Reichsgründung und ihrem preußischen Ursprung fremd gegenüberstand. Als Zentrumspolitiker und Oberbürgermeister Kölns war seine kulturelle Orientierung eher nach Westen gerichtet. 1919, im damaligen Schicksalsjahr Deutschlands, war gemunkelt worden, Adenauer strebe eine Abtrennung des Rheinlandes vom Reich und seine Anbindung an Frankreich an. Robert Schuman war in Luxemburg geboren, wuchs im damaligen deutschen Elsass auf und diente während des Weltkrieges im kaiserlichen deutschen Heer. De Gasperi entstammte einem italienischen Irridentagebiet, dem Trentino, und war bis zu seiner Auflösung mit Ende des Ersten Weltkrieges Abgeordneter im altösterreichischen Reichsrat gewesen. Ihre individuelle Geschichte, die wiederum mehr repräsentiert als nur diese allein, prädestinierte die drei in der Tat dazu, Gründungspersönlichkeiten der europäischen Einigung zu werden. Dass die Vorstellung von Europa indes nicht als friedensstiftende Idee allein reüssierte, sondern im Gewebe des sich

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ausbildenden Kalten Krieges ihren realpolitischen Halt fand, war den dreien ebenso selbstverständlich wie sie dabei auch ganz im Sinne ihrer jeweiligen Nationalstaaten wirkten. Wie grundständig der Kalte Krieg das europäische Projekt bestimmte, lässt sich der weiteren Einigungs- und Integrationsgeschichte entnehmen, vor allem anhand des sich 1989/90 endgültig einstellenden Endes des Ost-West-Gegensatzes. Die einzelnen Stufen der europäischen Einigungsgeschichte Revue passieren zu lassen wäre zu weitgehend: ausgehend von dem Scheitern des EVG-Vertrages und der Ersetzung der politisch-militärischen Einigung durch die wirtschaftliche Integration allein – diese mündete zwischenzeitlich in den Römischen Verträgen 1957 und gab der vorausgegangenen Montanunion im Nachhinein ihr ausgesprochen ökonomisches anstelle eines sicherheitspolitischen Gepräges –, schließlich die Bildung der Europäischen Gemeinschaft bis hin zum 1993 in Maastricht erfolgenden großen Sprung in die Europäische Union. Doch Maastricht und die damals beschlossene gemeinsame europäische Währung, der Euro, liegen bereits in einer anderen Zeit, in einer Zeit, die nicht mehr vom politischen Geländer des Ost-West-Gegensatzes bestimmt ist, sondern von einer Logik, die erst langsam ihre eigenen Konturen herauszubilden begann. Kurz zuvor, kurz vor dem Zusammenbruch des Kommunismus, dem Ende des Kalten Krieges und des ihn begründenden Ost-West-Gegensatzes, stand es mit der europäischen Einigung nicht gerade zum Besten. Obwohl die Integration von Brüssel aus beständig weiter betrieben wurde, und Überlegungen zu einer Wirtschafts- und Währungsunion durchaus konkretere Formen annahmen, schien der Prozess der europäischen Einigung von lähmender institutioneller Trägheit ergriffen. Es schien, als hätte das europäische Projekt jegliche Dynamik und Zielgerichtetheit verloren; von einer „Eurosklerose“ war allenthalben die Rede. Genau besehen hatte erst der Zusammenbruch des Kommunismus und das dramatisch sich einstellende Zurückfluten der Sowjetunion aus einem sich wieder einstellenden mitteleuropäischen Raum dazu geführt, dass dem Projekt „Europa“ neues Leben eingehaucht wurde. In der Tat schien die räumliche Wiederherstellung des Kontinents dazu zu führen, dass das politische Projekt Europa seinem neuen/alten Telos zugeführt wurde: Seiner Einigung. Und es war einvernehmliches Ziel, den postkommunistischen Ländern eine Perspektive zu bieten. Und diese Perspektive war in einem modernisierungstechnischen wie in einem politischen Sinne europäisch. Zuvor galt es freilich, so manche Endmoräne aus weiter zurückliegender Vergangenheit beiseite zu räumen. Neben der nunmehr endgültig, also auch de iure bereinigten Frage der deutsch-polnischen Grenze stellte sich

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für einen kurzen Augenblick die traditionelle, aus vergangenen Zeiten heraus sprechende deutsch-französische Konstellation wieder ein. Es schien einen Moment lang offenkundig geworden, dass ein sich wieder vereinigendes Deutschland die alteuropäischen Fragen neu auf die Tagesordnung setzen könnte. Wie stünde es dann um das über Jahrzehnte europäisch und transatlantisch ruhig gestellte deutsch-französische Verhältnis? Auch die die kontinentalen Verhältnisse traditionell geopolitisch bedenkenden Briten waren aufgewacht, und schienen die neue Lage aus alter Sicht heraus zu bewerten. Nicht, dass die bald darauf getroffene Entscheidung, eine gemeinsame europäische Währung, den Euro, einzuführen, der deutsche Preis für die befürchtete Potenz eines mitten in Europa sich erhebenden vereinigten Gemeinwesens gewesen wäre. Die Vorstellung einer Wirtschaftsund Währungsunion war ohnehin im Schwang gewesen. Aber zwischen diesem eher abstrakten Vorhaben und der Entscheidung zu seiner Umsetzung, stand jener Einschnitt, der mit dem Ende des Kommunismus und der deutschen Vereinigung in Verbindung stand. Jetzt erst entfaltete das Vorhaben einer gemeinsamen Währung die zu seiner Verwirklichung notwendige Dynamik. Nicht zuletzt aus französischer Sicht ging es vornehmlich darum, der potentiellen deutschen Wirtschafts- und Finanzmacht gesamteuropäische Kautelen anzulegen. Mit dem Verzicht auf währungspolitische Souveränität bei einvernehmlich bekundeter Wahrung des dem deutschen Habitus des Wirtschaftens und Haushaltens entsprechenden monetären Gebarens, war dem europäischen Projekt neues Leben eingehaucht worden, ohne dabei seinen friedenspolitischen Horizont in Mitleidenschaft zu ziehen. Deutschland sollte und konnte vereinigt werden, ohne nach Fortfall des Kalten Krieges und des ihm vorausgegangenen Ost-West-Gegensatzes in alteuropäische Bedrohungsszenarien zurückzufallen. Dass den alteuropäischen Divergenzen indes doch noch eine gewisse Lebenskraft innewohnt, wenn sich diese auch nicht mehr in einem machtpolitischen Gegeneinander niederschlagen, sondern eher unpolitisch erscheinen, indem sie sich der Kodierungen der Zahlensymbolik bedienen, hinter der sich die wahre Macht von Produktivität, sozialen Sekundärtugenden und andere habituelle, wie womöglich konfessionelle Einschreibungen verbergen, ist erst durch die aktuelle Krise des Wirtschaftens und Haushaltens auf der Grundlage einer gemeinsamen Währung offenkundig geworden. In gewisser und Erkenntnis befördernder Überzeichnung lässt sich gegenwärtig von einem in Europa wogenden Krieg sprechen – ja, von einer Art europäischem Einigungskrieg. Kein – Gott bewahre – veritabler europäischer Krieg, in dem, wie in zurückliegenden, wenig anheimelnden Dekaden, furchteinflößende Landheere, See- und Luftflotten aufzogen,

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ebenso wenig, wie sich daraus ein blutig entladendes Kräftemessen in sichtbarer militärischer Schlachtenordnung ergibt; also kein Krieg im althergebrachten Sinne, aber irgendwie doch ein Krieg bislang wenig sichtbar gewesener traditioneller europäischer Konfliktlagen entlang. So gesehen und jener notwendigen Erkenntnis in der Sache wegen überspitzt, können die gegenwärtigen, in der Eurogruppe ausgetragenen Auseinandersetzungen durchaus als eine Art innereuropäischer Krieg um Dominanz und Unterordnung historisch unterschiedlich gewachsener habitueller Tugenden des Wirtschaftens und Haushaltens verstanden werden. Bei diesem Krieg geht es nicht um Althergebrachtes wie um Gewinn oder Verlust von Territorien oder anderer, mittels Gewalt zu erlangender Trophäen der Über- oder Unterordnung, dem Schleifen von Festungen und Trutzburgen oder dem demütigenden Auferlegen von Tributzahlungen. Im Unterschied zu vergangenen, angesichts nachmoderner Lebenswelten gleichsam archaisch anmutenden Zeiten, nimmt das Ringen der Europäer untereinander ebenjene Semantiken von Finanz-, Haushalts- und Währungspolitik und deren Regularien an. Die sich heute einstellenden „Kriegsziele“ kulminieren letztendlich in der Frage, wessen Sekundärtugenden und habituellen Prägungen des Wirtschaftens und Haushaltens in Europa obwalten sollen, bzw., wie Kompromisse zu diesem Zwecke untereinander zu gestalten sind, vor allem aber, wessen Regeln zu gelten haben. All dies und vieles mehr verweist auf Konstellationen der Vormoderne. Und es sind paradoxerweise Konstellationen der Vormoderne, aus denen heraus so manche Vorstellungen einer zukünftigen europäischen Ordnung fließen könnten. Die Währungsunion bzw. der Euro ist ebenso ein Stabilisierungsanker, wie die gemeinsame Währung die Stabilität des Einigungsprojektes untergräbt. Beides trifft zu. Dieser Widerspruch ist gleichwohl kein vorübergehendes Krisenmoment, sondern ein konstitutives dynamisches Merkmal der europäischen Konstellation. Dadurch wird deutlich, wie schwierig es um klare politische Projektionen steht – sei es die Projektion in Richtung eines Bundesstaates oder eines Staatenbundes. Dabei hält gerade die deutsche Geschichte für beide Projektionen hinreichend Material bereit, so das Muster der deutschen Einigung im 19. Jahrhundert, bei der die Währungseinheit übrigens erst mit dem politischen Vollzug der Reichseinheit erfolgte. Ein solches Einigungsnarrativ orientiert sich am Ideal eines homogenen, horizontal integrierten Nationalstaates und dürfte schon aufgrund des Umstandes europäischer Vielfalt wenig Aussichten auf Erfolg haben. Das andere Modell schöpft aus dem Erfahrungsarsenal der Vormoderne, also aus einer Zeit, in der die politische Ordnung mit der damals geltenden vertikalen korporativen Ordnung der verschiedenen Stände, der nationes, eher lose zu Entscheidungen zusammen-

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zuführen war. Hier ist vom durch Napoleon 1806 aufgelösten „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation“ die Rede – ein Gefüge, das letztendlich der anbrandenden Moderne unterlag. In ihr verbanden sich die Prinzipien einer ethnisch eingefärbten Nation, der staatsbürgerlichen Gleichheit der Einzelnen, der repräsentativen Mehrheitsentscheidung mit der Territorialität der Staatsmacht zu einer politischen Maschine, in der sich Macht in Ballungen niederschlug und letztendlich im Zeichen der politischen Krise nicht zuletzt in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führte. Nicht, dass nunmehr nostalgisch in die ohnehin nicht wiederbringbare Vormoderne geblickt würde, um Europa aus der Krise zu führen. Aber die „weichen“ Strukturen einer beständigen und ausgleichenden Koordination nachmodern verfasster Körperschaften, kombiniert aus den europäischen Institutionen, aus den Staaten und ihren Parlamenten, aus weiteren Gebietskörperschaften und anderen Einrichtungen der Repräsentation, wie sie für die Vormoderne im Unterschied zu den „harten“ Strukturen der Dezision von Nationalstaaten und ihnen nachgebildeten Zusammenschlüssen so typisch gewesen waren, dürften für das Europa der nachmodernen Verschiedenheiten angemessener sein als Vorstellungen von Vereinheitlichung, die eher zu brechen als zu biegen vermögen. Wie verhält es sich vor diesem Hintergrund nunmehr mit der Gemeinschaftswährung, dem Euro – einer Währung, welche die Unterschiede der verschiedenen europäischen Gemeinwesen, von Wirtschaftsgebaren und Haushalten erst in der Krise hat derart scharf hervortreten lassen? Auch hier bietet sich der erkenntnisheischende diagnostische Blick zurück an, um resümierend auf das für Europa so signifikante Defizit des Politischen zu blicken – und dies im Unterschied zur für Europa so typisch gewesenen Integrationsspur des Ökonomischen. Am Anfang war die politische Einigung – jedenfalls als Idee. Diese politische Einigung, erwachsen aus dem Gehäuse des Kalten Krieges und der so empfundenen Bedrohung Westeuropas durch die Sowjetunion, sollte den Sprung in die militärische Integration leisten. Diese Form der Integration war vornehmlich an den französischen Bedenken der Form der Bewaffnung (West-) Deutschlands gegenüber gescheitert. Als ein für alle verträglicher Ersatz wurde die Bundesrepublik 1955 in die NATO aufgenommen. Die Einigung Europas erfolgte nunmehr im Wirtschaftlichen, und dies, obschon es sich bei diesem Bereich für die damals Handelnden nicht um den Kernbestand der eigentlich politischen Einigungserwartungen handelte, sondern um deren Ersatz. Von da an erfolgten die beständige Verflechtung der Volkswirtschaften und die Vereinheitlichung der lebensweltlichen Bereiche in erster Linie unter Umgehung der harten und auf Existenziellem beruhenden Entscheidungen der Politik. Dies war möglich geworden, als der OstWest-Gegensatz und die militärische Struktur der NATO für den politischen

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Ausfall Europas ersetzend eintraten. Dieses politisch-militärische Ersatzgehäuse für das unvollendet gebliebene Einigungsvorhaben ist mit dem Ende des Kommunismus und dem Zerfall der Sowjetunion zwar nicht an sein Ende gekommen, wurde aber massiv relativiert. Und solange Europa oder genauer: die Europäer nicht militärisch herausgefordert werden bzw. die NATO als ein, wenn auch inzwischen verwandeltes Militärbündnis weiterhin existiert, kann die Dimension der politisch-militärischen Einigung vernachlässigt bzw. außen vor bleiben. Inzwischen wurde aber der Euro als Gemeinschaftswährung aus der Taufe gehoben, dem indes jene politisch-institutionelle Deckung fehlt, um der Währung auch in Zeiten ökonomischer und finanzpolitischer Turbulenzen jenen Halt zu verschaffen, den eine Währung benötigt, um mehr zu sein als ein Symbol der Tauschabstraktion. Da aber nicht vorstellbar ist, dass die Europäer mir nichts dir nichts ihre jeweiligen nationalen Institutionen und damit ihr materielles Gedächtnis vergessen machen werden, um sich in ein auf Dezision getrimmtes politisches Korsett zu zwängen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das nach außen gerichtete Politische weiterhin den transatlantischen Institutionen und mithin der Deckung durch die NATO zu überlassen. Dies bedeutet gleichwohl, dass die aus der Konstellation des Kalten Krieges geborene Konstruktion Europas auch über dessen Ende hinaus Geltung beansprucht – will heißen, dass ohne die historische amerikanisch-europäische Nähe eine reale Krisenzeiten durchlebende „weiche“ europäische Integration nicht wirklich zu gewährleisten ist.

Friedrich Wilhelm Graf

Ganz viele Sonderwege Religiöse Vielfalt in Deutschland und Europa Ich darf Ihnen einige meiner Erwägungen zur neueren europäischen Religionsgeschichte vorstellen. Ich tue dies unter dem Titel ‚Ganz viele Sonderwege. Religiöse Vielfalt in Deutschland und Europa‘. Seit dem 18. Jahrhundert sind in Europa fortwährend intensive Debatten darüber geführt worden, ob Europa denn ein christlicher Kontinent sei. Spätestens die Romantiker haben die Hoffnung artikuliert, dass das Christentum in den Krisen der Moderne eine sittliche, moralische Substanz sichern könne, die auch die konfessionelle Vielfalt Europas übergreife. Diese konfessionelle Vielfalt will ich kurz erläutern. Wir kennen in Europa zunächst die fundamentale Unterscheidung zwischen den orthodoxen Christentümern und dem lateinischen Christentum des Westens. Wir kennen innerhalb des lateinischen Christentums die konfessionelle Pluralisierung des 16. Jahrhunderts durch die reformatorischen Bewegungen. Wir kennen in vielen europäischen Gesellschaften zudem kleinere christliche Gruppen, die wir meistens „Sekten“ oder Freikirchen nennen. Also: In Europa gibt es nicht das Christentum, sondern es existieren in spannungsreicher Vielfalt konkurrierende Christentümer, die in unterschiedlicher Weise jeweils in die Geschichten der einzelnen europäischen Nationalstaaten verwoben sind. Damit bin ich bei einem ersten, wichtigen Punkt, um deutlich zu machen, dass Vielfalt, auch innerchristliche Vielfalt, die Signatur der modernen europäischen Religionsgeschichte ist. Ich biete Ihnen dafür eine Formel an: Für die gesellschaftliche Präsenz von Religionen oder für die gesellschaftliche Präsenz von religiösen Organisationen wie den Kirchen ist das Religionsverfassungsrecht eines Staates ganz entscheidend. Wir nennen das Religionsverfassungsrecht im Deutschen traditionell Staatskirchenrecht. In keiner anderen rechtlich geordneten Kultursphäre unterscheiden sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und andere europäische Länder so sehr wie in der Regelung des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften und in der juristischen Bezeichnung des Ortes der Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft. Wir haben heute, 2012, in Europa immer noch Staatskirchen. Das ist der Fall in Griechenland, ein ganz wichtiger Fall, das ist der Fall in Dänemark, es ist de facto der Fall in Norwegen, und es war lange Zeit der Fall in Schweden. In Schweden hat man jetzt eine etwas abgeschwächte Art von Staatskirchentum. Wir haben in Europa aber auch Modelle des Versuchs

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der radikalen Trennung von Staat und Kirchen, klassisch ausgeprägt im französischen Modell der Laïcité, der ganz strengen Säkularität des Staates, verbunden mit dem Programm, die Religionsgemeinschaften möglichst weit aus der Öffentlichkeit heraus zu drängen und Religion in die Privatsphäre zu verweisen. Das ist das radikale Gegenmodell zum Staatskirchentum: entschiedene Laizität. Und wir haben in Europa ganz unterschiedliche Systeme der mehr oder minder behutsamen oder der mehr oder minder entschiedenen Trennung von Staat und Kirchen, also Modelle, in denen Staat und Kirchen einerseits getrennt sind, aber sie sich doch zu enger Kooperation verpflichten. Wir kennen alle unser eigenes Beispiel, das deutsche Staatskirchenrecht. In diesem deutschen Staatskirchenrecht, das auf sehr alten juristischen Traditionen des Heiligen Römischen Reiches basiert, wird einerseits der Versuch unternommen, die religiös-weltanschauliche Neutralität des modernen Verfassungsstaates ernst zu nehmen, und von Seiten des Staates andererseits versucht, den Kirchen gewisse Freiräume in der Weise zu eröffnen, dass sie zugunsten der Gesellschaft mit dem Staat kooperieren können. Die Juristen nennen dies „hinkende Trennung“. Wir Deutschen haben mit der Weimarer Reichsverfassung Staat und Kirchen getrennt, aber wir haben es nicht in der Radikalität der Franzosen getan, und wir meinen, dass Kooperationen zwischen Staat und Kirchen der Gesellschaft gut tun. Vergleichbare Kooperationsmodelle gibt es in je eigener Weise auch noch in anderen europäischen Staaten. Ein spannendes Beispiel zeigt der Blick auf die Insel, wo es noch immer eine established church gibt, eine Art Staatskirche, die Church of England, die für die Monarchie-Konstruktion des britischen Staates ganz entscheidend ist. Daneben gibt es dann viele freie religiöse Akteure. Das heißt: Schon in juristischer Hinsicht zeigt sich, dass das sogenannte „christliche Europa“ etwas sehr Buntes und Vielfältiges ist. Angesichts dieser Vielfalt gehört es zu den interessanten Erfahrungen des europäischen Integrationsprozesses, dass in Brüssel immer wieder betont worden ist, in dieses heikle und hoch verminte Gelände des Religionsverfassungsrechts wolle sich die Europäische Union nicht gern einmischen. Man weiß nämlich aus historischer Erfahrung, dass die juristische Regelung von Religion sehr, sehr schnell zu harten gesellschaftlichen Konflikten, zu Kulturkämpfen führen kann. Dem versucht man in Brüssel aus guten Gründen aus dem Wege zu gehen. Ich will Ihnen aber später zeigen, dass dies zunehmend schwieriger wird. Ich sage es etwas salopp formuliert: In Sachen Religionsverfassungsrecht hat die Europäische Union bisher noch keine starke Regelungsintensität erkennen lassen. Sie regelt vieles anderes, die Größe von Kronenkorken und so weiter, aber an diesem ganz zentralen Punkt ist sie sehr vorsichtig, weil sie weiß, wie wichtig Religion für sehr viele Menschen ist.

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Mein zweiter Punkt für Vielfalt wird Sie überraschen. Wir alle wissen, dass die meisten europäischen Gesellschaften in den letzten 40, 50 Jahren zunehmend intensiver zu Einwanderungsgesellschaften geworden sind. Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft sind in die europäischen Gesellschaften eingewandert. Denken wir an das Thema Einwanderung, assoziieren die meisten von uns Einwanderung von Menschen aus muslimisch geprägten Gesellschaften. Deshalb gibt es beispielsweise im medialen Diskurs der Bundesrepublik die Rede vom Euro-Islam. Das ist eine Art Hoffnungsformel, die sagen soll, dass muslimische Minderheiten sich auf europäische Lebensverhältnisse einstellen, dass sie die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie und des Rechtsstaates akzeptieren und so weiter. Aber beim Thema ‚Einwanderung von Menschen aus muslimisch geprägten Gesellschaften‘ nach Europa lässt sich abermals sehr hohe Vielfalt beobachten. Natürlich kann man sagen, ein junger Türke in Berlin ist ein Muslim. Und man kann sagen, ein junger Marokkaner in Marseille sei auch ein Muslim. Und man kann sie dann beide unter den Oberbegriff Muslime subsumieren. Genau genommen ist aber das Spektrum der muslimischen Gemeinschaften innerhalb der Europäischen Union mindestens so differenziert wie das Spektrum der christlichen Gemeinschaften. Hinzu kommt, dass sich bei diesem Thema ganz unterschiedliche historische Erfahrungen widerspiegeln. Nach den Katastrophen der neueren deutschen Geschichte darf man sagen, dass wir hier einmal Glück gehabt haben. Das Thema ‚Einwanderung von Menschen aus muslimischen Gesellschaften in die Bundesrepublik‘ verbindet sich bei uns nicht mit dem schwierigen, an Traumata rührenden Thema Kolonialismus. Das ist in Frankreich, das ist in Großbritannien, das ist in den Niederlanden und das ist auch in Belgien signifikant anders. Hier hat die Einwanderung von Menschen aus muslimisch geprägten Gesellschaften jeweils viel mit der kolonialen Vergangenheit des Aufnahmelandes zu tun. Die oft zu hörende pauschale Rede von der „Einwanderung von Muslimen nach Europa“ ist allerdings wenig hilfreich. Was haben Pakistanis in Birmingham, das sind meistens Muslime, mit jungen Tunesiern oder Marokkanern im Süden Frankreichs oder in den Banlieues von Paris zu tun, was hat ein Türke in Kreuzberg mit ihnen gemeinsam und so weiter? Wenn Sie genau hinschauen und Studien zur Vielfalt muslimischer Lebenswelten lesen, dann sehen Sie, dass wir einen fatalen, möglicherweise folgenreichen Fehler machen: Wir nehmen die meisten dieser Menschen als Muslime wahr, aber wissen nur wenig über die je eigene, spezifische Ausprägung ihrer muslimischen Frömmigkeit. Viele dieser Menschen verstehen sich selbst primär gar nicht als Muslime oder nur in der Weise als Muslime, wie manche Hamburger, die aus der Kirche ausgetreten sind, sich irgendwie auch noch als Christen verstehen. Das heißt:

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Auch mit Blick auf „den Islam“ in Europa haben wir es mit großer Vielfalt zu tun. Diese Vielfalt will ich nun kurz an einem regionalen Beispiel deutlich machen. Zum Thema Migration ist auch daran zu erinnern, dass wir verstärkt mit christlichen Gemeinschaften aus ganz anderen Gegenden der Welt konfrontiert sind. Zu den großen modernitätsspezifischen Entwicklungen des Christentums gehört es, dass erstens das Christentum außerhalb Europas sehr schnell und aggressiv wächst, und dass zweitens in den letzten hundert Jahren neue Formen des außereuropäischen Christentums entstanden sind. Im Zuge von weltweiter Migration kommen diese außereuropäischen Formen des Christentums zunehmend stärker auch nach Europa. Ich nenne dafür nur das wichtigste Beispiel: Um 1908 entsteht in Los Angeles eine neue Form des baptistischen Christentums, die sogenannten Pfingstler bzw. pentecostels bzw. charismatische Christen. Pfingstprediger gehen sehr schnell und glaubensernst nach Lateinamerika und schaffen es in relativ kurzer Zeit, bestimmte lateinamerikanische Gesellschaften tiefgreifend zu verändern. Manche Religionswissenschaftler wagen inzwischen die Prognose, dass schon in zwanzig Jahren die brasilianische Gesellschaft eine dominant protestantische Gesellschaft sein wird. Sie leiten das aus den bisherigen Konversionsraten ab. Sollten diese Konversionsraten weiter stabil bleiben, werde der einst so mächtige brasilianische Katholizismus nur noch die Religion einer Minderheit sein. Menschen aus diesen charismatischen Christentümern kommen nun zunehmend nach Europa, betreiben dort Mission, gründen Pfingstgemeinden und sind damit überraschend erfolgreich. Das Spektrum des Christlichen in Europa differenziert sich in den letzten 20 Jahren verstärkt nun auch dadurch, dass außereuropäische christliche Akteure hier aktiv werden. Ich nenne dafür mein Lieblingsbeispiel: Um brasilianischen Pfingstchristen zu begegnen, muss man gar nicht nach Brasilien reisen, sondern muss nur an einem Sonntagmorgen in bestimmte Münchner protestantische Kirchen gehen. Hier vergesellschaften sich aus Lateinamerika nach Deutschland gekommene Pfingstchristen; sie beten hier miteinander. Hier kann man jungen lateinamerikanischen Fußballspielern des FC Bayern begegnen, die oft höchst religiöse Zeitgenossen sind. Mehr Verschiedenheit bedeutet in aller Regel mehr Konflikt. Zur religiösen Signatur des gegenwärtigen Europa gehört es, dass wir mit einer Vielfalt neuer religiöser Konflikte konfrontiert worden sind. Nie zuvor in der neueren europäischen Religions- und Rechtsgeschichte sind vor staatlichen Gerichten vergleichbar viele juristische Konflikte zum Thema Religion ausgetragen worden wie in der Gegenwart.

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In Bayern möchte ein entschiedener Agnostiker, dass die Kreuze aus den Grundschulen entfernt werden. In Baden-Württemberg fordern manche christliche Eltern, dass im Kindergarten eine muslimische Kindergärtnerin kein Kopftuch tragen darf. Der französische, laizistische Staat will nicht, dass muslimische Mädchen in öffentlichen Schulen Kopftücher tragen. Ein Sikh in London, der aus religiösen Gründen einen Turban trägt, meint, dass er deshalb von der allgemein geltenden Pflicht, beim Motorradfahren einen Helm zu tragen, um seiner Religionsfreiheit willen dispensiert sei. Dann gibt es das klassische Thema Schächten: Dürfen muslimische Metzger und jüdische Metzger aus religiösen Gründen gegen das geltende Tierschutzgesetz verstoßen? Und gestritten wird auch über die Frage, ob die Beschneidung ganz junger jüdischer und muslimischer Knaben nicht deren Persönlichkeitsrechte verletze und als Körperverletzung zu tabuisieren sei. Konflikte dieser Art haben in den letzten fünfzehn Jahren in überraschender Weise und in großer Zahl zugenommen. Nie zuvor haben wir vergleichbar viele religionsbezogene juristische Konflikte erlebt. Und manche der religiösen Gefühle, die verletzt worden sind und vor Gericht zum Ausdruck gebracht worden sind, waren selbst Religionsexperten bis dahin kaum bekannt. Hier zeigt sich, dass manche kulturellen Konflikte auch in religiöser Sprache oder mit religiöser Intensität artikuliert werden, um Gruppenrechte durchzusetzen. Weil Sie da gelacht haben, schildere ich Ihnen jetzt den Sikh-Fall. Es ist ein spannender Fall, an dem sich das Problem erkennen lässt, wie Vielfalt gesteigert wird. Gemäß der traditionell besonders toleranten, aufklärungsorientierten Kultur der englischen Gesellschaft hatte das höchste englische Gericht einem klagenden Sikh zugestanden, dass er um seiner Religionsfreiheit willen von der Pflicht, einen Motorradhelm zu tragen, dispensiert ist. Daraufhin hat seine Versicherung etwas sehr Rationales getan. Sie hat ihm die Versicherungsprämie erhöht. Daraufhin hat er seine Versicherung wegen religiöser Diskriminierung verklagt. Zum Schluss waren aus einem einzigen Konflikt 17 verschiedene juristische Verfahren entstanden, die sich alle nur aus dem Vorrang starker Religionsfreiheit vor dem sonst geltenden Zivilrecht ergaben. Die Politik der Europäischen Union, sich beim Thema Religionsrecht zurückzuhalten, funktioniert nur noch eingeschränkt. Dies erleben wir auch in der Bundesrepublik. Wenn wir über religiöse Vielfalt reden in Europa, dann ist die Bundesrepublik in einer bestimmten Hinsicht wirklich ein ganz besonderer Sonderfall. Bei uns gibt es nicht nur politisch bemerkenswert einflussreiche und starke Volkskirchen, trotz aller Erosionsprobleme, sondern bei uns gibt es, verbunden mit dem Staat und mit den beiden großen Volkskirchen, große Wohlfahrtskonzerne: Caritas und Diakonie. Die Caritas beschäftigt im Moment 507 000 hauptamtliche Mit-

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arbeiter, die Diakonie 453 000 hauptamtliche Mitarbeiter. Nimmt man das hauptamtliche Personal der Kirchen hinzu, dann sind bei den Kirchen und den mit ihnen verbundenen Sozialkonzernen 1,25 Millionen Menschen beschäftigt. Damit sind die Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland der größte Arbeitgeber nach dem Staat, d. h. nach Bund, Ländern und Kommunen. Sie tun das unter einem spezifischen Arbeitsrecht, das der „dritte Weg“ genannt wird. Die Kirchen haben in der Bundesrepublik immer die Chance gehabt, ihre eigenen Dinge autonom, selbständig, selbstbestimmt zu regeln, und der Staat hat ihnen mit Blick auf die korporative Religionsfreiheit ausdrücklich diesen breiten Spielraum der Selbstorganisation zuerkannt. Deshalb gibt es auch ein eigenes kirchliches Arbeitsrecht. In kirchlichen Einrichtungen dürfen die Gewerkschaften keine Werbung entfalten bzw. nicht agitieren. Sie haben dort keine Organisationsmacht. Es gibt kein Streikrecht für Kirchenangestellte und so weiter. Aber die Kirchen haben eine juristische Position, die sie von den Gewerkschaften der 1920er Jahre übernommen haben. Das spiegelt der Begriff „Tendenzschutzbetrieb“. Die Kirchen erheben den Anspruch, dass, wer bei ihnen arbeitet, mit den inneren Zielen der Kirchen übereinstimmen muss und mit seiner ganzen Lebensführung die Lehre und die Grundanschauungen der jeweiligen Konfession bezeugen soll. Das hat dazu geführt, dass – aus der Geschichte der Bundesrepublik sind Hunderte solcher Fälle bekannt – der katholische Chefarzt eines Caritas-Krankenhauses, der sich scheiden lässt und dann wieder heiratet, entlassen werden kann, weil er ja durch die Scheidung zu erkennen gegeben hat, dass er sich an ein zentrales Element der katholischen Moralauffassung – das Sakrament der Ehe – nicht gebunden fühlt. Die deutschen Gerichte haben immer geurteilt, dass dies dem Tendenzschutzbetrieb Kirche entspricht und dass sozusagen die Selbstbestimmungsrechte der Kirche als Organisation den Arbeitnehmerrechten vorzuordnen sind. Leider lässt sich nun bei manchen Kirchenvertretern in der Bundesrepublik, aber auch in anderen europäischen Gesellschaften, die Tendenz beobachten, an dem Punkte ganz entschieden vorzugehen. Dank des schnellen Wandels der moralischen Verhältnisse, des sog. „Wertewandels“, leben wir in Europa weithin in offenen, religiös pluralen, auch moralisch vielfältigen Gesellschaften. In diesen Gesellschaften gelten harte Antidiskriminierungsregeln, die europäischen Ursprungs sind. Die Europäische Union gibt ihren Mitgliedstaaten bestimmte Antidiskriminierungsregeln vor, die dann in einzelstaatliches Recht umgesetzt werden müssen. Hier ist die Europäische Union gleichsam in eine Falle gelaufen. Über ihre Antidiskriminierungsregelungen ist sie jetzt wider Willen verstärkt mit dem Thema Religionsrecht konfrontiert und hat es unbedacht zu einem Thema der europäischen Integrationspolitik gemacht.

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Ich nenne nur zwei Fälle: Die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben in den letzten Jahren die EU-Richtlinie zur Nichtdiskriminierung aus Gründen des eigenen sexuellen Lebensentwurfes umgesetzt. Das heißt im Klartext: Sie haben Gesetze verabschiedet, mit denen die Partnerschaften gleichgeschlechtlich sich Liebender mehr oder minder eheanalog als juristische Institutionen anerkannt worden sind. Das ist nun gar nicht im Sinne der römisch-katholischen Kirche. Darf dann jetzt im Sinne des Tendenzschutzparagrafen die römisch-katholische Kirche einem Kindergärtner kündigen, nur weil er sich mit dem Kantor der evangelischen Kirchengemeinde staatlich legal „verpartnert“ hat? In der Bundesrepublik sind im Moment zahlreiche Verfahren dieser Art anhängig. Die deutschen Gerichte haben bisher uneinheitlich entschieden. Mehrere Fälle sind bereits in Europa anhängig. Jetzt hatte das House of Commons, also das britische Unterhaus, an dem Punkt eine, wie ich finde, kluge pragmatische Lösung vorgeschlagen. Es leuchte ein, dass die katholische Kirche in ihrer Moralbotschaft sichtbar, erkennbar sein wolle. Dies könne sich aber doch nur auf ihre Kleriker beziehen. Es leuchte ein, dass sie durch keine Kleriker, Priester repräsentiert werden wolle, die das staatliche Institut der gleichgeschlechtlichen Partnerschaft in Anspruch nehmen. Aber das könne nicht für den Gärtner im katholischen Kindergarten oder für den Fahrer des katholischen Chefarztes gelten. Dies war ein Kompromissvorschlag des Unterhauses. Ihn haben die römisch-katholischen Bischöfe im Oberhaus zu Fall gebracht, aufgrund vatikanischer Weisung. Entsprechende Konflikte, im Kern: Kulturkämpfe, haben sich in den letzten Jahren auch in Spanien und in Italien beobachten lassen. Viele dieser Konflikte werden nun vor europäischen Gerichtsinstanzen ausgetragen. Hier ist inzwischen auch das Streikrecht in diakonischen Einrichtungen gelandet. Verdi versucht im großen Stile, in der Diakonie neue Mitglieder zu gewinnen, weil die Gewerkschaften, wie die Kirchen, an Mitgliedern verlieren. Insofern vermute ich: Wir werden in den nächsten Jahren zunehmend Konflikte dieser Art auf europäischer Ebene erleben. Also nicht nur auf den Gerichtsbühnen der Nationalstaaten, sondern vor dem Europäischen Gerichtshof oder dem zuständigen Gerichtshof für Menschenrechte. Das ist eine spannende Entwicklung, weil es über die Rechtsprechung möglicherweise erste Tendenzen einer religionsrechtlichen Homogenisierung Europas geben wird. Denn sobald es hier einmal ein starkes europäisches Urteil gibt, müssen sich die Orthodoxen in Griechenland genau so daran halten wie dänische Lutheraner oder katholische Akteure in Spanien. Damit komme ich zum nächsten Paradox von Vielfalt und Europäisierung. Wir reden nur wenig über die ökonomische Seite religiöser Akti-

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vitäten. Wir haben es in Deutschland, und das ist gut und trägt erheblich zur Stabilität bei, als ganz selbstverständlich angesehen, dass der Staat für die Kirchen – er lässt sich dafür sehr gut bezahlen, der Staat verdient daran – die Kirchensteuer eintreibt. Wir finden es auch aus guten historischen Gründen ganz selbstverständlich, dass Caritas und Diakonie nicht allein mit der Sammelbüchse finanziert werden, sondern entscheidend von jenen Sozialstaatstransfers leben, die genau genommen ihren Kunden bzw. den von ihnen betreuten Menschen zustehen. Ein Hamburger Diakonieunternehmen wirbt zwar um Spenden, aber natürlich ist der Kern seines Haushaltes das, was es vom Sozialstaat bekommt, weil ja den dort betreuten, behandelten, beratenen und unterstützten Menschen sozialstaatliche Transferleistungen zustehen. Diese deutsche Sozialstaatskonstruktion ist aber etwas höchst Besonderes. In anderen europäischen Gesellschaften sieht die Finanzierung von religiösen Organisationen oder Akteuren ganz anders aus. In Italien etwa gibt es eine Kultursteuer und direkte Transferleistungen aus dem Staatshaushalt. Auch mit Blick auf die Ökonomie des Religiösen lässt sich in Europa hohe Vielfalt beobachten. Und auch hier gibt es jetzt verstärkt juristische Konflikte. Der moderne liberale Rechtsstaat zeichnet sich dadurch aus, dass er religiös und weltanschaulich neutral ist. Er ist nicht der Staat einer bestimmten Konfessionsgemeinschaft, er ist kein christlicher Sittenstaat, er ist kein katholischer Wertestaat, sondern er ist ein Staat, der vorstaatliche Freiheitsrechte der Menschen anerkennt. Der freiheitliche Staat privilegiert nicht eine bestimmte Religion gegenüber anderen Religionen. Und das ist auch der Kern der gesamten europäischen Rechtsprechung bisher zum Thema Religion. Da hat es noch vor zehn Jahren harte Konflikte gegeben – jetzt muss ich Griechenland erwähnen –, weil es in Griechenland traditionell der Fall war, dass man die griechische Staatbürgerschaft überhaupt nur haben konnte, wenn man sich als Kirchenmitglied zur orthodoxen Staatsreligion bekannte. Dadurch sahen sich Bürger, die nicht so gerne orthodox sein wollten, zu Recht diskriminiert und haben auch vor Gericht Recht bekommen. Jetzt gibt es eine neue Debatte, wie es denn zur Vorstellung der religiös-weltanschaulichen Neutralität des modernen Verfassungsstaates passt, wenn er bestimmte religiöse Akteure ökonomisch privilegiert. Also er zieht für die Katholiken und für die Protestanten die Kirchensteuer ein, er gibt den jüdischen Synagogen-Gemeinden für ihre Arbeit Geld. Doch wie ist es mit jenen religiösen Gruppierungen oder Akteuren, die nicht kirchenähnlich organisiert sind? An dem Punkte zeigt sich zunächst abermals hohe europäische Vielfalt. Man kann sagen, dass die Herausforderungen des neuen religiösen Pluralismus, insbesondere der Zuwanderung von Muslimen, in allen euro-

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päischen Staaten bisher in den Bahnen des dort jeweils geltenden Religionsverfassungsrechtes zu lösen versucht worden sind. Die Franzosen haben sich dadurch erhebliche Probleme bereitet. Mit einer Politik der strikten Laizität haben sie das erreicht, was sie nicht erreichen wollten, nämlich die Stärkung der religiösen Akteure – auch das eine wunderbar paradoxe Geschichte, aber so ist moderne Religionsgeschichte. Darf ein muslimisches Mädchen in einer staatlichen Schule ihr Kopftuch nicht tragen, melden ihre Eltern es in einer katholischen Privatschule an. Hier ist es nämlich erlaubt und als religiöses Bekenntnis erwünscht. Nie zuvor in der französischen Geschichte hat es so viele Gründungen von katholischen Privatschulen gegeben wie in den letzten Jahren. Aber ein großer, erheblicher Teil dieser Schülerinnen kommt aus muslimischen Familien. Die jungen muslimischen Mädchen dürfen hier ihren Glauben ausüben, sie können hier ihr Kopftuch tragen. Hier ist die Bekundung von Religion höchst erwünscht. Mit seiner Politik der strikten Laizität hat der französische Staat de facto ein katholisches Privatschulwesen gestärkt. Das war nicht seine ursprüngliche Intention, wenn Sie auf die klassischen Laizitäts-Debatten zurückblicken. Kommen wir nochmal zu den Finanzierungsfragen. Der Streit dreht sich immer um die Frage, was denn genau unter religiöser Neutralität zu verstehen ist. In der Bundesrepublik haben wir bisher – in meinen Augen zu Recht – gern betont, die Vorstellung passe sehr wohl zu unserem überkommenen Staatskirchenrecht, wir müssten es jetzt nur ein bisschen weiter entwickeln. Wir versuchen also, muslimischen Akteuren nahe zu legen, sich irgendwie kirchenähnlich zu vergesellschaften. Das heißt in der englischen Debatte „Churchification of Islam“. Die Bundesrepublik verfolgt eine Politik der Churchification of Islam. Hier wird vom Staat gleichsam ein interessantes Tauschangebot gemacht. Das Tauschangebot heißt: Wenn Ihr Muslime Euch irgendwie kirchenanalog vergesellschaftet, wenn Ihr feste, sichtbare Organisations- und Vertretungsstrukturen schafft, dann erhaltet Ihr von uns auch staatliche Transferleistungen, so wie die christlichen Kirchen und die jüdischen Synagogen-Gemeinden, und Ihr gebt uns dafür aber wieder etwas zurück, nämlich Loyalität zum demokratischen Rechtsstaat. Das ist der Kern dessen, was in der IslamKonferenz verhandelt wird: Wenn wir den Muslimen nahelegen, sich kirchenähnlich zu vergesellschaften, dann hat der Staat einen Ansprechpartner, dann kann er mit ihnen über den Religionsunterricht in öffentlichen Schulen reden und dann kann er, wie jetzt geschehen, aufgrund entsprechender Vorschläge und Beschlüsse des Wissenschaftsrates islamischtheologische Fakultäten oder muslimisch-theologische Fakultäten in Deutschland einrichten. Das erste Zentrum für islamische Theologie ist bereits in Tübingen errichtet worden, weil wir aus guten Gründen wollen,

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dass in Deutschland lebende muslimische Religionslehrer und Imame nicht in Kairo oder Ankara ausgebildet werden, sondern bei uns in Deutschland, und dies auch im permanenten diskursiven Kontakt mit den christlichen Theologien. Also: Unsere Integrationspolitik läuft darauf hinaus, dass die Muslime sich irgendwie so vergesellschaften sollten, wie das einst die Christen auch getan haben. In anderen europäischen Gesellschaften geht man den je eigenen Weg. Da gibt es viel neuen Streit. Wie ist es eigentlich mit dem Verhältnis von religiösem Recht und staatlichem Recht? Da geistert durch die deutsche Medienlandschaft immer das Wort Scharia. Und dann denkt man irgendwie an gesteinigte Frauen und ganz schlimme Diskriminierung. Aber zunächst muss man betonen: Ein Großteil der Scharia ist nur religiöses Zeremonialrecht, so wie wir das auch aus dem Judentum kennen und auch aus dem Katholizismus. Es gibt, immerhin, von einem bedeutenden christlichen Akteur, dem Erzbischof von Canterbury, dem Oberhaupt der Anglikaner, den Vorschlag, den Muslimen das Recht zuzugestehen, bestimmte familien- und privatrechtliche Konflikte auf der Basis der Scharia zu regeln. Das hat viel Empörung und Entsetzen provoziert. Aber Rowan Williams konnte bei Nachfragen darauf hinweisen, dass Vergleichbares den Juden in England schon seit 300 Jahren erlaubt ist. Wenn die Juden ihre familienrechtlichen Konflikte, Scheidungskonflikte, nach jüdischem religiösen Recht austragen können, warum dann nicht auch die Muslime? Ich erlaube mir den Hinweis – damit macht man sich nicht beliebt –, dass wir auch aus den Christentümern eigenes Religionsrecht kennen. Denken Sie nur an das katholische Kirchenrecht, das auch mehr sein will als nur Recht für Kleriker, nämlich ein religiöses Sonderrecht für alle Katholiken. Mit Blick auf das Verhältnis von staatlicher Rechtsordnung und religiösem Recht bzw. je eigenem konfessionsspezifischem Recht gibt es im Moment abermals normative Konflikte, die vermutlich in den nächsten Jahren weiter zunehmen werden. Abschließend nenne noch zwei Stichworte, weil sie angesprochen worden sind. Es gibt unter den gelehrten Religionsdeutern eine Debatte über die Frage, ob es einen europäischen exceptionalism gibt, also ob Europa insgesamt der Ausnahmefall ist, oder aber die USA der Sonderfall sind. Überall in der Welt beobachten wir in den letzten 30 Jahren, dass Religion zu einem immer wichtigeren und von einer immer größeren Zahl von Menschen aktiv gelebten Thema wird. Für Europa haben wir aber Vorstellungen von Säkularisierung, Erosion der Kirchen, Entkirchlichung, gar Entchristlichung, so dass man darüber streitet, ob Europa in dieser Hinsicht ein Sonderfall ist. Und wenn es ein Sonderfall ist, müsste man ja erklären können, woher dieser europäische Sonderfall kommt. Das ist

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eine seit 20 Jahren sehr intensiv geführte Debatte. Geprägt wird sie von zwei Deutungsmustern. Da muss ich nun englische Formeln bieten. Warum? Weil keine andere europäische Gesellschaft so viel in empirische und sozialwissenschaftliche Religionsforschung investiert hat wie die britische Gesellschaft. Das hat viel damit zu tun, dass auf der Insel die neue religiöse Vielfalt früher wahrgenommen worden ist als bei uns. Das stärkere Interesse an religiösem Glauben hatte auch viel mit den Kolonialismus- oder Imperiums-Erfahrungen zu tun. Man wusste aus Indien und Pakistan sehr genau, welche fatalen Folgen es hat, wenn man mit religiöser Vielfalt nicht wahrnehmungssensibel umgeht. Deshalb haben die Engländer sehr viel in die Erkundung ihrer eigenen Religionskulturen investiert. Ein berühmter Autor, Callum Brown, veröffentlichte 2001 einen Bestseller, „Der Tod des christlichen Großbritannien“, und sagt, es war mal so: Früher gingen die Leute in die Kirche, heute tue das niemand mehr. Das stimmt zwar so nicht. Aber Callum Brown will nachweisen, dass das Christentum im Alltag der Briten immer schwächer wird. Seine Kritiker sagen, nein, nein, es ist alles ganz anders, die Leute haben nur ihr religiöses Teilnahmeverhalten verändert. So stehen sich nun zwei Deutungsmuster gegenüber. Und meine Behauptung ist, dass beide Deutungsmuster für Europa gültig sind, aber für ganz unterschiedliche Teile Europas. Das eine Deutungsmuster heißt Believing without Belonging, also man glaubt, aber gehört nicht dazu. Dieses Modell ist zur Deutung der deutschen Situation hilfreich: Die 300.000 Leute, die im Jahr 2011 aus den evangelischen Landeskirchen und den römisch-katholischen Diözesen ausgetreten sind, diese 300.000 Getauften sind keineswegs Nichtchristen, sondern viele von ihnen verstehen sich durchaus noch weiter als Christen, haben aber aus ganz spezifischen Gründen kein Interesse mehr daran, die kirchlichen Organisationen weiter zu finanzieren. Lange haben die Kirchen in Deutschland gesagt, es seien primär materialistische Motive, die den Kirchenaustritt erklären. Das kann aber schon deshalb nicht das entscheidende Motiv sein, weil der christliche Spendenmarkt in der Bundesrepublik kontinuierlich wächst. Die Bereitschaft der Leute ist eher da, für ein bestimmtes Projekt Geld zu geben, das irgendwie erkennbar ist, als eine diffuse, kaum greifbare Großorganisation zu finanzieren. Also: Believing without Belonging – die Leute glauben durchaus, aber sie gehören nicht mehr der Organisation an. Damit erleben die Kirchen nur, was auch andere Großorganisationen erleben. Auch die Volksparteien haben Schwierigkeiten. Auch die Gewerkschaften verlieren an Mitgliedern. Man darf also bei den Believing without Belonging-Leuten gar nicht nur auf ihre Religion gucken, sondern hier gilt mit Blick auf religiöse

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Organisationen nur, was sich an allen Großorganisationen beobachten lässt. Und dann gibt es das Umgekehrte in Europa: Belonging without Believing. Dies sind Leute, bei denen man nach allem, was man sie fragt, sagt: Das hat nun wirklich mit dem Christentum nicht mehr viel zu tun. Aber sie gehören dennoch einer christlichen Kirche an. Das dafür besonders spannende Beispiel ist die schwedische Gesellschaft. Die Schweden sind bereit, sehr, sehr viel Geld für die Finanzierung ihrer Staatskirche und Volkskirche aufzubringen. Aber wenn man sie nach irgendeinem christlichen Inhalt fragt, sagen sie, interessiert mich nicht, damit habe ich nichts am Hut. Also muss man erklären, warum sie dennoch eine christliche bzw. religiöse Organisation oder Institution unterstützen, aber sich nicht, nicht explizit jedenfalls, zu religiösen Themen verhalten wollen. Dafür gibt es ein Modell, das im englischen Diskurs das Zahnarzt-Modell genannt wird. Sie gehen ja nur ab und zu zum Zahnarzt in Sachen Vorsorge, lassen mal nachgucken. Und sie gehen zum Zahnarzt, wenn Sie Schmerzen haben. Sie sind zudem bereit, auch jeweils relativ viel für diesen Zahnarzt zu bezahlen, weil Sie ja wollen, dass er im Schmerzensfall jederzeit schnell zur Verfügung steht. So ähnlich ist es mit der schwedischen Staatskirche. Es könnte ja sein, dass es irgendwann einmal Situationen gibt, in denen eine Gesellschaft neben dem Staat eine zweite funktionierende Institution benötigt. Und ein Staat, der den Mord am eigenen Ministerpräsidenten mitten in der Hauptstadt nicht aufklären kann, der den eigenen Bürgern nicht erklären kann, wie die Estonia gesunken ist, ob etwa der eigene Geheimdienst daran beteiligt war, ein solcher Staat ist nicht besonders vertrauenswürdig. Deshalb lautet das Deutungsmuster vieler Religionssoziologen, dass das immer auch gegebene Misstrauen gegenüber politischen Organisationen die Leute darin bestärkt, ein Stück weit religiösen Institutionen Vertrauensvorschuss zu geben und sie für den Not- oder Ausnahmefall am Leben zu halten. Das heißt freilich, dass diese religiösen Institutionen vertrauenswürdig wirken müssen. Dies ist sozusagen die entscheidende Voraussetzung. Leider haben wir in der Bundesrepublik erlebt, dass man das nicht von vornherein tun darf. Es wäre jedenfalls unklug zu sagen: Gerade weil wir von Kirchen, ganz wichtigen Moralagenturen reden, darf man ihnen blind vertrauen. Das ist jedoch ein eigenes Thema für einen weiteren Vortrag: Die Kirchenkrisen, vor allen Dingen die tiefe Krise der römisch-katholischen Kirche nicht nur in der Bundesrepublik. Ich fasse zusammen: Wir haben auf der Ebene der gelebten Religion in Europa extrem hohe Vielfalt. Wir haben auf der Ebene der juristischen Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirchen und ihrem Ort in der

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Gesellschaft extrem hohe Vielfalt in Europa. Wir haben mit Blick auf die Finanzierungssysteme extrem hohe Vielfalt. Wir haben mit Blick auf das Thema Islam sehr hohe Vielfalt. Und trotzdem lassen sich erste Tendenzen einer europäischen Homogenisierung beobachten. Bisher Verschiedenes kommt vor allen Dingen darüber zusammen, dass vergleichbare oder analoge juristische Konflikte ausgetragen werden, und diese Konflikte zunehmend vor europäische Gerichtsinstanzen wandern und damit dann doch allmählich über die Rechtsprechung so etwas wie ein europäisches Religionsverfassungsrecht entsteht.

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Deutschland in Europa: Visionen von Vielfalt und Verständigung I Einleitung „Was verbinden Sie mit Europa“ wurde ich von einer Mitarbeiterin des Deutschlandfunks kürzlich in einem Interview gefragt, welches sie anlässlich dieser Vortragsreihe der Akademie der Wissenschaften in Hamburg mit mir führte. Gibt es auf eine solche Frage eine einfache Antwort? Oder regt sie nicht vielmehr zum Nachdenken darüber an, was denn „Europa“ eigentlich sei, und ob man sich mit diesem Konstrukt namens „Europa“ in irgendeiner Weise identifizieren kann und will? Ohne die Vorzüge zu leugnen, die ein friedliches Zusammenleben von Nationalstaaten nach den verheerenden Kriegen vor allem des 20. Jahrhunderts in Europa hat, stellen sich doch auch viele kritische Fragen. In Zusammenhang mit dem Titel meines Vortrags meine ich damit nicht die gegenwärtige Finanzkrise, sondern vielmehr die Frage nach der „Identität“ eines geeinten Europa, die Frage nach Inklusion und Exklusion, d. h. nach dem Umgang mit „den anderen“ außerhalb Europas oder jenen, die von dort kommen, um sich in Europa niederzulassen. Im Folgenden möchte ich zuerst einige Überlegungen zu „Europa“ und der Art und Weise anstellen, ob und wie sich „Europa“ eine eigene Identität in Abgrenzung zu anderen kulturellen, religiösen oder territorialen Einheiten konstruierte und konstruiert. Mein Augenmerk werde ich dabei auf das Osmanische Reich richten. Anschließend werde ich der Frage nachgehen, inwiefern die Auseinandersetzung mit Vielfalt insgesamt, aber vor allem mit „dem Islam“ in Europa und besonders in Deutschland von Angst und Ungleichwertigkeit bestimmt ist. Am Ende meines heutigen Vortrags möchte ich Ihnen dann Überlegungen zu Visionen von Vielfalt und Verständigung in Deutschland vorstellen. „Europa“ also ist nicht nur eine kulturell, sondern ebenso eine territorial konstruierte Größe: Weshalb, so könnte man fragen, endet es westlich des Urals und diesseits des Bosporus anstatt östlich des Urals und jenseits des Bosporus? Die Idee von „Europa“ wandelte sich stets durch den immer wieder neu auszuhandelnden Versuch, „die ‚Identität‘ Europas im Spannungsbogen von äußerer Abgrenzung und der Suche nach inneren Gemeinsamkeiten zu bestimmen.“¹ Dabei stehen neben den Eigenzuschreibungen 1 Jürgen Osterhammel: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im

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wie „Europa“, „christliches Abendland“ etc. solche Fremdzuschreibungen wie „Orient“, „Ferner/Naher/Mittlerer Osten“ usw., die „aus den besonderen europäischen Ordnungs- und Abgrenzungsbedürfnissen“ heraus gebildet wurden und werden.² Dadurch, dass die Osmanen Territorien diesseits des Bosporus besetzten, wurde ihr Reich geographisch zu einem Teil Europas. Von der Eroberung Konstantinopels im Jahre 1453 bis zum Ende des I. Weltkriegs hatte das Osmanische Reich einen besonderen Platz in den Erfahrungen, Gedanken, Vorstellungen und Projektionen vieler „Europäer“ inne. Einerseits war es eine europäische Großmacht und Teil des europäischen Staatensystems, andererseits wurde es als religiös und kulturell verschieden angesehen. Durch die Erfindung der Druckerpresse, die zeitlich mit der Eroberung Konstantinopels zusammenfiel, war es möglich, Publikationen, Turcica genannt, zu verbreiten, die die christlichen Mächte zur gemeinsamen Front gegen den muslimischen Feind aufriefen. „Die Türken“ wurden zu dem „Anderen“, gegen den sich die europäische unitas christiana konstituierte. „Europa“ enstand folglich nicht etwa in Abgrenzung zu „Asien“ oder „Afrika“, sondern zu „den Türken“ als den Eroberern des zweiten Rom. Erst nach den verheerenden Niederlagen der Osmanen 1683 vor Wien und 1687 in Ungarn wurde die „Türkengefahr“ entschärft und das „Türkenbild“ entdämonisiert. Mit dem Ende der Kreuzzugsideologie trat daraufhin auch „Europa“ als Gegengröße zum Osmanischen Reich in der politischen Sprache in den Vordergrund und löste „die Christenheit“ ab.³ Im 18. Jahrhundert wurde Europa von einigen seiner Bewohner als „exklusive Wertegemeinschaft“ mit „einzigartigen historischen Wurzeln“ definiert, zu der das Osmanische Reich wegen seiner „anderen religiöszivilisatorischen Gesittung“ nicht gehören könne.⁴ So bezeichnete z. B. Johann Gottfried Herder in einem Text, der zum damals vorherrschenden medial verbreiteten Antagonismusnarrativ⁵ zu zählen ist, „die Türken“ als

18. Jahrhundert. München 1998. S. 41–42. 2 Ebd. 3 Diese Ausführungen beruhen auf Aslı Çırakman: From the „Terror of the World“ to the „Sick Man of Europe“: European Images of Ottoman Empire and Society from the Sixteenth Century to the Nineteenth. New York 2002; Almut Höfert: The Order of Things and the Discourse of the Turkish Threat: The Conceptualisation of Islam in the Rise of Occidental Anthropology in the Fifteenth and Sixteenth Centuries. In: Almut Höfert und Armando Salvatore (Hrsg.): Between Europe and Islam. Shaping Modernity in a Transcultural Space. Brüssel [u. a.] 2000. S. 39–69; Osterhammel: Die Entzauberung Asiens (wie Anm. 1). S. 47. 4 Osterhammel: Die Entzauberung Asiens (wie Anm. 1). S. 48. 5 Gerdien Jonker: Europäische Erzählmuster über den Islam. Wie alte Feindbilder in

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„fremdes Volk in Europa“, deren Reich, das „die einst sinnreichsten griechischen Völker zu treulosen Sklaven, zu liederlichen Barbaren“ gemacht habe, bald untergehen werde. „Denn was sollen Fremdlinge, die noch nach Jahrtausenden asiatische Barbaren sein wollen, was sollen sie in Europa?“⁶ Man warf den Osmanen vor, sich nicht an die höhere europäische Kultur, den „Allgemeingeist Europa’s“ anzupassen, schließlich „kampierten sie nur in Europa“⁷ – hielten sich nach alter nomadischer Sitte also angeblich nur vorübergehend dort auf. *** Das Beispiel der Inklusion bzw. Exklusion der Osmanen, die häufig nicht mit ihrem Herrschernamen, sondern mit ihrer sogenannten ursprünglichen „Volkszugehörigkeit“ als „Türken“ bezeichnet wurden, zeigt die Klischees ebenso wie die Mechanismen, die verwendet wurden, um „Europa“ zu definieren, sehr deutlich. Zudem wird man gewahr, wie wenig sich die grundlegenden Argumentationsmuster der Exklusion über die Jahrhunderte geändert haben, derer man sich aus einem vorhandenen Fundus immer wieder neu bedienen kann. Analysiert man die im gegenwärtigen Europa geführten Debatten um Einwanderung, wird „Europa“ kollektivsymbolisch als „Innen“ und „Wir“ kodiert, als „eine Art Schutzraum mit Grenzen, der verteidigt und befriedet werden muss“. Jenseits dieser Grenzen liegt das „Außen“, welches „als tendenziell bedrohlich und irrational wahrgenommen wird“⁸ – von dort kommen u. a. Flüchtlinge aus Ländern Nordafrikas über das Mittelmeer, deren „arabischer Frühling“ zuvor freudig begrüßt wurde. Sollte eine „europäische Identität“ gestiftet werden, bedürfte es dazu auch eines europäischen Kollektivgedächtnisses, welches es jedoch nicht gibt. Ebenso wie die persönliche Identität ist auch die kollektive ein komplexes Konstrukt sich ständig wandelnder Bestandteile. Falls wir nicht in nationalistische Kategorien vergangener Jahrhunderte zurückfallen wollen, sollten wir davon absehen, eine „europäische Identität“ erschaffen zu wollen, die gleichsam statisch einmal festgelegte Ideen und Werte in sich vereint. Schon an einer gemeinsamen Geschichtsschreibung kann Geschichtsschulbüchern die Generationen überdauern. In: Thorsten Gerald Schneiders (Hrsg.): Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen. Wiesbaden 2009. S. 71–83, hier S. 74. 6 Zit. n. Osterhammel: Die Entzauberung Asiens (wie Anm. 1). S. 48. 7 Ebd. S. 49. 8 Siegfried Jäger: Pressefreiheit und Rassismus. Der Karikaturenstreit in der deutschen Presse. Ergebnisse einer Diskursanalyse. In: Schneiders: Islamfeindlichkeit (wie Anm. 5). S. 305–22, hier S. 308.

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ein derartiger Versuch nur scheitern, ein gemeinsamer und unwandelbarer kultureller Kanon gar wäre nicht tragfähig⁹. Da es keine „allgemein gültige historische Interpretation der Tatsachen der Vergangenheit“ gibt, können nur die „gleichen Tatsachen interpretierend in unterschiedliche Perspektiven einrücken“, die wiederum in ein argumentatives Gesamtgefüge einzubringen sind.¹⁰ Folgerichtig wäre wohl nur eine „europäische Identität“ im Sinne des Bekenntnisses zu einem gemeinsamen Projekt oder Wertekanon mit universeller Geltung bei gleichzeitiger Öffnung gegenüber Alteritäten.¹¹ Der bulgarisch-französische Kulturwissenschaftler Tzvetan Todorov spricht in diesem Zusammenhang von der „Vielfalt der Traditionslinien in Europa“¹² und vom „Vorteil einer Vielfalt“, die die „Gedanken- und Meinungsfreiheit eines jeden“ fördere.¹³ „Die Einheit der europäischen Kultur gründet sich auf ihren Umgang mit den verschiedenen regionalen, religiösen und kulturellen Identitäten, die sie ausmachen; er [sic!] besteht darin, ihnen einen neuen Stellenwert zu geben und ihre Vielfalt in eine Bereicherung umzumünzen. Die geistige Identität Europas führt nicht zum Verschwinden der einzelnen Kulturen und lokalen Erinnerungen. Sie besteht auch nicht in einer Liste von Namen oder einem Repertoire von allgemeinen Ideen, sondern in der gleichen Einstellung zur Vielfalt.“¹⁴

Die kollektive Identität sei dabei nicht einfach die Vielfalt an sich, sondern der ihr verliehene Status einer positiven Qualität: Differenz werde zu Identität und Vielfalt zu Einheit, denn es gehe darum, „den Differenzen den gleichen Stellenwert zu geben.“¹⁵ Eine in historischer Hinsicht gemeinsame Erinnerung in Europa könne es daher auch nur als „allgemeine Erinnerung“ in Form der „Summe aus Differenzen“ geben. In dieser „allgemeinen Erinnerung“ anerkenne man die Erinnerungen der Nachbarn und ziehe Vergleiche zwischen den unterschiedlichen Erinnerungen.¹⁶ Somit besteht nach Todorov die europäische Identität in der An-

9 Tzvetan Todorov: Die Angst vor den Barbaren. Hamburg 2010. S. 223. 10 Jörn Rüsen: Einleitung: Für eine interkulturelle Kommunikation in der Geschichte. In: Jörn Rüsen [u. a.] (Hrsg.): Die Vielfalt der Kulturen. Frankfurt/Main 1998. S. 12–36, hier S. 27–28. 11 Siehe hierzu Todorov: Die Angst vor den Barbaren (wie Anm. 9). S. 91 und 104–5. 12 Ebd. S. 227. 13 Ebd. S. 225. 14 Ebd. S. 223. Hervorhebung von mir. 15 Ebd. S. 230. 16 Ebd. S. 233.

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erkennung der „Vielfalt der Entitäten, die Europa ausmachen, und in der Fähigkeit, diese Vielfalt fruchtbar zu machen“.¹⁷ *** Der indischstämmige Theoretiker der Hybridität Homi Bhabha fasst kulturelle Differenz als produktive Desorientierung auf, nicht als Festschreibung von Andersartigkeit. Seiner Ansicht nach zeichnet sich das Individuum durch eine Verknotung seiner kulturellen Identität aus, d. h. verschiedene Teilaspekte sogenannter „ethnischer“, klassenspezifischer oder geschlechtsspezifischer Zugehörigkeit werden überschritten und miteinander verbunden.¹⁸ Nach Bhabha sollten „die intersubjektiven Erzählungen, die ein Subjekt in seiner kulturellen Verortung wiederzugeben versuchen, von einer Situation ausgehen, die eher durch Ambivalenz, Differenz sowie einer doppelten, wenn nicht sogar multiplen Sichtweise geprägt ist“¹⁹. Die eigenen internen Differenzen und Ambivalenzen, mit denen das Subjekt sich selbst konfrontieren muss, stellen – und hier greift Bhabha auf Sigmund Freud zurück – das Unheimliche für den Menschen dar. Es geht um die unheimliche Entdeckung, „dass das Andere nie außerhalb oder jenseits von uns verortet ist, sondern seine Stellung einnimmt innerhalb eines jeden kulturellen Systems und des durch dieses System bedingten Diskurses. Differenz ist nicht die Marke für eine Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Zentrum und Rändern, sondern ein unumgänglicher Ort mitten im Zentrum.“²⁰ Das Fremde ist also Teil unserer Selbst, wir sind voller Ambivalenzen, Kontingenzen und unlösbarer Widersprüche, auch wenn wir uns nach Einfachheit, Transparenz und Kohärenz sehnen. Letztlich fordert Bhabha, ironische Distanz gegenüber den sinnstiftenden symbolischen Fiktionen wie Nation oder anderen Formen von Gemeinschaft einzunehmen.²¹

17 Ebd. S. 234. 18 Elisabeth Bronfen: Vorwort. In: Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000. S. ix–xiv, hier S. ix. 19 Ebd. S. x. 20 Ebd. S. x–xi. 21 Ebd. S. xiii.

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II Angst und die Ideologie der Ungleichwertigkeit Obwohl die Europäische Union und der Europarat in den letzten Jahren viel dafür getan haben, die Vielfalt der einzelnen ebenso wie der Kollektive in Europa anzuerkennen und fruchtbar zu machen, fehlt es in den Staaten der EU und des Europarats an einer „tiefen Sicherheit“. Diese vom Generalsekretär des Europarats Thorbjørn Jagland so genannte „tiefe Sicherheit“ löst sich von militärischen Dingen und beinhaltet ein europäisches Sicherheitskonzept, das ein Zusammenleben ermöglicht, ohne dass Konflikte eskalieren. Tief in der Gesellschaft verankert soll diese „tiefe Sicherheit“ die in der europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegten Werte zur Basis haben,²² darunter Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. In ihren „Empfehlungen für offene Gesellschaften im Europa des 21. Jahrhunderts“²³ haben die von Jagland einberufenen hochrangigen Experten, vier Frauen und fünf Männer aus verschiedenen europäischen Ländern, festgehalten, welche Gefahren für die genannten Werte derzeit bestehen. Als Nährboden für Gefahren wie wachsende Intoleranz, Diskriminierung oder den potenziellen Konflikt zwischen Religions- und Meinungsfreiheit bezeichnen die Autorinnen und Autoren dieser „Empfehlungen“ unter anderem „verzerrende Bilder und schädliche Stereotypen über Minderheiten in den Medien und in der Öffentlichkeit“ sowie einen „Mangel an Führungspersönlichkeiten, die Vertrauen wecken können, indem sie eine klare Vision von der Zukunft Europas formulieren.“²⁴ Ergänzend möchte man hinzufügen, dass es auch hilfreich wäre, wenn Mitglieder der Eliten in europäischen Ländern damit aufhörten, sich als „Personifizierung von Recht, Moral und Universalität zu begreifen“ und sich über die Gesetze und Urteile anderer zu erheben.²⁵ *** In Deutschland stehen sehr gegensätzliche Aussagen zur Vielfalt und zu den in diesem Land lebenden „Minderheiten“ – vor allem zur muslimischen „Minderheit“ – einander gegenüber. Während einerseits – und ich 22 Thorbjørn Jagland: Die Befreiung der Religion von den Kreuzzüglern. In: Süddeutsche Zeitung vom 29.07.2011, S. 2. 23 Zusammenleben im Europa des 21. Jahrhunderts. Empfehlungen für offene Gesellschaften (Combining diversity and freedom in 21st-century Europe). Bericht der hochrangigen Expertengruppe des Europarats. http://book.coe.int/ftp/3713.pdf (02.01.2012). 24 Ebd. S. 5. 25 Todorov: Die Angst vor den Barbaren (wie Anm. 9). S. 251.

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möchte hier nur einige wenige aktuelle Beispiele nennen – der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble im März 2008 erklärte, „Der Islam ist längst ein Teil unseres Landes“, und der damalige Bundespräsident Christian Wulff am 3. Oktober 2010 sagte, „Der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland“, distanzierte sich der derzeitige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich deutlich von Wulffs Aussage: „Dass aber der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich aus der Historie nirgends belegen lässt.“²⁶ Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer und sein Innenminister Joachim Herrmann sprechen gerne von „Kulturkreisen“; letzterer meinte kürzlich gar, aufgrund ihrer „europäischen Prägung“ sei es leichter, griechische und spanische Arbeitsmigranten zu integrieren als Zuwanderer aus „anderen Kulturkreisen“.²⁷ Wie sich die Zeiten ändern. Mit den Angehörigen „anderer Kulturkreise“ sind offensichtlich diejenigen gemeint, die nicht zum – neuerdings – „europäischen Kulturkreis“ gehören, der allerdings nicht weiter definiert wird. Ausgegrenzt werden nicht nur diejenigen, die von „außen“ kommen und daher angeblich „fremd“ und schlecht integrierbar sind, sondern auch diejenigen, die zwar im „Innern“ leben, aber weiterhin als außenstehend und „fremd“ bezeichnet werden. Ebenso wie „die Türken“ nach Herders Ansicht auch nach Jahrhunderten osmanischer Herrschaft in Europa „Fremdlinge“ blieben, wird heute Generationen vor allem türkisch-muslimischer Einwanderer und ihren vielfach deutschen Nachkommen immer noch von zahlreichen Personen des öffentlichen Lebens abgesprochen, zu Deutschland zu gehören. Doch die „Kultur Deutschlands kann letztlich nur die Kultur seiner [Bürgerinnen und, Anm. A. P.-H.] Bürger sein.“²⁸ Weshalb, so muss man fragen, wird so heftig darüber diskutiert, ob „der Islam“ – oder nicht vielmehr „die Muslime“? – zu Deutschland gehören? Hatte der Bundespräsident ebenso wie zwei Jahre zuvor der Innenminister nicht schlicht eine Tatsache festgestellt? Bei 3,5 Millionen Zuwanderern, von denen die meisten türkischer Herkunft sind, und einem geschätzten Anteil von fünf bis sieben Prozent Muslimen an der Gesamtbevölkerung lässt sich die Existenz von Muslimen in Deutschland schließlich nicht leugnen. Worüber vielmehr gestritten wird ist, ob sie und 26 Zit. n. WeltOnline vom 03.03.2011 (02.01.2012). Meine Hervorhebung. 27 Siehe hierzu u. a. FocusOnline vom 22.12.2011 (02.01.2012): „Es handelt sich oft um gut ausgebildete, hoch qualifizierte Arbeitnehmer. Wegen ihrer europäischen Prägung lassen sie sich hervorragend in Deutschland integrieren. Integrationsprobleme wie oft bei Zuwanderern aus anderen Kulturkreisen stellen sich nicht“. 28 Dieter Oberndörfer: Einwanderung wider Willen. Deutschland zwischen historischer Abwehrhaltung und unausweichlicher Öffnung gegenüber (muslimischen) Fremden. In: Schneiders: Islamfeindlichkeit (wie Anm. 5). S. 127–42, hier S. 138.

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ihre Religion auch dazugehören. Bevor ich kurz darauf eingehe, ob es „den Islam“ und „die Muslime“ überhaupt gibt, möchte ich noch auf einen anderen Aspekt der Diskussion hinweisen: In den vergangenen Jahren ist vor allem von PolitikerInnen und VertreterInnen der Medien immer wieder das sogenannte „christlich-jüdische Erbe“ betont worden, welches das Erbe des vormals rein „christlichen Abendlandes“ inzwischen offenbar weitgehend ersetzt hat. Dieses „christlich-jüdische Erbe“ wird hervorgehoben, um eine vermeintlich gemeinsame christlich-jüdische Tradition in Deutschland zu behaupten, welche sich gegen islamische Einflüsse abzugrenzen hat. Angesichts der Tatsache, dass die Diskriminierung, Vertreibung und Ermordung von Juden in Deutschland²⁹ noch keine siebzig Jahre her ist und dass bis heute in der Bundesrepublik nicht nur latenter, sondern auch offener Antisemitismus weit verbreitet ist, ist dieser plötzliche einseitige Schulterschluss im besten Falle bedenklich, im schlimmsten Falle eine Verhöhnung der jüdischen Opfer von Verfolgung, Diskriminierung und Vernichtung. Vor einem Jahr bereits wies Salomon Korn, Architekt und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf die Problematik dieser „Umarmung“ durch nichtjüdische Deutsche hin und merkte an, dass sich so etwas wie „christlich-jüdische Wurzeln“ in der deutschen Vergangenheit kaum finden ließen.³⁰ Wolfgang Benz, ehemaliger Direktor des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, spricht in diesem Zusammenhang von einem „aggressiven, aufgesetzten Philosemitismus“.³¹ An diesem Beispiel zeigt sich sehr deutlich, wie austauschbar die Bestandteile einer solchermaßen imaginierten kollektiven Identität sind: Die jahrhundertealten „Feinde im Innern“, die durch das NS-Regime, seine Schergen und Kollaborateure in Europa vertrieben und fast vollständig ausgelöscht wurden, werden auf einmal zu Trägern einer gemeinsamen Tradition und eines gemeinsamen Erbes stilisiert, um sie angesichts eines neuen „Feindes im Innern“ zu vereinnahmen. Wie formuliert es Patrick Bahners, seinerzeit Feuilletonchef der FAZ, so treffend: „Den paar überlebenden Juden nachträglich eine Garantenstellung für den Gang der deutschen Kulturgeschichte zuzuweisen ist eine monströse Geschmacklosigkeit.“³² 29 Salomon Korn spricht von einer Entwicklung „vom Juden in Deutschland über den deutschen Juden hin zum jüdischen Deutschen“. Er selbst sieht sich als jemand, der sich auf dem Weg vom „Juden in Deutschland zum deutschen Juden“ befindet. http:// www.sueddeutsche.de/politik/interview-mit-salomon-korn-leitkultur-ist-nah-dran-ankulturdiktatur-1.1050817 vom 26.01.2011 (02.01.2012). 30 Ebd. 31 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/politik/antisemiten-und-islamfeinde-hetzer-mitparallelen-1.59486 vom 4.10.2010 (02.01.2012). 32 Patrick Bahners: Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streit-

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*** Kehren wir noch einmal zurück zu der Frage, ob es so etwas wie „den Islam“ und „die Muslime“ überhaupt gibt. In der Islamwissenschaft ist man schon seit geraumer Zeit dazu übergegangen, vom Islam in der Pluralform zu sprechen, also von „den Islamen“. Schließlich ist der Islam in viele verschiedene Zweige unterteilt, und es bestehen abgesehen von der Mystik auch erhebliche Unterschiede zwischen dem normativen Islam der Gelehrten und dem gelebten Islam von muslimischen Gläubigen in aller Welt. Gemeinsame Grundlage sind der Koran und Muḥammad, der Gesandte Gottes, doch schon bei der Frage, was der Koran enthalte und wie sein Inhalt zu interpretieren sei, scheiden sich die Geister. Hinsichtlich der Muslime gilt ebenso das Gebot der Differenzierung. Weder in Deutschland noch anderswo gibt es ein Kollektiv „Muslime“, dessen Angehörige alle gleich denken, fühlen und leben. Muslime in Deutschland sind streng gläubig oder laizistisch, sie sind Frauen, Männer und Kinder, sie sind Deutsche, Türkinnen, Bosnier oder Marokkanerinnen, sie sind Fabrikarbeiter, Lehrerinnen, Journalisten, Feuerwehrleute oder Ärztinnen. Will sagen, es gibt die Muslime im Singular, auch wenn sie als Individuen im Medienbild kaum vertreten und in der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie nicht vorhanden sind. Selbstverständlich existieren individuelle Unterschiede innerhalb des Kollektivs „Muslime“, ebenso wie es „unterschiedliche Identifikationen und Zugehörigkeiten innerhalb ein und derselben Biographie oder Person“³³ gibt. Fesselt man den einzelnen an seine Herkunftsgruppe, sei sie religiös, national oder sonstwie definiert, wird „dadurch ein wertvolles Kennzeichen des Menschen negiert [...], nämlich seine Fähigkeit, sich vom Vorgegebenen zu lösen, um sich dem Selbstgewählten zuzuwenden“, so der bereits zitierte Kulturwissenschaftler Todorov.³⁴ Um die notwendigen Differenzierungen hinsichtlich „des Islams“ und „der Muslime“ vornehmen zu können, muss man sich von der „Semantik der Eigentlichkeit“³⁵ (Heiner Bielefeldt) lösen, die in den Argumentationszusammenhängen über „den Islam“ ein wesentliches Hindernis darstellt. Zwar ist weitgehend bekannt, dass sich viele Menschen in Deutschland als

schrift. München 2011. S. 40. 33 Carolin Emcke: Der verdoppelte Hass der modernen Islamfeindlichkeit. In: Schneiders: Islamfeindlichkeit (wie Anm. 5). S. 214–23, hier S. 219. 34 Todorov: Die Angst vor den Barbaren (wie Anm. 9). S. 89. 35 Heiner Bielefeldt: Das Islambild in Deutschland. Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam. In: Schneiders: Islamfeindlichkeit (wie Anm. 5). S. 167–200, hier S. 176.

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Muslime verstehen und sich gleichzeitig zu den freiheitlichen Verfassungsprinzipien bekennen. Und es liegen auch genügend Informationen in Form von Büchern und Artikeln vor, die theoretische Differenzierungen verschiedener Formen des Islams und seiner gelebten Praxis vornehmen. Doch besteht offensichtlich weiterhin eine Diskrepanz zwischen diesen theoretischen Differenzierungen und ihrer praktischen Irrelevanz für die generelle Einstellung gegenüber „dem Islam“ und den „Muslimen“.³⁶ „Eigentlich“ sei „der Islam“ nämlich antiliberal, „eigentlich“ seien Islam und Demokratie unvereinbar, „eigentlich“ könnten sich Muslime in Deutschland nicht integrieren, eben weil sie Muslime seien und damit nicht zu „unserem Kulturkreis“ gehörten, usw. Diese „Semantik der Eigentlichkeit“ befördert die Entkoppelung von den betroffenen Menschen. In islamfeindlichen Argumentationszusammenhängen werden Muslimen „Eigenschaften und Überzeugungen zugeschrieben, die sich durch reale empirische Studien über muslimische Lebensweisen und Überzeugungen nicht beirren lassen“³⁷. Mit Hilfe stereotyper Zuschreibungen werden „dem Islam“ oder „den Muslimen“ angeblich von innen her kommende Eigenschaften zugewiesen, die sie zu einem monolithischen Subjekt machen, welches in der Geschichte unwandelbar ist.³⁸ Von Jean-Paul Sartre stammt der Satz, „Le Juif est un homme que les autres hommes tiennent pour Juif“³⁹, „Der Jude ist ein Mensch, den die anderen Menschen für einen Juden halten.“ Denselben Satz wendet Carolin Emcke, Mitarbeiterin der Bielefelder Forschungsgruppe zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit auf Muslime an, denn „Der Muslim ist der Mensch, den die anderen als solchen betrachten – weil es auch im Zuge der Islamfeindlichkeit gar nicht um das Selbstbild von Muslimen geht, um die Frage, warum und inwiefern sie sich selbst als Muslime identifizieren, wie sie sich selbst kritisch mit eigener historischer Tradition oder gegenwärtiger Praxis auseinandersetzen.“ ⁴⁰

Während die Stigmatisierung der Juden in Deutschland und Europa zwar das religiöse Moment beinhaltete, jedoch stark vom biologischen Rassismus geprägt war, ist dieser inzwischen weitgehend vom Kulturalismus ersetzt worden.⁴¹ „Kulturalismus“ oder „kultureller Rassismus“ verabso36 Vgl. ebd. S. 175. 37 Emcke: Der verdoppelte Hass (wie Anm. 33). S. 215. 38 Ebd. Auf dieses Problem verwies – wenn auch nicht als erster – bereits Edward Said: Orientalism. New York 1979. 39 Jean-Paul Sartre: Reflexions sur la question juive. Paris 1954. S. 126. 40 Emcke: Der verdoppelte Hass (wie Anm. 33). S. 216. 41 Kai Hafez: Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft? Gesellschaftliche Entstehungsbedingungen des Islambildes deutscher Medien. In: Schneiders: Islamfeindlich-

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lutiert die Bedeutung von „Kultur“, welche nicht als historisch bedingt oder veränderbar, sondern als eindeutig identifizierbare, homogene, statische Einheit angesehen wird.⁴² Kulturen sind jedoch Schwemmland oder Mischgebilde, die durch Verschmelzung und Hinzufügung entstehen, sie sind vielfältig und wandlungsfähig. Zudem besitzen Menschen nicht eine, sondern mehrere kulturelle Identitäten, „die sich ineinanderfügen oder überschneiden können“⁴³. Kulturalismus jedoch verdinglicht und essentialisiert „Kultur“, die Eigenschaften sozialer Gruppen werden fixiert⁴⁴, so dass eine einheitliche Sicht auf die Angehörigen einer Religions- oder Kulturgemeinschaft vermittelt wird, denen man ihre individuellen Besonderheiten und ihr Selbstbild aberkennt. Wer zu einer bestimmten „Kultur“ gehört, dem werden dieselben festgefügten Verhaltensmerkmale zugewiesen wie allen anderen Mitgliedern seiner oder ihrer Gruppe. Allerdings besteht „Kultur“ nicht zuletzt aus der Art und Weise, wie Individuen und Gruppen auf ihre jeweiligen Lebensverhältnisse reagieren, wie sie ihre Reaktionsmuster sowohl aus ihren Traditionen speisen als auch an neue Anforderungen anpassen. „Kultur“ entwickelt sich also ständig weiter, ihre einzelnen Bestandteile können durch Handlungen bestätigt oder verworfen werden. ⁴⁵ Wenn Muslime in Deutschland vor allem als Gläubige und nicht als politische Staatsbürger wahrgenommen werden, ihr Glaube jedoch gleichzeitig als politisches Problem gilt, so die Psychologin Birgit Rommelspacher, dann ähnelt diese Form der Kulturalisierung den Argumenten radikaler Islamisten, die politische Differenzen ebenfalls religiös erklären.⁴⁶ Zudem sorgten Kulturalisierungen dafür, dass soziale Faktoren unsichtbar würden. Geht es um die Partizipation der Neubürgerinnen und -bürger, wird „Fremdheit zum Skandal“⁴⁷, denn die Konflikte, die in Verbindung mit den Verhandlungen über die Teilhabe an Reichtum, Zugang zu Bildung, politischem Einfluss und öffentlicher Repräsentanz entstehen, werden überwiegend als kulturelle definiert: Diese angeblich kulturellen Konflikte sollen belegen, dass „die Fremden“ nicht wirklich in

keit (wie Anm. 5). S. 99–117, hier S. 103. 42 Vgl. George M. Frederickson: Rassismus. Ein historischer Abriss. Hamburg 2004. S. 1, und Birgit Rommelspacher: Islamkritik und antimuslimische Positionen am Beispiel von Necla Kelek und Seyran Ateş. In: Schneiders: Islamfeindlichkeit (wie Anm. 5). S. 433–55, S. 443. 43 Todorov: Die Angst vor den Barbaren (wie Anm. 9). S. 81–82, S. 77. 44 Frederickson: Rassismus (wie Anm. 42); siehe hierzu auch Stuart Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs. In: Das Argument 178 (1989). S. 913–21. 45 Vgl. Rommelspacher: Islamkritik (wie Anm. 42). S. 443. 46 Ebd. S. 445. 47 Ebd. S. 451.

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diese Gesellschaft passen und infolgedessen auch nicht dieselben Ansprüche stellen können. Auf diese Weise wird den berechtigten Ansprüchen der Einwanderer und ihrer Nachfahren die Legitimation entzogen: „Der ‚Kulturkampf‘ erweist sich so als Kampf um Partizipationschancen.“⁴⁸ Laut Rommelspacher muss deutlich werden, dass die Zuschreibung von Fremdheit „eine wesentliche Funktion bei der Regulierung von Zugangsrechten hat, denn hier werden über eine quasi neutrale Feststellung kultureller Differenzen gewissermaßen soziale Hierarchien legitimiert“⁴⁹ und es werden die Interessen der Beteiligten ausgeblendet, die bei diesen Verteilungskämpfen auf dem Spiel stehen.⁵⁰ *** „Negativ-stereotype Haltungen gegenüber dem Islam und seinen tatsächlichen oder mutmaßlichen Angehörigen“ werden in der internationalen Forschung heute in der Regel als „Islamophobie“ bezeichnet.⁵¹ Eine solche islamfeindliche oder islamophobe Haltung kann sowohl verbal, also in Form von Herabsetzungen und Verunglimpfungen, als auch physisch, also in Form tätlicher Angriffe oder auch durch strukturelle Diskriminierung ausgedrückt werden.⁵² Islamophobie manifestiert sich, so der Philosoph und Theologe Heiner Bielefeldt, „in stigmatisierenden Zuschreibungen, die gegenüber Menschen aufgrund ihrer Herkunft beziehungsweise Gruppenzugehörigkeit stattfinden. [...] In einer solchen entindividualisierenden und depersonalisierenden Sichtweise besteht die Analogie zu rassistischen Stereotypen, in denen Menschen auf mehr oder weniger austauschbare Exemplare ihrer biologisch oder kulturell definierten ‚Herkunftsgruppe‘ reduziert werden. Islamophobie wird deshalb gelegentlich auch als eine Variante von Kulturrassismus bezeichnet.“⁵³

Der Begriff „Islamophobie“ ist trotz seines mittlerweile üblichen Gebrauchs nicht unumstritten, da er eine psychologisch fundierte kategorische Abwehrhaltung bzw. Angst unterstellt.⁵⁴ Angst ist jedoch eine häufige Antriebskraft, wenn es sich um derartige Abwehrhaltungen handelt. Wie oben erwähnt, geht es bei den unterschiedlich starken und 48 Ebd. S. 451. 49 Ebd. S. 451. 50 Ebd. S. 452. Vgl. auch Beate Küpper: Anknüpfungspunkt: Islamfeindlichkeit. In: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 9. Frankfurt/Main 2010. S. 212–13. 51 Bielefeldt: Das Islambild in Deutschland (wie Anm. 35). S. 167–200, hier S. 182. 52 Ebd. 53 Ebd. S. 183. 54 Hafez: Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft? (wie Anm. 41). S. 102.

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unterschiedlich motivierten Abwehrhaltungen gegen „den Islam“ und „die Muslime“ nicht zuletzt um die Zurückweisung der berechtigten Ansprüche auf Partizipation in allen Bereichen der Gesellschaft durch Zuwanderer bzw. einheimische Musliminnen und Muslime. Angst, so Todorov, ist in einer solchen Situation aber vor allem eine Gefahr für diejenigen, die sie empfinden, denn sie dient nicht selten als Rechtfertigung für Verhaltensweisen, die man als unmenschlich bezeichnen kann.⁵⁵ Feindbilder und Verschwörungsphantasien entstehen, vermeintliche Grundsätze und Gebote einer Religion werden behauptet,⁵⁶ die als Argumente gegen die Teilhabe der Angehörigen einer bestimmten Gruppe angeführt werden. Islamophobie ist Audruck von „Widerständen gegenüber zuwanderungsbedingten Veränderungen“⁵⁷, und die damit zusammenhängenden Bedrohungsgefühle dienen als Grundlage für Vorurteile⁵⁸. In seiner Langzeitbeobachtung Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit hat das Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld diese Form der „Fremdenfeindlichkeit“ als Ausdruck einer „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ ausgemacht.⁵⁹ Angst vor der gleichberechtigten Teilhabe von Musliminnen und Muslimen – gleich welcher tatsächlichen Überzeugung – haben offenbar auch diejenigen, die sich um Errungenschaften unserer Gesellschaft wie Emanzipation, Aussöhnung mit den Juden, Meinungsfreiheit usw. sorgen.⁶⁰ Doch für die demokratische Gesellschaft gilt, was bereits zur „Kultur“ gesagt wurde: Auch sie ist kein unwandelbares, einheitliches Ganzes, denn das Wesen einer solchen Gesellschaft besteht gerade darin, sich selbst ständig zu erneuern, die verschiedensten Dinge immer wieder neu auszuhandeln, sich ihrer selbst stets neu zu vergewissern und genau dadurch eine integrierende Wirkung zu entfalten.⁶¹ Angst, so habe ich gerade zitiert, ist vor allem eine Gefahr für diejenigen, die sie empfinden, denn sie dient nicht selten als Rechtfertigung für Verhaltensweisen, die man als unmenschlich bezeichnen kann.⁶² In der modernen Genozidforschung ist man sich offenbar darin einig, dass das 55 Todorov: Die Angst vor den Barbaren (wie Anm. 9). S. 17. 56 Thorsten Gerald Schneiders: Einleitung. In: Schneiders: Islamfeindlichkeit (wie Anm. 5). S. 9–15, hier S. 10. 57 Jürgen Leibold: Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie. Fakten zum gegenwärtigen Verhältnis genereller und spezifischer Vorurteile. In: Schneiders: Islamfeindlichkeit (wie Anm. 5). S. 145–54, S. 145. 58 Ebd. S. 147. 59 Ebd. S. 146, S. 148. 60 Hafez: Mediengesellschaft – Wissensgesellschaft? (wie Anm. 41). S. 112. 61 Vgl. ebd. 62 Todorov: Die Angst vor den Barbaren (wie Anm. 9). S. 17.

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rassistische Paradigma als Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung weniger auf Rassentheorien beruhte, als vielmehr auf einer paranoiden politischen Verschwörungstheorie. Demzufolge wurden die Nationalsozialisten weniger von ihrem Überlegenheitsgefühl, als vielmehr von ihrer Angst vor der angeblichen Macht „der Juden“ getrieben.⁶³ Wie uns 2011 furchtbar vor Augen geführt wurde, bleibt es nicht notwendigerweise beim Hass auf eine Minderheit, sondern es kommt der Hass auf die Mehrheit, die diese Minderheit toleriert oder gar respektiert, hinzu: „Die Islamfeindlichkeit richtet sich insofern keineswegs nur gegen den ausgemachten Feind: den Islam, sondern auch gegen diejenigen, die ihn nicht als Feind betrachten.“⁶⁴ Zu dieser Analyse gelangte Emcke bereits im Jahre 2010, also noch vor dem Massenmord in Norwegen im Sommer 2011. Nach Breiviks Morden schrieb der Islamwissenschaftler Stefan Weidner, das Nachahmungsmuster des norwegischen Massenmörders sei nicht dasjenige des islamistischen Terrorismus, sondern des Terrors von Muslimen gegen andersdenkende Muslime.⁶⁵ Sein Hass auf „den Islam“ und seine paranoiden Ängste vor einer islamischen Unterwanderung Europas, veranlassten Breivik nicht etwa dazu, Muslime umzubringen, sondern sich gegen die norwegische Mehrheitsgesellschaft zu richten. Weidners Meinung nach hat die Anti-Islam-Bewegung nicht den Hass auf den Islam, sondern vor allem den Hass auf das heutige Europa gefördert⁶⁶, dessen Errungenschaften es doch eigentlich zu verteidigen gilt. Zum selben Ergebnis kommt Jagland, der eine Verbindung zwischen al-Qāʽida und Breivik zieht, da beide mitleidlos gegen sogenannte „Verräter“ aus den eigenen Reihen vorgingen: „Es sind ja in den muslimischen Ländern viel mehr Muslime dieser Form von Gewalt zum Opfer gefallen als Ausländer – und auch Breivik attackierte ja keine Muslime, sondern jene, die dafür waren, dass Muslime hier leben.“⁶⁷ *** Zu der bereits erwähnten „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ gehört auch, dass Muslimen gerne generell unterstellt wird, sie befänden sich sowohl 63 Dan Stone: Genocide and Memory. In: Donald Bloxham/A. Dirk Moses (Hrsg.): The Oxford Handbook of Genocide Studies. Oxford 2010. S. 102–19, hier S. 110. 64 Emcke: Der verdoppelte Hass (wie Anm. 33). S. 220. 65 Stefan Weidner: Die anderen sind wir selbst. Das Dilemma der Islam-Kritiker nach Oslo: Gute Gründe, sich den Feind genauer anzuschauen. In: Süddeutsche Zeitung vom 29.07.2011, S. 9. 66 Ebd. 67 Thorbjørn Jagland: Die Befreiung der Religion von den Kreuzzüglern. In: Süddeutsche Zeitung vom 29.07.2011, S. 2.

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in den muslimisch geprägten als auch in sogenannten „westlichen“ Gesellschaften noch immer in einer Phase der Prä-Aufklärung. Demgegenüber wird „der Westen“ in der Phase der Post-Aufklärung verortet, so dass die „Aufklärung“ als „Grenzmarkierung zwischen ‚dem Eigenen und dem Fremden‘“ benutzt wird.⁶⁸ Das aufklärerische Denken im Europa des 18. Jahrhunderts forderte Vernunft, Mut zur Kritik, geistige Freiheit, religiöse Toleranz, Erziehung zu Humanität und Weltbürgertum. Allerdings galten Werte wie Freiheit und Gleichheit keinesfalls für alle Menschen, sondern vor allem für weiße, christliche, männliche Bürger.⁶⁹ Heute gelten Freiheit und Gleichheit auch für schwarze, muslimische, weibliche Bürger – und falls wir diese Werte ernst nehmen, dann müssen wir ganz im aufklärerischen Sinne dafür sorgen, dass sie tatsächlich für alle gelten, also auch für diejenigen, die in unserer Gesellschaft aus kulturalistischen Gründen gerne marginalisiert werden.⁷⁰ Diese Gesellschaft befindet sich keinesfalls in einer Phase der Post-Aufklärung, da die Aufklärung keine bereits abgeschlossene Sache darstellt. Schließlich ist die Bewahrung der Aufklärung und ihrer Errungenschaften nur als „Fortsetzung der Aufklärung“ möglich,⁷¹ denn im Kantschen Sinne des Ausgangs des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit kann Aufklärung als „eine unabgeschlossene individuelle und gesellschaftliche Lerngeschichte“ verstanden werden⁷².

III Visionen von Vielfalt und Verständigung Begreifen wir mithin Aufklärung mit Bielefeldt als eine „unabgeschlossene individuelle und gesellschaftliche Lerngeschichte“, und verstehen wir unsere demokratische Gesellschaft als einen Organismus, der sich ständig erneuert, in dem die verschiedensten Dinge stets aufs Neue ausgehandelt werden müssen, und der sich immer wieder seiner selbst vergewissern muss, dann ist es notwendig, die Art und Weise dieses Aushandelns und Lernens näher in den Blick zu nehmen. Wie eingangs erwähnt, spricht der Kulturwissenschaftler Tzvetan Todorov von der „Vielfalt der Traditionslinien in Europa“⁷³ und vom „Vorteil einer Vielfalt“, die die „Ge68 Bielefeldt: Das Islambild in Deutschland (wie Anm. 35). S. 179–80. Vgl. auch Rommelspacher: Islamkritik (wie Anm. 42). S. 449. 69 Rommelspacher: Islamkritik (wie Anm. 42). S. 449. 70 Vgl. ebd. 71 Bielefeldt: Das Islambild in Deutschland (wie Anm. 35). S. 179. 72 Ebd. S. 181–82. 73 Todorov: Die Angst vor den Barbaren (wie Anm. 9). S. 227.

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danken- und Meinungsfreiheit eines jeden“ fördere.⁷⁴ Europas geistige Identität bestehe daher in der gleichen Einstellung zur Vielfalt.⁷⁵ Diese kollektive geistige Identität sei dabei nicht mit der Vielfalt an sich gleichzusetzen, sondern mit dem ihr verliehenen Status einer positiven Qualität: Differenz werde zu Identität und Vielfalt zu Einheit, denn es gehe darum, „den Differenzen den gleichen Stellenwert zu geben.“⁷⁶ Übertragen auf die deutschen Verhältnisse heißt dies, die in diesem Lande vorhandene Vielfalt an Überzeugungen, Lebensformen, politischen, religiösen oder sexuellen Orientierungen und so fort nicht nur zu dulden, sondern ihnen allen den gleichen Stellenwert einzuräumen. Selbstverständlich müssen sich die genannten vielfältigen Lebensformen und Überzeugungen im Rahmen dessen bewegen, was die freiheitlich demokratische Grundordnung vorgibt. Das Grundgesetz und die darauf gründende Rechtsordnung bilden den verbindlichen Rahmen von Recht und Kultur in Deutschland.⁷⁷ Unter dem Vorsitz des Generalsekretärs des Europarates Thorbjørn Jagland haben die neun hochrangigen Experten in ihren „Empfehlungen für offene Gesellschaften im Europa des 21. Jahrhunderts“ 17 „richtungsweisende Grundsätze“ als eine Art „Handbuch der Vielfalt“ niedergelegt. Darin wird u. a. festgegehalten, dass von Einwanderern „nicht erwartet werden kann, ihren Glauben, ihre Kultur oder Identität aufzugeben“.⁷⁸ Die im Europarat vertretenen Staaten werden aufgefordert, „‚irreführende Informationen und Stereotpyen über die Migration‘ zu korrigieren und ihren Bürgern ‚ein realistischeres Bild über die Situation von Migranten [...] zu vermitteln.‘“ Offensichtlich reichen jedoch weder solche Appelle noch die Erkenntnisse der Sozial- und Politikwissenschaft, der Psychologie, der Kultur- und der Islamwissenschaft hinsichtlich des Lebens von Muslimen in Deutschland und Europa aus, um die Diskrepanz zwischen diesen Erkenntnissen und den damit verbundenen Differenzierungen einerseits und ihrer weitgehend praktischen Irrelevanz andererseits aufzulösen.⁷⁹ Welche Möglichkeiten gibt es dann, diese Diskrepanz möglicherweise doch aufzulösen? Meines Erachtens sind zwei entscheidende Schritte notwendig, um zu einer von Respekt getragenen Auseinandersetzung um die tatsächlich vorhandene Vielfalt der Überzeugungen und Lebensformen – die ich hier

74 Ebd. S. 225. 75 Ebd. S. 223. Hervorhebung von mir. 76 Ebd. S. 230. 77 Vgl. Oberndörfer: Einwanderung wider Willen (wie Anm. 28). S. 138. 78 Zusammenleben (wie Anm. 23). S. 6. 79 Bielefeldt: Das Islambild in Deutschland (wie Anm. 35). S. 175.

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auf muslimisches Leben in Deutschland beschränken möchte – zu gelangen: erstens die von Heiner Bielefeldt eingeforderte „liberale, aufgeklärte Diskussionskultur“; und zweitens eine Kultur der Verständigung, wie sie der 2010 mit dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnete Verein Phoenix e. V. für die antirassistische Arbeit entwickelt hat. Zu Bielefeldts Diskussionskultur gehört selbstredend, Skepsis, Kritik oder auch Angst gegenüber „dem Islam“ oder „den Muslimen“ ernstzunehmen. Mit vorhandenen Vorbehalten und Befürchtungen muss, so Bielefeldt, sorgfältig umgegangen und sie müssen kritisch auf ihren möglichen Sachgehalt überprüft werden. Schließlich geht es darum, stereotype Darstellungen und Erklärungen zu überwinden und Diffamierungen entschieden zu begegnen.⁸⁰ „Die für eine liberale, aufgeklärte Diskussionskultur entscheidende Trennlinie verläuft deshalb nicht zwischen freundlichen und weniger freundlichen Darstellungen des Islam und seiner Angehörigen, sondern zwischen Genauigkeit und Klischee. Hinter dem Postulat der Genauigkeit steht letztlich das Gebot der Fairness, das die Grundlage einer aufgeklärten Diskussionskultur bildet.“⁸¹

Ergänzt werden könnten diese Bestandteile einer aufgeklärten Diskussionskultur von den Anforderungen, die Todorov an den Dialog stellt: darin muss die Unterschiedlichkeit der an diesem Dialog Beteiligten anerkannt werden; alle müssen bereit sein, ihre eigenen Gewissheiten und Annahmen infrage zu stellen und sich vorübergehend in die anderen hineinzuversetzen. Tritt man in einen Verständigungsprozess ein, wie der Verein Phoenix ihn versteht, dann ist es notwendig, dass die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft sich zunächst einmal ihrer selbst vergewissern. Häufig sind sie sich nämlich ihrer eigenen kulturellen Prägungen im weitesten Sinne gar nicht bewusst. Selbstreflexion, die das eigene Denken und Fühlen sowie die eigene Familiengeschichte und Sozialisierung miteinbezieht, soll dabei helfen, ein Bewusstsein für die vielfältigen eigenen Prägungen zu entwickeln. Erst wenn alle am Dialog Beteiligten sich ihrer ganz persönlichen Prägungen bewusst sind, ist Verständigung möglich. Dazu gehört auch, dass diese Prägungen in Worte gefasst werden können, d. h. dass man einerseits in der Lage ist, das eigene Denken und Fühlen verständlich zu machen. Andererseits gehört ebenso die Fähigkeit dazu, zuzuhören und sich den Erfahrungen anderer Menschen zu öffnen.⁸² In der

80 Bielefeldt: Das Islambild in Deutschland (wie Anm. 35). S. 171. 81 Ebd. 82 Vgl. Andreas Mann: Ideen für eine Kultur der Verständigung 1998. Unveröffentlichter Beitrag.

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Begegnung von Individuen, die ihre eigenen Prägungen kennen und in der Lage sind, einander zuzuhören, erhalten die Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft schließlich die Chance, aus dem imaginierten Kollektiv „der Muslime“ die Einzelnen herauszulösen und sie als Personen mit ihrerseits vielfältigen Prägungen, Überzeugungen und Lebenswelten wahrzunehmen. Erst wenn man jeden einzelnen Menschen in seiner Vielschichtigkeit erkennt, wird man gewahr, welches das Selbstgewählte ist, dem er sich zugewandt hat,⁸³ was also das Individuum mit all seinen Vielschichtigkeiten jeweils ausmacht.

83 Vgl. Todorov: Die Angst vor den Barbaren (wie Anm. 9). S. 89.