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German Pages 212 Year 2019
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1410
Die verhältnismäßige Anwendung „gebundener“ Normen
Von
Benedikt Vogt
Duncker & Humblot · Berlin
BENEDIKT VOGT
Die verhältnismäßige Anwendung „gebundener“ Normen
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1410
Die verhältnismäßige Anwendung „gebundener“ Normen
Von
Benedikt Vogt
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen.
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Satz: TextFormA(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-15800-3 (Print) ISBN 978-3-428-55800-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85800-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf im Wintersemester 2017/2018 als Dissertation angenommen. Tag der mündlichen Prüfung war der 29. März 2019. Von ganzem Herzen möchte ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Lothar Michael bedanken. Die von ihm eingeräumte Freiheit, sein Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit und sein großes Vertrauen werden mir – neben der schönen Zeit an der Professur für Öffentliches Recht – in prägender Erinnerung bleiben. Er stand mir zu jeder Zeit für inspirierende Gespräche zur Verfügung. Für die Erstellung des Zweitgutachtens und die Unterstützung im Studium bedanke ich mich ebenfalls herzlich bei Herrn Prof. Dr. Martin Morlok. Meinen Eltern, Petra Vogt und Hans-Peter Vogt, danke ich für die Vermittlung grundlegender Werte und ihre bedingungslose Liebe. Sie haben mich während meiner gesamten Ausbildung in jeder erdenklichen Weise unterstützt und mir vermittelt, dass ich immer im Leben auf meine Stärken vertrauen kann. Auch wesentliche Teile des Korrekturlesens, u. a. während ihres Sommerurlaubs, verdanke ich ihnen. Am intensivsten erlebte die Höhen und Tiefen, die ein Promotionsvorhaben mit sich bringt, meine künftige Ehefrau Anne. Neben ihrer Bedeutung in meinem Leben gebührt ihr auch fachlicher Dank: Die unzähligen und langen Gespräche über das Thema, ihre beharrliche konstruktive Kritik und ihr selbstloser Einsatz für das Gelingen dieses Projekts bedeuten mir viel. Ohne sie gäbe es diese Arbeit nicht. Berlin, im Juni 2019
Benedikt Vogt
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Der Konflikt von Einzelfallgerechtigkeit und gesetzlicher Determination im Verständnis der klassischen Rechtsfolgenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 I.
Die divergierende Bindungsdichte einer Norm als Folge von Formulierungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Der Zusammenhang von Wortlaut und Bindungsintensität als Erkenntnis des Zivilrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Das begrenzte Erklärungsvermögen einer strengen Dreiteilung von Rechtsfolgentypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 3. Anlass für eine Neubewertung „gebundener“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . 22
II. Die unverhältnismäßige Einzelfallmaßnahme auf „gebundener“ Normbasis: Ausnahmslos ein Problem der Norm oder gar Kollateralschaden? . . . . . . . . . . 22 III. Umfassende Einzelfallgerechtigkeit als Anspruch von Normanwendung . . . . . 24 1. Eingeschränkte Rechtssicherheit durch „gebundene“ Normen . . . . . . . . . . 24 2. Der vermeintlich gleichheitssichernde Charakter „gebundener“ Normen . . 26 3. Einzelfallgerechtigkeit als übergeordnetes Ziel staatlichen Handelns . . . . . 28 IV. Unterschiedliche Vorstellungen des Gesetzgebers von der Bindungsintensität von Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Beispiele für ein schwächeres Determinationsverständnis . . . . . . . . . . . . . 30 2. Beispiele für eine strenge Alternativenbildung zwischen Rechtsfolgentypen durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 3. Veränderungen in der Wahrnehmung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . 34 V.
Alternativkonzepte zu „gebundenen“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1. Geschriebene Härtefallklauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 2. Verhältnismäßigkeit als Tatbestandsmerkmal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3. Unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 4. Unbestimmte Rechtsbegriffe in der Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 5. Die Nichtbeachtung von Sachverhalten (Vollzugsdefizit) . . . . . . . . . . . . . . 43 6. Steuerung der Ermessensausübung durch Verwaltungsvorschriften . . . . . . 45
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Inhaltsverzeichnis VI. Der Kern des Konflikts: Das Spannungsfeld zwischen Einzelfalladäquanz und gesetzgeberischer Gerechtigkeitsvorstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis in der Rechtsprechung des vergangenen Jahrzehnts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I.
Die Rechtsprechung bis etwa 2007: Grundsätzliche Übereinstimmung mit der klassischen Rechtsfolgenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Grundsatz: Keine Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung „gebundener“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2. Die frühen Ausnahmen im Kosten- und Gewerberecht . . . . . . . . . . . . . . . . 47
II. Die Neuorientierung der Rechtsprechung in verschiedenen Rechtsgebieten in den vergangenen Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Ausländerrecht im Jahr 2007: Vorbote einer neueren Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Die Ausweisung im Ausländerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3. Verwaltungsvollstreckungs- und Kostenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 a) Geiselbefreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 b) Bestattungskosten naher Angehöriger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 c) Umfangreiche Berücksichtigung von Einzelfallerwägungen im Kostenund Vollstreckungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 4. Prüfungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 a) Fehlverhalten vor einer Prüfung: Versäumnis eines Abiturprüfungstermins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 b) Fehlverhalten während einer Prüfung: Mitführen eines Handys . . . . . . 61 c) Fehlverhalten nach einer Prüfung: Kontaktaufnahme zum Prüfer im Staatsexamen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 d) Verhältnismäßigkeit als Schutzmechanismus zugunsten von Prüflingen 64 5. Sozialhilferecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 6. Entscheidungen mit beruflichem Bezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Gewerberecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Beamtenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 c) Berufserlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 d) Hygienerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 e) Abfallrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 f) Differenzierte Verhältnismäßigkeitsanwendung im beruflichen Bereich 71 III. Anforderungen an Justiz und Wissenschaft als Konsequenz der neueren Rechtsprechungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Einheitlichkeit durch eine höchstrichterliche Klärung . . . . . . . . . . . . . . . . 72
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2. Maßstabsbildung durch Wissenschaft und Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . 72 3. Aufarbeitung des Begründungsdefizits durch die Wissenschaft . . . . . . . . . 73 D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit durch ein verändertes Verständnis der Gesetzesbindung und die Verhältnismäßigkeit als Modus . . . . . . . . . . . . 74 I.
Der Bedeutungsinhalt der Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 1. Die historische Wandlung der administrativen Gesetzesbindung . . . . . . . . 75 2. Der Aussagegehalt der Gesetzesbindung: Grundsätzliche Anwendungspflicht des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 a) Anwendungsgebot des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 b) Abweichungsverbot vom Gesetz als zweite Folgerung? . . . . . . . . . . . . 79 3. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . 80 a) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Gesetzesbindung der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 3 GG und Rechtsstaatsprinzip) . . . . . . . . . . . . . . . . 80 b) Grundrechtsbindung von Verwaltung und Rechtsprechung (Art. 1 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 c) Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 aa) Bürgerliche Möglichkeiten zur Einflussnahme und das Mehrheitsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 bb) Minderheitenschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 cc) Transparenzgebot und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 dd) Die Gesetzesbindung als Vehikel zur Realisierung des Volkswillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 d) Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 e) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 f) Gesetzesunterworfenheit der Judikative (Art. 97 Abs. 1 GG) . . . . . . . . 88 g) Die Gesetzesbindung als verfassungsrechtliches Mosaikkonstrukt . . . . 89 4. Rechtfertigungsbedürftigkeit von Grundrechtseingriffen auch bei der Anwendung „gebundener“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
II. Abwägungsmodell (Modell 1): Die Gesetzesbindung im Sinne einer Wortlautbindung als prinzipientheoretisches Verfassungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Das Verständnis der Gesetzesbindung im Abwägungsmodell . . . . . . . . . . . 92 a) Norminterpretation und Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 b) Die Prinzipientheorie nach R. Dworkin und R. Alexy . . . . . . . . . . . . . . 93 c) Zurückhaltung bei der Einordnung der Gesetzesbindung in das Dworkin / Alexy-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 2. Darlegung der Gesetzesbindung als Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Die Gesetzesbindung und klassische Regel- bzw. Prinzipienmerkmale 96 b) Das Prinzipienverständnis als Normalfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
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Inhaltsverzeichnis c) Die Gesetzesbindung als grundgesetzliches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . 98 d) Gesetzesbindung als Konglomerat aus Prinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 III. Auslegungsmodell (Modell 2): Die Gesetzesbindung als Ergebnis verfassungsgeleiteter Norminterpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Das Verständnis der Gesetzesbindung im Auslegungsmodell . . . . . . . . . . . 103 2. Erklärungen für eine auslegungsbestimmte Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . 106 a) Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit von Regeln . . . . . . . . . . . . . . . 106 b) Mangelnde Bindungswirkung einer verfassungswidrigen Norm(auslegung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 c) Anknüpfungsfähigkeit an herkömmliche Standards . . . . . . . . . . . . . . . 108 d) Flexibilität durch die Ausstrahlung der Verfassung bei der Anwendung des einfachen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 e) Das Gebot der frühzeitigen und nachhaltigen Durchsetzung der Normenhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 f) Die Möglichkeit zu einer verfassungsgeprägten Interpretation des einfachen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 IV. Die Wandlungsfähigkeit der Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 I.
Grundsätze einer dynamischen Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Gesetzesbindung als Zielverständnis des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Der modale Charakter der Verhältnismäßigkeit als Instrument zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Die Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Verhältnismäßigkeit als Modus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Die Vorbehaltlosigkeit „gebundener“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 4. Normenhierarchie als Folge des Stufenbaus der Rechtsordnung . . . . . . . . 119 5. Die überbewertete (abstrakte) Verhältnismäßigkeit einer Norm . . . . . . . . . 119 6. Art. 3 Abs. 1 GG als Schutz vor willkürlicher Gesetzesanwendung . . . . . . 121 7. (Prozedurale) Vorkehrungen zum Schutz der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 a) Auskunftsansprüche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 b) Besondere Hinweispflicht bei bürgerbegünstigenden Abweichungen . . 123 c) Begründungserfordernis (§ 39 Abs. 1 VwVfG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 d) Meldung an Dienstvorgesetzte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 e) Trial-and-Error-Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 f) Kodifikation im einfachen Recht (VwVfG, IFG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 8. Der Umgang der Administrative mit verfassungswidrigen Normen . . . . . . 125
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9. Der missverständliche Rekurs auf G. Radbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 II. Unterschiede und Parallelen zwischen einem dynamischen Gesetzesbindungsverständnis und der verfassungskonformen Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 1. Der Streit um die Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung . . . . 129 2. Gemeinsamkeiten von verfassungskonformer Auslegung und der Dynamisierung der Gesetzesbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Die Berücksichtigung von Verfassungsbelangen bei der Gesetzesausführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b) Die besondere Bedeutung des Vorrangs der Verfassung . . . . . . . . . . . . 131 c) Der Grundsatz der Normerhaltung (favor legis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 d) Prozesse im Grenzbereich von Norminterpretation und (vorgezogener) Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 e) Eine dritte Stufe der Normbewertung: Zwischen Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 f) Die Kongruenz zahlreicher Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 3. Unterschiede zwischen verfassungskonformer Auslegung und einem flexi blen Gesetzesbindungsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 a) Unterschiedliche Ausgangssituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 b) Einzelentscheidungen und Fallgruppenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . 137 c) Unterschiedliche Grenzen: Prinzipienkollisionsauflösungen auch jenseits des Wortlauts des Gesetzes und des gesetzgeberischen Willens . . 138 d) Keine Notwendigkeit der Bindung an die fachgerichtliche höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Bestimmung der Rechtsfolge . . . . . . . . . 140 e) Wesentliche Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 4. Die Übertragbarkeit von Argumenten aus der Diskussion über die verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Die Einheit der Rechtsordnung als verbindendes Ziel . . . . . . . . . . . . . . 141 b) Die Schonung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Die Grenzen aus Art. 100 Abs. 1 GG für Rechtsfolgenkorrekturen . . . . 145 aa) Art. 100 Abs. 1 GG als verfassungsunmittelbare Prozessnorm . . . 146 bb) Die Bewahrung der Kernaussage der konkreten Normenkontrolle 146 cc) Das Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts . . 147 dd) Verbleibender Anwendungsbereich für Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . 148 ee) Die konkrete Normenkontrolle im System der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 ff) Der Schutzzweck der Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 gg) Die Unzulässigkeit eines konkreten Normenkontrollverfahrens bei einer einzelfallbezogenen Rechtsfolgenkorrektur . . . . . . . . . . . . . 149 hh) Art. 100 Abs. 1 GG im Eilrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
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Inhaltsverzeichnis ii) Kein Dispensverbot aus Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 d) Das Bundesverfassungsgericht als Superrevisionsinstanz . . . . . . . . . . . 150 e) Die Konfrontation des Gesetzgebers mit unverhältnismäßigen Einzel fällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 f) Restriktive Handhabung als Absicherung des Gesetzgebers . . . . . . . . . 152 5. Die verfassungskonforme Auslegung als Schwester der verfassungskonformen Rechtsfolgenbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 III. Rechtfertigungsfähigkeit einer Neubestimmung der Gesetzesbindung angesichts der Steuerungsmöglichkeiten des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG als Grundentscheidung des Verfassunggebers . . . . . 153 2. Kein Raum für Imperfektion in der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3. Steuerungsmöglichkeiten des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Weiterer Einsatz „gebundener“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 b) Das legislative „Rückholrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 c) Parlamentarische Evaluierung und Auskunftsansprüche der Legislative 157 d) Einfluss des Haushaltsgesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 e) Landesgesetzgeber, Landesregierung und Landesverwaltung . . . . . . . . 158 4. Gewaltenunterstützung: Kooperation im ausgleichenden Verfassungsstaat . 159 IV. Vorteile einer flexiblen Bindung an das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 1. Einzelfallgerechtigkeit als Voraussetzung des gesetzgeberischen Generalisierungsprivilegs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. Transparenzerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3. Privatisierungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4. Bürgerschützende Mäßigung von Staatsgewalt durch erhöhte Kontrollmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 5. Föderalismus und Stärkung der Länder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 V.
(Begriffs-)Kritik zu „gebundenen“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
F. Die Rechtsfolgenbestimmung i. w. S. als Entscheidungsfindungsprozess der Verwaltung zur Festlegung der einzelfallgerechten Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I.
Der Sondierungsschritt (Schritt 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
II.
Der Konkordanzschritt (Abwägungsschritt) bzw. Interpretationsschritt (Schritt 2) 170 1. Die Unterschiede zwischen Abwägungs- und Auslegungsmodell . . . . . . . . 170 a) Der Konkordanzschritt im Abwägungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 b) Der Interpretationsschritt im Auslegungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 2. Die Konkordanzherstellung bei „gebundenen“ Verwaltungsentscheidungen durch Abwägung bzw. Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Inhaltsverzeichnis
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a) Adressatenbelastende Verwaltungsentscheidungen ohne Drittbezug . . . 174 b) Adressatenbegünstigende Verwaltungsentscheidungen ohne Drittbezug 174 c) Adressatenbegünstigende Verwaltungsentscheidungen mit belastendem Drittbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 d) Adressatenbelastende Verwaltungsentscheidungen mit begünstigendem Drittbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 e) Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit durch Auflösungen von Prinzipienkollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 3. Abwägungsprozesse bei Verwaltungsentscheidungen auf der Grundlage von Soll-Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 III. Die Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 1. Die Ermittlung der einzelfallgerechten Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 2. Der Rechtsfolgenkorridor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3. Die Festsetzung der Rechtsfolge in multipolaren Verhältnissen . . . . . . . . . 181 4. Die Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. bei Ermessensentscheidungen im Lichte der klassischen Ermessenslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 5. Die Berücksichtigung nicht-verfassungsrechtlicher Belange . . . . . . . . . . . . 182 IV. Gestufte administrative Entscheidungsfindung durch Normgestaltung . . . . . . 183 G. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. w. S. durch die Verwaltungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 I.
Die Kontrolle des Sondierungsschritts (Schritt 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
II. Die Kontrolle des Konkordanzschritts (Abwägungsschritts) bzw. Interpretationsschritts (Schritt 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 1. Konkordanzherstellung durch Abwägung oder Auslegung als voll überprüfbare Verwaltungsentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2. Abweichungsrecht und Abweichungspflicht beim „gebundenen“ und beim intendierten Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 a) Entscheidungen auf der Grundlage „gebundener“ Normen . . . . . . . . . . 187 b) Entscheidungen auf der Grundlage von Soll-Vorschriften . . . . . . . . . . . 188 III. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3) . . . . . . . . . . . . . 188 1. Fallkonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2. Die Vertretbarkeitsprüfung innerhalb des Rechtsfolgenkorridors . . . . . . . . 189 3. Die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts als Kompetenzabgrenzung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 H. 15 zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
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Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit grundsätzlich die männliche Form verwendet. Sofern sich aus dem Zusammenhang nicht etwas anderes ergibt, sind damit selbstverständlich aber auch weibliche Personen und Personen weiteren Geschlechts gemeint.
A. Einleitung Zur allgemeinen Frage, ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung „gebundener“ Normen angewendet werden darf, lassen sich unterschiedlichste Antworten geben. In der letzten Zeit hat sich eine Kontroverse zu jenem Thema entzündet, die erstaunlicherweise in der Literatur recht einmütig geführt wird und eher einen Frontverlauf zwischen Schrifttum und Justiz erkennen lässt. Inspiration verspricht vor allem der Zweifel an vermeintlich gesicherten Erkenntnissen. Die kritische Auseinandersetzung mit scheinbar unveränderlichen Prämissen belebt den Diskurs. Allein in den vergangenen sieben Jahren sind zwei Aufsätze1, ein Archivbeitrag2 und eine Dissertation3 just zu jener Fragestellung erschienen. Der Anstoß für die neueren Bewegungen kam aus der Rechtsprechung4, die sich in Teilen von dem seit längerem herrschenden Verständnis zu lösen beginnt. Das erneute Ringen um Erkenntnis hängt auch mit der eigentümlichen Vernachlässigung dieses Diskussionsthemas5 in genau jener zugespitzten Form zusammen, obwohl (oder gerade weil?) sie sich im Zentrum der Dogmatik befindet, auf reichlich existierender Vorarbeit beruht und grundlegende Fragen aufwirft. Die Suche nach einer dogmatischen Verortung darf den Blick nicht für die Vorund Nebenfragen verstellen, die aufzuwerfen für die Beantwortung der Hauptfrage unerlässlich ist. Ob die Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung „gebundener“ Normen zu prüfen ist, lässt sich natürlich auf ein knappes Ergebnis kondensieren. So man denn nicht weiter ausholt, ist die Antwort indes verkürzt. Eine dogmatische Antwort zu geben, ist unerlässlich, aber in zweierlei Hinsicht nicht allein ausreichend. Zum einen ist der Rekurs auf Grundsätzliches – so knapp er ausfallen muss – zwingend erforderlich. Zum anderen muss die abstrakte Erörterung des Problems durch praktische Handlungsanweisungen ergänzt werden, um insbesondere in der Verwaltungs- und Gerichtspraxis zu bestehen.6 Die Dogmatik ist kein Selbstzweck als Antwort auf die Frage, sondern das Ergebnis einer Antwort. 1
K. Naumann, DÖV 2011, S. 96 ff.; V. Mehde, DÖV 2014, S. 541 ff. T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 142 ff. 3 T. Westerhoff passim. 4 Siehe insbesondere Abschnitt C. dieser Arbeit. 5 So auch L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 138, Fn. 25. 6 Mahnend insoweit auch P. Tettinger, DÖV 1993, S. 238: „(…) Dissertationsschriften gefallen sich allzu oft in Forderungen nach immer stärkeren Verästelungen der einzelnen Verwaltungsrechtsgebiete, deren Überschaubarkeit doch bereits für den hiermit befaßten Richter leidet, vom fassungslosen Laien ganz zu schweigen.“ 2
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A. Einleitung
Dogmatische Figuren und Konstruktionen sind als greifbares Ergebnis notwendig, ergeben sich aber erst als Anschluss an eine inhaltliche Auseinandersetzung. Die vorliegende Untersuchung entfernt sich – insbesondere deutlicher als alle genannten Arbeiten der vergangenen Jahre – von dem klassischen Verständnis von Verhältnismäßigkeit und Rechtsfolgenlehre. Ziel der hier entwickelten Alternative ist der Versuch, Einzelfallgerechtigkeit durch ein modales Verständnis von Verhältnismäßigkeit einzulösen.7 Den Konflikt zwischen legitimer gesetzgeberischer Pauschalisierung und Einzelfalladäquanz aufzulösen, wird auch dieses Verständnis nicht ausnahmslos leisten können. Es beabsichtigt nichtsdestoweniger einen Schritt in diese Richtung zu unternehmen und bemüht sich um vermittelnde Lösungen.
7 Von einem anderen Verständnis geht T. Westerhoff, S. 3, aus, der in einer dogmatischen Aufarbeitung des Themas und der Ermöglichung von Einzelfallgerechtigkeit einen Widerspruch sieht.
B. Der Konflikt von Einzelfallgerechtigkeit und gesetzlicher Determination im Verständnis der klassischen1 Rechtsfolgenlehre Gesetzgeberische Tätigkeit ist mit der Erwartung verbunden, die mehrheits fähigen Vorstellungen von Gerechtigkeit nicht bloß in Normen zu festigen, sondern auch die Lebenswirklichkeit und damit Einzelfälle gerecht zu gestalten. Obwohl mit dem Anspruch an verfassungsmäßige Normen auch das Streben nach Gerechtigkeit im Einzelfall verbunden ist, gerät der Gestaltungswille durch die prognostische und hypothetisch-antizipierende Art des Gesetzes oftmals mit sonstigen Wertungen der Verfassung in Konflikt. Namentlich die Grundrechte bilden (nicht nur) für den Gesetzgeber eine Grenze von Gestaltungsoptionen, denn Gesetze müssen abstrakt so allgemein gefasst sein, dass sie zwar für eine unbestimmte Anzahl von Fällen gelten, die Grundrechte im Anwendungsfall aber nicht unverhältnismäßig einschränken. Dabei ist es jedoch im Voraus kaum möglich, sämtliche (sowohl verhältnismäßigen als auch unverhältnismäßigen) Anwendungsfälle zu erdenken.2 Durch diese generalisierende Gestaltung kann nicht immer sicher die übermäßige Belastung eines Grundrechtsträgers im Einzelfall ausgeschlossen werden. Darin liegt das Spannungsverhältnis zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Gesetzesschaffung. Das Gestaltungspotential der gesetzgebenden Gewalt lässt sich – im Zusammenspiel mit der Definition von Voraussetzungen im Tatbestand – gerade auch durch die Anordnung von Rechtsfolgen in Normen verwirklichen, weil diese selbst auf die Änderung der Lebenswirklichkeit ausgerichtet sind. Dass die rein faktische Existenz einer Voraussetzungs- und einer Folgenseite in Normen bei der Rechtsfolgenbestimmung gegebenenfalls an Bedeutung verlieren kann, steht dazu nicht in Widerspruch.3 Zur Determination gesetzesausführender Stellen nutzt das Parlament drei Arten von Rechtsfolgentypen: Neben „gebundenen“ Normen und Ermes-
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Skeptisch zu dieser Einordnung T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 153, der sich unsicher ist, ob „diese Annahme der noch herrschenden Auffassung in der Verwaltungs- und Verfassungsrechtslehre entspricht (…)“. Auf S. 155 kommt er zu Recht zu der Erkenntnis, dass sich selbst Standardwerke zu diesem Problem oft nicht ausreichend verhalten. Zustimmend T. Westerhoff, S. 2. 2 So etwa auch K. A. Bettermann, S. 38. H. Simon, EuGRZ 1974, S. 87, nennt dies eine „schwierige Aufgabe“. 3 Siehe dazu das im späteren Teil dieser Arbeit entwickelte Auslegungsmodell in Abschnitt D. III.
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
sensrechtssätzen existieren Soll-Vorschriften4.5 Eine besondere Aufmerksamkeit wird den als „gebundene“ Normen bekannten Rechtssätzen zuteil.6 Sie enthalten (vermeintlich) eine Anordnung ohne rechtsfolgenbezogene Spielräume an die gesetzesausführende Stelle und erscheinen – ganz im Sinne eines self-executingCharakters – als ein Typus von Normen, bei dem die Rechtsfolge zwangsläufig bereits durch die Norm (vor-)geprägt ist. Besonders bei diesem scheinbar wenig auf den Einzelfall anpassungsfähigen Rechtsfolgentyp gerät der eben skizzierte Konflikt mit der Einzelfallgerechtigkeit in den Fokus der Aufmerksamkeit.7 Die folgenden, um „gebundene“ Normen und die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit kreisenden, Beobachtungen und der im weiteren Verlauf der Arbeit entwickelte alternative Ansatz sind in ihrer Wertung sicherlich nicht zwingend. Die Einmütigkeit der ganz herrschenden Meinung sollte aber – ungeachtet aller Bewegungen in den vergangenen Jahren – stutzig machen und zu einem Nachden-
4 Zwischen Regel-Vorschriften und Soll-Vorschriften differenziert noch etwa R. Mußgnug, S. 72 ff. 5 M. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Rn. 10, fasst die Trennung von Ermessensverwaltung und „gebundener“ Verwaltung als den ersten Punkt seiner vier Grundannahmen zum Verständnis der herrschenden Meinung zum Ermessen und dem unbestimmten Rechtsbegriff auf. Siehe auch a. a. O., Rn. 17. In der neueren Literatur wird diese Trennung weit überwiegend als selbstverständlich vorausgesetzt. In einigen älteren Werken finden sich noch Begründungsansätze. So etwa bei K. Stern, Bd. 2, S. 762 f. m.w.N; H. J. Wolff / O. Bachof, S. 186 ff. Skeptisch wohl W. Jellinek, S. 36: „Jedes Gesetz lässt sich bekanntlich in einen Voraussetzungssatz und einen Folgesatz zerlegen. Wenn dies oder jenes zutrifft, dann kann oder soll die Behörde dies und das tun. Nun behauptet eine Lehre, das freie Ermessen liege notwendig im Folgesatz. Laute daher ein Gesetz: ‚wenn ein Bedürfnis vorhanden ist, hat die Behörde zu genehmigen.‘, so sei damit jedes freie Ermessen ausgeschlossen; freies Ermessen sei nur dann gemeint, wenn das Gesetz etwa laute: ‚wenn ein Antrag gestellt wird, so kann die Behörde genehmigen, oder: so hat sie das Zweckdienliche zu veranlassen.‘ Auch diese Ansicht lässt sich nicht halten, vielmehr muss man unter Umständen auch bei den gesetzlichen Voraussetzungen den Zusatz machen ‚nach Ermessen der Behörde‘. (…)“. 6 Es genügt für die Einordnung als „gebundene“ Norm, dass bei der Gesetzesausführung auf Rechtsfolgenseite kein Spielraum ist. Nicht erforderlich, als gewissermaßen zweite Voraussetzung, ist hingegen auch die Abstinenz eines Beurteilungsspielraums auf Tatbestandsseite. So aber T. Westerhoff, S. 51 ff., der dann in widersprüchlicher Weise auf S. 120 f. ausführt, dass eine verfassungskonforme Auslegung bei einer Verwaltungsentscheidung auf der Grundlage einer „gebundenen“ Norm möglich sei, wenn „die Norm auf der Tatbestandsseite mit unbestimmten Rechtsbegriffen arbeitet.“ Bekräftigend, unter Bezugnahme auf K. Naumann, DÖV 2011, S. 98, T. Westerhoff, S. 122. Anders dann aber anscheinend wieder auf S. 169 und in der Zusammenfassung auf S. 183. Aufgrund dieser Unklarheit ist klarzustellen: Eine „gebundene“ Norm liegt auch dann vor, wenn nach klassischem Verständnis auf Tatbestandsseite ein Beurteilungsspielraum besteht. 7 Eine Ausnahme zum Konflikt von „zwingender“ Norm und Einzelfallgerechtigkeit bilden Rechtssätze, die in der „gebundenen“ Rechtsfolgenanordnung unbestimmt sind. Wenn § 39 Abs. 2 IfSG anordnet, „die Behörde hat die notwendigen Maßnahmen zu treffen“, ist die Auswahl der Rechtsfolge so anpassungsfähig, dass auf die Umstände des Einzelfalls Rücksicht genommen werden kann. Im Fokus dieser Arbeit steht der Großteil der Normen, die eine konkrete Rechtsfolge vorsehen. Siehe dazu B. V. 4.
I. Die divergierende Bindungsdichte einer Norm
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ken über vermeintlich Selbstverständliches anregen und sei es nur zur Schärfung gängiger Argumentationsstrukturen.
I. Die divergierende Bindungsdichte einer Norm als Folge von Formulierungsoptionen Anknüpfungspunkt für eine divergierende Dichte der Bindung ist der Wortlaut einer Norm.8 Ihm wird für die Unterscheidung der Rechtsfolgentypen die Fähigkeit zur Differenzierung beigemessen. 1. Der Zusammenhang von Wortlaut und Bindungsintensität als Erkenntnis des Zivilrechts Diese Beobachtung kann das Öffentliche Recht nicht exklusiv für sich in Anspruch nehmen. In historischer Sicht ist es gerade auch das Zivilrecht, in dem Fremddetermination durch das Gesetz und einzelfallbezogene Anpassungsmöglichkeit in Beziehung zueinander gesetzt werden. Für den Bereich des Zivilprozessrechts schied O. v. Bülow das zwingende vom dispositiven Recht; eine Aufteilung, die bis heute im Zivilrecht existiert. Zu Ersterem stellte er im Jahr 1881 fest: „Der eine Theil der Rechtsregeln normirt die von ihnen betroffenen Rechtsbeziehungen in so unmittelbar und einzig bestimmender Weise, daß eine davon abweichende rechtliche Normirung nicht möglich ist, insbesondere also auch nicht durch den Willen der bei der Rechtsbeziehung betheiligten Rechtssubjecte erfolgen kann: das objective Recht läßt hier für den zu regelnden Thatbestand blos eine einzige, schon von ihm selber genau bezeichnete Regelung gelten, folgeweise ist eine andere Regelung durch die Interessenten nicht zulässig.“ 9 Obwohl die Unterschiede zwischen dem Privatrecht und dem Öffentlichen Recht bekanntermaßen beachtlich sind10, gibt es mit Blick auf die Verbindlichkeit von Normen aber rechtsgebietsübergreifend unterschiedliche Grade: Der Wortlaut einer Norm und die sich daraus ergebenden Handlungsoptionen stehen in einem Zusammenhang. Aus dieser Erkenntnis den Schluss auf die konkrete Intensität der Bindung öffentlich-rechtlicher Normen zu ziehen oder dem Gesetzgeber die Befug 8
Speziell zum Wortlaut als Auslegungsmethode siehe etwa K. Röhl / H. Röhl, S. 614 ff. m. w. N. sowie B. Rüthers / C. Fischer / A. Birk, § 22, Rn. 731 ff. 9 O. von Bülow, AcP 64 (1881), S. 9. 10 Der Gedanke der fehlenden Gleichordnung im Verwaltungsverhältnis, der letztlich etwa auch zur sog. Subordinationstheorie, die Privatrecht und Öffentliches Recht abgrenzen soll, geführt hat, ist wohl O. Mayer zu verdanken. Als Wesensmerkmal des Verwaltungsakts führte er nämlich an, dass dieser „ein der Verwaltung zugehöriger obrigkeitlicher Ausspruch (sei), der dem Untertanen im Einzelfall bestimmt, was für ihn Rechtens sein soll“ (S. 95). Das Staat-Bürger-Verhältnis erhielt damit eine entscheidende Prägung.
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
nis zuzugestehen, über die Reichweite der Bindung weitestgehend selbständig zu befinden11, überbeansprucht aber den Aussagegehalt der Erkenntnisse O. v. Bülows. Durch den Charakter des Zivilrechts als Ordnungssystem gleichrangiger und freiverantwortlicher Menschen zeigen sie vor allem die Grenze von Gestaltungsbefugnissen innerhalb eines Rechtssystems auf, das die Beziehungen Privater regelt. Ihnen eine Aussage auf das maßgeblich durch staatliche Akteure geprägte Öffentliche Recht zu entnehmen, ersetzte die Begründung für legislative Gestaltungsoptionen und Bindungsintensitäten als Ausfluss von Formulierungsoptionen durch eine primär zivilrechtlich geprägte Erkenntnis. Die beinahe 140 Jahre alte Feststellung führt in dieser Allgemeinheit auch allenfalls zu der Erkenntnis zu beiden Rechtsgebieten, dass Rechtssätze unterschiedlich verbindlich erscheinen und die Möglichkeiten, von Normen abzuweichen, je nach Anwendungsbereich divergieren können. 2. Das begrenzte Erklärungsvermögen einer strengen Dreiteilung von Rechtsfolgentypen An die Stelle einer Übertragung von Gedanken aus anderen Rechtsgebieten12 sollte deshalb eine Analyse unterschiedlicher Formulierungsmöglichkeiten in der Rechtsfolge treten. Dabei befördert die Trennung von Ermessensverwaltung und „gebundener“ Verwaltung „das Missverständnis, als existierten zwei voneinander substantiell trennbare Bereiche der Verwaltung, die gebundene Verwaltung hier und die Ermessensverwaltung dort“ (M. Jestaedt)13. Der Gesetzgeber ist mit Blick auf die Rechtsfolge in seiner Wortwahl (schon durch sprachliche Grenzen) beschränkt. Im System der klassischen Rechtsfolgenlehre kann er nur drei Typen wählen. Die volle Bandbreite von Determination und Intensitäten in der Bindung durch den Gesetzgeber sowie Gestaltungsoptionen durch gesetzesausführende Stellen lassen sich jedoch nicht an drei Stufen – und damit an zwei starren Grenzen – festmachen. Diese Dreiteilung vermag nicht wiederzugeben, wie unterschiedlich Einzelfälle gelagert sind, welche Anpassung mit Blick auf die Rechtsfolge notwendig ist und wie sich eine zu bestimmende Rechtsfolge in die verfassungsmäßige Ordnung einfindet. Die verschiedenen Rechtsfolgentypen können daher nicht starr zu verstehen sein, sondern vielmehr graduell. Folglich muss auch die Bindungskraft „gebundener“ Normen nicht unerschütterlich sein. So gibt es Bereiche, in denen Kollisionen von Verfassungsbelangen eine ungleich höhere Relevanz haben als in anderen Rechtsgebieten. Zu denken ist etwa an das Gefahrenabwehrrecht, in dem Grundrechtspositionen aufgrund der 11
So wohl aber K. Stern, Ermessen, S. 18 f., der O. v. Bülows Erkenntnis als Grundlage für „gebundene“ Normen im Öffentlichen Recht sieht. 12 Auch O. Mayer entwickelte das Verwaltungsrecht mit Anleihen an das Zivilprozessrecht, vgl. H. Ehmke, S. 205. Zur Übernahme bewährter Regelungsmodelle des Zivil- und Zivilprozessrechts in das Verwaltungsrecht siehe L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 142. 13 In: Ehlers / Pünder, Rn. 17.
I. Die divergierende Bindungsdichte einer Norm
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besonderen Wertigkeit der Interessen und des Gefahrenpotentials für die zu schützenden Rechtsgüter einer besonderen Berücksichtigung durch staatliche Stellen unterliegen. Ein aktuelles Beispiel für die begrenzte14 Determinationskraft15 des Gesetzes durch drei Rechtsfolgenoptionen bilden die Ausweisungsregeln im Ausländerrecht. Während die Vorschriften des AufenthG bis 2015 ein dreigestuftes Modell vorsahen, in dem zwischen sog. Muss- („gebundene“ Norm; § 53 AufenthG a. F.), Soll(Soll-Vorschrift; § 54 AufenthG a. F.) und Kann-Ausweisung (Ermessensrechtssatz; § 55 AufenthG a. F.) differenziert wurde, änderte der Gesetzgeber 2015/2016 das System und stellte auf eine einzige „gebundene“ Norm mit einer Interessenabwägung im Tatbestand um (§ 53 Abs. 1 AufenthG n. F.).16 Mögen durch diesen flexiblen Tatbestand auch weiterhin Gestaltungsoptionen für die Behörde bei der Normausführung bestehen, zeigt die „gebundene“ Rechtsfolgenanordnung, dass eine vermeintlich strenge, weil scheinbar volldeterminierte, Rechtsfolgenbestimmung nicht zwingend geringen Spielräumen in der Ausführung korrespondieren muss. Das Beispiel des Ausweisungsrechts verdeutlicht – wie sich in späteren Abschnitten auch noch zeigen wird – dass der Gesetzgeber, obschon er eine „gebundene“ Rechtsfolge und damit die vermeintlich höchste Determinationsdichte gewählt hat, die Bestimmung im Einzelfall verstärkt auf die gesetzesausführende Stelle verlagert hat. Der Änderungsbedarf an der Norm selbst wird dadurch künftig wohl deutlich sinken, weil Anpassungsmöglichkeiten nunmehr vor allem beim Vollzug der Norm bestehen.
14 Diese Beschränkung ist auch eine Ursache für die Existenz von Verwaltung. Prägnant W. Jellinek, S. 28: „Der allweise Gesetzgeber würde die gebundene Verwaltung rein durchführen. Denn da er alle Verhältnisse, auch die künftigen und unwahrscheinlichsten, genau übersieht, kann er die Verwaltungsbehörden mit bindenden Anweisungen für jeden Einzelfall versehen.“ Im hier erwähnten Zusammenhang entwickelte er als Gegenpart zum „allweisen Gesetzgeber“ den „allweisen Verwaltungsbeamten“. Beide seien „zwei unerreichbare (…) Ideale“, weshalb „gebundene Verwaltung“ und die Verwaltung nach „freiem Ermessen“ in Ausgleich zu bringen seien und miteinander verbunden werden müssten (W. Jellinek, S. 28 f.). 15 Die begrenzte Steuerungskraft des Gesetzes und die daraus resultierende Anwendung der Verhältnismäßigkeit auch bei Verwaltungsentscheidungen auf „gebundener“ Normbasis postuliert auch C. Wellhöfer, S. 179. 16 Siehe zu den Motiven für diese Änderung S. Beichel-Benedetti, in: Huber, AufenthG, Vorb. zu §§ 53–56, Rn. 1: Ursächlich für die Umgestaltung dieser Regelungen sei gewesen, dass „mit (dem) weitgehend mit Typisierungen arbeitenden Regelungsmodell die Hoffnung verbunden (gewesen ist), die Ausweisung für die Ausländerbehörden zu vereinfachen und damit Rechtssicherheit zu schaffen“ und sich „diese Hoffnung (…) nicht erfüllt“ habe. In diesem Sinne hatte sich auch die Regierung selbst in ihrem Gesetzentwurf geäußert: „Die Beseitigung von Rechtsunsicherheiten im Ausweisungsrecht soll zudem die Arbeit der Ausländerbehörden erleichtern.“ (BT-Drs. 18/4097, S. 49).
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
3. Anlass für eine Neubewertung „gebundener“ Normen17 Hinsichtlich der Verbindlichkeit von Normen existieren somit unterschiedliche Grade. Wortlaut und Verbindlichkeit müssen in einem Zusammenhang gesehen werden. Die Schlussfolgerung der klassischen Lehre von streng getrennten Rechtsfolgentypen und vollständig durch das Gesetz determinierten Entscheidungen, die lediglich einer administrativen Ausführung bedürfen, lässt sich aus diesen Feststellungen jedenfalls nicht zwingend ableiten. Dieses klassische Verständnis – von Abweichungen in den letzten Jahren abgesehen18 – wird weit überwiegend nur noch tradiert und nicht mehr begründet. Insbesondere die gängige Grundannahme19, bei der Ausführung „gebundener“ Normen könne die Verhältnismäßigkeit – und folgerichtig auch weitere Verfassungsbestimmungen – keine Anwendung beanspruchen, erscheint mangels Dispenses für sonstige Verfassungsbestimmungen diskussionswürdig. Die Verfassung kennt – trotz oder gerade aufgrund der legislativen Determination – keine geltungsfreien Räume.
II. Die unverhältnismäßige Einzelfallmaßnahme auf „gebundener“ Normbasis: Ausnahmslos ein Problem der Norm oder gar Kollateralschaden? Erkennt man die beschränkten faktischen (Schaffung abstrakter Normen) und rechtlichen (Verbot des Einzelfallgesetzes, Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG) Möglichkeiten des Gesetzgebers zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit an, ist es die Pflicht der Legislative, im Rahmen der Normsetzung die Herstellung jener Gerechtigkeit durch die Normanwendung sicherzustellen oder zumindest nicht zu verhindern. Der klassischen Rechtsfolgenlehre ist das Problem unverhältnismäßiger (atypischer) Einzelfälle auf der Grundlage von „gebundenen“ Normen nicht gänzlich fremd. Kommt es zu einer derartigen Situation, scheint es im Verständnis einer streng „gebundenen“ Rechtsfolgenanordnung zwei Lösungsmöglichkeiten zu geben. 17 Die Neubewertung klassischer Institute der Rechtswissenschaft ist generell auch ein Anliegen der Neueren Verwaltungswissenschaft. So auch W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 114: „Traditionelle Rechtsinstitute bedürfen der Neujustierung, wie beispielhaft am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gezeigt werden soll.“ 18 Siehe hierzu die Entwicklung Rechtsprechung in Teil C. 19 So aus der verfassungs- und der verwaltungsrechtlichen Literatur statt vieler etwa S. Detterbeck, Rn. 243; W. Erbguth / A. Guckelberger, § 14, Rn. 53; M. Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114, Rn. 13 f.; B. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 VII, Rn. 123; H. Jarass / Pieroth, GG, Art. 20, Rn. 127; M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 148; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 189. Weitere Nachweise bei T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 154, Fn. 85, und V. Mehde, DÖV 2014, S. 541, Fn. 6. Abweichend davon aber insoweit, dass Abweichungen theoretisch möglich seien, etwa bei offensichtlich unangemessenen Verwaltungsakten oder einer Unvollständigkeit des Rechts, I. Kraft, BayVBl. 2007, S. 580 f. und R. Weimar, DÖV 2009, S. 936 f. (auch wenn er eine Arbeit contra legem strikt ablehnt). Siehe ferner L. Michael / Morlok, Rn. 612, und C. Wellhöfer, S. 172 ff.
II. Die unverhältnismäßige Einzelfallmaßnahme
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Die erste Erklärungsmöglichkeit ist eine besonders konsequente Weiterführung der strengen Trennung zwischen der Verhältnismäßigkeit der Norm und der Verhältnismäßigkeit des Einzelfalls. Da es im herrschenden Verständnis keine Verhältnismäßigkeitsüberprüfung des Einzelfalls bei der Ausführung „gebundener“ Normen geben kann, müsste ein unverhältnismäßiger Einzelfall auf der Grundlage einer „gebundenen“ Norm zwangsläufig zur Verfassungswidrigkeit der Norm führen, sofern andere Lösungswege (z. B. eine verfassungskonforme Auslegung) kein anderes Ergebnis ermöglichen. Da es dem Gesetzgeber bei der Schaffung von Gesetzen nicht möglich sein wird, auch den außergewöhnlichen Sonderfall zu erkennen und zu berücksichtigen, würde ein solches Verständnis den Bestand von Normen aufgrund zu häufiger Verwerfung stark gefährden und wird daher in dieser Strenge so wohl auch nicht vertreten. Der zweite Erklärungsansatz basiert ebenfalls auf der Trennung der beiden Bezugspunkte der Verhältnismäßigkeit (Norm und Einzelakt). Sofern die Anwendung einer „gebundenen“ Norm in einem atypischen Einzelfall zu einem unverhältnismäßigen Ergebnis führt, die Norm ansonsten aber weit überwiegend verfassungsgemäße Rechtsfolgenkonkretisierungen ermöglicht, sollen diese atypischen Einzelfälle als Kollateralschäden für den Verwaltungsadressaten hinzunehmen sein.20 Unter Rekurs auf die Radbruch’sche Formel21 wird allenfalls die „extrem unverhältnismäßige“ Einzelfallmaßnahme aus dem Anwendungsbereich einer Norm entzogen und eine Nichtanwendung der „gebundenen“ Rechtsfolge ermöglicht. Anspruch dieser Untersuchung wird es sein, die Schwächen des streng „gebundenen“ Normverständnisses darzulegen und ein alternatives Modell zu entwickeln, mit dem unverhältnismäßige Einzelfälle auf „gebundener“ Normbasis innerhalb des geltenden Rechts aufgelöst werden können. Das überkommene Verständnis vom Verhältnis von Einzelfallgerechtigkeit und Normdetermination berücksichtigt nur unzureichend die Interessen der verschiedenen Verfassungsakteure und schwächt einerseits durch eine vorschnelle Normverwerfung die Autorität von Parlamentsgesetzen (erster Erklärungsansatz), duldet aber stattdessen (oder zusätzlich) durch unverhältnismäßige Einzelfallanordnungen sehenden Auges „gerechtigkeitsfreie“ Räume (zweiter Erklärungsansatz). Die zu entwickelnde Alternative muss insbesondere zum Ausdruck bringen, dass neben den starren Polen der Anwendung von verfassungsmäßigen und der Nichtanwendung verfassungswidriger Normen Abstufungen möglich und verfassungsrechtliche Belange in Ausgleich zu bringen sind. 20
T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 170 f.; K. Naumann, DÖV 2011, S. 101; T. Westerhoff, S. 134 mit Verweis in Fn. 848. 21 „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“ (G. Radbruch, S. 216). Vergleiche dazu die Nachweise, einschließlich der Entstehung des Ausdrucks, bei B. Hoffmann, S. 32 ff. Siehe zum Rekurs auf G. Radbruch auch E. I. 9.
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
Der Gesetzgeber erfüllt, so die Prämisse, durch das Mittel des Gesetzes eine vorbestimmende Aufgabe bei der Herstellung gerechter Zustände. Das Gesetz ist im Sinne einer Vorab-Definition von Gerechtigkeit das Breiteninstrument zur Beeinflussung der Lebenswirklichkeit. Der Gesetzgeber kann mit dem Gesetz aber nur die Herstellung (seiner Vorstellungen) von Gerechtigkeit im Regelfall verfolgen. Durch die abstrakt-generelle Art sind Normen nur bedingt geeignet, stets gerechte (im Sinne von verhältnismäßigen) Zustände im Einzelfall herzustellen. Insbesondere die Verarbeitung von im Einzelfall relevanten, auf Normebene schwer zu berücksichtigenden, Verfassungsbelangen ist bei der Anwendung von „gebundenen“ Normen nach dem herrschenden Verständnis kaum möglich.
III. Umfassende Einzelfallgerechtigkeit als Anspruch von Normanwendung Bei der Entwicklung alternativer Modelle zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit bei „gebundenen“ Normen müssen aber zwei verfassungsrechtliche Belange berücksichtigt werden, die „gebundene“ Normen erreichen sollen: Durch eine streng kategoriale Abstufung der verschiedenen Rechtsfolgentypen, verbunden mit einem „zwingenden“ Bindungsverständnis bei „gebundenen“ Normen, soll der Gesetzgeber Rechtssicherheit und Gleichheit schaffen. 1. Eingeschränkte Rechtssicherheit durch „gebundene“ Normen „Gebundene“ Normen, so man sie denn als abweichungsresistent bei der Ausführung versteht, erhöhen grundsätzlich die Voraussehbarkeit der durch den Gesetzgeber vorgesehene Rechtsfolgenanordnung, weil diese – den Eintritt der Tatbestandsvoraussetzungen unterstellt – mangels Umsetzungsalternativen nach gängigem Verständnis nur noch angeordnet (also umgesetzt) werden müssen. Dadurch steigt für den Bürger die Vorhersehbarkeit staatlichen Verhaltens und – eine hohe Umsetzungsquote und keine Vollzugsdefizite unterstellt – die Autorität des Gesetzgebers wird verstärkt.22 Der herrschenden Lesart folgend, entfaltet die Rechtssicherheit zugleich eine ambivalente Wirkung auf den Bürger, gibt sie ihm nicht nur in der Begünstigungssituation Planungssicherheit, sondern belegt ihn auch im Falle einer belastenden „gebundenen“ Norm mit der Sicherheit der Einschränkung seiner Rechtspositionen. Gleichwohl gibt es Einschränkungen. Besonders bei begünstigenden „gebundenen“ Normen ist die vermeintliche Alternativlosigkeit in der Rechtsfolgenbestimmung für den Bürger besonders bedeut 22
Dass die Rechtssicherheit bei Verwaltungsentscheidungen auf „gebundener“ Normbasis durch eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sinken kann, glaubt T. Westerhoff, S. 149 f., zu erkennen. Siehe ferner a. a. O., S. 110 ff. sowie T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 173, und K. Naumann, DÖV 2011, S. 99.
III. Umfassende Einzelfallgerechtigkeit als Anspruch von Normanwendung
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sam.23 Zu denken ist etwa an die landesrechtlichen Generalklauseln zur Erteilung der Baugenehmigung (§ 72 Abs. 1 S. 1 Musterbauordnung (MBO)). Kann der Bauherr dafür sorgen, dass öffentlich-rechtliche Vorschriften einem Bauvorhaben nicht entgegenstehen, erhält er mit Blick auf Dispositionen (z. B. Grundstückskauf und Darlehensaufnahme) Sicherheit. Dieses verfassungsrechtliche24 Erfordernis wird vornehmlich durch die „Gebundenheit“ der Rechtsfolgenanordnung eingelöst. Ähnliches lässt sich im Ausländerrecht beobachten. Bei der großen Überarbeitung des Ausländergesetzes im Jahr 1990 stellte die SPD-Fraktion zum Gesetzentwurf der Bundesregierung im Hinblick auf die Verwendung des Ermessensbegriffs fest, dass das Rechtsstaatsprinzip gebiete, „daß der Gesetzgeber die staatliche Eingriffsweite selbst abgrenze und dies nicht dem Ermessen der Verwaltung überlasse“.25 Auch mit Blick auf die Erfüllung der begünstigenden Aufenthalts- bzw. Einbürgerungsregelungen trat dieses Motiv zutage: „Ihnen [also den Ausländern] durch einklagbare Ansprüche Rechtssicherheit zu geben, Klarheit zu geben für ihre Lebensplanung, das ist eines der wesentlichen Anliegen dieses Gesetzes, und darin gibt es entscheidende Fortschritte gegenüber der gegenwärtigen Ermessensfreiheit der Verwaltung.“26 Sinn der Ausgestaltungen der auch „gebundenen“ Normen sei es, dass „die Ermessensfreiheit der deutschen Behörden auf ein Minimum beschränkt wird“.27 Die „Unsicherheiten und die Unberechenbarkeit für die ausländischen Mitbürger, die auf Grund der vielen, vielen Ermessenstatbestände des Gesetzes von 1965 entstanden waren“, würden durch „klare Rechtsansprüche“ beseitigt.28 Auch bei der großen Änderung des Ausweisungsrechts 2015/2016 führte der Regierungsentwurf an, dass durch die „Umstellung des Ausweisungsrechts“ ein System geschaffen werde, „was zu schneller Rechtssicherheit führt“.29 Diese Reform des Ausweisungsrechts verdeutlicht aber auch, dass eine „gebundene“ Norm nicht immer zu einer erhöhten Rechtssicherheit führen muss. Unbestimmte Rechtsbegriffe oder Verhältnismäßigkeitsprüfungen im Tatbestand einer Norm relativieren die Voraussehbarkeit staatlichen Handelns und führen allenfalls 23
In dem von der SPD-Bundestagsfraktion am 7. November 2016 vorgestellten Entwurf eines Einwanderungsgesetzes war die Rechtssicherheit für Einwanderungsinteressierte und potentielle Arbeitgeber auch ein maßgebliches Motiv. So heißt es etwa: „Der Nachteil der aufgezeigten Zuwanderungsoptionen nach dem Aufenthaltsgesetz besteht zudem in einer Vielzahl von bestehenden Ermessensregelungen, die auf Grund des grundsätzlichen Erwerbstätigkeitsverbots sowohl für Einwanderer als auch für deutsche Arbeitgeber wenig Rechtssicherheit bieten.“ (S. 10; Quelle: http://www.spdfraktion.de/system/files/documents/einwanderungsgesetzspd-bundestagsfraktion.pdf). 24 Vgl. H.-J. Papier, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 14, Rn. 90: „Der verwaltungsrechtliche Anspruch auf Erteilung einer Baugenehmigung ist Bestandteil der verfassungskräftigen (Grund-) Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1.“ 25 BT-Drs. 11/6960, S. 19. 26 B. Hirsch, BT-Plenarprotokoll 11/195, S. 15031. 27 B. Hirsch, BT-Plenarprotokoll 11/195, S. 15031. 28 J. Gerster, BT-Drs. 11/207, S. 16275. 29 BT-Drs. 18/4097, S. 29.
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
mit Blick auf die konkrete Art der Rechtsfolge zu einer erhöhten Prognostizierbarkeit. Gerade zur Vermeidung von Unbilligkeiten sind offene oder verhältnismäßigkeitsinkludierende Tatbestände zwar ein naheliegendes Instrument, schwächen aber die Vorhersehbarkeit in der Gesetzesausführung ab, da das die Unvorhersehbarkeit fördernde Merkmal nur in den Tatbestand überführt wird, ohne dass das Ergebnis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung besser zu prognostizieren wäre. Dass allein die „gebundene“ Formulierung der Norm in der Rechtsfolge noch keine Rechtssicherheit bringt, lässt sich auch an § 39 Abs. 2 IfSG nachvollziehen. Danach „hat“ die Behörde bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen die „notwendigen Maßnahmen“ zu ergreifen. Obwohl die Rechtsfolge als „gebunden“ konzipiert ist, kann der Bürger das Handeln der Behörde im Einzelfall nicht besser vorhersehen, als beispielweise im Rahmen der polizeilichen Generalklausel (z. B. § 8 Abs. 1 S. 1 PolG NRW), die als Ermessensklausel formuliert ist, aber ebenfalls von den „notwendigen Maßnahmen“ spricht. Diese Formulierung ist so unbestimmt, dass unter Umständen sogar auch ein Unterlassen des behördlichen Eingreifens die „notwendige Maßnahme“ sein kann. Für den Bürger bringt diese „gebundene“ Norm daher keine gesteigerte Rechtssicherheit. Auch aufgrund einer weiteren Erkenntnis gilt es, die Bedeutung der Rechtssicherheit durch „gebundene Normen“ zu relativieren. Bei belastenden „gebundenen“ Normen wird dem Bürger nämlich nur Rechtssicherheit in der Nachteilsgewährung zuteil. Kann er sich sonst auf die Belastungen einstellen30, stellt sich eine Abweichung von der (dann ausbleibenden) Belastung nicht als sonderlich schwerwiegend dar. Schließlich ist die Aussicht auf Unklarheit besser als eine voraussehbare, aber unter Umständen unverhältnismäßige, Belastung. So ist es für einen Ausländer vorteilhafter, wenn es die – wenn auch geringe – Wahrscheinlichkeit gibt, dass von der Rechtsfolge der Ausweisung abgewichen wird und er Deutschland womöglich doch nicht verlassen muss, als die Gewissheit zu haben, einer Ausweisung unter keinen Umständen entgehen zu können, zumal er sich nicht zwingend gegen die Ausweisung gerichtlich wehren muss. Zwar kann er sich ohne Abweichungsmöglichkeit auf die Ausweisung besser einstellen. Dies ist aber im Hinblick auf Abweichungen nur in außergewöhnlichen Ausnahmefällen ein überschaubarer Nachteil, sofern dadurch unverhältnismäßige Ausweisungen abgewendet werden können. 2. Der vermeintlich gleichheitssichernde Charakter „gebundener“ Normen Verneint man, dem herrschenden Verständnis entsprechend, die Anwendungsmöglichkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Ausführung „gebundener“ Normen, können Proportionalitätserwägungen – den Eintritt des Tatbestands 30
Dazu auch T. Westerhoff, S. 111.
III. Umfassende Einzelfallgerechtigkeit als Anspruch von Normanwendung
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unterstellt31 – die Rechtfolgenanordnung nicht beeinflussen. Bei der konkreten Bestimmung der Rechtsfolge führen „gebundene“ Normen auf den ersten Blick zu Gleichheit, da in allen Fällen, die unter den Tatbestand subsumiert werden, die gleiche Rechtsfolgenanordnung getroffen wird.32 Die Beachtung der Gleichheit in der konkreten Bestimmung der Rechtfolge scheint bei „gebundenen“ Normen automatisch gewährleistet. (Im Tatbestand) Gleichgelagerte Fälle führen zur gleichen Rechtsfolge – Art. 3 Abs. 1 GG erscheint mit Blick auf die Rechtsfolge normtypenimmanent verwirklicht.33 Zunächst gilt es aber, den genauen Bedeutungsinhalt des allgemeinen Gleichheitssatzes mit Blick auf „gebundene“ Normen offenzulegen. Zu differenzieren ist zunächst zwischen den Maßstäben des Willkürverbots und der – durch die „neue Formel“ des Bundesverfassungsgerichts34 geprägten – Verhältnismäßigkeitsprüfung von Ungleichbehandlungen. Mag auch die Verhältnismäßigkeit – ganz im Verständnis der dargestellten klassischen Rechtsfolgenlehre – nicht anwendbar sein, kann das Willkürverbot auch durch „gebundene“ Normen nicht dispensiert sein. Da das Willkürverbot auch in der Menschenwürde wurzelt35, darf das Verständnis „gebundener“ Normen dazu nicht in Widerspruch stehen. Die willkürliche (Nicht-) Anwendung „gebundener“ Normen stellt folglich sehr wohl einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG dar, auch wenn die Verhältnismäßigkeit nach herrschendem Verständnis keine Anwendung findet. Die Behauptung, Art. 3 Abs. 1 GG sei bei „gebundenen“ Normen generell nicht anwendbar36, ist somit zu pauschal, auch wenn es sich bei den Fällen, die am Maßstab von Art. 3 Abs. 1 GG bei „gebundenen“ 31 Regelmäßig getrennt wird die Berücksichtigung von Art. 3 Abs. 1 GG bei der Bestimmung der Rechtsfolge (also als Grenze administrativen Handelns) von der Berücksichtigung gleichheitsrechtlicher Erwägungen im Tatbestand (bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen). Mag Art. 3 Abs. 1 GG mitunter bei „gebundenen“ Normen auch nicht bei der Rechtsfolgenbestimmung als Maßstab dienen, kann (und ggf. muss) er bei der Bestimmung von Tatbestandsmerkmalen Berücksichtigung finden. Das ist aber auch eine Diskussion über alternative Berücksichtigungsmöglichkeiten verfassungsrechtlicher Belange bei der Rechtsfolgenbestimmung und mitunter von der Suche nach der einzelfallgerechten Rechtsfolge zu trennen, da damit die „Vorzeichen“ geändert werden, weil eine neue Bewertungssituation (durch eine divergierende Auslegung eines Tatbestandsmerkmals) geschaffen wird. Zu einer gemeinsamen Berücksichtigung von Tatbestand und Rechtsfolge siehe D. III. 1. 32 So etwa T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 173, und K. Naumann, DÖV 2011, S. 101: Durch „gebundene“ Normen lasse sich Rechtsanwendungsgleichheit herstellen. Im Ergebnis auch R. Mußgnug, S. 51. U. Scheuner, DÖV 1969, S. 588, spricht allgemein vom „egalitäre(n) Zug (…) strikteste(r) Gesetzesbindung“. 33 So etwa W. Heun, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 3, Rn. 56, und C. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1, Rn. 265. Dahinter verbirgt sich das Verständnis, dass die Grundrechtsbindung durch die Gesetzesbindung „mediatisiert“ sei. So auch H. Dreier, Die Verwaltung 36 (2003), S. 106, 114: Der unmittelbare Grundrechtsdurchgriff sei dem Rechtsanwender (bei ihm: der Judikative) verwehrt. Siehe zur Mediatisierung auch U. Scheuner, DÖV 1969, S. 588, und H.-D. Horn, S. 187. 34 Vgl. bspw. BVerfGE 55, 72, 88; 82, 126, 146; 88, 87, 96 f.; 92, 365, 407. 35 M. Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 120. 36 So T. Westerhoff, S. 179.
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
Normen nach klassischer Rechtsfolgenlehre aufgehoben werden können, um außergewöhnliche handeln dürfte. Ob bei der Ausführung „gebundener“ Normen die Anwendung der Rechtsfolge auch verhältnismäßig sein muss (und nicht bloß nicht willkürlich), kann an dieser Stelle noch nicht abschließend beurteilt werden. Sofern sich – wie in dieser Untersuchung angedacht – Änderungen mit Blick auf die Verbindlichkeit der Normtypen ergeben, darf Art. 3 Abs. 1 GG als maßstabsetzender Gleichbehandlungsgarant nicht aus den Augen verloren werden. Eine Lockerung des strengen Verständnisses „gebundener“ Normen verlangt eine Neubewertung des Verhältnisses von Art. 3 Abs. 1 GG und „zwingender“ Rechtsfolge, zumal eine verfassungsgebotene Differenzierung ebenfalls Ausfluss des allgemeinen Gleichheitssatzes sein kann.37 3. Einzelfallgerechtigkeit als übergeordnetes Ziel staatlichen Handelns Erscheint der Einsatz „gebundener“ Normen zur Erreichung von Rechtssicherheit und Gleichheit trotz der Einschränkungen auch grundsätzlich ein probates Mittel zu sein, lohnt es sich, den dienenden Charakter beider Motive zur Verwirklichung von Gerechtigkeit, die das Ziel staatlichen Handelns bleibt, zu betonen. Da Rechtssicherheit und Gleichheit keine Selbstzwecke sind und sich als Mittel zur Herstellung der Einzelfallgerechtigkeit erweisen, muss eine Abweichung vom herrschenden Rechtsfolgenverständnis nicht primär die Rechtfertigung von Einschränkungen der beiden genannten Verfassungsbelange zum Maßstab erheben, sondern konkret ermitteln, ob Einzelfallgerechtigkeit auch unter Berücksichtigung der beiden Belange hergestellt werden kann. Dabei bilden die Prognostizierbarkeit des Rechts und die grundsätzliche Gleichbehandlung der Menschen wichtige, weiterhin zu berücksichtigende Elemente, können aber die Fähigkeit zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit nicht für sich allein in Anspruch nehmen. Einzelfallgerechtigkeit in und nach der Normanwendung ist die Existenz ausgeglichener Zustände und die Berücksichtigung (möglichst) aller Interessen in einer (vorgangsbezogen) auswägenden und (ergebnisbezogen) ausgewogenen Art und Weise. Die gesetzgeberische Vorstellung von Gerechtigkeit ist selbst wiederum nur eine (für die Bestimmung der konkreten Rechtsfolge freilich sehr bedeutsame) Abwägung von Interessen, aus der ein Abwägungsergebnis (in der Regel eine gesetzliche Regelung) hervorgeht, das seinerseits zu einem (sehr bedeutsamen) Abwägungsbelang bei der Herstellung verhältnismäßiger Zustände im Einzelfall wird. Gesetzgeberisches Handeln ist bei der Bestimmung des im Einzelfall Gerechten dadurch begrenzt, dass es nur eine mögliche Konkretisierung von Gerechtigkeit ist, da das Parlament durch die Erschaffung, Änderung, Ergänzung und Streichung von Rechtsnormen bestimmt, was in seinen Augen gerecht ist. Unterschiedliche poli 37
Dazu insgesamt E. I. 6.
III. Umfassende Einzelfallgerechtigkeit als Anspruch von Normanwendung
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tische Akteure definieren Gerechtigkeit verschiedentlich und versuchen sie durch abweichende Mittel zu erreichen. Der Gesetzgeber zeichnet diese Gerechtigkeit durch die Gesetze vor, die Verwaltung versucht sie durch Gesetzesanwendung im Einzelfall zu erreichen und die Gerichte nehmen durch die Kontrolle die abschließende Beurteilung (in der Regel im Einzelfall) vor. Einzelfallgerechtigkeit wird bei der Anwendung „gebundener“ Normen aber nicht immer eingelöst. Dafür bietet sich ein einfaches Beispiel an, das beliebig auf andere „gebundene“ Normen übertragen werden kann. § 3 Abs. 1 StVG bestimmt „zwingend“, dass eine Fahrerlaubnis zum Führen von Kraftfahrzeugen zu entziehen ist, wenn einer Person die Eignung oder Befähigung dazu fehlt. Stellt man sich nun einen ungeeigneten Inhaber einer Fahrerlaubnis vor, ist nach herrschender Lesart diese Entziehung zwingend auszusprechen. Es kann nun aber Fälle geben, in denen sich eine Fahrerlaubnisentziehung trotz der fehlenden Eignung oder Befähigung als unverhältnismäßig erweist, weil auf sonstige Belange, etwa die Grundrechte des Betroffenen, nicht ausreichend Rücksicht genommen wird. So sieht die Norm auch etwa keine ausdrückliche Differenzierung zwischen einer beruflich notwendigen oder ausschließlich privat genutzten Fahrerlaubnis sowie dem Führen von Kraftfahrzeugen in Großstädten und im ländlichen Bereich vor. Unverhältnismäßigkeit könnte etwa vorliegen, wenn der ungeeignete Inhaber der Fahrerlaubnis keinerlei Gefährdung für Einzelne oder die Allgemeinheit darstellt (z. B. weil er nur sehr kurze und so gut wie nicht befahrene Abschnitte öffentlicher Straßen nutzt, um beispielsweise seinem landwirtschaftlichen Betrieb nachzugehen), er durch die Untersagung aber droht, sozialhilfebedürftig zu werden, weil er zwingend auf die Nutzung eines Kraftfahrzeugs für seinen Lebensunterhalt angewiesen ist. Zwar betont das Bundesverwaltungsgericht immer wieder, dass eine drohende Sozialhilfebedürftigkeit alleine noch nicht genügt, um etwa von der ebenfalls „zwingenden“ Rechtsfolge des § 35 Abs. 1 GewO abzusehen.38 Nur bedeutet eine drohende Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen umgekehrt auch nicht, dass eine Rechtsfolge zwingend verhältnismäßig und damit gerecht sein muss. Da die fehlende Eignung oder Befähigung im Anwendungsbereich des § 3 Abs. 1 StVG im genannten Beispiel feststeht, besteht auch keine Möglichkeit, die (unbestimmten) Tatbestandsmerkmale der Eignung oder Befähigung verfassungskonform auszulegen.39 Der Weg zur Einzelfallgerechtigkeit führt in diesen Fällen über eine verfassungskonforme Rechtsfolgenbestimmung. Als Ausprägung des umfassenden Anspruchs, Gerechtigkeit im Einzelfall herzustellen, wird der Rechtsfolgenanordnung eine wichtige Bedeutung bei der Bestimmung von Alternativen zur klassischen Rechtsfolgenlehre zukommen.
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So etwa in BVerfGE 70, 1, 30. Tatbestand und Rechtsfolge gemeinsam zu interpretieren, stellt eine weitere Möglichkeit dar. Dazu D. III. 39
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
IV. Unterschiedliche Vorstellungen des Gesetzgebers von der Bindungsintensität von Normen Die Vorstellung, wie alternativlos eine „gebundene“ Norm die Exekutive zu binden vermag, changiert in der Wahrnehmung des Gesetzgebers40. Exemplarisch herausgegriffene Beispiele verdeutlichen ein sich stetig veränderndes Bild von den Ansichten der Legislative, wie streng tatsächlich „gebundene“ Normen zu verstehen sind und wie viel oder wenig Spielraum sie insbesondere der Verwaltung lassen. Auch die Wahrnehmung „zwingender Rechtssätze“ ist damit selbst Schwankungen unterworfen und weniger homogen als der flüchtige Blick auf die Typisierung der Rechtsfolgen vermuten lassen könnte. 1. Beispiele für ein schwächeres Determinationsverständnis Exempel aus dem Ausländer- und dem Gewerberecht lassen eine weniger strenge Alternativenbildung bei den Normtypen oder zumindest eine weniger starre Verengung auf nur eine mögliche Rechtsfolge erkennen. Der Gesetzentwurf zum ersten Ausländergesetz41 vom Dezember 1962 sah für die Ausweisung von Ausländern zwar eine Ermessensentscheidung vor, die jedoch mit dem Zusatz versehen war, dass in bestimmten gesetzlich vorgesehenen Ausweisungsfällen nicht geltend gemacht werden könne, die „Ausweisung sei nicht das angemessene Mittel“.42 Es handelt sich insoweit um einen einfach-gesetzlichen Ausschluss des Verhältnismäßigkeitserfordernisses einer Verwaltungsmaßnahme. Nach dem heute herrschenden Verständnis von „gebundenen“ und Ermessensnormen hätte es eines solchen umständlichen und verfassungsrechtlich wohl nicht zu rechtfertigenden Weges nicht bedurft: Eine Konzeption dieser Ausweisungsgründe als „gebundene“ Norm hätte im Verständnis der klassischen Rechtsfolgenlehre ausgereicht, um eine Einzelfallprüfung anhand der Verhältnismäßigkeit auszuschließen. Eine solche Regelungsgestaltung wurde damals aber weder beschritten noch angedacht. Ein ähnliches Verständnis lässt sich bei der Schaffung von § 35 Abs. 1 GewO als „gebundene“ Norm in der ersten Legislaturperiode des Deutschen Bundestags nachvollziehen. Obschon als „gebundene“ Norm konzipiert, ist dem Gesetzentwurf zu entnehmen: „Die Fassung des Absatzes 1 bietet der Untersagungsbehörde genügend Raum, um den jeweils gegebenen Verhältnissen gerecht zu werden. Die Untersagung kann umfangmäßig und zeitlich beschränkt werden.“43 Dieser be 40 Die begrenzte Aussagekraft gesetzgeberischer Vorstellungen wird auch daran erkennbar, dass die Personen, die „den Gesetzgeber“ darstellen bei allen Gesetzgebungsverfahren variieren und unterschiedlichen Einfluss auf die Normschaffung ausüben. Vgl. dazu auch O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 37. 41 BT-Drs. 4/868. 42 Vgl. den Entwurf des § 9 Abs. 2 AuslG in BT-Drs. 4/868, S. 3. 43 BT-Drs. 1/4170, S. 13; ähnlich wieder in BT-Drs. 2/2681, S. 23.
IV. Unterschiedliche Vorstellungen des Gesetzgebers
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wusst allgemein gehaltene Satz betraf wohl nicht nur die Voraussetzungsseite der Norm. Dazu sind die Spielräume auf Tatbestandsseite bei der Gewerbeuntersagung zu gering, da der unbestimmte Rechtsbegriff44 der „Unzuverlässigkeit“ gerichtlich voll überprüfbar ist und auch für eine Untersagungsbefristung oder -begrenzung keine Anhaltspunkte existieren. Der Gesetzgeber ging trotz einer voll determinierten Entscheidungssituation anscheinend davon aus, dass den Einzelfallumständen Rechnung zu tragen war und dies die Behörde übernehmen würde. Die Möglichkeit der Beschränkungen bezieht sich immerhin auf die Untersagung selbst, also die Rechtsfolge der Norm. Dass es sich dabei nicht um eine einzelne, gegebenenfalls missverständliche, Aussage handelt, verdeutlichen die Beratungen im Wirtschaftsausschuss des Bundestags. Im Protokoll der Sitzung vom 26. November 1958 heißt es: „Im weiteren Verlauf der Debatte geht Abg. Dr. Barzel auf die der Vorschrift innewohnende wirtschafts-, sozial- und rechtspolitische Problematik ein, die sich daraus ergäbe, daß es in das Ermessen einer Verwaltungsbehörde gestellt werde, unabhängig von bzw. zusätzlich zu einer strafrechtlichen Verurteilung noch eine Gewerbeuntersagung zu verfügen. Er fragt, welcher Schutz gegen Ermessensmißbrauch gegeben sei (…)“.45 Wenn man berücksichtigt, dass zu diesem Zeitpunkt – wie von Anfang an geplant und letztlich auch beschlossen – ausschließlich eine gebundene Norm zur Beratung stand, das Protokoll von neutraler und sachlicher Stelle geschrieben ist und es sich beim Ausschussmitglied um den promovierten Juristen R. Barzel handelt, stellt man schnell fest, dass das in diesem Gesetzgebungsverfahren geäußerte Verständnis jenes Normtypus mit demjenigen in anderen Gesetzgebungsverfahren nicht identisch gewesen sein kann.46 Dass sich der Unterscheidbarkeit der Normtypen durch die Formulierung auch eine andere Bedeutung beimessen lässt, kann an jenem Gesetzgebungsverfahren nachempfunden werden, in dem § 35 Abs. 1 GewO letztlich beschlossen wurde. Nach einem Anlauf in der ersten Wahlperiode des Bundestags und zahlreichen Verzögerungen, u. a. wegen verfassungsrechtlicher Bedenken, hatte die DP-Fraktion die Initiative ergriffen und einen Entwurf in den Bundestag eingebracht, der u. a. § 35 Abs. 1 GewO folgendermaßen fassen wollte: „Die Ausübung eines Gewerbes kann ganz oder teilweise (…) untersagt werden“47. Nachdem die Regierung in der ersten Legislaturperiode bereits einen Entwurf einer „gebundenen“ Norm 44
Zu unbestimmten Rechtsbegriffen siehe M. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Rn. 23 ff. PA-DBT 4000 III/167, Bd. A1, lfd. Nr. 22, S. 25/8. 46 Auch die Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums nahmen in jener Ausschusssitzung Stellung. Im Hinblick auf „gebundene“ Normen verwundert, anknüpfend an R. Barzels Äußerungen, findet sich diese Protokollformulierung: „Den Verwaltungsgerichten sei auch schon bisher die Prüfung des Ermessensmißbrauchs übertragen gewesen.“ (PA-DBT 4000 III/167, Bd. A1, lfd. Nr. 22, S. 25/10) Ähnlich dann auch wieder in der Ausschusssitzung vom 18. März 1959: Die Handhabung des Begriffs der Unzuverlässigkeit in bestimmten Verordnungen in der Weimarer Republik „habe zu keinerlei Schwierigkeiten in dem von Abg. Prof. Böhm [Berichterstatter] befürchteten Sinn (Ermessensmißbrauch) geführt.“ (PA-DBT 4000 III/167, Bd. A1, lfd. Nr. 25, S. 39/4). 47 BT-Drs. 2/1729 (Hervorhebung nur hier). 45
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
eingebracht hatte48, wich der DP-Entwurf davon ab – ohne den geänderten Wortlaut zu begründen. Nachdem man sich im Ausschuss darauf verständigt hatte, den DP-Entwurf bis zu einer Vorlage durch die Regierung zurückzustellen49, wurde diese Vorlage auch tatsächlich eingebracht50 und sah dabei erneut eine „gebundene“ Rechtsfolge vor. Da auch dieses Gesetzgebungsverfahren vom Ablauf der Legislaturperiode unterbrochen wurde, fand eine erneute Einbringung in der dritten Wahlperiode des Bundestags statt51 – erneut als „gebundene“ Norm. In den langen Beratungen zur Schaffung der Norm thematisierten die DP-Ausschussmitglieder, soweit ersichtlich, diese Abweichung in der Formulierung nicht und die DP-Fraktion verzichtete in ihrem Änderungsantrag am Ende des Gesetzgebungsverfahrens52 darauf, diese Formulierung abändern zu wollen. Der Formulierung kann keine überragende Bedeutung beigemessen worden sein, sonst wäre zumindest im Ausschuss darüber diskutiert worden. Diese Beobachtung kann die Bedeutung eines Rechtsfolgenwortlauts für den Gesetzgeber relativieren: Bei der Normschaffung stehen offenkundig materielle Diskussionen im Mittelpunkt und nicht zwingend die Ausgestaltung einer Rechtsfolge53.54 2. Beispiele für eine strenge Alternativenbildung zwischen Rechtsfolgentypen durch den Gesetzgeber Beispielhaft lässt sich die Intention einer strengen Rigidität „gebundener“ Normen aber etwa bei der Schaffung des erneuerten Ausländergesetzes von 1990 beobachten. Auch hier lassen sich erneut Belege für eine begünstigende und eine belastende Norm finden. In der Gesetzesbegründung zu den (belastenden) Ausweisungstatbeständen wurden damals sehr systematisch verschiedene Verwaltungstypen tabellarisch aufgelistet, die das neue Ausländergesetz für Ausweisungen beinhalten sollte. Im Entwurf wurden sauber Kann-, Regel- und Ist-Ausweisung voneinander geschieden und in ein streng zu trennendes System eingefügt. So sollte im Falle der Anwendbarkeit 48
BT-Drs. 1/4170. PA-DBT 4000 II/1111–1116, Bd. A, lfd. Nr. 4, S. 2. 50 BT-Drs. 2/2681. 51 BT-Drs. 3/318. 52 PA-DBT 4000 III/167, Bd. A1, lfd. Nr. 37. 53 Bei der Schaffung des § 12 BBG im Jahr 1951 unterschied der Gesetzgeber bewusst zwischen einer obligatorischen („Eine Ernennung ist zurückzunehmen“) und einer fakultativen („Eine Ernennung kann zurückgenommen werden“) Rücknahme der Ernennung von Beamten (vgl. BT-Drs. 1/4246, S. 7). 54 Anders aber bei der Änderung der Ausweisungsgründe des AufenthG im Jahr 2015/2016. Dort bemängelte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei der Schaffung des neuen § 53 AufenthG als „gebundene“ Norm: „Die Ausgestaltung der Ausweisung als gebundene Entscheidung [ist] abzulehnen, da sie mit der Systematik des Ordnungsrechts nicht übereinstimmt. Zahlreiche ordnungsrechtliche Vorschriften kombinieren eine Abwägung auf Tatbestandsseite mit einer Ermessensausübung auf Rechtsfolgenseite.“ (BT-Drs. 18/5420, S. 21). 49
IV. Unterschiedliche Vorstellungen des Gesetzgebers
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einer Kann-Ausweisung nach pflichtgemäßen Ermessen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls über die Ausweisung entschieden werden, während bei Regel-Ausweisungen nur dann von einer Ausweisung abgesehen werden sollte, wenn besondere entlastende Umstände des Einzelfalls vorlagen.55 Die bloße Feststellung, dass bei einer „Ist-Ausweisung“ „bei Vorliegen des Ausweisungsgrundes (…) der Ausländer auszuweisen“ ist56, wirkt zwar zur Definition dieses Typus noch ergänzungsbedürftig, lässt aber auf ein gefestigtes Verständnis jenes Verwaltungstypus schließen. Auch die damalige bewusste Abkehr von ausschließlich Ermessensentscheidungen hin zu einem abgestuften System mit unterschiedlichen Rechtsfolgentypen, verdeutlicht eine stärkere Bereitschaft zur Differenzierung an Rechtsfolgen durch den Gesetzgeber.57 Aber auch bei den adressaten-begünstigenden Regelungen zum Aufenthaltsstatus zeigte sich das Ziel, „gebundene“ Normen wirklich als zwingend zu verstehen. So stellten nämlich der damalige Innenminister W. Schäuble58 und der FDP-Abgeordnete B. Hirsch59 in ihren Reden heraus, dass Ermessensspielräume für die Verwaltung abgeschafft werden und Rechtsklarheit im Umkehrschluss aus 55
BT-Drs. 11/6321, S. 50. BT-Drs. 11/6321, S. 50. 57 Die Bundesregierung begründete dies u. a. wie folgt (BT-Drs. 11/6321, S. 43): „Das Ausländergesetz von 1965 kennt außer den beiden zwingenden Versagungsgründen in § 2 Abs. 1 Satz 2 und § 15 Abs. 1 Satz 1 sowie dem Verbot der Abschiebung politisch Verfolgter in den Verfolgerstaat keine ermessensausschließenden Vorschriften. Im Übrigen ist nach Ermessen zu entscheiden, das nur bei der Ausweisung und Abschiebung durch materielle Eingriffsvoraussetzungen eingeschränkt ist. Demgegenüber sind nach dem Entwurf Ermessensspielräume, soweit es möglich und vertretbar ist, entweder ganz ausgeschlossen oder durch materielle Vorgaben eingeschränkt.“ Gleichwohl wird in diesem Gesetz der erstmals als Kann-Ausweisung gestaltete § 45 AuslG wie folgt begründet (BT-Drs. 11/6321, S. 72): „Im Hinblick darauf, daß die Entziehung des Aufenthaltsrechts den Ausländer im Einzelfall empfindlich treffen kann, ist die Ausweisung in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht nicht als zwingende Rechtsfolge jeder Interessengefährdung angeordnet. Vielmehr ist auch künftig über die Ausweisung grundsätzlich nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, so daß den Umständen des Einzelfalles hinreichend Rechnung getragen werden kann.“ 58 „Ihr Entwurf [gemeint war der Alternativentwurf der SPD-Fraktion, BT-Drs. 11/5637, zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 11/6321] hält im Ergebnis an der Regelung des geltenden Rechts fest, daß die Duldung im Ermessen der Behörde steht und nicht von klaren gesetzlichen Voraussetzungen abhängt. So läßt Ihr Entwurf die Bundesländer völlig allein. Dort, wo der Gesetzgeber wirklich gefordert ist, dort, wo in jeder Hinsicht schwierige politische Entscheidungen zu treffen sind, übt Ihr Entwurf eine bemerkenswert diskrete Zurückhaltung.“ (BT-Drs. 11/195, S. 15027). 59 „Ihnen [den Ausländern] durch einklagbare Ansprüche Rechtssicherheit zu geben, Klarheit zu geben für ihre Lebensplanung, das ist eines der wesentlichen Anliegen dieses Gesetzes, und darin gibt es entscheidende Fortschritte gegenüber der gegenwärtigen Ermessensfreiheit der Verwaltung. (…) Das ist der Sinn unserer gemeinsamen Eckwerte: der erleichterte Erwerb und der Rechtsanspruch auf einen sicheren Aufenthaltsstatus; der erleichterte Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit, bei dem hinsichtlich der zweiten Generation die Ermessensfreiheit der deutschen Behörden auf ein Minimum beschränkt wird (…).“ (BT-Drs. 11/195, S. 15031 f.). Auf diesen Zweck geht auch der SPD-Abgeordnete G. Wartenberg ein (BT-Drs. 11/195, S. 15050): „In diesem Gesetzentwurf ist das, was man eigentlich will, nämlich Rechtssicherheit zu schaffen 56
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begünstigenden streng rechtsfolgengebundenen Normen für die Verwaltung entstehen sollten. In diesen Beispielen gibt es folglich keine Zweifel an einer strengen Alternativität der Normtypen.60 3. Veränderungen in der Wahrnehmung des Gesetzgebers Die angeführten Beispiele erheben natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder nehmen gar die Autorität einer empirischen Untersuchung ein. Es lassen sich aber aus der bundesdeutschen Geschichte einige Exempel mit einem divergierenden Verständnis zur Bindungsintensität „gebundener“ Normen finden. Die Relation zwischen Formulierung und Bindungsintensität ist damit einerseits nicht gleichbleibend und unterliegt Schwankungen. Andererseits war der Zusammenhang aber auch nie völlig bedeutungslos. Es kam zu keiner Zeit zu einer Gleichbehandlung aller Rechtsfolgentypen, da auch in Fällen einer weniger strengen Bindungsintensität Konturen der verschiedenen Rechtsfolgentypen zu erkennen waren. Weder eine vollständige Determination der Verwaltung in der Gesetzesausführung durch den Gesetzgeber noch eine Einebnung der Rechtsfolgentypen lassen sich aus der Selbstwahrnehmung des Gesetzgebers rechtfertigen. Die Bindungsintensität ihrerseits ist damit flexibel. Flexible Lösungen zu suchen steht damit nicht im Widerspruch zur Arbeitsweise des Gesetzgebers, sondern in Übereinstimmung mit seinen eigenen Schwankungen. Hinter den dargestellten Bewegungen lässt sich jedoch kein System erkennen. So lassen etwa klassische Parameter wie Zeit61 oder Rechtsgebiet62 keinen sicheren Rückschluss auf die Bindungsintensität zu. Sollte es künftiger Forschung dennoch gelingen, diesem eigenrational erscheinenden Bereich eine Systematik zu entnehmen, stellten diese Umstände relevante Belange bei der Weiterentwicklung der Dogmatik dar. Etwaigen Besonderheiten (z. B. in Form der bereichsspezifischen Interpretation von Normen oder in Abhängigkeit von dem Zeitpunkt ihrer Erschaffung63)
und Ermessensentscheidungen zurückzudrängen, nicht enthalten. (…) Hiermit ist der Ausländer wieder von einem Beamten abhängig.“ (BT-Drs. 11/195, S. 15031 f.). 60 Ähnlich bei der großen Änderung des GastG 1965, nach der in § 15 sowohl „gebundene“ Rechtsfolgenanordnungen als auch Ermessensnormen vorgesehen waren. Es hieß dazu in der Gesetzesbegründung in BT-Drs. 4/3147 auf Seite 17: „Der Entwurf unterscheidet zwischen Gründen, bei deren Vorliegen die Erlaubnis zum Betrieb eines Gaststättengewerbes zwingend zurückzunehmen ist, und solchen, bei deren Vorliegen die Rücknahme in das Ermessen der Erlaubnisbehörde gestellt ist.“ 61 Die dargestellten Beispiele verdeutlichen beispielsweise, dass es zu Beginn der jungen Bundesrepublik mit Blick auf die Determinationsdichte sowohl bindungsintensivere als auch bindungsschwächere Gesetzgebungsverfahren gab. 62 Auch mit Blick auf die Regelungsbereiche wies kein Rechtsgebiet Besonderheiten auf. 63 Sollte sich zum Beispiel nachweisen lassen, dass die Bindungsintensität heute stärker als früher angenommen wird, könnte eine Schlussfolgerung lauten: Je jünger das Gesetz ist, umso eher muss Wert auf den Willen des Gesetzgebers bei der Unterscheidung zwischen einer Ver-
V. Alternativkonzepte zu „gebundenen“ Normen
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sollten sich in die in dieser Untersuchung zu entwickelnde Alternative zur klassischen Rechtsfolgenlehre einfügen lassen.
V. Alternativkonzepte zu „gebundenen“ Normen Auch abseits von der Formulierung der Rechtsfolge stehen dem Gesetzgeber Gestaltungsmöglichkeiten offen, das Gesetz so zu fassen, dass es Gerechtigkeit im Einzelfall ermöglicht. Dazu gibt er der Verwaltung verschiedene Instrumentarien an die Hand. Diese Notwendigkeit zeigt sich vor allem daran, dass in der Praxis verstärkt nach Alternativen zur Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit gesucht wird.64 1. Geschriebene Härtefallklauseln Möglich65 und auch nicht gänzlich undenkbar66, u. U. verfassungsrechtlich sogar geboten67, ist es, „gebundenen“ Normen eine Ausnahmeklausel anzuhängen.68 waltungsentscheidung zur Ausführung einer „gebundenen“ Norm und einer Ermessensentscheidung gelegt werden, weil der Gesetzgeber inzwischen reflektierter handelt und ein stärkeres Abgrenzungsbewusstsein entwickelt hat. Siehe dazu auch D. II. 1. c). 64 Entsprechend sind auch Vorstöße aus der Justiz zu verstehen, die sich bemühen, trotz einer „gebundenen“ Norm die Verhältnismäßigkeit zu prüfen. So etwa BVerwG, Urteil vom 21. März 2012, Az. 6 C 19.11, juris, Rn. 27: „Gerade weil § 14 Abs. 1 Satz 1 SächsJAPO a. F. nicht als Ermessensnorm ausgestaltet ist und überdies seine Tatbestandsmerkmale eine beachtliche Weite aufweisen, kommt der Verhältnismäßigkeitsprüfung hier eine wichtige Korrektivfunktion bei der Auslegung des Tatbestands zu.“ (Hervorhebungen nur hier). 65 K. Naumann, DÖV 2011, S. 97 f., vermengt unter der Überschrift „Gesetzliche Normierung der Verhältnismäßigkeit“ die Möglichkeit zu Ausnahmeklauseln mit der Option zur Verhältnismäßigkeit als Tatbestandsmerkmal. 66 R. Mußgnug, S. 19, spricht – freilich im Jahr 1964 – gar davon, dass diese Technik „in ungewöhnlich vielen Fällen“ Anwendung fände. 67 P. Selmer (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 217, fragt nach einer „verfassungskräftige(n) Pflicht des Gesetzgebers, zugunsten der Verwaltung Härteklauseln und Billigkeitsklauseln zu schaffen“. Dies bejaht in einzelnen Bereichen H. Maurer (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 232; insgesamt sieht er aber keinen Raum für eine allgemeine „gesetzesimmanente Härteklausel“. Insgesamt skeptisch R. Mußgnug (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 241 (die „Aufnahme von Dispensklauseln in jedes Gesetz (ist) keine gute Idee“); ihm beipflichtend H. Soell (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 245. C. Wellhöfer, S. 178, sieht primär den Gesetzgeber in der Pflicht, Unverhältnismäßigkeit bei der Ausführung „gebundener“ Normen zu vermeiden: „[Es obliegt] nach dem Gewaltenteilungsprinzip streng genommen der Legislative, auch für diesen besonderen Fall eine Ausnahmeregelung zu schaffen.“ 68 Dafür etwa V. Mehde, DÖV 2014, S. 544: „[letztlich] vorzugswürdig“. Siehe auch die Darstellung bei T. Westerhoff, S. 117 f. Differenzierter H.-G. König, BayVBl. 1983, S. 162 („genereller Ausnahmetatbestand“ und „Ausnahmevorbehalt für den Einzelfall“, jeweils mit Beispielen aus dem Bundesfernstraßengesetz).
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Sinngemäß könnte also jeweils der zweite Satz oder Absatz69 einer Norm lauten: „Dies gilt nicht in außergewöhnlichen Fällen“ oder „Die gewählte Maßnahme darf nicht außer Verhältnis zum erreichten Zweck stehen“. Letztlich erreichte man damit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auch bei „gebundenen“ Normen, um unbillige Ergebnisse zu vermeiden. Zur Anwendung gelangt diese Technik etwa70 beim sog. Vermummungsverbot auf Versammlungen. § 17a Abs. 2 Nr. 2 VersG statuiert ein zunächst „gebundenes“ Verbot: „Es ist (…) verboten (…), Gegenstände mit sich zu führen, die geeignet und den Umständen nach dazu bestimmt sind, die Feststellung der Identität zu verhindern“. § 17a Abs. 3 S. 2 VersG regelt dann: „Die zuständige Behörde kann weitere Ausnahmen von den Verboten der Absätze 1 und 2 zulassen, wenn eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung nicht zu besorgen ist.“ Zwar findet sich darin keine Verhältnismäßigkeitsklausel, aber eine Ausnahmeklausel, die eine Verhältnismäßigkeitsprüfung impliziert. Unbillige Ergebnisse sollen durch Ausnahmemöglichkeiten vermieden werden.71 Gleich der Grundrechtsdogmatik zu qualifizierten Gesetzesvorbehalten entsteht durch Ausnahmeklauseln für den Gesetzgeber auch die Möglichkeit, eine Abweichung nur unter bestimmten (qualifizierten) Voraussetzungen zuzulassen.72 Abgesehen davon, dass diese Normgebung unästhetisch und unpraktikabel ist, erschließt sich der Sinn derartiger Vorhaben nur begrenzt.73 Zum einen wäre die Klausel ohnehin nur bei belastenden Normen virulent. Sicherlich könnte man auch annehmen, dass durch derartige Härtefallklauseln dem Gesetzgeber – ähnlich wie beim Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG – sein grundrechtsbeschränkendes Handeln verstärkt vor Augen geführt wird. Letztlich handelte es sich aber doch nur um eine bloße Wiedergabe des bereits kraft Verfassungsrechts geltenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Unabhängig davon, wie das kollidierende Verhältnis zweier Verfassungsprinzipien aufzulösen ist, wiederholt das Gesetz in derartigen 69
L. Michael / Morlok, Rn. 612, sieht in der umfassenden Anwendung der Verhältnismäßigkeit auch auf „gebundene“ Normen eine „ungeschriebene Härtefallklausel“. 70 Weitere Beispiele sind z. B. § 7 Abs. 2 S. 1 PaßG sowie § 45 Abs. 3 WaffG. Diese Beispiele finden sich etwa auch bei T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 153. Auf das PaßG weist auch mehrfach K. Naumann, DÖV 2011, etwa S. 97, 103, hin. Weitere Beispiele bei T. Westerhoff, S. 117, sowie R. Mußgnug, S. 19 ff, der § 3 Personenstandsgesetz (PStG), § 7 Abs. 2 BBG und § 21 FahrlehrerVO gegenüberstellt. 71 Praktisch relevant wäre diese Klausel etwa im später noch dargestellten Fall des VGH Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2011, Az. 5 A 1245/11, gewesen. Dort musste nämlich mangels positivrechtlicher Normierung eine Bemühung des verfassungsrechtlichen Ursprungs herangezogen werden. 72 Vgl. R. Mußgnug, S. 19 f., der aus der Gegenüberstellung zweier Vorschriften ein Beispiel bildet. 73 Diese Bewertung ist vor allem vor dem Hintergrund der später in dieser Untersuchung zu entwickelnden Lösung zu sehen. Folgt man dem herrschenden Verständnis, können derartige Klauseln aber durchaus sinnvoll erscheinen, auch wenn Praktikabilität und Ästhetik dem entgegenstehen.
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Fällen nur einfach-rechtlich den ohnehin nach dem Grundgesetz schon gültigen Bedeutungsinhalt. Härtefallklauseln sind damit regelmäßig nicht notwendig. 2. Verhältnismäßigkeit als Tatbestandsmerkmal74 Die Verhältnismäßigkeit75 in den Tatbestand76 aufzunehmen77, bildet eine weitere Möglichkeit zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit. Sie stellt prima facie auch eine besonders naheliegende Option dar, eine Interessenabwägung für den Einzelfall vorzunehmen, da Abwägungen von der Rechtsfolgenseite lediglich in die Voraussetzungsebene des Rechtssatzes verlagert werden. Damit werden Verhältnismäßigkeitsaspekte bei der Normauslegung bereits berücksichtigt, ohne dass vom gängigen Verständnis „gebundener“ Normen abgewichen werden muss. Insbesondere für den Gesetzgeber handelt es sich dabei um einen praktikabel erscheinenden Weg, lindert er doch den Druck, der von zwei Seiten auf ihn einwirkt. Zum einen verringert der Gesetzgeber das Risiko, unverhältnismäßig zu agieren und Einzelfallgerechtigkeit durch die Normgebung zu verhindern. Er bietet andererseits allen Kritikern bestimmter „gebundener“ Normen die Verhältnismäßigkeit als Ausgleich an. Es wird damit ein Einfallstor für Einzelfallaspekte auf Tatbestandsseite geschaffen. Diese Aufweichungsoption eines strengen und ausnahmslosen Rechtsfolgenverständnisses erfreut sich zunehmender Beliebtheit, so wie etwa in § 53 Abs. 1 AufenthG n. F. bzw. § 48 Abs. 3 S. 1 VwVfG. Dass dies auch am Verständnis des 74 Zur Verlagerung von Abwägungsfragen auf die Tatbestandsebene siehe auch L. Michael, Verhältnismäßigkeit, S. 55. 75 Ausdrücklich von der Verhältnismäßigkeit gesprochen wurde etwa bei der Schaffung von § 35 Abs. 1 GewO. Dort heißt es im Protokoll des Rechtsausschusses des Bundestags vom 29. Januar 1959: „Da der im Verwaltungsrecht geltende Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sogar für den Strafrichter in § 42 I zum Ausdruck gebracht werde, erscheine eine entsprechende Einfügung auch in § 35 Abs. 1 der Gewerbeordnung als zweckmäßig: ‚wenn dies erforderlich ist, um die Allgemeinheit vor weiterer Gefährdung zu schützen.‘“ (PA-DBT 4000 III/167, Bd. A1, lfd. Nr. 25, S. 39/6). 76 Nicht identisch, aber doch wesensverwandt, mit diesem Ansatz ist das sog. Tatbestandsergänzungsermessen, das die Rechtsfolgenbestimmung – so ungewöhnlich dies klingen mag – nicht in der Rechtsfolge verortet, sondern in den Tatbestand zieht. Nachweise bei R. Brinktrine, S. 58 ff. Als Alternative zur Verhältnismäßigkeit im Tatbestand bringt K. Naumann, DÖV 2011, S. 98, die verfassungskonforme Auslegung ins Spiel; unbillige Härten zu vermeiden könne danach auch über die Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen in einem allgemeinen Sinne erfolgen. 77 Bei § 35 Abs. 1 GewO war das ausweislich der Gesetzesdokumentation auch so beabsichtigt. Entsprechend heißt es in einem Protokoll des Wirtschaftsausschusses: „Die Ermächtigung zum Eingriff, wenn die öffentliche Sicherheit und die Ordnung gefährdet sei, müsse für diejenigen Fälle eingeengt werden, für die die schwerste Sanktion, nämlich die Gewerbeuntersagung verhängt werden soll, d. h. die Sanktion müsse im gleichen Verhältnis zu der Schwere des Verstoßes gegen die Sicherheit und Ordnung stehen.“ (PA-DBT 4000 III/167, Bd. A1, lfd. Nr. 19, S. 45/8).
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Typus der „gebundenen“ Norm etwas verändert, zeigt die Neuschaffung von § 53 Abs. 1 AufenthG. Wie bereits erwähnt, wurde in den Jahren 2015 und 2016 das Ausweisungsrecht verändert und in eine „gebundene“ Generalklausel verwandelt, die die Verhältnismäßigkeit als Tatbestandsmerkmal erfasst. Sie lautet nun: „Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.“ In diesem Zusammenhang kam es bei der Normschaffung und der anschließenden Rezeption zu Missverständnissen. Es wurde mehrfach angenommen, dass nunmehr eine Ermessensentscheidung vorliege. Selbst anerkannte Praktiker78 und eine Regierungsfraktion79 saßen diesem Irrtum auf. Legt man Wert auf die Trennung von Tatbestand und Rechtsfolge, kann sich dieser unterschiedliche Bezug als problematisch erweisen: Tatbestandsverhältnismäßigkeit und Rechtsfolgenverhältnismäßigkeit sind nicht identisch, weil sie auf unterschiedliche Bezugspunkte referieren. Während es im Tatbestand um die Ausgewogenheit einer Subsumtion unter ein bestimmtes Merkmal geht, ist Referenzpunkt in der Rechtsfolge die konkrete von der Behörde gewählte Maßnahme. Fälle, in denen die Verhältnismäßigkeit sowohl im Tatbestand als auch in der Rechtsfolge geprüft werden können, verdeutlichen diesen Unterschied.80 Als Lösung bieten sich zwei Möglichkeiten an: Entweder belässt man die Verhältnismäßigkeitsprüfung in der Rechtsfolge oder man zieht die nun einmal faktisch existierenden Elemente, Tatbestand und Rechtsfolge, für die Rechtsfolgenbestimmung zusammen.81 Die Verhältnismäßigkeit als Ausgleich für eine mangelnde Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeitsaspekte von der Rechtsfolge in den Tatbestand zu verlagern, scheint darüber hinaus zu unterschiedlichen Maßstäben bei der gerichtlichen Kontrolle zu führen. Bei Ermessensentscheidungen legt die herrschende Meinung 78
R. Marx, ZAR 2015, S. 246: „[Die Norm] kann nur dahin verstanden werden, dass eine Ausweisung stets eine Ermessensprüfung erfordert.“ 79 CDU / CSU-Fraktion in BT-Drs. 18/5420, S. 30: „reine Ermessensregelung“. 80 So hat das Bundesverfassungsgericht in einem Fall, in dem es um die Erlaubnispflichtigkeit des Verteilens von Flugblättern mit meinungsbildendem Inhalt geht, festgestellt, dass bereits bei der Auslegung der Tatbestandsvoraussetzungen einer Sondernutzungserlaubnis die Grundrechte des Adressaten zu berücksichtigen sind. Das Verteilen dieser Flugblätter ist daher bereits tatbestandlich nicht von der Erlaubnispflicht erfasst, obwohl Grundrechte durch die Ausgestaltung als Ermessensentscheidung grundsätzlich auf der Rechtsfolgenseite berücksichtigt werden könnten: „Eine Auslegung und Anwendung des Hamburgischen Wegegesetzes, die die Gestattung von Betätigungen der Freiheit, Meinungen frei zu äußern und zu verbreiten, in das freie Ermessen der Exekutive stellt, wäre jedenfalls mit Art. 5 Abs. 1 GG unvereinbar.“ Vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Oktober 1991, Az. 1 BvR 1377/91. 81 Siehe zu diesen beiden Möglichkeiten als Ansätze für ein neueres Modell: D. II. und D. III.
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Wert auf die Feststellung, dass eine Überprüfung der Behördenentscheidung nur am Maßstab von Ermessensfehlern möglich ist. Der Kontrollmaßstab soll also begrenzt sein. Bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen besteht dagegen – von Fällen eines Beurteilungsspielraums abgesehen – regelmäßig eine volle Überprüfbarkeit der Auslegungsergebnisse von Behörden. Die Tatbestandsverhältnismäßigkeit verhindert zudem die Suche nach abgestuften Lösungen. Ob sich ein Lebenssachverhalt unter ein Tatbestandsmerkmal subsumieren lässt, ist eine Entscheidungsfrage, die im Ergebnis nur mit Ja oder Nein zu beantworten ist. Ein Gaststättenbetreiber ist entweder zuverlässig oder unzuverlässig, nicht aber „ein bisschen unzuverlässig“. Proportionalität bereits in die Auslegung zu verlagern, mag ein erstrebenswerter Ansatz sein. Er allein ersetzt aber keine abgestufte Rechtsfolgenbestimmung, die auf Basis eines festgestellten Tatbestands ergeht. Ist ein Gaststättenbetreiber, um im Beispiel zu bleiben, unzuverlässig, kommen als Alternative zur Aufhebung der Genehmigung immer noch Auflagen, zeitliche Befristungen, Beobachtungen, Nachweise oder Meldepflichten in Betracht. Systematisch sind abgestufte und differenzierende Lösungen nicht über den Tatbestand möglich, weil diesem der auf unmittelbare Lebensgestaltung ausgerichtete Charakter fehlt. Allenfalls unter Preisgabe der strengen Grenze zwischen Tatbestand und Rechtsfolge erscheinen derartige differenzierte Lösungen denkbar. Die Tatbestandsverhältnismäßigkeit als Surrogat zur Rechtsfolgenverhältnismäßigkeit zu nutzen, ist für die Rechtsanwendung zwar ein Mittel, um über den Tatbestand Nachsteuerungen vorzunehmen und Einzelfallumstände zu berücksichtigen. Derartige Entwicklungen sind Ausdruck einer Aufweichung des bisherigen Verständnisses „gebundener“ Normen. Die klassische Lehre scheint in dieser Option einen Weg zu sehen, Einzelfallgerechtigkeit auch bei „gebundenen“ Normen zu verwirklichen. Anspruch eines alternativen Modells ist aber nicht nur die Möglichkeit, Fälle aus dem Anwendungsbereich einer Norm auszunehmen, sondern auch die Rechtsfolgenbestimmung auf den Einzelfall anzupassen. 3. Unbestimmte Rechtsbegriffe im Tatbestand Eine weitere Möglichkeit zur Berücksichtigung von Einzelfallmotiven bei „gebundenen“ Normen besteht nach herrschendem Verständnis im Gebrauch von unbestimmten Rechtsbegriffen auf Tatbestandsseite.82 Besteht eine Entscheidungssituation mit „gebundener“ Rechtsfolge, kann der Gesetzgeber durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe auf der Voraussetzungsebene der Norm dafür sorgen, dass Gründe des Einzelfalls hinreichend berücksichtigt werden können – 82 Eine Andeutung im Tatbestand verlangt L. Michael / Morlok, Rn. 612, zwar nicht. Gleichwohl ist beim „Mitlesen“ eine Annäherung an diese Alternative zu erkennen. Zur vom Gesetzgeber „‚mitgemeinte(n)‘ Prüfungskompetenz“ siehe auch V. Mehde, DÖV 2014, S. 544.
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im Falle eines Beurteilungsspielraums83 sogar nur mit beschränkter richterlicher Kontrollmöglichkeit.84 Von dieser Möglichkeit macht der Gesetzgeber regelmäßig Gebrauch. So gibt es einige Normen, die in der Rechtsfolge „gebunden“ und im Tatbestand mit einem unbestimmten Rechtsbegriff ausgestattet sind. Als Beispiel zu nennen sind hier Fälle aus dem Prüfungsrecht, in denen beim Vorliegen bestimmter Eigenschaften einer Prüfungsleistung eine Note zu erteilen „ist“.85 Dieser Ansatz kann auch mit der bereits dargestellten Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei der Auslegung von Tatbestandsmerkmalen kombiniert werden. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang „gebundene“ belastende Generalklauseln. Dabei konzipiert der Gesetzgeber bestimmte Generalklauseln86 als „gebundene“ Normen. Eine Reihe bekannter „gebundener“ Rechtssätze – namentlich und doch naturgemäß nicht abschließend: § 35 Abs. 1 GewO, § 53 Abs. 1 AufenthG87, § 3 Abs. 1 StVG, § 12 Abs. 1 BeamtStG, § 15 Abs. 1 GastG88, § 7 Abs. 1 PaßG sowie § 45 Abs. 1, Abs. 2 WaffG – bildet in ihren Regelungsbereichen Ge 83
Grundlegend O. Bachof, JZ 1955, S. 97 ff. Für die bekannten Fallgruppen siehe nur A. Decker, in: Beck-OK VwGO, § 114 Rn. 36 ff. 85 Zum Beispiel enthält § 17 Abs. 1 JAG NRW eine Definition der Noten im juristischen Staatsexamen. Insbesondere der in vielen Notenstufen verwendete Begriff der „durchschnittlichen Anforderungen“ stellt ein auslegungsbedürftiges Merkmal dar. 86 Den Konflikt zwischen Generalklauseln und der Bestimmtheit von Normen benennt auch O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 39. Dass sich Generalklauseln abstrakt so gut wie nie als unverhältnismäßig erweisen, sondern nur der auf sie gestützte Einzelakt, stellt er ebenfalls fest (S. 32). Er hält deshalb die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei Generalklauseln auch für problematisch. 87 Dort auch die Vorgängerregelungen im AufenthG a. F. und im AuslG. 88 So fordert etwa für § 15 Abs. 1 GastG („gebundene“ Rücknahme einer Gaststättenerlaubnis) R. Metzner, GastG, § 15, Rn. 50 m. w. N. aus der Rechtsprechung, die Verhältnismäßigkeit am Merkmal der Unzuverlässigkeit zu prüfen: „Das aus der Berufsfreiheit und dem Rechtsstaatsprinzip folgende Gebot der Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots bedeutet für die Anwendung des § 15, insbesondere hinsichtlich der dispositiven Widerrufsgründe, aber auch in den Fällen des § 15 Abs. 1 und 2 [dabei handelt es sich um „gebundene“ Normen!], daß von der Rücknahme oder dem Widerruf abzusehen ist, wenn ein rechtmäßiger Zustand durch einen geringeren Eingriff erreicht werden kann. Rücknahme und Widerruf der Erlaubnis stellen von allen in Betracht kommenden gewerberechtlichen Mitteln die am meisten eingreifenden, die Berufsfreiheit am stärksten einschränkenden Mittel dar. Sie dürfen nicht angewendet werden, wenn ein weniger schwerwiegendes Mittel (…) voraussichtlich bewirkt, daß das Gewerbe künftig ordnungsgemäß ausgeübt wird. Daß dies auch in den Fällen des § 15 Abs. 1 und 2 GastG gilt, folgt daraus, daß dort zwar die Gaststättenerlaubnis bei Unzuverlässigkeit grundsätzlich zwingend zurückzunehmen bzw. zu widerrufen ist, daß diese Rechtsfolge aber gleichwohl in extremen Ausnahmefällen unzumutbar und unbillig sein kann; der Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Rechtsfolgenseite steht nicht entgegen, daß dieser Grundsatz bereits auf der Tatbestandsseite, nämlich bei der Feststellung der Unzuverlässigkeit heranzuziehen und zu berücksichtigen ist (§ 4 Rdn. 25 ff.). Wird unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die Unzuverlässigkeit festgestellt, hat ein Entzug der Erlaubnis u. a. auf die Tatsache eines bereits ausgeübten Gewerbes Rücksicht zu nehmen und kann aus diesem Grund unverhältnismäßig sein (…).“ 84
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neralklauseln mit einem großen Anwendungsbereich und einer hohen praktischen Bedeutung. Sie eint weiterhin ihre für den Verwaltungsadressaten belastende Wirkung, obgleich „gebundenen“ Normen dieses Merkmal nicht allgemein innewohnt. Der Gesetzgeber nutzt dabei die Kombination aus einer Generalklausel mit einem weiten Anwendungsbereich (und damit notwendigerweise Spielräumen bei der Tatbestandsauslegung) und einer „gebundenen“ Rechtsfolgenanordnung mit (vermeintlich) zwingender Rechtsfolge. Einerseits wird durch die Schaffung einer Generalnorm und dem Verzicht auf zahlreiche Einzelregelungen eine Konzentration mit Spielraum für die Verwaltung vorgenommen.89 Auf der anderen Seite ist nach dem herrschenden Verständnis die „gebundene“ Norm gerade dazu gedacht, Spielräume für die Verwaltung zu begrenzen. Die Eignung „gebundener“ belastender Generalklauseln zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit ist hingegen begrenzt. Der Verwaltung stehen in diesen Anwendungsbereichen nur zwei Alternativen zur Verfügung: Entweder schreitet sie – sofern die Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs dies gebietet – nicht ein, mit der Folge, dass sie regelmäßig gar keine Maßnahmen unternehmen kann. Alternativ wählt sie die vom Gesetzgeber „gebunden“ vorgesehene Rechtsfolge. Es kann aber sowohl das Nicht- als auch das Voll-Einschreiten für den Belasteten oder die Allgemeinheit unverhältnismäßig sein. Abstufungen in der Rechtsfolgenbestimmung sind durch „gebundene“ belastende Generalklauseln nur schwerlich möglich. Problematisch an einer verstärkten Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im Tatbestand ist zudem auch die Unbestimmtheit bei der Beeinflussung der Lebenswirklichkeit. Verwendet der Gesetzgeber auch bewusst besonders konkretisierungsbedürftige Begriffe, gerät diese Normgebung notwendigerweise mit dem Bestimmtheitsgebot in Konflikt. Der Gesetzgeber überlässt die Maßstabsbildung bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe der Verwaltung (und den Gerichten). Die Verwendung von Generalklauseln mit unbestimmten Rechtsbegriffen im Tatbestand verdeutlicht deshalb auch die begrenzten Steuerungsmöglichkeiten
89 Entsprechend hieß es bei der Schaffung von § 35 Abs. 1 GewO als „gebundene“ Generalklausel in der Begründung: „Die bisherige enumerative Vorschrift wird daher besser durch eine Generalnorm ersetzt, die es gestattet, unter bestimmten rechtsstaatlichen Erfordernissen entsprechenden Voraussetzungen eine Gewerbeuntersagung auszusprechen. Eine solche Generalnorm bietet darüber hinaus den Vorteil, auf die Einführung einer Erlaubnisvorschrift oder eines Konzessionsgesetzes dann verzichten zu können, wenn es sich lediglich darum handelt, die Betätigung unzuverlässiger Elemente in dem betreffenden Gewerbezweig zu unterbinden.“ (BT-Drs. 3/318, S. 17; ähnlich bereits in BT-Drs. 2/2681, S. 22 f.). Zudem heißt es: „Der neue, für jedes Gewerbe geltende § 35 wird eine Handhabe bieten, entsprechend den Wünschen vieler Gewerbezweige eine Ausschaltung schädlicher und unlauterer Personen vorzunehmen, ohne daß hierzu jeweils ein Sondergesetz notwendig ist.“ (BT-Drs. 2/2681, S. 17). Durch eine Generalklausel wird also auch das vorgelagerte Verwaltungsverfahren vereinfacht. Hat die Verwaltung nämlich eine breit anwendbare Norm zur Seite, die bei Verstößen gegen Vorschriften umfassend greift, wird etwa ein vorgelagertes Genehmigungsverfahren, das erneut Verwaltungsaufwand produzieren würde, obsolet.
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des Gesetzgebers.90 Dieser Umstand ist als solcher nicht zu bemängeln. Er scheint aber mit der Argumentation der herrschenden Meinung für das strenge Verständnis „gebundener“ Normen in Konflikt zu geraten, weil Gleichheit und Rechtssicherheit durch die Verwendung eines äußerst wertungsoffenen Tatbestands gefährdet zu sein scheinen. 4. Unbestimmte Rechtsbegriffe in der Rechtsfolge Für eine größere Variabilität bei der Bestimmung der konkreten Rechtsfolge hat der Gesetzgeber darüber hinaus die Möglichkeit, in der Rechtsfolge einer „gebunden“ formulierten Norm die Auswahl der Maßnahme durch die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe noch stärker der Rechtsanwendung zu überlassen. So gestaltet ist beispielsweise § 39 Abs. 2 IfSG: „Die zuständige Behörde hat die notwendigen Maßnahmen zu treffen“. Es handelt sich in diesem Fall dem Wortlaut nach um eine „gebundene“ Norm, sodass der Verwaltung bei der Anwendung kein eigenes Ermessen zustehen soll. Die Bestimmung der „notwendigen“ Rechtsfolge ist durch die Verwaltungsgerichte daher voll überprüfbar. Die Festlegung der konkreten Rechtsfolge ist vom Gesetzgeber aber so wenig vorgezeichnet, wie z. B. bei der polizeilichen Generealklausel des § 8 Abs. 1 PolG NRW, der die Ergreifung der „notwendigen Maßnahmen“ in das Ermessen der Behörde stellt. Wählt der Gesetzgeber bei der Normsetzung eine Formulierung, die dem Wortlaut nach beinahe jede Maßnahme erfassen kann, besteht die Rechtsfolgenstrenge allenfalls noch auf dem Papier. Der Rechtsanwender erhält vielmehr die Möglichkeit, die Maßnahme so frei zu bestimmen als handele es sich um eine Ermessensnorm. Eine „notwendige“ Maßnahme kann im Einzelfall sogar ein Unterlassen sein, also die Entscheidung der Verwaltung nicht tätig zu werden. Für den Bürger wird es daher zunächst keinen Unterschied machen, ob es sich um die Anwendung einer „gebundenen“ Rechtsnorm oder einer Ermessensnorm handelt. Ein wesentlicher Unterschied entsteht erst bei der Überprüfung der Entscheidung vor Gericht. „Gebundene“ Normen können die Verwaltungsgerichte vollständig überprüfen. Bei einer Ermessensnorm sind sie auf die Beachtung des Ermessenspielraums der Verwaltung verpflichtet und auf die Suche nach Ermessensfehlern91 beschränkt. Im Endeffekt schließt der Gesetzgeber mit der Formulierung „Die Behörde hat die notwendigen Maßnahmen zu treffen“ also den Entscheidungsspielraum der Verwaltung gegenüber der verwaltungskontrollierenden Rechtsprechung aus. Diese Vorschriften bewegen sich daher auf der Grenze zwischen „gebundenen“ Rechtssätzen und Ermessensnormen. Trotz der „gebundenen“ Formulierung ermöglichen sie die umfassende Einbindung von Einzelfallaspekten. Eine Lösung für das Problem der Einzelfallgerechtigkeit bei „gebundenen“ Normen ergibt sich 90 91
Siehe dazu auch schon W. Brohm, DVBl. 1986, S. 328 m. w. N. Siehe dazu etwa nur R. Alexy, JZ 1986, S. 701 ff.
V. Alternativkonzepte zu „gebundenen“ Normen
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daraus aber nicht. Es handelt sich bloß um eine Kategorie „gebundener“ Normen, die Einzelfallgerechtigkeit ermöglichen kann, da der Gesetzgeber bewusst ein erhebliches Maß an Steuerungsmöglichkeit durch die Normsetzung an die Exekutivstellen delegiert. Möchte der Gesetzgeber die Lebenswirklichkeit mithilfe der Normsetzung möglichst präzise steuern, nutzt er in der Formulierung der Rechtsfolge aber bestimmte Begriffe bzw. konkrete Maßnahmen, die die Verwaltung bei der Bestimmung der Rechtsfolge leiten. Auch mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes und den Bestimmtheitsgrundsatz erweisen sich tatbestandlich vollkommen unbestimmte Normen als problematisch. Es gilt also eine Lösung für die Ausführung von Normen zu finden, in denen der Gesetzgeber unter Umständen Fälle erfasst, in denen die Anwendung der konkreten, von der „gebundenen“ Norm bestimmten, Maßnahme unverhältnismäßig ist, die Norm eine Berücksichtigung der Einzelfallumstände nach dem Wortlaut der Norm aber nicht ermöglicht. 5. Die Nichtbeachtung von Sachverhalten (Vollzugsdefizit) Ein weiterer Weg ist die bei „gebundenen“ Normen nach klassischem Verständnis (mitunter rechtswidrige) Nichtbeachtung von Sachverhalten.92 Die Behörde kann schließlich, selbst wenn an sich der Tatbestand einer Norm erfüllt ist und die Verwaltung die Rechtsfolge vermeintlich „zwingend“ wählen müsste, schlicht untätig bleiben. Auf diese Weise kommt es zu Vollzugsdefiziten, entweder aus Nichtwissen der Behörde, aufgrund mangelnder Ressourcen der Verwaltung oder aus Zweifeln an der Sinnhaftigkeit oder Rechtmäßigkeit des Vollzugs.93 Es liegt in der Natur der Sache, dass sich über derartige Fälle keine ausreichenden Dokumentationen finden, da sowohl die untätige Verwaltung als auch der verschonte Bürger keinerlei Interesse daran haben, dass der Fall dokumentiert und veröffentlicht wird.94 Deshalb muss für dieses Phänomen eine quantitative Unklarheit bleiben – dass entsprechend gehandelt wird, steht bei lebensnaher Auslegung aber außer Zweifel. Ein derartiges aktuelles Beispiel lässt sich bei der allgemeinen Durchsetzung von § 42 Abs. 1, Abs. 3 Landesglücksspielgesetz Baden-Württemberg (LGlüG) beobachten. Die seit dem 1. Juli 2017 bestehende Regelung, die bestimmt, dass Spielhallen 500 Meter voneinander und von Aufenthaltsorten von Kindern und Jugendlichen entfernt sein müssen, wird nach einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4. Juli 2017 kaum durchgesetzt. Im Artikel „Laufzeitverlängerung für den Fruitinator“ heißt es: „Einige Rechtsamtsleiter empören sich über den mangeln 92
Dazu insbesondere die Beiträge in Benz / Seidel passim. Zu Vollzugsdefiziten ausführlich L. Michael, Absprachen, S. 209 f. m. w. N. 94 R. Mußgnug, S. 25, spricht im Zusammenhang mit der Dehnung von Ausnahmetatbeständen von „gebundenen“ Normen davon, dass „Fehl- oder gar Mißbräuche (…) sich meist unbemerkt im Schoße der Verwaltung ab(spielen)“. 93
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B. Einzelfallgerechtigkeit und gesetzliche Determination
den Willen und die politisch vielerorts gewollte Zurückhaltung bei der Umsetzung des neuen Gesetzes: Sie sprechen von ‚Totalverweigerung der kommunalen Behörden‘, sogar vom ‚Verfassungsbruch‘. Denn die ‚unbilligen Härten‘, für die das Gesetz die Ausnahmen vorsieht, sind unpräzise formuliert.“ Doch auch dieser Umgang der Verwaltung ist problematisch. Allein aus demokratischen Überlegungen erscheint er nur schwer gangbar. Schließlich darf die demokratisch legitimierte Verwaltung nicht einfach Fälle aus der Welt schaffen, indem sie sie nicht aufgreift. Demokratie braucht Transparenz und Öffentlichkeit. Die inoffizielle Nichtbeachtung von Fällen schafft das Problem, dass (insbesondere auch verwaltungsinterne) demokratisch geschaffene Kontrollmechanismen nicht greifen. Wird bereits auf unterer Verwaltungsebene entschieden, dass ein Sachverhalt trotz „gebundener“ Norm nicht weiterverfolgt wird, entzieht er sich im Regelfall der Kontrolle durch höhere Instanzen. Dadurch wird das Recht weniger durchgesetzt und – sofern kein individuell betroffener Dritter beteiligt ist – der Gesetzesvollzug insgesamt ausgehebelt. Das gänzliche Untätigbleiben mag im Einzelfall als geringeres Übel erscheinen als die (blinde) Ausführung einer Norm zur Herstellung eines rechtswidrigen Zustands unter Anwendung einer an sich verfassungsgemäßen Norm. In derartigen Fällen entzieht sich die Verwaltung auch ihrer Begründungspflicht. Diese Pflicht wurzelt letztlich im Rechtsstaatsprinzip sowie zugleich dem Demokratieprinzip.95 Legt die Verwaltung aber die Gründe für ihr Nichthandeln nicht dar, wird eine Diskussion über und die Kontrolle von Verwaltungshandeln im Keim erstickt, weil die Diskussionsgrundlage entzogen wird. Auch die stillschweigende Nichtbeachtung von Sachverhalten ist damit für die Verwaltung kein akzeptabler Weg. Eine weitere Variante dieses Vorgehens ist die „kreative“ Interpretation des Gesetzes. So ist es möglich, dass die Verwaltung bei Sachverhalten, bei denen sie eine bestimmte Rechtsfolge nicht auslösen möchte, bei der Interpretation der Tatbestandsmerkmale gewollt zu der Erkenntnis kommt, dass der jeweilige Sachverhalt nicht unter den Tatbestand der Norm zu subsumieren ist. Ist beispielsweise ein Gaststättenbetreiber tatsächlich nach der herkömmlichen Definition unzuverlässig i. S. d. § 15 Abs. 1 i. V. m. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GastG, eine Untersagung aber aus Einzelfallgründen (etwa drohende Sozialhilfebedürftigkeit bei einem mehrfachen Familienvater, obwohl Kunden der Gaststätte und die Allgemeinheit nicht wesentlich beeinträchtigt werden) tatsächlich unverhältnismäßig, wird die Behörde den Weg über die Auslegung des Begriffs der Unzuverlässigkeit wählen. Ein Normverständnis, das die Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch bei „gebundenen“ Normen ermöglicht, gibt der Verwaltung ein rechtmäßiges Mittel an die Hand, gesetzlich vorgesehene Maßnahmen nicht zu ergreifen, wenn diese zu unverhältnismäßigen Einzelfällen führen. Jedenfalls im Falle von Zweifeln an der 95
Vgl. P. Stelkens, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 39, Rn. 2 f.
VI. Der Kern des Konflikts
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Rechtmäßigkeit der Maßnahme kann die Behörde ihr bewusstes Untätigbleiben offenlegen und damit mit dem Gesetz in Einklang bringen. 6. Steuerung der Ermessensausübung durch Verwaltungsvorschriften Der Gesetzgeber selbst hat aber auch noch die Möglichkeit, auf „gebundene“ Normen zu verzichten und trotzdem das Verwaltungsverfahren zu determinieren. So kann er Normen als Ermessensentscheidungen ausgestalten und auf präzise Verwaltungsvorschriften96 hinwirken. Der Bundestag trifft hier aber auf das Problem, dass er allgemeine Verwaltungsvorschriften für Gesetze im Ländervollzug nicht ohne Zustimmung des Bundesrats erlassen kann. Dafür bekommt er auf der Gegenseite die Möglichkeit, das Verwaltungsverfahren sehr detailliert zu lenken.
VI. Der Kern des Konflikts: Das Spannungsfeld zwischen Einzelfalladäquanz und gesetzgeberischer Gerechtigkeitsvorstellung Durch die Ausführungen zur klassischen Rechtsfolgenlehre kristallisiert sich der Kern des Konflikts von „gebundener“ Norm und Verhältnismäßigkeit heraus: Der Widerspruch von Einzelfallgerechtigkeit, also Einzelfallverhältnismäßigkeit, und gesetzgeberischer Regelung und Determinationsbefugnis bricht (mindestens) in atypischen Einzelfällen hervor. Schematische Lösungen in den Kategorien „Verhältnismäßigkeit der Norm“ und „Verhältnismäßigkeit des Einzelfalls“ sind durch alternative Berücksichtigungsmöglichkeiten zur Verfassungsdurchsetzung zu ersetzen. Auch die Alternativen erweisen sich inhaltlich nicht als umfassende Auflösung des Konflikts von Einzelfallgerechtigkeit und Rechtsetzung bei „gebundenen“ Normen. Sie erscheinen als Hilfskonstrukte über dogmatische Umwege. Aufgabe einer in sich schlüssigen Rechtsdogmatik muss aber eine klare Integration von Härtefällen sein.
96 Verwaltungsvorschriften sind aufgrund ihrer entscheidungslenkenden Wirkung auch für dieses Thema interessant. Von den in dieser Untersuchung maßgeblich behandelten „gebundenen“ Normen gibt es etwa zu § 35 GewO eine Verwaltungsvorschrift; vgl. P. Marcks in: Landmann / Rohmer, GewO, § 35, Rn. 5. Zu Ermessensrichtlinien siehe M. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Rn. 59. Allgemein zu Verwaltungsvorschriften siehe E. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap. 6, Rn. 88 ff.
C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis in der Rechtsprechung des vergangenen Jahrzehnts Die Rechtsprechung1 folgte dem klassischen Rechtsfolgenverständnis mit wenigen Ausnahmen über viele Jahrzehnte. Vor etwa zehn Jahren begannen dann aber einzelne Gerichtsentscheidungen von den herrschenden Grundannahmen abzuweichen. Symptomatisch dafür steht eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Sommer 20072. Nach über einem Jahrzehnt lässt sich inzwischen eine relativ konsistente Meinungsverschiebung diagnostizieren. Mag die Entscheidung des Verfassungsgerichts auch nicht ursächlich für die weitere Rechtsprechung sein, steht sie doch charakteristisch am Beginn eines Meinungswandels in der Justiz. Aus der Perspektive einer Dekade später, bildet das Judikat der Verfassungsrichter somit eine Zäsur. Aus diesem Grund lohnt es sich, die Rechtsprechung in die Zeit vor und nach dem Jahr 2007 einzuteilen.3
I. Die Rechtsprechung bis etwa 2007: Grundsätzliche Übereinstimmung mit der klassischen Rechtsfolgenlehre Die Rechtsprechung der Gerichte bis ungefähr zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2007 erweist sich als weitestgehend homogen und in Übereinstimmung mit dem herrschenden Rechtsfolgenverständnis.
1
Die folgenden (nationalen) Entscheidungen sind – sofern verfügbar – nach ihrem Druckbild in amtlichen Sammlungen zitiert. Falls sie dort nicht erschienen sind, folgt die Zitierweise der Darstellung auf juris. 2 BVerfGK 12, 37. 3 Nicht wenige der folgenden Entscheidungen werden auch bei den bislang erschienenen Auseinandersetzungen mit dem Thema analysiert. Auch in dieser Untersuchung darf gleichwohl die Einschränkung nicht fehlen, dass diese Analyse keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. So auch T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 169, und T. Westerhoff, S. 47. Den umfassendsten Überblick gewährt bislang T. Westerhoff, S. 7 ff.
I. Die Rechtsprechung bis etwa 2007
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1. Grundsatz: Keine Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung „gebundener“ Normen Dabei fällt zunächst eine bezeichnende Tatsache auf: Judikate über „gebundene“ Normen, in denen – sei es ablehnend oder zustimmend – der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz thematisiert wird, gibt es bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts vergleichsweise wenig. Auch an den Gerichten bestand anscheinend der bereits ausführlich dargestellte Konsens, dass bei der Ausführung „gebundener“ Normen keine Einzelfallaspekte berücksichtigt werden können und eine Lösung über die Norm gefunden werden muss. Erwies sich diese als im Einzelfall unverhältnismäßig, sollte das (verfassungsrechtlich) ein Problem der Norm und nicht primär des durch die Verwaltung zu bearbeitenden und durch die Rechtsprechung zu beurteilenden Einzelfalls gewesen sein. Da entsprechende Klagen früher wenig Erfolg versprachen und die Gerichte sie wohl entsprechend eindeutig behandelten, sind Entscheidungen zu dieser Thematik bis vor etwa zehn Jahren – mit Ausnahme der gleich ausgewählten – vergleichsweise rar. Das hat im Wesentlichen zwei Ursachen: Zum einen wird es weniger Gerichtsverfahren gegeben haben. Ein ergebnisorientiert handelnder Anwalt hätte vor 30 Jahren seinem Mandanten wohl kaum geraten, eine Klage auf die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Anwendung einer „gebundenen“ Norm zu stützen. Erfolgsversprechender wäre wohl eher der Weg über Tatbestandsmerkmale der Norm gewesen. Außerdem werden Gerichtsverfahren einfacher zu entscheiden gewesen sein. Hatte sich der Verwaltungsrichter tatsächlich um einen derartigen Fall zu kümmern, konnte der Fall schnell mit einem Verweis auf die vermeintlich klare Rechtslage gelöst werden. In fast allen Rechtsgebieten existierte damit das verfassungsrechtliche Spannungsfeld zwischen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und „gebundener“ Norm in dieser Form nicht. 2. Die frühen Ausnahmen im Kosten- und Gewerberecht Zu dieser Regel existierte bereits seit längerer Zeit eine Ausnahme.4 Im Bereich des Gewerberechts5 und des Verwaltungsvollstreckungsrechts zur Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Geldforderungen6 gilt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung bereits seit längerem, dass die Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung von „gebundenen“ Normen nicht völlig unberücksichtigt bleibt. 4 Noch ältere, freilich sehr punktuelle, Ausreißer lassen sich bei C. Wellhöfer, S. 172 ff., nachvollziehen. 5 T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 158, sieht im „Gewerbe- und Gaststättenrecht“ beispielsweise unter Verweis auf BVerwGE 49, 160, 168 f. schon eine längere Tradition der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei „gebundenen“ Normen. 6 Zahlreiche Entscheidungen aus diesem Bereich finden sich bei T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 162, Fn. 134 f.
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C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis
Maßgeblich im Bereich des Kostenrechts7, genauer gesagt zur Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Zahlungsansprüche, sehen die entsprechenden Rechtsgrundlagen regelmäßig „gebundene“ Normen vor.8 So formuliert etwa § 77 Abs. 1 S. 1 VwVG NRW: „Für Amtshandlungen nach diesem Gesetz werden (…) von dem Vollstreckungsschuldner oder dem Pflichtigen Kosten (Gebühren und Auslagen) erhoben.“ Der Wortlaut lässt also nach klassischem Verständnis der Vollstreckungsbehörde keinen Spielraum bei der Geltendmachung der Kosten.9 Um bei den mannigfaltigen Fallkonstellationen, in denen die zugrundeliegenden Sachentscheidungen einerseits zwar rechtmäßig sein können, andererseits aber eine Kostenerhebung beim Bürger dennoch unbillig erscheint (Trennung von Primär- und Sekundärebene), Rechnung zu tragen, wird in diesem Bereich seit jeher10 unter besonderen Umständen ein Absehen der Rechtsfolge aus Billigkeitsgesichtspunkten praktiziert.11 Bekannteste Fallgruppe dürften dabei die immer wieder auftauchenden Fälle von mehr oder wenig frühzeitig angekündigten und aufgestellten Halteverbotszeichen für Kraftfahrzeuge sein, bei denen der Halter des Kraftfahrzeugs anschließend für das Abschleppen und die Verwahrung in Anspruch genommen werden soll.12 7 Das Phänomen, bei Geldbeträgen eine allgemeine Abweichungsmöglichkeit zugunsten der Verwaltung zu konstruieren, hat das Bundesverwaltungsgericht abgelehnt; dieser Punkt wurde unter dem Stichpunkt „Freistellungsbefugnis der Verwaltung“ diskutiert. Vgl. P. Selmer (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 216 f. m. w. N. 8 Siehe etwa M. Hong, Jura 2012, S. 478. Trotzdem findet sich mitunter Streit darüber, ob jene Normen nicht doch als Ermessensnormen konzipiert sind, vgl. etwa M. Hong, Jura 2012, S. 478 m. w. N., sowie VGH Kassel, Urteil vom 26. Oktober 2011, Az. 5 A 1245/11, juris, Rn. 34. Auch der VGH Mannheim, Urteil vom 17. September 1990, Az. 1 S 2805/89, deutet eine an sich konzipierte „gebundene“ Norm in eine Ermessensentscheidung um. So auch, wenn auch mit im Detail abweichender Begründung, VG Leipzig, Urteil vom 2. August 1996, Az. 1 K 571/94. Zu beiden letzteren Entscheidungen siehe auch T. Westerhoff, S. 18 f. 9 Ähnlich relevant ist die Fallkonstellation bei Gebühren zum Straßenausbau, sog. Straßenbaubeitrag, wie z. B. in § 8 KAG NRW. 10 So ausdrücklich etwa das OVG Hamburg, Urteil vom 4. November 2003, Az. 3 Bf 23/03, juris, Rn. 30: „Die Heranziehung des Pflichtigen zur Erstattung der Kosten der Ersatzvornahme ist nach dem Wortlaut des § 19 Abs. 1 S. 1 HmbVwVG, der bestimmt, dass die Kosten von diesem zu erstatten ‚sind‘, eine gebundene Entscheidung. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kann der Anwendung dieser Vorschrift gleichwohl im Einzelfall Grenzen ziehen, ohne dass die Gültigkeit der Norm selbst Zweifeln unterliegt (…).“ 11 Vgl. etwa OVG Saarlouis, Urteil vom 25. August 2003, Az. 2 R 18/03: Dort sollte ein Mann die Kosten der Beerdigung seines Vaters tragen, obwohl er mit diesem keinerlei Kontakt mehr hatte. Im Ergebnis urteilte das Gericht (juris, Rn. 64 ff.): „Auch nach Auffassung des Senats stehen Billigkeitsüberlegungen hier einer Kostenersatzforderung entgegen, wobei es offen bleiben kann, ob Grundlage der Überprüfung unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt die ergänzende Heranziehung der Regelung über den Billigkeitserlass von Forderungen in der LHO bzw. der des KSVG i. V. m. der GemHVO, die Annahme sog. intendierten Ermessens oder eine dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechenden Interpretation der § 46 I 2 SPolG nach dessen Wortlaut zu entnehmenden Kostenerhebungspflicht dahingehend, dass sie die Inanspruchnahme des Störers zum Kostenersatz in das Ermessen der Behörde stellt und darüber Raum für die Abwendung unbeabsichtigter Härten lässt (…) ist.“ 12 Als Überblick zu dieser Thematik siehe etwa den bereits zitierten M. Hong, Jura 2012, S. 473 ff. Zweifelhaft dürfte es allerdings sein, in Kostenansprüchen aufgrund einer Abschlepp-
I. Die Rechtsprechung bis etwa 2007
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Das Bundesverwaltungsgericht erkennt insoweit eine Kostentragungspflicht dann an, wenn u. a. der Abschleppvorgang erst am vierten Tag nach dem Aufstellen vorgenommen wird.13 Im Umkehrschluss kann eine kürzere Zeit als unverhältnismäßig angesehen werden, auch wenn die Rechtmäßigkeit des eigentlichen Abschleppvorgangs davon unberührt bleibt (fehlender Rechtswidrigkeitszusammenhang). Die Rechtsprechung folgt der angesprochenen Trennung von Primär- und Sekundärebene ebenfalls im Ordnungsrecht im Bereich der Freistellung von Kosten von Anscheins- und Gefahrenverdachtsstörern.14 So erkannte die Justiz in diesem Bereich auch schon vor 2007 an, dass auch derjenige, der nach den Regeln des Polizeirechts rechtmäßig als Anscheinsstörer oder (vermeintlicher) Störer in der Situation eines Gefahrenverdachts in Anspruch genommen wurde, auf der Sekundärebene bei unverschuldeter Inanspruchnahme selbst dann freizustellen ist, wenn die einschlägige Rechtsgrundlage eine „gebundene“ Norm darstellt.15 Den zweiten Bereich, in dem in der Rechtsprechung bereits früh andere Regeln galten, bildet das Gewerberecht.16 § 35 Abs. 1 GewO bildete insoweit den Drehund Angelpunkt der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Das Gericht legte sich in einer Entscheidung aus dem Jahr 198217 – freilich noch zaghaft und zurückhaltend – fest: „Nur in ganz extremen Ausnahmefällen mag trotz Unzuverlässigkeit und trotz Untersagungserforderlichkeit der Einwand der Verletzung des Übermaßverbotes mit Erfolg erhoben werden können (…).“18 Erstaunlich an dieser Entscheidung ist einerseits, dass sich das Gericht ausdrücklich darauf bezieht, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen erfüllt sind und sogar eine „Untersagungserforderlichkeit“ (die man schließlich als einen Teilaspekt der Verhältnismäßigkeit deuten kann) nicht ausnahmslos die „zwingende Rechtsfolge“ rechtfertigt. Auf der anderen Seite war die Verhältnismäßigkeit im dargestellten Fall nicht entscheidungserheblich. So ließe sich vermuten, dass die Gerichte die Verhältnismäßigkeit nutzen, um ein einzelfallgerechtes Ergebnis zu erreichen, um daher nicht selten zur Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme zu gelangen. In diesem Fall folgt indes maßnahme einen Eingriff in den Kernbereich des Art. 14 GG zu sehen; so aber T. Westerhoff, S. 157 f. 13 BVerwGE 102, 316, 320 (Urteil vom 11. Dezember 1996): Man könne nicht darauf vertrauen, „daß ein zunächst erlaubtes Parken an einer bestimmten Stelle des öffentlichen Straßenraumes auch noch vier Tage später erlaubt ist. Bei einer solchen ‚Vorlaufzeit‘ ist es nicht unverhältnismäßig, also nicht von Verfassungs wegen verboten, das Abschlepp- und Kostenrisiko eines längerfristigen Parkens statt der Allgemeinheit demjenigen zuzuweisen, der die Sachherrschaft über das an der betreffenden Stelle geparkte Kraftfahrzeug hat und Vorsorge für den Fall einer Änderung der Verkehrsrechtslage treffen kann.“ 14 Vgl. nur J. Dietlein, Polizeirecht, Rn. 105 ff., zur Kostenfreistellung siehe Rn. 107. 15 Siehe zu dieser Fallgruppe samt Nachweisen auch T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 163, sowie T. Westerhoff, S. 20 ff. 16 Weitere Nachweise zu den frühen Ausnahmen in diesem Bereich finden sich bei T. Westerhoff, S. 9 f., Fn. 31 ff. 17 Urteil vom 16. März 1982, Az. 1 C 124/80. 18 Urteil vom 16. März 1982, Az. 1 C 124/80, juris, Rn. 24.
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C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis
das Gericht der Behördenentscheidung im Ergebnis und nimmt die Klarstellung nur scheinbar anlasslos dazu vor, um eine grundsätzliche Aussage zu treffen. Es könnte sich aber um eine Option zur künftigen abweichenden Bewertung handeln, die der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts in dieser Entscheidung vornimmt, um zu gegebener Zeit in einer künftigen Entscheidung mit einem abweichenden Ergebnis auf eine dann in der Grundbehauptung ständige Rechtsprechung verweisen zu können. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass derselbe Senat im Dezember 1993 für ein anderes Rechtsgebiet, nämlich der Ausweisung im Ausländerrecht, sich inhaltlich und terminologisch anders verhielt: „Daß es darüber hinaus noch Fälle geben kann, in denen eine Ausweisung nach § 47 Abs. 1 AuslG 1990 dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit widerspräche, ist kaum vorstellbar. Jedenfalls könnte es sich nur um höchst seltene, außergewöhnliche Fälle handeln, bei denen Kraft vorrangigen Rechts die Ausweisung zu unterbleiben hätte, die aber die Gültigkeit der Norm sonst nicht in Frage stellen.“19 Zwar lässt die Formulierung, dass entsprechende Fälle „kaum vorstellbar“ seien, den Schluss zu, dass es sie trotzdem geben kann. Im Ergebnis scheint der Senat aber seine Rechtsprechung auf den Bereich des Gewerberechts beschränkt wissen zu wollen, zumal „ganz extreme Ausnahmefälle“ eben doch wahrscheinlicher sind als „kaum vorstellbare“ Fallkonstellationen. Es bleibt damit der Eindruck, dass sich der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts vornehmlich im Bereich des Gewerberechts einen Letztvorbehalt sichern wollte und bereichsspezifisch differenzierte. Mit Ausnahme des Kostenrechts und des Gewerberechts erkannte die Rechtsprechung bis etwa zum Jahr 2007 die Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung „gebundener“ Normen also nicht an. Im Bereich des Gewerberechts stellte sie derart hohe Anforderungen, dass diese obergerichtlich kaum zum Tragen kamen. Lediglich im Bereich des „gebundenen“ Kostenrechts reüssiert der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits seit längerem.
II. Die Neuorientierung der Rechtsprechung in verschiedenen Rechtsgebieten in den vergangenen Jahren Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor etwas über zehn Jahren stellt in zeitlicher Hinsicht den Beginn eines grundlegenden Wandels dar. Obgleich die Entscheidung nur auf ein Rechtsgebiet beschränkt war und auch nur vereinzelt in der fachgerichtlichen Rechtsprechung in Bezug genommen wird20, kann sie heute als kennzeichnend für eine ganze Entwicklungslinie in der Rechtsprechung gelten. 19
BVerwG, Beschluss vom 10. Dezember 1993, Az. 1 B 160.93, juris, Rn. 3. Von den im Folgenden analysierten Entscheidungen berufen sich auf den Beschluss: OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08; OVG Hamburg, Urteil vom 24. März 2009, Az. 3 Bf 166/04; VG Karlsruhe, Urteil vom 29. Juni 2011, Az. 7 K 3433/10; OVG Müns 20
II. Die Neuorientierung der Rechtsprechung
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1. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Ausländerrecht im Jahr 2007: Vorbote einer neueren Entwicklung Aus heutiger Perspektive lässt sich der Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. August 2007 als frühes bzw. gar erstes Symptom dieser neueren Entwicklung begreifen. Die Entscheidung, die sich zwar vornehmlich mit grundrechtlichen Themen auseinandersetzt, bekommt ihr grundlegendes Potential vor allem über die staatsorganisationsrechtlichen Folgen. Das kann auf den ersten Blick verwundern, da es sich nur um eine Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts handelt. Zudem unterscheidet sich der Sachverhalt in jenem Beschluss auch von solchen in künftigen Entscheidungen, da es nicht um die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei „gebundenen“ Normen ging.21 Im zugrundeliegenden Sachverhalt22 ging es um einen iranischen Staatsangehörigen, der in Deutschland mehrfach wegen Drogenbesitzes bzw. -handels verurteilt wurde, zuletzt zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten. Diese Verurteilung nahm die Ausländerbehörde zum Anlass, den Iraner nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG a. F. aus der Bundesrepublik Deutschland auszuweisen. Dieser lautete: „Ein Ausländer wird ausgewiesen, wenn er (…) wegen einer vorsätzlichen Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz (…) rechtskräftig zu einer Jugendstrafe von mindestens zwei Jahren oder zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.“ Da er aber als Asylberechtigter anerkannt war, genoss der im Verfassungsbeschwerdeverfahren als Beschwerdeführer Auftretende nach § 48 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 AuslG a. F.23 besonderen Ausweisungsschutz, sodass die „Ist-Ausweisung“ zu einer „Regel-Ausweisung“ wurde. Nachdem sowohl das VG Regensburg24 als auch der VGH München25 ter, Beschluss vom 24. April 2013, Az. 13 B 192/13; OVG Münster, Beschluss vom 24. April 2013, Az. 13 B 215/13; OVG Münster, Beschluss vom 24. April 2013, Az. 13 B 238/13. 21 Wenn man bedenkt, dass die Entscheidung, wie viele andere vergleichbare Fälle auch, letztlich auf eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG gestützt wird, wird deutlich, dass die etwa in den Entscheidungen Elfes (BVerfGE 6, 32) bzw. Reiten im Walde (BVerfGE 80, 137) getroffene Festlegung auf einen weiten Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit hier ihren Tribut zollt. Die befürchtete Bagatellisierung von Grundrechten kann nämlich darin erblickt werden, dass diese Ausweisungsentscheidungen letztlich auf die Handlungsfreiheit gestützt werden können, obwohl ersichtlich kein spezielleres Grundrecht geschaffen wurde. Zwar ist eine Ausweisung in ihren Wirkungen mit Sicherheit für einen Ausländer nicht ohne erhebliche Einschränkungen möglich. Der Verfassunggeber hat indes diese Freiheit nicht unter besonderen Schutz gestellt. 22 Dazu insbesondere BVerfGK 12, 37 ff. 23 „Ein Ausländer, der (…) als Asylberechtigter anerkannt ist (…) kann nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgewiesen werden. Schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung liegen in der Regel in den Fällen des § 47 Abs. 1 vor.“ 24 Entscheidung vom 28. Oktober 2005, Az. RN 9 K 04.2490. 25 Beschluss vom 3. Februar 2006, Az. 24 ZB 05.3202.
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C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis
den Klagen des Ausländers nicht stattgegeben hatten, wandte er sich mit der Verfassungsbeschwerde an das Bundesverfassungsgericht. Dieses befand, dass der Beschwerdeführer in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG verletzt sei. So führt das Gericht etwa aus: Die angegriffenen Entscheidungen „gehen zwar im Ansatz zutreffend davon aus, dass die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung – ungeachtet der Asylberechtigung des Beschwerdeführers – im Hinblick auf den Einzelfall zu prüfen ist und erfordern kann, von der gesetzlichen Regelfolge der Ausweisung (…) abzuweichen und von einem atypischen Fall auszugehen. Sie haben jedoch das Gewicht der in die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzustellenden Belange in verfassungsrechtlich erheblicher Weise verkannt.“26 Die Verwaltungsgerichte hätten den Umständen des Einzelfalls in höherer Weise Rechnung tragen müssen und hätten sich nicht nur auf die Regelvermutung des Gesetzes stützen dürfen. Der lange Aufenthalt (25 Jahre) des Iraners in Deutschland und seine Integration in die deutsche Gesellschaft sowie die fehlenden Bezüge in den Iran seien zu schwach gewichtet worden. Auffallend an der Entscheidung ist – wie sich bereits aus dem zitierten Normtext ergibt –, dass es sich im vorliegenden Fall überhaupt nicht um eine „gebundene“ Entscheidungssituation handelte. Vielmehr lag der Fall einer Regelausweisung vor.27 Auch ein weiterer Umstand ist bei der Bewertung der Entscheidung von großer Bedeutung. Wie das Gericht auch selbst anführt28, beruht die Entscheidung im Wesentlichen auf der Berücksichtigung von Art. 8 EMRK29 bzw. der entsprechenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.30 Danach sind verschiedene Kriterien maßgebend, um zu beurteilen, ob eine Ausweisung gerechtfertigt ist (u. a. Art und Schwere der Straftaten, Verbindung zum Ausweisungsland, familiäre Beziehungen).31 Es sei auch bei (vermeintlich) durch das Gesetz feststehenden Rechtsfolgenanordnungen geboten, stets Einzelfallumstände zu berücksichtigen. Nach diesem Verständnis ist also eine generelle Anordnung einer Ausweisung, insbesondere also der Fall einer damaligen „Ist-Entscheidung“, in der Pauschalität nicht mit der Menschenrechtskonvention vereinbar. Da die deutschen Gerichte hinsichtlich der Rechtsprechung zur Europäischen Menschenrechtskonvention eine Berücksichtigungspflicht, aber keine echte Rechtsbindung trifft32, wollte das Bundesverfassungsgericht mit seinem im August 2007 getroffenen Judikat also wohl vor allem durch eine völkerrechtsfreundliche Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention Rechnung tragen – und nicht das Normsystem in Bewegung bringen. Folgerichtig bezieht sich die Rechtsprechung auch 26
BVerfGK 12, 37, 41. Auf diesen Umstand weist zu Recht auch K. Naumann, DÖV 2011, S. 100, hin. 28 BVerfGK 12, 37, 40. 29 Interessant ist gleichwohl, dass das Bundesverfassungsgericht versucht, der Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK Rechnung zu tragen, obwohl der iranische Bürger keinerlei familiären Bezug in Deutschland hatte; vgl. BVerfGK 12, 37, 43. 30 EGMR, NVwZ 1998, 164, 165. 31 Zu den Kriterien siehe EGMR, NVwZ 1998, 164, 165. 32 Grundlegend BVerfGE 111, 307 – Görgülü. 27
II. Die Neuorientierung der Rechtsprechung
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ausschließlich auf das Ausländerrecht, da die Achtung des Privat- und Familienlebens wohl einen Bereich erfasst, der typischerweise bei Ausweisungen erfasst ist, bei anderen „gebundenen“ Normen, wie etwa der Gewerbeuntersagung oder in Prüfungssituationen, aber kaum eine Rolle spielen wird. Aus diesem Umstand heraus fällt noch ein weiterer Grund auf, der dafür spricht, dass das Bundesverfassungsgericht keine Verallgemeinerung seiner Rechtsprechung anstrebte, auch wenn der Beschluss aus der heutigen Perspektive den Beginn einer Entwicklung kennzeichnet: Dem Bundesverfassungsgericht ging es ausschließlich um die Berücksichtigung von Einzelfallaspekten. Entsprechend fasste etwa auch das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahr 2012 die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung auf. So deutete der 1. Senat in einer Entscheidung33 an, dass er auch eine typisierende und verallgemeinernde Rechtsprechung zugunsten eines Ausländers bei einer Ausweisung für rechtswidrig hält. Der Fokus des Gerichts lag also auf der Berücksichtigung jener Einzelfallaspekte und nicht auf einer Aussage zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Auch diese Feststellung wird bei der Bewertung der an diese Entscheidung anschließenden Rechtsprechung bedeutsam sein. Im Ergebnis bleibt bei der Entscheidung aus dem August 2007 damit der Eindruck, dass sie vornehmlich ihrem Rechtsgebiet geschuldet ist und sich sogar als konsequente Fortsetzung der Ausweisungsrechtsprechung auch vor 2007 deuten lässt. Der Beschluss präsentiert sich als eine wegweisende Entscheidung, wobei diese Wirkung nicht über eine übermäßige Rezeption in der Folgerechtsprechung erfolgt, sondern durch die Tatsache, dass sie die erste Entscheidung in einer neueren Rechtsprechungslinie bildet. Eine Bewertung als „etwas überraschende (…) Leitentscheidung“34 ist dementsprechend mit Blick auf den Zeitpunkt zutreffend. Diese Bewertung sollte aber die abgeschwächte Repräsentativität und vor allem den beschränkten Einfluss auf die Folgerechtsprechung nicht verschleiern. 2. Die Ausweisung im Ausländerrecht Da die Entscheidung des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2007 im Ausländerrecht zur Rechtmäßigkeit einer Ausweisung erging, hat der Beschluss in diesem Rechtsgebiet auch die größten Konsequenzen hervorgerufen, wenn auch bereits vor dem Jahr 2007 die ersten Ansätze zu erkennen waren35. 33
BVerwGE 142, 29, 38 f. V. Mehde, DÖV 2014, S. 543. 35 Ausdrücklich noch gegen die Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei einer Ist-Ausweisung nach damaligem Recht ist etwa noch der VGH Mannheim im Jahr 2002, Beschluss vom 23. Oktober 2002, Az. 11 S 1410/02. Auch hier sollte ein Verstoß gegen die Verhältnismäßigkeit „allenfalls in höchst seltenen, außergewöhnlichen Fällen“ in Betracht kommen. Einen anderen Weg (Berücksichtigung bei der Duldung bzw. im Abschiebeverfahren, aber keine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Überprüfung der Ausweisung) wählt der VGH Kassel im Jahr 2003, Beschluss vom 13. Oktober 2003, Az. 12 TG 2390/03. 34
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C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis
Aufgrund der Bindungswirkung verfassungsrechtlicher Entscheidungen nach § 31 BVerfGG und des unmissverständlichen Signals des Verfassungsgerichts an Behörden und Gerichte, die Ausweisungsfälle zu beurteilen haben und hatten, gingen Exekutive und Judikative dazu über, auch Fälle von „Soll-Ausweisungen“ und „Ist-Ausweisungen“ unter Gesichtspunkten der Einzelfallgerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit zu bewerten. Insbesondere die neuere Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts setzte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts um.36 Da hierdurch die Abstufungen im Ausweisungssystem ihre maßgebliche Relevanz verloren, veränderte der Gesetzgeber, wie bereits erwähnt, in den Jahren 2015 und 2016 das Ausweisungsrecht in eine einzelne Generalklausel. Diese ist zwar nunmehr als „gebundene“ Norm konzipiert, sieht aber eine Abwägung auf Tatbestandsseite vor und ist damit wertungsoffen gestaltet, sodass eine unverhältnismäßige Entscheidung im Einzelfall nicht mehr mit einem Verweis auf das Gesetz zu erklären ist. Begründet wurde diese Entwicklung ausdrücklich damit, dass „das bisherige dreistufige Ausweisungsrecht durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ohnehin mehr und mehr zu einer Ermessensausweisung mit umfassender Abwägung aller Umstände des Einzelfalls zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit modifiziert worden ist.“37 Zu dieser Entwicklung beigetragen hat maßgeblich die Verfassungsgerichtsentscheidung vor rund zehn Jahren durch die Botschaft, dass der Gesetzeswortlaut nicht die Grenze bei der Rechtsfolgenbestimmung bilden muss, aber auch die darauf folgende Judikatur. Weiterentwickelt wurde die Verfassungsgerichtsrechtsprechung nämlich auch auf „zwingende“ Ausweisungen, also solche auf der Grundlage von „gebundenen“ Normen, beispielsweise im Jahr 2009 durch das Hamburgische Oberverwaltungsgericht38. Dort wurde ein serbischer Staatsangehöriger, der mit acht Jahren das erste Mal Haschisch geraucht hatte, mit 16 Jahren heroinabhängig geworden war und anschließend zahlreiche Straftaten beging, aus Deutschland ausgewiesen. Das Gericht befand, dass die Ausweisung zwar nach dem „gebundenen“ Gesetzeswortlaut geboten gewesen sei, „höherrangiges Recht und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)“ dem aber entgegenstünden.39 Dabei bezog sich das OVG ausdrücklich auf die Bundesverfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 200740 und entwickelte die Rechtsprechung auf den Fall einer ausdrücklich als „gebundene“ Norm konzipierten Rechtsgrundlage weiter. Die Entscheidung ist so betrachtet nur konsequent und setzt die Verfassungsrechtsprechung unter EMRK-Berücksichtigung fort, ohne dabei den Maßstab zur Anwendbarkeit der Verhältnismäßigkeit zu erweitern oder zu verengen. Schließlich lässt sich die Ver 36
Siehe etwa BVerwGE 129, 367; BVerwG, Urteil vom 2. September 2009, Az.1 C 2.09; BVerwGE 142, 29; jeweils m. w. N. 37 BT-Drs. 18/4097, S. 49. 38 Urteil vom 24. März 2009, Az. 3 Bf 166/04. 39 Urteil vom 24. März 2009, Az. 3 Bf 166/04, juris, Rn. 62, 79. 40 Erstmals ausdrücklich in OVG Hamburg, Urteil vom 24. März 2009, Az. 3 Bf 166/04, juris, Rn. 80.
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fassungsgerichtsentscheidung durchaus so verstehen, dass die Verhältnismäßigkeit im Ausweisungsrecht allgemein anzuwenden ist. Noch weiter in dieser Entwicklung ging aber etwa eine Entscheidung des OVG Münster aus dem Jahr 2009.41 Während im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts und in der Rechtsprechung des OVG Hamburg noch die Grundvermutung besteht, dass die verschiedenen Ausweisungstatbestände eine Berechtigung haben und die Verhältnismäßigkeitsprüfung bei „Ist-Ausweisungen“ also grundsätzlich erst einmal begründungsbedürftig, aber eben nicht ausgeschlossen ist, kam das nordrhein-westfälische Gericht zu dem Ergebnis, „dass auch eine zwingende Ausweisung nach § 53 AufenthG grundsätzlich einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterziehen ist“.42 Die Argumentationslast wird also verkehrt: Nicht die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist rechtfertigungsbedürftig, sondern die Orientierung am systematischen Aufbau und letztlich am Wortlaut des Gesetzes.43 Die gesetzgeberische Wertung, verschiedenen Lebenssachverhaltskonstellationen unterschiedlich Rechnung zu tragen, droht damit unterlaufen zu werden. Die Ausführungen des Gerichts erstaunen, da es in diesem Fall sogar zu dem Ergebnis kam, dass die Behördenentscheidung verhältnismäßig gewesen war und der „vorliegende Fall (…) indes keine Besonderheiten“ aufwies. Es mag sich insbesondere um den Nachweis handeln, dass man Einzelfallumstände berücksichtigt hat. 3. Verwaltungsvollstreckungs- und Kostenrecht Anknüpfend an obige Ausführungen zum Kostenrecht vor dem Jahr 2007, hat sich im Vollstreckungs- und Kostenrecht inhaltlich vergleichsweise wenig geändert. Die Rechtsprechungslinie in diesem Rechtsgebiet zeichnet sich weiterhin durch eine großzügige Handhabung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus: Billigkeitserwägungen finden bei der Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Kostenansprüche einen breiten Berücksichtigungsraum. So hat sich die Rechtsprechung in den oben genannten Fällen der Halteverbotszeichen nicht geändert.44 Insbesondere das Bundesverwaltungsgericht hat seine nach wie vor gültige Rechtsprechung nicht aufgegeben, aber auch nicht erkennbar intensiviert. Das kann insgesamt aber auch nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass in diesem Bereich aus den geschilderten Motiven eine breite Akzeptanz ein 41
Beschluss vom 26. Mai 2009, Az. 18 E 1230/08. OVG Münster, Beschluss vom 26. Mai 2009, Az. 18 E 1230/08, juris, Rn. 11. 43 Daran ändert sich auch nichts, wenn das OVG in Bezug auf das gestufte System feststellt, dass dieses „grundsätzlich den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen“ entspricht (OVG Münster, Beschluss vom 26. Mai 2009, Az. 18 E 1230/08, juris, Rn. 11). 44 Eine Bestätigung erfährt die Rechtsprechung in Abschleppfällen etwa durch das OVG Bautzen, Urteil vom 23. März 2009, Az. 3 B 891/06, und das OVG Hamburg, Urteil vom 7. Oktober 2008, Az. 3 Bf 116/08. 42
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zelfallbezogener Prüfungen auch bei „gebundenen“ Kostenentscheidungen Usus gewesen ist. Zwei Entscheidungen aus den Jahren 2009 bzw. 2011 verdeutlichen aber, dass es allgemein im Bereich des Kostenrechts neben der Halteverbots-Rechtsprechung zu einer moderaten rechtsbereichsbezogenen Ausweitung der Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gekommen ist. a) Geiselbefreiung Im Mai 2009 lag dem 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts ein Fall vor, der die Geltendmachung von Auslandskosten zum Gegenstand hatte.45 Eine deutsche Staatsangehörige war bei einer Trekkingtour im Nordwesten Kolumbiens in Geiselhaft geraten. Die Entführer verlangten zur Freilassung u. a., dass die Geiseln ein ziviler Hubschrauber abholen sollte. Wenige Monate nach der Befreiung verlangte die Bundesrepublik Deutschland die Kosten dieses Hubschraubereinsatzes von der ehemals entführten Trekkerin, da die deutsche Botschaft in Bogotá den Charter des Hubschraubers veranlasst hatte; als Grundlage des Bescheids wurde § 5 Abs. 5, § 25 KonsG i. V. m. §§ 1, 7, 10 AKostG angegeben. In § 5 Abs. 5 KonsG heißt es, dass bei der Hilfeleistung für Einzelne durch Konsularbeamte, der „Empfänger (…) zum Ersatz der Auslagen verpflichtet (ist)“. Die somit als „gebundene“ Norm konzipierte Rechtsgrundlage hätte also im Verständnis der klassischen Rechtsfolgenlehre zu einem Ausschluss der Verhältnismäßigkeitsprüfung der Kostenforderung geführt. Gleichwohl führte das Bundesgericht aus: „Bei der Festsetzung des Erstattungsbetrages ist aber der verfassungsrechtlich verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen. Dieser kann – je nach den Umständen des Einzelfalls – die Rückforderung nur eines Teils der Kosten oder in Ausnahmefällen auch den völligen Verzicht auf die Erstattung gebieten. Zu den in die Entscheidung einzubeziehenden Umständen gehören neben der individuellen Leistungsfähigkeit des Erstattungspflichtigen etwa auch der Anlass des Auslandsaufenthalts (Urlaub, Aufbau- / Entwicklungshilfe, diplomatische Mission etc.) und der Verursachungsbeitrag des Entführungsopfers (z. B. Missachtung einer Reisewarnung etc.).“46 Der neueren Rechtsprechungslinie folgend, wendet das Bundesverwaltungsgericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz an. Dass das Gericht gleichwohl zu dem Ergebnis kommt, dass die Kostenforderung nicht das Übermaßverbot verletzt, spricht dafür, dass auch der 7. Senat den Weg allgemein zu einer extensiven Anwendung der Verhältnismäßigkeit auch bei „gebundenen“ Normen wählt. Die vom Gericht angeführten Begriffe der Leistungsfähigkeit, des Verursachungsbeitrages 45 46
BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2009, Az. 7 C 13.08. BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2009, Az. 7 C 13.08, juris, Rn. 25.
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zu den Kosten und den Motiven für eine Auslandsreise entsprechen dabei einer klassischen Billigkeitsrechtsprechung, bilden sie doch herkömmliche, allgemeine Schlagwörter, die einen gerechten Lastenausgleich zu finden suchen und dabei allgemeine Rechtsprinzipien wie etwa Kausalität oder Intention berücksichtigen, obwohl die zugrundeliegende Rechtsgrundlage diese Motive selbst nicht erwähnt. Weiterhin fällt der vierte Leitsatz der Entscheidung auf, der lautet: „Bei der Festsetzung des Erstattungsbetrages nach § 5 Abs. 5 Satz 1 KG ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. (…)“. Als (abstrakte) Kernaussage des Urteils hebt der Senat damit eine allgemeine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hervor. Da es aber auf die Verhältnismäßigkeit im Ergebnis nicht ankam und andere allgemeine Verfassungsprinzipien (wie etwa die Bestimmtheit) nicht gesondert erwähnt wurden, kann die Entscheidung als eine Aufforderung zugunsten einer ausgedehnten Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gedeutet werden.47 b) Bestattungskosten naher Angehöriger Ein weiteres Beispiel der neuen Kostenrechts-Rechtsprechung bildet ein Fall aus Hessen aus dem Oktober 2011, der sich mit den Kosten eines Familienangehörigen für eine ersatzweise vorgenommene Beerdigung beschäftigte.48 Dort sollte ein Sohn für die Kosten aufkommen, die für die Beerdigung seines Vaters angefallen waren. Der Sohn hatte zu diesem Zeitpunkt seit beinahe 20 Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater, da dieser die Mutter des Klägers getötet hatte. Da der Sohn der öffentlich-rechtlich geregelten Bestattungspflicht nicht nachkam, wurde die Bestattung durch die öffentliche Hand vorgenommen. Gegen den anschließenden Kostenbescheid wehrte sich der Kläger mit dem Einwand der Unzumutbarkeit der Heranziehung zur Tragung der Kosten. Auch in diesem Fall lag eine „gebundene“ Norm in Form von § 8 Abs. 2 HSOG vor, auf den § 13 Abs. 5 des hessischen FBG verweist. Erstere Vorschrift lautet: „Entstehen den Gefahrenabwehr- oder den Polizeibehörden durch die unmittelbare Ausführung einer Maßnahme Kosten, so sind die nach den §§ 6 oder 7 Verantwortlichen [also Verhaltens- und Zustandsstörer] zum Ersatz verpflichtet.“ Der bis vor wenigen Jahren in den meisten Rechtsgebieten vorherrschenden Rechtspraxis, die besagte, dass in diesem Fall keine Verhältnismäßigkeitserwägungen berücksichtigt werden durften, begegnet der Verwaltungsgerichtshof wie folgt: „Die Gründe für die Annahme einer öffentlich-rechtlichen Bestattungspflicht naher Angehöriger recht 47 Auch in dieser Fallkonstellation dürfte ein von T. Westerhoff, S. 160, angenommener Eingriff in den Kernbereich des Art. 14 GG eher fernliegen. Insgesamt erscheint es sogar zweifelhaft, aber mindestens begründungsbedürftig, überhaupt einen Eingriff in die Eigentumsfreiheit (so aber T. Westerhoff, S. 161) anzunehmen, wenn man den öffentlich-rechtlichen Charakter der Kosten bedenkt. 48 Urteil vom 26. Oktober 2011, Az. 5 A 1245/11., m. w. N. in juris, Rn. 32, zu ähnlich gelagerten Fällen.
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fertigen es regelmäßig, die Pflicht zur Kostentragung an die Bestattungspflicht zu koppeln. Allerdings kann bei Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalls das grundsätzliche Interesse der Allgemeinheit an der Übernahme der Bestattungskosten durch den Angehörigen, hinter das Interesse des bestattungspflichtigen Angehörigen, von der Heranziehung zu den Kosten verschont zu bleiben, zurücktreten. Dies kann dann der Fall sein, wenn diese Gründe so gewichtig sind, dass der eigentliche Bestattungspflichtige durch seine Heranziehung zu den Kosten unzumutbar belastet wird. Auch ein Leistungsbescheid nach § 13 Abs. 5 FBG in Verbindung mit § 8 Abs. 2 Satz 1 HSOG muss sich in jedem Einzelfall wie jede andere belastende Maßnahme am verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientieren. (…) Eine Gesamtabwägung (…) muss sicherstellen, dass die Grenzen der Zumutbarkeit gewahrt sind (…).“49 Das Gericht erkennt also ausdrücklich die abstrakte Verhältnismäßigkeit der Norm an, stellt aber auch unmissverständlich klar, dass eine Einzelfallabwägung dennoch geboten ist.50 Auch dieses Urteil führt damit die bereits dargestellte Linie fort und überträgt die alten Grundsätze im Kostenrecht vor 2007 hin zu einer allgemeinen Einzelfallprüfung in jedem Fall auch auf den hier in Rede stehenden Bereich.51 c) Umfangreiche Berücksichtigung von Einzelfallerwägungen im Kosten- und Vollstreckungsrecht Im Bereich des Kostenrechts zieht sich kein Bereich der Rechtsprechung mehr mit einem pauschalen Verweis auf das (vermeintlich) zwingende Recht zurück. Ziel der Rechtsprechung scheint dabei nicht immer eine ausnahmslos darzulegende Verhältnismäßigkeitsprüfung, sondern eine Letztversicherung zu sein, dass grundsätzlich jeder Fall, unabhängig von der konkreten Rechtsgrundlage, sich am allgemeinen Grundsatz verhältnismäßigen staatlichen Verhaltens orientieren muss. Diese Entwicklung ist angesichts des Bedürfnisses nach Einzelfallanpassung zu begrüßen. Ohne die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2007 stets zu zitieren, lässt diese neuere Rechtsprechung im Bereich des Kostenrechts eine unmissverständliche Aufforderung erkennen, wie aus der Perspektive der Verwaltungsgerichte öffentliche Kosten künftig durch die Verwaltung zu erheben sind. Je-
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Urteil vom 26. Oktober 2011, Az. 5 A 1245/11, juris, Rn. 31. Der VGH Kassel geht davon aus, dass die Verhältnismäßigkeit eine Rechtsfrage und keine Ermessensfrage ist; vgl. auch T. Westerhoff, S. 26, Fn. 139. 51 In einer vergleichbaren Fallkonstellation ausdrücklich gegen die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist etwa das OVG Hamburg, Urteil vom 26. Mai 2010, Az. 5 Bf. 34/10. Die Möglichkeit, die Kostenübernahme durch den Sozialhilfeträger zu beantragen, genüge insoweit und lasse angesichts des eindeutigen Wortlauts keinen weiteren Spielraum. In der Maßstabsbildung zum VGH Kassel ähnlich, wenn im Einzelfallergebnis auch abweichend, das VG Weimar, Urteil vom 27. November 2013, Az. 3 K 463/12 We. 50
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der Kostenbescheid, gleich auf welche gesetzliche Grundlage gestützt, muss damit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen.52 4. Prüfungsrecht Besonders großer Beliebtheit erfreut sich die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei „gebundenen“ Normen seit etwa zehn Jahren im Bereich des Prüfungsrechts.53 Während derartige Fälle aus früheren Zeiten in dieser Gestalt nicht zu finden sind, bilden das Beispiel einer Abiturprüfung, einer Abschlussprüfung an einem Berufskolleg und eines Prüfungsverfahrens im Rahmen der Juristenausbildung drei Exempel, die ausnahmsweise überwiegend54 auch ausdrücklich Bezug auf das Verfassungsgerichtsjudikat nehmen. a) Fehlverhalten vor einer Prüfung: Versäumnis eines Abiturprüfungstermins Der erste Fall handelt von einem Schüler, der im Sommer 2008 seine mündliche Abiturprüfung im vierten Abiturfach verpasste.55 Er war bei der Kenntnisnahme seines Termins in der Zeile verrutscht und deswegen am für ihn gültigen Termin nicht anwesend. Daraufhin bewertete der Zentrale Abiturausschuss gem. § 23 Abs. 3 S. 1 APO-GOSt (NRW) die Leistung des Schülers mit „ungenügend“. Die als „gebundene“ Norm konzipierte Vorschrift lautet: „Versäumt ein Prüfling Teile der Prüfung aus einem von ihm zu vertretenden Grund, so wird dieser Prüfungsteil wie eine ungenügende Leistung bewertet.“ Unter Bezugnahme auf die Verfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 2007 entschied das OVG Münster aber, dass auch bei einer derartigen Entscheidung aufgrund einer „gebundenen“ Norm Einzelfallaspekte zu berücksichtigen seien. Dazu führt es aus56: „Auch bei gebundenen Verwaltungsentscheidungen ist aber zu prüfen, ob die vorgesehene Rechtsfolge den konkreten Verhältnissen des Ein 52 T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 161, Fn. 129, weist darauf hin, dass auch nach dem geltenden Recht regelmäßig Billigkeitserwägungen bei der Geltendmachung öffentlicher Kosten berücksichtigt werden können. Dabei handelt es sich allerdings lediglich um eine bereichsspezifische Ausnahme. Zudem bleibt T. Barczak eine konkrete Darstellung, etwa der Identität der Voraussetzungen, schuldig. 53 Dass insbesondere die Verwaltung im Schulrecht näher an der Lebenswirklichkeit ist als der Gesetzgeber finden auch C. Degenhart, NJW 1984, S. 2188 f., und M. Schröder, DVBl. 1984, z. B. S. 822, dort auch m. w. N. 54 So für die folgenden Entscheidungen: OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08, juris, Rn. 12; VG Karlsruhe, Urteil vom 29. Juni 2011, Az. 7 K 3433/10, juris, Rn. 23. 55 OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08. 56 OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08, juris, Rn. 11.
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zelfalls gerecht wird. Dies gilt insbesondere bei Regelungen, die aufgrund ihrer typisierenden Betrachtung zwangsläufig nicht jeden im Einzelfall erheblichen Aspekt mit dem ihm gebührenden Gewicht erfassen können. In diesen Fällen würde die schematische Anwendung der Regelungen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.“57 Eine derartige typisierende Norm liege hier vor, da die Vorschrift etwa nicht nach Art und Schwere der Säumnis differenziere.58 Im vorliegenden Fall, so das Gericht, sei die Bewertung mit „ungenügend“ unverhältnismäßig, da bloß eine fahrlässige Säumnis gegeben sei59, der Eingriff in die Berufsfreiheit durch die Bedeutung und Wertung der (mündlichen) Abiturprüfung erheblich sei60 und eine Nachholung der Prüfung ohne weitere Schwierigkeiten möglich gewesen wäre61. Auffällig bei dieser Entscheidung ist zum einen die Bezugnahme auf die Verfassungsgerichtsentscheidung, die im Jahr zuvor getroffen worden war. Das Oberverwaltungsgericht nutzt diese für seine Argumentation, obwohl bekanntermaßen der Bundesverfassungsgerichtsbeschluss keine Verwaltungsentscheidung aufgrund einer „gebundenen“ Norm zum Gegenstand gehabt hatte. Andererseits ist auch die Maßstabsbildung des nordrhein-westfälischen Gerichts beachtenswert. „Typisierende Betrachtungen“, die einen pauschalen Ausschluss von Verhältnismäßigkeitserwägungen auszeichnen, sind wohl das Merkmal abstrakt-genereller Regelungen, also von Gesetzen schlechthin. Sind Gesetze nämlich zu stark einzelfallorientiert, geraten sie in Konflikt mit Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG62. Das Oberverwaltungsgericht bleibt auch in der Darlegung, inwieweit hier tatsächlich ein „atypischer Fall“ oder – um in der Terminologie älterer Entscheidungen zu bleiben – ein „extremer Ausnahmefall“ gegeben war, vage. Liest man die Vorschrift der APO-GOSt, drängt sich der Eindruck auf, dass der vom OVG Münster zu bewertende Fall gerade ein klassischer Anwendungsfall dieser Norm sein dürfte. Somit hätte eine Nichtanwendung der untergesetzlichen Rechtsnorm oder eine Klageabweisung nahe gelegen. Die Aussagen des Gerichts lassen sich auch so verstehen, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ohne Ausnahme und jede Form von Abstufung bei jeder Rechtsfolge geprüft werden muss. Offen bleibt nach dieser Maßstabsbildung, inwiefern sich eine „gebundene“ Norm noch von einer Ermessensregelung in der Ausführung unterscheidet.
57 Inhaltlich nicht überzeugend ist diese Aussage allein deshalb, weil nach der Auffassung des Gerichts schon der schematische Vollzug des Gesetzes zu einem Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz führt, ohne dass auch tatsächlich materiell ein Ungleichgewicht zwischen den Abwägungsbelangen vorliegen muss. Die abstrakte Nichtbeachtung der Verhältnismäßigkeit wird danach von einem Ergebnis- zu einem Vorgangsfehler. 58 OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08, juris, Rn. 13. 59 OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08, juris, Rn. 18. 60 OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08, juris, Rn. 14. 61 OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08, juris, Rn. 19. 62 Zur Bedeutung dieser Vorschrift im Zusammenhang mit dem Thema siehe E. III. 1.
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b) Fehlverhalten während einer Prüfung: Mitführen eines Handys Im Sommer 2011 hatte das VG Karlsruhe einen Fall zu beurteilen, in dem es um das unerlaubte Mitführen eines Handys durch einen Prüfling während der Vorbereitungszeit einer mündlichen Abschlussprüfung an einem Berufskolleg ging.63 Bei der Schülerin klingelte während der Prüfung das Handy. Diese wurde trotzdem fortgesetzt und mit „gut“ bewertet. Auf das Verbot, das Handy mitzuführen, waren die Prüfungsteilnehmer, anders als bei den einige Monate zuvor stattgefundenen schriftlichen Arbeiten, nicht noch einmal gesondert hingewiesen worden. Später änderte aber die (zuständige) stellvertretende Schulleiterin die Bewertung in „ungenügend“ ab, da die Schülerin das Handy auch in der Vorbereitungszeit bei sich gehabt hatte. Dass die Schülerin das Handy während der Vorbereitung unerlaubt genutzt haben könnte, galt aufgrund der Aufsicht während der nur 30-minütigen Vorbereitungszeit als nahezu ausgeschlossen. Grundlage für die ungenügende Bewertung war § 20 Abs. 3 der Verordnung des Kultusministeriums über die Ausbildung und Prüfung an den einjährigen Berufskollegs zum Erwerb der Fachhochschulreife (1BKFHVO; im Folgenden: VO), der – als „gebundene“ Norm konzipiert – lautet: „Von der weiteren Teilnahme an der Prüfung wird ausgeschlossen, bei wem eine Täuschungshandlung vorliegt; dies gilt als Nichtbestehen der Abschlussprüfung. In leichten Fällen kann stattdessen die Prüfungsleistung mit der Note ‚ungenügend‘ bewertet werden. (…)“ Im vorliegenden Fall wurde ein letzterer, leichter Fall, angenommen, sodass nur die konkrete Leistung mit „ungenügend“ bewertet wurde. Das Verwaltungsgericht hob die Entscheidung unter Verweis64 auf die Verfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 2007 auf, da die Bewertung der Prüfungsleistung mit „ungenügend“ gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße.65 Dies liege daran, dass „die zwingend vorgesehene Sanktionierung eines Verstoßes gegen § 20 Abs. 1 VO mit der Note ‚ungenügend‘ (…) nur dann als verhältnismäßig angesehen werden [kann], wenn die Schüler vor der Prüfung in klarer und unmissverständlicher Weise auf das Verbot des bloßen Mitführens nicht zugelassener Hilfsmittel hingewiesen wurden und das Verbot unschwer beachten konnten (…).“66 Entsprechend überrascht die Entscheidung in der dogmatischen Begründung. Die Pflicht, auf das Verbot zum Mitführen hinzuweisen, ergibt sich nämlich bereits ausdrücklich aus § 20 Abs. 6 VO: „Vor Beginn der Prüfung ist auf diese Bestimmungen hinzuweisen.“ Überraschenderweise sieht das Gericht in der Verletzung der Formvorschrift einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Überzeugender wäre es gewesen, die Maßnahme aus eben diesen formalen Gründen aufgrund der irreversiblen Missachtung von Verfahrensfehlern aufzuheben, statt 63
VG Karlsruhe, Urteil vom 29. Juni 2011, Az. 7 K 3433/10. VG Karlsruhe, Urteil vom 29. Juni 2011, Az. 7 K 3433/10, juris, Rn. 23. 65 VG Karlsruhe, Urteil vom 29. Juni 2011, Az. 7 K 3433/10, juris, Rn. 22 ff. 66 VG Karlsruhe, Urteil vom 29. Juni 2011, Az. 7 K 3433/10, juris, Rn. 24. 64
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den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu bemühen. Auch hätte man an den Tatbestand anknüpfen und darlegen können, dass das bloße Mitführen oder Klingeln eines Handys noch keine Täuschungshandlung darstellt. Weiterhin führt das Gericht aus: „Diese abweichende Praxis der Schule bei der Durchführung von mündlichen Prüfungen [gemeint ist die Tatsache, dass in der Schule vor der schriftlichen Prüfung auf das Verbot des Mitführens eines Handys hingewiesen wird, bei der mündlichen Prüfung aber nicht] könnte – übereinstimmend mit den im Schriftsatz vom … von der Klägerin unter Beweis gestellten Behauptungen – dafür sprechen, dass die … … bei der hier streitigen mündlichen Prüfung selbst nicht von einem Handyverbot ausgegangen ist. Letztlich bedarf dies jedoch keiner abschließenden Klärung. Denn angesichts der oben aufgezeigten Besonderheiten, die sich aus der Einstufung von Handys als nicht zugelassene Hilfsmittel, aus der Eigenart mündlicher Prüfungen sowie dem konkreten Ablauf der Prüfung ergeben, hätte es im konkreten Einzelfall der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geboten, alle Prüflinge vor Beginn der mündlichen Prüfung in klarstellender Weise darauf hinzuweisen, dass das sanktionierte Handyverbot auch hier gilt.“67 Es überrascht, dass das Gericht faktisch überhaupt keine Abwägung, erst recht nicht der konkreten Belange, vornimmt, obgleich die Verhältnismäßigkeit in der Form als Übermaßverbot als Interessenabwägung konzipiert ist. Es benennt nicht einmal in concreto die abzuwägenden Güter. Allenfalls verweist es allgemein auf die Chancengleichheit der Mitprüflinge.68 c) Fehlverhalten nach einer Prüfung: Kontaktaufnahme zum Prüfer im Staatsexamen Einen weiteren Fall hatte das Bundesverwaltungsgericht im Frühjahr 2012 zu entscheiden.69 Dort ging es um eine Rechtskandidatin, die nach Meinung des Landesjustizprüfungsamtes Sachsen im Rahmen der Prüfung zur zweiten juristischen Staatsprüfung unzulässig einen Prüfer beeinflusst hatte. Sie hatte, nachdem ihr mitgeteilt worden war, dass sie ihre Prüfung nicht bestanden hatte, einen Prüfer einer Klausur, die dieser mit drei Punkten bewertet hatte, telefonisch nach den Gründen für die Bewertung gefragt. Die Bewertung dieser Klausur war entscheidungserheblich für das Bestehen der gesamten Prüfung, da eine Bewertung mit vier Punkten dazu geführt hätte, dass die Kandidatin das Staatsexamen bestanden 67
VG Karlsruhe, Urteil vom 29. Juni 2011, Az. 7 K 3433/10, juris, Rn. 25. Im Übrigen überzeugt die Entscheidung auch bereits unter logischen Gesichtspunkten nicht. Es wird zunächst angeführt, dass die zu prüfende Kandidatin aus dem Nicht-Hinweis zum Handyverbot vor der mündlichen Prüfung den Schluss eines fehlenden Verbots bemerken konnte, andererseits aber zwischen den schriftlichen und mündlichen Prüfungen ein langer Abstand lag (vgl. VG Karlsruhe, Urteil vom 29. Juni 2011, Az. 7 K 3433/10, juris, Rn. 25 a. E.). Es erscheint nicht lebensnah, dass bei einem langen zeitlichen Abstand, ein Kandidat in der Prüfungssituation tatsächlich einen derartigen Umkehrschluss zieht. 69 BVerwG, Urteil vom 21. März 2012, Az. 6 C 19.11. 68
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hätte. Nachdem beide dieses sachliche Telefonat geführt hatten, teilte der Prüfer dem Justizprüfungsamt mit, dass er sich aufgrund des Telefonats nicht mehr in der Lage gesehen habe, unbefangen zu urteilen und bat darum, einen weiteren neutralen Korrektor heranzuziehen. Das Prüfungsamt setzte daraufhin die Bewertung der Prüfung auf null Punkte, da § 14 SächsJAPO a. F. erfüllt sei. Dieser lautete: „Unternimmt es ein Prüfungsteilnehmer, das Ergebnis einer schriftlichen Arbeit oder das Ergebnis einer mündlichen Prüfung durch Täuschung, Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel, unzulässige Hilfe anderer Prüfungsteilnehmer oder Dritter oder durch Einwirken auf Prüfungsorgane oder auf von diesen mit der Wahrnehmung von Prüfungsangelegenheiten beauftragte Personen zu beeinflussen, so ist diese schriftliche Arbeit oder die mündliche Prüfung mit der Note „ungenügend“ (0 Punkte) zu bewerten.“ Die Vorschrift sah damals – anders als etwa der heutige § 12 SächsJAPO, der eine Soll-Vorschrift darstellt – eine vermeintlich vollständig festgelegte Rechtsfolge vor. Der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts entschied im März 2012, dass die getroffene Sanktion unverhältnismäßig und damit rechtswidrig gewesen sei. Das Verhalten der Kandidatin sei nicht geeignet gewesen, eine Beeinflussung des Prüfers vorzunehmen, da die Kandidatin in dem Gespräch ausschließlich um eine Erläuterung der Note bat und der Prüfer bis auf den Namen und die Bewertungserheblichkeit seiner Entscheidung keinerlei Informationen gewonnen hatte.70 Als Folge des Verstoßes gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei die Berufsfreiheit der klagenden Rechtskandidatin verletzt gewesen.71 Auffällig an dieser Entscheidung ist die Veränderung der Maßstäbe durch den 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts gegenüber den erwähnten des 1. Senats. Während der 1. Senat noch „extreme Ausnahmefälle“ anführt, begnügt sich der 6. Senat mit einer „ausnahmsweise“72 vorgenommenen Prüfung: „Gerade weil § 14 Abs. 1 Satz 1 SächsJAPO a. F. nicht als Ermessensnorm ausgestaltet ist und überdies seine Tatbestandsmerkmale eine beachtliche Weite aufweisen, kommt der Verhältnismäßigkeitsprüfung hier eine wichtige Korrektivfunktion bei der Auslegung des Tatbestands zu.“73 Die Verhältnismäßigkeit wird hier – der Argumentation des Senats folgend – „erst Recht“ geprüft, obwohl der Gesetzgeber sie nach klassischem Verständnis gerade ausgeschlossen haben will. Das Ansinnen des Gerichts ist zwar verständlich und bezieht sich ausdrücklich auf den Tatbestand und nicht die Rechtsfolge74; da dogmatisch allein75 eine Anknüpfung im Tatbestand 70
BVerwG, Urteil vom 21. März 2012, Az. 6 C 19.11, juris, Rn. 33 f. BVerwG, Urteil vom 21. März 2012, Az. 6 C 19.11, juris, Rn. 31. 72 BVerwG, Urteil vom 21. März 2012, Az. 6 C 19.11, juris, Rn. 27. 73 BVerwG, Urteil vom 21. März 2012, Az. 6 C 19.11, juris, Rn. 27 (Hervorhebungen nur hier). 74 Problematisch nach T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 159, sowie T. Westerhoff, S. 10, ist die Tatsache, dass nicht immer klar ist, ob die Gerichte die Verhältnismäßigkeit wirklich in der Rechtsfolge prüfen wollen oder diese auf den Tatbestand beziehen, auch wenn T. Westerhoff, a. a. O., den Tatbestand für wahrscheinlicher hält; siehe ferner S. 13 und 15. 75 Zur gemeinsamen Anknüpfung an Tatbestand und Rechtsfolge siehe D. III. 71
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gesucht wird, umgeht es – sofern man dem klassischen Verständnis folgt – den Gedanken „gebundener“ Normen aber mittels eines Kunstgriffs. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit bei „gebundenen“ Normen führt nach dieser Bundesverwaltungsgerichtsentscheidung dann zu merkwürdigen Konsequenzen und einer fehlenden Kohärenz, die das Gericht auch selbst erkennt: „Freilich muss die Prüfungsbehörde die damit einhergehende Beschränkung ihrer Reaktionsmöglichkeiten hinnehmen. Stellt sie ein unlauteres Prüfungsverhalten fest, dessen Gewicht im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht für einen Bewertungsausschluss hinreicht, so ist ihr bei einer Norm vom Zuschnitt des § 14 Abs. 1 Satz 1 SächsJAPO a. F. jegliche Sanktionierung verwehrt, selbst wenn das in Rede stehende Verhalten einen immer noch nicht völlig zu vernachlässigenden Unwertgehalt verkörpert.“76 Das Verhalten des Prüflings, das der Gesetzgeber – oder wie hier der Verordnungsgeber – für derart sanktionswürdig gehalten hat, dass er die Wertung mit „ungenügend“ als Rechtsfolge nicht in die Hände der Verwaltung legen wollte, wird nun komplett sanktionslos. Die „Minusmaßnahme“ wird damit zur „Nullmaßnahme“. Der Betroffene steht besser da als bei einer Ermessensnorm, bei der die Verwaltung ein abgestuftes Konzept hätte wählen können. d) Verhältnismäßigkeit als Schutzmechanismus zugunsten von Prüflingen Die drei Entscheidungen aus dem Prüfungsrecht stehen repräsentativ für einen neuen Entwicklungsstrang im Verständnis der verschiedenen Rechtsfolgentypen.76a Die Aufweichung der klassischen Rechtsfolgenlehre durch die neuere Rechtsprechung folgt der erkennbaren Agenda, Einzelfallgerechtigkeit zu erreichen und damit einem begrüßenswerten Ziel. Die methodische Umsetzung erfordert aber noch systematischen Abstimmungsbedarf, um Wertungswidersprüche zu vermeiden.77 Insbesondere lässt die Rechtsprechung aus verständlichen Gründen Folgefragen unbeantwortet. 5. Sozialhilferecht Im Recht der Sozialhilfe gibt es in Bezug auf die Kürzung von Bezügen von Arbeitslosengeld II („Hartz IV“; im Folgenden: ALG II) zwei erwähnenswerte Entscheidungen aus den Jahren 2011 und 2013, die sich mit der Thematik einer „gebundenen“ sozialrechtlichen Norm und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beschäftigt haben.78 76
BVerwG, Urteil vom 21. März 2012, Az. 6 C 19.11, juris, Rn. 27. Vgl. auch BVerwG, Urteil vom 27. Februar 2019, Az.: 6 C 3.18. 77 Kritisch deshalb auch K. Naumann, DÖV 2011, S. 103. 78 LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18. Dezember 2013, Az. L 13 AS 161/12, sowie SG Chemnitz, Urteil vom 6. Oktober 2011, Az. S 21 AS 2853/11.
76a
II. Die Neuorientierung der Rechtsprechung
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In den Fällen vor dem SG Chemnitz bzw. dem LSG Niedersachsen-Bremen hatten Bezieher von ALG II Termine verpasst79, zu denen sie bei ihrer jeweiligen Arbeitsagentur vorstellig werden sollten. Als Folge kürzten in den Fällen die Arbeitsagenturen die finanzielle Unterstützung um jeweils zehn Prozent für drei Monate. § 32 Abs. 1 SGB II80 lautet nämlich: „Kommen Leistungsberechtigte trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen, nicht nach, mindert sich das Arbeitslosengeld II oder das Sozialgeld jeweils um 10 Prozent des für sie nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Dies gilt nicht, wenn Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für ihr Verhalten darlegen und nachweisen.“ Die demnach vorgesehene „zwingende“ Rechtsfolge wird also unabhängig von einem Verschulden angeordnet; lediglich ein „wichtiger Grund“ lässt die Sanktion entfallen. In beiden Fällen beruhte die Säumnis aber aus einer einfachen Unachtsamkeit, sodass beide Gerichte die Voraussetzungen als gegeben ansahen. In der Beurteilung der Rechtsfolge differenzierten jedoch beide Gerichte. Das SG Chemnitz führte zwei Gesichtspunkte an, die aus seiner Sicht dazu beitrugen, dass die Maßnahme unverhältnismäßig war. Zum einen sei die Meldeaufforderung an die Sozialhilfeempfängerin nicht erforderlich gewesen, da etwa ein einfacher Telefonanruf genügt hätte, um die erforderlichen Informationen einzuholen.81 Zum anderen sei nicht ersichtlich, inwieweit die Nachholung des Termins am nächsten Tag irgendeinen Aufwand oder Nachteile bedeutet hätte.82 Aus diesen beiden Gesichtspunkten ergebe sich die Unverhältnismäßigkeit der Kürzung. Das LSG Niedersachsen-Bremen beurteilte einen ähnlich gelagerten Fall anders.83 Während auch noch die Vorinstanz einer Bewertung wie das SG Chemnitz folgte und 79
Im Fall des SG Chemnitz ging es um eine werdende Mutter, die kurz davor stand, in Elternzeit zu gehen. Sie verwechselte jedoch den Termin und erschien zur gleichen Zeit einen Tag später in der Arbeitsagentur. Im Fall des LSG Niedersachen-Bremen übersah der Sozialhilfeempfänger den Termin, da er sich „im Wochentag geirrt“ hatte (juris, Rn. 3) und meldete sich einen Tag später bei der Arbeitsagentur per E-Mail. Die Fälle sind also weitestgehend vergleichbar, sodass der Fokus allein auf die rechtliche Würdigung durch die Gerichte gelegt werden kann. 80 Im Fall des SG Chemnitz ging es um den inzwischen in dieser Fassung nicht mehr gültigen § 31 Abs. 2 SGB II. Dieser lautete bis zum 1. Januar 2011: „Kommt der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen einer Aufforderung des zuständigen Trägers, sich bei ihm zu melden oder bei einem ärztlichen oder psychologischen Untersuchungstermin zu erscheinen, nicht nach und weist er keinen wichtigen Grund für sein Verhalten nach, wird das Arbeitslosengeld II unter Wegfall des Zuschlags nach § 24 in einer ersten Stufe um 10 vom Hundert der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 maßgebenden Regelleistung gemindert.“ Die Vorschriften sind sich in Voraussetzungen, Rechtsfolgen und Ausnahmen also sehr ähnlich. 81 SG Chemnitz, Urteil vom 6. Oktober 2011, Az. S 21 AS 2853/11, juris, Rn. 35 f. 82 SG Chemnitz, Urteil vom 6. Oktober 2011, Az. S 21 AS 2853/11, juris, Rn. 37. 83 Zu Recht weist T. Westerhoff, S. 44, darauf hin, dass sich das Gericht in Widerspruch zu seinen eigenen Ausführungen setzt, weil es anschließend die Verhältnismäßigkeit des Einzelfalls (juris, Rn. 25 f.) prüft. Dies bildet indes erkennbar nicht den Schwerpunkt der Begründung.
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C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis
die Maßnahme für unverhältnismäßig erklärte, stellt sich das LSG auf einen recht lichen Standpunkt, der dem klassischen Rechtsfolgenverständnis entspricht und als herrschende Rechtsprechung vor 2007 zu bezeichnen ist: „Bei einer gebundenen Verwaltungsentscheidung – wie hier – kann der Vorwurf unverhältnismäßigen Behördenhandelns immer nur darauf gestützt werden, dass die Ermächtigungsgrundlage ihrerseits unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig sei. Denn § 32 SGB II führt ‚zwingend‘ zur Rechtsfolge, wenn nicht als Rechtfertigung für das Verhalten des betreffenden Leistungsberechtigten ein ‚wichtiger Grund‘ gegeben ist. Damit hat die gesetzliche Regelung, die von den Merkmalen der Massenverwaltung geprägt ist (…), einen ausreichenden Schutzmechanismus für den Bürger im Sinne allgemeiner Verhältnismäßigkeit geschaffen, sodass darüber hinaus der Gesetzgeber nicht noch weitere Ermessungsbetätigungen des Leistungsträgers in die Eingriffsnorm einfügen musste, um die Verfassungsmäßigkeit der Norm zu wahren.“84 Das Gericht steht damit in der Tradition des klassischen Verständnisses zur Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei „gebundenen“ Normen; allerdings steht diese Entscheidung in Kontrast zu den Entwicklungen der vergangenen zehn Jahre. Dass Gerichte Fälle einer unterschiedlichen rechtlichen Bewertung unterziehen, ist nichts Ungewöhnliches. Nur handelt es sich etwa hier nicht um einen Diskussionsgegenstand, der im Sozialrecht als Fachrecht angesiedelt ist und damit nicht einer im Instanzenzug zu entscheidenden Lösung entgegensieht. Es geht vielmehr um das verfassungsrechtliche Spannungsfeld von Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und „gebundener“ Norm allgemein. So hat etwa auch das LSG Niedersachsen-Bremen seine Entscheidung auch primär nicht mit der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme begründet, sondern mit der Feststellung, dass es auf diese Proportionalität nicht ankäme. 6. Entscheidungen mit beruflichem Bezug Ein Großteil der Entscheidungen, in denen Einzelfallaspekte bei „gebundenen“ Normen eine Rolle spielen, weist einen Bezug zu beruflicher Tätigkeit auf – sowohl zu selbständiger als auch unselbständiger.
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LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 18. Dezember 2013, Az. L 13 AS 161/12, juris, Rn. 24. Die Vorinstanz des LSG Niedersachsen-Bremen, das SG Oldenburg, wählte in seiner Entscheidung vom 20. Juni 2012, Az. S 48 AS 323/12, einen dem SG Chemnitz vergleichbaren Weg.
II. Die Neuorientierung der Rechtsprechung
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a) Gewerberecht Die größte Kontinuität gibt es insoweit im Bereich des Gewerberechts.85 Wie oben bereits dargestellt, bildete dieser Rechtsbereich auch schon vor 2007 in Bezug auf die Anwendung von Einzelfallaspekten eine Ausnahme. So hat etwa der VGH München in neueren Entscheidungen aus den Jahren 2012 und 201386 ausdrücklich an die Terminologie des Bundesverwaltungsgerichts angeknüpft und von „extremen Ausnahmefällen“ gesprochen. Inwieweit das Bundesverwaltungsgericht seine eigene Rechtsprechung verfeinern und insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen weiteren Anwendungsbereich geben wird und nicht nur in „extremen“, sondern etwa in „außergewöhnlichen Ausnahmefällen“ oder gar regelmäßig angewendet wissen möchte, bleibt abzuwarten. Verwundern würde eine derartige Rechtsprechung nicht, wenn man bedenkt, dass in diesem Rechtsgebiet das Problem schon erwähnt wurde, als es in anderen Bereichen überhaupt noch nicht diskutiert wurde.87 b) Beamtenrecht Einen Bereich, in dem der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch nach 2007 keine große Resonanz hervorgerufen hat, bildet das Beamtenrecht. So hatte in einer Entscheidung aus dem Jahr 2008 der VGH Mannheim88 zu beurteilen, ob die Weisung des Oberschulamts an eine muslimische Lehrerin aus Stuttgart, während des Unterrichts kein Kopftuch zu tragen, rechtmäßig gewesen war. Grundlage für die Weisung war § 74 S. 2 LBG BW a. F., der lautete: „Er [Der Beamte] ist verpflichtet, die von ihnen erlassenen Anordnungen auszuführen und ihre allgemeinen Richtlinien zu befolgen, sofern es sich nicht um Fälle handelt, in denen er nach besonderer gesetzlicher Vorschrift an Weisungen nicht gebunden und nur dem Gesetz unterworfen ist.“ Konkretisiert wurde diese Pflicht durch § 38 Abs. 2 S. 1 SchulG BW: „Lehrkräfte an öffentlichen Schulen nach § 2 Abs. 1 dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußeren Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülern und Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören.“ Da es sich bei der Regelung des LBG BW um eine „gebundene“ Norm handelte, stand auch hier in Frage, ob – neben den allgemeinen verfassungsrechtlichen Pro 85 Das gilt aber nicht nur für § 35 Abs. 1 GewO, sondern auch für § 15 Abs. 1 GastG. Vgl. VG Ansbach, Urteil vom 17. Oktober 2012, Az. AN 4 K 12.01085. 86 VGH München, Beschluss vom 24. Oktober 2012, Az. 22 ZB 12.853, und Beschluss vom 30. April 2013, Az. 22 B 13.448. 87 T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 159, weist auf den 11. Senat des VGH München hin, der der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ablehnend gegenübersteht. 88 Urteil vom 14. März 2008, Az. 4 S 516/07.
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C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis
blemen, die die sog. Kopftuch-Entscheidungen beinhalten89 – eine Abweichung von der als in der Rechtsfolge zwingend verstandenen Vorschrift durch Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes möglich erschien, da davon ausgegangen wurde, dass die Tatbestandsvoraussetzungen vorlagen. Das Gericht verhielt sich dazu vergleichsweise sehr ausführlich und unmissverständlich: „Der dienstlichen Weisung kann auch nicht entgegengehalten werden, sie sei mit einem unverhältnismäßigen Eingriff in die Rechtsposition der Klägerin verbunden. Denn vorliegend erfolgt die Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs bereits abschließend auf der Ebene des Gesetzes. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wirkt zwar gegenüber der gesamten Staatsgewalt. Seine erste Bedeutung entfaltet er aber bei der verfassungsrechtlichen Kontrolle der Gesetzgebung. Für seine Anwendung auf Maßnahmen der Verwaltung bleibt nur Raum in den insoweit gesetzlich nicht abschließend geregelten Bereichen. Erscheint das in Wahrnehmung des legislativen Gestaltungsspielraums erlassene Gesetz verhältnismäßig, kann die Gesetzesanwendung nicht unverhältnismäßig sein. Die bloße behördliche Umsetzung gesetzlich vorgesehener und auf der abstrakt-generellen Ebene des Gesetzes als verhältnismäßig anzusehender Rechtsfolgen kann ihrerseits den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht verletzen.“90 Die Entscheidung aus Baden-Württemberg ist wohl die nachdrücklichste ihrer Art nach der Verfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 2007. Der Verwaltungs gerichtshof erteilt der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei „gebundenen“ Normen eine Absage und begründet im Vergleich zu den anderen Entscheidungen dieses Ergebnis auch in den dogmatischen Grundthemen ausführlich. c) Berufserlaubnis In einem weiteren Fall war die Zuverlässigkeit eines Logopäden zu beurteilen. Dieser hatte ein damals fünfjähriges Mädchen sexuell missbraucht. Gegen die daraufhin entzogene Erlaubnis zum Führen der Bezeichnung Logopäde klagte der Mann. Gestützt wurde der Entzug der Erlaubnis auf § 3 Abs. 2 LogopG, der lautet: „Die Erlaubnis ist zu widerrufen, wenn nachträglich die Voraussetzung nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 weggefallen ist.“ Dies ist u. a. dann der Fall, wenn der Logopäde sich „eines Verhaltens schuldig gemacht hat, aus dem sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs ergibt (…)“. Dass die Voraussetzungen der Rechtsgrundlage insoweit vorlagen, stand für die Behörde und das erstinstanzliche VG Aachen91 fest. Das OVG Münster teilte hin 89 Vgl. dazu etwa nur die grundlegenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in E 108, 282 sowie in E 138, 296. 90 VGH Mannheim, Urteil vom 14. März 2008, Az. 4 S 516/07, juris, Rn. 61. Kritisch zu der Entscheidung auch L. Michael / Morlok, Rn. 612, Fn. 8. 91 Urteil vom 26. Mai 2006, Az. 5 K 320/05.
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sichtlich der Voraussetzungsseite diese rechtliche Bewertung, hielt den uneingeschränkten Entzug der Erlaubnis aber für unverhältnismäßig: „In der Konsequenz der Ausführungen und Bewertungen des Sachverständigen und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, der im Bereich der Gefahrenabwehr eine Beschränkung behördlicher Maßnahmen auf das zum Schutz der betreffenden Rechtsgüter unbedingt notwendige Maß bedingt, ergibt sich somit, dass zum maßgebenden Zeitpunkt im Februar 2005 ein uneingeschränkter Widerruf der Erlaubnis des Klägers zum Schutz der Patienten nicht zwingend geboten war und dass zur Erreichung hinreichenden Patientenschutzes eine Beschränkung des Widerrufs auf die Behandlung weiblicher Personen ausreichend ist.“92 Diesen Teilwiderruf nur hinsichtlich weiblicher Patientinnen teilte der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts ausdrücklich nicht. Dies liegt nach dem Bundesgericht vor allem daran, dass „sich die Verhältnismäßigkeit des Widerrufs aus der vom Gesetzgeber selbst mit § 3 Abs. 2 LogopG getroffenen Wertung, dass in einem solchen Fall der Widerruf der unteilbaren Erlaubnis das erforderliche und angemessene Mittel ist, um die damit verbundenen Gefahren von der Bevölkerung abzuwenden“93 ergibt. Konfrontiert mit der Entscheidung aus der Vorinstanz, die zur Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bemühte, legte das Bundesverwaltungsgericht zwei andere Mittel offen: Zum einen sei auf der Ebene der Tatbestandsauslegung Einzelfallaspekten ausreichend Rechnung zu tragen.94 Zum anderen könnten ansonsten weitere, den Erlaubniswiderruf flankierende, Regelungen zur Gerechtigkeit beitragen: „Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wird außerdem dadurch Rechnung getragen, dass das Gesetz die Möglichkeit eröffnet, einen Antrag auf Wiedererteilung der Erlaubnis zu stellen.“95 Ähnlich wie bereits bei den Entscheidungen im Sozialrecht, wird hieran auch die unterschiedliche grundsätzliche Behandlung des verfassungsrechtlichen Problems deutlich.96 d) Hygienerecht Das OVG Münster hatte im Frühjahr 2013 gleich in drei Verfahren97 den Fall einer Öffentlichkeitswarnung über Hygienemängel im Internet durch öffentliche Stellen zu beurteilen. Es ging um Behörden, die Hygienemängel bei Kontrollen in Betrieben feststellen konnten und diese im Internet veröffentlichten; gestützt 92
OVG Münster, Urteil vom 20. Mai 2009, Az. 13 A 2569/06, juris, Rn. 38. BVerwGE 137, 1, 6. 94 BVerwGE 137, 1, 5 f. 95 BVerwGE 137, 1, 8. 96 Auffällig ist, dass das Bundesverwaltungsgericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beim Merkmal der Unzuverlässigkeit prüft und damit auf Tatbestandsseite. Darauf weist auch T. Wes terhoff, S. 15, hin. 97 Beschlüsse vom 24. April 2013, Az. 13 B 192/13, Az. 13 B 215/13 sowie Az. 13 B 238/13. 93
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C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis
wurden die Veröffentlichungen auf den „gebundenen“ § 40 Abs. 1a LFGB („Die zuständige Behörde informiert die Öffentlichkeit unter Nennung der Bezeichnung (…)“). Es wehrten sich verschiedene Betriebe gegen die Veröffentlichung, bei denen Mängel festgestellt worden waren. In den Verfahren entschied das Gericht jeweils gleichlautend: „Im Übrigen ist eine einzelfallbezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung bei staatlichen Grundrechtseingriffen durch die Behörden und die Gerichte auch dann geboten, wenn die gesetzliche Ermächtigungsgrundlage eine gebundene Entscheidung vorsieht (…).“98 Unter Bezugnahme auf die Verfassungsgerichtsrechtsprechung erklärt hier der 13. Senat des Oberverwaltungsgerichts wörtlich, dass das „gebundene“ Verwaltungshandeln ausnahmslos unter dem allgemeinen Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit stehe. Dies ist umso bedeutsamer, als es im konkreten Fall tatsächlich auf diese Feststellung nicht ankam. Es entsteht also auch hier der Eindruck, dass das Gericht die Verhältnismäßigkeit ergebnisunabhängig stets geprüft wissen möchte. Auch das OVG Münster könnte in diesen Entscheidungen versucht haben, diese insoweit revisionsfest zu machen, da es sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollte, Einzelfallaspekte bei der Ausführung „gebundener“ Normen gänzlich verkannt zu haben. e) Abfallrecht Ähnlich entschied das VG Düsseldorf im April 2013.99 Dort richtete sich der Betreiber einer Abfallsammlung gegen die ausgesprochene Untersagung aufgrund der Unzuverlässigkeit nach § 18 Abs. 5 S. 2 KrWG. Dieser ist, anders als § 18 Abs. 5 S. 1 KrWG, als „gebundene“ Norm konzipiert: „Die zuständige Behörde hat die Durchführung der angezeigten Sammlung zu untersagen, wenn Tatsachen bekannt sind, aus denen sich Bedenken gegen die Zuverlässigkeit des Anzeigenden oder der für die Leitung und Beaufsichtigung der Sammlung verantwortlichen Personen ergeben (…).“ Obwohl § 18 Abs. 7 KrWG darüber hinaus eine positivrechtliche Normierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für – wie hier in Rede stehende – bereits durchgeführte Abfallsammlungen enthält, verweist das Verwaltungsgericht ausdrücklich darauf, dass es dieses Hinweises eigentlich nicht bedürfte: „Vor diesem Hintergrund trägt die Regelung des § 18 Abs. 7 KrWG de lege lata als dessen Ausformung dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – der ohne eine solche positivrechtliche Regelung wohl ohnehin in den Tatbestand des § 18 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. KrWG hineinzulesen wäre100 – Rechnung. Die Annahme, der Norm im Wege einer teleologischen Reduk 98
OVG Münster, Beschluss vom 24. April 2013, Az. 13 B 192/13, juris, Rn. 67; OVG Münster, Beschluss vom 24. April 2013, Az. 13 B 215/13, juris, Rn. 69; OVG Münster, Beschluss vom 24. April 2013, Az. 13 B 238/13, juris, Rn. 73. 99 Beschluss vom 26. April 2013, Az. 17 L 580/13. 100 Eine ähnliche Begrifflichkeit verwendet L. Michael / Morlok, Rn. 612.
III. Anforderungen an Justiz und Wissenschaft
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tion lediglich im Rahmen der Ermessensentscheidung des § 18 Abs. 5 Satz 1 KrWG, aber nicht bei der gebundenen Entscheidung nach § 18 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. KrWG Geltung verschaffen zu können, (…) verfängt nicht, denn bereits Verfassungsrecht verlangt die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auch bei gebundenen Entscheidungen, da dieser – abgeleitet aus dem Rechtsstaatsprinzip bzw. den Grundrechten (hier vor allem Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Grundgesetz) selbst – zu den unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen bei allen Einwirkungen des Staates in den Rechtskreis des einzelnen zählt (…).“101 Das Gericht erklärt damit expressis verbis die Verhältnismäßigkeit zu einem allgemeingültigen Grundsatz, der ausnahmslos auch bei der Ausführung von „gebundenen“ Normen zu beachten ist. Auch diese Entscheidung entspricht damit der aufgezeigten Entwicklung. f) Differenzierte Verhältnismäßigkeitsanwendung im beruflichen Bereich Die Fälle mit Berufsbezug sind damit insgesamt ein Spiegelbild der Uneinheitlichkeit der Rechtsprechung. Diese äußert sich in widersprechenden Ausführungen zu denselben verfassungsrechtlichen Diskussionsthemen. Die Intensität der Verhältnismäßigkeitsprüfung reicht von einer vollständigen Ablehnung bis zu einer scheinbaren Gleichbehandlung aller Rechtsfolgentypen durch eine breite Anwendung der Verhältnismäßigkeit auch bei „gebundenen“ Normen.
III. Anforderungen an Justiz und Wissenschaft als Konsequenz der neueren Rechtsprechungsentwicklung Der neueren Entwicklung in der Rechtsprechung nach der Verfassungsgerichtsentscheidung aus dem Jahr 2007 ist eine wichtige Anstoßfunktion beizumessen. Insbesondere das Bemühen der Gerichte, verfassungsgebotene Einzelfallgerechtigkeit auch bei „gebundenen“ Normen und notfalls auch gegen den Wortlaut der Norm und den gesetzgeberischen Willen durchzusetzen, verdient uneingeschränkte Zustimmung. Gerichte nehmen dabei ihre Rolle als Durchsetzungsmedien der Verfassung ernst und an. Gleichwohl gibt die neuere Rechtsprechung Anlass für einige kritische Bemerkungen, die in drei Anforderungen münden.
101
VG Düsseldorf, Beschluss vom 26. April 2013, Az. 17 L 580/13, juris, Rn. 32 ff.
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C. Partielle Abkehr vom klassischen Rechtsfolgenverständnis
1. Einheitlichkeit durch eine höchstrichterliche Klärung Größtes Defizit der aktuellen Rechtsprechungsentwicklung ist die fehlende Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit der Gerichtsentscheidungen. Zwar wird die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit in den meisten Entscheidungen (mehr oder weniger) beabsichtigt und erreicht. Auch sind divergierende und widersprechende Gerichtsentscheidungen in einem Rechtsstaat mit einer unabhängigen Justiz erwünscht und werden durch den Instanzenzug schlussendlich zusammengeführt. Als problematisch erweist sich indes die Ursache für diese Entscheidungsvielfalt: Die unterschiedlichen Gerichtsentscheidungen divergieren nicht aufgrund unterschiedlicher Interpretationen des einfachen Rechts oder einzelner Verfassungsbestimmungen. Vielmehr ist das grundsätzliche Rechtsfolgenverständnis samt Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das klärungsbedürftige Sujet. Das Verhältnis „gebundener“ Normen zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz höchstrichterlich klären zu lassen, sollte damit das vorrangige Ziel der künftigen Rechtsprechungsentwicklung bilden. Andernfalls wird die (dann bloß punktuelle) Einzelfallgerechtigkeit durch einen erheblichen Verlust an Rechtssicherheit und Gleichheit erkauft. 2. Maßstabsbildung durch Wissenschaft und Rechtsprechung Unklarheit und uneinheitliche Maßstabsbildung stehen dabei in einer wechselseitigen Beziehung: Einerseits bewirkt die Unklarheit eine uneinheitliche Maßstabsbildung, die wiederum selbst zu Unsicherheit führt. Ob, wann und wie die Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung von „gebundenen“ Normen zu prüfen sein soll, ist – trotz des grundlegenden Charakters – noch nicht ausreichend erforscht. Die Rechtsprechung wagt sich teilweise in dogmatisches Neuland. Die Maß stabsbildung überfordert aber die Rechtsprechung allein. Aufgrund der begrenzten Kapazitäten in der Justiz sollte die Wissenschaft die zu beurteilenden Fälle zum Anlass nutzen, noch intensiver über diese grundlegenden Themen nachzudenken. Diese Impulse aus der Wissenschaft sollten dann die künftige Entwicklung der Rechtsprechung begleiten. Dazu zählt auch die Erarbeitung eines rechtsgebietsübergreifenden Ansatzes. Bereichsspezifische Lösungen sind hier nicht zwingend Ausdruck einer stimmigen Agenda, sondern erscheinen als Zufallsprodukte der jeweiligen Gerichte. Insbesondere muss auch der nicht unberechtigten Befürchtung entgegengewirkt werden, dass die Verhältnismäßigkeit nur dann (mitunter bloß formal) zur Anwendung kommt, wenn eine Schonung des Verwaltungsadressaten beabsichtigt ist.102
102 Dieser Eindruck konnte insbesondere bei den Fällen aus dem Prüfungsrecht entstehen. Siehe dazu C. II. 4.
III. Anforderungen an Justiz und Wissenschaft
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3. Aufarbeitung des Begründungsdefizits durch die Wissenschaft Die bisherigen Gerichtsentscheidungen zeichnen sich auch überwiegend durch eine geringe Begründungstiefe aus. Das ist auch verständlich, zumal (insbesondere Unter-)Gerichte in ihrer Arbeitsweise nicht dazu geeignet sind, aufwändige dogmatische Grundsatzerwägungen darzulegen und Parallelerwägungen anzustellen, die eine Anwendung der Verhältnismäßigkeit rechtfertigen können. Es ist primär Aufgabe der Wissenschaft, Folgefragen zu stellen und zu beantworten. Beispielhaft genannt sei die Unterscheidbarkeit der Rechtsfolgentypen im Falle einer Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch bei der Ausführung „gebundener“ Normen.
D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit durch ein verändertes Verständnis der Gesetzesbindung und die Verhältnismäßigkeit als Modus Der Widerspruch zwischen klassischer Rechtsfolgenlehre und neueren Gerichtsentscheidungen entzündet sich an der Frage, ob und wie bei der Ausführung „gebundener“ Normen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Anwendung finden kann. Schlüssel zu einer Antwort kann die Qualifizierung der Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung sein. Sie bildet die Grundlage für ein „zwingendes“ Normverständnis: Die Alternativlosigkeit „rechtsfolgengebundener“ Rechtssätze scheint ihre Legitimation durch die Bindung an das Gesetz zu erhalten. Die strenge Rechtsfolgenbindung vollzieht sich durch die Gesetzesbindung, wenngleich die faktischen und rechtlichen Grenzen der Determinationsmöglichkeiten durch Gesetze Anlass für eine Neubewertung sein sollten: „Die Einsicht in die spezifische, aber begrenzte Steuerungskraft des Gesetzes fordert eine teilweise Neubestimmung der Dogmatik der Gesetzesbindung (…).“1 (W. Hoffmann-Riem). Für die Neubewertung der Bindung an das Gesetz erscheinen zwei Modelle denkbar, die alternativ zu verstehen sind. Sie bilden die Grundlage der nachfolgenden Überlegungen und werden einzeln dargestellt. Nach dem ersten Modell (Abwägungsmodell) ist die Gesetzesbindung auf der Grundlage der Prinzipientheorie nach R. Dworkin und R. Alexy als ein Prinzip zu begreifen. Sie erweist sich in diesem Modell als abwägungsfähig mit sonstigen Verfassungsprinzipien, insbesondere mit den Grundrechten. Nach dem zweiten Modell (Auslegungsmodell) beeinflussen Verfassungsbelange die Auslegung des einfachen Rechts. Diese verfassungsgeleitete Interpretation kann auch zu einer einzelfallbezogenen Rechtsfolgenkorrektur führen. Für beide Fälle ist in Ausnahmefällen eine Rechtsfolgenkorrektur in Form eines Dispenses2 von der „gebundenen“ Rechtsfolge bzw. dem Wortlaut der Norm notwendig. Beide Ansätze dienen der Flexibilisierung der Gesetzesbindung, um Einzelfallgerechtigkeit in der Rechtsanwendung zu ermöglichen. Zunächst gilt es die überkommenen Erkenntnisse der Gesetzesbindung zu analysieren und für ihre alter 1
GVwR I, § 10, Rn. 112. R. Mußgnug, S. 33 f., verwendet den Begriff eher als Synonym oder Oberbegriff für vom Gesetzgeber selbst vorgesehene Ausnahmen und nicht – wie hier – auch für nicht ausdrücklich durch das Gesetz vorgesehene Fälle. In einem weiteren Sinne wie hier ausdrücklich etwa A. Bleckmann, DÖV 2003, S. 155. Zur Geschichte des Dispenses siehe R. Mußgnug, S. 34 ff. Einen Kurzüberblick zur Begriffsgeschichte gibt K. Bruder, S. 5 f.; eine Definition findet sich auf S. 10 f. 2
I. Der Bedeutungsinhalt der Gesetzesbindung
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native Qualifizierung als Argumentation zu nutzen. Auch werden einige der zuvor dargestellten Gerichtsentscheidungen erneut aufgegriffen, um sie am Maßstab eines an der Einzelfallgerechtigkeit orientierten Verständnisses zu bewerten.
I. Der Bedeutungsinhalt der Gesetzesbindung Neben den Ausprägungen der Bindung an das Gesetz gewährt insbesondere ihre verfassungsrechtliche Verankerung Aufschluss über ihren Bedeutungsinhalt. Vor allem die historische Wandlungsfähigkeit der Gesetzesbindung bietet Anhaltspunkte für eine Neubewertung. 1. Die historische Wandlung der administrativen Gesetzesbindung Die Bindung an das Gesetz gilt es zunächst für die Administrative zu konkretisieren. Die Gesetzesbindung der Verwaltung, die immerhin einen „tragende[n] Bestandteil“3 des Rechtsstaates darstellt und als ein „Schutzschirm“4 zu ihren Gunsten angesehen wird, kann nur sinnvoll erfasst (und weiterentwickelt) werden, wenn in einem ersten Schritt die historische Entwicklung5 dieses Postulats nachvollzogen wird.6 Dabei ist vor allem ein Blick auf die historisch veränderte Funktion der Verwaltung zu werfen. Erst in einem zweiten Schritt kann die Gesetzesbindung in der bestehenden Verfassung gesucht werden.7 Das ist allein deshalb zwingend, weil die Gesetzesbindung, wie sich nun auch zeigen wird, älter als das 3
BVerfGE 34, 269, 286. H.-D. Horn, S. 221. Mag man fehlende administrative Spielräume bei der Rechtsausführung kritisch als eine (Teil-)Entmündigung in der Entscheidungsfindung begreifen, liegt der Vorteil für die Behörde darin, im Außenverhältnis gegenüber dem Bürger sich in verstärktem Maße auf das Gesetz berufen und zurückziehen zu können. Reduziert sich der Verwaltungsspielraum also intern in der Entscheidungsfindung, kann sie dies auch gegenüber dem belasteten Bürger so begründen. Zur Exkulpation der Verwaltung durch Berufung auf das (vermeintlich vollständig determinierte) Gesetz siehe R. Mußgnug (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 239. 5 Die Kontroverse zum Ursprung des Gesetzmäßigkeitsprinzips lässt sich etwa bei O. Bühler, S. 66 ff., insbesondere S. 77, nachvollziehen: „Ein erstes Auftauchen der Idee ist bei F. F. Mayer zu bemerken, der sich auch hier als Bahnbrecher seiner Wissenschaft erweist.“ Siehe dazu F. F. Mayer, S. 106, der – auch hier ganz im Sinne der Übertragung aus dem Polizeirecht – unter den „[allgemeinen] rechtliche(n) Grenzen der polizeilichen Einwirkung“ (§ 31) feststellt: „Jede polizeiliche Beschränkung der persönlichen Freiheit und des Eigenthums der Staatsbürger muß im Allgemeinen rechtlich begründet sein.“ Daraus leitet er den „Grundsatz der Freiheit der Person und des Eigenthums“ ab. Mag damit auch eine Facette des Vorbehalts des Gesetzes angesprochen sein, zeigt es zugleich auch die Bindung an das Gesetz. 6 Eine rund 80 Jahre alte Zusammenfassung des historischen Überblicks bis zu diesem Zeitpunkt findet sich etwa bei G. Gräßlin, S. 1 ff. Als knapper Überblick eignet sich auch U. Scheuner, DÖV 1969, S. 588 ff. 7 Die Verwaltung ist eben auch eine selbst von Verfassunggebung vorgefundene Staats gewalt. Vgl. L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 148 ff. 4
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
Grundgesetz ist und dieses den Gedanken nur aufnimmt und an unterschiedlichen Stellen kodifiziert. In zahlreichen konstitutionellen Monarchien – so auch in Deutschland – wurde der Staat nicht als rechtsunterworfen angesehen. Noch im 19. Jahrhundert stand, gewissermaßen aus der Zeit des Absolutismus tradiert, die Person des Monarchen im Mittelpunkt.8 Die Gesetzesbindung der Verwaltung, die sehr wohl bereits existierte, kann in dieser Zeit eher als eine Selbstbindung, denn als echte Rechtsbindung angesehen werden.9 Auch die neu eingerichteten Parlamente, die bereits von Teilen des Volkes gewählt wurden, vermochten nichts daran zu ändern, dass die Verwaltung weiterhin dem Monarchen zugeordnet war und ihm zur Verwirklichung seines Willens zur Verfügung stand.10 Aufgabe der Parlamente in der Monarchie war aus dieser Position heraus also die Beschränkung der monarchischen Gewalt.11 Die Verwaltung hingegen hatte also hauptsächlich den Zweck, den Willen des Monarchen in die Realität umzusetzen.12 Die Macht der Parlamente, die zweifelsfrei geringer war als heute in einer demokratischen Republik, deswegen aber als völlig bedeutungslos zu bewerten, wäre verfehlt. Ihre Aufgabe bestand darin, der monarchisch gesteuerten Verwaltung Grenzen zu setzen und gegebenenfalls Einhalt zu gebieten. Das Gesetz bildete in dieser Zeit also weniger Auftrag an die Verwaltung als vielmehr Grenze oder Schranke13 ihres Handelns.14 Die Verwaltung durfte also nicht gegen das Gesetz verstoßen. Darüber hinaus war sie frei. Gesetzmäßige Verwaltung bedeutete also Handeln „innerhalb der Schranken des Gesetzes“15. Die klassische Rechtsfolgenlehre lässt sich mit dieser Erkenntnis plausibilisieren: Wenn nicht die Ermächtigung der Exekutive, sondern deren Beschränkung das Ziel der Gesetze ist, liegt es nahe, „gebundene“ Normen als Kategorie einer Verwaltung ohne Spielräume zu begreifen. Von diesem Verständnis löste sich die Funktion der Verwaltung.16 Damit einher ging auch ein verändertes Verständnis des Begriffs der Gesetzesbindung. Die Ver 8
Vgl. H. H. Rupp, S. 104. H. H. Rupp, S. 105. 10 F. Fleiner, S. 110, konstatiert auch noch 1911: „Die Verwaltung (ist) die eigentliche Domäne des Fürsten geblieben.“ 11 F. Fleiner, S. 113, Fn. 1. 12 Eine bis in die Nachkriegszeit überlieferte Institution wiederum zum Schutz der Verwaltung gegenüber den Parlamenten ist etwa das sog. besondere Gewaltverhältnis, vgl. U. Scheuner, DÖV 1969, S. 585 m. w. N. 13 So etwa G. Meyer, S. 531: „Die Verwaltung ist keine bloße Ausführung der Gesetze, sondern ein Handeln innerhalb der gesetzlichen Schranken. Die Verwaltung darf nicht bloß dasjenige thun, wozu sie durch Gesetz ausdrücklich ermächtigt, sondern alles, was ihr nicht durch Gesetz untersagt ist.“ 14 So ist denn auch die Forderung U. Scheuners, DÖV 1969, S. 592 f., das Gesetz als Auftrag der Verwaltung zu verstehen, eine Abkehr „vom Gesetz als Schranke“ (S. 593). 15 F. Fleiner, S. 109. 16 Zu dieser Entwicklung vgl. zusammenfassend C. Gusy, JuS 1983, S. 189 f., und H. H. Rupp, S. 113; ausführlich auch D. Jesch, S. 76 ff. 9
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waltung hat nunmehr grundsätzlich den Auftrag zur Verwirklichung des gesetzgebe rischen Willens.17 Das Gesetz bildet also nicht mehr die Grenze des Handelns der Verwaltung, sondern dessen legitimierende Grundlage und ist zugleich eine Aufforderung des Parlaments an die Verwaltung, den Willen der gewählten Volksvertretung in die Wirklichkeit zu transportieren. Nunmehr beschränkt also das Parlament nicht mehr die prinzipiell omnipotente18 Verwaltung, sondern ermächtigt diese erst zu handeln19. Durch das inzwischen neu austarierte Verhältnis von Verwaltung und Gesetzgebung hat sich auch die Schutzrichtung der Gesetzesbindung gewandelt, wenn auch in ihrer Zielrichtung nicht grundlegend verändert. Während die Gesetzesbindung der Verwaltung in der Monarchie primär ein Schutzinstrument zugunsten des bürgerlich dominierten Parlaments gegenüber der monarchischen Verwaltung war20, hat sie diese Funktion in ihren Wurzeln heute immer noch. Das Parlament hingegen hat durch seine gesteigerte Bedeutung und Aufwertung in der Demokratie als Sprachrohr des Volkes als Souverän eine gesteigerte Legitimationskraft und damit eine stärkere Position gegenüber der Verwaltung bekommen. Dieser Bedeutungsgewinn des Parlaments scheint zulasten der Verwaltung stattzufinden.21 Die Administrative erscheint in der klassischen Lesart der Verwaltungsrechtswissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg mehr als jemals zuvor zur Vollstreckerin des gesetzgeberischen Willens geworden zu sein22 und damit eine grundlegend andere Rolle erhalten zu haben23. Während die Interessen von Monarch und Volk in der konstitutionellen Monarchie durch die Widersacher Verwaltung und Parlament in Ausgleich gebracht wurden, steht die Verwaltung heute zwar mit dem Parlament in einer Kette der Umsetzung des Willens des Volkes.24 Diese strenge Betrachtungsweise darf aber nicht den verfassungsschützenden Charakter in der Gesetzesanwendung, der bei der Umsetzung von Normen durch die Prüfung von Verstößen gegen die Verfassung durch den Transformationsprozess durch die Verwaltung gewährleistet wird, vernachlässigen. Auf die Verwaltungsgerichte ist die vorstehende Entwicklung gleichwohl nicht zu übertragen. Das ist aber kein Ausdruck einer fehlenden Wandlungsfähigkeit des 17
U. Scheuner, DÖV 1969, S. 591: „Das Gesetz bedeutet für die Verwaltung Ermächtigung, Schranke und vor allem Auftrag.“ 18 Diese Omnipotenz bestand freilich nicht gegenüber dem damaligen Souverän, dem Monarchen. 19 Vgl. D. Jesch, S. 171. 20 Vgl. D. Jesch, S. 169. 21 So D. Jesch, S. 171. 22 Ausdrücklich anders noch O. Mayer, S. 69: „In der Verwaltung aber begegnet das Gesetz einem auf eigenen Bahnen einhergehenden Staatswillen, der nicht bloß dient, sondern selber herrscht (…) und selber frei bestimmen mag, was Rechtens sein soll und was nicht.“ 23 S. auch D. Jesch, S. 171. 24 K. Sobota, S. 105, stellt in Bezug auf die Vorrangwirkung des Gesetzes fest: „An die Stelle einer Gegenüberstellung von Gesetzen auf der einen Seite und Verwaltungshandeln auf der anderen Seite tritt nun eine mehrstufige Hierarchie von Rechtsnormen (…).“
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Bedeutungsinhalts der Gesetzesbindung, sondern allein dem Umstand geschuldet, dass die Verwaltungsgerichte erst in neuerer Zeit aus der Verwaltung gelöst wurden und historisch eben ein Teil der Administrative und nicht der Judikative waren. Die Bindung der zweiten und dritten Gewalt an das Gesetz stellt – so zeigt die historische Betrachtung – kein änderungsresistentes Konstrukt des Rechtssystems dar, sondern erweist sich als dynamisch und unterliegt Wandlungen sowie Wahrnehmungs- und Interpretationsschwankungen. Eine veränderte Interpretation der Gesetzesbindung im Gesamtsystem der Verfassung bleibt zwar argumentationsbedürftig, erscheint aber nicht per se ausgeschlossen. 2. Der Aussagegehalt der Gesetzesbindung: Grundsätzliche Anwendungspflicht des Gesetzes Die Bindung an das Gesetz bedeutet also eine Ermächtigung zum Handeln bzw. für die Gerichte eine Überprüfung dieses Handelns. Dieser Bedeutungsinhalt ist zu konkretisieren. Die herkömmliche Aufteilung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in ein Anwendungsgebot einerseits und ein Abweichungsverbot andererseits25 erscheint einer kritischen Auseinandersetzung wert. a) Anwendungsgebot des Gesetzes Die Gesetzesbindung der Verwaltung äußert sich als ein Anwendungsgebot des Gesetzes.26 Diese Ausführungspflicht der Verwaltung besteht nur, sofern der jeweiligen Vorschrift ein entsprechender Auftrag zu entnehmen ist. Besteht daran jedoch kein Zweifel, hat die Verwaltung das Gesetz grundsätzlich zu beachten und es in die Wirklichkeit umzusetzen und dabei Voraussetzungen und Rechtsfolge im Regelfall gemäß der Vorschrift zu bestimmen. Bei der Auswahl der Handlungsformen genießt sie einen gewissen Spielraum.27 Lässt das Gesetz offen, ob eine Verwaltungshandlung erforderlich ist, muss es auch auf den nach allgemeinen juristischen Methoden zu ermittelnden gesetzgeberischen Willen28 überprüft werden, ob im Einzelfall ein Einschreiten vom Gesetzgeber gewollt wäre bzw. wie dieser den Fall in der konkreten Situation gelöst wissen möchte, wobei die sonstigen Bestimmungen der Verfassung nicht aus den Augen verloren werden dürfen. 25
Vgl. nur C. Gusy, JuS 1983, S. 191; H.-D. Horn, S. 26; F. Ossenbühl, HStR V, § 101, Rn. 4 ff. So auch im Zusammenhang mit diesem Thema T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 172. 26 F. Fleiner, S. 115, bringt es so auf den Punkt: Das Gesetz „darf in keinem Punkte unvollzogen bleiben“. 27 Dass dazu neben Einzelfallentscheidungen und faktischen Maßnahmen (F. Ossenbühl, HStR V, § 101, Rn. 5) auch der Erlass von Rechtsverordnungen zählen kann, hat das Bundesverfassungsgericht in E 13, 248, 254, und E 16, 332, 338, entschieden. 28 F. Ossenbühl, HStR V, § 101, Rn. 5.
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b) Abweichungsverbot vom Gesetz als zweite Folgerung? Neben dem Anwendungsgebot des Gesetzes wird das Abweichungsverbot vom Gesetz für gewöhnlich als zweite Ausprägung der Gesetzesbindung verstanden.29 Es bringt – das erscheint auf den ersten Blick durchaus plausibel – zum Ausdruck, dass die Verwaltung bei einer bestehenden Regelung nicht vom Gesetz abweichen darf. Eine Abweichung vom (insbesondere „gebundenen“) Rechtssatz erscheint damit als Rechtsbruch. Diese Dichotomie evoziert die Frage, inwieweit sich Anwendungsgebot und Abweichungsverbot tatsächlich voneinander unterscheiden. Bei näherer Betrachtung erweisen sich Ge- und Verbot als untrennbar miteinander verbunden. Ein Verstoß gegen einen der Grundsätze verletzt regelmäßig den jeweils anderen mit. Besteht etwa die grundsätzliche Verpflichtung der Verwaltung, bei einem gewissen Tatbestand eine bestimmte Rechtsfolge zu treffen und unterlässt sie dies pflichtenwidrig, weicht sie damit vom Gesetz ab und wendet es gleichzeitig nicht an. Das Abweichungsverbot vom Gesetz ist damit keine eigenständige Fallgruppe neben dem Anwendungsgebot, sondern bloß eine Facette, eine Spielart, des Anwendungsgebots. Wer das Gesetz anwendet, weicht zugleich nicht von ihm ab. Mit anderen Worten: Sofern die Verwaltung das Anwendungsgebot des Gesetzes beachtet, kann sie nicht gegen das Abweichungsverbot verstoßen. Dass sich das Abweichungsverbot als eigenständige Kategorie erhalten hat, mag insbesondere mit der historischen Entwicklung der Gesetzesbindung zusammenhängen: Die Gesetzesbindung der Verwaltung war in ihren Ursprüngen eher ein Abweichungsverbot als ein Anwendungsgebot.30 Für die Rechtfertigung des Abweichungsverbots als selbstständiger Bestandteil des Gesetzmäßigkeitsprinzips scheint ein Bezug auf die sog. gesetzesfreie Verwaltung, also diejenigen Fälle, in denen Verwaltungshandeln nicht durch Gesetze vorgegeben ist, nahezuliegen. Das Gesetz soll hier die Grenze bilden und das Abweichungsverbot einen eigenständigen Gehalt erlangen. Aber auch im Bereich der sog. gesetzesfreien Verwaltung beansprucht das Anwendungsgebot des Gesetzes Gültigkeit. Ist die Verwaltung auf die Anwendung der Gesetze eingestellt, kommt sie überhaupt nicht in die Situation, gegen sie zu verstoßen. Schließlich wurden ebenjene Gesetze, die nunmehr die Grenze bilden sollen, für Fallkonstellationen geschaffen, in denen die Verwaltung sie anzuwenden hat. Folgt sie dieser Anwendungspflicht, ist eine Abweichung in anderen Fällen ausgeschlossen. Diese Argumentation erfährt in der Überlegung, dass in Fällen, in denen es kein Gesetz gibt, dieses nicht ausgeführt, gegen es aber auch nicht verstoßen werden kann und in Fällen, in denen es ein Gesetz gibt, eine grundlose Nichtanwendung des Gesetzes einen Verstoß darstellt, eine Bestätigung. Anwendungsgebot und Abweichungsverbot 29 Vgl. statt Vieler U. Scheuner, DÖV 1969, S. 585 ff. und F. Ossenbühl, in: HStR V, § 101 Rn. 6 ff. 30 Vgl. D. I. 2.
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verschmelzen also zur grundsätzlichen Anwendungspflicht des Gesetzes. Die Aufspaltung in Anwendungsgebot und Abweichungsverbot stellt eine aus historischen Gründen verständliche, aber heute nicht mehr notwendige Differenzierung dar. 3. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Gesetzesbindung Die Gesetzesbindung samt der Auswirkungen auf Verwaltungsentscheidungen aufgrund „gebundener“ Normen unter der Herrschaft des Grundgesetzes sowie ihrer gerichtlichen Überprüfung zu verstehen, sollte anhand der verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkte geschehen. Dass die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung im Grundgesetz verankert ist, wird an sich heute nicht bestritten. Es lohnt indes, genauer die präzise Verortung31 zu untersuchen.32 a) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und Gesetzesbindung der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 3 GG und Rechtsstaatsprinzip) Aus mehreren Gründen liegt die zentrale Verankerung der Gesetzesbindung in Art. 20 Abs. 3 GG. Die Gesetzesbindung der zweiten und dritten Gewalt anhand dieser Norm erscheint angesichts des Wortlauts besonders naheliegend. Die Vorschrift stellt klar, dass die „vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung (…) an Gesetz und Recht gebunden“ sind. Zwar ist der Begriff der vollziehenden Gewalt mit dem der Verwaltung nicht identisch33, aber die Verwaltung stellt einen Teil der vollziehenden Gewalt34 dar und ist damit nach dieser Verfassungsnorm dem Gesetz unterworfen. Der andere Grund liegt in dem verfassungsrechtlichen Gewicht des Art. 20 GG. Die Vorschrift stellt sich als zentrale staatsorganisationsrechtliche Norm des Grund 31 Unzureichend ist es auf jeden Fall, nur auf Art. 20 Abs. 3 GG abzustellen. So aber T. Westerhoff, S. 104 f., 142. 32 R. Mußgnug, S. 19, verankert „die Devise‚ ‚Gesetz ist Gesetz‘“ im „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Verwaltung und Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 3 GG) (…) [in der] Gleichheit aller vor dem Gesetz (…), [im] Gewaltenteilungsgedanken und (…) [im] demokratische(n) Prinzip“. 33 Das wird bereits an der Änderung von Art. 1 Abs. 3 GG deutlich. Die Norm lautete ursprünglich: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“ (Hervorhebung nur hier). Am 19. März 1956 (BGBl. I, S. 111) wurde dann durch die Wehrverfassungsnovelle der Begriff der Verwaltung durch den (bis heute existierenden) der „vollziehenden Gewalt“ ersetzt. Auslöser waren Zweifel gewesen, ob die neu geschaffene Bundeswehr unter der bis dahin geltenden Wortwahl auch an die Grundrechte gebunden gewesen wäre. Darüber hinaus fand eine Angleichung an den Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 statt (vgl. BT-Drs. 2/2150, S. 2). Dazu allgemein W. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 103 ff.; C. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 227. 34 Das gilt selbst dann, wenn die Verwaltung nicht mit dem „Vollzug“ von Gesetzen beschäftigt ist, vgl. C. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 227.
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gesetzes heraus: Sie enthält alle Staatsgrundsätze und genießt darüber hinaus den Schutz der sog. Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG. Damit ist sie in ihren Grundlagen auch dem Gestaltungswillen des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen; der Verfassunggeber hielt die gesetzesgebundene Verwaltung und Rechtsprechung in einem Rechtsstaat für unabdingbar. Aufgrund der hohen Bedeutung der grundsätzlichen Bindung an das vom Parlament erlassene Gesetz gehört die Gesetzesbindung auch zu den änderungsfesten Bestandteilen des Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG. Die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung35 und die Gesetzesbindung der Rechtsprechung, die in Art. 20 Abs. 3 GG Niederschlag gefunden haben, lassen sich demzufolge im Rechtsstaatsprinzip begründen36 und aus diesem ableiten37, zumal die Gesetzesbindung der Exekutive gar als das älteste Element des Rechtsstaats bezeichnet wird.38 Überwiegend wird zwischen den Begrifflichkeiten „Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ und „Gesetzesbindung der Rechtsprechung“ unterschieden. Das hat – wie gesehen – vorwiegend historische Gründe. In dieser Untersuchung wird einheitlich der Begriff der Gesetzesbindung sowohl für die Verwaltung als auch die Rechtsprechung verwendet, da sich die Wirkungen dieses Verfassungsbelangs gegenüber beiden Gewalten fast identisch äußern. b) Grundrechtsbindung von Verwaltung und Rechtsprechung (Art. 1 Abs. 3 GG) Art. 1 Abs. 3 GG enthält die unmittelbare Grundrechtsbindung der Staatsgewalt. Sie wird deshalb auch als „Schlüsselnorm“39 des Grundgesetzes bezeichnet. Im Gegensatz zur Weimarer Republik, als die in den Art. 109 ff. WRV garantierten Grundrechte, trotz der unbestrittenen Bindung der Verwaltung, noch als Programmsätze angesehen wurden40, gelten die Grundrechte des Grundgesetzes als unmittelbar geltendes Recht gegenüber allen Gewalten. Bei der Schaffung des Grund gesetzes war der dann auch tatsächlich umgesetzte Wunsch nach echten subjektiven
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Ursprünge finden sich bereits bei Montesquieu, vgl. den Nachweis bei W. Jellinek, S. 88. W. Jellinek, S. 88, spricht vom „erste(n) Grundsatz des Rechtsstaates“. 37 Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht stößt man unweigerlich auf die Legitimation des Staates und die Begrenzung von Macht; vgl. etwa K. Stern, Bd. 1, S. 767. m. w. N. 38 K.-P. Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, Art. 20 Abs. 3, Rn. 261. 39 K. Stern, Bd. 3/1, S. 1178. 40 H. Jarass / Pieroth, Art. 1, Rn. 31; H. Krüger, DVBl. 1950, S. 626, stellt dem Weimarer Verständnis, „Grundrechte nur im Rahmen der Gesetze“, das Postulat des Grundgesetzes gegenüber: „Gesetze nur im Rahmen der Grundrechte“. Vgl. ferner M. Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 1 Abs. 3, Rn. 7 m. w. N. Dass insbesondere die Bindung des Gesetzgebers in der Weimarer Republik hoch umstritten war, lässt sich in den Referaten von E. Kaufmann, VVDStRL 3 (1927), S. 2 ff., und H. Nawiasky, VVDStRL 3 (1927), S. 25 ff., nachvollziehen. 36
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Rechten41, einschließlich der damit verbundenen Rechtsschutzmöglichkeiten42, so dringend, dass Art. 1 Abs. 3 GG eine denkbar wichtige Kodifikation erhielt. Da die im Grundgesetz enthaltenen Grundrechte in Gesetzesform ergangen sind, enthält Art. 1 Abs. 3 GG auf den ersten Blick hinsichtlich der Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung für die Grundrechte keinen gegenüber Art. 20 Abs. 3 GG gesteigerten Inhalt. Über Art. 20 Abs. 3 GG sind beide Gewalten zwar schon an den Inhalt des Verfassungsgesetzes und damit an die Grundrechte gebunden. Durch die explizite Festlegung der Grundrechtsbindung, zudem an einer so prominenten Stelle, erhalten die Grundrechte eine verstärkte Geltungskraft43.44 In Bezug auf die Grundrechte handelt es sich um eine doppelte Versicherung; die Grundrechtsbindung von Exekutive und Judikative ist damit besonders in Art. 1 Abs. 3 GG manifestiert. c) Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 2 GG) Eine weitere Verankerung des Gesetzbindungsgrundsatzes der Verwaltung könnte man im Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 1 und 2 GG45 erblicken.46 Die Demokratie wird seit jeher als Volksherrschaft bezeichnet47 und beantwortet damit die Frage nach dem Souverän eines Staates bzw. dem Träger der Staatsgewalt.48 aa) Bürgerliche Möglichkeiten zur Einflussnahme und das Mehrheitsprinzip Durch die Bindung der Verwaltung an das vom Parlament erlassene Gesetz wird letztlich der Wille des Volkes, der sich nach der Entscheidung des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG mittelbar durch Wahlen und Abstimmungen äußert, in die Realität transportiert. Wahlen und Abstimmungen haben damit verwaltungssteuernden (und 41
BVerfGE 6, 386, 387: „Art. 1 Abs. 3 GG kennzeichnet nicht nur grundsätzlich die Bestimmungen des Grundrechtsteiles als unmittelbar geltendes Recht, sondern bringt zugleich den Willen des Verfassungsgebers zum Ausdruck, daß der Einzelne sich der öffentlichen Gewalt gegenüber auf diese Normen als auf Grundrechte im Zweifel soll berufen können.“ Siehe ferner H. Dreier, in: Dreier, GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 35; W. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 82 ff. 42 C. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 169. 43 C. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, Art. 1 Abs. 3, Rn. 152. 44 Vgl. hierzu auch H.-D. Horn, S. 187 ff. 45 Das Demokratieprinzip wird darüber hinaus in Art. 21 und Art. 38 GG konkretisiert und gilt gemäß Art. 28 Abs. 1 GG auch für die Länder; vgl. B. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 II, Rn. 1. 46 Dafür C. Gusy, JuS 1983, S. 190; K.-P. Sommermann, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, Art. 20 Abs. 2, Rn. 168 f. m. w. N.; ebenso wohl auch K. Sobota, S. 106. 47 Siehe nur M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 11. 48 M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 12.
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mittelbar justizsteuernden) Charakter. Sie haben die Aufgabe, Verwaltungs- und Gerichtshandeln zu determinieren und zu legitimieren. Hat eine demokratisch legitimierte parlamentarische Mehrheit ihre Vorstellungen zur Verwirklichung von Gerechtigkeit in Gesetzesform zum Ausdruck gebracht, gebietet die Gesetzesbindung, dass die Administrative den Mehrheitswillen grundsätzlich akzeptiert und umsetzt und die Gerichte diese Umsetzung überwachen. Das Demokratieprinzip enthält damit den Auftrag an die Verwaltung, das Gesetz im Sinne des Gesetzgebers und damit mittelbar des Volkswillens, auszuführen. So verstanden ist die Gesetzesunterworfenheit auch eine demokratische Prämie für politische Mündigkeit.49 Über den Willkürschutz hinaus wird die Gesetzesbindung zum Steuerungselement des Bürgers. Durch sein Wahlverhalten kann er die Verwaltung (zumindest mittelbar über das Parlament) inhaltlich und personell steuern. Die bürgergesteuerte bzw. bürgergelenkte Verwaltung erscheint als Idealtypus einer demokratischen Institution. Letztlich wurzelt diese Erkenntnis auch im Mehrheitsprinzip50, das zum Kernbestand und Wesensmerkmal der Demokratie51 gehört. Hat die Mehrheit die Fähigkeit, das Gesetz zu schaffen, muss sie auch die Möglichkeit haben, es umzusetzen bzw. umsetzen zu lassen und mit einer weiteren Institution die Umsetzung kontrollieren zu lassen. Damit lässt sich die zuvor gewonnene Erkenntnis einer bürgergeleiteten Verwaltung und Justiz konkretisieren: Administrative und Judikative äußern sich als mehrheitsgesteuerte Gewalten. Jede einzelne Entscheidung muss mehrheitlich legitimiert sein. Daraus den Schluss zu ziehen, dass jede einzelne Verwaltungsentscheidung von der Mehrheit des Volkes begrüßt wird, wäre indes falsch. Es geht allein um die Rückführbarkeit jeder Verwaltungsentscheidung. Es genügt somit eine Legitimationskette52, die bei der Mehrheit des Volkes beginnt und bei der einzelnen hoheitlichen Entscheidung endet. Dass die Verfassung dem Mehrheitswillen eine wichtige Grenze zieht, steht dazu nicht in Widerspruch. bb) Minderheitenschutz Herrschen Mehrheiten, existieren auch Minderheiten, die sich dem Mehrheitswillen grundsätzlich fügen müssen. Die Stärke der verfassungsstaatlichen Demokratie ist es aber auch, diesen Minderheiten einen adäquaten Schutz einzuräumen.53 Für den Gesetzgeber werden zu Recht als wesentliche Grenze die Grundrechte 49
H. Faber, S. 89. Dazu vgl. etwa B. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 II, Rn. 41 ff.; M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 21 ff. sowie W. Heun passim. 51 Das Bundesverfassungsgericht (E 29, 154, 165) bezeichnet es als fundamentales Prinzip der Demokratie. 52 Statt aller: H. H. Klein, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 38, Rn. 42 und M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 35 ff., jeweils m. w. N. 53 Zum außerparlamentarischen, insbesondere individuellen, Minderschutz vgl. nur A. Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 244 ff. Für den parlamentarischen Minderheitenschutz siehe etwa M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 26. 50
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als Freiheitsreservat54 der Bürger genannt. Ist die Verwaltungshandlung, die aufgrund der Gesetzesbindung eine Umsetzung des Gesetzes darstellen sollte, mehrheitslegitimiert, findet auch hier der Minderheitenschutz über die bereits thematisierte Grundrechtsbindung der Verwaltung statt. Sie begrenzt Verwaltungshandeln ebenso wie das vom Gesetzgeber erlassene Gesetz – nur von einer anderen Seite her: Neben die Begrenzung von Verwaltungshandeln durch die grundsätzliche Bindung an das von der Mehrheit getragene Gesetz tritt der Grundrechtsschutz von Minderheiten. Der grundrechtsgebundene Gesetzgeber kann nur eine grundrechtsgebundene Verwaltung anleiten. Der Minderheitenschutz findet sich somit in jeder Verwaltungsentscheidung wieder und macht die Mehrheitsentscheidung für den Betroffenen erträglicher. Jede Verwaltungsentscheidung muss damit aber auch verfassungskonform sein. Der Minderheitenschutz hat in der Demokratie aber noch eine weitere Komponente. Der demokratische Staat ist im Idealfall so beschaffen, dass die Minderheiten die Chance haben, selbst zur Mehrheit zu werden.55 Genau durch dieses abstrakte Versprechen wird die von H. Faber geforderte56 demokratische Komponente der Gesetzesbindung der Verwaltung deutlich. Hat die (parlamentarische und / oder gesellschaftliche) Minderheit die Chance, selbst die (parlamentarische und / oder gesellschaftliche) Mehrheit zu werden, ist die Gesetzesbindung der Verwaltung für die Minderheit das Versprechen, selbst gestaltend durch die Verwaltung Einfluss zu nehmen. Die Gesetzesbindung ist somit meinungsneutral gehalten, sie setzt den Mehrheitswillen ohne Ansicht der konkreten Meinung durch und enthält das Versprechen, dass bei einer wechselnden Mehrheit die Verwaltung an das dann geänderte Gesetz genauso gebunden ist wie sie es zu früherer Zeit an das alte war. cc) Transparenzgebot und Öffentlichkeit Letztlich hat die Gesetzesbindung noch aus einem anderen Grund ihre Verankerung im Demokratieprinzip gefunden. Demokratie bedeutet für das Staatsvolk auch immer die Möglichkeit, bei der nächsten Wahl eine andere Entscheidung zu treffen und dem politischen Konkurrenten der aktuellen Mehrheit zur Majorität zu verhelfen. Unerlässliche Voraussetzungen dafür sind eine ausreichende Öffentlichkeit und transparente und nachvollziehbare Prozesse. Das aus dem Demokratieprinzip abzuleitende Transparenzgebot57 gilt auch für die Verwaltung. Es verpflichtet die Administrative, ihre Verfahren nachvollziehbar zu gestalten. Die Verwaltung ist damit auch und insbesondere hinsichtlich ihrer Gesetzesausführung (um letztlich 54
Der Ausdruck stammt von E. Forsthoff, FS-Schmitt, S. 195. Dazu etwa W. Heun, S. 194 ff., der deshalb in strukturellen Minderheiten ein Problem sieht. 56 H. Faber, S. 89. 57 Speziell zum Transparenzgebot der Exekutive s. B. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 II, Rn. 26 ff. 55
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die Art der Gesetzesausführung überprüfen zu können) transparenzverpflichtet und rechtfertigungsbedürftig. dd) Die Gesetzesbindung als Vehikel zur Realisierung des Volkswillens Dass die Verwaltung an das Gesetz gebunden ist, ist ein Wesenselement der Demokratie. Demokratische Entscheidungen verlören ohne eine grundsätzliche Umsetzung ihren Wert. Geschützt wird dadurch das demokratisch legitimierte Parlament58 und letztlich das Volk, das seinen Willen umgesetzt wissen will. Die Grenze der Bindung an jedwedes Gesetz bildet aber die Verfassung. d) Gewaltenteilungsprinzip (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG)59 Das bereits beim Gesetzmäßigkeitsprinzip der Verwaltung aus Art. 20 Abs. 3 GG erwähnte Rechtsstaatsprinzip enthält auch noch eine andere Ausprägung, die für die Gesetzesbindung von Rechtsprechung und Verwaltung von Relevanz ist. In Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG wird allgemeinhin eine Verankerung des Prinzips der Gewaltenteilung60 gesehen.61 Anknüpfend an Vorstellungen aus der Antike62 grenzte insbesondere Montesquieu63 Legislative, Exekutive und Judikative von 58
Zur Legitimation des Gesetzgebers siehe etwa K. Hesse, Rn. 504. Zum Verhältnis von Gesetzesbindung und Gewaltenteilung siehe etwa H.-D. Horn, S. 249 ff. 60 Vgl. nur B. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 V, Rn. 2; M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 79; H. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 67 ff. 61 Auch T. Westerhoff erkennt die grundsätzliche Relevanz des Untersuchungsgegenstandes für die Gewaltenteilung (vgl. S. 100 ff., S. 148 ff.), bleibt aber konkrete Antworten über die Auswirkungen schuldig. 62 Für gewöhnlich wird das Prinzip auf Aristoteles, Politik, S. 203, zurückgeführt: „Es gibt in jeder Verfassung drei Teile, bei denen der tüchtige Gesetzgeber jeweils das Zuträgliche zu prüfen hat. Denn wenn es mit ihnen gut geht, so muss es mit der ganzen Verfassung gut stehen, und die Differenzen der verschiedenen Verfassungen sind eben in diesen Dingen begründet. Von diesen dreien ist das eine die über die öffentlichen Dinge beratende Instanz, das zweite die Beamten […], das dritte die Rechtsprechung.“ 63 In Montesquieu, 11. Buch, 6. Kapitel (S. 212 f.) heißt es über die Verfassung Englands: „Es gibt in jedem Staat drei Arten von Vollmacht: die legislative Befugnis, die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Völkerrecht abhängen, und die exekutive Befugnis in Sachen, die vom Zivilrecht abhängen. Auf Grund der ersteren schafft der Herrscher oder Magistrat Gesetze auf Zeit oder für die Dauer, ändert geltende Gesetze oder schafft sie ab. Auf Grund der zweiten stiftet er Frieden oder Krieg, sendet oder empfängt Botschaften, stellt die Sicherheit her, sorgt gegen Einfälle vor. Auf Grund der dritten bestraft er Verbrechen oder sitzt zu Gericht über die Streitfälle der Einzelpersonen. Diese letztere soll richterliche Befugnis heißen, und die andere schlechtweg exekutive Befugnis des Staates. (…) Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen.“ 59
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
einander ab. Diese Dreiteilung bildet heute für das Grundgesetz ein tragendes Organisations- und Funktionsprinzip.64 Statuiert die Gewaltenteilung eine Aufteilung der ausgeübten Staatsgewalt, so gibt sie damit auch jeder der Gewalten einen selbstständigen Bereich, in denen von den anderen Gewalten nicht eingegriffen werden darf.65 Sind Verwaltung und Gerichte an das Gesetz gebunden, schützt diese Verpflichtung zugleich das Parlament, weil die erlassenen Gesetze auch umgesetzt werden. Das hat – wie man bereits gesehen hat – auch eine demokratische Komponente. Darüber hinaus gewährleistet es auch die Gewaltenteilung durch eine Sicherung der Kernkompetenzen der Verfassungsakteure. Andernfalls wäre der Kernbereich gesetzgeberischen Handelns eingeschränkt, im Extremfall geradezu aufgelöst, wenn die anderen beiden Gewalten an die Gesetze überhaupt nicht gebunden wären. e) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) Obgleich die Grundrechtsbindung von Verwaltung und Justiz bereits untersucht worden sind, lohnt ein separater Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG.66 Der allgemeine Gleichheitssatz unterscheidet sich nämlich unabhängig von seiner Eigenschaft als Gleichheitsrecht, gegenüber den meisten Grundrechten, die als Freiheitsrechte konzipiert sind. Er unterzieht das Handeln der zweiten und dritten Gewalt nicht nur in relationslosen67 Einzelsituationen einer Grundrechtsbewertung, sondern wirft stets den Blick auf vergleichbare Fallkonstellationen. Der Gleichheitssatz hat gegenüber den übrigen Grundrechten eine gesteigerte Bedeutung für das Gesetzesbindungspostulat, weil es mit ihm in einem engen Verhältnis steht. Dass Art. 3 Abs. 1 GG auch einen gegenüber Administrative und Judikative bestehenden Gleichbehandlungsanspruch begründet, steht angesichts des Wortlauts von Art. 1 Abs. 3 GG außer Zweifel. Durch diesen bekommt die Gesetzesbindung eine gleichheitsrechtliche Facette.68 Durch die Pflicht der Verwaltung, das Gesetz 64
M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 82. Zum unantastbaren Kernbereich, der jeder Gewalt zugestanden wird, vgl. M. Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rn. 93. m. w. N. 66 Siehe zum Zusammenhang von Art. 3 GG und Art. 20 GG L. Michael, Gleichheitssatz, S. 244 ff. 67 Zur Bedeutung und Funktion komparativer Systeme siehe L. Michael, Gleichheitssatz, S. 125 ff. und passim. 68 Ähnlich auch F. Fleiner, S. 112 ff., im Abschnitt „Die ‚gesetzmäßige Verwaltung‘“. Dort heißt es auf S. 113: „Von nicht geringerer Bedeutung ist die weitere rechtsstaatliche Forderung nach einem für alle Untertanen gleichen Recht. Die staatlichen Eingriffe sollen nach einem für Alle gleichen Maßstabe erfolgen. Die Gesetzgebung hat diese Rechtsgleichheit der Bürger durch Aufstellung allgemein gültiger Regeln zu verwirklichen unternommen, die genau die Voraussetzungen bezeichnen, unter denen der verwaltende Staat Ansprüche der Bürger zu befriedigen hat und sich Eingriffe in Freiheit und Eigentum erlauben darf.“ Zu der Bedeutung der „‚Freiheit- und Eigentum‘-Klausel“ für die Entwicklung der Gesetzesbindung siehe P. Selmer, JuS 1968, S. 490, insbesondere mit Verweis auf L. v. Stein. K. Sobota, S. 77, stellt unter dem 65
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grundsätzlich gegenüber allen Menschen gleich auszuführen (und es überhaupt auszuführen69), wird die (möglicherweise von der Verwaltung selbst vorgenommene) Rechtsauslegung für sie verbindlich; gleiche Maßstäbe gelten auch für die Gerichte. Die Gleichbehandlungspflicht führt zur Bindung an die Gesetzesauslegung. Sie bedeutet umgekehrt aber auch, dass sich Art. 3 Abs. 1 GG nur durch eine grundsätzlich gesetzesgebundene Verwaltung und eine gesetzesangeleitete Rechtskontrolle der Justiz verwirklichen lässt: Gleichheit durch Gesetzmäßigkeit.70 Sind Judikative und Administrative an das Gesetz gebunden, verlangt Art. 3 Abs. 1 GG von diesen Gewalten, es gegenüber jedem Bürger auch grundsätzlich gleich zu beachten (und anzuwenden). Die Bindung an das Gesetz ist damit untrennbar mit Art. 3 Abs. 1 GG verbunden.71 Gleichheit im Gesetzesvollzug ist ohne die Gesetzesbindung nicht denkbar. Es stellt sich gleichwohl die Frage, ob Art. 3 Abs. 1 GG die Gesetzesbindung nur gebietet, die Vorschrift also nur einen konkreten Anwendungsbereich erhält, oder ob diese dort auch verankert ist. Zwar stellen sich diese Gleichheitsproblematiken auch ohne die Bindung von Verwaltung und Rechtsprechung an das Gesetz. Man denke nur an die Bedeutung des Gleichheitssatzes auch für den Gesetzgeber. Ein Anwendungsbereich der allgemeinen Rechtsgleichheit besteht also auch ohne die Bezugnahme auf Judikative und Exekutive. Im Rechtsalltag ist die Beziehung der Menschen zu Verwaltung und Gerichten derart eng und häufig, dass die Gleichbehandlung durch die Bindung an das Gesetz zum Kernbestand der Gleichheitsgarantie gehört. Aufgrund dieser engen Beziehung ist die Gesetzesbindung nicht bloß eine Ausprägung gleichheitsgetragener Vorstellungen. Die Gleichheit verwirklicht sich vielmehr erst in der Rechtspraxis72 durch gesetzesunterworfene Verwaltung Punkt „Gesetzlichkeit“ fest: „Das Gesetz im materiellen Sinne, also gedacht als abstraktgenerelle Regelung, überführt politisches und soziales Entscheiden in eine kontinuierliche Form des Gleichmaßes und der Gleichbehandlung.“ 69 Denkbar wäre es mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG natürlich, dass die Verwaltung ein oder mehrere Gesetze überhaupt nicht ausführt und damit vermeintlich auch nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstößt, weil sie schließlich das Gesetz gegenüber allen gleich (nicht) ausführt. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet unter Umständen aber auch eine sachangemessene Differenzierung. Bei etwaigen Abweichungen vom Gesetz besteht gleichwohl eine Verpflichtung zur Gleichheit im Dispens. Dazu E. I. 6. 70 A. Dittmann, FS-Dürig, S. 228; C. Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 2, Art. 3 Abs. 1, Rn. 264. 71 Ebenso für den Bereich der Steuerverwaltung A. Dittmann, FS-Dürig, S. 227 ff. Zu Nachweisen, dass dieser Zusammenhang – dort abermals für die Steuerverwaltung – bis zur Ent stehung des Beitrags (1990) zu wenig untersucht worden ist, vgl. S. 228, Fn. 47. Eine wesentliche Ursache für die unterschiedliche Ausführung von Gesetzen durch die Verwaltung wird im bundesstaatlichen Gefüge gesehen: Dass der Schwerpunkt der Gesetzgebungskompetenzen beim Bund, die Gesetzesausführung hingegen überwiegend von den Ländern vorgenommen wird, sei dafür ursächlich, S. 229 f. Gleicher Ansicht – ebenfalls für den Bereich des Steuerrechts – sind J. Isensee, S. 133 f., und P. Kirchhof, FS-BFH, S. 285 ff. 72 Zur Bedeutung einer praxisnahen Perspektive stellt U. Scheuner, DÖV 1969, S. 586, prägnant fest: „(…) Die verwaltungsrechtliche Lehre [darf] den Bezug zum gesellschaftlichen Leben und zu den Aufgaben der Verwaltung in der jeweiligen Epoche nicht verlieren.“
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
und Rechtsprechung und hat damit auch einen Menschenwürdebezug als Schutz vor Willkür. Dass Art. 3 Abs. 1 GG offen formuliert ist73, steht dazu nicht in Widerspruch. Die Gesetzesbindung stört auch nicht die semantische Leere74 des allgemeinen Gleichheitssatzes. Sie baut selbst – wie der Gleichheitssatz – auf eine noch zu schaffende Relation (Bürger – Staat – Bürger) auf und setzt keine Wertungsmaßstäbe, etwa in Form einer konkreten Rechtsauslegung, voraus. Die gleiche Behandlung der Menschen ist damit Selbstzweck und sich selbst genügende Antriebskraft. Die Bedeutung des Gleichheitssatzes für die Gesetzesbindung wird dann auch an dem bekannten Gebot „Keine Gleichheit im Unrecht“75 deutlich. Umgekehrt bedeutet der Satz nämlich „Gleichheit im Recht“ und ist damit ein anderer Ausdruck für das Verhältnis von Gesetzesbindung und Gleichheitssatz. Die Gesetzesbindung hat somit eine kaum zu unterschätzende gleichheitsrechtliche Verankerung. Gleichheit vor dem und durch das Gesetz sowie die Bindung der vollziehenden und kontrollierenden Stellen sind im demokratischen Rechtsstaat untrennbar miteinander verbunden: „Gleichmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit fallen im Stadium der Vollziehung zusammen. Egalität verwirklicht sich durch Legalität“76, wobei über die Reichweite der „Legalität“ damit nichts gesagt ist. f) Gesetzesunterworfenheit der Judikative (Art. 97 Abs. 1 GG) Für die Gerichte kommt schließlich noch Art. 97 Abs. 1 GG als eine weitere Verfassungsbestimmung hinzu, die ihre Gesetzesbindung manifestiert. Die Besonderheit und ambivalente Bedeutung der Gesetzesbindung der Richter aus dieser Norm wird deutlich: Es handelt sich zwar einerseits inhaltlich nur um eine Wiederholung der Aussage des Art. 20 Abs. 3 GG77 – eine vergleichbare Wiederholung gibt es für die Verwaltung etwa nicht –, anderseits stellt die Gesetzesbindung aber die einzige Grenze richterlichen Handelns dar. So verdeutlicht Art. 97 Abs. 1 GG78: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“79 Die scheinbar durch die Wiederholung entstehende nur deklaratorische Bedeutung, die Verfassungen ansonsten erst einmal fremd sein dürfte, wird aber durch den gegenüber Art. 20 Abs. 3 GG abweichenden Wortlaut des Art. 97 Abs. 1 GG durchbrochen. Der Begriff der Bindung in Art. 20 GG ist doch wesentlich zurückhaltender als der durchaus als eindringlicher Appell und Aufforderung zu verstehende Terminus 73
Vgl. dazu A. Nußberger, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 7. Vgl. hierzu A. Podlech, S. 77 ff. 75 Statt aller: C. Starck, in: Mangoldt / Klein / Starck, GG, Bd. 1, Art. 3 Abs. 1, Rn. 274 m. w. N. 76 J. Isensee, S. 134. 77 Entsprechend verweist auch zum Beispiel Jarass / B. Pieroth, Art. 97, Rn. 1, auf die Ausführungen zu Art. 20 GG. 78 Zu den entsprechenden Vorgängernormen in der deutschen Geschichte siehe K. Stern, Bd. 2, S. 907. 79 Hervorhebung nur hier. 74
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der Unterwerfung in Art. 97 GG.80 Art. 97 GG enthält damit als „feierliche Warnung“81 und speziellere Vorschrift den nachdrücklichen Hinweis auf die einzige Begrenzung richterlicher Tätigkeit. Angesichts der Freiheiten der Judikative durch ihre Unabhängigkeit stellt die Gesetzesbindung den einzigen Bändigungsmodus dar.82 Die Gesetzesbindung ist damit das notwenige Korrelat bzw. ein Element der Unabhängigkeit.83 Neben der Bindung an das einfache Gesetz ist die Rechtsprechung aber auch auf die Verfassung verpflichtet. Richterliche Tätigkeit ist damit nicht nur durch das einfache Parlamentsgesetz begrenzt, sondern insbesondere auch durch die Bestimmungen des Grundgesetzes. Aus der Verfassung ergeben sich dabei zwei wesentliche Aufträge an die Verwaltungsgerichte: Zum einen müssen die Gerichte die Einhaltung der Gesetze durch die Verwaltung kontrollieren; zum anderen sind auch die („materiellen“) Verfassungsbestimmungen, etwa die Grundrechte, nicht nur Legitimation für judikatives Handeln zu ihrer Durchsetzung, sondern auch Begrenzung. Das könnte man übersehen, wenn man in der Justiz allein den Schutzanker zur Verfassungsdurchsetzung sieht. g) Die Gesetzesbindung als verfassungsrechtliches Mosaikkonstrukt In ihrer Grundausrichtung dienen die Gesetzesbindung der Verwaltungsgerichte und die der Verwaltung dem gleichen Zweck: der Stärkung des parlamentarischen Gesetzgebers und des Gesetzes. Bei der Verwaltung ging es historisch um die Begrenzung absolutistischer Macht. Das bürgerliche Parlament sollte eine Gesetzesumsetzung von der monarchischen Verwaltung erwarten können. Durch den Transformationsprozess, den die Verwaltung hin zu einer „demokratischen Verwaltung“, einer „Parlamentsverwaltung“84, durchlebt hat, ist dieser Prozess weiterverfolgt und abgeschlossen worden. Zwar sind die Verwaltungsgerichte nicht das Sprachrohr oder der Interessenvertreter des Parlaments. Sie dienen indessen einerseits dem Gesetzgeber als dessen Umsetzungskontrolleur bei der Überprüfung der Ausführung der Gesetze durch die Verwaltung, sind andererseits dabei aber auch selbst dem Gesetz verpflichtet und von diesem nicht emanzipiert. Dass Gesetzgeber und Verfassunggeber der Rechtsprechung eine privilegierte Stellung einräumen, zeigt sich an den geringen Sanktionsmechanismen für offensichtliche Fehler in der Rechtsanwendungskontrolle. Die persönliche Rechtsstellung des 80
C. Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97, Rn. 32, spricht deshalb von einer „starke(n) Formulierung“. 81 H. Jahrreiß, DJT, S. 32. 82 C. Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97, Rn. 26. 83 Vgl. K. Stern, Bd. 2, S. 907 m. w. N. Zustimmend C. Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97, Rn. 25. 84 Der Begriff soll als Anlehnung an die Parlamentsarmee verstanden werden; dazu G. Mayntz, S. 1 ff. Nicht gemeint ist die Verwaltung des Parlaments.
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
Richters wird, entsprechenden Vorsatz unterstellt, nach § 339 StGB erst im Falle einer Rechtsbeugung angetastet; selbst bei einem „evident gesetzeswidrigen Fehlgriff“ schreitet zunächst nur die Dienstaufsicht ein.85 Die identische Zielrichtung ist es dann auch, die es erlaubt, die Gesetzesbindung für die beiden Gewalten mit dem gleichen Begriff zu beschreiben. Die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung ist damit an zahlreichen Stellen im Grundgesetz verankert. Sie beschreibt das Verhältnis von staatlicher Gewalt (vornehmlich Verwaltung und Justiz) zum Gesetz. Die überragende Bedeutung äußert sich in einer Kodifikation nicht nur in Art. 20 Abs. 3 GG, wenngleich den Vätern und Müttern des Grundgesetzes damit eine ausdrückliche Aufnahme in die Verfassung geglückt ist. Sie bedeutet für die gebundenen Hoheitsträger eine grundsätzliche Beachtungspflicht des Wortlauts des Gesetzes, entbindet aber nicht von der Ausführung der Gesetze im Lichte und unter Beachtung der Verfassung. Die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung ist damit eine tragende Säule des demokratischen Rechtsstaats und als solche ein Mosaikkonstrukt. 4. Rechtfertigungsbedürftigkeit von Grundrechtseingriffen auch bei der Anwendung „gebundener“ Normen Für das Verhältnis von Grundrechten und ein den Grundrechten schrankenziehendes Gesetz lautet die klassische Ausgangsvermutung aus Art. 1 Abs. 3 und Art. 2 Abs. 1 GG, dass nicht die Freiheitsausübung rechtfertigungsbedürftig ist, sondern die Einschränkung der (vermuteten) Freiheit der Bürger. Folgerichtig ist die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung nicht der apodiktische Zustand, dem sich die Grundrechtsausübung beugen muss, sondern die Bindung an das grundrechtseinschränkende Gesetz stellt eine rechtfertigungsbedürftige Situation dar. Diese Ausgangserkenntnis gilt nicht minder für das „gebundene“ Gesetz. Greift ein Hoheitsakt – auch und gerade – aufgrund einer „gebundenen“ Norm in die Grundrechte ein, sind diese nicht dispensiert, sondern verlangen eine Rechtfertigung des Eingriffs: Die Bindung an das „gebundene“ grundrechtsbeschränkende Gesetz verlagert die Argumentationslast hin zur Gesetzesbindung. Konkretisiert bedeutet das: Weil die grundsätzliche Bindung an Normen besteht, ist die abstrakte Verfassungsmäßigkeit eines Rechtssatzes grundrechtsgeboten – und wird bei „gebundenen“ Normen auch nicht bestritten. Aber auch der Einzelfall muss – ganz im Sinne der Ausgangsvermutung zugunsten der Grundrechte – sich am Maßstab der Grundrechte der klassischen Rechtfertigungslast von Grundrechtseingriffen stellen, mit der Folge, dass auch bei „gebundenen“ Normen die Grundrechte Einzelfallgerechtigkeit gebieten und die Grundrechte – so sich ein Eingriff 85
C. Hillgruber, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 97, Rn. 51.
II. Abwägungsmodell (Modell 1)
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nicht rechtfertigen lässt – Vorrang gegenüber dem Gesetz beanspruchen, wie auch immer dieser Vorrang eingelöst wird. Gleichwohl ist die Gesetzesbindung zentraler Pfeiler des Rechtsstaats und der Demokratie. Diese Kraft steht aber unter dem Vorbehalt verfassungsmäßigen staatlichen Handelns, da das Gesetz keine Befolgung verlangen kann, sofern es den Grundrechten widerspricht. Bei dieser Feststellung schimmert bereits die Erkenntnis durch, dass die Gesetzesbindung (oder jedenfalls eine Wortlautbindung) nicht uneingeschränkt und absolut gelten kann. Dieses Privileg ist der Menschenwürde vorbehalten und liefe durch die Gleichstellung auf eine ungerechtfertigte Privilegierung der Gesetzesbindung hinaus, die ihrerseits doch grundrechtskonform zu verstehen ist. Vielmehr kann die Bindung an das Gesetz nur dann Geltung beanspruchen, wenn und insoweit Grundrechte es gestatten. Darin ist kein überzogener Grundrechtsschutz zu sehen, weil mit dieser Entwicklung aus der klassischen Grundrechtslehre heraus nur das systematische Verhältnis von Grundrechten und grundrechtseinschränkendem Gesetz weitergedacht wird und Art. 1 Abs. 3 und Art. 2 Abs. 1 GG ganz im klassischen Sinne (nur eben mit abweichenden Konsequenzen) interpretiert werden. Über die inhaltliche (materielle) Reichweite der Grundrechte ist nämlich noch keine Aussage getroffen. „Was gebieten die Grundrechte im Einzelfall oder generell?“ ist eine von dem grundlegenden Verständnis von Grundrechten und Gesetz zu trennende Frage. Die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung meint also eine Bindung an das Gesetz im Rahmen der Grundrechte. Nicht umgekehrt existieren die Grundrechte bloß im Rahmen der Gesetzesbindung. Jedes eng gezogene Verständnis einer Bindung an das (grundrechtsbeschränkende) Gesetz wird damit seinerseits rechtfertigungsbedürftig. Diese Erkenntnisse offenbaren zugleich das Bedürfnis nach vermittelnden und ausgleichenden Lösungen. Da die Grundrechte (mit Ausnahme der Menschenwürde) völlig unstreitig abwägungsfähig sind, liegt der Fokus der Aufmerksamkeit automatisch auf einer Neubewertung der Gesetzesbindung, die sich auf der Basis zweier alternativer Modelle vollziehen könnte.
II. Abwägungsmodell (Modell 1): Die Gesetzesbindung im Sinne einer Wortlautbindung als prinzipientheoretisches Verfassungsprinzip Das erste mögliche Einfallstor zur Ermöglichung von Einzelfallgerechtigkeit durch eine Modifikation der Gesetzesbindung liegt in einer Veränderung des Verständnisses der Befolgungsintensität der Bindung an das Gesetz. In diesem Modell wird nicht der Bedeutungsinhalt der Gesetzesbindung selbst verändert, sondern der absolute Charakter der Bindung an das Gesetz relativiert.
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
1. Das Verständnis der Gesetzesbindung im Abwägungsmodell Ausgangspunkt der Überlegungen zum Verständnis „gebundener“ Normen ist letztlich die prinzipientheoretische Qualifizierung der Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung. Die Gesetzesbindung wurde als Verfassungsbelang in ihrer Qualität im Verständnis der klassischen Prinzipientheorie nicht sonderlich intensiv analysiert. So blieben bislang Aspekte unterbelichtet, die das Verständnis der Einordnung verändern können.86 So lässt sich die Gesetzesbindung im Sinne dieser Theorie als ein Prinzip verstehen, mit der Abwägungsfähigkeit und damit Relativierbarkeit des Gesetzesausspruchs als Folge. a) Norminterpretation und Gesetzesbindung Die Ermittlung des Inhalts der Gesetzesbindung erfolgt in diesem Modell – in Übereinstimmung mit dem herrschen Verständnis – durch die Interpretation der jeweiligen Norm. Insbesondere die jedenfalls87 vier anerkannten Auslegungs methoden88 dienen zur Ermittlung des Inhalts der Norm. Weit verbreitet ist die Erkenntnis des Wortlauts als Grenze der Auslegung.89 So beeinflussen systematische, teleologische und historische Argumente die Interpretation, der Wortlaut bildet aber eine Grenze, die im Rahmen der Interpretation nicht überschritten werden darf. Daraus wird im bereits dargestellten klassischen Verständnis mit Blick auf die Rechtsfolge der Schluss gezogen, dass eine „gebunden“ formulierte Norm keinen Spielraum und keine Abweichungsmöglichkeit ermöglicht, sofern die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind.
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Diese Feststellung – um es bereits eingangs deutlich zu machen – greift nur für öffentlich-rechtliche Normen im Staat-Bürger-Verhältnis, nicht etwa für das Zivil- oder Strafrecht. Siehe etwa auch C. H. Ule, GS-Jellinek, S. 325. Das liegt auch daran, dass im Verwaltungsprozess die Verwaltung als eine Partei sachverständig ist (vgl. C. H. Ule, GS-Jellinek, S. 326). Zur Verhältnismäßigkeit im Strafrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 597, Fn. 170, 171, 175, S. 614. 87 Eine fünfte Auslegungsmethode ist nach P. Häberle, JZ 1989, S. 916 f., und ders., Verfassungslehre, S. 312 ff., die Rechtsvergleichung. 88 Zu den vier anerkannten Auslegungsregeln („canones“) vgl. F. von Savigny, S. 213 f. So stellt er grundlegend fest: „So müssen wir in ihr [der Auslegung] Vier [sic!] Elemente unterscheiden: ein grammatisches, logisches, historisches und systematisches.“ (S. 213). 89 So ausdrücklich für dieses Thema T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 175. Vgl. weiter: BVerfGE 87, 209, 224; 92, 1, 10; 110, 226, 267, sowie Schlaich / S. Korioth, Rn. 449; A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 185 f.; R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 115 f.
II. Abwägungsmodell (Modell 1)
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b) Die Prinzipientheorie nach R. Dworkin und R. Alexy Für das Verständnis der Bedeutung der Gesetzesbindung ist ihre prinzipientheoretische Einordnung relevant. Die Flexibilisierung der Rechtsfolgenbestimmung zur Ermöglichung von Einzelfallgerechtigkeit findet in dieser Verortung ihre Ursache. Die Rekonstruktion der Rechtsordnung aus Regeln und Prinzipien90 geht in ihrer Grundfassung auf R. Dworkin zurück91; das Verdienst92 R. Alexys ist ihre Übertragung – mit gewissen Modifikationen – in die deutsche Rechtsordnung93, speziell in die Grundrechtslehre94.95 Kernstück dieser Aufteilung ist die mehr96 oder weniger97 strenge Trennung der geschriebenen oder ungeschriebenen98 Normen unserer Rechtsordnung in abwägungsfähige Prinzipien und abwägungsresistente Regeln. Während Regeln eine grundsätzliche Befolgung mit klar definierten Ausnahmen fordern99, ist es Prinzipien immanent, dass sie aufgrund ihres Charakters als Optimierungsgebote100 nur ein Höchstmaß, aber eben nicht zwingend ein Vollmaß („ideales Sollen“101) an Durchsetzung für sich in Anspruch nehmen können.102 Tritt zwischen Regeln ein Widerspruch auf, ist dieser im Wege der Ungültigkeitserklärung einer Regel (allgemein oder durch eine Ausnahme) zu lösen.103 Prinzipien sind hingegen durch eine Abwägung104 danach zu untersuchen, welchem
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Zu noch älteren Nachweisen des Prinzipienbegriffs siehe A. Heinold, S. 31 ff. Siehe auch K. Stern, Bd. 3/2, S. 773, Fn. 68 m. w. N. 91 R. Dworkin passim. 92 A. Heinold, S. 175, sieht R. Alexys Leistung vor allem in der Praktikabilität seiner Ansätze: Die bisherigen Untersuchungen im Bereich der Prinzipientheorie seien so abstrakt gewesen, dass sie so „fern der alltäglichen juristischen Praxis [gewesen sind], dass sie vor allem in der Wissenschaft Beachtung gefunden haben.“ 93 Siehe die grundlegende Entwicklung in R. Alexy, Rechtsprinzip, S. 59 ff., sowie R. Alexy, Grundrechte, S. 71 ff. 94 R. Alexy, Grundrechte, passim. 95 Eingehend befasst sich mit beiden etwa A. Heinold passim. 96 R. Alexy, Rechtsprinzip, S. 64, fasst die Aufteilung in Regeln und Prinzipien bei R. Dworkin als „strikt klassifikatorisch“ auf, weshalb er zum Begriff „strenge Trennungsthese“ kommt. 97 Alternativ zur strengen Trennungsthese stellt R. Alexy, Rechtsprinzip, S. 65, die „schwache Trennungsthese“ und die „Übereinstimmungsthese“ dar. Beiden folgt er – genau wie R. Dworkin – im Ergebnis aber nicht. Siehe zur Trennungsthese als Überblick A. Heinold, S. 182 ff., 302 ff. Vgl. ferner L. Michael, Gleichheitssatz, S. 102 f. 98 Nicht zuletzt darin wird schon der Widerspruch der Lehre R. Alexys zum Rechtspositivismus deutlich. 99 R. Dworkin, S. 42 ff. 100 R. Alexy, Grundrechte, S. 75 ff. 101 Vgl. R. Alexy, Rechtsprinzip, S. 80 f. 102 R. Dworkin, S. 54 ff., 145 ff. 103 R. Dworkin, S. 132 ff. sowie S. 58: „Regeln sind in der Weise des Alles-Oder-Nichts anwendbar.“ Siehe auch R. Alexy, Rechtsprinzip, S. 72 ff. 104 E. Pache, S. 457 ff. und passim, bevorzugt eine tatbestandliche Abwägung und spricht sich für eine „vollständige gerichtliche Überprüfung“ (S. 473) aus.
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
im Einzelfall der Vorrang einzuräumen ist.105 Den Grundrechten, die R. Alexy ausnahmslos106 als Prinzipien auffasst, misst er unter der Prämisse der Freiheits- und Gleichheitsvermutung dadurch besondere Bedeutung bei, dass er Abwägungszweifel zu ihren Gunsten auflöst. Kritik gegen diese Konzeption hat es von verschiedenen Seiten gegeben.107 Im Strauß der mannigfaltigen Angriffe variiert die Ablehnungsintensität von einem partiell anderen Prinzipienverständnis108 hin zu einer vollständigen Ablehnung: So erkennen etwa Rechtspositivisten die Existenz der oftmals ungeschriebenen Prinzipien nicht an.109 Ungeachtet der Ablehnung rekonstruiert das Modell Dworkin / Alexy unsere Rechtsordnung auch unter Berücksichtigung der mitunter stichhaltigen Einwände treffend; ihm „ist eine hohe Erklärungsleistung zu bescheinigen“110. Folgerichtig sollten nicht die Ablehnung des Modells in Gänze, sondern Verfeinerungen, Präzisierungen und maßvolle Korrekturen die Agenda bestimmen. Dieser Aufgabe widmet sich der große Unterstützerkreis R. Alexys in zahlreichen Arbeiten.111 c) Zurückhaltung bei der Einordnung der Gesetzesbindung in das Dworkin / Alexy-Modell Legt man also das Dworkin / Alexy-Modell zugrunde, stellt sich mit Blick auf „gebundene“ Normen die Frage, welchen Status die Gesetzesbindung einnimmt.112 Diese Einordnung113 wird – selbst wenn man dem Prinzipienmodell nicht aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnend gegenübersteht –, soweit ersichtlich, im bisherigen Schrifttum114 in vergleichsweise zurückhaltendem Maße 105
R. Alexy, Rechtsprinzip, S. 75 ff.; R. Dworkin, S. 59 ff. Selbst die Menschenwürde beschreibt R. Alexy als ein Prinzip, auch wenn er insoweit von einem „absoluten Prinzip“ spricht; vgl. R. Alexy, Rechtsprinzip, S. 76 f. Dass er das Verständnis absoluter Prinzipien in späteren Schriften mit seiner Konzeption der „Idee“ gleichsetzt, lässt sich bei A. Heinold, S. 203 f., nachvollziehen. 107 So etwa M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung, S. 222 ff.; R. Poscher, RW 2010, S. 349 ff., und B. Rusteberg, S. 158. 108 Zu nennen sind insbesondere (die oftmals älteren) C.-W. Canaris passim; J. Esser passim; K. Larenz passim. Siehe zur Entwicklung L. Michael, Gleichheitssatz, S. 95 ff. 109 R. Dworkin spricht allerdings selbst auch von einem „allgemeinen Angriff auf den Positivismus“ (S. 54). 110 A. Heinold, S. 25. 111 So auch R. Poscher, RW 2010, S. 349. m. w. N. 112 R. Dworkin erkennt selbst an, dass es schwierige Abgrenzungsfälle geben kann. In diesem Sinne spricht er auch davon, dass es „Prinzipien, die am meisten Regeln gleichen“ (S. 59) gibt. 113 Auch T. Westerhoff, S. 91 ff., ordnet zur Bestimmung der Anwendbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei „gebundenen“ Normen vorrangig diesen ein. Zur rechtstheoretischen Qualität der Verhältnismäßigkeit siehe auch M. C. Jakobs, S. 45 ff. 114 Festlegungen finden sich etwa bei M. Klatt (Prinzip) sowie M. Jestaedt (Regel), Grundrechtsentfaltung, S. 223 f., und K.-E. Hain (Regel), S. 137 f. 106
II. Abwägungsmodell (Modell 1)
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getan115.116 Die Erklärung dafür scheint auf der Hand zu liegen: Für den Großteil der Rechtswissenschaft ist eine relativierbare und abwägungsfähige Bindung an das Gesetz durch Verwaltung und Gerichte schlichtweg unvorstellbar. Dieses Verständnis scheint die Akzeptanz der Rechtsordnung durch eine vermeintliche Aufweichung der Gesetzeskraft insgesamt zu gefährden. Kurzum: Die Gesetzesbindung erscheint der klassischen Rechtswissenschaft als Prototyp einer Regel.117 M. Klatt hat in seiner Habilitation über „Die praktische Konkordanz von Kompetenzen“118 mit überzeugender Begründung festgestellt, dass die Gesetzesbindung als ein Prinzip verstanden werden kann. Im Anschluss an die bereits von R. Alexy vorgenommene Feingliederung von Prinzipien in solche formeller und materiellerer Art119 entkräftet er die (generelle) Kritik120 an formellen Prinzipien, zu denen er auch die Gesetzesbindung zählt121, durch eine Aufarbeitung der noch unzureichenden Befunde zu ihnen. Formelle Prinzipien sind insoweit als solche zu verstehen, die bereits durch mit Autorität versehener Kraft gesetzt wurden, also an Prozeduren anknüpfen.122 Nicht nur die von M. Klatt dargelegten Bindungsdilemmata123, etwa in supranationalen Kontexten, lassen eine Einordnung der Gesetzesbindung als Prinzip plausibel erscheinen. Insbesondere enthält dieses Verständnis auch klare Kompetenzzuweisungen. Konsequenz dieses Verständnisses ist die Überprüfung der Vereinbarkeit aller Rechtsfolgenanordnungen mit sonstigen Verfassungsbelangen. Wie auch die Gerichte in den analysierten Entscheidungen mitunter zutreffend ausgeführt haben124, 115
Unzureichend ist auch die Darstellung von T. Westerhoff, S. 141 ff., der unkritisch ebenfalls vom Prinzipiencharakter der Gesetzesbindung, die er unter dem missverständlichen Begriff Vorrang des Gesetzes behandelt, ausgeht. Angesichts der (nach klassischer Lesart) Bedeutungsrelativierung von Gesetzen, wäre dazu eine ausgiebige Aufarbeitung zwingend geboten gewesen. K. Bruder, S. 100, lässt nur die Rechtssicherheit mit dem Übermaßverbot kollidieren. Eine ganz vage Andeutung in diese Richtung bilden die von V. Mehde, DÖV 2014, S. 544, Fn. 44, zitierten M. C. Jakobs und F. Schnapp, die aber nur bei einer entsprechenden Offenheit der jeweiligen Norm die Verhältnismäßigkeit in die Norm interpretiert wissen wollen. 116 Hier lässt sich an die Schwankungen in der Wahrnehmung „gebundener“ Normen anknüpfen (vgl. B. IV.). Sollten z. B. rechtsgebiets- oder zeitbezogene Besonderheiten zur Verwendung „gebundener“ Normen nachweisbar sein, könnte das als ein Abwägungsbelang bei der Ermittlung der Reichweite der Gesetzesbindung im Rahmen von Prinzipienkollisionen dienen. Ähnlich L. Michael, Gleichheitssatz, S. 207. Abwägungslösungen postulieren oder deuten etwa auch I. Kraft, BayVBl. 2007, S. 581; J. Neuner, S. 163 f., sowie C. Wellhöfer, S. 180 ff., an. 117 H.-D. Horn, LKRZ 2012, S. 2, bemängelt die „überkommenen Vorstellungen vom Vorrang der Gesetzesbindung“, wobei sich der Vorrang nach herrschendem Verständnis nicht einmal aus einer Abwägung ergibt, sondern die Gesetzesbindung als Regel ausnahmslos gilt. 118 M. Klatt passim. 119 R. Alexy, Grundrechte, S. 120. Siehe dazu auch A. Heinold, S. 264 ff., 347 ff. 120 Dazu insbesondere M. Klatt, S. 171 ff. 121 M. Klatt, S. 163. 122 Vgl. M. Klatt, S. 162 m. w. N. 123 Siehe dazu M. Klatt, S. 116 f. 124 So etwa OVG Münster, Beschluss vom 26. Mai 2009, Az. 18 E 1230/08; OVG Münster, Beschlüsse vom 24. April 2013, Az. 13 B 192/13, Az. 13 B 215/13 sowie Az. 13 B 238/13; Be-
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wird die Verhältnismäßigkeit damit grundsätzlich auch ohne Ausnahme bei der Ausführung „gebundener“ Normen geprüft. 2. Darlegung der Gesetzesbindung als Prinzip Die Einordnung der Gesetzesbindung als Prinzip im Sinne der Prinzipientheorie bleibt – trotz der Vorarbeit M. Klatts – gewöhnungs- und rechtfertigungsbedürftig. Dient dieses Modell auch der Ermöglichung von Einzelfallgerechtigkeit, muss es sich dennoch der Rechtfertigung unterziehen. Die Grundsätze der Prinzipientheorie verdeutlichen indes, dass durchaus gewichtige Argumente für eine Einordnung der Gesetzesbindung als Prinzip streiten. a) Die Gesetzesbindung und klassische Regel- bzw. Prinzipienmerkmale Die Gesetzesbindung zeichnet sich – in Übereinstimmung mit einem typischen Merkmal von Prinzipien – durch eine hohe Konkretisierungsbedürftigkeit aus. Während man bei einem ersten Blick zu dem Schluss gelangen könnte, dass die Bindung an das Gesetz als ein klassisches „Wenn-Dann-Schema“ (und damit als Regel) aufzufassen ist, bildet allein der Nachweis des über die Jahrhunderte veränderten Verständnisses der Gesetzesbindung125 einen Beleg für ihre Wandlungsfähigkeit. Eine veränderte Interpretation eines Verfassungsbelangs ist sicherlich für sich genommen noch kein sicherer Schluss zur Einordnung als Prinzip oder Regel. Die vermeintliche Klarheit des Verständnisses der Gesetzesbindung erweist sich aber als weniger stark als sie auf den ersten Blick erscheint, zumal der Leitliniencharakter jenes Prinzips deutlich wird. Die unterschiedliche Gesetzesausführung durch verschiedene Rechtsanwender verhindert ohnehin, dass alle Normen überall gleich umgesetzt werden. Das ist zwar streng genommen bei allen gesetzlichen Vorschriften der Fall, weil durch die Interpretation in der Rechtsanwendung unterschiedliche Auslegungsergebnisse möglich werden. Die Gesetzesbindung stellt sich aber selbst nur als ein Klammerbegriff für die grundsätzliche Befolgung sämtlicher Auslegungsergebnisse aller Normen dar. Die Gesetzesbindung, so man sie denn als Regel verstehen möchte, scheint schließlich auch eine wichtige Voraussetzung dafür nicht zu erfüllen. Regeln, wenn sie gültig sein sollen, dürfen nur klar definierte und damit letztlich in ihrer Anzahl endliche Ausnahmen haben.126 Auch wenn derartige Abweichungen keine Notwendigkeit zur Einordnung als Regel sind, kennt die Gesetzesbindung keine Ausnahmen. Nun ließe sich dagegen noch einwenden, dass die Gesetzesbindung schluss vom 26. April 2013, Az. 17 L 580/13, sowie im Kostenrecht. Anders hingegen VGH Mannheim, Urteil vom 14. März 2008, Az. 4 S 516/07. 125 Vgl. dazu B. IV. 126 Siehe etwa R. Dworkin, S. 59 f.
II. Abwägungsmodell (Modell 1)
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eben eine ausnahmenlose Regel sei. Ausnahmenlose Regeln sind indes zu starr und bieten – insbesondere bei unvorhersehbaren Entwicklungen – keine Möglichkeit zu flexiblen Lösungen. Warum die Gesetzesbindung anpassungsfähig sein muss (und es in der Rechtspraxis auch ist), zeigen insbesondere die Fälle aus der Rechtsprechungspraxis127 und die Notwendigkeit von Einzelfallgerechtigkeit. Der Grundsatz, dass Ausnahmen die Regel bestätigen, verdeutlicht, dass gerade die Nichtgültigkeit von Regeln in bestimmten Situationen die allgemeine Gültigkeit erst ermöglicht. Prinzipien zeichnet insoweit aus, dass ihre „Ausnahmen“ (dort passt der Begriff des „Gegenbeispiels“128 besser) in einer Fülle existieren, dass sie „nicht einmal theoretisch Gegenstand einer Aufzählung“129 sein können. Gerade Abweichungen von der Gesetzesbindung lassen sich nicht in begrenzter Weise aufzählen, sondern sind durch die Abwägung unzähliger Verfassungskollisionen in unbegrenzt vorstellbaren Konstellationen möglich. Gerade in diesen Fällen bestünde ein Optimum im Sinne einer Orientierung, aber kein Maximum an Bindung an das Gesetz. Auch die herrschende Meinung kennt Fälle, in denen von keiner strikten Wortlautbindung an das Gesetz auszugehen ist, etwa bei sog. Minusmaßnahmen.130 Nach R. Dworkin zeichnet eine Regel aus, dass sie entweder vollständig oder gar nicht gültig ist.131 In diesem Fall bedeutete eine Abweichung vom Gesetzeswortlaut – und sei sie noch so klein –, dass die Gesetzesbindung aufgrund ihrer fehlenden Gültigkeit als Regel in diesem Fall gar nicht mehr zur Bestimmung der Rechtsfolge beitragen könnte. Die Folge wäre eine Gesetzlosigkeit in Fällen von Minusmaßnahmen. Ganz im Gegenteil argumentiert die konventionelle Ansicht aber, dass in diesen Fällen der Rechtsanwender so nah wie möglich (und so weit wie grundrechtsgeboten) sich weiter am Gesetz orientieren muss. Diese Optimierung von Gesetzesorientierung erweist sich als ein klassisches Prinzipienmerkmal. Diese Orientierung am Gesetz löst etwa das OVG Münster im Fall des Genehmigungswiderrufs des Logopäden132 im Jahr 2009 (fast) mustergültig ein. Dort hatte es aufgrund der Unzuverlässigkeit des Logopäden, aber der teilweisen Unverhältnismäßigkeit des vollständigen Widerrufs, den Genehmigungswiderruf nur in Bezug auf weibliche Patientinnen für zulässig erklärt. Die Abweichung von der vorgesehenen Rechtsfolge setzt eine verfassungsgeleitete Begründung voraus, die insbesondere auch vom Bundesverwaltungsgericht133 gegeben werden muss. In der methodischen Vorgehensweise überzeugt die Entscheidung des OVG Münster in 127
Siehe dazu die Rechtsprechungsanalyse in Teil C. R. Dworkin, S. 60. 129 R. Dworkin, S. 60. 130 Vgl. etwa zu Minus-Maßnahmen im Versammlungsrecht: M. Kniesel / R. Poscher, in: Lisken / Denniger, HdPoR, K Rn. 26 ff.; B. Pieroth / B. Schlink / M. Kniesel, § 20, Rn. 15 und § 22 Rn. 15 f.; W.-R. Schenke, Rn. 379. 131 Vgl. R. Dworkin, S. 58. 132 OVG Münster, Urteil vom 20. Mai 2009, Az. 13 A 2569/06. 133 BVerwGE 137, 1. 128
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
besonderem Maße, weil sie das Versprechen einer am Gesetz orientierten, aber die Verhältnismäßigkeit wahrenden Rechtsfolge einzulösen versucht und eine differenzierte Herangehensweise am Maßstab der Verhältnismäßigkeit erkennen lässt. b) Das Prinzipienverständnis als Normalfall Das Verständnis der Gesetzesbindung als Prinzip wird auch durch die verfassungsrechtliche Bedeutung der Gesetzesbindung gestützt. Unbestritten gehört die grundsätzliche Unterwerfung der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt unter das Gesetz zu den Leitlinien bzw. Eckpfeilern des Grundgesetzes. Sieht man die Gesetzesbindung also im Kontext der Strukturprinzipien, wie etwa dem Demokratieprinzip oder dem Rechtsstaatsprinzip, isolierte ein Verständnis der Gesetzesbindung als Regel diese in der Reihe der großen Linien der Verfassung, auch wenn die Gesetzesbindung sich nicht auf der höchsten Abstraktionsebene wie die Strukturprinzipien befindet, die durch Unterprinzipien, aber auch durch Regeln konkretisiert werden. Gerade auf der Ebene höchster Verfassungswerte ist ein schonender Ausgleich134 zu suchen, den eine Regel aufgrund ihres strengen (Nicht-)Befolgungsgebots nicht bieten kann. Der Zirkel verfassungsrechtlicher Höchstwerte enthielte ein atypisches Mitglied, das sich dauerhaft immer durchsetzte, sofern sich die Gesetzesbindung als Regel erwiese. Dass auf höchster Ebene überwiegend Prinzipien existieren, liegt an der Konkretisierungsbedürftigkeit insbesondere der Strukturprinzipien und deren Gleichwertigkeit. Es ist auch keine Gesetzlosigkeit zu fürchten, weil die Gesetzesbindung nur gelockert werden kann, wenn andere Verfassungsbelange dies gebieten; in diesen Fällen droht keine Beliebigkeit, weil durch das kollidierende Verfassungsgut Vorgaben existieren. Dabei handelt es sich stets um solche vordringlichen Ziele, dass ein Abweichen verkraftbar erscheint. c) Die Gesetzesbindung als grundgesetzliches Prinzip Auch die Verfassung selbst bietet keinen sicheren Anhalt dafür, die Gesetzesbindung als eine Regel zu qualifizieren. Vielmehr ist im Grundsatz von der Gleichwertigkeit aller Verfassungsbelange135 auszugehen.136 Die Gesetzesbindung als ein 134 P. Lerche, S. 153 (eigentlich: Gedanken des „schonendsten Ausgleichs“); dass P. Lerche den Begriff nachträglich abgeändert hat, lässt sich bei O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 6, Fn. 15, nachvollziehen. Das Bundesverfassungsgericht formuliert etwa (E 83, 130, 143): „Optimierung zu einem angemessenen Ausgleich“. 135 Aufgrund des Konflikts zweier Verfassungsbelange ist auch nicht eine „Über-Konstitutionalisierung“ (H. Dreier, Die Verwaltung 36 (2003), S. 114) zu befürchten, da die Grundrechte nicht den einzigen Wert von Verfassungsrang bilden. 136 Aufgrund dieser grundsätzlichen Gleichwertigkeit lässt sich die Annahme K. Naumanns, DÖV 2011, S. 101 f. (Überprüfung der Fälle der Rechtsprechung anhand seiner Maßstäbe dann auf S. 102 f.), die Verhältnismäßigkeit könne dann berücksichtigt werden, wenn es durch eine
II. Abwägungsmodell (Modell 1)
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Prinzip im Sinne R. Dworkins und R. Alexys zu verstehen, ist damit letztlich nur eine konsequente Weiterführung dieser grundsätzlichen Gleichrangigkeit, da in dieser Einordnung zum Ausdruck gebracht wird, dass auch die Gesetzesbindung unter Umständen kollidierendem Verfassungsrecht im Einzelfall nachzugehen hat. Die allenfalls noch erhöhte Stellung der Menschenwürde, die schließlich auch R. Alexy selbst als „absolutes Prinzip“137 bezeichnet, würde letztlich durch eine Gleichstellung mit der Gesetzesbindung relativiert. Schließlich wird ansonsten die in Art. 1 Abs. 1 GG auch sprachlich niedergelegte Unantastbarkeit vom subjektiv-rechtlichen Grundrechtsbereich in den verstärkt objektiv-rechtlichen Staatsorganisationsbereich transformiert, obgleich diese ausdrücklich in Art. 1 Abs. 1 GG verwendete Wortwahl die Übertragung überhaupt nicht nahe legt. Dieser Wertungsunterschied muss nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass die Gesetzesbindung als Prinzip einer Abwägung nicht von vornherein verschlossen ist, also auch kein absolutes Prinzip bildet. Es fehlt vor allem an einer erkennbaren sprachlichen Unterordnung und an einer Ableitbarkeit allen Verfassungsrechts aus der Gesetzesbindung, wie es etwa die Menschenwürde für sich in Anspruch nimmt. Gerade die Unterwerfung allen staatlichen Handelns unter die Menschenwürde und eben nicht unter das Gesetz, kann man als Ausdruck eines Gegenentwurfs zum Nationalsozialismus sehen. Die Lockerung und Relativierung der Gesetzesbindung im NS-Staat etwa durch Ideologie und Führerbefehl diente schließlich auch nur der Verwirklichung der verbrecherischen Ziele des Systems. Die Gesetzesbindung im 21. Jahrhundert zugunsten anderer Verfassungsprinzipien gegenüber Abwägungen zu öffnen, dient gerade der Verwirklichung des Grundgesetzes als demokratische Verfassung, die auch und gerade als Abkehr vom Nationalsozialismus zu verstehen ist. Eine durch die Verfassung selbst vorgenommene Privilegierung der Gesetzesbindung und die damit verbundene Konsequenz einer strikt zu beachtenden verfassungsrechtlichen Regel oder eines absoluten Prinzips ließe sich allenfalls aus Art. 79 Abs. 3 GG ableiten. Die Norm erklärt auch die Art. 1 und Art. 20 GG in Teilen zu unabänderlichem Verfassungsrecht, sodass der Schluss nahe liegen könnte, auch der u. a.138 in Art. 20 Abs. 3 GG verbürgten Gesetzesbindung diesen Sonderstatus zuteilwerden zu lassen, zumal Art. 20 Abs. 3 GG von „Gesetz und Recht“ spricht. Allerdings inkorporiert der Verweis auf Art. 1 GG, in dessen Abs. 3 wiederum auf die folgenden Grundrechte Bezug genommen wird, die Grundrechte zwar nicht im Einzelnen, aber in ihrer Gesamtheit, also in ihrer grundsätzlichen Existenz, in den besonderen Schutz. Zudem sind bis auf Art. 1 Abs. 1 GG die an„gebundene“ Norm nach dem Willen des Gesetzgebers dennoch nicht zu einer abschließenden Regelung gekommen sei, nicht halten. Kritisch auch V. Mehde, DÖV 2014, S. 544. Weitere Nachweise bei T. Westerhoff, S. 107, Fn. 686, sowie S. 126 ff. Die Gleichwertigkeit der Verfassungsbelange nimmt auch ausdrücklich T. Westerhoff, S. 142, an. Siehe auch S. 143, Fn. 899., m. w. N. 137 Siehe erneut R. Alexy, Rechtsprinzip, S. 76 f., sowie ders., Grundrechte, S. 94 ff. 138 Zur genauen Herleitung siehe D. I. 3.
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
deren Güter des Art. 79 Abs. 3 GG zwar änderungsfest, aber nicht beschränkungsfest. Damit sind auch die Grundrechte in ihrer grundsätzlichen Existenz Teil des änderungsfesten Kerns und zugleich Prinzipien, auch wenn natürlich die einzelnen Grundrechte im Rahmen der Verfassung geändert werden können. Der gleichwohl nicht zu leugnenden erhöhten Bedeutung der Gesetzesbindung ist im Abwägungsmodell auf eine andere Weise gerecht zu werden: Für die Gesetzesbindung spricht im Rahmen der folgenden Prinzipienkollisionen139 samt Abwägung die Vermutung der Durchsetzung.140 Mit anderen Worten: Derjenigen Stelle, die von der Rechtsfolge der „gebundenen“ Norm abweichen möchte, wird dies zwar nicht generell verwehrt.141 Ihr obliegt aber die Argumentationslast, diese Abweichung darlegen und plausibilisieren zu müssen – die Gesetzesbindung ist damit nicht abwägungsresistent, genießt aber bei einer Zuordnung abstrakter Gewichte der Prinzipien142 eine besonders hohe Wertigkeit und damit einen Abwägungsvorsprung143.144 R. Alexy etwa kennt diese Vermutung zugunsten der Grundrechte 139 H.-D. Horn erkennt in der Bindung an das Gesetz und die (unmittelbare) Bindung an die Grundrechte für die Verwaltung durch diese Doppelbindung (dazu insbesondere S. 185 ff.) Bindungskonflikte, ohne diese allerdings in strenger prinzipientheoretischer Lösung zu begreifen; vielmehr nimmt er stark Anleihe am Rechtspositivismus H. Kelsens; siehe nur S. 199 ff. sowie S. 209: Eine Antwort auf das Problem zu geben „ist indes Sache des positiven Rechts. Unter seinem Vorbehalt steht alle Theorie.“ T. Westerhoff, etwa S. 141 ff., 148 ff., 151, bildet, ohne dass dies in ausreichender Deutlichkeit immer benannt wird, für den hier gewählten Untersuchungsgegenstand andere Prinzipienkollisionen. Für ihn streiten nicht nur die Gesetzesbindung (die er als Vorrang des Gesetzes bezeichnet), sondern auch die Gewaltenteilung, die Rechtssicherheit und der effektive Rechtsschutz zugunsten der „gebundenen“ Norm. Das verkennt, dass die Gesetzesbindung sich selbst aus einigen der von T. Westerhoff genannten Belange speist und eine Abwägung der Grundrechte mit der Gesetzesbindung etwa Aspekte der Rechtssicherheit berücksichtigt. Eine gesonderte Abwägung Grundrechte / Rechtssicherheit, Grundrechte / Gewaltenteilung, Grundrechte / effektiver Rechtsschutz ist nicht notwendig. Vielmehr gilt es, wie hier, die Auswirkungen für die übrigen Belange (also Rechtssicherheit, effektiver Rechtsschutz und Gewaltenteilung) zu benennen. Auch auf der anderen Seite verortet T. Westerhoff einen anderen Belang: den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. In seinem Modell ist die Verhältnismäßigkeit also vielmehr selbständiges Verfassungsprinzip als ausgleichender Modus. 140 Diese Vermutung im Rahmen der Prinzipienkollisionen darf nicht mit der Freiheitsvermutung zugunsten der Grundrechte verwechselt werden. Betroffen sind nämlich verschiedene Ebenen. Eingriffe in Grundrechte bleiben immer rechtfertigungsbedürftig, nur wird – schwächer als im Verständnis der klassischen Lehre – bei „gebundenen“ Normen vermutet, dass die Grundrechte auf Normebene berücksichtigt worden sind. Die vermutete Orientierung am Gesetz stellt dann die Rechtfertigung für den Grundrechtseingriff dar. 141 Daran wird auch deutlich, dass die sog. strukturierende Rechtslehre, die den Gesetzgeber ausschließlich als Textproduzenten ansieht und erst die Gerichte daraus Rechtsnormen produzieren, zu weit geht. Siehe U. Lembke, S. 215 ff. m. w. N. 142 Dazu L. Michael, JuS 2001, S. 659. 143 Der Ausdruck stammt von M. Klatt / M. Meister, JuS 2014, S. 197. 144 Im Ergebnis ähnlich löst es T. Westerhoff, S. 145, wenn „im Regelfall der Rechtssicherheit in Form der Vollziehung der gebundenen Entscheidung der Vorrang einzuräumen ist (…)“. Sie genieße „tendenziell ein höheres Gewicht“, S. 153. Nicht zugestimmt werden kann allerdings der Feststellung, die Ursache in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu sehen (dazu S. 143 ff., 153). Es geht schließlich darum, unabhängig von der aktuellen Verfassungs-
II. Abwägungsmodell (Modell 1)
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(„prima-facie-Vorrang“145 von Individualrechtsgütern vor Gemeinschaftsgütern).146 Im Bereich der Gesetzesbindung kann die Vermutung zugunsten der Grundrechte indes keine Wirksamkeit beanspruchen, da sie dazu führen würde, dass sich bei jedem Zweifel eine Abweichung vom Gesetz ergäbe und damit wirklich ein massiver Steuerungsverlust des Gesetzgebers drohte.147 So aber kann aufgrund der Vermutungswirkung zugunsten der Gesetzesbindung keine Rede von einer drohenden Beliebigkeit148 sein149: Derjenige, der insbesondere den Gesetzeswortlaut übertreten und von der „gebundenen“ Rechtsfolge abweichen will, muss gewichtige Argumente dafür anbringen, dass diese Rechtsfolgenbestimmung von der Verfassung geboten oder zumindest gestattet ist. Dass es durch Auflösungen starrer Bindungen zu Beliebigkeit150 kommt, dass Abwägungslösungen also „dem Indeterminismus des Rechts Vorschub“ leisten, entpuppt sich damit als ein leicht zu entkräftender „Standardeinwand“151.152 rechtsprechung, nach Lösungen im Recht zu suchen. Auch ist T. Westerhoffs Nuancierung, S. 153, eine andere, die besagt, dass auch im unverhältnismäßigen Einzelfall grundsätzlich das Gesetz vorgeht und erst (im Anschluss an G. Radbruch) im evidenten Fall (Stichwort von T. Westerhoff: qualifizierte Ungerechtigkeit; darin liegt im Übrigen auch das Eingeständnis, dass Gesetze im Einzelfall Ungerechtigkeit herbeiführen können, aber erst bei einer Überschreitung einer nebulösen Grenze eine Abweichung von ihnen erfolgen darf) eine Anwendung der Verhältnismäßigkeit (hier erneut als selbständiges Prinzip und nicht als Modus) in Betracht kommt. Zu dieser missverständlichen Anwendung der Radbruch’schen Formel siehe E. I. 9. 145 Siehe dazu insbesondere R. Alexy, Grundrechte, S. 87 ff. 146 R. Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, S. 260 f. 147 Anders scheinbar H.-D. Horn, LKRZ 2012, S. 4: „Neben der unmittelbaren Grundrechtsbindung der Verwaltung bestimmt die Norm [Art. 1 Abs. 3 GG] offenkundig den Vorrang der Grundrechte vor dem Gesetzesrecht (als dem Produkt von ‚Gesetzgebung‘).“ Dazu auch H.-D. Horn, S. 203 ff. 148 Zu weit geht deshalb auch die Interpretation des Bundesverwaltungsgerichts in einer Entscheidung aus dem Jahr 1967, in der die Gesetzesbindung bei „gebundenen“ Normen dergestalt interpretiert wird, dass das Verhalten entsprechend der regelmäßig vorgesehenen Rechtsfolge sich als in jedem Fall rechtmäßig, aber keineswegs zwingend erweist. Vgl. C. Wellhöfer, S. 173 f. m. w. N. 149 Überzogen ist daher auch die Äußerung T. Barczaks, VerwArch 105 (2014), S. 143, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch bei der Ausführung von „gebundenen“ Normen anzuwenden, bedeutete diese zu „verkappte(n) Ermessensentscheidungen“ zu transformieren. Zugleich relativierend auf S. 180. Ebenfalls überspitzend K. Naumann, DÖV 2011, S. 103: „Die entscheidende Frage dürfte sein, ob die bisher gebundenen Entscheidungen im Ergebnis zu Ermessensentscheidungen werden.“ Zu diesem Punkt auch V. Mehde, DÖV 2014, S. 547, der zu Recht auch daraufhin weist, dass eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eben auch nicht den einzigen Ermessensfehler darstellt. Allenfalls T. Westerhoff, S. 172, kann noch gefolgt werden, der – vorsichtig – mit Bezug auf V. Mehde, DÖV 2014, S. 547, von einer „Annäherung“ spricht. Kritisch auch T. Westerhoff, S. 172. 150 Zutreffend daher die Formulierung von W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 116: „Die praktisch unausweichliche Ausweitung des Optionenraums der Verwaltung darf in einem Rechtsstaat nicht dazu führen, dass sie zu einer ‚frei schaltenden‘, gar beliebig handelnden Instanz wird.“ 151 Die Formulierungen stammen von M. Klatt, S. 160. 152 In einer Vermutung zugunsten der Rechtsfolge, die die „gebundene“ Norm vorsieht, liegt dann auch ein erheblicher Unterschied zu Ermessensentscheidungen und Soll-Entscheidungen.
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
Kritikwürdig erscheinen vor dem Hintergrund dieser Feststellung Entscheidungen, die eine unkritische Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch bei „gebundenen“ Normen propagieren und dabei tatsächlich freie Abwägungen ohne Rücksicht auf den im Wortlaut manifestierten Willen des Gesetzgebers vornehmen. Als ein solches Beispiel erscheinen die analysierten Entscheidungen des OVG Münster bzw. des SG Chemnitz zum Versäumnis der mündlichen Abiturprüfung153 bzw. des Termins bei der Arbeitsagentur154. Mögen auch nicht unerhebliche Argumente (bloß fahrlässige Säumnis beim Termin, hohe Bedeutung der Abiturnote für die spätere Berufswahl155 bzw. des ALG II zur Deckung des Existenzminimums) zugunsten des Schülers bzw. der Arbeitslosen gesprochen haben, bleiben die Gerichte jeweils den Beweis schuldig, dass gerade der Einzelfall derartige Besonderheiten aufweist, dass entweder die vorgesehene Rechtsfolge verfassungsgemäß gewesen wäre oder die Norm als solche verfassungswidrig ist, da von ihr für verfassungsgemäße Zustände zu oft abgewichen werden müsste. Schließlich erscheinen beide Normen gerade für den jeweils zu bewertenden Fall typischerweise geschaffen worden zu sein.156 Die Vermutung zugunsten der Gesetzesbindung kann folgerichtig dann keine Geltung beanspruchen, wenn die Gesetzesbindung mit einem Verfassungsbelang kollidiert, der von Art. 79 Abs. 3 GG mit erhöhter Geltungskraft ausgestattet ist. Erfordert etwa das Republik- oder das Demokratieprinzip im Einzelfall eine andere Entscheidung, steht die Gesetzesbindung in einer offenen Abwägung mit diesen Belangen. Denkt man etwa an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz IV-Gesetzen157, kann im Falle einer „gebundenen“ Norm bereits dadurch vom Gesetz abgewichen werden, dass die Menschenwürde oder das Sozialstaatsprinzip das gebieten. Insoweit ist, wie in der erwähnten Entscheidung auch praktiziert, eine Lösung über die Verfassungsmäßigkeit der Norm durch die Verwerfung der Rechtsgrundlage aufgrund ihrer Verfassungswidrigkeit möglich; sie stellt aber nicht den einzig gangbaren Weg dar.158 Das widerlegt nicht nur die eben angeführte These, dass es durch ein neues Verständnis von Verhältnismäßigkeit und „gebundenen“ Normen zu einer Auflösung der Grenzen dieser Entscheidungsarten käme, sondern erklärt auch V. Mehdes, DÖV 2014, S. 544, Frage, warum der Gesetzgeber dann nicht ohnehin direkt zu Soll-Entscheidungen und Ermessensnormen greift. Der Gesetzgeber kann mit „gebundenen“ Normen einen deutlich höheren Grad an Rechtsfolgenanordnungen bezwecken und erreichen. Siehe auch T. Westerhoff, S. 171. 153 OVG Münster, Beschluss vom 18. Juni 2008, Az. 19 B 870/08. 154 SG Chemnitz, Urteil vom 6. Oktober 2011, Az. S 21 AS 2853/11. 155 Einschränkend neuerdings BVerfG, Urteil vom 19. Dezember 2017, Az. 1 BvL 3/14 und 1 BvL 4/14. 156 Kritisch zur Entscheidung des OVG Münster auch K. Naumann, DÖV 2011, S. 103. 157 BVerfGE 125, 175. 158 H.-D. Horn, LKRZ 2012, S. 2 (m. w. N.), benennt zu Recht als Folge aus der Gesetzesbindung und der Grundrechtsbindung eine „doppelte Rechtsbindung der Verwaltung“. H. Dreier, Die Verwaltung 36 (2003), S. 105 ff., gelangt zum Befund einer Doppelbindung mit Blick auf die Rechtsprechung, lehnt aber die Stilisierung H.-D. Horns (dort insbesondere S. 185 ff.) „zu einem nahezu ausweglosen Entscheidungsdilemma“ (H. Dreier, Die Verwaltung 36 (2003), S. 105) ab.
III. Auslegungsmodell (Modell 2)
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d) Gesetzesbindung als Konglomerat aus Prinzipien Wie sich aus den Ausführungen zur historischen Verortung der Gesetzesbindung ergibt, beruht diese auf mehreren (und zum Teil nur für eine Gewalt geltenden) Verfassungsbestimmungen.159 Die meisten dieser Normen stellen selbst wiederum Prinzipien dar, wie etwa das Demokratieprinzip, das Prinzip der Gewaltenteilung oder das Republikprinzip. Insoweit erscheint es nur folgerichtig, dass die Gesetzesbindung als Gesamtwerk und Mosaikkonstrukt sich eben auch selbst als ein Prinzip darstellt. Durch Schutzmaßnahmen (wie etwa der Vermutung zugunsten der vom Gesetzgeber – durch den Wortlaut der Norm zum Ausdruck gebrachten – vorgesehenen Rechtsfolge) ist der Determinationskraft des Gesetzgebers Rechnung zu tragen.
III. Auslegungsmodell (Modell 2): Die Gesetzesbindung als Ergebnis verfassungsgeleiteter Norminterpretation Auch für dieses Modell ist der Ausgangspunkt der Überlegungen die prinzipientheoretische Einordnung der Gesetzesbindung. Allerdings unterliegt für diese Betrachtung nicht die Einordnung der Gesetzesbindung selbst einer Neubewertung, sondern ihr Inhalt, also das Ergebnis der Interpretation des (einfachen) Rechts. 1. Das Verständnis der Gesetzesbindung im Auslegungsmodell Die Gesetzesbindung lässt sich – ganz in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung, auch wenn diese, wie gesehen, selten zu der Einordnung der Gesetzesbindung Stellung bezieht – als Regel begreifen und bietet dennoch an anderer Stelle Raum für Einzelfallerwägungen. Die Gesetzesbindung ist dann zwar starr und Abwägungslösungen gegenüber verschlossen, doch es erscheint eine Dynamisierung über ihren Bedeutungsinhalt denkbar: Setzt sich die Gesetzesbindung ihrerseits aus Prinzipien – etwa den Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip unter Berücksichtigung der Auslegungsmethoden als bewegliches System von Verfassungsprinzipien160 – zusammen, werden Proportionalitätsaspekte innerhalb der Bestimmung der Gesetzesbindung sichtbar. Allgemein ist die Gesetzesbindung das Konstrukt aus Verfassungsprinzipien. Die Bestimmung der Gesetzesbindung im Einzelfall ist daher insoweit das Ergebnis eines Abwägungsvorgangs, also das Abwägungsergebnis. Das im Einzelfall anzuwendende Gesetz wird, ganz in Übereinstimmung mit den überkommenden Erkenntnissen der Methodik, durch Interpretation anhand
159 160
Siehe insbesondere D. I. 3. Dazu L. Michael, Gleichheitssatz, passim und insbesondere S. 69 ff.
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
der jedenfalls vier Auslegungsmethoden161 erfasst. Allerdings sind die Auslegungsmethoden nicht isoliert zu betrachten, sondern der Auslegungsvorgang selbst wird durch interpretationsleitende Verfassungsprinzipien bestimmt. Es findet eine Verzahnung der Ebenen statt: Die Interpretation der Verfassung beeinflusst die Interpretation des einfachen Rechts162. Die Auslegung der Rechtsnorm wird dabei maßgeblich durch die Grundrechte, die regelmäßig zugunsten des Adressaten einer Verwaltungsmaßnahme streiten, und das Rechtsstaatsprinzip, das eine möglichst vorsehbare und damit regelmäßig eng am Wortlaut orientierte Auslegung verlangt und dieser Auslegungsmethode Nachdruck verleiht, geprägt. Beide Prinzipien bilden aber nicht nur Interpretationsbelange, sondern zugleich in extremen Fällen auch die Grenzen der Auslegung, da die Gesetzesausführung weder die Grundrechte in ihrem Kern verletzen darf (Art. 19 Abs. 2 GG) noch das Rechtsstaatsprinzip völlig vernachlässigen kann. Insbesondere das Rechtsstaatsprinzip gebietet in diesem Modell, dass Abweichungen vom Gesetzeswortlaut nicht unbegrenzt möglich sind, um Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers zu wahren. Wenn ein Interpretationsergebnis den Wortlaut so intensiv oder oft überschreitet, dass das Vertrauen in die Norm selbst erschüttert ist, verletzt eine Interpretation das Rechtsstaatsprinzip. Dazu bietet sich folgendes Beispiel an: Die bereits dargelegte Überlegung, ob einem Inhaber einer Fahrerlaubnis aufgrund einer etwaigen fehlenden Eignung oder Befähigung tatsächlich die Fahrerlaubnis entzogen wird, ist nach diesem Modell nicht bloß eine isolierte Untersuchung etwa von Wortlaut und Systematik, sondern die Auslegung des § 3 Abs. 1 StVG muss ihrerseits die sonstigen Verfassungsprinzipien berücksichtigen. Die Grundrechte eines Inhabers einer Fahrerlaubnis bilden damit bei der Bestimmung der Rechtsfolge und der Auslegung des Tatbestands nicht bloß eine Grenze staatlichen Handelns, sondern sind bereits Teil des Auslegungsvorgangs selbst. Bei der Gesetzesausführung stellen sich damit beispielsweise Fragen wie: Ist der Entzug der Erlaubnis unter Berücksichtigung von Wortlaut, Systematik, Sinn und Zweck sowie historischem Willen des Gesetzgebers unter Beachtung der Grundrechte des Inhabers der Fahrerlaubnis verhältnismäßig? Gebietet das Sozialstaatsprinzip oder die Berufsfreiheit aus Art 12 Abs. 1 GG eine weniger einschneidende Interpretation des § 3 Abs. 1 StVG? Einzelfallgerechtigkeit wird in diesem Modell nicht über eine Dynamisierung der Rechtsfolge durch eine Öffnung der Gesetzesbindung gegenüber weiteren Verfassungsprinzipien erreicht, sondern über eine Flexibilisierung des Inhalts der Gesetzesbindung selbst. Der Inhalt insbesondere von Art. 20 Abs. 3 GG wird nicht 161
Vgl. F. von Savigny, S. 213 f. Denkbar, aber für das Verwaltungsrecht von untergeordneter Bedeutung, ist auch die Auslegung verfassungsrechtlicher „gebundener“ Normen im Lichte der Verfassung. Die Geschäftsführungspflicht des Bundeskanzlers aus Art. 69 Abs. 3 GG etwa kann – obgleich mit „zwingender“ Rechtsfolge formuliert – auch unter Beachtung sonstiger Verfassungsbelange, etwa den Grundrechten des Kanzlers, interpretiert werden. 162
III. Auslegungsmodell (Modell 2)
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zugunsten anderer Verfassungsbestimmungen reduziert, sondern als strikt auszuführende Auffassung begriffen, wenngleich der Inhalt der Aussage (der Bindung an das Gesetz) modifiziert wird. Zwar ist die Gesetzesbindung ein Verfassungsbelang, aber ihr „Inhalt“, nämlich das Ergebnis der Auslegung einfach-rechtlicher Normen, wird Erwägungen des Einzelfalls auch bei vermeintlich vollständiger Determination durch die Norm gegenüber geöffnet. Die Gesetzesbindung inkludiert damit weitere Verfassungswertungen durch die Verarbeitung im Interpretationsvorgang einfach-rechtlicher Normen. Die Verfassungsbeachtung und -durchsetzung ist damit elementarer Bestandteil der Normauslegung. Folge und Ausdruck dieses Verständnisses ist auch die Relativierung der Bedeutung des Wortlauts einer Norm. Dieser bildet eine unter jedenfalls vier Auslegungsmethoden und ist im Rahmen der Interpretation wiederum durch das Verfassungsrecht geprägt. In diesem Modell stellt der Wortlaut der Norm keine starre Grenze dar, die nicht überschritten werden dürfte. Er erweist sich im Verständnis der Prinzipientheorie selbst als ein Prinzip163 und setzt sich bei der Bestimmung der Rechtsfolge nur insoweit durch, wie es die anderen Auslegungsmethoden und weiteren Prinzipien, wie die Grundrechte, gebieten bzw. gestatten. Zu spezifizieren ist in diesem Modell aber der Auslegungsgegenstand. Bei diesem Erklärungsansatz kann der Bezugspunkt der verfassungsgeleiteten Interpretation weder allein im Tatbestand (dabei handelt es sich vor allem um die später noch thematisierte verfassungskonforme Auslegung164) noch in der Rechtsfolge (eine Rechtsfolge allein wird regelmäßig, von den erwähnten Fällen unbestimmter Rechtsfolgen abgesehen165, nicht isoliert „auszulegen“ sein) bestehen. Beide Elemente lassen sich zwar faktisch voneinander trennen. Eine rechtliche Trennung durch eine unterschiedliche Bewertung scheint aber nicht zwingend angezeigt, wodurch es letztlich zu einer Verschmelzung und Aufgabe der strikten Trennung der beiden Bestandteile einer Norm kommt.166 Es wird nämlich nicht isoliert die Auslegung von Tatbestandsmerkmalen untersucht, sondern ermittelt, ob die Subsumtion eines Sachverhalts unter eine Norm eine einzelfallgerechte Rechtsfolge – ausgehend von der vom Gesetzgeber vorgesehenen Rechtsfolgenanordnung – ermöglicht. Tatbestand und Rechtsfolge sind dabei untrennbare Elemente zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit.
163 Nach L. Michael, Gleichheitssatz, ist der Wortlaut der Norm jedenfalls ein komparatives Element (S.208) des Rechtsprinzips der komparativen Systeme (S. 205). 164 Siehe dazu E. II. 165 Vgl. hierzu B. V. 4. 166 Die Aufgabe der Trennung von Tatbestand und Rechtsfolge insbesondere im Hinblick auf unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessen befürworten H. Dreier, Die Verwaltung 25 (1992), S. 151 f.; M. Herdegen, JZ 1991, S. 747 ff.; H.-J. Koch, S. 172 f.; E. Pache, S. 482 f.; E. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap. 4, Rn. 47 ff.; R. Wahl, FG-BVerwG, S. 598. Für den Bereich des Umweltrechts auch J. Wolf, Rn. 844, 897, und A. Wasielewsky, in: Führ, BImSchG, § 6, Rn. 9 ff.
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
Auch dieses zweite Modell führt damit zu einer Berücksichtigung weiterer Verfassungsbelange bei der Rechtsfolgenbestimmung. Die Suche nach der einzelfallgerechten Rechtsfolge wird auf die Ebene der Interpretation (vor-)verlagert und bildet – anders als beim ersten Modell – nicht eine im Anschluss an die Interpretation des Rechtssatzes getrennt vorgenommene verfassungsrechtliche Überprüfung der Rechtsfolge durch Abwägung. Dieses Modell beinhaltet damit eine Weiterentwicklung und Ergänzung des klassischen Verständnisses der Auslegungsmethoden, indem die verfassungsgeleitete Interpretation der Norm nicht zu einer eigenen Auslegungsmethode wird, sondern bloß die bestehende Methodik um die interpretationsinhärente Berücksichtigung von Verfassungsprinzipien erweitert wird. 2. Erklärungen für eine auslegungsbestimmte Gesetzesbindung Eine ausgleichsorientierte Interpretation lässt sich ebenfalls – auch unter Bezug auf gängige Argumentationsansätze – de constitutione lata verorten. Die Qualifizierung der Gesetzesbindung als prinzipientheoretische Regel, wenn auch – wie schon mehrfach ausgeführt – selten ausdrücklich in der hier verwendeten Kategorisierung verortet, dürfte allgemein keinen durchgreifenden Bedenken begegnen. Rechtfertigungsbedürftig ist nach klassischem Verständnis die Abweichung vom eindeutigen Wortlaut einer „gebundenen“ Norm infolge der Beeinflussung der Interpretation einfach-rechtlicher Normen durch das Verfassungsrecht. a) Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit von Regeln Dass die Gesetzesbindung auch als Regel verstanden werden kann, ist von ihrer Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit zu trennen. Allein der Charakter als im Ergebnis abwägungsresistentes rechtliches Konstrukt verleiht ihr nicht automatisch einen höheren Grad an Bestimmtheit. Der Inhalt einer Regel kann nämlich auch erst durch Interpretation bestimmt werden. Der durch die Auslegung gewonnene Regelungsgehalt ist dann feststehend und kann – wie gesehen – nur durch Ausnahmen oder die Ungültigkeit der Regel aufgeweicht werden. Diese Beobachtungen lassen sich auch an den Normen des einfachen Rechts festmachen. Auch diese sind als Regeln konzipiert und regelmäßig interpretationsbedürftig. Der Unterschied zwischen Regeln und Prinzipien besteht also in ihrer Abwägungsfähigkeit und nicht in ihrer Auslegungsfähigkeit oder -bedürftigkeit.
III. Auslegungsmodell (Modell 2)
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b) Mangelnde Bindungswirkung einer verfassungswidrigen Norm(auslegung) Die Berücksichtigung kollidierender Verfassungsbelange lässt sich auch aus der fehlenden Bindungswirkung verfassungswidriger Normen und ihrer Anwendung begründen.167 Dieses Modell beruht auf der Annahme, dass Verfassungsprinzipien bei der Auslegung einfacher Normen auch ein so starkes Gewicht entfalten können, dass sie etwa eine Abweichung vom Wortlaut einer Norm erfordern. Ist eine entsprechende Abweichung aus Verfassungsgründen erforderlich (andernfalls ist schließlich auch eine Abweichung von der vom Gesetzgeber „zwingend“ vorgegebenen Rechtsfolge nicht zu rechtfertigen) und findet sie – dem herrschenden Verständnis folgend – nicht statt, verstößt diese Interpretation gegen die Verfassung. Ein derartiger Verfassungsverstoß kann vom Grundgesetz nicht geduldet werden. Die Gesetzesbindung kann deshalb nur so weit binden, wie das Gesetz zu verbinden vermag. Ein verfassungswidriges Gesetz, aber auch „nur“ eine verfassungswidrige Gesetzesausführung, entfaltet keinerlei Bindungswirkung. Verfassungswidrige Normen sind rechtlich nicht existent168 und so ist auch die verfassungswidrige Einzelfallausführung einer möglicherweise verfassungsgemäßen Norm rechtlich ein Nullum.169 Die Nichtigkeit als rechtliche Kategorie kennt keine abgeschwächte Form in der Gestalt, dass die Verwaltung verfassungswidrige Gesetze zumindest vorübergehend noch ausführen muss.170 Normen entfalten nicht „irgendwelche Wirkungen in der Rechtssphäre“171. Dass es die Normen faktisch noch gibt, ändert an ihrer rechtlichen Qualifikation nichts172; die faktische Existenz eines Rechts satzes entscheidet nicht über die von ihm ausgelösten Rechtsfolgen. Folglich kann 167
So auch: M. Hederich, NdsVBl. 1997, S. 272 ff.; F. Kopp, DVBl. 1983, S. 823 ff.; A. Arndt, DÖV 1959, S. 81 ff.; ders., NJW 1959, S. 2145 ff.; A. Hamann, NJW 1959, 1465 ff.; U. Scheuner, BB, 1960, S. 1253 ff.; H. Michel, NJW 1960, S. 841 ff.; ders., JuS 1961, S. 274; H. Sigloch, JZ 1959, S. 81. 168 A. Arndt, DÖV 1959, S. 84: „Ohne daß es seiner Nichtigkeitserklärung bedarf, ist ein verfassungswidriges Gesetz daher zu keiner Zeit eine Norm, geschweige denn eine Rechtsnorm (…)“. Es handelt sich dabei um das sog. Nichtigkeitsdogma, das in Abgrenzung zur Lehre von der bloßen Vernichtbarkeit steht. Siehe nur M. Wehr, S. 37 f. Auch O. Bachof, AöR 87 (1962), S. 6, 31 ff., verhält sich mit Blick auf die von G. Hoffmann vorgenommene Untersuchung über dieses Thema zu diesem Aspekt. 169 Relevant wird diese Feststellung auch im Rahmen der Diskussion, ob die Verwaltung aus ihrer Sicht verfassungswidrige Gesetze ausführen muss oder darf. Zu dieser Diskussion siehe E. I. 8. 170 Eine bekannte Ausnahme bilden Fälle, in denen die übergangsweise Weiterbefolgung der verfassungswidrigen Norm der Verfassung immer noch näherstünde als der Zustand, der ohne Norm existieren würde; siehe etwa BVerfGE 33, 1. Dabei handelt es sich aber um eine von der Rechtsprechung konstruierte Kategorie. 171 So die kritische Formulierung bei K.-H. Hall, DÖV 1965, S. 554. 172 Bekannt ist dieses Phänomen auch im Zivilrecht. Propagiert wird sie dort in der bekannten „Lehre von den Doppelwirkungen im Recht“ von T. Kipp; vgl. FS-Martitz, S. 211 ff. Die dort behandelte Konstellation der Anfechtbarkeit und Nichtigkeit von Willenserklärungen, gewissermaßen also die Anfechtbarkeit eines rechtlichen Nullums, ist zwar nicht mit der Gültigkeit
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
auch die Bindung an das Gesetz, die ihrerseits selbst Verfassungsrang besitzt, nur insoweit binden, wie die Norm und ihre Auslegung die Grenzen und Vorgaben der Verfassung achten. Eine Bindung an das einfache Recht ist also nur im Rahmen der Verfassung möglich. c) Anknüpfungsfähigkeit an herkömmliche Standards So ungewöhnlich eine Abweichung vom Wortlaut einer Norm mit Blick auf Tatbestand und / oder Rechtsfolge ohne Erklärung ihrer Verfassungswidrigkeit sein kann, so deutlich knüpft dieses Verständnis in den Grundzügen an gängige Argumentationsstrukturen an. Interpretationskriterien sind ihrerseits konkretisierungsbedürftig. Da die Maßstäbe der Auslegung und der Interpretationsvorgang näher bestimmt werden müssen, bietet sich die Verfassung als Richtmaß der Interpretation an. Bedarf nämlich der Auslegungsvorgang selbst einer Spezifizierung, bietet gerade die Kodifikation grundlegender Wertevorstellungen in der Verfassung einen naheliegenden Anhaltspunkt zur Bestimmung von Rechtsfolgen. Die Verfassung als wesentlicher Interpretationsmaßstab gibt damit auch dem Interpretationsvorgang Struktur, da er die Letztentscheidung in der Auslegung im Sinne des Grundgesetzes sichert. Insbesondere die noch an späterer Stelle ausgiebig dargestellte verfassungskonforme Auslegung173 trägt bereits im Namen Elemente des hier entwickelten Modells und verdeutlicht, dass eine Interpretation des einfachen Rechts gegen die Verfassung nicht möglich ist. Vielmehr ist die verfassungsgeleitete Interpretation des einfachen Rechts – trotz mitunter gewichtiger Bedenken – gängig und weithin anerkannt.174 Auch ist eine derartige Interpretation – selbst, wenn sie vom Wortlaut der einfach-rechtlichen Norm abweicht – nicht contra oder praeter legem, weil sie in favorem constitutionis175 ist.176 Vornehmlich zu vermeiden ist nämlich eine anderenfalls staatlicher Rechtswillensäußerungen in Form von Gesetzen vergleichbar, betrifft aber im Kern dieselbe Überlegung. 173 Dazu E. II. 174 Siehe hierzu die Diskussion um die Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung in E. II. 1. 175 T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 175. 176 J. Neuner, S. 196, mit Blick auf Abweichungen vom Gesetz durch die Rechtsprechung: „Die Barrieren eines contra-legem-Judizierens sind allerdings hoch. (…) Dieses Modell sieht sich dem Einwand ausgesetzt, ‚der Normaljurist‘ (…) sollte seinen Horror vor dem Verdikt ‚contra legem‘ (…) durchaus beibehalten, also durch das Schreckbild des contra-legem-Judizierens diszipliniert werden. Fraglich ist jedoch, ob das Warnschild ‚lex-lata-Grenze!‘ tatsächlich die gewünschte Wirkung entfaltet. (…) Statt einer Tabuisierung gilt es deshalb die Begründungslasten zu benennen (…).“ Auslassungen zum Teil im Original. Zur Arbeit contra legem siehe G. Hirsch, JZ 2007, S. 855, m. w. N. in Fn. 24. Ablehnend gegenüber der Möglichkeit, im Rahmen einer Billigkeitskompetenz der Verwaltung contra legem zu handeln I. Pernice, S. 579 ff.
III. Auslegungsmodell (Modell 2)
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drohende Interpretation contra constitutionem. Entstehungsvoraussetzungen und materielle Wirksamkeitserfordernisse einfach-rechtlicher Normen ergeben sich aus der Verfassung. Jede Interpretation im Lichte der Verfassung ist im Grundanliegen auch und gerade nach klassischem Verständnis mithin anschlussfähig. Die Einfügung dieses Modells lässt sich auch in der Übertragbarkeit von F. Werners These des Verwaltungsrechts als konkretisiertem Verfassungsrecht177 wiederfinden. Im hier gewählten Zusammenhang kann dieser These aber eine andere Bedeutung beigelegt werden: Nicht unbedingt historisch ist das Verwaltungsrecht in seinen Leitbildern verfassungsgeprägt178, sondern die Auslegung und Anwendung des (aktuellen) Verwaltungsrechts in Form seiner Normen ist durch die Verfassungsinterpretation mitgestaltet. Dabei wird „junges Recht aus stabil gebliebenen Normen“179 gewonnen. Damit können die Rechtssätze des Verwaltungsrechts auch mehrere Umstürze und Veränderungen (wie etwa 1918, 1933, 1945 und 1990) erleben und sind dabei nicht zwingend Ausfluss des Verfassungsrechts. Ihre Interpretation kann sich aber eben doch durch unterschiedliche Konstitutionen leiten lassen. Diese Systemanfälligkeit des Rechts180 kann natürlich auch zu falscher Inanspruchnahme und Missbrauch führen.181 Im demokratischen Rechtsstaat des Grundgesetzes ist gegen diese Verfassungsprägung des einfachen Rechts aber nichts einzuwenden. Verwaltungsrecht enthält damit eine sich stets aktualisierende Verfassungsprägung. Dass Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht aber besteht182, stellt insoweit dazu auch keinen unversöhnlichen Widerspruch dar. d) Flexibilität durch die Ausstrahlung der Verfassung bei der Anwendung des einfachen Rechts Hauptmerkmal einer abwägungsbasierten Gesetzesbindung ist ihre Flexibilität. Zwar erreicht auch das Abwägungsmodell durch die Abwägung der Gesetzesbindung mit kollidierenden Prinzipien eine Lockerung des starren Verständnisses der Bindung an das Gesetz. Allerdings wird dieses Ziel beim Auslegungsmodell vor allem über eine weiche Berücksichtigung von Verfassungsbelangen erreicht. Während beim Abwägungsmodell die „harte“ Kollision von Verfassungsprinzipien mit dem Zustand praktischer Konkordanz als Ziel das Wesensmerkmal bildet, ge 177
DVBl. 1959, S. 527 ff. Vgl. L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 133 f. 179 T. Maunz, ZAkDR 1942, S. 327. Diese Aussage verdeutlicht natürlich zugleich die grundsätzliche Gefahr einer veränderten Interpretation des einfachen Rechts in unterschiedlichen Verfassungsordnungen. Zulässig ist sie deshalb allein in demokratischen Ordnungen. 180 Siehe B. Rüthers, S. 183 ff. und passim. 181 So etwa sogar speziell auch zum „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ T. Maunz, S. 38 ff. Im Jahr 1937 stellt er auf S. 39 fest: „Er bedeutet heute den Vorrang des Führerwillens vor dem Willen einzelner Gefolgsleute, falls diese auf den Gedanken kämen, sich gegen den Willen des Führers zu stellen und sich damit aus der Gemeinschaft auszuschließen.“ 182 Vgl. O. Mayer, 3. Auflage, S. VI. 178
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
währt das zweite Modell eine weiche Inkorporation der Verfassung in das einfache Recht durch die Auslegung der einfach-gesetzlichen Normen. An die Stelle harter Direktiven tritt eine fließende Berücksichtigung der Verfassung. Die behutsame Inkorporation des Grundgesetzes in das einfache Recht schont letztlich die Verfassung und das einfache Recht durch die Vermeidung allzu starker Konfliktlagen. Die Flexibilisierung nach diesem Modell ist auch ein Bekenntnis zur Flexibilität der Auslegungsmethoden untereinander.183 Bilden diese ein bewegliches System und stellen ihrerseits Prinzipien ohne strenges Vorrangverhältnis untereinander dar184, sind verfassungsrechtliche Leitplanken in der Auslegung eine Weiterentwicklung dieses Ansatzes. In der Verfassung sind demnach für die Auslegung von Normen interpretationsleitende Gesichtspunkte zu sehen. Die Anpassungsfähigkeit der Gesetzesbindung vollzieht sich nach diesem Modell auch über eine Schonung der Autorität des Gesetzes.185 Muss im Abwägungsmodell die Gesetzesbindung in Prinzipienkollisionen in Einzelfällen anderen Verfassungsprinzipien weichen, wird nach dem Auslegungsmodell bereits der Inhalt der Gesetzesbindung modifiziert. Die Relativierung der Absolutheit der Gesetzesbindung nach dem ersten Modell wird durch dieses Verständnis nicht so stark sichtbar. Die Aussage „Gesetz ist Gesetz“ bleibt erhalten, nur der Inhalt des „Gesetzes“ wird modifiziert. e) Das Gebot der frühzeitigen und nachhaltigen Durchsetzung der Normenhierarchie Die deutsche Rechtsordnung zeichnet sich durch bestimmte prägende Kernbestandteile aus. Dazu zählt – auf Arbeiten A. Merkls186 beruhend – jedenfalls auch der Stufenbau der Rechtsordnung und die daraus abgeleitete Normenhierarchie. Durch die Interpretation des einfachen Rechts im Lichte der Verfassung wird dieser Hierarchie Ausdruck verliehen: Die unterschiedlichen Ebenen von Rechtsnormen geben nicht bloß Auskunft über die Durchsetzung von Normen im Konfliktfall (lex superior derogat legi inferiori), sondern finden auch im Interpretationsprozess Widerhall: Die höherrangige Norm prägt die Auslegung der niederrangigen Norm. Diese Durchsetzung findet zudem frühzeitig und nachhaltig statt. Gerade der zeitliche Aspekt der Verfassungsdurchsetzung durch Norminterpretation ist für eine widerspruchsfreie Rechtsordnung wichtig. Androhende Konflikte verschiedener Verfassungsbelange gelangen nicht zu einem offenen Ausbruch, sondern werden durch eine Berücksichtigung im Norminterpretationsprozess verhindert. Diese Sichtbarmachung der Konstitution sichert eine Berücksichtigung potentiell 183
Vgl. L. Michael, Gleichheitssatz, S. 206 ff. Vgl. L. Michael, Gleichheitssatz, S. 205 f. 185 Vgl. hierzu E. III. 2. und 3. 186 Allg. Verwaltungsrecht, S. 172 f.; Demokratie und Verwaltung, S. 13 f., 16 ff. 184
IV. Die Wandlungsfähigkeit der Gesetzesbindung
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kollidierenden Verfassungsrechts zu einem frühen Zeitpunkt und erhöht die Wahrscheinlichkeit, verfassungswidrige Zustände zu verhindern. Insbesondere die Grundrechte, die eine bestimmte Auslegung des einfachen Rechts nahelegen können, bilden dabei nicht bloß eine Grenze des Interpretationsvorgangs, sondern begleiten diesen, wodurch ihre stetige Berücksichtigung gesichert wird. Da das einfache Recht nur Bestand haben kann, sofern es nicht gegen Verfassungsrecht verstößt, wird dem Stufenbau der Rechtsordnung durch eine verfassungsgeleitete Auslegung des einfachen Rechts Rechnung getragen. f) Die Möglichkeit zu einer verfassungsgeprägten Interpretation des einfachen Rechts Die Interpretation des Verfassungsrechts durch das einfache Recht ist anerkanntermaßen ein unzulässiger methodischer Weg.187 Umgekehrt ist die Interpretation des einfachen Rechts durch das Verfassungsrecht aber erlaubt und wird durch das Auslegungsmodell in Anspruch genommen. Die Verfassung in der Auslegung des einfachen Rechts sichtbar zu machen und Verfassungsverstöße zu verhindern, ist zentraler Bestandteil dieses Verständnisses.
IV. Die Wandlungsfähigkeit der Gesetzesbindung Die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung unterlag historischen Schwankungen. Ihr Verständnis weiterzuentwickeln, sei es durch ein Abwägungsmodell oder ein Auslegungsmodell, steht deswegen in einer größeren Kontinuität als man zunächst vermuten könnte. Verbindendes Element einer Neubestimmung der Bindung an das Gesetz ist die Ablehnung eines absolut zwingenden, also volldeterminierenden, Normverständnisses.188 187
Vgl. zum verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff: BVerfGE 58, 300, 335, und W. Leisner, DVBl. 1983, S. 63 f. 188 Diese Erkenntnis ergibt sich auch daraus, dass historisch in politisch schwierigen und turbulenten Zeiten eine strikte Gesetzesbindung nicht möglich und auch nicht sinnvoll gewesen wäre. Dazu die prägnante Formulierung von W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 10: „Die Verwaltung – etwa die preußische in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs – hätte die vielen fortbestehenden wohlfahrtsstaatlichen Zwecke und die alten und neuen Herausforderungen insbesondere bei der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts oder bei der Verarbeitung der Begleitfolgen des Ersten Weltkriegs nicht bewältigen können, wenn sie sich auf gesetzesangeleitetes Handeln begrenzt und nur im Rahmen der Programmierungskraft des Gesetzes gehandelt hätte.“ Zweifel daran, dass verfassungsgemäße „gebundene“ Normen ausnahmslos durchgeführt werden, äußert auch H.-W. Rengeling (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 221 f. Dafür führt er ein Beispiel aus dem Bereich zu Unrecht gezahlter Beihilfen an, bei denen er – gegen den Gesetzeswortlaut – Ausnahmen ermöglichen möchte. T. Maunz, S. 35, spricht sich bei der Gesetzesausführung auch zugunsten des Opportunitätsprinzips statt des „Legalitätsprinzips“ aus.
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D. Die Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit
Die Flexibilisierung entsteht entweder über ein dynamisches Verständnis ihres Inhalts oder über eine Relativierung ihrer Absolutheit. Trotz dieser Verbindung, die der Ermöglichung von Einzelfallgerechtigkeit dient, knüpfen beide Modelle dogmatisch an unterschiedlichen Punkten an: Beim Abwägungsmodell bildet der Wortlaut die Grenze der Auslegung, also bindet das Gesetz nur in den Grenzen des Wortlauts, während das Rechtsstaatsprinzip die Grenze der Abwägung mit widerstreitenden Prinzipien (in einem an die Auslegung anschließenden Abwägungsprozess) und damit der Rechtsfolgenanordnung darstellt. Beim Auslegungsmodell bildet der Wortlaut keine Grenze der Auslegung, sondern nur das Rechtsstaatsprinzip.
E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung Auslegungsmodell und Abwägungsmodell zeichnet – trotz aller dogmatischen Unterschiede – eine große Anzahl an Gemeinsamkeiten aus. Insbesondere dienen beide Ansätze dazu, Einzelfallgerechtigkeit durch die Normanwendung zu ermög lichen. Die durchaus erheblichen Differenzen in der dogmatischen Verortung sollten nicht den Blick dafür verstellen, dass beide Modelle bei der Rechtsfolgenbestimmung nicht zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen, da die Verfassungsbelange, die in Ausnahmefällen in Konkurrenz zur gesetzgeberischen Anordnung treten können, identisch sind und nur an verschiedener Stelle und auf unterschiedlichem Weg berücksichtigt werden. Mit beiden Modellen lässt sich schließlich auch ein Großteil der Rechtsprechung des letzten Jahrzehnts erklären. Nicht alle Entscheidungen können am Maßstab der beiden Ansätze für sich in Anspruch nehmen, tatsächlich der Durchsetzung der Verfassung in ausreichendem Maß Rechnung zu tragen. Zugleich bilden sie für die künftige Rechtsprechung – da die jeweilige dogmatische Begründung für die Praxis von begrenzter Bedeutung sein dürfte – einen Handlungsmaßstab. Schließlich unterliegen beide Ansätze denselben Rechtfertigungslasten, da sie die gleichen Fragen und Folgeprobleme hervorrufen. Nach einigen grundsätzlichen modellübergreifenden Feststellungen gilt es, die Neubestimmung der Gesetzesbindung, sei es im Abwägungswege, sei es durch eine Weiterentwicklung der Auslegung, zu begründen.
I. Grundsätze einer dynamischen1 Gesetzesbindung Obwohl beide Modelle im Detail viele Unterschiede aufweisen, lassen sich doch einige gemeinsame Grundsätze erkennen. Diese äußern sich zwar unter Umständen auf unterschiedliche Art und Weise, stellen aber trotzdem wichtige verbindende Elemente im Hinblick auf die Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei „gebundenen“ Normen dar. 1 Die Beschreibung der Gesetzesbindung als „dynamisch“ nimmt Bezug auf die physikalische Bedeutung des Wortes: „die von Kräften erzeugte Bewegung betreffend“ (vgl. hierzu auf www. duden.de die erste Erklärung). Die Gesetzesbindung bewegt sich in diesem Sinne also in einem Kräftefeld aus Verfassungsbelangen, sodass ihre Bedeutung im konkreten Fall davon abhängt, welche Kräfte, also Verfassungsbelange, sich wirksam durchzusetzen vermögen. In diesem Zusammenhang kann auch auf die musikalische Bedeutung der Dynamik verwiesen werden, also „die Differenzierung der Tonstärken betreffend“ (vgl. die dritte Erklärung auf www.duden.de).
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
1. Gesetzesbindung als Zielverständnis des Gesetzgebers Die Dynamisierung der Gesetzesbindung lässt sich aus der Zweckbestimmung von Normen ableiten. Regelmäßig kann der einzelnen Norm im Wege der teleo logischen Auslegung eine Zielbestimmung entnommen werden. Orientiert man sich also weniger am genauen Wortlaut2 samt vermeintlicher Rechtsfolgendeterminierung und legt stattdessen den Fokus verstärkt auf die hinter dem Gesetz stehende Zielrichtung durch den Gesetzgeber, erleichtern die beiden Gesetzesbindungsmodelle die Ausführung der Gesetze zur Erreichung gesetzgeberischer Zwecke und nicht (nur) zur Herbeiführung bloßer Rechtsfolgen.3 Wenn nämlich das gesetzgeberische Ziel, das in der weit überwiegenden Mehrheit der Fälle mit der vom Gesetzgeber als vermeintlich ausnahmslos vorgesehenen Rechtsfolge erreicht wird, ausnahmsweise auf einem anderen Weg zu erreichen ist oder die vorgesehene Rechtsfolge aufgrund anderer Verfassungsbelange nicht angewendet werden kann, wird damit dem auf den Einzelfall konkretisierten hypothetischen Willen des Gesetzgebers in erhöhtem Maße Rechnung getragen oder aus Verfassungsgründen eben zurückgestellt. Der Gesetzgeber verfolgt nämlich nicht nur bei finalen Rechtssätzen Ziele4 und beabsichtigt nicht Rechtsfolgen im engeren Sinne, auch wenn sich diese Ziele regelmäßig über konkrete Ausformungen von Rechtsfolgen herstellen lassen. Im Auslegungsmodell ergibt sich daraus die These, dass Gesetzesbindung nicht mit Wortlautbindung gleichzusetzen ist, sondern das Ergebnis einer verfassungsgeleiteten Interpretation auch durch den Zweck des Gesetzes geprägt ist. Das Abwägungsmodell wird dem Zielverständnis des Gesetzgebers regelmäßig durch die sich an die Feststellung des Auslegungsinhalts anschließende Abwägung gerecht. In beiden Fällen stellt sich die Gesetzesbindung weniger als eine fixe Grenze staatlichen Handelns, sondern eher als ein Mittel normativer QualitätsGewährleistung5 durch überprüfbare Zielvorgaben dar.
2
Kritisch zur Dreiteilung des Wortlauts (Kann, Soll, Ist) ist etwa auch G. Schmidt-Eichstaedt, DVBl. 1985, S. 646 f., der für eine Verschmelzung von Tatbestand und Rechtsfolge plädiert. 3 Im Ergebnis teilen diesen Befund auch Befürworter richterlicher Rechtsfortbildung. So etwa G. Hirsch, JZ 2007, S. 855: „Auch wenn (…) [der Richter] den Boden des geschriebenen Gesetzes verlässt, besagt dies nicht, dass er auch den Boden des Grundgesetzes verlassen hätte. Nicht jedes Handeln außerhalb des Gesetzes ist ein Handeln gegen das Gesetz.“ 4 Auch daraus ergibt sich die Relativierung der (angeblich strengen) Aufteilung in Konditional- und Finalnormen. Zur Kritik daran siehe M. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Rn. 16 f. U. Scheuner, DÖV 1969, S. 592: „Das Gesetz enthält (…) ein (…) bisher meist nur am Rande bemerktes Element. Es gibt der Verwaltung einen Auftrag, bestimmte vom Gesetz festgelegte Ziele zu verwirklichen.“ Nachweise für das österreichische Recht und die dortige Rechtsprechung finden sich bei H. Hofer-Zeni, S. 145 ff. 5 So eine Forderung an die Verwaltungsrechtswissenschaft von W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 15, 2. Spiegelstrich.
I. Grundsätze einer dynamischen Gesetzesbindung
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2. Der modale Charakter der Verhältnismäßigkeit als Instrument zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit6 ermöglicht staatlichen Akteuren alle im Einzelfall relevanten Verfassungsgüter zu berücksichtigen und einen Ausgleich herzustellen, um dem Auftrag der Verfassung Rechnung zu tragen, die Bürger in ihrer Freiheit nur so stark einzuschränken, wie es eben zwingend erforderlich ist. Er ist also ein modus operandi7, um Einzelfälle zu bewerten8 und etwaige Rechtsverletzungen auszuräumen.9 Die Verhältnismäßigkeit verrechtlicht zum einen das Moment der Gestaltung10 und ist funktionell die Einlösung des Verfassungsversprechens, Einzelfallgerechtigkeit durch Übermaßkontrolle zu gewähren.11 Damit wird die Verhältnismäßigkeit zu dem zentralen Instrument zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit. a) Die Funktion des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Ausgehend vom Polizeirecht12 (und damit zugleich gerade als Absage an den Polizeistaat) wurde der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu einer wesentlichen Begrenzung staatlicher Macht, der unter der Herrschaft des Grundgesetzes maßgeblich durch das Bundesverfassungsgericht entwickelt und geprägt wurde.13 Die verfassungsrechtliche Verankerung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes sowohl im Rechtsstaatprinzip als auch in den Grundrechten hat das Bundesverfassungs-
6
Grundlegend hierzu: L. Hirschberg passim; R. v. Krauss passim; P. Lerche passim. T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 155. 8 Dass diese Berücksichtigungspflicht nicht aus der Menschenwürdegarantie des Grundgesetzes folgt, stellt D. Merten, HGR III, § 68, Rn. 26 f., überzeugend dar. 9 Im Ergebnis damit wesensverwandt ist L. Michaels komparatives System, das Einzelfallgerechtigkeit durch Relationen und Abwägungen herzustellen versucht; siehe dazu ders., Gleichheitssatz, passim. 10 So auch B. Schlink, FS-BVerfG, S. 461. 11 Die Aussage, ein Staat, in dem nicht mehr die Gesetze, sondern die Menschen herrschten, dürfte sich nicht Rechtsstaat, sondern Abwägungsstaat nennen (vgl. W. Leisner, NJW 1997, S. 638; kritisch zur Herrschaft der Menschen an Stelle der Gesetze auch C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 138 ff.), überzeugt nicht. Das Gesetz ist nämlich kein Selbstzweck, sondern dient der effektiven Ausübung von Macht durch alle Menschen. 12 Siehe nur F. Fleiner, S. 310 ff.; L. Hirschberg, S. 5, 26; W. Jellinek, S. 421 ff.; O. Mayer, S. 221 ff. 13 Ebenso F. Ossenbühl, FS-Lerche, S. 153, sowie B. Schlink, FS-BVerfG, S. 445. Nachweise zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich bei E. Grabitz, AöR 98 (1973), S. 568 ff. Die schwankende Anwendungsintensität und die unterschiedliche Bedeutung für die Entwicklung der einzelnen Grundrechte lassen sich vor allem ab S. 590 ff. in der Analyse der Verhältnismäßigkeit bei den einzelnen Grundrechten nachvollziehen. Bekanntheit erlangte vor allem die Drei-Stufen-Theorie des Bundesverfassungs gerichts zu Art. 12 GG (dazu S. 592 ff. sowie S. 610 f.). 7
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
gericht bereits 1965 im Wencker-Beschluss14 festgehalten.15 Seither wird er für die notwendige Harmonisierung16 von Werten17 herangezogen, er ist mithin ein institutionalisierter Interessenausgleich. Stehen auf der einen Seite stets die Interessen von Bürgern, werden damit die Interessen der Allgemeinheit (oder auch spezielle Privatinteressen, die sich der Staat zu eigen macht) abgewogen. Interessenausgleich zu schaffen, ist das Kernanliegen des Rechts. Die Verhältnismäßigkeit ist dazu geeignet, weil sie dafür sorgt, dass nicht einfach nach Gefühl entschieden wird, was im Einzelfall gerecht erscheint, sondern die Belange ermittelt, formuliert, präzisiert und bewertet werden müssen. Daraus ergibt sich dann ein genaueres Bild: Die Verhältnismäßigkeit ist ein Feinfilter, um Einzelfälle zu bewerten. Sie ist die systematische Berücksichtigung außergewöhnlicher Umstände. Die Verhältnismäßigkeit dient dabei mit Blick auf den Einzelfall letztlich der Korrektur der Ungenauigkeiten, die gesetzgeberisches Handeln hervorruft. Das geschieht aber weniger in der allseits anerkannten Form, Normen auf ihre (abstrakte) Verhältnismäßigkeit zu überprüfen. Vielmehr berücksichtigt die exekutive Gesetzesumsetzung im Einzelfall die Verhältnismäßigkeit durch den Umsetzungsakt, der sich am Übermaßverbot messen lassen muss. Die Stärke der Verhältnismäßigkeit ist ihr Bezug auf den Einzelfall. Auf den jeweiligen konkreten Sachverhalt Bezug zu nehmen, führt zu einer strukturierten Lösung: Verhältnismäßigkeit dient als geronnene Abwägung18 und gelungener Ausgleich.19 Die Verhältnismäßigkeit eignet sich für diese Zwecke so gut, weil sie der Berücksichtigung der Einzelfallumstände Struktur gibt. Sie beugt allgemeinen Billigkeitserwägungen vor, da sie – anders als es ihre Kritiker einseitig behaupten – nicht
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BVerfGE 19, 342. Vgl. BVerfGE 19, 342, 348 f.: „In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang. Er ergibt sich aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist.“ 16 Das wirft Überlegungen auf, ob die Verhältnismäßigkeit heute eigentlich immer noch ausnahmslos die (harte) Abwägung mehrerer Rechtsgüter und Interessen ist oder ob sie inzwischen auch selbst Maßstab, also gewissermaßen absolut, geworden ist. Zu diesem Gedanken etwa O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 7 ff. Auf S. 9 heißt es: „Er [also der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit] hatte sich materiell verselbstständigt.“ Bei der Untersuchung einer „absoluten Verhältnismäßigkeit“ stößt man etwa auf Fälle, in denen bereits auf der Ebene des Mittels bzw. des Zwecks ein absolutes Verbot gilt. Das wäre z. B. bei per se illegitimen Zwecken, z. B. Diskriminierungsgründen aus Art. 3 Abs. 3 GG, oder bei per se illegitimen Mitteln, z. B. Folter, der Fall. Zu Letzterem siehe L. Michael / Morlok, Rn. 613. 17 Vgl. nur R. Dechsling, S. 7 f., 14 f. Zur Methode der Abwägung als Dogmatik der Grundrechte siehe B. Schlink, S. 192 ff. 18 Zur Bedeutung der Abwägung mehrerer Güter zur Bestimmung der Grundrechte siehe P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 31 ff. 19 W. Leisner, NJW 1997, S. 636. 15
I. Grundsätze einer dynamischen Gesetzesbindung
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(primär) selbst einen Dispens vom Gesetz darstellt20, sondern dem (verfassungsrechtlich) notwendigen Dispens Struktur gibt. Sie sorgt dafür, dass sich Abweichungen bei der Gesetzesausführung auf das notwendige Maß beschränken, systematisch und begründungsbedürftig erfolgen und Gesetzesanwendung nicht in das Belieben der Exekutive gestellt wird. b) Verhältnismäßigkeit als Modus Erreicht man durch ein neues Verständnis von Gesetzesbindung, die Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Gesetzesauslegung oder der Prinzipienkollision anwenden zu können, verändert sich auch die Wahrnehmung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes: Er stellt nicht selbst ein der Gesetzesbindung bzw. der Rechtssicherheit widerstreitendes Prinzip dar.21 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt regelmäßig nicht die Grundrechtsbeeinträchtigung in Form einer eigenständigen Grenze. Er stellt den Ausgleichsmodus für die widerstreitenden Belange dar, bringt diese in Einklang und zieht damit mittelbar der Gesetzesbindung Schranken.22 Das wirkt im Ergebnis freilich begrenzend für Grundrechtsbeeinträchtigungen, geschieht aber nicht durch eine Prinzipienkollision, in der die Verhältnismäßigkeit selbst einen Abwägungsbelang darstellt, sondern modal, indem die Verhältnismäßigkeit den Rahmen der Abwägung bzw. Auslegung festlegt. Ihrer Idee nach ist die Verhältnismäßigkeit damit ein Staatsziel23: Jeder Akt öffentlicher Gewalt muss verhältnismäßig sein. Die Verhältnismäßigkeit als solche kann so auch nicht mit der Gesetzesbindung in Einklang zu bringen sein, sondern bringt selbst Prinzipien (mit der Gesetzesbindung) in einen Ausgleich (Abwägungs modell) bzw. wägt Auslegungsvarianten im Lichte der Verfassung bei der Norminterpretation ab (Auslegungsmodell). Andernfalls würde die Verhältnismäßigkeit sich selbst mit einem anderen Verfassungsbelang abwägen. Diese Erkenntnis gilt für das Abwägungsmodell, in dem die Verhältnismäßigkeit die Kollision der Gesetzesbindung vor allem mit den im Einzelfall betroffenen Grundrechten auflöst. Nach dem Auslegungsmodell nimmt die Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Auslegung die ausgleichende Funktion insbesondere zwischen der Rechtssicherheit und den Grundrechten wahr. Mit Blick auf den Verfassungscharakter der in Ausgleich zu bringenden Belange erscheint dieses Verständnis systemkongruent: Auch in der Grundrechtslehre wird 20 F. Ossenbühl, FS-Lerche, S. 158, erkennt im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Möglichkeit zum „selbst erteilten Dispens vom rechtsstaatlichen Prinzip der Gesetzmäßigkeit“. 21 Anders ausführlich T. Westerhoff, S. 91 ff, der die Verhältnismäßigkeit als Prinzip versteht, für die er den – seiner Meinung nach synonymen (S. 92) – Begriff des Rechtsgrundsatzes verwendet. 22 Siehe dazu R. Alexy, Grundrechte, S. 100 ff. 23 Zu Verwaltungsaufgaben und Staatszielen siehe E. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap. 3, Rn. 78 ff.
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
im Rahmen der Verhältnismäßigkeit darauf geachtet, ob in der Angemessenheit etwa ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht beschränkt wird. In diesen Fällen kann die Rechtfertigung auch nur durch kollidierendes Verfassungsrecht erfolgen. Gleiches gilt für die Gesetzesbindung: Auch für sie kann nur kollidierendes Verfassungsrecht einschränkend wirken bzw. nur die Verfassung kann Abweichungen vom Wortlaut ermöglichen. Die Verhältnismäßigkeit wirkt bei „gebundenen“ Normen somit prozedural. 3. Die Vorbehaltlosigkeit „gebundener“ Normen Mit der Erkenntnis, dass die Gesetzesbindung nicht absolut zu verstehen, sondern mit anderen Verfassungsbelangen in einen Ausgleich zu bringen ist, passt sie sich auch in die Regelungssystematik des Grundgesetzes ein. „Gebundene“ Normen lassen sich in dem hier ausgearbeiteten Verständnis mit vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten (die damit einen Spezialfall von „gebundenen“ Normen darstellen) vergleichen. Auch diese geben dem Wortlaut nach keine Einschränkungsmöglichkeit zu erkennen, sind aber durch die Einheit der Verfassung im Wege der praktischen Konkordanz mit anderen Verfassungsgütern abzuwägen.24 Ein Verständnis, das der Gesetzesbindung absolute Geltung auch gegenüber den vorbehaltlosen Grundrechten verschaffte, wäre ein Widerspruch zur Gleichrangigkeit der Verfassungsgüter, die nur durch die privilegierte Stellung der Menschenwürde als absolutem Verfassungsgut durchbrochen wird. Selbst wenn man den Verfassungsgütern des Art. 20 GG über Art. 79 Abs. 3 GG eine erhöhte Stellung innerhalb der Verfassung einräumen möchte, so sind auch die anderen in Art. 20 GG enthaltenen Staatsgrundsätze mit den Grundrechten in Ausgleich zu bringen. Genauso wie es (mit der Ausnahme der Menschenwürde) keine schrankenlosen Grundrechte gibt, gibt es also auch keine „zwingenden“ Rechtsfolgen. Gesetzesbindung und Menschenwürde können aus den erwähnten25 Gründen wertungsmäßig nicht auf eine Stufe gestellt werden. Somit ist es auch nur konsequent, zur Herstellung eines Ausgleichs der Verfassungsbelange die Gesetzesbindung für die Berücksichtigung kollidierenden Verfassungsrechts zu öffnen.
24 So auch der von H.-D. Horn, LKRZ 2012, S. 3, als „Harmonisierungsaufgabe“ bezeichnete Befund: „[Es] entsteht die Aufgabe, die Grundrechtsbindung der Verwaltung mit der Lehre von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung in der gewaltenteiligen Ordnung zu ‚harmonisieren‘; beide müssen in den Vorgängen des Individualrechtsschutzes aufeinander abgestimmt werden.“ 25 Vgl. D. I. 4. und D. II. 2. c).
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4. Normenhierarchie als Folge des Stufenbaus der Rechtsordnung Jedweden Bewegungen in die Richtung einer Dynamisierung der Gesetzes bindung wird entgegengehalten, dass dies den Vorrang der Verfassung gefährde oder gar die Rechtshierarchie zerstöre26. Ganz im Gegenteil wird der Vorrang der Verfassung sogar dadurch gestärkt, dass der verfassungsrechtliche Ausgleichsmodus, die Verhältnismäßigkeit, die verfassungsrechtlich gewährleisteten Grundrechte gegenüber dem regelmäßig einfachen Gesetz, das dazu im Widerspruch steht, durchzusetzen vermag.27 Nun kann man zwar die Wortlautgrenze der einfach-gesetzlichen Normen durch die Gesetzesbindung auf verfassungsrechtliche Ebene ziehen. Das ändert jedoch nichts an der Kollision eines Verfassungsgutes mit einfachen Normen. Dieses Verständnis stellt für den Vorrang der Verfassung keine Gefahr dar, sondern respektiert ihn in besonderer Weise und denkt die Gleichwertigkeit der Verfassungsbelange konsequent weiter. Ansonsten würde nämlich umgekehrt sogar das Verständnis von einfachen Normen gegenüber den Grundrechten überhöht. Das Voraussetzungserfordernis eines Verfassungsbelangs für eine Abweichung vom Gesetz(eswortlaut) – entweder durch eine Abwägung mit der Gesetzesbindung (Abwägungsmodell) oder als auslegungsrelevanter Belang (Auslegungsmodell) – gewährleistet, dass sich zwei gleichwertige Güter gegenüberstehen. Begrenzendes Korrektiv ist dabei die Vermutungswirkung zugunsten der vom Gesetzgeber vorgesehenen Rechtsfolge, die im Rahmen der Abwägung bewirkt, dass sich im Zweifel die Gesetzesbindung durchsetzt (Abwägungsmodell) bzw. dass nach der Auslegung der Norm im Zweifel die vom Wortlaut der Norm nahegelegte Rechtsfolge zu wählen ist (Auslegungsmodell). 5. Die überbewertete (abstrakte) Verhältnismäßigkeit einer Norm Eine flexiblere Gesetzesbindung bestimmt auch das Verhältnis von der Verhältnismäßigkeit der Norm und der Verhältnismäßigkeit der konkreten Einzelfallmaßnahme neu.28 Durch die Flexibilisierung der Gesetzesbindung wird nur in seltenen Fällen von der bereits abstrakten Unverhältnismäßigkeit der Norm auszugehen sein, da moderate Abweichungen, die wiederum den strengen verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen müssen, möglich werden. Die bisherige Lehre ruft 26
So etwa mit Blick auf formelle Prinzipien K.-E. Hain, S. 137 f. Diese Argumentation greift auch H.-D. Horn, S. 199 ff., auf, der diesen Aspekt unter der Überschrift „Stufenbauprobleme“ behandelt. 27 Die hier eingenommene Perspektive beschränkt sich auf die klassische Abwehrfunktion der Grundrechte. Zu unmittelbaren Leistungsansprüchen gegenüber der Verwaltung aus den Grundrechten siehe etwa H. Dreier, Die Verwaltung 36 (2003), S. 115 ff. Ebenfalls interessant ist die ab S. 129 ff. aufgeworfene Frage, ob sich der Staat seinerseits auf die Grundrechte in ihrer Schutzpflichtdimension für Eingriffe gegenüber dem Bürger auf diese berufen kann. 28 Nachweise dazu finden sich etwa bei R. Dechsling, S. 126 ff. Siehe konkret für das hier gewählte Thema K. Naumann, DÖV 2011, S. 101.
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dieses Problem durch eine strenge kategoriale Alternativität zwischen den beiden Ebenen hervor. Dieses Verständnis lässt sich bei genauerer Betrachtung jedoch maßvoll korrigieren. Die Stilisierung der Verfassungsmäßigkeit der Norm als maßgebliche Kategorie anstatt der Verfassungsmäßigkeit des Einzelfalls, lässt sich gut am Beispiel des § 17a Abs. 2 VersG („Vermummungsverbot“) nachvollziehen. Die Verfassungsmäßigkeit der Norm ist umstritten.29 Letztlich, so der Eindruck, besteht weitestgehend Einigkeit, in welchen Fällen die Norm verfassungsgemäß ist (z. B. Vermummung, um eine drohende Strafverfolgung zu verhindern) und angewendet werden soll und in welchen Fällen nicht (z. B. Vermummung aus legitimen Gründen, etwa aus Angst vor persönlichen oder beruflichen Sanktionen). Trotzdem wird die Verfassungsmäßigkeit der Norm unterschiedlich beurteilt. Die Beurteilung der abstrakten Verfassungsmäßigkeit einer Norm hängt also maßgeblich von der Gesamtbewertung der einzelnen Anwendungsfälle einer Norm ab. Die abstrakte Wertung ist damit weniger aussagekräftig als die Betrachtung der jeweiligen Einzelfälle und führt zu der Überlegung zurück, ob atypische Fälle von der Norm erfasst sein müssen.30 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung von Normen kann insoweit allenfalls eine grobe Vorarbeit leisten, da alle Probleme in der Form von unverhältnismäßigen Zuständen auf Normebene auch bei der Anwendung im Einzelfall zu unverhältnismäßigen Ergebnissen führen. Die abstrakte Prüfung einer Norm bleibt aber notgedrungen vage und kann nicht passgenau auf die besonderen Umstände, die ex ante zu erdenken unmöglich sind, Rücksicht nehmen. Die ausschließliche Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Norm ist zudem nur wenig praktikabel. Die intensive Normenkontrolle und die daraus folgende Abstrahierung von Verhältnismäßigkeitsmaßstäben bedeutet schließlich auch immer eine Entkontextualisierung.31 Vertreter einer weitreichenden abstrakten Verhältnismäßigkeitsprüfung versuchen oftmals eine Verallgemeinerung von der Verhältnismäßigkeitsprüfung herbeizuführen, die sich bei genauerer Betrachtung nicht als abstrakte Prüfung erweist. Das zeigt sich etwa auch an dem Umstand, dass bei dieser allgemeinen Prüfung auch Argumente angeführt werden, die im Einzelfall aufgetreten sind und verall 29
Für eine Verfassungswidrigkeit sprechen sich etwa S. Ott / H. Wächtler / H. Heinhold, VersG, § 17a VersG, Rn. 42 ff., aus. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich (BT-Drs. 10/3580, S. 4) fest gehalten, dass atypische Fälle von der Vorschrift nicht erfasst sind. 30 Interessant ist insoweit, dass der Gesetzgeber erst ab den 1970er-Jahren „ins Fadenkreuz der Verhältnismäßigkeit“ geraten ist (O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 14). Während in der unmittelbaren Nachkriegszeit Verwaltung und Justiz (nicht zuletzt aufgrund der personellen Kontinuität zum Nationalsozialismus) als grundrechtsgefährdend angesehen werden konnten und das Parlament fast schon als Bewahrer der Grundrechte auftrat (O. Lepsius: der Gesetzgeber gestaltete die Grundrechte in dieser Zeit eher aus, als dass er sie beschränkte; Verhältnismäßigkeit, S. 3), hat sich dieses Bild heutzutage wohl eher gewandelt. Siehe auch O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 2 f. 31 So streitet das Verfassungsgericht in einem Beschluss vom 5. November 2016, Az. 2 BvR 6/16, – freilich nicht in einer Konstellation mit einer „gebundenen“ Norm – ebenfalls gegen eine zu starke Pauschalisierung.
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gemeinert werden („Wie sich am Fall des Beschwerdeführers erkennen lässt…“). Dadurch wird eine Verallgemeinerung suggeriert, weil die überprüfenden Stellen, etwa die Gerichte, immer konkrete Beispiele vor Augen haben, aber andere Fallkonstellationen ausblenden.32 Erst wenn sich eine Norm also als zu häufig unverhältnismäßig in ihrer Anwendbarkeit erweist, ist sie durch das Verfassungsgericht aufzuheben.33 Der Fokus rückt damit auf die Verhältnismäßigkeit des Einzelakts, dessen Herstellung maßgeblich durch die Verwaltung und Rechtsprechung betrieben wird. Die Bestimmung der Rechtsfolge durch Verwaltung und Rechtsprechung garantiert die Berücksichtigung von Einzelfallaspekten in grundrechts- und rechtsstaatsbeachtender Weise in ausreichendem Maße. 6. Art. 3 Abs. 1 GG als Schutz vor willkürlicher Gesetzesanwendung Durch die Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei „gebundenen“ Normen droht auch keine Beliebigkeit in der Gesetzesausführung. Schließlich muss sich jedwede Verwaltungsentscheidung auch nach dem hier entwickelten Verständnis immer am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG34 messen lassen.35 Zwar bestreitet die herrschende 32
Ausdrücklich anders löst diesen Konflikt etwa H. Schneider, FS-BVerfG, S. 402 f., der sich gegen eine doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung ausspricht, dabei aber die Überprüfung des Einzelakts am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ausschließen möchte. So kommt er auf S. 403 zu der Erkenntnis, dass der Gesetzgeber „bereits eine abschließende Abwägung (…) vorgenommen“ habe. Dagegen wendet sich überzeugend O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 2 ff., der in der universalen Anwendung der Verhältnismäßigkeit eine ihrer großen Stärken sieht, da durch die Grundrechtsbindung aller Gewalten erst dogmatisch überzeugende Lösungen auf Rechtfertigungsebene und nicht im Schutzbereich möglich geworden sind. So auch D. Merten, HGR III, § 68, Rn. 43: „Aus dem Umstand, daß bereits der Gesetzgeber dem Verhältnismäßigkeitsprinzip verpflichtet ist, folgt für dessen Berücksichtigung bei der Rechtsanwendung keine Einschränkung.“ 33 Anders, anknüpfend an die h. M., T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 151: „Eine Norm wird erst dann verfassungswidrig, wenn bei der betroffenen Gruppe generell das Übermaßverbot verletzt ist.“ (Hervorhebung im Original). Siehe auch T. Westerhoff, S. 76 m. w. N. 34 Ausdrücklich anerkannt wird dies etwa auch vom VGH Kassel in einer Entscheidung vom 28. Januar 2009, Az. 4 B 2166/08. So lautet der erste Leitsatz: „Auch im Bereich der gebundenen Eingriffsverwaltung, in dem die Behörde an sich zum Eingriff verpflichtet ist, hat diese neben der Verpflichtung nach einfachem Gesetzesrecht auch den Gleichbehandlungsgrundsatz anzuwenden.“ Auf diese Entscheidung nehmen auch H.-D. Horn, LKRZ 2012, S. 1 ff., und T. Westerhoff, S. 45 f., Bezug. 35 Die Überlegung stellt auch V. Mehde, DÖV 2014, S. 548, an: „Warum der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dazu taugt, die gesetzgeberische Grundentscheidung in Frage zu stellen, die Anforderungen des Gleichheitssatzes aber nicht anzuwenden sein sollen, lässt sich aus dem Normzusammenhang nicht herleiten.“ Damit lässt sich auch die von V. Mehde, DÖV 2014, S. 548, im Anschluss an die Rechtsprechung, geäußerte Befürchtung entkräften, Gleichbehandlungsdiskussionen würden durch das neue Verständnis nicht nur nicht gelöst, sondern in neuer Gestalt aufgeworfen. Art. 3 Abs. 1 GG als Kompensation für eine vermeintliche Beliebigkeit ins Spiel zu bringen, nutzt auch B. Schlink, FS-BVerfG, S. 459. Bei ihm erfolgt die Anwendung
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Meinung die Anwendbarkeit des allgemeinen Gleichheitssatzes jedenfalls in Form der „neuen Formel“ bei der Ausführung einer vermeintlich vollständig rechtsfolgendeterminierenden Norm.36 Aus dem Kontext des hier gewonnenen Verständnisses ist diese Betrachtung zu korrigieren. Eine Überprüfung am Maßstab des Gleichheitssatzes muss grundsätzlich bei jeder Verwaltungsentscheidung erfolgen. Wenn also im Abwägungsmodell die Gesetzesbindung mit den Grundrechten des Verwaltungsadressaten abgewogen wird, muss die Verwaltung immer Art. 3 Abs. 1 GG beachten. Genauso ist Art. 3 Abs. 1 GG im Rahmen des Auslegungsmodells bei der Interpretation der Norm im Lichte der Verfassung neben weiteren Grundrechten und dem Rechtsstaatsprinzip zu beachten. Es wird also einzelfallgenau ermittelt, ob Unterschiede solcher Art bestehen, dass eine abweichende Verwaltungsentscheidung gerechtfertigt ist bzw. Wortlautabweichungen bei der Ausführung „gebundener“ Normen in ähnlichen (und damit rechtlich relevanten) Fällen gleich gehandhabt werden. Unabhängig von der Intensität der Gleichheitsprüfung37, verhindert der allgemeine Gleichheitssatz damit zumindest eine willkürliche Ungleichbehandlung, also eine Beliebigkeit in der Rechtsausführung gegenüber verschiedenen Grundrechtsträgern. Schließlich kann auch eine verfassungsgebotene Differenzierung aus dem allgemeinen Gleichheitssatz folgen. Nun ließe sich dagegen noch einwenden, dass Art. 3 Abs. 1 GG nur im grundrechtlichen Bereich gilt und damit gleiche Rechtsausführung nur im Verhältnis der Verwaltung zu zwei verschiedenen Grundrechtsträgern gewährleistet ist. Abgesehen von der Häufigkeit von Fällen mit Grundrechtsbezug, gebietet das Grundgesetz nur in diesen Fällen eine Gleichbehandlung aus verfassungsrechtlichen Gründen. So können sich Gemeinden beispielsweise nicht auf Art. 3 Abs. 1 GG berufen. Damit ist freilich nicht gesagt, dass die Gesetzesausführung ansonsten im Belieben der Verwaltung steht. Es gibt nur eben ansonsten keine verfassungsrechtliche Verstärkung zur Gleichheit in der Gesetzesausführung. Das ist als eine im Wesentlichen durch den Verfassunggeber getroffene Entscheidung zu akzeptieren.38 aber im Kontext der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Reduktion des Angemessenheitselements zugunsten der Geeignetheit und Erforderlichkeit. Zur Argumentation, dass Art. 3 GG einer Abweichung vom Gesetz nicht im Wege steht, siehe K. Bruder, S. 98 f. Zu Art. 3 GG und „gebundenen“ Normen siehe auch T. Westerhoff, S. 179 ff. Zum Verhältnis von Art. 3 GG zur Verhältnismäßigkeit siehe nur L. Michael, JuS 2001, S. 152 ff. und S. 866 ff. (Fälle), sowie ders., Gleichheitssatz, passim sowie speziell S. 262 ff. 36 Vgl. auch B. III. 2. Zur Prüfung des Willkürverbotes bei der Nichtanwendung „gebundener“ Normen vgl. T. Barczak, VerwArch 105 (2014) S. 171. 37 Das wirft insbesondere die Frage auf, ob nicht im Rahmen des Art. 3 Abs. 1 GG durch die sog. „neue Formel“ des Bundesverfassungsgerichts eine Verhältnismäßigkeitsprüfung unternommen wird. Diesen Punkt sieht auch B. Schlink, FS-BVerfG, S. 459. Kritisch zu einer Anwendung der klassischen Verhältnismäßigkeitselemente bei Art. 3 GG wohl O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 29 f. 38 Auch die Begrenzung und Zuteilung haushaltsrechtlicher Mittel und das Gebot zu sparsamer Haushaltsführung der Verwaltung, insbesondere im Bereich der Leistungsverwaltung, setzen vor allzu großzügiger Handhabung von ungeplanten Ausnahmen Grenzen.
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7. (Prozedurale) Vorkehrungen zum Schutz der Bürger Um Einzelfallgerechtigkeit durch die Flexibilisierung der Gesetzesbindung zur Verfassungsdurchsetzung zu garantieren und etwaigen Fehlentwicklungen vorzubeugen, sind prozedurale Vorkehrungen zum Schutz der Bürger und des Gesetzgebers vorzunehmen. Die folgenden Punkte mögen als Beispiele für eine Erweiterung der gerichtlichen Kontrolle39 ohne Anspruch auf Vollständigkeit verstanden werden. a) Auskunftsansprüche Bürgern, die von einer Gesetzes(wortlaut)abweichung nachteilige Auswirkungen auf ihre Rechtspositionen zu erwarten haben, sind insbesondere durch Auskunftsansprüche in die Lage zu versetzen, sich gegen entsprechendes Verwaltungs- und Gerichtshandeln zu wehren. Da jene Rechtsfolgenkorrekturen regelmäßig adressatenbegünstigend sind, bilden (vor allem in Fällen mit mehreren Beteiligten) Auskunftsansprüche von Dritten ein wirkmächtiges Instrument zur Interessensicherung. Weicht also etwa die Ordnungsbehörde aus Verfassungsgründen von der „zwingenden“ Aufhebung der Gaststättenerlaubnis ab, sind betroffenen Dritten (Konkurrenz, potentielle Kunden) Unterlagen über diesen Vorgang auch über die bereits bestehenden Auskunftsansprüche (z. B. nach dem IFG) hinaus zur Verfügung zu stellen. Dabei ist, sofern erforderlich, auf die berechtigten Interessen des Gaststättenbetreibers zu achten, sodass Informationen zu diesem Verwaltungsvorgang unter Umständen anonymisiert oder unter Schonung von Geschäftsgeheimnissen (etwa geschwärzte Darstellung von Umsätzen, Geschäftspartnern, Geheimnissen, Patenten usw.) an Dritte zu übermitteln sind. In diesen Fällen bietet sich eine Abwägung zwischen den Interessen des Gaststättenbetreibers und den Interessen Dritter an. b) Besondere Hinweispflicht bei bürgerbegünstigenden Abweichungen Verwaltungsadressaten, zu deren Gunsten von einer „gebundenen“ Norm abgewichen wird, sind auf diese besondere Rechtslage gesondert hinzuweisen. Sieht eine Behörde etwa von einer „gebundenen“ Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 3 Abs. 1 StVG) ab, ist sie gegenüber dem Inhaber der Fahrerlaubnis verpflichtet, in ihrem Bescheid auch darauf hinzuweisen, dass diese Entscheidung jenseits des „gebundenen“ Gesetzeswortlauts getroffen wurde. Dadurch soll der Bürger zunächst schwerer Vertrauen bilden können, sodass eine etwaige aufhebende Entscheidung der Verwaltungsgerichte den Bürger nicht überrascht und er sich der Unsicherheit seiner Rechtsposition bewusst ist. 39 Zur Erweiterung des Kontrollbereichs vgl. W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 29, 5. Spiegelstrich.
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c) Begründungserfordernis (§ 39 Abs. 1 VwVfG) Die bei Rechtsfolgenkorrekturen notwendige Transparenz40 vermittelt sich auch über eine ausreichende Dokumentation und Begründung41 der Verwaltungsvorgänge. Da gemäß § 39 Abs. 1 VwVfG schriftliche Verwaltungsakte ohnehin zu begründen sind, ist bei Korrekturen von „gebundenen“ Rechtsfolgen darauf zu achten, dass die Begründung sich nicht bloß zu der Abweichung selbst verhält, sondern auch speziell für die gewählte Rechtsfolge eine ausreichende Begründung enthält. Eine Aufteilung des Begründungserfordernisses ist etwa bei der Trennung der Gründe für den Erlass einer Anordnung der sofortigen Vollziehung (Vollziehungsinteresse) und den Gründen zum Erlass des zugrundeliegenden Verwaltungsakts (Erlassinteresse) bekannt.42 d) Meldung an Dienstvorgesetzte Rechtsfolgenkorrekturen sollten vom jeweiligen Verwaltungsmitarbeiter an den Dienstvorgesetzten gemeldet und auf dessen Forderung hin vorgelegt werden müssen. Das erhöht neben einer klaren Dokumentation (z. B. in Form eines Aktenvermerks) auch die Wahrscheinlichkeit, die materiell „richtige“ Entscheidung zu treffen und wahrt die administrative Kette der Verantwortung.43 Ein derartiges Erfordernis ist aus der Diskussion um die sog. Nichtanwendungskompetenz von Normen, die aus der Sicht der Verwaltung verfassungswidrig sind, bekannt.44 Auch in diesen Fällen wird regelmäßig die Remonstration bei dem Dienstvorgesetzen gefordert. e) Trial-and-Error-Prinzip Schließlich müssen die Akteure, die sich mit Ergebnissen von Verwaltungshandlungen beschäftigen, vermehrt darüber im Klaren sein, dass bei jeder (öffentlichen) Aufgabe Fehler nicht ausgeschlossen sind und nur durch stetige Selbstoptimierung verringert werden können. Dass die Verwaltung das Trial-and-Error-Prinzip45 für sich in Anspruch nehmen kann46, entschuldigt sicherlich nicht jede rechtswidrige Entscheidung, hilft aber ein Verständnis dafür zu gewinnen, dass Rechtsgestaltung 40
Zur Kontrolle durch Öffentlichkeit siehe E. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap. 4, Rn. 98 ff. Dazu im Zusammenhang mit der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft W. HoffmannRiem, GVwR I, § 10, Rn. 69 und 100 f. 42 Siehe hierzu: F. Schoch, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 80 Rn. 209, 247 f. 43 Siehe hierzu: W. Loschelder, in: HStR V, § 107, Rn. 37 ff. 44 Hierzu: E. I. 8. 45 Dazu W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 124. 46 Zum Zusammenhang von Trial-and-Error und einer möglichen Billigkeitskompetenz der Verwaltung siehe I. Pernice, S. 350 ff. 41
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nicht risikofrei möglich ist, weshalb die Kontrollaufgabe der Gerichte gefragt ist. Schließlich ist auch die Einsicht in eigene Fehler der Vergangenheit ein Kontrollmechanismus für die Zukunft. f) Kodifikation im einfachen Recht (VwVfG, IFG) Die genannten Änderungen lassen sich zum Teil im einfachen Recht kodifizieren. Insbesondere sollten die Verwaltungsverfahrensgesetze und die Informationsfreiheitsgesetze des Bundes und der Länder angepasst werden. Die Meldepflichten innerhalb der Verwaltung können durch verwaltungsinterne Vorgaben sichergestellt werden. § 39 VwVfG lässt sich in Absatz 1 um die folgenden Sätze 4 und 5 ergänzen: „Bei der Abweichung von einer gebundenen Rechtsfolge soll die Behörde auch diejenigen Gründe darlegen, die sie zur Anordnung der konkreten Rechtsfolge bewogen haben. Sollte in diesen Fällen die Maßnahme zugunsten des Adressaten des Verwaltungsakts wirken, ist er gesondert darauf hinzuweisen, dass diese Anordnung unter Abweichung von einem gebundenen Gesetzeswortlaut ergangen ist.“ § 1 IFG des Bundes bzw. die entsprechenden Regelungen in den Ländern lassen sich um einen Absatz 4 ergänzen: „Bei der Abweichung von einer gebundenen Rechtsfolge hat jeder Bürger gegenüber einer Behörde einen Anspruch darauf, die Informationen zu diesem Verwaltungsvorgang einzusehen. Diese sind nach Abwägung der schützenswerten Interessen Betroffener mit dem Interesse an Information in geeigneter Form zur Verfügung zu stellen.“ 8. Der Umgang der Administrative mit verfassungswidrigen Normen In der Literatur wird immer wieder47 der Umgang der Verwaltung mit aus ihrer Sicht verfassungswidrigen Normen diskutiert.48 Insbesondere der Begriff der Nicht 47
Ausgelöst wurde die Diskussion wohl von widerstreitenden Entscheidungen des Bundesfinanzhofs und des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. O. Bachof, AöR 87 (1962), S. 2, 6 f., und M. Wehr, S. 19. 48 Grundlegend ist die Dissertation von M. Wehr passim. Von K.-H. Hall bietet sich der Überblick in DÖV 1965, S. 553 ff., ebenfalls an. Zahlreiche Nachweise nennt auch O. Bachof, AöR 87 (1962), S. 2, Fn. 7. Aus der Rechtsprechung etwa BVerfGE 12, 180, 186: „Der Grundsatz der Gewaltenteilung wird durch die wechselseitige Kontrolle der Gewalten ergänzt; er zwingt nicht zum Vollzug eines Gesetzes, das wahrscheinlich für nichtig erklärt werden muß (…)“, wobei diese Aussage sich damit nicht zu einer Nichtanwendungspflicht verhält. Unterschiedlich interpretieren diesen Satz O. Bachof, AöR 87 (1962), S. 43 f., und K.-H. Hall, DÖV 1965, S. 556. Auf den europäischen Aspekt gehen insbesondere C. Nonnenmacher / A. Feickert, VBlBW 2007, S. 328 ff., ein. Zahlreiche weitere Nachweise bei H.-D. Horn, LKRZ 2012, S. 2, Fn. 15 f., sowie bei dems., S. 196, Fn. 53; auf S. 214 ff. findet sich seine eigene Stellungnahme. Der Diskussion insgesamt messen T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 174, und K. Naumann,
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anwendungskompetenz hat sich dabei herausgebildet.49 So wird immer wieder gefordert, dass die Verwaltung verfassungswidrige Normen nach sorgfältiger Prüfung nicht anwenden muss und darf.50 Eine Dynamisierung der Gesetzesbindung kann auf der Grundlage der zuvor getroffenen Feststellungen diesen Diskurs ergänzen. Allerdings gilt es zunächst, zwischen einer an sich verfassungsgemäßen Norm, die im atypischen Einzelfall zu einer verfassungswidrigen Rechtsfolge führt, und einer in Gänze verfassungswidrigen Norm zu differenzieren. Für die verfassungsgemäße Norm mit unverhältnismäßiger Einzelfallrechtsfolge gilt die in dieser Untersuchung gewonnene Erkenntnis: Die Norm wird grundsätzlich ausgeführt, allerdings ist eine Rechtsfolgenkorrektur angezeigt, die sich auch vom Wortlaut des Rechtssatzes lösen kann. Ob man darin eine Nichtanwendung oder gerade eine einzelfallangepasste Anwendung der Norm erblicken möchte, hängt von der Definition von Normanwendung ab. Aus dieser Erkenntnis lässt sich eine Aussage zur Anwendung verfassungswidriger Normen durch die Verwaltung treffen. Führte die Verwaltung verfassungswidrige Normen aus, käme es zu der widersprüchlichen Erkenntnis, dass die Verwaltung verfassungsgemäße Normen mit unverhältnismäßiger Einzelfallrechtsfolge nicht wie vom Gesetzgeber vorgesehen ausführen dürfte, verfassungswidrige Normen hingegen umsetzen müsste. Alternativ käme auch hier eine verfassungskonforme Rechtsfolgenbestimmung für den Einzelfall in Betracht. Allerdings ist diese Einzelfallkorrektur bei verfassungswidrigen Normen gerade nicht möglich: Das Vertrauen in die Norm ist dadurch erschüttert, dass zu viele Abweichungen von der Rechtsfolge notwendig wären. In diesem Fall ist die Verwerfung für den Gesetzgeber der schonendere Weg. Verfassungswidrige Normen erzeugen DÖV 2011, S. 99, eine zu geringe Bedeutung bei. Unzureichend insbesondere K. Naumann, DÖV 2011, S. 99: Die Diskussion zur Nichtanwendung verfassungswidriger Rechtsverordnungen und Satzungen „bedarf jedoch vorliegend keiner Entscheidung.“ Ähnlich T. Westerhoff, S. 134 f.: „kann hier aber offen gelassen werden“. Anders V. Mehde, DÖV 2014, S. 546, der die Bedeutung dieser Frage erkennt. 49 Unter Nichtanwendungskompetenz wird richtigerweise eine Pflicht und Befugnis zur vorläufigen Prüfung einer Rechtsnorm auf ihre Verfassungswidrigkeit („Prüfungskompetenz“), die eine Nichtanwendung im Einzelfall beinhaltet, verstanden. Keinesfalls davon umfasst ist eine Verwerfungskompetenz durch die Verwaltung. Deshalb ist die Terminologie von K.-H. Hall, DÖV 1965, etwa auf S. 554, teilweise auch missverständlich. Übersichtlich hingegen P. Gril, JuS 2000, S. 1081. M. Wehr differenziert zwischen der Normprüfungskompetenz der Exekutive (S. 63 ff.) und der Verwerfungskompetenz (S. 87 ff.); so auch O. Bachof, AöR 87 (1962), S. 3. Der Stand der Diskussion bis 1971 lässt sich bei K. Bruder, S. 91 ff., nachvollziehen. Auch A. Bleckmann, DÖV 2003, S. 158, vermengt ausdrücklich die Nichtanwendungsbefugnis mit der Verwerfungsbefugnis. 50 A. Arndt, DÖV 1959, S. 81 ff.; ders. BB 1959, S. 533 ff.; ders., NJW 1959, S. 2145 ff.; A. Hamann, NJW 1959, S. 1465 ff.; M. Hederich, NdsVBl. 1997, S. 272 ff.; F. Kopp, DVBl. 1983, S. 823 ff.; H. Michel, NJW 1960, S. 841 ff.; ders., JuS 1961, S. 274; U. Scheuner, BB, 1960, S. 1253 ff.; H. Sigloch, JZ 1959, S. 81.
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überdies keinerlei Rechtswirkung. Wie auch bereits bei der fehlenden Bindungswirkung einer verfassungswidrigen Norm(auslegung) festgestellt51, vermag die tatsächliche Existenz eines Rechtssatzes nichts über seine rechtliche Existenz auszusagen. In diesen Fällen kann und darf die Verwaltung die Norm gar nicht ausführen, auch nicht mittels Rechtsfolgenkorrektur. Die Verfassungswidrigkeit einer Norm steht damit in einem Plus-Minus-Verhältnis zur verfassungskonformen Rechtsfolgenkorrektur. 9. Der missverständliche Rekurs auf G. Radbruch Der auch bei der Ausführung von „gebundenen“ Normen hervorbrechende Konflikt zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit ist in der Wissenschaft auch aus einem anderen Kontext schon länger bekannt. G. Radbruchs rechtsphilosophische Formel erlangte nach Ende des 2. Weltkriegs Berühmtheit: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.“52 Ausdrücklich unter Bezug auf diesen Ansatz versuchen in der Literatur T. Barczak 53 und vor allem T. Westerhoff 54 für hiesiges Thema aus diesen Ausführungen eine Legitimation für „einfache Ungerechtigkeiten“ zu ziehen. Das (insbesondere „gebundene“) Gesetz sei auch dann auszuführen, wenn es zu ungerechten Ergebnissen führe, es sei denn, dass diese Ungerechtigkeit ein unerträgliches Maß erreiche. Eine Abweichung von einer „gebundenen“ Norm bzw. ihrem Wortlaut lässt sich in diesem Verständnis erst rechtfertigen, sobald es zu einer „qualifizierten Ungerechtigkeit“55 kommt. Dieser Inanspruchnahme G. Radbruchs liegt wohl das Missverständnis zugrunde, das „Recht“ in seinen Ausführungen nur das einfache Gesetz meinen kann. Aber auch die Verfassung ist Teil des positiv gesetzten Rechts. Aussagegehalt der Formel ist wohl vielmehr die ausnahmsweise Geltung überpositiven Rechts, das in außergewöhnlichen Fällen dem positiven Recht vorgehen kann. Diese Interpretation wird nicht zuletzt durch das Erscheinungsjahr (1946) nahegelegt: G. Radbruch – zu Weimarer Zeiten ein strenger Rechtspositivist – verarbeitete die Erfahrungen des Nationalsozialismus in seiner Erkenntnis.
51
D. III. 2. b). G. Radbruch, S. 216. 53 VerwArch 105 (2014), S. 172. 54 S. 144 f. 55 T. Westerhoff, S. 144; in der Zusammenfassung auf S. 190 dann „qualifizierte Unverhältnismäßigkeit“. 52
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Überpositives Recht muss indes bei der Ausführung „gebundener“ Normen nicht bemüht werden, um Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen. Kollidierende – im Grundgesetz positiv kodifizierte – Verfassungsprinzipien, die durch den (verfassungsrechtlichen) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Ausgleich gebracht werden, müssen keine Geltung kraft Naturrechts erlangen, sie existieren qua constitutionem. Die Problematik um die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit bei „gebundenen“ Normen durch die Berücksichtigung von Grundrechten vollzieht sich daher vollständig innerhalb des positiven Rechts, dem einfachen Recht und dem Verfassungsrecht. Diese Interpretation steht auch nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Auch die von T. Westerhoff zitierte Entscheidung56, in der das Gericht die Radbruch’sche Formel aufgreift, verhält sich bei der Prüfung von möglicherweise verfassungswidrigem Verfassungsrecht nur zu der Geltung überpositiven Rechts, nicht aber zur Nichtanwendung des einfachen Rechts (ggf. durch Interpretation) aufgrund von Verfassungsverstößen. Die hier entwickelten Modelle sind also weder ein Widerspruch zu G. Radbruchs Formel noch zur entsprechenden Verfassungsgerichtsrechtsprechung. Vielmehr ermöglichen sie, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit nicht gegeneinander auszuspielen und durch alternative Lösungen den einen Wert gegenüber dem anderen vorzuziehen, sondern flexible Ergebnisse durch Abwägung und Berücksichtigung beider Belange zu erzielen.
II. Unterschiede und Parallelen zwischen einem dynamischen Gesetzesbindungsverständnis und der verfassungskonformen Auslegung Die Auffassung einer dynamischen Gesetzesbindung hängt mit einer in der Literatur schon länger intensiv geführten Diskussion zur Zulässigkeit einer Figur, die „mittlerweile zum alltäglichen Erscheinungsbild der Rechtsprechung“57 gehört, zusammen58: 56
BVerfGE 3, 225. Siehe hierzu A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 190. Etwas verwunderlich in der Pauschalität und im Aussagegehalt ist doch die Feststellung von C. Pestalozza, § 20, Rn. 9, Fn. 17, dass die verfassungskonforme Auslegungsvariante „fast stets die ferner liegende, oft gekünstelte und sich von Vorstellungen aller Beteiligten weit entfernende Deutung“ sei. 58 Zwei ähnliche Kunstgriffe der Methodik, die Analogie und die teleologische Reduktion, könnten auf den ersten Blick ebenfalls dem hier gewählten Modell nahekommen. Als potentielle Mittel zur Auflösung des Problems benennen die Analogie etwa auch T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 177 ff., sowie K. Naumann, DÖV 2011, S. 99; Ausführungen zur teleologischen Reduktion finden sich bei V. Mehde, DÖV 2014, S. 544 f. Siehe insgesamt auch T. Westerhoff, S. 35 f., 124 ff. Auf den zweiten Blick wird aber schnell klar, dass beide Möglichkeiten nicht zur Lösung beitragen. Die Analogie arbeitet zu punktuell und kann das hier besprochene Phänomen nicht ganzheitlich erfassen. Für die Annahme einer Analogie müssten vor allem gesetzlich normierte Ausnahmeregelungen existieren, die dann wiederum nicht als abschließend gelten 57
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Es drängen sich ähnliche Fragestellungen wie beim Streit um die Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung auf.59 1. Der Streit um die Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung Die verfassungskonforme Auslegung, aufgrund ihrer Wandlungsfähigkeit auch als „Chamäleon“60 bezeichnet, findet ihren Anwendungsbereich – gleich dem hier erörterten Problem – im Zusammenspiel von Verfassungsrecht und einfachem Recht; sie stellt damit letztlich auch einen Balanceakt im Verhältnis zwischen den Staatsorganen61 dar. Sie trägt den Konflikt aus, der bei der Auslegung einer einfach-rechtliche Norm durch mehrere denkbare Auslegungsergebnisse entsteht, von denen mindestens eine einen verfassungswidrigen und mindestens eine andere einen verfassungsgemäßen Zustand produziert. Anders zu beurteilen sind demnach Fälle, in denen ausschließlich verfassungsgemäße Auslegungen möglich sind (Norm verfassungsgemäß) oder nur verfassungswidrige Auslegungsergebnisse zur Auswahl stehen (Norm verfassungswidrig).62 Die verfassungskonforme Auslegung ist in der Praxis bereits zur Erklärung der einen oder anderen vom Wortlaut der Norm auf den ersten Blick nicht mehr unbedingt zu erkennenden Auslegung dürften und sie müssten weiterhin mit dem ungeregelten Fall zumindest so ähnlich sein, dass eine Übertragbarkeit denkbar ist. Deshalb erscheint allenfalls in wenigen Einzelfällen ein derartiger Weg gangbar. Die teleologische Reduktion hingegen ist zu stark pauschalisierend, weil sie bestimmte Lebenssachverhalte entweder von einem Tatbestand erfasst sieht (mit der Auslösung der Regel-Rechtsfolge als Folge) oder die Anwendung der Norm insgesamt verneint und damit zu keinen differenzierten Ergebnissen fähig ist. Zudem erscheint dieser Weg sehr anfällig gegenüber allgemeinen Billigkeitserwägungen, was wiederum die Gefahr unvorhersehbarer Ergebnisse erhöht. 59 Das zeigt sich auch daran, dass bei Abhandlungen zum hiesigen Untersuchungsgegenstand die verfassungskonforme Auslegung oft erwähnt wird. Siehe nur V. Mehde, DÖV 2014, S. 545; K. Naumann, DÖV 2011, S. 98, sowie T. Westerhoff, S. 119 ff. Hervorzuheben ist, dass etwa H. Bogs als einer der wenigen Vertreter des Schrifttums sich mit der Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung auch für die Verwaltung beschäftigt, vgl. S. 122 ff. Ansonsten dominiert aus naheliegenden Gründen eine Auseinandersetzung mit ihrer Bedeutung für Justiz und Gesetzgebung. Zur Bedeutung der verfassungskonformen Auslegung für eine Billigkeitskompetenz der Verwaltung siehe I. Pernice, S. 558 ff. Zur Überschneidung von verfassungskonformer Auslegung und Verhältnismäßigkeit siehe etwa das Erfordernis einer verfassungskonformen Interpretation bei Disproportionalität von Zweck und Mittel; vgl. D. Merten, HGR III, § 68, Fn. 411. R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 112, deutet an, dass bei der verfassungskonformen Auslegung doppelt ausgelegt wird: Zum einen werden die Gesetze im Lichte der Verfassung ausgelegt, zum anderen muss der Inhalt der Verfassung aber auch selbst erst bestimmt werden. Siehe für weitere Quellen (über die im Folgenden zitierten hinaus) die Nachweise bei K. Stern, Bd. 2, S. 958, Fn. 109; Schlaich / S. Korioth, vor Rn. 440, Fn. 143; A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 178, Fn. 1, und R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 109. Lesenswert insoweit auch J. Burmeister passim. Für eine Untersuchung der Schweiz siehe E. Campiche passim. 60 H. Simon, EuGRZ 1974, S. 87. 61 Vgl. H. Simon, EuGRZ 1974, S. 86. 62 Zu der allgemein gängigen Definition siehe etwa (samt Nachweisen aus der Rechtsprechung) Schlaich / S. Korioth, Rn. 444.
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genutzt worden.63 Erinnert sei etwa an die verfassungskonforme Auslegung im Rahmen der versammlungsrechtlichen Anmeldefrist nach § 14 Abs. 1 VersG, die das Bundesverfassungsgericht bei Eil- und Spontanversammlungen aufgeweicht hat.64 Diese Grenzfälle haben der Popularität der verfassungskonformen Auslegung – trotz kritischer Stimmen – keinen Abbruch getan. Sie lassen sich mit dem hier entwickelten Modell ebenfalls erklären. Die Ermittlung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den hier entwickelten Modellen einer dynamischen Gesetzesbindung und die Diskussion um die verfassungskonforme Auslegung verspricht Erkenntnisgewinn: Den Einwänden gegen das eine Modell muss sich unter Umständen auch die andere Diskussion stellen und auflösen oder integrieren. Beide Diskussionen bilden schließlich das Spannungsfeld von Auslegung und Rechtsfortbildung ab.65 2. Gemeinsamkeiten von verfassungskonformer Auslegung und der Dynamisierung der Gesetzesbindung Die Gemeinsamkeiten von verfassungskonformer Auslegung und einem dynamischen Verständnis von Gesetzesbindung helfen dabei, die Parallelen der Diskussion zu erkennen, um so etwa auch zu erkennen, wie viel verfassungskonforme Auslegung in den hier entwickelten Modellen abgebildet wird. a) Die Berücksichtigung von Verfassungsbelangen bei der Gesetzesausführung Verfassungskonforme Auslegung und die Abwägungsfähigkeit der Gesetzesbindung bzw. eine verfassungsgeleitete Interpretation der Gesetzesbindung eint die Ähnlichkeit ihrer Fallkonstellationen: Es geht um die Berücksichtigung von Verfassungsbelangen bei der Ausführung von Gesetzen. Zwar unterscheiden sich die einzelnen Voraussetzungen sowohl für die verfassungskonforme Auslegung als auch für die Abwägbarkeit der Gesetzesbindung sowie für die verfassungsgeleitete Auslegung.66 Die Verfahren vereint aber, dass Konflikte entstehen, die typischerweise im Zusammenspiel von einfachem Recht und Verfassungsrecht hervorgerufen werden und Folgefragen nach sich ziehen, die im Gewaltenteilungsstaat hervorbrechen. Das schließt etwa auch Diskussionen zu den Kompetenzen eines
63 K. A. Bettermann, S. 48, Fn. 60, stellt anschaulich dar, wie weit diese „Kreativität“ reichen kann. 64 Das Beispiel bringt auch A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 186. 65 Diesen Konflikt stellt für die verfassungskonforme Auslegung ausführlich U. Lembke, S. 24 ff., dar. 66 Vgl. E. II. 3.
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Verfassungsgerichts und dessen Rolle gegenüber den Fachgerichten ein. Potentielle systematische Brüche aufzuzeigen und zu schließen, muss jedes der Verfahren auf seine eigene Weise leisten.67 b) Die besondere Bedeutung des Vorrangs der Verfassung Beide Ansätze tragen in größtmöglicher Weise dem Vorrang der Verfassung68 Rechnung69 und sind damit in besonderer Weise Ausdruck des Stufenbaus der Rechtsordnung.70 Überlegungen zur verfassungskonformen Auslegung werden von der Motivation begleitet, dass der Verfassung in optimaler Weise Rechnung getragen wird. Das zeigt sich bereits an der Grundfragestellung der verfassungskonformen Auslegung, die bei der Gesetzesausführung ansetzt und danach fragt, wie der Verfassung im Rahmen des einfachen Rechts durch Auslegung optimal Geltung verschafft werden kann. Es findet eine Verknüpfung der Norm mit ihrer Interpretation statt.71 An diesem Punkt besteht insbesondere eine Gemeinsamkeit zum Auslegungsmodell. Bei diesem wird ebenfalls durch die Interpretation der Norm die Berücksichtigung von Verfassungsbelangen erstrebt, wobei für die Interpretation (anders als bei der verfassungskonformen Auslegung) der Tatbestand und die Rechtsfolge zusammengezogen werden. Diese Prämisse gipfelt dann in der geteilten Grundüberzeugung, dass die Beachtung der Verfassung die Anwendung einfachen Rechts leiten kann. Wird dabei der Wortlaut von Normen durch eine verfassungskonforme Auslegung sehr weit gedehnt72, kann der Verfassung auch zulasten des einfachen Gesetzes Vorrang eingeräumt werden. Diese Annahme bilden auch die Prinzipienkollisionen ab, durch die der Beachtung der Verfassung – und dort insbesondere der Grundrechte – auch gegenüber dem Wortlaut der einfachen Norm im Extremfall der Vorrang eingeräumt wird.
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Beiden Verfahren geht es in der Konsequenz auch um dasselbe Ziel: Die Nichtanwendung des Gesetzes in bestimmten Einzelfällen. Das kann durch Ausschluss einer bestimmten Auslegung oder durch Nichtanwendung der vom Gesetz „zwingend“ vorgesehenen Rechtsfolge bzw. einer Interpretation des Wortlauts geschehen. Zu diesem Punkt U. Lembke, S. 238 ff. 68 Im Zusammenhang mit der verfassungskonformen Auslegung siehe auch U. Lembke, S. 88 ff. 69 Für die verfassungskonforme Auslegung so ausdrücklich etwa K. A. Bettermann, S. 18 f., und H. Bogs, S. 17 ff. 70 P. Häberles These, dass Verfassungsrecht weitgehend durch Gesetzesrecht konkretisiert werde (etwa in Form des Verfassungsprozessrechts als konkretisiertes Verfassungsrecht; dazu P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 633 ff.), steht dazu nicht in Widerspruch. 71 Dazu etwa Schlaich / S. Korioth, Rn. 446. 72 Erinnert sei erneut an die Gültigkeit der Anmeldefrist für Spontan- und Eilversammlungen, vgl. E. II. 1.
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Die Verständnisse sind damit von einer hohen Identifikation mit dem Grundgesetz und einem starken Durchsetzungswillen zur Verfassung gekennzeichnet.73 Gesetzes(text)relativierungen werden nicht leichtfertig in Kauf genommen, sondern unter dem (gemeinsamen) Ziel, der Durchsetzungsstärke der Verfassung, als notwendiges Übel angesehen – es kommt also aus Verfassungsgründen74 zu einer Nichtanwendung der Norm bzw. der nach dem gesetzlichen Wortlaut vorgegebenen Rechtsfolge. Der Vorrang der Verfassung wird letztlich sehr ernst genommen: Die Treue zur Verfassung steht über der Treue zum einfachen Gesetz.75 c) Der Grundsatz der Normerhaltung (favor legis) Der grundsätzliche Wille zur Erhaltung von Normen stellt eine weitere Gemeinsamkeit von verfassungskonformer Auslegung und Rechtsfolgenkorrektur dar.76 Der sog. favor legis zeichnet sich dadurch aus, dass eine Norm, für die die grundsätzliche Vermutung der Verfassungsmäßigkeit spricht77, nicht leichtfertig dem Postulat der Verfassungswidrigkeit hingegeben wird, sondern unter allen methodisch und verfassungsrechtlich zulässigen Mitteln versucht wird, diese zu erhalten.78 Zur Erreichung dieses Ziels bieten alle drei Prozesse das Handwerkzeug: So bemüht sich die verfassungskonforme Auslegung darum, im Extremfall nur eine einzige unter zahlreichen Auslegungsvarianten zu finden, die verfassungsgemäß 73
Insoweit ist die Feststellung H. Bogs’, S. 137 ff., insbesondere unbestimmte Rechtsbegriffe seien Einfallstore für die Wertungen der Verfassung, zu kurz gegriffen. Insbesondere die verfassungskonforme Auslegung bietet sich hierfür an. 74 Vgl. zu dieser Formulierung als Überschrift: U. Lembke, S. 301. 75 So auch K. A. Bettermann, S. 22: Es gehe um das Maximum an Verfassungstreue, nicht um das Maximum an Normtreue. R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 109: „Die Verfassung ist überdies nicht nur gleichrangiger, sondern vorrangiger Kontext der einzelnen Gesetzesnormen“. Ähnlich die bereits zitierte Entscheidung des VGH Kassel vom 28. Januar 2009, Az. 4 B 2166/08: Verwaltungsadressaten könnten sich gegen ein Verwaltungshandeln wehren, das einfaches Recht beachte, jedoch Verfassungsrecht missachte. Auch H.-D. Horn passim verlangt unter Umständen die Durchsetzung der Grundrechte gegenüber der einfachen Norm. A. A. ist M. Wehr, S. 185: „[Es ist] der Exekutive aus kompetentiellen Gründen untersagt, die Gesetzesbindung gegen die Verfassungsbindung ‚auszuspielen‘ und sich unter Berufung auf das Grundgesetz (…) gesetzgeberischen Entscheidungen zu widersetzen. Die Beurteilung dessen, was im jeweiligen Fall verfassungsgemäß – oder allgemeiner: rechtmäßig – ist, steht im Verhältnis von Exekutive und Legislative in Ansehung förmlicher Gesetze alleine der letztgenannten Gewalt zu.“ 76 Siehe H. Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG § 31, Rn. 263, Fn. 1018; Schlaich / S. Korioth, Rn. 443; A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 183, und R. Zippelius, FS-BVerfGG, S. 110 ff.; jeweils mit Nachweisen auch zum Begriff „favor legis“. Für die Schweiz siehe E. Campiche, S. 6 ff. 77 U. Lembke, S. 73 ff. m. w. N. Auch diesen Punkt darstellend H. Bogs, S. 21 f.; E. Campiche, S. 8 ff, sowie R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 111. Siehe auch K.-H. Hall, DÖV 1965, S. 553. 78 Der Gedanke einer „rechtskonformen Auslegung“ taucht nicht nur im Öffentlichen Recht auf. Das Zivilrecht kennt zum Beispiel die Diskussion um die geltungserhaltende Reduktion bei AGB-Klauseln. Siehe etwa A. Geroldinger, ALJ 2015, S. 196 ff. m. w. N. Dazu auch T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 176.
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ist, damit die geschriebene Norm für verfassungsgemäß erklärt werden kann. Das Abwägungsmodell stößt in dieselbe Richtung vor, indem bei der Bestimmung einer Rechtsfolge durch die Verwaltung die als Prinzip verstandene Gesetzesbindung der Abwägung gegenüber anderen Verfassungsbelangen geöffnet wird und danach im Einzelfall die verfassungsgemäße Rechtsfolge gewählt wird. Im Rahmen des Auslegungsmodells lassen sich Lösungen finden, die die Bestimmung einer verfassungskonformen Auslegung durch die Bestimmung einer mit sämtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes zu vereinbarenden Rechtsfolge unter Beibehaltung der Norm im Allgemeinen herstellen. Die Erhaltung der Norm dient dabei vor allem dem Schutz des Gesetzgebers. Dass diese Intention zwar nicht bestritten, das gewählte Mittel aber im Rahmen der Diskussion zur verfassungskonformen Auslegung von Kritikern für untauglich gehalten wird, ist an späterer Stelle noch genauer zu untersuchen.79 Die Konservierung gesetzgeberischen Schaffens bleibt ein vordringliches Anliegen aller Modelle. Dies dient auch der Schaffung von Rechtskontinuität, die der Rechtssicherheit zuträglich sein soll.80 d) Prozesse im Grenzbereich von Norminterpretation und (vorgezogener) Normenkontrolle Beide Diskussionen zeichnen sich schließlich auch durch ihre Bewegung im Grenzbereich von Norminterpretation und (vorgezogener) Normenkontrolle aus.81 Der Grat zwischen einer im Grundsatz zulässigen (und notwendigen) Auslegung einer Norm und einer im Grundsatz mindestens mit Vorsicht zu genießenden Fortbildung des Rechts kann schmal sein. Auf dieser Linie bewegt sich letztlich auch ein dynamisches Verständnis von Gesetzesbindung. Auch hier sind die Grenzen zwischen Interpretation und Kontrolle, Auslegung und Weiterentwicklung des Rechts fließend. Dies fußt letztlich auf der Erkenntnis einer lebendig interpretierten Verfassung, die ihren Akteuren Raum zur Gestaltung der Rechtswirklichkeit gibt. Die 79
E. II. 4. b). R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 111. Insoweit verfängt auch der Einwand von K. Naumann, DÖV 2011, S. 99 f., eine Ausbreitung der Verhältnismäßigkeit schwäche die Rechtssicherheit, nicht. Sofern sich sein Einwand ausschließlich auf die Uneinheitlichkeit der neuen Rechtsprechung bezieht, ist er allerdings berechtigt. Zum Einwand drohender Rechtsunsicherheit durch Abwägung siehe A. v. Arnauld, S. 258 ff. 81 Das bestreiten weder Unterstützer noch Kritiker der verfassungskonformen Auslegung. Besonders deutlich z. B. J. Burmeister, DVBl. 1969, S. 608, der insgesamt kritisch zur verfas sungskonformen Auslegung steht und davon ausgeht, dass sie sich „durch nichts von der Rechtskontrolle unterscheidet, die vom BVerfG im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens oder einer Verfassungsbeschwerde ausgeübt wird“. Als Vertreter für eine grundsätzlich der verfassungskonformen Auslegung nicht abgeneigt gegenüberstehenden Ansicht kann hier beispielsweise H. Simon, EuGRZ 1974, S. 87, gelten, der die verfassungskonforme Auslegung ein „akzessorisches Element des Normenkontrollverfahrens“ nennt. 80
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fließende Grenze zwischen Norminterpretation und Normenkontrolle82 zeichnet verfassungskonforme Auslegung genauso wie ein prinzipientheoretisch-geprägtes Rechtsfolgenbestimmungsverständnis und eine verfassungsgeleitete Norminterpretation aus. e) Eine dritte Stufe der Normbewertung: Zwischen Verfassungsmäßigkeit und Verfassungswidrigkeit Der verfassungskonformen Auslegung ist auch das Aufbrechen binärer Systeme83, so etwa die streng kategoriale Alternativenbildung zwischen Verfassungswidrigkeit und Verfassungsmäßigkeit84, zu verdanken. Es hat sich gezeigt, dass ein allzu stark ausgeprägtes Schwarz-Weiß-Denken in der Rechtswissenschaft in vielen Bereichen die Wirklichkeit nur unzureichend wiedergibt („Reduktion von Komplexität“85) und bei der Erfassung eher hinderlich als förderlich (die „verklarende Wirkung (kann) (…) aber in eine Verzerrung umschlagen“86) ist. Insoweit ist der Ansatz der verfassungskonformen Auslegung, Normen nicht in Gänze für verfassungswidrig, aber eben auch nicht in jeder Interpretationsvariante für verfassungsgemäß zu erklären, zu begrüßen. Diesen Gedanken greift letztlich auch das Verständnis einer anpassungsfähigen Gesetzesbindung auf, wenn die Bestimmung einzelner Rechtsfolgen verfassungsgeboten87 vom Wortlaut der Norm abweichen darf, ohne dass die Norm in toto für verfassungswidrig erklärt wird.88 Letztlich wird damit auch ein Zustand geschaffen, der sich – maßgeblich in Bezug auf die Bestimmung der Rechtsfolge, die aber schließlich bei der Bewertung der Verfassungsmäßigkeit einer Norm Teil der einheitlichen Bewertung 82
Diesen Vorwurf erhebt etwa K. A. Bettermann, S. 22, 26; zu einer weiteren Steigerung siehe S. 27 ff. 83 So etwa auch für die Paarbildung Verfassungsrecht / einfaches Recht L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 136 ff. Auf S. 140 heißt es: „[Die] überkommene Dichotomie zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht (ist) zu überwinden.“ 84 Grundlegend C. Bumke passim. Zahlreiche Nachweise für fragwürdige oder gar überkommene Dichotomien finden sich bei L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 141, Fn. 34. 85 L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 141. 86 L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 141. 87 Die verfassungsrechtliche Qualität des Gebots setzt sich angesichts der Normenhierarchie auch gegenüber widersprechenden einfach-rechtlichen Normen durch. So geht etwa § 73 Abs. 1 Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig-Holstein (SHVwG) von einem „zwingenden“ Normenverständnis aus. Die Norm fordert für die Anwendbarkeit des „pflichtgemäßen Ermessens“ nämlich, dass die Behörde in Abwägung der widerstreitenden Belange tätig werden kann, „soweit Rechtsvorschriften nicht bestimmen, dass oder in welcher Weise sie tätig zu werden hat“. Die Norm findet mit Blick auf die Ausübung des Ermessens „vorbildlich“ G.-C. v. Unruh, S. 55. Für weniger gelungen hält er insoweit das VwVfG des Bundes. 88 Niemals darf nur allgemein aus „Gerechtigkeitsempfinden“ vom Gesetz abgewichen werden. Zum Thema Gerechtigkeitsempfinden in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts siehe etwa I. Pernice, S. 631 ff.
II. Dynamisches Gesetzesbindungsverständnis und Auslegung
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der Verfassungsmäßigkeit ist – zwischen den beiden Polen verfassungsgemäß und verfassungswidrig bewegt. Eine Norm muss damit nicht in allen Situationen verfassungsgemäß sein, um in Gänze verfassungsgemäß zu sein. So wie für die verfassungskonforme Auslegung zumindest eine denkbare verfassungsgemäße Auslegungsvariante existieren muss, genügen in den hier entwickelten Modellen verfassungsgemäße Anwendungssituationen einer Norm, die keine Zweifel an deren Rechtsgültigkeit aufkommen lassen. Beide Phänomene führen zwar nicht zu einer Aufgabe der strengen Aufteilung in verfassungswidrig und verfassungsgemäß, aber doch zu einer Differenzierung. An Einzelfälle anpassungsfähige Lösungen lassen sich sowohl mit der verfassungskonformen Auslegung als auch mit einem dynamischen Gesetzesbindungsverständnis finden.89 f) Die Kongruenz zahlreicher Elemente Die aufgezählten Gemeinsamkeiten zwischen verfassungskonformer Auslegung und einem der Abweichung von der gesetzlichen Rechtsfolge offenen Verständnis zeigen die Ähnlichkeiten der Ansätze in vielen Punkten. Das hier entwickelte Modell teilt damit in seiner Grundrichtung zahlreiche Elemente der bereits geführten Diskussion zur Auslegung der einfach-rechtlichen Normen unter Beachtung der Verfassung. 3. Unterschiede zwischen verfassungskonformer Auslegung und einem flexiblen Gesetzesbindungsverständnis Die unbestreitbar große inhaltliche Verwandtschaft einer flexiblen Gesetzesbindung mit der verfassungskonformen Auslegung darf nicht den Blick dafür trüben, dass beide auch gravierende Unterschiede scheiden. Dies stellt keine Kritik oder gar Ablehnung der verfassungskonformen Auslegung dar. Die Neubestimmung der Gesetzesbindung bewirkt vielmehr eine Korrektur der gesetzlich angeordneten Rechtsfolge im Einzelfall. Die Rechtsfolgenkorrektur ist ein auf die Rechtsfolgenbestimmung bezogenes Instrument. Die verfassungskonforme Auslegung kann daher keines der hier gewählten Modelle ersetzen oder ist gar inhaltlich derart deckungsgleich, dass es die Problematik zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit bei „gebundenen“ Normen auflösen würde.
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K. A. Bettermann, S. 27 ff., erklärt darüber hinaus die verfassungskonforme Auslegung schließlich zu einer dritten Stufe der Normverwerfung, die neben der Nichtigkeitserklärung und der Unvereinbarkeitserklärung existiere. Auch dieser Gedanke lässt sich wohl auf eine flexible Gesetzesbindung übertragen.
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
a) Unterschiedliche Ausgangssituationen Ein wesentlicher Unterschied liegt in dem nach den jeweiligen Modellen verstandenen Verhältnis von Tatbestand und Rechtsfolge. Während die verfassungskonforme Auslegung danach fragt, ob die Auslegung einer Norm im Tatbestand zu einer im Ergebnis verfassungsgemäßen Rechtsfolge führt, spielt der Tatbestand für eine prinzipienhafte Gesetzesbindung eine untergeordnete Rolle. Das Abwägungsmodell kommt vor allem dann zum Tragen, wenn die Einschlägigkeit des Tatbestands einer „gebundenen“ Norm unterstellt werden kann. Das Auslegungsmodell stellt einen Mittelweg dar, indem es zwar – ähnlich der verfassungskonformen Auslegung – den Tatbestand unter Berücksichtigung der Rechtsfolge betrachtet. Es geht dann jedoch darüber hinaus und nimmt eine gemeinsame Auslegung von Tatbestand und Rechtsfolge vor, indem die Norm als Ganzes betrachtet wird, um durch Auslegung die im Einzelfall von der Verfassung gebotene Rechtsfolge zu ermitteln. Im Gegensatz zur verfassungskonformen Auslegung wird an dieser Stelle unter Umständen eine Rechtsfolgenkorrektur vorgenommen. Gegenstand der verfassungskonformen Auslegung können zwar auch Entscheidungen sein, in denen eine Tatbestandsauslegung bereits feststeht und die Auslegung der Rechtsfolge im Mittelpunkt steht.90 In diesen Fällen liegt dann eine dem Abwägungsmodell ähnliche Entscheidungssituation vor. Der Regelfall dürfte im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung aber die Interpretation von Tatbestandsmerkmalen sein91. Diese Fälle klammert das Prinzipienverständnis der Gesetzesbindung von vornherein aus, da es an den festgestellten Tatbestand anknüpft und danach die Rechtsfolgenkorrektur vorgenommen wird. Aufgrund dieser unterschiedlichen Fallkonstellationen stellt die verfassungs konforme Auslegung auch keine Alternative zu einem offenen Gesetzesbindungsverständnis dar. Nach bisherigem Verständnis könnte man bei „gebundenen“ Normen nämlich auf die Idee kommen, eine verfassungskonforme Auslegung im Tatbestand dergestalt vorzunehmen, dass aufgrund der unerwünschten Rechtsfolge bestimmte Sachverhalte aus dem Tatbestand herausgenommen werden.92 Auf diese Weise würde man indes nur erreichen, dass es zu einem weiteren schwer nachprüfbaren Vollzugsdefizit kommt, da die Behörde in problematischen Fälle durch „ver 90 So ist es etwa denkbar, dass bei der Auslegung eines Rechtsfolgenmerkmals Zweifel daran bestehen, ob eine Auslegung einer bestimmten Rechtsfolge mit der Verfassung in Einklang steht. Kann etwa die Polizei „die notwendigen Maßnahmen treffen“ (z. B. § 8 Abs. 1 PolG NRW), ist das Verfahren zur Bestimmung der verfassungskonformen Auslegung dazu geeignet, verfassungsmäßige von verfassungswidrigen Rechtsfolgen zu unterscheiden. 91 Zu denken ist an dieser Stelle etwa an § 35 Abs. 1 GewO, der voraussetzt, dass ein Gewerbetreibender unzuverlässig ist. Über die Auslegung dieses Begriffs der Unzuverlässigkeit kann im Einzelfall Streit entstehen und nach gängigem Verständnis wäre dieses Merkmal verfassungskonform auszulegen. 92 Das wiederum ähnelt der bereits oben angesprochenen Situation der teleologischen Reduktion.
II. Dynamisches Gesetzesbindungsverständnis und Auslegung
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fassungskonforme“ Tatbestandsauslegung untätig bliebe. Weiterhin wäre auch eine abgestufte Rechtsfolgenbestimmung, bei der neben der vollständigen Nichtanwendung der Rechtsfolge weitere Maßnahmen in Betracht kommen, nicht möglich. Zusammengefasst kommt es damit zu folgenden unterschiedlichen Entscheidungssituationen: Die verfassungskonforme Auslegung betrifft Fälle, in denen mehrere mögliche Auslegungen auf Tatbestands- und / oder Rechtsfolgenseite möglich sind. Je nach Ausgestaltung der Norm existieren dann nach konventionellem Verständnis regelmäßig eine (Situation der „gebundenen“ Norm) oder mehrere (Situation der Ermessensnorm) Rechtsfolgenoptionen. Das Abwägungsmodell spielt dann eine Rolle, wenn die Auslegung im Tatbestand bereits getroffen wurde, sodass es auf der Voraussetzungsseite nicht mehrere Auslegungsoptionen gibt. Im Rahmen des Auslegungsmodells wird die im Einzelfall unverhältnismäßige Rechtsfolge durch die Interpretation angepasst. Bei den letzten beiden Modellen kann es dann auf der Rechtsfolgenseite theoretisch durch die unterschiedlichen Rechtsfolgentypen mehrere Optionen geben. Besonders relevant sind indes Verwaltungsentscheidungen auf der Grundlage „gebundener“ Normen, da in diesen Fällen die Bestimmung der Rechtsfolge auf eine bestimmte Maßnahme beschränkt zu sein scheint. b) Einzelentscheidungen und Fallgruppenentscheidungen Letztlich äußern sich Situationen der verfassungskonformen Auslegung und der Rechtsfolgenkorrektur durch das Verständnis einer dynamischen Gesetzesbindung auch in der unterschiedlichen Geltungskraft, also der Entscheidungswirkung. Ein dynamisches Verständnis von Gesetzesbindung zeichnet sich bei der Bestimmung der Rechtsfolge dadurch aus, dass durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in jedem einzelnen Fall Gesetzesbindung und andere Verfassungsbelange in Ausgleich gebracht werden. Diese Vermeidung eines Übermaßes ist damit immer eine des Einzelfalls und kann – von exakt gleichen Fallkonstellationen abgesehen – immer nur inter partes gelten. Ob also etwa die Erklärung einer Aufhebung der Gaststättenerlaubnis unverhältnismäßig ist, bemisst sich an der konkreten Betroffenheit der Grundrechte des Verwaltungsadressaten. Im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung kommt es – von speziellen Einzelkonstellationen auch hier abgesehen – regelmäßig dazu, dass eine bestimmte Auslegung generell für unzulässig erklärt wird. Erinnert sei hier an die Abbedingung bzw. Verkürzung der Anmeldefrist bei Spontan- und Eilversammlungen93, die eine faktische erga-omnes-Wirkung dadurch erhält, dass sie für jeden Fall von Spontan- und Eilversammlungen gilt. Im Gegensatz zur verfassungskonformen Auslegung würde in den hier präferierten Modellen über die Aufweichung des Anmeldeerfordernisses bei Eil- und Spontanversammlungen nicht nach starren zeitlichen Grenzen entschieden, sondern in 93
Siehe hierzu: E. II. 1.
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
jedem Einzelfall untersucht, ob von der Anmeldung abgesehen werden bzw. die Anmeldefrist verkürzt werden müsste. Die Einzelfallkorrektur wirkt in diesem Falle normschonender, da nicht pauschal alle Eil- und Spontanversammlungen der gleichen von § 14 Abs. 1 VersG abweichenden Rechtsfolge unterliegen würden. Letztlich ist dieser Unterschied auch nur konsequent: Die flexible Bindung an das Gesetz zeichnet sich gerade durch ihre ausnahmslos einzelfallbezogene Betrachtung aus. Fallgruppen können dabei kaum relevant werden, weil die einzelfallbezogene Entscheidung erst durch die Verhältnismäßigkeit ermittelt werden muss. Die verfassungskonforme Auslegung könnte zwar theoretisch auch einzelfallbezogener aufgefasst und angewendet werden. Typischerweise werden durch die verfassungskonforme Auslegung aber Leitlinien vorgezeichnet, die sich eben durch generalisierende Anwendungssituationen auszeichnen. Sie dient damit der Vorentscheidung in ähnlich gelagerten Fallkonstellationen. c) Unterschiedliche Grenzen: Prinzipienkollisionsauflösungen auch jenseits des Wortlauts des Gesetzes und des gesetzgeberischen Willens Ein gravierender Unterschied besteht schließlich auch in den unterschiedlichen Grenzen der beiden Verständnisse.94 Sie sind in ihren Grundwirkungen zwar ähnlich. Insbesondere ist mit beiden eine Teilkassation ohne Normtextänderung, aber auch eine auf Normerhaltung ausgerichtete Noch-Verfassungsmäßig-Erklärung verbunden.95 Unterschiedlich gesetzt werden bei den Verfahren aber die Grenzen der Zulässigkeit. Bei der verfassungskonformen Auslegung wird nach wohl herrschender Meinung der Wortlaut96 der Norm als eine Grenze der Auslegung angesehen.97 Neben den grundsätzlichen hermeneutischen Zweifeln an der Eignung des Wortlauts einer Norm für eine trennscharfe Grenzziehung der Auslegung98 und Zweifeln an den Grenzen der Wortlautgrenze99, begnügt sich ein flexibles 94
Darauf weisen auch V. Mehde, DÖV 2014, S. 545; K. Naumann, DÖV 2011, S. 98, sowie T. Westerhoff, S. 120, hin. 95 Zu beiden Voraussetzungen siehe H. Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, § 31, Rn. 258. 96 Allgemein zum „möglichen Wortsinn“ als Grenze der Auslegung siehe nur H.-J. Koch, S. 85 ff. 97 Statt vieler Schlaich / S. Korioth, Rn. 449; A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 185 f. und R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 115 f. Ebenso wohl das Bundesverfassungsgericht bspw. in E, 87, 209, 224; 92, 1, 10; 110, 226, 267. Einen Überblick gibt auch U. Lembke, S. 119 ff. Eine weitergehende Auslegung befürwortend: L. Michael / Morlok, Rn. 90. Wenn H. Bogs, S. 46 ff., von der „Gesetzesergänzung aus der Verfassung unter Beachtung des wesentlichen Normsinnes ohne Anhalt im Wortlaut“ schreibt, meint er damit wohl eher Fälle, die mit der gesetzlichen Analogiebildung bzw. der teleologischen Reduktion zu vergleichen sind. 98 Schlaich / S. Korioth, Rn. 449, Fn. 174; A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 186 f., und U. Lembke, S. 121 ff.; jeweils m. w. N. 99 Vgl. R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 116, sowie H. Hofer-Zeni, S. 69 ff., insbesondere S. 78 ff.
II. Dynamisches Gesetzesbindungsverständnis und Auslegung
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Gesetzesbindungsverständnis mit einer derartigen Feststellung gerade nicht. Der Wortlaut der Norm bildet demnach im Rahmen der prinzipienhaften Gesetzesbindung nur einen Entscheidungsbelang (mit Vermutungswirkung) unter mehreren bei der Bestimmung der Rechtsfolge.100 Bei einer Rechtsfolgenkorrektur tritt an diese Stelle die Rechtssicherheit im Rahmen der verfassungsgeleiteten Auslegung. Andere Verfassungsbelange können nämlich zu einem Abweichen auch von der „gebundenen“ Norm führen. Entscheidungen werden demnach auch über den Wortlaut hinaus möglich, um der Einheit der Verfassung Rechnung zu tragen. Im Einzelfall kann das Bemühen um Normkonservierung die Normdeutung berühren.101 Eine einzelfallbezogene Rechtsfolgenkorrektur kann sich zur Durchsetzung der Verfassung auch gegen den historischen oder aktuellen Willen des Gesetzgebers stellen. Das kann auch Fälle treffen, in denen der Gesetzgeber explizit eine verfassungskonforme Abweichung vom Gesetz(eswortlaut) in Härtefällen ausschließen möchte. So war – wie bereits dargestellt – im Regierungsentwurf zur ersten Schaffung eines Ausländergesetzes zu § 9 Abs. 1 AuslG, der die Ausweisung beinhaltete, ausnahmslos eine Ermessensentscheidung mit aufgezählten Ausweisungsgründen vorgesehen. § 9 Abs. 2 AuslG war folgendermaßen geplant: „In den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1, 2, 6 und 7 kann nicht geltend gemacht werden, eine Ausweisung sei nicht das angemessene Mittel.“102 Es handelte sich somit um einen gesetzlich angeordneten Fall des Ausschlusses des Verhältnismäßigkeitseinwandes103. In der ursprünglichen Regierungsbegründung hieß es dazu104: „In der Praxis wird das Gewicht der Ausweisungstatbestände nicht immer richtig eingeschätzt. Mit allgemeinen Erwägungen werden ausländerrechtlich vorgeschriebene Maßnahmen unterlassen. Der Hinweis auf mangelnde Verhältnismäßigkeit der Mittel wird dazu benutzt, um von Ausweisungen abzusehen, durch die der Ausländer im Einzelfall – wenn auch durch eigene Schuld – hart getroffen wird, obwohl die Ausweisung zur Wahrung der Belange der Bundesrepublik Deutschland oder der Allgemeinheit erforderlich ist. Nach dem Entwurf ist eine Ausweisung in den angeführten Fällen des Absatz 2 stets gerechtfertigt.“ Nach klassischem Verständnis ist in diesen Fällen eine verfassungskonforme Auslegung gegen den Willen des Gesetzgebers nicht möglich. Entweder ist die Norm in der Interpretation des Gesetzgebers verfassungsgemäß oder muss verworfen werden. Eine flexiblere Gesetzesbindung ermöglicht auch hier zur Durchsetzung der Verfassung in Einzelfällen dennoch eine Korrektur 100 H. Simon, EuGRZ 1974, S. 85, etwa erklärt die verfassungskonforme Auslegung in diesen Fällen nicht für anwendbar, wenn er die Auslegungsfähigkeit eines Gesetzes als eine Voraussetzung für eine verfassungskonforme Auslegung erklärt und diese ausscheide, wenn eine Norm eindeutig sei. 101 So zitiert bei Schlaich / S. Korioth, Rn. 449, als eine Grenze der verfassungskonformen Auslegung. 102 BT-Drs. 4/868, S. 3. 103 Zu Bedenken des Bundesrates siehe BT-Drs. 4/868, S. 21; kritisch auch der zuständige Innenausschuss, vgl. BT-Drs. 4/3013, S. 5. Aufgrund dieser Zweifel wurde die Einschränkung noch im Gesetzgebungsverfahren gestrichen. 104 BT-Drs. 4/868, S. 14.
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der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge. Würde von der vorgesehenen Rechtsfolge zu oft abgewichen, ist die Norm verfassungswidrig. Das hat der Gesetzgeber – in Übereinstimmung mit dem herrschenden Verständnis – dann zu akzeptieren. d) Keine Notwendigkeit der Bindung an die fachgerichtliche höchstrichterliche Rechtsprechung bei der Bestimmung der Rechtsfolge Es wird darüber hinaus hinlänglich diskutiert, ob das Bundesverfassungsgericht bei der Vornahme einer verfassungskonformen Auslegung an die einfach-recht liche Auslegung einer gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung gebunden sein soll.105 Es handelt sich dabei letztlich um einen Versuch der Antwort auf das Problem der Vermengung von Rechtsfindung und -kontrolle.106 Die Antwort wird dabei auch im Verhältnis von Verfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit gesucht.107 Dieses Problem stellt sich im Falle des verfassungsgebotenen Dispenses von der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge nicht, weil es dort nur um die Auflösung verfassungsrechtlicher Konflikte geht. Im Auslegungsmodell wird zwar auch eine Auslegung der einfach-rechtlichen Norm vorgenommen. Diese wird jedoch durch die Verhältnismäßigkeitsprüfung gerade für den Einzelfall vorgenommen und ist daher nicht auf andere Fälle übertragbar. e) Wesentliche Divergenzen Die Unterschiede zwischen der verfassungskonformen Auslegung und dem flexiblen Verständnis von Gesetzesbindung sind zwar nicht überragend groß, aber in ihrer Qualität doch beachtlich. Besonders die Grundentscheidungssituationen weichen voneinander ab. Die Situationen, in denen verfassungsrechtlich problematische Fälle bei der Rechtsfolgenbestimmung auftreten, spielen zudem zahlenmäßig eine geringere Rolle und überschneiden sich teilweise mit der verfassungskonformen Auslegung. Nicht zuletzt die unterschiedliche Grenzsetzung der verschiedenen Konstrukte, die sich im Verständnis einer mehr oder weniger strengen Wortlautgrenze manifestiert, lässt die Abweichungen der Modelle voneinander in einem entscheidenden Punkt deutlich werden.
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Dafür etwa K. A. Bettermann, S. 33 ff., sowie A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 196 f. Trotz gewisser Sympathien im Ergebnis kritisch H. Simon, EuGRZ 1974, S. 90 f. Siehe ferner U. Lembke, S. 101 ff. H. Bogs, S. 28 ff., scheint diesen Gedanken (kritisch) aufzugreifen, wenn er über die Befugnis des Normenkontrollrichters zu einer verfassungskonformen Gesetzesinterpretation schreibt. Siehe auch J. Burmeister, S. 110 ff. m. w. N. 106 J. Burmeister, DVBl. 1969, S. 608. 107 Ebenso stellt sich spiegelbildlich die Frage, ob die Fachgerichte an die Feststellung einer verfassungskonformen Auslegung gebunden sein sollen. Siehe nur U. Lembke, S. 104 ff.
II. Dynamisches Gesetzesbindungsverständnis und Auslegung
141
4. Die Übertragbarkeit von Argumenten aus der Diskussion über die verfassungskonforme Auslegung Die Diskussion zur Zulässigkeit der verfassungskonformen Auslegung hat Argumente und Gegeneinwände hervorgebracht, die auch beim Abwägungs- und Auslegungsmodell relevant sind. a) Die Einheit der Rechtsordnung als verbindendes Ziel Die rechtswissenschaftliche Literatur ringt um die Frage, welchen verfassungsrechtlichen Aufhänger die verfassungskonforme Auslegung haben kann bzw. welchem verfassungsrechtlichen Ziel sie eigentlich dienen kann bzw. soll. Diese Suche ist nicht zu unterschätzen, weil eine ausdrückliche positiv-rechtliche Verankerung der verfassungskonformen Auslegung nicht möglich ist108. Für gewöhnlich wird in diesem Zusammenhang die Einheit109 (alternativ110 oder kumulativ111: die Widerspruchsfreiheit) der Rechtsordnung angeführt. Die ungebrochene Verfassungsdurchsetzung ist das Ziel der verfassungskonformen Auslegung, wobei die Durchsetzung der Verfassung durch die Auslegung der einfachen Gesetze zu erreichen versucht wird. Der ehemalige Verfassungsrichter H. Simon bringt dies in den zusammenfassenden Worten auf den Punkt: „In diesem allgemeinen Sinn gilt unser Grundsatz für jede Auslegung, also auch dort, wo nicht generell die Gültigkeit einer Norm strittig ist, sondern wo es lediglich darum geht, eine in ihrer Gültigkeit nicht bezweifelte Norm für die Entscheidung eines konkreten Einzelfalles auszulegen.“112 Diese Darstellung erhellt den Blick auf das eigentliche Ziel der verfassungskonformen Auslegung, das sich auf das hier entwickelte Modell übertragen lässt: Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung im Stufenbau113 ergibt sich aus der Feststellung der partiellen Verfassungswidrigkeit der Norm in bestimmten Situationen oder Auslegungsvarianten. Das ändert aber nichts an der Determinationskraft des Gesetzes im Allgemeinen und stellt auch nicht die Gestaltungsfähigkeit
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Versuche, diese doch zu konstruieren, lassen sich bei U. Lembke, S. 98 ff., nachvollziehen. Ablehnend H. Bogs, S. 24. 109 Statt vieler H. Bogs, S. 22 ff.; E. Campiche, S. 12 ff.; K. Hesse, Rn. 81; U. Lembke, S. 82 ff., und A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 183. Nachweise aus der Rechtsprechung finden sich bei J. Burmeister, S. 85 ff. Kritik zu diesem Ziel findet sich bei J. Burmeister, S. 87 ff. 110 So an früherer Stelle H. Simon, EuGRZ 1974, S. 86. 111 An späterer Stelle H. Simon, EuGRZ 1974, S. 91. So wohl auch R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 109: „Kontext (…) der gesamten Rechtsordnung“ sowie „teleologisch widerspruchsfrei (…), daß sie also auch nicht widerstreitenden Zwecken dienen“. 112 H. Simon, EuGRZ 1974, S. 86. (Hervorhebung im Original) 113 Siehe E. II. 2. b).
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
gesetzgeberischen Handelns in Frage. Gerade durch die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit an der Norm selbst wird eine widerspruchsfreie Rechtsordnung ermöglicht. b) Die Schonung des Gesetzgebers Kaum ein Argument scheint die Befürworter und die Kritiker der verfassungskonformen Auslegung so sehr zu spalten wie die Schonung des Gesetzgebers.114 Während sie von den Einen115 leidenschaftlich propagiert und in der Realität als umgesetzt erachtet gesehen wird, bestreiten Andere116 diese Schonung und sehen gar Anhaltspunkte für eine exakt konträre Entwicklung in Form einer Missachtung und Überforderung der Legislative.117 Auch für ein Verständnis, das Dispense118 vom Wortlaut der „gebundenen“ Norm im Einzelfall gestattet, kann man die Rücksichtnahme auf gesetzgeberische Interessen argumentativ ins Feld führen: Erklärt der Rechtsanwender nämlich nicht die Norm in ihrer Gesamtheit für verfassungswidrig, sondern nur im Einzelfall die Anwendung der im Rechtssatz vorgesehenen Rechtsfolge, führt diese Reduktion zur Beibehaltung der durch die Norm angeordneten Rechtsfolgen in allen übrigen Fällen. Die Eliminierung der einen streitigen Rechtsfolge bedeutet auch kein Präjudiz für andere Rechtsfolgensituationen. Insbesondere der der Norm innewohnenden Kernaussage wird im Umkehrschluss die Konformität mit der Verfassung bescheinigt und dadurch Rechnung getragen, dass die Norm in anderen Fällen für verhältnismäßig erklärt wird. Diese Berücksichtigung legislativer Bereiche vermeidet zugleich auch Kompetenzübergriffe119, wenn Normen nicht in jedweder Rechtsfolgenanordnung für verfassungswidrig gehalten werden, sondern das Verdikt der
114 H. Bethge, in: Maunz / Schmidt-Bleibtreu / Klein / Bethge, BVerfGG, § 31, Rn. 263 ff. m. w. N. Kritisch für das hier gewählte Thema ist auch K. Naumann, DÖV 2011, S. 100. 115 Statt vieler H. Simon, EuGRZ 1974, S. 86; C. Walter, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 93, Rn. 112; W. Löwer, in HStR III, § 70, Rn. 126. 116 Neben K. A. Bettermann, S. 46 ff., lässt sich die Kritik auch bei A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 183 f., nachvollziehen. 117 V. Mehde, DÖV 2014, S. 545, geht ebenfalls davon aus, dass sich durch eine ausgebreitete Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das Risiko für verfassungswidrige Normen „signifikant“ reduziere, was wiederum den Gesetzgeber schont. 118 Eine Dispensbefugnis vom Gesetz zugunsten der Regierung kennt etwa die schwedische Verfassung. Dort lautet im 11. Kapitel § 12: „Regeringen får medgiva undantag från föreskrift i förordning eller från bestämmelse som har meddelats med stöd av beslut av regeringen, om ej annat följer av lag eller beslut om utgiftsanslag.“ (Die Regierung kann von den Vorschriften einer Verordnung oder von einer Bestimmung, die aufgrund eines Regierungsbeschlusses erlassen wurde, Ausnahmen genehmigen, sofern das Gesetz oder der Beschluß über die Bewilligung von Mitteln nichts anderes besagt.) Übersetzung von: http://www.verfassungen.eu/sw/ schweden75.htm. Die Regelung wird auch erwähnt bei A. Bleckmann, DÖV 2003, S. 155. 119 A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 185 ff.
II. Dynamisches Gesetzesbindungsverständnis und Auslegung
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Unverhältnismäßigkeit nur aus sich durch die Situation des Einzelfalls ergebenden Umständen gefolgert wird120. Diesem Verständnis wird im Rahmen der Diskussion zur verfassungskonformen Auslegung entgegengehalten, es widerspreche dem gesetzgeberischen Ziel in höherem Maße, wenn seine Anordnungen in Einzelfällen durch Auslegung (bzw. hier: durch den Dispens der Rechtsfolge) unterlaufen würden. Insoweit sei ein klarer Schnitt, eine Zurückweisung an den Gesetzgeber, der sauberere Weg. Werde der Gesetzgeber gewissermaßen mit dem Scheitern seines eigenen Handelns konfrontiert, könne er durch eine bewusste Neuregelung seinen erneuerten Willen zum Ausdruck bringen. Diese auch dem flexiblen Gesetzesbindungsverständnis wohl entgegenzubringenden Einwände überzeugen indes nicht. Insbesondere verkennt der Glaube an den vermeintlich harten sauberen Schnitt, dass Optionen zur Neuregelung durch den Gesetzgeber durch ein dynamisches Verständnis von Gesetzesbindung trotzdem bestehen. Sind gesetzgeberische Freiheiten zwar nicht unbegrenzt, so doch aber sehr weitgehend und Einschränkungen nur maßvoll möglich, steht es dem Gesetzgeber frei, eine in der Auslegung bzw. Rechtsfolgenbestimmung zu seinem Missfallen ausgeführte Norm durch eine stärkere Präzisierung oder Verbesserung abzuändern.121 Die Norm wird dann entweder wirklich anders ausgeführt oder wegen ihrer (dann eindeutigen) Verfassungswidrigkeit verworfen. Beide Zustände sind indes auch durch „harte saubere Schnitte“ nicht vermeidbar. Es muss also der Gesetzgeber auf eigene Initiative tätig werden, wenn ihm die Rechtsanwendung der Normen missfällt. In der Praxis wird es regelmäßig schwierig sein, eine passende Formulierung zu finden, wenn Normen, die bei nur einer Rechtsfolgenanordnung unverhältnismäßig sind, in Gänze neu erlassen werden müssen.122 Insoweit ist es wirklich schonender, die Norm in dem weiten Bereich ihrer unproblematischen Anwendung auch in Geltung zu lassen. Es besteht nämlich nicht nur die Gefahr, dass andernfalls Lücken drohen123 und Entscheidungsspielräume für Gesetzgeber und Behörden zu
120 Natürlich ist der Grat zu einer Übernahme gesetzgeberischer Befugnisse schmal. Deshalb spricht der der verfassungskonformen Auslegung ansonsten auch positiv gegenüber gestimmte H. Bogs, S. 82 ff., in Einzelfällen von einer „mißbräuchliche(n) Anwendung des Grundsatzes der verfassungskonformen Auslegung“. 121 Zum legislativen Rückholrecht siehe E. III. 3. b). 122 V. Mehde, DÖV 2014, S. 545, geht ebenfalls von einer Entlastung des Gesetzgebers für den Fall aus, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch bei „gebundenen“ Normen geprüft werden kann. 123 Für die verfassungskonforme Auslegung A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 183. Ebenso H. Simon, EuGRZ 1974, S. 86: Es werde „durch diese verfassungskonforme Auslegung (…) von der Absicht des Gesetzgebers das Maximum dessen aufrechterhalten, was nach der Verfassung aufrechterhalten werden könne.“ Ähnlich R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 111: Es gelte „ein normatives Vakuum zu vermeiden“.
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stark verengt werden124, die der Gesetzgeber sicherlich nicht beabsichtigt hat. Der Gesetzgeber wird auch dadurch übermäßig beansprucht, dass den Gerichten eine Vielzahl an Fällen zur Entscheidung vorgelegt werden, und diese über die Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG eine Verwerfung der Norm herbeiführen können, weil die Norm auch nur in dem einen Fall nicht der Verfassung entspricht. Die gesetzgeberischen Prozesse sind in der Regel langwierig und durch Diskussionen und Kompromissbildung gekennzeichnet. Das produziert einen erheblichen Aufwand und konfrontiert den Gesetzgeber mit einem weiteren Problem: Vielfach wird er die Normen gar nicht ändern können und wollen. Die meisten Normen werden nämlich verfassungskonform sein und nur in einem Bruchteil der Anwendungsfälle verfassungswidrige Ergebnisse erzeugen. Dann bringt der „harte klare Schnitt“ durch die Zurückweisung aber nichts, weil der Gesetzgeber keine echte Neuregelung bewirken kann und will.125 Normen werden eben für den Normalfall und nicht für den extrem atypischen Sonderfall gemacht.126 Zur Berücksichtigung letzterer muss es Vorkehrungen im Verfahren wie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz geben.127 Es droht in diesen Fällen vielmehr ein anderer Effekt: Der Gesetzgeber wird sich aus der Sorge von der Unverhältnismäßigkeit im atypischen Einzelfall in allgemeinere und generalklauselartigere Normen flüchten. Das evoziert neue Probleme mit Blick auf die Bestimmtheit von Normen.128 Als Alternativvorschlag zur Beibehaltung der Norm unter Ausschaltung einer Auslegungsvariante könnte eine Abwägung zwischen Normerhalt und Normgeltung in Betracht kommen.129 Gegen diese Abwägung ist dem Grunde nach nichts einzuwenden, da sie bereits bei der Auslegung bzw. der Rechtsfolgenbestimmung stattfindet: Ist die Norm nur im Einzelfall verfassungswidrig, ist sie geltungserhaltend zu reduzieren. Begegnet sie aber flächendeckenden, durchgreifenden Zweifeln an der Verfassungsmäßigkeit, ist sie als Ganzes als verfassungswidrig anzusehen. Dieses Verhältnis zwischen Normerhalt und Normgeltung kann als Teil der Abwägung bzw. Auslegung im Rahmen der Rechtsfolgenkorrektur herangezogen werden.
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U. Lembke, S. 185 ff., bedient sich deswegen im Anschluss an A. Merkl des Begriffs des „Fehlerkalküls“. 125 Dieses Problem wird auch nicht durch Härtefallklauseln gelöst. Siehe hierzu B. V. 1. 126 C. Schmitt, Legalität, S. 19, ist zu entnehmen, dass Normen nur im Normalfall Gültigkeit beanspruchen: Im Rechtsstaat gehe es darum, „vor allem die normale Situation zu schaffen (…)“. 127 Das verkennt T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 171, wenn er in dem Privileg des Gesetzgebers zu pauschalisieren, einen Widerspruch zur einzelfallbezogenen Korrektur des Gesetzes durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sieht. Siehe dazu insbesondere E. IV. 1. 128 Zu der misslichen Lage des Gesetzgebers siehe M. Beckmann, DÖV 1986, S. 506. 129 A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 184. Ähnlich für den Fall der Nichtanwendung einer Norm O. Bachof, AöR 87 (1962), S. 47. Eine derartige Abwägung fordert für die Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung von „gebundenen“ Normen auch C. Wellhöfer, S. 181.
II. Dynamisches Gesetzesbindungsverständnis und Auslegung
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Mit dem Verdikt der Unverhältnismäßigkeit der Norm sollte schließlich auch sparsam umgegangen werden. In Deutschland wurden nach dem Zweiten Weltkrieg beachtliche Erfolge damit erzielt, den Gesetzgeber eng auf die Verfassung zu verpflichten.130 Die Stigmatisierung verfassungswidrigen Handelns sollte nicht zuletzt aufgrund der Bloßstellung des Gesetzgebers zurückhaltend genutzt werden. Allein aus diesem Grund schont ein auf Normerhalt ausgerichtetes Konzept den Gesetzgeber.131 c) Die Grenzen aus Art. 100 Abs. 1 GG für Rechtsfolgenkorrekturen Die Kompetenz zur Herstellung verfassungskonformer Zustände steht bei der Diskussion um die verfassungskonforme Auslegung im Zentrum der Aufmerksamkeit.132 Diese Überlegungen haben eine hohe Relevanz, da sie der Frage auf den Grund gehen, wem im verfassungsrechtlich sensiblen Bereich der Gesetzes(interpretations)korrektur diese Befugnisse zustehen, wodurch Machtverschiebungen zwischen den Gewalten auftreten können. Für Kritiker133 einer Korrekturkompetenz jenseits des Bundesverfassungsgerichts liegt es nahe, auf Art. 100 Abs. 1 GG134 zu verweisen.135 Sei nur das Bundesverfassungsgericht zur Normverwerfung berechtigt und schreibe die Verfassung für die Fachgerichte diesen Umweg vor, verbiete es sich, auch jeden zur Normenkontrolle akzessorischen Prozess in die Hände anderer Instanzen zu legen. Aus diesen Gründen wird die Kompetenz zu einer Interpretation, die der Einheit der Verfassung Ausdruck verleiht, ausschließlich beim Bundesverfassungsgericht ge-
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Da die Anwendung insbesondere der Verhältnismäßigkeit auf den Gesetzgeber in der jungen Bundesrepublik – mit Blick auf die Erfahrungen der Jahrzehnte zuvor – noch nicht als abschließend gesichert gelten konnte, sind die Ausführungen zur Verhältnismäßigkeitsbindung des Gesetzgebers von R. v. Krauss, S. 42 ff., aus dem Jahr 1955 besonders interessant. Zur Bindung der Legislative an die Verhältnismäßigkeit siehe auch M. C. Jakobs, S. 133 f., der insoweit auf ein Begründungsdefizit hinweist. 131 U. Lembke, S. 78 ff., spricht von der „Achtung legislativer Entscheidungen durch Norm erhalt“. 132 Als Überblick eignet sich etwa U. Lembke, S. 63 ff. 133 So statt vieler J. Burmeister, S. 120 ff. 134 So etwa K. A. Bettermann, S. 31 f., und A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 181 f. Eine Verdrängung der Normenkontrolle durch die verfassungskonforme Auslegung stellt auch U. Lembke, S. 113, fest. Anderer Ansicht ist etwa H. Bogs, S. 32 f. Zum Zusammenhang von „gebundenen“ Normen und der Verhältnismäßigkeit, insbesondere zur Frage, ob eine Unverhältnismäßigkeit im Einzelfall eine Vorlagepflicht nach Art. 100 Abs. 1 GG auslöst, siehe auch T. Westerhoff, S. 131 ff. 135 Art. 100 Abs. 1 GG gilt schließlich auch nicht für untergesetzliche Rechtsnormen. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass umgekehrt für Parlamentsgesetze ein erhöhter Schutz gilt. Anderseits zeigt dieses Verständnis, dass die oftmals wichtigen Detailfragen in Rechtsverordnungen und Satzungen auch keinem Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts unterliegen, ohne dass dies zu einer unerträglichen Rechtszersplitterung führen würde.
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sehen, da dessen Kassationswirkung gegenüber Gesetzgebungsakten nicht durch eine Quasi-Kassationswirkung durch andere Instanzen unterlaufen werden dürfe. aa) Art. 100 Abs. 1 GG als verfassungsunmittelbare Prozessnorm Dagegen wurde von Befürwortern einer umfassend anzuwendenden Verfassungsdurchsetzung überzeugend argumentiert, dass dies den Charakter von Art. 100 Abs. 1 GG verkennt. Art. 100 Abs. 1 GG erfasst nämlich nicht bestimmte Auslegungen bzw. Auslegungsergebnisse.136 Die für die hiesige Untersuchung relevanten Aussagen gehen darüber aber noch hinaus: Art. 100 Abs. 1 GG stellt normhierarchisch selbst nur eine Verfassungsbestimmung dar – dazu noch eine des dienenden Prozessrechts. Verfassungsunmittelbare Prozessnormen treffen zwar Aussagen über die grundlegenden Kompetenzverhältnisse des Grundgesetzes. Das hier entwickelte Modell steht dazu aber nicht in Widerspruch, da es gerade die Verhältnisse der Verfassungsnormen untereinander berücksichtigt. Die Bestimmung einer verfassungskonformen Rechtsfolge, die sich auch gegen den „vorgegebenen“ Wortlaut einer Norm richten kann, kann damit rechtshierarchisch bereits nicht zwingend durch eine Prozessnorm des Verfassungsrechts unmöglich sein. Dient nämlich die Abweichung von der „gebundenen“ hin zu einer alternativen Rechtsfolge der Durchsetzung anderer Verfassungsbelange – und sogar noch der verfassungsrechtlich besonders bedeutsamen Grundrechte – sollte eine prozessuale Vorschrift dieses Verständnis nicht in Zweifel ziehen. Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus auch noch die Verfassungsbindung der rechtsanwendenden Gewalten137, erscheint der starke Rekurs auf Art. 100 Abs. 1 GG noch weniger zwingend. Gebietet die Verfassung eine andere Rechtsfolge und kann diese auch dadurch erreicht werden, dass nicht das gesetzgeberische Gesamtwerk verworfen, sondern nur ein Einzelfalldispens ermöglicht wird, muss nicht der Weg über eine konkrete Normenkontrolle gewählt werden. Art. 100 Abs. 1 GG stehen dann nämlich die anderen Verfassungsbelange gegenüber. Das ist auch in rechtsvergleichender Hinsicht anschlussfähig.138 bb) Die Bewahrung der Kernaussage der konkreten Normenkontrolle Art. 100 Abs. 1 GG wird deshalb auch nicht unterlaufen, weil seine Kernaussage erhalten bleibt. Die Norm schützt nämlich vor zu häufiger und uneinheitlicher Normverwerfung, dem unbegrenzten Ungültigerklären durch sämtliche 136
Dazu A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 185. H. Bogs, S. 24, leitet genau daraus eine positiv-rechtliche Verankerung der verfassungskonformen Auslegung ab. 138 Vgl. etwa H. Simon, EuGRZ 1974, S. 88: Die Verfassungsgerichte in anderen Ländern seien „nirgends exklusiv“ für die verfassungskonforme Auslegung zuständig. 137
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Fachgerichte.139 Haben die Gerichte – und an höchster Stufe das Bundesverfassungsgericht140 – durch den Instanzenzug und die breite Angreifbarkeit staatlicher Akte im Verfassungsgerichtsverfahren immer noch das letzte Wort, droht keine flächendeckende Nichtanwendung der Gesetze. Ist nämlich jede Abweichung vom Gesetz durch das Bundesverfassungsgericht in letzter Konsequenz überprüfbar, ist dem Telos von Art. 100 Abs. 1 GG ausreichend Rechnung getragen. Ganz im Gegenteil, kommt diesem Schlussakt durch das Bundesverfassungsgericht gerade die Kraft des letzten Wortes zu. Dass sich derartige Verfahren in zeitlicher Hinsicht als langwierig gestalten, ist eine Konsequenz des Rechtsstaats und in Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG der Normalfall. Diese Kontrolle ist zudem bei belastenden „gebundenen“ Normen ohne Drittwirkung faktisch eingeschränkt, da niemand Klage erheben wird, wenn die Behörde im Wege der Tatbestandauslegung die Norm unangewendet lässt. In solchen Fällen ermöglichen aber gerade die hier entwickelten Modelle eine präzisere Rechtsdurchsetzung, indem sie auf legaler Basis weniger einschneidende Maßnahmen als die bloße Nichtanwendung des Gesetzes ermöglichen, die wiederum Gegenstand gerichtlicher Verfahren sein können. Außerdem erlangt das Verfahren der Maßnahmenbestimmung durch die den beiden Modellen immanenten prozeduralen Vorkehrungen141 einen weiteren Öffentlichkeitsbezug und eine verstärkte Kontrolle durch die Verwaltungshierarchie. cc) Das Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts Darüber hinaus bleibt der Schutzzweck des Art. 100 Abs. 1 GG durch ein dynamisches Gesetzesbindungsverständnis unangetastet und wird sogar gestärkt: das Normverwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts.142 Bleibt eine Norm trotz im Einzelfall abzuweichender Rechtsfolge gültig und kann nur das Bundesverfassungsgericht eine Norm in Gänze für verfassungswidrig erklären, wird auch der Gesetzgeber vor einer flächendeckenden Nichtanwendung geschützt. Kann aber kein Gericht (außer des Bundesverfassungsgerichts) und keine Verwaltungseinheit dieses Landes eine Norm für verfassungswidrig und damit nichtig erklären, bleibt dem Bundesverfassungsgericht diese Kernkompetenz erhalten. Schließlich besitzt das Bundesverfassungsgericht nur das Monopol zur Verwerfung, nicht zur Aus 139 Daran zeigt sich auch erneut die Zulässigkeit einer Nichtanwendungskompetenz der Verwaltung von verfassungswidrigen Normen (E. I. 8.). Die Verwaltung (aber auch ein Fachgericht) kann Gesetze nämlich nicht für nichtig erklären. 140 Das Bundesverfassungsgericht behalte bei der verfassungskonformen Auslegung laut H. Simon, EuGRZ 1974, S. 88, „mittelbar das letzte Wort“. 141 Vgl. E. I. 7. 142 Insoweit ist auch im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung streng zwischen einem richterlichen Prüfungsrecht und einem Verwerfungsrecht zu unterscheiden. Statt vieler U. Lembke, S. 50 ff. Zum Zusammenhang von Verhältnismäßigkeit und Verwerfungsmonopol siehe R. Dechsling, S. 130 ff.
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legung.143 Für die Gerichte und die Verwaltung entsteht ein Verbot zur Anwendung von Gesetzen, die das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt hat. dd) Verbleibender Anwendungsbereich für Art. 100 Abs. 1 GG Aber auch aus der Perspektive der Fachgerichte bleibt für Art. 100 Abs.1 GG ein nicht zu unterschätzender Anwendungsbereich: Es macht nämlich einen Unterschied, ob ein Gericht eine Norm für verfassungsgemäß, die vorgesehene Rechtsfolge im Einzelfall aber für unverhältnismäßig hält, oder eine Norm insgesamt für verfassungswidrig erachtet, zumal Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG als nicht sonderlich erfolgsträchtig gelten.144 Das Gericht muss im zweiten Fall die Norm nach wie vor dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen. In diesen Fällen ist kein Raum für eine verfassungskonforme Rechtsfolgenbestimmung, weil die Norm insgesamt nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist. Art. 100 Abs. 1 GG ist damit enger als bislang auszulegen und behält seinen Hauptanwendungsbereich: Fälle, in denen Fachgerichte von der (ausnahmslosen) Verfassungswidrigkeit einer Norm überzeugt sind. ee) Die konkrete Normenkontrolle im System der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Das zu wandelnde Verständnis von Art. 100 Abs. 1 GG beinhaltet noch eine weitere Komponente: Das Verfahren der konkreten Normenkontrolle ist nicht zuletzt aufgrund seiner Anordnung in einer eigenen Vorschrift außerhalb des enumerativen Katalogs des Art. 93 GG auch als eine Kompetenznorm des Bundesverfassungsgerichts zur Normverwerfung zu verstehen.145 Dieser Zuweisungsgehalt wird durch die Möglichkeit zur Rechtsfolgenkorrektur nicht streitig gemacht. Auf diese Weise stellt die konkrete Normenkontrolle eher eine Komplettierung der abstrakten Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG hin zu einer einheitlichen Normenkontrolle dar; es besteht lediglich die Besonderheit, dass der um die Fachgerichte erweiterte Kreis der Antragsberechtigten dadurch begrenzt wird, dass eine zusätzliche Sachentscheidungsvoraussetzung (Entscheidungserheblichkeit der Normgültigkeit146) eingefügt wird. Der oft erwähnte Schutz des Gesetzgebers vor der Missachtung seiner Gesetze stellt ebenfalls ein Motiv dar.147 Da auch der Gesetzgeber durch ein verändertes Verständnis von Art. 100 Abs. 1 GG nicht schutzlos gestellt wird, dieser Schutz aber auf einem anderen Weg als herkömmlich angenommen 143
So auch A. Bleckmann, DÖV 2003, S. 157. Vgl. R. Zuck, in: Lechner / Zuck, BVerfGG, vor § 80, Rn. 10. 145 In diese Richtung ist wohl auch A. Arndt, DÖV 1959, S. 84, zu verstehen. A. A. wohl T. Westerhoff, S. 133. 146 Siehe zu dieser Voraussetzung Schlaich / S. Korioth, Rn. 146 ff. 147 Siehe hierzu E. II. 2. c). 144
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erreicht wird, besteht kein Anhaltspunkt dafür, von einer Umgehung des Art. 100 Abs. 1 GG auszugehen. ff) Der Schutzzweck der Normenkontrolle Streit besteht bei der Bestimmung der Rechtsfolge ohnehin nur hinsichtlich dieser Rechtsfolgenanordnung. Im Rahmen des Abwägungsmodells steht der Tatbestand außerhalb der Diskussion. Vor einer einzelfallbezogenen verfassungskonformen Ausgestaltung der Rechtsfolge kann der Gesetzgeber aber letztlich gar nicht geschützt werden, weil die Durchsetzung der Verfassung auch bei der Bestimmung der mit dem Grundgesetz übereinstimmenden Rechtsfolge aufgrund der Normhierarchie nicht zur Disposition des (einfachen) Gesetzgebers steht. Gesetzgeberische Interessen, die faktisch durchaus betroffen sind und abgemildert werden, können aber nur dann gefährdet sein, wenn die streitigen Kompetenzen auch dem Schutz des auf sie Berufenden dienen. Das ist bei der Rechtsfolgenanordnung zwar auch im Hinblick auf die Steuerungskraft des Gesetzgebers der Fall. Eine Abbedingung von Verfassungsbelangen durch einfach-rechtliche Rechtsfolgenanweisungen ist dem Gesetzgeber allerdings verwehrt. gg) Die Unzulässigkeit eines konkreten Normenkontrollverfahrens bei einer einzelfallbezogenen Rechtsfolgenkorrektur Schließlich wären in den hier diskutierten Fällen einer einzelfallbezogenen Unverhältnismäßigkeit auch gar nicht die Vorlagevoraussetzungen148 des Art. 100 Abs.1 GG erfüllt.149 Zum einen ist daran zu zweifeln, dass ein Fachgericht, das erkennt, dass eine Norm im Einzelfall zu einem unverhältnismäßigen Ergebnis kommt, wirklich von der Verfassungswidrigkeit überzeugt ist, da hier – anders als bei der abstrakten Normenkontrolle – Zweifel nicht genügen (unterschiedliche Intensität der Überzeugung).150 Zum anderen ist auch die Überzeugung von der die ganze Norm betreffenden Verfassungswidrigkeit nicht vorhanden, wenn sich lediglich die Zweifel auf die Verfassungskonformität auf die Einzelfallanwendung beziehen (unterschiedliche Bezugspunkte der Überzeugung der Verfassungswidrigkeit).151
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H. Dreier, Die Verwaltung 36 (2003), S. 108 ff., kommt zudem zu der Erkenntnis, dass das Bundesverfassungsgericht über die Jahre die Vorlagevoraussetzungen erheblich verschärft und so zu einem Rückgang der konkreten Normenkontrollverfahren beigetragen hat. 149 Es gilt daher auch die Regel: Die Unmöglichkeit zur verfassungskonformen Auslegung ist eine Voraussetzung einer zulässigen Normenkontrolle. U. Lembke, S. 61, mit zahlreichen Nachweisen aus der Verfassungsrechtsprechung. 150 Kritisch dazu A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 199 f. 151 So für die verfassungskonforme Auslegung wohl auch R. Zippelius, FS-BVerfG, S. 111.
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hh) Art. 100 Abs. 1 GG im Eilrechtsschutz Eine weitere Anleihe lässt sich auch beim Eilrechtsschutz im Verfahren von Art. 100 Abs. 1 GG nehmen. Fachgerichte müssen im vorläufigen Rechtsschutz eine streitige Norm nicht nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, sondern können selbst die Verfassungsmäßigkeit nach summarischer Prüfung bewerten.152 Andernfalls würde unter dem Zeitdruck wirksamer Rechtsschutz vereitelt, zumal das Bundesverfassungsgericht ohnehin das letzte Wort behält. Auch nach herrschendem Verständnis wird Art. 100 Abs. 1 GG nicht ausnahmslos eng verstanden. Die Aufgabe der verfassungskonformen Rechtsfolgenbestimmung ist nicht monopolistisch beim Bundesverfassungsgericht angesiedelt. ii) Kein Dispensverbot aus Art. 100 Abs. 1 GG Die kompetenzielle Zuordnung zur Rechtsfolgenbestimmung ist damit grundsätzlich aller staatlichen Gewalt zugeordnet. Das rechtfertigt sich auch aus einer nachhaltigeren Durchsetzung der Verfassung.153 Die Aufgaben sind dabei freilich verschieden. Die Rechtsfolgenkorrektur stellt sich vor allem als eine administrative Aufgabe dar und so liegt auch die Aufgabe, die verfassungskonforme Rechtsfolge anzuordnen, bei der Verwaltung. Die Fachgerichte erhalten die ihnen zugewiesene überprüfende Funktion. Das Bundesverfassungsgericht hat letztlich durch seine finale Stellung im nationalen Gerichtssystem „allenfalls das letzte Wort“154.155 d) Das Bundesverfassungsgericht als Superrevisionsinstanz Durch das flexible Gesetzesbindungsverständnis ist auch keine Aufweichung des vom Bundesverfassungsgericht postulierten Selbstverständnisses, keine Superrevisionsinstanz zu sein, verbunden.156 Ungeachtet der grundsätzlichen Zweifel, ob sich das Bundesverfassungsgericht nicht tatsächlich selbst in die Lage eines derartigen Letztgerichts in allen Verfahrenswegen gebracht hat157, bedeutet die Entwicklung 152
Dazu als Überblick aus der neueren Literatur M. Bode, VerwArch 107 (2016), S. 206 ff. m. w. N. 153 Darin erkennt H. Simon, EuGRZ 1974, S. 87, einen maßgeblichen Vorteil der verfassungskonformen Auslegung. 154 So für die verfassungskonforme Auslegung H. Simon, EuGRZ 1974, S. 87. 155 Beantwortet ist damit auch V. Mehdes, DÖV 2014, S. 548, Frage nach dem verbleibenden Nutzen von Art. 100 Abs. 1 GG. 156 So aber die Andeutung über die verfassungskonforme Auslegung bei J. Burmeister, DVBl. 1969, S. 608. 157 Skeptisch mit Blick auf die ohnehin „großzügige“ Prüfung von Entscheidungen statt vieler B. Schlink, FS-BVerfG, S. 461: Das Bundesverfassungsgericht sei „eine Superrevisionsinstanz zwar nur, wenn es will, dann aber mit der ganzen Intensität gerichtlicher Kontrolle und voller Integration in das Gerichtssystem“.
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eines unter Machtaspekten dezentralen Verständnisses einer Rechtsfolgenbestimmung mit einer starken Verlagerung von Kompetenzen auf die administrativen Entscheidungseinheiten und die Fachgerichte eine dezentrale Verwirklichung der Verfassung.158 Die eigentlichen Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichts werden im Vergleich zum Status quo dabei nicht beschnitten. Die frühzeitige Verhinderung verfassungswidriger Zustände durch die normimmanente Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit159 verringert nur das Bedürfnis in vielen Fällen, das Bundesverfassungsgericht anzurufen. e) Die Konfrontation des Gesetzgebers mit unverhältnismäßigen Einzelfällen Vereinzelt wird die Forderung geäußert, eine Korrektur des Gesetzes scheide aus „pädagogischen“ Gründen aus. Der Gesetzgeber solle viel mehr mit dem Scheitern seiner Bemühungen um verfassungsmäßige Gesetze konfrontiert werden und es beim nächsten Mal besser machen.160 Hingegen führt eine aus diesem Grund signifikant erhöhte Nichtigkeitserklärung von Normen wohl weniger zu einer Verbesserung von Normen, wenn es um verfassungswidrige Rechtsfolgen in Einzelfällen geht. So kann nämlich – wie bereits erörtert – der Gesetzgeber häufig keine Alternativnormen erschaffen, da die Kernaussagen der Rechtssätze Gültigkeit beanspruchen und auch Härtefallklauseln161 häufig nicht zu stärkerer Bestimmtheit führen. Die erhöhte Pflicht zur Beschäftigung mit den zahlreich verworfenen Normen kostete dem Parlament, das sich ohnehin schon nicht über zu wenig Arbeitsaufwand beschweren kann, auch eher Zeit, da es mit der Neuregelung von Normen beschäftigt wäre, die in Ausnahmesituationen nicht die treffende Rechtsfolge angeordnet haben. So interessant auch die Vorstellung eines auf stetige Selbstoptimierung gerichteten Gesetzgebers ist – der Anstoß dazu muss wohl vom Parlament als berufenem Verfassungsakteur selbst kommen.
158 B. Rüthers, S. 224 (14. Lehre), erkennt in der Verlagerung von Befugnissen vom Gesetzgeber auf die Stellen der Rechtsanwendung eine gefährlicher Entwicklung, die aufgrund der Erfahrung aus dem Nationalsozialismus abzulehnen sei. 159 C. Wellhöfer, S. 175 f., stellt durchaus überzeugend dar, dass eine „gebundene“ Norm, die bei Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur um ihrer selbst willen ausgeführt wird, den Zweck von Gesetzen insgesamt missachtet. Das Gesetz ist nämlich kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck: Gerechtigkeit herzustellen wird dann aber unmöglich, wenn ein im Einzelfall ungerechtes, weil unverhältnismäßiges, Gesetz ausgeführt wird. 160 So etwa C. Pestalozza, § 20, Rn. 9, Fn. 17 (S. 275 f.), und A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 189. 161 Siehe hierzu: B. V. 1.
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f) Restriktive Handhabung als Absicherung des Gesetzgebers Schließlich spricht auch die Quantität von Entscheidungen mit verfassungskonformer Auslegung für die hier entwickelte Betrachtung. Diese wird – trotz der breiten wissenschaftlichen Diskussion – in der Praxis wohl „eher restriktiv“162 gehandhabt. Auch für Abweichungen von „gebundenen“ Normen durch das hiesige Verständnis ist nichts Anderes zu befürchten. Alleine der Begründungsaufwand für Verwaltung und Rechtsprechung sowie die grundsätzliche Verhältnismäßigkeit von Normen führen dazu, dass Abweichungen vom „gebundenen“ Gesetz die Ausnahme sein werden. Flächendeckende Dispense vom Gesetz stehen also nicht zu befürchten. 5. Die verfassungskonforme Auslegung als Schwester der verfassungskonformen Rechtsfolgenbestimmung Verfassungskonforme Auslegung und das hier vertretene dynamische Verständnis von Gesetzesbindung sind wesensverwandte Diskussionen. Sie behandeln in ihrem Kern die Durchsetzung der Verfassung und damit denselben Grundgedanken. Dabei gehen sie über ein besonders restriktives Wortlautverständnis hinaus. Die Möglichkeit, von der gesetzgeberischen Rechtsfolge abzuweichen, ist somit zum einen eine Beschränkung der Diskussion der verfassungskonformen Auslegung auf die Rechtsfolgenbestimmung („verfassungskonforme Rechtsfolgenbestimmung“) und geht zudem über die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung hinaus (z. B. durch eine in Einzelfällen vorzunehmende Rechtsfolgenkorrektur163), weil die Rechtsfolgenbestimmung auch gegen den Wortlaut der Norm möglich ist. Unter Abwandlung der Formel des Bundesverfassungsgerichts164 zur verfassungskonformen Auslegung ist das Verständnis der dynamischen Gesetzesbindung somit die „Bejahung der Rechtsgültigkeit der Norm im Allgemeinen unter Ausschaltung der beanstandeten Rechtsfolgenanordnung165 im Besonderen.“
III. Rechtfertigungsfähigkeit einer Neubestimmung der Gesetzesbindung angesichts der Steuerungsmöglichkeiten des Gesetzgebers Die hier entwickelten Modelle haben keine dem Grundgesetz widersprechende Schwächung des Gesetzgebers zur Folge, sondern fügen sich in das verfassungsrechtliche Verhältnis vom Gesetzgeber zu den Rechtsanwendern ein. 162
A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 194. Kritisch zur „verfassungskonformen Gesetzeskorrektur“ etwa U. Lembke, S. 113 ff. m. w. N. 164 E 65, 132, 139. 165 Im Original, BVerfGE 65, 132, 139: Auslegung. Auch fand eine Anpassung an neue Rechtschreibregeln statt. 163
III. Rechtfertigungsfähigkeit einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
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1. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG als Grundentscheidung des Verfassunggebers Auch der Verfassunggeber hat zum Ausdruck gebracht, dass er einer rechtlichen Volldetermination der Verwaltung durch den Gesetzgeber kritisch gegenüber steht. An zentraler Stelle regelt Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG ein Verbot sog. Einzelfallgesetze, also solcher Normen, die sich erkennbar nur auf einen einzigen Fall beziehen.166 Die Norm wird regelmäßig eng verstanden, sodass wirklich nur Einzelfallmaßnahmen in Gesetzesform unzulässig sind. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG verbietet nach klassischem Verständnis nur die falsche Rechtsform (Gesetz) für eine an sich nicht unbedingt unzulässige (materielle) Regelung. Der Gedanke der Norm lässt sich aber zu einer Aussage verallgemeinern, die Bedeutung auch für die vorliegende Untersuchung hat. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG enthält nämlich seinem Zweck nach neben dem bereits angesprochenen Individualrechtsschutz durch erhöhte Kontrollmöglichkeiten für die Bürger gegen Administrativakte vor allem eine Kompetenzabgrenzung zugunsten des Rechtsanwenders gegenüber dem Rechtserzeuger.167 Wenn nach Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG die rechtliche Behandlung von Einzelfällen nicht durch das Gesetz als Rechtsform vorgenommen werden soll, wird damit an den Gesetzgeber der Auftrag erteilt, Normen für den Normalfall und nicht für den Einzelfall zu schaffen. Die Umsetzung abstrakter rechtlicher Maßgaben ist damit eine Aufgabe der Rechtsanwender. So wird insbesondere die gesetzesausführende Gewalt durch eine Wahrnehmungskompetenz davor geschützt, dass ihre Akte durch den Gesetzgeber selbst vorgenommen werden. Sie grenzt aber nicht (nur) zwischen einem unzulässigen Einzelfallgesetz und einem zulässigen Allgemeingesetz ab, sondern bringt in einem fließenden Übergang die Zulässigkeit gesetzgeberischer Regelungsdichte zum Ausdruck: Je höher durch einen Rechtssetzungsakt die Einzelfalldetermination ist, desto eher kann durch dieses Gesetz im Einzelfall eine unverhältnismäßige Rechtsanwendungssituation entstehen, in der der Gesetzgeber mit einer Abweichung (vom Gesetzeswortlaut) rechnen muss. Der daraus gewonnene Gedanke lässt sich nun auch für „gebundene“ Normen fruchtbar machen: Dem Aussagegehalt von Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG ist nicht bloß ein Verbotscharakter für eine Einzelfallmaßnahme in Gesetzesform zu entnehmen, sondern auch ein Bestimmtheitsappell: Neben der zu großen Unbestimmtheit, taugt auch die zu große Bestimmtheit von Normen zum (verfassungsrechtlichen) Angriffspunkt.168 Das spiegelt sich aber nicht in Form einer Unzulässigkeit von Normen mit einem hohen Bestimmtheitsgrad wider, sondern in dem Duldungs erfordernis gegenüber dem Gesetzgeber von einzelfallbezogenen Rechtsfolgen 166 Zum Verhältnis von Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG und der Diskussion um den Verwaltungsvorbehalt siehe etwa H. Maurer, VVDStRL 43 (1985), S. 158 f., sowie F. Schnapp, VVDStRL 43 (1985), S. 194. 167 Dieser Gedanke greift übrigens auch für den vom Bundesverfassungsgericht postulierten Vorrang der Administrativ- vor der Legalenteignung. Dazu grundlegend BVerfGE 24, 367 – Hamburgisches Deichordnungsgesetz. 168 Siehe auch H. Maurer, VVDStRL 43 (1985), S. 161.
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korrekturen. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG enthält in teleologischer Sicht eine Wertung des Verfassunggebers gegen eine Überdetermination administrativen Handelns. Die Vorschrift gebietet gesetzgeberische Zurückhaltung und rechtfertigt Einschränkungen bei der Bindung an die vom Gesetzgeber geschaffenen Normen. 2. Kein Raum für Imperfektion in der Rechtsanwendung169 Bewegungen zu einer flexiblen Gesetzesbindung können sich auch vor dem Grundsatz einer hohen gesetzgeberischen Steuerungskraft behaupten.170 Dieses Verständnis liefert nämlich einen Beitrag dazu, Kasuistik und Dogmatik zu versöhnen.171 Es stellt dar, dass inhaltliche Abweichungen vom Gesetzeswortlaut nicht als Schwäche verstanden werden dürfen172, sondern Ausdruck einer funktionsadäquaten und letztlich gerechten Rechtsordnung sind, die Einzelfallgerechtigkeit systemimmanent verwirklicht.173 Für ein „brauchbares Maß an Imperfektion“ (T. Barczak)174 ist nicht zuletzt aus der Perspektive des Verwaltungsadressaten kein Platz.175
169
J. Neuner, S. 162 ff., unterstellt bei contra-legem-Entscheidungen, dass diese sogar gerade im Sinne des Gesetzgebers ergingen, um dessen Gesetze in ihrer allgemeinen Akzeptanz zu stärken. Dem ist zwar an sich zuzustimmen; allerdings sollten im Einzelfall auch tatsächlich Rechtsfolgenanordnungen gegen den Willen des Gesetzgebers möglich sein. Im Ergebnis ebenso T. Westerhoff, S. 137 f. Allerdings verkennt T. Westerhoff in seiner Kritik einerseits den Charakter von Soll-Entscheidungen und andererseits, dass es regelmäßig um Fälle geht, in denen ohne Vorhersehbarkeit vom Gesetz abgewichen wird, der Gesetzgeber also keinen anderen Regelungstyp verwenden konnte. 170 Dass der Gesetzgeber Materien nicht mehr im Wege einer sicheren Determination regeln kann, erkennt auch W. Leisner, S. 229 ff. Aber auch nach derzeitigem Verständnis kann der Gesetzgeber nur scheinbar ausnahmslos regeln, weil in unverhältnismäßigen Fällen die Norm oder die Einzelfallmaßnahme verfassungswidrig ist. Die Chance der Gerechtigkeit durch Normdurchbrechung (S. 230 ff.) ist tatsächlich als eine solche zu erkennen und mündet nicht in Willkür (so aber auf S. 232 ff.). 171 Zu dieser Idee O. Lepsius, Verhältnismäßigkeit, S. 24 f. 172 Deswegen stellt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung bei „gebundenen“ Normen auch nicht das Pauschalisierungsprivileg des Gesetzgebers in Frage; dazu T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 171. Vgl. dazu E. IV. 1. 173 Es kann damit auch nicht die Rede davon sein, dass die Rechtsordnung einen Schaden durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nimmt. Dazu T. Westerhoff, S. 152 m. w. N. 174 T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 181. H. P. Bull / V. Mehde, Rn. 154 ff., sprechen mit Blick auf Absprachen zwischen staatlichen und privaten Stellen von „brauchbare(r) Illegalität“. Siehe zu diesem Thema etwa L. Michael, Absprachen passim. 175 Siehe zum Spannungsfeld von Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit durch Abwägungen neuerdings N. Petersen, S. 72 ff.
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3. Steuerungsmöglichkeiten des Gesetzgebers Einen weiteren vermeintlich naheliegenden Gegeneinwand stellt die scheinbare Entmachtung des Gesetzgebers dar. Allerdings stehen ihm andere Möglichkeiten als ein ausnahmslos „zwingendes“ Normverständnis zur Verfügung. Das Verwaltungshandeln wird nämlich nicht durch Normen allein bestimmt.176 a) Weiterer Einsatz „gebundener“ Normen Dem Gesetzgeber stehen auch nach den beiden Modellen weiterhin „gebundene“ Normen zur Verfügung. Es ändert sich vor allem die Wahrnehmung dieser Gesetze, die in ihrer Rechtsfolgenbestimmung nicht mehr streng alternativlos sind. Die gesetzgeberische Entscheidung zugunsten „gebundener“ Normen besteht aber weiterhin und kann vom Gesetzgeber auch im bisherigen Umfang eingesetzt werden. Dadurch bleibt auch seine Steuerungskraft erhalten. „Gebundene“ Normen schaffen durch eine erhöhte Prognostizierbarkeit staatlichen Handelns Rechtssicherheit und streben eine vereinheitlichte Rechtsanwendung an.177 Mit diesen Zielen scheint ein aufgelöstes „zwingendes“ Normverständnis zu kollidieren. Diese Einbußen bei der Rechtssicherheit sind aber minimal, weil eben nur in den oben skizzierten Ausnahmesituationen vom Gesetz(eswortlaut) abgewichen werden kann. Die Rechtssicherheit ist schließlich in jedem Fall ein bedeutender Abwägungs- bzw. Auslegungsbelang, der das Ergebnis immer beeinflusst und somit auch nie vollständig vernachlässigt werden kann. Zudem findet in den allermeisten Fällen eine bürgerschützende Abweichung statt, die ausnahmslose Normanwendung wird zugunsten der Bürger durchbrochen. Auch bei begünstigenden Analogiebildungen werden schließlich keine ernsthaften Bedenken mit Blick auf die Rechtssicherheit erhoben. Die Voraussehbarkeit, von Nachteilen verschont zu werden, bedarf keines besonders hohen Schutzes.178 Dieses abgeschwächte Rechtssicherheitserfordernis bei vorteilhaften Entscheidungen wird auch daraus ersichtlich, dass bei begünstigenden Maßnahmen der Vorbehalt des Gesetzes nicht bzw. nur eingeschränkt gilt. Aufgrund der erhöhten Anforderungen an die Abweichung von „gebundenen“ Normen ist auch kein Zustand zu befürchten, der wirklich eine uneinheitliche Rechtsanwendung befürchten ließe, sodass auch die einheitliche Rechtsanwendung nicht in einem Maße bedroht wäre, dass der geringe Verlust an Steuerungsmöglichkeiten für den Gesetzgeber signifi-
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Vgl. W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 28. B. III. 1. 178 Das entkräftet insbesondere den Einwand K. Naumanns, DÖV 2011, S. 99 f., eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei „gebundenen“ Normen sei der Rechtssicherheit abträglich. 177
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kant wäre. „Gebundene“ Normen bleiben damit ein wichtiger Bestandteil des Baukastens des Gesetzgebers. Daran ändert auch ein modifiziertes Verständnis nichts. b) Das legislative „Rückholrecht“ Unterstellt man aber dennoch bei einzelnen Normen durch das geänderte Normverständnis eine Praxis, die dem Gesetzgeber missfällt, evoziert dies als Folgefrage Überlegungen zu Gegensteuerungsmaßnahmen durch das Parlament.179 Konkret ergeben sich Überlegungen zu einem „Rückholrecht“ des Gesetzgebers für Auslegungen, die in der Rechtsanwendung zu seinem Unwillen behandelt werden.180 In der neueren Verfassungsrechtsprechung ist eine vergleichbare Fragestellung im Rahmen der Zulässigkeit sog. treaty overrides virulent geworden, bei denen insbesondere im Steuerrecht eine deutsche Gesetzesänderung zur Vermeidung von Missbräuchen einen bewussten Bruch eines völkerrechtlichen Vertrags in Kauf nimmt. Diese gesetzgeberische Option hält das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich für zulässig.181 Bislang ist aufgrund der weit zugestandenen Freiheiten182 eine derartige Befugnis wohl anerkannt und nur in einzelnen Konstellationen umstritten.183 Der Gesetzgeber hat grundsätzlich die Befugnis, durch die Änderung des gesetzten Rechts steuernd in Prozesse einzugreifen, das Recht zu ändern und damit Entscheidungen, wenn nicht im Einzelfall, so doch in Grundsätzen, „zurückzuholen“. Den gesetzgeberischen „Anteil“ an der Gesetzesbindung in Form der kodifizierten Norm, gewissermaßen ihren Inhalt, kann der Gesetzgeber einfach durch eine Umgestaltung des positiv gesetzten Rechts ändern. Im Auslegungsmodell ändert der Gesetzgeber damit den Interpretationsgegenstand. So kann er wesentlich auf die Auslegung bzw. Abwägung steuernd eingreifen. Die kollidierenden bzw. auslegungsleitenden Verfassungsbelange hingegen kann zumindest der einfache Gesetzgeber nicht ändern. In diesen Fällen müsste der verfassungsändernde Gesetzgeber tätig werden. Dass der Gesetzgeber nur insoweit steuernd tätig werden kann, wie es ihm zusteht, beachtet den Grundsatz vom Vorrang der Verfassung. Seine Normen kann er also 179 Zur Frage „Wie weit darf der Gesetzgeber regeln?“ siehe die Nachweise bei K. Stern, Bd. 2, S. 757. 180 Dafür etwa C. Degenhart, NJW 1984, S. 2188 f. Ebenso befürwortend O. Bachof (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 217: „Ich meine, es kann politische Situationen geben, in denen der Gesetzgeber sich genötigt sehen mag, solche Entscheidungen an sich zu ziehen, und ich sehe kein verfassungsrechtliches Hindernis.“ Dazu auch A. Voßkuhle, AöR 125 (2000), S. 187 m. w. N. 181 BVerfGE 141, 1. Beachte aber die abweichende Meinung der Richterin König. 182 Zu undifferenziert etwa der einleitende Satz von H.-J. Papier, DÖV 1986, S. 621: „Die Grenzziehung zwischen Freiheit und Bindung obliegt der Gesetzgebung.“ 183 So etwa die Kontroverse zwischen O. Lepsius (JZ 2014, S. 488 ff., sowie JZ 2015, S. 435 ff.) und L. Michael (JZ 2015, S. 425 ff.) über eine rückwirkende Klarstellungsbefugnis des Gesetzgebers.
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nicht vor einer Kollision mit Grundrechten im Einzelfall „bewahren“ bzw. ihre Auslegung im Einklang mit der Verfassung vermeiden. Er kann aber das einfache Gesetz ändern, so etwa eine Ermessensnorm in eine „gebundene“ Norm umgestalten oder „gebundene“ Normen in ihren Tatbestandsmerkmalen oder konkreten Rechtsfolgenanordnungen verschärfen oder abmildern. Insoweit hat er weiterhin die legislativen Gestaltungsmöglichkeiten, um etwaige Konflikte von Anfang an abzufedern oder zu unterbinden. c) Parlamentarische Evaluierung und Auskunftsansprüche der Legislative Um sich der Wirkungen seiner Gesetze bewusst zu sein, liegt eine Evaluation der Normen durch den Gesetzgeber nahe. Ein derartiges Vorgehen ist etwa bei grundrechtssensiblen Normen (z. B. Überwachungsmaßnahmen) üblich.184 Insbesondere mit Blick auf Rechtsfolgenkorrekturen sollten diese Abweichungen von der Norm bzw. ihrem Wortlaut dem Gesetzgeber in angemessenen Zeitintervallen (z. B. jährlich) in Form von Statistiken zur Verfügung gestellt werden. Sofern es zweckdienlich und unter Gesichtspunkten des Arbeitsaufwands vertretbar erscheint, können diese Statistiken auch Auskunft über die alternativ gewählte Rechtsfolge (keine Rechtsfolge, „Minusmaßnahme“, etc.) und den Anlass der Abweichung (z. B. Art. 12 Abs. 1 GG, etc.) geben. Dieser Evaluation sollte auch ein weitreichender Auskunftsanspruch des Parlaments korrespondieren. Die genannten Gründe und die Häufigkeit der Rechtsfolgenkorrekturen müssen insoweit nicht bloß routinemäßig dem Parlament zur Verfügung gestellt werden, sondern von diesem jederzeit abrufbereit sein. Auf diesem Wege kann der Gesetzgeber differenziert Kenntnis von der Vollzugsdichte seiner Normen nehmen und ggf. Maßnahmen einleiten. Dazu zählt etwa die Einleitung einer abstrakten Normenkontrolle in Form des Normbestätigungsverfahrens (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 76 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG) oder aber eine Änderung der Rechtslage, wie es im Ausländerrecht bei den Regelungen über die Ausweisung 2015/2016 der Fall gewesen ist.185
184 Zum Beispiel hat der Landesgesetzgeber in Nordrhein-Westfalen in der Ermächtigungsgrundlage zur Erhebung personenbezogener Daten durch den Einsatz körpernah getragener Aufnahmegeräte, § 15c PolG NRW, eine Prüfung der Auswirkungen der Vorschrift bis zum 30. Juni 2019 angeordnet, vgl. § 15c Abs. 9 PolG NRW. 185 Siehe dazu schon auch B. I. 2.
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d) Einfluss des Haushaltsgesetzgebers Weiteren Gestaltungsspielraum hat der Gesetzgeber nicht nur über die Schaffung der von ihm gesetzten Normen186, sondern auch in der Funktion als Haushalts gesetzgeber.187 Über den Haushalt kann der Gesetzgeber nämlich finanzielle Anreize setzen und andere Projekte erschweren. Sein steuernder Einfluss nimmt, neben der Einwirkung auf die eigentlichen Normen, die er setzt, auch dadurch Gestalt an, dass er über monetäre Zuteilungen gestaltend tätig werden kann. Diese Anreize können etwa in der Zuordnung von Personal, aber auch sachlichen Mitteln oder der Gestaltung von Programmen, liegen. Neben dem eigentlichen „Rückholrecht“ ist also auch der an die Verfassung gebundene Gesetzgeber dazu in der Lage, die Ausführung „gebundener“ Normen zu verstärken, dass er Mittel kürzt oder erhöht. Das kann sich z. B. in Form einer personellen Unterbesetzung äußern.188 Gleichwohl ist der Einfluss über dieses Mittel begrenzt, da der Gesetzgeber aufgrund seiner Mittelgewährung nie sicher sein kann, wie sich eine Erhöhung oder Begrenzung finanzieller Ressourcen letztlich auswirkt. e) Landesgesetzgeber, Landesregierung und Landesverwaltung Eine weitere Gestaltungsmöglichkeit existiert bei Landesgesetzen im Landesvollzug. In diesem Bereich ist nämlich die Landesregierung, die wiederum selbst eine entscheidenden Beitrag bei der Vorarbeit zur Erstellung der Gesetze leistet, grundsätzlich frei darin, etwa den Zuschnitt von Ministerien und Behörden zu ändern189 und Verfahrensregelungen aufzustellen, abzuändern oder für ungültig zu erklären. Im Bereich der Landesgesetze findet sich nämlich die Besonderheit, dass die Länder diese regelmäßig190 auch selbst ausführen und ihren gestalterischen Einfluss auch auf das Verwaltungsverfahren selbst erstrecken können. In diesen Fällen kann zumindest die Landesregierung Einfluss auf den Gesetzesvollzug nehmen, wodurch die gestalterischen Möglichkeiten durch die Kongruenz von Parlamentsmehrheit und Regierung steigen. Natürlich ist bei diesem Punkt zu beachten, dass 186
Zu der interessanten, dazu gewissermaßen übergeordneten, Frage, welche vom Gesetzgeber geäußerten Erwartungen an die Verwaltung es geben kann, die aber nicht an der Gesetzesbindung teilhaben, siehe W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 67, letzter Spiegelstrich („präskriptive Erwartungen“). 187 Dazu etwa W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 49. 188 So wird etwa dem Bundesland Bayern vorgeworfen, es statte die Finanzverwaltung nicht so aus, dass Steuerbetrüger wirklich ausfindig gemacht werden: Süddeutsche Zeitung, „Nur alle 250 Jahre eine Kontrolle“, http://www.sueddeutsche.de / bayern / zu-wenig-steuerfahnderin-bayern-nur-alle-jahre-eine-kontrolle-1.1392091. 189 Unzulässig ist aber die Zusammenlegung von Justiz- und Innenministerium ohne Parlamentsbeschluss in Nordrhein-Westfalen. Siehe VerfGH NRW, Urteil vom 9. Februar 1999, Az. 11/98. 190 Eine Ausnahme bildet aber z. B. die Ausführung in Form der sog. mittelbaren Staatsverwaltung, in Flächenstaaten insbesondere durch die Gemeinden.
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den Akteuren auf Landesebene – sei es Regierung, sei es Parlament – keine freie Hand gewährt wird, sondern die Gesetzesausführung immer noch in Einklang mit dem Grundgesetz und der Landesverfassung stehen muss. 4. Gewaltenunterstützung: Kooperation im ausgleichenden Verfassungsstaat In Fällen von Dispensen vom Gesetz kommt es schließlich auch zu einer Kooperation der Gewalten. So forderte K. Hesse, dass die Gewalten „ergänzend oder stützend tätig (…) werden, wo ein anderes Organ zur vollen Erfüllung seiner Aufgaben nicht bereit oder in der Lage ist, während es selbst kraft seiner andersartigen Struktur tätig werden kann“.191 Die dargestellten Rechtsfolgenbestimmungsmodelle befördern eine Hilfestellung von Verwaltung und Rechtsprechung gegenüber dem Gesetzgeber. Dass der Gesetzgeber die Grundsatz-Rechtsfolgen vorgibt, die durch die anderen Gewalten untersucht werden, ist nämlich nicht nur eine Verteilung der Rollen zwischen den Gewalten, sondern auch ein Ausdruck des Kooperationsverhältnisses. Damit stellt sich die Vereinbarkeit eines nicht als „zwingend“ empfundenen Normverständnisses auch als Hilfe der Verwaltung gegenüber dem Gesetzgeber dar; die Verwaltung ist aufgrund ihrer Vorteile zur Unterstützung gegenüber dem Gesetzgeber berufen.192 Die Gewaltenkooperation leistet damit auch einen Beitrag zu einer erhöhten Konturierung der unterschiedlichen Verwaltungsaufgaben und damit zu einer klaren Gewaltenteilung.193 Die Verfassungsakteure werden auf ihre Kernaufgaben beschränkt und gleichen etwaige Nachteile durch die Unterstützung der anderen Akteure aus. Degradiert man die Verwaltung bei der Gesetzesausführung bei „gebundenen“ Normen zu einer bloßen Vollzugsstelle, unterbricht man die Kraft, die sich aus dem gewaltenübergreifenden Kooperationsverhältnis ergeben kann. Daraus erwächst ein Ergänzungspotential, das den Verfassungsakteuren bei der Gestaltung der Lebenswirklichkeit durch den arbeitsteiligen Prozess mit ineinandergreifenden Funktionen innewohnt.194
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FS-Huber, S. 265 f. C. Degenhart, NJW 1984, S. 2188, spricht davon, dass „Direktiven für eine funktionsgerechte Zuordnung von Entscheidungsbereichen im Verhältnis (…) von Gesetzgebung und Verwaltung erkennbar [werden], unter Einschluß auch möglicher verfassungsrechtlicher Präferenzen zugunsten der Verwaltung“. 193 Nicht überzeugend ist damit auch der Einwand von K. Naumann, DÖV 2011, S. 100, eine Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Ausführung „gebundener“ Normen sei eine Gefahr für die Gewaltenteilung. Siehe dazu auch T. Westerhoff, S. 102 m. w. N. 194 Siehe dazu auch H. Maurer, VVDStRL 43 (1985), S. 158. 192
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
IV. Vorteile einer flexiblen Bindung an das Gesetz Für eine dynamische Gesetzesbindung, die durch den Verhältnismäßigkeitsgrund satz gegenüber weiteren Verfassungsbelangen geöffnet wird, sprechen auch noch weitere Argumente. 1. Einzelfallgerechtigkeit als Voraussetzung des gesetzgeberischen Generalisierungsprivilegs Eine dynamische Gesetzesbindung sichert das gesetzgeberische Generalisierungsprivileg.195 Dass der Gesetzgeber nur vom Normalfall in der Normschaffung ausgeht und seine Rechtssätze auf diese ausrichtet, stellt tatsächlich ein Erfordernis handhabbarer Gesetzgebung dar. Es sichert zudem den Stellenwert von Gesetzesbindung, da nur die gesetzgeberischen Grundwertungen die Autorität der Bindung an das Gesetz für sich in Anspruch nehmen können. „Ein Gesetzgeber, dessen Einzelmaßnahmen, Spezialanweisungen, Dispense und Durchbrechungen ebenso als Gesetze gelten, wie seine generellen Normierungen, ist in keiner denkbaren Weise an sein Gesetz gebunden; die ‚Bindung an das Gesetz‘ ist für diejenigen, die beliebig ‚Gesetze‘ machen können, eine bedeutungslose Redensart. (…) Auf eine Eigenschaft kann aber nicht verzichtet werden, ohne daß der Rechtsstaat selbst entfällt: auf den generellen Charakter der Rechtsnorm.“ (C. Schmitt)196 Auch aus diesem Grund sind auch die bereits erwähnten Härtefallklauseln197 kein probates Mittel. Nur darf dieses Privileg nicht dergestalt missverstanden werden, dass aus der Befugnis zur Typisierung auch eine ausnahmslose Ausführung der Norm auch im unverhältnismäßigen Einzelfall geboten wäre. Die Pauschalisierung erlangt ihre Legitimität erst durch die Berücksichtigungsmöglichkeit von atypischen Einzelfällen198 mittels einer Rechtsfolgenkorrektur. Generalisierung wird erst durch die Option zum Einzelfalldispens zulässig. Die begrenzte Steuerungskraft des Gesetzgebers findet in der Dynamisierung der Gesetzesbindung keinen Auslöser, sondern eine systemgerechte Verarbeitung. 2. Transparenzerhöhung Eine Abschwächung gesetzgeberischer Steuerungsmöglichkeiten durch die Auflösung eines absolut „zwingenden“ Normverständnisses lässt sich letztlich auch vor dem Hintergrund einer Erhöhung der Transparenz öffentlicher Verfahren recht-
195
Anders T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 171. Siehe auch T. Westerhoff, S. 132 f. Verfassungslehre, S. 139, 142. 197 Siehe hierzu: B. V. 1. 198 So auch L. Michael / Morlok, Rn. 612. 196
IV. Vorteile einer flexiblen Bindung an das Gesetz
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fertigen.199 Zwar steht auch das Gesetzgebungsverfahren unter besonderer öffentlicher Aufmerksamkeit. Die mediale Begleitung ist im Regelfall deutlich größer als bei den allermeisten Verwaltungsverfahren.200 Allerdings wird bei der öffentlichen Kontrolle des Gesetzgebungsverfahrens eben auch nur das Gesetz in seiner abstrakten Form begutachtet und nicht spezifische Einzelfälle. Eine Norm kann zwar im Grundsatz sinnvoll und (etwa im Hinblick auf die Grundrechte betroffener Bürger) verhältnismäßig sein. Dies kann sich aber gerade im Einzelfall anders darstellen. Diese unter Umständen unverhältnismäßigen Einzelfälle werden aber (eben aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit) im öffentlichen Gesetzgebungsverfahren nicht berücksichtigt. Auch die Dokumentation ist im Verfahren der Gesetzgebung sicherlich transparenter als bei jedem einzelnen Verwaltungsverfahren. Aus den öffentlich zugänglichen Quellen wie Gesetzgebungsberatungen lassen sich aber oft nur zwischen den Zeilen die Interessen der verschiedenen Beteiligten und Betroffenen wiederfinden. Der unter Motivationsgesichtspunkten wirklich interessante Teil ist größtenteils nicht öffentlich, da die Entwürfe aus den Ministerien stammen.201 Darüber hinaus werden relevante Informationen nicht immer derart dokumentiert, dass sie später leicht nachvollziehbar sind. Diese Umstände werden durch stetig zunehmende Diskussionen über Informationssysteme im Bereich des Lobbyismus flankiert. Im Verwaltungsverfahren hingegen hat der Transparenzgedanke in den letzten Jahren an erheblicher Bedeutung gewonnen. Insbesondere das Informationsfreiheitsgesetz und der dortige Grundsatz in § 1 einschließlich der subjektiven Ansprüche, ist Ausdruck dieser Transparenz in Verwaltungsverfahren, der über die allgemeine Normerzeugung hinausgeht, weil er verdeutlicht, wie die Rechtswirklichkeit durch die abstrakten Regelungen verändert wird. Trifft aber gerade bei „gebundenen“ Normen, von denen abgewichen werden soll, die Behörde eine umfassende Dokumentations- und Argumentationslast202, vollzieht sich der Prozess potentiell viel stärker vor den Augen der Öffentlichkeit als beim Gesetzgebungsverfahren. Insbesondere fehlt gegenüber dem Gesetzgeber angesichts der Vielschichtigkeit der Ansprechpartner ein einfacher subjektiver Auskunftsanspruch. Damit findet eine partielle Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse vom Gesetzgeber zu Verwaltung und Rechtsprechung auch in einer allgemeinen Erhöhung der Transparenz von
199 Zur Öffentlichkeit als Bestimmungsfaktor für eine demokratische Verwaltung siehe E. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap. 2, Rn. 113 ff. 200 Dieser Grundsatz erfährt, insbesondere auch in einem internationalen Vergleich, eine erstaunliche und wesentliche Einschränkung. So sind Film- und Tonaufnahmen in Ausschüssen der Parlamente regelmäßig nicht zulässig. Siehe für den Untersuchungsausschuss § 13 Abs. 1 S. 2 PUAG. 201 K. König, FS-Ule, S. 121 ff. H. Schneider, Rn. 120, bringt es prägnant zum Ausdruck, wenn er von den „Ministerialbeamten, die an der Vorbereitung des Gesetzesentwurfs im Schoße der Bundesregierung beteiligt gewesen sind“, spricht. 202 Siehe insbesondere E. I. 7.
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
Entscheidungen ihren Ausdruck. Durch die Aufwertung der Verwaltungsverfahren durch potentielle Abweichungsbefugnisse vom Gesetz(eswortlaut) (und eben keinen schematischen Vollzug) erscheinen Verwaltungsverfahren, die eine „gebundene“ Norm ausführen sollen, in Einzelfällen auch interessanter, um etwa in den Medien über sie zu berichten. 3. Privatisierungsoptionen Auch wenn der Zeitgeist sich schon teilweise wieder gegen sie zu richten scheint (Stichwort: Rekommunalisierung), spielen Privatisierungen203 im Verwaltungsbereich nach wie vor eine Rolle.204 Im Bereich der Verwaltungsprivatisierung gibt Art. 33 Abs. 4 GG die verfassungsrechtlichen Leitlinien vor. Aus der Vorschrift kann der Umkehrschluss gezogen werden, dass Aufgaben, die zwar öffentlich erledigt werden, aber keinen hoheitlichen Bezug haben, ohne erhöhte Anforderungen durch private Hand erfüllt oder sogar in diese überführt werden können. Aber auch die Formulierung „in der Regel“ verdeutlicht bereits, dass auch klassische hoheitliche Befugnisse – nimmt man wirklich einen unberührbaren Kern höchster hoheitlicher Ausübungsgewalt aus – nicht per se einer Privatisierung gegenüber verschlossen sind. Da sich aus alledem aber keine Pflicht, sondern nur die Möglichkeit zu einer Privatisierung ergibt, eröffnet das hier gewonnene Verständnis durch die Verlagerung von Entscheidungen vom Gesetzgeber auf die Verwaltung lediglich die Möglichkeit zu einer Aufgabenwahrnehmung in privater Hand. Optionenräume werden damit nur vergrößert, wenn man der Ausführung von Gesetzen eine stärkere Rolle zuschreibt. Damit eröffnet sich zumindest die Chance, im Einzelfall zu entscheiden, ob eine Aufgabenwahrnehmung durch Private sinnvoll erscheint. An dieser Stelle ergänzt auch der Föderalismus die Privatisierung. So kann es in einzelnen Bundesländern sinnvoller als in anderen erscheinen, Aufgaben durch Private erledigen zu lassen. Insbesondere Angelegenheiten der kommunalen Daseinsvorsorge205 können von Ort zu Ort verschieden geregelt werden und insbesondere die Verwaltung entscheidet mit der Politik dezentral, welche Organisationsform am besten geeignet erscheint. Eine derartige Privatisierung ist im Bereich der Gesetzgebung nicht denkbar. Selbst wenn in den letzten Jahren eine verstärkte Inanspruchnahme privater Ressourcen bei der Gesetzesschaffung festzustellen ist, bleibt der eigentliche Entscheidungsfindungsprozess – so stark er auch durch private Vor- und Ausarbeit geprägt 203 Zur Privatisierung als Idee der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft siehe A. Voßkuhle, GVwR I, § 1, Rn. 58 ff. m. w. N. 204 H. Schmitz, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 1, Rn. 121 ff. m. w. N. Beispiele finden sich etwa auch bei P. Tettinger, DÖV 1993, S. 243. 205 So etwa für die kommunale Stromversorgung oder Müllentsorgung.
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sein sollte206 – ausnahmslos in parlamentarischer und damit staatlicher Hand.207 Anders als im Bereich der Administrative bleibt damit mindestens die eigentliche Entscheidungsgewalt immer in öffentlicher Hand, während diese Garantie im Bereich der Verwaltung nicht besteht. So wäre es beispielsweise denkbar, dass die Kontrolle der Zuverlässigkeit von Fahrzeugführern, ganz wie bei Kraftfahrzeugen und dem TÜV, auf Beliehene übertragen würde. Auch öffentlich-private Partnerschaften (ÖPP)208 sind Ausdruck einer Teilerledigung ursprünglich öffentlicher Aufgaben in privater Hand. Es besteht in diesen Fällen keine Pflicht und Notwendigkeit zur Privatisierung der öffentlichen Aufgaben – die Optionen sind dennoch, anders als im Bereich der Gesetzgebung, vorhanden, sodass ein aufgelöstes „zwingendes Normverständnis“ auch eine Inklusion privater Entscheidungsträger bedeuten kann. 4. Bürgerschützende Mäßigung von Staatsgewalt durch erhöhte Kontrollmöglichkeiten Ein alternatives Verständnis von „gebundenen“ Normen rechtfertigt sich (u. a. gegenüber dem Gesetzgeber) schließlich auch durch seine gegenüber staatlicher Gewalt mäßigende209 Funktion. Insbesondere eine differenziertere und vielschichtige Kontrolle hilft dabei, Rechtsverletzungen rechtzeitig zu unterbinden. Nach der klassischen Rechtsfolgenlehre ist in Entscheidungssituationen mit „gebundenen“ Normen faktisch Rechtsschutz210 nur gegen die Norm als solche möglich. Das führt in der Praxis dazu, dass in Entscheidungssituationen, die sich allein auf die Bestimmung der Rechtsfolge (und nicht etwa auf Tatbestandselemente211) beschränken, in der Regel nur eine Verfassungsbeschwerde in Betracht kommt oder – mit der Einschränkung, dass in der Regel gerichtliche Unterstützung erforderlich ist – eine konkrete Normenkontrolle. Fasst man nun aber das Verständnis „gebundener“ Normen nicht als ausnahmslos zwingend auf, entsteht für die Verwaltung und die Verwaltungsgerichte die Option, bereits im Einzelfall und unter Schonung der Verfassungsmäßigkeit der Norm im Allgemeinen, Abhilfe zu schaffen.
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Siehe erneut auch L. Michael, Absprachen, passim. Vgl. zu dem Thema allgemein J. Leven passim. 208 M. Dreher, in: Immenga / Mestmäcker, GWB, Bd. 2, § 99, Rn. 159 ff. m. w. N. 209 So auch C. Degenhart, NJW 1984, S. 2188: Erforderlich sei bei der Gesetzesausführung auch die „‚Mäßigung‘ staatlichen Handelns [durch] die Möglichkeit abmildernder, auf den Einzelsachverhalt bezogener Differenzierung durch die Exekutive“. 210 Laut T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 173, führen „gebundene“ Normen zu einer Vollständigkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes. 211 Beispielsweise kann der Fall zu eindeutig sein, um nicht unter den Tatbestand subsumiert zu werden oder ein durch Tatbestandsauslegung erreichtes Untätigbleiben bringt die Interessen des Falls ebenso wenig in Ausgleich wie die Anwendung der Rechtsfolge. 207
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
Handelt nämlich die Verwaltung nicht bloß als Vollzugsautomat des Gesetzes212, besteht Rechtsschutz für den Bürger auch gegen diesen Umsetzungsakt.213 Dadurch wird der faktische Rechtsschutz der Bürger erhöht.214 Diese erhöhte Kontrollintensität in quantitativer Hinsicht führt insgesamt zu einer Mäßigung von Staatsgewalt, die sich wiederum als freiheitssichernd erweist.215 Verwaltungshandeln kann also – gerade mit Blick auf Parlamentshandeln – nicht nur freiheitsverkürzend, sondern sogar freiheitsverstärkend wirken.216 Neben die quantitative Komponente tritt auch noch ein zeitlicher Aspekt. Die Mäßigung von Staatsgewalt tritt dann nicht nur durch eine erhöhte Anzahl gerichtlicher Kontrollmöglichkeiten ein, sondern auch durch den regelmäßigen Verzicht auf das gerichtliche Verfahren, weil mögliche Rechtsverletzungen frühzeitig verhindert werden.217
212 Insoweit ist von der „Vergesetzlichung der Verwaltung“ die Rede. Siehe nur H. Maurer, VVDStRL 43 (1985), S. 157, Fn. 58 m. w. N. So auch H. H. Rupp, S. 198 ff. und passim. Komplett gegensätzlich dazu bei M. Schröder, DVBl. 1984, S. 815, Fn. 10: „Es gibt nicht mehr die streng gesetzesausführende Administration, sondern eine vielfältige Aufgaben bearbeitende, Entscheidungen mitbestimmende, Kompetenzen ausdehnende und ‚politisch orientierte‘ Verwaltung, die sogar einen unmittelbaren Auftrag der Gesellschaft für sich in Anspruch nimmt“. Siehe ferner M. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Rn. 7 ff., 10, 17. Dass die Verwaltung kein reiner Vollzugsautomat ist und auch die Forschung, die dieses Verständnis postuliert hat, als überwunden gelten muss, lässt sich bei H.-D. Horn, S. 187 ff., nachvollziehen. Die Verwaltung ist auch bei der Ausführung „gebundener“ Normen nicht verzichtbar (auch nicht zugunsten der Gerichte): F. Kopp, BayVBl. 1983, S. 679. Siehe für einen breiteren Ermessensspielraum der Verwaltung auch W. Brohm, DVBl. 1986, S. 329, Fn. 67 m. w. N. 213 Diesen Vorteil hebt auch F. Schnapp, VVDStRL 43 (1985), S. 194, hervor. 214 W. Leisner, NJW 1997, S. 637, sieht in der bürgerbegünstigenden Stoßrichtung der Verhältnismäßigkeit eine strukturelle Bevorzugung der Menschen gegenüber dem Staat und verdeutlicht dies an monetären Interessen: „Tut der Anwalt damit [gemeint ist der Verweis auf Abwägungsbelange] nicht ein gutes Werk am Rechtsstaat? Der Staatsmacht bleiben er und sein Mandant auf ewig unterlegen; irgendwann im Prozeß schlägt sie das öffentliche Interesse zu Boden, für das Richter ein waches Gespür haben (müssen), sind sie doch – letztlich – eben auch Staatsdiener. Iudex non calculat – doch Anwälte läßt er für sich rechnen. Können sie private Interessen der Vertretenen säuberlich in Zahlen ‚monetarisieren‘, so wird auch der Richter nachdenklich, der eben auch Privatmann ist und als solcher zu rechnen versteht, oft erstaunlich gut. Dann muß zwar die Majestät des öffentlichen Interesses zurücktreten, wenn der Bürger durch eine Negativentscheidung schwerer getroffen würde als der omnipotente, unendlich reiche Staat. Wann aber trifft dies denn nicht zu – abgesehen vom Falle unabsehbarer Präjudizwirkung? So wird in Abwägung der Private stärker – ohne daß doch der Staat allzusehr geschwächt würde. Die erwähnte Präjudizgefahr läßt sich leicht entschärfen, durch Hinweis auf die ‚besonderen Umstände des Einzelfalles‘; sie prägt ja stets und entscheidend den Abwägungsvorgang. In allen anderen Fällen mag dann der Staat und seine Normen recht behalten – im ‚vorliegenden‘ führt die Verhältnismäßigkeit, als letzte Reservenorm, als Gerechtigkeitskorrektur, den Anwalt und seinen Klienten zum Sieg – im Namen gerade einer Rechtsstaatlichkeit, aus welcher die Verhältnismäßigkeit als Rechtsgebot abgeleitet wird.“ 215 Hier beißen sich Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Siehe dazu auch F. Schnapp, VVDStRL 43 (1985), S. 194. 216 Das zeigt W. Loschelder (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 43 (1985), S. 254. 217 Diskutiert wurde nämlich insbesondere früher, ob ein Dispens immer nur im Vorhinein möglich sei und nicht auch nachträglich. Siehe dazu R. Mußgnug, S. 98 ff.
V. (Begriffs-)Kritik zu „gebundenen“ Normen
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5. Föderalismus und Stärkung der Länder Eine Rechtsfolgenkorrektur rechtfertigt sich auch aus dem Bundesstaatsprinzip, insbesondere aus dem Föderalismus und einer Stärkung der Länder. Die hier geführten Diskussionen erweisen sich damit nicht nur als solche zwischen den Gewalten, sondern auch zwischen den staatlichen Ebenen der Bundesrepublik. Betrachtet man nämlich die Gesetzesausführung in Deutschland, fällt die hohe Ausführungsquote der Gesetze durch die Länder auf. Das liegt im Wesentlichen daran, dass – trotz der Ausgangsvermutung des Art. 70 Abs. 1 GG – in der Praxis der Schwerpunkt der Gesetzgebungskompetenzen zwar beim Bund, das Gros der Verwaltungskompetenzen aber – insoweit ganz in Einklang mit Art. 83 GG – bei den Ländern liegt. Stärkt man nun aber die Verwaltung auch gegenüber dem Gesetzgeber, findet auch eine Verschiebung vom Bund zu den Ländern statt. Weil gerade im Bereich der Verwaltung noch „der Primat der Länder bei der Erfüllung staatlicher Aufgaben“218 greift, erfahren die Länder und damit der Föderalismus insgesamt eine Stärkung. Insgesamt werden die föderalen Strukturen Deutschlands auch durch eine Dezentralisierung der Entscheidungen der Einzelfälle gestärkt, indem die Kompetenzen in Nuancen vom Gesetzgeber auf die jeweiligen Verwaltungseinheiten und die Fachgerichte übertragen werden. Eine vermeintlich drohende Rechtszersplitterung kann mit dem Hinweis entkräftet werden, dass Rechtsvielfalt im Bundesstaat gerade gewollt ist. Die mannigfaltigen Vorteile des Föderalismus erfahren somit durch eine Beschränkung der gesetzgeberischen Steuerungsmöglichkeit eine verstärkte Wirkung. Die Nachteile können durch das existierende Rechtssystem aufgefangen werden.
V. (Begriffs-)Kritik zu „gebundenen“ Normen Abschließend lohnt eine kritische Betrachtung der Terminologie. Insbesondere der Begriff „gebundene“ Norm verdient eine Betrachtung. So verbreitet er auch sein mag, zeichnet er sich durch einen geringen Aussagegehalt aus. Es stellt sich dabei die Frage, wer oder was bei einer „gebundenen“ Norm überhaupt gebunden ist. Die Rechtsfolge wird durch die Anordnung auf der Rechtsfolgenseite nur für den Normalfall vorgegeben; darin unterscheidet sich eine „gebundene“ Norm nicht von einer Ermessensnorm, da auch bei diesen ein Rechtsfolgenrahmen vorgegeben ist. Auch die Verwaltung ist (nach gängigem Verständnis vollständig, nach hiesiger Lesart so gut wie vollständig) an die Rechtsfolgenfestlegung des Gesetzgebers gebunden. Die Verwendung des Begriffs „gebundene“ Norm dürfte auf eine Verkürzung der Unterscheidung von gebundener Verwaltung und Ermessensverwaltung zurückzuführen sein. Die Verwaltung ist also durch die Gesetze gebunden, soweit 218
R. Stettner, DÖV 1984, S. 613.
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E. Apologie einer Neubestimmung der Gesetzesbindung
diese eine bindende Anweisung enthalten. Nur liegt diese Bindung an die Rechtsfolge als Bindung an das Gesetz auch bei Ermessensentscheidungen vor. Dort ist die Rechtsfolgenanordnung nur von vornherein nicht abweichungsresistent und umsetzungsbedürftiger, weil ausdrücklich spielraumkonzedierend. Die jeweilige Bindung unterscheidet sich also graduell voneinander. Bei einer „gebundenen“ Norm liegt daher dieselbe Art von Bindung in der Rechtsfolge und Bindung der Verwaltung wie bei jeder anderen Art von Norm vor. Die Rechtsfolge wird vermeintlich in einer genauen Weise durch das Gesetz vorgegeben. In diesem Sinne ist der Begriff „gebundene“ Norm gleichwohl unpräzise. Der Begriff suggeriert vor allem eine unbeschränkte Gesetzesausführungspflicht der Verwaltung im Sinne einer Volldetermination.219 Nach dem Verständnis einer Gesetzesbindung, die eine auf den Einzelfall angepasste Normanwendung ermöglicht, ergibt sich die Auflösung eines „zwingenden“ Normverständnisses insbesondere aus einer Pflicht zum Dispens bei einer „gebundenen“ Norm, sofern die Anwendung der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge wegen der Grundrechte des Adressaten im Einzelfall zurücktreten muss.220 Der Modus, der in diesem verfassungsrechtlichen Spannungsfeld von Rechtssicherheit durch Gesetzesbindung und Einzelfallgerechtigkeit durch Grundrechtsbindung einen schonenden Ausgleich bringt, ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Verwaltung hat dabei als erstes die Pflicht zur Überprüfung, ob sie vom „gebundenen“ Gesetz abweichen muss bzw. darf. Dabei spricht die Vermutung bei der Bestimmung der Maßnahme zugunsten der vom Gesetzgeber vorgesehenen Rechtsfolge. Normen sind danach erst dann abstrakt unverhältnismäßig221, wenn ein Dispens von der Gesetzesbindung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zugunsten anderer Verfassungsgüter (z. B. der Grundrechte) so häufig stattfindet, dass das Risiko besteht, dass die Gesetzesbindung selbst als leere Hülle erscheint und das Vertrauen in die Gültigkeit der Norm insgesamt erschüttert ist.222
219
In einer vollständigen Gesetzesdetermination glaubte man insbesondere in den 1960er-Jahren den perfekten Rechtsstaat zu erblicken. So etwa die bereits mehrfach zitierten D. Jesch passim und H. H. Rupp passim. Siehe auch A. Voßkuhle, GVwR I, § 1, Rn. 8 m. w. N.: „rechtsstaatliche Disziplinierung der Verwaltung unter der Ägide des Grundgesetzes“. 220 Mit der Auflösung des „zwingenden“ Normverständnisses ist letztlich nicht nur die Erkenntnis verbunden, dass die Gesetzesbindung bei „gebundenen“ Normen nur einen (freilich wichtigen) Teilaspekt der Ausführung bildet. Nicht die gesamte Rechtsordnung kann nur auf Rechtsschutz zugeschnitten sein; vgl. dazu W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 11. 221 Wie sich im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung zeigt (E. II.) stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Norm verfassungswidrig ist, vor allem in Praxis und Wissenschaft dann, wenn einige Auslegungsmöglichkeiten verfassungsgemäß und andere verfassungswidrig sind. Dazu etwa J. Burmeister, S. 23 f., 69 ff., 77 ff., 107 ff. 222 Erst die regelmäßige Divergenz von Normbefehl und verfassungsgemäßer Entscheidung verwandelt im Bereich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Norm in eine verfassungswidrige. Dass Normbefehl und Vollzug sich unterscheiden (können), ist dabei, anders als T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 170, glaubt, kein Widerspruch.
V. (Begriffs-)Kritik zu „gebundenen“ Normen
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Bei der Bestimmung der Rechtsfolge ist die Verwaltung aber nicht frei.223 Ihr kommt mindestens in atypischen Fällen, die eine Abweichung von der „gebundenen“ Norm gebieten, eine ausgeprägte Dokumentations- und Argumentationslast zu.224 Die Aufgabe der Gerichte in diesem Zusammenhang ist es, die Abweichung vom Gesetz durch die Verwaltung zu prüfen. Wie schmal225 oder breit der Korridor zur Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung „gebundener“ Normen ist, lässt sich demnach nicht pauschal beantworten. Bei gleichwohl als vermeintlich zwingend ausgestalteten Normen, die ihre Berechtigung weiterhin haben, erscheint dann aber der Begriff „gebundene“ Normen wenig aussagekräftig. Durch die Vergleichbarkeit mit vorbehaltlosen Grundrechten226 wirkt der Terminus „vorbehaltlose Normen“ plausibel, weil der Vorbehalt sich bei ihnen in zweierlei Formen zeigt. Zum einen lassen sie eben keinen Vorbehalt im Wortlaut erkennen, stehen aber zum anderen in ihrer Anwendung und Durchsetzung unter dem Vorbehalt, einen verfassungsgemäßen Zustand zu erwirken. Dieser Normtypus steht also, gleich seinem Grundrechtspendant, unter dem Vorbehalt verfassungsimmanenter Schranken. Problematisch an dieser Wortwahl ist aber der fehlende Gegenbegriff: Anders als bei den Grundrechten, existieren keine einfachen Normen unter Vorbehalt, sodass insbesondere für Ermessensnormen eine überzeugende alternative Begrifflichkeit fehlt. Da sog. „gebundene“ Normen aber jedenfalls für den Normalfall tatsächlich die zu treffende Rechtsfolge vorgeben und es an einem überzeugenden Alternativbegriff mangelt, ist die Verwendung des Terminus als verkürzende Beschreibung der Bindung der Verwaltung jedenfalls weiterhin nutzbar. Man sollte sich aber bei der Verwendung des Ausdrucks seiner begrenzten Aussagekraft bewusst sein.
223
Der Blick ins Ausland offenbart, dass es außerhalb des deutschsprachigen Raums auch eher üblich ist, etwa im Ermessensbereich, eine reduzierte Kontrolle der administrativen Entscheidungen anzusetzen und dies vornehmlich durch eine engmaschige Verfahrenskontrolle auszugleichen. S. Oeter, Kontrolldichte, S. 272 ff. A. a. O., S. 274: „Inhaltliche Überprüfung des Abwägungsergebnisses findet dagegen kaum statt.“ Sofern der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in Ansatz gebracht wird, ist dies aber auch zu relativieren: „Verhältnismäßigkeit meint insofern aber mehr offensichtliche Disproportionalität des Abwägungsergebnisses als detaillierte Prüfung der jeweils angemessenen Zweck-Mittel-Relation (…)“. E. Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 285, weist darauf hin, dass in rechtsvergleichender Hinsicht die Kontrolldichte bei der Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen im Ausland oft geringer ist, dies aber durch eine stärkere Fokussierung auf die Kontrolle des Verwaltungsverfahrens kompensiert wird. Siehe auch L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 171. 224 Das umfasst, wie V. Mehde, DÖV 2014, S. 546, zu Recht erkennt, auch eine Begründung nach § 39 Abs. 1 VwVfG. Dazu ebenfalls T. Westerhoff, S. 174 ff. 225 So T. Barczak, S. 170. Gesteigert noch von T. Westerhoff, S. 99: „sehr schmal“. 226 E. I. 3.
F. Die Rechtsfolgenbestimmung i. w. S. als Entscheidungsfindungsprozess der Verwaltung zur Festlegung der einzelfallgerechten Rechtsfolge Übersetzt man die vorstehenden Modelle zur Herstellung von Einzelfallgerechtig keit bei „gebundenen“ Normen in konkrete Handlungsanweisungen, rückt vor allem die Rolle der Verwaltung als gesetzesausführende Stelle in den Fokus. Der administrative Entscheidungsfindungsprozess beschreibt die Umsetzung der ausgeführten abstrakten Modelle in Form einer auf das Verfahren der Rechtsfolgenbestimmung ausgerichteten Instruktion. Dies ist ein Entscheidungsfindungsprozess, der sich anhand von drei Schritten vollzieht. Der gesamte Vorgang kann als Rechtsfolgenbestimmung i.w.S. bezeichnet werden. Als Ergebnis ergibt sich die Rechtsfolge, die im Einzelfall verhältnismäßig ist. Im Sondierungsschritt (Schritt 1) findet die Suche nach etwaigem, mit der Gesetzesbindung kollidierendem Verfassungsrecht (so im Abwägungsmodell) bzw. nach interpretationsleitenden Gesichtspunkten aus der Verfassung (so im Auslegungsmodell) statt. Im Abwägungsmodell sind im Konkordanzschritt (Schritt 2), der sich bei SollVorschriften als Abwägungsschritt äußert, die Gesetzesbindung und die kollidierenden Verfassungsbelange miteinander abzuwägen. Im Auslegungsmodell findet an dieser Stelle der Interpretationsschritt statt, in dem eine verfassungsgeprägte Auslegung der Norm vorgenommen wird. In der Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3) ordnet die Verwaltung die einzelfallgerechte Rechtsfolge, ggf. unter Inanspruchnahme begrenzter Gestaltungsoptionen, an.1 Sofern sich Übereinstimmungen zwischen der Ausführung „gebundener“ Normen und der von Ermessensrechtssätzen oder Soll-Vorschriften ergeben, wird darauf einzugehen sein.
1 Aus dem hier gewonnen Verständnis ergibt sich auch eine Antwort auf die dogmatische Diskussion, ob die Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes eine Ermessensüberschreitung darstellt oder einen selbständigen Fehler bildet. Siehe zur Diskussion – auch im Zusammenhang mit dem hier gewählten Untersuchungsgegenstand – etwa T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 150 ff., und K. Naumann, DÖV 2011, S. 97, Fn. 13 ff., jeweils m. w. N. Konsequenterweise ist die Verhältnismäßigkeit als eigenständiger Punkt zu prüfen. So im Ergebnis auch M. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Rn. 62, sowie H. Maurer / C. Waldhoff, § 7, Rn. 23 („objektive Schranken des Ermessens“).
I. Der Sondierungsschritt (Schritt 1)
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I. Der Sondierungsschritt (Schritt 1) Wenn die Behörde in Betracht zieht, von der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge abzuweichen, besteht die erste Aufgabe der Verwaltung im Rahmen der Ausführung „gebundener“ Normen in der Ermittlung der Verfassungsbelange, die gegen die Ausführung der Rechtsfolge der konkreten einfach-rechtlichen2 Norm streiten bzw. die Auslegung der Norm zu prägen geeignet sind. Geht man von der Einheit der Verfassung und der Gleichwertigkeit der verfassungsrechtlichen Belange aus, kommen grundsätzlich alle Verfassungsbelange in Betracht. Diese Prüfung hat ergebnisunabhängig bei der Ausführung jeder „gebundenen“ Norm zu erfolgen; regelmäßig erfolgt sie (im Vergleich zum bisherigen Verwaltungshandeln aufwandsneutral) im Rahmen der Sachverhaltsermittlung durch die Verwaltung. Bei belastenden „gebundenen“ Normen werden auf der Seite des Adressaten einer Verwaltungsmaßnahme regelmäßig Grundrechte betroffen sein. Das kann ein Fall von geringer Intensität sein (etwa Art. 2 Abs. 1 GG), sich bei besonderen Freiheitsrechten, insbesondere bei vorbehaltlosen Grundrechten, steigern und sogar besonders intensive Eingriffe, etwa durch das Zusammenspiel mehrerer Grundrechte, nach sich ziehen. Die Ausführung einer vom Gesetz vorgesehenen „gebundenen“ Rechtsfolge löst unter Grundrechtsgesichtspunkten keine Rechtfertigung aus, sofern der Verwaltungsadressat kein Grundrechtsträger ist, etwa bei Hoheitsträgern, z. B. im Weisungsrecht im Bereich der Kommunalaufsicht. In diesen Fällen greift die Rechtfertigungslast aus den Grundrechten nicht, weil der Adressat der Regelung kein Grundrechtsträger ist. Andere Verfassungsbelange, etwa Art. 28 Abs. 1 GG, können aber ebenfalls zur Gesetzesbindung kollidierendes Verfassungsrecht bzw. einen Auslegungsbelang darstellen. Auch außerhalb der Grundrechte sind Dispense von „gebundenen“ Normen somit denkbar. Den praktisch wichtigsten Anwendungsfall stellen indes Grundrechte dar. In diesem ersten Schritt findet aber noch keine Wertung oder Abwägung statt. Die Ermittlung der Verfassungsbelange steht bei diesem Sondierungsschritt im Vordergrund. Die Aufgabe ist damit, ähnlich der Herausarbeitung von Zweck und Mittel im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung3, kleinschrittig, aber nicht unbedeutsam: Die Verwaltung soll sich sorgfältig kollidierender Verfassungsbelange bzw. der Auslegungsbelange bewusst sein. Praktische Konkordanzherstellung verlangt die exakte Ermittlung der Belange, die in einen Ausgleich zu bringen sind. Dies zieht eine dem Rechtsschutz zuträgliche Dokumentierung nach sich und hilft Verwaltungsentscheidungen durch Transparenz nachvollziehbar zu gestalten. Kommt die Verwaltung an dieser Stelle zu der Erkenntnis, dass auf der Adressatenseite kein 2 Theoretisch denkbar ist auch erneut der Fall, dass nicht eine einfach-rechtliche „gebundene“ Norm, sondern eine solche des Verfassungsrechts, „gebundene“ Grundlage des staatlichen Handels ist, etwa Art. 69 Abs. 3 GG. Auch in diesen Fällen ändert sich nichts an der Abwägungsqualität; der Ausgleich wird vielmehr bereits direkt „innerhalb“ der Verfassung auf der Grundlage zweier Bestimmungen gesucht. 3 L. Michael, JuS 2001, S. 148 f., 155.
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F. Die Rechtsfolgenbestimmung i. w. S.
Verfassungsbelang benannt werden kann, ist das Gesetz mit der vom Gesetzgeber festgesetzten Rechtsfolge auszuführen. Es fehlt in diesen Fällen an einer Prinzipienkollision bzw. an verfassungsrechtlichen Auslegungsbelangen, da nur die verfassungsrechtliche Gesetzesbindung bzw. der „gebundene“ Wortlaut existieren, zumal die Freiheitsvermutung der Grundrechte entfällt. Im Abwägungsmodell lässt sich das Kollisionsverhältnis dabei nicht immer auf das zweipolige Verhältnis Gesetzesbindung gegen Grundrechte reduzieren. Unter Umständen stehen der Gesetzesbindung mehrere Belange gegenüber („Prinzipienvieleck“). In diesem Fall sind mehrere Rechtsbeziehungen zu bilden. Da an dieser Stelle nur die Belange zu benennen sind, genügt hier die bloße Feststellung, dass der Gesetzesbindung mehrere selbstständige Verfassungsbelange gegenüberstehen. Das kann sich etwa in mehreren Belangen desselben Rechtsträgers, aber auch in einzelnen oder mehreren Belangen verschiedener Rechtsträger äußern. Vergleichbar zum ersten Modell, müssen auch im Auslegungsmodell in einem ersten Schritt Verfassungsbelange ermittelt werden. Anders als dort fokussiert sich die Suche aber nicht auf Prinzipien, die mit der Gesetzesbindung abgewogen werden, weil sie in Kollision mit dieser treten. Gesucht werden an dieser Stelle Verfassungswerte, die die Interpretation der jeweiligen Norm leiten können. Sie sind deshalb einzeln herauszuarbeiten und als solche zu benennen. Gleich dem Abwägungsmodell sichert dieser Schritt durch die Offenlegung von Bewertungsmaßstäben Transparenz und garantiert die Vollständigkeit des anschließenden Auslegungsprozesses. Namentlich die Grundrechte auf der einen und das Rechtsstaatsprinzip in Form der Rechtssicherheit auf der anderen Seite werden in den meisten Fällen die Auslegung der Rechtssätze leiten.
II. Der Konkordanzschritt (Abwägungsschritt) bzw. Interpretationsschritt (Schritt 2) Sind alle Verfassungsbelange ermittelt, findet im nächsten Schritt eine Abwägung der widerstreitenden Belange bzw. die verfassungsgeprägte Auslegung der Norm statt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bildet dafür den Modus; er vermittelt als Handlungsmaßstab die notwendige Struktur. 1. Die Unterschiede zwischen Abwägungs- und Auslegungsmodell An dieser Stelle gilt es zur besseren Verständlichkeit zunächst zwischen dem Abwägungs- und dem Auslegungsmodell zu differenzieren.
II. Der Konkordanzschritt (Abwägungsschritt) (Schritt 2)
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a) Der Konkordanzschritt im Abwägungsmodell Das Angemessenheitselement der Verhältnismäßigkeit4 ermöglicht einen optimalen Ausgleich der Verfassungsbelange. Diese Werte sind (ursprünglich in Bezug auf die Grundrechte) in praktische Konkordanz5 (K. Hesse) bzw. zu einem schonenden Ausgleich6 (P. Lerche) zu bringen. Das Ergebnis dieses Prozesses ist dann die strikte Beachtung der Gesetzesbindung oder ihr Zurücktreten zugunsten eines anderen Verfassungsbelangs. Ermittelt wird an dieser Stelle aber nur, ob die Verwaltung von der vermeintlich zwingenden Rechtsfolge abweichen durfte bzw. musste, aber noch nicht wie sie dies tun darf bzw. muss. Die Abwägung findet dabei auf Seite der Gesetzesbindung nur mit Blick auf die „gebunden“ vorgesehene Rechtsfolge statt. Es ist zu ermitteln, ob die konkret vorgesehene Anordnung im Gesetz im Einzelfall gegen einen kollidierenden Verfassungsbelang verstößt, diesen also unverhältnismäßig beschränkt. Dabei handelt es sich regelmäßig um klassische Prinzipienkollisionen7, die – ganz im Sinne der Prinzipientheorie – dadurch aufzulösen sind, dass dem einen oder dem anderen Prinzip Vorrang im jeweiligen Einzelfall eingeräumt wird.8 Die Konkordanzherstellung bedeutet aber auch, dass das Grundrecht nur soweit wie notwendig Vorrang genießt. Die Gesetzesbindung muss unter Umständen dem Grundrecht nicht vollständig weichen und auch ein Grundrecht setzt sich nicht immer vollständig durch. Beiden Prinzipien muss so effektiv wie möglich Geltung verschafft werden. Dafür bietet sich die anschließende Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. an. Da „gebundene“ Normen durch die Verfassungsqualität der Gesetzesbindung der Verwaltung nur durch andere Werte von Verfassungsrang eingeschränkt werden dürfen, ist die zu bildende praktische Konkordanz immer eine solche verfassungsrechtlicher Art. Wichtiges Indiz bei der Abwägung kann auch der Wortlaut der Norm bzw. ihr Regelungszusammenhang sein: Je offener eine Norm bereits ausgestaltet ist, desto eher vermutet der Gesetzgeber selbst eine Abwägung. Der Gesetzgeber ist bei diesen Normen selbst nicht von einer ausnahmslosen Geltung der Rechtsfolgenanordnung ausgegangen. Er bereitet damit einer Rechtsfolgenkorrektur unter Umständen selbst den Weg.9 4
Siehe hierzu grundlegend L. Hirschberg, S. 75 ff. K. Hesse, Rn. 72. 6 P. Lerche, S. 125 ff. und 134 ff. insb. S. 153 zum Gedanken des schonendsten Ausgleichs. 7 Freilich bildet dabei die Intensität des Eingriffs in die Rechte des Betroffenen ein maßgebendes Kriterium. Vgl. T. Westerhoff, S. 145 ff., der für diese Fälle ein Verfahren entwickelt. Eine Zusammenfassung findet sich auf S. 154. Diese Kriterien erscheinen an die von L. Michael (insbesondere JuS 2001, S. 149 f. sowie JuS 2001, S. 657 ff.) für die Verhältnismäßigkeitsprüfung angelehnt. 8 Die Prinzipientheorie liefert mit ihrer Vorarbeit somit auch ausreichend Kriterien zur Klärung der Frage, wann welchem Prinzip der Vorzug einzuräumen ist. Das relativiert auch etwaige Bedenken gegen diesen Ansatz. Dazu insbesondere T. Westerhoff, S. 136. 9 Daraus darf man dann aber, wie bereits dargestellt, nicht den Schluss ziehen, dass bei enger gefassten Tatbeständen keine Abwägung möglich sei. So aber wohl die bei V. Mehde, DÖV 2014, S. 544, erwähnten M. C. Jakobs und F. Schnapp. 5
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Für den Fall sog. Prinzipienvielecke müssen Abwägungsbeziehungen zwischen den jeweiligen Belangen gebildet werden. Dazu ein Beispiel: Stehen der Gesetzesbindung sowohl die Grundrechte des Adressaten der Verwaltungsmaßnahme als auch das Demokratieprinzip gegenüber, müssen Prinzipienpaare gebildet werden. In jeder Beziehung ist dann eine eigene Vorrangbeziehung zu ermitteln.10 Die Abwägung kann auch unentschieden ausgehen, falls nicht dem einen oder dem anderen Belang ein (klarer) Vorzug zu gewähren ist. An dieser Stelle hilft dann aber bei Verwaltungsentscheidungen auf „zwingender“ Normgrundlage die grundsätzliche11 Vermutung zugunsten der Gesetzesbindung. Liegt also ein Abwägungspatt vor, steht die Rechtsfolge fest: Es ist die vom Gesetzgeber vorgesehene Anordnung zu treffen. Schließlich geht es bei Dispensen nur um eine Überschreitung des Übermaßverbots im atypischen Fall. b) Der Interpretationsschritt im Auslegungsmodell Im Auslegungsmodell findet in diesem zweiten Schritt die eigentliche Interpretation der Rechtsnorm statt. Anhand der jedenfalls vier anerkannten Auslegungsmethoden wird der jeweilige Rechtssatz nach Wortlaut, Systematik, Historie und Telos interpretiert. Stärker als nach klassischem Verständnis und dem Abwägungsmodell spielen aber Verfassungsbelange schon im Rahmen der Interpretation eine herausgehobene Rolle. Die in dem ersten Schritt ermittelten Verfassungsbelange sind nicht bloß als Grenzen der Interpretation zu verstehen (Fragestellung: Verstößt die Auslegung dieser Norm gegen die Verfassung?), sondern leiten proaktiv auch bei jeder einzelnen Auslegungsmethode den Interpretationsvorgang. Interpretationsgegenstand ist, wie gesehen, nicht isoliert der Tatbestand oder die Rechtsfolge, sondern die vom Gesetzgeber für bestimmte tatbestandliche Fälle vorgesehene Rechtsfolgenanordnung als Einheit. Als Beispiel dient erneut ein Gaststättenbetreiber, der durch unlauteres Verhalten aufgefallen ist. Untersucht nun die Behörde, ob und wie sie einschreiten soll, stellt sich die Frage, ob „Unzuverlässigkeit“ i. S. d. § 15 Abs. 1 i. V. m. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GastG in Anbetracht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG und der ihr innewohnenden existenzsichernden Funktion auch den konkreten Fall erfasst, sofern vom Gaststättenbetreiber keine Gefahr für Einzelne oder die Allgemeinheit ausgeht. In diesem Fall beeinflusst Art. 12 Abs. 1 GG nicht bloß die Wortlautauslegung, sondern auch weitere Auslegungstechniken, etwa historische und teleologische Erwägungen. Daraus können sich Fragen ergeben wie zum Beispiel: „Wurde die Norm für solche Zwecke angesichts der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG 10
Dieser Gedanke findet sich etwa auch für die Strukturierung der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei L. Michael, JuS 2001, S. 148 ff. 11 Wie bereits dargestellt, gilt dies aber insbesondere nicht für die anderen Bestimmungen des Art. 20 GG: D. II. 2. c).
II. Der Konkordanzschritt (Abwägungsschritt) (Schritt 2)
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geschaffen?“ „Kann vor dem Hintergrund der Rechtssicherheit eine vom Wortlaut abweichende Maßnahme zum Schutz der Grundrechte gewählt werden?“ Denkbar ist auch der Fall, dass ein Gaststättenbetreiber zwar unzuverlässig ist, die Gefahren für Kunden aber nur gering sind und diese Gaststätte etwa die einzige Kneipe in einem Dorf darstellt und andernfalls eine soziale Isolation bestimmter Bevölkerungsgruppen entstehen könnte. Die dabei vorgenommene verfassungsgeleitete Interpretation bezieht sich aber nicht nur auf das Tatbestandsmerkmal der Unzuverlässigkeit, sondern fragt – ganz im Sinne der dargestellten einheitlichen Bewertung einer Norm – auch danach, welche Rechtsfolge angemessen ist, also, ob dafür die „zwingende“ Untersagungsverfügung verhältnismäßig ist oder ob auch eine häufigere Kontrolle mit Meldepflichten, eine zeitliche Untersagung für wenige Wochen oder Monate oder eine Untersagungsandrohung in Betracht kommen. Deutlich wird dies auch am Falle einer Beamtenernennung. § 12 Abs. 1 Nr. 1 BeamtStG regelt für den Fall, dass ein Beamter seine Ernennung durch Zwang erreicht hat, einen „gebundenen“ Ernennungswiderruf. Für den Fall, dass der Beamte selbst einer Nötigungssituation (etwa durch Dritte) ausgesetzt war und seinerseits bei dem Ernennungsvorgang unter Zwang gehandelt hat, kann sich aus teleologischen Gründen im Angesicht der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG oder dem Zugangsanspruch aus Art. 33 Abs. 4 GG aber durch die Auslegung die Frage ergeben, ob in diesen Fällen wirklich ein Ernennungswiderruf oder bloß eine erneute Prüfung des Einstellungsvorgangs die angemessene Rechtsfolge darstellt. In diesem zweiten Schritt prägt mithin die Verfassung die Auslegung der Normen. Es kommt zu einer verfassungsgeleiteten Interpretation des einfachen Rechts, wobei sich diese nicht nur auf den Tatbestand bezieht und damit nicht lediglich zu einer bloßen verfassungskonformen Auslegung wird. Um der Autorität des Gesetzgebers ausreichend Rechnung zu tragen, gilt bei Auslegungszweifeln bei „gebundenen“ Normen auch in diesem Modell die Vermutung zugunsten der vom Gesetzgeber „zwingend“ vorgesehenen Rechtsfolge. Ein erkennbar vom Wortlaut der Norm abweichendes Auslegungsbedürfnis ist damit erst bei einem eindeutigen verfassungsrechtlichen Auftrag angezeigt. 2. Die Konkordanzherstellung bei „gebundenen“ Verwaltungsentscheidungen durch Abwägung bzw. Auslegung Bei der Konkordanzherstellung von „gebundenen“ Normen ist zwischen verschiedenen Fallkonstellationen, in denen sie relevant werden können, zu unterscheiden. Die entwickelten Modelle entfalten in den diversen Anwendungsbereichen eine höchst unterschiedliche Wirkung. Wichtige Kriterien sind die Wirkung einer Verwaltungsmaßnahme auf den Adressaten sowie ein etwaiger Drittbezug.
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a) Adressatenbelastende Verwaltungsentscheidungen ohne Drittbezug Die Analyse der Rechtsprechungspraxis hat gezeigt, dass den Verwaltungsadressaten belastende Verwaltungsentscheidungen auf „gebundener“ Normgrundlage die praktisch häufigste Fallgruppe der Konfliktsituation zwischen Einzelfallgerechtigkeit und Normanwendung darstellt. In dieser Konstellation ist die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dann auch eindeutig: Er findet Anwendung als einzelfallgerechtigkeitsverwirklichender Modus zwischen der Gesetzesbindung bzw. der Rechtssicherheit als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips und (oftmals) den Grundrechten. Es kommt zu den oben ausführlich dargestellten Prinzipienkollisionen, entweder durch eine Abwägung oder im Rahmen der Auslegung. Bedenken können insoweit allenfalls noch mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes12 bestehen. Ist eine weniger einschneidende Maßnahme gewählt, die aber nicht ausdrücklich in der vermeintlich vollständig determinierten Rechtsfolge vorgesehen ist, könnte jener Verfassungsgrundsatz dadurch beeinträchtigt sein. Wie sich aber auch nach herrschendem Verständnis mit Blick auf Minusmaßnahmen ergibt, sprechen teleologische Gründe dagegen: Ist bereits die „schwerere“, weil grundrechtsbeeinträchtigendere, Rechtsfolge vom Gesetz gedeckt, gilt diese Vorbehaltswirkung erst recht für die weniger einschneidende Rechtsfolge. b) Adressatenbegünstigende13 Verwaltungsentscheidungen ohne Drittbezug Mit den entwickelten Regeln sind auch Fälle zu lösen, in denen eine „gebundene“ Norm begünstigend auf den Adressaten wirkt.14 Zu denken ist hier etwa an die Mitteilung von Prüfungsergebnissen im juristischen Staatsexamen nach § 18 Abs. 6 S. 1 JAG NRW („Die Entscheidung des Prüfungsausschusses über das Ergebnis der staatlichen Pflichtfachprüfung ist zu verkünden“) oder die Erteilung eines Sicherheitszertifikats nach § 9 Abs. 4 BSIG („Das Sicherheitszertifikat wird erteilt, wenn (…)“). Zum Teil wird bei diesen Normen argumentiert, dass sich ihre erhöhte Bindungskraft aus den Grundrechten selbst ergebe, wie etwa aus Art. 14 GG bei der Baugenehmigung.15 Für derartige Fallkonstellationen kann die Verhältnismäßigkeit als Ausgleichsmodus nicht zur Anwendung gelangen, wenn es an einem zur Gesetzesbindung widerstreitenden verfassungsrechtlichen Prinzip 12
Ausführlich zum Vorbehalt des Gesetzes B. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20 VI, Rn. 75 ff. m. w. N. 13 T. Westerhoff, S. 60, widmet sich der Wirkung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei begünstigenden „gebundenen“ Normen nicht. Das ist zu bedauern, weil dadurch erst ein vollständiges System entwickelt werden kann und begünstigende Fälle erst eine Vervollständigung des Untersuchungsgegenstands beinhalten. 14 Zur Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei begünstigenden hoheitlichen Maßnahmen siehe M. C. Jakobs, S. 154 ff. (insbesondere mit Blick auf die sog. Leistungsverwaltung). 15 Vgl. H.-J. Papier, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 14, Rn. 90.
II. Der Konkordanzschritt (Abwägungsschritt) (Schritt 2)
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bzw. einem weiteren Verfassungsbelang bei der Auslegung fehlt. Die Grundrechte scheiden in diesen Fällen ohne Drittbezug nämlich aus, da sie ausschließlich zugunsten des Verwaltungsadressaten streiten können. Gänzlich auszuschließen sind derartige Abweichungen bei begünstigenden „gebundenen“ Entscheidungssituationen aber nicht. Gleichwohl muss klar sein, dass der durch die Gesetzesbindung und den Wortlaut gesetzte Vertrauensschutz nur in gravierenden Fällen aufgeweicht werden darf, sodass es nur zu einer Abwägung mit anderen wichtigen Prinzipien (etwa dem Demokratieprinzip) kommen kann bzw. diese wichtigen Belange die Auslegung prägen. Es wird sich dabei regelmäßig um Fallkonstellationen handeln, die mit den Ausnahmen16 bei sog. echten Rückwirkungen (schwere, unabwendbare Nachteile für die Allgemeinheit, etc.) zu vergleichen sind. Vorgezeichnet ist trotz der theoretischen Existenz derartiger Fälle ihre praktische Irrelevanz. In diesen Fällen wirkt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zulasten des Bürgers. Das vermag schon verwundern, wenn man sich die historische Entwicklung der Verhältnismäßigkeit17 vor Augen führt, da die Verhältnismäßigkeit als bürgerschützende Begrenzung staatlicher Macht in das Recht eingeführt wurde und aus Abwehrpositionen abgeleitet wird. Verhältnismäßiges Staatshandeln beschränkt sich aber nicht auf den Schutz des Bürgers, sondern gewinnt zur umfassenden Herstellung von ausgeglichenen Zuständen innerhalb der Verfassung im ungewöhnlichen Fall eine freiheitsverkürzende Facette. Dieses Verständnis hat seinen Ursprung in der Verankerung der Verhältnismäßigkeit im objektiv-rechtlichen Rechtsstaatsprinzip.18 Das vorrangige Ziel der Verhältnismäßigkeit, Einzelfallgerechtigkeit herzustellen, kann nämlich auch bedeuten, dass diese zulasten (und damit von der Grundsatz-Rechtsfolge abweichend) des Bürgers durchgesetzt wird, wenn ihn eine „gebundene“ Norm im Einzelfall zum Nachteil (irgend-)einer geschützten Rechtsposition übervorteilt. Entsprechend hat die Rechtsprechung zu Recht auch Pauschalisierungen zugunsten eines Verwaltungsadressaten kritisiert.19 Aufgrund der hohen Anforderungen an Abweichungen vom „gebundenen“ begünstigenden Gesetz sollte man diesen Aspekt aber nicht überbewerten – die Verhältnismäßigkeit behält so gut wie immer ihre Schutzfunktion für die Bürger. Auch an dieser Stelle könnten Zweifel mit Blick auf den Vorbehalt des Gesetzes angebracht sein. Anders als beim Gedanken der Minusmaßnahmen lässt sich das Problem an dieser Stelle auch nicht mit dem Argument auflösen, dass der betroffene Bürger einer weniger einschneidenden Rechtsfolge gegenübersteht. Insoweit ist aber zu beachten, dass der Bürger bei der Ausführung begünstigender „gebundener“ Normen durch die Verwaltung keine Belastung auferlegt, sondern eine Begünstigung versagt bekommt. Für die Versagung von Begünstigungen kann aber – anders als für Belastungen – der Vorbehalt des Gesetzes nicht gelten. So 16
Dazu B. Grzeszick, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 83 ff. L. Hirschberg, S. 2 ff.; M. C. Jakobs, S: 2 ff.; R. v. Krauss, S. 3. ff.; P. Lerche, S. 24 ff. 18 Siehe hierzu Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 20, Rn. 107 ff. 19 Siehe dazu C. II. 1. 17
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F. Die Rechtsfolgenbestimmung i. w. S.
lassen sich Fälle von Begünstigungsversagungen pauschal nicht sicher voraus sehen und kodifizieren. Zudem erwirbt der Bürger Begünstigungen nur innerhalb des Rechts. Verbietet die Verfassung die Erteilung einer bestimmten Begünstigung, hat der Bürger diese Position rechtlich nie erworben. Der Vorbehalt des Gesetzes ist in diesen Fällen nicht verletzt. c) Adressatenbegünstigende Verwaltungsentscheidungen mit belastendem20 Drittbezug Anders als im vorgenannten Beispiel, wird die praktische Relevanz zur Abweichung von einer begünstigenden „gebundenen“ Rechtsfolge sichtbar, sofern sich diese begünstigende Entscheidung zugleich belastend auf einen Dritten auswirkt. In diesen Fällen stehen sich nämlich mehrere Verfassungsbelange von Bürgern gegenüber. Es streiten dann regelmäßig die Grundrechte des Adressaten gegen diejenigen des belasteten Dritten. Eine wesentliche Besonderheit dieser Vorschriften ist jedoch, dass die Berücksichtigung der Belange Dritter regelmäßig schon durch die Norm selbst vorgegeben wird. So muss beispielsweise die Bauordnungsbehörde gem. § 71 Abs. 1 MBO sicherstellen, dass der Baugenehmigung „keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen“, zu denen auch die Grundrechte Dritter zählen. Gleiches gilt für den Anspruch eines Einwohners auf Nutzung gemeindlicher Einrichtungen. Die nordrhein-westfälische Anspruchsgrundlage des § 8 Abs. 2 GO NRW gewährt den Nutzungsanspruch nur „im Rahmen des geltenden Rechts“. Auf diese Weise lassen sich etwa die Belange von Anwohnern, die je nach Art der Nutzung gestört werden können, berücksichtigen. Derartige tatbestandliche Einschränkungen ermöglichen also einen in der Norm selbst angelegten Interessenausgleich. Soweit begünstigende „gebundene“ Normen mit belastendem Drittbezug die Berücksichtigung von Belangen Dritter ermöglichen, sind sie bei der Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit regelmäßig unproblematisch. Enthalten die Rechtsgrundlagen für begünstigende „gebundene“ Verwaltungsentscheidungen mit belastendem Drittbezug eine solche Berücksichtigungsmöglichkeit nicht, sind Einzelfallaspekte über eine Neubewertung der Gesetzesbindung stets zu berücksichtigen. Diese tatbestandliche Möglichkeit, Interessen Dritter bei begünstigenden „gebundenen“ Normen zu berücksichtigen, ähnelt der Konzeption von belastenden „gebundenen“ Normen mit unbestimmten Rechtsbegriffen im Tatbestand.21 Diese unbestimmten Rechtsbegriffe ermöglichen über die Tatbestandsauslegung, Interes 20 Fälle mit begünstigender Wirkung sowohl gegenüber dem Adressaten als auch dem Dritten bedürfen hier keiner vertieften Erörterung, da sie sich nicht von der bereits oben erörterten Konstellation, in dem die begünstigende Wirkung ausschließlich gegenüber dem Adressaten besteht, unterscheiden. Freilich ist auch in diesen Fällen ein Prinzipienvieleck gegeben. 21 Vgl. zu diesem Normtypus B. V. 3.
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sen Dritter zu berücksichtigen. Die Möglichkeit zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit ist jedoch bei begünstigenden Normen leichter, da sie Abstufungen bei der Bestimmung der Rechtsfolge zulassen. Während bei belastenden „gebundenen“ Normen nur die Möglichkeit besteht, die Rechtsfolge anzuwenden oder im Wege der Tatbestandsauslegung keine Maßnahme zu ergreifen, können Belange Dritter bei begünstigenden „gebundenen“ Normen häufig über Nebenbestimmungen i. S. d. § 36 Abs. 1 VwVfG ausreichend berücksichtigt werden. Die Gewährung einer Begünstigung unter Auflagen unterscheidet sich insoweit von Minusmaßnahmen bei belastenden Verwaltungsentscheidungen, da weiterhin die gesetzlich vorgesehene begünstigende Rechtsfolge (z. B. Erteilung einer Baugenehmigung) gewährt wird. Nur bei Begünstigungen, die nicht mit Nebenbestimmungen versehen werden können, kommt es zu Situationen, die „gebundenen“ belastenden Verwaltungsentscheidungen ähneln. Insoweit kann eine verfassungsrechtlich gebotene Rechtsfolgenkorrektur durch das neue Verständnis der Gesetzesbindung erfolgen. Zudem bezieht sich die Verhältnismäßigkeitsprüfung auch nicht nur auf ein bestimmtes Tatbestandsmerkmal, sondern wird Teil der gesamten Bestimmung der Rechtsfolge. d) Adressatenbelastende Verwaltungsentscheidungen mit begünstigendem22 Drittbezug Es kann weiterhin eine für den Adressaten belastende Entscheidung auf der Grundlage einer „gebundenen“ Norm ergehen, die sich gleichzeitig aufgrund ihrer Drittwirkung begünstigend für einen Dritten erweist. Zu denken ist erneut23 etwa an eine gaststättenrechtliche Unzuverlässigkeitserklärung nach § 15 Abs. 1 i. V. m. § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GastG, die für einen konkret Betroffenen des Gaststätten betriebs auch nach den strengen Vorgaben der Schutznormtheorie24 im Einzelfall Schutzwirkung entfaltet. Diese Konstellation zeichnet sich dadurch aus, dass es ausnahmslos zu Abwägungen bzw. Auslegungen mit drei Prinzipien kommen muss. Den Grundrechten des belasteten Adressaten stehen sowohl die (vermutet vorrangige) Gesetzesbindung bzw. der Wortlaut als auch die Grundrechte des begünstigten Dritten gegenüber. Diese Kollisionen sind im bekannten Wege aufzulösen: Es findet eine Gesamt abwägung aus allen Belangen statt, wobei zu beachten ist, dass von der (vom 22 Fälle mit belastender Wirkung sowohl gegenüber dem Adressaten als auch dem Dritten bedürfen hier keiner vertieften Erörterung, da sie sich nicht von der bereits oben erörterten Konstellation, in dem die belastende Wirkung ausschließlich gegenüber dem Adressaten besteht, unterscheiden. Freilich ist auch in diesen Fällen ein Prinzipienvieleck gegeben. 23 Die Arbeit mit bestimmten Referenzgebieten, also etwa die rechtsgebietsbezogene Darstellung allgemeiner Phänomene, samt Verallgemeinerung, und damit letztlich eine Einebnung der strengen Trennung der allgemeinen von den besonderen Teilen, benennt A. Voßkuhle, GVwR I, § 1, Rn. 43 ff., als ein Merkmal der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft. 24 Dazu als Überblick bloß R. Wahl, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, Vorbemerkung zu § 42 Abs. 2, Rn. 94 ff.
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Wortlaut) vorgesehenen Rechtsfolge nur abgewichen werden kann, wenn sowohl ein Zurücktreten der Gesetzesbindung als auch der Grundrechte des Dritten dies gebieten. In derartigen Fällen erfährt die Gesetzesbindung bzw. die Wortlautgrenze also eine noch weitere Verstärkung, die in der Praxis wohl dazu führen wird, dass in diesen (freilich seltenen) Fällen, eine Abweichung vom „gebundenen“ Gesetz sehr schwer nur möglich ist. Das erscheint folgerichtig, da belastende „gebundene“ Normen regelmäßig zugunsten Dritter oder der Allgemeinheit wirken sollen. e) Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit durch Auflösungen von Prinzipienkollisionen Die dargestellten Fallkonstellationen verdeutlichen, dass sich die Herstellung praktischer Konkordanz in unterschiedlicher praktischer Häufigkeit äußert sowie Verschiebungen von Argumentationslasten und erschwerter bzw. erleichterter Abweichung vom Gesetz(eswortlaut) zu beobachten sind. Das ist letztlich aber keine einzelfallbetriebene Billigkeitsanwendung25, sondern nur konsequent: Beachtet die Verwaltung in der Rechtsfolgenbestimmung i.w.S. die dargestellten Grundsätze, lassen sich alle Prinzipienkollisionen (auch innerhalb der Normauslegung) nach den allgemeinen Grundsätzen der Prinzipientheorie auflösen. 3. Abwägungsprozesse bei Verwaltungsentscheidungen auf der Grundlage von Soll-Vorschriften Neben Entscheidungssituationen mit „gebundenen“ Normen und Ermessensentscheidungen gibt es noch die bereits erwähnten Soll-Rechtssätze26, die einen Mitteltyp zwischen den beiden erstgenannten Normarten bilden. Bei ihnen wird der Verwaltung eine Rechtsfolge für den Normalfall vorgegeben. Sie darf also erst dann von der Rechtsfolge abweichen, sofern sich gravierende Gründe dafür finden.27
25
Zu einer möglichen Billigkeitskompetenz der Verwaltung siehe I. Pernice, S. 325 ff. Zu pauschal dazu T. Westerhoff, S. 140, der – unter Verweis auf T. Barczak, VerwArch 105 (2014), S. 156 – davon ausgeht, dass eine Billigkeitskompetenz die Abstinenz jedweder verfassungsrechtlicher Maßstäbe bedeutete. 26 Formulierungsbeispiele etwa bei G. Beaucamp, JA 2006, S. 76, und T. Westerhoff, S. 57. T. Westerhoff, S. 56, verwendet den Begriff des Dispensermessens für Fälle, in denen die Verwaltung von der Regel-Rechtsfolge abweichen will. Zu Abweichungsmöglichkeiten bei Soll-Vorschriften siehe R. Mußgnug, S. 73 ff. 27 Auch wenn zwischen Soll-Entscheidungen und dem (umstrittenen) sog. intendierten Ermessen Unterschiede bestehen, da bei letzterem die Rechtsfolgenbestimmung nicht in der Normgestaltung Ausdruck gefunden hat, sondern sich vornehmlich aus Sinn und Zweck der Auslegung ergibt, lässt sich die Figur des intendierten Ermessens, so man sie denn anerkennt, in dem hier beschriebenen Modell erklären. Dazu etwa G. Beaucamp, JA 2006, S. 76 f., und T. Westerhoff, S. 57 f., jeweils m. w. N.
III. Die Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3)
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An dieser Stelle lässt sich der Unterschied zwischen „gebundenen“ Normen und Soll-Vorschriften erkennen. Auch Soll-Entscheidungen passen sich in das System des oben beschriebenen Entscheidungsfindungsprozesses ein. Allerdings sind einige Besonderheiten zu beachten: Die bei Soll-Entscheidungen wirkende Gesetzesbindung bzw. der Wortlaut als Grenze nehmen in ihrer Bindungswirkung eine Mittelstellung zwischen vermeintlich vollständig determinierten Entscheidungen und Ermessensentscheidungen ein. Der Sondierungsschritt entfällt, da es keines Verfassungsprinzips bedarf, um von der regelmäßig vorgesehenen Rechtsfolge bzw. ihrem Wortlaut abweichen zu können.28 Trotzdem genügt nicht eine bloße Rechtsfolgenbestimmung durch die Verwaltung wie bei Ermessensentscheidungen, da die gesetzgeberische Rechtsfolge für den Normalfall vorgegeben ist. Richtigerweise ist deshalb der Konkordanzschritt auch bei der Ausführung von Soll-Vorschriften zu prüfen. Er äußert sich hingegen als Abwägungsschritt zwischen der Gesetzesbindung und sonstigen rationalen Motiven. Es können insoweit auch nicht-verfassungsrechtliche Motive berücksichtigt werden. Der fehlende Bezug zur Konkordanz verleiht der fehlenden Notwendigkeit von Verfassungsbelangen Ausdruck. Verfassungsrechtliche Belange sind auf dieser Stufe zwar nicht notwendig, aber eine Kollision mit der verfassungsrechtlichen Gesetzesbindung kann eben auch nicht leichtfertig vorgenommen werden. Erkenntnisse können dabei auch – ähnlich wie bei der dann folgenden Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. – aus anderen Wissenschaften stammen.
III. Die Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3) Nachdem durch die Abwägung der Verfassungsbelange das (u. U. im Rahmen der Auslegung) im Einzelfall vorgehende Verfassungsgut ermittelt wurde, ist im letzten Schritt durch die Verwaltung die konkrete Rechtsfolge festzusetzen. Die Rechtsfolgenbestimmung ist in ähnlicher Weise bei allen Rechtsfolgentypen durchzuführen und stellt damit ein verbindendes Element auf der Rechtsfolgenseite dar. Insbesondere die vermeintlich kategorialen Alternativen Ermessensentscheidung und „gebundene Entscheidung“ weisen demnach eine wichtige Gemeinsamkeit auf. Bei Ermessensnormen fehlt indes die Notwendigkeit der ersten beiden Schritte, da es für die Bestimmung der einzelfallgerechten Rechtsfolge keines kollidierenden Verfassungsprinzips bedarf.
28
I. E. ähnlich auch T. Westerhoff, S. 171.
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1. Die Ermittlung der einzelfallgerechten Rechtsfolge Gebietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen Vorrang der Gesetzesbindung gegenüber den Grundrechten bzw. eine Auslegung innerhalb der Wortlautgrenze, ist die vom Gesetzgeber vorgesehene Rechtsfolge festzulegen. Differenzierter zu beurteilen sind diejenigen Fälle, in denen sich kollidierendes Verfassungsrecht gegen die Gesetzesbindung in der Kollision grundsätzlich durchzusetzen vermag (Abwägungsmodell) oder eine Auslegung aus Verfassungsgründen angezeigt ist, die vom Wortlaut der Norm abweicht (Auslegungsmodell). Man könnte auf den Gedanken kommen, der Verfassung das Gebot einer einzigen konkreten Rechtsfolge („Punktrechtsfolge“) in diesen Fällen zu entnehmen. Insbesondere in Fällen einer Abweichung vom „gebundenen“ Gesetz(eswortlaut), so ließe sich annehmen, seien administrative Optionen zu vermeiden, um einer drohenden Beliebigkeit in der Rechtsfolgenbestimmung und massiven Steuerungsverlusten des Gesetzgebers zu begegnen. Tatsächlich wird es auch Fälle geben, in denen eine einzige alternative Rechtsfolge dem der Gesetzesbindung (bzw. dem Wortlaut) vorgehenden Verfassungsprinzip Rechnung trägt.29 Auch in diesen Fällen erschöpft sich die Arbeit der gesetzesausführenden Stelle in der Anordnung der vorgesehenen Rechtsfolge. Sind etwa im Anwendungsbereich des § 35 Abs. 1 GewO sowohl die vom Gesetzgeber vorgesehene Gewerbeuntersagung als auch „Minusmaßnahmen“ in Form von Androhungen oder zeitlichen Befristungen unverhältnismäßig, kann und darf die Behörde keine alternative Maßnahme ergreifen. Nicht einzuschreiten ist in diesem Fall die einzige verfassungskonforme Rechtsfolge. Stehen der Verwaltung mehrere Optionen zur Auswahl, hat sie aber, freilich erneut unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit, auch die zurücktretenden Aspekte der Gesetzesbindung so weit wie möglich zu berücksichtigen, weil Herstellung von Konkordanz bedeutet, dass beide Güter möglichst effektiv zur Geltung kommen sollen. Die im Einzelfall zu wählende Rechtsfolge muss daher so wenig wie möglich, aber so weit wie (unter Grundrechtsgesichtspunkten) nötig von der gesetzlich vorgesehenen Rechtsfolge abweichen. 2. Der Rechtsfolgenkorridor Insbesondere bei verfassungsgebotenen differenzierten Lösungen können mehrere Rechtsfolgenoptionen denkbar sein. Schließlich determiniert die Verfassung das einfache Recht nicht in allen Details. Dabei handelt es sich um Fälle, in denen
29 Zur „einzigen richtigen Entscheidung“ siehe etwa M. Beckmann, DÖV 1986, S. 507. Nachweise in einem weiteren, also nicht nur auf die Verhältnismäßigkeit bezogenen, Sinne bei M. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Rn. 9, Fn. 33. Siehe auch T. Elsner, S. 250 f.
III. Die Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3)
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weder die vom Wortlaut der Norm „gebunden“ vorgesehene Rechtsfolge noch ein vollständiges Nichteinschreiten geboten sind. Liegt also die durch Auslegung oder Prinzipienkollision ermittelte, verhältnismäßige Rechtsfolge – um im gewählten Beispiel zu bleiben – zwischen den „Extremmaßnahmen“, bedingungsloser Gewerbeuntersagung und keiner Maßnahme, erweist sich die Rechtsfolgenbestimmung als aufwändiger. Ob eine auf Zeit befristete Gewerbeuntersagung für sieben, acht oder neun Monate verhältnismäßig ist, stellt letztlich eine derart spezifische Frage dar, die mit den Mitteln der Aus legung und Abwägung kaum noch zu beantworten ist und durch die Verfassung nicht vollständig vorgegeben sein muss. Aus diesem Grund kann es bei vermittelnden Maßnahmen, die sich zwischen dem rechtmäßigen Untätigbleiben und der „gebundenen“ Rechtsfolge des Wortlauts bewegen, zu einem Rechtsfolgenkorridor kommen. Innerhalb dieses Korridors erweisen sich alle Maßnahmen als von der Verfassung gedeckt. Es käme andernfalls zu einer vorschnellen Aufhebung der Verwaltung, weil diese aus Sicht der Verwaltungsgerichte nicht die verfassungskonforme Rechtsfolgenbestimmung getroffen hätte. Abwägung und Auslegung kommen hier an die methodischen Grenzen des Bestimmbaren. 3. Die Festsetzung der Rechtsfolge in multipolaren Verhältnissen Sollte die Gesetzesbindung in den Konstellationen der sog. Prinzipienvielecke in Bezug auf das eine Prinzip zurücktreten, sich hinsichtlich des anderen aber durchsetzen, ist in diesem Schritt die Rechtsfolge im Wege eines schonenden Ausgleichs zwischen allen Prinzipien zu bilden. Es ist also zu ermitteln, wie möglichst ein Optimum aller Prinzipien zur Geltung gelangen kann. In diesen Szenarien gewinnt dieser letzte Schritt des Verwaltungsverfahrens eine noch höhere verfassungsrechtliche Bedeutung. Unter Umständen kann auch eine Ausgleichsmaßnahme gegenüber einer Person ein angemessenes Mittel sein. 4. Die Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. bei Ermessensentscheidungen im Lichte der klassischen Ermessenslehre30 Die Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. äußert sich ähnlich auch bei Ermessensrechtssätzen. Dort stellt sie aber die einzige Stufe in der Rechtsfolgenbestimmung dar. Das wirft die Frage auf, inwieweit sich die Auswahl der Rechtsfolge bei Ermessensnormen im Verständnis der klassischen Ermessenslehre von dem hier entwickelten Modell unterscheidet.
30 Siehe zur Entwicklung des Ermessens den fantastischen Überblick bei U. Held-Daab passim.
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F. Die Rechtsfolgenbestimmung i. w. S.
Räumt der Gesetzgeber selbst der Verwaltung Freiräume bei der Festsetzung der genauen Rechtsfolge ein, sind die vornehmlich verfassungsrechtlichen Schritte der ersten beiden Stufen überflüssig: Es gibt schlichtweg keinen verfassungsrechtlichen Prinzipienkonflikt. Aus diesem Verständnis gewinnt man dann für die Rechtsanwendung ein Modell, das sich mit Blick auf die Entscheidungsfindung bei Ermessensnormen nicht von derzeitiger Theorie und Praxis unterscheidet. Die Verwaltung prüft ihre Maßnahmen auf die Recht- und Zweckmäßigkeit und beachtet dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der sich aus ihrer Perspektive als eine Überprüfung der eigenen Rechtsfolgenoptionen samt Abwägung der widerstreitenden Interessen darstellt. 5. Die Berücksichtigung nicht-verfassungsrechtlicher Belange Der Bestimmungsprozess der einzelfallgerechten Rechtsfolge kann sowohl durch verfassungsrechtliche als auch nicht-verfassungsrechtliche Motive geprägt sein. Insbesondere bei der Ausführung von Ermessensnormen und innerhalb des Rechtsfolgenkorridors bei „gebundenen“ Normen und Soll-Vorschriften können auch Aspekte berücksichtigt werden, die selbst keinen Verfassungsrang besitzen.31 Dazu bietet sich zunehmend im Sinne der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft der Transfer von Erkenntnissen aus Nachbarwissenschaften32 (etwa Ökonomie, Soziologie, Verhaltensforschung, Personenanalyse) an. Aber auch bei „gebundenen“ Normen können unter Umständen nicht-verfassungsrechtliche Motive die Rechtsfolgenbestimmung beeinflussen. Das hängt im Wesentlichen von dem Grad der Determination der Rechtsfolge durch die Verfassung ab. Gebieten also etwa die Grundrechte, von der im Gesetz „zwingend“ vorgesehenen Rechtsfolge abzuweichen, kann dadurch die Rechtsfolge feststehen. Andernfalls können aber, sofern die Konkordanzherstellung keine eindeutige Indikation für eine abweichende Rechtsfolge beinhaltet, auch Erkenntnisse aus anderen Wissenschaften helfen, die einzelfallgerechte Rechtsfolge zu treffen. Nicht-verfassungsrechtliche Argumente dürfen aber nicht in die verfassungsrechtliche Abwägung zwischen Gesetzesbindung und sonstigen Verfassungsbelangen im Konkordanzschritt bzw. in die Interpretation hineingezogen werden. Bei dieser letzten Stufe, der Rechtsfolgenbestimmung i. e. S., findet damit die Feinarbeit der Verwaltung statt. Die mitunter auf einem höheren Abstraktionsniveau 31 Auch C. Degenhart, NJW 1984, S. 2188, erwähnt „außerrechtliche Standards als Maßstab und Programm für staatliches Handeln“. 32 Siehe auch E. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, Kap. 1, Rn. 47. A. Voßkuhle, GVwR I, § 1, Rn. 38, benennt die „inter-, trans- oder zumindest multidisziplinäre Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen anderer Wissenschaftsdisziplinen“ (Hervorhebungen aus dem Original sind hier nicht wiedergegeben) als ein Merkmal der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft. Zu diesem Aspekt im Zusammenhang mit Prognoseentscheidungen der Verwaltung siehe P. Tettinger, DVBl. 1982, S. 423 f., 431.
IV. Gestufte administrative Entscheidungsfindung durch Normgestaltung
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geführten verfassungsrechtlichen Erwägungen der zweiten Stufe werden in die Form einer konkreten Rechtsfolgenanordnung überführt. Das abstrakte Gesetz wird unter Beachtung der Verfassung in die konkrete Einzelfallmaßnahme transferiert.
IV. Gestufte administrative Entscheidungsfindung durch Normgestaltung Dem hier gewonnenen Verständnis der unterschiedlichen Normtypen kann keine starre Kategorisierung entnommen werden. „Gebundene“ Normen unterscheiden sich nicht grundsätzlich, sondern bloß graduell in der Bestimmungsweise ihrer Rechtsfolge. Anders als es zum Teil etwa die sehr praktisch orientierte Rechtsprechung betreibt33, kann dem Entscheidungsfindungsprozess aber gerade auch eine Unterscheidbarkeit der Rechtsfolgentypen entnommen werden.
33
Dazu insbesondere Teil C. dieser Arbeit.
G. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. w. S. durch die Verwaltungsgerichte Die Kontrolle des Rechtfolgenbestimmungsprozesses der Verwaltung durch die Verwaltungsgerichte spiegelt den Entscheidungsfindungsprozess wider: Auch die Justiz vollzieht anhand der drei vorab dargestellten Stufen den Weg zur Bestimmung der Rechtsfolge. Anhand der einzelnen Schritte gilt es, die Kontrollmaßstäbe und insbesondere die Kontrolldichte1 an den einzelnen Stufen zu bestimmen.2 Trotz 1 Der Begriff der Kontrolldichte ist selbst noch nicht sonderlich alt. Wenn auch mit Blick auf die Verfassungsgerichtsbarkeit, spricht F. Ossenbühl (Diskussionsbeitrag), VVDStRL 39 (1981), S. 189, Anfang der 1980er-Jahre von „dem neuen Begriff Kontrolldichte“. Erstmalig wird er wohl von P. Lerche, S. 337, verwendet; vgl. F. Ossenbühl, FS-Redeker, S. 56, Fn. 4. Zu Nachweisen zu den unterschiedlichen Stufen der Kontrolldichte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (aber auch zu Querverweisen zu anderen Gerichten, etwa dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Europäischen Gerichtshof) siehe nur L. Michael, Verhältnismäßigkeit, S. 52 f.; ferner M. Klatt, S. 257 f., sowie A. Tsevas, S. 31 f., insbesondere Fn. 76. Insbesondere in der bei M. Klatt zitierten und auch schon hier erwähnten Hartz IV-Entscheidung legt das Bundesverfassungsgericht innerhalb einer Entscheidung unterschiedliche Maßstäbe an. Unzureichend ist die dualistische Aufteilung von M. Geurts, S. 32 f., in „vollständige Kontrolldichte“ und „eingeschränkte Kontrolldichte“. Siehe auch J.-R. Sieckmann, DVBl. 1997, S. 104 m. w. N., der auch feststellt, dass „Beschränkungen der gerichtlichen Kontrollintensität (…) vom BVerfG nicht strikt ausgeschlossen (werden)“, was sich mit Blick auf Einwände gegen verwaltungsgerichtliche Kontrollreduzierungen als interessant und wichtig erweisen kann. Auch lohnt der Blick über die deutschen Grenzen hinaus. C. Lerche, Kontrolldichte, S. 8 ff. verdeutlicht, dass etwa das französische System mit der Aufteilung in „contrôle minimum“, „contrôle normal“ und „contrôle maximum“ auch eine Abstufung gerichtlicher Kontrollintensitäten kennt. Der Minimalstandard („contrôle minmum“) bildet den Normalfall (vgl. a. a. O., S. 9) und die „contrôle maximum“ meint eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nur in „bestimmten Sachgebieten“ (S. 12). Ferner zu Frankreich auch M. Böhm, DÖV 2000, S. 993 f.; C. D. Classen, S. 141 ff., sowie E. Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 284. Das französische System zeigt auch, dass es neben starren, also gewissermaßen externen, Vorgaben zur Kontrolldichte (hier in Form der drei Stufen) auch flexible, durch die Verwaltungsgerichte selbst bestimmte, Dichtheitsgrade geben kann; vgl. C. Lerche, Kontrolldichte, S. 12. Kritisch zur fallabhängigen Kontrollvarianz E. Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 282. 2 L. Michael, Verhältnismäßigkeit, S. 52, insbesondere Fn. 42 f., wirft die berechtigte Frage auf, ob Überlegungen zur Kontrolldichte (überhaupt) solche mit verfassungsrechtlichem Gehalt oder bloß pragmatischer Natur sind. J.-R. Sieckmann, DVBl. 1997, S. 107, neigt wohl zu letzterer Betrachtung: „Die Kontrollintensität ist ein Problem der faktischen Möglichkeiten gerichtlicher Kontrolle sowie der angemessenen Verteilung beschränkter institutioneller Ressourcen.“ Da mit der Bestimmung, wie intensiv eine Administrativhandlung überprüft wird, aber auch unweigerlich ein Präjudiz über ihre Zulässigkeit erbracht wird, im System verfassungswidrig / verfassungskonform geurteilt wird und Machtverschiebungen zwischen den Gewalten zu vermuten sind, geht die Bedeutung der Kontrolldichtediskussion über den rein tatsächlichen Gehalt hinaus.
II. Die Kontrolle des Konkordanzschritts (Abwägungsschritts) (Schritt 2)
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der dogmatischen und methodischen Unterschiede zwischen den beiden Modellen im Rechtsfolgenbestimmungsprozess weisen die Kontrollstufen große Gemeinsamkeiten auf.
I. Die Kontrolle des Sondierungsschritts (Schritt 1) Der Sondierungsschritt greift die Suche nach Verfassungsbelangen auf, die entweder in Kollision zur Gesetzesbindung treten (Abwägungsmodell) oder die Auslegung der einfach-rechtlichen Norm leiten (Auslegungsmodell), wobei jeweils der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in modaler Weise Abwägung bzw. Auslegung leitet. Es handelt sich auf dieser Ebene um eine echte Rechtsentscheidung, wodurch die Verwaltungsgerichte eine vollständige und uneingeschränkte Prüfungskompetenz besitzen. Sie können daher an dieser Stelle etwa feststellen, dass bereits kein Verfassungsbelang existiert (z. B. da der Schutzbereich eines Grundrechts nicht eröffnet ist) oder – vice versa – ein Verfassungsbelang existiert, den die Verwaltung hätte berücksichtigen müssen und dies unterlassen hat (Verpflichtungssituation). Die Administrativgerichte sind nicht an die Vorarbeit der Verwaltung gebunden, können die Anzahl der Verfassungsbelange nach ihrem Rechtsverständnis erhöhen oder reduzieren (sogar bis keiner mehr existiert) und prüfen im Wege einer Vollkontrolle die Entscheidung der Verwaltung uneingeschränkt nach.
II. Die Kontrolle des Konkordanzschritts (Abwägungsschritts) bzw. Interpretationsschritts (Schritt 2) Im nächsten Schritt steht der Ausgleich der widerstreitenden Verfassungsbelange (Konkordanzschritt) bzw. sonstigen Belange (Abwägungsschritt) oder die Interpretation der Norm im Lichte der Verfassung (Interpretationsschritt) an. Im Abwägungsmodell beinhaltet die Abwägung bei „gebundenen“ Normen aufgrund des Prinzipiencharakters der Gesetzesbindung nur Verfassungsbelange (und ist damit als Konkordanzschritt zu bezeichnen), wohingegen bei Soll-Entscheidungen die Abwägung auch nicht-verfassungsrechtliche Belange integriert (daher: Abwägungsschritt). Im Auslegungsmodell vollzieht sich die Berücksichtigung dieser Belange bereits innerhalb der Interpretation der einfach-rechtlichen Normen. Hinsichtlich der Kontrolle entsteht in beiden Modelle für die Verwaltungsgerichte durch die Divergenz der zugrundeliegenden Normtypen grundsätzlich kein Unterschied. Sowohl die Kontrolldichte3 als auch die Voraussetzungen der Gerichtsentscheidungen sind identisch. 3
Dass es sich dabei nicht um einen exakten Begriff, sondern eher um eine Sammelbezeichnung handelt, lässt sich bei F. Kopp, in: Götz / Klein / Starck, S. 148 f. m. w. N., nachvollziehen. Einen bis 1986 relativ vollständigen Überblick zur Kontrolldichte gibt H.-J. Papier, DÖV 1986, S. 621. Auch im Bereich der Kontrolldichte existieren viele Schattierungen. So auch L. Michael,
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G. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. w. S.
1. Konkordanzherstellung durch Abwägung oder Auslegung als voll überprüfbare Verwaltungsentscheidung Auch die Entscheidung im zweiten Schritt stellt sich als eine echte Rechtskontrolle dar.4 Die Verwaltungsgerichte können die Entscheidung der Verwaltung, ob ein weiterer (Verfassungs-)Belang der Gesetzesbindung vorgeht bzw. durch Auslegung ein Verfassungsbelang eine Wortlautabweichung erfordert, voll überprüfen. Das beinhaltet auch, an diesem Schritt gegebenenfalls die Entscheidung der Verwaltung aufzuheben, weil diese zu Unrecht davon ausgegangen ist, dass etwa Grundrechte einen Dispens vom Wortlaut von einer einfach-rechtlichen „gebundenen“ Norm im Einzelfall gestatten. Denkbar ist aber natürlich auch der umgekehrte Fall, sofern die Verwaltung davon ausgeht, dass sich die Gesetzesbindung bzw. eine wortlautnahe Auslegung gegen Grundrechte durchsetzt, obschon im Einzelfall ein Abweichen von der „gebundenen“ Norm bzw. ihrem Wortlaut möglich oder nötig gewesen wäre.5 2. Abweichungsrecht und Abweichungspflicht beim „gebundenen“ und beim intendierten Gesetz Inhaltlich eng mit der Bestimmung der Kontrolldichte verbunden ist schließlich noch die Unterscheidung vom Abweichungsrecht6 und der Abweichungspflicht der Verwaltung7 vom einfachen Gesetz. Relevant ist in diesem Zusammenhang vor allem die Schnittmenge von Abwei chungsrecht und Abweichungspflicht vom Gesetz bzw. dessen Wortlaut – mit anderen Worten: Gibt es im Konkordanzschritt nur eine „richtige“ Lösung, sind also das Abweichungsrecht und die Abweichungspflicht vom Gesetz(eswortlaut) Verhältnismäßigkeit, S. 51: So ließen sich „Beschränkungen der Kontrolldichte (…) keinesfalls über einen Kamm“ scheren. 4 Nach h. M. unterliegt die Überlegung, ob von einer Soll-Vorschrift abgewichen werden darf, nicht im Ermessen der Behörde, sondern voller richterlicher Kontrolle. Vgl. T. Westerhoff, S. 57, Fn. 348. m. w. N. Siehe auch T. Westerhoff, S. 150: „Die Entscheidung der Behörde ist von der Rechtsprechung vollständig gerichtlich überprüfbar und kann durch eine eigene Entscheidung ersetzt werden.“ 5 K. Naumann, DÖV 2011, S. 104, geht zu Recht davon aus, dass eine Entscheidung neuerdings schon aufgrund des „Ermessensausfalls“ für rechtswidrig befunden werden kann, weil sich die Behörde keine Gedanken zu einer Abweichung von der „gebundenen“ Norm gemacht hat. Dazu auch V. Mehde, DÖV 2014, S. 546. 6 M. Bullinger, JZ 1984, S. 1007, hat mit Verweis auf R. Mußgnug (dort insbesondere S. 84 ff.), in diesem Zusammenhang den Begriff des Dispensermessens geprägt. Vgl. N. Wimmer, JZ 2010, S. 433. 7 Einen ähnlichen Diskussionsgegenstand behandelt O. Bachof, AöR 87 (1962), S. 24 f., 44 f., 47 f., wenn er prüft, ob die Verwaltung bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Normen, neben der Befugnis zur Abweichung von subjektiv verfassungswidrigen Normen, unter Umständen auch die Pflicht dazu hat.
II. Die Kontrolle des Konkordanzschritts (Abwägungsschritts) (Schritt 2)
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durch die Verwaltung kongruent? Oder gibt es – jenseits von Fällen, in denen die Verwaltung (vom Wortlaut) abweichen darf und solchen, in denen sie abweichen muss – Konstellationen, in denen sie lediglich eine Abweichungsbefugnis hat, ohne zu diesem Dispens verpflichtet zu sein? An diesem Punkt ist zwischen dem zweiten Schritt bei „gebundenen“ Verwaltungsentscheidungen und bei Soll-Entscheidungen zu differenzieren. a) Entscheidungen auf der Grundlage „gebundener“ Normen Bei „gebundenen“ Normen stellt sich auf zweiter Stufe das „Abweichungsrecht“ – so man in dieser Konstellation überhaupt davon sprechen mag – als deckungsgleich mit der Abweichungspflicht dar. Es gibt in Bezug auf diesen Schritt ausschließlich ein richtiges Abwägungs- bzw. Auslegungsergebnis: Gebietet die Verfassung ein Abweichen von der „gebundenen“ Norm, darf und muss die Verwaltung von der vom Wortlaut vorgesehenen Rechtsfolge abweichen. Andernfalls darf die Verwaltung nicht von der gesetzlichen Rechtsfolge abweichen. Diese Erkenntnis folgt für das Abwägungsmodell bereits aus dem prima-facie-Vorrang der Gesetzesbindung vor anderen Prinzipien, wie etwa der Grundrechte. Die Gesetzesbindung startet zwar mit einem Abwägungsvorsprung in Prinzipienkollisionen; geht aber etwa ein Grundrecht der Gesetzesbindung im Einzelfall vor, muss die Verwaltung auch zwingend von der Rechtsfolge des Gesetzes abweichen. Auch für das Abwägungsmodell gilt im Zweifelsfall eine Interpretation, die vom Wortlaut der Norm erfasst ist. Da sich die Herstellung eines schonenden Ausgleichs der Verfassungsbelange weniger als eine Berechtigung der Verwaltung, sondern vielmehr als eine Verpflichtung mit bestimmten Kompetenzen erweist, ist in Bezug auf die Gesetzesausführung bei „gebundenen“ Normen im zweiten Schritt der Begriff des „Abweichungsrechts“ zu vermeiden, da dies verschleiert, dass es sich nicht um eine a priori zugestandene Nützlichkeit handelt. Insofern trifft auch die zugespitzte Formulierung R. Mußgnugs8 nicht den Kern: „Auch mit den Geboten der Demokratie ließe sich ein Recht der Exekutive oder Justiz zu gelegentlichem selbstherrlichem Abweichen von bindenden Anordnungen der Volksvertretung kaum vereinbaren.“ Die Abweichung (vom Wortlaut) ist nämlich kein Selbstzweck und nicht selbstherrlich, sondern dient der Verfassungsdurchsetzung. Diese Verpflichtung der Verwaltung ist letztlich ein dienendes Element zur Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit durch weniger schablonenhaftes9 Verhalten. Letztlich findet sich damit eine Handhabung für diese Fallkonstellation, die die Annahme einer Übertragung des Gedankens der „Ermessensreduzierung auf Null“10 nahelegt. 8
S. 51. D. Merten, HGR III, § 68, Rn. 4. 10 Siehe nur U. Di Fabio VerwArch 86 (1995), S. 214 ff., und K.-E. Hain / V. Schlette / T. Schmitz AöR 122 (1997), S. 39 ff. Ferner auch R. Brinktrine, S. 155 ff. m. w. N. Zur Bedeutung 9
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G. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. w. S.
b) Entscheidungen auf der Grundlage von Soll-Vorschriften Anders stellt sich die Situation bei Soll-Entscheidungen dar.11 Da dort auf der mit dem Wortlaut als Grenze (Auslegungsmodell) bzw. der Gesetzesbindung (Abwägungsmodell) konkurrierenden Seite nicht zwingend Verfassungsvorschriften stehen, sind Fälle denkbar, in denen keine verfassungsrechtliche Pflicht für die Verwaltung besteht, vom Gesetz(eswortlaut) abzuweichen, zugleich der Verwaltung sinnvolle nicht-verfassungsrechtliche Argumente zur Seite stehen, die ein Absehen von der Regel-Rechtsfolge rechtfertigen. Da bei diesem Rechtsfolgentyp die Verfassung aber keine Verdichtung hin zu einer Abweichungspflicht in allen denkbaren Fällen vorgeben wird, können Abweichungsrecht und Abweichungspflicht durchaus divergieren. Aufgrund der mit Blick auf die Determinationsdichte existierenden Unterschiede zwischen „gebundenen“ Normen und Soll-Vorschriften, ist die vorstehend für „gebundene“ Normen angeführte Argumentation auch nicht auf Soll-Entscheidungen zu übertragen. Eine uferlose administrative Freiheit wird trotzdem nicht zu befürchten sein: Schließlich besteht noch die volle richterliche Überprüfbarkeit.
III. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3) Im dritten und letzten Schritt steht die Bestimmung der konkreten Rechtsfolge im Mittelpunkt. Für die Kontrolle stellt sich insbesondere die Frage, ob es auch an dieser Stelle einer vollen Überprüfbarkeit bedarf oder eingeschränkte Kontrolldichtemaßstäbe angezeigt sind. Diese Überlegungen verdichten sich zu der Frage: Wie ist mit begrenzten administrativen Gestaltungsoptionen umzugehen? 1. Fallkonstellationen Sollte es bei der Auflösung der Kollision der Verfassungsprinzipien zu einem Vorrang der Gesetzesbindung (Abwägungsmodell) bzw. zu einer wortlautgetreuen Auslegung (Auslegungsmodell) kommen, ordnet die Behörde die vom Gesetz(eswortlaut) „zwingend“ vorgesehene Rechtsfolge an. Ihr steht keinerlei Gestaltungsbefugnis zu, Abweichungen von der Gesetzesrechtsfolge sind rechtswidrig. Die Gerichte besitzen insoweit die volle Kontrollmöglichkeit. Diese besteht auch in denjenigen Konstellationen, in denen sich durch Auslegung oder Abwägung eine einzige zwingende alternative Rechtsfolge (Punktrechtsfolge) ergibt. der Ermessensreduzierung als Ausnahmefall komparativer Systeme siehe L. Michael, Gleichheitssatz, S. 213 f. 11 Schon allein deshalb ist die Überlegung V. Mehdes, DÖV 2014, S. 547, unzutreffend, dass bei einer breiteren Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „das zu absolvierende Prüfprogramm ganz selbstverständlich dem einer Soll-Vorschrift [entspräche]“.
III. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3)
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Anders sind hingegen Maßnahmen innerhalb des dargestellten Rechtsfolgenkorridors zu bewerten. Seine Notwendigkeit ergibt sich aus dem praktischen Bedürfnis der schweren Bestimmbarkeit einer punktgenauen Rechtsfolge aus der Verfassung. Um bei einer einzigen spezifischen Rechtsfolge (z. B. Gewerbeuntersagung für achteinhalb Monate bei einem Korridor von sechs bis neun Monaten) regelmäßige Aufhebungen der Verwaltungsmaßnahmen durch die Gerichte zu verhindern, kann es bei vermittelnden Maßnahmen zu einer Spanne kommen. Die Grenzen des Rechtsfolgenkorridors kontrollieren die Verwaltungsgerichte im Wege einer Vollkontrolle, wobei dieser so begrenzt wie möglich sein muss und wohl regelmäßig auch sehr eng zu fassen ist. So können die Gerichte im genannten Beispielsfall festlegen, dass eine befristete Gewerbeuntersagung für einen Zeitraum zwischen sechs und neun Monaten mit der Verfassung in Einklang stünde. Über- oder unterschreitet die Verwaltung die Grenzen des Korridors, ist eine Maßnahme rechtswidrig. 2. Die Vertretbarkeitsprüfung innerhalb des Rechtsfolgenkorridors Innerhalb des Rechtsfolgenkorridors ist die Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte auf eine Überprüfung am Maßstab der Vertretbarkeit begrenzt.12 Die Idee13 einer Vertretbarkeitsprüfung14 ist nicht neu15 und kann ihre historische Anleihe16 etwa bei Überlegungen F. Tezners17 zur Kontrolle des freien Ermessens und der sog. 12 Zu pauschal deshalb auch T. Westerhoff, S. 173: „Liegt ein solcher Ausnahmefall [gemeint ist die Anwendung der Verhältnismäßigkeit bei der Ausführung von „gebundenen“ Normen] vor, hat die Verwaltung kein Ermessen in dem Sinne, dass sie sich entscheiden kann, ob sie die Rechtsfolge vollziehen will oder nicht und falls ja, welche Maßnahme ihr am zweckmäßigsten erscheint.“ Ähnlich a. a. O., S. 178. 13 Eng verknüpft mit der Idee einer Vertretbarkeitsprüfung ist etwa die Beschränkung der Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte auf Verletzungen der Wesensgehaltgarantie nach Art. 19 Abs. 2 GG. Dazu steht auch nicht in Widerspruch, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht aus der Wesensgehaltgarantie abgeleitet werden kann (siehe nur D. Merten, HGR III, § 68, Rn. 28 f.), weil es dafür nicht auf die rechtshistorische Ableitung und dogmatische Verortung, sondern um ein mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wesensverwandtes Prinzip, ankommt. Der hier gewählte Ansatz zur Kontrolldichte entspricht wohl am ehesten der von F. Ossenbühl (FS-Redeker, 1993, S. 64 ff.) als funktionellrechtlichen Ansatz bezeichnete Herangehensweise. 14 In der Literatur wird dieses Phänomen zum Teil auch unter anderen Schlagwörtern geführt, z. B. „Sachrichtigkeitskontrolle“ (W. Brohm, NJW 1984, S. 12) oder „reduzierte Verhältnismäßigkeitskontrolle“. Siehe auch H. Sendler, Funktionsverschiebungen, S. 76. 15 Als neuerer Vertreter für bestimmte Fälle kann etwa F. Kopp, BayVBl. 1983, S. 679, gelten. Er zeigt aber auch (im zweiten Absatz), dass die Vertretbarkeitslehre in bestimmten Bereichen (insbesondere beim „Beurteilungsspielraum“) zu einer erhöhten Kontrolldichte führen kann und soll. 16 Für Nachweise insbesondere zu noch älterer Literatur siehe C. H. Ule, GS-Jellinek, S. 316 ff. 17 F. Tezner, Freies Ermessen, S. 158 ff.: „Darum soll der Verwaltungsrichter verwaltungsbehördliche Auslegungen stehen lassen, die er nicht schlagend zu widerlegen vermag (…). Er soll mit Richtigstellungen von unsicheren Auslegungen erst dann einsetzen, wenn ihre Unrichtig-
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G. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. w. S.
Vertretbarkeitslehre nach C. H. Ule18 nehmen. C. H. Ule entwickelte die Lehre19 für unbestimmte Rechtsbegriffe20 und verband mit dem Begriff „vertretbar“ (möglicherweise auch) die Auffassung, dass eine Entscheidung (personenbezogen) nicht nachgeholt werden, die Person also nicht vertreten werden kann. Für diese Untersuchung soll aber der vielfach der Lehre beigelegte und so auch schon früher von F. Tezner verwendete (sachbezogene) Sinn der „Nicht-Abwegigkeit“ weiterentwickelt werden.21 Die Gerichte überprüfen also mittels einer Vollkontrolle keit durch einen bestimmten Fall zur Evidenz gebracht wird.“ (S. 159). „Begründet z. B. schon die Möglichkeit des Eintrittes eines Ereignisses die Voraussetzung der Rechtmäßigkeit eines obrigkeitlichen Aktes, dann wird sich der Verwaltungsrichter bei der Prüfung der Anschauung der Verwaltungsbehörde über das Vorliegen dieser Voraussetzung auf das Urteil zu beschränken haben, ob sie vertretbar, ob sie gedanklich möglich ist, ob sich, was die Behörde ausspricht, ‚hören läßt‘, und nicht schon deshalb zur Behebung eines Verwaltungsaktes schreiten dürfen, weil auch das Entgegengesetzte möglich, die entgegengesetzte Anschauung vertretbar ist.“ (S. 160). 18 Erstmalig und grundlegend in GS-Jellinek, S. 309 ff., sowie C. H. Ule, Verwaltungsprozeßrecht, S. 7 ff. Wiederaufgegriffen in VerwArch 76 (1985), S. 16 ff. Auf ihn verweist mit gewisser Sympathie auch W. Hoffmann-Riem, GVwR I, § 10, Rn. 99, Fn. 524. Darauf bezieht sich auch etwa H. Helmrich (Diskussionsbeitrag), in: Götz / Klein / Starck, S. 227. Inhaltlich nimmt an der Lehre auch das Modell von G. Schmidt-Eichstaedt, DVBl. 1985, S. 645 ff., Anleihe. Auf S. 648 fordert er als ein Bewertungskriterium, „daß die Entscheidung insgesamt vertretbar ist“. H. Sendler, FS-Ule, S. 337, bezeichnet sie zu Recht als „immer wieder zitierter und in Anspruch genommener Ausgangspunkt weiterer Überlegungen“. 19 Wenn auch den Ansätzen einer Vertretbarkeitslehre kein nachhaltiger Erfolg beschieden war, so hat sich zumindest im Bereich planerischer Abwägungen die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine rechtliche Volldetermination der Verwaltung nicht möglich ist. Vgl. P. Badura, FS-Bachof, S. 178 ff.; W. Brohm, DÖV 1982, S. 5 ff.; M. Bullinger, JZ 1984, S. 1005, 1008 f., und F. Schoch, GVwR III, § 50, Rn. 279 („Planungsermessen“). Siehe ferner H. Schulze-Fielitz, FS-Hoppe, S. 1004, auch mit einem Nachweis aus der Rechtsprechung. S. Oeter, Kontrolldichte, S. 273, erkennt, dass die ausländischen Modelle, die weniger Wert auf eine inhaltliche Kontrolle der Verwaltung, dafür aber mehr auf Verfahrensvorschriften legen, dem deutschen Modell des Planungsermessens ähneln. Siehe ferner S. 274: Verhältnismäßigkeit als Ermessensgrenze meine im Ausland eher das, was in Deutschland unter Planungsermessen verstanden wird: „[ergänzendes] Medium der Willkürkontrolle“. M. Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114, Rn. 5, nennt die Struktur der Verhältnismäßigkeit, die aus der „Grundforderung des Rechtsstaats nach Rationalität“ folge, beim planungsrechtlichen Abwägungsgebot, „modellhaft“. Kritisch zur kategorialen Unterscheidung des Planungsermessens vom „normalen“ Ermessen (Nachweise bei S. Oeter, Kontrolldichte, S. 274, Fn. 41) ist auch M. Jestaedt, in: Ehlers / Pünder, Rn. 18. Insgesamt zu diesem Thema lesenswert A. Tsevas passim. Siehe zum sog. Regulierungsermessen N. Wimmer, JZ 2010, S. 433, Fn. 3, sowie S. 435. 20 Für Nachweise zur Vertretbarkeit als Maßstab zur Kontrolle bei unbestimmten Rechtsbegriffen siehe nur E. Schmidt-Aßmann, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 19 IV, Rn. 183. Auf die Notwendigkeit, sich die Fragen zum unbestimmten Rechtbegriff nach der Ausbreitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu stellen, weist auch V. Mehde, DÖV 2014, S. 547 f., hin. 21 Auf diesen Umstand weist etwa M. Ibler, S. 191, hin. Er hält es für ein weit verbreitetes Missverständnis, dass C. H. Ules Vertretbarkeitslehre generell dafür in Anspruch genommen wird, Behördenakte durch Verwaltungsgerichte allgemein nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfen zu lassen. Dieses gängige Verständnis lässt sich etwa bei H. Ehmke, S. 192 f., und E. Pache, S. 63 ff., betrachten. Anders, freilich ohne Bezug auf C. H. Ule, aber H. Hofer-Zeni, S. 124 ff. Eventuell wollte C. H. Ule aber weder die eine Lesart bevorzugen, noch die andere ausschließen.
III. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3)
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die Grenzen des Rechtsfolgenrahmens (Beispiel: Gewerbeuntersagung zwischen sechs und neun Monaten). Innerhalb dieses Rechtsfolgenkorridors nimmt die Justiz ihre Kontrollintensität zurück und überprüft lediglich, ob die spezifisch gewählte Rechtsfolgenanordnung unvertretbar gewesen ist.22 Diese Vertretbarkeit bemisst sich vor allem an der inhaltlichen Plausibilität des Abwägungsergebnisses.23 Unvertretbarkeit ist etwa anzunehmen, sofern die Behörde aus sachfremden Motiven die Rechtsfolge angeordnet hat, obwohl sie innerhalb des verfassungsgebotenen Rechtsfolgenrahmens geblieben ist. Diese Konstellation ist aus der Lehre vom Ermessensfehlgebrauch bekannt.24 Trifft der Sachbearbeiter in der Ordnungsbehörde im oben genannten Beispiel die Entscheidung, das Gewerbe dem Gewerbetreibenden für achteinhalb Monate zu untersagen, hält er sich im von der Verfassung gebotenen Rahmen. Trifft er diese Entscheidung aber, weil ein Verwandter einen konkurrierenden Gewerbebetrieb betreibt und er den Wettbewerb für diesen verringern möchte, ist die Entscheidung rechtsfehlerhaft. Anders als bei vollständig determinierten Entscheidungen außerhalb des Rechtsfolgenrahmens liegt hier auch eine Fehlererheblichkeit vor, die das deutsche Verwaltungsrecht für eine Aufhebung fordert (vgl. § 46 VwVfG)25. Dem Gewerbetreibenden wird nämlich eine in der Motivation fehlerfreie Entscheidung der Verwaltung vorenthalten.26 In diesem Fall ist die Willkür ursächlich für eine 22 Zur gleichheitsrechtlichen Bedeutung der von A. Bleckmann entwickelten Vertretbarkeitstheorie gegenüber Auslegungen durch den Bürger siehe L. Michael, Gleichheitssatz, S. 298 ff. 23 Ähnlich für das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gesetzgeber T. Kingreen / R. Poscher, Rn. 312 ff.: Stimmigkeitskontrolle. Für einen Teilbereich formuliert dies etwa K. Redeker, DÖV 1971, S. 762, so: „Für die beiden hier aufgezeigten Bereiche ist die Feststellung, daß die Entscheidung der Verwaltung vertretbar ist, daß sich zwar auch andere Lösungen denken lassen, ja möglicherweise vom Gericht für besser gehalten werden, daß die Verwaltungsentscheidung aber in der Bandbreite der Entscheidungsmöglichkeiten bleibt, wesentlich. Sie darf nicht den allgemeinen Denkgesetzen oder Erfahrungssätzen widersprechen. Sie muß erkennbar auch mit den Gesetzeszwecken, insbesondere auch der Wertordnung des Grundgesetzes übereinstimmen.“ 24 Siehe dazu bloß M. Sachs, in: Stelkens / Bonk / Sachs, VwVfG, § 40, Rn. 62 ff. 25 Dass die Anfechtbarkeit von Verwaltungsakten wegen Verfahrensfehlern abgenommen hat, lässt sich bei L. Michael, VVDStRL 75 (2016), S. 172, Fn. 176, nachvollziehen. 26 Das lässt sich vor allem auch damit begründen, dass eine durch eine fehlerhafte Motivation getragene Entscheidung irrational und damit nicht gerecht ist. Dementsprechend bezeichnet man in England Fälle des Ermessensfehlgebrauchs auch in der dort bekannten Systematisierung Lord Diplocks aus der Entscheidung Council of Civil Service Unions v Minister for the Civil Service aus dem Jahr 1984 (bekannt als GCHQ case) typischerweise als „irrationality-Test“ (Anmerkung: daneben existieren noch die Fehlerkategorien illegality, procedural impropriety und legitimate expectation); diese Überprüfung ist auch unter dem Namen „Wednesbury-Test“ bekannt. Siehe auch M. Herdegen, Kontrolldichte, S. 45, und zu England ferner E. SchmidtAßmann, DVBl. 1997, S. 284. U. Scheuner, DÖV 1969, S. 592, erblickt im Gesetz als Auftrag der Verwaltung im Sinne eines Finalcharakters gerade im „Ermessensmißgebrauch“ einen Verstoß gegen diesen Auftragscharakter. Betont man also den Charakter des Gesetzes als Zielvorgabe, gewinnt insbesondere der Ermessensfehlgebrauch einen hohen Stellenwert, stellt er doch eine Rückkoppelung an die gesetzgeberischen Motive für die Normschaffung dar.
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G. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. w. S.
rechtsfehlerhafte Entscheidung. Eine Verletzung des Willkürverbots wird durch eine Aufhebung der Verwaltungsentscheidung eingelöst. Weiterhin erforderlich für die Vertretbarkeit der genauen Rechtsfolge ist ferner eine tragfähige Begründung der Verwaltung, aus der sich gerade die gewählte Rechtsfolge ergibt. Es geht insoweit aber weniger um den bloß formalen Begründungsakt i. S. d. § 39 VwVfG, der bereits erfüllt ist, wenn die Verwaltung ihre tatsächliche Motivation offengelegt hat, unabhängig davon, ob diese den Verwaltungsakt materiell trägt. Es sind substantiierte Erwägungen für die exakte Rechtsfolgenbestimmung erforderlich, die sich etwa am Willen des Gesetzgebers und einer möglichst optimalen Verfassungsdurchsetzung orientieren und die Entscheidung innerhalb des Rechtsfolgenkorridors begründen. Gleichwohl müssen und dürfen die Gerichte, wie dargelegt, diese Erwägungen bloß auf ihre Plausibilität überprüfen und nur abwegige Begründungen verwerfen. Ob im Einzelfall das Gewerbe also sechs, sieben, acht oder neun Monate (oder gar in weiteren Zwischenstufen) untersagt wird, ist der begründungspflichtigen Verwaltung anvertraut.27 3. Die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts als Kompetenzabgrenzung zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichten Durch dieses eng begrenzte Vertretbarkeitselement wird das Verhältnis von Verwaltung und Verwaltungsgerichten in einer Weise beschrieben, die aus der Relation des Bundesverfassungsgerichts zu den Fachgerichten28 bekannt ist: Die Kontrolle der Verwaltung durch die Gerichte ist beschränkt auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts. Diese Formel beschreibt im Allgemeinen die beschränkte Kontrolldichte des Verfassungsgerichts gegenüber den Fachgerichten. Die Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts fällt nicht in die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, sondern unterfällt dem Primat der Fachgerichte.29 Übertragen30 27
Die Reduktion der Kontrolldichte bei der Ausführung „gebundener“ Normen erweist sich damit auch als ein Komplementär zur Ausdehnung der Verhältnismäßigkeit. So entgeht man auch der etwa bei V. Mehde, DÖV 2014, S. 546, geäußerten Befürchtung, dass durch eine Ausbreitung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes „nicht nur der Verwaltung, sondern eben auch dem Gesetzgeber die eigentlich ihm obliegende Entscheidung darüber genommen [wird], was in welcher Konstellation verhältnismäßig ist“. 28 Die extensive Ausübung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Seite der Verwaltungs gerichte hat wohl inzwischen tatsächlich dazu geführt, dass „die Verwaltungsgerichte materiell ein Stück Verfassungsgerichtsbarkeit übernommen“ haben. S. Oeter, Kontrolldichte, S. 275. 29 Bekanntermaßen hat es immer wieder Zweifel an der Einlösung dieses Versprechens einer Selbstbeschränkung gegeben. Statt vieler genannt sei hier die pointierte Formulierung H. Sendlers, NJW 1994, S. 1518, der beim Bundesverfassungsgericht von der Rolle „als oberstes Amtsgericht“ und „Zuchtmeister der Nation“ spricht. 30 Auch E. Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 282, stellt fest, dass die Kontrolldichte des Bundesverfassungsgerichts gegenüber den Fachgerichten Rückschlüsse auf das Verhältnis der Verwaltungsgerichte gegenüber der Verwaltung zulässt.
III. Die Kontrolle der Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. (Schritt 3)
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bedeutet das auf die hier erörterten Fälle: Erst wenn die Rechtsfolgenbestimmung innerhalb des Rechtsfolgenkorridors unvertretbar ist, sich diese also als Verletzung des Übermaßverbots und damit als eine Verfassungsverletzung erweist, kann und darf die Verwaltungsgerichtsbarkeit diese aufheben. In diesen Fällen wird die Verhältnismäßigkeit zur spezifischen Trennungslinie zwischen Verwaltung und Gerichten, scheidet sie doch die vertretbare von der unvertretbaren Handlung. Darin liegt das Anerkenntnis einer beschränkten administrativen Entscheidungsbefugnis, deren Verletzung sich innerhalb des Rechtsfolgenkorridors nicht bloß in einer einfachen Unverhältnismäßigkeit äußert. Der Fall, in dem ein Verwaltungsgericht eine Exekutivhandlung am Maßstab der Verhältnismäßigkeit verwirft, setzt also gerade eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts durch die Exekutive voraus; sie muss also unvertretbar gehandelt haben. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im hier verstandenen Sinne ist also aus der Kontrollperspektive ein verfassungsrechtlicher Maßstab. Die Konsequenz daraus lautet: Die Begrenzung der Kontrolldichte der Verwaltungsgerichte ist im Falle des Verwaltungsrechts keine Abgrenzung zwischen Verfassungsgerichten und Fachgerichten, sondern zwischen Gerichten und Exekutive.31 Die Reduktion auf eine Vertretbarkeitskontrolle bettet diese Auffassung einer begrenzten Kontrolldichte in das Verständnis der Kooperationsfelder zwischen Verfassungsakteuren ein. Sie zeigt einen Aspekt der funktionellen Grenzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit auf32. Damit wird in besonderer Weise auch der Respekt der Gewalten untereinander zum Ausdruck gebracht. Schließlich stimmt die immer wieder geäußerte Feststellung, „daß dem Recht nicht gedient ist, wenn das problematische Urteil der Verwaltung durch ein nicht weniger problematisches Urteil des Verwaltungsgerichts ersetzt wird“33. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat für 31 Dies inkludiert und bezweckt eine Rücknahme des Verfassungsrechts auf Fälle echter Verfassungsverletzungen bei der Ausübung von Ermessen. In rechtsvergleichender Hinsicht ist die deutsche Ermessenskontrolle einmalig durch das Grundgesetz geprägt. Dazu S. Oeter, Kon trolldichte, S. 275: „Dahinter steht wohl vor allem eine in unvergleichlichem Ausmaß erfolgte Überformung des Verwaltungsrechts durch das Verfassungsrecht, d. h. in erster Linie durch die Grundrechte. Nahezu jeder Verwaltungsrechtsstreit ist ja bei uns inzwischen potentiell (oder auch akut) ein Streit um verfassungsrechtliche Positionen. Bei der Umsetzung von Grundrechten aber tun sich Richter (von den Betroffenen ganz zu schweigen) wohl besonders schwer, recht weitgehende Entscheidungsspielräume der Verwaltung zu akzeptieren, die außerhalb gerichtlicher Kognition bleiben.“ 32 Anlehnung an einen Beitrag von K. Hesse, FS-Huber, S. 261 ff., zur funktionellen Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit. 33 Vgl. M. Ibler, S. 192, Fn. 240. m. w. N. zum Ursprung. Dass die Verwaltungsgerichte ihr Ermessen nicht an die Stelle des Ermessens der Verwaltung setzen dürfen (H. Ehmke, S. 203, Fn. 37; M. Ibler, S. 192, Fn. 241, sowie K. Redeker, DÖV 1971, S. 760, Fn. 25; jeweils m. w. N.), wird durch das Bundesverwaltungsgericht in der Wyhl-Entscheidung (BVerwGE 72, 300) bedingt auch anerkannt; vgl. F. Ossenbühl, FS-Redeker, S. 69; H.-J. Papier, in: HStR VI, § 177, Rn. 84; ders., DÖV 1986, S. 627; H. Sendler, FS-Ule, S. 356; J.-R. Sieckmann, DVBl. 1997, S. 101. Ganz offen erkennt N. Wimmer, JZ 2010, S. 434, an, dass „der Anspruch der Gerichte [besteht], behördliche Gewichtungen und Priorisierungen anhand eines rechtlichen Maßstabs
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die Rechtsfolgenbestimmung als Entscheidungsgrenze eine außerordentliche Bedeutung. Das Übermaßverbot verspricht Einzelfallgerechtigkeit34 und bildet dazu auch das taugliche Mittel. Nicht beabsichtigt – aber auch nicht zu befürchten – ist der Effekt einer Entziehung von Kontrollmechanismen der Gerichte für administrative Handlungen.35
nachzuvollziehen und die richterliche Wertung und Gewichtung an die Stelle der behördlichen setzen zu dürfen“. Kritisch dazu M. Gerhardt, in: Schoch / Schneider / Bier, VwGO, § 114, Rn. 9: „jede ‚Abwägung‘ [der Gerichte] wäre Manipulation“. Siehe ferner C. H. Ule, GS-Jellinek, S. 316 m. w. N. Für die Gerichte darf u. a. das Übermaßverbot also nicht dazu dienen, ihre eigenen Entscheidungen statt denen der Behörde durchzusetzen. Wie sich auch bei F. Kopp, BayVBl. 1983, S. 678, nachvollziehen lässt, ist das aber durchaus gängig. 34 Kritisch dazu E. Schmidt-Aßmann, DVBl. 1997, S. 282 m. w. N. 35 In diese Richtung ist die Schaffung des Ermessens aber durchaus zu verstehen. Vgl. etwa F. Fleiner, S. 119 ff.
H. 15 zusammenfassende Thesen 1. „Gebundene“ Normen und Ermessensrechtssätze bilden keine streng gegensätzlichen Rechtsfolgentypen, sondern unterscheiden sich in der Determinationsdichte der Exekutive durch den Gesetzgeber graduell voneinander. Der Wortlaut einer Rechtsfolge lässt keinen zwingenden Schluss auf eine ausnahmenresistente Einzelfallkonkretisierung durch eine „gebundene“ Norm zu, sondern bildet einen wesentlichen Anhaltspunkt bei der Ermittlung der Konkretisierungsdichte. Der Gesetzgeber selbst legte bereits unterschiedliche Maßstäbe bei dem Grad der Vorabbestimmung durch „gebundene“ Normen an. Der Terminus „gebundene Norm“ ist daher nicht präzise und sollte nur mit dem notwendigen Bewusstsein für die variable Bindungsintensität dieser Normen verwendet werden. 2. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist ein verfassungsrechtlicher Modus, um Verfassungsprinzipien in Ausgleich zu bringen. In diesem Sinne bildet nicht die Verhältnismäßigkeit isoliert die Grenze staatlichen Handelns, sondern die Verfassungsprinzipien, die mit den öffentlichen Interessen durch die Verhältnismäßigkeit in Ausgleich gebracht werden. Sie ist von einem ursprünglich bürgerschützenden Instrument zu einem allgemeinen Ausgleichsmechanismus weiterzuentwickeln. 3. Einzelfallgerechtigkeit ist die überragende Funktion des Rechts. Unter ihr ist die Existenz ausgewogener – im Sinne verhältnismäßiger – Zustände zu verstehen. Verfassungsgeboten ist die Verhältnismäßigkeit jeder staatlichen Maßnahme. Weitere verfassungsrechtliche, durch „gebundene“ Normen intendierte Ziele, namentlich Rechtssicherheit und Gleichheit, haben insoweit einen dienenden Charakter. Einzelne Dispense vom Gesetz(eswortlaut) widersprechen nicht dem Generalisierungsprivileg des Gesetzgebers, da dieses gerade eine Feinanpassung in der Rechtsanwendung voraussetzt. 4. Nach der klassischen Rechtsfolgenlehre stellen atypische, unverhältnismäßige Einzelfälle bei der Ausführung „gebundener“ Normen ein Problem der (abstrak ten) Verhältnismäßigkeit einer Norm oder Kollateralschäden dar. Von diesem Verständnis entfernen sich die Verwaltungsgerichte seit etwa zehn Jahren zu Recht schrittweise. In einer zunehmenden Anzahl von Entscheidungen wenden sie den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch bei der Ausführung „gebundener“ Normen an. 5. Die bisherigen gesetzgeberischen Optionen, Einzelfallgerechtigkeit zu ermöglichen, insbesondere Härtefallklauseln, die Verhältnismäßigkeit als Tatbestandsmerkmal, unbestimmte Rechtsbegriffe und die Inkaufnahme von Vollzugsdefiziten, erweisen sich nicht als ausreichende Alternativen, da sie insbesondere abgestufte und vermittelnde Lösungen nicht dogmatisch sauber ermöglichen.
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6. Um Einzelfallgerechtigkeit durch die Normanwendung zu ermöglichen, bedarf es eines dynamischen Verständnisses der Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung. Wahrnehmungsveränderungen dieses Verfassungsgrundsatzes stehen in einer historischen Kontinuität, da die Interpretation der Gesetzesbindung über die Zeit Schwankungen unterliegt. 7. Die Gesetzesbindung von Verwaltung und Rechtsprechung ist nicht ausschließlich in Art. 20 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankert, sondern bildet ein Mosaikkonstrukt aus verschiedenen Verfassungsprinzipien. Dazu zählen außerdem die Grundrechtsbindung der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG), das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1, Abs. 2 GG), das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und für die Justiz auch noch die Gesetzesunterworfenheit der Richter (Art. 97 Abs. 1 GG). 8. Die Dynamisierung der Gesetzesbindung kann durch zwei dogmatische Alternativen erreicht werden. Entweder kann die Gesetzesbindung als Prinzip im Sinne der Prinzipientheorie nach R. Dworkin und R. Alexy verstanden werden, sodass sie mit weiteren Verfassungsbelangen (insbesondere Grundrechten) abgewogen werden kann (Abwägungsmodell). Alternativ können Verfassungsbelange bei der Normauslegung eine Interpretation gebieten, die nicht mehr vom Wortlaut der einfach-rechtlichen Norm erfasst ist (Auslegungsmodell). Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bildet jeweils den verfassungsrechtlichen Ausgleichsmechanismus. 9. Um der Steuerungskraft des Gesetzgebers gerecht zu werden, setzt sich bei nicht eindeutig auflösbaren Prinzipienkollisionen im Zweifel die Gesetzesbindung durch (Abwägungsmodell) bzw. es wird bei fehlender Eindeutigkeit über die konkret anwendbare Auslegungsvariante im Zweifel die wortlautgetreue Auslegung umgesetzt (Auslegungsmodell). Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als Maßstab jeder Rechtsfolgenbestimmung verhindert dabei eine zu starke Uneinheitlichkeit bei vergleichbaren Fällen. Prozedurale Vorkehrungen (z. B. Transparenz- und Vorlagepflichten) müssen zum Schutz von Bürgern und Parlament geschaffen werden. 10. Eine Flexibilisierung der Gesetzesbindung und die verfassungskonforme Auslegung weisen einige Parallelen auf. Im Gegensatz zur verfassungskonformen Auslegung ermöglichen Abwägungs- und Auslegungsmodell auch Rechtsfolgenbestimmungen über den Wortlaut einer Norm hinaus und gegen den gesetzgeberischen Willen. Art. 100 Abs. 1 GG steht einer Rechtsfolgenkorrektur und der verfassungskonformen Auslegung nicht entgegen. 11. Für eine Qualifizierung der Gesetzesbindung als Prinzip (Abwägungsmodell) streiten ihre Gleichbehandlung mit den Staatsstrukturprinzipien, ihre Konkretisierungsbedürftigkeit, fehlende Ausnahmen von der Bindung an das Gesetz (als klassisches Merkmal von Regeln) und die Notwendigkeit zur Orientierung am Gesetz auch in Fällen, in denen eine Abweichung verfassungsrechtlich geboten ist.
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12. Eine verfassungsgeprägte Interpretation des einfachen Rechts (Auslegungsmodell) erfährt durch die grundsätzliche Auslegungsbedürftigkeit und -fähigkeit von Regeln Verstärkung. Eine Verfassungsorientierung innerhalb des einfachen Rechts ist üblich und dient der Durchsetzung der Normenhierarchie als Ausfluss des Stufenbaus der Rechtsordnung. Im Verständnis dieses Modells liegt der Interpretationsgegenstand in der gemeinsamen Betrachtung von Tatbestand und Rechtsfolge. 13. Normen erweisen sich als abstrakt unverhältnismäßig, wenn ein Dispens von der Gesetzesbindung (Rechtsfolgenkorrektur) durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zugunsten anderer Verfassungsgüter (z. B. der Grundrechte) so häufig stattfindet, dass das Risiko besteht, dass die Gesetzesbindung selbst als leere Hülle erscheint und das Vertrauen in die Gültigkeit der Norm insgesamt erschüttert ist. Einzelfallgerechtigkeit lässt sich vornehmlich durch eine an der staatlichen Einzelfallmaßnahme durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung erreichen. 14. Der Entscheidungsfindungsprozess der Verwaltung bei der Rechtsfolgenermittlung (Rechtsfolgenbestimmung i.w.S.) von „gebundenen“ Normen vollzieht sich in Abwägungs- und Auslegungsmodell in drei Schritten: Nach der Ermittlung der im Einzelfall für Abwägung oder Auslegung relevanten Verfassungsbelange (Sondierungsschritt) erfolgt die Abwägung der Gesetzesbindung mit sonstigen Verfassungsbelangen im Abwägungsmodell (Konkordanz- bzw. Abwägungsschritt) bzw. die Interpretation der Norm im Lichte der Verfassung im Auslegungsmodell (Interpretationsschritt). In der Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. erfolgt die administrative Festlegung der einzelfallgerechten Rechtsfolge, in eng begrenzten Fällen bei der Auswahl mehrerer Rechtsfolgenoptionen innerhalb eines Rechtsfolgenkorridors. 15. Die Gerichte kontrollieren die Verwaltung bei der Rechtsfolgenbestimmung in den ersten beiden Schritten im Wege einer Vollkontrolle. Sofern sich aus diesen Stufen nicht eine einzige bestimmte Rechtsfolge (Punktrechtsfolge) ergibt und daher für die Behörde ein enger Gestaltungsspielraum verbleibt, überprüfen die Verwaltungsgerichte innerhalb dieses Rechtsfolgenkorridors die Entscheidung der Administrative nur am Maßstab der Vertretbarkeit. Die Grenzen des Rechtsfolgenkorridors sind vollständig gerichtlich überprüfbar. In diesen Fällen erweist sich die Kontrolle der Verwaltung durch die Verwaltungsgerichte als Überprüfung am Maßstab der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts.
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Verwendet werden die üblichen Abkürzungen, vgl. Kirchner, Hildebert: Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Auflage, Berlin, 2015
Sachregister Abwägungsmodell 74, 91 ff., 109 ff., 113 f., 117, 119, 122, 133, 136 f., 149, 168, 170 ff., 180, 185, 187 f., 196 f. Argumentationslast 55, 90, 100, 161, 167 Auslegungsmodell 74, 103 ff., 113 f., 117, 119, 122, 131, 133, 136 f., 140 f., 156, 168, 170, 172 f., 180, 185, 188, 196 f. Bindungsdichte/Bindungsintensität 19 ff., 30, 34, 195 Determinationsdichte 21, 188, 195 Dispens 22, 74, 87, 117, 140, 142 f., 146, 150, 152, 159 f., 166, 169, 172, 186 f., 195, 197
Rechtsfolgenbestimmung i. e. S. 179 ff., 188 ff., 197 Rechtsfolgenbestimmung i. w. S. 168 ff., 184 ff., 197 Rechtsfolgenkorrektur 74, 126 f., 132, 135 ff., 139, 144, 148 ff., 160, 165, 171, 177, 196 f. Rechtsfolgenkorridor 180 ff., 189, 191 ff., 197 Rechtsprechung 46 ff. Rechtssicherheit 24 ff., 28, 42, 72, 117, 127 f., 133, 139, 155, 166, 170, 173 f., 195 Soll-Vorschriften 18, 21, 63, 168, 178 f., 182, 188 Sondierungsschritt 168 ff., 179, 185, 197 Transparenz 44, 84 f., 124, 160 ff., 169 f., 196
Einzelfallgerechtigkeit 17 ff., 54, 64, 69, 71 f., 74 ff., 90 ff., 113 ff., 160 ff., 168, 174 ff., 187, 195 ff. Ermessensnorm 30, 42, 167, 179, 181 f.
Unbestimmter Rechtsbegriff 25, 31, 39, 41 f., 190, 195
Nichtanwendungskompetenz 125 ff.
Verbot des Einzelfallgesetzes 22, 153 f. Verfassungskonforme Auslegung 23, 105, 108, 128 ff., 196 Verhältnismäßigkeit siehe Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Verhältnismäßigkeit der Norm 23, 45, 58, 119 f., 145, 152, 166, 197 Verhältnismäßigkeit des Einzelakts 23, 45, 121 Verletzung spezifischen Verfassungsrechts 192 ff., 197 Vertretbarkeitsprüfung 189 ff., 197 Verwaltungsvorschriften 45 Vollzugsdefizit 43, 136 Vorbehalt des Gesetzes 43, 155, 174 ff.
Prinzipientheorie 74, 92 ff., 105, 171, 178, 196 Prozedurale Vorkehrungen 123 ff. Punktrechtsfolge 180, 188, 197
Wortlaut der Norm 19 ff., 32, 42 f., 48, 54 f., 71, 74, 90 ff., 97, 101 ff., 114, 118 f., 122 f., 125 ff., 138 ff., 142, 146, 152 ff., 162, 167, 170 ff., 177 ff., 186 ff., 195 f.
Gesetzesbindung 74 ff., 113 ff. Gleichheitssatz 27 f., 86 ff., 121 f., 196 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 15 f., 17, 22 ff., 36 ff., 47 ff., 74, 96 ff., 115 ff., 168 ff. Interpretationsschritt 168, 170, 172 f., 185, 197 Konkordanzschritt 168, 170 ff., 182, 185 ff. Konkrete Normenkontrolle 144 ff., 196 Kontrolldichte 184 ff.