Was hält die Migrationsgesellschaft zusammen?: Werte – Normen – Rechtsansprüche [1 ed.] 9783737012683, 9783847112686


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Was hält die Migrationsgesellschaft zusammen?: Werte – Normen – Rechtsansprüche [1 ed.]
 9783737012683, 9783847112686

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Werte-Bildung interdisziplinär

Band 8

Herausgegeben von Martina Blasberg-Kuhnke, Eva Gläser, Reinhold Mokrosch, Susanne Müller-Using und Elisabeth Naurath

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Arnim Regenbogen / Elk Franke / Reinhold Mokrosch (Hg.)

Was hält die Migrationsgesellschaft zusammen? Werte – Normen – Rechtsansprüche

Mit einem Geleitwort von Dr. Susanne Klinger Mit 9 Abbildungen

V&R unipress Universitätsverlag Osnabrück

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen des Universitätsverlags Osnabrück erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bertelsmann Stiftung und des Förderkreises der Osnabrücker Friedensgespräche. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Ruth Engstfeld-Schremper: »Bild-Metapher: Knoten«, Fotografisch bearbeitet: Björn Franke Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-1523 ISBN 978-3-7370-1268-3

Inhalt

Geleitwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

1. Kapitel: Aspekte eines kulturellen Pluralismus Elk Franke Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

. . . . .

17

. . . . . . . . . .

39

Wolfgang Kaschuba Integration der Gesellschaft: Die zentrale Agenda der Moderne – ein Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

69

György Széll Ist eine ›harmonische‹ Migrationsgesellschaft möglich?

2. Kapitel: Relevanz theoretischer Konzepte Reinhold Mokrosch Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

Elk Franke Interkulturelle Kompetenz – erwünscht, aber auch realisierbar? . . . . . .

91

Harald Kerber Integration: Fremdheit, soziale Teilhabe und politische Teilnahme . . . . 111 Gregory Bond Streitkultur, Integration, Wertevermittlung – Mediation . . . . . . . . . . 123

6

Inhalt

3. Kapitel: Dimensionen multikultureller Wertebildung Arnim Regenbogen Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Nick Lin-Hi / Marlene Reimer Werte in der Weltgesellschaft: Die gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil als Orientierungspunkt . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Wilfried Schubarth Wertebildung im internationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Arnim Regenbogen / Reinhold Mokrosch Jenseits von ethnischen Grenzen – EU-Grundrechte als Maßstäbe für eine Wertebildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

4. Kapitel: Studien zu multikultureller Wertebildung Arnim Regenbogen Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Britta Baumert Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Margit Stein / Veronika Zimmer Interethnische Freundschaften und deren Einfluss auf die Einstellungen zur Zuwanderung – Ergebnisse einer quantitativen Untersuchung . . . . 199 Reinhold Mokrosch Leistet Interreligiöses Lernen einen Beitrag zum Zusammenhalt unserer religionslosen Migrationsgesellschaft? Überlegungen am Beispiel »Gewalt oder Frieden?« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Marcel Remme Die Beschneidungsdebatte im Ethikunterricht. Förderung ethischer Urteilsbildung anhand einer interkulturellen Konfliktthematik . . . . . . 239 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

Geleitwort

Es gehört zum Wesen freiheitlicher demokratischer Gesellschaften, dass sie Lebensstilen und Werthaltungen auf plurale Weise Raum geben. Zugleich kann eine freiheitliche Demokratie nicht auf ein Mindestmaß an gemeinsamen Grundauffassungen und Werthaltungen verzichten. Ich spiele hier auf das bekannte, viel und kontrovers diskutierte Diktum des deutschen Staats- und Verwaltungsrechtlers und ehemaligen Richters des Bundesverfassungsgerichts, ErnstWolfgang Böckenförde, an: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. (…) Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben«. (Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt/M. 1976, 60).

Mit diesem Diktum ist nun zwar ein Problem- oder Fragehorizont aufgerissen, ohne dass allerdings schon deutlich würde, worin angesichts allgemeiner Pluralisierung und zunehmend heterogener Vielfalt der Kulturen das ›einigende Band‹, der ›Kitt‹, der unsere Gesellschaft zusammenhält, denn tatsächlich besteht. Die mit der Globalisierung einhergehenden sozio-ökonomischen und medialen Transformationsprozesse haben den geografischen und sozialen Interaktionsraum von Individuen erheblich erweitert. Im Zuge von Migrationsbewegungen teilen Menschen verschiedener kultureller Prägungen immer häufiger einen gemeinsamen Lebensraum und gestalten soziale Wirklichkeit. Die Lebenswirklichkeit in demokratischen Migrationsgesellschaften ist dabei durch ein ständiges, mehr oder minder konflikthaftes Aushandeln von Identitäten und Zugehörigkeiten im Interaktionsgeflecht verschiedener kultureller, weltanschau-

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Geleitwort

licher und religiöser Referenzsysteme gekennzeichnet, wobei sich die Grenzen zwischen Eigen- und Fremdkulturellem zunehmend fließend gestalten. Aber auch wenn man das, was unsere Gesellschaft zusammenhält, nicht als substantielle Gleichheit versteht, die sich auf gemeinsame Traditionen stützt, sondern das einigende Band im demokratischen Prozess selbst ausmacht, wie dies bei Jürgen Habermas geschieht, bleibt das eingangs beschriebene Dilemma bestehen. Der Hinweis auf den demokratischen Prozess bildet nur eine Neubeschreibung des von Böckenförde angesprochenen Problems. Denn auch der demokratische Prozess ist an eine bestimmte integrative Sittlichkeit gebunden. Der demokratische Prozess ist, anders formuliert, von einem bestimmten, nämlich von einem diskursiven Ethos getragen. Zu diesem gehört konstitutiv die Anerkennung der Voraussetzungen und Regeln, welche die prozesshafte Erzeugung eines vernünftigen Einverständnisses ermöglichen, wie der prinzipiellen Gleichheit der Diskursteilnehmer und Herrschaftsfreiheit des Diskurses, dass jeder Diskursteilnehmer jede Behauptung problematisieren darf, dass nur der Zwang des besseren Argumentes zählt. Die Integrationskraft multikultureller, demokratischer Migrationsgesellschaften lässt sich insofern, wie ich meine, auch nicht an der Gegebenheit einer – kulturelle Homogenität suggerierenden – (Leit-)Kultur festmachen. Sie bemisst sich vielmehr an der gelungenen Verständigung zwischen den sozialen Akteuren in der pluriformen Vielfalt ihrer weltanschaulichen, religiösen und ethischen Orientierungen. Ursache von Konflikten bilden in der Migrationsgesellschaft nicht einfach nur Differenzen, in denen die Einlösung unterschiedlicher Interessen oder Ansprüche auf dem Spiel steht, sondern insbesondere auch unterschiedliche (immer auch kulturell und lebensweltlich geprägte) Verfahrensnormen und –ansprüche, die sich auf die Art und Weise der Konfliktregelung bzw. die Erzielung vernünftiger Einverständnisse selbst beziehen, wobei kulturelle Unterschiede und Kulturgrenzen hier prinzipiell nicht als statisch, sondern als prozesshaft und variabel zu begreifen sind. Der soziale Frieden in einer zunehmend heterogener werdenden Gesellschaft ist damit entscheidend an die Bedingung einer ethisch grundierten Kommunikation geknüpft, in der Menschen zu wechselseitiger Perspektivenübernahme, zu selbstreflexiver Distanznahme von eigenen, kulturbasierten Gestaltungsmustern des alltäglichen Lebens und wertenden Einstellungen fähig sind und sich als gleichberechtigte Individuen anerkennen können. Die vorliegende Publikation geht in wesentlichen Teilen auf eine von der Interdisziplinären Forschungsstelle Werte-Bildung der Universität Osnabrück vom 29.–30. November 2018 unter dem Titel »Lebensstile in der Migrationsgesellschaft – Was hält uns zusammen?« ausgerichteten Tagung zurück. Sie bietet einen Rahmen, um die auf der Tagung der Interdisziplinären Forschungsstelle

Geleitwort

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diskutierten Herausforderungen und Potentiale einer interkulturellen Wertebildung vertiefend auszuleuchten. Dr. Susanne Klinger Sprecherin der »Interdisziplinären Forschungsstelle Werte-Bildung« der Universität Osnabrück

Vorwort

Nach welchen Maßstäben soll der Zusammenhalt einer Migrationsgesellschaft beurteilt werden? Nach Werten, Normen oder Rechtsansprüchen? Nach ökonomischer Situation und Zufriedenheit? Nach Toleranz gegenüber Kulturen und Religionen? Nach Interkultureller Kompetenz, Integrationskompetenz und Konfliktlösungskompetenz? Von allem etwas! Stimmt! Aber welche Faktoren sind für den Zusammenhalt besonders relevant und welche weniger? – Die folgenden Beiträge nehmen alle diese Faktoren auf und untersuchen ihre Relevanz für den Zusammenhalt unserer und anderer Migrationsgesellschaften. Der Band geht, wie Susanne Klinger im Geleitwort bereits erwähnt hat, zurück auf eine Tagung der »Interdisziplinären Forschungsgruppe Wertebildung an der Universität Osnabrück« im November 2018 zum Thema: »Lebensstile in der Migrationsgesellschaft – was hält uns zusammen?« Auf dieser Tagung ging es um verschiedene Aspekte, die hier ausführlich entfaltet werden wie etwa die Bedeutung differenter Werthaltungen und kultureller Maßstäbe für eine angestrebte Integration. Einige Beiträge dieses Buches gehen auf die Vorträge dieses Kongresses zurück (Tegeler/Unzicker/Vopel; Kaschuba; Bond sowie die Statements der Herausgeber), die anderen Beiträge wurden von den Herausgebern eingeworben, um die o.g. Faktoren des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu vervollständigen. Die Eingangsstudie (Tegeler/Unzicker/Vopel) unterscheidet zwischen der subjektiven Wahrnehmung des Zusammenhalts und objektiv messbaren Dimensionen, anhand derer erkennbar ist, wie es tatsächlich um den Zusammenhalt bestellt ist. – Die weiteren Beiträge von Széll und Kaschuba in dem 1. Kapitel (»Aspekte eines kulturellen Pluralismus«) erinnern an die Ein- und Auswanderungen in mitteleuropäischen Staaten seit dem 19. Jahrhundert. Separierung und Integration waren die von jeher umstrittenen Themen. Und die Autoren ziehen interessante Konsequenzen aus der Geschichte für Möglichkeiten einer Integration heute. Doch was verstehen wir unter »Integration«? Und was sind solche Fakten, die die persönliche Identifikation mit einer heimischen Kultur oder auch mit einer

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Vorwort

ursprünglich fremdkulturellen Herkunftskultur stiften? Denn Integration sollte nicht einseitig als Anpassung an eine vermeintlich überlegene heimische ›Leitkultur‹ erreicht, sondern vor allem an einem toleranten Umgang mit interkulturell unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben orientiert werden. Die Herausgeber haben deshalb mehrere theoriefundierte Analysen eingeworben, in denen der Geltungsbereich von Fachbegriffen wie Integration, Fremdheit, Mehrheit/ Minderheit, Multi- bzw. Interkulturalität, Pluralismus und Mediation im Rahmen überlieferter Theorien und theoretisch begründeter Handlungskonzepte analysiert wird, welche dann ihrerseits auf unsere Migrationsprobleme heute bezogen werden (u. a. von Franke, Kerber und Bond im 2. Kapitel »Interkulturalität – Zum Umgang mit theoretischen Konzepten«). Im 3. Kapitel »Dimensionen multikultureller Wertebildung« geht es um die Bildung interkulturell verbindlicher Wertmaßstäbe für ethische, politische und kulturelle Urteils- und Handlungsfähigkeiten. Die Beiträge dazu analysieren und beurteilen überzeugende Konzepte für die Ausbildung und Selbstbildung in Werthaltungen, in normativen Überzeugungen und in der Beurteilung von Rechtsansprüchen (Lin-Hi/Reimer; Schubarth; Regenbogen/Mokrosch) Im 4. Kapitel »Studien zu multikultureller Wertebildung« wird empirisch nachgewiesen, dass Werte wie Freundschaft, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe tatsächlich einen Zusammenhalt zwischen Migranten und Einheimischen herstellen. Und es wird gezeigt, dass Freundschaften quer durch Migranten, Einheimische und Flüchtlinge hindurchgehen. – Und Praxis-Studien analysieren, dass in der religiösen Bildung ein Interreligiöses Lernen Frieden zu stiften vermag und dass in der ethischen Bildung sogar hart mit umstrittenen Fragen wie Beschneidung durch Interkulturelles Lernen friedlich umgegangen werden kann. (Baumert; Stein/Zimmer; Mokrosch; Remme) Für die Unterstützung bei der Herstellung des Bandes danken wir der Universität Osnabrück. Für die Finanzierung von Herstellungskosten danken wir der Universität Vechta, dem Förderkreis der Osnabrücker Friedensgespräche e. V. und der Bertelsmann Stiftung. Wir wünschen uns, dass dieser Band dazu anregen möge, den Zusammenhalt in unserer Migrationsgesellschaft kritisch zu beobachten und sich auf den verschiedenen Ebenen, die in den Beiträgen angesprochen werden, für einen solchen Zusammenhalt aktiv einzusetzen. Osnabrück, im November 2020

1. Kapitel: Aspekte eines kulturellen Pluralismus

Elk Franke

Einführung

Ein wesentliches Merkmal der Moderne ist ihre zunehmende Heterogenität und Individualisierung, woraus sich die Frage ergibt: Was hält eine solche plurale Gesellschaft noch zusammen und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Integration von Migranten? Im ersten Kapitel versuchen zunächst Julia Tegeler, Kai Unzicker und Stephan Vopel darauf im Rückgriff auf eine Untersuchung der Bertelsmann-Stiftung eine Antwort zu geben. Gegenüber subjektiven Erfahrungen, die sie zunächst in sechs verschiedenen gesellschaftlichen Trends ermitteln und die darauf hindeuten, dass sich der Zusammenhalt in Deutschland zunehmend verringert, verweisen sie auf objektiv messbare Daten. Diese zeigen einerseits, dass der persönliche Eindruck trügt und kultureller Vielfalt an sich keine negative Bedeutung für den Zusammenhalt zugeschrieben werden kann, und dass andererseits dieses Potential der Pluralität nur dann wirksam werden kann, wenn auch Möglichkeiten vor Ort für ein konkretes interkulturelles Miteinander geschaffen werden. Anschließend stellt György Szell die skeptische Frage, ob solche »harmonische« Integration in einer Migrationsgesellschaft wirklich gelingen kann. Ausgehend von einer systematischen und historischen Analyse des Begriffs »Integration« zeigt er, dass Migration nicht von »außen« die deutsche Gesellschaft heute bedroht, sondern diese immer schon durch Multikulturalismus und Wanderungsbewegungen geprägt worden ist. Eine Erkenntnis, die über Jahrhunderte jedoch nicht beim Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit berücksichtigt wurde, sondern sich bis 1990 an der Geburt orientierte. Obwohl inzwischen jeder Vierte in Deutschland einen Migrationshintergrund besitzt, wird der Alltag weiterhin vor allem durch christlich-tradierte Wertvorstellungen bestimmt, was interkulturelle Integrationsaktivitäten erschwert bzw. durch nationalistischen Populismus in Fremdenfeindlichkeit umschlagen kann. Gegenüber dieser kritischen Analyse aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen verweist Wolfgang Kaschuba in seinem Essay darauf, dass es keine Alternative zu einer aktiven Integrationspolitik in modernen Gesellschaften gibt. Im Widerspruch zu aktuellen konservativen nationalistischen Tendenzen in

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Elk Franke

einzelnen Ländern zeigt ein Blick in die Kulturgeschichte, dass langfristig Integration nicht nur wichtig, sondern auch zu der zentralen Frage in der globalisierten Gesellschaft der Moderne geworden ist. Um darauf angemessen antworten zu können, müssen reflexive Formen zukunftweisender Gesellschaftspolitik entwickelt werden, die europa- und weltweit die Integration zur Leitformel erklären. Dass solche Vorstellungen nicht nur Visionen sind, sondern sich auch schon realitätsnah entwickeln, zeigt sich vor allem in vielen urbanen Gesellschaften und überall dort, wo wissenschaftliche Reflexion das Feld der Lebensstile und Lebensentwürfe beeinflusst.

Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

1.

Einleitung

Dieser Beitrag befasst sich mit dem gesellschaftlichen Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft und geht der Frage nach, welche Fliehkräfte die Gesellschaft auseinandertreiben und welche Bindekräfte sie in Zeiten des Wandels zusammenhalten. Das ist eine der zentralen gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit. Nicht ohne Grund existiert im Bundesministerium des Inneren neuerdings eine Abteilung Zusammenhalt oder firmiert der Begriff selbst in der Überschrift des Koalitionsvertrags der amtierenden Bundesregierung. Dass sich moderne Gesellschaften aktuell wieder verstärkt mit ihrem Zusammenhalt beschäftigen, hat mit den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu tun, die wir heute erleben. Einwanderung, Globalisierung, Digitalisierung und demographischer Wandel verändern – in rasantem Tempo – die Rahmenbedingungen, die das Zusammenleben in den letzten Jahrzehnten bestimmt haben.1 Das Zusammenspiel dieser unterschiedlichen Megatrends birgt Umwälzungspotentiale, die wir noch gar nicht abschätzen können.2 Wie gelingt es uns in Zukunft, friedlich, demokratisch und solidarisch in einem Gemeinwesen zusammenzuleben, das von zunehmender kultureller Vielfalt geprägt ist, sich rasant technologisch verändert und das in globale Entwicklungen eingebunden ist, die völlig neue Dynamiken mit sich bringen? Diese Frage beschäftigt hierzulande viele Menschen und viele sorgen sich darum, was die Gesellschaft zusammenhält, was die Menschen in Deutschland verbindet bzw. was sie trennt. Hierzu zeigt sich ein ambivalentes Bild: In unseren Umfragen, die wir mit dem Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Ber1 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.); Pornschlegel, Sophie/Jürgensen, Paul, Trying Times. Rethinking Social Cohesion, Gütersloh, 2019; https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/P ublikationen/GrauePublikationen/ST-LW_Trying_Times_2019.pdf. 2 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.); Petersen, Thieß, Steiner, Falk; The Bigger Picture – MegatrendReport #1; Gütersloh, 2019; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikati on/did/the-bigger-picture-1/.

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Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel

telsmann Stiftung durchführen, sehen rund ¾ der Deutschen regelmäßig den gesellschaftlichen Zusammenhalt als gefährdet an.3 In ihrer Wahrnehmung driftet die Gesellschaft immer weiter auseinander. Fragt man die Deutschen allerdings weniger allgemein nach dem Zusammenhalt in der Gesellschaft insgesamt, sondern nach ihren konkreten Erfahrungen im eigenen Wohnumfeld und in der eigenen Nachbarschaft, dann erhält man ein anderes Bild. Gefragt nach dem Zusammenhalt in der Gegend, in der man wohnt, geben fast 70 Prozent der Menschen in unserer Untersuchung an, der Zusammenhalt sei sehr stark oder stark. Nur weniger als 10 Prozent berichten, dass man in der eigenen Nachbarschaft schlecht zusammenhalten würde.4 Einen ähnlichen Befund liefert eine Studie des Westdeutschen Rundfunks aus dem Jahr 2017. Hierfür wurden die Nachbarschaften in Nordrhein-Westfalen untersucht und es zeigte sich, wie zufrieden die Menschen mit ihren Nachbarschaften sind und wie positiv man das Miteinander mit den Nachbarn einschätzt. Rund 90 Prozent der befragten Menschen in Nordrhein-Westfalen gaben an, mit dem Zusammenleben in ihrer Nachbarschaft zufrieden zu sein und regelmäßig Kontakt mit den Leuten nebenan zu haben.5 Während also der Zusammenhalt in Deutschland insgesamt sehr kritisch betrachtet wird, erleben die meisten Menschen in ihrem eigenen unmittelbaren Umfeld durchaus ein starkes und lebendiges Miteinander. Dieser Trend setzt sich fort. In einer weiteren Untersuchung, die wir 2019 in Baden-Württemberg durchgeführt haben, zeigte sich, dass im Zeitverlauf die Menschen den Zusammenhalt insgesamt immer pessimistischer bewerten, das lokale Miteinander hingegen immer positiver.6 Woher rührt diese unterschiedliche Wahrnehmung des Zusammenhalts auf globaler und lokaler Ebene? Wie lassen sich diese Befunde einordnen? Um dies zu beantworten, wollen wir hier der eingangs gestellten Frage nach den Entwicklungen und Treibern nachgehen, die möglicherweise den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinflussen und die dazu beitragen, dass bei der allgemeinen Be3 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.); Arant, Regina/Dragolov, Georgi/ Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen], Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – messen was verbindet. Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017, Gütersloh, 2017; https://www.bertelsmann-stiftung.de /de/publikationen/publikation/did/sozialer-zusammenhalt-in-deutschland-2017?tx_. 4 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.); Arant, Regina/Dragolov, Georgi/ Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen], Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – messen was verbindet. Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017, Gütersloh, 2017; https://www.bertelsmann-stiftung.de /de/publikationen/publikation/did/sozialer-zusammenhalt-in-deutschland-2017?tx_. 5 Nachbarschaft in NRW, 2017, WDR Köln 2017; https://www1.wdr.de/wissen/mensch/nachbar schaft-umfrage-100.html. 6 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Dragolov, Georgi/Arant, Regina/Boehnke, Klaus, Das Wichtigste in Kürze: Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Baden-Württemberg, Gütersloh, 2020; https:// www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/das-wichtigste-in-kuerze-g esellschaftlicher-zusammenhalt-in-baden-wuerttemberg?tx.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

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trachtung der Gesellschaft eine solch pessimistische Sicht auf die Qualität des Miteinanders vorherrscht. Es sind vor allem sechs Trends, die aus unserer Sicht eine zunehmende Verunsicherung bei vielen Menschen erzeugen und die dafür mitverantwortlich sind, dass eine große Mehrheit der Deutschen die Auffassung vertritt, der Zusammenhalt in dieser Gesellschaft sei gefährdet.

2.

Sechs Trends zur Wahrnehmung des Zusammenhalts in Deutschland

1)

Die Krise der offenen Gesellschaft

Die vergangenen Jahrzehnte waren eine Erfolgsgeschichte des gesellschaftlichen Liberalismus. Zahlreiche Emanzipationsbewegungen haben Freiheiten ermöglicht und unsere Gesellschaft toleranter und offener gemacht. Individuelle Freiheit, Selbstbestimmung und die Anerkennung von Minderheiten haben diese Phase geprägt. Die Gleichstellung der Frau und die Anerkennung von Homosexualität seien hier stellvertretend für viele andere Entwicklungen genannt. Auch gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund hat die Offenheit zugenommen.7 An vielen Orten ist das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Lebensweisen, Wertvorstellungen, kultureller und religiöser Prägung längst Alltag und bundesweit akzeptieren die Menschen gesellschaftliche Vielfalt in hohem Maß.8 Seit einigen Jahren lässt sich jedoch beobachten, dass die offene Gesellschaft, die Unterschiede zulässt und Vielfalt als Chance ansieht, immer häufiger Angriffen ausgesetzt ist. Ein Teil der Bevölkerung steht der zunehmenden Vielfalt skeptisch oder sogar ablehnend gegenüber und sieht in einer homogenen, kollektivistischen Gesellschaft eine attraktive Alternative. Laut einer aktuellen Studie der Universität Leipzig haben rund 40 Prozent der Deutschen Sympathien für ein autoritäres Regime in Deutschland.9 Rechtspopulisten und Rechtsextreme machen sich das Misstrauen gegenüber Anderem oder Fremden zunutze und

7 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Vielfalt statt Abgrenzung. Wohin steuert Deutschland in der Auseinandersetzung um Einwanderung und Flüchtlinge?, Gütersloh, 2017; www.bertelsmann -stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/vielfalt-statt-abgrenzung-1?tx_. 8 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.); Arant, Regina/Dragolov, Georgi/ Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen], Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – messen was verbindet. Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017, S.16f. Gütersloh, 2017; https://www.bertelsmann-stiftung .de/de/publikationen/publikation/did/sozialer-zusammenhalt-in-deutschland-2017?tx_. 9 Oliver Decker; Elmar Brähler (Hrsg), Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft, Psychosozial-Verlag, Gießen, 2018; http://home.uni-leipzig.de/decke r/Flucht%20ins%20Autoritaere.pdf.

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Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel

beschwören die Gefahr von Überfremdung. Dabei lassen sich auch jenseits der organisierten Formen von AfD und Pegida rechtspopulistische Einstellungsmuster in der Bevölkerung ausmachen, die die Grundwerte der offenen, demokratischen Gesellschaft untergraben. In einer repräsentativen Studie vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung10 aus dem Jahr 2015 neigen fast 42 % der Befragten zu rechtspopulistischen Haltungen. Dies sind Anzeichen, die deutlich machen, dass die offene, pluralistische Gesellschaft unter Druck gerät.

2)

Die Verschärfung der innergesellschaftlichen Konflikte und Polarisierung

An dieser Krise der offenen Gesellschaft offenbart sich auch eine zunehmende gesellschaftliche Polarisierung, die hierzulande unverkennbar ist. Gerade der Umgang mit Vielfalt zeigt, dass die unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen sich in ihrer Weltsicht weiter voneinander entfernt haben. In den Debatten um Zuwanderung, Integration und religiöse Vielfalt stehen sich Gegner und Befürworter einer offenen Gesellschaft teilweise unversöhnlich gegenüber. Obwohl die Gesellschaft im Durchschnitt eher toleranter und offener geworden ist,11 haben sich die Pole der Gesellschaft auseinanderbewegt und so die »Mitte« geschwächt. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die in der vernetzten, globalisierten Welt neue Chancen sehen. Diese Menschen erkennen im Austausch mit anderen Kulturen und Religionen, mit anderen Nationen und Weltanschauungen eine Bereicherung für ihr eigenes Leben, aber auch für die Gesellschaft selbst. Zu dieser Gruppe gehören insbesondere gut ausbildete junge Menschen. Auf der anderen Seite gibt es dagegen diejenigen, deren Qualifikationen in einer globalisierten Ökonomie weniger gefragt sind, die an ihre Heimatorte gebunden sind und die die Globalisierung vor allem als eine Bedrohung erleben. Hier herrschen Abstiegsängste vor, etwa die Sorge um den Verlust des eigenen Arbeitsplatzes durch dessen Verlagerung ins Ausland. Auch die Sorge vor einem Verlust kultureller Eigenart durch Überfremdung beschäftigt diese Menschen. Sie befürchten, dass die Globalisierung Einwanderer vor allem in ihre Nachbarschaft oder in die Schulen ihrer Kinder führt. Im wissenschaftlichen Diskurs werden diese beiden Gruppen unter verschiedenen Labels gefasst: Es wird beispielsweise von »Kosmopoliten« und 10 Friedrich Ebert Stiftung (Hrsg.), Zick, Andreas/Klein, Anna, Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH, Bonn, 2014; https://www.fes.de/index.php?eID. 11 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Helbling, Marc/Strijbis, Oliver, Wie weltoffen ist Deutschland?, Gütersloh, 2018; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/wi e-weltoffen-ist-deutschland/?tx.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

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»Kommunitaristen« oder von »Anywheres und Somewheres« gesprochen.12 Die grundlegende Vorstellung dahinter ist, dass unsere Gesellschaft zunehmend einerseits aus Menschen besteht, die mobil sind und sich flexibel unterschiedlichsten Bedingungen und Umgebungen anpassen und andererseits aus Menschen, die nur in einer bestimmten Rolle und an einem bestimmten Ort leben und arbeiten können.

3)

Der »Strukturwandel« der Öffentlichkeit

Ein weiterer Trend, der eine pessimistische Sicht auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt bestärkt, ist die Veränderung der Debattenkultur und der Öffentlichkeit, die wir in den letzten Jahren in Deutschland erleben. Die Art, wie Menschen miteinander kommunizieren und sich informieren hat sich vor allem durch die sozialen Medien und die digitalen Plattformen grundlegend verändert. Traditionelle Medien wie Zeitungen, Fernsehen und Radio sind schon längst nicht mehr unangefochten in ihrer Leit- und Orientierungsrolle. Youtube, Twitter und Facebook sind heute Informationsquelle und Kommunikationsmedium. Damit verbunden sind Phänomene wie »Filterblasen« und »Echokammern«, in denen Meinungskokons entstehen und »subjektive« Wahrheiten geschaffen werden. Dies birgt die Gefahr, als Gesellschaft eine gemeinsam geteilte Öffentlichkeit zu verlieren, in der es gelingen kann, eine Debatte gemeinsam zu führen. In den sozialen Medien nehmen voneinander abgekoppelte Debatten zu und treiben die Polarisierung des politischen und gesellschaftlichen Diskurses vorantreiben. Obskure Verschwörungstheorien und »Fake News« gehören inzwischen zum Alltag im öffentlichen Diskurs. Experten sprechen auch von einem »Zerfall der Wahrheit«. Gleichzeitig lässt sich eine Verrohung des öffentlichen Diskurses beobachten sowie die fehlende Bereitschaft und Fähigkeit, sachlich und respektvoll miteinander zu diskutieren. All dies erzeugt ein Gefühl der Verunsicherung13 und führt dazu, dass sich die Menschen in immer kleinere Gruppen abgrenzen.

12 Kosmopolitismus versus Kommunitarismus: Ein neuer Konflikt in der Demokratie. In: Philipp Harfst, Ina Kubbe, Thomas Poguntke (Eds.): Parties, Governments and Elites. The Comparative Study of Democracy. Wiesbaden: Springer VS: 9–23. 13 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Pornschlegel, Sophie/Jürgensen, Paul, Trying Times. Rethinking Social Cohesion, Gütersloh, 2019; https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/file s/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ST-LW_Trying_Times_2019.pdf | Kavanagh, Jennifer/Michael D. Rich (2018): Truth Decay: An Initial Exploration of the Diminishing Role of Facts and Analysis in American Public Life. Santa Monica, CA: RAND Corporation.

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Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel

Eine große Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt besteht darin, diesen Strukturwandel der Öffentlichkeit konstruktiv zu gestalten. Dabei gilt es, die eben skizzierten Risiken ernst zu nehmen, zugleich aber auch die Chancen zu nutzen, die sich durch die neuen Medien bieten, anstatt diese unaufhaltsame Entwicklung zu verteufeln. Die Sozialen Medien bergen auch ein enormes konstruktives Potenzial. Sie können den Ohnmächtigen eine Stimme geben, Menschen mit gemeinsamen Interessen miteinander verbinden und sie ermöglichen Kontakt und Austausch auch über weitere Entfernung hinweg. Auch für das bürgerschaftliche Engagement in einer Gesellschaft, die mobiler, digitaler und heterogener geworden ist, bieten soziale Medien viel Potenzial.

4)

Die Krise der Demokratie

Die Rückkehr autoritärer Haltungen, die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft und der Strukturwandel der Öffentlichkeit haben zusammengenommen – und das ist der vierte Trend – die repräsentative Demokratie in eine Krise gestürzt.14 So haben die traditionellen Volksparteien bei den Landtagswahlen in den letzten Jahren hohe Verluste hinnehmen müssen. Das Vertrauen der Menschen in demokratische Institutionen und Prozesse sowie in die Fähigkeit der Politiker, die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, hat abgenommen. Nur zehn Prozent der Deutschen vertrauen noch politischen Parteien.15 Wie in fast allen europäischen Ländern, sind auch in Deutschland rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Die AfD, die bei der Bundestagswahl 2013 noch unter der Fünf-Prozent-Hürde blieb, erreichte bei der Bundestagswahl 2017 12,6 Prozent und ist mit derzeit 89 Abgeordneten im Deutschen Bundestag vertreten. Inzwischen ist die rechtspopulistische Partei auch in allen Landtagen vertreten.16 Ihre Mitglieder gerieren sich als »Anti-Politiker«, die »das Volk« sowohl gegen die vermeintlich korrupten Eliten im Inneren als auch gegen die Bedrohung von außen verteidigen, welche in Form einer vermeintlichen kulturellen Überfremdung durch Einwanderung oder einer angeblichen »jüdischen 14 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Dr. Vehrkamp, Robert/Prof. Dr. Merkel, Wolfgang,Populismusbarometer 2018. Populistische Einstellungen bei Wählern und Nichtwählern in Deutschland 2018, Gütersloh, 2019; https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publika tionen/GrauePublikationen/ZD__Studie_Populismusbarometer_2018.pdf. 15 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Faus, Rainer/Dr. Mannewitz, Tom/Storks, Simon/Unzicker, Kai/Vollmann, Erik, Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?, Gütersloh, 2019; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de /publikationen/publikation/did/schwindendes-vertrauen-in-politik-und-parteien/. 16 Statistica GmbH, Hamburg; Stimmenanteile der AfD bei den jeweils letzten Landtagswahlen in den Bundesländern bis Februar 2020; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/32094 6/umfrage/ergebnisse-der-afd-bei-den-landtagswahlen/.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

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Weltverschwörung« vielfach beschworen wird. Dabei verstehen sich die populistischen Parteien darauf, Themen zu setzen und den öffentlichen Diskurs weiter nach rechts zu verschieben. Dies lässt sich selbst dort beobachten, wo keine populistische Partei an der Regierung beteiligt ist. Wo Rechtpopulisten an der Macht beteiligt sind, demonstrieren sie Stärke, schleifen die demokratischen Institutionen und bekämpfen Minderheiten oder Andersdenkende. Zur gleichen Zeit geraten die intermediären gesellschaftlichen Institutionen unter Druck, die im vorpolitischen Raum für Ausgleich und Mäßigung sorgen: Kirchen, Gewerkschaften und Verbände verzeichnen Jahr um Jahr schwindende Mitgliederzahlen und sind damit immer weniger in der Lage, als kollektive Interessensvertreter die Demokratie zu stabilisieren.

5)

Die Digitalisierung und ihre Folgen für die Arbeitsgesellschaft

Mit dem Strukturwandel der Öffentlichkeit wurde bereits ein Aspekt des aktuellen technologischen Wandels angesprochen. Dieser Wandel ist jedoch viel fundamentaler und endet keineswegs bei der Transformation der Medien und Kommunikation. Die Digitalisierung umfasst zunehmend alle Lebensbereiche. Die sozialen, ökonomischen und politischen Konsequenzen lassen sich heute in Gänze noch nicht vorhersehen. Insbesondere die Arbeitswelt wird sich in den nächsten Jahrzehnten tiefgreifend verändern mit gravierenden Folgen für die Menschen. Gut möglich, dass in nicht allzu ferner Zukunft selbstfahrende Autos abertausend Lkw- und Taxifahrer oder die Paketzusteller ersetzen werden. Auch wenn hier die Technik noch nicht ausgereift ist, zeichnen sich diese Entwicklungen bereits am Horizont ab. Künstliche Intelligenz und Algorithmen werden weitere Berufsbilder obsolet machen. Viele – auch hochkomplexe – Routinetätigkeiten könnten bald von Computern durchgeführt werden. Auch unabhängig davon, ob der technologische Wandel mehr Arbeitsplätze vernichtet, als er neue schafft. Bereits heute ist klar: die Lernzyklen werden immer kürzer und die Erwerbsbiographien immer weniger plan- und vorhersehbar.17 Die Sicherheit eines 40 Jahre währenden sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatzes bei 17 Zwei Studien, die zu je unterschiedlichen Schlüssen kommen: Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung GmbH, Prof. Dr. Bonin, Holger, Kurzexpertise Nr. 57, Übertragung der Studie von Frey/Osborne (2013) auf Deutschland, Mannheim 2015; http://ftp.zew.de/pub/ze w-docs/gutachten/Kurzexpertise_BMAS_ZEW2015.pdf | Frey, Carl, Benedikt/Osborne, Michael, A., The Future Of Employment: How Susceptible Are Jobs to Computeriasation? 2013; https://www.oxfordmartin.ox.ac.uk/downloads/academic/The_Future_of_Employment.pdf | Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Kebbedies, Sarah, Digitalisierung – Wie viele Jobs gehen uns wirklich verloren?, Kommentar In: Bertelsmann Stiftung, Unsere Projekte, Gütersloh; https:// www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/abgeschlossene-projekte/wirtschaftlichedynamik-und-beschaeftigung/projektnachrichten/digitalisierung-am-arbeitsmarkt/.

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demselben Arbeitgeber mit gleichbleibender Jobbeschreibung gehört wohl der Vergangenheit an. Diese Veränderungen schaffen neue Ausschlussmechanismen, führen zu Verunsicherungen und Abstiegsängsten in der Bevölkerung.

6)

Die Migration und die zunehmende kulturelle und religiöse Vielfalt in Deutschland

Auf die Krise der offenen Gesellschaft wurde bereits eingegangen und auch darauf, dass sie sich insbesondere am unterschiedlichen Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt manifestiert. Deutschland ist seit den 1950er Jahren – genau genommen schon viel länger – ein Einwanderungsland. Spätestens seit der Arbeitskräfteanwerbung während des Wirtschaftswunders haben wir hierzulande einen positiven Wanderungssaldo zu verzeichnen. Das heißt, es wandern dauerhaft und deutlich mehr Menschen nach Deutschland ein als aus. In den meisten Jahren ist ein Plus im sechsstelligen Bereich18 zu verzeichnen. Dennoch war es hierzulande ein langer Weg bis zur Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Noch Anfang der 2000er haben führende Politiker immer wieder darauf bestanden und ausdrücklich betont, Deutschland sei kein Einwanderungsland (und solle es auch nicht werden). Inzwischen ist unsere Gesellschaft an dieser Stelle ein ganzes Stück weiter.19 Dennoch ist Einwanderung, insbesondere die Einwanderung von Menschen muslimischen Glaubens, weiterhin ein Reizthema in Deutschland. Die Angst vor Muslimen und ihre Ablehnung seitens der Bevölkerung ist nach wie vor weit verbreitet. Mehr als die Hälfte der Deutschen empfindet den Islam als Bedrohung – das zeigen die Ergebnisse des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung. Dabei wird übersehen, dass wir bereits seit mehr als fünfzig Jahren friedlich mit unseren muslimischen Mitbürgern zusammenleben20 und dass die Mehrheit der Muslime hierzulande gut integriert lebt und demokratische Werte vertritt.21 Die Vielfalt an Lebensstilen, Kulturen und Religionen in unserer Gesellschaft bleibt somit umstritten. Davon, wie wir mit ihr umgehen, 18 Mediendienst Integration, Berlin, Wanderungsbilanz für Deutschland (1950–2018); https:// mediendienst-integration.de/migration/wer-kommt-wer-geht.html. 19 Kulturelle Vielfalt, nationale Identität und der Kitt der Gesellschaft In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) Faire Fachkräftezuwanderung nach Deutschland. Grundlangen und Handlungsbedarf im Kontext eines Einwanderungsgesetz, Verlag Bertelsmann Stiftung, S. 73–87. 20 Bertelsmann Stiftung (Hg.), Halm, Dirk/Sauer, Martina, Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Muslime in Europa. Integriert, aber nicht akzeptiert?, Gütersloh 2017; https:// www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/muslime-in-europa/. 21 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Halm, Dirk/Sauer, Martina, Religionsmonitor – verstehen was verbindet. Muslime in Europa. Integriert, aber nicht akzeptiert?, Gütersloh 2017; https:// www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/muslime-in-europa/.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

25

hängt es unter anderem ab, ob uns ein friedliches und solidarisches Zusammenleben gelingt. Hier ist nicht nur die Politik, sondern auch die Zivilgesellschaft und jeder Einzelne gefragt. Wie entscheidend dies für unsere Gesellschaft ist, verdeutlicht eine im Auftrag der Bertelsmann Stiftung durchgeführte internationale Recherche zu guter Praxis im Umgang mit Vielfalt: Überall dort, wo das Zusammenleben in Vielfalt gelingt, gibt es Menschen, die sich aktiv einmischen, Verantwortung übernehmen und das Zusammenleben gestalten.22

3.

Fakten zum Zusammenhalt in Deutschland

Diese sechs skizzierten Trends liefern Erklärungen für die pessimistische Sicht der Bevölkerung auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland. Die Frage, wie es um den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft tatsächlich bestellt ist, ist damit allerdings nicht beantwortet. Denn die subjektive Einschätzung des Zusammenhalts ist zu unterscheiden von den objektiv messbaren Veränderungen in der Gesellschaft. Wenn es darum gehen soll, Maßnahmen zur Stärkung des Zusammenhalts in Deutschland zu entwickeln, müssen auch die objektiv messbaren Veränderungen in den Blick genommen werden. In unseren Untersuchungen zum gesellschaftlichen Zusammenhalt legen wir ein Konzept zugrunde, das dies ermöglicht. Es basiert auf einer umfangreichen Sichtung der sozialwissenschaftlichen Literatur und deren Systematisierung im Rahmen einer Expertengruppe.23 Gesellschaftlicher Zusammenhalt wird demzufolge als eine graduelle Eigenschaft von Kollektiven verstanden. Er beschreibt die Qualität des Miteinanders in einem Kollektiv. Unserem Konzept zufolge setzt sich Zusammenhalt aus drei Bereichen zusammen, die sich jeweils wiederum in drei Dimensionen aufgliedern (siehe Tabelle 1).

22 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Heimer, Andreas/Münch, Claudia/DSpohn, Ulrike/Strier, Felix/Unzicker, Kai/Vopel, Stephan, Von der Welt lernen. Gute Praxis im Umgang mit kultureller Vielfalt, Gütersloh 2018; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publi kation/did/von-der-welt-lernen/. 23 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Schiefer, David/van der Noll, Jolanda/Delhey, Jan/Boehnke, Klaus, Kohäsionsradar: Zusammenhalt messen. Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland – ein erster Überblick, Gütersloh 2012; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publika tionen/publikation/did/kohaesionsradar-zusammenhalt-in-deutschland/ | Schiefer, Jan/van der Noll, Jolanda, The Essentials of Social Cohesion: A Literature Review In: Social Indicators Research, Ausgabe 2/2017; https://www.springerprofessional.de/the-essentials-of-social-coh esion-a-literature-review/10162558.

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Tabelle 1: Die drei Bereiche gesellschaftlichen Zusammenhalts mit ihren Dimensionen 1. Soziale Beziehungen 1.1. Soziale Netze 1.2 Vertrauen in Mitmenschen

2. Verbundenheit 2.1 Identifikation 2.2 Vertrauen in Institutionen

3. Gemeinwohlorientierung 3.1 Solidarität und Hilfsbereitschaft 3.2 Anerkennung sozialer Regeln

1.3 Akzeptanz von Diversität 2.3 Gerechtigkeits- 3.3 gesellschaftliche Teilhabe empfinden

Der erste Bereich betrifft die sozialen Beziehungen der einzelnen Menschen und Gruppen zueinander. In einer kohäsiven Gesellschaft verfügen die Menschen über stabile Kontakte und belastbare soziale Netze. Wenn sie beispielsweise in einer Notlage sind, gibt es jemanden, an den sie sich wenden können. Außerdem haben sie Vertrauen in ihre Mitmenschen. Dies ist insbesondere in einer anonymen Massengesellschaft für das Miteinander entscheidend: Wo viele Tausend Menschen einander jeden Tag begegnen, ist ein gewisses Maß an allgemeinem Vertrauen unerlässlich, um überhaupt interagieren zu können. Und schließlich ist die Akzeptanz von Diversität eine wichtige Dimension im Bereich der sozialen Beziehungen, in dem Sinne, dass Menschen Personen mit anderen Wertvorstellungen und Lebensweisen als gleichwertig akzeptieren. Denn in unserer Gesellschaft leben Menschen mit unterschiedlichen Religionen, Herkünften, Lebensstilen oder sexuellen Orientierungen zusammen. Würden sich die sozialen Beziehungen der Menschen immer nur auf jene beziehen, die einem selbst ähnlich sind, dann entstünde kein Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft, sondern ein fragmentiertes Puzzle einzelner Gruppen, die unverbunden nebeneinanderher lebten. Stabile, vertrauensvolle und für Vielfalt offene soziale Beziehungen sind somit der erste Bereich von Zusammenhalt in unserem Modell. Mit ihm sind die horizontalen Beziehungen der Menschen und einzelnen Gruppen zueinander erfasst. Zusätzlich zu den horizontalen Beziehungen der Menschen untereinander gibt es auch eine vertikale Verbindung im sozialen Miteinander, nämlich die Verbundenheit der einzelnen Menschen und Gruppen mit dem Gemeinwesen insgesamt. Dies ist der zweite Bereich, den unser Konzept des Zusammenhalts umfasst: eine positive Verbundenheit mit dem Gemeinwesen. Für einen starken Zusammenhalt müssen sich die Angehörigen eines Gemeinwesens als zugehörig, als Teil eines größeren Ganzen fühlen. Hierzu gehört, dass sich die Menschen mit dem Gemeinwesen identifizieren und dass sie Vertrauen haben in politische und gesellschaftliche Institutionen. Zudem wird die Verbundenheit mit dem Gemeinwesen auch davon bestimmt, ob die Rahmenbedingungen und die soziale Ordnung des jeweiligen Gemeinwesens als gerecht empfunden werden. Ergänzend zu den beiden Bereichen der horizontalen Vernetzung der Menschen untereinander und der vertikalen Verbundenheit mit dem Gemeinwesen

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

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insgesamt, zeigt sich die Qualität des gemeinschaftlichen Miteinanders darin, wie ausgeprägt die Orientierung am Gemeinwohl ist. Ein starker Zusammenhalt zeichnet sich durch die Bereitschaft der Menschen aus, für das Gemeinwesen und für andere Verantwortung zu übernehmen und sich für Schwächere einzusetzen. Der unmittelbarste Ausdruck von Gemeinwohlorientierung ist solidarisches Verhalten bzw. Hilfsbereitschaft. Ebenso gehört hierzu die Anerkennung grundlegender sozialer Regeln, die innerhalb einer Gesellschaft bestehen und die das Zusammenleben überhaupt erst ermöglichen oder angenehm machen. Außerdem braucht ein kohäsives Gemeinwesen Menschen, die sich für die gewissermaßen »politischen« Fragen innerhalb der Gesellschaft einsetzen: politisches Interesse und Engagement bzw. politische und gesellschaftliche Teilhabe sind daher die dritte Dimension der Gemeinwohlorientierung. Mithilfe dieses 9-Dimensionen-Konzepts von gesellschaftlichem Zusammenhalt haben wir in verschiedenen Studien den Zustand und die Entwicklung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im internationalen Vergleich, auf nationaler Ebene in Deutschland, auf Ebene der Bundesländer sowie auf lokaler Ebene untersucht.24 Die Kernergebnisse für Deutschland stellen wir im Folgenden kurz dar. Sie geben Aufschluss darüber, wie es objektiv um den Zusammenhalt in Deutschland steht.

24 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Dragolov, Georgi/Ignácz, Zsófia/Lorenz, Jan/Delhey, Jan/ Boehnke, Klaus, Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – messen was verbindet. Gesellschaftlicher Zusammenhalt im internationalen Vergleich 2013, Gütersloh 2013; https://ww w.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/gesellschaftlicher-zusammen halt-im-internationalen-vergleich | Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Dragolov, Georgi/Ignácz, Zsófia/Lorenz, Jan/Delhey, Jan/Boehnke, Klaus, Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – messen was verbindet. Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland 2014, Gütersloh 2014; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/gesellschaftli cher-zusammenhalt-in-deutschland/. | Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Arant, Martina/Larsen, Mandi/Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen],Sozialer Zusammenhalt in Bremen 2016, Gütersloh 2016; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/so zialer-zusammenhalt-in-bremen | Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Arant, Martina/Dragolov, Georgi/Boehnke, Klaus, Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt. Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017, Gütersloh 2017; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen /publikation/did/sozialer-zusammenhalt-in-deutschland-2017/ | Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Larsen, Mandy/Koch, Michael/Delhey, Jan/Dragolov, Georgi/Boehnke, Klaus, What Holds Asian Societies Together? Insights from the Social Cohesion Radar , Gütersloh 2017 https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/what-holds-asian-s ocieties-together-2/ | Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Dr. Gesemann, Frank/Schwarze, Kristin/ Seidel, Alexander, Städte leben Vielfalt. Fallstudien zum sozialen Zusammenhalt, Gütersloh 2019; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/staedte-leben -vielfalt/ | Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Dragolov, Georgi/Arant, Martina/Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen]/Unzicker, Kai, Gesellschaftlicher Zusammenhalt in BadenWürttemberg 2020, Gütersloh 2020; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen /publikation/did/gesellschaftlicher-zusammenhalt-in-baden-wuerttemberg/.

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Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel

1)

Der Zusammenhalt in Deutschland ist durchschnittlich, aber über lange Zeiträume hinweg stabil

In einer internationalen Vergleichsstudie haben wir 34 Länder untersucht. Hier zeigte sich, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland eher mittelmäßig ist. In Skandinavien, Kanada oder auch Australien ist der Zusammenhalt durchaus stärker. In Süd- und Südosteuropa fällt er dagegen – teilweise deutlich – schwächer aus (Siehe Tabelle 2). Betrachtet man die historische Entwicklung des Zusammenhalts sowohl international als auch bezogen auf Deutschland, dann lässt sich prüfen, ob der Eindruck vieler Menschen stimmt, dass im Zeitverlauf der Zusammenhalt immer schwächer wird. Die Daten zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Von 1990 bis 2012 sind die Werte für den Zusammenhalt in Deutschland nicht zurückgegangen. Vielmehr ist der Zusammenhalt überraschend stabil geblieben und hat – in der Tendenz – eher zu- als abgenommen. Unsere jüngste Untersuchung in Form eigener Primärerhebungen bestätigt diesen Trend ebenfalls und widerspricht damit zunächst einmal der pessimistischen Sicht in der Bevölkerung, wonach die Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet. Zugleich zeigt allerdings eine differenziertere Betrachtung der Ergebnisse durchaus, dass es objektiv messbare Faktoren gibt, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland gefährden und die mit der pessimistischen Sicht auf das gemeinschaftliche Miteinander in Zusammenhang gebracht werden können.

2)

Es gibt eine auffällige Diskrepanz zwischen Ost und West bzw. zwischen strukturschwachen und -starken Regionen

So fällt bei genauerer Betrachtung des Zusammenhalts in Deutschland auf, dass sich die Werte zwischen den ostdeutschen und den westdeutschen Bundesländern deutlich und beständig unterscheiden. So war der Zusammenhalt im Westen seit 1989 stets stärker als im Osten. Unsere regionale Studie von 2017 gibt allerdings Aufschluss darüber, dass sich diese Unterschiede nicht allein durch die Ost-West-Teilung erklären lassen. In der Studie wurden Daten für einzelne Regionen innerhalb der Bundesländer erhoben. Diese zeigen, dass es auch im Westen einzelne Regionen gibt, in denen der Zusammenhalt schwächer zu sein scheint. Umgekehrt finden sich im Osten Regionen, wo der Zusammenhalt überdurchschnittlich hoch ist. Hieraus lässt sich schließen, dass die Unterschiede in Bezug auf die Stärke des gesellschaftlichen Zusammenhalts in den wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen begründet sind: Ein starker Zusammenhalt besteht vor allem in den wirtschaftlich starken Regionen, während der Zusammenhalt in den strukturschwachen Regionen schwächer ist.

1.2 Akzeptanz von Diversität 0,87 0,78 1,37 1,45 0,90 0,97 0,95 0,74 -0,61 1,35 -0,25 0,44 -0,28 0,14 0,40 -0,77 0,28 -0,68 -0,45 -0,77 0,25 0,13 0,08

2.1 Identifikation 2.2 Vertrauen in Institutionen 1,64 1,61 0,19 1,69 0,82 1,31 -0,18 1,58 0,27 0,80 1,13 0,69 0,93 0,79 0,84 -0,04 0,55 1,36 -0,24 1,38 -2,22 1,00 0,77 -0,26 0,60 0,69 -0,90 0,58 -1,62 0,12 -0,48 0,11 -0,69 -0,23 -2,92 0,22 0,01 -0,03 -0,37 0,21 0,68 -0,62 0,33 -0,91 -1,37 -0,81

2. Verbundenheit 2.3 Gerechtigkeitsempfinden 2,03 1,64 0,55 0,96 1,82 0,85 1,05 0,76 1,08 0,90 1,10 0,10 0,26 0,32 0,55 -0,40 0,08 0,44 -0,10 -0,49 -0,75 -1,29 -0,47

3. Gemeinwohlorientierung 3.1 Solidarität und Hilfsbereitschaft 0,60 0,61 0,57 0,17 1,56 1,73 1,44 1,67 0,33 0,08 1,19 1,84 0,84 0,31 1,02 -0,75 -0,37 -0,44 -0,95 0,24 -0,74 -0,51 -0,96 3.2 Anerkennung sozialer Regeln 0,31 0,97 0,89 0,52 0,68 0,48 0,73 1,27 1,15 1,28 1,30 0,61 1,35 1,14 0,39 0,78 -0,27 0,38 -0,70 -0,82 -0,55 -0,23 0,39

3.3 gesellschaftliche Teilhabe 1,35 2,00 1,59 1,95 0,36 0,52 0,18 1,58 0,33 0,71 1,02 -0,13 0,59 0,81 0,12 0,59 0,00 0,37 -0,85 -0,08 -0,91 -0,48 -0,65

Dänemark Norwegen Finnland Schweden Neuseeland Australien Kanada USA Schweiz Luxemburg Niederlande Irland Österreich Deutschland Großbritannien Frankreich Spanien Belgien Estland Malta Polen Slowenien Tschechische Republik Italien -0,77 -0,67 -0,07 -0,09 -0,83 -0,46 -0,26 -0,99 -0,27 Ungarn -0,65 -0,73 0,04 0,31 -0,53 -1,46 -0,87 -0,04 -0,84 Portugal -0,87 -0,65 0,83 -0,06 -0,75 -0,64 -0,73 -1,27 -1,01 Slowakische 0,03 -1,12 -0,89 -0,26 -0,82 -0,99 -1,14 0,12 -0,76 Republik Israel -0,03 -0,25 -3,47 0,41 -0,47 -0,86 -0,07 -1,51 -0,64 Zypern -1,90 -1,49 -2,19 1,32 -0,33 -0,30 0,06 -1,48 -0,60 Litauen -0,24 -0,34 -0,11 -0,52 -1,70 -1,37 -1,19 1,42 -1,51 Lettland -1,33 -1,19 -0,63 -0,20 -1,34 -1,05 -1,01 -0,63 -1,33 Bulgarien -1,48 -1,35 -0,11 1,19 -1,33 -1,38 -1,50 -1,56 -1,20 Griechenland -2,09 -1,78 -0,94 0,89 -1,52 -1,22 -1,65 -1,66 -1,31 Rumänien -2,92 -1,03 0,26 -0,78 -1,62 -1,26 -1,10 -1,60 -1,49 Anmerkung: Angegeben sind die Werte für die neun Dimensionen als Faktorwerte der jeweiligen Einzelindikatoren. Der Gesamtindex errechnet sich als arithmetisches Mittel der Dimensionswerte. Die Tabelle ist absteigend nach dem Gesamtindex sortiert. Datengrundlage ist das Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – Gesellschaftlicher Zusammenhalt im internationalen Vergleich von 2013. Die Werte entsprechend der dortigen 4. Welle (2009–2012).

1. Soziale Beziehungen 1.1 Soziale 1.2 Vertrauen in Netze Mitmenschen 1,45 2,06 0,82 1,75 0,80 1,58 0,58 1,54 0,84 0,79 0,99 0,53 0,60 0,77 0,09 0,45 0,58 1,12 0,42 -0,30 0,84 1,21 1,17 0,35 0,65 -0,03 0,65 0,42 0,84 0,30 0,12 0,22 0,42 -0,23 0,41 0,40 -0,52 0,72 0,07 -0,99 0,16 -0,54 0,30 -1,10 -0,05 -0,44

Tabelle 2: Gesellschaftlicher Zusammenhalt im internationalen Vergleich

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

29

30 3)

Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel

Sozio-ökonomische Faktoren belasten den Zusammenhalt besonders stark

Unsere Studien bestätigen, dass insbesondere sozioökonomische Faktoren die Ausprägung des Zusammenhalts beeinflussen. Besonders der Wohlstand hat einen großen Effekt: Je höher der Wohlstand (gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf) in einem Staat, einem Bundesland oder einer Region ist, desto stärker ist auch der Zusammenhalt (siehe Tabelle 3). Sind umgekehrt nennenswerte Teile der Bevölkerung von Armut gefährdet oder beziehen Mindestsicherung, so ist der Zusammenhalt schwächer ausgeprägt. Zugleich gilt: Unabhängig davon, wie wohlhabend oder arm ein Bundesland oder eine Nation ist, führt eine geringere Einkommensungleichheit zu stärkerem Zusammenhalt. Schließlich haben auch die materiellen Teilhabechancen einen deutlichen Einfluss auf den Zusammenhalt: Dort, wo es mehr Schulabgänger ohne Abschluss gibt oder die Arbeitslosigkeit höher ist, fällt der Zusammenhalt ebenfalls niedriger aus.

4)

Einwanderung und Vielfalt haben keinen unmittelbaren Einfluss auf Zusammenhalt

Wir haben auch untersucht, wie sich Einwanderung und Vielfalt auf den Zusammenhalt auswirken. Hierbei lohnt sich ein genauerer Blick auf die Statistik. Denn entgegen der weit verbreiteten öffentlichen Meinung, Einwanderung und Vielfalt würden sich negativ auf den Zusammenhalt auswirken, zeigt die Statistik auf den ersten Blick ein anderes Bild: Hier findet man zunächst einen positiven Zusammenhang zwischen Vielfalt und Zusammenhalt. In Regionen, in denen der Anteil an Migranten höher ist, sind auch die Werte für gesellschaftlichen Zusammenhalt besonders hoch. Dieser positive Zusammenhang verschwindet jedoch, wenn wir diese Korrelation statistisch für Wohlstand kontrollieren. Das lässt sich leicht erklären: Migranten zieht es vor allem dorthin, wo sich die Wirtschaft im Aufschwung befindet und es Arbeitsplätze gibt. Interessant ist, dass nach der Kontrolle für Wohlstand auch kein negativer Effekt von Einwanderung nachweisbar ist. Das spricht dafür, dass insgesamt – weder auf nationalstaatlicher noch auf Bundesländer- oder regionaler Ebene – Einwanderung per se eine allzu große Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt darstellt. Mit den damit verbundenen Ängsten und der Skepsis in Teilen der Bevölkerung sollte nichtsdestotrotz umgegangen werden. Die Tatsache, dass unseren Studien zufolge die Akzeptanz von Diversität dort höher ist, wo viele Migranten leben, legt nahe, dass persönliche Begegnung und

0,25 -0,30 -0,47 * -0,60 ** -0,40 0,44 * 0,44 * -0,37

0,48 * -0,55 ** -0,37 -0,15 -0,53 ** 0,11 0,04 -0,63 *** 0,34

Altersheterogenität

Ursachenkomplex Diversität % Ausländer 0,88 ***

0,49 *

-0,12

-0,60 **

0,49 *

-0,46 *

0.60 **

0,87 ***

0,43 *

Korrelation bei Auspartialisierung des BIP und des Ost-West-Faktors

Zusammenhalt mit … Korrelation bei Auspartialisierung des BIP

Korrelation des Gesamtindex Einfache Korrelation des Gesamtindex mit … Ursachenkomplex Wohlstandsniveau und Wirtschaftslage Bruttoinlandsprodukt (ln) Arbeitslosenrate -0,75 *** Ursachenkomplex Ungleichheit und Wohlfahrtsstaat Ungleichheit der 0,88 *** Einkommen Armutsrisikoquote -0,67 *** national Armutsrisikoquote 0,32 regional Ursachenkomplex Raumstruktur % -0,54 ** Landwirtschaftsfläche % Bevölkerung in -0,84 *** Peripherie % städtischer 0,65 *** Gemeinden Ursachenkomplex Demographie Bevölkerungsdichte 0,40 Durchschnittsalter -0,84 ***

Tabelle 3: Überblick über Abhängigkeiten des Gesamtindex Zusammenhalt von möglichen Ursachen

SP

SP SP ( eigene Berechnung) SP ( eigene Berechnung)

BBR

BBR

SP

SP

SP

SP

SP

SP

Datenquelle (der Ursache)

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

31

Korrelation des Gesamtindex Einfache Korrelation des Gesamtindex mit … 0,26 -0,27 -0,33 -0,24 0,05

0,45 * 0,54 ** -0,28 -0,18

Korrelation bei Auspartialisierung des BIP und des Ost-West-Faktors

0,65 ***

Zusammenhalt mit … Korrelation bei Auspartialisierung des BIP

WVS ESS

RM

RM

WEVS

Datenquelle (der Ursache)

Anmerkung: Angegeben ist der Korrelationskoeffizient r jeweils für den einfachen Zusammenhang und für den um Bruttoinlandsprodukt beziehungsweise Ost-West-Faktor bereinigten Zusammenhang. Signifikanz der Korrelationen: Bei zweiseitigen Tests * signifikant auf Zehnprozentniveau, ** signifikant auf Fünfprozentniveau und *** signifikant auf Einprozentniveau. Quellen: SP: Statistik-Portal der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder, BBR: Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, WEVS: World Values Survey/European Values Study, RM: Religionsmonitor, ESS: European Social Survey. Datengrundlage ist das Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt von 2014.

Ursachenkomplex Kultur und Werte Wichtigkeit von 0,77 *** Religion im Leben Selbstbezeichnung: 0,76 *** Wie religiös Religionsgemeinschaft 0,69 *** angehören Wettbewerb gut 0,23 Selbststärkung -0,02

(Fortsetzung)

32 Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

33

Kontakt dabei helfen, Ängste und Fremdheitserfahrungen abzubauen und den Umgang mit Vielfalt einzuüben.25

5)

Wo der Zusammenhalt stärker ist, gelingt Integration leichter und ist der Umgang mit Geflüchteten einfacher

In einer unserer jüngsten Studien26 haben wir untersucht, wie gesellschaftlicher Zusammenhalt und die Bereitschaft und Fähigkeit zur Integration von Geflüchteten zusammenhängen. Hier hat sich deutlich gezeigt, dass dort, wo der Zusammenhalt stärker ist, die Menschen sich eher aufgeschlossen für die Aufnahme von Geflüchteten zeigen, optimistischer sind, dass die Integrationsleistung bewältigt werden kann und auch deutlich weniger Probleme mit Geflüchteten sehen. Ein starker Zusammenhalt ist also eine gute Voraussetzung für den Umgang mit Einwanderung und Vielfalt.

4.

Drei Herausforderungen für den Zusammenhalt in Deutschland

Anschließend an diese eher generellen Ergebnisse zum Zusammenhalt in Deutschland, gehen wir im Folgenden genauer auf drei Dimensionen ein, deren Ergebnisse durchaus bedenklich stimmen und die sehr relevant für die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft sind. Es handelt sich um die drei Dimensionen »Akzeptanz von Diversität« (Bereich »soziale Beziehungen«), »Gerechtigkeitsempfinden« und »Vertrauen in Institutionen« (beide Bereich »Verbundenheit«) (vgl. Abbildung 1).

25 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.); Arant, Regina/Dragolov, Georgi/ Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen], Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – messen was verbindet. Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017, S.13f, Gütersloh 2017; https://www.bertelsmann -stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/sozialer-zusammenhalt-in-deutschland-2017 ?tx_. 26 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.) Arant, Martina/Larsen, Mandi/Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen], Sozialer Zusammenhalt in Bremen 2016, Gütersloh 2016; https://www.bertel smann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/sozialer-zusammenhalt-in-bremen.

34 1)

Julia Tegeler / Kai Unzicker / Stephan Vopel

Akzeptanz von Diversität

Wie oben bereits erwähnt, ist im Durchschnitt unsere Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten eher toleranter als intoleranter geworden.27 Dennoch manifestiert sich am Umgang mit Vielfalt die schon angesprochene Krise der offenen Gesellschaft und die zunehmende Polarisierung. Rund 1/3 der Deutschen empfindet Vielfalt als Bereicherung. Nur 14 Prozent nehmen sie als Bedrohung wahr. Jedoch sind diese 14 Prozent in der öffentlichen Debatte aktuell besonders laut. Zwischen diesen beiden Polen gibt es eine Mehrheit von 53 Prozent, die eine ambivalente Sicht auf die gesellschaftliche Vielfalt hat. Sie nimmt diese Vielfalt einerseits als bereichernd, andererseits als herausfordernd wahr. Um die Akzeptanz von Vielfalt zu erfassen, fragen wir in unseren Studien u. a. ausdrücklich danach, ob man einen Ausländer oder Migranten ungern als Nachbarn haben möchte. An den Ergebnissen zu dieser Frage, lässt sich die Polarisierung verdeutlichen: in ganz Deutschland sagen 22 Prozent der Menschen, sie hätten ungern einen Ausländer oder Migranten zum Nachbarn. In Hamburg sagen das mit 10 % weniger als halb so viele. In Sachsen hingegen fast doppelt so viele, nämlich 43 %. Dies zeigt, dass die Polarisierung nicht nur zwischen einzelnen Gruppen in der Gesellschaft, sondern auch zwischen Regionen besteht: zwischen ländlichen Regionen, die kaum Migrationserfahrungen haben und urbanen Regionen, in denen Vielfalt schon längst akzeptierte Normalität ist. Der Kontakt mit unterschiedlichen Lebensstilen, Kulturen und Religionen scheint dazu beizutragen, Ängste und Fremdheitserfahrungen abzubauen. Dass die Skepsis gegenüber Vielfalt sich gerade nicht aus den persönlichen Erfahrungen vor Ort speist, zeigen auch die Ergebnisse des sogenannten »Sachsen-Monitor 2017« der sächsischen Landesregierung28. Dieser stellt zwei Fragen, nämlich erstens, ob Deutschland, und zweitens, ob die eigene Wohngegend durch die vielen Ausländer in gefährlichem Maß überfremdet sei. Mehr als die Hälfte der Sachsen (56 %) geben an, dass Deutschland überfremdet sei, aber nur 15 % sagen, ihre eigene Wohngegend wäre überfremdet. Kurzum, Deutschland ist gespalten, was die Akzeptanz von Vielfalt angeht. Die Angst vor Vielfalt speist sich dabei jedoch keineswegs aus konkreten eigenen Erfahrungen, sondern eher aus einem allgemeinen Gefühl.

27 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Helbling, Marc/Strijbis, Oliver, Wie weltoffen ist Deutschland?, Gütersloh 2018; https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/wie -weltoffen-ist-deutschland/?tx_. 28 dimap – Institut für Markt- und Politikforschung GmbH, Sachsen-Monitor 2017 – Ergebnisbericht, Bonn/Berlin 2017; https://www.staatsregierung.sachsen.de/download/Ergebnisbe richt_Sachsen-Monitor_2017.pdf.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

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Abbildung 1: Ablehnung von ausländischen Nachbarn im Bundesländervergleich

2)

Gerechtigkeitsempfinden

Mit Abstand am schlechtesten fallen die Ergebnisse für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Dimension »Gerechtigkeitsempfinden« aus. Über die Hälfte der Deutschen empfindet die sozialen Unterschiede im Land als ungerecht (52 %). Nur jeder Fünfte ist der Meinung, man würde entsprechend der eigenen Leistung vergütet und – das ist der deutlichste Befund – nur 8 Prozent der Deutschen finden, dass die wirtschaftlichen Gewinne im Großen und Ganzen gerecht verteilt werden. Diese gefühlte Ungerechtigkeit ist eine Herausforderung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt: Denn wenn die Menschen die Ordnung in der Gesellschaft, in der sie leben, nicht mehr als fair oder gerecht empfinden, dann besteht die Gefahr, dass die gesellschaftliche Ordnung insgesamt zerbricht.

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Tabelle 4: Indikatoren der Dimension Gerechtigkeitsempfinden Ich finde die sozialen Unterschiede in unserem Land im Großen und Ganzen gerecht. Stimmt wenig / stimmt gar nicht 51 Teils-teils 32 Stimmt völlig / stimmt ziemlich 16 Weiß nicht / verweigert 1 Die Rangunterschiede zwischen den Menschen sind akzeptabel, weil sie im Wesentlichen ausdrücken, was man aus seinen Chancen gemacht hat. Stimmt wenig / stimmt gar nicht 31 Teils-teils 45 Stimmt völlig / stimmt ziemlich 21 Weiß nicht / verweigert 3 Die wirtschaftlichen Gewinne werden heute in Deutschland im Großen und Ganzen gerecht verteilt. Stimmt wenig / stimmt gar nicht 64 Teils-teils 27 Stimmt völlig / stimmt ziemlich 8 Weiß nicht / verweigert 2 Man wird in Deutschland entsprechend seiner Leistung vergütet. Stimmt wenig / stimmt gar nicht 42 Teils-teils 37 Stimmt völlig / stimmt ziemlich 20 Weiß nicht / verweigert 1 Anmerkung: Datengrundlage sind die Antworten von 5.041 Befragten aus dem Jahr 2017

3)

Vertrauen in Institutionen

Neben der Akzeptanz von Vielfalt und dem Ungerechtigkeitsempfinden fällt als dritter negativer Wert bei der Messung von Zusammenhalt das geringe Vertrauen in Institutionen auf. Nur 10 Prozent der Deutschen vertrauen den politischen Parteien. Dieses geringe politische Vertrauen kann durchaus zu einer Erosion des Zusammenhalts führen. Zumal sich im Zeitverlauf zeigt, dass das Vertrauen eher weiter zurückgeht als wieder anzuwachsen. In einer vertiefenden Untersuchung aus dem Jahr 2019 lässt sich dieser Trend bereits erkennen und in unserer Erhebung zum Zusammenhalt in Baden-Württemberg setzt er fort – zumindest im Hinblick auf die Bundespolitik.29 29 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Faus, Rainer/Mannewitz, Tom/Storks, Simon/Unzicker, Kai/ Vollmann, Erik, Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien – Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, Gütersloh 2019; https://www.bertelsmann-stiftung.de/fi leadmin/files/Projekte/Gesellschaftlicher_Zusammenhalt/ST-LW_Studie_Schwindendes_V ertrauen_in_Politik_und_Parteien_2019.pdf | Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Dragolov, Georgi/Arant, Martina/Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen]/Unzicker, Kai, Gesell-

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der vielfältigen Gesellschaft

5.

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Fazit

Unsere Daten zum gesellschaftlichen Zusammenhalt zeigen, dass von einem Auseinanderbrechen der Gesellschaft aktuell nicht die Rede sein kann. Die Werte für Zusammenhalt sind in der langfristigen Perspektive über die Jahre hinweg stabil und weiterhin hoch. Gerade vor Ort, im eigenen Wohnumfeld erleben die Menschen nach eigener Aussage einen starken Zusammenhalt. Dennoch gibt es Gefährdungen, die real und ernst zu nehmen sind. Die Polarisierung der Gesellschaft findet statt, nicht nur im öffentlichen Diskurs, sondern auch in den Lebensbedingungen der Menschen. Viele Menschen fühlen sich benachteiligt und nicht anerkannt. Es gibt Orte und Regionen in Deutschland, die bislang keine Erfahrungen mit Einwanderung gemacht haben und in denen die Sorge groß ist darüber, wie sich das eigene Lebensumfeld in Zukunft verändern könnte. Es gibt Orte und Regionen in Deutschland, die umgekehrt schon lange Erfahrungen mit Vielfalt haben, denen aber heute die Ressourcen fehlen, um das Zusammenleben erfolgreich zu gestalten.30 Die liberale Demokratie steht angesichts dieser Entwicklung an einer Wegscheide. In vielen Ländern ist die Richtung in Autoritarismus und Illiberalität bereits eingeschlagen worden. Insgesamt verdeutlicht unser kursorischer Durchgang durch die Befundlage der zahlreichen Studien zum gesellschaftlichen Zusammenhalt, dass es grundsätzliche politische Aufgaben gibt, die in Deutschland und Europa angegangen werden müssen, um ein solidarisches und offenes Miteinander zu gestalten. Dazu gehören vor allem die Bekämpfung der Armut, Reduzierung von Ungleichheit, Erhöhung von Teilhabechancen und auch die Herstellung von gleichwertigen Lebensbedingungen. Unsere Untersuchungen zeigen auch, dass es Ansatzpunkte im Alltag gibt, um Zusammenhalt zu stärken. Hier erweist sich insbesondere der Fokus auf die aktive und inklusive Gestaltung des sozialen Miteinanders vor Ort als vielversprechend. Denn zweierlei wird durch die Untersuchungsergebnisse deutlich: Erstens: Vor Ort, in den Städten und Gemeinden, in den Quartieren und Nachbarschaften, sind wichtige Ressourcen für das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft vorhanden: – Die meisten Menschen in Deutschland sind eingebunden in stabile soziale Netze. Sie haben Kontakte und begegnen einander. schaftlicher Zusammenhalt in Baden-Württemberg, Gütersloh 2020; https://www.bertelsma nn-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ST_LW_Studie_Zus ammenhalt-BW_2020_lang.pdf. 30 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Hillmann, Felicitas/Alpermann, Hendrikje Kulturelle Vielfalt in Städten. Fakten – Positionen – Strategien, Gütersloh 2018; https://www.bertelsmann-stif tung.de/de/publikationen/publikation/did/kulturelle-vielfalt-in-staedten/.

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– Die Bereitschaft, Schwächeren und Hilfsbedürftigen zu helfen, ist groß, genauso wie die Bereitschaft, sich für das Allgemeinwohl einzusetzen. – Vor Ort lassen sich auch die Begeisterung für die Demokratie und das Interesse für gesellschaftliche Themen wecken. – Hier begegnen sich Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Religion, hier können sie sich konkret einbringen und Selbstwirksamkeit erfahren. Zweitens: Um diese Potentiale zu nutzen, brauchen wir eine aktive Gestaltung des Gemeinwesens: – Wir brauchen Menschen, die sich kümmern, ob als Freiwillige oder als Hauptamtliche. Denn wir müssen sicherstellen, dass die Netzwerke sich für gesellschaftliche Vielfalt öffnen. Das heißt, dass sich auch Menschen begegnen und kennenlernen, die sich fremd sind, die z. B. einer anderen Religion oder Kultur angehören. – Wir müssen dafür sorgen, dass die Bereitschaft zum Engagement auf fruchtbaren Boden fällt. Das bedeutet, dass die Bedingungen für Engagement inklusiver und flexibler gestaltet werden müssen. Denn die Ansprüche an ein freiwilliges Engagement sind gestiegen: Engagement ist heutzutage individueller, projektförmiger und die Engagierten fordern mehr Mitsprache. Auf diese Bedingungen sind viele Organisationen bislang noch nicht vorbereitet. Grundsätzlich sollten Verwaltung und Politik das bürgerschaftliche Engagement ernster nehmen und als gestaltende Ressource auf Augenhöhe einbeziehen.31 – Letztlich müssen sich auch die demokratischen Institutionen vor Ort anpassen. Wenn sie für die Demokratie begeistern wollen, dann benötigen wir bessere Bürgerbeteiligungen, mehr Transparenz und mehr Sichtbarkeit vor Ort. Schließlich: Wenn wir uns Gedanken darüber machen, was die Gesellschaft insgesamt zusammenhält – und vor allem, was sie in Zukunft zusammenhält – dann müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass diese Gesellschaft von rund 82 Millionen Menschen von oben, per Dekret oder per Gesetz vereint werden kann. In einer demokratischen Gesellschaft, die immer vielfältiger, globaler und digitaler wird, muss das soziale Miteinander von allen – Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft – gemeinsam aktiv gestaltet werden.

31 Bertelsmann Stiftung (Hrsg.); Arant, Regina/Dragolov, Georgi/ Boehnke, Klaus [Jacobs University Bremen], Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt – messen was verbindet. Sozialer Zusammenhalt in Deutschland 2017, S.14f, Gütersloh 2017; https://www.bertelsmann -stiftung.de/de/publikationen/publikation/did/sozialer-zusammenhalt-in-deutschland-2017 ?tx_.

György Széll

Ist eine ›harmonische‹ Migrationsgesellschaft möglich?

Klaus Bade kennzeichnet unsere Spezies als homo migrans (Bade, 1994b) – neben Dutzenden von anderen Adjektiven, die verwendet werden, hat dieses Adjektiv jedoch eine besondere Bedeutung, denn tatsächlich ist Wanderung neben Geburt und Tod eine der Grundkonstanten menschlicher Existenz (Oltmer, 2018). Dazu gehören aber auch jeher die Phänomene der räumlichen Mobilität (Széll, 1972b: 12–40) und der Flucht (Aus Politik und Zeitgeschichte, 2016). »Die gesellschaftspolitische Grundlage für die Entwicklung der Forschungsfragen entstand durch die intuitive und subversive Wortschöpfung des ›Postmigrantischen‹ durch Shermin Langhoff, einer der zentralen Kunst- und Kulturschaffenden im politischen Kontext der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Ihr künstlerischer Claim bestand darin, dass sich Gesellschaften nicht mehr in Kategorien von ›Migranten‹ und ›Einheimischen‹ erzählen und begreifen lassen, wenn die Generationen, die hier sozialisiert werden, nicht nur beanspruchen, ein selbstverständlicher Teil des Ganzen zu sein, sondern ›das Ganze‹ neu zusammensetzen.« (Foroutan, 2019: 7)

Insofern ist m. E. der Diskurs um eine postmigrantische Gesellschaft nicht nachvollziehbar (s. auch Foroutan, 2015, 2016). Die Spezies homo sapiens sapiens verbreitete sich von Afrika aus über Wanderungen in den letzten Jahrzehntausenden über den Erdball. Seit der Sesshaftigwerdung des Menschen vor etwa 10.000 Jahren blieben immer ein großer Teil der Menschen vor Ort – auch heute trotz riesiger Flucht- und Migrationsbewegungen. In dem Augenblick, in dem Menschengruppen auf andere Menschengruppen treffen, stellt sich das Problem der Integration. Gleichzeitig mit Wanderungsbewegungen entstand aber auch die Angst vor dem Fremden, gar Fremdenhass (Aydın, 2009a, b; Bade, 1995a; Heinz & Kluge, 2012; Loiskandl, 1966). Xenophobie war in der griechischen Polis, die sowohl die Demokratie, als auch Oligarchie und Tyrannei hervorbrachte, weit verbreitet, obwohl es sich um eine Sklavenhaltergesellschaft und damit mit zahlreichen Fremden handelte. Dabei gibt es hinsichtlich der Integration zwei Varianten:

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1. Die Zuwandernden kamen als Eroberer und beherrschen von da an die Einheimischen oder 2. Sie kommen als Einzelne oder Gruppe und müssen sich mehr oder weniger den Einheimischen anpassen. Dafür gibt es verschiedene Termini, um den Grad der Integration bzw. der Nichtintegration zu kennzeichnen. Ich unterscheide dabei im Wesentlichen vier Formen der Integration bzw. der Desintegration (Heitmeyer & Imbusch (2012): einerseits Assimilation, Akkulturation (Aumüller, 2009; Schmitz & Schmitz, 2020; Széll, 1965), Kohäsion (Möller, 2013) sowie Multikulturalismus (Koopmans, 2017; Taylor, 1993).1 Assimilation beinhaltet z. B., was der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit Leitkultur meinte. Darunter subsumierte er auch Händeschütteln. Das hat sich angesichts Covid-19 wohl von selbst bis auf Weiteres erledigt. Und andererseits Marginalisierung, Exklusion, Segregation (Hinz, o. J.). Exklusion ist zumeist der unfreiwillige Ausschluss aus der Gesellschaft sowie ihrer Teilsysteme (Daly, 2006; Ulbricht, 2017).2 In extremer Form findet dies in Apartheidregimen wie Südafrika bzw. gar der Vernichtung wie die der Indios, der Juden oder anderer Minderheiten statt. Demgegenüber hat es immer Vermischungen zwischen Eroberern, Zugezogenen und Einheimischen gegeben, und wird es weiterhin geben. Das Ergebnis sind dann auch teilweise sichtbar differente Personen bzw. Gruppen, so die Mestizen, Mulatten etc. Diese Vermischungen führen teilweise zu neuen Mischkulturen und -sprachen, z. B. kreolisch, Pidgin etc.

Gesellschaft Ökonomie

positiv negativ

Kultur Akzeptanz

Wertesystem Nichtakzeptanz

Assimilation Akkulturation

Multikulturell Exklusion

Abbildung 1: Formen der Integration.

Wie überall in der Wissenschaft und der Politik sind Begriffe umstritten, insbesondere über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg (Széll, 1965). So werden in diesem Zusammenhang auch die Begriffe Adaptation, Sozialisation, Enkulturation, Diffusion, Inklusion, Transkulturation, Transnationalismus (Koch, 2018; Pries, 2003, 2015) und Inkorporation (Esser, 1980) verwendet. Ich bleibe jedoch bei dem allgemein verwendeten Begriff der Integration, um das Verhältnis von Hinzugekommenen und Einheimischen zu bestimmen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass irgendwann alle Menschen Hinzugekommene waren, sich also die Schichten überlagern. Das ist häufig an den Familiennamen sichtbar, obwohl 1 Zu den Definitionen s. insbesondere Zick, 2010. 2 An dieser Stelle müsste an sich auch der Menschenhandel, dessen übelste Form die Zwangsprostitution ist, thematisiert werden, aber dies würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

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deren Träger sich dessen in den seltensten Fällen noch bewusst sind. Aber um welche Integration handelt es sich? Um soziale, kulturelle, ökonomische, politische? Dieter Filsinger unterscheidet folgende vier: – strukturelle Integration (Inklusion in gesellschaftliche Funktionssysteme wie Bildung, Arbeitsmarkt, Politik), – kulturelle Integration (Sprache, normative Orientierungen), – soziale Integration (Gruppenzugehörigkeiten) sowie – identifikative (emotionale) Integration (Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft). (Filsinger, 2016)3 Hartmut Esser unterscheidet zudem prinzipiell zwischen System- und Sozialintegration und gelangt weiter zu seiner Vier-Typenmatrix (Esser, 2001: 3ff., 19).

Abbildung 2: Systemintegration und soziale Integration in Netzwerken, Quelle: Esser, 2001: 4.

Dominant ist dabei bisher die Integration in die jeweilige Nationalgesellschaft/kultur/-ökonomie. Wenn auch die regionale, lokale Gesellschaft durchaus unterschiedliche Bedingungen aufweisen kann, insbesondere wenn es sich um Subkulturen, bis hin zu Ghettos handelt. Wobei zu beachten ist, dass Integration keine Einbahnstraße ist, sondern in beiderlei Richtungen wirkt (Zick, 2018). So haben größere Gruppen – nicht nur die Eroberer, sondern sogar die Sklaven – die 3 Diese Differenzierung hat er von Esser übernommen, der sie aber noch Assimilation nennt (Esser, 2001: 22; Esser, 2004). Es entspann sich übrigens darüber eine Kontroverse zwischen Georg Elwert und Hartmut Esser (Elwert, 1982; Esser, 1986).

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Gesamtgesellschaft hin zu Hybridkulturen verändert. Selbst im sogenannten Melting Pot, dem Schmelztiegel der USA, mit seinem hohen Assimilationsdruck haben sich bis heute Enklaven wie Chinatown, Little Italy, Little Germany etc. erhalten (Brubaker, 2001). Demgegenüber propagierte Kanada auf Grund seiner unterschiedlichen Geschichte in den 1970er Jahren die multikulturelle Gesellschaft. Schon die Geburtsstunde dieses Landes beinhaltete neben den Engländern sowie Franzosen Indianer und Inuit (Széll, 1992a). Darüberhinaus ist es ein Einwanderungsland par excellence mit Menschen aus allen Teilen der Welt. Der Nationenbegriff des 19. Jahrhunderts beinhaltet nicht nur ein klar abgegrenztes Territorium, eine Staatsmacht sondern auch eine Staatssprache – denn weder Verwaltung noch Heer funktionieren ohne diese (Anderson, 1996). Nichtsdestotrotz sind die meisten Nationen bis heute multikulturell (Bade, 1995). Auch wenn manche das aus vordergründigen Motiven manchmal nicht wahr haben wollen, so selbst Bundeskanzlerin Angelika Merkel, die 2010 erklärte: »Multikulti ist gescheitert.« (Der Spiegel, 2010). Vielen Bundesbürgern schwebt diesbezüglich bis heute eine Art Volksgemeinschaft als Ideal vor: »Die Idee einer klassenübergreifenden ›Volksgemeinschaft‹ wurde nicht erst im ›Dritten Reich‹ populär. Ihr Erfolg beruhte nicht ausschließlich auf Zwang und Terror. Die Sehnsucht nach Gleichheit, Harmonie und Integration war im kulturellen Bewusstsein der deutschen Bevölkerung seit Jahrhunderten verankert.« (Dokumentationszentrum Prora, 2020; für eine detailliertere Auseinandersetzung s. Sünker, 2006)

Nun ist der Wunsch nach Harmonie, d. h. Übereinstimmung, Einklang, Eintracht, Ebenmaß, Symmetrie, in menschlichen Gesellschaften weit verbreitet. Nicht nur in der Antike bei Aristoteles und in seiner Phrónêsis, d. h. der Lehre von der Guten Gesellschaft (Flyvbjerg, 2001; Eikeland, 2006), sondern insbesondere in Nordostasien durch die konfuzianische Lehre (Coulmas, 1993; Schubert, 1992) lebt dieses Ideal weiter – aber durchaus mit dem Risiko totaler Kontrolle und Vernichtung unliebsamer Elemente, wie im Nationalsozialismus. Auch der Frühsozialismus bis hin zum Kommunismus propagierte das Ideal der Harmonie. Da dieser Beitrag sich in erster Linie an eine deutschsprachige Leserschaft wendet, stehen im Vordergrund die deutschsprachigen Länder: Deutschland, Österreich, Schweiz, Liechtenstein und Luxemburg.4 Sie sind praktisch alle multikulturell (Bade, 1995b; Bertelsmann Stiftung, 1992b).5 Bei der Schweiz und Luxemburg ist dies offensichtlich. Aber auch das Habsburger Reich bis hin zur Doppelmonarchie war sogar eine multikulturelle Gesellschaft Kat’ exochen (Fejtö, 1991; Häußermann, 1979). 4 Es gibt zwar in anderen Ländern deutschsprachige Minderheiten wie in Belgien, Dänemark und Frankreich. Diese werden jedoch hier vernachlässigt. 5 Ich beschränke mich hier aber nur auf Deutschland – auch ohne Berücksichtigung der DDR, da die jeweilige Situation zu unterschiedlich ist, um sie in einem Beitrag darzustellen.

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Die Integrationsprobleme sind nun je nach Rechtsstatus und in Hinblick auf die Zukunftsperspektive sehr unterschiedlich (Buckel, 2013; Weber, 1997, 2019; Pichl & Tohidipur, 2019). Es gibt: 1. legal Zugewanderte (1. Generation, Gastarbeiter), 2. deren Angehörige (Frauen häufig nur Hausfrau bzw. minimal beschäftigt), 3. deren im Ausland geborene Kinder, Nachzug durch Familienzusammenführung 4. deren im deutschsprachigen Raum geborene Kinder und Enkel, 5. EU-Bürger und Gleichgestellte, 6. Nicht-EU-Bürger, 7. Asylsuchende, 8. Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention, 9. unbegleitete jugendliche Flüchtlinge, 10. Saisonarbeiter6 und 11. Illegale (Eichenhofer, 1999).7 Wobei die Grenzpendler noch eine besondere Kategorie darstellen, denn Grenzen verbinden manchmal mehr als sie trennen (Széll, 1996). Einige Konservative und Rechtsextreme versuchen immer wieder, alle Grenzen zu schließen, zumindest eine Festung Europa zu errichten, wenn man schon nicht so ohne Weiteres aus der EU austreten kann, damit sie ihren Frieden haben.8 Nun hat das schon mit dem Limes bei den Römern vor 2.000 Jahren und auch mit der Chinesischen Mauer nicht richtig geklappt.9 Wie sollte das heute im Zeitalter der Globalisierung möglich sein? (Széll, 2002; Thränhardt & Hunger, 2009) Daniel Josten stellte richtigerweise fest: »Die Grenzen kann man sowieso nicht schließen.« (2012) In der öffentlichen Debatte werden sowohl von den Medien aber auch bewusst von interessierter Seite – konservativ bis rechtsextrem – die obigen Kategorien vermischt, und es wird alles amalgamiert, um die Gesamtheit der Zuziehenden zu diskreditieren. Wobei Rechtsverpflichtungen, denen Deutschland unterliegt, absichtlich negiert werden. Aus Unkenntnis und mangels Alternativen werden aber auch seitens der Zuziehenden die Kategorien vermischt, so dass es zu unnötigen Problemen kommt (Bundeszentrale für politische Bildung, 2020).

6 Jährlich etwa 500.000, die großenteils seit Jahrzehnten regelmäßig einreisen und die wesentlich die Landwirtschaft sowie die Gastronomie am Laufen halten. 7 Dies betrifft auch die Pflegekräfte, ohne die die Versorgung besonders im Privatbereich zusammenbrechen würde. 8 Im Übrigen sollen natürlich die Smartphones und alle andere notwendige Waren weiterhin herein dürfen. 9 Das einzige Land, das die Abriegelung einigermaßen über 250 Jahre realisierte, war Japan.

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Geschichte10 Ich schlage vor, in Bezug auf Deutschland die Integrationsprozesse in fünf Abschnitten kurz Revue passieren zu lassen:

1800–1870 Diese Epoche ist durch die Napoleonischen Kriege sowie den Nationenbildungsprozess, der zum Zweiten Deutschen, dem Wilhelminischen Reich führte, geprägt. Dabei bestanden auf deutschem Boden bis zum Vorabend der gewaltsamen Reichseinigung 44 unabhängige Staaten. Die Integrationsprobleme waren derartig vielfältig, dass sie hier nicht darstellbar sind, verwiesen sei auf Klaus J. Bade u. a. (Hg.), Enzyklopädie Migration in Europa vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart (2007) sowie Klaus J. Bade Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart (2002).

1871–1918 Das Zweite Deutsche Reich, Kleindeutschland unter Preußischer Hegemonie, war im Grunde auch ein Vielvölkerstaat mit den Annexionen von Teilen Dänemarks, Frankreichs und Polens. Einwanderungen aber auch von den sogenannten Transalpini aus Italien (Del Fabbro, 1996) führten zu weiterer Diversifizierung. Es war aber auch die Epoche, in der Deutschland versuchte, ein eigenes Kolonialreich mit allen Verwerfungen aufzubauen und seinen Platz an der Sonne suchte.

1918–1945 Die Weimarer Republik sowie das Dritte Reich hatten einerseits durch die Territorialverluste nach dem Ersten Weltkrieg und andererseits durch die Expansionspolitik des Nationalsozialismus absolut unterschiedliche Integrations- bzw. Desintegrationspolitiken, insbesondere durch die Shoah, das größte Menschheitsverbrechen bis heute.11 Im Dritten Reich gab es über 10 Millionen Zwangsarbeiter, die euphemistisch Fremdarbeiter genannt wurden.

10 S. dazu insbesondere Plamper, 2019. 11 Zur Fluchtbewegung seit 1933. International Holocaust Remembrance Alliance u. a., 2018.

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1945–1989 Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden die beiden deutschen Staaten mit ihrer jeweils eigenen Integrationsgeschichte (Sippel, 2015). Geprägt waren beide durch Gebietsverluste sowie den Zustrom von insgesamt ca. 12 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen. Zwischen den beiden deutschen Staaten fand bis zum Mauerbau 1961 ein Bevölkerungsaustausch statt, wobei 2 Millionen DDR-Flüchtlingen ca. 0,5 Millionen Emigranten aus der BRD in die DDR gegenüber standen. Auf Grund des Mauerbaus verstärkte sich der Arbeitskräftebedarf in der BRD. Insgesamt etwa 11 Millionen Gastarbeiter12 wurden bis zur Wirtschaftskrise 1973 massiv angeworben. Waren dies ursprünglich Personen aus südeuropäischen Ländern, insbesondere aus den damaligen Diktaturen Griechenland, Portugal und Spanien, kamen bald Türken, darunter viele Kurden, und andere Nationalitäten hinzu. Dabei sind die Türken mit derzeit ca. 3,5 Millionen die größte Einwanderer- und teilweise Flüchtlingsgruppe (Muti, 2001). Erwähnenswert ist auch die Fluchtbewegung aus den real sozialistischen Ländern – besonders nach den Aufständen in Ungarn, der Tschechoslowakei und Polen sowie aus Vietnam mit mehreren Hunderttausend Menschen. Schließlich sind die etwa 3 Millionen sogenannten Spätaussiedler (Arbeitsgemeinschaft der Katholischen Flüchtlingsund Aussiedlerhilfe, 1994; Bade, 1994a; Bundeszentrale für politische Bildung, 2019; Panagiotidis, 2017a) zu erwähnen, wobei etwa 50 % der Abstammungsurkunden gefälscht waren. Sie konnten zu 90 % kein Deutsch bei der Ankunft, erhielten Eingliederungsbeihilfen, zweijährige Integrationskurse, die Staatsangehörigkeit sowie damit das Wahlrecht und ermöglichten so Helmut Kohl 1990 seinen überraschenden Wahlsieg nach der Vereinigung.13

1990–2020 Nach der Vereinigung erfolgte sehr schnell eine Wanderung von ca. 1,5 Millionen ehemaligen DDR-Bürgern in die alten Bundesländer, eine viel geringere Bewegung in die Gegenrichtung, wobei diese hauptsächlich der Besetzung von Spitzenpositionen diente. Während der Kriege, die zur Auflösung Jugoslawiens führten, flüchteten etwa 1 Million Menschen in den 1990er Jahren nach Deutschland (Bertelsmann Stiftung, 1992a). Viele sind mittlerweile in die Heimat zurückgekehrt. Aber auch zahlreiche, zuvörderst russische Juden sind seither eingewandert, was dazu führte, dass es mittlerweile wieder über 200.000 von ihnen in 12 Der Terminus signalisiert schon den temporären Status. 13 Mittlerweile wählt diese Population überwiegend die AfD und pflegt eine Russlandnostalgie (Panagiotidis, 2017b).

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Deutschland mit entsprechenden kulturellen und religiösen Aktivitäten leben (Bade & Troen, 1993). Die wesentlichste Herausforderung in Hinblick auf Integration während dieses Zeitraums war die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015ff., während der fast eine Million Flüchtlinge aus Kriegsgebieten nach Deutschland kam – ein Bruchteil der insgesamt über 65 Millionen internationalen Flüchtlinge weltweit. In dieser Situation fiel der berühmte Satz »Wir schaffen das!« von Kanzlerin Angelika Merkel. Was hätte sie auch sonst sagen sollen, wenn man diese Menschen – einschließlich Frauen und Kindern – nicht alle erschießen würde, wie es tatsächlich einige Rechtsextrem einschließlich der damaligen AfD-Vorsitzenden Frauke Petry forderten? In dieser Krise zeigten sich – wie bei allen Krisen – die positiven und negativen Seiten einer Gesellschaft: Einerseits eine nie dagewesene Willkommenskultur (Bade, 2015), andererseits Ressentiments – selbst bei früheren Migranten – bis zum blanken Hass und Gewalttätigkeit (Bade, 2016). Zweifelsohne war die Verwaltung auf allen Ebenen mit diesem Zustrom vollkommen überfordert, obwohl Anfang der 1990er Jahre eine etwa gleich große Flüchtlingswelle aus Jugoslawien kam. Zuvor waren ja auch etwa 1,5 Millionen DDR-Bürger in die alten Bundesländer gekommen. Deren Integration erfolgte jeweils relativ reibungslos. Die dafür aufgebauten Strukturen wurden jedoch bald darauf aufgelöst, da nicht erneut mit einem solchen Zustrom gerechnet wurde, obwohl seit den Afghanistan- und Irakkriegen, dem arabischen Frühling die heißen Konflikte zugenommen hatten. Auch die diesbezüglichen Kompetenzen gingen mittlerweile verloren. Wesentlich für die Integrationspolitik wurde die Änderungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit (Joppke & Morawska, 2003). Galt Jahrhunderte lang in Deutschland das ius sanguis, d. h. dass man nur Deutscher durch Geburt werden konnte, wurde dies in 1990 durch das ius solis ergänzt (Gosewinkel, 2016; Stoltenberg, 2020). »Das reguläre deutsche Staatsangehörigkeitsrecht beruht einerseits auf dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (RuStAG) vom 22. Juli 1913, das mit Wirkung vom 1. Januar 2000 in Staatsangehörigkeitsgesetz umbenannt wurde, und andererseits auf mehreren mit Wirkung vom 1. Januar 1991 im damaligen Ausländergesetz vom 9. Juli 1990 geschaffenen Regelungen, die ursprünglich die Einbürgerung jugendlicher Ausländern erleichtern sollten (§§ 85 bis 91 AuslG), später aber auch auf Erwachsene ausgedehnt wurden und mit Wirkung vom 1. Januar 2005 durch Art. 5 des Zuwanderungsgesetzes vom 30. Juli 2004 geschlossen in das Staatsangehörigkeitsgesetz übernommen worden sind (heute § 10 bis § 12b StAG).« (Wikipedia, 2020b)

Daraufhin stieg die Zahl der Einbürgerungen sprunghaft mit bis zu über 300.000 Fällen pro Jahr an und pendelte sich mittlerweile auf etwas über 110.000 jährlich ein (Statistisches Bundesamt, 2018). Eine Integrationsschranke bilden die Ein-

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bürgerungstests, die es seit 2006 gibt – wobei zahlreiche Bundesbürger diesen Test zweifelsohne nicht bestehen würden. Eine weitere rechtliche Regelung zur Integration war das Integrationsgesetz. Es wurde am 31. Juli 2016 erlassen und war eine Reaktion des Gesetzgebers auf die Flüchtlingskrise in Deutschland ab 2015 (Schneider, 2017). Nach langem Hin und Her trat nunmehr am 1. März 2020 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft, um Deutschland endlich zu einem richtigen Einwanderungsland zu machen. Die verabschiedete Fassung fällt aber weit hinter die Forderungen der Verbände und selbst der Wirtschaft zurück. Es muss sich in der derzeitigen Krise bewähren.

Das Manifest der 60 »Irritation, Ängste und Abwehrhaltungen bestimmen im vereinigten Deutschland den Umgang mit den Themen Einwanderung, Eingliederung und Minderheiten. Hintergründe sind eine unübersichtliche Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland und der Mangel an umfassenden Konzepten zur politischen Gestaltung der anstehenden Probleme. Dabei könnten die Deutschen relativ gelassen sein im Umgang mit den aktuellen Problemen angesichts einer Geschichte, in der Deutsche im Ausland und Ausländer in Deutschland in gewaltigen Dimensionen buchstäblich alle denkbaren Erfahrungen des Wanderungsgeschehens teilten. Das Buch von Klaus J. Bade bietet deshalb einen knappen und prägnanten Überblick über die Wege aus und nach Deutschland in der Geschichte; es schildert historische Erfahrungen von Deutschen in der Fremde und von Fremden in Deutschland. Die Einwanderer sind schon seit vielen Jahren im Land, und andere werden ihnen folgen, denn Deutschland wird aus humanitären Gründen weiter Flüchtlinge aufnehmen und braucht trotz Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit auch in Zukunft aus ökonomischen Gründen ein Mindestmaß an Einwanderungen. Bleibt der Umgang mit dem Thema Einwanderung in Deutschland weiter durch Versäumnisse, Berührungsängste und ein Versteckspiel mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt, dann könnte unserer Gegenwart in Zukunft zu einer belasteten Vergangenheit werden. Das Buch wirbt deshalb für einen gelasseneren, pragmatischeren Umgang mit dem gesellschaftlichen Aufgabenbereich ›Migration‹.« (Bade, 1994)

Nach der deutschen Vereinigung lancierte der Osnabrücker Migrationsforscher Klaus J. Bade das Manifest der 60, um zu einem neuen Migrationsregime zu gelangen. Eines der Argumente war und ist, dass Deutschland zwischen 200.000 und 300.000 Einwanderer jährlich benötigt, um die Bevölkerung und damit sowohl das Wirtschaftssystem als auch die Sozialsysteme zu stabilisieren. (Bade, 1993, 2013a) Daran ändern wahlkämpferische Aufrufe wie ›Kinder statt Inder!‹ in

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2000, die zum Glück auch nicht verfingen, nichts (Der Spiegel, 2000).14 Andererseits blieben die Bemühungen seit 2012, durch sogenannte Blue Cards Fachkräfte anzuwerben, auf Grund der hohen Hürden relativ erfolglos. Jean Heuser sieht immerhin den Flüchtlingszustrom seit 2015 als ›Jahrhundertchance‹ (2015).

Die Situation heute Während der ganzen Geschichte war Deutschland genauso ein Auswanderungswie ein Einwanderungsland. Selbst in der jüngsten Geschichte gibt es fast so viele Aus- wie Einwanderer (s. dazu folgende Abbildung 3):

Abbildung 3: Wanderungsbilanz Deutschland, Quelle: SVR, 2019: 16.

Es hat sehr lange gedauert, bis sich durchgesetzt hat, dass anerkannt wurde , dass Deutschland immer ein Einwanderungsland war und ist – wenn dies auch weiterhin von einer starken Minderheit negiert wird, und gar Forderungen auf die Rückführung aller Fremden erhoben werden. Und fast genauso lange dauerte es, bis sich im deutschsprachigen Raum die Migrationsforschung und -lehre etablieren konnte.15 Das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien/IMIS an der Universität Osnabrück war 14 Die Stadt Düsseldorf simulierte 1992 Die Stunde Null. Wenn alle Ausländer Düsseldorf verlassen würden und sah voraus, dass dann die gesamte Wirtschaft zusammen brechen würde. 15 Eine frühe Arbeit war die von Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (1973).

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1995 das erste. Durch den Aufbau von diesbezüglichen Graduiertenkollegs sowie eines Masterstudiengangs und zahlreiche Veröffentlichungen, Tagungen hat es wesentlich zur Entwicklung beigetragen. Seit 2014 ist auch das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der HumboldtUniversität, Berlin, hinzugekommen. Klaus J. Bade hat den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration/SVR initiiert, der derzeit von sieben Stiftungen gefördert wird, 2008 seine Arbeit aufnahm und regelmäßig Jahresgutachten veröffentlicht. Von 1992 bis 2006 hatte die VolkswagenStiftung ein umfangreiches Förderprogramm ›Das Fremde und das Eigene‹ aufgelegt (Craanen & Gunsenheimer, 2015).16 Auf Bundesebene hat die Bundeszentrale für politische Bildung ebenfalls zur öffentlichen Diskussion und Bewusstwerdung beigetragen. Zusätzlich wurde 2005 das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration geschaffen. 25 % der Bevölkerung in Deutschland haben einen Migrationshintergrund (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2019; Will, 2020). Das bedeutet unter allen größeren Nationen den höchsten Anteil – mehr als alle klassischen Einwanderungsländer wie die USA, Kanada oder Australien. Wie in diesen Ländern geht jedoch die Integration keineswegs ohne Konflikte ab (Bade, 1996; Johler & Lange, 2019; Schiffauer, u. a., 2018). Insofern spricht Aladin El-Mafaalani vom Integrationsparadox: Die Gesellschaft wächst zusammen, das geschieht aber nicht ohne Konflikte (2018). Hilfreich ist die Analyse der Sinus-Migrantenmilieus, die zeigt, dass Migrantenmilieus genauso vielfältig sind wie die der Einheimischen, jedoch teilweise mit anderen Schwerpunkten. Dabei fühlen sich zwar 84 % der Migranten mit Deutschland und 61 % gleichzeitig mit dem Herkunftsland verbunden (SINUS Institut, 2019). Damit stellt sich die Frage nach der Identität (Lee, 2019) Wie Abbildung 1 zeigt, gibt es sehr unterschiedliche Strategien auf beiden Seiten des Integrationsprozesses. Zur Messung der Integration wurde das sogenannte Integrationsmonitoring entwickelt (Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, 2019; Filsinger, 2016, 2018, 2019; Worb, 2010) bzw. das Integrationsbarometer (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration/SVR, 2012, 2018) einschließlich seines Integrationsklima-Index’. Auffallend ist dabei, dass die Zugewanderten bei kaum veränderter Tendenz eine positivere Haltung als die Einheimischen haben. Also Integration gelungen? (s. folgende Abbildung 4)

16 Es gab bereits ein Vorläuferprogramm bei der VolkswagenStiftung: Hermann Korte & Alfred Schmidt Migration und ihre sozialen Folgen. Förderung der Gastarbeiterforschung durch die Stiftung Volkswagenwerk 1974–1981 (1983).

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Abbildung 4: Integrationsklima-Index, Quelle: Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration/SVR, 2018: 8.

Fangen wir mit der Religion an: Es gibt kein anderes EU-Land (außer Luxemburg; früher auch Italien), in dem die jahrzehntelange Regierungspartei ein durch eine bestimmte Religion propagiertes Wertesystem vertritt. Die Konflikte um die Präambel der Europäischen Verfassung oder um die Kreuze in Schulen sowie Amtsstuben verdeutlichen dies. Obwohl in den letzten Jahrzehnten – insbesondere seit dem Beitritt der DDR zur BRD – die Zahl der Konfessionslosen auf 42 % gestiegen ist, dominieren noch immer die beiden christlichen Kirchen die Bühne und sind auch die größten Arbeitgeber sowie Grundbesitzer (Statista, 2020). In Deutschland sind Staat und Kirchen – im Gegensatz z. B. zu Frankreich – nicht getrennt, was besonders für Nichtchristen ein großes Integrationshemmnis darstellt.17 Die Zuwanderer sind mit 41 % im Vergleich zu 31 % bei den Einheimischen sogar religiöser (SINUS, 2019). Auf Grund der Zuwanderung gibt es derzeit mehr als 4 Millionen Muslime. Deswegen behauptete Wolfgang Schäuble schon 2006, »der Islam gehört zu Deutschland« (Detjen, 2015) – vor dem damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff 2010. Seither hat der Moscheebau allenthalben zugenommen – wenn dies auch häufig nicht ohne Konflikte verläuft. Inzwischen gibt es auch an zahlreichen Hochschulen eine Imamausbildung, um nicht der Türkei die Hegemonie in diesem Bereich zu überlassen. Bedeutet dies Integration? Ich denke nein, es handelt sich im besten Fall um Multikulturalismus (s. dazu auch Weinmann & Wittlif, 2018). 17 Das bedeutet nicht, dass in Frankreich nicht weniger diesbezügliche Konflikte gibt, obwohl dort der Anteil der Konfessionslosen über 50 % beträgt, aber die dortige katholische Kirche dominanter und konservativer ist.

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Eines der Paradoxe ist noch immer, dass HochschulabsolventInnen von außerhalb der EU zur Rückkehr gezwungen werden, obwohl Bedarf an Fachkräften besteht und auch Geldüberweisungen eine wichtige Unterstützungsfunktion für das Heimatland haben – wichtiger als die Entwicklungshilfe (Nebel, 1998; Rotthoff, 1989, 1995). Das Problem bei der Aufhebung des Rückkehrzwangs ist jedoch der Brain Drain – diese Fachleute sind genauso wichtig in ihrem Heimatland, finden aber dort häufig keine adäquaten Beschäftigungsmöglichkeiten, besonders nicht in der Wissenschaft. Alle deutschen Großstädte sind multikulturell, jeweils weit mehr als 100 Nationen leben in ihnen. Die Ghettobildung, die manchmal zu Brennpunktvierteln führt, ist die eine Seite der Medaille. Wie wir aber aus der Forschung wissen, findet Wanderung kaum individuell sondern in der Regel kollektiv in Form von Ketten-/Clusterwanderungen statt. Die heimatlichen Netzwerke, die Großfamilien, die Herkunftsgemeinschaften bilden Auffangstrukturen im Einwanderungsland. Es handelt sich also im Allgemeinen um eine Etappenintegration in einer multikulturellen Gesellschaft (Boldt, 2019). Diese subkulturellen Strukturen beinhalten andererseits oft Widersprüche zur Aufnahmegesellschaft, indem sie Traditionen und Wertvorstellungen des Heimatlandes perpetuieren, wie z. B. die Unterdrückung der Frau, deren Verschleierung und Bildungsbenachteiligung. Sie beinhalten aber in der Regel auch Heiratskreise – mit allen Vor- und Nachteilen. So sind Erst-, Zweit- sowie Drittgenerationen sehr eng miteinander verbunden.

Gegenbewegungen zur Integration Welches sind nun die Haupthindernisse für eine erfolgreichere, friedlichere Integration? Die Ausgrenzung beginnt mit der Diskriminierung von – insbesondere sichtbaren und namentlichen – Minderheiten. In Bezug auf Integration ist Sprache alles (Ahr u. a., 2016; Neumann, 2017; Niedersächsischer Landtag, 2016). Deswegen gibt es ja Sprach- und Integrationskurse (Lochner, 2018). Nichtsdestotrotz gibt es weiterhin Benachteiligungen im Bildungswesen, die sich u. a. in sogenannten Brennpunktschulen manifestieren (Panagiotopoulo & Rosen, 2017). In vielen Schulklassen hat die weit überwiegende Mehrheit der Schüler einen Migrationshintergrund. Privilegierung und Nichtprivilegierung herrschen in der Bildung seit Jahrhunderten fort (Széll, 1972a). Dabei sind in Deutschland nach den PISA-Studien die Teilhabechancen von Kindern mit Migrationshintergrund im internationalen Vergleich mit am geringsten.18 Die Probleme sind am ex18 In diesem Zusammenhang kommt der Sozialarbeit eine wichtige Funktion zu (Otto & Schrödter, 2006).

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tremsten bei den Analphabeten. Ludger Wößmann behauptet gar: »Zwei Drittel [aller Flüchtlinge, G.S.] können kaum schreiben.« (2015) Die Diskriminierung setzt sich fort auf dem Arbeitsmarkt (Brücker, 2017; Eurofound, 2019; European Trade Union Institute/ETUI, 2019; Fijalkowski, 1990; Höhne & Schulze-Buschoff, 2015; Yeman & Keita, 2019).19 Ein besonderes Problem für Menschen mit Migrationshintergrund bildet der Zugang zum öffentlichen Dienst, wodurch Diskriminierung perpetuiert wird. (Baumann, 2019) Die Arbeitsbedingungen für Ausländer sind häufig von Ausbeutung geprägt, insbesondere bei Illegalen – deren Zahl auf etwa eine Million geschätzt wird. Günter Wallraff hat diese Situation bereits 1988 sehr dramatisch in seinem Buch Ganz unten. Beschreibung des Schicksals von illegal eingeschleusten Arbeitern geschildert. Das Buch erlebte bis heute 23 Auflagen. Die Situation hat sich seither nicht grundlegend verändert, wie die jüngsten Skandale bei den Schlachthöfen zeigen. Dabei zeigen die Gewerkschaften ebenso wie die Arbeitgeber (Salikutluk u. a., 2018) ein ambivalentes Verhalten: Einerseits wollen sie ihre einheimischen Mitglieder und das soziale Sicherungsniveau samt Einkommen schützen, tendieren also zu restriktiver Einwanderungspolitik; andererseits sind sie der internationalen Solidarität verpflichtet. (Heinrich Böll Stiftung, 2013; Pries & Shinozaki, 2015; Schröder, 2015; Trede, 2015, 2016; Treichler, 1998) In letzterem Sinn setzen sich die Gewerkschaften für die Integration von Arbeitnehmern erfolgreich in mitbestimmten Betrieben ein (Schmidt, 2020). Entgegen dem medial verbreiteten Eindruck ist die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt relativ erfolgreich (s. die folgende Abbildung 5). Diskriminierung findet auch auf dem Wohnungsmarkt statt, was die Ghettobildung verstärkt. Selbst wenn die Aufenthaltsberechtigung erwirkt wird, erhalten die Berechtigten häufig Wohnungen dort, wo es keine Arbeitsplätze für sie gibt. Und das absurde Arbeitsverbot für Flüchtlinge und Asylbewerber verhindert nicht nur Integration, sondern ist zudem sehr kostspielig (Lahusen & Schneider, 2017). Als Kollateralschaden werden zahlreiche Menschen in die Kriminalität getrieben. Das soll nicht heißen, dass es unter Zugezogenen auch so Kriminalität, sogar Organisierte Kriminalität gibt. Die Mafia, die libanesischen Clans sowie die türkischen und russlanddeutschen Jugendbanden sind Beleg genug. Aufsehen erregten die Übergriffe von zumeist nordafrikanischen jungen Männern auf der Kölner Platte während der Silvesternacht 2015/16. Dies schien die Neigung von ausländischen Flüchtlingen zu kriminellen und frauenverachtenden Handlungen zu bestätigen. Nach einer Medienkampagne kippte die Stimmung in Deutschland hin zu mehr Fremdenfeindlichkeit. Dabei ist es nicht überraschend, wenn junge Männer ohne jegliche Möglichkeit sexueller Aktivität 19 Für positive Ansätze s. Aumüller, 2016.

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Abbildung 5: Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt.

durchdrehen. Der Bremer Sozialwissenschaftler Gunnar Heinsohn geht von einem Testosteronüberschuss zur Erklärung von männlicher Gewalt aus (2003). Die Kriminalisierung und Absonderung von Flüchtlingen in Lagern – wie auch immer benannt – trägt ebenfalls nicht zur Integration bei. Auch andere Menschen bekommen in ähnlichen Situationen Lagerkoller. Zweifelsohne findet sich unter den Zugezogenen das ganze Spektrum politischer Überzeugungen, einschließlich des Rechtsextremismus, z. B. bei Türken die sogenannten Grauen Wölfe – bis hin zu Fundamentalismus und Extremismus wie Unterstützung des Islamischen Staats. Hinzu kommen interne Konflikte wie die der Kurden gegen die Türken. Erschreckend war für viele bei der letzten türkischen Präsidentenwahl 2018, die der autoritäre Präsident nur knapp gewann. Entscheidend dafür waren die Stimmen aus Deutschland, da die hiesigen Wähler zu zwei Drittel – weit mehr als in der Türkei – Erdogan wählten. Nicht

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unterschätzt werden sollte bei Flüchtlingen auch die Gewalterfahrung von Krieg und die damit verbundenen Traumata als Hindernis zur Integration. Die Abwehrhaltung der Einheimischen gegenüber Zuzug und damit Integration wird durch Fremdenfeindlichkeit ausgedrückt (Bade, 2013b; Engelmann, 1994; Knortz, 1994) und in Form des Nationalchauvinismus, des Rassismus sowie des Judenhasses weiter gesteigert. Rechtsextreme Organisationen und Parteien versuchen seit dem Zweiten Weltkrieg, diese Ressentiments erneut zu kanalisieren (Wikipedia, 2020c; Virchow u. a., 2017). Die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland hat eine lange und furchtbare Geschichte. Bis Mitte der 1950er Jahre wurde das NS-Regime von der Mehrheit der Bevölkerung noch immer positiv und 1945 daher als Niederlage betrachtet. Erst am 8. Mai 1985, während der Gedenkveranstaltung zum vierzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs, wagte der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker zum ersten Mal als ein führender deutscher Politiker den Satz: »Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung.« »Rassistische, fremden- und ausländerfeindliche Proteste und Ausschreitungen sowie Konflikte um Asyl Einwanderung und Migration sind selbstverständlicher Teil der Protestgeschichte Deutschlands nach 1945. … Einwanderung und Protest gingen daher von Anfang Hand in Hand. Zugleich waren beide deutsche Staaten von einer kulturellen Schizophrenie geprägt, in der sich die Mehrheit einer ›migrantischen Realität‹ verweigerte, die spätestens Ende der 1950er Jahre von der deutschen Politik nicht zuletzt aufgrund von ihr bewusst eingeleiteter Schritte geschaffen worden war.« (Gassert, 2018: 243f.)

Nicht nur in Deutschland findet alltäglicher Rassismus statt, hat hier aber aufgrund der Geschichte eine besondere Signifikanz (Böckelmann, 1998; DrewsSilla & Markawska, 2015; Friese, Nolden & Schreiter, 2019). Wobei dem sogenannten Antisemitismus, der Judenfeindlichkeit20 im deutschen Kontext eine spezielle Bedeutung zukommt (Wikipedia, 2020b).21 »Im Jahr 2019 sind im Phänomenbereich PMK [Politisch Motivierte Kriminalität] -rechts986 Gewalttaten verübt worden (2018: 1.156). Darunter fallen u. a. Tötungsdelikte, Körperverletzungen, Widerstandsdelikte und Landfriedensbruch. Körperverletzungen machten mit 734 verletzten Personen im Jahr 2019 den größten Anteil der Gewalttaten im Bereich PMK -rechts- aus. Außerdem wurden 2019 fünf versuchte sowie zwei vollendete Tötungsdelikte begangen (2018: sechs versuchte sowie ein vollendetes Tötungsdelikt). Antisemitische Straftaten sind Teil der Hasskriminalität. Gegenüber dem Vorjahr ist im Phänomenbereich PMK -rechts- mit 1.898 Fällen im Jahr 2019, davon 62 Gewalttaten, 20 Antisemitismus ist diesbezüglich ein verunglückter, wenn auch etablierter Begriff, da alle Araber – sowie andere Völker auch – semitische Sprachen verwenden. Deswegen benutze ich ihn nicht. 21 Noch immer diesbezüglich lesenswert und daher 2019 wieder aufgelegt ist der Vortrag Aspekte des neuen Rechtsradikalismus von Theodor W. Adorno von 1967.

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ein Anstieg der antisemitisch motivierten Straftaten zu verzeichnen (2018: 1.603 Fälle). Damit sind die antisemitischen Straftaten nach wie vor weit überwiegend dem Phänomenbereich PMK -rechts- zuzuordnen (93,4 %).« (BKA, 2020)

Seit 2002 wird am Kompetenzzentrum für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung der Universität Leipzig die rechtsextreme Einstellung in Deutschland untersucht. Im Rahmen dieser als Leipziger »Mitte«-Studien bekannt gewordenen Studienreihe werden im Zwei-Jahres-Rhythmus repräsentative Erhebungen durchgeführt. Die zentralen Ergebnisse der letzten Studie »Flucht ins Autoritäre«: Studie zu rechtsextremen Einstellungen in Deutschland lauten: – »Etwa ein Drittel der Deutschen stimmt ausländerfeindlichen Aussagen zu, die laut Forscher/innen als ›Einstiegsdroge‹ in den Rechtsextremismus gelten. – Die Abwertung von Muslimen und Asylbewerber/innen steigt. – Der Antiziganismus, die Abwertung von Sinti und Roma, bleibt hoch und steigt im Osten an. – Antisemitische Ressentiments sind in der Gesellschaft nach wie vor tief verwurzelt. – Die positive Nachricht: Im Langzeitverlauf ist die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie im Osten gestiegen. Mit der tatsächlichen Praxis ist jedoch nur die Hälfte zufrieden.« (Decker & Brähler, 2018) Wie aus der unten stehenden Abbildung ersichtlich ist in den Neuen Bundesländern Fremdenfeindlichkeit besonders ausgeprägt und erklärt damit gleichzeitig die Wahlerfolge der AfD. Aber auch auf der extrem Linken gibt es etwas, was ich als Sozialnationalismus gekennzeichnet habe (Széll, 2013). Ein Phänomen, das nicht nur in Deutschland, sondern leider weltweit anzutreffen ist.

Abbildung 6: Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, Quelle: Lipkowski & Schulte von Drach, 2018.

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Bilanz Um auf die Eingangsfrage »Ist eine ›harmonische‹ Integration in die Migrationsgesellschaft möglich?« zu antworten, lautet leider die klare Antwort: nein. Harmonie gibt es nur im Himmel oder in der Musik, aber nicht in der Gesellschaft. Es mag ein Ideal sein, nach dem man streben kann, aber es führt in manchen Gesellschaften gar zum Gegenteil, nämlich zu Repression, um mit Gewalt dieses Ideal im Sinne totalitärer Vorstellungen zu verwirklichen. »Big brother is watching you!« Selbst das bescheidenere Ziel einer konfliktfreien Integration ist, wie die menschliche Gattung gestaltet ist, illusorisch. Insofern sollten wir einfach versuchen, Konflikte soweit wie möglich zu reduzieren. Im Rückblick lauten die Fragen: Haben wir es geschafft? Fünf Jahre nach dem berühmten Satz von Angelika Merkel kann man erfreulicherweise feststellen, dass trotz der Zunahme von Rechtsextremismus samt der damit verbundenen Gewalt (Simon, 2020) sich fast überall ein modus vivendi etablierte. Sicherlich spielt dabei auch eine erhebliche Rolle der enorme Rückgang – wenn auch aufgrund der faktischen Schließung der Grenzen – des Zuzugs. Welche Rolle spielt dabei die Politik auf den verschiedenen Ebenen? (Hanewinkel, 2019, 2020; Organization for Security and Co-operation in Europe/OSCE, 2018) – An sich wäre Europa für eine gemeinsame Einwanderungs- und damit Integrationspolitik zuständig. Hier hat die Europäische Union jedoch – trotz einiger positiver Ansätze – fast vollständig versagt (Eichenhofer, 1997). In den letzten Jahren erfolgte sogar eine zunehmende Abschottungspolitik in Richtung Festung Europa. Das liegt hauptsächlich an der fremdenfeindlichen Politik einer Reihe von Mitgliedsstaaten, zu denen auch Deutschland gehört. Eine positive Ausnahme bildet die RICHTLINIE 2000/43/EG DES RATES vom 29. Juni 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft (Ahokas, 2010; Council of Europe, 1999; European Commission, 2019; Forschungsgruppe ›Staatsprojekt Europa‹, 2014; Koopmans, 2019; Koopmans, u. a. 2015; Weidenfeld, 1994); – der Bund hat – wie oben aufgezeigt – jahrzehntelang eine sehr restriktive Integrationspolitik betrieben, die bisher nur halbherzig überwunden wurde (s. o.; Oberndörfer & Berndt, 1992); immerhin sieht die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Potenziale in ihrem Bericht ›Deutschland kann Integration: Potenziale fördern, Integration fordern, Zusammenhalt stärken‹ von 2019 (s. dazu auch Woellert u. a., 2009); die Antidiskriminierungsstelle des Bundes ist eine Bundesbehörde, die im Jahr 2006 nach den Anforderungen des neu eingeführten Allgemeinen Gleichbe-

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handlungsgesetzes eingerichtet wurde und einen jährlichen Bericht herausgibt (2020).22 Dabei wird jegliche Form von Diskriminierung einschließlich ethnischer Herkunft/Rassismus behandelt. Antidiskriminierungsstellen gibt es auch auf Landes- und kommunaler Ebene – teilweise bereits länger als die des Bundes. – die Länder könnten im Rahmen des Föderalismus ihre Spielräume mehr ausnutzen, immerhin gibt es mittlerweile einige Integrationsminister und gar eine Integrationsministerkonferenz (Bundeszentrale für politische Bildung, 2008); es dauerte aber bis 2020 bis das Land Berlin – als einziges bisher – ein Antidiskriminierungsgesetz – entsprechend der EU-Richtlinie verabschiedete; – entscheidend für Integration ist aber letztlich die kommunale Ebene; dort gibt es seit Jahrzehnten Ausländerbeiräte – mit wenig Einfluss – sowie Integrationsämter. Die Situation ist zu heterogen, um sie hier im Einzelnen darstellen zu können (El-Kayed, 2018; Aus Politik und Zeitgeschichte, 2017; Bade, 2007a, 2012). Welche Rolle spielt nun die Zivilgesellschaft? (Bauböck, 1996; Fleischmann, 2016; Heller, 2001; Kleist, 2017) Die Zivilgesellschaft ist ein sehr weites Feld: Sie geht von der Willkommenskultur bis zu rechtsextremen Gewalttätern. Sie ist entscheidend für den Zusammenhalt einer Gesellschaft und deswegen für die Integration sehr bedeutsam (Kirsch, 1988). Schiffauer u. a. gaben 2017 das Buch ›So schaffen wir das. Eine Zivilgesellschaft im Aufbruch‹ mit 90 wegweisenden Projekte mit Geflüchteten heraus, das Mut macht. Auch die Wissenschaft gehört in all ihren Facetten im Allgemeinen zur Zivilgesellschaft. Was kann sie nun zur Integration beitragen? Sie kann schon einmal bei sich selber damit anfangen (von Blumenthal, 2017). Entgegen einigen gescheiterten Versuchen nationaler Wissenschaften ist Wissenschaft per Definition universal und international. Insofern findet zumeist eine diskriminierungsfreie Kooperation statt. Der weltweite diesbezügliche Brain Drain sowie die hohe Mobilität mögen als Indikatoren dienen. Die Migrationsforschung ist mittlerweile gut ausgebaut und international vernetzt, so dass wir in den nächsten Jahren weiterhin relevante Beiträge erwarten. Wie es mit deren Impact aussieht, ist jedoch eine andere Frage, auf die ich ganz am Ende zurückkomme. Welche Rolle spielen schließlich die Medien für die Integration? (Arlt & Welling, 2016; Fengler & Kreutler, 2020) Auch hier haben wir in sehr weites Spektrum: Es reicht von den traditionellen Medien – privat und öffentlichrechtlich – bis zu den sogenannten sozialen Medien (Széll, 2019). Bei den Medien handelt es sich um sogenannte Tendenzbetriebe, d. h. das Unternehmen kann 22 S. dazu auch Wichtige Entwicklungen beim Diskriminierungsschutz im Jahr 2014. Ein Jahresrückblick (2015).

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nach eigenem Gutdünken die Tendenz bestimmen. In Deutschland ist dafür die BILD-Zeitung das berühmt-berüchtigtste Beispiel (Wallraff, 1977). Aber ähnliche Medien gibt es in fast allen Ländern. Die öffentlich-rechtlichen Medien werden durch Beiräte – bestehend aus Mitgliedern aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen – kontrolliert.23 In Bezug auf Integration dominieren leider mehr negative als positive Informationen, da bekanntlich negative eine höhere Aufmerksamkeit und damit mehr Werbeeinnahmen generieren – außer im Sport. Systematische Desinformationen gab es in der Menschheitsgeschichte zwar schon immer, sie haben jedoch durch die sozialen Medien an Virulenz gewonnen. Und auch die kognitive Dissonanz ist ein allgemeines Phänomen (Koopmans, 2016). Im real existierenden Kapitalismus geht es letztendlich um das Wohlergehen der Ökonomie. Es wird dabei das für und wieder von Zuwanderung nach den Vorteilen für die Nationalökonomie und die Unternehmen kalkuliert. Aber hinsichtlich Flucht und Asyl stehen diese im Prinzip außerhalb des ökonomischen Kalküls, da es sich um Rechte handelt. In Bezug auf diesbezügliche Obergrenzen sind diese auch nicht anwendbar, trotzdem gibt die Politik dem ›gesunden Volksempfinden‹ in dieser Hinsicht oft nach. Nichtsdestotrotz müssen auch Asylbewerber und Flüchtlinge finanziert werden (Hentze, 2017). Ändert sich nun mit/nach Covid-19 die Integrationspolitik? (Széll, 2020) In jeder Krise brechen gesellschaftliche Konflikte auf (Kim & Széll, 2011). Die Politik ist die Kunst des Möglichen, d. h. die Kunst besteht darin, tragfähige, dauerhafte Kompromisse zu finden. Karl R. Popper schrieb während des Zweiten Weltkriegs Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Das Buch ist so aktuell wie damals (2003). Kommen wir abschließend zu unserem Ausgangspunkt zurück, den vier Kategorien aus der Abbildung 1: Assimilation findet nur in Einzelfällen – z. B. bei gemischten Ehen – statt. Die Akkulturation ist ein Randphänomen, Exklusion weit verbreitet. Die Regel ist der Multikulturalismus. Und das ist auch gut so. Ziel aller Integrationspolitik muss das friedliche, diskriminierungsfreie Zusammenleben sein (Zoll, 1999). Dafür ist Toleranz, eine Errungenschaft der Aufklärung, Voraussetzung. Ob wir das auf Dauer schaffen, ist zu hoffen, auf Grund der historischen Erfahrungen und den derzeitigen Konflikte leider immer gefährdet. So zog der führende deutsche Migrationsforscher, Klaus J. Bade, bei seinem Rückzug aus der Forschung und Politikberatung ein bitteres Resümee, dem ich nichts Weiteres hinzuzufügen vermag:24 23 Als Beispiel sei der ZDF-Fernsehrat heraus gegriffen: Von seinen 61 Mitgliedern sind zwei mit Migrationshintergrund (türkisch) – weit unter ihrem Bevölkerungsanteil. Pikanterweise wollen die Rechtsextremen auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abschaffen, um Verhältnisse wie in den USA mit der Dominanz des rechtsextremen Privatfernsehens FOX zu etablieren. 24 Ich selbst habe – jedoch schon einige Jahre zuvor – dieselbe Konsequenz gezogen.

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»Mein Rückzug aus der politikorientierten öffentlichen Diskussion hatte …, vor allem .. mit einer zunehmend ermüdenden Erfahrung zu tun: Trotz mühsam erkämpfter Fortschritte und beachtlicher Neuorientierungen dreht sich in der politischen Gestaltung von Flucht und Asyl, Zuwanderung und Integration in einer Mischung von mangelnder Lernbereitschaft und opportunistischer Angst vor dem Bu¨ rger als Wähler seit Jahrzehnten oft vieles im Kreise. Immer wieder werden in früheren politischen Diskussionen besserwisserisch abgewiesene oder gar wütend zertrampelte Ideen und Anregungen historisch verspätet und erinnerungslos von den einen als Eigenleistung wiederentdeckt – um dann von anderen erneut abgewiesen zu werden.« (Bade, 2018: 68; s. dazu auch Bade, 2007b)

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Wolfgang Kaschuba

Integration der Gesellschaft: Die zentrale Agenda der Moderne – ein Essay

In der Debatte um die Migrationsgesellschaft in Deutschland scheint es in den letzten Jahren immer weniger um Daten und Fakten zu gehen, stattdessen immer mehr um Bilder und Gefühle. Es sind offenbar die Wirkungen einer populistisch forcierten Wahrnehmungs- und Abwehrpolitik gegen den globalen Wandel, die der entgegengesetzten Perspektive von sozial praktizierten und historisch etablierten Erfahrungs- und Integrationsprozessen immer weniger Raum geben wollen. Im politischen Feld soll so Reflex statt Reflexion gelten und Dystopie die Utopie verdrängen – und dies keineswegs mehr nur auf der extremen politischen Rechten. Mein kurzer Essay soll diese konfrontative Konstellation aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten: die eine aus der Migrationsperspektive, die andere aus der Gesellschaftsperspektive. Beide Blickrichtungen zusammen versuchen die Positionen einer gesellschaftlichen Integrationspolitik historisch zu skizzieren und kulturell zu markieren, die mit den »nationalen Lebenslügen« deutscher Nachkriegsgesellschaften endgültig Schluss machen muss. Und dies gerade auch nach den dramatischen Erfahrungen im ersten Jahr unseres »Lebens mit Corona«, in dem die existentielle Bedeutung von gesellschaftlichem Zusammenhalt wie internationaler Solidarität für uns alle so spürbar und greifbar wurde. Daher versucht meine erste kurze Standortbestimmung – quasi rekapitulierend – einen eher historisch angelegten und demographisch argumentierenden Abriss zur Geschichte und Gegenwart deutscher Ein- und Auswanderungen. Die zweite längere Positionsbestimmung fragt dann nach den aktuellen Hindernissen wie Voraussetzungen für eine wirksame Integrationspolitik, also nach den notwendigen kognitiven Schritten, um nicht nur vom Einwanderungsland zur Einwanderungsgesellschaft zu kommen, sondern schließlich auch gemeinsam endlich in jener »Gesellschaft der Lebensstile« anzukommen, in der so viele von uns längst und gerne leben. Auch dies hat uns die Corona-Krise mit all ihren Verlusten an öffentlichen Räumen und Strukturen wie an gesellschaftlicher Mischung und Nähe wohl schmerzlich bewusst gemacht.

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I.

Wolfgang Kaschuba

Migration ist die Mutter von Gesellschaft

Unser Mann aus Ingolstadt1 und für das Grobe hat im Herbst 2018 das zweifelhafte Bonmot des Jahres produziert: Migration sei die Mutter all unserer Probleme. Dieses Bonmot ist eigentlich ein Malmot, da ein selten unhistorischer und törichter Satz – zumal in einem historischen Einwanderungsland wie in Deutschland. Denn gerade das deutsche Beispiel zeigt, dass es sich genau umgekehrt verhält. Migration ist keineswegs die Mutter all unserer Probleme. Migration ist vielmehr die »Mutter von Gesellschaft«! In den letzten drei- bis vierhundert Jahre sind Einwanderung und Auswanderung, Migration und Flucht nie das ursächliche Problem deutscher Geschichte und Gesellschaft gewesen, sondern stets Teil seiner gesellschaftlichen Lösung. Das zeigt schon ein flüchtiger Blick zurück auf die wichtigsten Stationen unserer Wanderungsgeschichte: – auf das Ende des 17. Jahrhunderts etwa, mit der massenhaften Einwanderung der französischen Hugenotten nach Preußen, die als protestantische Religionsflüchtlinge in Berlin dann zeitweise 30 % der städtischen Bevölkerung ausmachen, – dann auf das 19. Jahrhundert, in dem mehr als sieben Mio. Deutsche in die USA auswandern; nach heutigem ordnungspolitischen Sprachgebrauch fast alle »Wirtschaftsflüchtlinge«, – auf die Zeit um 1900, als eine Million polnischer Bergarbeiter ins Ruhrgebiet geholt werden, – auf die Jahre um 1918, als fast eine halbe Million russischer Revolutionsflüchtlinge vorzugsweise nach Berlin kommen, vorzugsweise nach »Charlottengrad«, – auf die Zeit zwischen 1933 und 1945, als viel zu Wenigen die Flucht vor dem Massenmord der Nazis im Holocaust und der Verfolgung Andersdenkender gelingt, – auf das Jahr 1945 als 14 Millionen Flüchtlinge, Heimatvertriebene und Displaced Persons, also KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter beiderlei Geschlechts, durch Deutschland irren, weder in der späteren BRD noch DDR wirklich willkommen, – auf die Zeit zwischen den 1960er und 80er Jahren, als von 12 Millionen sog. »Gastarbeitern« aus der Türkei, Italien, Spanien und anderen Ländern sich schließlich 4 Millionen nicht an das vereinbarte Arbeitskräfte-Rotationsprinzip halten, sondern einfach im kalten Germanien bleiben, – auf die Jahre nach 2000, in denen fast unbemerkt eineinhalb Millionen Menschen aus Polen zu uns gekommen sind,

1 Der Autor spielt auf den ehem. CSU-Vorsitzenden Seehofer an (Anm. der Red.).

Integration der Gesellschaft: Die zentrale Agenda der Moderne – ein Essay

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– oder nun eben auf die Jahre seit 2015 mit rund 1 Million Geflohener – vor allem aus Syrien, Afghanistan und afrikanischen Krisenstaaten.2 In jedem dieser historischen Fälle bedeutete die massenhafte Einwanderung oder Auswanderung die Lösung oder jedenfalls Milderung einer politischen oder ökonomischen Krise: weil dadurch jeweils Kriegs- wie Krisenfolgen abgemildert, weil damit Arbeitskräftemangel wie demographische Defizite ausgeglichen, weil dabei neue politische wie soziale Generationsentwürfe ermöglicht wurden. All diese Migrationsbewegungen machten Deutschland historisch wie empirisch längst zum Einwanderungsland – aber eben noch nicht zu einer Einwanderungsgesellschaft, die nämlich bewusst und aktiv aus dieser ihrer Geschichte gelernt hätte. Denn es gehört neben der langen Verdrängung des Holocaust eben auch zu den Lebenslügen der deutschen Nachkriegsgesellschaft, dass sie diese vielen und vielfältigen Kapitel ihrer Ein- und Auswanderungsgeschichte nie als ein ihr eigenes und wesenhaftes historisches Faktum und damit auch nie als ein ihr wesentliches nationales Narrativ akzeptieren wollte. Deswegen also nochmals den Seehofers und anderen ins Stammbuch, dass gerade in Deutschland die Migration keineswegs »die Mutter all unserer Probleme« ist, sondern vielmehr und umgekehrt »die Mutter von Gesellschaft«. Sonst wäre eben nicht nur die CSU, sondern wären wir alle immer noch mit Steinzeitkonflikten zwischen bayerischen und fränkischen Horden beschäftigt. Oder seriöser formuliert: Der Erkenntnisschritt vom Einwanderungsland hin zur Einwanderungsgesellschaft in Deutschland war und ist sowohl im Blick auf die nationalen wie globalen Migrations- und Fluchtbewegungen als auch auf die kulturellen wie politischen Bewegungen in unserer gesellschaftlichen Gegenwart längst überfällig. Dennoch wird er auch jetzt nur sehr zögerlich getan. Nicht von ungefähr blieb in der innerdeutschen Politik- und Mediendebatte lange Zeit offen, ob vom Deutschen Bundestag nun wieder verklausulierend über ein »Fachkräftezuwanderungsgesetz« oder eindeutig über ein »Einwanderungsgesetz« beschlossen werden soll.3 – Während andere draußen – etwa das letzte Weltwirtschaftsforum – den Deutschen nach und wegen ihrer humanitären Haltung in der Flüchtlingsfrage der letzten Jahre weltweit die höchste gesellschaftliche und wirtschaftliche Innovationsfähigkeit bescheinigt haben. Damit lehnen auch sie jedenfalls einen Paradigmenwechsel in der Migrationsfrage nachdrücklich ab:

2 Zum Gesamtkomplex Migration s. Klaus J. Bade: Migration – Flucht – Integration: Kritische Politikbegleitung von der ›Gastarbeiterfrage‹ bis zur ›Flüchtlingskrise‹. Karlsruhe 2017. 3 Beschlossen wurde inzwischen das »Fachkräfteeinwanderungsgesetz« vom 15. August 2019 – vgl. Bundesgesetzblatt v. 20. 08. 2919 (Anm. d. Red.).

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Deutschland bewältige die Globalisierung besser als andere nicht trotz, sondern wegen seiner zunehmend offenen Gesellschaftspolitik!

II.

Integrationspolitik als Gesellschaftspolitik

Aus der anderen, der gesellschaftlichen Blickrichtung formuliert mein zweiter Titel und Teil kurz und knapp die These, dass »Integration« in der Moderne die zentrale politische Aufgabe verkörpert und dass sie zugleich stets und nur als gesamtgesellschaftliches Konzept zu verstehen ist.4 Dass Integration also keineswegs verengt werden darf auf einen gesellschaftspolitischen Reflex im Angesicht von Flucht und Migration – wie dies aktuell in vielen europäischen Ländern und auch in der deutschen Debatte zumeist geschieht. Und wenn diese These eingangs bereits eines Kronzeugen bedarf, um die drängende Aktualität wie die Sinnhaftigkeit dieser Perspektive zu belegen, dann nehme ich dafür nicht etwa einen soziologischen Theoretiker wie Max Weber – der kommt nachher.5 Vielmehr rufe ich dafür den politischen Praktiker Donald Trump in den Zeugenstand, also jenen egomanischen Spekulanten, der als Präsident mit seiner Politik genau das Gegenteil von Integration betreiben konnte: eine aggressive Des-Integrationspolitik zum Zweck der inneren sozialen Polarisierung und der institutionellen Destabilisierung der US-amerikanischen Gesellschaft – von seiner internationalen Isolationspolitik ganz zu schweigen.

Desintegration als Machtkonzept Donald Trump verkörpert politisch wie biografisch nur das folgerichtige Produkt einer Gesellschaft, in der kapitalistische Investition und spekulative Intervention zwei wesentliche Antriebsachsen für eine allein rendite-orientierte Wirtschaftspolitik und für eine rein machtbezogene Gesellschaftspolitik bilden: letztlich für eine neoliberale Gesellschaft und für populistische Autokratie. Da wird soziale Einfalt teilweise offen rassistisch gegen kulturelle Vielfalt ausgespielt. Da werden alte weiße Männer und Frauen hofiert, während Migranten und Geflüchtete, junge Frauen und schwule Männer diskriminiert werden. Da werden demokratische Presse, staatliche Rechtsorgane, kritische Forschung verteufelt und wissenschaftliche Fakten einfach durch beliebige Fakes ersetzt und rundweg geleugnet. Und dies keineswegs nur dummdreist und arrogant wie in Trumps 4 Vgl. auch die Beiträge in diesem Band zum Begriffsumfang von »Integration« von Szell, von Kerber, und von Lin-Hi/Reimer (Anm. d. Red.). 5 Weiterer Bezug auf Weber s. unten Abschn. »Reflexive Moderne?« (Anm. d. Red.).

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persönlichen Tweeds, sondern oft durchaus geschickt verpackt in der strategischen Gestalt einer gezielten Kampagnenpolitik der systematischen Desinformation und der manipulativen Medienarbeit. Mit Hilfe der neuen Medienportale wie Facebook, Youtube oder Twitter wird dabei ein direkter Zugang zur Einzelperson gesucht, die nun nicht mehr durch gemeinsame vermittelnde – und eben auch: reflektierende – Nachrichten- und Wissensformate informiert, organisiert und damit in gewisser Weise auch versichert wird. Vielmehr ist das Individuum nun einem Bombardement von bewusst erratischen und irritativen Fake-News ausgesetzt, die allein darauf abzielen, wissenschaftlich begründete Wissenshorizonte und gesellschaftlich integrative Werthaltungen bewusst zu zerstören und an ihrer Stelle diffuse Bedrohungsszenarien und Ängste aufzubauen. Dies geschieht vor allem im Blick auf zentrale gesellschaftliche Zukunftsthemen wie Migration, Klimaerwärmung, Geburtenkontrolle oder Gentechnologie. Und diese Desinformationspolitik begann auch keineswegs erst mit den europäischen Rechtspopulisten oder mit Donald Trump, vielmehr war und ist dies schon lange das strategische Ziel einer globalen wie nationalen Kommunikationspolitik großer industrieller Komplexe – vor allem aus der Energie-, Chemie- und Medienwirtschaft. Trump & Co. fegten insofern heute nur die bislang noch eher zersprengten Themen und Haltungen zusammen, bündelten sie neu und außerhalb der herkömmlichen medialen Systeme in aggressiven Diskursen und Hasskampagnen. Und sie stilisierten sich dabei selbst mit extremem medialem Aufwand über weitverzweigte Twitter- und Hass-Netze zu einer Bewegung »von unten« gegen »die da oben« – wobei sie sich ganz bewusst auch einen »zivilgesellschaftlichen« Anstrich zu geben versuchen, indem sie entsprechende Symbole und Gesten gegen das angeblich vereinigte politische, administrative und intellektuelle Establishment einsetzen. Dabei hat dieser Präsident in den vergangenen 50 Jahren seine Geschäfte stets gerade dort betrieben, wo wir eigentlich die Herzkammern unserer pluralistischen und demokratischen Gesellschaften sehen: in den offenen großen Städten und in ihren öffentlichen Räumen. Dort aber, in den Metropolen, meint Trumps Metier, das Immobiliengeschäft, eben gerade nicht wirtschaftliche wie politische Mitarbeit an der Entwicklung der Stadtgesellschaft. Vielmehr meint es ganz im Gegenteil: Kampf um die private Verfügungsmacht über öffentliche und gemeinsame Ressourcen, also über bewohnbare Gebäude und über soziale Lebenswelten. Und damit auch über jene urbanen Räume, die entweder eine offene und vielfältige Gesellschaft beherbergen können – oder denen diese beherbergende Funktion durch kapitalistische Spekulation genommen wird. Nun wissen wir, dass Donald Trump sein Vermögen von seinem Vater Fred geerbt und sein Handwerk von ihm gelernt hat. Und dies eindeutig in der spekulativen Variante: als Akteur und Profiteur von urbaner Vertreibung, Gentri-

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fizierung und Kapitalisierung. Dies begann bereits vor 50 Jahren in New York, in den einst sozial gemischten Quartieren von Brooklyn, Queens und Manhattan. In dieser spekulativen Perspektive jedoch auf die Stadtgesellschaft meinte »gemischt« für Trump und Konsorten allerdings schon damals keineswegs vielfältig und bunt, sondern vielmehr: divers, heterogen, unterschiedlich. Unterschiedlich also im Blick auf die ökonomischen Mittel wie den sozialen Status, auf die ethnische Herkunft wie die religiöse Orientierung der verschiedenen städtischen Bevölkerungsgruppen. Genau auf dieser Perspektive des sozialen Unterschieds und der sozialen Spaltung basierte damals auch seine Geschäftsmethode und basiert heute seine Gesellschaftspolitik: Es ist die strategische Setzung und die wirtschaftliche Nutzung von »Differenz« in der Stadt, in deren schmale wie breite Fugen der Spekulant systematisch seine Keile hineintreibt. In der er Wohnungen und Gebäude, Räume und Nachbarschaften flächig entsozialisiert und entsolidarisiert. In der er damit den Stadtraum wie die Stadtgesellschaft in einzelne Parzellen und Parteien aufteilt, um sie so – getrennt und geschwächt – in Konkurrenz zueinander zu setzen und damit leichter seinen privaten Verwertungszwecken zuführen zu können. Das Ergebnis dieser Politik sehen wir heute dramatisch zugespitzt wiederum in den großen Städten der USA wie Europas. Sichtbar vor allem in ihrer extremen gesellschaftlichen Ambivalenz: als Orte von großer individueller Freiheit wie von großer sozialer Not, als sozial inklusive wie als konsumtiv exklusive Räume, als Labore der Zivilgesellschaft wie als Labore des Turbokapitalismus. Diese Gegensätze wirken und formieren sich in den Metropolen oft in unmittelbarer räumlicher Nachbarschaft: verschärft durch eine Politik der moralischen Diskriminierung – wie etwa der systematischen Beschimpfung und Beschämung von alleinerziehenden Müttern als »Sozialversager« oder von Flüchtlingen als »Asyltouristen«, durch die moralische wie ethische Fundamente der Gesellschaft zerstört werden. Geradezu symbolisch verkörpert sich diese Ambivalenz auch in der Person und Politik von Donald Trump selbst, der so einerseits als legitimes Kind seiner Zeit und der großen Stadt erscheint – und andererseits und umgekehrt als deren größter Feind. Obgleich auch er in jedem zweiten Satz behauptete, Gesellschaft integrieren und einen zu wollen, sollte doch gerade sein Mantra »Amerika first« die historische Grundtextur der Stadt als dem gleichsam genetischen Ort von Offenheit und Vielfalt in ihr völliges Gegenteil verkehren: in eine verstockte lokale Welt der Einheimischen, in das Homeland eines weißen und alten Amerika, dessen gemeinsames Credo »rifle and bible« bilden. Doch zum Glück ist sich gerade die Stadtgesellschaft des Wertes ihrer Offenheit und Freiheit sehr wohl bewusst. Denn sie profitiert wesentlich vom gegenseitigen Respekt der urbanen Gruppen und vom Schutz ihrer Minderheiten

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und bleibt daher als lebensweltliche Ordnung auch »resilient«, widerstandsfähig. Deshalb sind die Trumps und die Le Pens und die Gaulands samt ihren reaktionären Gefolgschaften alle keine Freunde der großen Stadt: weil deren liberale und kosmopolitische Kultur ihnen buchstäblich »fremd« ist.

Volk statt Gesellschaft? Mit Donald Trump wollte ich also gleich eingangs und ex negativo illustrieren, wie sehr »Integration« in der Moderne tatsächlich ein permanenter gesamtgesellschaftlicher und nachhaltiger Prozess ist. Sie meint eben nicht ein Sonderphänomen, mit dem uns erst neuerdings die Migranten und Geflüchteten konfrontiert hätten. Vielmehr ist damit ein zentraler und gemeinsamer Kampfplatz markiert, auf dem der politische und ethische Grundkonflikt um den Charakter unserer Gesellschaften ausgetragen wird. Insofern klingt es in gewisser Weise paradox, wenn wir zugleich feststellen müssen, dass es heute offensichtlich gerade die intensive Debatte über Integration ist, die in vielen Bereichen eine intensive Praxis gesellschaftlicher Integration verhindert. So argumentieren jedenfalls die Rechtspopulisten von Ungarn bis in die USA: dass nicht erst die physische Präsenz von »Fremden«, also von Migranten und Geflüchteten, eine unerwünschte Zumutung für ihre Nationalgesellschaft darstelle, sondern dass dies bereits für die Diskussion darüber gelte. Dass also allein schon die öffentliche Vorstellung dauerhafter Zuwanderung und die permanente Diskussion darüber zu einer Art von mentalen »Umvolkung« führe. Dadurch bereits würden die »Bilder vom Eigenen«, vom wahren nationalen und ethnischen Ursprung relativiert, bedroht und verwischt. Und damit würde uns von ihnen, von den fremden »Invasoren«, der Kulturkampf gewaltsam aufgezwungen. Deswegen führt die Rechte in Europa wie den USA diese Diskussion um Zuwanderung ihrerseits ebenfalls in Permanenz: um Migration durch eine systematische Thematisierung, Skandalisierung und Hysterisierung letztendlich zu verhindern. Und diese Strategie eines kulturell und mental mobilisierenden Alarmismus funktioniert ganz offensichtlich bis weit hinein in konservative bürgerliche Milieus und Parteigruppierungen: Die Strategie der ständigen »Debattierung« der Integration schafft so in der Tat praktische des-integrative Effekte. So schrieb der Salzburger Schriftsteller Klemens Renoldner einst zum Wahlsieg der Österreichischen Volkspartei6: »Der Erfolg kam zustande, weil sich Se6 Der Autor bezieht sich hier auf das Ergebnis der Nationalratswahlen am 15. Oktober 2017 (Anm. d. Red.).

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bastian Kurz ein Thema vom rechten Rand holte und es auf adrette Weise im bürgerlichen Wohnzimmer präsentierte: den Hass auf Ausländer. Kurz ist es gelungen, den Rassismus in der Mitte der Gesellschaft salonfähig zu machen. Das ist der eigentliche Skandal. Er hat alle politisch relevanten Fragen mit dem Thema Flüchtlinge verbunden, gerne auch mit islamischen Terroristen, die bekanntlich den Berufstätigen in Österreich den Weg zum Arbeitsplatz versperren, Kinder am Schulbesuch hindern und uns im Kaffeehaus die Butter vom Brot stehlen.«7 Und in Italien zeigen repräsentative Umfragen aus dem Juli 2018, dass die Bevölkerung den dortigen Ausländeranteil aktuell auf 26 % schätzt. Tatsächlich beträgt er nur 9 %, wird also dreifach überschätzt. Es ist ein bewusst herbeigeführter alarmistischer Hall-Effekt, bei dem das fremdenfeindliche und rassistische Trommeln seine Wirkung zeigt. Der Direktor der italienischen Rentenkasse sprach angesichts solcher Effekte von bewusster politischer Desinformation der rechten Regierung: Sie wolle damit eine demografisch und ökonomisch notwendige Zuwanderungspolitik Italiens bewusst verhindern. Woraufhin ihm der damalige Innenminister Salvini von der rechtsradikalen Lega Nord mit Entlassung drohte. Gegen dieses Konzept also der strategischen Ethnisierung und Hysterisierung sozialer Phänomene müssen heute verantwortungsvolle Politik und Medien, muss insbesondere auch die Wissenschaft noch deutlicher und entschiedener als bisher argumentieren und sich positionieren. Und dies eben keineswegs nur im engeren Bereich einer Migrations- und Integrationsforschung, sonst gerät das Thema in genau jene Schieflage der öffentlichen Isolierung und der diskursiven Ghettoisierung, in die es die Rechtspopulisten zu schieben versuchen. Dann erscheint das Wortpaar »Migration und Integration« tatsächlich als der Auslöser für alle gesellschaftlichen Problemlagen und als der Inbegriff für politische Problemdebatten: als ob hier die Ursache alle jener Konflikte zu finden sei um Arbeits- und Wohnungsmärkte, um Bildungs- und Geschlechterfragen, um nationale und religiöse Selbstbilder, um Renten und Kita-Plätze, die unsere Gesellschaften heute umtreiben. Und als ob hier zugleich auch der Schlüssel zu deren endgültiger Lösung bereit läge. Dies jedenfalls versuchen die Rechtspopulisten immer wieder zu beschwören: Wenn »wir« nur wieder »unter uns« wären: die »wahren« Deutschen, Franzosen, Amerikaner – für uns, ohne jene lästigen Fremden. Und auch die Entwicklungen in den USA wie in Polen, in Ungarn wie Tschechien zeigen, wie dort ethnische und nationale Abschottungspolitik ebenfalls unter dem Stichwort der »Integration« antritt, um dann als explizit »völkische« Gesellschaftspolitik verstanden und vor allem: staatlich exekutiert zu werden. Den »korrupten Eliten« und der »Lügenpresse« wird das wahre und reine Volk gegenübergestellt: als eine dop7 Der Tagesspiegel 1. 11. 2017.

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pelte ethnische wie moralische Kategorie, die für die Rechtspopulisten und ihre Anhänger letztlich legitimatorisch auch über der Demokratie und der Republik steht.8 Nun wird – wer auch historisch und begriffsgeschichtlich denkt – mit dem Begriff wie dem Konzept der »Integration« ohnehin seine Probleme haben. Die Kritik daran zieht sich jedenfalls durch die wissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre. Als zu groß erscheinen einerseits die semantischen Prägungen und ideologischen Belastungen des Integrationskonzepts in der Vergangenheit, denn diese legten stets die Perspektive einer angeblich »eingeborenen« Gesellschaft zu Grunde, die sich daher als kulturell homogen und als ethnisch geschlossen verstehen wollte. So stand in Deutschland noch die Gastarbeiter-Politik der 1960er und 70erJahre explizit unter dem Motto der »Rotation« statt der »Integration«: Die fremden Arbeitskräfte aus Italien oder der Türkei sollten nach einigen Jahren der Arbeit gefälligst in ihre Herkunftsländer zurückgehen. Dieses verweigerte Selbstbild als Einwanderungsland prägte die deutsche Debatte insgesamt noch bis vor wenigen Jahren. Und daher und damit blieben auch die ethnisch-nationalen Untertöne in der Diskussion um Integrationspolitik so dominant. Andererseits jedoch ist das Schlagwort von der Integrationspolitik mittlerweile europa- wie weltweit zu einer Leitformel geworden auch für neue Konzepte und reflexive Formen der Gesellschaftspolitik. Für eine Politik, die allmählich auch die Rahmenbedingungen globaler Wanderungsbewegungen und nationaler Einwanderungsgesellschaften mit zu bedenken beginnt. Integration scheint insofern also als politische Formel trotz all ihrer historischen Belastungen und trotz ihrer semantischen Unschärfen eben auch die Königsdisziplin spätmoderner Gesellschaften zu umschreiben: die gemeinsame Suche nämlich nach einer Verständigung darüber, wie wir unsere sozialen und kulturellen Ressourcen fair organisieren, wie wir deren Nutzung gerecht und nachhaltig gestalten und wie wir uns dabei in gemeinsamen Bildern, Werten und Erinnerungen wiederfinden können. Und dies gelingt eben nicht mehr im engen nationalen und alten ethnischen Politikmodus, sondern nunmehr nur unter den Bedingungen globaler Ökonomie, Demographie, Kultur und Umwelt. Die Zeitung Le Monde titelte kürzlich: »L’intégration à sense unique« – darum gehe es nun.

Reflexive Moderne? Von Integration handelt zugleich auch die wohl wichtigste historische Unterscheidung zwischen den modernen und den vormodernen Gesellschaften: als fundamentaler Unterschied zwischen Lebenswelten heute der sozialen Öffnung, 8 Vgl. FAZ 6. 10. 2018.

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früher der sozialen Schließung. Denn in der Vormoderne bedeutete Integration vor allem dies: eine systematische Politik der sozialen Abschließung in kleinen Verbänden, also in Gestalt von Dorfgemeinschaften und Stadtbürgerschaften, faktisch alle mit dem Ziel der sozialen Integration nach innen und der scharfen Abgrenzung nach außen. Denn es galt, die begrenzten lokalen Ressourcen zu verteidigen: Land, Jagd, Handwerk, Holz, Nahrung als die nicht beliebig vermehrbaren Ressourcen, als buchstäbliche Lebens-Mittel, die daher auch nicht einfach mit Neuen, Fremden geteilt werden konnten. So lautete das historische Überlebensprinzip. Erst die modernen Gesellschaften ermöglichen durch ihre industriekapitalistische Organisationsform und ihr ökonomisches Wachstum dann auch eine quantitative wie qualitative Erweiterung der Gesellschaft: in Gestalt von Großstädten und Massenkultur! Mobilität und Handel, Vielfalt und Fremdheit werden so zu geradezu systemischen Voraussetzungen der Moderne. Damit tritt integrationspolitisch auch an die Stelle von abwehrendem »Reflex« gegen Fremdes nun die abwägende »Reflexion«: statt der instinktiven Schließung nun also die überlegte Öffnung der Gesellschaft. Und dieser gravierende mentale Paradigmenwechsel verkörpert nun beides zugleich: ihr künftig zentrales Problem wie ihre zentrale Chance.9 Auf diesen entscheidenden zivilisationsgeschichtlichen Wirkungszusammenhang haben uns bereits die sozialwissenschaftlichen Klassiker immer wieder nachdrücklich hingewiesen.10 Wie ein Max Weber, der »soziales Handeln« als immer neue Orientierung auf eine gemeinsame Ethik der Gesinnung und der Verantwortung für die Gesellschaft verstanden wissen wollte. Oder ein Émile Durkheim, der das Verhältnis von individueller Autonomie und gesellschaftlicher Abhängigkeit, von Personalisierung und Solidarisierung in der leitenden Idee einer »organischen Solidarität« ausbalanciert sehen wollte11. Oder ein Georg Simmel, der die Figur des Fremden als so zentral betrachtete: den modernen Fremden, der in der Stadt bleibt, weil er bleiben darf, weil hier buchstäblich BeDarf an Neuen und an Neuem besteht12. »Moderne« Gesellschaft also im Sinne wachsender Bevölkerung und sich mischender sozialer Milieus entsteht vor allem mit den Neuen, den Fremden. Und sie entsteht zunächst in den Städten, durch die Zuwanderung von Menschen, von Ideen und von Waren, also durch Migration und Markt. – Deshalb ist Migration die Mutter von Gesellschaft. Deshalb bezeichnet Max Weber die mo9 S. dazu Wolfgang Kaschuba: Die Überwindung der Distanz. Zeit und Raum in der europäischen Moderne. Frankfurt a.M. 2004. 10 Zu den soziologischen Klassikern Max Weber und Georg Simmel vgl. unten den Beitrag von Kerber (Anm. d. Red.). 11 Durkheim, Emile: Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt a.M. 1977. 12 Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben. Frankfurt a.M. 2006.

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derne Stadt als den »Ort der Zusammengesiedelten« – nicht mehr nur der Eingeborenen und Einheimischen wie vorher. Und deshalb beschreibt er die Stadt auch als den »Raum des Aufstiegs aus der Unfreiheit in die Freiheit«, denn erst dort, in der Stadt, könne sich tatsächlich »Weltfreude« – wie er es nennt – entwickeln13. Es ist also diese gesellschaftliche Energie und Dynamik, aus der sich die Europäische Stadt geformt hat – als Entfaltungsraum, als Labor der fortschreitenden ökonomischen Differenzierung, der sozialen Mischung und der kulturellen Vielfalt.

Gesellschaft der Lebensstile? Integration im Sinne dieser Weber’schen »Weltfreude« setzt damals wie heute jedoch voraus, dass es ein politisch-soziales Gefüge gibt, das uns allen gemeinsame Bedingungen der Verständigung über, des Zugangs zu und der Teilhabe an Gesellschaft ermöglicht. Also zum einen feste strukturelle wie soziale Politiken der demokratischen Integration und zum andern gemeinsame Vorstellungen über die Legitimität eines Tableaus sozialer wie individueller Modelle der Lebensführung (Weber) bzw. der Lebensstile (Simmel). Dass also nicht umgekehrt und in rechtspopulistischer Manier etwa kulturelle Vielfalt zum Fremdheitsproblem, Kriminalität zum Flüchtlingsproblem oder Religiosität zum Islamproblem erklärt und damit »ausgelagert« wird. Doch genau dies geschieht offenbar immer noch und immer wieder – und keineswegs mehr nur bei der AfD, sondern längst allgemein in einem mitunter fast endzeit-gestimmten konservativ-reaktionären Diskurs. Dabei scheinen gerade heute und gerade in Deutschland die Voraussetzungen dafür immer besser zu werden, endlich den Weg in eine bewusste Politik der Einwanderungsgesellschaft zu beschreiten. – Besser aus zumindest drei Gründen: Zum einen ist vor allem nach 1989 der Weg in eine politisch wie sozial wie kulturell »offene« Gesellschaft längst eingeschlagen. In weiten Regionen und vor allem in den Städten kommt die Bevölkerung immer internationaler und damit auch gemischter und hybrider daher: als eine Gesellschaft der Lebensstile, in der insbesondere auch die unterschiedlichen kulturellen Praktiken »integrativ« wirken. Zum zweiten wurden in dieser Zeit auch die staatlichen und rechtlichen Strukturen des Zusammenlebens in Deutschland so ausgestaltet, dass sie diesen sozialen und kulturellen Wandlungsprozess heute aktiv tragen und ihn auch kritisch begleiten können: durch eine weithin effektive Gewaltenteilung zwischen Politik, Administration, Rechtswesen und Zivilgesellschaft, durch föderale Strukturen und lokale Spielräume in der Politik, auch durch die Erschwerung 13 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. 5.Aufl., Tübingen 1972, S. 746 u. 742.

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radikaler wie populistischer Politiken durch eine aktive und reflexive Geschichtspolitik. Und zum dritten übernimmt Deutschland inzwischen eine deutlich aktivere Rolle im Globalisierungsprozess: Im Feld von Migration und Flucht, von Tourismus und Mobilität, von Klima und Ökologie, von Exportwirtschaft und Lebensstilen ist es mittlerweile ein ebenso wichtiges Zielland wie ein wichtiger Ausgangspunkt weltpolitischer Entwicklungen. Kürzlich titelte der Berliner Tagesspiegel: »Fluchtort Berlin« und beschrieb eine Stadt der Exilanten14. Welch dramatisch neues Bild der Hauptstadt vor dem Hintergrund deutscher NS-Geschichte? Damit sind inzwischen Integrationsleistungen struktureller wie sozialer Art in so hohem Maße erfolgt, dass auch in Deutschland zu Recht von »gelungener« wie von »gelingender« Integration gesprochen werden kann. Wenn darunter eben im Rückblick wie im Ausblick ein permanenter Prozess verstanden wird, der die gesellschaftliche Kultur weiterentwickelt, der sich zunehmend in alle sozialen Räume ausdehnt und der vor allem alle Beteiligten zur Verhandlung, zur Beteiligung und vielfach auch zur Bewegung veranlasst. Diese gesellschaftlich »hybride« Situation des Zusammenlebens in neuen Formen und Mischungen schafft punktuell gewiss auch neue Konflikte. Sie entschärft zugleich aber auch und vor allem in den Städten manche der klassischen sozialen Differenzen und Grenzen. Und darin deutet sich in der Tat die Perspektive einer »postmigrantischen« Gesellschaft an, die sich unter den Bedingungen globalisierter Arbeit, Mobilität und Kultur neu und anders organisieren muss als nur in traditionellen nationalen und ethnischen Formen. Und sie organisiert sich zunehmend auch anders: eben als eine Gesellschaft der Lebensstile. Denn damit rückt das aktive Moment der Lebensplanung und der Lebensgestaltung immer weiter in den Vordergrund sowohl unserer Bedürfnisse als auch unserer biografischen Entwürfe. Wir werden heute nicht mehr einfach in Lebenswelten und Sozialmilieus hineingeboren, wie noch unsere Großeltern, die angesichts der starken formativen wie normativen Ordnungen ihrer Lebenswelt noch wenig »Individualität« entwickeln konnten. Pierre Bourdieus Theorie der feinen Unterschiede setzt ja noch auf dieser kulturellen Statik und sozialen Hermetik der Milieus bis in die Nachkriegsgesellschaft auf 15. In den letzten beiden Jahrzehnten jedoch tritt nun die Idee der individuellen Autonomie immer stärker in den Vordergrund, also der Vorstellung von der Gestaltbarkeit von Lebensentwürfen und von der Wählbarkeit von Gruppenzugehörigkeiten auf der Grundlage des Lebensstil-Paradigmas. Natürlich gilt diese neue scheinbare Wahlfreiheit noch keineswegs für alle und überall, dazu ist die 14 Tagesspiegel vom 30. 10. 2018. 15 Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1984.

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soziale wie geschlechtliche Ungleichheit im Blick auf Verteilung von und Zugang zu wirtschaftlichen wie bildungsmäßigen Ressourcen nach wie vor zu hoch. Dennoch scheint es mittlerweile bei der Mehrheit der jungen Generationen eine feste Vorstellung, dass Bildungswege und Wissensformen, berufliche Perspektiven und soziale Netzwerke, Lebens- und Freizeitstile von ihnen selbst bestimmt und gestaltet werden wollen. Dass damit auch halbwegs frei darüber entscheiden werden kann, was von der sozialen wie der kulturellen, der ethnischen wie der religiösen »Erbschaft der Eltern« übernommen wird. Und dass in immer globaler verfassten Gesellschaften damit eben der Raum der Lebensstile derjenige ist, in dem individuelle Identität als ein persönlicher Praxis- und Wertekosmos konstruiert, verhandelt und biografisch immer wieder verändert wird – weitgehend jenseits von Grundgesetz, Bibel oder Koran, denn die sind dann bestenfalls noch in den Lebensstilen mit enthalten. In dieser Richtung haben sich vor allem die Lebensverhältnisse in den größeren Städten entwickelt. Und deshalb wirken sie wie Zukunftslabore: Sie geben einerseits das Tempo, den Takt und den Kurs der sozialen und kulturellen Entwicklungen für die Gesamtgesellschaft vor. Andererseits und zugleich bieten sie auch den sozialen Raum und den kulturellen Anstoß dafür, sich individuell wie kollektiv eigenständige Wege der Lebensgestaltung zu suchen, die biografisch immer wieder neu justiert werden. Dass diese Wahlfreiheit und Selbstbestimmung freilich selbst in autonomen oder veganen Subkulturen noch an vielen Punkten vielfältigen Konsum-, Profit- wie Moral-Diktaten unterliegt, steht dabei ebenso auch außer Frage wie die historische Tatsache, dass die großen Städte der Moderne damit zugleich zum lebensweltlichen Territorium, ja: zur »Heimat« der Minderheiten geworden sind: von Migranten und Geflüchtete, von Homosexuellen und Frauenbewegungen, von Kunstszenen und Subkulturen. Und dass sie vor allem die Stadtkulturen aktiv mitprägen.

Soziale Spaltung: Die Rache der Dörfer? Heute sind es fast ausschließlich Szenarien und Episoden aus dem Flucht- und Migrationsbereich wie aus den großen Städten, die in Politik und Medien gerne dazu benutzt werden, um das neue Thema der »sozialen Spaltung« zu illustrieren. Dahinter steht jedoch die keineswegs nur episodische, sondern vielmehr systematische Frage nach unseren heutigen gesellschaftlichen Selbstbildern und Selbstverständnissen – pathetisch gesprochen: die Frage nach der Gegenwart und Zukunft von Gesellschaften, die ihr historisches Selbstverständnis noch bis vor kurzem explizit aus einer ethnisch begründeten Idee der inneren Homogenität und der äußeren Differenz bezogen. Und es ist meist dieser Verlust der alten Gewissheiten, mit dem dann auch der Aufstieg des Rechtspopulismus erklärt

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wird. Neben den gängigen, jedoch wenig hilfreichen Erklärungsversuchen dafür mit Schlagworten wie »Wut-Bürger« oder »Abgehängte« wird neuerdings vor allem das Stichwort »Kultur« genannt. Die Menschen – so wird argumentiert – würden unter den gegenwärtigen Bedingungen von Globalisierung und Flucht eine spezifische Form der kulturellen »Entfremdung« erfahren, die sie und ihre Lebenswelten unsicher mache und die daher fremdenfeindliche Ressentiments verstärke. Mir scheint diese »kulturalistische« Erklärung allerdings wenig hilfreich. Denn sie nimmt – gesellschaftspolitisch betrachtet – damit eher die kulturellen Vorurteile auf als die sozialen Erfahrungen. Sie reproduziert insofern die Provokationsstrategie der Rechtspopulisten als den Versuch der sozialen Spaltung und Hysterisierung durch kulturelle Bedrohungs- und Angstszenarien. Darin erscheinen dann »fremde Mentalitäten« und »volksferne Eliten« als die Täter und die einfachen Einheimischen – also der berühmte »kleine« deutsche und weiße Mann – als die Opfer. Gesellschaftspolitisch zeichnen sich in solchen Argumentationen zwar immer stärker auch durchaus sektenhafte Züge im Rechtspopulismus ab. Dennoch führen diese offenbar keineswegs – wie lange erhofft – zu seiner sozialen Isolierung. Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: Einerseits bildet sich in den letzten Jahren unübersehbar eine »nachhaltige« rechte Lagermentalität heraus, die entlang von nationalistischen und rassistischen Alltagsdiskursen entstand und die in bestimmten Sozialmilieus und Regionen mittlerweile völlig normal, stabil und salonfähig erscheint. Andererseits und zugleich wirken dabei inzwischen mediale Vernetzungen und digitale Formationen in neuer Weise zusammen, so dass eine Art von digitaler Kopräsenz entsteht: Wer sich seinen Denkhorizont aus Vorurteilen und Fake-News stabil halten will, muss sich nicht mehr in engen lokalen und mentalen Wagenburgen verschanzen. Der kann sich vielmehr längst national über rechte Parteien wie weltweit über Internet mit vielen anderen Wagen-Bürgern verbinden. – So wie vor Jahren schon Bushs Evangelikale Gruppen im US-amerikanischen Bible-Belt oder heute Trumps Follower von »America first« im Rusty-Belt oder die »Identitären« in Frankreich und Österreich: eine »Globalisierung« der Rechten? In dieser Doppelgestalt von sozialer und medialer Bewegung entsteht auch die Erfahrung der »kritischen Masse«, einer Menge und Bewegung also, die sich nun auch zahlreich und stark genug fühlt für neue und offensive Haltungen. Deshalb inszeniert sich der Rechtspopulismus auch stets ganz bewusst als Bewegung und als »das Volk«. Deshalb nimmt er auch bewusst zivilgesellschaftliche Formen auf und schafft mit seinem reaktionären Heimatdiskurs bei vielen auch das Gefühl eines neuen nationalen Heroismus und Moralismus, der – weil er angeblich so tapfer für das Eigene kämpft – sich durch die Angriffe der Mehrheits- und Medienwelten nur in seinem Sendungsbewusstsein bestätigt fühlt: aktiver Kern

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des »wahren Volks« zu sein. Es ist eben auch ein »rechter« Lebensstil, der da entwickelt wird – und der mit Rechtsrock und Kampfsport dann auch immer aggressivere Attacken auf Gegner wie Presse einschließt. Was Kurt Tucholsky am Vorabend von Hitlers Machtergreifung in der WELTBÜHNE schrieb, klingt nicht nur mit Blick nach der Türkei oder Ungarn heute ebenso hochaktuell wie bittersarkastisch: »Mit Neid blicken Journalisten jetzt auf so gefahrlose Berufe, wie sie Seiltänzer oder Dachdecker ausüben.«16 Im Erfahrungsraum der gesellschaftlichen Mehrheiten hingegen geht es heute nicht mehr vorwiegend um diese Kultur im Sinne von ethnischer Zugehörigkeit oder regionaler Herkunft. Vielmehr markiert Kultur hier längst eben jenes weite Feld der Lebensstile und der Lebensentwürfe, das sich zunehmend auf die individuelle Wahlmöglichkeit und auf die kulturelle Selbstbestimmung in der Lebensführung hin ausrichtet. In den einzelnen Lebensabschnitten immer neu und selbst über das persönliche Maß von Bindung wie Autonomie entscheiden zu können: Dies ist Idee und Ethos zugleich einer offenen Gesellschaft – letztlich also von Freiheit. Und diese Vorstellung ist mehrheitlich nicht mehr nur Vision, sondern bereits Realität der jüngeren, eher posttraditionalen und postnationalen Generationen. Tatsächlich also stehen dem Bild von der bedrohten »eigenen« Kultur gar nicht primär die Geflüchteten und Migranten als »die Anderen« gegenüber. Vielmehr sind es die »anderen Eigenen«, also die eher städtischen Regionen und die jüngeren Generationen und oft die eigenen Kinder, die kulturell eben »anders« leben. Mit diesem Gegenentwurf jedoch kommt ein Teil der Generation der Väter und Mütter offenbar nicht mehr zu recht, oft aus Unsicherheit und Angst heraus, zu oft aber auch aus mangelnder Bereitschaft zu Empathie und Offenheit. So tendieren ältere Menschen und ländliche Sozialmilieus offenbar eher zu einem Zurück zu einem nationalen und regionalen Wir – ohne »die Fremden«! – und damit auch zu eher autoritären Vorstellungen von Konvention und Tradition, von Familie und Gemeinschaft. Denn diese Formationen konstituieren sich für sie durch Abstammung und Sprache, durch einheimische Normen und Werte: in Kirche und Verein, in Verwandtschaft und Dialekt – eben ohne die Anderen! Dies zu erhalten oder wie in einem Cultural Backlash sogar jene »Auswilderung« der Gesellschaft seit 1968 wieder rückgängig zu machen – mit ihrer vermeintlich haltlosen Befreiung der Köpfe und der Körper, der Jugend und der Frauen (die damit doch nur ihre egoistische Verantwortungs- und Bindungslosigkeit kaschieren wollen): Das ist der Traum vieler Menschen, die sich von der offenen Gesellschaft mit ihren neuen Liberalität und Freiheit überfordert und die sich oft auch von ihren eigenen Kindern zurückgelassen fühlen. Und wenn diese Menschen dann die Rechten wählen, um sich vermeintlich die Kontrolle über 16 Tucholsky, Kurt, in: Weltbühne vom 21. 2. 1933.

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das eigene Leben zurückzuholen, dann kippen damit zunehmend auch gesellschaftliche Machtverhältnisse: dann scheint plötzlich die Puszta über Budapest und Kärnten über Wien zu triumphieren. Wie eine »Rache der Dörfer« droht das klassische Stadt-Land-Verhältnis in einigen europäischen Regionen zu Lasten der städtischen Minderheiten und Freiheiten zu kippen. Insofern ist es einerseits wichtig und richtig, die Phänomene dieser sozialen Spaltung weiterhin auf die unterschiedlichen Sozialmilieus zu beziehen und sie dort zu erforschen. Andererseits und zugleich jedoch muss nun die Perspektive der Generationszugehörigkeit deutlich weiter in den Vordergrund rücken, weil die Kraft von generationsübergreifenden Erfahrungshorizonten deutlich sinkt. Das wird überall sichtbar von der politischen Orientierung bis zum Wahlverhalten, von der Mobilität bis zur Arbeitsbiografie, von der Körperpolitik bis zur Partnerbeziehung. Wo also Heimat für die Älteren noch ein eher autoritärrückwärtsgewandtes, aber jedenfalls kollektives Bild verkörpern mag, da meint sie für die Jüngeren offenbar neben der neuen Liberalität auch eine deutlich stärker individuelle Zuwendung und Zuordnung zur Welt17.

Und die Wissenschaft? Hier nun schlägt spätestens auch die Stunde der Wissenschaft. Denn sie muss stets in jenen Feldern besonders präsent sein, in denen die Gesellschaft ihre wesentlichen Selbstbilder generiert, in denen sie sich ihrer Identität versichern will, sich in Frage stellt, nach Antworten sucht. Dort muss Wissenschaft wie ein Navigationsgerät wirken, das im Spannungsfeld von Integrations- und Desintegrationsprozessen neue Wege und Richtungen der gesellschaftlichen Aushandlung vorschlägt. Denn in einer Gesellschaft, in der die Werte und Grundüberzeugungen heute zunehmend in Lebensstile eingebunden sind, werden sie im Alltag als ästhetische Haltungen wie als moralische Überzeugungen entwickelt. Dort muss auch die Wissenschaft daher explizit und reflexiv machen, wie wir und wer wir damit sein wollen. Jedoch haben wir diesen vielschichtigen Prozess noch nicht wirklich systematisch und analytisch fassen können. Deshalb ist es so eminent wichtig, dass die Forschungen über die Entwicklung von Sozialmilieus und Generationen, von Migration und Integration in einer auseinanderdriftenden Gesellschaft der neuen Lebensstile und der individuellen Freiheiten erweitert und intensiviert werden. Worüber wir uns allerdings auch deutlich mehr Gedanken machen

17 S. dazu Wolfgang Kaschuba: Beheimatung in der Migrationsgesellschaft? In: Berliner Debatte Initial 30, S. 66–74.

Integration der Gesellschaft: Die zentrale Agenda der Moderne – ein Essay

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sollten als bislang, ist unsere eigene gesellschaftliche Rolle in diesem Prozess. Dafür abschließend ein letzter Hinweis: Heute verkörpern gerade die Wissenschaften und die Universitäten selbst zentrale Orte und aktive Kräfte in dieser Entwicklung hin zu wachsender gesellschaftlicher Individualität und Autonomie. Denn gerade Universitätsstädte bilden ein Netz regelrechter »hot spots« in der Entwicklung neuer Lebensweisen und Kulturstile, weil sie in den letzten Jahren mit der neuen akademischen Mobilität zu internationalen wie interkulturellen Begegnungs-räumen geworden sind. Hier wollen sich alle selbst verwirklichen. Hier können sich viele auch in Gestalt von Minderheiten-Kulturen jeder Art selbst identifizieren: von der Mode bis zur Esskultur, von der körperlichen bis zur sexuellen Orientierung. Und damit verkörpern die Universitäten und ihre Städte heute auch ganz wesentlich die Ausgangsorte und die Ausgangsmilieus jener kulturellen Veränderungen, die zur Irritation und Verunsicherung in unserer Gesellschaft beitragen. Alexander Gauland meint also gerade auch uns, wenn er über die »internationale Clique« und die »globalisierte Klasse« schimpft. Wie wir mit dieser Doppelrolle nun umgehen, zugleich Akteure wie Analysten dieser Entwicklung zu sein; wie wir dabei vor allem der Gefahr entgehen können, die eigene Sicht der Dinge und der Gesellschaft als die politisch und moralisch wertvollere zu betrachten und arrogant auf diejenigen herab zu schauen, die sich gegen diese Entwicklung stemmen; wie wir also einen moralischen Rigorismus vermeiden, wie er sich in manchen kosmopolitischen Haltungen von Akteuren in gesicherten materiellen und in gewohnten mobilen Lebensumständen tatsächlich manchmal ausdrückt: Das wird dabei eine große methodologische wie ethische Herausforderung sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung sein. Auch dies zeigt und bestätigt uns gerade unser »Leben mit Corona«, in dem eben nicht mehr wie anfangs scheinbar nur die Lebenswissenschaften gefragt und gefordert sind, sondern zunehmend auch die Sozial- und Kulturwissenschaften, die das »Leben in und als Gesellschaft« navigieren müssen. Deshalb muss Wissenschaft sich heute in den gesellschaftlichen Erörterungsmodus noch aktiver und offensiver einmischen. Denn dort, wo konflikthaft wie diskursiv, wo fundamentalistisch wie reflexiv über unsere verschiedenen »Wir’s« nachgedacht und gestritten wird, dort muss Wissenschaft helfen, die Vielfalt und Freiheit der Erfahrungen groß und die Meinungen und Positionen offen zu halten. Dann meint »Integration« in der Tat nicht mehr eine Politik der Vereinheitlichung und Abschließung der Gesellschaft, sondern genau umgekehrt: deren aktive Bewegung, Begegnung und Öffnung im Raum ihrer Lebensstile. So bleibt – gerade nach den schweren Erfahrungen von viraler Pandemie und sozialer Distanz – die Integration von und in Gesellschaft umso mehr die zentrale Aufgabe der späten Moderne.

2. Kapitel: Relevanz theoretischer Konzepte

Reinhold Mokrosch

Einführung

Die drei Beiträge dieses 2. Kapitels besprechen Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts unserer Migrationsgesellschaft. Interkulturelle Kompetenz ist wohl die wichtigste Fähigkeit für ein friedliches Zusammenleben in unserer pluralistischen Migrationsgesellschaft. Aber was bedeutet »interkulturelle Kompetenz« genau? Elk Franke beschreibt sie als Haltung (Habitus), in der Eigenes und Fremdes unterschieden wird, in der die kulturelle Bedingtheit Anderer respektiert wird, in der das Orientierungssystem Anderer wahrgenommen wird und in der Soziales in verschiedenen Räumen erlebt wird. Zwischen Eigenem und Fremdem gibt es, wie er meint, noch ein »Zwischen«, nämlich die »Erfahrung der Andersheit meiner selbst«. Harald Kerber ist der Überzeugung, dass Integration nur durch soziale und politische Teilhabe ermöglicht werden kann – unabhängig von Hautfarbe, Stand, Nationalität, religiöser und kultureller Orientierung. Er teilt mit J. Habermas die Auffassung, dass nicht mehr ein substantieller Wertekonsens, sondern ein Konsens über Rechtsverfahren Ziel von Integration sein sollte. Gegenseitige Respekt-Toleranz und kulturelle Anerkennung seien dafür Voraussetzung. Im Übrigen plädiert er für praktische Integration im Sinne ehrenamtlicher Migrantenhilfe. Greg Bond erklärt, warum eine Verbesserung der Streitkultur (Mediation) den Zusammenhalt unserer Migrationsgesellschaft stärken könnte. Denn Mediation möchte die Konfliktpartner zu Selbstreflexion und Perspektivwechsel anleiten – Grundvoraussetzungen für gegenseitiges Verstehen. Und Mediation könnte eine polarisierte Gesellschaft wieder zusammenfügen und Werte vermitteln. Allerdings, so Bond, hat Mediation dort ihre Grenzen, wo Feindbilder unverrückbar feststehen.

Elk Franke

Interkulturelle Kompetenz – erwünscht, aber auch realisierbar?

Einleitung Seitdem die ersten Gastarbeiter vor über einem halben Jahrhundert nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern vermehrt ihre Familien mitbrachten, hatte sich auch die Schule auf eine heterogene Schülerschaft einstellen müssen. Diese Herausforderung führte bekanntlich nicht automatisch zu einem interkulturellen Lernen. Zu stark war in der Nachkriegsgesellschaft der jungen Bundesrepublik die Vorstellung verankert, Migration bedeute Assimilation, Anpassung einer fremden Minderheit an die Gewohnheiten und Gebräuche der Mehrheitsgesellschaft. Diese Vorstellungen waren nicht nur im Arbeitsprozess und gesellschaftlichem Umgang wirksam, sondern lange auch in der Schule. Erst in den letzten drei Jahrzehnten wurde ansatzweise in der breiten Öffentlichkeit der schon lange von Experten geforderte Perspektivenwechsel breiter diskutiert, wonach Migration nicht nur eine Herausforderung für die Einwanderer, sondern auch eine Aufgabe für die Gesamtgesellschaft darstellt.1 Dabei zeigt sich der Arbeitsprozess neben der inländischen Migration vor allem durch die zunehmende Globalisierung einer exportorientierten Wirtschaft als aktueller Seismograph notwendiger Veränderungen. Daher erstaunt es auch nicht, dass konkrete Konzepte für eine ergebnisrelevante interkulturelle Kompetenz zunächst von der Psychologie vor allem für den komplexen effizienzorientierten Arbeitsmarkt entwickelt wurden, während die Schule eher noch vom interkulturellen Lernen sprach. Gleichzeitig ist sie jedoch auch spätestens seit der durch die PISA- und TIMMS-Studien angestoßenen Diskussion gezwungen, ihre vorrangig aufgaben- und zielorientierten (»input«) Lehrpläne durch ergebnisorientierte (»output«) Kompetenzmodelle zu ergänzen. Im Folgenden wird zunächst ein solches für den Arbeitsprozess entwickeltes Konzept Interkultureller Kompetenz skizziert. Anschließend wird geprüft, in-

1 Vgl. dazu die Beiträge von Széll und Kaschuba in diesem Band.

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Elk Franke

wieweit es sich als praktisches Fähigkeitsmodell in interkulturellen Interaktionen als hilfreich und anwendungsrelevant erweisen kann.

1.

Interkulturelle Kompetenz – ein Modell

Gestützt auf die Beobachtung, wonach eine kulturspezifische Sensibilität nur wirksam werden kann, wenn man sich dabei der sozialen Handlungsbedingungen wie Kommunikationsfähigkeit, Kooperationsbereitschaft, Empathie, soziale Motivation u. a. vergewissert, entwickelte Alexander Tomas (2003) ein Konzept Interkultureller Kompetenz. Voraussetzung ist dabei die Annahme, wonach der Prozess »der Enkulturation, verbunden mit der erfolgreichen Sozialisation« nur erreicht werden kann, wenn »das Hineinwachsen in die Gesellschaft, das Erlernen der in der eigenen Gesellschaft sozial relevanten Werte, Normen und Verhaltensregeln sowie die Ausbildung entsprechender Qualifikationen (Schlüsselqualifikationen, Kompetenz) im Prozess des Verstärkungslernens, Vorbildlernens und der sozialen Unterstützung nahezu alles, was zum Lebensalltag und zur Problembewältigung erforderlich ist, einer Schematisierung, Routinisierung, Generalisierung – und Objektivierungssystematik unterworfen« (Thomas 2003, S. 138) wird. Ausgehend von dieser explizit subjekt- und handlungsorientierten Forschungsperspektive definiert Thomas Kultur als »universelles, für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem, (das) aus spezifischen Symbolen gebildet und der jeweiligen Gesellschaft usw. tradiert (wird). Es beeinflusst das Wahrnehmen, Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder und definiert somit ihre Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Kultur als Orientierungssystem strukturiert ein spezifisches Handlungsfeld für alle sich der Gesellschaft zugehörig fühlenden Individuen und schafft damit die Voraussetzungen zu Entwicklung eigenständiger Formen der Umweltbewältigung« (Thomas 1993, S. 380). Die Herausforderung für die Entwicklung interkultureller Kompetenz, die auch empirisch erfasst und rekonstruiert werden kann, liegt nach Thomas darin, im dreiseitigen Spannungsfeld von Subjekt – Handeln – kulturellem Umfeld jeweils die Ziele zu bestimmen, die »mit bestimmten Mitteln erreichbar sind (wobei sich) zugleich aber Grenzen des Möglichen oder richtigen Handelns« (Thomas 2003, S. 138) ergeben. Kennzeichnend für den Mangel an Kompetenz ist nach Thomas, dass alle Partner zunächst davon ausgehen, ihr eigenes Orientierungssystem sei »für alle anderen Personen so selbstverständlich, richtig, wahr und angemessen wie für sie selbst« (ebenda S. 138). Durch protokollartiges Erfassen der aus dieser fälschlichen Annahme sich ergebenden Differenzen z. B. in Arbeitskooperationen zwischen einem deut-

Interkulturelle Kompetenz – erwünscht, aber auch realisierbar?

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schen Manager und einem chinesischen Partner bzw. einem amerikanischen Chef und einem griechischen Mitarbeiter glaubt Thomas jene Merkmale herausarbeiten zu können, die eine anwendungsgerechte Interkulturelle Kompetenz im Wesentlichen kennzeichnen, wenn er betont: »Mit Blick auf die hier diskutierte interkulturelle Kompetenz lässt sich nun folgendes feststellen: Fremdheit und Andersartigkeit müssen in ihrer kulturellen Bedingtheit wahrgenommen (Interkulturelle Wahrnehmung) und als bedeutsam für das interaktive Geschehen bewertet werden. Es müssen Kenntnisse über das fremdkulturelle Orientierungssystem und die Art und Weise seiner Handlungswirksamkeit erworben werden (Interkulturelles Lernen). Der Handelnde muss wissen und nachvollziehen können, warum die Partner so andersartig wahrnehmen, urteilen, empfinden und handeln. Er muss auch bereit sein, diese Denk- und Verhaltensgewohnheiten zu respektieren und im Kontext der fremden Kulturentwicklung zu würdigen (Interkulturelle Wertschätzung). Weiterhin muss er wissen, reflektieren und nachvollziehen können, wie sein eigenkulturelles Orientierungssystem beschaffen ist, wie das eigene Denken und Verhalten bestimmt und welche Konsequenzen sich aus dem Aufeinandertreffen der eigenen und der fremden kulturspezifischen Orientierungssysteme für das interaktive und gegenseitige Verstehen ergeben (Interkulturelles Verstehen). Schließlich muss der Handelnde in der Lage sein, aus dem Vergleich des eigenen und fremden Orientierungssystems heraus sensibel auf den Partner zu reagieren, dessen kulturspezifische Perspektive partiell zu übernehmen (Interkulturelle Sensibilität). Zu dem mehr deklarativen Wissen über die handlungswirksamen Merkmale des eigenen und fremden kulturspezifischen Orientierungssystems muss ein prozedurales Wissen (Gagné 1973) im Sinne eines Wissens über den kulturadäquaten Einsatz und Umgang mit kulturbedingten Unterschieden hinzukommen. Nur so ist es möglich, den interkulturellen Handlungsprozess so (mit)gestalten zu können, dass Missverständnisse vermieden oder aufgeklärt werden können und gemeinsame Problemlösungen akzeptiert und produktiv genutzt werden können (Interkulturelle Kompetenz). Dies sind Anforderungen und Grundbedingungen für eine allgemeine Bestimmung von dem, was interkulturelle Kompetenz ausmacht« (Thomas 2003, S. 141)

Sie lässt sich nach Thomas immer dann entwickeln, wenn ein handlungs- und lerntheoretisches Konzept in fünf Schritten wirksam werden kann (vgl. ebenda S. 144): 1. Personale und soziale Bedingungen (Lebenserfahrungen, Persönlichkeitseigenschaften/Traits, Fremdheitskonzept, Gegenständliche Umwelt, Soziale Umwelt) 2. Interkulturelle Erfahrung (Einbindung in eine interkulturelle Begegnung aktuell/virtuell, Erfahrungen einer kritischen Interaktionssituation, Reaktionen auf diese emotional/kognitiv) 3. Interkulturelles Lernen (Gewahrwerden und Akzeptieren von kulturell bedingten Unterschieden, Informieren und Reflektieren über Eigenkulturalität – Fremdkulturalität, Eigenkultur-Fremdkultur-Vergleich, Entwicklung von

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kultureller Wertschätzung, Interkultureller Kommunikation, Nutzung interkultureller Lerngelegenheiten). 4. Interkulturelles Verstehen/ Bilanzierung (kulturadäquate Verhaltensattribuierung, Erweiterung des Selbstkonzepts, Interkulturelle Orientierung, Potential zum kulturadäquaten Handeln) 5. Interkulturelle Kompetenz (Handlungswirksamkeit im Kulturdreieck: Eigenkultur – Fremdkultur – Interkulturelle Kompetenz/Interkultur = Handlungspotentiale (routinemäßige Verfügbarkeit) Handlungssicherheit, Handlungsflexibilität, Handlungskreativität) Interkulturelle Kompetenz zeigt sich dann nach Thomas in: »der Fähigkeit kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln, bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretationen und Weltgestaltung« (ebenda S. 143)

Dieses Konzept von Thomas wurde so ausführlich und z. T. wortgetreu wiedergegeben, da es einerseits ein ernst zu nehmender Versuch ist, das schwierige Thema eines effizienzorientierten Konzepts interkultureller Kompetenz so aufzubereiten, dass sich daraus einzelne, empirisch relevante Lernschritte bestimmen lassen. Andererseits zeigen sich in diesem Konzept aber auch die Grenzen, die sich aus einem solchen stufenweisen, lern- und handlungstheoretischen Zugang ergeben. Auf sie soll im Folgenden näher eingegangen werden, um die Bedingungen und den Rahmen transparent zu machen, in dem eine solche interkulturelle Dialogfähigkeit letztlich nur entwickelt werden kann

2.

Interkulturelle Kompetenz – eine Fähigkeit?

Die folgenden kritischen Anmerkungen zum skizzierten Konzept sollen einerseits zeigen, wie schwierig es ist, die Bereitschaft zu interkultureller Sensibilität als handlungsrelevantes Lernprogramm zu implementieren. Andererseits sollen dadurch aber auch Hinweise gegeben werden, wo die Grenzen und u. U. Möglichkeiten für eine Weiterentwicklung solcher Lehr-Lernprogramme liegen könnten.

Interkulturelle Kompetenz – erwünscht, aber auch realisierbar?

2.1

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Kultur und Handlung – getrennte Prozesse?

Die Kennzeichnung von Kultur als »Orientierungssystem«, welches aus »spezifischen Symbolen gebildet« wird und das »Wahrnehmen, Denken und Handeln aller ihrer Mitglieder beeinflusst«, unterstellt eine Trennung von Kultur und Handlung und lässt Kultur als einen eigenständigen Rahmen erscheinen, innerhalb dessen der Einzelne handelt. Mit der Kennzeichnung als »universelles Orientierungssystem einer Gesellschaft, Organisation oder Gruppe« entsteht der Eindruck, wonach die Kultur als jeweils abgeschlossenes unterschiedlich entwickeltes Wertesystem dem Einzelnen verbindliche Bedingungen für sein Handeln vorgibt. Ausgehend von dieser eher monolithischen Kulturvorstellung ergibt sich dann die Aufgabe und Herausforderung, die eigenen kulturellen Rahmenvorgaben zu erkennen, zu überwinden und kritisch zu hinterfragen. Auch wenn dieser Deutungsversuch zunächst alltagsweltlichen Vorstellungen zu entsprechen scheint, zeigt eine genauere Analyse, dass die unterstellte Trennung von Kultur und subjektiver Handlung nur ungenügend die kulturelle Praxis widerspiegelt, in der interkulturelles Verständnis nicht ebenso erlernt werden kann wie eine Fremdsprache oder das Autofahren. Ein entscheidender Grund für die Komplexität des unterstellten Lehr-Lernprogramms ergibt sich aus der Heterogenität kultureller Praxen, wie sie in den letzten Jahren von der Kulturwissenschaft erforscht worden sind2. Dort wird ein Kulturverständnis skizziert, das der Hybridität und wechselseitigen Beeinflussung komplexer Gesellschaften entspricht, das sich schon lange nicht mehr über homogene Wert- und Handlungsmaxime spezifizieren lässt und die einzelne Person in je unterschiedlicher Weise in heterogener und situativer Form herausfordert. Entsprechend wird es auch schwer, den Prozess und u. U. mögliche Lernstufen und Fortschritte einer interkulturellen Kompetenz zu bestimmen bzw. sie als abrufbare Fähigkeit zu explizieren. Die Unterschiede innerhalb einer (Aufnahme-)Gesellschaft, zwischen Stadt-Land, sozialen Schichten, Altersgruppen, Geschlechtern etc. sind inzwischen so groß bzw. heterogen, dass die Unterordnung unter ein Kultursystem der Einwanderungsgesellschaft nur noch einen geringen Realitätswert besitzt.

2.2

Interkulturelles Verstehen – eine Bilanzierung?

Im Konzept von Thomas wird das interkulturelle Verstehen in Bezug gesetzt zu einem Bilanzierungsprozess, bei dem dann zwischen eigenen Erwartungen und jenen zunächst als fremd erfahrenen Wahrnehmungen unterschieden wird. 2 Vgl. dazu »Handbuch der Kulturwissenschaft« Bd. 1–3. 2004, Dörman/Jamme 2007 u. a.

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Elk Franke

Dieses vergleichende Unterschiedswissen ist dann die Voraussetzung für die veränderte Wahrnehmung auf die verschiedenen »Wirklichkeiten«, aus dem sich dann, möglichst im positiven Sinne, ein interkulturelles Konzept entwickeln kann. Diese zunächst der Alltagserfahrung nahe liegende Deutung übersieht jedoch die komplexe Bedeutung von Verstehensprozessen, die weit über ein Bilanzierungsdenken reicht, worauf Thomas Göller (2003) verweist, wenn er betont: »Der Verstehensbegriff ist deshalb nicht nur weiter, sondern auch wesentlich komplexer als es Thomas’ Redeweise von ›Bilanzierungen‹ Nahe legt. Zum anderen denke ich, dass der Begriff interkulturelles Verstehen keinem der Komponenten, die Thomas anführt (personale und soziale Bedingungen, interkulturelle Erfahrungen usw.), neben- oder gleichgeordnet werden kann. Demgegenüber muss dem interkulturellen Verstehen ein zentraler Stellenwert zuerkannt werden. Die zentrale bzw. übergeordnete Valenz dieses Verstehens lässt sich auch nicht adäquat durch die von Thomas angedeuteten Querverbindungen bzw. Begriffsrelationen aufzeigen. Denn erst dann, wenn jemand etwas interkulturell in adäquater Weise versteht bzw. verstanden hat, kann man von ihm behaupten, er sei interkulturell kompetent – wozu selbstverständlich auch praktische Applikationen des Verstanden in kulturdifferenten kommunikativen Situationen und Prozessen gehören.« (Göller 2003, S. 176).

Abschließend kann man in diesem Zusammenhang auf die Alltagserfahrung verweisen, die zeigt, dass »der Wunsch nach Verstandenwerdenwollen bei allen Gesprächspartnern immer den Vorrang vor dem Verstehenwollen hat« (Elshahed 2003, S. 163), worin ein meist unbewusstes narzisstisches Selbstverständnis zum Ausdruck kommt, dem man bewusst entgegenwirken muss, wenn interkulturelles Verstehen ansatzweise entwickelt werden soll.

2.3

Intersubjektive Sensibilität – auch eine leiblich-körperliche Erfahrung?

Auffallend am psychologischen Lernkonzept von Thomas ist, dass der Körperlichkeit im interkulturellen Austausch keine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Dies mag an der vordergründigen Zweckorientierung liegen, zunächst ein Konzept für die Interaktion in Arbeitsprozessen zu entwickeln, in denen Körperlichkeit häufig als private Angelegenheit angesehen wird. Dass damit nicht nur ein wichtiger Bereich interkultureller Sensibilität übersehen wird, zeigen nicht nur die öffentlichen Debatten über das Kopftuch , die Teilnahme von Mädchen am schulischen Schwimmunterricht u. a., sondern auch die unterschiedlichen Essgewohnheiten und damit verbundenen ritualisierten und tabuisierten Lebensstile.3 3 Vgl. dazu Bröskamp 1994, Franke 2006.

Interkulturelle Kompetenz – erwünscht, aber auch realisierbar?

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»Solange eine Kommunikationstheorie die körperliche und leibliche Dimension mitmenschlicher Begegnung nicht in den Blick nimmt und auf Begriffe bringt, bleibt sie einseitig der logozentrischen europäischen Prägung verhaftet und begibt sich eines wesentlichen Teils der erfahrbaren Wirklichkeit. So gesehen ist ›interkulturelles Lernen‹ im Voraus weder nötig noch möglich. Transkulturelle Kompetenz bedarf m. E. neben der Sprachkompetenz lediglich einer Haltung der Offenheit, der Aufmerksamkeit – nicht zuletzt für Körper- und Leibphänomene – und einen Fundus an Wissen vom Anderen und seinen spezifischen Lebenskontexten. Auf diese Weise lassen sich signifikante Sachverhalte, Programme und Probleme einer Kommunikationssituation explizieren, ohne daß die Achtsamkeit für die atmosphärisch aufgeladene Bedeutsamkeit der Gesamtsituation in Vergessenheit gerät.« (Link 2003, S. 190–191)

2.4

Interkulturelle Kompetenz – ein passender Begriff ?

Nach diesen kritischen Anmerkungen kann man sich abschließend fragen, ob der Begriff »Kompetenz« das angestrebte Ziel eines gleichrangigen interkulturellen Austausches angemessen kennzeichnen kann. Walter Herzog bezweifelt das, wenn er feststellt: »Schon der Begriff der Kompetenz macht Schwierigkeiten. Kann die interkulturelle Kompetenz tatsächlich ein ›interaktionistisches Konzept‹ sein, wie Thomas annimmt, wenn er sowohl die personalistischen als auch die situationistischen Ansätze als ›zu einseitig‹ zurückweist? Ist Kompetenz nicht per definitionem eine personalistische bzw. individualistische Kategorie, die in Interaktion mit situativen Bedingungen zu einer bestimmten Performanz führt?« (Herzog 2003, S. 178)

Dies bedeutet, die komplexen Voraussetzungen machen eine generalisierte Aussage hinsichtlich der zu erreichenden Qualifikation schwierig, denn die doppelte Singularisierung (Personalisierung und situative Abhängigkeit), die ab einer bestimmten Performanz eine allgemeine Fähigkeit ergeben soll, steht im Widerspruch zum übergeordneten Anspruch einer Kompetenz. Unklar ist auch, worauf sich eine solche Fähigkeit letztlich beziehen soll. Denn anders als die Konzepte der sprachlichen und kommunikativen Kompetenz, die, folgt man Chomsky (1973) oder Habermas (1981), auf ein generisches Potential verweisen, das sich in verschiedenen Formen artikuliert, fehlt in Bezug auf eine Interkulturelle Kompetenz eine vergleichbare Ausgangs- bzw. Bezugsebene. D. h., »niemand kommt wohl auf die Idee, unter Fremdsprachenkompetenz eine allgemeine Kenntnis von irgendwelchen Fremdsprachen zu verstehen. Eine allgemeine Fremdsprachenkompetenz ist genauso ein leerer Begriff wie eine allgemeine interkulturelle Kompetenz« (Herzog 2003 S. 179).

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Anders als in Sprach- und Handlungsfeldern, in denen das Lernen und die Übung bestimmter Fertigkeiten auch zu speziellen generalisierbaren Fähigkeiten führen, ist die Situation in globalen, vielfältig situativ geprägten, kulturellen Praxen. Dort erscheint eher von Bedeutung zu sein, in interkulturellen wert- und normenrelevanten Interaktionen eine bestimmte, durch Reflexion und Empathie gekennzeichnete Haltung zu entwickeln.

3.

Interkulturelle Kompetenz – Ausdruck einer Haltung

Wie die bisherigen Ausführungen zeigen sollten, ist es zunächst wichtig, in interkulturellen Kontexten »grenzüberschreitend« so etwas wie interkulturelle Sensibilität gegenüber den eigenen Lebenserfahrungen zu entwickeln. Eine Herausforderung, die bei zunehmender Migration in der globalisierten Welt immer notwendiger wird. Kritisiert wurde auf diesem Hintergrund die psychologisch favorisierte Hoffnung, dies durch lern- und handlungsorientierte Konzepte in einem stufenweisen Übergang von Fertigkeiten zu Fähigkeiten erreichen zu können. Vielmehr verdichtet sich der Eindruck, dass es sich eher um wert- und normengebundene Einstellungen handelt, die sich ein Mensch in seiner Sozialisation aneignet, und die ihn als authentisch denkende und handelnde Person auszeichnet. Dies bedeutet, es geht bei der Entwicklung von interkultureller Sensibilität nicht um in Situationen praktizierte Fertigkeiten und Fähigkeiten, sondern um die reflexive Auseinandersetzung mit gewollten und ungewollten Sozialisierungseinflüssen.

3.1

Interkulturelle Situationen – strukturiert durch implizites Wissen

Situationen, in denen interkulturelle Sensibilität relevant bzw. erwartet wird, sind nicht voraussetzungslose Ereignisse, sondern haben in der Regel eine Vorgeschichte. Sie ist geprägt durch Bilder, Urteile und Vorurteile. Solche »cultur models of informational exchange« (Sweester 1987, S. 43) stellen nicht nur metakommunikative Steuerungsinstrumente dar, sondern sie gehören wie Jens Loenhoff betont »in die Klasse impliziten Wissens, das neben seinen unhintergehbaren Anteilen stets ein kollektives Wissen ist. Als Bezugssystem, das festlegt, was thematisiert werden kann und darf, und worüber Verständnis überhaupt möglich ist, bildet es den Hintergrund für die Einschätzung« (Loenhoff 2003, S. 192) kommunikativer Bedingungen. Im Bewusstsein der Brauchbarkeit und Richtigkeit der eigenen Ausgangssituation ergibt sich zunächst meist kein Anlass für einen Handelnden, während er

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eine soziale Situation bewältigt, sich auch gleichzeitig vorzustellen, wie diese völlig anders ausfallen könnte. Diese Bereitschaft zum Perspektivenwechsel als Ausdruck einer reflexiven Haltung gegenüber der Andersartigkeit von Personen und Situationen – als sie gewohnt oder erwartet wurde – ist nicht wie die Beherrschung einer Tätigkeit oder Fremdsprache zu verstehen und auch nicht wie diese etappenweise zu erlernen. Bevor dem selbstkritischen Blick auf das Eigene und der Bereitschaft zur Empathie gegenüber dem Fremden eine qualitative reflexive Bedeutung zugeschrieben werden kann, muss sich eine Differenz gegenüber dem eigenen impliziten Wissen, das als »Verinnerlichung« erfolgreicher kultureller Praxis eine stabilisierende und ordnende Funktion in der als normal und gut befundenen Mensch-Welt- Beziehung besitzt, entwickelt haben. Diese kulturellen DifferenzErfahrungen lassen sich zwar meist auch kognitiv und sprachlich re-konstruieren, haben aber meist eine darüber hinaus reichende nicht-sprachliche implizite und explizite Wissensdimension. Erst wenn diese komplexen Implikationen kultureller Praxis differenzierter im alltagsweltlichen Sinne »analysiert« worden sind, lassen sich auch Strategien diskutieren, um mögliche interkulturelle Sensibilität zu entwickeln.

3.2

Kulturelle Praxis – habitusbestimmte Alltagserfahrungen

In Abgrenzung zu traditionellen sozialwissenschaftlichen Forschungen, die vom handelnden Subjekt als Akteur gesellschaftlicher Veränderungen ausgingen, auf die sich auch das lern- und handlungstheoretische Konzept von Thomas bezieht, betonen jüngere Forschungsansätze den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, innerhalb dessen einzelne Aktionen und Akteure bestimmt werden. Ein wesentlicher Wegbereiter dieser eher »systemischen« Gesellschaftsauffassung ist neben Norbert Elias (1977), Michel Foucault (1978) vor allem Pierre Bourdieu (1993) mit seiner kulturellen Praxistheorie. Um die Einseitigkeit einer vorrangig subjektorientierten oder systemrelevanten Gesellschaftsanalyse zu vermeiden, plädiert Bourdieu für eine »praxeologische Forschung«. Durch sie sollen sowohl Primärerfahrungen sozialer Akteure als auch systemrelevante Strukturen nicht einseitig berücksichtigt, sondern hinsichtlich ihrer wechselseitigen Konsequenzen als kulturelle Veränderungen bestimmt werden. Über die dabei wirksam werdende »Theorie der Praxis als Praxis«, die Bourdieu auch »Logik der Praxis« nennt, kann das menschliche Zusammenleben in seiner Prozesshaftigkeit rekonstruiert werden. Bourdieu bietet damit jenseits von subjektiven Sinnbeziehungen und objektivem Funktionalismus eine wissenschaftstheoretische Alternative an:

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– Zentral für die Analyse einer »Logik der Praxis« ist die »Theorie des Habitus«. Sie vermittelt zwischen Objektivismus und Subjektivismus, indem sie spezifische Interaktions- und Dispositionsformen in ihren komplexen Wirkungsweisen analysiert. – Der Habitus einer Person zeigt sich als System dauerhafter Dispositionen und strukturierter Strukturen, durch die bestimmte Praxisformen und Repräsentationsformen erkennbar werden. D. h., nicht der frei gewählte Entwurf eines autonom handelnden Subjekts, von dem noch Max Weber bei seinem Konzept des intentionalen Handels ausging, steht im Focus der Praxisanalyse, sondern der immer schon gesellschaftlich geprägte Mensch. – Dies bedeutet: Der Habitus beruht auf individuellen und kollektiven Erfahrungen, die sich »in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen« (Bourdieu 1993, S. 101.) Ihnen gemeinsam ist, dass sie mehr oder weniger implizit oder auch nur bruchstückhaft bewusst wirksam werden. – Dieses habituelle Dispositionssystem aus Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, das zur Orientierung innerhalb der sozialen Welt und zur Ausbildung angemessener Praktiken dient, stellt die Grundlage dar für das, was Bourdieu »le sens practique«, den »praktischen Sinn« nennt. – Dieser erhält seine prägende Bedeutung durch ein z. T. unbewusstes System von Unterscheidungen, das als Klassifikation – und Erzeugungsprinzip von Praktiken fungiert. Seine Schemata haben einen kollektiven Charakter, d. h., sie sind übersubjektiv, obwohl sie vom einzelnen Akteur in konkreten Handlungssituationen angewendet werden. – Auf diese Weise kommt es zu einer Vorangepasstheit an bestimmte soziale Milieus, die sich auch in überindividuellen Lebensstilen zeigen: »Wenn man weiß, dass jemand Currywust mit Pommes frites zu seinen Leibspeisen zählt, darf man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass er auch gerne Bier trinkt und Comics liest« (Schroer 2017, S 326).

3.3

Soziales Kapital – praktisches körperliches und kognitives Wissen

In den fortlaufenden sozialen Praktiken bilden sich nicht nur Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Situationseinschätzung und Aufgabenbewältigung heraus, sondern auch Maßstäbe, die den Handlungen eine Richtung geben, die man auch als »praktisches Wissen« bezeichnen kann. Das Dispositionsverhältnis des Habitus ist für Bourdieu dabei immer auch das »Körper gewordene Soziale« (Bourdieu/ Wacquant 1996, S. 161). In Abgrenzung zur geistesgeschichtlichen Tradition der Soziologie, betont er die große Bedeutung des Körpers in sozialen Praxen, die zeigen, dass unsere Erfahrungen

Interkulturelle Kompetenz – erwünscht, aber auch realisierbar?

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buchstäblich »unter die Haut gehen«. Unsere Erlebnisse schreiben sich oft unbemerkt körperlich ein, so dass wir uns auf bestimmte Art bewegen, sprechen etc., wodurch die äußere Erscheinung, Mimik und Gestik oft mehr aussagt, als uns bewusst ist. Gleichzeitig zeigen sich am und im körperlichen Habitus kulturelle Besonderheiten und ethnologische Grenzmarkierungen, so dass eine multikulturelle Gesellschaft ohne eine Sensibilität für die Besonderheiten des jeweiligen körperlichen Habitus nur eine eingeschränkte Reflexivität entwickeln kann. Aus und durch dieses körperliche implizite und explizite Wissen um die Bedingungen des als normal und richtig angesehenen Alltags, entwickelt sich, neben den sozio-ökonomischen Bedingungen, die Bourdieu in marxistische Tradition »Ökonomisches Kapital« nennt, auch immer ein bestimmtes »Soziales Kapital«. Es ist eine eigenständige Ressource. Sie resultiert aus der Ausnutzung »eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens« (Bourdieu 1992, S. 63), in das ein Akteur eingebunden ist, und auf das er zurückgreifen kann. Es beruht »auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe« (ebenda S. 63). Neben der primären Gruppe der Familie, sind dies Vereine, Klubs, Parteien etc. Je umfassender ein solches Netz ist, welches durch permanente Beziehungsarbeit stabilisiert wird, desto größer sind die »Profitchancen« bei der Reproduktion des »ökonomischen« und »sozialen Kapitals«. Umgekehrt wirkt sich ein Verlust durch Flucht, Vertreibung, Migration meist gravierender aus als eine Verlusterfahrung an ökonomischem Kapital. D. h., die Wertschätzung des sozialen Kapitals hat einen »Multiplikatoreneffekt« im positiven und negativen Sinne.

3.4

Sozialer Raum – soziale Position und Lebensstil

Die auf diese Weise selbst empfundene und sozial zugeschriebene Position ist auch immer sozialräumlich bestimmt. Der soziale Raum wird nach Bourdieu durch die Wechselbeziehungen zwischen dem Raum sozialer Positionen und dem Raum der Lebensstile bestimmt. Mit dem Begriff des Lebensstils versucht Bourdieu, die symbolischen Merkmale der Lebensführung, die sich nicht allein aus den objektiven und ökonomischen Ressourcen, sondern vor allem auch aus den »subjektiven« Wahrnehmungen und kulturellen gruppenrelevanten Wertschätzungen und Wahlpräferenzen ergeben, zu erklären. Die »Homologie« zwischen der sozialen Position und dem Lebensstils eines Akteurs im für ihn relevanten sozialen Raum, ergibt sich durch die Vermittlung des Habitus, insbesondere durch die in ihm angelegten, ästhetischen Klassifikations-, Bewertungs- und Handlungsschemata, die Bourdieu auch als »Geschmack« bezeichnet.

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In Erweiterung der üblichen Semantik meint er damit eine Erzeugungsformel, durch die bestimmte Gegenstände und Praktiken die Lebensweise eines Akteurs prägen. Von den Ernährungs- und Musikgewohnheiten, über Formen des Wohnens bis zur Kleidung oder den Kultur -und Freizeitinteressen realisiert sich der Lebensstil eines Akteurs in der sozialen Praxis. Einer Praxis, mit der er sich selbst im Mensch-Weltbezug identifiziert. Der Geschmack ist, im Gegensatz zur gängigen Interpretation, keine private Erfahrung, sondern, im Verständnis von Bourdieu der Begriff für eine sozialstrukturell bedingte Form ästhetischer Bewertung und Unterscheidungsmöglichkeit von Alltagserfahrungen, die häufig weniger durch Abgrenzung oder Ausgrenzung gekennzeichnet sind, als durch vorauseilende Zuordnung bzw. Selbstausschluss. Wie die kappe Skizze der Kulturtheorie Bourdieus gezeigt hat, können interkulturelle Interaktionen nicht nur aus einer subjektorientierten, handlungsund lerntheoretischen Perspektive bestimmt werden. Ein solcher Forschungsansatz übersieht die tiefgreifenden und komplexen Strukturen, die immer schon wirksam sind, wenn offiziell oder bewusst geplant ein »interkulturelles Verstehen« stattfinden soll.

3.5

Interkulturelle Haltung – reflexive Verflechtung von Eigenem und Fremden

Fragt man sich abschließend, ob und in welchem Maße bei diesem sich als komplex und vielschichtig abzeichnenden Voraussetzungen ein interkultureller Dialog stattfinden kann, der zu einer interkulturellen Sensibilität und schließlich interkulturellen Haltung führen kann, ist es wichtig, das wechselseitige Verhältnis von Selbstbezug und Fremdheit, einschließlich seiner scheinbar paradoxen Bedeutung etwas genauer zu betrachten. »Der Stachel des Fremden setzt nicht nur in Bewegung, er dringt auch ins eigene Fleisch, gleich dem Stachel der Stechfliege, jenem Sinnbild des sokratischen Fragens« (Waldenfels 1990 S. 8) schrieb Bernhard Waldenfels und bereitete damit seine, auf drei Bände angelegten Arbeit, zu diesem Thema vor. Im Folgenden soll in Ergänzung zu Bourdieu nur auf den Aspekt der Fremderfahrung und Eigenerfahrung hinsichtlich der Möglichkeiten einer Migrationsgesellschaft eingegangen werden. Das Fremde im Kontrast zum Eigenen betrifft nach Waldenfels Erfahrungsgehalte und Erfahrungsbereiche. Fremd erscheint zunächst immer das, was jenseits der Grenzen dessen liegt, was man mit Husserl (1972) als »Eigenheitssphäre« bezeichnen könnte. Wobei Eigenheit jenen sozialen Raum Bourdieus kennzeichnet, der sich durch Zugehörigkeit, Vertrautheit, Verfügbarkeit aus-

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zeichnet, und unseren Nahbereich des Körpers, der Kleider, der Wohnung, der Freunde etc., bis hin zu dem erfasst, was man in der neuen (alten) Diskussion glaubt, als »Heimat« bezeichnen zu können. Das Fremdartige hat im Kontrast dazu zu tun »mit Erfahrungsstrukturen und Erfahrungsordnungen« (Waldenfels 1990 S. 59). Wobei die Erfahrung des »Fremdartigen«, das die Grenzen bestimmter Ordnungen überschreitet, immer auch eine gewisse Form von Normalität voraussetzt, woraus sich Fragen nach der angemessenen Integration ergeben: Gibt es einen »Kern unantastbarer Normalität«, d. h., reicht z. B. der Verweis auf das Grundgesetz aus oder benötigt man eine »genuine Kultur« (»Leitkultur«) als Ausgangspunkt bzw. als unhintergehbares Fundament für eine Integration? Oder durchdringen sich Eigenartiges und Fremdartiges so, wie man auch vom Tier im Menschen sprechen kann? Bisher zeigen sich unterschiedliche Integrationsmodelle: – Versteht man Aneignung im negativen Sinn als ein »Sich-Zueigenmachen«, erhalten nach Waldenfels zwei Voraussetzungen eine zentrale Bedeutung: »(a) eine Trennung zwischen Eigenem und Fremden, (b) eine Zersplitterung der physischen und der sozialen Welt« (Waldenfels 1990, 61) (a) Die Trennung zwischen Eigenem und Fremden setzt eine gewisse Form von Egozentrik voraus. Dabei liegt der Primat »beim Selbstbewusstsein und Selbsterleben (denn) Fremdes wird bewältigt, indem es am Eigenen gemessen wird, als Dublette (alter ego) als Abwandlung« (ebenda S. 61) vom eigenen ich. (b) »Auf die Zersplitterung der physischen und sozialen Welt antwortet eine Form von Logozentrik« (ebenda S. 61), durch die versucht wird, das Eigene vom Fremden zu trennen, wie es u. a. Immanuel Kant in seiner Einleitung zur »Kritik der reinen Vernunft« beschreib: »Es heißt aber jede Erkenntnis rein, die mit nichts Fremdenartigem vermischt ist« (Kant 1903/1968 S. 22) Eine weitere Möglichkeit könnte aus dieser Sicht darin bestehen, dass »alles Eigene und Fremde integriert wird in einen totalen, allumfassenden Denkraum« (Waldenfels 1990, 61) – letztlich ohne Bezug auf soziale Praxen. – Eine gegenteilige Position besteht in einer Aufgabe eigener Ansprüche und Auslieferung an das Fremde. Sie wäre jedoch nur eine Umkehrung der skizzierten »Aneignungsversuche« und würde alle Mängel in ihr spiegelbildliches Gegenteil verwandeln. Solche Initiativen zeigen sich oft als moralisch geprägte Überreaktionen auf die skizzierten, als fragwürdig angesehen, Formen der Abgrenzung. – Soll dagegen eine Verflechtung von Eigenem und Fremden gelingen, kann man anknüpfend an Bourdieus Sozialanalyse und mit Bezug auf Waldenfels,

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auf die zentrale Bedeutung von Erfahrungen als erlebte Auseinandersetzung mit dem Andersartigen verweisen: 1. Eine Erfahrung, die die Erfahrung des Fremden zulässt, muss sich selbst fremd werden, d. h., man macht Erfahrungen im wörtlichen Sinne und sammelt nicht nur Eindrücke. Dabei wird »Erfahrung« begriffen als eine Auseinandersetzung mit Anderem und mit Anderen in »einer Zwischensphäre, die eine Zuordnung und ein Zusammenspiel zwischen Erfahrendem, Erfahrenem und Miterfahrendem ermöglicht« (Waldenfels 1990, S. 64), was auch Michiko Mae (2003) bestätigt, wenn er betont: »Nur die Fremdheit als Unvertrautheit, als ›kulturelle Ferne‹, kann unsere eigenen Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten in Frage stellen und die Begrenztheit unseres Wissens aufweisen. Darin liegt das produktive Potential der Fremdheit: als Ressource für Erkenntnisgewinnung durch das Eigene.« (Mae 2003, S. 195) 2. Dies gelingt nur, wenn weder eine Trennung in Eigenes und Fremdes den Ausgangspunkt bildet noch eine idealistische Verschmelzung zur Leitlinie wird. Vielmehr muss die Erfahrung als Prozess begriffen werden, in dem Eigenes und Fremdes, Eigenartiges und Fremdartiges durch Differenzierung sozialer Praktiken entsteht. Das Ziel ist dabei weder eine Verschmelzung im Sinne einer Nichtunterscheidbarkeit noch eine Trennung im Sinne einer tolerierten Wohlunterschiedenheit, sondern die Überführung in ein gemeinsames Feld, in dem gleichzeitig eine Deckung und Nichtdeckung der sozialen Räume sichtbar wird, »wie bei den verschlungenen Bändern der Geflechte, die man an manchen Säulenkapitellen romanischer Kirchen finden kann. Wer das Geflecht entflechten wollte, würde das Muster zerstören.«. (Waldenfels 1990, 65). Entscheidend ist also, dass dieses Bild keine Synthese zeigen soll, sondern eher ein Wechselspiel, wie es Anwendung findet, wenn wir eine Bildanalyse vornehmen und dabei die Zweiheit von Gestalt und Grund hervorheben, die aufeinander verwiesen sind. 3. Die Erfahrungen dieser von Waldenfels angemahnten »Zwischensphäre« zeigen sich für einen Akteur in Regel in dreifacher Weise: (a) durch Betonung der Andersheit des Anderen: Sie stellt eine Kluft dar, die man versucht, auf unterschiedliche Weise zu überbrücken (affektive Teilhabe, Kommunikationstechniken etc.), wobei die Reversibilität der Standpunkte eine wichtige Voraussetzung darstellt: Ich finde mich im Anderen und finde den Anderen in mir, was u. a. Merleau-Ponty (1966) als »Chiasma« bezeichnet hat. (b) Erfahrung der Andersheit meiner selbst: Wenn sich »Eigenes« im Zusammenspiel mit »Fremdem« herausbildet, relativiert sich jener Be-

Interkulturelle Kompetenz – erwünscht, aber auch realisierbar?

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reich, der gern als originärer Eigenbereich angesehen wird. Es gibt dann immer weniger eine Selbstaneignung und Fremdaneignung. Das Ich findet nie ganz seinen Ort und ist somit nie völlig es selbst, sondern immer auch ein anderes. (c) Andersheit der fremden Ordnung: Sie erfahren wir zunächst immer als Grenzspiel in intersubjektiven und intrasubjektiven Dialogsituationen, indem sie unser gemeinsames Reden und Handeln nach diskursiven Mustern und Normen ermöglichen und begrenzen. Diese allgemeinen Erfahrungen einer Interdiskursivität verschärfen sich bei fremden Ordnungen, wie z. B. einer Fremdsprache. Das Verstehen einer fremden Sprache setzt ein mit einer erfahrenen »Tatsache an Bedeutungen« (Jakobson 1972, 42). – »Ähnliches gilt generell zwischen Eigenkultur und Fremdkultur« (Waldenfels 1990, 69), wobei die Andersheit innerhalb der eigenen Ordnung durch eine Transdiskursivität relativiert werden kann.

3.6

Interkultureller Dialog – verbale und nicht-verbale Performanz

Kennzeichnend für unseren Kulturkreis war lange Zeit ein Menschenbild, in dem Vernunft ausschließlich an Denken und Sprache gebunden ist. Entsprechend ging man auch in der Soziologie davon aus, dass die Konstruktion sozialer Ordnungen vorrangig kognitiv-planvollem Handeln folgt. Verstärkt wurde diese Deutungsperspektive in den 1960iger Jahren durch den sogenannten »linguistic turn«, wonach die Strukturen und Grenzen der Sprache auch die Strukturen und Grenzen der sozialen Welt sind. Eine Auffassung, die zunächst plausibel erscheint, denn letztlich kommen wir nicht aus der »Verhexung der Sprache« (Wittgenstein 1967) heraus, sind doch alle Einlassungen über die Bedingungen des Menschen in der Welt nur sprachlich kommunizierbar. Dieser Einsicht soll im Folgenden nicht widersprochen werden, zumal auch ein Großteil der sozialen Praxis über verbalisierte Interaktionen konstituiert und stabilisiert wird, und damit für die Analyse der Bedingungen von Migrationsgesellschaften von zentraler Bedeutung ist. In Weiterführung des »linguistic turn« hat sich in den letzten drei Jahrzehnten in der Soziologie jedoch auch eine Sensibilität für nicht-verbale Kommunikationsprozesse entwickelt, bei der weniger die kognitiven Voraussetzungen als vielmehr die performativen und körperlichen Ausdrucksformen in sozialen Praktiken analysiert werden. Dabei wird eine Differenz erkennbar zwischen der Re – Konstruktion sozialer Räume: Sie ist immer an die Bedingungen der verbalisierten Sprache gebunden. Und die Choreographie sozialer Ordnungen als Verflechtungszusammenhang von Körpern,

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Dingen, Räumen und Sprache: Sie zeigt sich als eine Konfiguration, wie schon angedeutet wurde, mit unterschiedlichen Wissensformen: – In nicht-verbalen Praxen (bestimmte Arbeitsprozesse, Sportaktivitäten, Kochen, Tanzen etc.) werden überwiegend stumme Austauschprozesse, man könnte sagen »von Körper zu Körper« flüchtige, labile Ordnungen aufgebaut. Sie sind gekennzeichnet durch praktisches Können, Erfahrungswissen in Meisterung von störanfälligen Prozessen des Sich-Abstimmens. In diesen Praxen des Selbst- und Fremderfahrens wird die Bedeutung des jeweiligen Körpers als Ort eines impliziten Praxis- und Erfahrungswissens in seiner sinnlich-körperlichen und temporären Verfasstheit von Sozialität und Intersubjektivität sichtbar. Eine körperbasierte Soziologie, »body turn« (Gugutzer, 2006), schärft die Aufmerksamkeit einerseits für solche spontanen fluiden Vergemeinschaftungen mit dem Körper und andererseits für Erkenntnisprozesse durch den Körper: Daraus ergeben sich verschiedene Frageperspektiven, die für eine Migrationsgesellschaft mit unterschiedlichen ethnologischen, kulturellen und ethischen Bedingungen von zentraler Bedeutung sein können: Wie wirkt Gesellschaft auf den menschlichen Körper? Wie wird der Körper diskursiv hervorgebracht? Wie wird der Körper kommuniziert? Was symbolisiert der Körper? Wie wird der Körper wahrgenommen? Wie handelt der Körper gewohnheitsmäßig? Wie wird der Körper präsentiert bzw. ignoriert? etc. – In verbalen Praxissituationen, die für Migranten immer die größte Hürde mit weitreichenden Konsequenzen darstellen, zeigt sich das Eigene in seiner beneidenswerten Selbstverständlichkeit und das Fremde in seiner oft brutalen Andersartigkeit. In keinem anderen sozialen Feld ist Differenz offensichtlicher. Entsprechend ist es auch unstrittig und schon in vielfältiger Weise thematisiert worden, dass diese täglich erfahrbare Barriere im interkulturellen Dialog möglichst unter Wahrung der personalen Achtung und Wertschätzung jedes Einzelnen schnell und nachhaltig minimiert werden sollte.

Resümee Im Text sollte deutlich werden, dass Kulturen nicht nur übergeordnete Orientierungs- und Geltungssysteme sind, innerhalb derer der Einzelne mehr oder weniger autonom handelt. Vielmehr stellt die kulturelle Praxis ein Handlungsfeld dar, in dem eine Person über ihren Habitus ihr gesellschaftlich strukturiertes »geschmacksorientiertes« Tätigkeitsfeld entwickelt. Ausgehend von einer solchen kulturell geprägten Mensch-Welt-Beziehung reicht es nicht aus, »Interkulturelle Kompetenz« als eine Fähigkeit zur wechsel-

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seitigen Anpassung an kulturelle Unterschiede zu verstehen, wie es Thomas fordert, zumal unklar bleibt, was dabei »Anpassung« heißen soll. Entscheidend ist vielmehr, folgt man Waldenfels und anderen, jenes »Zwischen«, jenes »Dritte« zwischen dem sogenannten »Eigenem« und »Fremden« als Herausforderung interkultureller Dialoge möglichst transparent und in seiner Wirkung erkennbar zu machen. Es ist jene Zwischenposition, die nach Helmut Plessner »das Andere als das Andere und Fremde zugleich sehen läßt« (Plessner 1941/1983, S. 91) Nach Alois Wierlacher (2003) bedeutet dies ein Abstandnehmen von dem uns geläufigen und immer wieder bestätigtem binären Denken und selbstbezogenem Messen. Denn dieses andere Denken »beginnt erst da, wo ein Drittes ins Spiel kommt. Wie das Fremde ein dreistelliger Begriff ist und das Verstehen des Anderen als etwas Fremdem zureichend nicht nach dem Modell von ego und ego alter, also nicht unter Zugrundelegung einer einzigen Systemreferenz erklärt werden kann (Turk 1993) wie Partnerschaft überhaupt erst durch den Ausgriff auf ein Gemeinsames möglich wird und das Dritte, das mit jeder kulturellen Überschneidungssituation ins Leben gerufen wird, so wird erst durch das Hinzutreten eines Dritten auch die Gefahr aller Kommunikation verringert, dass das Ich ein alter ego zum abkünftigen Modus seiner selbst macht.« (Wierlacher 2003, S. 216) Für praktisches Handeln in interkulturellen Situationen ergibt sich daraus eine permanente Herausforderung, bei der man sich bewusst macht, dass die Rede von »Interkultur« eine dritte kulturelle Praxiswelt kennzeichnet, die immer wieder neu geschaffen werden muss als Basisbedingung gleichberechtigten wechselseitigen Verstehens. Ein solches situatives Verstehen zeigt sich zwar in und an kommunikativen Praktiken. Es bekommt aber seine tiefere, qualitative Bedeutung erst, wenn diesen Praktiken auch eine interkulturelle Haltung zugrunde liegt, die bereit ist, das »Inter« als das gemeinsame, gleichrangige »Zwischen« verbaler und nicht-verbaler körperlicher kultureller Praxis anzuerkennen.

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Interkulturelle Kompetenz – erwünscht, aber auch realisierbar?

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Harald Kerber

Integration: Fremdheit, soziale Teilhabe und politische Teilnahme

I.

Zur Thematik des Fremden

1. Fremdheit hat etwas mit Sesshaftigkeit und Wanderungsbewegungen zu tun. Für Kant genießt der Fremde kein »Gastrecht« (I. Kant, Werkausgabe Bd. XI, 213) sondern nur ein »Besuchsrecht« (ebd., 214). Solches Recht begründet er mit dem Recht »des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde, auf der, als Kugelfläche, sie (die Menschen, H.K.) sich nicht ins Unendliche zerstreuen können, sondern endlich sich doch nebeneinander dulden … müssen« (ebd.). Ursprünglich habe »niemand an einem Orte der Erde zu sein mehr Recht …, als der andere« (ebd.). Diese Vorstellung ist dadurch gekennzeichnet, dass das Weltbürgertun nur als Ergänzung des Staats- und Völkerrechts begriffen ist. An »die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik« (ebd., 213) tritt für Kant »das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bundes« (ebd.). Hier wird noch ausgegangen von der uneingeschränkten Souveränität von Staaten, die, als Republiken, sich zu einem föderalen Bündnis zum Zwecke der Schaffung eines (aber immer wieder neu gefährdeten) ständigen Friedens unter Voraussetzung der Vermeidung von begrenzten Kriegen zwischen ihnen zusammenfinden. Dieser Zustand hält im Wesentlichen bis heute an. Aber es sind mittlerweile übernationale demokratische, aus historisch gewordenen Nationalstaaten zusammengesetzte Gebilde, so die EU, entstanden – wobei es die in anderer Weise gewordenen USA allerdings schon seit Kants Zeiten, und zwar seit der Unabhängigkeitserklärung von 1776, gibt –, und es haben, weltpolitisch, zumindest zwei große Einschnitte stattgefunden: – a) die Totalisierung des Krieges und damit die Erzeugung von riesigen Flüchtlingsbewegungen, und – b) die unter kapitalistischen Vorzeichen erfolgte Globalisierung (vgl. zu Kant aus heutiger Perspektive: J. Habermas 1999b). Heute müsste das Verhältnis von Sesshaftigkeit und Wanderung neu diskutiert werden und damit die Frage nach den Fluchtursachen und Fluchtgründen, die zu bestimmten Wanderungsbewegungen führen. Jeder kann, bezogen auf

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Harald Kerber

bestimmte Ursachen, heute zum Flüchtling werden (hier ist zu denken an die Klimakatastrophe), dessen positive Seite der Weltbürger wäre. Als Weltbürger müsste, umgekehrt, jeder das Recht haben, überall auf der Welt wohnen zu können. Das ist allerdings ein utopischer Gedanke, der sich an den vorfindlichen weltpolitischen und sozialen Zusammenhängen bricht, die von einem durch kapitalistische Ausbeutung bedingten Reichtums – Armutsgefälle, Klassenverhältnissen, und zu einem Teil von autoritären Herrschaftsstrukturen einzelner Staaten mitbestimmt sind. 2. Der Fremde ist, räumlich gesehen, gegenüber dem Sesshaften der Wanderer. Wanderungsbewegungen hat es im Laufe der gesamten Geschichte gegeben (vgl. J. Oltmer 2017). Die Strukturen der Intersubjektivität wandeln sich je nachdem, ob Wanderung oder Sesshaftigkeit vorherrscht. Im Unterschied zu Kants Begriff des Fremden auf der Achse des Weltbürgertums, ist in der Soziologie, so nach Simmel, unter dem Fremden nicht derjenige gemeint, »der heute kommt und morgen geht, sondern … der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat« (G. Simmel 1983, 509). Es handelt sich hierbei für Simmel um ein bestimmtes Verhältnis von »Nähe und Entferntheit …: die Distanz innerhalb des Verhältnisses bedeutet, dass der Nahe fern ist, das Fremdsein aber, dass der Ferne nah ist« (ebd.). – Simmel macht das an der Rolle des Händlers fest. – Der »Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden« (ebd., 511). Es gibt für Simmel unterschiedliche soziale Wechselverhältnisse, denen gegenüber ein Mensch-Nichtmensch-Verhältnis unter Menschen – Simmel bezieht sich hier auf das Beispiel des Verhältnisses der Griechen zum sog. Barbaren (vgl. ebd., 512) – eine »Nicht-Beziehung« (ebd.) ist. »Allein hier« hat nach ihm »›der Fremde‹ keinen positiven Sinn« (ebd.). 3. Für Habermas gilt, dass das Fremdsein in der Gesellschaft selbst immer schon gegeben ist. Nach ihm ergibt sich, dass »uns alle Personen jenseits des unmittelbaren Bekanntenkreises gleichermaßen nahe und ferne stehen. Diese ›Fremden‹ nehmen wir normalerweise unter der Kategorie ›des Anderen‹ wahr«, unabhängig davon, »ob sie … der eigenen Nation angehören und Mitbürger sind oder nicht« (J. Habermas 1992, 655). Nach der »Architektonik des Grundgesetzes« (ebd., 653), die »durch die Idee der Menschenrechte bestimmt ist, genießen alle Einwohner den Schutz der Verfassung. Fremde haben den gleichen PflichtenLeistungs- und Rechtsschutzstatus wie Inländer; auch in Hinblick auf den Wirtschaftsstatus besteht Gleichbehandlung« (ebd.) wobei in der BRD, »wie in

Integration: Fremdheit, soziale Teilhabe und politische Teilnahme

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den meisten Rechtssystemen des Westens, die Rechtsstellung von Fremden, heimatlosen Ausländern und Staatenlosen« sich »an den Status von Staatsbürgern immerhin angeglichen« (ebd.) habe. »Die menschenrechtliche Komponente des Staatsbürgerschaft« werde »durch supranationale Rechte, insbesondere durch das Europäische Bürgerrecht, … verstärkt« (ebd.).1

II.

Wanderungen, Migration und Integration von Minderheiten, das Eigene und das Fremde

Wanderungen im Laufe der Geschichte sind vielfältiger Art. Es gibt binnen-, Migrations- und Völkerwanderungen. Sie geschehen oft aus materieller Not, verursacht durch den Mangel an ökonomischen und sozialen Ressourcen, aber auch und vor allem aus Furcht vor politischer und anderer Verfolgung (z. B. Syrien, Jemen, Libyen). Zwischen dem Herkunfts- und dem Aufnahmeland besteht oft ein soziales Gefälle, das Integrationsarbeit zu überbrücken versucht. 1. Aber gegenüber einer z. T. gelungenen Integration von Minderheiten (also auch, so ist zu schließen, Geflüchteten) in eine Mehrheitsgesellschaft überhaupt, erfolgen oft, so nach Imhof, »Fremd- und Eigentypisierungen« (K. Imhof 1994, 408). Die Definition des Unterschieds zwischen dem als identisch definierten Eigenen und dem als nicht-identisch definierten Fremden ergibt sich dann daraus, dass man sich nicht in die Perspektive des Anderen zu versetzen vermag, es zu keinen Reziprozitäten kommt. Der Fremde erscheint dann nur als Folie dafür, zu wissen »wer wir sind« im Verhältnis dazu, »wer wir nicht sind« (ebd.). Der als fremd definierte Andere wird im Unterschied zum Eigenen externalisiert. Es kommt zu Stereotypisierungen. – Demgegenüber werden aber z. B. Geflüchtete über die Aufnahme und Anerkennung als politische Flüchtlinge zu anerkannten Minderheiten, so in Form einer rechtlichen Gleichberechtigung bei Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Im Gegensatz dazu fördert ein gesellschaftliches Entweder-Oder: Assimilation oder gesellschaftliche Marginalisierung, so wie es Imhof skizziert, »asymmetrische soziale Beziehungen mit freilich wechselseitig identitätsstabilisierender Wirkung« (ebd., 409). Das liegt nach ihm daran, dass im »Unterschied zur Minderheit … die Mehrheit … mehr Definitions- und damit Marginalisierungsmacht« (ebd.) besitzt. »Ihre Semantiken der Fremd- und Eigentypisierung definieren die Gesellschaft als solche« (ebd.). Hier kann durchaus für einzelne Minderheitenmitglieder über berufliche und sonstige Entwicklungen eine Integration in die Mehrheitsgesellschaft er-

1 Vgl. auch den Aufsatz von Regenbogen / Mokrosch in diesem Buch.

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Harald Kerber

folgen, ohne dass, im Sinne des Differenzschemas von Mehrheit und Minderheit, die Marginalisierung von Minderheiten dadurch aufgehoben wäre. Nach Imhof gibt es prinzipiell drei Ausprägungen der »Assimilations- und Integrationsbereitschaft« (ebd., 410) zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten: a) »eine hohe und beidseitige (kulturelle) Assimilations- und (strukturelle) Integrationsbreitschaft« (ebd.), was tendenziell zur »Auflösung der Minderheit« führt, b) »eine hohe Assimilations- und Integrationsbereitschaft der Mehrheit und … eine tiefe Assimilations- und Integrationsbereitschaft der Minderheit« (ebd.), was einerseits eine Zwangsassimilation und Zwangsintegration und andererseits eine Separation und Sezession fördert, sowie schließlich: c) »eine hohe Assimilations- und Integrationsbereitschaft der Minderheit und eine tiefe Integrationsmotivation bzw. Dissimilations- und Ausgrenzungstendenz seitens der Mehrheit«, welche »Segregation und Ghettoisierung« (ebd.) erzeugen. In diesem Sinne ist in dieser dreifachen Form die »Gruppenidentität … auf Fremd und Eigentypisierungen angewiesen« (ebd., 411). »Das Fremde dient als Objekt von Stereotypisierungen und in negativer Dialektik als Selbstvergewisserung, es dient als Objekt von Stigmatisierungen im Kontext von Ideologien der Ungleichheit und als wechselwirksames Objekt von Mehrheits-Minderheitsspannungen« (ebd.). 2. In Reaktion auf die Willkommenskultur in der BRD von 2015 hat sich als Gegenbewegung eine in Teilen der Bevölkerung schon vorhandene Fremdenfeindlichkeit politisch in dem Parteigebilde der AfD geoutet. Hier wird von Überfremdung gesprochen. Eine explizite Fremdenfeindlichkeit ist dabei die radikalste Resultante von bestimmten Vergemeinschaftungsprozessen, die in unterschiedlichster Art von einer Identität und Nichtidentität zwischen Mehrheit und Minderheit ausgehen. – Allgemein verstanden, ergeben sich nach Imhof im Vorfeld expliziter fremdenfeindlicher Einstellungen dabei drei Formen der Stereotypisierung dessen, was als fremd definiert wird: a) eine rassenbiologische, d. h. »eine Naturalisierung des Fremden und Nichtfremden« (ebd., 418), b) eine Art »Volkstumsideologie«, d. h. »eine Sakralisierung der eigenen Herkunft« (ebd.), und schließlich c) »eine religiöse Dogmatisierung der Differenz zwischen Nichtfremden und Fremden«. In deutlich fremdenfeindlichen Orientierungen wird nach ihm überdies mit einer »substantialistische(n) Wesensbestimmung des Eigenen und des Fremden« (ebd., 419) operiert. »Fremdenangst wird«, unter dem Gestus einer »Komplexitätsreduktion«, zur »sozial erlaubten Phobie« (ebd.).

Integration: Fremdheit, soziale Teilhabe und politische Teilnahme

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Stattdessen hätte, so nach Zˇizˇek, zu gelten, die Differenz von Identität und Nichtidentität unter den Begriffen des Eigenen und des Fremden in der Weise zu fassen, dass wir zunächst »einen Fremden in uns selbst erkennen« (S. Zˇizˇek, 2016, 45f.). Das hätte dann auch für den gesellschaftlichen Verkehr, begriffen als kommunikativ vermittelte Verhältnisse, überhaupt zu gelten. In einem solchen Begriff zeigt sich nach ihm »die innerste Dimension der europäischen Moderne«. Es ist dann primär von universellen Prinzipien auszugehen, die für jeden Einzelnen, unabhängig von Ethnie, Religion und Herkunftskultur, in gleicher Weise Gültigkeit haben. Es wäre dazu aber zuallererst, so wie er es nennt, der »Nullpunkt der ›Entnaturalisierung‹« zu »durchschreiten«, um zu einer »allgemeinen Solidarität« (ebd.) zu gelangen. »Wenn wir«, so Zˇizˇek, »eine allgemeine Solidarität wollen, müssen wir erst in uns selbst allgemein werden und uns in ein allgemeines Verhältnis zu uns selbst setzen, indem wir Abstand zu unserer eigenen Lebenswelt gewinnen« (ebd.). Zu beachten ist hierbei nun aber zunächst der Unterschied zwischen sozialer, politischer und Systemintegration, wie er für die moderne Gesellschaft sich als relevant erweist

III.

Soziale, politische und Systemintegration

1. Bezogen auf die moderne Gesellschaft wird, im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften, welche entweder segmentär (z. B. Verwandtschaftssysteme) oder hierarchisch-stratifikatorisch strukturiert sind, von einem Begriff funktional differenzierter Gesellschaft ausgegangen. Die soziale und politische Integration bezieht sich dabei auf Prozesse der Einbeziehung von Personen und Gruppen (z. B. Geflüchteten) als Minderheiten in eine durch die Mehrheit anerkannte Gemeinsamkeit von Werten. Sie findet statt, so in demokratischen Staaten, a) unter der Voraussetzung der Anerkennung eines kulturellen Pluralismus und b) der Gültigkeit von allgemein anzuerkennenden universellen Normen, wie den Menschenrechten und, neben den Bürgerrechten, ihrer jeweiligen Kodifizierung zu Grundrechten in den demokratischen Verfassungen. Auf dieser Grundlage gelten die in den Verfassungen gewährten entsprechenden Grundfreiheiten für alle Mitglieder eines nationalstaatlich bzw. supranational (so z. B. der EU) und der Möglichkeit nach weltweit sich formierenden sozialen- und politischen Verbundes gleichermaßen. Eine diesbezügliche soziale und politische Integration geht, unter Anerkennung religiöser und kultureller Verschiedenheit, von einer gleichberechtigten sozialen Teilhabe und, unter dem Begriff der Staatsbürgerschaft, politischen Teilnahme an den Belangen des gesellschaftlichen Lebens und der Bildung von Öffentlichkeiten sowie eines zivilgesellschaftlichen Engage-

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ments aus. Die Werthaltungen und das Normengefüge demokratischer Staaten verdanken sich dabei in dem Sinne universalistischen Orientierungen, dass sie dem Prinzip nach aus Einsicht als intersubjektiv akzeptierte präsumtiv von allen Gesellschaftmitgliedern anerkannt werden können. Sie haben einen universalistischen Geist und beziehen sich auf die Menschen als Menschen jenseits von Hautfarbe, Stand, Nationalität, religiöser und kultureller Orientierung. Dabei gilt dann, so Habermas, »dass in komplexen (demokratischen, durch das Prinzip der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung gekennzeichneten, H.K.) Gesellschaften die Gesamtheit der Bürger nicht mehr durch einen substantiellen Wertekonsens zusammengehalten werden kann, sondern nur noch durch einen Konsensus über das Verfahren legitimer Rechtsetzung« (J. Habermas 1999c, 263) unter der Prämisse eines »Universalismus der Rechtsprinzipien…« (ebd., 264). Dieser Universalismus ist nach ihm unter verfassungspatriotischen Gesichtspunkten allerdings eingebettet »in den Kontext einer jeweils historisch bestimmten Kultur« (ebd.). 2. Habermas betont, dass, »wie die bürokratische Staatsanstalt, so hat auch die kapitalistische Wirtschaft einen systemischen Eigensinn entwickelt. Die Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkte gehorchen einer eigenen Logik. Neben der … administrativen Macht … ist das Geld zu einem anonymen, über die Köpfe der Beteiligten hinweg wirksamen Medium der gesellschaftlichen Integration geworden.« Diese »Systemintegration« trete »in Konkurrenz zu der über Werte, Normen und Verständigung laufenden, also durch das Bewusstsein der Aktoren vermittelten Sozialintegration. Die über demokratische Staatsbürgerschaft laufende politische Integration bildet dabei einen Aspekt dieser allgemeinen Sozialintegration« (J. Habermas 1992, 643f.). Daraus ergebe sich, dass »Kapitalismus und Demokratie in einer – von liberalen Theorien oft geleugneten – Spannung« (ebd., 644) stehen. – Sodann gelte, betrachte man die Gesellschaft soziologisch unter dem Aspekt der historisch linearen Aufeinanderfolge von liberalen, politischen und dann sozialen Rechten – und hierbei unter dem der »›Inklusion‹« – (647), dann erwerben in »einer funktional immer weiter ausdifferenzierten Gesellschaft … immer mehr Personen (und das müsste dann in einer entsprechenden Weise auch für anerkannte Geflüchtete gelten, H. K.) immer weitere Rechte auf Zugang zu und Beteiligung an immer mehr Teilsystemen« (ebd.). Habermas nennt hier u. a.: »Märkte, Betriebe und Arbeitsplätze, … Ämter, Gerichte … Schulen… Krankenhäuser, … Parteien, … Parlamente« (ebd.), usw. Diese Sichtweise »eines linearen Fortschritts« (ebd.) bleibe aber »neutral« gegenüber »Zuwächsen und Verlusten an Autonomie« und sei demgemäß »blind gegenüber der tatsächlichen Nutzung eines aktiven Staatsbürgerstatus, über den der Einzelne auf die demokratische Veränderung seines eigenen Status einwirken kann« (ebd.).

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3. Die negativen Freiheits- und die sozialen Teilhaberechte haben nach Habermas ein funktional-normatives »Janusgesucht« (ebd., 648) und »können … paternalistisch verliehen« (ebd., 647) werden. Die negativen Freiheitsrechte beziehen sich danach »unter funktionalen Gesichtspunkten« auf das Wirtschaftssystem und »unter normativen Gesichtspunkten« auf die Gewährleistung »individuelle(r) Freiheiten« (ebd., 648), die sozialen Rechte »unter funktionalen Gesichtspunkten auf die Installierung wohlfahrtsstaatlicher Bürokratien« und »unter normativen Gesichtspunkten … auf eine gerechte Teilhabe am gesellschaftlichen Reichtum« (ebd.). Dagegen gelte: »Nur die politischen Teilnahmerechte begründen … die reflexive auf sich selbst bezügliche Rechtsstellung eines Staatsbürgers« (ebd.), während »Rechtsstaat und Sozialstaat … im Prinzip auch ohne Demokratie möglich« (ebd., 647) seien. Das Demokratieprinzip ist entsprechend den negativen Freiheits- und den sozialen Teilhaberechten gegenüber als vorausgesetzt zu betrachten. Diese sind hingegen, für sich betrachtet, auch ohne es denkbar. Die »Freiheits- und Teilhaberechte ermöglichen die privatistische Abkehr von einer Staatsbürgerrolle, die sich damit auf die Beziehungen eines Klienten zu versorgenden und leistenden Verwaltungen reduziert« (ebd., 648), obwohl sie andererseits, und zwar empirisch, nicht aber »konzeptuell« betrachtet, »auch als rechtliche Basis« dafür begriffen werden können, »eine effektive Wahrnehmung politischer Rechte« (ebd.) erst möglich zu machen. 4. Dieser gesamte Fragezusammenhang tangiert auch die Frage nach dem Verständnis der Integration von anerkannten Geflüchteten, ob nämlich, und zwar über den Erwerb bestimmter Rechte, Integration soziologisch als Zugang zu bestimmten Teilsystemen der Gesellschaft begriffen wird oder auch und vornehmlich – was von der Einbürgerung abhängt – als politische. Für die EU selbst, die kein Bundesstaat ist, gilt dabei, dass die »Unionsbürgerschaft … zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu« tritt, »sie aber nicht« ersetzt. (Art. 9, Satz 3, Vertrag über die Europäische Union, Europa-Recht 2020, 8). Nach Habermas muss nun ein »europäischer Verfassungspatriotismus, anders als der amerikanische, aus verschiedenen nationalgeschichtlich imprägnierten Deutungen derselben universalistischen Rechtsprinzipien zusammenwachsen« (J. Habermas, 1992, 651). (Als Beispiel nennt er die Schweiz (vgl. ebd.)). – Es würden, bezogen auf Europa, »alle politischen Entscheidungen von den Bürgern in ihrer doppelten Rolle als europäische Bürger einerseits und als Bürger ihres jeweiligen nationalen Mitgliedstaates andererseits legitimiert« (J. Habermas, 2013, 69). Die »demokratische Staatsbürgerschaft – im Sinne von citizenship – » (J. Habermas, 1999a, 189) stifte »eine rechtlich vermittelte Solidarität unter Fremden; und diese zunächst mit dem Nationalstaat auftretende Form der sozialen Integration« (ebd.) verwirkliche »sich in Gestalt eines bis in die politische Sozialisation eingreifenden Kommunikationszusammenhangs« (ebd.).

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IV.

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Soziale Integration, kulturelle Vielfalt, politische Kultur und intersubjektive Anerkennung

1. Moderne Gesellschaften zeichnen sich, unter Voraussetzung des skizzierten Unterschieds von Sozial- politischer und Systemintegration und u. a. vermittelt durch technische Entwicklungen (bis hin zur immer stärker sich durchsetzenden Digitalisierung), durch einen permanenten, sich immer schneller vollziehenden sozialen Wandel in Richtung auf interdependente globalisierte weltgesellschaftliche Prozesse aus. Soziale Integration bedeutet dabei auch eine ständige Umorientierung für den Einzelnen und für Gruppen. In solche Wandlungsprozesse sind die kulturellen Unterschiede involviert. Diesbezüglich kann z. B. nicht von einer feststehenden Leitkultur (wie das in der BRD einmal angedacht worden war) im Verhältnis zu anderen kulturellen Orientierungen ausgegangen werden. Kulturen wandeln sich im Innern wie im Verhältnis zu ihren Außenbezügen. Schon von daher ist eine gegenseitige gleichberechtigte Akzeptanz im Sinne einer gegenseitigen (Respekt-)Toleranz zwischen allen Kulturen geboten, wobei mögliche Diskriminierungen von Gruppen (wie z. B. die mangelnde Gleichberechtigung von Frauen) unter demokratisch-universalistischen Kriterien der Kritik unterliegen und nicht tolerabel sind (das gilt auch für nicht-demokratische Orientierungen in religiösen Gemeinschaften). Letztlich ist die Einzelentscheidung eines jeden als maßgebend für seine kulturelle und sonstige Orientierung als unabdingbar zu respektieren. »Das demokratische Recht auf Selbstbestimmung«, so Habermas, »schließt gewiss das Recht auf Bewahrung einer eigenen politischen Kultur ein, die für die Staatsbürger einen konkreten Kontext bildet, sie schließt aber nicht das Recht auf die Selbstbehauptung einer privilegierten kulturellen Lebensform ein. Im Rahmen der Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates können vielfältige Lebensformen gleichberechtigt koexistieren. Diese müssen sich allerdings in einer gemeinsamen politischen Kultur überlappen, welche wiederum für Anstöße von Seiten neuer Lebensformen offen ist« (J. Habermas, 1992, 659). – Das führt, als Schlussgedanke, zur Frage nach einem zulänglichen Begriff intersubjektiver kultureller Anerkennung. 2. Anerkennungsbeziehungen implizieren bestimmte Wechselverhältnisse zwischen dem Anderen und dem Eigenen. Das Eigene wird, z. B. bezogen auf kulturelle Orientierungen, so begriffen, dass es sich an den Orientierungen der Anderen relativiert – und umgekehrt. Kulturen sind dabei als wandelbar zu verstehen. Der Begriff der Leitkultur, so in der BRD einstmals bezogen auf das Flüchtlingsthema, würde problematisch. Alle Kulturen sind gleichberechtigt. Die Klammer ist dabei in einem säkularen Staat und einer säkularen Gesellschaft das Recht und die Rechtsgleichheit bei kulturellem Pluralismus. Soziale Integration

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ist dann nicht als ein asymmetrischer Prozess zu verstehen, sondern als ein gegenseitiger Lernprozess. Der Begriff der intersubjektiven Anerkennung meint letztlich, wie es Habermas formuliert, nicht nur »im Anderen den Gleichen zu erkennen und anzuerkennen«, sondern den »Anderen als Anderen« (J. Habermas 2019, 794). »Die Angehörigen einer Gesellschaft sollen sich nicht nur reziprok als Gleiche anerkennen, sondern gleichzeitig in ihrer Andersheit respektieren und füreinander Andere bleiben dürfen« (ebd.). »Mit wachsender Differenzempfindlichkeit«, so Habermas, »liberalisiert und vertieft sich die politische Kultur …« (ebd.). Dabei gilt dann, dass das »Konfliktpotential von Lebensformen, die füreinander ihre Integrität wahren wollen, … letztlich nur durch das Band einer gemeinsamen politischen Kultur entschärft werden« (ebd., 795) kann. – Wie aber soll nun, speziell bezogen auf die Flüchtlingsproblematik, konkret verfahren werden? Dazu, nach der sog. Willkommenskultur, einige Stimmen aus der Philosophie.

V.

Stichwörter für eine zu praktizierende Integration

1. Von Gunter Gebauer wird betont: »Wir brauchen Integration im Sinne eines fairen Aushandlungsprozesses« (Philosophiemagazin Februar/März 2016, 54). Es handelt sich hierbei nach ihm um die Form eines »dialogischen Geschehen(s)«(ebd.). – Integration ist nach Heinz Wissmann Ausdruck einer sich permanent entwickelnden »Gemeinschaftserfahrung« (ebd., 55) zwischen dem Aufnahmeland (hier der Bundesrepublik) und den Geflüchteten zugunsten von »produktiver Teilhabe« (ebd.) am politischen und gesellschaftlichen Prozess. – Es geht, so nach Michael Hampe, um die »Idee eines aufgeklärten Lebens« (ebd., 58). Dieses ist nach ihm orientiert an der Universalität der Menschenrechte, der »Meinungs- und Religionsfreiheit« (ebd.), dem Rechtsstaat, einer freien Kunst und einem »Bildungssystem, das nach der Entwicklung autonomer Persönlichkeiten strebt, die sich in egalitären Gemeinschaften ohne Bevormundung Lebensziele setzen« (ebd.). – Integration unter dem Gesichtspunkt einer Entkopplung von »Politik und Kultur« bezieht sich für Julian Nida-Rümelin, und hier u. a. unter Verweis auf Habermas, im Wesentlichen auf »das Postulat einer autonomen politischen Sphäre, eines öffentlichen Raumes der Gründe, der allen, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion und kultureller Prägung, zugänglich ist« (ebd., 59). Demokratie ist nach ihm » nicht nur eine Staats-, sondern eine Lebensform«, beruhend auf »einer rechtlichen, politischen, aber auch kulturellen Praxis der Nichtdiskriminierung nach Religion, Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht« (ebd.). Und also: »Es bedarf keiner spezifischen deutschen Leitkultur, sondern einer alltäglich praktizierten Leitkultur der Humanität, des wechsel-

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seitigen Respekts, der gleichen kulturellen Anerkennung, der Akzeptanz von weltanschaulichen und kulturellen Unterschieden« (ebd.). Partikulare Weltanschauungen und sonstige, z. B. religiöse Praktiken ähnlicher Art, seien dabei »zu zivilisieren« (ebd.). Die »möglicherweise größte Integrationsleistung« ist für Nida-Rümelin »die Eindämmung eines rechten Antihumanismus« (ebd.). – Bezogen auf die Toleranz gegenüber unterschiedlichen religiösen Einstellungen geht Rainer Forst davon aus, dass die »Grenze der Toleranz« (ebd., 63) nicht durch eine »Mehrheitsreligion oder ›Leitkultur‹« bestimmt ist, sondern dort, wo »klare Grundrechte und Normen diese Grenze bestimmen« (ebd.). Das gilt nach ihm u. a. auch für die Verweigerung von »Bildungschancen« für Mädchen und Frauen und bei »Zwangsehen« (ebd.) – Gelungene Integration ist schließlich, so nach Harald Welzer, eine solche, dass sie, und zwar im Sinne eines kulturellen Pluralismus von Anerkennungsverhältnissen, keine explizite Rolle mehr spielt. Ihr »Erfolg«, so Welzer. »wird darin bestehen, dass man ihn nicht mehr bemerkt« (ebd., 66). Das aber setzt nach ihm lang anhaltende Anstrengungen in allen möglichen Sektoren der Gesellschaft voraus: so in Hinsicht auf den Spracherwerb der neu Ankommenden, sowie innerhalb des Bildungs- Ausbildungs- und des Wohnbereiches, und zwar letztlich unter der Maßgabe einer gelungenen »Durchmischung« der Bevölkerung gegenüber der »Entstehung von Parallelgesellschaften« (ebd.). 2. Die Geflüchteten, so sieht es schließlich Claus Leggewie, erinnern uns daran, »dass das Leben auf der ethnisch und (a)religiös homogenen Wohlstandsinsel«, also Europa, »passé« (ebd., 67) ist. »Masseneinwanderung ist die neue Wirklichkeit« (ebd.). – Diese aber wurde mittlerweile in vieler Hinsicht und mit z. T. sehr problematischen Mitteln wieder radikal eingegrenzt. Es zeigt sich hier, wie zerrissen Europa in dieser Frage ist, und zwar gerade mit Bezug darauf, dass es seine eigenen, doch als universell verstandenen Werte, und vornehmlich den der Solidarität, ständig missachtet. Das läuft, bei allen z. T. auch gegenteiligen Anstrengungen einzelner europäischer Länder, in der herrschenden Praxis auf ein mehr oder minder permanent antihumanistisches Verhalten hinaus. Für die BRD speziell mag vielleicht gelten, dass, wie es Justus Bender mit Bezug auf Merkels Satz von 2015: »Wir schaffen das« formuliert, zwar viel darüber gestritten wurde, »ob wir es schaffen, wie wir es schaffen, und wann wir es geschafft haben würden, wenn wir es denn schaffen« (J. Bender, 2020, 2), dass aber »viel geschafft« (ebd.) wurde, diese »Sache« andererseits aber auch eine sei, die den Beteiligten »weiter zu schaffen« (ebd.) macht. Der Großbrand in dem hoffnungslos überfüllten Flüchtlingslager in Moria auf der griechischen Insel Lesbos im September 2020 verdeutlichte dagegen nur aufs Neue, dass die Flüchtlingspolitik in Europa insgesamt einen in vielen Aspekten erschreckend menschenverachtenden Charakter hat. Eine einheitliche an den Werten der Europäischen Union orientierte

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europäische Flüchtlingspolitik, die dringend notwendig wäre, steht weiterhin aus. (Vgl. zu diesen Werten Art. 2, Vertrag über die Europäische Union, EuropaRecht 2020, 4).

Literatur Bender, Justus: Haben wir das geschafft? in: Frankfurter Allgemeine SONNTAGSZEITUNG, 6. 09. 2020. Europa-Recht, 28. Auflage, dtv 2020. Habermas, Jürgen: Staatsbürgerschaft und nationale Identität; in, ders.: Faktizität und Geltung, Suhrkamp 1992, S. 632–660. –: Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Grimm, in: Die Einbeziehung des Anderen, Suhrkamp 1999a, S. 185–191. –: Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, in: ders.: Die Einbeziehung des Anderen, Suhrkamp 1999b, S. 192–236. –: Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat; in, ders:, ebd., 1999c, S. 237– 276. –: Demokratie oder Kapitalismus?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 58. Jahrgang, Heft 5, Verlag Blätter Verlagsgesellschaft mbH, Berlin 2013, S. 59–70. –: Postskriptum, in: Auch eine Geschichte der Philosophie, 2 Bde., Bd. 2, Suhrkamp 2019, S. 767–807. Imhof, Kurt: Minderheitensoziologie, in: Kerber, Harald, Schmieder, Arnold (Hg.): Spezielle Soziologien, rowohlts enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg, S. 407–423. Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden, in: Werkausgabe Bd. XI, Suhrkamp 1977. Oltmer, Jochen: Migration, Geschichte und Zukunft der Gegenwart, Konrad Theiss Verlag 2017. Simmel, Georg: Soziologie, Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Duncker & Humblot, Berlin 1983. Was tun? Philosophen zur Flüchtlingskriese, in: PhilosophieMAGAZIN, Berlin Februar, März 2016, S. 42–67. Zˇizˇek, Slavoj: Wir sind alle sonderbare Irre, in: DIE ZEIT, 7. 04. 2016.

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Streitkultur, Integration, Wertevermittlung – Mediation

Verbesserung der Streitkultur in Deutschland? Als der Gesetzgeber das Mediationsgesetz 2012 erließ, sprach die damalige Justizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, von »einem Meilenstein zur Verbesserung der Streitkultur in Deutschland.«1 Mit der Nennung eines der erklärten Ziele der Gesetzgebung genannt wurde jedoch nicht ganz klar, welche Streitkultur gemeint war. Sollte die Mediation in einem engeren Sinn wirken und in justiziablen Streitigkeiten als Alternative zum Rechtsstreit vor Gericht gestärkt werden? Oder sollte sie viel breitere gesellschaftliche Relevanz als begleitende Unterstützung beim Zusammentreffen von unterschiedlichen Interessenslagen verschiedener Gruppen in Städten, Gemeinden oder gesellschaftlichen Einrichtungen erhalten? Oder beides? Da der Gesetzgebung selbst einiges an Streit vorausgegangen war, unter anderem über die Ausgestaltung der innergerichtlichen Mediation, kann vermutet werden, dass der Fokus des Gesetzes eher auf die Verwendung der Mediation in zivilrechtlichen Streitigkeiten gerichtet war, und so konzentrierte sich die Berichterstattung in der Presse darauf. Dort kann die Mediation zweifelsohne einen wichtigen Beitrag leisten, doch sind die Fallzahlen von Mediationen an deutschen Gerichten seit dem Gesetz nicht wesentlich gestiegen.2 Das Ziel einer »Verbesserung der Streitkultur« für gescheitert zu er1 »Güterichter und Mediatoren,« Süddeutsche Zeitung, 2. Juli 2012, https://www.sueddeutsche. de/politik/mediationsgesetz-streitende-buerger-bekommen-hilfe-zur-selbsthilfe-1.1398812-2 (Zugang 10. März 2020). Die Begründung des Gesetzesentwurfs sprach von einer nachhaltigen Verbesserung der Streitkultur: »Die mit dem Entwurf verfolgte Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung soll zu einer nachhaltigen Beilegung von Streitigkeiten zwischen Bürgerinnen und Bürgern und insgesamt zu einer Verbesserung der Streitkultur beitragen,« Deutscher Bundestag, 17. Wahlperiode, Drucksache 17/5335, 1. April 2011, http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/053/1705335.pdf (Zugang 10. März 2020), S. 12. 2 Siehe »Bericht der Bundesregierung über die Auswirkungen des Mediationsgesetzes auf die Entwicklung der Mediation in Deutschland und über die Situation der Aus- und Fortbildung der Mediatoren«, https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/Service/StudienUntersu

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klären oder deswegen aufzugeben, wäre jedoch falsch.3 Die Mediation kann viel mehr, und sie spielt eine zunehmend wichtige Rolle in der Gesellschaft – überall da, wo es schwierig ist, miteinander zu reden und wo es dennoch Sinn macht, dies zu tun. Im Folgenden will ich den Möglichkeiten und der Aufgabe der Mediation in der (Migrations-)Gesellschaft heute nachgehen und insbesondere fragen, inwiefern Mediation einen Beitrag zu einem Diskurs über Werte oder zur Vermittlung von Werten leisten kann.

Was ist (interkulturelle) Mediation? Die Begriffsbestimmungen des Mediationsgesetzes lauten: (1) »Mediation ist ein vertrauliches und strukturiertes Verfahren, bei dem Parteien mithilfe eines oder mehrerer Mediatoren freiwillig und eigenverantwortlich eine einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben. (2) Ein Mediator ist eine unabhängige und neutrale Person ohne Entscheidungsbefugnis, die die Parteien durch die Mediation führt«.4 Das ist einerseits eine recht allgemeine Definition der Mediation und des Mediators, ohne nähere Bestimmung des »strukturiertes Verfahrens« oder der Vorgehensweise, oder der Qualifikationen des Mediators.5 Andererseits ist dies eine eher enge Definition eines Verfahrens, das auf die Beilegung eines spezifischen Streits hinwirkt, in dem der Mediator »unabhängig« und »ohne Entscheidungsbefugnis« ist, und in dem die Parteien selbst eine »einvernehmliche Beilegung ihres Konflikts anstreben«. Viel allgemeiner gefasst, kann die Mediation als eine Gesprächsführungsmethodik für eine gute Kommunikation in herausfordernden Konflikt- und Gesprächssituationen gesehen werden, auch aber nicht ausschließlich in Fällen der »neutralen« Vermittlung zwischen anderen. In vielen Fällen wären dann die Rolle des Mediators als Moderators und die Ziele der Parteien als Gesprächspartner nicht so eng gefasst wie in dem Mediationsgesetz. Die Mediation geht chungenFachbuecher/Evaluationsbericht_Mediationsgesetz.pdf ?__blob=publicationFile&v= 1 (Zugang 10. März 2020). Hier wird festgestellt, dass die Fallzahlen der innergerichtliche Güterichterverfahren auf einem geringen Niveau »stagnieren« (S. 47). 3 Siehe dazu Ulla Glässer, »Viel Lärm um nichts? Überlegungen zur Evaluation des Mediationsgesetzes«, Zeitschrift für Konfliktmanagment, 21/1, 2018, S. 4–8. 4 https://www.gesetze-im-internet.de/mediationsg/BJNR157710012.html (Zugang 10. März 2020). 5 Diese wurden in dem Gesetz auch nicht näher benannt, jedoch in der späteren »Verordnung über die Aus- und Fortbildung von zertifizierten Mediatoren« vom 21. August 2016 ausgeführt. Siehe https://www.gesetze-im-internet.de/zmediatausbv/BJNR199400016.html (Zugang 10. März 2020).

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unter anderem strukturiert vor, als sie zuerst verstehen will, worum es geht, bevor Handlungsoptionen erwogen oder Entscheidungen getroffen werden. Mediation besteht in der Regel zu einem großen Teil darin, Menschen zu Wort kommen zu lassen, ihnen empathisch und wertschätzend zu begegnen, sie zu verstehen, und die teils komplexen Sachverhalte, die sie bewegen, oder ihre Anliegen, Bedürfnisse oder Interessen klar zu benennen. Erst verstehen, dann auf den Punkt bringen, dann überlegen, was getan werden kann, dann entscheiden, falls Entscheidungen überhaupt anstehen – so sieht das strukturierte Verfahren der Mediation aus. Die Mediation ist flexibel, sie muss nicht streng nach bestimmten Verfahrensregeln vorgehen. Es ist vielmehr die Haltung des Verstehen-Wollens, die die Mediation ausmacht, mit dem Ziel, mehr Verständnis zwischen konkurrierenden oder unterschiedlichen Wahrnehmungen, Interessen, Werten oder Positionen zu erreichen. So gesehen und praktiziert kann die Mediation große gesellschaftliche Bedeutung haben und sie kann überall dort angewendet werden, wo Klärungsbedarf und Empathie notwendig oder hilfreich sind, von der Vorstandssitzung eines großen Unternehmens bis zum Abendbrottisch in Familien: Mediation als eine gute Moderation von potentiell schwierigen Gesprächen. So wundert es nicht, dass viele und immer mehr Menschen Mediationsausbildungen absolvieren, nicht vorrangig um Mediatoren in zivilrechtlichen Streitigkeiten zu werden, sondern um gesellschaftliche Dialoge zu begleiten, oder um ihre Kommunikationskompetenzen in ihrem eigenen Berufsalltag zu stärken. Die Mediation, das mediativ geführte Gespräch und die mediative Moderation von Gesprächen anderer haben ihren Platz überall dort, wo es schwierig ist, miteinander zu reden, und die Einsatzgebiete der Mediation sind vielfältig. Dabei meine ich nicht nur die eher etablierten und »klassischen« Einsätze in der Familienmediation, im Täter-Opfer-Ausgleich oder in der inner- oder zwischenbetrieblichen Wirtschaftsmediation. Vielmehr meine ich gesellschaftliche Orte und Konstellationen, wo mehr Verständnis, Dialog oder Austausch hilft, und wo Menschen arbeiten, die Gesprächsführungen übernehmen müssen: bei der Polizei, in Schulen, in Krankenhäusern, bei Wohnungsbaugesellschaften, bei Behörden, bei öffentlichen Versammlungen, bei Beratungsstellen aller Art, und auch: interkulturell. Wenn die Mediation an sich der Verständigung zwischen unterschiedlichen Sichtweisen dient, kann sie überhaupt eine besondere »interkulturelle« Ausprägung haben? Die Mediation geht davon aus, dass es im Streitfall grundsätzlich unterschiedliche Werte oder Anliegen, und, wenn man will, unterschiedliche »Kulturen« gibt, und insofern könnte behauptet werden, jede Mediation sei in einem gewissen Sinn interkulturell. Auch in derselben kulturellen oder ethnischen Gruppe kann es große Unterschiede geben. In der Abstraktion stimmt diese Feststellung, während sie für die Praxis zu kurz greift und die Gefahr in sich birgt, dass die Mediation oder die Mediatoren sich zu unreflektiert in bestimmte

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Settings begeben, wo Konflikte anders ausgetragen werden als sie es gewohnt sind. Das ist schon auf der Verfahrensebene eine recht komplexe Sache: wie offen werden in unterschiedlichen Kulturen Interessen ausgesprochen, wie wird verhandelt, wer spricht oder vertritt Interessen, oder wer entscheidet und wonach? Und welche Fragen an eigene Wertvorstellungen kommen auf, wenn wir anderen Konfliktverhalten begegnen? Es ist mir wichtig, dass wir Mediatoren uns unsere Arbeit nicht zu einfach machen. Katharina Kriegel-Schmidt schreibt dazu: »Nicht selten wird ›interkultureller Kompetenz‹ […] simplifiziert als Wissen um kulturbedingte Unterschiede. Schaut man sich Workshop-Programme zu diesem Thema an, scheint das Ziel, Mediatoren bestimmte Kategorien kultureller Unterschiede oder Kulturdimensionen zu vermitteln, auf deren Grundlage sie dann […] ›kultursensibel‹ mediieren sollen. Aber Interkulturelle Mediation ist nicht so banal! Noch dazu handelt es sich kulturwissenschaftlich argumentiert um einen Fehlschluss, Menschen je nach Herkunftskultur oder Land, in dem sie sich bewegen, bestimmte kulturelle Eigenschaften zuzuschreiben. Ist es denn nicht besser, jeden Medianden als unverwechselbares Individuum anzuerkennen? Leider bliebe dieser Weg unbefriedigend; er ist nur das andere Extrem zu einem Ansatz, der Kulturdeterminismus propagiert: Die auf Mediation angewandte kulturwissenschaftliche Forschung zeigt, dass wir wertvolle Möglichkeiten verschenken, im Konflikt zu helfen, wenn wir kulturellen Kontexten und den damit einhergehenden Phänomenen, die in der Regel im präreflexiven Bereich liegen, keine Beachtung schenken. Soviel lässt sich mit Sicherheit behaupten. Kultur spielt eine Rolle in der Mediation«.6

Kriegel-Schmidts Skepsis darüber, die »Kultur« auf einfache Kategorien oder die vielerorts bekannten und verwendeten Dimensionen der interkulturellen Kommunikationslehre zu reduzieren, teile ich. Das bedeutet aber nicht, dass unterschiedliche kulturelle Normen und Prägungen in einer Migrationsgesellschaft keine Rolle spielen. Sie tun es jeden Tag, und – um es etwas verkürzt darzustellen – das hat zur Folge, dass in bestimmten Situationen Kompetenzen benötigt werden, um mit dem vorhandenen Konfliktpotential gut umzugehen. Dazu können Sprachkompetenzen, Prozesskompetenzen, Flexibilität, Geduld, und Akzeptanz aber vor allem Selbstreflexionskompetenzen gehören, wenn viele unserer Reaktionen in Konflikten und in zwischenmenschlichen Kommunikationsprozessen im »präreflexiven Bereich« liegen, wie Schmidt-Kriegel schreibt. Nicht nur die Mediatoren benötigen diese Selbstreflexion; sie kann auch im Konflikt deeskalierend wirken oder anders von Nutzen sein, wenn die Parteien sie erleben. Die Konfliktparteien selbst aber verfügen oft nur in geringem Maße über diese Ebene der Selbstreflexion, weil ihr Bild des Konflikts ein festgewordenes Bild der Gegenseite als Ursache für das Problem beinhaltet. Sie mögen 6 Katharina Kriegel-Schmidt, »Interkulturelle Mediation«, in: Christian Fischer, Hannes Überath, Grundlagen und Methoden der Mediation, München 2014, S. 125–142, hier S. 125–126.

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nicht bereit sein, eine selbstkritische Reflexion offenzulegen oder zuzulassen, weil das dazu führen würde, den Konflikt, in den sie häufig hochgradig emotional investiert haben, zu relativieren. Es ist die Aufgabe von Mediatoren, diese Reflexion anzuregen oder sie sogar stellvertretend für die Parteien durchzuführen. Mediation als Motor des Perspektivwechsels also, auch in politischen, gesellschaftlichen und durch kulturelle Sozialisation oder Normen geprägten Konflikten.

Mediation und eine polarisierte Gesellschaft Viele Gesellschaften in Europa polarisieren sich zunehmend, so die Diagnose.7 In Deutschland steht die Mitte der Gesellschaft in Bedrängnis.8 Aus Sicht vieler, die dieser Mitte nicht (mehr) vertrauen, hat das viel mit der Immigration zu tun.9 Eine Gesellschaft, die vielfältiger wird, wird von einigen Teilhabern als bedrohlich empfunden, während die politischen Eliten als Versager oder Hüter eigener Interessen ohne Verbindung zum Volk dargestellt werden. Der rechte Populismus ist auf dem Vormarsch. Für Aladin El-Mafaalani hat dies mit dem »Integrationsparadox« zu tun. Wir leben in Zeiten, wo immer mehr Integration gelingt, und es »entstehen Spannungen beim Zusammenkommen« der verschiedenen Kulturen unserer Gesellschaft.10 Mehr Integration führt zu mehr Widerstand, wenn die Gegenbewegungen gegen die Immigration lauter werden. Die Immigration fungiert als Schnittstelle für Debatten über die innere und äußere Offenheit der Gesellschaft, und deshalb machen sich Gegenbewegungen in offenen Gesellschaften häufig an Migranten fest, und damit auch an Fragen der Kultur. Offene Gesellschaften sind 7 Für Deutschland siehe dazu Sascha Lübbe, »Die Bürger sind gemäßigter als die politische Debatte«, Interview mit dem Konfliktforscher Andreas Zick, Die Zeit, 24. Januar 2019, https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-01/integration-migration-umfrage-rechtsruck -diskurs-polarisierung/komplettansicht (Zugang 10. März 2020). Zick stellt fest, dass der öffentliche und politische Diskurs polarisierter ist als die Bevölkerung selbst, dass die Gesellschaft dennoch »polarisiert« ist. Siehe auch Ivan Krastev und Stephen Holmes, The Light that Failed: A Reckoning, London 2019, für eine hochinteressante Analyse des bedrängten demokratischen Liberalismus in Europa und der Welt. 8 Siehe Benjamin Bidder, »Im Land der verunsicherten Gewinner«, Der Spiegel, 19. September 2018, https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/generation-mitte-deutschland-verliert-vert rauen-in-die-politische-stabilitaet-a-1228663.html (Zugang 10. März 2020). Hier werden die Ergebnisse einer Allensbach-Studie zur »Generation-Mitte« vorgestellt. 9 Siehe Ivan Krastev, After Europe, Philadelphia 2017, für eine sehr klare Diagnose einiger Ursachen der Destabilisierung der politischen und gesellschaftlichen Mitte in Europa in der »Flüchtlingskrise« von 2016. 10 Aladin El-Mafaalani, Das Integrations-Paradox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt, Köln 2018, S. 81.

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demnach auch durch ihren Umgang mit interkulturellen Konflikten gekennzeichnet. In dieser Situation »sollte man sich verständigen, wie man sich streitet«, schreibt El-Mafaalani.11 Ein Vorschlag ist die Etablierung von präventiv wirkenden Konfliktmanagementsystemen in öffentlichen Strukturen und Organisationen, analog zu betrieblichen Konfliktmanagementsystemen. Es werden unabhängig wirkende Konfliktanlaufstellen etabliert, und die Angebote von professionell moderierten Dialogprozessen und auch Mediationen im Streitfall ausgebaut.12 Somit können unerwartete Ereignisse, die zu Konflikten und oft auch der öffentlichen Austragung von verhärteten Standpunkten in den sozialen Medien, der Presse und durch die Politik führen, präventiv aufgefangen oder schneller und besser bearbeitet werden. Bei dieser Aufgabe könnte die Mediation einen Beitrag leisten. Das ist nicht dasselbe wie die in letzter Zeit häufig geforderte bessere Streitkultur in der Politik, wenn auch damit verwandt. Dort geht es vielmehr um eine »inhaltliche Auseinandersetzung« an Stelle der häufig vorkommenden plakativen und unversöhnlichen Positionierung eigener Überzeugungen bei gleichzeitiger Diffamierung von Gegnern.13 Politische Diskurse, die klar in der Sache streiten, wären tatsächlich wünschenswert, da sie oft fehlen. Noch wichtiger wäre eine politische Streitkultur, in der es darum geht, das Gegenüber zu verstehen und in seiner Unterschiedlichkeit zu akzeptieren und wertzuschätzen, bevor die eigene Position laut verkündet, begründet und verteidigt wird. Mehr von der Haltung der Mediation – erst verstehen dann handeln – würde der politischen Kultur guttun. Stellen Sie sich eine politische Talkshow-Kultur vor, in welcher teilnehmende Politiker vorrangig damit beschäftigt wären, Verständnisfragen an ihre Gegenüber zu stellen und um Respekt und Verständnis für ihre eigenen Meinungen zu bitten. Und in der sie sich öffentlich dazu bekennen würden, dass sie voneinander lernen können. Der US-Amerikanische Psychologe Jonathan Haidt hat ein beeindruckendes Buch über die psychologischen Beweggründe menschlicher Moralvorstellungen und Überzeugungen geschrieben, in dem er die Ergebnisse seiner empirischen Forschung und der Arbeiten anderer zum Thema vorlegt.14 Er geht davon aus, dass die USA, wie viele andere Gesellschaften der westlichen Welt, eine neue 11 Ebenda S. 169–70. 12 Kurt Faller und Andreas Zick, »«Wenn die schwarzen Schwäne kommen.« Präventionspläne für den zivilgesellschaftlichen Zusammenhalt,« Spektrum der Mediation, 78, 4. Quartal, 2019, S. 7–10. 13 Siehe Andrea Römmele, Zur Sache! Für eine neue Streitkultur in Politik und Gesellschaft, Berlin 2019. 14 Jonathan Haidt, The Righteous Mind. Why Good People Are Divided by Politics and Religion, London 2012.

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Qualität in der Polarisierung der Gesellschaft erleben, und dass diese durch die politische Elite mitverantwortet wird. Unsere moralischen Überzeugungen basieren, so Haidt, nur zu einem geringen Anteil auf rationalen Gründen, Abwägungen, Entscheidungen oder Argumenten. Es sind diese angeblich so rationalen Überzeugungen und Begründungen, die wir vortragen, und die sich dann teilweise in ausgrenzenden Identitätspolitiken niederschlagen. Es sind jedoch essentielle und nicht-rationale Bedürfnisse, die wir damit zu befriedigen versuchen, deren gefühlte Nicht-Befriedigung oft zu Angst und Argwohn führt. Diese können Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Schutz oder Neugierde und der menschliche Trieb nach Neuem sein. Angesichts der Polarisierung in den Vereinigten Staaten zwischen »liberal« und »konservativ« plädiert Haidt eindrucksvoll dafür, das Gute an beiden Seiten der Polarisierung zu suchen, oder das Gemeinsame jenseits der Differenzen. Das war, so Haidt, vor nicht allzu langer Zeit, leichter als es heute der Fall ist. Ein Beispiel aus der Welt der Politik, das Haidt anbringt, geht zurück auf die Zeit der Präsidentschaft von Ronald Reagan. Reagans neoliberale Politik der achtziger Jahre war ein radikaler Schritt und sicherlich kein besonders konsensualer Richtungswechsel, dennoch, so Haidt, war die Dialogbereitschaft unterschiedlicher Lager größer als heute. Er macht das unter anderen daran fest, dass die Ehe- und Lebenspartner von Senatsabgeordneten damals noch mit nach Washington zogen, und dass diese sich jenseits der politischen Unterschiede zum gemeinsamen Essen in Familien verabredeten, wo natürlich Gemeinsamkeiten wichtig waren. Das Fazit von Haidts Forschung lautet: Anstelle sich über die Unterschiede zu definieren und in vielen Fällen verhärtete Fronten zwischen »Identitäten« zu errichten, könnten wir uns an unseren vielen Gemeinsamkeiten begegnen, und so auch Unterschiede akzeptieren und wertschätzen.15 Die Erkenntnisse von Haidts Forschungen, dass unsere »rationalen« Überzeugungen gar nicht so vernunftgesteuert sind, entlastet und öffnet uns diesen Weg. Und die Mediation? Sie sucht nach dem Bedürfnis hinter der Position, will dieses zur Sprache bringen, und somit neue Perspektiven und eventuell auch das Erkennen von Gemeinsamkeiten ermöglichen. Sie ist Haltung und Werkzeug zugleich. Das Werkzeug ist das Zuhören, die Haltung das Verstehen-Wollen.

15 Siehe auch den Beitrag von TV2 aus Dänemark »All that We Share« auf YouTube, https:// www.youtube.com/watch?v=jD8tjhVO1Tc&feature=youtu.be (Zugang 10. März 2020). Siehe auch Kwame Anthony Appiah, Cosmopolitanism. Ethics in a World of Strangers, London 2007.

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Mediation und Wertevermittlung, Wertereflexion Kann die Mediation Teil einer strategischen Wertevermittlung in einer Gesellschaft sein? Kann sie das mit besonderer Zielstellung unter den besonderen Bedingungen einer sich wandelnden Migrationsgesellschaft? Die Antworten hierzu sind: nein und ja. Die Mediation basiert dem Grundsatz nach auf der Unabhängigkeit des Mediators, der sich in der Sache sehr enthaltsam verhält, und auf der Freiwilligkeit der Teilnehmenden. Wie kann sie dann Werte vermitteln, wenn sie sich auf der Verfahrensebene aus den Inhalten des Streits raushält? Und wie kann sie unter den Voraussetzungen der Freiwilligkeit überhaupt Menschen erreichen, die nicht erreicht werden möchten? Andererseits basiert das Verfahren der Mediation selbst auf bestimmten Werten, die in einer spezifischen Mediation als erfahrene Werte oder in einer Mediationsausbildung als gelehrte und erlebte Werte vermittelt werden können. Diese sind die Wertschätzung und das Zuhören, Empathie, Partizipation und Konsensbildung, die Autonomie der Parteien und die Ergebnisoffenheit des Verfahrens. Wenn diese Werte vermittelt werden, ist schon viel erreicht, und schon länger gibt es in Deutschland vielerorts Projekte zur Einführung von Mediation an Schulen, in welchen Schülerkonfliktlotsen entsprechende Mediationsausbildungen erhalten. Ein explizites Ziel dieser Maßnahmen ist die Wertevermittlung.16 Ich würde es begrüßen, wenn wir weitergehen würden als »nur« Konfliktlotsen an ausgewählten Schulen auszubilden. Wie wäre es mit einem allgemeinen Schulfach im »Zuhören«?17 Im Folgenden möchte ich ein Fallbeispiel aus meiner eigenen Praxis schildern, das die Vermutung nahelegt, dass die Funktion der Mediation nicht nur die Beilegung eines Konflikts, sondern ebenso die Reflektion über Werte und ggf. die Vermittlung von Werten sein kann. An der Technischen Hochschule Wildau gibt es eine Konfliktberatungsstelle, die allen Studierenden und Mitarbeitenden als Bestandteil eines innerbetrieblichen Konfliktmanagements offensteht. Die Hochschule führt einmal pro Semester eine Veranstaltung durch, an der unsere internationalen Studierenden – mittlerweile fast 25 % aller Studierenden – ihre Herkunftskulturen mit Informationsständen und kulinarischen Beiträgen darstellen. Vor einigen Jahren 16 Die »Handreichung Schulmediation« der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie spricht von einem Beitrag zur »Demokratieerziehung der Erwachsenen von morgen«. Siehe www.berlin.de/sen/bildung/unterstuetzung/praevention-in-der-schule/gewaltpraeven tion (Zugang 10. März 2020), S. 18. 17 Siehe dazu Julian Treasure, »5 Ways to Listen Better«, Ted Global 2011, https://www.ted.com /talks/julian_treasure_5_ways_to_listen_better (Zugang 10. März 2020) und Kate Murphy, You’re Not Listening. What You’re Missing and Why It Matters, New York 2020.

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brach während dieser Veranstaltung ein heftiger Streit zwischen zwei Gruppen syrischer Studierender aus, in dem es zu einer handgreiflichen öffentlichen Auseinandersetzung kam. Zwei Fahnen wurden gezeigt, die der syrischen Regierung und die Fahne der syrischen Opposition. Keine dieser Fahnen war in Deutschland illegal. Um eine Lösung für die nächste Veranstaltung dieser Art im folgenden Semester zu finden, bot die Konfliktberatungsstelle im Einvernehmen mit der Hochschulleitung ein Gesprächsverfahren an, zu dem Vertreter beider Gruppen eingeladen wurden. Die Gespräche waren nicht im Sinne der reinen Lehre der Mediation »freiwillig«, da die Hochschulleitung die klare Erwartung einer Teilnahme aussprach. Somit war dieses keine reine Mediation nach dem Mediationsgesetz, sondern ein moderiertes Gesprächsverfahren. In der englischen Sprache gibt es dafür das treffende Wort facilitation. Ein Teil des Verfahrens war die Rückmeldung aus der kleineren Runde der Mediation an die weitaus größere Gruppe syrischer Studierender, wovon einige durch die Anwesenheit von Anhängern der Regierung auf dem Campus verunsichert waren. Diese Studierenden waren sehr betroffen und sehr emotional, und einige von ihnen schworen zunächst, nicht an der nächsten internationalen Veranstaltung teilzunehmen, wenn die Hochschule die Teilnahme ihrer Gegner nicht verbieten würde. In diesem Verfahren spielten nicht nur die Bedürfnisse und Interessen der Studierenden eine Rolle, sondern auch die Interessen der Hochschule und der Hochschulleitung – nach einem friedlichen und respektvollen Miteinander auf dem Campus, nach einer reibungslosen und sicheren Durchführung der nächsten internationalen Veranstaltung, und nach der Gleichbehandlung von Studierenden innerhalb von gesetzlichen Parametern. Als Mitglieder und Vertreter der Hochschule waren die Mediatoren nicht bedingungslos unabhängig oder neutral. Die Entscheidung für ein Verfahren, in welchem Lösungen durch Gespräche der Beteiligten gesucht wurden, und diese nicht per Machtbefugnis der Hochschulleitung (die sich diese Option sicherlich vorbehielt) verkündete, basierte weiterhin auf dem Interesse an der Mitnahme der Studierenden im Sinne einer Wertevermittlung. Es war nicht nur ratsam, die Studierenden einzubeziehen, um aus strategischer Sicht eine nachhaltigere Lösung zu finden, sondern auch um ihnen zu vermitteln, wie mit bestimmten Konflikten an der Hochschule und in der Gesellschaft umgegangen werden kann oder sollte – im Dialog und durch Partizipation. Eine Lösung wurde gefunden, und fast alle syrischen Studierenden nehmen seitdem an der Veranstaltung teil, ohne dass es zu weiterem offenen Streit gekommen ist. Wir werden nie wissen, ob der Streit auch ohne ein moderiertes Gesprächsverfahren beigelegt worden wäre.

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Die Grenzen Bei allen guten Wünschen nach Dialog, Verständigung oder Wertevermittlung sollte die Mediation nicht überstrapaziert werden. Sie ist kein Allheilmittel, sondern eine Haltung, ein Verfahren und eine Kommunikationsstrategie, die in bestimmten Situationen unterstützend wirken kann. Es gibt Grenzen. Die Mediation soll sich nicht übernehmen und überschätzen – es gibt Konflikte, die nicht so schnell beigelegt werden sollen, weil sie eine Funktion der Veränderung in Organisationen und Gesellschaften haben.18 Und Rechte durchzusetzen kann in vielen Fällen der richtige Weg sein. An Stellen, wo Positionen so verhärtet sind, dass sie nicht verflüssigt werden können, und wo Feindbilder unverrückbar feststehen, kann der durch Mediation unterstützte Dialog nicht jeden erreichen. Rufe nach der Mediation, um die Brexitverhandlungen innerhalb Großbritanniens oder zwischen Großbritannien und der EU zu begleiten,19 scheinen mir zum Beispiel sehr optimistisch, weil sie die Machtinteressen der politischen Parteien Großbritanniens oder von bestimmten Fraktionen innerhalb dieser Parteien zu wenig beachteten. Dieses Streben nach Macht machte konsensuale Lösungen sehr unwahrscheinlich. Und in Deutschland sind manche Positionen und Feindbilder zu verfestigt, als dass der Dialog viel bewirken können würde. Wie Aladin El-Mafaalani schreibt: »Die Schließungsbewegungen beziehen sich also nicht auf Ideen oder Ideologien, sondern auf exklusiven und kaum verhandelbaren Identitäten«.20 An dieser Stelle wirken andere Konfliktmanagementverfahren – demokratische Strukturen für die Wahl von Vertretungen, parlamentarische oder andere Verfahrensregeln und die Instrumente des Rechtsstaates. Nichtdestotrotz hoffe ich mit diesem Beitrag dargelegt zu haben, dass die Mediation gesellschaftliche Prozesse der Integration und der Wertevermittlung unterstützen kann, und ich hoffe, Interesse geweckt zu haben.

18 Markus Troja, »Die dunkle Seite der Mediation,« Zeitschrift für Konfliktmanagement, 22/4, 2019, S. 136–41. 19 Horst Eidenmüller, »Why the UK and the EU Need Mediation to Sort out the Brexit Mess«, Financial Times, 5. August 2019, https://www.ft.com/content/c3c64960-9e65-11e9-9c06-a46 40c9feebb (Zugang 10. März 2020); Horst Eidenmüller, »Den Brexit verhandeln – eine Chance für die Mediation?« Zeitschrift für Konfliktmanagement, 19/6, 2016, S. 205–10. 20 El-Mafaalani, S. 210. Über das Aufkommen von »identity politics« schreibt auch Ivan Krastev in After Europe (Anmerkung 6).

3. Kapitel: Dimensionen multikultureller Wertebildung

Arnim Regenbogen

Einführung

Der erste Beitrag von Nick Lin-Hi und Marlene Reimer sucht nach Bewertungsmaßstäben für den Umgang mit ethnischer Vielfalt in einer Weltgesellschaft. Er prüft Normen und Werte auf deren Universalisierung hin. Werthaltungen werden als kulturspezifische bzw. als individuell gestiftete gekennzeichnet. Das Autorenteam empfiehlt die Wahrung von Chancen zu interkultureller Kommunikation durch zweckrational begründbare »Regeln« (einschließlich juridisch festgelegte wie auch informelle Normen). Lin-Hi und Reimer gehen abschließend auf Werthaltungen und ethische Gebote ein, die in unterschiedlichen Kulturen beheimatet sind, aber vom ethischen Anspruch her vergleichbar sind. Als klassische Beispiele dafür werden Varianten der »Goldenen Regel« (Gleichwertigkeit von Selbst- und Fremdinteresse) in verschiedenen Religionen ausgewertet. Ein weiterer Beitrag von Wilfried Schubarth vergleicht differente Konzepte von Werte-Bildung in verschiedenen Ländern. In ihm geht es darum, bei aller Unterschiedlichkeit das Gemeinsame herauszufinden, was für die hier anstehende Diskussion für interkulturell wirksame Bildungsprozesse wichtig werden könnte. Der Autor sieht sich in seiner Einschätzung dieser Bildungskonzepte durch die Evaluationsforschung bestätigt, nach der Werte-Bildung wesentlich über den Erwerb von Werturteilsfähigkeiten für die Lösung von Entscheidungsdilemmata sowie über die Reflexion und Einübung praktischer Tätigkeiten erfolgreich werden kann – vor allem in Erprobungen mit sozialem Engagement. Seitdem bereits auf internationaler Ebene (UN-Menschenrechtserklärungen, EU-Charta der Grundrechte) transnationale Geltungsansprüche für universelle Werte seit Jahrzehnten beansprucht werden, kann Wertebildung nicht mehr nur in einem je kulturspezifischen Programm umgesetzt werden. Die dritte Untersuchung in diesem Kapitel von Arnim Regenbogen und Reinhold Mokrosch geht zunächst auf Wertgehalte in deutschen und in europäischen Grundrechtskatalogen ein. Im Zentrum steht die EU-Charta vom Jahr 2000, die selbst nach Wertmaßstäben gegliedert ist (Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität). Die Autoren konzentrieren sich auf die Frage, wie und wodurch die (zunächst subjektiven) Identifikationen mit Wertmaßstäben z. B. durch schulische Wert-

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Arnim Regenbogen

orientierungen ermöglicht und begünstigt werden. Danach sollten nicht nur Verhaltensweisen im erlebbaren Nahbereich, sondern auch mit Blick auf Probleme in fernliegenden Ländern erarbeitet und eingeübt werden. Der Aufsatz prüft abschließend Gesichtspunkte für den Versuch, Erfahrung mit der Wertebildung für den eigenen Lebensraum auch auf größere Zusammenhänge übertragbar zu machen.

Nick Lin-Hi / Marlene Reimer

Werte in der Weltgesellschaft: Die gesellschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil als Orientierungspunkt

Einleitung Werte sind ein Bestandteil jeder Gesellschaft.1 Es gehört dabei zu den grundlegenden Funktionen von Werten, ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben zu befördern. Sie bieten den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft Orientierungspunkte für ihre Handlungen und sollen ein gutes Leben in der Gemeinschaft sicherstellen. Ein typisches Charakteristikum von Werten liegt darin, dass selbige durch Sozialisation und Erziehung internalisiert und damit von den Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt werden (vgl. Mühler, 2008). Beides bedingt einen selbstverständlichen, bisweilen auch unantastbaren Charakter von Werten, infolgedessen sie für den Einzelnen eine starke Verbindlichkeit erfahren. Letzteres wiederum wird auch dadurch befördert, dass ihre Befolgung mit sozialer Anerkennung belohnt bzw. Verstöße mit sozialer Missachtung bestraft werden. Auf Basis dieses Mechanismus verfügen Werte über eine gewisse Steuerungsfähigkeit. Indes ist Werten auch eine gewisse Ambivalenz inhärent. Auf der einen Seite können sie einen verlässlichen Kitt für Gemeinschaft bilden, auf der anderen Seite können sie aber auch Interaktionen zwischen verschiedenen Kulturkreisen erschweren. Letzteres wird bereits dadurch bedingt, dass ihr unantastbarer Charakter Reflexionsmöglichkeiten bzw. die Bereitschaft zur Reflexion einschränkt (vgl. Luhmann, 2019). Die damit verbundene Problematik zeigt sich in aller Deutlichkeit in Religionskriegen, in denen mit Gewalt die Durchsetzung der »richtigen« Werte angestrebt wird. Aber auch jenseits von kriegerischen Auseinandersetzungen führt ein »Clash of Civilizations« (Huntington, 1993) zu Spannungen in Gemeinschaften. Basierend auf kulturellen Unterschieden kön1 Es sei angemerkt, dass Werte in diesem Beitrag definiert sind als situationsübergreifende Überzeugungen, welche all das beinhalten, was Mitglieder einer Gesellschaft als generell wichtig erachten (vgl. Schwartz, 1992; Bardi und Schwartz, 2003). Hierbei kann die Zuordnung der Wichtigkeit einzelner Werte individuell variieren.

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nen sich sowohl Differenzen zwischen Dörfern, Regionen, ethnischen Gruppierungen oder Nationalitäten ergeben als auch zwischen Staaten, welche die Verteidigung und Verbreitung der eigenen politischen Werte zum Ziel haben (vgl. Huntington, 1993). Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit der Rolle von Werten in der modernen, wertepluralistischen Gesellschaft. Sowohl globaler Handel und die Transportmöglichkeiten im 21. Jahrhundert als auch (digitale) Informationsund Kommunikationsmedien bedingen es, dass wir heute faktisch in einer Weltgesellschaft leben. Ausgehend hiervon stellt sich die Frage, ob und wenn ja, welche Werte in der größtmöglich zu denkenden Gesellschaft eine Basis für ein gutes (Zusammen-)Leben bilden können. Der vorliegende Beitrag vertritt die Position, dass gemeinsame Werte in der Weltgesellschaft sinnvollerweise auf zweckrationalen Überlegungen basieren und der Logik einer »gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil« (Suchanek, 2007) folgen. Damit verbunden ist der Verlust an Steuerungsfähigkeit von normativen Handlungsanweisungen als solches, wie sie etwa aus moralischen Normen bzw. Geboten erwachsen. Normen, als Richtschnur für Individuen, können erst dann ein Steuerungsinstrument in modernen, aufgeklärten Gesellschaften sein, wenn diese zweckrational, d. h. ohne metaphysischen Exkurs, begründet und entsprechend verankert werden. Dies bedingt es, dass in der modernen Gesellschaft ganz unterschiedliche Normen existieren, welche sich zudem in ihrer Relevanz unterscheiden. Während etwa juristische Normen verbindliche Handlungsanweisungen sind, sind moralische Normen von unverbindlicher Natur.2 Zur Entfaltung der hier vertretenen Position wird im folgenden Kapitel dargestellt, dass die soziale Ordnung in modernen Gesellschaften nicht mehr auf einer einheitlichen Wertebasis fußt, sondern auf funktional gestalteten Regeln basiert. Gleichwohl, und dies ist Gegenstand des nächsten Abschnitts, haben Werte nach wie vor eine hohe Relevanz für Menschen, da sie sinnstiftend sind. Damit ist die Grundlage bereitet, um im nächsten Kapitel in zusammenführender Weise die Grundidee einer gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil als Wertebasis entfalten zu können.

2 Gleichwohl können moralische Normen, wie etwa das Fünfte Gebot »Du sollst nicht töten«, in gesetzliche Regelsysteme überführt werden, infolgedessen sie dann auch Verbindlichkeit erhalten. Bereits der Umstand, dass die Mehrzahl der Zehn Gebote im westlichen Kulturkreis keine gesetzliche Kodifizierung erfahren hat, ist ein Hinweis darauf, dass moralische Normen an gesellschaftlich zugebilligter Relevanz verloren haben.

Werte in der Weltgesellschaft

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Von der werte- zur regelintegrierten Gesellschaft Die Rolle, die Werte für die soziale Ordnung spielen, hat sich über die Menschheitsgeschichte stark gewandelt (siehe hierzu etwa Schäfers, 2016; Zapf, 2016; Klages, 2001; Gerecke, 1998). In der vormodernen Gesellschaft fand das soziale Leben typischerweise in Kleingruppen wie der Familie oder der Dorfgesellschaft statt. Entsprechend war auch die soziale Ordnung innerhalb dieser Kleingruppen zu organisieren. Als Basis hierfür dienten eine gemeinsame Weltanschauung und gemeinsame Werte. Die gemeinsame Wertebasis wurde dabei regelmäßig durch externe, religiöse Instanzen gestützt. Letztere wiederum ermöglichten auch die Setzung von Anreizen zur Befolgung von Werten, da etwa der Drohung mit dem Fegefeuer im Jenseits eine hohe Wirkmächtigkeit inhärent war. In Summe führte dies dazu, dass Werte vom Einzelnen nicht hinterfragt wurden und damit eine sehr hohe Verbindlichkeit erfuhren. Gleichzeitig gaben Werte eine verlässliche Antwort auf die Frage nach einem guten Leben, welche von allen Mitgliedern in der Kleingruppe geteilt wurde. Auf dieser Basis hatten Werte eine Steuerungsfähigkeit und konnten hierüber ein stabiles Zusammenleben sicherstellen. Mit dem Übergang von der vormodernen zur modernen Gesellschaft haben Werte indes an Steuerungsfähigkeit für Gemeinschaften verloren. Diese Entwicklung wurde wesentlich durch die Aufklärung bedingt, welche eine naturwissenschaftlich-rationale Weltsicht in modernen Gesellschaften geprägt hat. Diese rationale Sichtweise wiederum bringt es mit sich, dass metaphysische Erklärungen für die Welt – und damit auch etwa Drohungen mit dem Fegefeuer – an Überzeugungskraft verloren haben. Anders formuliert hat die Aufklärung dazu geführt, dass der Göttliche Wille an wahrgenommener Verbindlichkeit eingebüßt hat und die Ausrichtung des Handelns an überirdischen Autoritäten zurückgegangen ist (vgl. Gensicke, 2001). Aufgrund der gerade skizzierten empirischen Entwicklungen sind moderne Gesellschaften darauf angewiesen, ihre soziale Ordnung jenseits von Werten aufrechtzuerhalten (vgl. Rawls, 1998). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Mitglieder einer modernen Gesellschaft über »widerstreitende religiöse, philosophische und moralische Anschauungen« (Rawls, 2006: S. 64) verfügen. Die Grundlage für eine soziale Ordnung jenseits von gemeinsamen Überzeugungen bilden formale Regelsysteme wie etwa das Grundgesetz, Eigentumsrechte, Verträge oder Verordnungen; aber auch funktionale Normen wie etwa DIN-Normen oder Standards zählen zu den Regeln in einer Gesellschaft. Das menschliche Zusammenleben in modernen Gemeinschaften basiert damit auf der Anerkennung von funktionalen Regelsystemen. Der damit verbundene Übergang der Steuerung in Gemeinschaften kann auch als Wandel von der werteintegrierten zur regelintegrierten Gesellschaft bezeichnet werden (vgl. Suchanek, 2007).

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Mit diesem Übergang zur regelintegrierten Gesellschaft erwuchs ein weiteres Phänomen, welches Max Weber als »Entzauberung der Welt« (1988) bezeichnete. Grundsätzlich ist Werten eine metaphysische Ebene, mehr noch, eine magische oder mystische Tendenz inhärent. Entsprechend agiert jemand wertrational, »wer ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen handelt im Dienst seiner Überzeugung von dem, was Pflicht, Würde, Schönheit, religiöse Weisung, Pietät, oder die Wichtigkeit einer ›Sache‹ gleichviel welcher Art ihm zu gebieten scheinen« (Weber, 1980: S. 12). Indes sind Regelsysteme das Resultat zweckrationaler Überlegungen, wonach der Handelnde »sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.« (Weber, 1980: S. 13) Durch eine fortschreitende Intellektualisierung und Rationalisierung wird in diesem Zusammenhang der Glauben an die »Magie« verdrängt und die Steuerungsfähigkeit von Werten substantiell beschränkt (vgl. Weber, 1980; Weber, 1988). Diese »gezielte Gestaltung der Spielregeln gesellschaftlichen Zusammenlebens im Hinblick auf die Erreichung menschlicher Zwecke« (Suchanek, 2007: S. 23) bildet eine Grundbedingung der modernen Gesellschaft: die funktionale Institutionalisierung. Auf Basis von zweckrationalen Regelsystemen wurden ganz neue Möglichkeiten für die individuelle Freiheit geschaffen, da ein Zusammenleben in Gemeinschaften jenseits gemeinsamer Überzeugungen möglich wurde. Anders formuliert können in modernen Gesellschaften die einzelnen Mitglieder ein gutes Leben unterschiedlich interpretieren und im Rahmen der existierenden Regelsysteme eigene Entscheidungen treffen. Eben dies kann auch als »Freisetzung des Eigeninteresses« (Suchanek, 2007: S. 20) bezeichnet werden und stellt einen Wechsel von der Fremd- zur Selbstbestimmung dar. Damit verbunden ist eine Segregation des Einzelnen aus den dominanten sozialen Gefügen der Kleingesellschaften (vgl. Klages, 2001). Einfach formuliert ist im Kontext dieser Individualisierung die Stellung des Einzelnen in der modernen Gesellschaft nicht mehr von Geburt an vorbestimmt, sondern kann individuell gestaltet werden. Zweckrationale Regeln ermöglichten indes nicht nur eine Zunahme von individueller Freiheit, sondern schaffen die Voraussetzung für größere Gemeinschaften. So ist es einfacher, sich auf gemeinsame Regeln des Zusammenlebens zu einigen als auf gemeinsame Werte. Dies bedingt es wiederum, dass Menschen mit ganz unterschiedlichen Wertvorstellungen in Gemeinschaften friedlich zusammenleben können. Voraussetzung hierfür ist, dass ein »Faktum des Pluralismus« (Rawls, 1998) anerkannt wird und nicht mehr danach gestrebt wird, die »richtigen« Werte zu definieren bzw. durchzusetzen. An dieser Stelle sei noch angemerkt, dass die harte Trennlinie zwischen Werten und funktionalen Regeln bei näherer Betrachtung verschwimmt. Auch

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Werte haben sich regelmäßig aus lokalen Herausforderungen an lokale Gemeinschaften gebildet, infolgedessen ihnen durchaus auch zweckrationale Überlegungen zugrunde liegen. So kann beispielsweise die religiöse Verehrung von Rindern in Indien darauf zurückgeführt werden, dass diese Tiere im Feldbau als Lasten- und Zugtiere, vor allem in Zeiten des Monsuns, unverzichtbar waren; eine Schlachtung eines Rindes wäre somit mit erheblichen Einbußen in der landwirtschaftlichen Produktion einhergegangen (vgl. Harris, 1978). Werte sind folglich auch Produkte des menschlichen Zusammenlebens, welche sich im geschichtlichen Zeitverlauf aus praktischen Erwägungen ergaben (vgl. Hillmann, 2001).

Werte und Sinn Trotz der Entwicklung von einer Werteintegration hin zu einer Regelintegration und der damit einhergehenden abnehmenden Bedeutung von Werten als Steuerungsinstrumente des gesellschaftlichen Zusammenlebens kommt Werten in der modernen Gesellschaft noch immer eine bedeutende Rolle zu. Zwar geben sie dem Einzelnen vor dem Hintergrund der bestehenden Individualisierung nur begrenzt festgesetzte Strukturen vor, allerdings bilden sie weiterhin zentrale Orientierungspunkte für ihr Denken und Handeln (vgl. Schäfers, 2016). Aus mikrosoziologischer Perspektive haben Werte bereits im Kindesalter eine entscheidende Funktion. Bei der Erziehung werden grundlegende Werte vermittelt und im Rahmen der Sozialisation internalisiert. Dabei stehen vor allem die Interaktionen mit anderen Menschen im Vordergrund. Im Laufe der Sozialisation identifizieren sich Individuen mit Anderen und daher auch mit der von ihnen vorgegebenen kulturellen und sozialen Ordnung (vgl. Berger und Luckmann, 1966). Die zugrundeliegenden Werte werden zunächst kognitiv erlernt und weiterhin auch affektiv akzeptiert, sodass daraus interne Kontrollmechanismen entstehen, welche die Erwartungen der vorherrschenden sozialen Ordnung widerspiegeln (vgl. Mühler, 2008). Auf Basis des Sozialisationsprozesses erfüllen Werte eine identitätsstiftende Funktion, da sie die Persönlichkeit eines Menschen von Grund auf mitbestimmen. Im Rahmen der Sozialisation ergeben sich aus sowohl positiven als auch negativen Stellungnahmen einzelnen Werten gegenüber unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale; verschiedenste Werthaltungen gehen demnach in die individuelle Persönlichkeitsstruktur über (vgl. Schlöder, 1993). Diese Werthaltungen dienen als emotional festgeschriebene Überzeugungen der Bewertung des Selbst sowie des sozialen Umfelds (vgl. Trommsdorff, 1989). Werte werden somit Teil der eigenen Identität (vgl. Mühler, 2008). Grundlegend basiert diese Identität eines Individuums dabei auf zwei Punkten: auf der Beständigkeit der individu-

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ellen Merkmale einer Person sowie der Einzigartigkeit im interpersonellen Vergleich (vgl. Thomae, 1968). Das bedeutet, dass die Werthaltungen auch unter sich verändernden Umständen konstant bleiben und zudem Unterschiede zwischen Personen erkennbar machen (vgl. Schlöder, 1993). Auf makrosoziologischer Ebene schaffen Werte eine kollektive Identität, d. h. Gemeinsamkeiten der Mitglieder einer Gemeinschaft im Vergleich zu außenstehenden Individuen (vgl. Giesen & Seyfert, 2013). Vorzugsweise lässt sich dies anhand der Ausbildung einer Kultur innerhalb einer Gesellschaft verdeutlichen, da die kollektive Identität durch die Kultur zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Polletta und Jasper, 2001). Ebenso wie sich auf individueller Ebene die Persönlichkeit auf Basis von Werthaltungen definiert, wird die Kultur einer ganzen Gesellschaft über kollektiv vorherrschende Werthaltungen geprägt (vgl. Welzel, 2009). Diese kollektiven, generalisierten Überzeugungen spiegeln sich beispielsweise in Traditionen oder Religionen wider (vgl. Trommsdorff, 1989) und bilden somit das Grundgerüst einer Kultur und somit auch der kollektiven Identität (vgl. Schäfers, 2016). Die durch Werte geprägte kollektive Identität ist wichtig, da sie an der Integration des Einzelnen in die Gemeinschaft mitwirkt. Letzteres wiederum hat ebenfalls eine sinnstiftende Funktion, da sich Menschen generell nach Vollkommenheit, vorrangig in Form des Gemeinschaftsgefühls, sehnen (vgl. Adler, 2008). Bei der Ausbildung einer kollektiven Identität entsteht eine kognitive, moralische sowie emotionale Verbindung des Einzelnen mit einer Gemeinschaft (vgl. Polletta und Jasper, 2001). Der Konsens über bestimme Grundwerte bildet dabei einen fundamentalen Faktor zur Entwicklung von Zusammenhalt (vgl. Hillmann, 2001; Schäfers, 2016). Die individuelle Identität, also die Wahrnehmung des eigenen Selbst, wird dabei auch von der kollektiven Identität beeinflusst; sie beruht zu großen Teilen auf Charakteristika sozialer Gruppen, denen das Individuum angehört (vgl. Hogg und Abrams, 1998). Mithilfe von Werten werden Individuen also zum einen in ein soziokulturelles System integriert, zum anderen aber auch als eigenständiges Subjekt vom Rest der Gesellschaft differenziert und somit individualisiert (vgl. Schlöder, 1993). Demnach kann sich der Einzelne erst im sozialen Zusammenhang zu einem selbstbestimmten Individuum entwickeln (vgl. Scherr, 2016). Eben dies bedingt es, dass Werte sowohl für den Einzelnen als auch die Gemeinschaft nach wie vor wichtig sind: Sie stiften Identität, sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene, und damit auch Sinn für das eigene Leben. Diese Sinnstiftungsfunktion von Werten hat dabei eine besondere Relevanz, da Sinnhaftigkeit die Komplexität der Welt handhabbar machen kann (vgl. Schäfers, 2016). Die Bedeutung von Sinn für Menschen kann anhand der sozialpsychologischen Forschung sichtbar gemacht werden. So zeigen Studien, dass Sinn als ein Bedingungsfaktor für individuelles Wohlbefinden (vgl. Perrig-Chiello, 1997),

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Gesundheit (vgl. Becker, 1982/1985) und Glück (vgl. Debats, 1996) fungiert. Aufgrund der sinnstiftenden Funktion von Werten kann entsprechend auch formuliert werden, dass Werte Individuen dabei helfen, eine positive Selbstbeziehung zu erlangen und weiterhin ihr Leben als ein gutes Leben bewerten zu können (vgl. Fenner, 2007). Neben der Funktion der Sinnstiftung im Allgemeinen erfüllen Werte auch eine Sinnstiftungsfunktion in Bezug auf bestehende Regelsysteme. Die Betrachtungsweise der gesellschaftlichen Ordnung gemäß zweckrationaler Gesichtspunkte kann eine Entfremdung von gerade diesen Regelsystemen induzieren: Aufgrund einer fehlenden Letztbegründung durch Wertvorstellungen tragen diese ihren Sinn nicht in sich selbst, sodass ihre Geltung und damit auch die Akzeptanz in Situationen, welche für das Individuum Nachteile beinhaltet, erodieren kann. Sobald aber der moralische Sinn von Regeln begreifbar ist, erhalten Menschen die Möglichkeit, sich mit diesen zu identifizieren. Diese Identifikation von Sinnhaftigkeit hinter einem bestehenden Regelsystem und das Verständnis über dessen Funktionserfordernisse ist eine wesentliche Grundlage für die Akzeptanz und damit auch die Leistungsfähigkeit von diesem System (vgl. Paul und Suchanek, 1994). Die Entwicklung sowie die Akzeptanz des existierenden formalen Rechtsrahmens sind demnach immer auch von existierenden Wertvorstellungen geprägt und bisweilen auch abhängig. Trotz der fortschreitenden Individualisierung und funktionalen Institutionalisierung sind Werte demnach auch in der modernen Gesellschaft noch immer von großer Bedeutung. Mittels ihrer Orientierungs- und Sinnstiftungsfunktion sind sie maßgeblich an der Gestaltung und Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung beteiligt.

Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil Als Grundformel für das Zusammenleben hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die »Goldene Regel« etabliert, welche auf dem Prinzip der Reziprozität basiert. Als eine Bedingung des Menschwerdens (vgl. Becker, 1956) behandelt dieses Prinzip aus dem Geben und Nehmen erwachsene Prozesse und bildet somit den Kern vieler interpersoneller Beziehungen (vgl. Stegbauer, 2011). Diesem Grundprinzip für das zwischenmenschliche Verhalten ist ein für jedermann einleuchtender Charakter inhärent (vgl. Reiner, 1948). Die Beschreibung als »Goldene« Regel impliziert darüber hinaus die Überordnung gegenüber anderen Regel- und Wertsystemen (vgl. Green, 2008). Die Logik der Reziprozität ist in vielen Kulturen und Religionen weit verbreitet. Bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts hat sich die moralische Anweisung der Goldenen Regel in Form des Sprichworts »Was du nicht willst, dass man dir

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tu’, das füg’ auch keinem anderen zu« im deutschen Sprachraum etabliert (vgl. Reiner, 1948). Vor allem aber im religiösen Kontext ist die Goldene Regel wiederholt aufzufinden. So findet sich beispielsweise im Judentum im Babylonischen Talmud (Schabbat 31a) die Aussage »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora, alles andere ist Auslegung.« Im Christentum wird die Goldene Regel unter anderem im Neuen Testament beschrieben: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch.« (Matthäus 7,12). Im Buch der vierzig Hadithe, welches vorrangig die Aussprüche des islamischen Propheten Mohammed überliefert, heißt es: »Keiner von euch ist gläubig, solange er nicht für seinen Bruder wünscht, was er für sich selbst wünscht« (Hadith 13) (vgl. al-Nawawi, 2007). Ebenso ist im Hinduismus der Ausspruch zu finden: »Man soll niemals einem anderen antun, was man für das eigene Selbst als verletzend betrachtet. Dies, im Kern, ist die Regel aller Rechtschaffenheit.« (Mahabharata 13, 113, 8). Und auch bevor die Goldene Regel im Rahmen religiöser Schriften verbreitet wurde, war sie in Völkern des Altertums existent. Bereits der chinesische Philosoph Konfuzius soll sie in seinen Lehren thematisiert haben: »Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen« (Analekten 15,24). Allerdings stellen die Bedingungen der modernen Gesellschaft die Anwendbarkeit der Goldenen Regel vor große Herausforderungen. Aufgrund des vorherrschenden Pluralismus an Wertvorstellungen besteht ein Spannungsfeld zwischen der individuellen Freiheit und der sozialen Ordnung (vgl. Gerecke, 1998), so dass ein konsensfähiges normatives Ideal benötigt wird, welches als Basis für ein gelingendes Zusammenleben dienen kann. Dies wiederum bedingt die Notwendigkeit, die Goldene Regel an die Bedingungen der modernen Gesellschaft anzupassen. Letzteres umfasst insbesondere die Anerkennung des Wertepluralismus als auch die Berücksichtigung von individueller Zustimmungsfähigkeit aufgrund des Wegfalls von externen Instanzen. Grundsätzlich kann individuelle Zustimmungsfähigkeit dann erwartet werden, wenn für den Einzelnen damit eine individuelle Besserstellung bzw. keine systematische Schlechterstellung verbunden ist (vgl. Homann und Suchanek, 2005). Diese Zustimmungsfähigkeit bildet das Grundgerüst, damit sich Menschen eigenständig die Spielregeln ihres Zusammenlebens geben können, woraus die Goldene Regel der ökonomischen Ethik3 folgt: »Investiere in die Bedingungen der gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil« (Suchanek 2007, S 39). Im Gegensatz zum Utilitarismus, bei dem durch Verrechnung 3 Die ökonomische Ethik ist ein wirtschaftsethischer Ansatz, welcher sich der Methodik der Ökonomik bedient (siehe hierzu etwa Homann & Suchanek 2005; Suchanek 2007). Der Ansatz stellt die Bedeutung von Anreizkompatibilität für ethisch erwünschtes Handeln heraus, welche wiederum stets von institutionellen Rahmenbedingungen abhängig ist.

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individueller Nutzen das größte Glück der größten Zahl ausschlaggebend ist (vgl. Bentham, 1996), finden hier wechselseitige Interessen Berücksichtigung. Dabei sind die Existenz und der Wille anderer Akteure stets einzubeziehen; die Berücksichtigung des eigenen Vorteils ist demnach an die Besserstellung anderer geknüpft. Dies beinhaltet auch, dass ein Verzicht auf kurzfristige Vorteile zustimmungsfähig sein kann, wenn sich hierdurch langfristige Nachteile vermeiden lassen. Gleichzeitig kann dieser Verzicht als Investition in die Voraussetzungen für langfristige Vorteile verstanden werden, beispielsweise in Form des Aufbaus von Vertrauenskapital beim Gegenüber. Zu beachten ist, dass es sich bei der hier fokussierten Goldenen Regel um eine normative Heuristik handelt, welche nicht die Einholung der Zustimmung aller direkt und indirekt Betroffenen bedarf, sondern welche die Frage der prinzipiellen Konsensfähigkeit in den Mittelpunkt stellt (vgl. Homann und Suchanek, 2005). Als ethisches Kriterium ist der Goldenen Regel, ebenso wie ganzen Regelsystemen der modernen Gesellschaft, eine Wertedimension inhärent. Aufbauend auf dem Prinzip der Reziprozität fußt sie auf Werten wie Respekt, Solidarität und Gerechtigkeit (vgl. Suchanek, 2015). Gleichzeitig stellt die Goldene Regel das Fundament für die Gewährleistung individueller Freiheit dar. Dies zeigt sich beispielsweise in Bezug auf die Religionsfreiheit des Einzelnen, welche das Resultat einer Investition in eine entsprechende Rahmenordnung im Dienste einer gesellschaftlichen Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil darstellt. Eine solche Rahmenordnung basiert dabei dezidiert auf einer zweckrationalen Übereinkunft auf übergeordneter Ebene, da die Religionsfreiheit des Einzelnen und Einigkeit über Werte in der modernen wertepluralistischen Gesellschaft systematisch nicht widerspruchsfrei gedacht werden können. Entsprechend werden auf kollektiver Ebene sowohl die Nicht-Existenz von gemeinsamen Werten als auch die Prämisse der Gleichheit jedes Menschen akzeptiert, damit die Mitglieder der Gesellschaft auf individueller Ebene ihr Leben nach eigenen (religiösen) Überzeugungen gestalten können.

Schlussbemerkung Gesellschaften sind grundlegend verschieden und sie tun gut daran, sich dies immer wieder zu vergegenwärtigen. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass dies auch auf grundlegende Überzeugungen zutrifft. So werden etwa westliche Ansichten in Bezug auf Individualismus, Liberalismus oder Demokratie in islamischen, konfuzianischen, hinduistischen, buddhistischen oder auch orthodoxen Kulturen oftmals nicht geteilt (vgl. Huntington, 1993). Gleichzeitig sind etwa Kulturen aus dem ostasiatischen Raum durch die Betonung von gemeinschaftsorientierten Werten geprägt, was unter anderem eine hohe Wich-

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tigkeit von Arbeit und Disziplin bedingt (vgl. Huntington, 1996). Auch in der Geschäftswelt existieren große Unterschiede bei der Kultur. Während westliche Kulturen vor allem transaktionale Austauschbeziehungen pflegen, infolgedessen objektive Fakten wie Preis oder Qualität im Mittelpunkt stehen, zeichnen sich asiatische Kulturen durch relationale Austauschbeziehungen aus, so dass persönliche Beziehungen eine zentrale Rolle spielen (vgl. Freeman und Browne, 2004; Hitt et al., 2002). Werthaltungen werden zudem auch immer durch wirtschaftliche sowie technologische Entwicklung beeinflusst. Beispielsweise stehen in Gesellschaften mit höherem Einkommen zumeist selbstentfaltende sowie säkular-rationale Werte im Vordergrund, während in Bevölkerungsgruppen mit geringerem Einkommen überlebensbasierten sowie traditionellen Werten ein höherer Stellenwert inhärent ist (vgl. Inglehart, 2018). Ebenso beeinflussen derzeitige, aber auch frühere Religionszugehörigkeiten einer Gemeinschaft das bestehende Wertesystem; ursprünglich protestantische Gesellschaften neigen beispielsweise eher zu selbstentfaltenden Werten als ursprünglich römisch-katholische Gesellschaften (vgl. Inglehart et al., 2004). Die Goldene Regel bietet einen Ansatz, um die friedliche Koexistenz von unterschiedlichen Wertvorstellungen zu ermöglichen. Ihre Stärke liegt darin, dass sie zum einen Werte nicht gegeneinander in Stellung bringt und zum anderen ebenso die Vielzahl und Heterogenität an Wertevorstellungen zulassen kann. Letzteres ist wichtig vor dem Hintergrund der Vielzahl an verschiedenen Werthaltungen in einer Gesellschaft in Zeiten von Migration.

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Wilfried Schubarth

Wertebildung im internationalen Vergleich

Auf die Frage, was eine Einwanderungsgesellschaft zusammenhält, wird häufig geantwortet: gemeinsame Werte. Folglich wird der Ruf nach verbindenden Werten und nach Werteerziehung bzw. Wertebildung immer lauter. Doch auf die Frage, was unter Wertebildung verstanden wird und welche Konzepte es gibt – darauf gibt es sowohl im deutschen als auch im internationalen Kontext bisher kaum überzeugende Antworten. Ein besonderes Desiderat besteht hinsichtlich einer vergleichenden Perspektive auf die Debatte um Werte und Wertebildung in verschiedenen Ländern und auf die Frage, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede es dabei gibt, Von einem solchen Vergleich könnten alle Akteure profitieren. Der vorliegende Beitrag will diese Lücke schließen helfen, indem er die Wertebildung im internationalen Vergleich zum Gegenstand hat. Der Beitrag gliedert sich in fünf Abschnitte: Im ersten Abschnitt geht es um notwendige Begriffsklärungen und um die zunehmende Bedeutung von Wertebildung in einer Einwanderungsgesellschaft. Im zweiten Abschnitt werden Ziele, Formen und Beispiele der Wertebildung mit Blick auf Deutschland vorgestellt. Davon ausgehend wird im dritten Abschnitt der Blick auf internationale Entwicklungen geweitet und bespielhaft die Wertebildung in verschiedenen Ländern umrissen. Auf dieser Basis wiederum werden im vierten Abschnitt Gemeinsamkeiten und Unterschiede im internationalen Vergleich herausgearbeitet, bevor im abschließenden fünften Abschnitt ein Fazit formuliert und ein Ausblick auf die weitere Wertebildungsdebatte gegeben wird. Dabei wird deutlich, dass die Debatte um Werte und Wertebildung in vielen Ländern einen enormen Aufschwung erfahren hat und die deutsche Debatte von internationalen Entwicklungstrends einiges lernen könnte.

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1.

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Werte und Wertebildung in der Einwanderungsgesellschaft

Werte sind Dinge oder Ideen, denen Menschen oder Gruppen von Menschen große Bedeutung beimessen. Als Handlungsmaßstab können sie dem Einzelnen sowie der Gesellschaft insgesamt Orientierung und Halt geben (Schubarth 2016, S. 20): Deshalb sind sie in »unsicheren Zeiten« besonders gefragt. Zu unterscheiden sind persönliche Werte (z. B. Familie, Freunde), moralische Werte (z. B. Ehrlichkeit, Vertrauen, Glauben) und demokratische Grundwerte (z. B. Menschenwürde oder die Gleichberechtigung der Frau) (Schubarth, Gruhne & Zylla, 2017): Werte bilden sich mit der Persönlichkeitsentwicklung heraus, wobei die zentralen Sozialisationsinstanzen wie Familie, aber auch Kita und Schule sowie die Peer Group und zunehmend auch die Sozialen Medien großen Einfluss haben. Diese Instanzen wiederum sind abhängig von den Rahmenbedingungen einer Gesellschaft z. B. vom politischen und wirtschaftlichen System oder von kulturellen Gegebenheiten. Folglich ist beim Thema »Werte« stets auch nach den konkreten Sozialisationsbedingungen, in denen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen, und nach den Alltagserfahrungen, die Kinder und Jugendliche machen, zu fragen. Belehrungen über Werte oder gar Moralisierungen haben dagegen keine nachhaltige Wirkung, denn Werte müssen im Alltag er- und gelebt werden. Der Bedarf an Wertebildung ist in den letzten Jahren angewachsen. Verwiesen sei auf die Wertepluralität und Wertekonkurrenz in einer Einwanderungsgesellschaft, das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in einer »individualisierten Risikogesellschaft«, die nachlassende Bindungskraft traditioneller Institutionen wie der Familie oder der Kirche, die wachsende soziokulturelle Heterogenität der Schülerschaft sowie auffälliges Sozialverhalten. Eine besondere Herausforderung stellt die Wertebildung in einer Einwanderungsgesellschaft dar. Im Rahmen einer Willkommenskultur reicht es nicht aus, Zugewanderten und Geflüchteten aus anderen kulturellen und politischen Systemen ein deutsches Grundgesetz zu schenken oder von ihnen das Auswendiglernen von Paragraphen zu verlangen. Wie bei jedem anderen Menschen geht es auch bei Zugewanderten darum, ihnen die gesellschaftlichen Spielregeln zu verdeutlichen und deren Einhaltung einzufordern. In der Biografie erworbene Werte, z. B. traditionelle Werte in Bezug auf Frauen oder die Religion, werden aber nicht beim Grenzübertritt abgelegt, wie man z. B. ein Kleidungsstück ablegt, sondern verändern sich meist eher langsam im Verlaufe des Lebens durch neue Erfahrungen, Kontakte oder Vorbilder. Dabei sind auch Normen, die sich von den Werten ableiten, wichtig, da sie konkrete Verhaltenserwartungen und Regeln für ein gesellschaftliches Zusammenleben zum Ausdruck bringen. Niemand kann sich jedoch so schnell von seiner Herkunft und seiner bisherigen Sozialisation lösen, weshalb auch die Aufnahme- und Veränderungsbereitschaft der

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hiesigen Gesellschaft gefragt ist. Auch die zum Teil traumatischen Erfahrungen von geflüchteten Kinder und Jugendlichen, die sie im Laufe ihres Lebens machen mussten, bedürfen der Aufarbeitung und der professionellen Betreuung, damit die Integration der Zugewanderten gelingen kann. Dies bleibt eine große Herausforderung.

2.

Wertebildung in der deutschen Fachdebatte

Der Begriff der Wertebildung wird in der deutschen Debatte vor allem in zweifacher Hinsicht verwendet (z. B. Bertelsmann Stiftung, 2016; Schubarth, Gruhne & Zylla, 2017; Verwiebe, 2019): Zum einen im Hinblick auf die Frage, wie sich Werte bei der Persönlichkeitsentwicklung herausbilden (vgl. Abschnitt 1) und zum anderen hinsichtlich der Frage, wie die Herausbildung von Werten pädagogisch gefördert werden kann. Für letzteres wird meist der Begriff der Werteerziehung bzw. der Wertevermittlung benutzt. Unter »schulischer Wertebildung« verstehen wir die Gesamtheit der pädagogisch initiierten Auseinandersetzung mit und Reflexion von Werten sowie das subjektive Erleben und Aneignen von Werten innerhalb der Institution Schule (Schubarth, Gruhne & Zylla, 2017). »Wertebildung« ist somit weiter gefasst als »Wertevermittlung«. Er betont sowohl die schulische Wertesozialisation als auch die Notwendigkeit der Bereitstellung entsprechender pädagogischer Lerngelegenheiten. Das Ziel von Wertebildung umfasst neben der Aneignung von Werten auch die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit, um mit der Wertevielfalt in einer pluralen Gesellschaft umgehen zu können. In Zeiten von Wertepluralismus bedarf es nach Baumert u. a. (2002, S. 187ff) insbesondere folgender Fähigkeiten: Anerkennung von Wertepluralismus auf der Basis allgemeingültiger Werte des friedlichen Zusammenlebens von Menschen, Erkennen von Gemeinsamkeiten in unterschiedlichen Wertetraditionen und Empathiefähigkeit zur Überwindung des eigenen, begrenzten Horizontes und zum Verständnis für das Leben und die Wertvorstellungen anderer Menschen. Diese Ziele haben sich im historischen Prozess erst herausgebildet. Während bis Mitte des 20. Jahrhunderts noch die Einübung von Tugenden sowie Gehorsam und Pflichterfüllung vorherrschte, steht in der modernen Demokratie die Entwicklung einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit im Mittelpunkt. In den 1990er Jahren kam es darüber hinaus im Kontext von Zivilgesellschaft und bürgerschaftlichem Engagement zu einer Debatte um Demokratieerziehung, was u. a. die Konzepte des Demokratie-Lernens (Himmelmann, 2010) und die Projekte »Demokratisch Handeln« (Beutel & Fauser, 2001) sowie »Demokratie lernen und leben« belegen (Edelstein & Fauser, 2001). Sie sind zugleich Ausdruck des Trends zu eher handlungsorientierten Ansätzen, die die Lebensweltrelevanz der Unterrichtsin-

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halte betonen. Hinzu kam der Einfluss handlungsorientierter Ansätze aus den USA, z. B. der Just-Community-Ansatz und das Service -Learning.1 In der deutschen Fachdebatte wird auf die vielfältigen Potenzen schulischer Wertebildung verwiesen, wobei zwischen indirekten und direkten Formen unterschieden wird (Schubarth, Gruhne & Zylla, 2017). Während indirekte Formen den wertebildenden sozial-kommunikativen Erfahrungsraum von Schule hervorheben, stellen direkte Formen gezielte wertebildende Maßnahmen dar. Die Verknüpfung von indirekten und direkten Formen wird am besten den gegenwärtigen Anforderungen an Wertebildung gerecht. Die Basis schulischer Wertebildung verkörpert dabei die Institution Schule als Werte- und Erfahrungsraum. Erst auf dieser Basis können gezielte, direkte Förderansätze, z. B. Dilemmata-Ansätze oder soziale Projekte, ihre Wirkung entfalten. Widersprüche zwischen Wort und Tat sind kontraproduktiv. So verpufft die Wirkung konkreter Werteprojekte, wenn ein raues Schulklima herrscht und Schüler nicht wertgeschätzt oder autoritär behandelt werden. Die Bedeutung des Schulklimas für die Wertebildung wird als grundlegend angesehen. Ausdruck dessen sind schon ganz alltägliche Umgangsformen, z. B. das gegenseitige Grüßen oder die Aufmerksamkeit für persönliche Belange von Schüler*innen, unabhängig von deren schulischer Leistung. Schule als Werteund Erfahrungsraum drückt sich auch aus in den Schulregeln, den Ritualen oder in einem lebendigen Schulleben, das die Entwicklung einer festen Schulgemeinschaft fördert. Schulische Regeln und Rituale sind stets werteorientiert, weshalb bereits die gemeinsame Erarbeitung und Einhaltung von Regeln ein beachtliches Potenzial für Wertebildung bereithält. Zentrale handlungsleitende Werte sind im Leitbild einer Schule festgeschrieben, das zugleich Aufschluss über das jeweilige Schulethos gibt. Die Beziehungsqualität spielt nicht nur außerhalb des Unterrichts, sondern auch im Unterricht und in der Lernkultur selbst eine Rolle. Im Unterricht geschieht ständig Wertebildung z. B. über eine entsprechende Schülerorientierung und Schülerpartizipation. Selbst didaktisch-methodische Fragen und die Auswahl der Unterrichtsinhalte sind wertebesetzt. So sollten solche Unterrichtsmethoden präferiert werden, die die Eigenaktivität von Schülern ermöglichen und die zum Reflektieren, Bewerten und Urteilen anregen. Auch bei den Inhalten sollten solche Themen gewählt werden, die für die Schüler*innen wertvoll sind. Insofern ist Wertebildung keine zusätzliche Aufgabe von Schule, sondern ihr Kerngeschäft (Ladenthin, 2008). Ein entscheidender Faktor schulischer Wertebildung ist die Lehrkraftpersönlichkeit selbst, die in ihrem Handeln als (Werte-)Modell bzw. Vorbild fun1 Siehe weiterführend z. B.: http://politischebildung.ch/fuer-lehrpersonen/didaktik-und-metho den/just-community und https://www.servicelearning.de/ [17. 10. 2019].

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giert. Ein Vorbild muss nicht vollkommen sein, vielmehr geht es um ein Orientierungsangebot für Schüler*innen sowie um Authentizität und Glaubwürdigkeit. Lehrkräfte sollten sich ihrer eigenen Werte bewusst sein und im Rahmen eines Schulentwicklungsprozesses im Kollegium an einem Wertekonsens arbeiten. Die Rolle der Lehrerpersönlichkeit ist gerade für die Grundschule von großer Bedeutung, da diese die entscheidende Bezugsperson beim Übergang von der Familie bzw. Kita zur Schule darstellt und das bisher erworbene Wertespektrum aufgreift und erweitert. Da der Werteraum Schule von vielfältigen außerschulischen Bereichen beeinflusst wird, stellt auch die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern im Rahmen eines Kooperationsnetzwerkes einen nicht zu unterschätzenden Baustein schulischer Wertebildung dar. Für die Wirksamkeit schulischer Wertebildung ist die Schaffung einer gemeinsamen Wertebasis mit den Eltern eine wichtige Voraussetzung. Wertvoll sind auch Unterstützungsangebote anderer externer Partner wie Jugendhilfe, Gesundheitsamt, Polizei, Wirtschaft, Kirche, Vereine u. a., die in der Gesamtheit die (Werte-)Bildungslandschaft einer Schule ausmachen. Die Wirksamkeit indirekter Wertebildung, insbesondere einer demokratisch-partizipativen Schulkultur, ist sowohl durch die empirische Schulforschung, als auch durch die schulbezogene Gewaltforschung, belegt (z. B. Schubarth, 2019). Wertebildung gehört zu den zentralen Qualitätsdimensionen von Schule und Unterricht und ist Grundlage von Schulentwicklung Als direkte Formen schulischer Wertebildung haben sich vor allem folgende bewährt: Hörenswert, Klarigo, die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion (KMDD), der Klassenrat und das Service – Learning. Diese sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden (Schubarth, Gruhne & Zylla, 2017). HörensWert wurde im Jahr 2011 als Projekt der Stiftung Zuhören und Akademie Kinder philosophieren initiiert. Ziel ist es Kinder dabei zu unterstützen Werte zu erkennen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie zu erleben. Die Kinder können in philosophischen Gesprächen ihre Gedanken äußern, den anderen Mitgliedern der Gruppe zuhören, das Gesagte miteinander vertiefen und neue Erkenntnisse erwerben. Auf diese Weise entsteht eine Kultur des Zuhörens und miteinander Denkens, welche Achtung und Empathie für den Gegenüber befördert. Das Konzept richtet sich an Kinder der Kindertagesstätte und Grundschule (z. B. Bayrischer Rundfunk, 2013).2 Klarigo ist ein Wertebildungsprogramm für die Grundschule. Es baut auf Erfahrungen mit dem Faustlos-Programm auf, vor allem der Erkenntnis, dass neben der Vermittlung sozial-emotionaler Kompetenzen auch die Klärung der Wertestruktur bei Kindern und Erwachsenen von großer Bedeutung ist. Klarigo 2 Weiterführend siehe: http://www.stiftung-zuhoeren.de/projekt-und-material/hoerenswert/ [17. 10.2019].

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zielt darauf ab, den Kindern den Wertebezug jeglichen Verhaltens bewusst zu machen, sie darin zu unterstützen ihren individuellen Wertekanon zu entwickeln und über ein breites Spektrum von Werten zu reflektieren. Erfahrungsberichte fallen positiv aus (Schick, 2011). Die Konstanzer Methode der Dilemma-Diskussion ist eine Unterrichtsmethode, die die Diskussion von moralischen Dilemmata, d. h. beispielhaften Problemgeschichten mit einem Wertekonflikt, zum Inhalt hat. Auf diese Weise werden sowohl die moralischen und demokratischen Handlungsfähigkeiten als auch die Denkfähigkeit der Schüler*innen gefördert. Die KMDD kann bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eingesetzt werden. Die KMDD wurde positiv evaluiert (z. B. Universität Konstanz).3 Der Klassenrat ist ein partizipatives Lernarrangement und zeigt den schulischen Lernort für Demokratie auf. Durch eine regelmäßige Zusammenkunft aller Schüler*innen der Klasse (einschließlich Lehrer*in) und einem strukturierten Ablauf mit klarer Rollenverteilung übernehmen die Schüler*innen Verantwortung für das Zusammenleben innerhalb der Klasse und in der Schulgemeinschaft. Ziel ist das soziale Verhalten, Verantwortungsbewusstsein, Problemlösefähigkeiten und Gemeinschaftsgefühl zu fördern (z. B. DeGeDe). Darüber hinaus bietet der Verein »Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik« (DeGeDE) regelmäßig Maßnahmen zu demokratischen Wertebildung an.4 Das Service – Learning/ Lernen durch Engagement (LdE) verbindet gemeinnütziges Engagement mit dem fachlichen Lernen im Unterricht. Schülerinnen und Schüler lernen Wissen praktisch anzuwenden und für die Gesellschaft einzubringen. Ziel ist es gesellschaftliches Engagement von Kindern und Jugendlichen fest im Schulalltag zu verankern und soziale und demokratische Kompetenzen zu trainieren. Praktisch erworbenes Wissen fließt zurück in den Unterricht, der auf diese Weise handlungsorientierter und praxisnaher werden kann.5 Das Schulfach Glück wurde im Jahr 2007 von Ernst Fritz-Schubert als Reaktion auf den zunehmenden Erwartungsdruck sowie gestiegene Schulangst und Lustlosigkeit unter den Schülern an der Willy-Hellpach-Schule in Heidelberg entwickelt. Ziel ist es, die Lebenskompetenz, Lebensfreude und Persönlichkeitsentwicklung zu fördern und auf diese Weise das Schulklima zu verbessern. Die Schüler sollen zu zufriedenen und selbstsicheren Menschen herangebildet werden. Dabei wird nicht das Negative ausgeblendet, sondern das Positive gestärkt. Erste Evaluationsbefunde zeigen, dass sich die Schüler nicht nur wohler fühlen, sondern auch mehr Lebenssinn für sich empfinden. Sie lernen, sich mit 3 Weiterführende Informationen, siehe: http://www.uni-konstanz.de/ag-moral/moral/dildiskd.htm [17. 10. 2019]. 4 Näheres siehe unter https://www.degede.de/ [17. 10. 2019]. 5 Z. B. Netzwerk Service-Learning/LdE, 2014.

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ihrer emotionalen Seite auseinanderzusetzen und erwerben Lebenskompetenz. Mittlerweile I wird das Schulfach Glück an über 100 Schulen Deutschlands und Österreichs in fast allen Schularten umgesetzt.6 Die aufgeführten Konzepte zeigen die breite Palette der Möglichkeiten schulischer Wertebildung. Zugleich verweisen vorliegende Evaluationsbefunde auf die großen Wirkungspotenziale dieser Konzepte, aber auch auf unterschiedliche Effekte. So führen kognitiv orientierte Modelle zwar zu Wissenszuwachs, jedoch nicht zu Haltungs- bzw. Verhaltensänderungen. Die größten Erfolgsaussichten haben demnach mehrdimensionale Ansätze, die auch erfahrungs- bzw. tätigkeitsorientierte Dimensionen einschließen (Stein, 2008; Uhl, 1996). Die Evaluationsforschung bestätigt, dass Wertebildung vor allem über die Verknüpfung des Erwerbs von Werturteilsfähigkeit mit der Reflexion und Einübung praktischer Tätigkeiten erfolgt. Viel Potenzial bietet in dieser Hinsicht die Förderung von sozialem Engagement, z. B. in Form des Service – Learning. Gesellschaftliches Engagement fördert nachweislich die Wertebildung (z. B. Bertelsmann Stiftung, 2007; Reinders, 2005; Sliwka, Petry & Kalb, 2004).

3.

Wertebildung in der internationalen Diskussion

Die Diskussion um Werte und Wertebildung hat zunehmende internationale Relevanz (Verwiebe, 2019). Das betrifft sowohl theoretische und empirische als auch pädagogisch-praktische Aspekte. So hat der Soziologe Verwiebe auf Basis des European Social Survey 2016 unter 22 europäischen Ländern folgende empirische Befunde zu den Werthaltungen der Menschen in Europa ermittelt (Verwiebe, 2019, S. 10ff): In den letzten 15 Jahren haben sich die Werthaltungen in Europa verändert. Hilfsbereitschaft im sozialen Umfeld und Tradition sind wichtiger geworden, während Sicherheit, Selbstbestimmung und Universalismus an Wert verloren haben. Mit zunehmendem Alter werden universalistische Werte stärker vertreten, während Hedonismus, Status und Macht unwichtiger werden. Frauen tendieren stärker zu Hilfsbereitschaft und universalistischen Werten als Männer. Auch zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund gibt es Unterschiede, z. B. beim Universalismus, die jedoch weniger stark ausgeprägt sind. Auch nach dem Bildungsabschluss unterscheiden sich die Werthaltungen. So vertreten Akademiker und Akademikerinnen stärker Werte des Universalismus, der Selbstbestimmung und der Leistungserbringung. Ähnliches gilt für Großstadtmenschen die außerdem noch stärker Werte von Macht, Status und Hedonismus teilen. Darüber hinaus verweist die Studie auf Unterschiede zwi6 Vgl. https://www.fritz-schubert-institut.de/home/schulfach-gl%C3%BCck/ [17. 10. 2019] und Universität Mannheim 2011.

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schen europäischen Ländern, z. B. zwischen Ost und West, aber auch zwischen eher katholisch geprägten und säkular geprägten Gesellschaften. In Polen, Russland und Österreich wird z. B. eher traditionellen Werten Bedeutung beigemessen, in Skandinavien und Deutschland eher rational-säkularen Werten. Die empirischen Analysen liefern die Grundlage, auf deren Basis Wertebildung gezielt ansetzen kann. Im Rahmen einer weiteren internationalen Studie wurde versucht die internationale Wertebildungsdebatte zu umreißen, Entwicklungstrends aufzuspüren und gute Praxisbeispiele aufzufinden (Beyond Philanthropy, 2014 und AlbergSeberich & Schubarth, 2016). Sieben Länder wurden in die Recherche einbezogen: Österreich, Kanada, Schweden, die Schweiz, Norwegen, Großbritannien sowie die USA. Im Ergebnis lassen sich folgende Hauptergebnisse und Entwicklungstrends als (vorläufige) Hypothesen festhalten: Wertebildung wird sehr unterschiedlich verstanden: Zwar befassen sich in den untersuchten Ländern zahlreiche pädagogische Ansätze mit Fragen der Werteund Charaktererziehung, die Akteure selbst würden ihre Arbeit aber nicht als wertebasiert einordnen. Dieser Umstand verweist auf die Begriffsvielfalt, aber auch auf beträchtliche Verständnisschwierigkeiten hinsichtlich der Wertebildung. Im internationalen Kontext werden solche Ansätze der Wertebildung auch unter den Begriffen »Character Education« oder »Moral Education« gefasst. Wertebildung ist in den Ländern unterschiedlich motiviert: Wertebildung bezieht sich auf ein breites Feld erzieherischer Praxis. Dabei ist kulturelle Kontext wichtig. Wertebildung hat meist eine spezifische Bedarfsausrichtung, die von Land zu Land variiert. So wird Wertebildung in Norwegen und Schweden z. B. als praktische Reaktion auf soziale Probleme betrachtet. Deshalb gibt es Programme zu Gewalt und Mobbing in der Schule, zur antirassistischen Erziehung oder zur Förderung von Demokratie und Vielfalt. Daneben werden jedoch auch zahlreiche Programme durchgeführt, die nicht direkt problembezogen sind und die auf der Annahme beruhen, dass es wichtig sei, positive Werte oder Eigenschaften in jungen Menschen zu betonen und stärken. Solche Ansätze, die z. T. glaubensgestützt oder ideologisch motiviert sind, stellen z. B. das persönliche Wohlbefinden ins Zentrum. Große Vielfalt an Themen und Methoden in den Ländern: Insgesamt ist eine große Themen- und Methodenvielfalt festzustellen. So gibt es sowohl wissensbasierten Ansätze, wie bspw. Education21 in der Schweiz zum Thema Nachhaltigkeit, als auch erfahrungsbasierte Programme wie Toleransprojecte in Schweden zur Prävention von Rechtsextremismus. Auch der Adressatenbezug variiert zwischen Ansätzen, die sich auf Individuen konzentrieren, wie die Arbeit der Raoul Wallenberg Academy für Nachwuchsführungskräfte, und gemeinschaftsbasierten bzw. systemischen Ansätzen, wie der Values- Based Education in Großbritannien.

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Demokratische Werte bilden die Basis: Demokratische Werte sind die Säulen jeder demokratischen politischen Kultur. Demzufolge wollen alle untersuchten westlichen Länder solche Werte stärken, die ein Gefühl von Sinn und Gemeinschaft schaffen und die die Basis ihrer Demokratie bilden. Angesichts von zunehmender Migration und damit verbundenem Wertepluralismus ist es nicht überraschend, dass das friedliche, demokratische Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften zentrale Themen innerhalb der Wertebildungsdebatte sind. Schweden ist dafür nur ein, wenngleich auch besonders markantes Beispiel. Menschenrechte gewinnen an Bedeutung: Rechtebasierte Wertebildung gewinnt an Bedeutung. So gibt es z. B. in Großbritannien sog. UNICEFs Right Respecting Schools.7 Auch Programme in Schweden oder Norwegen zielen nicht nur auf persönliche Werte, sondern im besonderen Maße auch auf Menschenrechte als Säule der Werteerziehung. Vor allem Norwegen hat sich auf nationaler und internationaler Ebene für eine solche Auffassung eingesetzt, indem es das The European Wergeland Center gegründet hat, einen EU-Think Tank zur Förderung von Demokratie, Menschenrechten und interkultureller Weiterbildung.8 Vorbilder sind wichtig: Die meisten Ansätze betrachten Lernen am Vorbild als wichtigen Teil des Wertebildungsprozesses. So arbeitet z. B. das Projekt MOT in Norwegen mit berühmten Sportlern als Vorbild zusammen.9 Die Raoul Wallenberg Academy in Schweden oder Facing History and Ourselves in den USA bedienen sich historischer Vorbilder, um gegenwärtiges Verhalten zu diskutieren. Weitere Programme, wie euphoria in der Schweiz, arbeiten mit Peers bzw. Gleichaltrigen als Vorbild. Bei der Values Based Education werden Lehrende, Schulleiter und Eltern als Vorbilder eingesetzt, um eine werteorientierte Schulatmosphäre zu schaffen. Diese Ansätze können auch »Mentoring« als Elemente der Wertebildung beinhalten. Wertebildung ist im Schulcurriculum verankert: Viele Ansätze werden an Schulen praktiziert oder sind direkt schulbasiert. Um Programme wie friends in Schweden oder Pfade in der Schweiz zu verstehen, ist zu beachten, dass alle in dieser Studie untersuchten Länder Schulcurricula haben, in denen die Vermittlung von Werten zumindest implizit eine Rolle spielt. Auf die eine oder andere Weise wird Wertebildung in das komplette Curriculum oder sogar als spezielles Schulfach integriert. Wertebildung wird dabei als übergreifendes Thema verstanden, das in Fächer einfließt und als Kernkomponente der Schulkultur betrachtet wird.10

7 8 9 10

Siehe weiterführend https://www.unicef.org.uk/rights-respecting-schools/ [17. 10. 2019]. Siehe http://www.theewc.org/ [17. 10. 2019]. Siehe https://mot.global/ [17. 10. 2019]. Siehe weiterführend https://friends.se/en/ und https://www.gewaltprävention-an-schulen.ch/ [17. 10. 2019].

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Wertebildung wird ideologisch kontrovers diskutiert: In einigen Ländern ist eine intensive ideologische bzw. politische Debatte über die Bedeutung von Wertebildung zu beobachten. Insbesondere bei der Wertebildung in Großbritannien und in den USA wird zwischen Charaktererziehung und Staatsbürgerkunde (»civic education«) oder staatsbürgerlicher Bildung unterschieden. Staatsbürgerkunde ist zwar wertebasiert, viele Lehrer in diesem Bereich würden sich allerdings nicht als »werteorientierte« oder »moralische Pädagogen bzw. Erzieher« verstehen. Mitunter wird Wertebildung auch als Teil einer konservativen Erziehungsagenda gesehen. Religiöse Werte unterliegen Bedeutungswandel: Kirche und Religion spielen zwar noch immer eine wichtige Rolle bei der Werteerziehung, die Werte werden aber insgesamt vielfältiger. So richten glaubensgestützte Schulen ihre Erziehung klar auf religiöse Werte aus. In allen untersuchten Ländern bestehen aber auch Programmstrukturen, die sich mit Werten in der »post religious language« beschäftigen. Bemerkenswert ist, dass sich das britische Programm Education in Human Values auf eine Werteskala bezieht, die dem Hinduismus entspringt. Insgesamt geht es um Werte, die die Säulen einer pluralistischen und demokratischen Gesellschaft bilden. Der Trend geht zu evidenzbasierten Konzepten: Immer mehr Programme berufen sich auf empirische Evaluationsbefunde. Dies kann auch dazu beitragen ideologische Kontroversen zu entschärfen. Verwiesen sei auf einschlägige Publikationen wie die 2013 erschienene und weithin diskutierte How Children Succeed: Grit, Curiosity, and the Hidden Power of Character von Paul Tough. Vor allem im anglo-amerikanischen Kontext wächst die Anzahl der Programmevaluierungen, um entsprechende Bildungseffekte nachzuweisen. Dabei werden auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausgestellt und deren Wirkungen miteinander verglichen. Wachsende Bedeutung internationaler Programme zur Wertebildung: Zahlreiche Programme sind in mehreren Ländern verbreitet. In ganz Skandinavien findet man z. B. das Programm MOT und das Olweus- Programm. Auch die britische Organisation Values – Based Education arbeitet mit Schulen auf der ganzen Welt zusammen, die deren Ansatz vertreten. Andere Programme, wie Lions-Quest, haben sich durch die Kooperationen mit den Rotary Service Clubs weltweit verbreiten können. Während das Olweus-Programm ein international bewährtes Präventions- und Interventionsprogramm gegen Mobbing ist (Schubarth, 2019), liegt beim Programm MOT der Fokus auf der Auseinandersetzung mit drei zentralen Werten: »Mut zu leben, sich zu kümmern und ›nein‹ zu sagen«. Den Jugendlichen werden Strategien aufgezeigt, wie sie sich gegenüber derart negativen Einflüssen mit dem nötigen Selbstbewusstsein behaupten können. Sie sollen lernen, Vorbildfunktionen einzunehmen und wichtige Lebensentscheidungen eigenständig zu treffen und umzusetzen. Letztendlich soll mit den er-

Wertebildung im internationalen Vergleich

159

worbenen Kompetenzen auch eine Umgebung geschaffen werden, in der es sich gut, sicher und gemeinsam lernen lässt.

4.

Vergleichende Perspektiven zur Wertebildung

Der Überblick zur Wertebildung in westlichen Ländern hat eine vielfältige Wertebildungslandschaft sichtbar gemacht. Viele Gemeinsamkeiten, aber auch etliche Unterschiede sind zutage getreten. Der hohe Stellenwert der Wertebildung für die Demokratie ist unbestritten. Trotz der festgestellten methodischen Vielfalt nehmen schulbasierte und gemeinschaftsorientierte Ansätze eine besondere Position ein. Charakteristisch ist auch eine Kombination verschiedener Themen und Methoden z. B. von Wertethemen mit Menschenrechten oder mit Gewalt- bzw. Extremismusprävention. Auch Wertebildung unter Einbeziehung von Vorbildern hat einen hohen Stellenwert. Ein systematischer Vergleich der Ansätze steht jedoch noch am Anfang. Die internationale Debatte kann der deutschen Diskussion wertvolle Anregungen geben, zumal Deutschland bei der Rezeption neuerer internationaler Ansätze Nachholbedarf hat (Becker, 2008). So verweist Becker bei seiner Analyse in angelsächsischen Ländern darauf, dass sich vor dem Hintergrund beträchtlicher Probleme des Sozialverhaltens der Schüler*innen die Bemühungen um wirksame Erziehungsstrategien verstärkt haben. Als längerfristiger Trend lässt sich feststellen, dass traditionelle schulische Förderstrategien wie Werteklärung, Tugenderziehung und Moralisches Urteilen, an Einfluss verlieren, während solche Konzepte wie Fürsorgliche Gemeinschaft, Life- Skills Education, ServiceLearning sowie Streitschlichtung/Peer-Mediation an Bedeutung gewinnen. Ein weiterer Trend besteht darin, dass integrativ angelegte Ansätze, d. h. Ansätze, die verschiedene Bausteine aus mehreren Förderstrategien kombinieren, bevorzugt werden. So wird Wertebildung häufig mit Aspekten von sozialer, moralischer bzw. demokratischer Kompetenz verknüpft. Die Förderziele dieser Ansätze umfassen neben sozial-kognitiven Kompetenzen (z. B. Perspektivübernahme) auch kommunikative (z B. die Fähigkeit, verständnisvoll zuzuhören), emotionale (z. B. die Fähigkeit, eigene Gefühle differenziert wahrzunehmen) und handlungsstrukturierende Kompetenzen (z. B. Konflikt- und Kooperationsfähigkeit). Da Kompetenzen auch im Alltag angewendet werden sollen, wurden Programme entwickelt, die das Engagement und die Eigenverantwortung der Kinder und Jugendlichen fördern. Zudem ist eine Verzahnung von Kompetenzförderung und Prävention festzustellen. Auch bei der empirischen Erforschung der Wirkungen von Wertebildungsansätzen haben andere Länder, wie z. B. die USA, einen Vorsprung. So haben Berkowitz und Bier bereits im Jahre 2005 im Auftrag der Character Education

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Partnership eine Bewertung von Programmen zur Moralerziehung vorgelegt. Von den 54 ermittelten Programmen genügten 39 Programme wissenschaftlichen Ansprüchen, 33 Programme erwiesen sich als wirksam. Unter diesen 33, als effektiv bewerteten Programmen, befinden sich neben Lehrertrainings u. a. solche Ansätze wie Diskussion unter Gleichaltrigen, Rollenspiele bzw. Strategien zur Perspektivübernahme und Trainings der Problemlösungsfähigkeit (Berkowitz & Bier, 2005). Empirische Untersuchungen können die Wirksamkeit theoretisch-konzeptioneller Ansätze der Wertebildung überprüfen und Kriterien für eine nachhaltige Wertebildung ableiten. Als solche Qualitätskriterien können gelten: a) die theoretische Fundierung der Programme, z. B. Orientierung am Modell der Wertesozialisation, das möglichst viele Sozialisationsbereiche einbezieht, b) ein ganzheitlicher Ansatz, der neben kognitiven und reflexiven Aspekten auch erfahrungs- und tätigkeitsorientierte Elemente enthält, c) die Verknüpfung von indirekten und direkten wertebildenden Ansätzen, was eine Integration von Wertebildung in die Schulcurricula einschließt, d) die Verbindung der Wertedebatte mit der Menschenrechts- oder der Präventionsdebatte und schließlich e) eine weitgehende Evidenzbasierung der Ansätze.

5.

Fazit und Ausblick

Für Einwanderungsgesellschaften spielt die Debatte um Werte und Wertebildung eine zunehmende Rolle. Deshalb bedarf es einer sachlichen Verständigung zu Werten, einschließlich der Frage, wie diese sich herausbilden und wie prosoziale und demokratische Werte gefördert werden können. Im deutschen wie im internationalen Kontext hat sich mittlerweile eine vielfältige Wertebildungslandschaft mit vielen bewährten praktischen Ansätzen herausgebildet. Ein internationaler Austausch, der auszubauen wäre, kann die Wertebildungsdebatte in den jeweiligen Ländern befördern helfen. Als richtungsweisend gelten dabei mehrdimensionale, theoretisch wie empirisch fundierte Programme, die möglichst viele Wertebildungsinstanzen, insbesondere die Familie und das Umfeld einbeziehen. Für die Zukunft lassen sich vor allem drei Trends prognostizieren: Erstens ist anzunehmen, dass sich durch den rasanten gesellschaftlichen Wandel und das wachsende Wohlstandsgefälle die Werthaltungen der Menschen weiter ausdifferenzieren, z. T. auch weiter polarisieren werden. Zweitens ist davon auszugehen, dass die Sozialen Medien als Wertebildungsinstanz immer mehr an Bedeutung gewinnen. Und drittens ist unschwer zu prognostizieren, dass solche Themen wie Klima-, Umweltschutz, Art(en)-erhaltung und Nachhaltigkeit einen immer größeren Raum einnehmen werden – schließlich geht es um nicht mehr

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und nicht weniger als um die Erhaltung menschenwürdigen Lebens auf der Erde. Was für eine große Herausforderung, gerade auch für die Wertebildung!

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Jenseits von ethnischen Grenzen – EU-Grundrechte als Maßstäbe für eine Wertebildung1

Welche Werte verbindet eine Migrationsgesellschaft? Werte in einer multikulturellen Gesellschaft gehen von dem Bedürfnis aller Individuen aus, in erster Linie als Menschen behandelt zu werden, und nicht aufgrund eines Sonderstatus in der Gesellschaft, z.B als Fremder oder Ausländer, als Flüchtling, als Frau, als Kind oder auch als Mensch in fortgeschrittenem Alter. Hier geht es thematisch um die Migrationsgesellschaft, mitdefiniert auch durch mögliche Erwartungen von Ausländern, Flüchtlingen, Arbeitsimmigranten. In diesem Beitrag sollen Werte für alle, d. h. für unterschiedliche soziale Schichten und Kulturen, gleichermaßen geprüft werden; es geht also nicht nur um bestimmte Gruppen der unter uns lebenden Immigranten, d. h. nicht um Unterschiede zwischen Einwanderern, Arbeitsimmigranten, Wirtschaftsflüchtlingen, Kriegsflüchtlingen, Asylbewerbern. Gegenstand des Beitrags ist die Auseinandersetzung mit werthaltigen Positionen für die gesamte Migrationsgesellschaft innerhalb eines Gemeinwesens, soweit sie von Zuwanderung betroffen ist. Diese hier entfalteten Thesen sind also nicht orientiert an Vorstellungen über eine von den ›Einheimischen‹ vorgegebene ›Leitkultur‹, nach der sich Immigranten in aller Regel zu richten haben. Die Adressaten dieser Überlegungen sind in erster Linie Engagierte in der hiesigen Gesellschaft, die ihre Grundwerte nach Pluralismus-Maßstäben ausrichten, die sich auch und vor allem auf Probleme der Zugewanderten beziehen. Wir denken vor allem an einen Personenkreis, der an deren Betreuung mitwirkt, also an Lehrende, an Erziehende, an Arbeitende in sozialen Diensten, an Übersetzer/innen, insgesamt also sowohl an Einheimische als auch an Immigranten. Für die sich verändernde Migrationsgesellschaft sind zuverlässige Wertmaßstäbe zu entwickeln, die auch unabhängig von den spezi1 Die Verfasser dieses Beitrags hatten einige Passagen dieses Textes bereits im englischer Sprache in einem Sammelband unter dem Titel »Can Values Education Promote Cohesion in Europe?« formuliert (ersch. in: Common European Legal Thinking. Essays in Honour of Albrecht Weber, hrg. Hermann-Josef Blanke u. a., Heidelberg, New York, Dordrecht, London 2016, Springer, pp. 375–390). Erstherausgeber und Verlag stimmen dem Nachdruck dieser Passagen zu.

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fisch ›deutschen‹ oder auch ›europäischen‹ Traditionen allgemein geltend gemacht werden können. Wir werden in diesem Beitrag deutlich unterscheiden zwischen – den schon jetzt rechtsgültigen Grundwerten und Grundrechten und – den darüber hinaus noch einzufordernden Werten und Rechten für ein harmonisches Zusammenleben im europäischen Rahmen. In den folgenden Abschnitten 1 und 2 gehen wir von ethischen und politischen Maßstäben, d. h. von den jetzt schon gültigen Standards aus, die einzuhalten von allen entscheidungsfähigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern erwartet werden muss; m. e. W.: es gibt bereits jetzt nach den Regeln unserer Rechtsordnung Verpflichtungen zur Respektierung gemeinsam kodifizierter Grundrechte und Grundwerte. Und in den Abschnitten 3 bis 5 diskutieren wir weitere Möglichkeiten für eine Wertebildung, deren gemeinsame Maßstäbe in unterschiedlichen ethnischen Lebensformen von allen freiwillig eingelöst werden sollten.

1.

Grundrechte in einer Migrationsgesellschaft

Es gibt Staaten, deren Bürger mehrheitlich aus Migranten und deren Nachkommen bestehen, z. B. Australien, Neuseeland, USA, Kanada, Israel. In ihnen blieb und bleibt die Integration von Einwandernden eine Daueraufgabe. Doch wir sind in der Bundesrepublik erst auf dem Wege zu einem Einwanderungsland. Noch immer wirft die Akzeptanz von Flüchtlingen und Arbeitsimmigranten aus anderen Ländern rechtliche und soziale Probleme auf. Immer noch umstritten sind vor allem die rechtlichen Garantien für die Unionsbürger aus anderen Ländern, die in Mitteleuropa heimisch geworden sind, sowie auch für Arbeitsimmigranten aus Drittländern (außerhalb von EU-Staaten). Im Artikel 2 des EU-Vertrages von Lissabon (2007) wird der Geltungsbereich der Rechtsansprüche aller EU-Staatsangehörigen (»Unionsbürger«) auf eine vergleichbare Rechtsstellung aller Migranten aus sogen. »Drittländern« ausgedehnt. Man beruft sich damit auf vergleichbare Wertansprüche aller in der EU Lebenden: »Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnet.«

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Damit werden die europäischen Werte ausdrücklich auch auf bisher benachteiligte Gruppen bezogen. Die EU, die sich selbst auch als »Werte-Union« bezeichnet, geht demnach davon aus, dass das Ziel, Standard-Werte wie Solidarität, Toleranz und Gleichheit zu realisieren, auch jenseits rechtlicher und politischer Einigung, erstrebenswert bleibt. Doch solche Erwartungen lassen sich in der Polit-Sprache der EU-Gemeinschaft bisher nur in Absichtserklärungen, also in einer bestimmte Werte einfordernden Sprache fassen. Sie begründen noch nicht den Rechtsanspruch von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die sich in einer Mehrheitsgesellschaft noch als Fremde erfahren. Prüfen wir zunächst die Garantien, die zuerst das Grundgesetz (seit 1949) und sodann die Charta der Grundrechte der EU (seit 2000) inzwischen formuliert haben, um die gleichen Rechtsansprüche als Menschenrechte für alle – nicht nur für stimmberechtigte Staatsbürger in deren Heimatland – durchzusetzen. Das deutsche Grundgesetz drückt einige Rechtsansprüche durch ein Diskriminierungsverbot aus, das in mehreren Punkten auch die hier lebenden Migranten und deren Nachkommen schützt: »Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.« (Art. 3, Abs. 3, Satz 1, GG) Doch die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen kann die Verfassungsordnung nur eingeschränkt ausdrücken – und zwar so: Alle Menschen sind »vor dem Gesetz« gleich (Art. 3, Abs. 1, ebd.). Im Übrigen sieht das Grundgesetz in seinen Grundrechtsartikeln noch keineswegs die völlige rechtliche Gleichheit zwischen »Deutschen« und anderen Mitbewohner/inne/n des Rechtsraums Bundesrepublik vor. Es garantiert zwar für alle (im Rechtsdeutsch: »Jeder hat das Recht auf…«) den Anspruch auf freie Persönlichkeitsentfaltung (Art. 5, Abs. 1, ebd.), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 5, Abs. 1 ebd.). Aber die weiteren Rechtsansprüche werden ausschließlich »allen Deutschen« und noch nicht allen hier Lebenden zuerkannt. Zu diesen »Deutschenrechten« zählen die Versammlungsfreiheit (Art. 8), die Vereinigungsfreiheit (Art. 9), die Freizügigkeit (Art. 11) und spezielle Berufsfreiheiten (Art. 12). Eine solche Unterscheidung zwischen allgemeinen Menschenrechten und spezifischen Bürgerrechten finden wir auch in der EU-Grundrechtecharta wieder. Auch sie wählt bei der Zuerkennung von Menschenrechten in der Regel eine ähnliche Formulierung: »jede Person hat das Recht auf…« Gemeint ist damit der Anspruch, Freiheitsrechte nicht nur europäischen Staats- und Unionsbürgern zu gewähren. Nach den ersten beiden Kapiteln »Würde des Menschen« (Art. 1–5,

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ebd.) und »Freiheiten« (Art. 6–19, ebd.) sollen alle Personen Rechtsträger sein, unabhängig von ihrem Rechtsstatus als Bürger eines EU-Mitgliedstaates (zeitgleich als Staats- oder als »Unionsbürger«) oder als in der EU Lebende, die aus sogen. ›Drittstaaten‹ eingewandert sind. Damit geht die EU-Charta in ihren Garantien für »jede Person« noch weit über die Rechtsansprüche hinaus, die das Grundgesetz für alle Menschen schon formuliert hatte. Dazu zählen »das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation« (Art. 7, ebd.) sowie auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8, ebd.). Die EU-Charta sieht ferner – anders als das Grundgesetz – für jedwede Person die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit (Art. 12, ebd.), das Recht auf Bildung, einschließlich Ausund Weiterbildung (Art. 14, ebd.), Berufsfreiheit, eingeschlossen das Recht auf Arbeit (Art. 15, ebd.) vor. Die Möglichkeiten und Grenzen einer sozialstaatlichen Sicherung der Lebensumstände für alle, für Immigranten wie für Einheimische, sind bereits seit dem Jahr 2000 verbindlich formuliert in dieser EU-Charta der Grundrechte. Im Kapitel IV»Solidarität« heißt es: »Jede Person, die in der Union rechtmäßig ihren Wohnsitz hat und ihren Aufenthaltsort rechtmäßig wechselt, hat Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit und der sozialen Vergünstigungen nach dem Gemeinschaftsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten«. (Art. 34, Abs. 2, ebd.)

Auch Staatsbürger aus ›Drittländern‹, die keine Unionsbürger sind, werden in ihrem Anspruch auf äquivalente Sozialleistungen und Gleichbehandlung am Arbeitsplatz gleichgestellt, soweit sie einen berechtigten Aufenthaltsstatus haben. Dazu gehören auch die an anderer Stelle (Art. 30 und 31) garantierten Rechte auf Schutz vor ungerechtfertigter Entlassung und auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen. Unter dem Titel »Gleichheit« (Kapitel III) finden sich auch Artikel, die über die generell schon formulierte Norm der Rechtsgleichheit aller Personen (Art. 20) noch hinausgehen: Diskriminierungsverbot (Art. 21), insbesondere auch aus »Gründen der Staatsangehörigkeit« (ebd., Abs. 2). Mitbürger mit Migrationshintergrund erhalten somit auch in Deutschland durch die EU-Charta (ab 2000) eine weitergehende Gleichberechtigung mit den deutschen Staatsangehörigen, die noch umfassender ist als in den formulierten Artikeln des Grundgesetzes. Das gilt insbesondere für Staatsangehörige aller EULänder, die ohnehin Bürgerschaftsrechte in der gesamten Union beanspruchen dürfen.

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Wer aber ist ein solcher EU-Bürger? In den EU-Verlautbarungen heißt es: derjenige, der ›rechtmäßig‹ eine EU-Bürgerschaft erworben hat, egal ob als Flüchtling, Migrant, Asylsuchender oder Ansässiger in jedem EU-Mitgliedsland.2 Insofern beziehen sich die Rechtsansprüche, die von der EU kodifiziert sind, auf alle Staatsbürger in den EU-Mitgliedsstaaten, soweit sie ›rechtmäßige‹ EUBürger sind. Nur in dieser Hinsicht stiften die EU-Charta und die europäischen Verträge eine Gemeinschaft aller »Unionsbürger« – unabhängig von deren Nationalität. Doch bis zur rechtlichen Garantie einer umfassenden Gleichberechtigung ist es noch ein weiter Weg. In den einzelnen EU-Staaten werden immer noch häufig bestimmte Bürgerrechte als Vorrechte für genuine Staatsbürger gegenüber den sogen. Ausländern vorbehalten. Bis vor kurzem war es üblich, dass ›Deutsche‹ bei Arbeitsplatzangeboten gegenüber ›Ausländern‹ bevorzugt berücksichtigt wurden. Doch nach den EU-Charten und EU-Verträgen müssen ›Deutsche‹ ihren Vorzugsstatus gegenüber ›Ausländern‹ aufgeben, sobald die EU-Normen in allen Mitgliedsstaaten für alle Unionsbürger einheitlich durchgesetzt sein sollten. Erforderlich wäre im Übrigen die völlige Gleichstellung aller EU-Bürger in jedem Mitgliedsland – z. B. auch in Hinblick auf das Wahlrecht.

2.

Gemeinschaftswerte – auch als Maßstäbe für gemeinsame Zielsetzungen

Auf Werte in Grundrechtskatalogen beruft man sich überwiegend in solchen Fällen, wo sie nicht nur Ansprüche von Einzelnen oder von sich verbindenden Gruppen legitimieren, sondern wo auch Rechte juristischer Personen (Firmen und Gesellschaften mit Rechtsstatus) berührt werden. Im Zentrum einer transkulturellen Wertebildung sollten darüber hinaus auch solche Gemeinschaftswerte stehen, welche den Zusammenhalt einer Gesellschaft – trotz vieler Wertkonflikte zwischen unterschiedlichen Interessengruppen – betonen, z. B. der Gemeinschaftswert »Solidarität«. In der Zeit der Französischen Revolution wurde als dritter Sozialwert die »Brüderlichkeit« reklamiert, die in der Sprache politischer Forderungen im 19. Jahrhundert zur »Solidarität« erweitert wurde. Was zeichnet sie als Muster für wertbezogenes soziales Handeln aus? Es geht hier nicht nur allgemein um die Betonung eines Zusammengehörigkeitsgefühls, auch nicht nur um Zuwendung zum jeweils Nächsten (Nächsten2 Es bleibt das Problem bestehen, dass erst der Erwerb der EU-Bürgerschaft die weiteren Rechtsansprüche wirksam werden lässt. Daher bleibt es nicht ausgeschlossen, dass Mitmenschen, die den Rechtsanspruch auf Bleiberecht nicht erwerben können und nicht erworben haben, von der Rechtsgleichstellung mit anerkannten Mitbürgern ausgenommen werden.

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liebe), sondern speziell um das Eintreten für einander, also um Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft, auch um Kollegialität in Arbeits- und Lebenszusammenhängen. Es ist sinnvoll, hier an Emile Durkheim zu erinnern, der schon im 19. Jahrhundert unterschieden hat zwischen der traditionellen »mechanischen Solidarität«, orientiert an traditionellen Handlungsmustern im Nahbereich, die nur auf vorgegebenen gemeinsamen Merkmalen einer Gruppe beruht (z. B. Wir Arbeiter, Wir Frauen, Wir Deutsche), und der »organischen Solidarität«, deren Basis ganz allgemein das Angewiesensein aufeinander ist (z. B. in der Kooperation von unterschiedlichen Spezialisten in einer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft). Als höchstes Ziel folgt dieser Wert der Solidarität dem Prinzip der Gesamthaftung (»Alle für Einen – Einer für Alle«). Dieses Wertsystem ist uns bereits durch das Sozialstaatsprinzip vertraut und auch als Versicherungsnorm bekannt. Solidarität sollte aber auch ein Erziehungsziel für den Fernbereich sein. Sie müsste realisierbar werden nicht nur in einem individuellen Rechtsanspruch gegenüber Nahestehenden, sondern auch in einem globalen Bereich im Verhältnis zwischen den Gesellschaften; somit muss sich auch eine Orientierung zur Solidarität diesen beiden Aspekten widmen. Die wertebildenden Instanzen sollten Kinder und Jugendliche zum Einen zur Solidarität mit dem (Singular!) sichtbaren Gegenüber erziehen mit dem Ziel, diesem zu helfen, ihn zu fördern, zu verteidigen und zu unterstützen, kurz: mit ihm solidarisch zu werden. Sie sollten zum Anderen zur Solidarität mit den (Plural!) unsichtbaren Fernen oder gar noch nicht Geborenen erziehen mit dem Ziel, für deren Lebens- und Überlebensmöglichkeiten zu sorgen, kurz: mit ihnen solidarisch zu werden. Zu dieser Unterteilung kommt noch diejenige zwischen personeller und struktureller Solidarität hinzu. Personelle Solidarität wird im Ich-Du-Verhältnis, strukturelle im Ich-Umwelt-Verhältnis ausgeübt. Erstere findet zwischen Personen statt, wobei die Beziehung zumeist asymmetrisch ist, da sich (wie bei der Nächstenliebe, nicht bei der Freundschaft!) Jemand einseitig um den Anderen kümmert. Letztere ereignet sich zwischen Individuum und struktureller Umwelt, wie z. B. zwischen Ich und der Natur insgesamt, im Verhältnis der jetzt Lebenden zu den noch nicht Geborenen, aber auch zwischen dem Individuum als natürliche Person und Organisationen und Institutionen als juristischen Personen. Beide Formen von Solidarität, die personelle und die strukturelle, kommen sowohl im interindividuellen Nah-, als auch im intergesellschaftlichen Fernbereich vor. Denn man kann im Fernbereich, bei dem es vornehmlich um strukturelle Solidarität geht, z. B. eine Patenschaft mit einem afrikanischen Kind pflegen und damit personell solidarisch sein; und man kann im Nahbereich, bei dem es vornehmlich um personelle Solidarität geht, sich mit dem als ›Natur‹ bezeichneten Lebenszu-

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sammenhang oder auch mit sozialen Bewegungen und Institutionen oder Ähnlichem strukturell solidarisieren.3

3.

Wertmaßstäbe als Ansprüche an ein europäisches Bildungssystem

»Werte« sollten also in den europäischen Schlüsselverträgen und Grundrechtskatalogen sowohl als Maßstäbe für die Verabschiedung europaweit juridisch verbindlicher Normen wie auch als Ziele künftigen politischen Handelns dienen. Das erfordert, im gesamten EU-Bereich die Identifikation mit transnationalen Werten gezielt zu fördern. Auf die Vermittlung europäischer Werte in Erziehung, Aus- und Weiterbildung verweist ein Passus aus einer interdisziplinären Studie über bisher praktizierte Modelle der Wertebildung in den Mitgliedstaaten aus dem Jahr 2017. Sie wurde von einem Expertengremium für das Europäische Parlament erstellt. Hier heißt es: »Obwohl die Vermittlung von Demokratie und Toleranz in der Politik ausreichend berücksichtigt wird, hat die Analyse ergeben, dass zwei Problemfelder bestehen: In der Bildungspolitik geht es bei der Vermittlung von Demokratie oftmals darum, etwas über Demokratie zu lernen, und nicht um die Kultivierung von Einstellungen, und Toleranz wird oftmals nicht im Sinne einer aktiven Inklusion aller sozialen und kulturellen Gruppen vermittelt. Die Analyse zeigt auch, dass die internationale Dimension der Vermittlung gemeinsamer Werte oft oberflächlich und wissensorientiert ist…«4

Das ist zu verstehen als eine direkte Aufforderung zu einer politischen Bildung, die mehr anstrebt als nur die Kenntnisnahme einer Wertordnung. Darüber hinaus wird ein Weg angezeigt zur Förderung einer positiven Einstellung zu den EU-Werten innerhalb des Bildungssystems der EU-Länder. Kann eine solche Werte-Bildung einen Zusammenhalt in Europa fördern?5 Die bloße Akzeptanz der eingeforderten Werte reicht, wie gesehen, für eine umfas-

3 Zur Unterscheidung zwischen Solidarität im Nah- und im Fernbereich vgl. ausführlich: Harald Kerber / Reinhold Mokrosch: Solidarität, Kommunikation und Teilhabe. In: R. Mokrosch / A. Regenbogen (Hrg.): Werte-Erziehung und Schule, Göttingen 2009, Verlag Vandenhoek & Ruprecht, , insbes. Abschn. II.5.7 (Seiten 82ff.). 4 Studie für den CULT-Ausschuss des Europäischen Parlaments u. d. T.: »Vermittlung gemeinsamer Werte in Europa«, aufrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/RegData/etude s/STUD/2017/585918/IPOL_STU%282017% 29585918_DE.pdf (aufgerufen 27. 04. 2020) – (zitiert aus S. 35). 5 Vgl. auch Reinhold Mokrosch: »Protestantische Werte-Erziehung und ihr Beitrag für das Zusammenwachsen Europas« in: Wiener Jahrbuch für Theologie, Münster LIT-Verlag 2008, 155–166, bes. 164–166. – Vgl. zur folgenden Analyse der Grundwerte Freiheit, Gleichheit,

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Arnim Regenbogen / Reinhold Mokrosch

sende Wertebildung noch nicht aus. Bisher war es üblich, Richtlinien zur Anerkennung einer transnationalen Werteordnung auf EU-Ebene nur in einer Sprache zu fassen, nach der eine Pluralität der Lebensformen im Konfliktfall zu respektieren ist, doch noch nicht direkt auf die positive Anerkennung der je unterschiedlichen Vielfalt als ein gemeinsames europäisches Gut abzielt. Wie in der Wertebildung der Schritt vom elementaren Rechtsbewusstsein zur Identifizierung dem den Wertgehalt von Grundrechtsnormen schrittweise erreicht werden kann, dazu gibt es bereits detaillierte Vorschläge. In der zitierten Studie bezüglich grundlegender Bildungsprogramme in der EU werden den internationalen demokratischen Institutionen die folgenden Ziele für eine schulische Wertebildung empfohlen: – »Anregung von Diskussionen über die Frage, was »nationale« und »europäische« Bürgerschaft bedeutet und was die gemeinsamen Werte und Prinzipien sind, beispielsweise durch eine Betonung der Werte, auf denen die EU und Entwicklungen der EU-Politik beruhen.« – »Anregung zu Debatten über kontroverse Themen in der staatsbürgerlichen Bildung.« – »Anregung zu Debatten über die unterschiedlichen Ansichten der Beteiligten in Bezug auf ihre Rolle bei der Vorbereitung der Schüler auf eine Teilhabe an demokratischen Gemeinschaften.« – »Anregung zu Debatten über erstrebenswerte Entwicklungen in der demokratischen Politik und Praxis.«6

Wie könnten die für das europäische Zusammenleben in einer multikulturell geprägten Gesellschaft entscheidenden moralisch-politischen Prinzipien in der Erziehung vermittelt werden? Ein erster Schritt könnte sich bei der Förderung eines Rechts- und Unrechtsbewusstseins ergeben. Die Unterrichtung über die zur Zeit gültigen grundlegenden europäischen Rechtsnormen könnte zumindest den Respekt für die Einhaltung von Gesetzen fördern. Doch eine Erziehung muss mehr leisten als die Beachtung von rechtsverbindlichen Gesetzen und Normen. Sie muss zur aktiven Wertschätzung für deren Prinzipien und Werte beitragen – z. B. auch bei der Förderung von Empathiefähigkeit bei Heranwachsenden. Zunächst zur Frage: Wie kann man an ein Rechts- und Unrechtsbewusstsein in der Schule anknüpfen? Kenntnisse über gültige Rechtsordnungen werden Heranwachsenden im Schulalltag in unterschiedlichen Fächern vermittelt (Geschichte, Politik, Philosophie, Religion, Ethik u. a.). Allerdings lernen Kinder in der Regel bereits im Vorschulalter Maßstäbe für geregeltes Verhalten, so dass sie bereits ein Bewusstsein von Wertvorstellungen entwickelt haben. Später lernen Solidarität und Menschenwürde auch: R. Mokrosch / A. Regenbogen (Hg.): op. cit. Seiten 52– 60, 70–77, 78–85, 86–94. 6 Vgl. die zitierte Studie für den CULT-Ausschuss des Europäischen Parlaments, ebd. S. 208.

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sie solche Regeln als Bestandteile eines Rechtsnormenkatalogs kennen. Was vorausgesetzt und schon erprobt ist, erleichtert bereits die Orientierung im eigenen Verhalten und die Beurteilung nicht nur über das, was Recht und Unrecht sein kann. Ein zweiter Schritt: Bewusstmachen derjenigen Werte, welche die Rechtsnormen begründen. Solange Verhaltensnormen als von äußeren Instanzen gesetzt und vorgeschrieben erlebt werden, können Heranwachsende die normativen Erwartungen in bestimmten Fällen umgehen, sie dementieren oder einzeln oder gemeinsam in Frage stellen. Angelernte Normen und Angst vor Strafe führen noch nicht zur wirklichen Einsicht in ein Wertesystem, das zu befolgen als sinnvoll angesehen wird und das einen hohen Stellenwert im eigenen Selbstverständnis hat. Wertebildung kann sich daher mit dem Vermitteln von Inhalten von Normenkatalogen nicht begnügen – eine selbstverständliche Einsicht, die alle Eltern und Erzieher nachvollziehen können. Welche Fähigkeiten brauchen Jugendliche, um zu eigenen Wertvorstellungen in Auseinandersetzung mit konkurrierenden Meinungen und Werten zu kommen? Welche Erziehung zu Werten brauchen wir, wenn wir nicht nur einen Regelgehorsam durchsetzen wollen, sondern auch einen habituellen Respekt oder gar eine grundsätzliche Wertschätzung von Konventionen fördern möchten? Wenn Regeln und Ordnungen sowie die natürlichen Rechtsansprüche Anderer akzeptiert werden sollen und dabei auch die Einsicht von eigenen selbstverständlichen Verpflichtungen gegenüber Mitmenschen berücksichtigt werden soll, sind soziale Kontakte, in denen auch die erwartete Empathie mit Anderen erprobt wird, bei der Erziehung zu Werten und zum Wertebewusstsein unerlässlich.7 Werte-Erziehung in der Schule hat, trotz der genannten schüler- und schulbedingten Schwierigkeiten gute Chancen, wenn sie dialogisch, begleitend und beziehungsorientiert durchgeführt wird. In den meisten Schulfächern und bei fast allen Themen könnte und sollte sie – bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt – eine Rolle spielen. Prinzipiell ist man in der schulischen Bildung darauf bedacht, zu Wert- und Normkonflikten Stellung zu nehmen und die gefassten Entscheidungen rational zu begründen. Dies gilt insbesondere für Wertmaßstäbe und ihre Begründungszusammenhänge, die in der eigenen Kulturtradition als allgemein gültig anerkannt werden. Angehörige unserer Kultur können sich auf eine geschriebene Rechtsordnung berufen, die nur dann überzeugend begründet wird, wenn sie im Prinzip für alle Adressaten gleichermaßen verbindlich wird. »Werte« dienen in den europäischen Schlüsselverträgen und Grundrechtskata7 Gesichtspunkte für den schulischen Wertediskurs zu Recht und Gerechtigkeit vgl. Arnim Regenbogen: Gerechtigkeit, Gleichheit und Toleranz – sowie Angelika und Arnim Regenbogen: Erziehung zu Recht und Gerechtigkeit. In: R. Mokrosch / A. Regenbogen (Hg.), op. cit., Seiten 70–85 und 189–195.

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logen sowohl als Maßstäbe für die Verabschiedung europaweit juristisch verbindlicher Normen wie als auch als Ziele künftigen politischen Handelns. Eine ›Europäische Wertebildung‹ sollte sich deshalb vornehmlich an den zentralen Grundrechten der EU orientieren. Diese fordern von Jugendlichen nämlich die Bereitschaft, die europäischen Werte und Überzeugungen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern auf der Grundlage eigener Wertvorstellungen sich als zukünftige Unionsbürger bewusst für diese Werte zu entscheiden und öffentlich für sie einzutreten. Doch wie müsste man bei der Wertebildung im Unterricht auch mit dem Anspruch umgehen, die Menschenwürde nicht nur den rechtsfähigen EU-Mitbürgern, sondern allen Mitmenschen zuzusprechen, sofern sie nicht ausdrücklich »mündige« Rechtsträger sind – z. B. Kinder, inbesondere unbegleitete Zugewanderte aus »Drittstaaten«? Als ethisch bedeutsam für das Rechtsbewusstsein von Jugendlichen hören Erziehende (z. B. Lehrkräfte in sozialwissenschaftlichen Fächern) immer wieder die Frage, ob z. B. die bisher gültigen Rechtsordnungen nicht nur für Deutsche und für EU-Europäer, sondern auch für alle Menschen unabhängig von ihrer Herkunft gelten müssten. Das ethische Prinzip der Achtung vor der Menschenwürde gehört, wie wir oben schon dargelegt haben, sowohl nach der EUGrundrechtscharta (Art. 1) wie auch nach dem bundesdeutschen Grundgesetz zu den tragenden rechtlichen und politischen Gestaltungsprinzipien (Art. 1 GG). Im Unterricht könnte man z. B. beim Umgang mit herabsetzenden Gesten und Worten, wie sie Schülerinnen und Schüler im Schulalltag allzu oft erfahren, nicht nur auf die persönliche Ehrverletzung verweisen, sondern darüber hinaus solche Verhaltensmuster generell mit einem Verstoß gegenüber der garantierten Würde des Menschen in Verbindung bringen. Es gibt viele Beispiele für Demütigungen im Schulalltag. Für diese Herabsetzungen könnten Jugendliche stärker sensibilisiert werden, wenn sie mit der Bedeutung des Rechts auf die Würde jedes Menschen konfrontiert werden. Das Gebot der ›Universalisierung‹, drückt sich, wie wir sahen, in Grundrechtskatalogen in der Formulierung aus: »jede Person hat ein Recht auf…«. Das erfordert in der Wertebildung auch eine Diskussion über die notwendige Erweiterung des Geltungsbereichs von Grundrechten ein: Müssen nicht über die Rechte der jetzt Lebenden auch die Rechte der noch nicht Geborenen und auch die Rechte von Pflanzen und Tieren berücksichtigt werden? Manche Schüler stellen sogar die Legitimation traditioneller anthropozentrischer Weltbilder grundsätzlich in Frage. Sie verbinden ihre Fragen mitunter mit Forderungen nach einem Schutz nicht nur für Menschen, sondern eben auch für die Tierwelt, der in erster Linie sich im Artenschutz erweisen soll, oder gar für die Biosphäre insgesamt. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt für die Förderung von Ansprüchen an die Respektierung Menschenwürde ist das Faktum, dass Jugendliche fast täglich

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über schwere Menschenrechtsverletzungen in denjenigen Staaten etwas erfahren, in denen Menschenrechtsgrundsätze nicht in gültiges Recht umgesetzt werden. Sie erfahren auch für den Bereich der EU-Staaten viel über die unwürdige Behandlung von Flüchtlingen, die versuchen, unter lebensbedrohlichen Umständen über das Meer die ›Festung‹ Europa zu erreichen. Diesen immer wieder benachteiligten Personengruppen wird offensichtlich keine Würde zugesprochen, denn die staatlichen Maßnahmen greifen nicht oder reichen nicht aus, um ihnen Würde zuteil werden zu lassen. Lebensschutznormen nach Rechtsprinzipien, die allgemein und nicht nur regional gelten sollten, müssten eigentlich universell gültig sein. Einsichten in die Dramatik dieser Missachtung von Rechten können auch grundsätzlich dazu führen, die Frage nach der universellen Geltung aller elementaren Menschenrechtsprinzipien zu stellen und verbindliche Maßstäbe nicht nur für das jeweilige Staatsrecht, sondern auch für das Völkerrecht einzufordern. Erst wenn man annimmt, dass es universell gültige (geschriebene oder ungeschriebene) Menschenrechte gibt, kann unterschieden werden zwischen individuellen Rechten, die uns als Staatsbürger eines Landes und als Unionsbürger zustehen, und denjenigen, welche uns als ›Weltbürger‹ weltweit zukommen müssten. So könnte ein Bewusstsein und eine Gewissheit für die Würde aller Menschen, ob sie innerhalb oder außerhalb der EU leben, durch Werte-Bildung in Familie, Kindergarten, Schule, Kirchen u. a. Institutionen gepflanzt werden.8

4.

Wertebildung – am Maßstab der selbstständigen Beurteilung

Im Folgenden wollen wir abschließend noch beschreiben, wie sich Werte im Individuum bilden. Wir redeten bisher von pädagogisch initiierter Wertevermittlung. Jetzt möchten wir auf individuell subjektive Wertebildung eingehen. Wie ›bilden‹ sich denn Werte im Bewusstsein?9 Für den Prozess der WerteBildung lassen sich drei Phasen unterscheiden: (1) Das gewertete Objekt ist in der Regel ein erwünschtes Gut, z. B. dass alle EUBürger und ihre Mitbürger aus »Drittstaaten« frei, gleich, solidarisch und menschenwürdig sind bzw. werden. Denn diese tragen eine Werthaftigkeit in sich, die man mit den Idealen von Freiheit, Gleichheit, Solidarität und 8 Zum Umgang mit dem Universalisierungsanspruch auf Menschenwürde vgl. Angelika und Arnim Regenbogen: Erziehung zu Recht und Gerechtigkeit. In: R. Mokrosch / A. Regenbogen (Hrg.), op. cit., insbes. Abs. IV.3.3 (Seiten 193ff.). 9 Vgl. zum Selbstbildungskonzept ausführlicher: Reinhold Mokrosch: »Religiöse Werte-Bildung im Pluralismus der Religionen«, in: Wie sich Werte bilden. Fachübergreifende und fachspezifische Werte-Bildung, hg. von E. Naurath, M. Blasberg-Kuhnke, E. Gläser, R. Mokrosch, S. Müller-Using, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht unipress, 2013, S. 43–64, bes. 43–51.

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Menschenwürde verbindet. Erst wenn alle Mitbewohnenden in der EU frei, gleich und solidarisch sind sowie menschenwürdig leben können, werden diese vier Werte nicht mehr nur als Ideale beanspucht, sondern – innerhalb des EU-Rahmens – realisiert. (2) Das wertende Subjekt macht sich diese vier Werte erst anschaulich, wenn es z. B. so wertet: Zur Zeit sind die Unionsbürger frei, gleich, solidarisch und menschenwürdig, bzw. unfrei, ungleich, unsolidarisch und unwürdig. Die wertende Person leistet damit Geburtshilfe, damit diese Werte, geprüft an den Verhältnissen innerhalb der EU, in ihrem Bewusstsein real und anschaulich werden. Denn unabhängig von subjektiven Werthaltungen existieren die ›Werte‹ für sich nicht, auch wenn die wertende Person von ihren früheren Wertungen her Vorverständnisse von Freiheit, Gleichheit usw. mitbringt. (3) Dadurch dass die wertende Person mit ihrem Wertungsakt den jeweiligen Wert mit Leben füllt, verobjektiviert sie ihn, weil sich Andere, welche diese Wertung miterleben, vielleicht auch dieser Wertung anschließen und urteilen: hier sind Unionsbürger frei, solidarisch usw. und dort sind sie unfrei, unsolidarisch usw. Was bedeutet das für die erzieherische Werte-Bildung? Es besagt, dass WerteBildung ein Selbstbildungsakt ist. Nur wenn die Schüler selbst werten und Wertungen vornehmen, können sie ein Bewusstsein für die Werte entwickeln. Werte-Bildung ist Wertungsbildung. Die/der Einzelne verifiziert nur im Wertungsakt für sich und für sein Bewusstsein einen Wert und den Wert seiner Umwelt. Durch Erziehung von außen ohne Selbstbildung bleibt Werte-Bildung erfolglos. Die Aufgabe von Werte-Bildnern ist es, den Wertungsakt bei Schülern anzuregen und zu begleiten. Normen dagegen werden anerzogen. Zwar sollen auch sie durch die Erfahrung der Schülern aktualisiert werden, aber sie entstehen nicht im Schüler, sondern sind von außen vorgegeben. Werte dagegen entstehen im Bewusstsein der Individuen und nicht in der Gesellschaft. Moralische Ansprüche an Haltungen, die dem Bedeutungsumfang nach an ›Werten‹ orientiert sind (in traditioneller Sprache: ›Tugenden‹), werden dagegen zunächst im Verhalten und im Bewusstsein der Individuen eingelöst und nicht primär von der Gesellschaft vermittelt. Das setzt Freiheit und Selbstständigkeit in der Urteilsbildung voraus. Doch eine Erziehung zur Freiheit muss davon ausgehen, dass ihre Adressaten zunächst noch Abhängige (Kinder und Jugendliche) sind. Enthält Erziehung daher nicht immer einen Anteil Fremdbestimmung und macht sie nicht eher abhängig als frei? – Außerdem: Konkurriert nicht insbesondere bei Jugendlichen, deren Individualisierungs- und Privatisierungsanspruch rechtlich anerkannt ist, mit einer Erziehung zu verantwortlicher Freiheit? Kann Freiheitserziehung über-

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haupt noch etwas ausrichten gegen klischeehafte Slogans? Man denke an Schlagworte wie »Freie Fahrt dem freien Bürger!«, »Freie Wahl dem freien Konsumenten!« und »Freie Wahl unter den Religions- und Weltanschauungsangeboten auf dem Markt der Möglichkeiten!«, alles Beispiele für Rechtsansprüche, welche die Freiheit auf eine individualistische Selbstgenügsamkeit reduzieren. Solche Einwände sind ernst zu nehmen und fordern von der Lehrkraft bei dem Versuch einer Erziehung zur Freiheit besondere Sorgfalt ab. Folgende Vorschläge könnten dabei hilfreich sein: – Die Lehrkraft muss die Schülerinnen und Schüler als freie Individuen mit einem vorhandenen Wertbewusstsein akzeptieren und ernst nehmen. Schüler sind nicht Objekte, sondern entwickelte Persönlichkeiten mit Anspruch auf Erziehung zur Freiheit. – Das bedeutet aber auch, dass Lehrkräfte den möglichen Freiheitsmissbrauch seitens der Schüler scharf kritisieren müssen. Freiheit kann nur dann verantwortlich ausgeübt werden, wenn sie sich gleichzeitig der Grenzen individueller Freiheit verpflichtet weiß. – Ebenso sollte die Lehrkraft einen gegebenenfalls egozentrischen und privatistisch verengten Freiheitsbegriff von Schülern kritisieren. Individuelle Ansprüche können auch mit gesellschaftspolitischen Freiheiten verbunden werden. Schüler dürfen zwar Ansprüche zur eigenen Freiheitsgarantie an Staat und Gesellschaft stellen. Aber sie haben auch die Pflicht, die Freiheit ihrer Mitschüler und anderer Teile der sie umgebenden Gesellschaft zu schützen und zu fördern. Die Ermöglichung des sozialen Lernens dient auch dem Prinzip der ständigen Erweiterung des sozialen Verhaltens und schafft die Grundlage für ein Verständnis für die beschriebenen Positionen gesellschaftspolitischer Freiheit. – Die Lehrkraft sollte das Streben der Kinder und Jugendlichen nach negativer und/oder positiver Freiheit, wie oben beschrieben, rational diskutieren. Aber insgesamt sollte sie dazu motivieren, sich nicht mit negativer Freiheit zu begnügen, sondern beim Streben nach Unabhängigkeit die Kinder und Jugendlichen fragen, wie sie ihre Ansprüche an Unabhängigkeit in lebendiger Auseinandersetzung mit Anderen einlösen wollen. Damit unterstützen Lehrende einen inneren Antrieb zum verantwortlichen Gebrauch der Freiheit. – Freiheit sollte den Schülern als Gefühl, Recht und Pflicht nahe gebracht werden. Freiheit als Gefühl bezeichnet ein Gefühl der Befreiung. Das kann sich auf selbst erlebten Gefühlsebenen, z. B. in der Erfahrung des Verliebtseins, oder in der Erfahrung des Wieder-Gesund-Werdens, aber auch im Rückblick auf das Ende einer belastenden Freundschaft oder Zweierbeziehung, vor allem auch im Prozess einer beginnenden Emanzipation vom Elternhaus ereignen.

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Schüler brauchen Unterstützung für ihre Persönlichkeitsentfaltung. Dann sind sie auch in die Lage zu verstehen, was Freiheit als Recht bedeutet: dass jeder Mensch das Recht auf solche Freiheitsgefühle und auf reale persönliche und gesellschaftspolitische Freiheit hat. Sie ist ein Grund- und Menschenrecht. Allerdings sollte dabei negative Freiheit – als eine Freiheit von etwas – mit positiver Freiheit – als Freiheit zu etwas – verbunden werden. Denn mit der Erfahrung des selbst frei sein Könnens geht in der Regel auch die Einsicht in eine soziale Verpflichtung einher. Dieser Zusammenhang geht davon aus, dass Freiheit nur in der Gemeinschaft entsteht und nur in der Gemeinschaft bestätigt werden kann, wenn gefordert wird, die negative und ggf. auch positive Freiheit der Anderen zu fördern. Freiheit als Pflicht resultiert aus der Einsicht, dass wir, wie Sartre es ausdrückt, zur Freiheit »verurteilt« sind. Da sich auch der Nicht-Gebrauch von Freiheit, z. B. bei prinzipieller Nicht-Entscheidung, in seiner Wirkung als ein Gebrauch von Freiheit herausstellt, sind wir verpflichtet, unsere Freiheit in Anspruch zu nehmen und Entscheidungen zu fällen. Dazu bedarf es einer Freiheitsbildung. Kinder und Jugendliche müssen angeregt werden, ihre Freiheit verantwortlich einzusetzen. Unter Beachtung dieser Grundsätze, Freiheit als Gefühl, als Recht und als Pflicht, könnte Erziehung zur Freiheit in der Schule weiterhin gelingen.

5.

Werterfahrungen im Umkreis, übertragbar auch auf größere Zusammenhänge?

Können Werte- und Grundrechtsbildung einen Zusammenhalt in der Migrationsgesellschaft fördern? Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene erfahren täglich Verletzungen von Menschenrechten, Verweigerung der Rechte von NichtDeutschen, Durchlöcherung der Rechtsstaatlichkeit und Angriffe gegen die Demokratie. Vermögen individuelle Werte- und Grundrechtsbildungen gegen diese Großwetterlage etwas auszurichten? Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Menschenwürde sind ständig in Gefahr. Zwar sorgen der Europäische Gerichtshof, das deutsche Bundesverfassungsgericht, das Bundesverwaltungsgericht und die Landes- und Kommunal-Gerichte oft für die Wiederherstellung des Rechts. Aber eine individuelle Werte- und Grundrechtsbildung scheint, so sind wir überzeugt, gegen das Unrecht und das Unrechtsbewusstsein nichts ausrichten zu können. Trotzdem geben wir das Unterfangen nicht auf. In Familie, Kindergarten, Schule, Hochschule, Kirchen und anderen lokalen Bildungs-Einrichtungen gibt es Möglichkeiten zur Realisierung solcher subjektiven Werte und Bemühungen um die Umsetzung von Grundrechtsbildung. Viele sind bereit, in ihrem über-

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schaubaren Umfeld sich für Freiheit, Gleichheit, Solidarität und Menschenwürde einzusetzen. Und manche unter ihnen leben nach dem Grundsatz »Act locally! Think globally!« und übertragen ihre Wert-Erfahrungen in Familie, Freundeskreis, Schule, Gemeinde und Kirche auf die Migrationsgesellschaft. Wenn es Felder gibt, die Bereitschaft zum sozialen Engagement begünstigen, dann könnte eine solche basis-orientierte Werte- und Grundrechtspädagogik in der Migrationsgesellschaft Früchte tragen. Das ist eine Hoffnung, von der wir uns nicht abbringen lassen.

4. Kapitel: Studien zu multikultureller Wertebildung

Arnim Regenbogen

Einführung

In diesem Kapitel geht es nicht nur um Programme für die Förderung von WerteBildung. Vielmehr werden Resultate von bereits erfolgten Erhebungen und Erprobungen vorgestellt, welche die schon gegebenen Möglichkeiten zur interkulturell geprägten Werte-Bildung überprüfen. Zwei der Beiträge werten dazu Befragungen von Jugendlichen nach Kriterien der empirischen Sozialforschung aus. Zwei weitere widmen sich den Erfahrungen mit Lernprozessen, die den Umgang mit religiös geprägten Wertmaßstäben aus verschiedenen Kulturen fördern sollen. Aspekte des Wertebewusstseins von Schülerinnen und Schülern ermittelt die erste der empirischen Studien von Britta Baumert – vor allem durch qualitative Interviews. Es geht um Werte für den Nahbereich wie Freundschaft, Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Nächstenliebe. Bei der Auswertung geht es um Vergleiche zwischen Jugendlichen aus Familien mit Migrationshintergrund und solchen, die mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen. Sie zeigen eine hohe interkulturelle Übereinstimmung in der Wertbewertung, auch wenn beide Gruppen die Felder, für die freundschaftsbezogene Maßstäbe gelten, z. T. unterschiedlich bestimmen. Im Zentrum der Erhebung von Margit Stein und Veronika Zimmer zu interethnischen Kontakten bei Jugendlichen stehen quantitativ ausgewertete Daten zu tatsächlich eingegangenen Freundschaften, die im eigenen Nahbereich geschlossen wurden. Es geht zentral darum, wie viele enge Beziehungen in den Grenzen der eigenen Herkunftskultur und wie viele zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen und/oder Religionen eingegangen werden. Ferner werden grundsätzliche Einstellungen zur Zuwanderung in unterschiedlichen Gruppen (gegliedert nach Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund) quantitativ ausgewertet. Die systematische Zusammenfassung konzentriert sich auf die Häufigkeit von monokulturellen und von interkulturellen Begegnungen und Freundschaftsbeziehungen – u. a. mit dem Resultat, dass die Bevorzugung der Eigengruppe nicht als Indiz für die Gefahr einer Ablehnung von Fremdgruppen gesehen werden kann bzw. sollte. Die Autorinnen verweisen abschlie-

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Arnim Regenbogen

ßend auf Integrationsleistungen durch die Schule hin, in der durch gemeinsames Lernen zumindestens sozial motivierte Ängste und Vorurteile gegenüber dem als fremd Erlebten bewältigt werden können. Der Beitrag von Reinhold Mokrosch prüft Projekte und Initiativen zum »Interreligiösen Lernen« mit Bezug auf den Umgang mit Gewalt und auf die Bereitschaft zum friedlichen Zusammenleben. Der Autor erinnert zunächst sowohl an Beispiele für Gewalt gegen Andersgläubige wie auch an friedensstiftende Lehrinhalte in verschiedenen Religionen. Im Zentrum des systematischen Vergleichs dieser Traditionen stehen bisher gelehrte und praktizierte Konzepte für friedensfördernde Aktivitäten zusammen mit Angehörigen anderer Konfessionen und Religionen. Bereits bestehende Projekte und Szenen Interreligiösen Lernens werden in ihrer Bedeutung insbesondere für eine »konfessionsfreie« multikulturelle Gesellschaft ausgewertet. Im letzten Aufsatz dieses Kapitels von Marcel Remme wird gezeigt, wie in einem Unterricht mit konfliktreichen ethischen Themen Lernende durch rationale Diskurse über gemeinschaftsfähige Normen und Werte in ihrer eigenen rationalen Urteilsfähigkeit geschult werden können. Als Beispiel dient die Kontroverse über religiös motivierte Beschneidungspraxen. Im Zentrum steht die Auswertung einer Unterrichtseinheit mit einem rechtlich, interreligiös und ethisch umstrittenen Konfliktthema. Der Autor stellt das – von ihm entwickelte, selbst durchgeführte und ausführlich ausgewertete – Unterrichtsprojekt als Beispiel für interkulturelle Wertkonflikte vor. Hier kollidieren Werte wie z. B. religiöse Toleranz (auch gegenüber als fremd empfundenen Traditionen) mit grundrechtlich geschützten Ansprüchen auf Menschenwürde – auch von Kindern. In einer Sachanalyse zum Thema wird detailliert auf Rechtsurteile verwiesen, die Genitalverstümmelungen hierzulande verurteilen, auch wenn geistliche Autoritäten solche Praxen sogar als allgemeinverbindlich für ihre Religion vorschreiben. Der Text zitiert ausführlich schriftliche Stellungnahmen von Schülerinnen und Schülern und wertet sie als Belege dafür aus, dass ethisch motivierte Werte-Bildung aufgrund erworbener eigener Urteilsfähigkeit neue Chancen für die Akzeptanz eines multikulturellen Zusammenlebens eröffnet.

Britta Baumert

Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich

Trotz der Corona Pandemie bestimmt seit dem Ansturm afrikanischer Flüchtlinge auf Europa im Sommer 2015 die Flüchtlingsdebatte wie kaum ein anderes Thema die Politik. Flucht und Migration kann mittlerweile als eine Art Querschnittsthema bezeichnet werden, das fast das komplette Spektrum an politischen Themen beeinflusst. Neben Einwanderungsrecht, Asylrecht und Integrationspolitik bestimmt »Flucht und Migration« auch die Debatten und Kriminalitätsraten, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, Arbeitsmarkt, Wirtschaftslage, Gesundheitssystem und derzeit auch die Rolle von Flüchtlingen, osteuropäischen Leiharbeitern und immigrierten Großfamilien bei der Verbreitung des Corona-Virus. Während die eine Seite den Fokus auf systembedingte Strukturen (menschenunwürdige Unterbringung von Leiharbeitern in überteuerten Massenunterkünften), tatsächliche Zahlen (Kriminalitätsstatistik von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund) und multikausale Zusammenhänge (Migration und sozioökonomischer Status, sozioökonomischer Hintergrund und Bildungschancen) legt, die es zu analysieren und zu bearbeiten gilt, legt die andere Seite den Fokus auf die Frage nach Integrationsbereitschaft und -hindernissen. In diesem Kontext werden insbesondere kulturspezifische und religionsbedingte Werte angesprochen, die im Widerspruch zur deutschen Leitkultur und den christlichen Werten stünden. Die vorliegende Studie knüpft an diese Debatte an, konzentriert sich allerdings auf die Gruppe der Jugendlichen und untersucht, inwiefern sich die Werte von geflüchteten Jugendlichen tatsächlich von denen deutscher Jugendlicher unterscheiden.

1

Bezug zur Prästudie

Eine vorangegangene Fragebogenerhebung unter 136 Schüler*innen der Sek I und II aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen (Vechta, Düsseldorf, Altena), davon ein Drittel mit Migrationshintergrund, wies keine signifikanten Un-

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Britta Baumert

terschiede zwischen den Werten von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund auf. Allerdings unterschieden sich die genannten landestypischen Werte des Herkunftslandes von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund deutlich voneinander. Interessant war dabei zu beobachten, dass sich weder die Jugendlichen mit Migrationshintergrund (im Folgenden JmM) noch die Jugendlichen ohne Migrationshintergrund (im folgenden JoM) eindeutig mit den Werten des Herkunftslandes identifizierten, was auf eine Werte-Verschiebung zwischen den Generationen hindeutet.1 Während als typisch deutsche Werte die preußischen Tugenden Pünktlichkeit, Ehrlichkeit und Gründlichkeit (in Bezug auf Sauberkeit und Ordnung) genannt werden, werden als typische Werte der nicht-deutschen Herkunftsländer v. a. kollektive Werte wie Gemeinschaft, Zusammenhalt, Freundlichkeit, Familie und Religion genannt.2 Allerdings kann das Ergebnis der Fragebogenerhebung lediglich Aufschluss über die expliziten Werte der Jugendlichen geben, die in der Regel von den gelebten Werten abweichen.3 Es stellt sich demnach die Frage, ob die genannten Werte für die Jugendlichen bloße Worthülsen, theoretische und abstrakte Orientierungshilfen sind oder in ihrem Leben eine wirkliche auch handlungsleitende Bedeutung haben. Die Anlage des Fragebogens durch offene und halboffene Fragestellungen bringt zudem eine breite Streuung der genannten Werte mit sich, woraus sich die Notwendigkeit der Kategorienbildung ergab, die immer auch die Deutungsperspektive der Auswertenden beinhaltet. So stellt sich die Frage, ob die Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund tatsächlich die gleichen Werte haben, oder ob sich hinter den genannten Kategorien und Werten tatsächlich völlig unterschiedliche Vorstellungen von Werten verbergen. So bestünde beispielsweise die Möglichkeit, dass ein*e Jugendliche*r mit Migrationshintergrund unter Freundlichkeit etwas völlig anderes versteht als ein*e Jugendliche*r ohne Migrationshintergrund. In der vorliegenden Interviewstudie wurden daher Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund nach konkreten Werten aus der vorangegangenen Fragebogenerhebung befragt. Es soll der Frage nachgegangen werden, wie die Jugendlichen die zentralen Werte mit Bedeutung füllen, was sie konkret unter

1 Vgl. Unterschiede Shell Jugendstudie 2006, 2010, 2019, u. a. und Werteindex: vgl. Peter Wippermann, Jens Krüger (Hrsg.), Werte-Index 2020, Deutscher Fachverlag. 2 Baumert, Britta/Willen, Mareike: Deutsche Leitkultur und christliche Werte. Eine empirische Studie zu Werten von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich. In: Baumert, Britta/Willen Mareike: Interkulturelle Kompetenz in der Schule. Kohlhammer (Stuttgart) 2019. S. 59–70, hier S. 68. 3 Mokrosch, Reinhold, in: Wie sich Werte bilden. (Werte-Bildung interdisziplinär 1), Osnabrück 2013. S. 10.

Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich

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den genannten Werten wie »Freundschaft«, »Familie«, Hilfsbereitschaft und »Freundlichkeit« verstehen.4

2

Problemstellung und Ziel der Erhebung

Sowohl die Jugendlichen mit als auch ohne Migrationshintergrund nannten in der vorangegangenen Fragebogenerhebung schwerpunktmäßig Werte, die sich unter der Kategorie »soziale Werte« subsummieren lassen. Daraus ergibt sich die Fragestellung, was die Jugendlichen selbst unter dem Begriff »sozial« verstehen. Interessant ist hier zu prüfen, ob in den Interviews Aspekte genannt werden, die in der Fragebogenerhebung ebenfalls genannt wurden. Gleichzeitig soll geprüft werden, ob es signifikante Unterschiede des Verständnisses von »Sozial« zwischen JmM und JoM gibt. Besonderes Augenmerk gilt hier dem Aspekt der Kollektivität versus Individualität, da ein Ergebnis der Prästudie war, dass als typisch deutsche Werte eher individuelle Werte genannt wurden, als typische Werte anderer Herkunftsländer eher kollektive Werte. Als zentrale soziale Werte wurden in der Erhebung Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft genannt. Deshalb soll das Verständnis dieser ausgewählten Werte näher betrachtet werden. Ebenfalls zu den häufig genannten Werten zählen Freundschaft und Familie, was sich mit Ergebnissen aus anderen Wertestudien deckt.5 Auch das Verständnis dieser Werte soll erhoben werden. Das Thema Religion wurde in dem Interview bewusst nur indirekt angesprochen, um eine Vergleichbarkeit zwischen den Interviewten herzustellen. So gilt das Thema Religion in der westlichen Welt, insbesondere in Deutschland als höchst sensibles Thema, das in den Bereich des Privaten gerückt wird. Auch ist in den letzten Jahren die Zahl an Konfessionslosen deutlich gestiegen, was ein explizites Bekenntnis zu einer Religion in der Regel ausschließt, jedoch keinen notwendigen Aufschluss über die individuelle Religiosität oder Spiritualität gibt. Für viele Migrant*innen hingegen zählt Religion zu einem zentralen Identitätsträger, der insbesondere eine Verbindung mit dem Heimatland herstellt und je nach Identifikationsgrad mit der Heimat die Religionszugehörigkeit nach außen trägt.6 Daher wird hier über das Lieblingsfest eine Gesprächssituation geschaffen, die über religiöse Feste den Religionsaspekt beleuchten kann, andererseits aber auch über die Erhebung der Personen, mit denen gefeiert wird, die Konnotation der Werte »Familie« und »Freundschaft« präzisieren kann. 4 Baumert/Willen, op. cit. 5 Albert, Mathias/Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun/Schneekloth, Ulrich: Jugend 2010: die 16. Shell Jugendstudie. 2011. 6 Baumert, Britta/Espelage, Christian/Schwarz, Stephanie: Interreligiöses Lernen am »Friedhof« – eine Frage der Identität? In: Katechetische Blätter 1/2020. S. 72–78.

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Britta Baumert

Ziel der Interviewstudie ist demgemäß zunächst die Erhebung der Konnotation der aufgeführten Werte. Sind diese Werte bloße Worthülsen, theoretische und abstrakte Orientierungshilfen oder haben sie im Leben der Jugendlichen wirkliche Bedeutung? Ihren Ausgangspunkt nimmt die Erhebung in den Leerstellen und Desideraten der vorangegangenen Fragebogenerhebung. Konkret geht es einerseits um die Engführung der Bandbreite an Werten auf spezifische Werte und ihre Interpretation durch die Jugendlichen. Gleichzeitig soll die Diskrepanz zwischen expliziten und gelebten Werten überwunden werden, was im Interview durch Fallbeispiele und Fragen nach konkreten Situationen erreicht werden soll. Mit Blick auf die Wertebildung soll gleichzeitig geprüft werden, ob das Werteverständnis der Jugendlichen bzw. die Deutung der Werte der gegenwärtigen religionspädagogisch-theologischen Werteinterpretation entspricht.

3

Studiendesign

Es wurden 21 Jugendliche im Alter zwischen 13 und 17 Jahren interviewt. Davon waren 10 Jugendliche mit Fluchthintergrund (im Folgenden JmF), 11 Jugendliche ohne Flucht- und Migrationshintergrund. Von den Jugendlichen mit Fluchthintergrund waren 5 männlich und 5 weiblich; von den Jugendlichen ohne Flucht- oder Migrationshintergrund (im folgenden JoM) waren 5 männlich und 6 weiblich. Das Alter der Jugendlichen wurde bewusst auf das Teenageralter begrenzt, da in dieser Phase die Autonomie der Jugendlichen zunimmt, eine Abgrenzung vom Elternhaus erfolgt und eine intensive Auseinandersetzung mit den Peers beginnt, was erheblichen Einfluss auf die individuelle Wertebildung hat.7 Die Auswahl der Befragten sollte hinsichtlich Gender und Herkunft ausgeglichen sein. Zur besseren Aussagekraft der relativ geringen Stichprobe von 10 Personen in der Gruppe der JmF und der klareren Abgrenzung von der Gruppe der JoM wurde das Merkmal Migration enggeführt auf Jugendliche, die innerhalb der letzten 6 Jahre vor dem Erhebungszeitraum aus ihrer Heimat geflüchtet sind. In der Gruppe der JoM wurden entsprechend nur Jugendliche interviewt, die mindestens in der dritten Generation in Deutschland geboren sind. Die Interviews wurden zwischen April und Juli 2018 mit Hilfe eines Interviewleitfadens als teilstrukturiertes Interview durchgeführt, auditiv aufgezeichnet und anschließend transkribiert.

7 Kürzinger, Kathrin S.: »Das Wissen bringt einem nichts, wenn man keine Werte hat«. Wertebildung und Werteentwicklung aus Sicht von Jugendlichen. (Werte-Bildung interdisziplinär – Band 3), Osnabrück 2014. S. 76.

Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich

3.1

187

Erhebungsmethode

Der Interviewleitfaden der teilstrukturierten Interviews umfasst neben den geschlossenen Fragen zum soziodemografischen Hintergrund der Jugendlichen sechs Frageblöcke mit einer Haupt- und zwei bis sieben Ad-hoc-Fragen, von den eine in weitere zwei Ad-hoc-Fragen untergliedert ist. Die Frageblöcke sind nach den vier Werten Freundschaft, Familie, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sowie der zu erhebenden Kategorie »sozial« und dem Themenfeld »Lieblingsfest oder Feiertag« strukturiert. Auszug aus dem Interviewleitfaden: Fragenblock Freundschaft Was bedeutet für dich Freundschaft? a) Wenn du an deine Freundschaften denkst, hast du eher einzelne Freunde oder einen/mehrere Freundeskreis(e)? (Worin unterscheiden sich eure Freundeskreise von einzelnen Freunden?) b) Woher kennt ihr euch? (Anhand einzelner Freunde/Freundeskreise abfragen) c) Worin besteht eure Freundschaft? Was macht ihr zusammen? d) Wie kommunizierst du mit deinem Freund/deinen Freunden? e) Was ist euch in der Freundschaft besonders wichtig? f) Gibt es einen oder mehrere »besondere« Freunde? Suche dir einen besonderen Freund aus. Was macht diese Freundschaft besonders? g) Was macht für dich einen Freund aus? – Erzähle von einer Situation, in der dir jemand ein Freund war. – Erzähle von einer Situation, in der du jemanden ein Freund warst. Um sich den gelebten Werten der Jugendlichen anzunähern, werden gezielt Fragen nach konkreten Situationen aus ihrem Alltag gestellt. Dadurch wird zum einen die rein theoretische Auseinandersetzung mit abstrakten Wertekategorien zu vermeiden versucht. Zum anderen soll diese Fragetechnik dabei helfen, individuelle Perspektiven und Konstruktionen des jeweiligen Wertebegriffs sichtbar zu machen und nicht in gängigen Definitionen zu verharren.8 Alle Interviews beginnen mit der Erhebung der soziodemografischen Daten der Jugendlichen. Der weitere Verlauf wird von den jeweiligen Interviewerinnen frei gestaltet. Der Interviewleitfragen dient dabei der Orientierung. Die Reihenfolge der Frageblocks sowie die Auswahl und Reihenfolge der zugehörigen Adhoc-Fragen erfolgte spontan je nach Gesprächsverlauf.

8 Baumert/Willen, op. cit. S. 69.

188 3.2

Britta Baumert

Auswertungsmethode

Die Auswertung erfolgt als Mixed Methods. Die transkribierten Interviews wurden inhaltsanalytisch mittels der qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring ausgewertet. Die Kategoriegewinnung der Oberkategorien erfolgte deduktiv auf Basis der vorangegangenen Fragebogenerhebung. Diese Oberkategorien bilden gleichzeitig die Kategorien der fünf Frageblöcke: Freundschaft, Familie, sozial, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Die Bildung der Sub-, Subsub- und Subsubsubkategorien erfolgt induktiv über eine zusammenfassende strukturierte Inhaltsanalyse, wobei klassisch durch Ankerbeispiele die Definition der Subkategorien hergeleitet und über diese die Zuordnung weiterer Aussagen zu den Subkategorien erfolgt.9 Diese Kategorisierung bildet die Ausgangslage für eine anschließende quantitative Datenauswertung. So wird die Häufigkeit der einzelnen Kategorien prozentual betrachtet. Der sechste Frageblock zum Thema Lieblingsfest bildet dabei eine Sonderform. Er wurde über die Kategorie Religion mittels einer hermeneutischen Inhaltsanalyse separat erschlossen.10 Parallel erfolgte eine Explikation der Begriffe der deduktiv gebildeten Oberkategorien, die über religionspädagogische Nachschlagewerke (WiReLex, Lexikon der Religionspädagogik) u. a. Lexika erschlossen wurden.11

4

Themenzentrierte Darstellung und Auswertung der Ergebnisse

4.1

Verständnis des Begriffes »sozial«

Der Begriff sozial leitet sich vom lateinischen »socialis«: gesellig, einem anderen verbunden, ab. Sozial meint somit im ursprünglichen Sinn »auf das Wohl der Allgemeinheit bezogen«. Dieses Verständnis beinhaltet zudem das Angewiesensein des Menschen auf Andere.12 Auf Ebene des Individuums geht es um konkrete soziale Handlungen. Sie ergeben sich aus den wechselseitigen Erwartungen von Personen und sind am Verhalten anderer Menschen orientiert.13 Auch das WiReLex unterscheidet zwischen der gesamtgesellschaftlichen Per-

9 Mayring, Philipp: Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken. Weinheim und Basel 52002. S. 48ff. 10 Ebd. S. 38ff. 11 Ebd. S. 90ff. 12 Rotzetter: Lexikon christlicher Spiritualität, S. 563f. 13 Schröer, Christian: Soziales Handeln. In: LThK, Bd. 9, Freiburg im Breisgau ³2017, S. 766.

Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich

189

spektive und dem individuellen sozialen Handeln des Einzelnen und bringt es u. a. in Bezug zur christlichen Nächstenliebe.14 Bei der Deutung des Begriffs sozial fällt auf, dass sich die meisten Nennungen auf das individuelle Verhalten des Einzelnen beziehen. Lediglich zwei Kategorien »Unterstützung von einer sozialen Organisation« und »Unterstützung vom Staat« beziehen sich auf ein strukturelles, systemtheoretisches bzw. gesamtgesellschaftliches Verständnis von »sozial«. Beide Kategorien bestehen aus Einzelnennungen, sodass sich hier keine Schlüsse auf die zu betrachtende Gruppe ziehen lassen. Zwar stammen beide Nennungen aus der Gruppe der JmF, dennoch lässt sich das nicht als Bestätigung unserer These interpretieren, dass Jugendliche mit Fluchthintergrund ein eher kollektives Werteverständnis haben. Die Mehrzahl der Kategorien, die das Handeln des Einzelnen betreffen, lassen sich dem Bereich der positiven sozialen und persönlichen Interaktion zuordnen (Nettigkeit/Höflichkeit, sich für jemanden einsetzen, jemandem helfen, etwas schenken, Kompliment machen). Eine globalere Perspektive im Sinne einer Handlungsmaxime bilden die Kategorien humanes Denken, Integration, Ehrenamt, Akzeptanz, Goldene Regel, Respekt. Während die Aspekte der persönlichen Interaktion von beiden Gruppen gleich häufig genannt werden, wird die normative Perspektive eher von JoM eingenommen. Deutlich wird dies v. a. an den Top-Antworten: »jemandem helfen« wurde mit 64 % und 70 % von beiden Gruppen etwa gleich häufig genannt, »respektvoll sein« jedoch mit 55 % gegenüber 10 % eher von den JoM. Betrachtet man die Bandbreite der genannten Interpretationen des Begriffs sozial, lässt sich feststellen, dass sich das Verständnis der Jugendlichen grundsätzlich mit der allgemeinen Definition des Begriffs deckt. Festzuhalten ist hier jedoch, dass sich die Jugendlichen eher auf den Bereich der direkten zwischenmenschlichen Interaktion beschränken und weniger die gesamtgesellschaftliche Perspektive im Blick haben.

4.2

Hilfsbereitschaft

Der Begriff Hilfsbereitschaft wird weder im Lexikon der Religionspädagogik noch in WiReLex definiert. In der Enzyklopädie der Wertevorstellungen wird Hilfsbereitschaft als die willentliche Bereitschaft, Hilfe zu leisten, ohne dafür eine

14 Straßner, Veit: Soziale Frage (19. Jahrhundert). 2018. In: WiReLex. Das WissenschaftlichReligionspädagogische Lexikon. https://www.bibelwissenschaft.de/wirelex/wirelex/ Stand 18. 08. 2020.

190

Britta Baumert

Gegenleistung zu erwarten oder explizit darum gebeten zu haben, definiert. Als Synonym wird unter anderem Nächstenliebe genannt.15 Hanna Rose beginnt ihren WiReLex-Artikel zur Nächstenliebe mit dem empirischen Befund, dass Nächstenliebe unter Jugendlichen als realitätsfern gilt.16 Nächstenliebe wird von den Jugendlichen mit der radikalen Gewaltlosigkeit Jesu in Verbindung gebracht. Zentral ist tatsächlich das Moment des Helfens allerdings in einer normativ moralisierenden Weise, die von den Jugendlichen als weltfremd interpretiert wird.17 Bezogen auf den Ursprung des Gebots der Nächstenliebe in Lev 19,18 betont Rose den textimmanenten Kontext der Sozialgesetzgebung. So ginge es bei der Nächstenliebe darum, ein soziales Umfeld zu schaffen, das der umfassenden Bedürftigkeit der Menschen gerecht werde. Im Kontext des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter kann Nächstenliebe sogar als eine Art »Nothilfe« verstanden werden.18 Auch die Bezugnahme auf Caritas und Diakonie sowie auf den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung stützen den Zusammenhang von Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft. Im Gegensatz zur Nächstenliebe wird Hilfsbereitschaft von Jugendlichen als zentral erachtet. So wurde von allen Jugendlichen Hilfsbereitschaft als zentrales Merkmal sozialen Handelns definiert. Doch was verstehen die Jugendlichen konkret unter helfen und Hilfsbereitschaft? Betrachtet man die einzelnen Kategorien, lassen sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Werten der Jugendlichen mit und ohne Fluchthintergrund feststellen. Wird jedoch die Gesamtverteilung der Antworten in den Blick genommen, lässt sich eine Tendenz dahingehend erkennen, dass JmF eher auf konkrete Hilfe durch Taten (konkretes Handeln und materielle Hilfe) beziehen, während immerhin die Hälfte der JoM auch die seelische Unterstützung als Hilfe definiert gegenüber nur 20 % der JmF. Die zentrale Bedeutung von Hilfsbereitschaft als gesellschaftliche Pflicht betonen gleich viele JmF und JoM. Mit diesen Nennungen haben die Jugendlichen sowohl die gesamtgesellschaftliche und sozialgesetzliche Ebene angesprochen (materielle Hilfe, gesellschaftliche Pflicht), die v. a. im AT und in der Idee von Caritas und Diakonie eine Rolle spielt, als auch die interpersonale direkte Hilfe (konkretes Handeln, seelische Unterstützung), die in der Enzyklopädie der Wertvorstellungen und dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter im Fokus steht.

15 16 17 18

https://www.wertesysteme.de/hilfsbereitschaft/, Stand 18. 08. 2020. Rose, Hanna: Nächstenliebe. In: WiReLex. 2017. S.1. Ebd. S. 2. Ebd. S. 5.

Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich

4.3

191

Freundlichkeit

Ebenfalls unter »Sozial« wurden Antworten gegeben, die sich in der Kategorie »Nettigkeit und Höflichkeit« subsumieren ließen. Diese Kategorie weist große Nähe zum Wert »Freundlichkeit« auf. So führt auch die Enzyklopädie der Wertvorstellungen »Nettigkeit« und »Höflichkeit« als ähnliche Begriffe unter »Freundlichkeit« auf.19 Allerdings werde Freundlichkeit häufig fälschlicherweise mit Höflichkeit verwechselt. Freundlichkeit kann sich sowohl auf eine Person beziehen, die von Ihrer Art, Sprache, ihrem Verhalten liebenswürdig erscheint, aber auch auf eine konkrete Handlung oder einen Sprechakt. »Freundlichkeit zeichnet sich grundlegend dadurch aus, dass man im Kern seiner Geisteshaltung zu einer anderen Person so kommuniziert, als ob diese Person potenziell ein Freund ist.«20 Freundlichkeit als Instrument oder Strategie wird als vorgetäuschte, falsche oder oberflächliche Freundlichkeit bezeichnet. In beiden Gruppen ist die Topantwort Höflichkeit, gefolgt von »anderen helfen«. Während die JmF als dritthäufigste Antworten mit jeweils 50 % »gegenseitigen Respekt« und »eine Freude machen« als zentrale Merkmale von Freundlichkeit nannten, streuen sich die Antworten der JoM breiter. Auffällig sind hier die Aspekte »Unvoreingenommenheit« und »Integration von anderen Menschen«, die von niemandem aus der Gruppe JmF genannt wurden. Diese beiden Antworten stechen zudem dadurch hervor, dass sie sich auf Alteritätserfahrungen beziehen. Während sich alle anderen Kategorien genauso gut auf die zwischenmenschliche Interaktion mit Peers beziehen können, beziehen sich diese beiden Kategorien explizit auf Interaktionen in heterogenen Kontexten. Bezogen auf die oben angeführte Definition von Freundlichkeit fällt auf, dass einerseits beide Gruppen Höflichkeit und Freundlichkeit gleichsetzen, andererseits jedoch Freundlichkeit nicht als Strategie oder im Sinne einer »falschen«, »gespielten« oder »aufgesetzten« Freundlichkeit verstehen. So werden viele Verhaltensweisen beschrieben, die ein Verhalten »wie einem Freund gegenüber« beschreiben.

4.4

Familie

Zum Begriff Familie stellt WiReLex gleich zwei Artikel bereit, einer katholisch, einer evangelisch profiliert. In beiden Artikeln wird ausgehend von einer soziologischen bzw. empirischen Perspektive Familie als soziales System des Kin19 Das WiReLex und das Lexikon der Religionspädagogik definieren den Wert Freundlichkeit nicht. 20 https://www.wertesysteme.de/freundlichkeit/, Stand 18. 08. 2020.

192

Britta Baumert

des gedacht. Martina Blasberg-Kuhnke differenziert dabei zwischen biologischer und sozialer Elternschaft und nennt neben der klassischen auf der Ehe gegründeten Eltern-Kind-Familie, Ein-Eltern-Familien, nicht-eheliche Lebensgemeinschaften mit Kind(ern), Patchworkfamilien, Pflegefamilien, homosexuelle Paare als biologische oder soziale Eltern, Mehrgenerationenfamilien, Wohngemeinschaften mit nichtverwandten Freunden, in denen Kinder leben.21 Domsgen weist auf die größere Vielfalt an Lebensformen ohne Kinder als mit Kindern hin. So sei die Ehe bei den Menschen mit Kindern noch die verbreitetste Lebensform. Als weitere Formen nennt er nicht-eheliche Lebensgemeinschaften, Alleinerziehende, Patchworkfamilien, Stieffamilien, Commuter-Ehen (Dual Career) und transkulturelle Familien.22 Doch welches Verständnis von Familie haben die Jugendlichen? Zur Familie zählen JoM und JmF gleichermaßen Eltern (100 %), Geschwister (90/80 %), Freunde (36/40 %) und Großeltern (27/20 %). Während fast die Hälfte der JoM weitere Verwandte zur Familie zählen, tun dies lediglich 10 % JmF. Weitere Einzelnennungen bilden Haustiere und Bekannte. Bei der Nennung des wichtigsten Familienmitglieds gibt es deutliche Unterschiede bei der Kategorie »Eltern«. So stehen für 36 % der JoM beide Eltern an erster Stelle, jedoch für nur 20 % der JmF. Für beide Gruppen steht erstaunlicherweise die Schwester an der Spitze. So nennen 36 % der JoM und 30 % der JmF die Schwester als wichtigstes Familienmitglied. Einigkeit besteht auch in der Wichtigkeit der Mutter (beide ca. 20 %). Die übrigen Personen werden lediglich von Einzelpersonen genannt. Deutliche Unterschiede zeigen sich bei der Nennung von Familienformen. Während die JmF ausschließlich die Kernfamilie und die Mehrgenerationenfamilie als Familie bezeichnen, nennen die JoM Alleinerziehende, Patchworkfamilie, Pflegefamilie, Regenbogenfamilie und die Adoption. Diese Formen decken sich mit den genannten Formen der Religionspädagog*innen auf WiReLex. Die inhaltliche Bedeutung von Familie als zentraler Wert wird von den Jugendlichen wiederum sehr ähnlich beschrieben (vgl. Abb.). So zeichnet sich die Familie vor allem durch den täglichen Kontakt und die gemeinsam verbrachte Zeit bzw. gemeinsame Aktivitäten aus. Signifikante Unterschiede zeigen sich v. a. in der Priorität. Während 50 % der JmF Familie als das wichtigste im Leben bezeichnen, tun dies nur 9 % der JoM. Die emotionale Verbundenheit als Kernmerkmal von Familie nennen ebenfalls 50 % der JmF und sogar 82 % der JoM. Interessant ist, dass auch im Kontext des Wertes »Familie« wieder das Thema »helfen« und »Hilfsbereitschaft« von einem Drittel aller Befragten the-

21 Blasberg-Kuhnke, Martina: Familie. In: WiReLex. 2015. 22 Domsgen, Michael: Ehe und Familie. In: WiReLex 2016.

Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich

193

matisiert wird. Dieser Wert scheint sich demnach auf einen Großteil der Lebensbereiche auszuwirken und somit von zentraler Bedeutung zu sein.

4.5

Freundschaft

Freundschaft zählt in den einschlägigen Werte-Studien zu den am häufigsten genannten Werten.23 Das Lexikon christlicher Spiritualität definiert Freundschaft als »innig-zärtliche Beziehung zwischen zwei od. mehreren Personen, eine treue u. bleibend zugewandte Liebe […]24«. Die Werte-Enzyklopädie bezeichnet »Freundschaft« als »ein auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander, das sich durch Sympathie und Vertrauen auszeichnet.«25 Dabei könne dieses Verhältnis sowohl zwischen einzelnen Personen als auch zwischen Gemeinschaften bestehen.26 Auch im Verständnis der Jugendlichen zeichnet sich Freundschaft durch Sympathie und Vertrauen aus. Auch die Treue und Beständigkeit werden genannt. Ähnlich wie beim Wert Familie zeichnen sich auch beim Wert Freundschaft die zentralen Kategorien durch große Übereinstimmung zwischen den JoM und den JmF aus. Gemeinsame Aktivitäten und Kommunikation bilden die Top-Antworten. Interessant ist dabei, dass die mediale Kommunikation die persönliche Kommunikation leicht überholt. Als zentraler Wert, der die Freundschaft trägt, wird von beiden Gruppen Vertrauen genannt. Auch der Wert Hilfsbereitschaft spielt wieder eine Rolle. Hier zeichnen sich jedoch durchaus Unterschiede ab. So nennen 80 % der JmF helfen und Hilfsbereitschaft als zentrales Merkmal einer Freundschaft, hingegen nur 36 % der JoM. Ehrlichkeit wird hingegen von JoM als gleich wichtig genannt (36 %) von den JmF nur von 10 %. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass für ca. 30 % der JoM gleiche Interessen eine Rolle spielen, von JmF wird dieser Aspekt gar nicht genannt. Ähnlich wie beim Wert Familie, stellen auch hier 50 % der JmF Freundschaft als existenziell heraus, hingegen nur knapp 9 % der JoM. Vergleicht man die Werte Familie und Freundschaft miteinander, scheint die Bedeutung beider sozialen Systeme sowohl auf emotionaler Ebene als auch auf Ebene der sozialen Interaktion sehr ähnlich zu sein. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass es im Kontext von Familie v. a. um den Umgang und das tägliche Miteinander der Familienmitglieder geht, während Freundschaften eine

23 24 25 26

Shell Jugendstudie 2006, 2010, 2019, u. a. Freundschaft. In: Rotzetter, Anton: Lexikon christlicher Spiritualität. WBG 2008, S. 176. https://www.wertesysteme.de/freundschaft/, Stand: 18. 08. 2020. Ebd.

194

Britta Baumert

stärkere ethische Dimension aufweisen. Dies zeichnet sich v. a. durch die Nennung der Werte »Vertrauen«, »Ehrlichkeit«, »Hilfe« und »teilen« ab. Schaut man sich an, wie Freundschaften entstehen, fällt auf, dass Freundschaften von JoM fast ausschließlich durch Institutionen wie Schule oder KiTa kennenlernen, während JmF fast ebenso viele Freundschaften durch andere Freunde oder die gemeinsame Wohngegend schließen.

4.6

Religion

Große Unterschiede lassen sich bei dem Wert »Religion« erkennen. Die Auswertung zeigt, dass die indirekte Frage über das Lieblingsfest gut geeignet ist, um den Stellenwert von Religion zu erfragen. So nennen sowohl 90 % der JmF als auch der JoM ein religiöses Fest als Lieblingsfest. Allerdings feiern 70 % der JmF ihr religiöses Lieblingsfest mit religiösem Bezug und kennen die Bedeutung des Festes, während der religiöse Bezug des Weihnachtsfestes nur für 27 % der JoM relevant ist. 45 % der Jugendlichen kennt nicht einmal die religiöse Bedeutung des Lieblingsfestes, von den JmF nur 20 %. Während von den JmF nur einer ein nicht religiöses Fest nennt, nämlich das kurdische Fest Nourouz,27 wobei er eindeutig der nationalistischen Deutung des Festes folgt, nennen 54 % der JoM ihren Geburtstag als Lieblingsfest ohne religiösen Bezug. Allerdings nennt auch hier lediglich ein JoM ausschließlich das nicht religiöse Fest. Alle anderen erwähnen auch das Weihnachtsfest. Neben der religiösen Bedeutung der Feste spielen in beiden Gruppen vor allem der Gemeinschaftsaspekt, gutes Essen, Geschenke, Spaß und Freude eine wichtige Rolle, unabhängig vom konkreten Fest. Im Fokus stehen jedoch bei allen Nennungen Familie und Freunde, was unsere These bestätigt, dass diese Werte zu den zentralen Werten der Jugendlichen zählen. Während also die religiösen, kulturellen und traditionellen Deutungen der genannten Feste sich deutlich voneinander unterscheiden, scheinen der Wert und die Deutung, die die Jugendlichen dem Lieblingsfest beimessen, durchaus vergleichbar zu sein. Ganz deutlich zeigt sich das in einem Beispiel einer JmF, die als Lieblingsfeste das Zuckerfest und Weihnachten nennt. An beiden Festen schätzt sie das Zusammensein mit der Familie und die Süßigkeiten. Von beiden Festen kennt sie die Bedeutung nicht und weiß auch nicht, warum sie in der Familie begangen werden.

27 Er deutet es als Unabhängigkeitsfeiertag und Befreiung der Kurden aus der Unterdrückung, nicht als persisches Neujahrsfest. Diesen Ursprung kennt er nicht.

Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich

7

195

Fazit

Das Verständnis der Werte der Jugendlichen bewegt sich weitestgehend im Spektrum der gängigen Begriffsdefinitionen. Häufig gibt es ebenfalls Bezüge zum religionspädagogischen Verständnis der Werte bzw. der Themenfelder. Beim Wert Freundschaft ist jedoch auffällig, dass die mediale Kommunikation gegenüber der persönlichen Kommunikation an Bedeutung gewinnt. Dabei geht es nicht um reine Online-Freundschaften oder Social-Media-Kontakte. So lernen die Jugendlichen ihre Freunde hauptsächlich in Institutionen oder der Wohngegend kennen, die digitale Kommunikation bezeichnen sie jedoch als zentralen Aspekt ihrer Freundschaft. Dieser Aspekt sollte meines Erachtens in der Forschung noch stärkere Beachtung finden. So sollte der Frage nachgegangen werden, welcher inhaltlichen Rolle die digitale Kommunikation in Freundschaften zukommt. Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich das Werteverständnis der Jugendlichen mit und ohne Fluchthintergrund kaum voneinander unterscheidet. So ähneln sich insbesondere die häufigsten Kategorien i. d. R. sehr stark. Interessant ist dabei der zentrale Wert der Hilfsbereitschaft. So wird das Thema »helfen« und »hilfsbereit sein« in allen Interviews mehrfach thematisiert. Bei fast allen Werten, spielen »Hilfe« und »Hilfsbereitschaft« eine zentrale Rolle. Bemerkenswert ist diese Erkenntnis insofern, dass der Wert »Nächstenliebe« trotz seiner inhaltlichen Nähe zur Hilfsbereitschaft in verschiedenen Studien von den Jugendlichen weniger positiv konnotiert wurde. Hier lässt sich mit Blick auf die religiöse Bildung und Wertebildung ein Desiderat hinsichtlich der Begriffsreflexion zur »Nächstenliebe« feststellen. Signifikante Unterschiede lassen sich im Themenfeld »Religion« feststellen. 70 % der Jugendlichen mit Fluchthintergrund nennen als Lieblingsfest ein religiöses Fest, kennen seine Bedeutung und haben selbst einen religiösen Bezug zu diesem Fest. Das gilt nur für 27 % der deutschen Jugendlichen ohne Fluchterfahrung. Allerdings ist in diesem Kontext zu beachten, dass die persönliche Bedeutung der Feste für die Jugendlichen beider Gruppen wieder sehr ähnlich ist. So nennen beide v. a. die Gemeinschaftserfahrung mit Familie und Freunden, das gemeinsame besondere Essen, Geschenke, Spaß und Freude. In diesem Kontext lassen sich Hinweise darauf finden, dass die JmF in ihrem Werteverständnis eher traditionsverankert sind als die JoM. So lässt die Ausgestaltung der religiösen Feiertage auf die Bedeutung der religiösen Praxis bei den JmF schließen. Auch das beschriebene Familienbild der JmF, die keine alternativen Formen von Familien nennen, deutet auf die Traditionsverbundenheit hin. Betrachtet man die Ergebnisse der Studie im Detail, lassen sich weitere kleinere Unterschiede benennen. So fällt auf, dass die JmF die besondere Bedeutung

196

Britta Baumert

von Freundschaft und Familie noch einmal hervorheben. Sie betonen in den Interviews, wie wichtig ihnen diese Personengruppen sind. Bei den Kategorien »sozial«, »Hilfsbereitschaft«, und »Freundlichkeit« lässt sich jeweils eine interpersonale, häufig auf den Umgang mit Freunden oder nahestehenden Personen bezogene, und eine globalere, alteritätsbewusste teilweise normative Ebene betrachten. Mit Blick auf die Kategorien »sozial« und »Freundlichkeit« scheint es zunächst, als nähmen die JmF eher die direkte zwischenmenschliche Beziehung in den Blick, während die JoM auch die normative, globalere und alteritätsbewusste Perspektive einnähmen. Die Antworten in Bezug auf den Wert »Hilfsbereitschaft« zeigen jedoch, dass sowohl die JoM als auch die JmF gleichermaßen die zentrale Bedeutung von Hilfsbereitschaft als gesellschaftliche Pflicht benennen und somit die gesamtgesellschaftliche und sozialgesetzliche Ebene in den Blick nehmen. Mit Blick auf die zu Eingang erwähnte Debatte um kulturspezifische und religiöse Werte und ihre mögliche Auswirkung auf die Integrationsbereitschaft von Flüchtlingen lässt sich sagen, dass die Werte der Jugendlichen kaum signifikante Unterschiede aufweisen. Selbst die Unterschiede bezüglich der religiösen Praxis lassen sich auf gemeinsame Werte bezüglich der Ausgestaltung von Festen und Feiertagen zurückführen. Offen bleibt jedoch, ob die besondere Verbundenheit der JmF zu ihren Freunden und ihrer Familie Auswirkungen auf andere Werte hat. Hier wäre beispielsweise interessant zu erheben, welche eigenen Überzeugungen und Wertvorstellungen die Jugendlichen mit und ohne Fluchthintergrund bereit wären zu ignorieren, um einem Familienmitglied oder einem Freund zu helfen. Ebenfalls unklar ist, ob die angenommene stärkere traditionelle Verankerung der JmF Einfluss auf liberale Werte der westlichen Welt wie Emanzipation, Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Beziehungen, Religionsfreiheit u. ä. hat. Hierzu müsste eine eigene Interviewstudie mit ähnlicher Anlage geführt werden. Anzumerken ist jedoch, dass weder in der Fragebogenerhebung noch in der Interviewstudie die Jugendlichen diese liberalen Werte angesprochen haben. Es scheint als seien sie in ihrer Bedeutung für die Jugendlichen nicht besonders zentral. So wurde in den Abschnitten zum Thema Familie die Gleichberechtigung von Mann und Frau oder die Rolle von Vater und Mutter nicht thematisiert. Lediglich die Ausklammerung von gleichgeschlechtlichen Eltern u. a. Familienkonstellationen durch die JmF kann darauf hindeuten, dass es hier Unterschiede in den Wertvorstellungen gibt. Sehr deutlich ist in den Interviews jedoch geworden, dass alle Jugendlichen mit Fluchthintergrund aufgrund ihres Status als Geflüchtete mit Vorurteilen, Ablehnung und Mobbing zu kämpfen haben:

Wertebildung von Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich

197

»Eh, meine Klasse, sie sind nicht so freundlich für mich. […] Vielleicht weil ich Flüchtlingsmädchen bin? Vielleicht. Glaube ich, weil sie mögen keine Flüchtlinge und so. Und einmal haben wir auch was gemacht […] ja dann haben die alle zu nein gegangen, dass die Flüchtlinge nicht mögen und dann ja, also wollte ich weinen also. Ich will gerne, dass sie freundlich für mich sein.« »Man muss nicht nur so, weil die Lehrer, die müssen auch verstehen, dass man äh auch (.) Auslän- als Ausländer hier ist und die Sprache noch nicht kennt und so und Probleme damit hat und so. Die sollen das auch irgendwie verstehen, aber die haben so, so Sachen gesagt. Die ha- die haben irgendwie nicht gemerkt. Die haben vielleicht bis heute nicht gemerkt, dass die Sachen, die sie gesagt haben, gar nicht gut waren.« »Ähm ja auf dem Gymnasium, als ich noch nicht so gut Deutsch konnte, da hab ich eine Dame gefragt ähm, wie ich also zu meinem Freund komme, weil ich wusste ja nicht, also habe ich gefragt, ist ja auch normal, wenn man fragt, glaube ich und ähm die meinte, also sie hat also sich zu mir erstmal also umgedreht und dann ich habe gesagt ›Entschuldigung‹, ja also halt ich dachte dass sie mich nicht gehört hat und dann sie meinte ›verpiss dich, verpiss dich‹.« »Es gab ein Mädchen, das war eine Parallelklasse und das war in der Sportunterricht so bei uns. Ihre Klasse hatte eine Klassenfahrt und sie möchte nicht dabei kommen. Und, da musste ich, ähm, da wollte ich einmal bei ihr hinsetzen, sie war alleine und so. Und, sie sagte ›Ich will nicht neben dir sitzen, weil du nicht Deutsche bist‹ und so keine Ahnung. Und, äh, ich möchte, dass sie eigentlich mehr freundlich war, weil ich wollte nur sie dabei helfen, bei ihr bleiben.«

Diese Erfahrungen zeigen deutlich, dass Vorurteile gegenüber Geflüchteten und ablehnendes Verhalten ihnen gegenüber weit verbreitet sind und v. a. Situationen betreffen, in denen mögliche kulturelle Unterschiede oder Wertvorstellungen gar keine Rolle spielen. Angesichts der hier im Artikel präsentierten Ergebnisse und Beobachtungen stellt sich also die Frage, ob die Werte-Diskussion im Kontext der Flüchtlingsdebatte nur eine vorgeschobene Debatte ist, in der es eigentlich um unsere Vorurteile gegenüber dem Fremden geht.

Margit Stein / Veronika Zimmer

Interethnische Freundschaften und deren Einfluss auf die Einstellungen zur Zuwanderung – Ergebnisse einer quantitativen Untersuchung

1.

Einleitung: Populistische Tendenzen im Umgang mit Zuwanderung

Das Themenfeld Migration und Integration hat insbesondere durch die gestiegene Zuwanderung Geflüchteter nach Deutschland in den letzten Jahren eine sehr hohe gesellschaftliche Aktualität und wissenschaftliche Relevanz gewonnen. Einhergehend mit der Frage, wie mit der Migration generell umzugehen ist, finden sich in Politik und Gesellschaft auch populistisch formulierte Meinungen und Tendenzen, die sich zum einen gegen die Migration an sich richten, aber auch gegen die Menschen, die nach Deutschland kommen. Insbesondere seit dem Anstieg der Fluchtmigration ab 2015 verstärkten sich (rechts)populistische Positionen, die sich auch in neuen rechtsorientierten Strömungen wie der ›Identitären Bewegung‹ (Steenkamp 2019) oder Parteien wie der ›Alternative für Deutschland AfD‹ (Verkamp & Merkel 2018) niederschlagen. Das Phänomen des Populismus ist dabei schwierig zu fassen bzw. zu definieren, da es oftmals mehr als Kampfbegriff im Umgang mit dem politischen Gegner denn als wissenschaftliche Analysekategorie gebraucht wird. Allgemein beschreibt eine populistische Haltung eine Tendenz, u. a. schwierige politische Sachverhalte zu vereinfachen, schwarz-weiß zu zeichnen und emotional und moralisch aufgeladen zu präsentieren, oftmals unter Rekurs auf den sogenannten ›gesunden Menschenverstand‹. Dieser steht vermeintlich polarisierend der Weltsicht der intellektuellen und politischen Elite gegenüber, die das Volk nicht mehr verstehen und repräsentieren kann. Der Volkswille wird als homogene Entität dargestellt (vgl. Spier 2010). Bei einer solchen populistischen Betrachtungsweise des Phänomens der Zuwanderung werden oftmals die Themenkomplexe Migration, Religionszugehörigkeit, ethnische oder nationale Herkunft, kulturelle Besonderheiten sowie Haltungen und Einstellungen der Zugewanderten in der öffentlichen Wahrnehmung eng miteinander verbunden und unzulässig vermengt (Pickel 2019). So weist etwa Pickel (2019) in seinen Analysen des ALLBUS, der

200

Margit Stein / Veronika Zimmer

Leipziger Mitte-Studie und des Religionsmonitors nach, dass häufig Asylbewerber*innen, Geflüchtete und Migrant*innen insgesamt mit Muslim*innen gleichgesetzt werden, auch wenn sich nach einer Studie der Bertelsmann Stiftung (2016) nur etwa Zweidrittel der Geflüchteten zum Islam bekennen. Auch die Identitäre Bewegung vermengt die Kategorien der ethnischen Herkunft, der Religion, der Nationalität und nimmt unzulässige Gleichsetzungen vor (Steenkamp 2019, 491): »Geflüchtete Menschen sind nach Aussagen der Identitären Bewegung ausschließlich männliche Muslime oder »Afrikaner« (ohne jede Differenzierung), jung, gewalttätig, arm und damit eine Gefahrenquelle für die öffentliche Sicherheit, die sozialen Sicherungssysteme und das Bildungssystem.«

Der Islam wird gemäß dem Religionsmonitor als besonders bedrohlich wahrgenommen, so dass die mit dem Islam vermeintlich verbundenen geäußerten Vorstellungen, wie etwa Ablehnung der Demokratie, Gewaltbereitschaft, mangelnde Integrationswilligkeit und mangelnde Gleichberechtigung der Frau insgesamt auf Geflüchtete und Migrant*innen übertragen werden: »Der Islam ist in Europa die einzige Glaubensgemeinschaft, die häufiger als Bedrohung, denn als Bereicherung für die Gesellschaft wahrgenommen wird […]. Das (meist heimische) Christentum, der Buddhismus und der Hinduismus erfahren dagegen überwiegend eine positive Einschätzung« (Pickel 2019, 72/73; siehe auch Pickel & Yendell 2016, 290).

So unterschiedlich und komplex die Ausprägungen der Bewertung der Zuwanderung bzw. Zugewanderter auch erscheinen und so vielfältig die Gründe einer Ablehnung auch sein mögen, so liegen diesen Phänomenen doch grundsätzlich gleiche Mechanismen zu Grunde: die Konstruktion sozialer Differenz zwischen der Eigen- und Fremdgruppe im Sinne eines ›otherings‹ (Mecheril 2019). Die Individualität wird durch die subjektiv zugeschriebenen ethnisch, religiös oder kulturell begründeten Eigenschaften einer Gruppe ersetzt und eine Einzelperson entsprechend der zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit nicht nur deskriptiv beschrieben, sondern oftmals auch normativ bewertet. Diese soziale Kategorisierung ermöglicht psychologisch gesehen eine Vereinfachung der komplexen Umwelt und bietet so eine gesellschaftliche Orientierungshilfe, die das Verhalten und die Einstellungen von anderen Personen in gewissem Maße subjektiv vorhersagbar machen soll. Diese subjektiven Zuschreibungen auf Basis allein von Gruppenzugehörigkeiten sind jedoch reduzierend und unzureichend. Unterschiede zwischen einzelnen Mitgliedern einer Gruppe werden nicht berücksichtigt und ausgeklammert (Aronson, Wilson & Akert 2008). Um gruppenbezogene vorurteilsbehaftete Zuschreibungen zu durchbrechen, müssten Denk-, Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten erlernt werden, die einen produktiven Umgang mit der kulturellen Vielfalt und die Ak-

Interethnische Freundschaften und deren Einfluss

201

zeptanz dieser ermöglichen (Otto 2011). Neben der Förderung von Toleranz zum Abbau von Diskriminierung, etwa im Rahmen verschiedener interkultureller Trainings, wie etwa des Toleranztrainings Betzavta (Stein 2010; 2017), wird in der Vorurteilsforschung vor allem im Sinne der Kontakthypothese der Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppen als Möglichkeit der Vorurteilsreduktion empfohlen. Allport (1954) hat diesbezüglich untersucht, ob und unter welchen Bedingungen Kontakte zwischen Menschen aus unterschiedlichen Gruppen Diskriminierung vorbeugen kann. Die Kontakthypothese von Allport (1954) konnte in einer Meta-Studie von Pettigrew und Tropp (2008) bestätigt werden. Kontakt kann unter bestimmten Bedingungen dazu führen, dass Vorurteile abgebaut werden können (Pettigrew & Tropp 2008).

2.

Theoretischer Hintergrund: Eigen- und Fremdgruppenzuschreibungen und deren (De)konstruktion

Die Definition von Tajfel (1981), wonach eine Gruppe erst dann existieren kann, wenn es auch konträre Gruppen gibt, bildet die Grundlage für die Theorie der Unterteilung in Eigengruppen und Fremdgruppen (engl. Social Identity Theory). Die Eigengruppe (engl. In-group) bezeichnet die Gruppe, zu der man sich dazugehörig fühlt und mit deren vermeintlich homogenen die Gruppe konstituierenden Werten, Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen man sich identifizieren kann. Durch das dadurch konstruierte sogenannte Wir-Gefühl der Zugehörigkeit grenzt sich die Gruppe automatisch von der Fremdgruppe ab. Die Fremdgruppe (engl. Out-group) ist dabei die Gruppe der anderen Personen, die nicht zu der Eigengruppe dazugehören (Ross & Fischer 2008). Erst durch die Wahrnehmung der Fremdgruppe wird die Zugehörigkeit zu der Eigengruppe sichtbar und überhaupt erst bedeutsam für die Mitglieder (Mummendey et. al 2009). Die Eigengruppe und Fremdgruppe stellen ein dichotomes Paar dar, wonach die Einteilung in Eigen- und Fremdgruppe durch kognitive Vorgänge sozialer Kategorisierungsprozesse seitens der Individuen erfolgt (Güttler 2000). Das Bewusstsein für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe bedingt dabei zwei Aspekte: Zum einen werden hierdurch in der Gesellschaft Ausdifferenzierungen von Gruppen begründet, die klar abgegrenzt erscheinen und zum anderen erfolgt eine Vereinheitlichung und Homogenisierung innerhalb der Gruppe. Die Vereinheitlichung innerhalb der Gruppen basiert auf Kategorisierungsprozessen, bei denen die Individualität, also die individuellen charakterlichen Eigenschaften und Merkmale eines Individuums, zugunsten der sozialen Kategorisierung nach Gruppenzugehörigkeit in den Hintergrund rücken. Eine Person wird dabei nicht mehr als eine individuelle Persönlichkeit wahrgenommen, sondern als Teil

202

Margit Stein / Veronika Zimmer

einer Gruppe, der gewisse Eigenschaften zugeschrieben werden, die vereinheitlicht sind aufgrund deskriptiver Differenzierungen anhand von Merkmalen (z. B. Beruf, Religion, Nationalität) und ggf. auch eine werthaltige Differenzierung beinhalten. So wird etwa, wie in der Einleitung des Beitrags dargelegt, eine Religion als besser angesehen als eine andere und entsprechend auch die Mitglieder dieser Gruppe als bedrohlicher oder wertvoller eingeschätzt (Mummendey et. al 2009). Die Fremdgruppe wird jedoch oftmals nicht nur sozial als Gegenpol zur Eigengruppe konstruiert und abgewertet, während die Eigengruppe aufgewertet wird, sondern teilweise gemäß der Integrated Threat Theory (Stephan & Stephan 1996) als bedrohlich für die Eigengruppe wahrgenommen. Unterschieden werden hierbei die sogenannten ›realistischen Bedrohungen‹ (engl. realistic threats), welche die Existenz »der In-Group hinsichtlich des physischen, materiellen und politischen Zustands« bedrohen von den ›symbolischen Bedrohungen‹ (engl. symbolic threats), welche »auf der Ebene der Werte, Normen, Überzeugungen und Weltsichten« wirken (Pickel 2019, 63). Als Beispiele für sogenannte realistische Bedrohungen werden etwa die Angst vor islamistisch begründeten Terroranschlägen durch Geflüchtete oder vor sexuellen Übergriffen durch geflüchtete Männer genannt. Symbolische Bedrohungen werden vermeintlich dort ausgemacht, wo etwa von rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen wie Pegida von einer Islamisierung des christlichen Abendlandes gesprochen wird oder die Identitäre Bewegung vom Heimatverlust als »entsetzliche[n] Preis, den die Völker Europas für das Experiment des Großen Austauschs zahlen müssen« ausgeht (Identitäre Bewegung 2019; online). Allport (1954) hat in diesem Kontext in seiner Kontakthypothese untersucht, ob und unter welchen Bedingungen Kontakte zwischen Menschen aus unterschiedlichen Gruppen Diskriminierung vorbeugen können. Allport (1954) konnte vier Bedingungen für die Wirkung von Kontakten herausarbeiten, die sich darauf besonders positiv auswirken. So ist die Wirkung des Kontakts insbesondere dann hoch, wenn der Kontakt persönlich ist und so Wissen über die anderen Gruppen generiert werden kann, wenn die Beteiligten einen gleichen Status haben (z. B. im Rahmen einer Mitgliedschaft in einem Fußballverein), wenn die Beteiligten ein gemeinsames Ziel verfolgen (z. B. den Sieg der Fußballmannschaft) und der Kontakt von Autoritäten unterstützt wird (z. B. über das Bestrafen von abweichendem Verhalten durch den*die Trainer*in). Darüber hinaus unterscheidet Allport (1954) verschiedene Arten von Kontakten (z. B. Freundschaften, Nachbarschaftskontakte, Arbeitsbekanntschaften oder zufällige Kontakte). Hier konnte Allport (1954) zeigen, dass, bis auf die zufälligen Kontakte, alle Kontaktarten Vorurteile reduzieren, während die zufälligen Kontakte hingegen Vorurteile eher verstärken könnten (Allport 1954). Pettigrew (1998) hat diesbezüglich die Interaktionen von Personen untersucht und dabei

203

Interethnische Freundschaften und deren Einfluss

insbesondere den zeitlichen Verlauf und die Einstellungsänderungen der Individuen durch Kontakte und Freundschaften fokussiert (Abb. 1). [A] essential & facilitating factors

[C] Initial Contact

[D] Established Contact

Situative (begünstigende) Faktoren

Aufbrechen von Kategorien

Neukonzeptionierung der Kategorisierung

Ursprungsängstlichkeit im Fremdkontakt Im besten Falle Sympathie

Im besten Falle Vorurteilsreduktion und Generalisierung der positiven Erfahrung

[E] Unified Group Rekategorisierung

[B] participants’ experiences & characteristics Individuelle Vorerfahrungen und Charaktereigenschaften

Im besten Falle maximale Vorurteilsreduktion

Abbildung 1: Möglicher zeitlicher Ablauf des Vorurteilsabbaus durch Fremdgruppenkontakte nach der Kontakttheorie nach Pettigrew (eigene Darstellung nach Pettigrew 1998, 77).

Die essential & facilitating situational factors [A] sind die situativen Faktoren und entsprechen dabei weitestgehend den vier Faktoren von Allport (1954). Diese Aspekte müssten erfüllt sein, damit ein Kontakt positiv wahrgenommen wird und so vorurteilsabbauend wirken kann. Als fünften Faktor fügt Pettigrew (1998) die Freundschaft hinzu. Nach Pettigrew (1998) wirkt Kontakt bzw. Freundschaft vor allem Vorurteilen und Stereotypen entgegen, weil Wissen über die Fremdgruppe aufgebaut werden kann und so ggf. negative Ansichten korrigiert werden könnten. Dieses Wissen kann dazu führen, dass Individuen ihr Verhalten und somit auch ihre Einstellungen korrigieren. Weiterhin kann durch regelmäßigen Kontakt mit der Fremdgruppe die Angst vor dem Kontakt mit der Fremdgruppe abgebaut werden und Empathie und Perspektivenübernahme gefördert werden. Die eigene Gruppe wird nicht mehr als die beste Gruppe angesehen und andere Lebensweisen werden akzeptiert. Die participants′ experiences & characteristics [B] entsprechen personalen Faktoren, also individuellen Erfahrungen, Eigenarten und Charakteristika der Individuen. Auf Basis der situativen und personalen Faktoren wird der Initial Contact also der Erstkontakt [C] bewertet. In dieser ersten Phase des Kontaktes käme es nach Pettigrew (1998) vor allem zu einer Decategorization. Dies bedeutet, dass die Individuen nun vorrangig auch als individuelle Personen betrachtet werden und nicht mehr ausschließlich als

204

Margit Stein / Veronika Zimmer

Mitglieder einer Gruppe. Unterstützt wird dies durch die Tatsache, dass sich meist Menschen mit gleichen Interessen und vergleichbarem Status zusammentun, wodurch gemeinsame Interessen und Vorstellungen anstelle der Gruppenzugehörigkeit in den Vordergrund rücken, weshalb die Mitglieder der anderen Gruppe nicht mehr als anders, fremd, minderwertig oder bedrohlich wahrgenommen werden. Mit steigender Intensität des Kontaktes und wachsender Vertrautheit (Established Contact) kommt es zu einer salient categorization [D], die über den individuellen Kontakt hinaus Verallgemeinerung aufbaut und somit zu Veränderungen von Stereotypen führt. Nach einer intensiven Kontaktzeit käme es schließlich zu einer Recategorization und der Bildung einer unified group [E]. Die Individuen erkennen sich gegenseitig als gemeinsame Mitglieder einer größeren Gruppe, bei der die Gemeinsamkeiten wiederrum im Vordergrund stehen und die alte Unterscheidung in Eigen- und Fremdgruppe aufgebrochen wird (Pettigrew 1998). Die Kontakttheorie nach Pettigrew (1998) stützt die Kontakthypothese nach Allport (1954), belegt jedoch auch, dass das bloße Vorhandensein von Fremdgruppen im Umfeld alleine nicht ausreichend ist, um Stereotype und Vorurteile abzubauen. Stattdessen sind intensive freundschaftlich gleichberechtigte Kontakte über eine genügend lange Zeitspanne nötig.

3.

Forschungsstand: Einstellungen zur Zuwanderung und interethnische Kontakte

Die Einstellungen gegenüber der Zuwanderung gelten als von vielen Faktoren abhängig und als sehr komplex. Häufig genannte Einflussfaktoren sind u. a. die wirtschaftliche Situation, die eigene kulturelle Identität, soziodemographische Faktoren wie Alter, Bildungsniveau und regionale Zugehörigkeiten oder die Kontaktbereitschaft. Vorbehalte sind insbesondere bei finanziell besser gestellten jungen weiblichen Menschen unter 30 Jahren und in bildungsnahen Schichten geringer, die sich eher als Kosmopolit*innen sehen und weniger stark identitär in ihrer ethnischen Herkunftsgruppe verortet sind (Richter, Wohlt & Frindte 2018; Frindte, Richter & Wohlt 2019; SVR GmbH 2019; Shell Deutschland Holding 2019; Stein & Zimmer 2019a; Zimmer & Stein 2020a). Verschiedene Studien belegen die Angst vieler Menschen vor Zuwanderung. Laut soziökonomischem Panel sind es im Jahr 2014 rund 26 % der befragten Personen, die angeben, große Sorge vor der Zuwanderung zu haben, was in den folgenden Jahren zu einem Anstieg auf 32 % in 2015 und 46 % im Jahr 2016 (SVR GmbH 2019) führte. Konkret bezogen auf Jugendliche zeigt die Shell Studie 2019 bei Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren, dass rund 29 % Angst vor der

Interethnische Freundschaften und deren Einfluss

205

Zuwanderung haben (im Vergleich zum Jahr 2010 27 % und Jahr 2015 29 %) (Shell Deutschland Holding 2019). 39 % der Jugendlichen sprechen sich im Rahmen der Shell Studie dafür aus, dass auch in Zukunft genauso viel und sogar 15 %, dass mehr Personen als bisher aufgenommen werden sollten (Shell Deutschland Holding 2019). Zudem nahm die aktuelle Shell Jugendstudie 2019 das Aufflammen populistischer Überzeugungen in Deutschland zum Anlass, um erstmalig dezidiert auch Items zur Erfassung der Populismusaffinität aufzunehmen, die aus Studien hierzu im Erwachsenenalter entlehnt sind (›Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt‹ von Arant, Dragolov & Boehnke 2017 und ›Mitte-Studie‹ von Zick, Küpper & Berghan 2019) und auf einer Skala von ›stimme voll und ganz zu‹ über ›eher ja‹, ›eher nicht‹ bis hin zu ›überhaupt nicht‹ bewertet werden sollten (Shell Deutschland Holding 2019, 77): – »Ich finde es gut, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen hat. – In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden. – Die Regierung verschweigt der Bevölkerung die Wahrheit. – Der Staat kümmert sich mehr um Flüchtlinge als um bedürftige Deutsche. – Die deutsche Gesellschaft wird durch den Islam unterwandert. – Deutschland wäre ohne die EU besser dran.« Die Autor*innen der Shell Studie 2019 kristallisierten aus dem Antwortverhalten auf obige Statements insgesamt fünf verschiedene Jugendtypen in Bezug auf ihre Populismusneigung heraus: »Kosmopoliten [12 %] befürworten, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen hat, und lehnen so gut wie alle populistisch gefärbten Statements ab. […] Weltoffene[…; 27 %] begrüßen mehrheitlich, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen hat, und distanzieren sich von explizit sozial- oder nationalpopulistischen Statements. [Von den…] Nicht-eindeutig-Positionierten [28 %…] bejaht die Mehrheit die Aussage, dass es gut sei, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Zugänglich sind sie aber oftmals für Aussagen, die auf ein diffuses »Meinungsdiktat« abzielen und die an ein vorhandenes Misstrauen gegenüber Regierung und sogenanntem Establishment anknüpfen. Zu den Populismus-Geneigten zählen 24 % der Jugendlichen. Von ihnen findet es nur etwa jeder dritte gut, dass Deutschland viele Flüchtlinge aufgenommen hat. Den populistisch gefärbten Aussagen »In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden« und »Der Staat kümmert sich mehr um Flüchtlinge als um hilfsbedürftige Deutsche« stimmen hier hingegen so gut wie alle zu. Vergleichbares gilt für die Aussage »Die Regierung verschweigt der Bevölkerung die Wahrheit«. Als Nationalpopulisten können 9 % der Jugendlichen bezeichnet werden. Sie stimmen allen populistisch aufgeladenen Statements durchgängig zu, distanzieren sich von der Aufnahme von Flüchtlingen« (Shell Deutschland Holding 2019, 16/17; Hervorhebungen im Original).

206

Margit Stein / Veronika Zimmer

Zusätzlich misst man in der Shell Jugendstudie (2019), inwieweit sich Jugendliche selbst im Alltag als diskriminiert und ausgegrenzt empfinden. So geben 44 % der Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Vergleich zu 5 % der Befragten ohne Migrationshintergrund an, Benachteiligungen aufgrund ihrer Nationalität, 31 % im Vergleich zu 18 % aufgrund ihres Äußeren, 27 % im Vergleich zu 9 % aufgrund ihrer sozialen Herkunft sowie 25 % im Vergleich zu 4 % aufgrund ihrer Religion oder ihres Glaubens zu erfahren (Shell Deutschland Holding 2019). Die Kontakthypothese nach Allport (1954) wird durch verschiedene Studien gestützt, die aufweisen, dass vor allem freiwillige Kontakte etwa in Freundschaften zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft fremdenfeindliche Einstellungen verringern oder abbauen können (Fritzsche & Wiezorek 2006; Pettigrew & Tropp 2008; Reinders 2010). Nach Reinders sind erwartbare »Entwicklungsbeeinflussungen« (Reinders 2010, 130) durch interethnische Freundschaften vorzufinden. So wirken soziale Beziehungen vorurteilsminimierend. Dies ist den vorurteilsreduzierenden Merkmalen – Freiwilligkeit, Statusgleichheit, Interessensähnlichkeiten – geschuldet, welche für (interethnische) Freundschaften konstitutiv sind (Pettigrew 1997; Hewstone & Brown 1986; Reinders 2010). Bei der Freundschaftswahl ist die Tendenz zur Homogenität zu beobachten, da sich Freund*innen oftmals im selben Alter befinden, gleichen Geschlechts sind und derselben Schicht, Ethnie oder Religionsgemeinschaft entstammen (Haug 2010; Wolf 1996). Dies ist einerseits durch das Suchen nach geteilten Interessen, Werten und Haltungen geprägt, die stark durch Schicht, Kultur und Religion determiniert sind (vgl. Stein 2012; 2018). Andererseits wird die Homogenität aber auch durch gemeinsam aufgesuchte Orte befördert, wie etwa Vereine, die oftmals selbst stark altershomogen sind oder nach Kultur oder Religion separieren, wie etwa der Besuch von Moscheevereinen oder Kirchengemeinden in der Freizeit. Es bestehen in erster Linie dort interethnische Freundschaften, wo dies strukturell begünstigt wird, etwa durch eine hohe ethnische Heterogenität, die Gelegenheiten des Kontakts im Sinne einer Reduzierung des Aufwands der Kontaktpflege schafft. So zeigt sich etwa konkret, dass etwa Migrant*innen mit einer höheren schulischen Bildung aufgrund der Gelegenheiten eher in Kontakt mit Menschen ohne Migrationshintergrund kommen als Migrant*innen mit einer niedrigeren formalen Bildung (Esser 1990; Haug 2005; 2010). Weitere empirische Erkenntnisse belegen, dass Migrant*innen mehr Kontakt zu der Herkunftsgruppe haben, als zu der einheimischen Gruppe, dass aber auch die Kontakte zu Einheimischen bei der zweiten Generation, die bereits in Deutschland geboren ist und hier auch ihre gesamte Sozialisation durchlaufen hat, im Vergleich zur ersten Generation durch steigende Gelegenheitsstrukturen etwa in Schulen ansteigen (Schacht et al. 2014). Interethnische Beziehungen entstehen häufig in der Schule und werden in der Freizeit als Freundschaft fortgeführt. Nach Reinders (2010) ist

Interethnische Freundschaften und deren Einfluss

207

an den Hauptschulen durch den dort weitaus höheren Migrationsanteil eine höhere Anzahl an interethnischen Freundschaften zu beobachten. An Realschulen und Gymnasien pflegen nur etwa ein Drittel der jungen einheimischen Menschen interethnische Freundschaften, im Vergleich zu 43,8 % in Hauptschulen (Reinders 2004; 2010; Schmid & Antes 2017). Je heterogener die kulturellreligiöse Zusammensetzung der Schulklassen ist, desto mehr Gelegenheiten des interethnischen Kontakts bestehen und desto eher bilden sich auch interethnisch-interreligiös gemischte Freundschaftsnetzwerke, da wie von Esser (1990) postuliert durch diese Gelegenheitsstruktur der Aufwand für das Meeting und Mating reduziert wird. Diese Ergebnisse werden auch von Schmid und Antes (2017) in der Jugendstudie Baden-Württemberg bestätigt, wonach 87 % der Hauptschüler*innen, 73 % der Realschüler*innen und 64 % der Gymnasiast*innen insgesamt angaben, einen interkulturell und interreligiös gemischten Freundeskreis zu haben. Der Vergleich der Studie von Reinders (FRIENT) und der Jugendstudie Baden-Württemberg illustriert zudem den wachsenden Anteil interethnisch gemischter Freundeskreise mit dem zunehmend wachsenden Anteil junger Menschen mit Migrationshintergrund. Obwohl sich interethnische Beziehungen häufig in der Schule formieren und in der Freizeit als Freundschaft fortgeführt werden, sind die Freizeitkontexte und Netzwerke junger Menschen stärker monoethnisch geprägt als die Klassen, wie Lehnert und Scanferla (2007) anhand einer Untersuchung in Wien feststellten. Hieraus lässt sich die sehr große Chance der Kontakt- und Freundschaftsstiftung von Schule als einzigem Ort ableiten, den Personen aller religiösen Gruppen und ethnischer Herkunft gemeinsam verpflichtend besuchen müssen (Stein & Zimmer 2019a; 2019b). In der Studie von Reinders (2003) zählen zu den meist genannten Werten in einer Freundschaft der befragten jungen Menschen: gemeinsame Aktivitäten, die beiden Spaß bereiten (86 %), und gegenseitige Unterstützung (86 %). Ebenfalls wichtig ist den jungen Menschen, dass sie mit ihren Freund*innen darüber reden können, was sie bewegt und ihnen im Leben wichtig ist (81 %). Ein weiterer wichtiger Wert ist das Vertrauen zueinander (68 %) (Reinders 2003). Diese für (interethnische und interreligiöse) Freundschaften wichtigen Werte werden auch in der Studie von Stein und Zimmer (2020b; 2021) bestätigt.

208

4.

Margit Stein / Veronika Zimmer

Studie zu Einstellungen und Freundschaften von jungen Menschen mit und ohne Migrationserfahrung1

Im Rahmen der vorliegenden Studie werden einerseits die Freundschaftsbeziehungen von jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund sowie deren Einstellungen zur Zuwanderung in Abhängigkeit ihrer ethnischen Herkunft, Religionszugehörigkeit und ihrer mono- bzw. interethnischen Freundschaften untersucht. In diesem Beitrag wird zunächst vor allem der Frage nach den monound interethnischen Freundschaftsbeziehungen junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund im Vergleich nachgegangen, bevor diese Freundschaften dann in ihrem Einfluss auf die Einstellungen zur Zuwanderung untersucht werden. Soziokulturelle Faktoren Migrationshintergrund Religionszugehörigkeit Geburtsland

Sozioökonomische Faktoren Besuchte Schulform Schulabschluss Mutter Schulabschluss Vater Soziale Faktoren Freundschaften (mono - u. interethnisch) Kontakte zu Migrant*innen Einstellungen zur Zuwanderung

Abbildung 2: Untersuchte Einflussfaktoren auf die Freundschaftsbeziehungen und Einstellungen junger Erwachsener zur Zuwanderung.

4.1

Forschungsfragen und Forschungsdesign

Als Forschungsdesiderat stellt sich hiermit die Aufgabe, die Forschungslinien zum Zusammenhang von Einstellungen zur Zuwanderung 1 Die Studie »Heterogenität in Erziehung und Unterricht« wurde im Rahmen des Teilprojektes »Werkstatt Inklusion« im Projekt ›BRIDGES – Brücken bauen‹ der Universität Vechta bearbeitet und im Rahmen der gemeinsamen ›Qualitätsoffensive Lehrerbildung‹ von Bund und Ländern mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. Weitere Ergebnisse der Studie etwa zu den Erziehungserfahrungen, religiösen Überzeugungen, Vorurteilsstrukturen, Freundschaftskonzepten und Freundschaftsnetzwerken junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund und muslimischen und christlichen Glaubens sind bereits veröffentlicht: Kenar, Stein & Zimmer 2020; Stein & Zimmer 2019b; 2020a; 2020b; 2021; Zimmer & Stein 2019a; 2019b; 2020a; 2020b; 2020c.

Interethnische Freundschaften und deren Einfluss

209

– mit der soziokulturellen Herkunft, – dem sozioökonomischen Milieu und – interethnischen Kontakten auch in ihren interagierenden Einflüssen zusammenzubinden. Es wird postuliert, dass sich die Einstellungen zur Zuwanderung nicht nur zwischen jungen Erwachsenen mit und ohne Migrationshintergrund unterscheiden, sondern auch in Abhängigkeit der sozioökonomischen (Bildungshintergrund der eigenen Person und der Eltern) und -kulturellen (ethnische und religiöse Zugehörigkeit) Lebenslagen (Stein & Zimmer 2019b; 2020a; 2020b; Zimmer & Stein 2019a; 2019b; 2020a; 2020b; 2020c). Zudem variiert die Einstellung zur Zuwanderung in Abhängigkeit der Art der gepflegten Kontakte und Freundschaften (mono- bzw. interethnisch). Auch diese sind – so wird angenommen – sozioökonomisch und soziokulturell beeinflusst und wirken somit nicht nur unmittelbar, sondern mittelbar auf die Einstellungen zur Zuwanderung. Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um ein Triangulationsdesign. Das Triangulationsdesign kombiniert quantitative (Fragebogendaten) und qualitative Daten (leitfadengestützte Interviews), um zu einem umfassenderen Bild des Gegenstandes Einstellungen und soziale Beziehungen zu gelangen. In der quantitativen Teilstudie, die im vorliegenden Beitrag dargelegt wird, wurden 1090 junge Erwachsene zwischen 18 und 24 Jahren in Niedersachsen befragt. Die Aufnahme von Merkmalsträger*innen in die Stichprobe erfolgte nach dem Kriterium der Freiwilligkeit. Die Stichprobe erhebt als Conveniencesample keinen Anspruch auf Repräsentativität, kann jedoch gut Zusammenhangsmaße illustrieren, um im Sinne Poppers (1976) möglichst strenge Tests zur potenziellen Falsifikation von Hypothesen zu arrangieren (Diekmann 2005; Raithel 2008). Basierend auf den Forschungsstand und den geschilderten Forschungsdesideraten werden folgende Hypothesen formuliert: – Junge Menschen mit und ohne Migrationshintergrund unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Einstellungen zur Zuwanderung. Hierbei spielt aber auch unmittelbar die Einwanderergeneration bzw. Zuwanderungsgeschichte eine große Rolle sowie die ethnisch-religiöse Zugehörigkeit (soziokulturelle Faktoren). – Die Einstellungen divergieren in Abhängigkeit der besuchten Schulform und des Bildungshintergrunds der Eltern, die unmittelbar auf die Zuwanderungseinstellungen wirken (sozioökonomische Faktoren). – Die Einstellungen zur Zuwanderung werden durch rein mono- oder interethnische Freundschaften und rein mono- oder interethnische Kontakte unmittelbar beeinflusst.

210

Margit Stein / Veronika Zimmer

– Auch die Freundschaften (mono- oder interethnisch) divergieren in Abhängigkeit der genannten soziokulturellen und sozioökonomischen Faktoren, die über die Freundschaften dann auch mittelbar wiederum die Einstellungen beeinflussen. – Die genannten Faktoren interagieren in ihrem Einfluss. Bei der Hypothesenüberprüfung wird der detaillierte Migrationshintergrund (1., 2. und 3. Generation), das Herkunftsland und die Religionszugehörigkeit berücksichtigt und Variablen wie Geschlecht, eigene Bildung, Bildung der Mutter bzw. des Vaters sowie die interethnischen Freundschaften und Kontakte kontrolliert bzw. in ihrem – auch interagierendem – Einfluss erfasst. Die einmalige Befragung erfolgte mittels Fragebogen; dabei wurden geschlossene quantitative Fragen genutzt. Die Fragen zu den Einstellungen zur Zuwanderung junger Menschen orientieren sich an der Shell Studie (2019). Zudem wurden demographische Daten zur sozioökonomischen Situation (eigener und Schulabschluss der Eltern), der religiösen Verortung, der ethnischkulturellen Herkunft, den Geburtsländern der befragten Person selbst, den Eltern und Großeltern und zur besuchten Schulform sowie den Freundschaftsnetzwerken und Kontakten in interethnischer Hinsicht erfasst. Hierbei wurde sowohl erhoben, ob die Personen in der Familie, der Nachbarschaft, der Schule und dem Freundeskreis Menschen mit Migrationshintergrund haben und zum anderen, aus welchen Herkunftsregionen die jeweils drei besten Freunde oder Freundinnen stammen. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich vom 01. 09. 2017 bis zum 14. 01. 2018.

4.2

Stichprobenbeschreibung

Bzgl. der Herkunft lassen sich in dieser Erhebung verschiedene Gruppen identifizieren. Die Herkunftsgruppen lassen sich zum einen anhand des Migrationshintergrundes unterscheiden: Personen mit einem Migrationshintergrund der ersten Generation (selbst im Ausland geboren), der zweiten Generation (selbst in Deutschland geboren, ein Elternteil im Ausland geboren), der zweiten Generation (selbst in Deutschland geboren, beide Elternteile im Ausland geboren), der dritten Generation (selbst und Eltern in Deutschland geboren, mindestens ein Großelternteil im Ausland geboren) und Personen ohne Migrationshintergrund. Insgesamt betrachtet haben 35,1 % der Befragten einen Migrationshintergrund. 85,5 % der Befragten haben nur eine deutsche, 9 % eine deutsche sowie eine weitere und 5,5 % nur eine andere Staatsangehörigkeit. Insgesamt wurden von den Befragten mehr als zwanzig verschiedene Geburtsländer für sich und die Eltern angegeben. Sowohl bei den jungen Migrant*innen

Interethnische Freundschaften und deren Einfluss

211

der 1. und 2. Generation liegt die Türkei als eigenes oder elterliches Herkunftsland mit 29,5 % (eigenes Geburtsland), 25,6 % (ein Elternteil im Ausland geboren), 37,4 % (beide Eltern im Ausland geboren) an der Spitze der Nennungen, gefolgt von Russland, Polen und Kasachstan. In dieser Erhebung gaben bezogen auf das religiöse Bekenntnis 68,3 % der Befragten an, dem Christentum anzugehören. 15,5 % haben keine Religionszugehörigkeit; 12,5 % sind Angehörige des Islams. Die weiteren Befragten sind Angehörige des Buddhismus (1,1 %), des Judentums (0,6 %), des Hinduismus (0,1 %) oder sonstiger Religionen (1,9 %). Die meisten Mütter bzw. Väter haben als höchsten Abschluss einen Realschulabschluss. Dahinter folgen bei den Müttern das Abitur und der Hauptschulabschluss. Bei den Vätern folgt der Hauptschulabschluss als zweithäufigster Abschluss vor dem Abitur. Einen Hochschulabschluss weisen nur 9 % der Väter und 6,3 % der Mütter der Befragten auf. Von den befragten 18- bis 24-Jährigen in Niedersachsen besuchten 50,1 % berufsbildende Schulformen und 49,9 % den Sekundarbereich II (Realschulen, Oberschulen und Gymnasien sowie Sonderschulen).

5.

Einflüsse interethnischer Freundschaften auf die Einstellungen zur Zuwanderung

5.1

Interethnische Freundschaften junger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund

Die jungen Erwachsenen wurden u. a. gefragt, ob der*die beste Freund*in dem gleichen ethnischen Hintergrund angehört. Zur Auswertung wird zudem ein weiterer Bereich hinzugezogen, nämlich der Kontakt zu Menschen mit Migrationshintergrund in der Schule und in einem Verein. Zur detaillierten Betrachtung der Ergebnisse wird an dieser Stelle die Variable »Migrationshintergrund« in fünf Kategorien aufgeschlüsselt und in je eine dummy-Variable mit folgenden Ausprägungen umgewandelt: – ohne Migrationshintergrund (= 1; 0 = Sonstige) – mit Migrationshintergrund 1. Generation (selbst im Ausland geboren) (= 1; 0 = Sonstige) – mit Migrationshintergrund 2. Generation (selbst in Deutschland geboren, beide Eltern im Ausland geboren) (= 1; 0 = Sonstige) – mit Migrationshintergrund 2. Generation (selbst in Deutschland geboren, ein Elternteil im Ausland geboren) (= 1; 0 = Sonstige)

212

Margit Stein / Veronika Zimmer

– mit Migrationshintergrund 3. Generation (selbst in Deutschland geboren, Großeltern im Ausland geboren) (= 1; 0 = Sonstige) Als Prädiktoren werden – dummy-Variablen des Migrationshintergrundes, des Geburtslandes und der Religionszugehörigkeit (soziokulturelle Faktoren) sowie – der besuchten Schulform und der Schulabschlüsse der Eltern (sozioökonomische Faktoren) festgelegt. Hierbei gehen alle Prädiktoren gleichzeitig und gleichberechtigt in die Berechnung ein. Als Kriterium werden interethnische Kontakte und interethnische Freundschaften festgelegt. Bei dem Kriterium handelt es sich um binär kodierte Variablen, somit wird die binär logistische Regressionsanalyse angewandt. 67,3 % der befragten Personen geben an, Kontakt zu Menschen mit Migrationshintergrund in der Schule zu haben. Dagegen geben nur 22,5 % der Befragten an, Kontakt zu Menschen mit Migrationshintergrund in einem Verein zu haben. 39,1 % haben einen besten Freund bzw. eine beste Freundin mit dem gleichen ethnischen Hintergrund. Bei der Betrachtung der Ergebnisse in Abhängigkeit des Migrationshintergrundes zeigt sich ein interessantes Bild (Tab 1). Danach haben junge Menschen mit Migrationshintergrund der 1. Generation und ohne Migrationshintergrund am häufigsten einen besten Freund bzw. beste Freundin mit dem gleichen ethnischen Hintergrund. Dagegen haben Befragte mit Migrationshintergrund der 2. Generation (ein Elternteil im Ausland geboren) seltener eine*n beste*n Freund*in mit dem gleichen ethnischen Hintergrund. Tab. 1: Deskriptive Angaben – monoethnische Freundschaften

ohne Migrationshintergrund mit Migrationshintergrund 1. Generation

Beste Freund*in mit dem gleichen ethnischen Hintergrund 41,4 % 46,6 %

mit Migrationshintergrund 2. Generation (beide Eltern im Ausland geboren) mit Migrationshintergrund 2. Generation (ein Elternteil im Ausland geboren)

31,6 %

mit Migrationshintergrund 3. Generation (Großeltern im Ausland geboren)

32, 9 %

28,7 %

213

Interethnische Freundschaften und deren Einfluss

Bei der Betrachtung der Ergebnisse in Abhängigkeit des Geschlechtes haben weibliche junge Erwachsene signifikant seltener im Verein Kontakte zu Menschen mit Migrationshintergrund (Chi2(2, N=1090)=24,584; p0,05) sowie bei der Frage nach der Mono- bzw. Interethnizität der*des besten Freundes*in (Chi2(2, N=1090)=4,136; p>0,05) besteht zwischen den Geschlechtern laut dem Chi2-Test kein signifikanter Unterschied. Der Einfluss soziokultureller Unterschiede auf interethnische Kontakte und Freundschaften: Die Rolle von Migrationshintergrund, ethnischer Herkunft und Religionszugehörigkeit Bei der Frage nach der ethnischen Herkunft des*der besten Freundes*in in Abhängigkeit des Migrationshintergrunds sind laut Chi2-Test die Unterschiede signifikant (Chi2(1, N=1090)=4,708; p0,05) und im Verein (Chi2(1, N=1090)=2,840; p>0,05), hier sind die Unterschiede laut dem Chi2-Test nicht signifikant. Tab. 2: Logistische Regressionsanalyse: Kriterium: Monoethnizität der besten Freundschaft (nein=0, ja=1), Prädiktor detaillierter Migrationshintergrund (Dummy) (*p