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German Pages 366 Year 1990
Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Trier, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken, Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg
Band 1
Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
llerausgegeben von Reiner Schulze
Duncker & Humblot · Berlin
Die Tagung wurde unterstützt von der W erner-Reimers-Stiftung
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts I hrsg. von Reiner Schulze. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1990 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte; Bd. 1) ISBN 3-428-06860-2 NE: Schulze, Reiner [Hrsg.]; GT
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1990 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-06860-2
Vorwort
Dieser Band setzt in zweifacher Hinsicht einen Anfang: Er eröffnet eine neue Schriftenreihe; und er ist die erste von deutscher Seite herausgegebene Veröffentlichung im Rahmen eines längerfristig angelegten deutsch-italienischen Forschungsvorhabens über die Beziehungen zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Die Reihe "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte" gilt einem Forschungsgebiet von wachsender Bedeutung. Die europäischen Gegenwartsfragen haben auch das historische Interesse an den verbindenden Elementen in der Geschichte von Recht und Verfassung in Europa verstärkt und der Frage nach den historischen Grundlagen einer gemeinsamen europäischen Rechtskultur, die für die Gegenwart (wieder) vorstellbar geworden ist, Nachdruck gegeben. Eine besondere Herausforderung liegt darin für das Fach Rechtsgeschichte. Es ist nicht nur die in erster Linie für diesen Bereich "zuständige" historische Teildisziplin, sondern ist auch in Hinblick auf seinen Beitrag zur Juristenausbildung und zum Selbstverständnis heutiger Juristen angesprochen: Gerade die Kenntnis historischer Gemeinsamkeiten kann jenes europäisch ausgerichtete Rechtsdenken mitprägen, ohne das sich ein europäisches Recht der Gegenwart nicht entfalten könnte. Die historischen Grundlagen europäischer Rechtskultur erschließen sich indes nicht allein aus rechtshistorischer Perspektive. Ähnlich wie schon herkömmlich auf dem Feld der Verfassungsgeschichte sind weitere Disziplinen zur Mitwirkung aufgerufen, hier neben den Geschichtswissenschaften und den Politischen Wissenschaften insbesondere die Rechtsvergleichung. Ihnen gemeinsam wollen die "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte" ein Forum zur Vorlage und Diskussion ihrer Beiträge auf dem neuen Forschungsfeld bieten. Die Schriftenreihe möchte dadurch sowohl als ein Bindeglied den neuen Arbeitszusammenhang festigen als auch weitere Aufmerksamkeit
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Vorwort
auf ihn lenken helfen. In einer Zusammenschau verschiedener Ansätze wird sich dazu einer der nächsten Bände eigens mit den programmatischen Fragen der europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte befassen. Das gemeinsame deutsch-italienische Forschungsvorhaben, aus dem dieser Band hervorging, befaßt sich mit einem Ausschnitt der Europäischen Rechts- und Vefassungsgeschichte. Dem thematischen Umfeld widmete sich auf italienischer Seite schon seit längerem der Arbeitskreis um Pierange/o Schiera (Istituto storico italo-germanico in Trient) und Aldo Mazzacane (Neapel). Aus diesem Kreis ging das vom italienischen CNR geförderte Projekt "Cultura giuridica e scienze sociali in Italia e in Germania nel secolo XIX" hervor. Schon die während der letzten Jahre erzielten Zwischenergebnisse des Projektes haben eine Reihe in Deutschland bislang nicht oder kaum bekannter Aspekte der Berührung beider Rechtskulturen hervortreten lassen. Der vergleichende Band will diese Arbeitsansätze und Ergebnisse der italienischen Forschung zur gemeinsamen Rechts- und Verfassungsgeschichte auch in Deutschland zur Diskussion stellen und mit Fragestellungen und Sichtweisen aus der Perspektive der deutschen Forschung in Verbindung setzen. Die Initiative zu einem mit den italienischen Arbeiten abgestimmten Parallelprojekt ging auf deutscher Seite von Gerhard Dilcher (Frankfurt a. M.) aus. Er lenkte vor einigen Jahren mein Interesse auf dieses Forschungsgebiet. Je mehr sich mir von dieser Anregung ausgehend seitdem der Reichtum auch der modernen italienischen Kultur und die Vielfalt der deutsch-italienischen Berührungen erschlossen hat, desto mehr bin ich ihm dafür zu Dank verbunden. Für Anregung und Unterstützung bei der Vorbereitung des Vorhabens Dank schulde ich auch Dieter Grimm (Bielefeld/Karlsruhe), Peter Landau (München) und Michael Stolleis (Frankfurt a. M.). Besonders ermutigt haben mich der Rat und die Hilfe, die mir in den Begegnungen mit Erik Jayme (Heidelberg), Aldo Mazzacane und Pierangelo Schiera zuteil wurden. Aus der persönlichen Begegnung und dem intensiven Gespräch zwischen deutschen und italienischen Wissenschaftlern auf dem Symposion im April 1989 in Bad Hornburg ist dieser Tagungsband hervorgegangen. Den äußeren Rahmen bot die großzügige Förderung und umsichtige Betreuung durch die Werner-ReimersStiftung, der dafür der Dank aller Beteiligten gilt. Eine wertvolle und dankenswerte Hilfe bei der Vorbereitung boten die einge-
Vorwort
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benden Erläuterungen zum Arbeitsstand des italienischen Projektes durch Cristiana Vano und die verdienstvolle Übersetzung eines Großteils der italienischen Vorträge durch das Istituto storico italo-germanico in Trient. Auf dem Symposion führte der interdisziplinäre Charakter der Auseinandersetzung mit den vielschichtigen Beziehungen zweier europäischer Rechtskulturen Juristen, Historiker und Politologen zusammen. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit - im italienischen Projekt von Anfang an praktiziert - erwies sich als außerordentlich fruchtbar und wird sich auch in der zukünftigen Arbeit auf deutscher Seite fortsetzen und verstärken. Ihr verdankt dieser Band auch den im Anhang beigegeben Überblick über die italienische Geschichte von 1861 bis 1915, den der Trierer Historiker Christo f Dipper als eine vor allem für den deutschen Leser gedachte Einführung freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat. Für die Aufnahme des Bandes und der mit ihm beginnenden Schriftenreihe in das Verlagsprogramm danke ich dem Haus Duncker & Humblot sowie Herrn Norbert Simon persönlich. In meinem Anliegen, die Ergebnisse des Symposions ohne die bei Tagungsbänden leider allzu oft eintretenden Verzögerungen vorzulegen, haben mich die Autoren dieses Bandes nicht im Stich gelassen. Dafür gebührt ihnen an dieser Stelle ebenso Dank wie meinen Mitarbeitern, die die redaktionellen Arbeiten mit bewunderungswertem Elan und erheblichem Zeitaufwand durchführten. Für sie gemeinsam namentlich genannt seien hier Frau Marina Roth, die aufopferungsvoll und mit großem Engagement die Fülle der Schreib- und Korrekturarbeiten neben den laufenden Sekretariatsaufgaben bewältigte, und Frau Sigrid Jacoby, die weit über die Funktion einer wissenschaftlichen Hilfskraft hinaus in die redaktionelle Betreuung dieses Bandes hineinwuchs. Herrn Werner Winnen danke ich für die Anfertigung des Personenregisters. Trier, Ü:1 September 1989
Reiner Schulze
Inhaltsü hersieht
Teil A Grundlagen und Forschungsziele Reiner Schul=e Einführung ......................................................................................... 3 Pierangelo Schiera Deutsche Wissenschaft im Spiegel der italienischen Rechtskultur - das italienische Forschungsinteresse an den deutschen Staatswissenschaften und der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts ............................................ 25 Gerhard Dilcher Deutsche Wissenschaft im Spiegel der italienischen Rechtskultur - das deutsche Forschungsinteresse an der "Fremdwahrnehmung" deutscher Wissenschaftsentwicklung ..................... 37 Aldo Mazzacane Die Rechtskultur in Deutschland und Italien nach der nationalen Einigung - Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt ..... 55 Erk-Volkmar Heyen Diskussionsbeitrag: Zur Einflußfrage in der Staats- und Rechtswissenschaftsgeschichte ......................................................... 75 Teil B Methodenfragen der Rechtswissenschaft und Staatslehre Raffaella Gherardi "Methodenstreit" und politisch-soziale Wissenschaften: die "Untersuchungen und Vorgaben Deutschlands" in der politischen Kultur des liberalen Italiens ......................................... 83
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Inhaltsübersicht
Pasquale Beneduce "Germanisme, Ia terrible accusation". Fremde Lehrsysteme und Argumentationsweisen in der italienischen Privatrechtswissenschaft während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ........................................................... 105 Ferdinando Treggiari Der Einfluß des deutschen Unterrichtsmodells auf die italienische Rechtskultur: Die Fallrechtsmethode ........................ 131 Joachim Rückert Diskussionsbeitrag: Formalismus und vergleichbare Konzepte im 19. Jahrhundert ......................................................................... 169
Teile Die soziale Frage in Rechtswissenschaft und Staatslehre Gustavo Gozzi Verwaltungslehre und Sozialpolitik: L. v. Stein und C. F. Ferraris ....................................................... 177 Maximilian Fuchs Der Genossenschaftsgedanke in der deutschen Rechtswissenschaft und sein Einfluß auf Italien .............................................. 203
Teil D Arbeitsrecht Cristina Vano Hypothesen zur Interpretation der "vergleichenden Methoden" im Arbeitsrecht an der Wende zum 20. Jahrhundert .......... 225
Inhaltsübenicht
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Teil E Internationales Privatrecht Heinz-Peter Mansei Mancini, v. Savigny und die Kodifikation des deutschen internationalen Privatrechts von 1896 .......................................... 245 Erik Jayme Dionisio Anzilotti und das deutsche Internationale Privatrecht .............................................................. 297
Teil F Selbstverwaltung und Kommunalrecht Fabio Rugge Deutsche Lehren der lokalen Selbstverwaltung und deren Einfluß auf die italienische Literatur (1870-1914) ..................... 311 Christo/ Dipper Diskussionsbeitrag: Autoritärer Liberalismus im Vergleich ........ 329
TeilG Anhang: Italien 1861 bis 1915 Christo/ Dipper Italien 1861 bis 1915 - Nationalstaat ohne Nation ...................... 335
Autorenverzeichnis .......................................................................... 347 Personenregister .............................................................................. 349
Teil A
Grundlagen und Forschungsziele
Einführung
Von Reiner Schulze 1. Europäische Rechtsgeschichte und nationale Rechtskulturen im 19. Jahrhundert a) Europäische Rechtsgeschichte als Forschungsaufgabe
Die Untersuchungen dieses Bandes gelten einem Ausschnitt der europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte und führen damit auf ein Arbeitsfeld, dem sich die rechtshistorische Forschung in Deutschland erst in den letzten Jahrzehnten in größerem Umfang zugewandt hat. Nach einzelnen wegweisenden Werken wie Pau/ Koschakers "Europa und das römische Recht" 1 leitete in der Nachkriegszeit die Herausbildung der Neueren Privatrechtsgeschichte zum eigenen Lehrgebiet (neben den drei herkömmlichen rechtshistorischen Teildiziplinen der Romanistik, Kanonistik und Germanistik) diese Entwicklung ein: Die beiden grundlegenden Lehrbücher des neuen Gebietes - verfaßt von Franz Wieacker 2 und von Gerhard Wesenberg (letzteres fortgeführt von Gunter Wesener 3 ) - stellten die deutsche Privatrechtsentwicklung (schon im Titel) ausdrücklich in den europäischen Zusammenhang. Einen entscheidenden Anstoß erhielt die Forschung mit der Gründung des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a. M. durch Helmut Coing 4 • Das aus diesem Institut 1 PAUL KOSCHAKER: Europa und das römische Recht, München 1947, 4 . Aufl.: München 1966. 2 FRANZ WIEACKER: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967. 3 GERHARD WESENBERG: Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, Schauenberg 1954, 4 . Aufl. bearb. v. GUNTER WESENER, Wien 1985. 4 Zur konzeptionellen Grundlage vgl. HELMUT COING: Die europäische Privatrechtsgeschichte der neueren Zeit als einheitliches Forschungsgebiet, in: Jus
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hervorgegangene "Handbuch" 5 ist zu einem unentbehrlichen Hilfsmittel für die Erforschung der europäischen Privatrechtsgeschichte und durch seine internationale Anerkennung zugleich zu einem Bindeglied zwischen den Forschungsansätzen in verschiedenen europäischen Ländern geworden. Coing hat darüber hinaus mit seinem "Europäischen Privatrecht"6 nunmehr eine ebenso eindringende wie übersichtliche dogmengeschichtliche Bilanz der europäischen Gemeinrechtstradition vorgelegt. Von unterschiedlichen Ansatzpunkten her findet das neue Arbeitsfeld zudem in der letzten Zeit zunehmend in die universitäre Forschung Eingang. Selbst in der Bezeichnung der Lehrstühle 7 zeichnet sich diese Erweiterung des Aufgabenkreises der Rechtsgeschichte in Lehre8 und Forschung inzwischen ab. Die bisherigen Forschungen haben - ohne daß ihre Ergebnisse in dem hier gesteckten Rahmen im einzelnen resümiert werden könnten - die Umrisse des Bildes einer reichen gemeineuropäischen Tradition in der Geschichte des Rechts entstehen lassen9 • Ausgefüllt haben sie diese Skizze allerdings in sehr unterschiedlichem Ausmaß. Besonders deutlich treten die europäischen Gemeinsamkeiten für die gemeinrechtliche Jurisprudenz des späten Mittelalters und der beginnenden Neuzeit hervor. Doch selbst für diesen Bereich läßt sich trotz verdienstvoller Studien 10 mehr verCommune I (1967), S. 1 ff. - auch in der Folge erhielten die Forschungen zur Europäischen Rechtsgeschichte bedeutende Impulse durch die Zeitschrift Ius Commune (Bd. 1-9, hg. v. COING; Bd. 10-13, hg. v. DIETER SIMON und WALTER WILHELM; ab Bd. 14, 1987, als "Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte", hg. v . DIETER SIMON) sowie durch die Reihe der lus Commune Sonderhefte. 5 HELMUT COING (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Rechtsgeschichte, München 1973-88, Bd. I, Bd. II/1,2, Bd. III/1-5. 6 HELMUT COING: Europäisches Privatrecht, Bd. 1: Älteres gemeines Recht, München 1985; Bd. 2: 19. Jahrhundert: überblick über die Entwicklungen des Privatrechts in den ehemals gemeinrechtlichen Ländern, München 1989. 1 Erweiterungen in Hinblick auf die Europäische Rechtsgeschichte unlängst an den Universitäten Regensburg und Trier. 8 Hierzu programmatisch DIETMAR WILLOWEIT: Praxisbezug ohne Wissenschaft, DUZ 1988, Heft 15/16, S. 17 ff. 9 Vgl. den Überblick bei HELMUT COING: Das Recht als Element der Europäischen Kultur, in: HZ 238 (1984), S. 1 ff. 10 Beispielhaft unter den älteren Ansätzen UDO WOLTER: Ius Canonicum in Iure Civili, Köln 1975; HANS LIERMANN: Das kanonische Recht als Grundige europäischen Rechtsdenkens, in: Zeitschr. f. evang. Kirchenrecht 6 (1957/58), S. 37 ff.
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muten als sicher überblicken, in welch großem Ausmaß das kanonische Recht auch die Geschichte des weltlichen Rechts in Europa geprägt hat. Daß hier scheinbar der Beitrag der Kanonistik weit hinter dem der Legistik zurücksteht, dürfte eher die heutige Forschungssituation widerspiegeln - nämlich die Vernachlässigung der Kanonistik im Zuge der neueren Universitätsentwicklung als die historischen Verhältnisse. Ebenfalls durch die neuere Zuwendung zur europäischen Rechtsgeschichte stärker in das Blickfeld getreten ist die Bedeutung der Aufklärung und der mit ihr verbundenen Natur- und Vernunftsrechtslehren als gemeinsame Grundlage des modernen europäischen Rechts 11 • Auch insoweit stehen die Forschungen aber noch am Anfang 12 . Insbesondere dürften sich noch wichtige Ansatzpunkte gewinnen lassen, um die bisherige einseitige Ausrichtung auf die europäische Privatrechtsgeschichte zu überwinden und die Herausforderungen anzunehmen, die in der Entwicklung einer europäischen Verfassungsgeschichte und in der Auseinandersetzung mit den gemeineuropäischen Grundlagen des modernen Strafrechts liegen. b) Nationalstaat und nationale Rechtskulturen im 19. Jahrhundert
Neben der älteren gemeinrechtlichen Jurisprudenz und den gemeineuropäischen Ideen der Aufklärung verdient die zeitlich daran anschließende Epoche, der sich der vorliegende Band zuwendet, die besondere Aufmerksamkeit der europäischen Rechtsund Verfassungsgeschichte: Das 19. Jahrhundert bildet die verbindende Brücke oder die trennende Kluft zwischen den älteren, in der bisherigen Forschung trotz aller Lücken verhältnismäßig scharf konturierten europäischen Rechtstraditionen und den europäischen Rechtsentwicklungen der Gegenwart. Es ist zugleich eine Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen (vor allem durch die "industrielle Revolution") und einschneidenden ideengeschichtlichen Wandels, für den der Bedeutungsverlust des Naturrechts nur ein Beispiel ist. In der von Otto Brunner und Dietrich Gerhard geprägten Begrifflichkeit 13 ist es die Zeit, in der 11 Vgl. HANS THIEME: Das Naturrecht und die europäische Rechtsgeschichte, 2.
Aufl., Basel1954; HELMUT COING, (Fn. 9). 12 Bedauerlicherweise ist auch Bd. 11/3 des "Handbuchs", (Fn. 5}, zu diesem Themenkreis noch nicht erschienen. 13 OTTO BRUNNER: Land und Herrschaft, Baden bei Wien 1939, 5. Aufl., Wien 1965 (Nachdruck Darmstadt 1973); ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozial-
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sich die Moderne nach dem Niedergang der "alteuropäischen Gesellschaft" konstituiert. Aber nicht nur dieser Epocheneinschnitt wirft gerade für das 19. Jahrhundert die Frage nach dem Fortbestand eines europäischen Rechtszusammenhanges auf. Vielmehr ist das 19. Jahrhundert zugleich die Zeit des Aufstiegs des Nationalstaats zur bestimmenden politischen Form in Europa. Nationalstaatliche Rechtsentwicklung und europäische Rechtsgeschichte treten damit in ihr - bis heute fortbestehendes - Spannungsverhältnis. Dieses Spannungsverhältnis betrifft nicht nur die Inhalte des geltenden Rechts, sondern ergreift viel tiefer die Rechtsordnung und die Juristentätigkeit. Denn an den Nationalstaats-Gedanken knüpfen sich im 19. Jahrhundert nicht nur die Kodifikationsbestrebungen mit dem Ziel einer Vereinheitlichung vor allem des Privatrechts und die vielfältigen Entwürfe eines geschlossenen Systems des Rechts im nationalen Rahmen. Vielmehr entstehen oder verfestigen sich auf seiner Grundlage darüber hinaus zahlreiche weitere Strukturelemente des juridischen Bereichs und prägen bis heute weiterhin die jeweilige Rechtsordnung und das Selbstverständnis der Juristen in erheblichem Maße. So gleichen sich - um nur einige Beispiele zu nennen - nicht nur die Gerichtsverfassung und die Prozeßordnungen im nationalen Maßstab an, sondern mehr oder weniger auch die Standesordnungen der juristischen Berufe und der soziale Verhaltenscodex, der Stil des forensischen Vorgehens und des Verwaltungshandelns, die Fachsprache und die Juristenausbildung. Vereinigungen, Zeitschriften und Fachliteratur organisieren das juristische Wissen und die Standesinteressen im Rahmen des (bestehenden oder erhofften) Nationalstaates und schaffen eine entsprechende "Fachöffentlichkeit''. Beruflich wie politisch ist das Selbstverständnis der Juristen in starkem Maße geprägt vom Bestehen eines "eigenen" Rechtes der Nation oder vom Streben danach (nach innen im Gegensatz zur "Rechtszersplitterung", wie sich der hergebrachte Zustand aus der neuen Perspektive darstellt; nach außen im Unterschied zum Recht anderer Nationen). Derartige normative, institutionelle und mentale Faktoren - hier nur in sehr vereinfachter Typisierung skizziert - beziehen Recht und Juristentätigkeit auf die neue pogeschichte. Vorträge und Aufsätze, 3. Auf!., Göttingen 1980; DIETRICH GERHARD: Periodization in European History, in: AHR 61 (1956), S. 900-913; dt.: Zum Problem der Periodisierung der Europäischen Geschichte, in: DIETRICH GERHARD : Alte und Neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung, Göttingen 1962, S. 40-56.
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litische Form des Nationalstaates und geben ihnen in diesem Rahmen eine spezifische Gestalt. In Anlehnung an den italienischen Begriff der "cultura giuridica" 14 läßt sich das Ensemble dieser Faktoren als jeweilige nationale Rechtskultur kennzeichnen, die den juridischen Bereich über das positive Recht hinaus prägt. Ausgehend von dieser Zuordnung der nationalen Rechtskultur zum Nationalstaats-Gedanken des 19. Jahrhunderts sei hier nur kurz ein wissenschaftsgeschichtliches Problem gestreift, das sich der rechtshistorischen Forschung besonders in Deutschland stellt: Mit dem Entstehen und den Entwicklungsbedingungen des nationalen Rechts hat sich gerade die deutsche rechtshistorische Forschung seit dem frühen 19. Jahrhundert intensiv befaßt. Dabei betrachtete sie freilich die Idee des nationalen Rechts und den Bezug der Juristentätigkeit und Rechtswissenschaft auf den politischen Rahmen des Nationalstaates überwiegend nicht als ein Produkt erst der Moderne und einen Leitgedanken spezifisch ihrer eigenen Zeit. Sie projezierte diese Ziele ihrer Zeit vielmehr weit in die Geschichte zurück - am stärksten ausgeprägt in den Konzeptionen des "Deutschen Privatrechts" seit Kar! Friedrich Eichhorn, indem ein Rechtssystem für die eigene Zeit letztlich auf angebliche "ursprüngliche" Gemeinsamkeiten des "deutschen" Rechts im germanischen Altertum gestützt werden sollte. Entsprechend meinte sie beispielsweise, die Geschichte einer "deutschen" Rechtswissenschaft 15 bis in das späte Mittelalter zurückverfolgen zu können. In der Konsequenz dieser Sichtweise lag es auch, die Zuwendung zum "ius patriae" in der frühneuzeitlichen Jurisprudenz als eine Art unmittelbarer Vorstufe der nationalen Rechtsvorstellungen der eigenen Zeit zu betrachten. Trägt man dem gemeineuropäischen Charakter frühneuzeitlicher Jurisprudenz Rechnung, sind diese nationalgeschichtlichen Kontinuitätsannahmen nicht mehr haltbar. Die Zuwendung zum "ius patriae" stellt sich vielmehr selbst als ein gemeineuropäischer Prozeß dar 16. Seine Ursachen und Leitgedanken sind aus den spezifischen 14 Vgl. dazu den Beitrag von ALDO MAZZACANE: Die Rechtskultur in Italien und Deutschland nach der nationalen Einigung - Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt, in diesem Bd. 15 Vgl. STINTZING-LANDSBERG: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Abt. I, II, München-Leipzig 1880/1884, fortgeführt von E . Landsberg mit Abt. 111, München-Berlin 1898/1910 (Neudruck 1957); dazu REINER SCHULZE: Stintzing, Roderieb von, in: HRG, vorauss. Bd. IV, 31. Lieferung, 1989. 16 In diese Richtung weisen insbes. die Ansätze bei OTTO HERDING: De jure feudali, in: Dt. Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte,
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Verhältnissen der frühen Neuzeit - und nicht aus der modernen Perspektive des Nationalstaats - zu verstehen. Angefangen von Dumoulins Entdeckung des einheimischen "coutumes" für Frankreich und den entsprechenden Vorgängen etwa für Schottland (Craig) oder für Deutschland (Schiller) über die Verdrängung des Lateinischen als gemeinsame Standes- und Wissenschaftssprache der Juristen im Großteil Europas führt hier ein Weg, dessen Stationen jeweils eigener Würdigung bedürfen, hin zu den Diskussionen des 18. Jahrhunderts um das Rangverhältnis von einheimischem und gemeinem Recht oder - zusätzlich angeregt durch Montesquieus "Esprit des lois" 17 - um die Abhängigkeit der Gesetzgebung von Charakter und Lebensbedingungen der Völker. Ob Deutschland in diesem frühneuzeitlichen Rahmen eine derartige Sonderstellung in Europa zukommt, wie es dem 19. Jahrhundert im Hinblick auf seine Konzeption des "Deutschen Privatrechts" erschien, ist sehr zweifelhaft. Und auch im Hinblick auf das 19. Jahrhundert selbst erschließt sich erst in vollem Umfang die Bedeutung der Rechtsgeschichte für die Ausbildung der nationalen Rechtskultur in dieser Zeit, wenn man sich aus deren eigenen nationalgeschichtlichen Kontinuitätsannahmen löst Gerade auf dem Weg über die Rechtsgeschichte konnte das zeitgenössische Anliegen eines "eigenen", nationalen Rechts dem politischen Meinungsstreit entzogen und unabhängig von den Aussichten auf eine politische Einigung als scheinbar historisch vorgegebene Tatsache postuliert werden. c) Forschungsfragenfür die europäische Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts
Unsere Überlegungen waren von der Frage nach der Rolle des 19. Jahrhunderts in der europäischen Rechtsgeschichte ausgegangen. Sie haben uns auf das Entstehen nationaler Rechtskulturen als neuem Element in der modernen Rechtsgeschichte geführt. So unterschiedlich die Ausgangsbedingungen und so vielgestaltig die Verlaufsformen waren, erweist sich doch für das 19. Jahrhundert diese Ausbildung nationaler Rechtskulturen als ein Vorgang, der den Großteil Europas erfaßt. Sein Resultat ist die Einbindung von Rechtsentwicklung und Juristentätigkeit in den politischen und kulturellen Kontext des jeweiligen Nationalstaates. Wie verhält sich aber diese Herausbildung nationaler Rechtskulturen zu dem 28 (1954), S. 287 ff; KLAUS LUIG: Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ius Commune III (1970), S. 64 ff. 17 CHARLES DE MONTESQUIEU: Esprit des lois, Genf 1748; übers. von KURT WEIGAND: Vom Geist der Gesetze, Stuttgart 1976.
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gemeineuropäischen Kulturzusammenhang, in dem jedenfalls die frühneuzeitliche Jurisprudenz noch stand? Anders gefragt: Gibt es seit dem 19. Jahrhundert überhaupt noch eine europäische Rechtsgeschichte, die mehr ist als die Summe der jeweils isoliert im nationalstaatliehen Rahmen verlaufenden Rechtsgeschichten? Die "Verlustliste" der gemeineuropäischen Rechtstraditionen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ist in der Tat umfangreich von der Lösung aus den übergreifenden Zusammenhängen "göttlichen" und des "natürlichen" Rechts durch die verschiedenen Spielarten des Rechtspositivismus bis hin zur Verdrängung der gemeinrechtlichen Quellen (der herkömmlichen Schulungsgrundlage des europäischen Juristen), und zwar nicht nur aus dem geltenden Recht, sondern auch aus der Ausbildung. Gleichwohl haben die erwähnten Forschungen zur Neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte mit guten Gründen weithin strukturelle Gemeinsamkeiten der verschiedenen nationalen Rechtsordnungen sowie der juristischen Arbeitsweisen in den einzelnen nationalen Rechtskulturen auf die älteren gemeineuropäischen Traditionen zurückgeführt. Für weitere Bereiche der Dogmatik und Systembildung sowie der juristischen Denkschulung - auch über das Privatrecht hinaus, namentlich mit Blick auf die gemeineuropäischen Traditionen der Aufklärung und des Naturrechts für das Staats-, Verwaltungs 18-, und Strafrecht - dürfte sich dieser Befund noch erheblich erweitern lassen. Inwieweit man dabei jeweils Kontinuitätslinien der gemeineuropäischen Tradition ziehen oder den gewandelten historischen Kontext betonen will, ist weniger eine Frage der Erschließung des sich reichlich darbietenden Materials als der methodologischen und geschichtstheoretischen Stellungnahme zum Problem der "Kontinuitäten" und "Wirkungszusammenhänge" in der Rechtsgeschichte. Nicht diesen Fragenkreis gilt es indes hier weiter zu vertiefen, sondern es soll mit den vorliegenden Untersuchungen für die deutsche und italienische Rechtskultur die Aufmerksamkeit auf eine andere, häufig weniger beachtete Seite der europäischen Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert gelenkt werden: auf die Inhalte und Medien des Transfers juristischen Wissens zwischen den 18 Vgl. zu diesem Themenkreis ERK VOLKMAR BEYEN (Hg.): Die Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft in Europa, in : lus Commune, SH 18, Frankfurt a. M., 1982; ders. (Hg), Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Regime. Europäische Ansichten, in: Jus Commune, SH 21, Frankfurt a.M., 1984; Filosofia politica 1988/11; darin u . a . REINER SCHULZE: La "Policey" in Germania, S. 69 ff., insbes. 91.
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nationalen Rechtskulturen 19. Denn die europäische Dimension der Rechtsgeschichte beschränkte sich im 19. Jahrhundert keineswegs auf die Übermittlung tradierter gemeineuropäischer Wissensbestände an die modernen nationalen Rechtsordnungen, während sich etwa die Entwicklung neuer Rechtsvorstellungen und Normen, juristischer Denkmodelle und Arbeitsweisen, dogmatischer Figuren und rechtspolitischer Argumente jeweils isoliert im nationalstaatliehen Rahmen vollzog. Begünstigt durch die strukturellen Übereinstimmungen und die Verständigungsmöglichkeiten auf Grund der älteren gemeineuropäischen Tradition entwickelte sich vielmehr ein reger Transfer juristischen Wissens über die Grenzen des Nationalstaates hinaus. Es wird näher zu untersuchen sein, daß dazu gerade die neuen und zum Teil in den Grundzügen vergleichbaren Herausforderungen des 19. Jahrhunderts beitragen - etwa die Anpassung der Rechtsordnungen an die Verkehrsbedürfnisse der industrialisierten Gesellschaft, die Verwaltungserfordernisse des großflächigen Nationalstaats, die "soziale Frage". Zur Auseinandersetzung mit diesen Berührungen zwischen den nationalen Rechtskulturen in der europäischen Moderne sind verschiedene Forschungsperspektiven herausgefordert. Das Arbeitsinteresse gilt diesen Verbindungen so ideengeschichtlich als einem bislang wenig beachteten Teil in der Entwicklung des europäischen Rechtsdenkens; strukturgeschichtlich sowohl als eine Ausdrucksform als auch als einem fördernden Faktor struktueller Übereinstimmungen des europäischen Rechts; historisch-rechtsvergleichend in Hinblick auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der nationalen Rechte und des zeitgenössischen Bewußtseins darüber. Für alle Forschungsperspektiven jedoch ergibt sich eine besondere methodische Herausforderung aus der Vielfalt der Formen des interkulturellen Bezuges und der dabei in Betracht stehenden Quellengrundlagen. Erst durch genaue Analyse werden sich so tatsächliche Berührungen, bloße "Parallelentwicklungen" 19 Eine eingehende Auseinandersetzung mit Forschungsstand und Forschungsperspektiven führt über den hier gesteckten Rahmen hinaus und muß einer geplanten gesonderten Darstellung vorbehalten bleiben. Unter den grundlegenden neueren Arbeiten sei hier außer den bereits angeführten lediglich der Beitrag aus hiatorischrechtsvergleichernder Perspektive von HELMUT COING und WALTER WILHELM: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, 6 Bde., Frankfurt a . M. 1974/82. Grundlegend aus der Perspektive der Rechtsvergleichung HELMUT COING: Rechtsvergleichung als Grundlage von Gesetzgebung im 19. Jahrhundert, in: lus Commune VII (1978), S. 160-178.
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und mancherlei Zwischenformen voneinander abheben lassen. Von der eigentlichen Übernahme juristischen Wissens sind die Bezugnahmen anderen Inhalts und anderer Funktion zu unterscheiden. Dazu gehört - um nur ein Beispiel zu nennen - die Berufung auf das "Modell" eines anderen Landes für einen durchaus eigenständigen Ansatz einer wissenschaftlichen Richtung des vermeintlich "rezipierenden" Landes, etwa um im nationalen Rahmen mit Hilfe des Ansehens der Wissenschaft jenes scheinbaren Ursprungslandes die Durchsetzungskraft des eigenen Ansatzes zu erhöhen20 . In Betracht steht zudem nicht allein jener "eingleisige" Transfer von Normen, Lehrmeinungen, Arbeitsweisen oder juristischem Erfahrungswissen, der gewöhnlich für die eine Seite als "Rezeption", für die andere als "Einflußnahme" beschrieben wird 21 . Hinzu treten vielmehr komplexere bilaterale oder multilaterale Verflechtungen 22 bis hin zu der europäischen "Zirkulation" 23 von Rechtsauffassungen und anderen juristischen Wissensinhalten, die sich auf dem Weg durch die verschiedenen Rechtsordnungen variantenreich fortgestalten können. Der hier zugrundegelegte Begriff der "Rechtskultur" zeichnet dabei eine Breite des Untersuchungsfeldes vor, die über eine Gesetzgebungs- oder Rechtswissenschaftsgeschichte hinausführt: Die legislative Übernahme selbst der Kodifikation eines anderen Landes kann nur ein Faktor für die Beurteilung der Stellung des "Empfänger-Landes" im europäischen Kontext sein (und trägt dementsprechend nur bedingt die Zuordnung zu einem übergreifenden "Rechtskreis" mit einem auswärtigen Zentrum) 24 . Ebensowenig kann sich die Untersuchung auf die wissenschaftlichen Verbindungen allein im Bereich der Rechtswissenschaft beschränken. Vielmehr kann sich gerade im Bezug der Rechtskultur eines Landes auf außerjuristische Disziplinen des Auslands ein Wandel der Rechtsanschauungen ausdrücken, der aber im Wissenschaftssystem des eigenen Landes noch keinen Niederschlag gefunden 20 Vgl. dazu die Hinweise bei FABIO RUGGE und PASQUALE BENEDUCE in diesem Bd. 21 Zur Problematik dieser Begrifflichkeit insbes. die Beiträge von ERK VOLKMAR HEYEN und CRISTINA VANO in diesem Bd. 22 Vgl. als ein Beispiel hierzu die Hinweise zur Entwicklung des italienischen "Germanismo" im Dreieck der italienischen, deutschen und französischen Wissenschaft bei PASQUALE BENEDUCE in diesem Bd. 23 Vgl. den Beitrag von CRISTINA VANO in diesem Band. 24 Zur Problematik derartiger Zuordnung vgl. für Italien die Hinweise bei P ASQUALE BENEDUCE und CRISTINA VANO in diesem Bd.
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hat (so möglicherweise für Italien in dem starken Bezug auf die deutschen Staatswissenschaften während des späten 19. Jahrhunderts)26. Noch über das Spektrum wissenschaftlicher Verbindungen hinaus bleiben schließlich die internationalen Bezüge in den anderen Sektoren der Rechtskultur zu berücksichtigen - von der rechtspolitischen Diskussion über die von Verwaltungsjuristen erstellte Enquete zur Rechtslage in anderen Ländern bis hin zum RückfEriff auf ausländische Materialien für die Juristenausbildung 6 • 2. Berührungen zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur im 19. Jahrhundert Auf diesem weiten und noch wenig erschlossenen Arbeitsfeld kann sich der vorliegende Band - als erster eines längerfristig angelegten Vorhabens - lediglich einem sachlich und räumlich engen Teilbereich aus den Beziehungen zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widmen (und auch diesen keineswegs erschöpfend behandeln). Gerade Deutschland und Italien waren im Verlaufe ihrer Geschichte immer wieder in besonderer Weise miteinander verbunden. Die Verfassungsgeschichte beider Länder traf so über lange Zeit in der gemeinsamen Zugehörigkeit zum Heiligen Römischen Reich zusammen; und für die deutsche Rechtsgeschichte - wie nahezu für die gesamte europäische Rechtsgeschichte - nahm bekanntlich die entscheidende Wende im Mittelalter in den oberitalienischen Rechtsschulen ihren Ausgang. Für das 19. Jahrhundert allerdings ist Verbindendes und Trennendes in der Rechts- und Verfassungsentwicklung beider Länder weitaus weniger zum Gegenstand rechts- und verfassungsgeschichtlicher Forschung in Deutschland geworden als für die ältere Zeit. Gerade die Verfassungsgeschichte lädt indes zum Vergleich ein. Italien 27 ebenso wie Deutschland waren so bis zur Mitte des Jahrhunderts noch nicht zur nationalen Einigung gelangt. Zur "Verspätung" bei der Bildung des Nationalstaates gegenüber dem We25 Vgl. die Beiträge von RAFFAELLA GHERARDI, GUSTAVO GOZZI und FABIO RUGGE in diesem Bd. 26 Vgl. den Beitrag von FERDINANDO TREGGIARI in diesem Bd. 27 Als einführender Überblick zur italienischen Geschichte vgl. CHRISTOF DIPPER: Italien 1861 bis 1915 - Nationalstaat ohne Nation, in diesem Bd.
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sten Europas trat ein "Nachholbedarf' bei der Modernisierung der sozialen und rechtlichen Verhältnisse angesichts der nur langsamen Ablösung feudaler Strukturen hinzu. Die rechtliche Entwicklung - vor allem auf dem Gebiet des Privatrechts - hatte hingegen nach der Auflösung des übergreifenden vernunftrechtlichen Diskussionszusammenhanges seit dem späten 18. Jahrhundert in beiden Ländern eine ganz unterschiedliche Richtung genommen. Italien war in der Phase der napoleonischen Hegemonie in den Einflußbereich des französischen Rechts geraten. Späterhin vermittelte nicht allein die Österreichische Präsenz in Oberitalien mancherlei Verbindungen zur deutschen Rechtsentwickung 28 . Dominierend blieb gleichwohl für Gesetzgebung und Lehre im Großteil Italiens die Ausrichtung auf das französische Recht 29, so daß nach der nationalen Einigung (1861) der französische code civil zur Grundlage der italienischen Zivilrechtsgesetzgebung wurde. Deutschland hatte demgegenüber nach der napoleonischen Hegemonie mit der Historischen Rechtsschule einen anderen Weg der Entwicklung einer nationalen Rechtskultur eingeschlagen. Die Überlagerung von französischem Recht und deutscher Rechtskultur in den rheinischen Gebieten30 verdient zwar bei der Analyse der verbindenden Elemente im europäischen Recht der 28 FILIPPO RANIERI: Savignys Einfluß auf die zeitgenössische italienische Rechtswissenschaft, in: lus Commune 8 {1979), S. 192 ff.; ders., Le traduzioni e annotazioni di opere giuridiche straniere nel sec. XIX come mezzo di penetrazione e di influenza delle dottrine, in: La formazione storica del Diritto moderno in Europa, Bd. 3, Firenze 1977, S. 1488 ff.; ders., Savigny e i1 dibattito italiano sulla codificazione nell'eta del Risorgimento, in: Quaderni fiorentini 9 {1980), S. 357 ff. FRANCESCO CALASSO: Savigny e l'ltalia, in: ASD 8 {1964), S. 1 ff.; PAOLA BALLESTRERI: Mittermaier e l'ltalia, in: Ius Commune 10 {1983), S . 97 ff. ; ERIK JAYME: Mittermaier und Italien; in: WILFRIED KÜPER (Hg.), Carl Joseph Anton Mittermaier-Symposium 1987 in Heidelberg - Vorträge und Materialien, Heidelberg 1988, S. 7 ff. 29 Dazu allgemein: ALBERTO AQUARONE: L'unifica11ione legislativa e il codice del 1865, Milano 1960; CARLO GHISALBERTI: La codificazione del diritto in Italia, Bari 1985; NICOLA STOLFI: Diritto civile, I, Parte generale. Fonti, disposizioni preliminari e transitorie, Torino 1919; PAOLO UNGARI: L'eta del codice civile. Lotta per Ia codificazione e scuole di giurisprudenza nel Risorgimento, Napoli 1967; FILIPPO RANIERI, in: Handbuch, {Fn. 5), Bd. III/1. 30 Grundlegend: ELISABETH FEHRENBACH: Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht, 1974, 2. Auf!. Göttingen 1978; WERNER SCHUBERT: Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln, Wien 1977; HANS-JÜRGEN BECKER: Das Rheinische Recht und seine Bedeutung für die Rechtsentwicklung in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: JuS 1985, S. 338 ff.
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Moderne besondere Aufmerksamkeit. Für die Entwicklung im Großteil Deutschlands während des 19. Jahrhunderts konnte sie aber keine bestimmende Rolle spielen. Vielmehr gelang es der Pandektenwissenschaft, von der Quellengrundlage des gemeinen Rechts ausgehend zu einer Modernisierung des Privatrechts mit großer Ausstrahlungskraft in methodischer und dogmatischer Hinsicht auf die Rechtswissenschaft anderer Länder vorzudringen. Diese wissenschaftliche Leistung der Romanistik - begleitet von den Bemühungen der Germanistik um ein "Deutsches Privatrecht" auf der Grundlage deutscher Rechtsquellen - war sowohl für die Methodendiskussionen als auch für die spätere Zivilrechtskodifikation in Deutschland eine entscheidende Voraussetzung. Nachdem beide Länder - nach dem vergeblichen Anlauf der Jahre 1848/49 - in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schließlich zur nationalen Einigung gelangt waren, richtete sich die besondere Aufmerksamkeit der Juristen und großer Teile der Öffentlichkeit eben auf diese Kodifikation des Bürgerlichen Rechts. Sie nahm aber wiederum in beiden Ländern einen ganz unterschiedlichen Verlauf: In Italien wurde sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der nationalen Einigung als eine vordringlich rechtlich-poli.tische Aufgabe zur Festigung des entstehenden Nationalstaates verstanden und innerhalb weniger Jahre mit dem Erlaß des Codice civile von 1865 verwirklicht. Hingegen war bei der deutschen Einigung 1871 verfassungsrechtlich die Reichskompetenz für die Gesetzgebung auf dem Gebiet des Bürgerlichen Rechts nicht vorgesehen und politisch die Notwendigkeit einer reichseinheitlichen Zivilrechtskodifikation umstrittenJ1. Und als 1873 durch die "Lex Lasker-Miquel" politisch die Weichen für ein einheitliches Bürgerliches Gesetzbuch des Nationalstaates in Deutschland gestellt waren, erstreckten sich die Gesetzgebungsarbeiten bekanntlich noch über mehr als zwei Jahrzehnte, bis schließlich 1896 das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch verkündet wurde und bis es 1900 in Kraft trat. Im ganzen letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war mithin in Italien die Zivilrechts-Kodifikation schon verwirklicht, während 31 Vgl. BARBARA DÖLEMEYER in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte (hg. v. HELMUT COING), Bd. 111/2, S. 1572 ff.; ADOLF LAUFS : Die Begründung der Reichskompetenz für das gesamte bürgerliche Recht, in: JuS 1973, S. 740 ff. ; ders., Eduard Lasker und der Rechtsstaat, in: Der Staat, 13 (1974), S . 365 ff.; WERNER SCHUBERT: Preußens Pläne zur Vereinheitlichung des Zivilrechts nach der Reichsgründung, in: ZRG (GA) 96 (1979), S. 243 ff.
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in Deutschland zunächst noch ihre politischen Voraussetzungen fehlten und sie sodann erst in langwierigen Gesetzgebungsarbeiten nach und nach Gestalt annahmen. Gleichwohl entfaltete sich wie die Untersuchungen des vorliegenden Bandes zeigen werden während dieses Zeitraums in Italien ein starkes Interesse an der deutschen Rechtswissenschaft und den deutschen Staatswissenschaften und spiegelte deren Entwicklung in der Wahrnehmung durch eine andere Rechtskultur wieder. Dieses Interesse an der deutschen Wissenschaft - in seinen ausgeprägten Formen als "germanesimo"/"Germanismus" bezeichnet - beeinflußte vor allem seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die lebhaften Diskussionen um den weiteren Weg des italienischen Privatrechts und überhaupt der italienischen Rechtskultur nicht unerheblich. In großen Teilen der italienischen Privatrechtswissenschaft ging es mit heftiger Kritik am eigenen Codice civile von 1865, dem französischen Recht als dessen Grundlage und den Methoden der französischen exegetischen Schule als der verbreiteten Form seiner wissenschaftlichen Bearbeitung einher. Dabei galt die Aufmerksamkeit und zuweilen Bewunderung in erster Linie den Methoden und dogmatischen Erträgen der deutschen Pandektenwissenschaft. Aber der "Germanismus" begnügte sich keinesweg mit diesem einen Bezugsfeld, sondern wandte sein Interesse darüber hinaus jenen Strömungen in der deutschen Rechtswissenschaft zu, die sich in der Diskussion um das entstehende Bürgerliche Gesetzbuch im eigenen Lande eher an den Rand gedrängt sahen. Dazu gehörte namentlich die späte Germanistik um Otto von Gierke mit ihrer Berücksichtigung neuer sozialer Problemlagen in einer sich historisch verstehenden Rechtslehre (beispielsweise in der Genossenschaftstheorie, in den Ansätzen für die Entwicklung einer Konzeption "sozialen Rechts" aufgrund der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von privatem und öffentlichem Recht oder in der Auseinandersetzung mit dem Charakter des Arbeitsverhältnisses)32 • 32 Zu Gierke siehe ERIK WOLF: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auf!., Tübingen 1963; GERHARD DILCHER: Genossenschaftstheorie und Sozialrecht . Ein "Juristensozialismus" Otto von Gierkes?, in: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno, 1974/76, S. 319 ff.; zu GIERKES Einfluß auf Italien siehe MAXIMILIAN FUCHS: Die Allgemeine Rechtstheorie Santi Romanos, Berlin 1979; ders., La "Genossenschaftstheorie" di Otto von Gierke come fonte primaria della teoria generale diritto di Santi Romano, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, 1979, S. 65 ff.; ders., in diesem Bd.; PAOLO GROSSI: Un altro modo di possedere, Milano 1977.
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Ebenso fanden die Auffassungen der "Kathedersozialisten" und die Einwände des Wiener Rechtslehrers Anton Menger gegen den Entwurf des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs in Italien weithin Beachtung. Wohl nicht zufällig galt gerade der Auseinandersetzung von Teilen der deutschen (und der österreichischen) Rechtswissenschaft und Staatslehre mit den neu herangereiften sozialen Problemen besondere Aufmerksamkeit auf italienischer Seite33 • Denn aufgrund der "verspäteten" nationalen Einigung fiel für beide Länder in der Zeit der Rechtsvereinheitlichung und der Herausbildung einer nationalen Rechtskultur der "Nachholbedarf" bei der Modernisierung der Rechtsordnung unter den neuen Vorzeichen des Liberalismus und der rechtlichen Gleichheit bereits mit dem Hervortreten jener weiteren neuen Herausforderungen zusammen, die gemeinhin als "soziale Frage" beschrieben werden und die die liberale Konzeption der Privatrechtsordnung - kaum daß der Gesetzgeber ihr für Italien Gestalt gegeben hatte und für Deutschland Gestalt geben wollte - sogleich scharfer Kritik aussetzten. Dieses Problembewußtsein gegenüber den neuen sozialen Herausforderungen an die Rechtsordnung und an die Juristentätigkeit führte in der italienischen Rechtswissenschaft und Rechtspolitik zum Entstehen der einflußreichen, aber kaum exakt eingrenzbaren Strömung des "socialismo giuridico" 34 , fand aber auch in anderen Richtungen der italienischen Rechtslehre Ausdruck. Die Suche nach rechtlichen Instrumenten zur Bewältigung der neuen sozialen Herausforderungen beschränkte sich nicht auf die Diskussion um die Revision des Codice civile von 1865, sondern lenkte auch für andere Rechtsgebiete die Aufmerksamkeit italienischer Juristen auf Deutschland. Ebensowenig wie in Deutschland von ganz unterschiedlichen Positionen aus etwa Gierke und Menger konnten die vielfältigen Stimmen, die sich in der italienischen Rechtskultur den neuen sozialen Herausforderungen stellten, damit begnügen, isolierte Lösungen in den herkömmli33 RAFFAELLA GHERARDI: Sul Methodenstreit nell'etä della Sinistra (18751885): Costituzione, amministrazione e finanza nella "via media" di Giuseppe RiccaSalerno, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, XIII, 1983, S. 85-122; G USTAVO GOZZI: Modelli politici e questione sociale in Italia e in Germania fra Otto e Novecento (Annali dell'lstituto storico italo- germanico, Monografia 9) , Bologna 1988. 34 Ein überblick dazu in: Quaderni fiorentini , 3/4 (1974/75), tomo I ("II socialismo giuridico").
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chen Bereichen des Privatrechts zu suchen. Das Interesse galt daher auch neu entstehenden Arbeitsgebieten "am Rande" der herkömmlichen Hauptrechtsgebiete, etwa dem Arbeitsrecht, und vor allem der gesetzgeberischen Bewältigung neuer sozialer Problemlagen mit den Mitteln des öffentlichen Rechts, namentlich der Bismarckschen Sozialpolitik. Entsprechend fanden die deutsche Staatsrechtslehre und die deutschen Staatswissenschaften, insbesondere die Verwaltungslehre, auf italienischer Seite Resonanz35 . Die Auseinandersetzung mit den neuen sozialen Herausforderungen traf hier mit den Bedürfnissen des italienischen Staates beim Aufbau moderner Verwaltungsstrukturen nach der nationalen Einigung zusammen: Gerade in der deutschen Verwaltungslehre bot sich ein reicher Fundus theoretisch verarbeiteten Erfahrungswissens der Verwaltung dar. Und zugleich wirkte gerade in den deutschen Staatswissenschaften die vorliberale, auf die ältere "Policey" zurückgehende Tradition obrigkeitlicher "Fürsorge" für das "gemeine Wohl" fort und bot theoretische wie praktische Anknüpfungspunkte für das staatsinterventionistische Handeln auch unter den veränderten Bedingungen des späten 19. Jahrhunderts 36 . 3. Forschungsstand und Fragestellungen Die nähere Untersuchung und Analyse dieser - hier nur stichwortartig angedeuteten - Berührungen zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur erfordern das Zusammenwirken von Wissenschaftlern beider Länder und müssen die spezifischen Forschungsinteressen und Arbeitsweisen in jedem der beiden Länder berücksichtigen. Diese Ausgangspunkte werden im folgenden die Initiatoren der Forschungsvorhaben, aus denen der vorliegende Band erwachsen ist, erörtern 37. Vorab bleibt lediglich auf die beiden Fragenkreise, die die Thematik des Ban35 Vgl. f. a . m. BERNARDO SORDI: Giustizia e amministrazione nell'ltalia liberale, Milano 1986; ders., Justiz und Verwaltung im liberalen Italien: Die Entwicklung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Die Verwaltung, Bd. 19 (1986), S. 177 ff.; GUSTAVO GOZZI: (Fn. 33), sowie die Beiträge von PIERANGELO SCHIERA, GUSTAVO GOZZI, RAFFAELLA GHERARDI und FABIO RUGGE in diesem Bd. 36 Vgl. dazu HANS MAlER: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre, 2. Aufl., München 1980. 37 PIERANGELO SCHIERA, GERHARD DILCHER und ALDO MAZZACANE in den anschließenden Beiträgen in diesem Bd.
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des im ganzen prägen, sowie auf einige Disproportionalitäten im Forschungsband beider Länder hinzuweisen. a) Ausländischer "Einfluß" und nationale Rechtskultur Italiens Den Beiträgen des vorliegenden Bandes stellt sich in jeweils unterschiedlicher Gestalt die Frage nach dem Charakter und der Tragweite der deutschen "Einflüsse" auf die italienische Rechtskultur während der zweiten Hälte des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei - wie bereits angesprochen - auch um ein Problem der analytischen Kategorien. Ein Begriff wie "Einfluß" beschreibt ohne weitere Spezifizierung die Art der Verbindung zwischen beiden Ländern zumindest unscharf. Ähnliches gilt für andere gängige Termini des interkulturellen Bezuges wie "Modellwirkung", "Rezeption", "Nachahmung" oder "Anlehnung". Darüber hinaus bleiben aber hinsichtlich der zu untersuchenden deutsch-italienischen Beziehungen weitere Gesichtspunkte zu überdenken. So stellt sich zunächst die Frage, ob das Verhältnis der italienischen Rechtskultur zu Deutschland tatsächlich derartig einseitig Italien im wesentlichen in eine "nehmende" Position verweist, wie häufig angenommen wird. Demgegenüber gilt es zum einen das Augenmerk auf die bislang wenig beachteten Formen und Felder eines wechselseitigen Bezuges oder sogar eines überwiegend von Italien ausgehenden "Wissenschaftstransfers" zu richten 38 . Zum anderen ist zu bedenken, daß die Forschung wohl von dem bilateralen Verhältnis ausgehen muß, ihre Perspektive aber nicht darauf einengen darf. Vielmehr ist nach der Einbeziehung weiterer Länder in die wissenschaftliche Kommunikation und damit letztlich nach der Einbindung deutsch-italienischer Beziehungen in die bereits angesprochene europäische "Zirkulation" des juristischen Wissens zu fragen. Zum Teil mit diesen Problemen verbunden bleiben Charakter und Tragweite der Verbindungen beider Rechtskulturen schließlich unter einem weiteren, für die italienische und die europäische Rechtsgeschichte gleichermaßen zentralen Gesichtspunkt zu analysieren: Welche Bedeutung haben diese "Außen"Bezüge für das Entstehen der nationalen, in diesem Fall der italienischen Rechtskultur selbst, für ihre weitere Entwicklung und damit letztlich auch für ihre heutige Gestalt? Denn die hier zu betrachtenden Berührungen mit der deutschen Rechtswissenschaft und Staatslehre fallen für Italien in der zweiten Hälfte des 19. 38 Vgl. dazu für das Internationale Privatrecht die Beiträge von HEINZ - PETER MANSEL und ERIK JAYME in diesem Bd.
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Jahrhunderts gerade in die entscheidende Phase der Ausbildung der nationalen Rechtskultur. Das Verhältnis jener internationalen Beziehungen zu diesem nationalen Entwicklungsprozeß wird damit zu einem vordringlichen Problem für das historische Verständnis der heutigen italienischen Rechtskultur. Es betrifft ebenso die "innere" Entwicklung Italiens und das Selbstverständnis der italienischen Juristen wie die Stellung Italiens im Kontext der europäischen Rechtsgeschichte. In der letzten Zeit hat sich die italienische Forschung diesem Problem von unterschiedlichen Ansatzpunkten her genähert. Wichtige Anstöße gaben der Kreis um Paolo Grossi in Florenz (mit der Zeitschrift "Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno") und das lstituto storico italo-germanico in Trient39 . Zwei einander ergänzende Arbeitsrichtungen haben dabei die Erforschung der italienischen Verbindungen zur deutschen Rechtswissenschaft und Staatslehre im 19. Jahrhundert vorangetrieben: Eine Reihe von Einzelstudien und großen monographischen Arbeiten hat sich der deutschen Rechts-, Verfassungsund Wissenschaftsgeschichte im 19. Jahrhundert gewidmet und dieses Feld für die heutige italienische Wissenschaft auf moderner methodischer Grundlage erschlossen. Nicht wenige dieser Arbeiten verdienten im übrigen auch in Deutschland stärkere Beachtung und könnten der deutschen Diskussion Anregung geben. Für andere mehr beispielhaft genannt seien hier die weit ausgreifende Gesamtschau des Systemgedankens und der Systembildung in der deutschen Rechtswissenschaft von Paolo Cappellini40 , die eindringende Auseinandersetzung mit der Stellung der Juristen und des Privatrechts unter verfassungsgeschichtlicher Perspektive von Mauri=io Fioravanti41 und der ebenso materialreiche wie konzentrierte Entwurf einer deutschen Politik- und Verfassungsgeschichte auf wissenschafts- und bildungsgeschichtlicher Grundlage von Pierangelo Schiera 42 • Während diese Beiträge die Einblicke in die deutschen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts auf italienischer Seite vertieften, wandten sich andere italienische Arbeiten spezifisch den Berüh39 Zu diesem Institut und seinen Publikationen vgl. den Beitrag von PIERANGELO SCHIERA in diesem Bd. 4.0 PAOLO CAPPELLINI: Systema iuris, 2 Bde., Milano 1984/85. 41 MAURIZIO FlORAVANTI: Giuristi e costituzione politica nell'Ottocento tedesco, Milano 1979. 42 PIERANGELO SCHIERA: II laboratorio borghese. Scienza e politica nella Germania dell'Ottocento, Bologna 1987.
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rungen zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur zu. Ein Überblick über das Spektrum dieser Arbeiten, über das von ihnen erschlossene Material und die von ihnen entwickelten Fragestellungen wird jeweils bei den einzelnen Beiträgen dieses Bandes zu geben sein. Den Fortgang dieser Forschungen förderte entscheidend das Zusammenwirken einer Reihe von Wissenschaftlern in der von Aldo Mazzacane und Pierangelo Schiera geleiteten und vom italienischen CNR geförderten Arbeitsgruppe. Erträge aus den Arbeiten dieses Kreises stellt der vorliegende Band in einer Reihe von Beiträgen italienischer Autoren vor; weiteren Aufschluß über den Stand der Forschungen feben die beiden von Mazzacane unlängst veröffentlichten Bände4 . b) Außenwirkung und Fremdwahrnehmung deutscher Wissenschaft im 19. Jahrhundert
Der intensiven und planvollen Auseinandersetzung mit den Berührungen zwischen der deutschen und der italienischen Rechtskultur in der neueren italienischen Forschuni steht auf deutscher Seite trotz einzelner verdienstvoller Arbeiten 4 bislang keine auch nur annähernd vergleichbare Forschungstätigkeit gegenüber. Die Ursachen dafür zu bedenken, wäre von eigenem wissenschaftsgeschichtlichem Reiz und würde auf die allgemeinere Frage nach den Kriterien der selektiven Wahrnehmung ausländischer Wissenschaft und deutscher Auslandsbeziehungen in der neueren deutschen Geschichts- und Rechtswissenschaft führen. Die Leistungen und Außenwirkungen der deutschen Geisteswissenschaften des 19. Jahrhunderts werden jedenfalls derzeit im Ausland nicht nur in Italien, sondern beispielsweise auch in den USA 45 in erheblich größerem Ausmaß thematisiert als in Deutschland46 . Dieses ausländische Interesse schließt nicht eine mögliche Skepsis gegenüber bestimmten Formen deutschen Interesses an der Außenwirkung deutscher Wissenschaft aus - in historischer Po43 ALDO MAZZACANE: I giuristi e Ia crisi dello Stato liberale in Italia fra Otto e Novecento, Napoli 1986; ders., L'esperienza giuridica di Emanuele Gianturco, Napoli 1987. 44 Beispielhaft seien hier genannt VOLKER SELLIN: Die Anfänge staatlicher Sozialreform im liberalen Italien, Stuttgart 1971; MAXIMILIAN FUCHS: Die Allgemeine Rechtstheorie, (Fn. 32). 45 FRITZ K. RINGER: The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community 1890-1933, Cambridge (Mass.) 1969; Dt. Übersetzung: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, Stuttgart 1983. 46 Zu dieser Problematik der Beitrag von GERHARD DILCHER in diesem Bd.
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lemik etwa mit Hinweis auf imperiale Funktionen des "Wissenschaftsexportes" oder auf die Neigung des "deutschen Geistes" zu seiner Selbstbespiegelung. Vor allem zwei Gesichtspunkte sind es indes, die für den vorliegenden Band die Frage nach der Außenwirkung deutscher Wissenschaft in Hinblick auf Italien aufwerfen lassen und die auch darüber hinaus eine verstärkte Auseinandersetzung mit dieser Seite der Wissenschaftsgeschichte erfordern: Zum einen läßt sich kein auch nur annähernd zutreffendes Bild der europäischen Rechtsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewinnen, wenn nicht die von Deutschland ausgehenden oder weitergeleiteten Impulse für andere Länder einbezogen werden. Zum anderen eröffnet der Blick auf die Außenwirkung die Möglichkeit, die Perspektive der Fremdwahrnehmung als Ergänzung und Korrektiv der eigenen Wissenschaftsgeschichte zu nutzen. Neben die Binnensicht eines Verlaufszusammenhanges, der Forschungsgegenstand und Forscher innerhalb des gleichen Landes verbindet, tritt damit die Reflektion des historischen Gegenstandes im Spiegel eines anderen Landes (und damit eines anderen kulturellen Zusammenhanges). Eine derartige Einbeziehung der Fremdwahrnehmung kann unter Umständen als Hilfsmittel historischen Verstehens dienen. Sie weist so auf mögliche Deutungsalternativen hin, wenn aus der Binnensicht der eigenen Wissenschaftsgeschichte der Blick auf die Zeitbedeutung historischer Ereignisse oder Vorgänge durch spätere Wertungsverschiebungen verstellt ist. Unter dieser Perspektive wird zu überdenken sein, ob die Resonanz deutscher Lehransätze in Italien (oder anderen Ländern) zu einer Neubewertung ihrer Bedeutung auch für die deutsche Wissenschaftsgeschichte herausfordert. Ist - um wiederum nur ein Beispiel anzuführen - die bemerkenswert starke Beachtung, die Gierkes Auffassungen in Italien fanden, allein Ausdruck der dortigen Verhältnisse? Oder deutet sie auch auf eine stärkere zeitgenössische Wirksamkeit dieser Auffassungen in Deutschland hin, als sie die deutsche privatrechtsgeschichtliche Forschung unter dem Eindruck der sodann durch das BGB eingetretenen Veränderung bislang wahrgenommen hat? c) Untersuchungsgegenstände urui Forschungsdesiderate
Der vorliegende Band beansprucht keinesfalls, die Fülle der Forschungsaufgaben auf den umrissenen Arbeitsgebieten bereits
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bewältigen und die angeschnittenen Fragen abschließend beantworten zu können. Sein Anliegen ist viel begrenzter. Er spiegelt den Stand eines Forschungsvorhabens wieder, das auf italienischer Seite keineswegs abgeschlossen ist und sich auf deutscher Seite mit der Erarbeitung dieses Bandes erst konstituiert hat. Aus diesem Forschungsvorhaben werden unter den soeben dargelegten Perspektiven lediglich die Arbeitsansätze sowie Zwischenergebnisse und Analysen für Teilgebiete vorgestellt. Schwerpunkte bilden dabei die Diskussionen um die Methodenfragen der Rechtswissenschaft und Staatslehre sowie - teilweise damit verflochtenen - Auseinandersetzungen um die Antworten der Rechtsordnung auf die soziale Frage. In die beiden Schwerpunkte einbezogen sind die darauf bezogenen Beiträge in den Kontroversen um das Bürgerliche Recht - seine Kodifikation in Deutschland und die Revision seiner Kodifikation in Italien. Auf dieser Grundlage werden anschließend drei einzelne Bereiche untersucht: das Arbeitsrecht als ein typisches Feld der Suche beider Rechtskulturen nach Lösungsansätzen angesichts neuer sozialer Herausforderungen; daß Internationale Privatrecht als ein Bereich besonders intensiver wechselseiliger Befruchtung; schließlich das Kommunalrecht als ein Sektor des öffentlichen Rechts, auf dem sowohl die Ausstrahlungskraft deutscher Wissenschaft als auch die Eigenständigkeit italienischer Problemlösungen besonders deutlich hervortreten. Eine Reihe weiterer Einzelbereiche wäre nicht minder untersuchungsbedürftig. Vermehrter Erforschung bedürften zudem die Medien des Transfers juristischen Wissens und die sonstigen Kommunikationsformen zwischen den beiden Rechtskulturen. Als Problem verschiedentlich angesprochen, aber noch keineswegs mit zufriedenstellenden Ergebnissen erörtert sind die Unzulänglichkeiten der herkömmlichen Kategorien für die Bezugnahme zwischen den Rechtskulturen ("Rezeption", "Modell" usw). Ebenfalls verschiedentlich berührt, aber nicht eigens thematisiert ist das Entstehen der Rechtsvergleichung, also einer eigenen Teildisziplin der Rechtswissenschaft, die sich nach der Herausbildung einer nationalen Rechtsordnung auf den Bezug zu anderen Rechtskulturen spezialisiert und damit für den juridischen Bereich einem allgemeineren Bedürfnis der Zeit nach Vergleichung Ausdruck gibt. Diese Aufzählung der Forschungsdesiderate ließe sich fortsetzen. Der vorliegende Band muß am Maßstab dieser Aufgaben gemessen unzulänglich erscheinen. Er hätte indes sein bescheide-
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neres Ziel schon erreicht, wenn er in Deutschland die Bereitschaft zu weiterer Diskussion und Forschung über die Berührungen mit der italienischen Rechtskultur wecken könnte.
Deutsche Wissenschaft im Spiegel der italienischen Rechtskultur - das italienische Forschungsinteresse an den deutschen Staatswissenschaften und der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts
Von Pierangelo Schiera Den thematischen Rahmen unseres Treffens stellt der sog. liberale Staat dar, so wie er in Italien zwischen der Proklamation der nationalen Einheit und dem ersten Weltkrieg Gestalt annimmt. In diesem Rahmen bildet sich über nur scheinbar gegensätzliche Regierungen (erst die Rechte, dann die Linke), welche aber in Wirklichkeit relativ gleichartige Interessen vertraten, ein politisches System mit eigenen Charakteristiken heraus. Im Hinblick darauf ist die Notwendigkeit juristischer und sozialer Konzeptualisierungen zu messen, welche auch in Italien im Laufe der für uns interessanten fünfzig Jahre ausgearbeitet wurden. Diese Notwendigkeit wäre in zweifacher Hinsicht hervorzuheben und zu betonen: - die Bildung der neuen führenden Schicht, die darauf aus war, die Macht im geeinten Italien innezuhaben; - die Ausdehnung der neuen Einflußgebiete des Staates und der technisch-wissenschaftlichen Unterstützung, die zu diesem Zweck notwendig war. Eine sogeartete Forschung zu entwickeln, hieße sowohl die traditionelle Geschichtsschreibung ethisch-politischer Art als auch jene mehr technische, aber nicht weniger abwegige streng juristisch-formalistischer Art überwinden. Es wäre demnach von Nöten, auch das Studium der juristischen Doktrinen unter verfassungsgeschichtlichen Gesichtspunkten in
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die Wege zu leiten, und zwar nicht nur bezüglich des dogmatischen Ablaufs, sondern auch der politisch-soziologischen Auswirkungen. Im Besonderen scheint diese Perspektive geeignet, eine Gegenüberstellung des italienischen und des deutschen Falles zu ermöglichen, basierend auf der Annahme, daß der letzte eine Art "Modellfunktion" gegenüber dem ersten ausgeübt haben könnte. Tatsächlich haben in dieser Annahme, neben den rein wissenschaftlichen Beweggründen, auch wenn sie historisch existent und überprüfbar sind, auch Motive praktischen und ideologischen Charakters mitgespielt. Jene sind an den Erfolg gebunden, welchen der soziale Rechtsstaat auf deutschem Boden gewinnen konnte, sowohl auf der operativen als auch auf der institutionellen Ebene der Antwort auf die "Sozialfrage", als auch auf der Ebene der Konsensbildung zu Gunsten jener Ständegruppen, die es auf die Macht abgesehen hatten und die normalerweise als Bürgertum bezeichnet werden 1 . Das Italienisch-deutsche historische Institut in Trient widmet seit Jahren den politischen und kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und Italien im 19. und· 20. Jahrhundert große Aufmerksamkeit. Der Austausch zwischen beiden Ländern ist durch die ähnliche historische (politische und verfassungsgeschichtliche) Entwicklung und somit durch die günstigen Vergleichsbedingungen zweifellos erleichtert worden. Seit der Gründung gehören diese Zusammenhänge zu den bevorzugten Themenbereichen des Instituts. Die Forschungsbemühungen sind dabei von wenigstens zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten ausgegangen. Auch in chronologischer Hinsicht sind zunächst die "Bewegungen" und die "Ideologien" untersucht worden. Dabei wurden gemeinsame oder ähnliche Entwicklungen, aber auch die Unterschiede und Besonderheiten hervorgehoben 2 • 1 In dieser kurzen Einleitung erlaube ich mir einen r:usammenfassenden Hinweis auf: R . RUFFILLI: Lo Stato liberale in ltalia, in: II liberalismo in Italia e Germania dalla revoluzione del '48 alla prima guerra mondiale, hg. v . R. LILL/N. MATTEUCCI, Bologna 1980; P . SCHIERA: Amministrazione e costituzione: verso Ia nascita della scienza politica, in: II pensiero politico, XV, 1982; P. SCHIERA/R. GHERARDI: Von der Verfassung zur Verwaltung: bUrgerliehe Staatswissenschaft in Deutschland und Italien nach der nationalen Einigung, in: Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Regime. Europäische Ansichten, hg. v . E . W. HEYEN, Frankfurt 1984. 2 In eigens zu diesem Zweck veranstalteten Studienwochen, deren Beiträge durchweg in den "Quaderni" des Instituts veröffentlicht worden sind, sind folgende Themen behandelt worden:Der politische und soziale Katholizismus in Italien und
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Eine zweite Forschungsperspektive hat in den letzten Jahren das Institut bei dem Versuch bestimmt, tiefgründigere und weniger zugängliche "Materialien" zu erarbeiten, die bei der Schaffung des öffentlichen Bewußtseins und der politischen Kultur Italiens und Deutschlands im 19. Jahrhundert wichtig waren. Dabei ist vor allem die Bedeutung der "Geschichtswissenschaft" bei der Entstehung des "Nationalbewußtseins" in beiden Ländern hervorgehoben worden, wie es auf den verschiedenen Gebieten der Literatur, der Kunst, der Gesellschaft, der Politik und der Verfassung zum Ausdruck kommt. Auf das 19. Jahrhundert als "Jahrhundert der Ideologien" ist somit das 19. Jahrhundert als "Jahrhundert der Geschichte" gefolgt3. Parallel dazu hatte sich jedoch innerhalb des Instituts eine unabhängige Arbeitsgruppe gebildet, die sich aus jungen Wissenschaftlern verschiedener italienischer Universitäten zusammensetzt. Sie hat das allgemeine Forschungsthema "Sozialverfassung, Staatstheorien und Ideologien in Deutschland im 19. Jahrhundert" formuliert. Dank einer großzügigen Finanzierung des CNR ist dieses Forschungsprojekt zwischen 1982 und 1988 unter meiner Leitung realisiert worden. Durch die gemeinsame Arbeit ist eine Deutschland von 1878 bis 1914, 1975 unter der Leitung von ETTORE PASSERIN D'ENTREVES und KONRAD REPGEN; Die sozialistische Arbeiterbewegung in Italien und Deutschland von 1870 bis 1920, 1977 unter der Leitung von LEO VALIANI UND ADAM WANDRUSZKA; Der Liberalismus als Idee und politische Aktion in Deutschland und in Italien von der Revolution von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg, 1979 unter der Leitung von RUDOLF LILL UND NICOLA MATTEUCCI; Nationalismus in Italien und Deutschland bis zum Ersten Weltkrieg, 1981 unter der Leitung von R UDOLF LILL UND FRANCO VALSECCHI; Faschismus und Nationalsozialismus, 1985 unter der Leitung KARL DIETRICH BRACHER UND LEO V ALIANI. 3 Eine kurr: vor dem Abschluß stehende Symposienreihe hat diese Untersuchungsrichtung aufgegriffen (die Beiträge werden demnächst in der neuen Schriftenreihe des Instituts "Contributi/Beiträge" veröffentlicht: Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im 19. Jahrhundert: Deutschland und Italien, 1985 unter der Leitung von REINHARD ELZE und PIERANGELO SCHIERA; Die Antike im 19. Jahrhundert in It:.lien und Deutschland, 1986 unter der Leitung von KARL CHRIST und ARNALDO MOMIGLIANO; Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland, 1987 unter der Leitung von AUGUST BUCK UND CESARE VASOLI; Die Moderne im Spiegel des 19. Jahrhunderts: Ansichten, Stereotypen und Mythen in Italien und Deutschland, 1988 unter der Leitung von PIERANGELO SCHIERA und ADAM WANDRUSZKA.
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heterogene Gruppe von dreißig Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachrichtungen entstanden, die jedoch von gemeinsamen methodologischen Forschungsinteressen, die in Italien noch dazu recht neu sind, zusammengehalten wird. Im Verlauf dieser Zusammenarbeit ist immer stärker die Erkenntnis in den Vordergrund getreten, daß es während des 19. Jahrhunderts ein "Modell Deutschland" gegeben hat, das auf die sozial- und verfassungsgeschichtliche Entwicklung Italiens einen ganz erheblichen Einfluß ausgeübt hat. Die anfangs allein auf Deutschland beschränkte Untersuchung ist somit bald eine vergleichende geworden. Gleichzeitig hat die Hervorhebung des "Modells" die Aufmerksamkeit notwendig auf die wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte gelenkt, die sich aus einem Vergleich der beiden Verfassungssituationen ergaben. Das hatte auch wichtige methodologische Folgen, wie sich, so hoffe ich, in unserem Kolloqium zeigen wird. Die Untersuchungen der "deutschen Verhältnisse" hat sich somit mit der Untersuchung der "italienischen Verhältnisse" verflochten. Dabei ist vor allem die Stellung der "Wissenschaft" (insbesondere der Sozialwissenschaften) im Verhältnis zur politischen "Reform" herausgstellt worden, die innerhalb des deutschen und des italienischen politischen Sytems unter dem Eindruck eines ähnlich rapiden sozialen Wandels und im Zuge analoger wirtschaftlicher, sozialer und politisch-institutioneller Sachzwänge als gleichermaßen notwendig erachtet wurde 4 . 4 Vorläufiges Ergebnis dieser Arbeit sind die Beiträge aus drei Symposien, die die CNR-Gruppe am Italienisch-deutschen historischen Institut in Trient veranstaltet hat. Die Beiträge des ersten Symposiums von 1984 zum Thema "Sozialverfassung, Staatslehren und Ideologien in Deutschland vom 17. bis 20. Jahrhundert" sind hg. v. PIERANGELO SCHIERA, im: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, X, 1984 erschienen. Die Beiträge des Symposiums "Politische Kultur und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland zwischen 19. und 20. Jahrhundert" wurden unter dem Titel "Cultura politica e societa borghese in Germania fra Otto e Novecento" , Bologna 1986, hg. v. G. CORNI/P. SCHIERA. Die dritte Gruppe von Beiträgen erschien 1987 unter dem Titel "Crisi istituzionale e teoria dello Stato in Germania dopo Ia Prima guerra mondiale, (Institutionenkrise und Staatslehre in Deutschland nach dem ersten Weltkrieg)" hg. v. G . GOZZI/P. SCHIERA, Bologna 1987. In diesem Zusammenhang sei auch die Monographie von I. CERVELLI: Liberalismo e conservatismo in Prussia 1850-1858, Bologna 1983 erwähnt, die den Versuch einer Neuinterpretation der deutschen Reformbestrebungen am Vorabend der nationalen Einheit darstellt. CERVELLI gehört zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe. Er war einer ihrer wichtigsten und aktivsten
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Das wichtigste Ergebnis dieser Forschungsanstrengung, an der sich Historiker, Juristen, Politologen, aber auch einige Philosophen beteilgt haben, ist die immer schärfere Herausarbeitung der wissenschaftlichen und doktrinären Komponente des politischen und ideologischen Herrschaftsanspruchs der neuen führenden Schichten, die gemeinhin unter dem Sammelbegriff "Bürgertum" rangieren 5 • Der gemeinsame Nenner dieser unterschiedlichen Forschungsgebiete (Recht, Volkswirtschaft, die übrigen Sozialwissenschaften, die Sozial- und Verfassungsstrukturen des Modernisierungsprozesses in beiden Ländern) ist somit durch die "wissenschaftliche" Behandlung und Organisation der jeweiligen Wissensbestände gegeben, die auf institutionellen, d. h. staatlich definierten und kontrollierten Wegen, im wesentlichen durch die Universitäten vermittelt werden. Auf dieser Grundlage ist ein Forschungsprojekt entwickelt worden, das gleichzeitig den Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Forschung und Ausbildung der politisch führenden Klassen und den Zusammenhang zwischen deren Bedürfnis- und Interessenlagen und der konkreten politischen Tätigkeit des Staates berücksichtigen soll 6 . Wissenschaft und Reform sind auf diese Weise zu einem Binomium geworden, das über die Zusammenhänge zwischen sozialer Entwickung (soziale Frage, Klassenbildung, Etablierung neuer Führungsschichten) und verfassungspolitischer Entwickung (wie Vertreter, bis sich vor kurzem sein Forschungsinteresse anderen Gebieten zuwandte. Hinzuweisen ist auch auf das jüngst abgehaltene Kolloquium (November 1988) "Gustav Schmoller in seiner Zeit : Die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien", das in Trient in Zusammenarbeit mit der Universität Tübingen veranstaltet wurde und dessen Beiträge von PIERANGELO SCHIERA UND FRIEDRICH TENBRUCK herausgegeben worden sind. Ein zweites SchmollerKolloquium (das sich jedoch mit dessen Rezeption im 20. Jahrhundert beschäftigte) hat im September 1989 stattgefunden. 5 Zum Thema Bürgertum vgl. die wertvolle Übersicht unter italienisch-deutschem komparativen Gesichtspunkt von M. MERIGGI: Borghesia italiaria, borghesia tedesca tra societa e istituzioni: ipotesi per un confronto, in: Scienza e politica I, 1989, s. 75-83. 6 Auf der gleichen Linie und als weiteres Forum der Gruppe, welche sich um das Italienisch-deutsche historische Institut in Trient gebildet hat, sei aufmerksam gemacht auf die Halbjahresschrift Scienza e politica: per una storia delle dottrine, deren erste Nummer im Frühjahr 1989 erschienen ist und in der PIERANGELO SCHIERA einleitend einige kurze methodologische Linien zum obengenannten Thema angeführt hat.
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vom Rechtsstaat zum Sozialstaat, Demokratisierung usw.), wichtige Aufschlüsse geben soll. Auf diese Weise soll ein tiefgreifenderes Verständnis des italienischen und des deutschen "politischen Systems" ermöglicht werden, von seiner Konstituierung bis zum nationalen Zusammenbruch im Totalitarismus, der auf den ersten Weltkrieg folgte 7 • Im Rahmen des Forschungsinteresses für die Stellung der "liberalen" und "bürgerlichen" Intelligenz bei der wissenschaftlichen, reformpolitisch orientierten Interpretation des italienischen und deutschen politischen Sytems mußte die Rechtsgeschichte notwendig in den Mittelpunkt rücken. Dank Aldo Mazzacane 8 (Erwähnung verdienen aber auch die Vertreter der florentinischen Schule, vor allem M auri zio Fioravanti) ist ein neues Forschungsprojekt initiiert worden, über das er im Laufe des Kolloquiums selber berichten wird. Es ist wiederum im Italienisch-deutschen historischen Institut auf der Grundlage einer CNR-Finanzierung entstanden und steht unter der Leitung von Mazzacane. Sein Thema lautet:"Rechtskultur und Sozialwissenschaften in Italien und Deutschland im 19. Jahrhundert". Dieses Forschungsprojekt hat den Anstoß gegeben zur Kontaktaufnahme mit den deutschen Kollegen und Freunden (häufige und fruchtbare Begegnungen hatte es ja schon immer gegeben, aber noch keine formellen Verbindungen). Darüber hinaus ist aber zur Vervollständigung des Forschungsberichts auf ein drittes Projekt zu verweisen, das in diesen Tagen wiederum dank der finanziellen Unterstützung des CNR in Trient anläuft, und zwar 7 Einige Mitglieder der Gruppe haben diesen Gesichtspunkt ihren monographischen Arbeiten zugrundegelegt, die bei aller Autonomie aufeinander verweisen. Ich beziehe mich im wesentlichen auf die Arbeiten von: R . GHERARDI: Le autonomie locali nel liberismo italiano 1861-1900, Milane 1984; P. SCHIERA: II laboratorio borghese. Scienza e politica nella Germania dell 'Ottocento (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, Monografia 5), Bologna 1987; G . GOZZI: Modelli politici e questione sociale in Germania e in Italia fra Otto e Novecento (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, Monografia 9), Bologna 1988. 8 Der erste kollektive Beitrag, der in diese Richtung weist, findet sich in dem von A. MAZZACANE hg. Bd.: I giuristi e Ia crisi dello Stato liberale in Italia fra Otte e Novecento, Napoli 1986. Ein anderer Beitrag von ALDO MAZZACANE zum Thema der Enciclopedia giuridica in den Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen 19. und 20. Jahrhundert wird in einer Schriftenreihe des Italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient erscheinen.
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zum Thema "Universität und Wissenschaft im politischen System des geeinten Italien. Theoretische Modelle und institutionelle Ordnungen". Es wird auf die reichen Erkenntnisse, die in den verschiedenen Phasen unserer Gruppenarbeit gesammelt worden sind, zurückgreifen können. Auch die neue Untersuchung wird vergleichend vorgehen (Deutschland wird dabei vielleicht nicht mehr die einzige Bezugsgröße sein), wobei die Inhalte der verschiedenen Wissenschaften (formell anhand der Studienpläne feststellbarer Universitätsfächer) aber auch die institutionellen Aspekte der universitären Studienordnung (das deutsche Modell ist ja hierbei in ganz Europa, aber vor allem in Italien von höchster Bedeutung gewesen) behandelt werden sollen. Über diese Aspekte soll 1990 ein begriffsgeschichtliches Symposium stattfinden, welches sich hauptsächlich mit den Grundkonzepten der Sozialwissenschaften und des Staates im 19. und 20. Jahrhundert in Relation zur Organisation des politischen Systems in Italien und Deutschland auseinandersetzen soll. Das Ziel dieser Initiative ist es, die Übereinstimmung zwischen der Erarbeitung der Konzepte von Seiten der Wissenschaft und der konstitutionellen Kontexte, der Organisation der Interessen und der politischen Klassen sowie der Formen der institutionellen und administrativen Rationalisierung in der italienischen und deutschen Realität der betreffenden Periode hervorzuheben. Diese Verhältnisse werden auf zwei streng gegliederten Untersuchungsebenen aufgegriffen - der historisch-begrifflichen und der historisch-konstitutionellen - mit dem Ziel, die Beziehungen zwischen den sozialen Formationen, den Ideologien und den Wissenschaften aufzudecken. Nach diesem eher deskriptiven Teil möchte ich im zweiten Teil meiner Einführung von der italienischen Seite aus einige inhaltliche Überlegungen anstellen. Die lange Aufzählung abgeschlossener Initiativen sollte ja nicht nur dazu dienen, das vom Institut in Trient wiederholt unterbreitete Angebot einer engeren, auch institutionell qualifizierteren Zusammenarbeit mit qualifizierten deutschen Forschungsstätten zu legitimieren. Sie möchte auch anband konkreter historiographischer Ergebnisse zeigen, daß Deutschland und Italien bei der Bildung ihres politischen Systems, jenseits des traditionellen Rahmens der politischen Geschichte Europas, durchweg ähnliche Wege gegangen sind, die noch dazu in ihren Zeitabschnitten und
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Realisierungsformen parallel verliefen9 • Darüber hinaus zeigt die während der letzten zehn Jahre in Trient geleistete Arbit eine bewußte und stete Verschiebung des methodologischen Schwerpunktes hin zu dem Themenkomplex, der Gegenstand unseres Kolloquiums ist. Wir haben mit der Absicht begonnen, hinter den vordergründigen "politischen Tatsachen" die politischen Langzeitstrukturen aufzudecken. Wir haben deshalb die historiographische Kennzeichnung des 19. Jahrhunderts als "eines Jahrhunderts der Ideologien" aufgegriffen und diese zu unserem Untersuchungsgegenstand gemacht. Wir waren uns aber auch darüber im klaren, keinen "geistesgeschichtlichen" Ansatz vorlegen, sondern die politische Funktion der Ideologien erhellen zu wollen. Dabei kam es uns weniger auf deren innere logische und dogmatische Struktur an, sondern vielmehr auf deren äußere Zweckmäßigkeit, hinsichtlich der konkreten sozialen und institutionellen Probleme der politischen Auseinandersetzung. Dieses Ziel ist nicht durchweg erreicht worden. Auf jeden Fall aber ist es uns gelungen, das reale Forschungsinteresse zu präzisieren: die Grundlagen zu schaffen für eine "Begriffsgeschichte" des bürgerlichen Zeitalters in Italien und Deutschland zwischen 19. und 20. Jahrhundert. Dabei sollten nach unserer Vorstellung nicht nur die theoretischen Begriffsbildungen berücksichtigt werden. Wichtig erschienen uns gerade auch die Denkmuster jener politischen Akteure, die in diesem historischen Zeitraum ihren Hegemonie- und Herrschaftsanspruch anmeldeten. Aber auch hiermit haben wir uns nicht zufriedengegeben. Einige spezifische Untersuchungen haben gezeigt, daß gerade im Jahrhundert der Ideologien und der Geschichte die neuen führenden sozialen Schichten ihren Herrschaftsanspruch nur durch technisch-instrumentale Kompetenzen legitimieren konnten. Denn das 19. Jahrhundert ist ja auch das Jahrhundert der Wissenschaft gewesen. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ist dieser Grundzug sogar konstitutiv geworden. Ich selbst habe daher den "Faktor Wissenschaft" als tragendes Element dieses verfassungsgeschichtlichen Abschnittes zu begreifen ver9 Eine neue Symposienreihe speziell zu diesem Thema ist beim Italienisch-deutschen historischen Institut in Trient ins Leben gerufen worden, deren erster Bd. unter der Leitung von GIUSEPPE ARA und RUDOLF LILL dem deutschen Italienbild und dem italienischen Deutschlandbild in der Zeit der Nationalen Bewegungen (1830-1870) gewidmet war. Das Institut hat vor, sich dieser Problematik in Zukunft verstärkt zuzuwenden und sie bis auf unsere Tage auszudehnen.
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sucht10. Im Zusammenhang mit der Bildung des politischen Systems brachte die allgemeine wissenschaftliche Ausrichtung des Jahrhunderts (wichtig wären hierbei die kulturgeschichtlichen Implikationen, die wechselseitige Beeinflussung zwischen Naturund Geisteswissenschaften) notwendig die sogenannten Staatsund Sozialwissenschaften hervor. Weniger vorhersehbar war aber die Virulenz dieses Vorgangs auf den verschiedenen Ebenen, die ich hier kurz beschreiben möchte. Zum einen machte sich ein Rationalisierungsbedürfnis bei der Organisieruns der Studiengänge innerhalb der juristischen Fakultäten, die ihre Absolventen für den öffentlichen Dienst zu qualifizieren hatten, bemerkbar. Der Übergang von der kameralistischen Ausbildung des 18. Jahrhunderts hin zum "Juristenmonopol" des 19. Jahrhunderts 11 wird von der Etablierung der Staats- und Sozialwissenschaften abgeschlossen. Auf der einen Seite entstehen neue Zweige des "öffentlichen Rechts", andererseits formalisieren sich die Fächer mit wirtschaftlichem Hintergrund: Nationalökonomie und Finanzwissenschaft. Zum anderen vollzog sich in Deutschland die Neuordnung der sozialwissenschaftliehen Universitätsfächer parallel zur Intensivierung der Regierungstätigkeit der einzelnen Staaten (vor allem natürlich Preußens) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese Tendenz gipfelte und legitimierte sich dann auf imperialer Ebene (dabei aber mehr im politisch-ideologischen als im Bereich der Exekutivkompetenzen) in Bismarcks "Sozialpolitik". Die Zusammenhänge zwischen Sozialpolitik und zugrundeliegender "sozialer Frage" können hier nicht angesprochen werden. Übergehen müssen wir hier auch den wahren Hintergrund der sozialen Frage, nämlich die "bürgerliche Frage". Sie faßt am besten die Ängste und Befürchtungen zusammen, die das überschnelle wirtschaftliche Wachstum der bürgerlichen Schichten begleiteten, angesichts der Unterdrückung der unteren Schichten und der (ja nicht nur von Marx prophezeiten, sondern schon von Lorenz von Stein beschworenen) Gefahr einer proletarischen Re10 Ich beziehe mich auf mein "Laboratorio borghese" , habe jedoch den Eindruck, daß analoge Interpretationsmodelle auch in anderen Kontexten angewendet werden können und im besonderen zur Rekonstruktion des allgemeinen Verwissenschaftlichungsprozesses ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der europäischen (aber auch der nordamerikanischen) Welt geeignet sind. 11 Vgl. W . BLEEK: Von der Kameralausbildung zum Juristen Privileg, Berlin 1972.
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volution. Auf jeden Fall hat die Etablierung der Sozialwissenschaften in den deutschen Universitäten und Bürokratien mit dem Aufstieg des "Bürgertums" zur führenden Klasse in unmittelbarer Verbindung gestanden 12 . Trotz aller noch näher zu präzisierenden Unterschiede ist dieser Vorgang in Italien und Deutschland gleichermaßen feststellbar, und zwar sowohl auf technischer als auch auf ideologischer Ebene (Beispiel dafür ist etwa der "Verein für Socialpolitik"). Dieser Wandel erfaßte auch jene Sozialstruktur, die zwar von jeher schon das Rationalitätsmuster der neuzeitlichen okzidentalen Gesellschaft darstellte, nun aber im Zeitalter der bürgerlichen Demokratisierung des Staates zum Legitimationsgrund, ja zum Herrschaftsinstrument wurde: die "öffentliche Meinung". Dieser Vorgang scheint mir auf einer dritten, nunmehr wissenschaftlichen Ebene unmittelbar greifbar zu sein. Ich beziehe mich auf die Formalisierung der "neuen" Wissenschaften, eine Grundvoraussetzung für deren Eingliederung in den Bereich der Universitätsfächer und in den ideologisch-poHtischen Bereich der sich konsolidierenden bürgerlichen öffentlichen Meinung. Formalisierung der "Wissenschaften" und Professionalisierung der jeweiligen "Experten" waren die Kehrseiten ein und desselben Prozesses. Dieser war bestimmend für den vom Bürgertum beherrschten freien Markt der Politik, der das sich schnell (vielleicht zu schnell) entwickelnde politische System in Deutschland und in Italien zunehmend kennzeichnete. Auf erkenntnistheoretischer Ebene spiegelten sich diese Zusammenhänge in dem von der sozialwissenschaftliehen Forschung erhobenen Anspruch auf Objektivität und Wertfreiheit wider. Auf diesen beriefen sich die von Max Weber angeführten jüngeren Mitglieder des "Vereins für Socialpolitik", als sie der Ära Schmal/er ein Ende setzten. Aus dem Versuch, die Bedeutung der Sozialwissenschaften in Deutschland, aber im wesentlichen ja auch in ItaHen, zu skizzieren, ergibt sich meines Erachtens zweierlei. Erstens: Diese Wis12 Vor allem ist auf die Tagungen des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte (Heidelberg/Bad Homburg) zu verweisen, die sich in den letzten Jahren mit dem Thema "Bildungsbürgertum" beschäftigt haben: so schreibt JORGEN KOCKA selber in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband: Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, 1987. Indes muß hier auch die letztere Tätigkeit des Zentrums für interdisziplinäre Forschung Bielefeld und dessen von KOCKA geleitetes internationales Forschungsprojekt über "Bürger, Bürgerlichkeit, bürgerliche Gesellschaft . Deutschland im internationalen Vergleich" erwähnt werden.
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sensehaften sind in der Tat bei der Modernisierung des politischen Systems beider Länder mitentscheidend gewesen. Es ist daher, zweitens, notwendig, diese gründlicher auf ihren "inneren" doktrinären Bestand zu untersuchen. Es geht dabei aber nicht um eine neue Fragestellung für die ökonomische, rechtliche oder soziologische Ideengeschichte. Es geht vielmehr um die Bedeutung der "Lehrsysteme" in dieser Konsolidierungsphase des bürgerlichliberalen Herrschaftsmodells, und zwar als wichtigste Bildungsund Vermittlungsinstrumente eines mehr denn je zuvor unmittelbar "herrschaftswirksamen Wissens". Von den Ideologien über die Wissenschaft zu den Lehrsystemen: Dieses - freilich nicht ausschließliche - Interpretationsschema schlagen wir für die Sozial- und Verfassungsgeschichte des Bürgertums im 19. Jahrhundert vor. Daher interessieren uns nicht nur die Lehrsyteme, die sich (auf philosophisch-ideologischer oder technisch-staatsrechtlicher Ebene) mit politischen Fragen befassen. Uns interessieren vielmehr die "politischen" Wirkungen, die alle Lehrsysteme, ganz abgesehen von ihrem spezifischen Interessen- oder Tätigkeitsgebiet, aufgrund ihrer "sozial" konstitutiven Funktion (d. h. durch ihre schulische, kulturelle und ideologische Bildungs- und Vermittlungsfunktion) ausüben. Dabei sollen natürlich die "Sozialwissenschaften" vorrangig untersucht werden, da sich die oben angesprochenen Zusammenhänge in ihnen am ehesten widerspiegeln. Die zentrale Stellung der rechtswissenschaftlichen, privatrechtliehen wie staatsrechtlichen Lehrsysteme liegt somit auf der Hand. Die spezifische Forschungsquelle unserer Gruppe erscheint mir deshalb bedeutsam: Die Enciclopedia giuridica hat jahrelang im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die Bildung des wichtigsten "Zivilstandes", des Juristenstandes, aus nächster Nähe verfolgt. Da sie sowohl auf Gesellschafts- wie auf Staatsebene operierten, stellten die Juristen den größten und wichtigsten Anteil jener Führungsklasse dar, der in sozialer und institutioneller Hinsicht den von den bürgerlichen Schichten, in ihrer doppelten Frontstellung gegen Aristokratie und Proletariat, erhobenen Anspruch auf politische Verantwortung am wirksamsten vertreten hat 13. 13 Ich verweise auf die Arbeiten im Rahmen der Geschichte der ft{reien Berufe (Professionen)", besonders des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung unter Leitung von JÜRGEN KOCKA. In jenem Kontext - in nächster Zukunft aber auch in autonomerer Form - sind besonders die Beiträge von HANNES SIEGRIST erwähnenswert, die der Sozialgeschichte der Rechtsanwälte, unter besonderem
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Im Bereich der sozialen Frage bedienten sie sich des Mittels der Reformpolitik. Sie weist bereits voraus auf das in Italien wie in Deutschland praktizierte staats- und gesellschaftspolitische Regulierungsmodell des "sozialen" Rechtsstaates 14• Die hier vorgestellten Beitrtige bewegen sich alle in diese Richtung. Jeder von ihnen behandelt spezifische Themen und leistet zu der von mir kurz dargestellten "politischen Ideengeschichte" einen Beitrag. Aus methodologischen Überlegungen heraus, aber auch aus Interesse an einer vor allem in Deutschland Aufmerksamkeit beanspruchenden Debatte möchten wir auf diese Weise Materialien beisteuern zu einer Neuinterpretation aus einer verfassungsgeschichtlichen Sichtweise der italienischen und deutschen Entwicklung nach der nationalen Einheit. Die gemeinsamen Grundzüge jener doppelten Entwicklung konstituieren vielleicht im Rahmen der allgemeinen europäischen Geschichte der Zeit ein spezifisches Modell, dessen dramatische Weiterentwicklung in die jeweiligen politischen Systeme der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ja auch durchweg ähnlich verläuft.
Verweis auf Italien, gewidmet sind: Die Rechtsanwälte und das Bürgertum. Deutschland, die Schweiz und Italien im 19. Jahrhundert, in: BUrgerturn im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, hg. v . J. KOCKA, 2, München 1988; ders., Professionalisation as a Process: Patterns, Progression and Discontinuity, in: Professions in Theory and History, hg. v. R. TORSTENDAHL/M. BURRAGE, London 1989. 14 Schon OTTO HINTZE definierte in einem kurzen aber eindrucksvollen Nachruf auf Lorenz von Stein die "bürgerliche Sozialpolitik" klar und deutlich, in Kontraposition zur Marxschen "Sozialdemokratischen Doktrin". Das wichtigste Werk zum Thema, dank auch seines komparativen Charakters, ist G. GOZZI, (Fn. 7) .
Deutsche Wissenschaft im Spiegel der italienischen Rechtskultur - das deutsche Forschungsinteresse an der "Fremdwahrnehmung" deutscher Wissenschaftsentwicklung
Von Gerhard Dilcher 1. Zum Thema
Meine Aufgabe im Rahmen der Tagung besteht, wie der Titel sagt, nicht in einer Darstellung des Projektes, sondern in einer Betrachtung desselben von außen unter dem Gesichtspunkt des deutschen Forschungsinteresses. Die Ausführungen sollen zeigen, daß gerade diese Betrachtung an oft nicht bewußt gemachte Kernfragen wissenschaftlicher Beziehungsgeflechte und damit des Projektes selbst heranführen und die Bedeutung des Projektes gerade für die deutsche Wissenschaftsgeschichte erweisen kann. Das Thema des Projektes kann in drei Bereiche zerlegt werden: Was geschieht im Bereich der Rechts- und Staatswissenschaften in Deutschland; was geschieht in Italien; welche Verbindungen bestehen zwischen den beiden nationalen Entwicklungssträngen? Mit der Erfassung dieser Verbindungen spätestens aber fangen die methodischen Schwierigkeiten an - wollen wir sie als Einfluß, als Wechselbeziehung, als Rezeption, als Wissenstransfer erfassen? Jedes dieser Worte und Begriffe stellt eine inhaltlich aufgeladene Interpretationskategorie dar, die die Erfassung und Deutung der fraglichen Vorgänge von vornherein in bestimmte gedankliche Bahnen lenkt. Der Diskussionsbeitrag von Herrn Heyen und vor allem das Referat von Frau Vano haben diesen Punkt im Verlaufe der Tagung erfreulich vertieft und differenzierte Interpretationsmuster angeboten. Die diffizilen Vorgänge wissenschaftlicher Kommunikation können jedenfalls nicht in die einfache Metapher "Einfluß" gefaßt werden; der differenzierte heutige Forschungs-
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stand zur "Rezeption" des römischen Rechts in Deutschland 1 zeigt, wie die Vorstellung einer materiellen Übertragung fehlleitet und die diffizilen Vorgänge der Bewußtseinsveränderungen und Wahrnehmungserweiterungen, die die wichtigsten und tragendsten Elemente des Vorganges darstellen, zu verdecken drohen. Die Aspekte der Wechselbeziehung sollen in meinem Referat unter dem Gesichtspunkt des deutschen Forschungsinteresses gesehen und mit den Worten "im Spiegel" einerseits und "Fremdwahrnehmung" andererseits bezeichnet werden. "Fremdwahrnehmung" bezeichnet also all jene Selektions- und Interpretationsvorgänge, die einen Wissenstransfer von einer nationalen Wissenschaftskultur in die andere steuern und begleiten. "Im Spiegel" bezeichnet in einer Metapher die Chance der Selbsterkenntnis, die dann erwächst, wenn man sein Bild nicht nur ertastend an sich selbst erfährt, sondern es von einem anderen Medium aufgefangen und, wenn auch als Fremdwahrnehmung, zurückgeworfen bekommt. Daß die Metapher auch für kulturelle historische Prozesse brauchbar ist, zeigt sich schon darin, daß das Selbstbewußtsein nationaler Identität in der europäischen Geschichte sich in starkem Maße durch solche Vorgänge gebildet hat 2 •
1 Zum Vorgang der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland, zu den zugrunde liegenden Denkmodellen und Kategorien (Entwicklung, Kontinuität, Übernahme von Kulturelementen) vgl. FRANZ WIEACKER: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, § 1 S. 124 ff. (trad. ital. Storia del Diritto Private Moderne con particolare riguardo alla Germania. Trad. di UMBERTO SANTARELLI e di SANDRO A . FUSCO, vol. I, vol. II, Milano 1980) mit der Charakterisierung weniger als Übernahme von Rechtssätzen denn als Verwissenschaftlichung des Rechtswesens und seiner Träger, also als Vorgang der Bewußtseinsbildung. Zum Rezeptionsbegriff in Bezug auf Übernahme modernkodifizierten Rechts in eine anders vorgeformte Rechtskultur anhand der türkischen Erfahrung vor allem ERNST E. HIRSCH: Die Rezeption fremden Rechts als sozialer Prozeß, Festgabe F. Bülow, 1960, S. 121 ff. u .ö. 2 HELMUT BEUMANN: Die Bedeutung des Kaisertums fUr die Entstehung der deutschen Nation im Spiegel der Bezeichnungen von Reich und Herrscher, in: N ationes. Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter, hg. v. HELMUT BEUMANN UND WERNER SCHRöDER. Bd. 1: Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, Sigmaringen 1978, S. 319-367; ders.: Regnum Teutonicum und rex Teutonicorum in ottonischer und salischer Zeit, in: Archiv für Kulturgeschichte 55 (1973), S. 215-223; ECKHARD MÜLLER-MERTENS: Regnum Teutonicum. Aufkommen und Verbreitung der deutschen Reichs- und Königsauffassung im früheren Mittelalter, 1970; HEINZ
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Es geht also darum, daß "Wissenschaftstransfer" eben nicht nur ein Vorgang des Übernehmens ist, sondern komplizierte geistige Prozesse der Wahrnehmung, der Auswahl und der Interpretation ihm vorausgehen und ihn begleiten, und daß eine Analyse dieser geistigen Prozesse Aufschlüsse über das Objekt des Transfers selbst geben können, die aus seinem ursprünglichen Umfeld, also hier der deutschen Wissenschaft, nicht oder nicht so klar zu gewinnen sind. Erlauben sie nun, daß ich die theoretischen und forschungspraktischen Gesichtspunkte, unter denen ich eine solche Analyse als fruchtbar ansehe, hier kurz skizziere. Eine solche Skizze muß freilich an dieser Stelle recht großflächig und pauschal bleiben, sie soll mehr den Umfang des Problems als seine Details aufzeigen. Für die Vereinfachungen und Verkürzungen, die darum notwendig sind, bitte ich im voraus um Verständnis. Vieles ist natürlich als persönliche Sicht, als Hypothese und Provokation gesagt; andere mögen manches anders sehen, können dies aber in Abgrenzung zu der hier entwickelten Sicht deutlicher machen. 2. Zum Pendelschlag deutscher Geschichtsschreibung Geschichtsschreibung ist stets, wie wir heute wissen, Rekonstruktion von Geschichte auf uns zu, mit entsprechender Hervorhebung von Kontinuitätslinien oder Brüchen. Das gilt um so mehr, je näher uns eine Geschichtsepoche zeitlich steht. Es ist deshalb kein Wunder, daß die Kriegsschuldfrage die Geschichtsschreibung nach dem ersten Weltkrieg, die Frage nach den Ursachen des Nationalsozialismus diejenige nach 1945 immer wieder, ausdrücklich oder unterschwellig, geleitet hat. Um den Rang dieser Fragestellung zu markiern, möchte ich nur auf Plessners "Verspätete Nation", auf Frit= Fischers "Griff nach der Weltmacht" und Hans Ulrich I·Vehlers Wiederentdeckung Eckhard Kehrs und sein "Deutsches Kaiserreich" verweisen 3 , die mit einer THOMAS: Der Ursprung des Wortes Theodiscus, in: Historische Zeitschrift 247 (1988), s. 295 ff. 3 H. PLESSNER: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Stuttgart 1959 (Neuausgabe), Frankfurt/Main 1974; F. FISCHER: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegsr;ielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, DUsseldorf 1961, Kronberg 1977; E . KEHR: Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. u. eingel. v . H.-U. WEHLER. Mit einem Vorwort v . HANS
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zunehmenden Intensität die Fragen nach der Weichenstellung eines von der westlichen Entwicklung sich distanzierenden, dann in die moralische und palititsche Katastrophe führenden deutschen "Sonderweges" stellte. Das letztgenannte Werk ist sicher nicht alleinige Ursache, aber doch wohl eine wichtige Herausforderung für die Reihe von Gesamtdarstellungen deutscher Geschichte des 19. Jahrhunderts, die nun, in sehr unterschiedlichen Sichtweisen und in fruchtbarem Dialog, von einer Generation deutscher Historiker nach langer Enthaltsamkeit auf diesem Gebiet geschrieben worden sind oder geschrieben werden 4 . Mit der politischen und sozialhistorischen Analye Hand in Hand ging die Frage nach der geistesgeschichtlichen Entwicklung Deutschlands, der Distanzierung zum europäischen Erbe der Aufklärung, der mangelnden Rezeption westlicher politischer Theorie, der Blockierung sozialgeschichtlicher und soziologischer Ansätze in der deutschen Wissenschaft. Die kritische Rückfrage nach den geistesgeschichtlichen Auswirkungen des "deutschen Idealismus" verschärfte sich parallel zu der erstgenannten Linie in der Geschichtsschreibung mit dem Generationenwechsel seit der Mitte der 60er Jahre; den Vertretern einer Wissenschaftstradition, die sich weitgehend mit eben diesem deutschen Idealismus identifizierte, trat nun eine jüngere Generation an die Seite, die stärker von aus dem westlichen Ausland wieder aufgenommenen wissenschaftstheoretischen Konzeptionen geprägt waren. Nur in der inneruniversitären Diskussion nach 1968 konnte es so scheinen, als ob hier eine Welle des Neomarxismus aufbrandete; in Wirklichkeit sind es wohl eher Ansätze der Ideologiekritik und Wissenssoziologie (K. Mannlzeim), eines pragmatischen Skeptizismus (K. Popper) und analytischer Ansätze (Wittgenstein) sowie eine Wiederbesinnung auf das theoretische Potential im Werke Max Webers gewesen, die der lebhaften kritischen Reflexion der deutschen politischen, Geistes- und SozialHERZFELD,
l.
Auf!.
1965,
2. Auf!.
1970,
Berlin
(Veröffentlichungen der
Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin 19). 4 TH. NIPPERDEY: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983; L. GALL: Europa auf dem Weg in die Moderne 1850-1890, München/Wien 1984 (Grundriß der Geschichte Bd . 14); H.A. WINKLER: Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts, Göttingen 1979 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Bd. 38); REINHARD RÜRUP : Deutschland im 20. Jahrhundert 1815-1871, Göttingen 1984 (Deutsche Geschichte, hg. v . W . LEUSCHNER) ; H.-U. WEHLER: Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973 (Deutsche Geschichte, hg. v . W . LEUSCHNER).
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geschichte zugrunde lag. Das gleichzeitige Interesse der ausländischen Wissenschaft hat dabei eine große Bedeutung besessen dafür, daß die innerdeutsche Diskussion sich nicht in exzessiven Gegensätzen verbiß, daß, um es verkürzt auszudrücken, die Diskussion über den "Deutschen Sonderweg" bald als eine Diskussion des "deutschen Weges" geführt wurde 5 . 3. Ausländische Fremdwahrnehmung
Wenn ich recht sehe, so haben vor allem wissenschaftliche Stimmen aus den USA, geführt häufig duch Wissenschaftler der vom Nationalsozialismus erzwungenen Emigration, diese Funktion einer Ausgleichung des Diskurses durch eine Sicht von außen gehabt. Das Interesse knüpfte an der schon berührten Verspätung Deutschlands innerhalb der politischen Gleichgewichtslage des späten Heiligen Römischen Reiches, an der kulturellen Blüte im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert und der Besonderheit, die dadurch für die späte und umso stürmischere Modernisierung Deutschlands im Laufe des Jahrhunderts gegeben war. Weil in dieser Sicht politische Geschichte, Sozialgeschichte und Bildungsgeschichte verbunden sind, hatte sie eigentlich die Schuldvermutung gegenüber dem "deutschen Idealismus" überholt, die sich ja dadurch selbst als Frucht der deutschen geistesgeschichtlichen Tradition erwiesen hatte. Ich sehe das so überaus schnelle und intensive Interesse, das sich auf das deutsche Bürgertum unter sozial- und bildungsgeschichtlichen wie politischen und mentalitätshistorischen Aspekten gerichtet hat und das "deutsche Bildungsbürgertum" zu einer Attraktion der Geschichtswissenschaft gemacht hat, als eine - glückliche - Synthese interner und externer Wahrnehmungen und Fragestellungen an das historische Phänomen der deutschen Entwicklung einer modernen Gesellschaft6 • 5 Das Protokoll eines Kolloquiums des Instituts für Zeitgeschichte: Deutscher Sonderweg - Mythos oder Realität?, München/Wien 1982, mit weiterführender Literatur, zeigt die Standpunkte der deutschen Diskussion und in dem Verzeichnis der Literatur die ausländischen Stimmen, die für die Einbettung der Diskussion in die europäische Geschichte von Bedeutung waren. 6 Vgl. die großen Tagungsbände WERNER CONZE/JORGEN KOCKA (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert , Teil I, Stuttgart 1985 u. ff., in der die internationale Diskussion aufgenommen wird. Zu dieser sei nur verwiesen auf: HANS ROSENBERG: Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660-1815 (Harvard Historical Monographs XXXIV), Cambridge (Mass.), 3. Auf!.
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Wie gesagt, ist dies wohl auch eine Wirkung amerikanischen Interesses an der deutschen Geschichte. Ich möchte noch auf ein wohl weniger bekanntes und aus ganz andersartigen Quellen gespeistes hinweisen, das japanische. Seine Ursprünge liegen wohl darin, daß man schon kurz nach der erzwungenen Öffnung Japans in der Meiji-Restauration sich für die Entwicklung des nun erforderlichen Rechts- und Verfassungssystems stark nach dem preußisch-deutschen Reich orientierte, angezogen wohl durch dessen Erfolge in einer späten, aber stürmischen und militärisch wie politisch erfolgreichen Modernisierung, der Verbindung wohl auch von monarchisch - autoritären und bürgerlich - liberalen Elementen in Recht und Verfassung 7, vielleicht auch eine vermutete Ähnlichkeit in Grundhaltungen der philosophischen und literarischen Kultur 8 . Es sei hier nur auf ein mir besonders interessant erscheinendes Phänomen innerhalb dieser kulturellen Verbindung hingewiesen: Von einem wichtigen Kreis heutiger japanischer Rechts- und Verfassungshistoriker wird dem Werk Otto Brunners eine Schlüsselstellung für das Verständnis der modernen
1968; FRITZ K. RINGER: Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890-1933, München 1987; CHARLES E . MCCLELLAND: Zur Professionalisierung der akademischen Berufe in Deutschland, in: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil I: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen, hg. v. WERNER CONZE UND JORGEN KOCKA, Stuttart 1985, S. 233 ff.; KONRAD H. JARAUSCH: Die unfreien Professionen. Überlegungen zu den Wandlungsprozessen im deutschen Bildungsbürgertum 1900-1955, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, hg. v . JORGEN KOCKA, Bd. 2, München 1988, S. 124 Cf.; LEONORE O'BOYLE: Klassische Bildung und soziale Struktur in Deutschland zwischen 1800 und 1848, in: Historische Zeitschrift 207 (1968}, S. 584608; ROY STEVEN TURNER: The Bildungsbürgertum and the learned professiena in Prussia 1770-1830. The Origins of a Class, in: Histoire Sociale/Social History (Ottawa), Vol. 13 (1980), S. 105-135, um die Bedeutung des internationalen Interesses für die Wahrnehmung und Diskussion dieses Problems deutlich zu machen. 7 Dazu vor allem JUNICHI MURAKAMI: Einführung in die Grundlagen des japanischen Rechts, Darmstadt 1974. 8 Vgl. etwa: Japanisches und europäisches Rechtsdenken - Versuch einer Synthese philosophischer Grundlagen, hg. v. MITSUKUNI YASAKI, ALOIS TROLLER, JOSE LLOMPART (Rechtstheorie Bd. 16) Berlin-München 1985; auch die Festschrift für PROF. DR. YASUTOSHI UEYAMA: Bewußtsein und Gesellschaft in der deutschen Moderne - die Ambivalenz der juristischen und literarischen Germanistik, hg. v . PROF. DR. RINITSU KAWAKAMI (Universität Kyoto, 1987), die ganz der geistesgeschichtlichen Entwicklung der deutschen Moderne gewidmet ist.
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Verfassungsentwicklung zugesprochen 9 • Ich meine, dies richtet sich auf seine Deutung des Umbruchs von der alteuropäischen in die moderne Gesellschaft, die in den Kategorien der Auflösung des gesamten Hauses, der Herausbildung des Gegensatzes von Staat und Gesellschaft, der semantischen Veränderungen in der sog. "Sattelzeit" umschrieben werden kann 10 . Aus diesem Deutungsmuster und den daraus hervorgegangenen Forschungsansätzen verspricht man sich offenbar in Japan Aufschlüsse über den eigenen historischen Modernisierungsprozeß. Sicher liegt das große Interesse Japans an Max Weber, aber auch an Juristen wie Eugen Ehrlich und Otto v. Gierke in derselben Linie: Es handelt sich um die Deutungen des Weges aus einer traditional - ständischen Gesellschaft in die Moderne, die in der deutschen Geschichte eine besondere, real- wie geistesgeschichtlich begründete Ausprägung und eine sie begleitende wissenschaftliche Reflexion erfahren hat. Die sprachlichen Schwierigkeiten auf deutscher Seite haben bisher verhindert, die Bedeutung dieser japanischen Fremdwahrnehmung für das Selbstverständnis der deutschen Wissenschaftsgeschichte voll zu werten. - Werfen wir unter dieser Fragestellung schon einen ersten Blick nach Italien, wobei wir jetzt schon besonders die Rechts- und Staatswissenschaften ins Auge fassen können. Die traditionellen Verbindungen waren hier durch Kriegs- und Nachkriegszeit gestört. Eine starke Zuwendung zur deutschen Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts geschah hier durch das von Paolo Grossi begründete wissenschaftliche Zentrum für die Erforschung der modernen Rechtsgeschichte 11 . Dies war schon deshalb als Fremdwahrnehmung bemerkenswert, weil das Centro keineswegs in besonderer Weise auf Deutschland ausgerichtet war, sondern vielmehr den europäischen Rahmen der Entwicklung des modernen Rechts, ein lange vernachlässigtes Forschungsgebiet der Rechtsgeschichte also, insgesamt erforschen sollte. Wenn von diesem Ansatz her besonders zahlreiche und besonders eindringende Studien der deutschen 9 Am deutlichsten wird dies wiederum in dem genannten Werk von MURAKAMI, der diesen Kreis auch leitet. 10 0. BRUNNER: Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen 1956, 2. verm. Auf!. Hl68. Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. OTTO BRUNNER, WERNER CONZE, REINHARD KOSELLEK, Stuttgart 1972-84 (bisher Bd. 1-5) . 11 Dokumentiert in den von PAOLO GROSSI herausgegebenen und redigierten Quaderni Fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno, Vol. 1 (1972) - Vol. 17 (1987), dem führenden europäischen Diskussionsforum der neueren Rechtsgeschichte.
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Wissenschaftsentwicklung galten 12 , so sollte dies von deutscher Seite nicht als Selbstverständliches betrachtet, sondern als eine wichtige Einordnung des deutschen Weges und Beitrages im Bereich der Rechts- und Staatswissenschaften angenommen werden. Nur als Beispiel sei erwähnt, wie die Entwicklung der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts von Fioravanti zwar unter ähnlichen Aspekten gedeutet wird wie von den vorausgehenden deutschen Arbeiten von lViihelm und v. Oertzen, die Analyse aber der selbstkritischen Schärfe entbehrt und darum zu einer breiteren politikwissenschaftlichen Einordnung kommen kann, die den fördernden Beitrag des deutschen staatsrechtlichen Positivismus deutlicher herausstellt 13 . - Auf die wichtigen Arbeiten des Trienter Instituts unter Prodi und Schiera und von Mazzacane und der von ihm begründeten Arbeitsgruppe gehe ich hier nicht ein, weil sie im Rahmen dieser Tagung ja von diesen selbst vorgestellt werden. Doch möchte ich nicht versäumen, darauf hinzuweisen, wie sehr wir mit der kürzlich erschienenen Studie von Schiera, "Il laboratorio borghese" 14 , eine Arbeit vorgelegt bekommen haben, wie sie aus der innerdeutschen Diskussion alleine kaum entstanden sein könnte: Das produktive, herausfordernde Wechselverhältnis von gesellschaftlicher Entwicklung, staatlicher Verfassung 12 Ich erwähne vor allem die großen Monographien der Grossi-Schüler MAURIZIO FIORAVANTI: Giuristi e Costituzione politica nell'ottocento tedesco, Milano 1979; PAOLO CAPPELLINI: Systema Iuris. I. Genesi del sistema e nascita della "scienza" delle Pandette, Milano 1984. II. Dal sistema alla teoria generale, Milano 1985, erschienen in der begleitenden Reihe Biblioteca per Ia storia del pensiero giuridico moderno, Voll. 8, 17, 19, 25 sowie die Monographie von EMANUELE CASTRUCCI: Tra Organicismo e Rechtsidee zum Rechtsdenken Erich Kaufmanns (vol. 15, 1984); schließlich die intensive italienisch-deutsche Zusammenarbeit in dem Sammelband Cristianesimo, Secolarizzazione e Diritto moderno, ed. L. LOMBARD! VALLAURI/G. DILCHER (Voll. 11/12, 1981). 13 FIORAVENTI, (Fn. 12); WALTER WILHELM: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert . Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft. Auf Anregung u. unter Mitwirkung der Stadt Frankfurt/Main, hg. v. d . wissenschaftl. Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/Main, Frankfurt/Main 1958 (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Reihe Bd. 14); PETER v. OERTZEN: Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus. Eine wissenssoziologische Studie über die Entstehung des formalistischen Positivismus in der deutschen Staatsrechtswissenschaft, hg. u. m . e. Nachwort v . DIETER STERZEL, Frankfurt/Main 1974. 14 PIERANGELO SCHIERA: Il laboratorio borghese. Scienza e politica nella Germania deii'Ottocento (Annali del'lstituto storico italo-germanico), Bologna 1987.
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und Bedeutung der nationalen Einigung, von Bürokratie, Staatsund Verwaltungswissenschaften, staatlicher Sozialpolitik, schließlich imperialistischer Außenpolitik und staatlich geförderter Großforschung zu schildern und dies zur Analyse der Krise des Wilhelminismus zu nutzen, dazu bedurfte es wohl doch der Außenansicht auf das deutsche Phänomen, die die Notwendigkeit erwies, dieses ganze komplexe Beziehungsgeflecht unter Sprengung aller Disziplingrenzen der Wissenschaftstradition zum Gegenstand der Untersuchung zu machen. Es ist nur zu hoffen, daß die betroffenen deutschen Fachwissenschaften sich der Aufgabe, eine solche Arbeit produktiv zu rezipieren, unterziehen. Es wäre dies auch die Begegnung zweier unterschiedlicher nationaler Stile, Wissenschaft zu treiben. 4. Die deutsche Situation des 19. Jahrhunderts als Herausforderung für die 'Visscnschaft
Allein der internationale Vergleich verspricht Aufschluß über die eigenartige Entwicklung und Blüte, aber offenbar auch Gefährdung der deutschen Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Dieser Vergleich, das wurde wohl deutlich, kann nur durch eine internationale Forschung vollgültig vollzogen werden, eine internationale Forschung, die die Vergangenheit und Befangenheit der deutschen Eigenwahrnehmung in einen breiteren Diskurs einzubetten vermag. Ähnliches gilt natürlich auch für andere nationale Wissenschaftskulturen. An dieser Stelle möchte ich nun noch einige Ansätze vorstellen, auf die meiner Ansicht nach das besondere Interesse an der deutschen Entwicklung der Rechts- und Staatswissenschaften sich richten sollte. Die Rechts- und Staatswissenschaften sind ja dadurch ausgezeichnet, daß sie in enger Beziehung zu theoretischen wie empirischen Grundlagenwissenschaften stehen, also vor allem zu Philosophie und Geschichte, daß sie aber, anders als diese, vor unmittelbare Aufgaben der Gesellschaftsgestaltung gestellt sind und politisches Handeln anleiten und begleiten können. Hier scheint mir nun von besonderer Wichtigkeit zu sein, daß die theoretischen und konzeptionellen Grundlagen in Deutschland zu Anfang des 19. Jahrhunderts gelegt wurden, d.h. in einer Zeit noch fehlender rechtspolitischer Gestaltungsmöglichkeiten. Während in anderen Ländern, in Frankreich, in einzelnen Staaten Italiens, in Österreich moderne Kodifikationen entstanden waren, an die die Rechtswissenschaft in exegetischen Schulen anknüpfen
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und sie in unmittelbare Gesellschaftsgestaltung umsetzen konnte. fehlte es an einer solchen modernen Rechtsgrundlage in Deutschland fast ganz. Das preußische Allgemeine Landrecht war in Stil und Inhalt in vielem überholt, die Geltungsgebiete des französischen Rechts befanden sich in einer geographischen Randlage. Deshalb war der von Savigny ausgehende Versuch so erfolgreich. durch Begründung einer historischen Schule in einer Verbindung von Geschichte und Theorie die Begründung einer modernen Privatrechtsordnung zu leisten. Dies konnte nur unter Federführung der Wissenschaft geschehen, und es setzte einen weit größeren Aufwand an Quellenverarbeitung. historischer Reflexion und systematisch-begrifflicher Anstrengung voraus. als sie eine exegetisch ausgerichtete juristische Fachwissenschaft zu leisten hatte. Man mußte aber auch anders vorgehen als die ältere historischpragmatische Jurisprudenz 15; diese fand allenfalls eine Fortsetzung in der englischen Tradition des common law 16• Es scheint. daß sich seit etwa der Jahrhundertmitte eine gewisse Überlegenheit der deutschen historischen Schule daran zeigt. daß Übernahmen ihrer Ansätze und Ergebnisse überall stattfinden 17: In Öster15 Zu ihr NQTKER HAMMERSTEIN: Jus und Historie. Ein Beitrag zur Geschichte des historischen Denkens an der deutschen Universität im späten 17. und 18. Jahrhundert, Göttingen 1972. 16 Die Abwehr der Kodifikationsidee durch das englische Rechtssystem ist analysiert bei WERNER TEUBNER: Kodifikation und Rechtsreform in England. Ein Beitrag zur Untersuchung des Einflusses von Naturrecht und Utilitarismus auf die Idee einer Kodifikation des englischen Rechts, Berlin 1974 (Schriften zur Rechtsgeschichte, H. 7). 17 Meine Auffassung von der Bedeutung und weiteren Auswirkung dieses Ansatzes habe ich dargestellt in: Der rechtswissenschaftliche Positivismus. Wissenschaftliche Methode, Sozialphilosophie, Gesellschaftspolitik. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LXI {1975), S. 497-528 . Literatur (Einflüsse der dt. Historischen Rechtsschule im Ausland): Allgemein: HANS THIEME: Die deutsche historische Rechtsschule Savignys und ihre ausländischen Jünger, in: Acta Facultatis Juridicae Universitatis Comenianae (Bratislava) 1968, S. 263 ff. und den Literaturbericht von ALFRED DUFOUR: Nova et vetera savigniana, in: ZNR 4 (1982), S. 174 ff. {190 ff.) (hier auch zur Savigny-Rezeption in Spanien); zu Österreich: W . OGRIS: Der Entwicklungsgang der Österreichischen Privatrechtswissenschaft im 19. Jahrhundert, Berlin 1968 {Schriftenreihe der juristischen Gesellschaft e.V. Berlin, Heft 32); H. LENTZE: Die Universitätsreform des Ministers Graf Leo Thun-Hohenstein, Wien 1962 (österr. Akad. d. Wiss. Phil. Hist. Kl. Sitzungsber., 239, Bd. 2, Abhdlg. 7, Veröffentlichungen d. Kommission f. Gesch. d. Erziehung u. d. Unterrichts H. 7, hg. v . RICHARD MEISTER, Beiträge zur Gesch. d . Universität Wien); zur Schweiz: vgl. F . WIEACKER: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Auf!. 1967, S. 488 ff.; jetzt
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reich mit der weitgehenden Übernahme des deutschen Paradigmas in der Thun/ Hohensteinsehen Universitätsreform, mit der Schweiz durch einen regen Austausch durch die wechselseitige Berufung von Hochschullehrern, in England vor allem durch Maitland und damit durch die Begründung einer wirklich rechtshistorischen Richtung, in Frankreich und in Italien durch Kontakte der juristischen Romanistik und Mediaevistik (oder Germanistik). Dahinter aber steht m.E. nicht nur ein (oft als konservativ-romantisch gedeuteter) historischer Zeitgeist, sondern das Gefühl, daß der breite Ausgriff der deutschen historischen Rechtsschule ein sehr umfassendes Instrumentarium zur Reflexion der gegenwärtigen Entwicklung in die moderne Industriegesellschaft zur Verfügung stellte. Während eine exegetische Schule ein methodisches Instrumentarium zu einer möglichst exakten juristischen Fachwissenschaft bietet, verbindet die historische Schule breite Ausgriffe in empirische Sozialwissenschaften (nämlich Geschichte) mit dem stetigen Bemühen um ein systematisch-theoretisches Fundament. In diesem Sinne hat Savigny von einer sowohl philosophischen wie historischen Wissenschaft gesprochen. Wenn auch die historische Schule weitgehend dem Stoff der Vergangenheit zugewandt war, so vermied sie doch die Fixierung auf die punktuelle Zeitlichkeit der Gegenwart und behielt darum in ihren bedeutendsten Vertretern den Blick auf die Entwicklung der Gegenwart und damit auf die Zukunft offen. So ist es wohl zu erklären, daß aus dem Schoß der historischen Rechtsschule und der ihr verbundenen Geschichtswissenschaft dann nicht nur die Staatsrechtswissenschaft (Gerber, Laband. Jel/inek), eine allgez.B. BERND MOLLENBACH: Johann Jakob Bachofen als Rechtshistoriker, in: ZRG (GA) 105 (1988), S. 17 ff. (bes. S. 25 f.); FERDINAND ELSENER: Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Zürich 1975, bes. S. 866 ff.; H. ALBERT KAUFMANN: Das Schweizer Obligationenrecht und Eugen Huber, in: PIO CARONI (Hg.): Das Obligationenrecht 1883-1983, Bern/Stuttgart 1984, S . 69 ff. (bes. S. 80 ff.); zu England (bzw . Maitland): HANS PETER, Maitland, Frederic William, in: HRG Bd. 3, Sp. 201 ff.; zu Frankreich: OLIVER MOTTE: Savigny et Ia France, Bern 1983; ALFRED DUFOUR: Savigny, Ia France et Ia philosophie allemande, in: TRG 55 (1987), S. 151 ff.; ALFONS BüRGE: Les Codes passeront - Ia raison des peuples restera .. . Constantin Dufour und die Rezeption von Savignys Programm in Frankreich, in: ZRG (RA) 102 (1985), S. 344 ff.; t:U Italien: FRANCESCO CALASSO: Savigny e l'ltalia, in: ASD 8 (1964), S. 1 ff.; FILIPPO RANIERI: Savignys Einfluß auf die zeitgenössische italienische Rechtswissenschaft, in: Jus Commune 8 (1979), S. 192 ff.; LAURA MOSCATI: Da Savigny al Piemonte. Cultura storico - giuridica subalpina tra Ia Restaurazione e l'Unita, in: Quaderni di Clio 3 (1984), S. 361 ff.
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meine Staatswissenschaft und Nationalökonomie (Schmol/er, Brentano u.a.), die Rechtssoziologie (Jhering. E. Ehrlich, Max Weber) und die Politikwissenschaft (Max Weber) hervorgingen 18• Gerade jene Vertreter der Rechtswissenschaft, der Nationalökonomie und der Politikwissenschaft, die dieser historischen Grundlage besonders verbunden sind, finden sich in den Kreisen und Vereinigungen, die als erste die soziale Frage wissenschaftlich wahrnehmen und in rechtspolitische Initiativen fassen 19• Das andere Lager, das - besonders in der Privatrechtswissenschaft und der Staatswissenschaft - sich unter dem Zeichen des Positivismus zusammenfand, versuchte dagegen, mit einem geschärften begrifflichen Instrumentarium und unter weitgehender Aufgabe des historischen Ausgriffs das gesetzgeberisch-rechtswissenschaftliche Programm des individualistischen, rechtsstaatliehen Liberalismus durchzusetzen. Beide Lager machen aber, wenn auch in etwas unterschiedlicher Ausrichtung, den Ansatz der historischen Schule des Jahrhundertbeginns für die Gegenwartsgestaltung fruchtbar: in eine, von dem akademisch geschulten Bildungsbürgertum angeleitete Gegenwartsgestaltung. Wie sehr die Geschichtswissenschaft noch als Fundament der Gegenwartsgestaltung angesehen wird, zeigt sich an dem exemplarischen Streit um das Wesen der mittelalterlichen Verfassung zwischen Otto v. Gierke und Georg v. Below 20: War sie - Ausdruck eines angeblich deutschrechtlichen, nationalen Prinzips! - genossenschaftlich und damit von der Ge18 Diese meine Interpretation ist von verschiedenen Ansätzen her entwickelt in: Der rechtswissenschaftliche Positivismus (wie Fn . 17}; Genossenschaftstheorie und Sozialrecht: Ein "Juristensozialismus" Otto von Gierkes?, in: Quaderni Fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno, hg. v . PAOLO GROSSI, Bd. 3-4 (1974-75}, II socialismo giuridico, T. 1, 319-365; Das Gesellschaftsbild der Rechtswissenschaft und die soziale Frage, in: Das Wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, hg. v. K. VONDUNG, Göttingen 1975; Die juristische Germanistik des 19. Jahrhunderts und die Fachtradition der deutschen Rechtsgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny- Stiftung für Rechtsgeschichte, Bd. 100, Wien, Köln, Graz 1984. 19 ANTONIO ROVERSI: II "Verein fUr Sozialpolitik" e Ia questione sociale, in: Cultura politica e societa borghese in Germanin fra Otto e Novecento a cura di Gustavo Corni e Pierangele Schiern (annali dell'Istituto storico italo-germanico, Quademo 22), Bologna 1986, S. 61 ff.; DIETER KRÜGER: Borghesia colta e riforma sociale. La rivoluzione (1914-1920}, in: wie oben, S. 87 ff. 20 Dazu jetzt OTTO GERHARD OEXLE: Otto von Gierkes "Rechtsgeschichte der Deutschen Genossenschaft" und ders.: Ein politischer Historiker: Georg von Below, in: NOTKER HAMMERSTEIN (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988.
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sellschaft her zu konzipieren oder autoritär als "Staat des deutschen Mittelalters"? Beide wissenschaftlichen Kontrahenten wußten, daß sie auch um den Charakter des Reichs von 1871 stritten und deshalb Gierke in dem Augenblick auf der Verliererseite stand, als der mehr institutionell-autoritäre Charakter des Reiches deutlich wurde, der Bezug zum "Volk" als "Genossenschaft'' sich nicht durchsetzte. Damit verknüpfen läßt sich die Beobachtung, daß jene hochbedeutenden Wissenschaftler, die auf geschichtlicher Grundlage eine Wissenschaft der Moderne entwikkeln wollten - ich nenne hier neben Gierke, Schmoller, Brentano vor allem Max Weber, Werner Sombart, Ernst Troeltsch, auch Otto Hi11tze 21 - zunehmend wissenschaftlich und politisch isoliert werden und, bei hohem Ansehen, nicht schulenbildend werden können - nach meiner Deutung eine Folge der Zurücknahme der Zukunftsoffenheit des wissenschaftlichen Weltbildes des deutschen Bürgertums im Wilhelminismus, die in der Krisenhaftigkeit der Weimarer Republik nicht durchbrochen werden konnte und dann 1933 auch wissenschaftsgeschichtlich besiegelt wurde. Meine Interpretation dieser wissenschaftlichen Differenzierung auf der Grundlage der Historischen Schule der Rechts- und Staatswissenschaften deutet dahin, daß die Herausforderung der entstehenden Massen- und Industriegesellschaft hier zwei verschiedene Strategien der Beantwortung gefunden hat: Zum einen Festhalten an dem Konzept, durch die wissenschaftliche Ausarbeitung und politische Umsetzung eines vom Individuum ausgehenden, fachlich-begrifflich ausgefeilten Rechts die Prozesse zu steuern - dies ist die Linie der Mehrzahl der "Romanisten" und entspricht den Einordnungen "Positivismus" oder "Formalismus", die jedoch alle zu problematisieren sind. Zum anderen der Versuch, durch Überwinden der Fachgrenzen einer reinen Normwissenschaft ein Reflexionsforum für die neuartigen Probleme von Seiten der Rechts- wie der Sozialwissenschaften zu schaffen. Hierher gehören die "echten Germanisten", alle Ansätze einer Rechtssoziologie, die Erweiterungen des Methodenbewußtseins etwa duch die Freirechtsschule, die Verbindungen von Wissenschaft und Rechtspolitik. Da beide Richtungen wissenschaftsgeschichtlich aus dem deutschen Idealismus und den verschiedenen Historischen Schulen erwachsen sind und sozialgeschichtlich von 21 vgl. die Beiträge von FRIEDRICH WILHELM GRAF (zu Troeltsch), RÜDIGER VON BRUCH (zu Schmoller), GANGOLF HüBINGER (zu Weber), WINFRIED SCHULZE und PIERANGELO SCHIERA (zu Hintze) in dem in Fn. 20 genannten Werk.
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dem deutschen Bildungsbürgertum getragen wurden, ist es nicht verwunderlich, wenn Gemeinsamkeiten und Gegensätze schwer auszumachen sind, sich immer wieder ineinander verschlingen 22 • Hier muß es für die schwierige Frage der Ein- und Zuordnungen unter der Frage der wissenschaftsgeschichtlichen Traditionen, der theoretischen und methodischen Grundlagen und der politischen Zielrichtungen außerordentlich bedeutsam sein, wie diese deutschen Wissenschaftler von Ausländern, die vor ähnlichen Problemen, aber in unterschiedlichen nationalen Traditionen standen, wahrgenommen wurden. So ist etwa die Einordnung Otto von Gierkes in Deutschland bis heute außerordentlich umstritten, nicht nur nach seinen philosophischen Grundlagen, sondern gerade auch nach seinem wissenschaftlich-politischen Standort: Von sozialstaatlich-fortschrittlich bis zu reaktionär-konservativ, ja präfaschistisch 23 . In der Tat bezogen sich einerseits reformerische Sozialdemokraten (Hugo Preuj3. Hugo Sin=heimer) ebenso auf ihn wie Völkisch-Nationale, die im Nationalsozialismus eine GierkeRenaissance forderten. Hier muß es uns wichtig sein zu erfahren, wer nicht nur in der historischen Abfolge deutscher Wissenschaftsentwicklung, sondern in der Ebene der gleichzeitigen Wahrnehmung durch das Ausland Interesse an Gierkes Werk nahm: Einerseits offenbar englische und amerikanische Geschichtswissenschaft und pluralistische Politiktheorie, andererseits sehr intensiv italienische Rechtswissenschaftler mit dem Versuch, die Funktion von Recht und Staat in der modernen Gesellschaft zu definieren. Zu beiden Bereichen bestanden vor dem ersten Weltkrieg persönliche Verbindungen Gierkes. Ich meine, durch eine genauere Analyse dieser Beziehungen läßt sich die in ihrer Grundlage und Wirkung immer noch dunkle "Deutsche Wissenschaft" (Schiera) des 19. Jahrhunderts erhellen, indem das Spektrum analytischer K riterien der Einordnung erweitert wird. Gerade das Beispiel Gierkes macht darauf aufmerksam, daß sich die wissenschaftliche Wahrnehmung nicht auf das Austauschverhältnis zweier Länder beschränken darf, sondern letztlich auf eine 22 Vergleiche zu dieser Schwierigkeit die Einordnungen als "romanistische Germanisten" und "germanistische Romanisten" bei BERND RüDIGER KERN: Die historische Rechtsschule und die Germanisten, Zs. der Savigny-Stiftung fUr Rechtsgeschichte, Germanist. Abt. Bd. 100 (1984), S. 4 ff.; auch die zeitgenössische Kritik, der Germanist Gerber (auf seinem Wege zu einem begrifflichen Positivismus) habe "die deutsche Seele im deutschen Recht getötet", zeigt diese Zuordnungsschwierigkeit. 23 Vgl. meinen Gierke-Aufsatz (Fn. 18).
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Erfassung des internationalen Beziehungsgeflechtes und Dialoges zu zielen hat. Dabei werden sicher verschiedene Ansätze und entsprechende Methoden zu entwickeln sein - man könnte von Personen und ihrem Werk ausgehen (Gierke, Kathedersozialisten) oder von sozialen Problemfeldern und den für ihre Lösung angebotenen Modellen; so erwähnt etwa das Referat von C. Vano neben dem "Germanismus" im Arbeitsrecht das englische Modell der trade-unions und des bargaining. Es ging mir darum zu zeigen, daß wir erst am Anfang eines Verständnisses der Verbindungen von Wissenschaftsgeschichte, politischer und Sozialgeschichte in Deutschland stehen und für den Fortgang dieses Forschungsprozesses unser analytisches Instrumentarium für die Einordnungen, aber auch für die interdisziplininären Verbindungen erweitern und verfeinern müssen. Dafür muß es aber von besonderem Interesse sein, welche Wissenschaftler und welche wissenschaftlichen Richtungen, mit welchen Ansätzen und Interpretationen, vielleicht auch Verkürzungen, von welchen Wissenschaftlern und wissenschaftspolitischen Richtungen des Auslandes wahrgenommen und aufgenommen worden sind. Ein besonders interessantes Feld solcher Wahrnehmungen und Übernahmen stellt Italien dar, ein Land mit intensiver älterer kultureller Verbindung zu Deutschland, mit starken Ähnlichkeiten im politischen Schicksal bis zur nationalen Einigung, aber auch mit signifikanten Unterschieden in der Formation des Bürgertums, dem Tempo und den regionalen Unterschieden der Modernisierung, der Entwicklung der gesellschaftlichen Mobilität und der Industrialisierung, vor allem aber auch des Verhältnisses von wissenschaftlichen und politischen Eliten. Wir müssen also zwei unterschiedliche nationale wissenschaftliche und politisch-soziale Systeme im Auge haben und aus den spezifischen Feldern ihrer Wechselwirkung Folgerungen für beide abzuleiten versuchen. Ich meine, es ist überdeutlich, daß diese Aufgabe, lohnend wie sie ist, nur in enger Kooperation von Wissenschaftlern beider Länder zu bewältigen ist. Schlichtes Faktenwissen, Kenntnisse der eigenen Wissenschaftsgeschichte und traditionelle Wertungs- und Einordnungsbegriffe (etwa Historische Schule, Positivismus, Formalismus) der verschiedenen nationalen Wissenschaftstraditionen müssen ständig in Kontakt gebracht und zum Diskurs geführt werden. Wie wenig dies aber noch zu den Selbstverständlichkeiten der wissenschaftlichen Kooperation und der sie fördernden Wissenschaftspolitik gehört, mußte die deutsche Arbeitsgruppe dieses Forschungsprojektes erfahren, als ein Förderungsantrag mit der tragenden Begründung abgelehnt wurde:
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"Deutschen Einfluß auf die italienische Rechtskultur zu untersuchen, könne kaum ein vorrangiges Anliegen der deutschen Forschung sein" 24 . Neben mangelndem Verständnis für die erhellende Bedeutung eines wissenschaftlichen Wechselverhältnisses - und um ein solches handelt es sich, wie wir aus Briefwechseln, Reisen u.ä. wissen - und damit für die Bedeutung des Spiegels der Fremdwahrnehmung handelt es sich hier leider auch um eine traditionelle Unterschätzung der kulturellen Verbindung Deutschlands zu seinem südlichen Nachbarn. In dem erwähnten Schreiben wurde nämlich auch auf die wichtigeren Verbindungen der deutschen Rechtswissenschaft zu Frankreich und den USA verwiesen. Wir setzen dagegen ein Wort des Bundespräsidenten R. v. Weizsäcker: "Mit keinem anderen Land der Welt verbinden uns so viele kulturelle Fäden" 25 . Erfreulich, daß viele dieser Fäden innerhalb der Rechts- und Staatswissenschaften des 19. Jahrhunderts sich durch die neuesten Forschungen schon so viel deutlicher abzeichnen. 5. 1\lethodische Bereicherungen der deutschen Forschung
Nur ganz kurz möchte ich noch einen Aspekt andeuten, unter dem die Kontakte des Projektes für die deutsche Forschung fruchtbar zu werden versprechen, ja, sich schon als fruchtbar erwiesen haben: die Erweiterung der Methoden und Wahrnehmung von Quellenbereichen für die deutsche Forschung. Die deutsche rechtshistorische Forschung schreibt die Geschichte ihrer eigenen Wissenschaft vor allem im Blick auf die großen Monographien und die Lehrbücher, zugleich auch im Blick auf die "Großen", die in der ersten Reihe der Wissenschaft Stehenden, bei denen allerdings oft unklar bleibt, ob schon die Zeitgenossen oder erst spätere Phasen der Fachtradition sie in diese erste Reihe gestellt haben. Dies gilt von Stintzing-Landsberg, für Erik Wolf, für Wieacker, auch für das neueste Werk von Stol/eis 26 • Kein Zweifel, daß 24 Schreiben der DFG vom 2.3 .1988. 25 Rede anläßlich der Hundertjahrfeier des Deutschen Historischen Instituts in Rom am 26.5.1988, jetzt in : Hundert Jahre Deutsches Historisches Institut in Rom Cento anni di Istituto Storico Germanico di Roma, S. 28. 26 STINTZING-LANDSBERG : Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 4 Bde, unveränderter Nachdruck, Aalen 1957; ERIK WOLF: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Auf!., Tübingen 1963; MICHAEL STOLLEIS: Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1, München 1988. Bd. 1, Reichspublir.istik und Policeywissenschaft 1600-1800.
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damit die großen Linien der Entwicklung, von Gegenständen und Methoden unserer Wissenschaft gültig erschlossen werden. Gerade die wissenschaftspolitisch interessanten Begegnungen, Schwerpunktsetzungen, Tendenzen sind aber in anderen Quellengattungen früher, deutlicher oder sogar alleine abzulesen, in Quellengattungen, die im Blickfeld des italienischen Projektes liegen: Wissenschaftliche Zeitschriften, insbesondere auch deren Rezensionsteile, lexikalische Werke innerhalb der Rechts- und Staatswissenschaften, die der italienischen Rechtskultur besonders eigen sind, gerade in der fraglichen Zeit aber innerhalb Deutschlands keineswegs fehlen, schließlich Gelehrtenkorrespondenzen, die carteggi, denen die italienische Wissenschaft in letzter Zeit erhebliche Aufmerksamkeit zuwendet. Hier überall zeigen sich Kontakte, Wahrnehmungen, Einflüsse besonders deutlich, hier werden oft auch wissenschaftliche Grundauffassungen und Wertungen, die in den großen Werken gerade unter dem wissenschaftlichen Ethos des Positivismus zurückgenommen und verborgen sind, oft weit klarer ausgesprochen. Wissenschaftliche Richtungen, die dahinterstehenden Werthaltungen und Persönlichkeiten werden aus diesen Quellen darum oft überraschend deutlich. Hinzu kommt, daß durch die Erforschung dieser Geflechte wissenschaftlicher Beziehungen die Fixierung auf die wenigen "Großen" des Faches aufgelöst wird. Es tritt die Vielzahl der zeitgenössischen Wissenschaftler, die seinerzeit ihre Wissenschaft bestimmt haben, angemessener in Erscheinung, andere, bisher mehr der zweiten Reihe zugeordnet, bekommen ein stärkeres Profil. Letzteres hat sich durch Erfassung der Auslandsbeziehungen etwa in den letzten Jahren für Kar! Joseph AlltOll Mittermaier vollzogen. Das ist ein notwendiger Prozeß der Korrektur für die Sicht der eigenen Wissenschaftsgeschichte. Auch er ist nur unter Beteiligung und im Diskurs deutscher und ausländischer Forschung zu leisten, denn Innensicht und Außensicht müssen hier in Wechselbeziehung gebracht und zu Synthesen zusammengeführt werden. Ich glaube, es ist genug gesagt worden, um die grundsätzliche Fruchtbarkeit internationaler Kooperation bei der Erforschung der europäischen Wissenschaftsgeschichte in ihren nationalen und übernationalen Verbindungen zu begründen. Das weitere sollen die Früchte selbst erweisen.
Die Rechtskultur in Italien und Deutschland nach der nationalen Einigung - Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt
Von Aldo Mazzacane l. Die herkömmliche Sicht der italienischen Rechtswissenschaft nach der nationalen Einigung
Das Bild der italienischen Rechtswissenschaft nach der Begründung des Nationalstaates ist über lange Zeit hinweg geprägt worden durch die bruchstückhaften Erinnerungen der unmittelbar nachfolgenden Juristen, durch die Schultraditionen, schließlich durch die bei wichtigen Anlässen vorgenommenen Bestandsaufnahmen, die zudem stets von den Standpunkten und Perspektiven der Auseinandersetzungen um das geltende Recht bestimmt waren. Die Geschichtsschreibung schwieg hierzu. Anscheinend glaubte sie, ihre Begriffsinstrumente seien zur Behandlung eines noch fließenden Stoffes ungeeignet, der noch dazu außerhalb ihres Untersuchungsfeldes lag. Das gemeinhin, auch über Fachkreise hinaus verbreitete Interpretationsschema war deshalb vereinfacht und unvollständig. Dieses Schema geht eindeutig aus einem Text hervor, auf den ich bereits hingewiesen habe, der mir aber weiterhin besonders repräsentativ zu sein scheint. Alfredo Rocco veröffentlichte seinen Aufsatz La scienza del diritto privato in Italia negli ultimi cinquant' amzi im Jahre 1911, als die Zivilrechtier den fünfzigsten Jahrestag der Einigung Italiens begingen und der fünfzigste Jahrestag des Gesetzbuches bevorstand 1 . Darin entdeckte er "die ersten Anzeichen des Wieder1 A . ROCCO : La scienza del diritto privato in Italia negli ultimi cinquant' anni, in: Rivista del diritto commerciale e del diritto generale delle obbligazioni, IX (1911), 1. Teil, S. 285-304. In der Vorbemerkung der Redaktion zu dieser Schrift findet sich der Hinweis auf den festlichen Anlaß.
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erwachsens" einer nationalen Rechtswissenschaft in dem Zeitraum, der unmittelbar auf die politische Einigung des Landes folgte. Davor sei die Rechtswissenschaft durch die Einführung der französischen Gesetzbücher, am Anfang des Jahrhunderts, "wie gelähmt" gewesen. Dabei sei "die Kontinuität unserer Rechtstradition" jäh unterbrochen und eine "Phase tiefen Niedergangs" für Wissenschaft und Lehre eingeleitet worden, die Savigny maßgeblich beschrieben habe: "II compito ehe gli studiosi italiani del diritto privato si posero nel ventennio ehe segui i1 sessanta, fu quello di impadronirsi della cultura giuridica straniera, e particolarmente tedesca, di apprendere e divulgare i metodi di ricerca, di creare Ia passione e I' abitudine dell ' indagine scientifica."
Diese erste Phase der "Assimilierung" der Methoden und Ergebnisse der Deutschen Wissenschaft war notwendig, weil die italienischen Juristen, "prima di creare e per poter creare, dovevano incominciare con 1' apprendere". Sie ermöglichte es, die drükkende Lage der ersten Jahrhunderthälfte zu überwinden und das Terrain zu bereiten "für die Schaffung einer nationalen Rechtsschule". Das Zivilrecht "wissenschaftlich und systematisch" zu studieren war der Arbeitsplan, den im darauffolgenden Zeitraum "eine zahlreiche und entschlossene Schar" von Zivilrechtlern entwarf. Die Auseinandersetzung um die "Methode" war die Zäsur und leitete eine neue Phase ein. Vor allem Emanuele Gianturco nannte 1881 "mit großer Deutlichkeit und Klarheit die Aufgabe der italienischen Zivilrechtsschule": "Trarre dalle nuove correnti della vita politica e sociale gli elementi vivificatori dell' indagine giuridica e questa condurre con metodo sistematico, sostituendo alla arida casistica ed al commentario pedestre Ia ricerca delle linee generali e direttive degli istituti."
Nicht nur in den ersten zwanzig Jahren, sondern auch danach waren vor allem die Romanisten die Vorreiter. Aber auch die Zivil-, Handels- und in gewissem Maße auch die Prozeßrechtler schlugen denselben Weg ein. Die Universitäten waren die Zentren der Erneuerung, "während die Praktiker sich von der Arbeit und dem Kampf um die Schaffung einer italienischen Rechtsschule fast ohne Ausnahme fernhielten". Rocco fügte hinzu: "Mentre Ia dottrina si rinnovava, Ia giurisprudenza rimaneva fedele ai vecchi esegeti e ingombrava le sue decisioni coi vecchi detriti delle polemiche dei commentatori francesi."
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Er verwies zwar auf die "neuen Strömungen des politischen und sozialen Lebens", auf die der Rechtsinterpret zur Belebung seines Stoffes zurückgreifen sollte. Und auch die italienischen Zivilrechtler, die "den Gebrauch der Generalisierung und der Systematisierung mit der Untersuchung des sozialen Elements im Recht" verbunden und damit den "übertriebenen Formalismus" und die "metaphysischen Verwirrungen der deutschen Lehre" vermieden hatten, fanden seine Anerkennung. Dennoch stellte er den innerhalb der Universitäten vollzogenen Übergang von der "pedestre", eng an die französischen Kommentare angelehnten, der italienischen Tradition fremden und den Bedingungen seiner Rechtsordnung selbst unangemessenen Textauslegung hin zur Aufnahme und späteren Ausarbeitung der deutschen Begriffsmethoden, die die italienische Jurisprudenz gegenüber der ausländischen konkurrenzfähig gemacht hatte, als eine steigende Entwicklungslinie dar. Dabei hob er besonders die systematischen Aufgaben, den dogmatischen Konstruktivismus der Jurisprudenz hervor, für den Deutschland die überzeugendsten Modelle geliefert hatte. Einen ähnlichen Grundzug weisen in diesen Jahren auch Roccos Vorarbeiten zu einem systematischen Traktat des Handelsrechts auf 2 • Die historische Rekonstruktion verband sich in vollständiger Harmonie mit der Arbeit des Zivilrechtlers, der, wie Rotondi bemerkte3, "der Methode der Pandektisten folgte". Sie war deren Projektion und wurde gleichzeitig duch diese abgestützt: die Interpretationskategorien waren in beiden Fällen dieselben. Das Grundinteresse galt den 'aktuellen' Aufgaben des Fachs und führte somit bei der Beschreibung von dessen Vergangenheit unausweichlich zu Verkürzungen und einseitigen Bewertungen. Das dem Aufsatz Roccos zugrundeliegende Schema darf - wie bereits erwähnt - als ein über lange Zeit verbreitetes Paradigma gelten. Francesco FetTara greift es z.B. 1939 wieder auf4 • Es taucht auch in den Arbeiten eines Zivilrechtiers wie Nata2 A . ROCCO: Principi di diritto commerciale. Parte generale, Torino 1928. Das Werk war das Ergebnis langer, bis 1914 zurückführender Vorarbeiten durch Publikationen und Vorlesungsmanuskripte. 3 Vgl. die Rezension der Principi (1929). neu gedruckt in: M. ROTONDI: Profili di giuristi e saggi critici di legislazione e dottrina, Padova 1964, S. 265. 4 Un secolo di vita del diritto civile (1839-1939), jetzt in: F. FERRARA: Scritti giuridici, Milano 1954, Bd. 111, S. 273-293.
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lino Irti auf5 , der als Kritiker des von seinem Fach überlieferten pandektistischen und positivistischen Systems auftritt.
Auch im Bereich des öffentlichen Rechts waren in der Vergangenheit die Interpretationen vorherrschend, die die Vertreter der Ende des 19. Jahrhunderts einsetzenden 'methodologischen Wende', so vor allem Orlando, bereitstellten. Diesen Interpretationen lag ein Entwurf zugrunde, der vielfach mit dem der Zivilisten übereinstimmte. Orlando ist es denn auch ständig darum zu tun, die Entwicklung der "italienischen Staatsrechtsschule", deren Gründer und wichtigster Vertreter er war, vor dem Hintergrund der staatsrechtlichen Literatur Italiens und Europas zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert zu sehen. In zwei Aufsätzen aus seinen letzten Lebensjahren zeigt er sogar die historische Perspektive, in der er das Aufkommen der Schule und seinen eigenen Beitrag stellte, sehr deutlich auf>. Die "radikale Erneuerung" hatte in den achtziger Jahren begonnen, als er - 1882 Schüler von Aloys Brin:z in München - auf das Beispiel der Pandektistik und ihrer Methoden verwies. Aber während dieser Hinweis in den nicht veröffentlichten Antrittsreden von 1885 und 1886 nicht viel mehr als "ein in groben Strichen gezeichneter Pfeil auf einer Anzeigetafel'' 7 war, ist in der berühmten Rede8 von 1889 bereits eine inhaltsreiche Aufforderung enthalten: das Staatsrecht sollte "genauso wie das Privatrecht als ein systematisch geordneter Zusammenhang rechtlicher Prinzipien" angesehen werden. Dieses Modell lieferten die dogmatischen und systematischen Verfahren der romanistischen Rechtswissenschaft, ihre substanzielle Konzeption der Rechtsinstitute. Denn: "Una delle principali qualita tecniche, ehe nel giureconsulto si richiedono, consiste nell' abitudine a considerare le varie nozioni ed i varii istituti giuridici come delle entita reali, esistenti, viventi."
Ursprünglich an verschiedenen Stellen veröffentlicht, sind sie jetzt zusammengefaßt in: N. IRTI: Scuole e figure del diritto civile, Milano 1982. 6 V. E. ORLANDO: Giorgio Jellinek e Ia storia del diritto pubblico generale (1949), Sviluppi storici del diritto amministrativo in Italia dal 1890 al 1950 (1952), jetzt in: Scritti giuridici varii (1941-1952), Milano 1955, bes. S. 87-155 und S. 163234. 7 Nota dell' autore del 1925 all' autore del 1885, in: Diritto pubblico generale. Scritti varii (1881-1940) coordinati in sistema, Milano 1940, S. 24. 8 I criteri tecnici per Ia ricostruzione giuridica del diritto pubblico, jetzt in: Diritto pubblico generale, (Fn. 7), S. 3 ff.
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Der entscheidende Schritt war in den letzten zwanzig Jahren des Jahrhunderts getan worden, als die italienischen Staatsrechtier mit der wissenschaftlichen Begründung des einheitlichen Rechtsstaates, des allgemeinen Staatsrechts und des Verwaltungsrechts begonnen hatten. Dabei hatten sie auf eine in Deutschland entstandene theoretische Richtung zurückgegriffen, die auf eine Juridifizierung des Staatsbegriffs, der politischen Herrschaft und deren Tätigkeit in der Gesellschaft hinauswollte. Diese Richtung sah Orlando ohne Unterbrechungen von Gerber und Laband bis Jellinek und Kelsen wirksam. Kern der neuen Methode war "Ia separazione ben netta, nel procedimento logico, fra diritto e politica, fra ordine giuridico e ordine politico"9 , "Ia netta e vigorosa antitesi" zwischen Staat und Gesellschaft10, die unnachgiebige Durchsetzung der Souveränität und der Autorität des Staates gegenüber Individuen und Gemeinschaften. In einer derartigen Perspektive war die Definition des Fachs eindeutig: "II diritto dello Stato come teoria scientifica ha per obbietto lo sviluppo del diritto spettante allo Stato in quanto esso e.• 11
Theoretischer Untersuchungsgegenstand des Staatsrechts sollten somit ausschließlich die Organisations- und Ausübungsformen staatlicher Gewalt sein: "Noi non dobbiamo occuparci di uno Stato ottimo, ma di uno Stato esistente, non della sovranita di una idea, ma della sovranita dei poteri costituiti, non dei diritti dell' uomo, ma della tutela giuridica della sfera individuale, onde Ia liberta non si concepisce piu come mera potenzialita, ma come attivita effettiva." 12 .
Die Formulierung dieser Methode war mit einer globalen Ablehnung der bisherigen Lehren einhergegangen, deren Schwachpunkte Orlando immer wieder aufgezeigt hatte: die mangelnde juristische Technik, die eklektizistische Vermischung von Philosophie, Geschichte, Politik und Ökonomie; kurz: die unzulässige Vorherrschaft "soziologischer" Ansätze. 9 Programma, in: Archivio di diritto pubblico, I (1889), S. 7. 10 Diritto amministrativo e scienza dell' amministrazione (1887), in: Diritto pubblico, (Fn. 7), S. 155. 11 Teoria giuridica della guarentigie della liberta, in: A . BRUNIALTI: Biblioteca di scienze politiche, Bd. V, Torino 1890, S. 925, Fn. 1. 12 I criteri tecnici, (Fn. 8), S. 21.
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Die durchgreifende "Revision" der in der staatsrechtlichen Literatur Italiens verbreiteten Themen und Methoden und die "wissenschaftliche Konstruktion eines italienischen Staatsrechts" waren damit in seinen Augen zwei eng miteinander verbundene Aspekte, zwei Seiten desselben Problems. Es ging um den Entwurf einer autonomen Wissenschaft, die von außerrechtlichen Elementen völlig frei sein und nach einem System von derartig präzisen Begriffen organisiert sein sollte, daß ein "Kalkulieren mit Ideen" möglich wurde. Dieser Entwurf faßte die neueren Forschungswege und Traditionen des Fachs zusammen und fand in ihnen auch seine Bestätigung. Auch für die Geschichtsschreibung sollte er lange Zeit maßgebender Bezugspunkt sein. 2. Der Wandel der Perspektiven in der neueren rechtsgeschichtlichen Forschung
Im Laufe der siebziger Jahre hat sich die Lage der italienischen Rechtsgeschichte grundlegend verändert. Was ich 1975 beklagte 13 - die beinahe ausschließliche Vorherrschaft mittelalterlicher Themen -, darf man heute nicht wiederholen. Gegenläufige Tendenzen setzen sich durch. Die Folgen, dies sei am Rande gesagt, sind nicht immer positiv. Zum einen droht damit eine früher wichtige Untersuchungsrichtung zu verkümmern; zum anderen bringt eine juristische Zeitgeschichte allzu oft eine Vereinfachung der Arbeitsmethoden historischer Forschung mit sich: die Prüfung von Archivbeständen, von Urkunden und weiteren Quellen, kommt neben der Aufarbeitung einer wiederholt durchdiskutierten Literatur zu kurz. Die Aufforderungen an die Rechtsgeschichte, mehr auf die historischen Grundlagen des geltenden Rechts einzugehen, kam vor allem von jenen Juristen, die in wachsendem Maße auf die Schwierigkeit stießen, den tiefgreifenden Wandel der italienischen Gesellschaft mit den herkömmlichen Rechtskategorien zu erfassen. So bemerkte passend Giovanni Tarello in einer seiner scharfsinnigen Arbeiten zur Prozeßrechtsgeschichte: "Nella cultura giuridica italiana, questo sembra il momento della storiografia: raramente i riferimenti a vicende di ieri sono fitti come tra i giuristi di oggi, e raramente I' attenzione a quanto
e
successo
e
stata
13 A. MAZZACANE: Problemi e correnti di storia del diritto, in: Studi storici, s. 5 ff.
1975, 3,
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praticata e intesa come espressione di sorvegliata cautela rispetto ai problemi dell' oggi." 14
Die von vielen Seiten erhoffte Wiederaufnahme des "Gesprächs" zwischen Historikern und Juristen 15 führte zu konkreten Impulsen und Ergebnissen. So wurden neue Verlagsunternehmungen begonnen oder zumindest neue Themen in die hergebrachten aufgenommen. Von 1972 an erschienen die von Paolo Grossi konzipierten und herausgegebenen Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico modemo, die sogleich von einer umfangreichen Schriftenreihe flankiert wurden. Zwei Jahre früher waren schon Tarellos Materiali per una storia della cultura giuridica erschienen, die ebenfalls ihren Schwerpunkt in der Rechtswissenschaft der Neuzeit und der Gegenwart finden sollten. Seitdem sind die Quademi fiorentini und die mit ihnen verbundene Schriftenreihe zum wichtigsten Publikationsorgan der Studien zum Rechtsdenken des 19. Jahrhunders geworden. Dabei wird der deutschen Rechtsgeschichte ein breiter Raum zugestanden. In diesem Zusammenhang gehört auch die Übersetzung von Wieackers Privatrechtsgeschichte der Neu=eit 16 , dank derer dieses grundlegende Werk einer breiteren Leserschaft bekannt geworden ist: ich selbst habe das Buch meinen Vorlesungen und den Prüfungen der Studenten an der Universität Neapel zugrundegelegt. Das von der Geschichtsschreibung entworfene Bild der italienischen Privatrechswissenschaft im 19. Jahrhundert ist somit erheblich breiter geworden. Hinreichend bekannt sind die grundle-
14 G. TARELLO: L' opera di Giuseppe Chiovenda nel crepuscolo dello Stato liberale, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, 3 (1973), 1, S. 681. 15 Dieser Begriff mit klarer programmatischer Gültigkeit entstammt der Schrift von F. CALASSO: Colloquio con i giuristi (1959; jetzt in: Storicita del diritto, Milano 1966, S. 155-171). Sie verwandte ihn bezeichnenderweise ebenfalls bei der Suche nach einer Antwort auf die "scepsi del giurista moderno", die damals die italienische juristische Kultur durchzog. Wieder aufgenommen wurde er von P. GROSSI: Pagina introduttiva, in der ersten Nummer der: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno, 1972, S. 1 ff. ; sowie von I. IRTI: Introduzione allo studio del di ritto privato, Torino 1974, S. 158 ff. Eine beinahe komplette Bibliographie der Werke, die einen derartigen Anspruch erheben, bei G. TARELLO, (Fn. 14), S. 681 ff. 16 F. WIEACKER: Storia del diritto privato moderno, Übersetzung von A. FUSCO und U . SANTARELLI, 2 Bde., Milano 1980.
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genden Untersuchungen von Grossi, die die Eigentumslehren 17 erhellt haben. In diesen und anderen Arbeiten hat er verdeckte Denkströmungen - "sentieri sepolti" - wieder ans Licht gehoben 18, die umso leichter ignoriert worden waren, als sie den vorherrschend pandektistischen Methoden und den durch diese bedingten historiographischen Gesichtspunkten fernstanden. In dieselbe Forschungsrichtung gehen die zwei von Grossi herausgegebenen Sammelbände zum "socialismo giuridico" 19, die durch eine wertvolle Bibliographie von Sbriccoli ergänzt werden 20 • Die darin enthaltenen Aufsätze behandeln das Thema auch unter dem Blickwinkel des Vergleichs zwischen Italien und Deutschland und im Hinblick auf die Einflüsse der deutschen auf die italienische Rechtskultur. Die deutschen 'Quellen' der italienischen Wissenschaft sind in der Tat selbst zum Gegenstand unmittelbarer Forschung für die neuere Geschichtsschreibung geworden. Es seien nur Losanos imponierende Arbeit über Jhering 21 und Cappellinis Untersuchung über den Systembegriff erwähnt22 . Darüber hinaus besteht ein ständiges Interesse für Savigny 23 und für seine Rezeption in ltalien24. 17 P. GROSSI: Tradizioni e modelli nella sistemazione postunitaria della proprieta, in: Quaderni fiorentini, 5-6, (1976-77) : Itinerari moderni della proprieta, I. Bd., S. 201-338; ders.: Un altro modo di possedere. L 'emersione di forme alternative di proprieta alla coscienza giuridica postunitaria, Milano 1977. 18 P . GROSSI: Stile fiorentino. Gli studi giuridici nella Firenze italiana 18591950, Milano 1986; ders.: "La scienr;a del diritto privato". Una rivista-progetto nella Firenze di fine secolo 1893-1896, Milano 1988. 19 Quaderni fiorentini, 3-4, (1914-75): II "socialismo giuridico" . lpotesi e letture. 20 M. SBRICCOLI: Elementi per una bibliografia del socialismo giuridico italiano, Milano 1976. 21 M. LOSANO: Der Briefwechsel r;wischen Jhering und Gerber, 2 Bde., Ebelsbach 1984. 22 P. CAPPELLINI: Systema juris., I. Genesi del sistema e nascita della "scienza" delle Pandette, Milano 1984; II., Dal sistema alla teoria generale, Milano 1986. 23 Zur Bedeutung Quaderni fiorentini, Bd. 9, Su Federico Carlo di Savigny. 24 Vgl. besonders F. RANIERI: Savignys Einfluß auf die zeitgenössische italienische Rechtswissenschaft, in: Ius Commune, 8 (1979), S. 192-219; ders.: Savigny e il dibattito italiano sulla codificar;ione nell'eta del Risorgimento, in: Quaderni fiorentini, 9 (1980), S. 357-68; D. MAFFEI und K. W. NÖRR: Lettere di Savigny a Capei e Conticini, in: ZRG (R. A .), 97 (1980), S. 181-212; D. MAFFEI: Quattro letteredel Capei al Savigny e l'insegnamento del diritto romano a Siena nel 1834, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart (Festschr. Coing) , München 1982,
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Während jedoch auf strafrechtlichem Gebiet vertiefte Untersuchungen eher sporadisch sind 25 , kann auf staatsrechtlichem Gebiet auf zahlreiche Beiträge verwiesen werden. Schon 1940 hatte eine scharfsinni~e, aber isoliert gebliebene Arbeit von Massimo Severo Giannini 6 eine Historisierung der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts eingeleitet. Die Arbeit hatte die einzelnen Probleme und Anwendungsbereiche des Verwaltungsrechts behandelt und war auf dessen Vorformen im 18. Jahrhundert und auf die 'aktuellen' Perspektiven eingegangen. Dabei war die Untersuchung aus dem bislang dominanten Interpretationsrahmen Orlandos herausgelöst worden. Im Laufe der sechziger Jahre haben andere Arbeiten zu den wissenschaftlichen Theorien des Staatsrechts, so die wichtigen Beiträge von Gali=ia und insbesondere von Tessitore 27 und die noch zahlreicheren Untersuchungen zum Verwaltungsrecht und zu den Verwaltungsfragen, ein bunteres Bild der italienischen Wissenschaft entworfen und die Auseinandersetzung mit den deutschen Modellen erheblich differenzierter geschildert. Dabei ist auf die in Italien wirksamen, aber dennoch gleichermaßen fruchtbaren Differenzen zwischen unterschiedlich orientierten Tendenzen hingewiesen worden.
I. Bd., S. 203-24; L. MOSCATI: Da Savigny al Piemonte. Cultura storico-giuridica subalpina tra Ia Restaurazione e l'Unita, Roma 1984. 25 Vgl. aber A . BARATTA: Positivismo giuridico e scienza del diritto penale, Milane 1966; M. A. CATTANEO: Anselm Feuerbach, filosofo e giurista liberale, Milane
1970; M. SBRICCOLI: Dissense politico e diritto penale in ltalia tra Otto e Novecento, in: Quaderni fiorentini, 2 (1973), S. 607-702; M. NOBILI: La teoria delle prove penali e il principio della "difesa sociale", in: Materiali per una storia della cultura giuridica, 4 (1974), S. 419-55 ; F. COLAO: II sistema dei reati politici in Italia, Milano 1986. Ein bezeichnender Fall in den Beziehungen Italiens und Deutschlands wurde kürzlich im Bereich der von mir geleiteten Forschung untersucht, von P . BALESTRERI: Influssi della "scienza tedesca" nella redazione del codice penale toscano del 1853, im Druck befindlicher Tagungsband des Convegno internazianale di Siena über die "Leopoldina" (Dez. 1986). 26 M . S. GIANNINI: Profili storici della scienr.a del diritto amministrativo, in: Studi sassaresi, 18 (1940), jetzt in : Quaderni fiorentini, 2 (1973), S. 179-263 mit Anmerkung des Autors, S. 263-74. 27 M . GALIZIA: Profili storico-compa.rativi della scienza del diritto costituzionale, in : Archivio giuridico, 164 (1963); ders.: Diritto costituzionale (profili storici), in: Enciclopedia del diritto, Bd. 12, Milano 1964; F . TESSITORE: Crisi e trasformazioni dello Stato. Ricerche sul pensiero giuspubblicistico italiano tra Otto e Novecento, Napoli 1963 (2., erweiterte Auf!., Milano 1988).
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Auf die in diesem Zusammenhang durchgeführten Untersuchungen brauche ich hier im einzelnen nicht einzugehen. Erschöpfende Bestandsaufnahmen, so vor allem der Forschungsbericht von Fioravanti 28 , liegen bereits vor. Ich möchte stattdessen kurz einige Elemente herausgreifen, die sich auf die Gesamtheit der italienischen Forschung beziehen, wobei ich mich hauptsächlich auf das Schrifttum zum Staatsrecht beziehe. Die italienische Rechtsgeschichte hat es nicht versäumt, die deutschen 'Quellen' im 19. Jahrhundert unmittelbar zu erforschen. Sie hat sich nicht mit den Ergebnissen der im übrigen umfangreichen deutschen Literatur zufriedengegeben, sondern diese vielmehr kritisch verarbeitet. Durch diese Fallstudien zu einzelnen Autoren oder Themen, aber auch durch Rekonstruktion von Gesamtzusammenhängen - besonders hingewiesen sei auf die perspektivenreiche, in breitem Maße deutsche Literatur berücksichtigende Arbeit von Mauri=io Fioravanti: Giurisli e costituzione politica ne/1' Ottocenlo tedesco 29 - ist sie vielfach zu originellen Interpretationsleistungen gelangt. Man kann also mit Sicherheit behaupten, daß es mittlerweile zu diesem Aspekt eine recht umfangreiche, nicht unerhebliche italienische Literatur gibt. Darüber hinaus haben sowohl die Untersuchungen der verschiedenen in Italien wirksamen, von besonderen Traditionen oder von widersprüchlichen doktrinären oder idealen Leitbildern ausgehenden Forschungsrichtungen als auch die Motive, die zu Konflikten, Diskussionen und wechselseitigen Verschränkungen Anlaß gegeben haben, zu einer entschiedenen Ablehnung der überkommenen Interpretationsschemata geführt. Parallel zu der sehr schnell dominierend und 'exklusiv' werdenden Denkrichtung - exklusiv jedenfalls insofern, als sie alle Theorien, die nicht in ihren Horizont fielen, aus dem Horizont der Wissenschaftlichkeit oder der Rechtlichkeit verbannte - sind jene Ansätze hervorgehoben und studiert worden, die ein starkes Gespür für ihr historisches und soziales Umfeld aufwiesen und dabei die Philosophie und die Geschichte, später die Soziologie und die Volkswirtschaftslehre in breitem Maße in ihre Methoden einbezogen. Die in der Staatsrechtswissenschaft des vorhergehenden Jahrhunderts zweifellos vorhandene Alternative zu der mit der 'Wende' Or/andos vor28 M. FlORAVANTI: La scienza italiana di diritto pubblico del diaciannovesimo secolo: bilancio della ricerca storiografica, in: Ius Commune, 10 (1983), S. 201-43. 29 Milano 1979. Erwähnenswert auch der Band von B. SORDI: Tra Weimar e Vienna. Amministrazione pubblica e teoria giuridica nel primo dopoguerra, Milano 1987, der jedoch über den hier betrachteten zeitlichen Rahmen hinausfUhrt .
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herrschend gewordenen Richtung, den Konflikt zwischen "Formalismus" und "Realismus", zwischen "Staatlichkeit" und "Öffnungen zugunsten der Gesellschaft" (der nach Orlando mit dem Sieg der positivistisch-staatlichen Komponente endete) - auf diese Alternative hat Sabino Cassese nachdrücklich hingewiesen 30 - hat dazu geführt, daß Juristen und Denkrichtungen die dann unwiderrufliche Durchsetzung der "juristischen Methode" aus dem Blickwinkel verschwanden 31 , Gegenstand weiterer Untersuchungen wurden. In diesem Zusammenhang ist zunehmend deutlich geworden, daß die Frage nach der "Rezeption" pandektistischer Methoden im Rahmen einer größeren Verbreitung von Einflüssen und Motiven gestellt werden mußte. Auch die Frage nach der politisch-sozialen Funktion der Juristen im 19. Jahrhundert, nach dem ideologischen Stellenwert ihrer Lehren, vor allem im Hinblick auf den Bau und die Konsolidierung der Gesellschaft und des Einheitsstaats, ist unter neuen Gesichtspunkten angegangen worden. So hat sich Giulio Cianferotti32 von der Interpretation des Rechtsformalismus als einer konservativen, wenn nicht gar reaktionären Ideologie, wie sie in Italien unter dem Einfluß früherer einleuchtender Untersuchungen33 gängig war, distanziert. Stattdessen hat er darauf aufmerksam gemacht, daß diese Positionen mit dem Aufbau einer Sozialhegemonie in Einklang standen. Die juristische Konstruktion des Staates, die Idee der Lückenlosigkeit und der Systematik der Rechtsordnung, kurz die rechtliche Interpretation der Gesellschaft, hätten lange Zeit zu den wichtigsten analytischen Instrumenten und zu den stärksten gesellschaftsbildenden Faktoren in den Händen der herrschenden Klassen gehört. Ein guter Schritt nach vorn ist also 30 S. CASSESE: Cultura e politica del diritto amministrativo, Bologna 1971, Kap. I.
31 G. REBUFFA: La formazione del diritto amministrativo in ltalia, Bologna 1981; C. MOZZARELLI und S. NESPOR: Giuristi e scienze sociali nell' Italia liberale, Venezia 1981. Ein spezifisch technisch- dogmatisches Problem untersucht B. SORDI: Giustizia e amministrazione nell' Italia liberale. La formazione della nozione di interesse legittimo, Milano 1985. 32 G. CIANFEROTTI: II pensiero di V. E. Orlando e Ia giuspubblicistica italiana fra Ottocento e Novecento, Milano 1980. Mir scheint, daß die Anmerkungen Fioranvantis, (Fn. 28), zu diesem Werk die Perspektive und theoretische Anlage nicht genau zu erfassen vermögen. 33 Ich beziehe mich in erster Linie auf die meisterhafte Untersuchung von W. WILHELM: Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert. Die Herkunft der Methode Paul Labands aus der Privatrechtswissenschaft, Frankfurt 1958.
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mit dem Buch von Cianferotti bei der Bestimmung des realen, d.h. streng funktionalen und nicht etwa nur scheinbaren, Stellenwertes der rechtlichen Vermittlung und der abstrakten Rechtsform selbst getan worden. Deutlicher herausgearbeitet ist die effektive Rolle, die die rechtliche Abstraktion, der Rechtsformalismus, bei der Errichtung eines Herrschaftssystems gespielt hat, dessen Mittelpunkt der liberale Staat samt seinem begrifflichen und normativen Gefüge ist. Unter Verwendug einer schlüssigen Methodologie und eines auf den neuesten Stand gebrachten theoretischen Ansatzes werden diese Fragen von einem jüngst erschienenen, sehr wichtigen Buch von Pietro Costa 34 unter einem anderen Gesichtspunkt angegangen: der Entstehung eines Sprachhorizonts, in dem sich um den Terminus Staat das semantische Feld der italienischen Staatsrechtswissenschaft zwischen 19. und 20. Jahrhundert bildet. 3. Forschungsergebnisse zur Rolle der Juristen in der Krise des liberalen Staats Vor diesem Untersuchungshintergrund, der der Rechtswissenschaft nach der nationalen Einheit ihren Stellenwert bei der Schließung der durch die "Krise" des liberalen Staates verursachten theoretischen Lücken zurückgibt, ist das am ItalienischDeutschen Historischen Institut in Trient von mir geleitete rechtsgeschichtliche Forschungsprojekt begonnen worden. An ihm arbeiten Rechtshistoriker und Historiker verschiedener Fachrichtungen - der Geschichte, der politischen Ideen, der Institutionen, der Verfassung und Verwaltung - mit. Es entstand auf der Grundlage eines vorhergehenden Forschungsvorhabens über die Verfassungsmodelle in Deutschland, das Pierangelo Schiera an demselben Institut geleitet hat und das auch einige rechtshistorische Aspekte berührt hat, die zu den Themen des zweiten Projekts gehören. Aus diesem Forschungsvorhaben gingen unter anderem hervor die Untersuchungen von Paola Balestreri über "Mittermaier e 1' Italia" 35 , die Studien von Pasquale Beneduce und 34 P. COSTA: Lo Stato immaginario. Metafore e paradigmi nella cultura giuridica italiana fra Ottocento e Novecento, Milano 1986. 35 P. BALESTRERI: Mittermaier e l'ltalia. Orientamenti politici e dottrine processualistiche in un carteggio di meta Ottocento, in: Ius Commune, 10 (1983), S. 97140; jetzt auch P. BOZZOLI: Scienza e diritto. Giovanni Gandolfi e Ia medicina forense analitica, in: Studi storici, 1988, 2, S. 527-548.
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Raffaella Gherardi über den italienischen "Methodenstreit"36 , von Gustavo Gozzi über die Vertretungslehre und über die Sozialgesetzgebung37, von Cristina Vano über die methodologischen Fragen der deutschen Arbeitsrechtsgeschichte 38; schließlich Beneduces Arbeit über einige Aspekte des "Germanismus" der italienischen Staatsrechtswissenschaft 39. Letztere zeichnet sich durch den Versuch aus, die Entwicklung des italienischen Staatsrechts zu einem einheitlichen Bild zusammenzufassen. Dabei verzichtet sie darauf, mechanisch die "realistische" der "formalistischen" Richtung gegenüberzustellen und der Illusion einer Reaktivierung der antiformalistischen Tradition des 19. Jahrhunderts das Wort zu reden. Die ersten Ansätze und Ergebnisse, auf die die Forschung in ihrem weiteren Verlauf aufbaut, sind in den beiden von mir 1986 und 1987 herausgegebenen Bänden40 veröffentlicht worden. In beiden Fällen ist es, vor allem dank des besonderen geistigen Klimas des lstituto trentino, gelungen, eine wirklich interdisziplinäre Zusammenarbeit aufzubauen. Forscher unterschiedlicher Herkunft und Ausrichtung haben einen gemeinsamen Untersuchungsgegenstand nach wechselseitig sich überschneidenden Gesichtspunkten bearbeitet. Auf der Grundlage einzelner, jedoch zusammenhängender Fallstudien versucht der erste Band, die Rolle der Juristen bei den theoretischen Auseinandersetzungen zu bestimmen, die von der 36 P.
BENEDUCE: Questione del "metodo" e critica dello "Stato indifferente"
nella cultura giuridica italiana di fine Ottocento; R . GHERARDI: Sul "Methodenstreit" neU' eta della Sinistra (1875-1885): costituzione, amministrazione e finanza nella "via media" di Giuseppe Ricca-Salerno, beide in: Materiali per una storia della cultura giuridica, 13 {1983), S. 57-84 und S. 85-121. 37 G. GOZZI: Organizzazione degli interessi e razionalita amministrativa in Italia tra Otto e Novecento, in: II pensiero politico, 16 (1983), 2, S. 3 ff.; dera.: Legialazione sociale e crisi dello Stato di diritto fra Otto e Novecento. Due modelli: ltalia e Germania, in: Annali dell' Istituto storico italo-germanico in Trento, 10 {1984), S. 195230. 38 C . VANO : II diritto del lavoro nella storiografia giuridica germanica: prospettive a confronto, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, 17 (1987), S. 129-144. 39 P. BENEDUCE: Punto di vista amministrativo e Stato di diritto: aspetti del germanesimo dei giuristi italiani alla fine dell' Ottocento, in: Annali dell' lstituto storico italo-germanico, 10 {1984), S. 119-194. 40 I giuristi e Ia crisi dello Stato liberale in ltalia tra Otto e Novecento, Napoli 1986; L'esperienza giuridica di Emanuele Gianturco, Napoli 1987.
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"Krise" im Übergang vom Rechts- zum Verwaltungsstaat ausgelöst wurden. Die Juristen waren in der Tat nicht vorbereitet auf die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Kulturleben Italiens einsetzende Wende. Sie standen vielmehr bei den damals einsetzenden Auseinandersetzungen in vorderster Front. In einzelnen Fällen schreckten sie auch nicht davor zurück, sich politisch zu kompromittieren. Oftmals gelang es ihnen, sich als Aggregationsmomente und Bezugsgrößen denjenigen zu präsentieren, die trotz der Krise den Primat des Staates und das Prinzip seiner Souveränität wieder zur Geltung zu bringen suchten. Der Staat, seine Form, sein Inhalt und seine Funktionen, vor dem Hintergrund eines politisch geeinten, aber sozial und institutionell noch unausgewogenen Italiens: dies ist das Grundthema, das die einzelnen Untersuchungen gleichermaßen durchzieht. Die Wege, auf denen die Juristen versuchten, die sozialen Grundlagen des liberalen Staates zu erweitern, ohne dessen Voraussetzungen preiszugeben, sind im wesentlichen an hervorstechenden Beispielen nachgezeichnet worden. Ihr Ziel war es, eine neue, dem sozialen Wandel gewachsene Kultur zu errichten, deren "wissenschaftliche" Instrumente geeignet sein sollten, jene wachsende gesellschaftliche Komplexität zu analysieren und zu steuern, die eine aus der französischen Revolution hervorgegangene "allzu einfache" politische Ordnung - wie Santi Romano meinte 41 - nicht mehr bewältigen konnte. Die dabei eingeschlagenen Richtungen sind nicht einheitlich und reduzieren sich nicht etwa auf den Gegensatz zwischen einer "formaHstischen" Richtung, die sich auf die Verfeinerung ihrer Begriffe und auf die Kombinierung ihrer "Institute" beschränkte, und einer "reaHstischen" Richtung, die - im Gegensatz zur ersten - Techniken und Ergebnisse der politischen, volkswirtschaftlichen und soziologischen Forschung aufnahm. Zwar setzte sich am Ende die "reine" juristische Methode durch und verdrängte alle anderen Lehrmeinungen. Dennoch ging aus diesen gebrochenen und widersprüchlichen Zusammenhängen die "Wende" Orlandos hervor, die nur aus diesen Zusammenhängen heraus in ihrer ganzen Bedeutung verständlich wurde (Beneduce) . Unter diesem Gesichtspunkt ist versucht worden, zum einen den Beitrag des staatsrechtlichen Denkens über die politische Bedeutung der Krise darzustellen (Mangoni) und die verschiedenen technischen Lösun41 S. ROMANO: Lo Stato moderno e Ia sua crisi, Antrittsvorlesung der Jahre 1909-1910 an der Universität Pisa, jetzt in: Scritti minori, hg. v . ZANOBINI, Milano 1950, Bd. I, S. 317.
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gen zu analysieren, die allgemein im Bereich des Staatsrechts (Cianferotti) oder auf den delikaten Gebieten des Strafrechts (Co/ao) und des Arbeitsrechts (Vano) zum Tragen kamen. Zum anderen sind die Querstränge und Überschneidungen zwischen den verschiedenen sozialwissenschaftliehen Wissensbeständen untersucht worden: zwischen Recht und Volkswirtschaft (Cardini), politischen Ideen (Go::.::i. Gherardi), Fragen der Verwaltungsordnung und -Organisation (Rugge, Melis). Nicht von ungefähr ist die Untersuchung häufig auf das Thema des "Eklektizismus" gestoßen, der vielfach den Autoren dieses Zeitraumes unterstellt wurde. Die Vergleiche, Vermischungen und Verschränkungen zwischen Denk- und Lehrsystemen unterschiedlicher Provenienz scheinen aber nicht so sehr die theoretische Schwäche der Autoren als vielmehr die Wirksamkeit einer gemeinsamen Kultur zu bezeugen, die auf der Grundlage der meistverbreiteten Ideen sowie doktrinärer Übersetzungen und Kompromisse zwischen ursprünglich innerhalb einzelner Disziplinen entstandener Kategorien zahlreiche Verbindungen herstellen konnte, um somit deren praktische Umsetzung zu ermöglichen. Auf diese Weise entstanden neue, fruchtbare Zusammenhänge sowie eine Reihe tragfähiger "Begriffsbrücken" zwischen den einzelnen Fachgebieten. Parallel zur Analyse der Lehrsysteme hat sich als ergiebiges Untersuchungsfeld der Bereich der kulturellen Institutionen und der Verlagsunternehmungen herausgestellt: Die Biblioteca di Scien::.e Politiche von Attilio Brunialti z. B. (Porciani) ist ein ausgezeichneter Untersuchungsgegenstand, und zwar nicht nur um den sehr intensiven Austausch zwischen den verschiedenen Beständen sozialwissenschaftliehen Wissens, sondern mehr noch um die Beziehungen zwischen diesen und den wichtigsten europäischen Beiträgen zu verfolgen. Anfang des 20. Jahrhunderts verschärft sich der "Kampf der individuellen und sozialen Interessen", zeigen sich "fenomeni di folle ribellione, tra I' indefferenza, se non tra I' indulgenza dell' universale", setzen sich schließlich "colletti vitä ehe, pur di conseguire un proprio interesse, non esitano a ferire a morte quelle ehe sono le condizioni essenziali per Ia salute e Ia vita dello Stato"42 durch. Vor diesem Hintergrund nimmt die Rechtswissenschaft den tiefgreifenden sozialen Wandel in Italien zur Kenntnis. Nun wird deutlich, daß dieser alles andere als "vorübergehend" oder durch vorwiegend ideologische Positionen bestimmt ist, wie noch 42 V. E. ORLANDO: Sul concetto di Stato (1910), in: Diritto pubblico generale, (Fn. 7), S. 219-221.
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Orlando glaubte 43 . Das italienische Staatsrecht legt somit nicht nur die Krise des Parlamentarismus, sondern das Staatsgefüge, die Staatsform des Liberalismus selbst offen, die es als einen spezifischen Aspekt der Krise des neuzeitlichen Staates begreift. Innerhalb dieses Rahmens ist Santi Romano zentral, und zurecht befassen sich die Mehrzahl der Beiträge mit ihm.
Sein Werk ist vielschichtig und ging von Problemen der Verwaltungsrechtswissenschaft aus (Fioravanti). Sein Denksystem war schon früh vollendet und war aus gründlichen Studien nicht nur der italienischen, sondern auch der französischen und deutschen Staatswissenschaften und der politischen Erfahrungen dieser Länder hervorgegangen. Sie ermöglichten es ihm, zu einer abgeschlossenen Theorie des Rechts, der pluralistischen Verfassung des Verwaltungsstaates und des sozialen Rechtsstaates zu gelangen. Dieses Ergebnis stellte sich aber nicht sofort ein, sondern wurde durch eine Erweiterung der Themen und Gesichtspunkte erreicht, die noch weiterer Vertiefung bedarf. Santi Romanos Lehre des Rechts als Institution und der Pluralität der Rechtsordnungen rief anhaltende Zustimmung oder Ablehnung hervor. Einige Beiträge des Bandes "I giuristi e la crisi dello Stato liberale", die die Rezeption bestimmter Kategorien und Begriffe behandeln (Caval/ari, De Gennaro, Montanari, Mura, Pir.e tti), gehen dieser Nachwirkung bis ins 20. Jahrhundert nach. 4. Übersicht über die Teilergebnisse der laufenden Forschung
Der zweite, 1987 herausgegebene Band enthält einige Teilergebnisse der laufenden Forschung. Er befaßt sich mit der "Esperienza giuridica" von Emanuele Gianturco. Dabei soll nicht etwa ein allzu gefeierter Mythos neu belebt werden. Sein Werk erscheint vielmehr stellvertretend für die zahlreichen Berührungspunkte und Unterschiede, die die von vielen Juristen der ersten Post-Risorgimento-Generationen eingeschlagenen Richtungen kennzeichnen. Von diesem Beobachtunspunkt aus lassen sich eine Reihe von Themen der damaligen italienischen Rechtskultur unmittelbar wahrnehmen. Die fortschreitende - nicht nur politische, sondern auch kulturelle - Annäherung weiter Kreise der führenden Klasse Italiens an das 'Modell Deutschland' ist der Hintergrund für Gianturcos theoretische Ausrichtung, aber auch für die allgemeine Bildung und Konsolidierung der fachlichen Spezialisierung 43 Ebd.
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innerhalb einzelner Wissenschaften. Dabei spielte das vergleichende Verhältnis zu ähnlichen deutschen Vorbildern und darüber hinaus die Rückbindung an das übermächtige "Paradigma der deutschen Wissenschaft" eine große Rolle. Gianturcos "Esperienza" ermöglicht es zudem, die tatsächlichen Kennzeichen des sogenannten "socialismo giuridico" (der ihm vielfach zu Unrecht zugeschrieben wurde) besser herauszuarbeiten sowie die regionalen Traditionen, die privaten Bildungseinrichtungen (Schulen, Vereine zur Verbesserung der Gerichtspraxis, usw.) auf ihren Anteil an der Schaffung einer "nationalen Rechtswissenschaft" zu untersuchen.
Aus der Auseinandersetzung mit seinem Werk ergaben sich so Indikatoren, die bei weiteren Untersuchungen über herausragende und weniger herausragende Persönlichkeiten der italienischen Rechtskultur im 19. Jahrhundert sehr nützlich sind. Nicht zu vergessen sind dabei die Verdienste der juristischen Praktiker, wie Cianferroli auf Grund der Wertschätzung der Rechtsanwaltstätigkeit als juristischem Erfahrungsbereich und als Laboratorium der Doktrin hervorgehoben hat. In diesem Zusammenhang erscheint die Hypothese von Cristina Vano weiterführend, daß sich der Beitrag der Praktiker der Juridifizierung der Arbeitsfragen auf die Fähigkeit der Gerichtspraxis zurückführen läßt, die Grenzen und Lücken der geltenden Rechtsordnung aufzudecken. Das konstante, intensive berufliche Engagement bestimmt denn auch den Standpunkt Gianturcos zu den Bildungsfragen, von denen seine grundlegenden Erwägungen und seine wissenschaftspolitischen Entscheidungen ausgingen (Treggiari). Darüber hinaus war der Neubau des Erziehungswesens in allen Zweigen und auf allen Stufen der Kulturorganisation auf einer noch zu schaffenden geeigneten institutionellen Grundlage als primäre Notwendigkeit bei der Begründung einer nationalen Gesellschaft erkannt worden. Die herrschenden Klassen versprachen sich davon eine ideologische Festigung ihrer Herrschaft. Die Intellektuellen, die sich mit der Zukunft dieser noch unausgewogenen Gesellschaft auseinandersetzten, erhofften sich da von eine geistige Einigung, die auf der Entdeckung und Erkenntnis einer gemeinsamen laizistischen Tradition europäischer Prägung und auf geeigneten Bildungsapparaten beruhen sollte. Im Bereich der Juristen erkannte man die Notwendigkeit einer Studienreform und einer Neubestimmung von Universität und juristischen Berufen (Rechtsanwalt, Richter etc.). Dabei bediente man sich vielfach gegensätzlicher Begriffspaare und sprach
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demzufolge von den Beziehungen zwischen "Universität" und "Rechtspflege", zwischen "Wissenschaft" und "Praxis". Vor diesem Hintergrund war die "Methodenfra~e", in die Gianturco als einer der ersten im Jahre 1881 eingriff 4 , viel mehr als eine Schulauseinandersetzung oder als die in Italien ausgetragene "Generaldebatte" zwischen dem konstruktivistischen Ansatz des deutschen "Systems" und dem erklärenden Ansatz der französischen "Exegese". In diese Methodenfrage mündete vielmehr eine weitaus vielschichtigere Diskussion ein (Beneduce). Die anregendsten Fragestellungen der Rechtskultur am Ende des 19. Jahrhunderts waren darin vertreten: Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von italienischer Tradition und ausländischen Strömungen, die Sensibilisierung durch den Historismus, die Diskussion um die Aufgaben der Auslegung und Erneuerung des Privatrechts, sowie die Überlegungen über Organisation des Lehrbetriebs und über die für diesen geeignete Literatur. Auch die Einflüsse der deutschen Modelle auf das italienische Zivilrecht sind wesentlich vielschichtiger gewesen. Zwar griff der Zivilrechtier auf die technisch-dogmatische Methode zurück, um mit Hilfe des Systems begriffliche Kategorien und eine "nuova nomenclatura" (Rascio) von hohem wissenschaftlichen Wert zu entwickeln. Dennoch bediente er sich zugleich weiter der kasuistischen Methode und bezog sich auf die von Jhering in den Rechtsfällen aufgestellten Grundsätze. Vor allem aber legte er die Systemidee unterschiedlich aus, wobei er gewissermaßen eine "Mittelformulierung" anstrebte, die in die italienische Tradition paßte. Damit bewegte er sich in dieselbe Richtung wie die gesamte Rechtswissenschaft, die sich um Gattungen und Prototypen einer neuen "nationalen rechtswissenschaftlichen" Literatur bemühte (Beneduce). Bei Gianturco stimmte dieser Versuch zudem mit einer geschlossenen juristischen Interpretation der Fragen überein, die mit dem Ziel einer gemäßigten politischen Reform verbunden waren. 5. Weitere Forschungsziele und -aufgaben
Es liegt im Wesen einer noch laufenden Untersuchung, daß sie mehr Fragen aufwirft, als beantwortet. Mir erscheint es deshalb notwendig, die weitere Arbeit auf einige Problemstellungen aus44 E . GIANTURCO: Gli studii di diritto civile e Ia quistione del metodo in Italia. Considerazioni, in: II Filangieri, 6 (1881), S. 722-744.
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zurichten, die der Zusammenarbeit mit Forschern unterschiedlicher Fachrichtungen bedarf. Im Hinblick darauf wäre eine internationale Zusammenarbeit besonders hilfreich. Vor allem tut eine systematische A ufarbeitung der veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen not, um das Bild der italienischen Rechtskultur im 19. Jahrhundert in ihren Beziehungen zu anderen Sozialwissenschaften und zur deutschen Kultur zu vervollständigen. In diesem Zusammenhang ist das Verzeichnis in Italien veröffentlichter Übersetzungen ausländischer juristischer Werke hilfreich. Dieses hat Teresa Napoli auf der Grundlage eines vor vielen Jahren beantragten, zeitweilig zum Erliegen gekommenen und jüngst doch noch abgeschlossenen CNR-Projekts vor kurzem erstellt40. Noch hilfreicher wäre ein Verzeichnis der italienisch-deutschen Briefwechsel, an dem Cristina Vano auf der Grundlage von entsprechenden Archivstudien und unter Benutzung der Zentralkartei in Berlin arbeitet. Für dieses Projekt wäre die Mitarbeit deutscher Forscher freilich entscheidend. Ich selbst arbeite an dem Katalog einer reichen Sammlung von allegazioni forensi vom Ende des 19. Jahrhunderts, die als Hilfsmittel bei der Erforschung eines vernachlässigten, aber entscheidenden Gebiets der Rechtskultur des 19. Jahrhunderts dienen soll. Gleichzeitig widmet sich ein von Pierangelo Schiera eingeleitetes Forschungsprojekt einer Untersuchung der Universitätsorganisation, die aber von einer Untersuchung der anderen Bildungseinrichtungen, der wissenschaftlichen Gesellschaften, der Kongresse usw. flankiert werden sollte. Was die großen Verlagsunternehmungen betrifft, so ist ein von Grossi geleitetes Inventar der italienischen rechtswissenschaftliehen Zeitschriften des 19. Jahrhunderts geplant. Darüber hinaus haben in Trient zwei Seminare über die Enciclopedia Giuridica ltaliana stattgefunden, deren Beiträge demnächst veröffentlicht werden. In ihrem Rahmen sind sowohl die Grundzüge des Verlagsprojekts, die Modelle der deutschen und italienischen enzyklopädischen Tradition, die Verflechtung unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Wissensbestände und schließlich einige technisch- juristische "Wirksamkeiten" untersucht worden. Ein weiterer 45 M . T. NAPOLI: La cultura giuridica europea in Italia. Repertorio delle opere tradotte, Napoli 1987. Den Nutzen als Nachschlagwerk beeinträchtigen weder einige technische Mängel noch die eindeutig veralteten Interpretationsschemata der Einführung.
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wichtiger Aspekt, auf den die Enzyklopädismus-Seminare hingewiesen haben, betrifft den "Eklektizismus", der als allgemeiner Hintergrund eines Großteils der italienischen Rechtskultur angenommen wird. Auf methodologischer und empirischer Ebene besteht das Forschungsziel darin, parallel zur Vertiefung der konstitutiven Begriffe der Rechts- und Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts die Einflüsse der ausländischen, insbesondere der deutschen Lehrsysteme zu untersuchen. Diese sind nicht nur in den großen theoretischen Ausarbeitungen, sondern gerade auch im Entstehungsprozeß eines verbreiteten Rechtswissens anzutreffen, das man gemeinhin die "mittlere Kultur" nennt. Auf ihrer Grundlage und nicht selten unter Verwendung derartigen Materials sind oftmals die maßgeblichen theoretischen Werke entstanden. Die Aufzählung der Desiderata ließe sich leicht fortsetzen. Aber es erscheint ratsamer, die Korrekturen und Vorschläge der Freunde abzuwarten, die von diesen Trienter Symposien bereits gehört oder sogar an ihnen teilgenommen haben und so freundlich waren, uns einzuladen.
Diskussionsbeitrag: Zur Einflußfrage in der Staats- und Rechtswissenschaftsgeschichte
Von Erk Volkmar Heyen Bei der Vorbereitung und in den Vorträgen dieser Tagung ist wiederholt von "Einfluß". "influsso" oder "influenza" gesprochen worden. ohne daß mir die Bedeutung dieser Ausdrücke immer ganz klar erschien. Ich möchte. nicht zuletzt im Interesse der Fruchtbarkeit der auf diesem Kolloqium avisierten Projektkooperation. zu mehr begrifflich-konzeptueller Rechenschaft ermuntern und dazu einige Hinweise geben. "Einfluß" bezeichnet sowohl eine Bewegung als auch ein Bewegtes. Daher muß man sich mit mindestens drei Aspekten näher befassen: mit den Ausgangs- und Aufnahmepunkten des Einflusses ( 1.). seinen Bedingungen und Formen (2.) und schließlich seinen Inhalten und Auswirkungen (3.). 1. Ausgangs- und Aufnahmepunkte des Einflusses
Die Ausgangs- und Aufnahmepunkte des Einflusses sind Grenzpunkte zweier näher zu bestimmender Einheiten. Sie markieren. was innen und was außen liegt. Insofern das klassische Anwendungsfeld der Einflußfrage die Ideengeschichte ist. treten hier keine Schwierigkeiten auf: als Einheit wird der einzelne Mensch und sein Gedankengebäude genommen. Schwieriger wird es bereits. wenn man Einflüsse zwischen wissenschaftlichen Disziplinen untersucht. Denn deren Grenzen sind durchweg unscharf. sowohl kognitiv als auch sozial: Was gehört denn genau z. B. zur Staatslehre und wer zu den Staatslehrern? Selbst wenn man die universitäre Verankerung zum Kriterium von Wissenschaft und Wissenschaftler machen wollte - für zahlreiche Disziplinen gerade im 19. Jahrhundert ein ziemlich unan-
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gemessenes Verfahren -, so bliebe noch das Problem, daß Universitäten von Land zu Land sehr verschiedene Institutionen darstellen können, verschieden in Zielsetzung, Funktionsweise und Personalrekrutierung. Damit ist schon angedeutet, daß die Einflußfrage noch komplexer wird, wenn bei der Untersuchung von Austauschprozessen national etikettierte Untergliederungen von Wissenschaftsdisziplinen als Bezugspunkte gewählt werden. Was ist gemeint, wenn von deutschen und italienischen Staats- und Rechtswissenschaften die Rede ist: die Staats- und Rechtswissenschaften deutscher bzw. italienischer Staatsangehöriger oder die Wissenschaften vom deutschen oder italienischen Staat/Recht oder beides? Was ist deutsch und was italienisch an der betreffenden Wissenschaft in Deutschland bzw. Italien? Inwiefern kann die politisch-geographische Verortung wissenschaftlicher Produktion überhaupt für die Erkenntnis von Wissenschaftsentwicklungen bedeutsam sein? Nun läßt sich mit gutem Grund wenigstens für die kontinentaleuropäischen Staats- und Rechtswissenschaften des 19. Jahrhunderts sagen, daß sie in der Tat auf doppelte Weise national geprägt sind: durch ihren Gegenstand, den sie in der Analyse zu transformieren vermögen (man beschränkt sich zusehends auf jenen Staat und jenes Recht, dem der jeweilige Staats- und Rechtswissenschaftler als Bürger selbst unterworfen ist), und durch die soziale Zusammensetzung der an der Gegenstandserforschung beteiligten Wissenschaftler (nationaler Staat und nationales Recht finden Beachtung vor allem bei Angehörigen der jeweiligen Nation). Die nationale Prägung der Staats- und Rechtswissenschaften ist gleichwohl nur partiell. Daneben behält die christlich-humanistisch und aufklärerisch bestimmte prä- und transnationale Tradition wissenschaftlichen Staats- und Rechtsdenkens ihr Gewicht. Daher darf man nicht ohne weiteres alle Austauschprozesse zwischen Staats- und Rechtswissenschaftlern in Italien und Deutschland auch immer schon als Austauschprozesse zwischen italienischen und deutschen Staats- und Rechtswissenschaften interpretieren. Darin läge eine Verwischung der Ausgangs- und Aufnahmepunkte des untersuchten Einflusses.
2. Bedingungen und Formen des Einflusses
Zu den Grundvoraussetzungen des Einflusses gehört Aufnahmefähigkeit. Daher wäre es eigentlich wichtig, nicht immer nur
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solche Fälle zu studieren, wo Einfluß stattgefunden hat, sondern auch solche Fälle, wo er nicht stattgefunden hat, obwohl prima facie dafür günstige Voraussetzungen bestanden haben. Ich denke, daß auf diese Weise der theoretische Ertrag von Einflußforschung nicht unerheblich verbessert werden könnte. In jedem Fall sollte man sich klar machen, daß Einfluß nicht auf irgendeinem abstrakt bestimmbaren Mehrwert beruht, sondern von den Struktureigentümlichkeiten der Aufnahmeeinheit abhängt. Bei internationalen Austauschprozessen wird die Aufnahmefähigkeit durch Sprachgrenzen entscheidend beeinträchtigt. Ohne Sprachkenntnis bleibt von einer Wissenschaft nur das materielle Substrat, also Geräusch und Papier. Deswegen scheint es mir wichtig zu sein, Genaueres über die Verbreitung von Feemdsprachenkenntnissen unter den Staats- und Rechtswissenschaftlern zu erfahren. Fehlt Sprachkenntnis, so ist man auf Übersetzungen oder Berichte aus zweiter Hand angewiesen. Auch bei vorhandener Sprachkenntnis ist noch nicht gesagt, daß die ausländischen Werke wirklich im Original studiert worden sind. Dies ist freilich weniger eine Frage der Aufnahmefähigkeit als eine Frage der Reichweite der an sich aufnehmbaren Informationen. Auch diese medialen Aspekte (Wissensvermittlung durch Lehrbücher, Zeitschriften und Rezensionen, Enzyklopädien, Übersetzungen, Reisen und Briefwechsel u. a.) müßten möglichst genau erforscht werden, um sich hinsichtlich des Charakters eines Einflusses nicht zu täuschen. Hinsichtlich der Einflußformen möchte ich grob zwei Typen unterscheiden, die man "Umwelteinfluß" und "Systemeinfluß" nennen könnte. Systemeinfluß meint Strukturübertragung, also Prägung nach einem fremden Muster. Der klassische Fall eines Einflusses im Bereich der Wissenschaftsgeschichte - der Einfluß des Lehrers auf den Schüler - wäre danach ein Systemeinfluß, weil Formung eines noch Ungeformten. Daneben gibt es Systemeinfluß auch als Umformung eines schon Geformten. Ich denke hier vor allem an Prozesse staatlich-politischer Inkorporation, wofür das napoleonische Herrschaftssystem, aber auch die in Entstehung begriffene Europäische Union als Beispiele genannt werden könnten. Sie bringen Aufpfropfungseffekte in Verwaltung und Recht mit sich, welche auch dann noch fortwirken, wenn die zugrundeliegende Inkorporation wieder aufgehört haben sollte. Im Falle des Deutschen Reichs und Italiens heißt dieses staatlich-politische Verbindungsglied offensichtlich Habsburg, Österreich. Auch insofern
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gibt es also prä- und transnationale Elemente, die man in Rechnung stellen muß, wenn man die Einflußbedingungen im Verhältnis Deutschland/Italien untersucht. Ein Umwelteinfluß läge dann vor, wenn es nicht zu solchen Strukturübertragungen kommt, sondern zu Reaktionen, die einem eigenen, schon bereit liegenden Handlungsmuster folgen, so daß es auch im Falle gravierender Strukturveränderungen eigentlich um Identitätswahrung geht, um Identitätswahrung inmitten einer sich wandelnden Umwelt. 3. Inhalt und Auswirkungen des Einflusses
Ob es zu einem Einfluß kommt und worin er besteht, läßt sich nur anband eines Vergleichs zweier durch den Zeitpunkt des Einflusses unterschiedener Zustände sagen. Man muß also angeben können, was vorher und was nachher war. Wichtigstes Indiz für Einflüsse in den Staats- und Rechtswissenschaften sind Zitate. Die schwächste Form des Einflusses liegt in der Kenntnisnahme und deren Dokumentation nach außen. Mehr als bloße Kenntnisnahme liegt vor, wenn durch die Dokumentation versucht wird, die Chance der Beeinflussung anderer Wissenschaftler oder gar der öffentlichen Meinung zu erhöhen, sei es, daß dadurch die Seriosität der wissenschaftlichen Disziplin, zu der man selber etwas beitragen will, unterstrichen wird, sei es, um in Hinblick auf Problemformulierung und Problemlösung an Überzeugungskraft zu gewinnen. Mithin dokumentieren solche Autoritäts- oder Prestigezitate nicht nur fremden Einfluß, sondern auch die Absicht eigenen Einflusses. Für die Wissenschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Italien müßte also das Zitationsverhalten genauer erforscht werden: welchen Charakter haben die Referenzen (bestätigen sie eine schon vorher formulierte Meinung oder verändern sie diese?), und worauf beruht das Gewicht der beigezogenen ausländischen Staats- und Rechtswissenschaftler (auf allgemeinem kulturellen Wohlwollen oder Widerwillen, auf den aktuellen Verhältnissen und Institutionen, auf der wissenschaftlichen Teleologie oder auf den theoretischen Ergebnissen und politischen Vorschlägen?). Im Falle einer Übernahme bestimmter Begriffe/Termini und Aussagen ist nachzuprüfen, ob sie in der neuen Umgebung noch dieselben Bedeutungen, Konnotationen und Effekte haben. Es könnte ihnen beispielsweise an Realitätsgehalt mangeln; ihre
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Funktion wäre dann eher eine polemisch-prophylaktische, die Phänomene würden von ihnen mehr geschaffen oder unterdrückt als beschrieben. Aber nicht nur als Kenntnis- und Übernahme von Wissen läßt sich der Einfluß ausländischen Staats- und Rechtsdenkens fassen. Er kommt auch vor als Verweigerung der Übernahme bei gleichzeitiger intern modulierter Strukturanpassung. Dabei handelt es sich dann freilich immer um einen bloßen Umwelteinfluß. Betrachtet man einmal die französische Beschäftigung mit Deusehland nach 1871 und die deutsche Beschäftigung mit Frankreich nach 1918, so sieht man, daß diese Kenntnis- und Bezugnahmen die Betonung der Gegensätze zwischen beiden Ländern begünstigt haben und damit der Wahrung und Steigerung jener Identität dienstbar gemacht wurden, welche man zur Selbstbehauptung im internationalen Konkurrenzkampf (nach dem seinerzeit weithin verbreiteten sozialdarwinistischen Theorem als Daseinskampf verstanden) für unerläßtlich hielt. Wäre es abwegig, den italienischen Eklektizismus und Experimentalismus, die via media, von der wir auf unserem Kolloquium wiederholt gehört haben, als Ergebnis einer Identitätsstärkung nach italienischen Kriterien zu sehen und den deutschen Einfluß in diesem Prozeß nur als einen, wenngleich bemerkenswerten, Umweltstimulus unter anderen?
Teil B
Methodenfrage der Rechtswissenschaft und Staatslehre
"Methodenstreit" und politisch-soziale Wissenschaften: die "Untersuchungen und Vorgaben Deutschlands" in der politischen Kultur des liberalen Italien
Von Raffaella Gherardi "A chi dunque dovra riformance I'ordinamento amministrativo il problema si para innanzi di nuovo reso dall'esperienr;a piu pratico, e illust rato dagli studi e dagli esempi della Germania" 1
1. Das Deutschland-Modell und die großen Verlagsunternehmungen des liberalen Italien: die "Biblioteca dell' economista" und die "Biblioteca di scienze politiche" In seinem Werk "I partiti politici" ( 1881) verweist der bedeutende Staatsmann und politische Denker Marco Minghetti aus dem Blickwinkel der Verwaltung wiederholt auf die "Untersuchungen" und "Vorgaben" Deutschlands. Es sind deutliche Anzeichen eines "Verwaltungsgermanismus" 2 , der oftmals parallel zu einem ebenso starken "Wirtschaftsgermanismus" weite Kreise der italienischen politischen Kultur des augebenden 19. Jahrhunderts erfaßt, ja bis in die Regierungssphären selbst vordringt. In dem eben zitierten Werk soll das Deutschland-Modell sowohl die Einführung und Weiterentwicklung einer Verwaltungswissenschaft deutscher Prägung in Italien als auch die konkreten Ver1 M. MINGHETTI: I partiti politici e I' ingerenr;a loro nella giustir.ia e nell'amministrazione, in: M. MINGHETTI: Scritti politici, hg. v. R. GHERARDI: Roma 1986, S. 731. Über die Person MINGHETTIS, vgl. R. GHERARDI/M. MATTEUCCI (Hg.): Marco Minghetti statista e pensatore politico, Bologna 1988. 2 Vgl. R . FAUCCi: Finanza, amministrazione e pensiero economico, Torino 1975, bes. Kap. II, Abschnitt 2.
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waltungsreformen steuern. Obgleich er für die Anwendung" einer Ordnung nationalen Charakters" eintritt, die als solche fremden Vorbildern nicht in vollem Maße folgen kann, sucht Minghetti die in Deutschland geltende Verwaltungsrechtsprechung genau nachzuzeichnen3. Darüber hinaus vermitteln die Schriften des großen deutschen Juristen Rudolf von Gneist Minghetti das englische Dezentralisierungsmodell: England wird dabei also in hohem Maße vom deutschen Gesichtspunkt aus gesehen4 • Von einer "germanischen Schule" 6 sprich Minghetti im Zusammenhang mit den Reformen, die für Italien notwendig sind "zur Vervollständigung eines Systems von Verwaltungsgarantien" sowie den verschiedenen "Schulen", die die Zweckmäßigkeit gesetzgeberisch festgelegter Rechte und Pflichten der Angestellten unterschiedlich beurteilen. Die Richtlinien dieser germanischen Schule zwischen Restaurationszeit und Bismarckära versucht er detailgetreu zu rekonstruieren. Letztendlich steht der Ausdruck "germanische Schule" bei Minghetti sowohl für die in die konkrete politische Praxis eingehenden reformerischen Grundsätze, als auch für bestimmte wissenschaftliche Perspektiven, die auf ihre Praxisrelevanz hin untersucht werden, wobei beide eng miteinander verknüpft werden. In der Schrift "I partiti politici" entwirft er auch mehrmals das Bild einer Wissenschaft, die sich in Deutschland im Rahmen der Verwaltung unverzüglich auf die wichtigsten und ernstesten reformerischen Richtlinien zu beziehen weiß. Nachdem er dargestellt hat, wie im Zuge der Reichsgründung die Frage der Verwaltungsgerichtsbarkeit gelöst worden ist, ruft Minghetti dann auch aus:"E'degno di nota lo studio profondo, vario ehe si e fatto in questa materia in Germania negli ultimi tempi: noi non ne abbiamo in generale quasi idea."6 Der offen ausgesprochene Wunsch, daß die Verwaltungslehre auch in Italien bald "nicht weniger einfallsreiche und vernunftbegabte Vertreter als in den übrigen zivilisierten Nationen" 7 finden werde, hat also starke deutsche Bezugsgrößen. 3 Im IV. Kap. von: I partiti politici ist ein Abschnitt dem "ordinamento della giurisdizione amministrativa in Pruasia, in Germania, in Austria" gewidmet. 4 Ober die Wirkuni von Gneista in Italien vgl. B. SORDI: Giustizia e amministrazione nell' ltalia liberale, Milano 1985, S. 86 - 99. 5 M. MINGHETTI, (Fn. 1), S. 742. 6 Ebd., S. 728. 7 Ebd., S. 751 in der Fn.
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Nicht von ungefähr verweist Minghetti dabei auf die in diesem Zusammenhang vorbildhaften Schriften von Car/o Francesco Ferraris, der als erster (ab 1878) in Italien einen Lehrstuhl für Verwaltungslehre innehat und als glühender Anhänger Steins, M ohls sowie der Kathedersozialisten hervortritt8 . Letztere, vornehmlich die Vertreter der historischen Schule, sind Minghetti gut bekannt. Sein erfolgreiches Buch "Della economia pubblica e delle sue attinenze colla morale e col diritto" (1857)9 ist einer der ersten in Italien unternommenen Versuche, auf methodologischer Ebene einen Kompromiß herzustellen zwischen klassischer "rationaler Methode" und "historischer Methode". Minghetti führt die Kontroverse auf ihre ursprünglich juristische Ausgangsstellung zurück, die er schon durch Thibaut und Savigny bezeichnet sieht10. An anderer Stelle zieht Minghetti die "deutschen Schriftsteller" auch als Vorkämpfer der Sozialgesetzgebung heran. Diese stehe, wie die Beispiele in England und Deutschland gezeigt hätten, im Italien der achtziger Jahre auf der Tagesordnung. Dabei soll sie aber eine "vernünftige Grenze" einhalten, die von den Deutschen oftmals überschritten werde 11 . Als Ursprungsland der historischen Methode und der neuen Wissenschaften, die sachgerecht die "Verwaltungsfrage" und die "soziale Frage" angehen wollen, werden Deutschland und dessen kulturelle Modelle zur notwendigen Bezugsebene der umsichtigen Politologie Marco Minghettis bezeichnet, die in konstanter Auseinandersetzung steht mit der doktrinären Abstraktheit, die noch 8 Vgl. C. MOZZARELLI/S. NESPOR: Giuristi e scienze sociali nell' Italia liberale, Venezia 1981, S. 47 ff. 9 Dieses Werk erfreute sich großer Beachtung in Italien und darüber hinaus in ganz Europa, wie die folgenden Neuauflagen bestätigen. 1863 wurde es ins Französische übersetzt und mit einem bedeutsamen Vorwort von PASSAY in Paris herausgegeben. 10 Im Vorwort der 1. Auf!. von Della economia pubblica e delle sue attinenze colla morale e col diritto unterstreicht MINGHETTI: "II metodo ehe ho seguito, ~ in parte razionale, in parte storico, togliendo siffatti nomi da due celebrate scuole di giurisprudenza." Im Laufe der Arbeit hebt er weiter hervor: "E noto come Ja controversia pigliasse appunto origine da! diritto quando il Thibaut si faceva a chiedere un codici comune per tutti i paesi germanici; e il Savigny, confutandolo, affermava ehe Ja formazione di un tal codice, difficilissima in se stessa, disadatta ai tempi, avrebbe recato confusione e discordia invece di quella unita e certezza ehe si desiderava nella leggi."(M. MINGHETTI, Della economia pubblica, in : Scritti politici, S. 113, 356). 11 M. MINGHETTI: La legislazione sociale, in: Scritti politici, S. 765 - 784.
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von der überkommenen globalisierenden Auffassung des politischen bestimmt ist. Das Werk Minghettis darf deshalb als emblematisches Manifest weiter Kreise der liberalen politischen Kultur Italiens im späten 19. Jahrhundert gelten, die nach dem Abschluß der "heroischen Periode" der nationalen Einigung die Wege der Realpolitik anhand des sicheren Maßstabes der politisch-sozialen Wissenschaften vorzeichnen. Ab den siebziger und achtziger Jahren werden große Anstrengungen unternommen, um deren Verbreitung innerhalb der öffentlichen Meinung zu sichern. Gleichzeitig aber sollen aus einer aufmerksamen Gegenüberstellung der in den verschiedenen "zivilisierten Nationen" gültigen Wissenschaftsmodelle die Grundlinien der italienischen Wissenschaft gewonnen werden. Eine beispiellose Anzahl mehr oder weniger fachspezifischer Zeitschriften 12 flankieren die prestigeträchtige "Nuova Antologia" bei der Rezeption und kritischen Aufarbeituns der europäischen Wortführer der politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Debatte. Große Verlagsinitiativen, wie die dritte Reihe der "Biblioteca dell'economista" (1876-1892) und die "Biblioteca di scienze politiche" ( 1884-1892), die jeweils eine "Sammlung der besten modernen italienischen und ausländischen Werke der Volkswirtschaftslehre" sowie eine "Auswahl der wichtigsten modernen italienischen und ausländischen Werke der politischen Wissenschaften" darstellen 13, verfolgen das Ziel, "der Bildung und dem Wohlstand des Landes zu dienen" (so ausdrücklich Boccardo in der "allgemeinen Einführung" in die "Biblioteca dell' economista"). Dies soll erreicht werden durch die Sammlung und Übersetzung der grundlegenden, zumeist ausländischen Werke, die in den letzten Jahren entstanden sind und die die großen Fortschritte der sozialen und politischen Wissenschaften belegen. "Nur wo eine in den politischen Wissenschaften bewanderte Klasse herangebildet worden ist - unterstreicht Brunialti in seiner "allgemeinen Einführung" in die "Biblioteca di scienze politiche" -, kann die Volksregierung die notwendige Beweglichkeit erreichen, 12 Im Laufe der siebziger und achtziger Jahre entstehen eine Reihe neuer Zeitschriften - Sprachrohre der neuen Politik- und Sozialwissenschaften und der verschiedenen Richtungen der Wirtschaftspolitik. Sie flankieren die "Nuova Antologia", die, 1866 gegründet, für die gesamten nächsten zwanr;ig Jahre das wichtigste Organ der italienischen Publizistik bleibt. 13 So lauten die Untertitel der "Biblioteca dell' economista" der 3. Aufl. und der "Biblioteca di scienze politiche".
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ohne in die Hände von Empiristen zu fallen, und die Freiheit aller gewährleistet werden" 14. Im Unterschied zu den ersten beiden, von Francesco Ferrara, dem Führer der italienischen Freihandelsschule, herausgegebenen Reihen greift die dritte, von Boccardo herausgegebene Reihe der "Biblioteca dell'economista" weit über die Grenzen der klassischen Volkswirtschaftslehre hinaus. Allein die (im Anhang I angeführte) Aufstellung der Autoren und der Werke zeigt, daß der Herausgeber auf der einen Seite die meistdiskutiertesten Beiträge der unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Schulen (von Roseher und Walras bis zu den "Ketzern" Marx und Lassalle) veröffentlichen möchte, auf der anderen Seite aber in den Gesamtbereich der politisch-sozialen Wissenschaften vorstößt und dabei Werke von Spencer, Schäffle, Leroy-Beaulieu und Wagner herausstellt. Der erste Band der "Biblioteca" Boccardos bietet der deutschen Volkswirtschaftslehre breiten Raum, denn er enthält nicht nur ein übersetztes Werk von Roscher, sondern auch die Einführung von Luigi Luzzatti 15 , einem der wichtigsten Vertreter des italienischen "Wirtschaftsgermanismus", d. h. der Verbreitung von Lehren der historischen Schule der Nationalökonomie in Italien. (Dieser erste Band erscheint 1876. Luzzatti selbst hatte Ende 1874 auf den Vorwurf des "Wirtschaftsgermanismus" geantwortet, den der Freihändler Ferrara in der "Nuovo Antologia" gegenüber der sogenannten "scuola lombardo-veneta" erhoben hätte. Darüber kam es zu jenem Methodenstreit, der über ein Jahrzehnt lang in Italien die politisch-sozialen Wissenschaften und die politische Kultur allgemein spalten sollte 16 .) Die letzten Bände (vom elften bis zum fünfzehnten) 17 der "Bibliothek" sind dem von Gustav Schöneberg herausgegeben "Handbuch der Volkswirtschaftslehre" gewidmet. Nimmt man andere Bände der Autoren wie Schäffle, Wagner, Schultze-Delitzsch hinzu, gewinnt man einen Eindruck von der großen Bedeutung des volkswirtschaftlich-sozialwissenschaftliehen deutschen Schrifttums in diesem Verlagsprogramm. 14 A. BRUNIALTI: Introduzione generale, in: Biblioteca di sc:ienze politiche, Torino 1884, Bd. I, 1. Teil, S. 60. 15 Vgl. Anhang I zu diesem Aufsatz. 16 Vgl. R . GHERARDI: Sul Methodenstreit neU' etä della Sinistra (1875-1885): Costituzione, amministrazione e finanza nella "via media" di Giuseppe RiccaSalerno, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, XIII, 1983, S. 85-122. 17 Vgl. Anhang I zu diesem Aufsatz.
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Im Vergleich zur "Biblioteca dell'economista" ist deutsches Schrifttum in der "Biblioteca di scienze politiche"18 in geringerem Maße vertreten, obgleich einige Bände deutliche Hinweise darauf enthalten (so z. B. das Inhaltsverzeichnis des neunten Bandes, das Autoren wie Bähr, Ahrens, Humboldt und Gneist aufführt). Die im Anhang II wiedergegebenen Inhaltsverzeichnisse der Bände zeigen, daß der Herausgeber dieser Schriftenreihe, Attilio Brunia/ti, die wichtigsten Beiträge zeitgenösssischer Politikwissenschaftler zu den klassischen Themen des Liberalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufnimmt; so zur Frage der Demokratie, der Regierungsformen, des Verhältnisses Staat-Kirche. Gleichzeitig sucht er die dem modernen Staat eigentümlichen Verfassungsfragen sowohl von ihren allgemeinen Grundzügen als auch von der konkreten Ausgestaltung zum Teil parlamentarischer Regierungssysteme in unterschiedlichen Ländern her zu begreifen. Die Übersetzung bedeutender Autoren wie Erskine May, Tocqueville oder lohn Stuart Mill scheint auf eine Vorrangstellung gegenüber deutschen Autoren hinzudeuten, die jedoch insgesamt, angefangen bei den überdimensionalen Einleitungen Brunialtis zu den verschiedenen Bänden (die beinahe eigenständige Werke darstellen), in der ersten Reihe der "Biblioteca di scienze politiche" gut vertreten sind 19. Die Bedeutung des Deutschland-Modells wird noch in einem anderen Zusammenhang offenkundig: im Rahmen der methodologisch-wissenschaftlichen Diskussion, zu der Brunialti einen spezifischen Beitrag der italienischen politischen Wissenschaften beisteuern möchte. Unter demselben Gesichtspunkt, den Boccardo bei seinen Einführungen in die einzelnen Bände der "Biblioteca dell'economista" wählt, erhält der Deutschland-Bezug für Brunialti grundlegende Bedeutung. Für beide Herausgeber ist die Auseinandersetzung mit dem "Germanismus" Ausgangspunkt und Gelegenheit zu einer rein italieni18 Von 1894 an bis 1914 wird sie in der 2. Aufl. den Titel "Biblioteca di scienze politiche e amministrative" haben. Der Obergang von der 1. zur 2. Aufl. wird gekennzeichnet von LORENZ VON STEINS Ausgabe der Verwaltungswissenachaft. Über die "Biblioteca di sciem:e politiche" und die Person ihres Direktors Attilio Brunialti, vgl. I. PORCIANI: ATTILIO BRUNIALTI e Ia "Biblioteca di scienze politiche". Per una ricerca su intellettuali e Stato dal trasformiamo all' eta giolittiana, in: A. MAZZACANE (Hg.): I giuristi e Ia crisi dello stato liberale in Italia fra Otto e Novecento, Napoli 1986, S. 191-230. 19 Vgl. z. B . das Vorwort des I. Teils des IV. Bd. mit dem Titel La !egge nello Stato moderno, S. V-CCXXXVIII; oder auch das Vorwort im VIII. Bd., Lo Stato e Ia Chiesa in Italia, S. V-CCCXXV.
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sehen Neubewertung von Fachmethoden und -fragestellungen, die dieser Ausdruck vorzugeben scheint. 2. Methodenstreit und "Germanismus": Die Maßstäbe des italienischen "Experimentalismus"
Nach dem Kongress von Eisenach der sogenannten Kathedersozialisten und der Gründung des "Vereins für Sozialpolitik" wird die Synthese von historischer Methode und sozialpolitischem Engagement bald zum Dreh- und Angelpunkt der wissenschaftlichpolitischen Auseinandersetzung in Italien. Der berühmte Beitrag von Francesco Ferrara, in dem er sich mit dem Wirtschaftsgermanismus in Italien (II germanesimo economico in Italia, August 1874) kritisch auseinandersetzt, und die ebenso bekannte Replik von Luigi Luzzatti, "L'economia politica e le scuole germaniche" (im September 1874 in der "Nuova Antologia" erschienen, derselben Zeitschrift also, die Ferraras Beitrag gedruckt hatte) führen in Italien zu zwei immer deutlicher hervortretenden "Wirtschaftsschulen". Während die Freihändler den "Germanisten" beständig "Staatsgläubigkeit" und "Planwirtschaft" vorwerfen, nehmen diese die angeblichen metahistorischen "wirtschaftlichen Harmonien" ihrer Gegner aufs Korn. Von der Mitte der siebziger bis zur Mitte der achtziger Jahre erfaßt der Methodenstreit ein breites Fächerspektrum, vor allem aber die politisch-sozialen Wissenschaften. Dies umso mehr, als die Dringlichkeit der "sozialen Frage" den Rahmen des Rechtsstaates sprengt und die neuen Aufgaben des Staates in den Mittelpunkt rückt. Besonders über die Frage des sogenannten "Regierungseingriffes" entzweien sich Freihändler und italienische Anhänger der historischen Schule. Diese werden von ihren Gegnern wiederholt als "Kathedersozialisten" bezeichnet. Aber obwohl ihnen vorgehalten wird, sich "der Mission der Freiheitsvernichtung" angenommen zu haben (so Ferrara zur Begründung der von ihm hergestellten Beziehung zwischen konservativer Planwirtschaft und zerstörefisehern Sozialismus20), erkennen ihnen auch die hartnäckigsten Gegner den Verdienst zu, die Lehren ihrer deutschen Vorbilder "abgemildert" zu haben. Selbst FeiTara weist in einer Stellungnahme zur "circolare di Padova", der Begründungsurkunde der "germanistischen" 20 Vgl. La Societa di Adamo Smith, e Ja circolare di Padova, in: L' Economista I, 2. Bd., 1874, S . 563. Der Artikel, der anonym in diesem Sprachrohr des Liberalismus veröffentlicht wurde, wird FRANCESCO FERRARA zugeordnet.
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Schule, auf die merklichen Abweichungen der Italiener gegenüber den Theorien Wagners und Seheeis hin. Daß diese die "Wirksamkeit wirschaftlieber Grundgesetze" einräumten, sei die wichtigste davon 21 . In der Tat sprechen sich Lampertico, Cossa, Luzzatti und andere mehr oder weniger bekannte Vertreter des italienischen "Wirtschaftsgermanismus" stets für eine kluge Abwägung zwischen den Postulaten der klassischen Wirtschaftstheorie und den Lehren der historischen Schule aus. Sie suchen auf methodologischer Ebene die Vereinbarkeit von deduktiver und induktiver Methode zu beweisen und auf allgemein politischer Ebene herauszustellen, daß die Tätigkeit des Staates das individuelle Wirtschaften "unterstützt und ergänzt" und es nicht "stört oder tyrannisiert" (so Giuseppe Ricca-Salemo) 22 • Geht es ihnen darum, die Theorien Smiths unter dem Gesichtspunkt des "sozialen und historischen Elements" 23 Roschers, Knies', Brentanos und Schäffles neu aufzuarbeiten, so soll dieses Element die Objektivität und die Methode der zeitgenössischen Volkswirtschaftslehre in keiner Weise in Frage stellen, sondern sie vielmehr ergänzen. Die Vorliebe für einen "Mittelweg" zwischen den methodologischen und politischen Extremen setzt sich bald in weiten Kreisen der liberalen politischen Kultur Italiens durch und wird dabei zu einem Synonym für Wissenschaftlichkeit. Ausgehend vom Methodenstreit schlagen Boccardo und Brunialti in den Einführungen zu den Bänden ihrer "biblioteche" den "rationalen Eklektizismus" und den "Experimentalismus" als mögliche Vermittlungswege zwischen methodischen Positionen vor, die zwar aprioristisch weit voneinander entfernt, aber auf der Grundlage einer Bestandsaufnahme der politisch-sozialen "Tatsachen" miteinander vereinbar seien. Der Verlauf "vernünftiger Reformen", den die Wissenschaften vorgeben, führt demnach in Italien über eine genaue Abwägung unterschiedlicher methodologischer Prinzipien.
21 Ebd., S. 562. Im Anhang desselben Artikels (vgl. S. 564) wird Bezug genommen auf den Text des "circolare di Padova". 22 Vgl. G. RICCA-SALERNO: Rezension von Lampertico, Economia dei popoli e degli Stati, in: Archivio giuridico XIV, 1875, S. 683 ff. 23 Im hundertjährigen Verlauf der Veröffentlichung des Smithschen Werkes versuchen einige Exponenten des "Germaniso economico" diesen Weg zu gehen (vgl. z. B. G. RICCA-SALERNO: L' economia politica di Adamo Smith, in: Archivio giuridico, XVII, 1876, S. 301-320).
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Der Eklektizismus, der den sogenannten italienischen "Kathedersozialisten" von ihren Gegnern vorgeworfen wird (jene weisen die Bezeichnung jedoch stets zurück und nennen sich vielmehr "Experimentalisten") wird in ihren Augen zu einem Synonym für "Realismus". So ist es nicht ohne Bedeutung, daß ein Autor wie Luigi Luzzatti, Hauptvertreter des italienischen "Germanismus" und des eklektizistisch-experimentalistischen Gesichtspunkts, aufgefordert wird, sowohl an der dritten Reihe der "Biblioteca dell'economista" als auch an der ersten Reihe der "Biblioteca di scienze politiche" mitzuwirken. Für die "Biblioteca dell'economista" schreibt Luzzatti eine Einleitung zu Roschers im ersten Band erscheinenden Werk, das den Titel trägt: "Guglielmo Roseher e Ia economia poIitica" (das Datum dieser Schrift lautet: Padua, 30 April 1875). Für die "Biblioteca di scienze politiche" schreibt er etwa zehn Jahre später die "Prefazione a G. Cornewall Lewis" (Vorwort zu G. Cornewa/1 Lewis), dessen Werk "Welches ist die beste Regierungsform" (Qual e Ia miglior forma di governo?) Brunalti im zweiten Band seiner Reihe veröffentlicht24 • Diese beiden Schriften nehmen sich zusammen tatsächlich als regelrechte Manifeste des italienischen Weges zur historischen Schule aus. Luzzatti selbt warnt vor der "Verherrlichung der Vergangenheit", zu der manche Vertreter der historischen Schule vor allem im Bereich der Rechtsgeschichte neigen würden. Er hebt hervor, daß auch in Deutschland "die historische Schule sich auf dem Gebiet der Volkswirtschaftslehre mäßigender ausgewirkt hat als auf dem des Rechts", und bezeichnet im Anschluß daran als "derzeitge Aufgabe der Wissenschaft, die Schaffung eines "rationalen Eklektizismus", der imstande ist, "die idealen, unmittelbaren Linien der theoretischen Prinzipien" mit den "Schwankungen der historisch erforschten Wirklichkeit" zu verbinden 25 . Der vorsichtigen Abwägung zwischen theoretischen Gesetzen und historisch erforschten alten oder neuen "Tatsachen" steht in der "Prefazione a G. Cornewall Lewis" die Überzeugung gegenüber, daß eine Politik und eine politische Wissenschaft nottun, die ein für allemal von abstrakt-hypothetischen Schemata Abstand nehmen. Denn es gelte, "für das italienische Vaterland eine maßvollere und leidenschaftslosere Generation von Politikern heranzubilden, als es die 24 Vgl. Anhang I und Anhang II. 25 L. LUZZATTI: Gugliemo Roseher e Ia economia politica, in: Biblioteca dell' economista, Torino 1876, 8. Aufl., Bd. I, S. 548.
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unsere ist"26 . Die Bescheidenheit erscheint als die wahre Tugend des Politikers, der der Wissenschaft und ihren realistischen Zielen folgt und nicht einem vollkommenen, aber nicht existierenden Idealstaat nachjagt. Indem er eine Synthese zieht aus Liberalismus und Konservatismus, aus Freiheit und Ordnung und dabei an dem Ziel sozialer Reformen festhält, erkennt er der Wissenschaft die Fähigkeit zu, die gefürchteten methodologischen und ideologischen Extrempositionen aufzuheben: der von ihm vertretene "rationale Eklektizismus" ist bei diesem Verfahren entscheidend. Die für den italienischen "Wirtschaftsgermanismus" typische synkretische Spannung bestimmt die beiden großen Verlagsinitiativen "Biblioteca dell'economista und "Biblioteca di scienze politiche". Der Herausgeber der "Biblioteca di scienze politiche", Brunialti, spricht diese Eigenschaft sogar dem "modernen italienischen Genius" zu. Wenngleich "dem deutschen an Tiefe der Spekulation und dem englischen an praktischem und positiven Sinn unterlegen", zeichne er sich dennoch durch jenen von den Römern ererbten "Sinn der Proportion und des Maßes" aus, der ihn dazu führe, "das Ideale und das Reale miteinander zu vergleichen, und ihnen ihren Anteil an der Spekulation und an der positiven Beobachtung zuzumessen" 27• Dank der unmittelbaren Vertreter dieser "Schule" und im Zuge der allgemeinverbreiteten Bildung der Zeit kommt in der Auseinandersetzung über den "Germanismus" im italienischen Raum jene Kunst der Vermittlung zum Tragen, den der Liberalismus des späten 19. Jahrhunderts als Maßstab des Realismus sowohl im politischen und sozialen Bereich als auch auf dem neutralen Boden der Wissenschaften für sich in Anspruch nimmt. Zwar behält das Deutschland-Modell in der Methodenfrage, bei der Durchsetzuns der neuen politisch-sozialen Wissenschaften sowie im Zusammenhang mit den konkreten Verwaltungs- und Sozialgesetzgebungsstrategien seine ganze Bedeutung. Aber dennoch werden die italienischen Liberalen der Verwaltungsära nicht müde darauf hinzuweisen, daß der "Fall Italien" nicht auf das deutsche oder andere fremde Modelle reduziert werden könne. Parallel zum "Germanismus" führt auch die (vor allem hinsichtlich des sei/ government und der Sozialgesetzgebung) in den Bit26 L. LUZZATTI: Prefazione a Cornewall Lewis, in: Biblioteca di scienze politiche, Torino 1886, Bd. II, S. 8. 27 A . BRUNIALTI, (Fn. 14), S. 6-4.
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dungs- und Regierungskreisen stark verbreitete Anglophilie keineswegs zu der Ansicht, die englische Sozial- und Verwaltungsordnung könne auf Italien übertragen werden. Die von vielen Seiten unterstrichene "Unreife" Italiens im Vergleich zu anderen "zivilisierteren" europäischen Gebieten wird gleichbedeutend mit der Aufforderung, sich mit den einzelnen einheimischen Problemen auseinanderzusetzen (nicht zufällig sprechen viele im Plural von Verwaltungs- und Sozial/ragen). Gerade die wissenschaftliche Gegenüberstellung zwischen vorsichtig untereinander abgewogenen Bildungsmodellen und Eingriffsstrategien auf der einen Seite und den einzelnen Teilgebieten der vorhin erwähnten "Fragen" auf der anderen, scheint oftmals ein höheres Maß an Realpolitik zu verbürgen. 3. Der "praktische gesunde Menschenverstand": Der Digesto itaUano und die Enciclopedia giuridica italiana
Die Grundsätze der "Biblioteche" Boccardos und Brunialtis beherrschen auch zwei weitere große Verlagsunternehmungen, die, 1884 ins Leben gerufen, neben dem Politischen und dem Ökonomischen als drittes große Zentralgebiet der liberalen Intelligenz, das Juristische zu systematisieren suchen. Es handelt sich um "11 Digesto italiano" (veröffentlcht von der Unione Tipografica Editrice Torinese) und um die "Encilopedia giuridica italiana" (veröffentlicht von Vallardi) 28 . Die Tatsache, daß beide Verlagsunternehmen 1884, zeitlich genau parallel zur "Biblioteca di scienze politiche", einsetzen und noch dazu von demselben Verlag betrieben werden, und daß der Verlag des "Digesto italiano" gleichzeitig die "Biblioteca di scienze politiche" und die "Biblioteca dell'economista" veröffentlicht, zeigt schon rein äußerlich, daß die verschiedenen Verlagsobjekte miteinander zusammenhängen. Ein Systematisierungs- und Verwis28 Die kompletten Titel lauten wie folgt: II Digeato italiano. Enddopedia metodica e alfabetica di legislazione, dottrina e giurisprudenza, diritto dvile, c:ommerdale, penale, giudiziario, costituzionale, amministrativo, internazionale, pubblic:o e privato, ec:desiastico, militare, marittimo. Storia del diritto. Diritto romano. Legislazione c:omparata compilata da distinti giureconsulti italiani. Enddopedia giuridica italiana. Esposizione ordinata e completa dello stato e degli ultimi progressi della sdenza, della legislazione e della giurisprudenza, del diritto dvile, c:ommerdale, penale, pubblic:o, giudiziario, costituzionale, amministrativo, internazionale, ec:c:lesiastico, economic:o, per opera di una Sodeta di Giurec:onsulti italiani.
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senschaftlichungsprozeß wird greifbar, der quer durch die einzelnen Fächer verläuft und sich unmittelbar auf die einheimische politische, wirtschaftliche und soziale Realität zu beziehen versucht. In der kurzen Einleitung zum ersten Band der "Enciclopedia giuridica italiana" erklärt der Herausgeber Pasquale Stanislao Mancini, sie solle "eine Lücke in der italienischen Bibliothek schließen und die Rechtskultur der Nation erweitern im Sinne der neuen Zeit und der rationalen Entwicklungen, die überall in der zivilisierten Welt in der Gesetzgebung und im Gesellschaftsleben Platz greifen". Da es in Italien keine "Enciclopedia giuridica" gebe, seien die Richter und Juristen "gezwungen, auf ausländische Repertoires zurückzugreifen, in denen die Geschichte und die Bildungslehren anderer Länder vorherrschen". Es beschwöre großen Schaden herauf, so Mancini, "unseren Intellekt einer fremden und damit nutzlosen oder falschen Bildung zu unterziehen", da "die Gesetze und die Institutionen eines jeden Volkes Produkte seiner Geschichte, seiner Bedürfnisse, der herrschenden Vorstellungen sind, die ihn bei den wissenschaftlichen Untersuchungen und in der Lebenspraxis leiten" 29 . Die "Vertreter der Rechtsdisziplinen", so Mancini weiter, sind heute mehr denn je mit "einer großen sozialen Mission" betraut. Sie bestehe darin, von der Vergangenheit zu bewahren, "was verdient zu überleben" und es "mit den neuen Wahrheiten zu verbinden, die siegreich ihr Bürgerrecht in der wissenschaftlichen Welt fordern". Im Zuge der im italienischen Methodenstreit hervorgetretenen Mittelweg-Lehren schlägt Mancini darüber hinaus für seine "Enciclopedia giuridica" eine Synthese von Theorie und Praxis, von "rationalen Wahrheiten" und Geschichte vor, deren Elemente er näher beschreibt. Die folgenden Bemerkungen könnten in der Tat ebenso die an der eklektizistisch -experimentalen Version des italienischen Methodenstreits aufgewiesene synkretische Spannung abstützen: "Un' Enciclopedia giuridica non risponderebbe al suo fine, e sarebbe incompleta, se le sue lucubrazioni, librandosi in alto, non contenessero ehe astratte investigazioni speculative e teoriche, ovvero si aggirassero impotenti nelle umili regioni della pratica senza invocare Ia luce delle verita razionali ed i confronti della storia per illuminarla e dirigerla." 30
29 P. S. MANCINI: Einleitung der Enddopedia giuridica, Milano 1884, Bd. I, S . I. 30 Ebd., S. III.
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Für die Verlagsgesellschaft des "Digesto italiano" verweist deren Leiter Luigi Moriondo (ebenso wie Mancini für die "Enciclopedia giuridica") auf die "Begriffe" und den "Zweck" dieser Veröffentlichung. Dabei hebt er nicht nur den Nutzen hervor, den die Nation insgesamt und darüber hinaus die Vertreter der Rechtswissenschaften, die Verwalter, die Beamten und die privaten Bürger aus dem "Digesto" ziehen könnten. Er begründet die Verlagsunternehmung vor allem unter Hinweis auf die jüngsten verfassungsgeschichtlichen Entwicklungen nach der nationalen Einigung und auf die Grundzüge der italienischen Verfassung mit ihren Vorzügen und Schwachpunkten. Positiv bewertet er "jenen praktischen Sinn der freien Institutionen, der unser Land kennzeichnet" sowie die "Reformen, die die Zeit und die sozialen Verhältnisse erfordern". Sie werden in Italien im Bereich des öffentlichen Rechts "und nicht unter dem bedroh1ichen Druck tumultartiger Forderungen der Straße" durchgeführt31 . Die Grundsätze des "Digesto" und der "Enciclopedia giuridica" stimmen demnach in hohem Maße mit den methodologischen Prinzipien der ersten Reihe der "Biblioteca di scienze politiche" und der dritten Reihe der "Biblioteca dell' economista" überein. Diese Kriterien werden von der italienischen liberalen Intelligenz der siebziger und achtziger Jahre im Zuge der methodologischfachlichen Auseinandersetzung auf höchster Ebene wie auch durch die Organe der Öffentlichkeitsarbeit (Zeitschriften eingeschlossen) immer wieder herausgestellt. Der zu den Extrempositionen der verschiedenen Schulen Abstand haltende "Mittelweg" oder der auf der Grundlage unmittelbar lösungsbedürftiger "Tatsachen" vorsichtig abwägende "praktische Sinn" kennzeichnen das Bild einer "italienischen Wissenschaft"32 , die vor einer Vermischung unterschiedlicher methodologischer Ansätze nicht zurückschreckt. 31 L. MORIONDO: La Societä editrice ai benevoli assoc:iati, in: Il Digesto italiano, Torino 1884, Bd. I, S. X. 32 Über die Perspektive einer "italienischen Wissenschaft" im juristischen Bereich vgl. P. BENEDUCE: Il "giusto" metodo di Emanuele Gianturco. Manuali e generi letterari alle origini della "ac:ienza italiana", in: A. MAZZACANE (Hg.): L' esperienza giuridica di Emanuele Gianturco, Napoli 1987, S. 297-364. Über die "sc:ienza italiana" in den Politik- und Sozialwissenschaften in Italien und in den Projekten zu einer Universitätsreform vgl. R . GHERARDI: L' Italia dei compromessi. Politic:a e ac:ienza nell' eta della Sinistra, in: P . SCHIERA/F. TENBRUCK (Hg.): Gustav Schmoller e il suo tempo: Ia nasc:ita delle sc:ienze aoc:iali in Germania e in Italia, Bologna-Berlin 1989.
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Obgleich die Italiener weiterhin in der deutschen Wissenschaft die Wissenschaft "par excellence" verkörpert sehen, werfen sie ihr vor, nicht praxisverbunden zu sein. Sie halte vielmehr an der Vorstellung der Wissenschaft als Selbstzweck fest und sei damit von der Synthese zwischen wissenschaftlicher Forschung und politischer Praxis, zwischen Wissenschaft und Staatsklugheit, weit entfernt. In seinem Ende der neunziger Jahre, nach Abschluß des Methodenstreits zwischen "Germanisten" und Freihändlern für die "Enciclopedia giuridica italiana" verfaßten Artikel "economia politica" beschreibt Filippo Virgi/i die Volkswirtschaftlehre als eine Wissenschaft, die ihre Gesetze nicht nur aus "logischen Schlüssen", sondern auch aus dem "praktischen Leben" und dem "gesunden praktischen Menschenverstand" gewinne 33 • "Die Bedeutung der Volkswirtschaftlehre - unterstreicht Virgili - erhellt sowohl aus ihrer wissenschaftlichen als auch aus ihrer praktischen Zielsetzung: es handelt sich deshalb um eine doppelte Bedeutung, eine wissenschaftliche und eine praktische"34 • Andere wichtige Artikel der "Enciclopedia giuridica" und des "Digesto" (so z.B. die in beiden Werken vorkommenden Artikel über Verwaltungslehre und Finanzwissenschaft) sind durch den Versuch bestimmt, nicht nur das Grundmuster der verschiedenen politisch-sozialen Wissenschaften herauszuarbeiten, sondern diese auch im Rahmen der italienischen Verfassungsrealität und ihrer spezifischen Erfordernisse umzusetzen. Guido Capitani im "Digesto" und Biagio Brugi in der "Enciclopedia giuridica" weisen übereinstimmend auf die deutschen Ursprünge der Verwaltungslehre hin. Gleichzeitig aber fragen sie, warum diese von Anfang an "in einem Land wie dem unseren, das an das Studium des französischen Verwaltungsrechts gewöhnt war, Verdacht erregt hat" (Capitani), sowie nach den organischen Versuchen, diese Wissenschaft35 mit Hilfe einer gründlichen Bestandsaufnahme 33 Vgl. F. VIRGILI: Eeonomia politiea, in: Enddopedia giuridica italiana, Bd. V, Teil I, S. 30: "Le leggi dell' eeonomia politiea sono dovute alla vita pratiea, al buon senso, al ragionamento logieo: potrebbero quindi, eontenere errori ehe Ia pratica, il buon senso, Ia logiea non sono riusdti a seoprire, e ehe Ia matematica sola puö rilevare e eorreggere." 34 Ebd., S. 32. 35 Vgl. G. CAPITANI: Sdenr.a dell' amministrar.ione, in: II Digesto italiano, Torino 1891, Bd. XXI, Teil I, S. 796; B. BRUGI: Amminietrar.ione (Sdenr.a dell'), in: Enddopedia giuridica, Milano 1892, Bd. I, Teil 2, S. 1991.
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unserer einheimischen "sozialen Probleme" zu "einer Bürgerin Italiens" (Brugi) zu machen. Da die praxisorientierte italienische Wissenschaft sowohl die rein theoretischen Prinzipien als auch den Empirismus verwirft, unterscheiden sich die im Sinne des "gesunden praktischen Menschenverstandes" abgewandelten Bildungsmodelle und "Schulen" in der italienischen Version erheblich von ihren ursprünglichen Mustern. Der (1926 im zehnten Band veröffentlichte) Artikel "economia politica" des "Digesto" rechnet denn auch Fede/e Lampertico, einen der seinerzeit von Ferrara angegriffenen führenden Vertreter des "Wirtschaftsgermanismus" keineswegs zur historischen Schule. Der Autor bringt vielmehr Lampertico mit der "Erneuerung der italienischen Volkswirtschaftslehre" in Zusammenhang. Das Hauptverdienst seines "Trattato di Economia dei Popoli e degli Stati" (das Werk war in den Jahren des Methodenstreits als Manifest des "Germanismus" angesehen worden) bestehe vielmehr in der gelungenen Verbindung "der englischen klassischen Theorien mit den Ergebnissen der deutschen Wissenschaft"36 . 4. Schlußbemerkungen
Trotz der vorsichtigen Distanzierung vom integrierten System der deutschen Wissenschaft und vom schlüssigsten methodologischen Theorien deutschen Ursprungs bleibt das Deutschland-Modell die entscheidende Bezugsgröße für das von dem italienischen Liberalismus des späten 19. Jahrhunderts propagierte Ideal einer wissenschaftlichen "Realpolitik". Unter dem Gesichtspunkt der damals vordringlichen Verwaltungs- und sozialen Frage verkörpert sie in ihren Grundzügen eine sachfragenbezogene Wissenschaft, die im Gegensatz steht zu den abstrakten Denkmodellen französischen Ursprungs, die in den Augen der italienischen Liberalen plötzliche Umwälzungen und politische Instabilität nach sich ziehen. Jenseits aller Neubewertunsversuche bleibt die seit ihren Ursprüngen der "pars administrativa" des Politischen37 zugewandte deutsche Staatsverwal36 A . G.: Economia politica, in: II Digesto italiano, Torino 1926, Bd. X, S. 58. 37 In diesem Zusammenhang stellt die Wiederentdeckung des deutschen KammeraHamus durch italienische Liberale keinen Zufall dar, vielmehr erhellen sie mit des-
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tungslehre die notwendige Bezugsebene des liberalen Italien, das in die "Zeit der Prosa" eingetreten ist und im Zuge einer entschiedenen Konkretisierung der Forschungsinteressen auf die totalisierenden theoretischen Konstruktionen verzichten möchte.
Dementsprechend stellt sich das Ziel eines Bündnisses zwischen unterschiedlichen politischen Kräften (die Vertreter des trasformismo beschwören denn auch die Sachlichkeit der Zielsetzungen als neutrales Feld der Verständigung zwischen unterschiedlichen politischen Gruppierungen). Der "Digestio italiano" mißt der als deutsche Wissenschaft par excellence verstandenen Verwaltungslehre "große praktische Bedeutung bei", so "vor allem in Hinblick auf die Lösung der modernen sozialen Probleme"38 . Darüber hinaus rezensieren die italienischen Zeitschriften zahlreiche Arbeiten der "jüngeren historischen Schule", die sich in ihren Augen durch "sorgfälti~e , umfangreiche und detailreiche" Untersuchungen auszeichnen 9 • Diese Beispiele belegen deutlich, daß in Italien vornehmlich die deutschen "Vorgaben" und "Untersuchungen" herangezogen werden. Im Zeichen einer Politik der "Tatsachen" und des Ausgleichs der Tatsachen scheinen diese Vorgaben und Untersuchungen im Spannungsfeld des Politischen eine neutralisierende Wirkung zu verbürgen.
Anhang I - "Biblioteca dell'economista"
Dritte Reihe: Sammlung der bedeutendsten italienischen und ausländischen Werke der Wirtschaftspolitik. Torino, UTET, 1876 - 1892, 15 Bände Direktor: Gerolamo Boccardo
Vol. I, 1876: G. Boccardo, Introduzione generale. V economia politica odierna come scienza e come ordinamento sociale. S. Cognetti de Martiis, Introduzione al Walker. sen Hilfe letztlich die besondere Bedeutunng der administrativen und finanziellen Ordnungsproblematik des Staates. 38 G. CAPITANI, (Fn. 35), S. 796. 39 So z. B. RICCA-SALERNO: La nuova Scuola Storica dell' economia politica, in: Rassegna settimanale, Bd. 4, 1879, S. 344- 346.
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A. Walker, Scienza della ricchezza. Manuale di economia politica. L. Luzzatti, Guglielmo Roseher e 1' economia politica. G. Roseher, Economia dell' agricoltura e delle materie prime. Vol. II, 1878: G. Boccardo, Prefazione. Dell' applicazione dei metodi quantitativi alle scienze economiche, statistiche e sociali. W. Whewell, Esposizione matematica di alcune dottrine di economia politica. A. Coumot, Principii matematici della teorica delle ricchezze. W. Stanley Jevons, La teorica dell' economia politica. A. Quetelet, Fisica sociale ossia svolgimento delle facolta dell' uomo. A. Quetelet, Antropometria o misura delle differenti facolta dell' uomo. L. Walras, Teoria matematica della ricchezza sociale. Vol. 111, 1877: G. Boccardo, Prefazione. I principii filosofici dell' economia politica. E. D. Macleod, I principii di filosofia economica. Vol. IV, 1878: G. Boccardo, Prefazione. Del metodo e dei limiti dell' economia politica. J. E. Caimes, Aleuni principii fondamentali di economia politica. J. E. Caimes, Saggi di economia politica teoretica ed applicata. G. Stuart Mil/, Saggi sopra alcune questioni non ancora risolute di economia politica. Vol. V, 1879: G. Boccardo, Prefazione. 11 dottor Schäffle ed il problema economico e sociale in Germania. A. E. F. Schäffle, 11 sistema sociale dell' economia umana. Vol. VI, 1879: G. Boccardo, Prefazione. Credito e banche. E. Dunning M acleod, La teoria e la pratica delle banche. A. Gare/li, Le banche. Vol. VII, parte I, 1881: G. Boccardo, Introduzione. L' animale e 1' uomo. Fondamenti dottrinali e metodici della moderna sociologia neUe sue
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relazioni con 1e scienze bio1ogiche, economiche e statistiche. Schäffle, Struttura de1 corpo socia1e. Vol. VII, parte II, 1881: Schäffle, Struttura de1 corpo socia1e. Vol. VIII, parte I, 1881: G. Boccardo, Prefazione. La socio1ogia nella storia, nella scienza, nella religione e nel cosmo. H. Spencer, Principii di socio1ogia. Vol. VIII, parte II, 1887: H. S pencer, Principii di socio1ogia. Vol. IX, parte I, 1882: G. Boccardo, Prefazione. Gli eretici dell' economia e Ia legis1azione socia1e. R. Owen, 11 libro de1 nuovo mondo mora1e. P. G. Proudhon, Sistema delle contraddizioni economiche o fi1osofia della miseria. F. Lassalle, 11 signor Bastiat/Schu1ze De1itzsch ossia capita1e e 1avoro. Vol. IX, parte II, 1886:
C. Marx, 11 capita1e: critica dell' economia politica. L. Jakoby, L' idea della evo1uzione. Conferenza fi1osofico-socia1e.
N. Tcernicewsky, Osservazioni critiche su ta1une dottrine economiche di G. Stuart Mill.
Vol. IX, parte III, 1891: S. Cognetti de Martiis, 11 socia1ismo negli Stati Uniti d' America. H. George, Progresso e poverta. E. Schul=e-Delitzsch, Catechismo dell' operaio. Vol. X, parte I, 1887: G. Boccardo, Prefazione. I principii della scienza e dell' arte delle finanze. P. Leroy-Beaulieu, Trattato della scienza delle finanze. Vol. X, parte II, I 89 I: A. Wagner, La scienza delle finanze. Voll. XI - XV:
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Manuale di economia politica, diretto da G. Schönberg. Vol. XI, 1886: G. Schönberg, La economia sociale. E. Scheel, Storia dell' economia po1itica. E. Scheel, Socialismo e comunismo. F. G. Neumann, I concetti fondamentali dell' economia socia1e. F. Kleinwaechter, La produzione economico-sociale in generale. F. G. Neumann, La formazione dei prezzi. E. Nasse, Delta moneta. A. Wagner, Del credito e delle banche. E. Sax, Dei trasporti e delle comunicazioni. L. Jo/ly, Pesi e misure. T. Mithof, La ripartizione economico-sociale. G. Lexis, Il consumo economico-sociale. Vol. XII, parte I, 1886:
T. Go/tz, Agricoltura, parte I. A. Meitzen, Agricoltura, parte II. G. A. R. Helferich, Economia forestale.
B. Benech, Pesca. G. Schönberg, Industria, parte I.
Vol. XII, parte II, 1887: Appendice contenente le principali aggiunte e modificazioni introdotte nella seconda edizione tedesca. Vol. XIII, 1889:
L. Brentano, Industria, parte II. La questione operaia.
G. Schönberg, Industria, parte II. La questione degli operai delle industrie. B. Klostermann, Industria, parte 111. Tuteta dei diritti d' autore industriali. G. Lexis, Commercio. A. Wagner, Le assicurazioni. G. Rümelin, Teoria della popolazione. F. E. Geffcken, Politica della popolazione, emigrazione, colonie.
Vol. XIV, parte I, 1889: F. E. Geffcken, Essenza, compiti e storia della scienza delle finanze. F. E. Geffcken, Le spese di Stato pubbliche. E. Scheel, Le entrate acquisizionali dello Stato. C. F. Schall, Le tasse.
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G. A. R. Helferich, Teoria generate dell' imposta. A. Wagner, Teoria speciale delle im poste.
Vol. XIV, parte II, 1892:
C. F. Schall, Le imposte sui "consumi" o sulla "spesa".
C. V. Riecke, Le dogane e 1' imposta sugli zuccheri. C. F. Schall, Le imposte sugli affari e sulle successioni. A. Wagner, Ordinamento della economia finanziaria e credito pubblico. F. Reitzenstein, Finanze locali. Vol. XV, 1892: G. Meyer, Concetti fondamentali, essenza e compito della scienza dell'amministrazione. G. Rümelin, Statistica. G. Meyer, Organizzazione degli uffici dell' amministrazione in terna. M. Seydel, Polizia di sicurezza. L. Jolly, Polizia sanitaria. E. Löning, Assistenza pubblica. E. Löning, Polizia dei costumi. L. Jolly, Istruzione pubblica. Anhang II - "Biblioteca di scienza politiche"
Erste Reihe: Ausgesuchte Sammlung der wichtigsten modernen italienischen und ausländischen Werke der Politikwissenschaft Torino, UTET, 1884 - 1892, 8 Bände Direktor: Attilio Brunialti
Vol. I, parte I, 1884: A. Brunialti, lntroduzione generale. Le scienze politiche nello Stato moderno. A. Brunialti, lntroduzione alle opere di Tommaso Erskine May ed A. De Tocqueville. T. Erskine May, La democrazia in Europa. Vol. I, parte II, 1884: A. De Tocqueville, La democrazia in America. Vol. II, 1886: A. Brunialti, Prefazione. Le forme di governo.
R. Gherardi, Methodenstreit
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L. Luzzatti, Prefazione a G. Cornewall. G. Cornewa/1 Lewis, Qual e Ia miglior forma di governo ? E. De Parieu, Principii della scienza politica. /. Passy, Delle forme di governo e delle leggi ehe le regolano. G. W. Hosmer, II popolo e Ia politica ovvero Ia struttura degli Stati ed il significato e le relazioni delle forme politiche. E. De Laveleye, Le forme di governo nelle societa moderne. J. Stuart Mill, II governo rappresentativo. R. Calamandrei, Monarchia e repubblica rappresentative. Vol. 111, 1886: A. Brunialti, Prefazione. II governo parlamentare in Inghilterra ed in Italia. A. Todd, II governo parlamentare in lnghilterra. Sua origine, svolgimento ed azione pratica. Vol. IV, parte I, 1888: A. Brunialti, Prefazione. La legge nello Stato moderno. T. Erskine May, Leggi, privilegi, procedura e consuetudini del Parlamento inglese. Vol. IV, parte II, 1888: G. Poudra/ E. Pierre, Trattato pratico di diritto parlamentare. G. Benthamj S. Dumont, La tattica parlamentare. Vol. V, 1890: A. Brunialti, Prefazione. La liberta nello Stato moderno. G. Stuart Mi/1, La Iiberta. F. Lieber, La liberta civile e I' autogoverno. F. C. Montague, I Iimiti della Iiberta individuale. C. Montalcini, L' istituzione regia e Ia responsabilita ministeriale come guarentigia di Iiberta civile e politica. V. E. Orlando, Teoria giuridica delle guarentigie della 1iberta. Vol. VI, parte I, 1891: A. Brunialti, Prefazione. Unioni e combinazioni fra gli Stati. Gli Stati composti e lo Stato federale. S. Sterne, Storia costituzionale e sviluppo politico degli Stati Uniti. 0. Davis/E. Boutmy/G. E. Gladstone/ E. Summer-Maine, Le istituzioni politiche degli Stati Uniti d' America. T. M. Cooley, Principii generali di diritto costituzionale negli Stati Uniti d' America.
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C. Jannet, Le istituzioni politiche e sociali degli Stati Uniti d' America. Le costituzioni degli Stati Uniti d' America. Testi e commenti. Vol. VI, parte II, 1890: A. E. Cherbuliez, La democrazia nella Svizzera. J. Dubs, II diritto pubblico della Confederazione Svizzera. Le costituzioni della Confederazione Svizzera. Testi e commenti. Vol. VII, 1891: A. Brunialti, Prefazione. Lo Stato moderno. E. A. Freeman, Lo Stato federale. S. Brie, La storia dello Stato federale. 0. Bähr, Lo Stato giuridico (Der Rechtsstaat). R. Schiattarella, La missione dello Stato nella storia. Prefazione a Ahrens. E. Ahrens, Dottrina generate dello Stato. G. D. Humboldt, Saggio sui limiti dell' azione dello Stato. E. Laboulaye, Lo Stato e i suoi limiti. P. Leroy-Beaulieu, Lo Stato moderno e i suoi uffici. !. Artom, Introduzione a Gneist. R. Gneist, Lo Stato secondo il diritto ossia la giustizia nell' amministrazione politica. C. Artom, Prefazione a Krieken. A. van Krieken, Della cosidetta teoria organica dello Stato. Contributo allastoria del concetto dello Stato. Vol. VIII, 1892: A. Brunialti, Lo Stato e Ia Chiesa in Italia. F. Laurent, La Chiesa e lo Stato dopo la rivoluzione francese. A. Nyssens, La Chiesa e lo Stato nella costituzione belga. F. Schaff, Chiesa e Stato negli Stati Uniti ovvero I' idea americana della liberta religiosa ed i suoi effetti pratici. W. C. Knitschky, Stato e Chiesa. P. Hinschius, Esposizione generate delle relazioni fra lo Stato e Ia Chiesa. L. De Hammerstein, Chiesa e Stato coniderati giuridicamente. G. Simon, La liberta di coscienza.
"Germanisme, Ia terrible accusation". Fremde Lehrsysteme und Argumentationsweisen in der italienischen Privatrechtswissenschaft während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Von Pasquale Beneduce
1. "Imitation" und "Assimilierung" - Die Entwicklungsformen der nationalen Rechtskultur Italiens? Im Jahre 1939 legte der Privatrechtier Francesco Ferrara eine zuverlässige Bestandsaufnahme über die Entwicklung des Privatrechts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 1 vor. Denn obgleich diese Disziplin unbestritten an der Spitze der italienischen Rechtswissenschaften des vorigen Jahrhunderts stand, war sie in ihrer inneren Entwicklung doch kaum bekannt. Ferraras Periodisierung und Charakterisierung des Fachs fand sich bereits 1911 bei Rocco vorgenommen und war zum Teil bereits in den Quellen Ende des 19. Jahrhunderts vorgezeichnet. Dieser Entwurf sollte das Denken der Juristen beinahe bis in unsere Tage hinein beherrschen2 . Nach der Abkehr von der Imitation der exegetischen Vorgehensweise französischen Ursprungs, wie sie in den frühen Kommentaren zum Zivilgesetzbuch hervortrat, hatte sich in der Zeit nach der nationalen Einigung die Assimilierung der
1 Zur Vereinheitlichung des Privatrechts in Italien vgl. P. UNGARI: L'eta del codice civile. Lotta per Ia codificazione e scuole di giurisprudenza nel Risorgimento, Napoli 1967; C. GHISALBERTI: La codificazione del diritto in Italia 1865-1942, Bari 1985, mit weiterer Literatur. 2 F. FERRARA: Un secolo di vita del diritto civile (1839-1939), in: Scritti giuridici, 111, Milano 1954, S. 273- 293; A. ROCCO: La scienza del diritto privato in Italia negli ultimi cinquant'anni, in: Rivista di diritto commerciale, I, 1911, S. 285-304; N. STOLFI: Diritto civile, I, Torino 1919, S. 1-80.
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systematischen Methode der Pandektistik durchgesetzt, die zur Bildung einer nationalen wissenschaftlichen Schule führte. So schrieb Ferrara: "Die rechtswissenschaftliehen Studien erfuhren erst dann eine neue Blüte, als die politische Unabhängigkeit erreicht und das Königreich Italien begründet worden war. Aber auch hierbei galt es, einen langen Weg zu beschreiten, der der Vorbereitung bedurfte. Es konnte nicht geerntet werden, bevor ... geaät worden war. Nach der politischen Einheit war die Vereinheitlichung der Gesetzgebung die dringendste Aufgabe. Denn es war eine allgemein empfundene Notwendigkeit, die Ungleichheit der Gesetze aufzuheben, die zwischen Völkern bestand, die nunmehr alle zur groBen italienischen Familie gehörten ... am 26. Juni 1866 wurde der neue Codice civile für das Königreich Italien veröffentlicht, der am 1. Januar des darauffolgenden Jahres in Kraft trat. Dieser Codice gibt im wesentlichen den französischen Code wieder; die italienische Rechtswissenschaft ist deshalb seit ihrem Entstehen eng mit der französischen verbunden. So ist die erste Phase der Rechtsanwendung in Italien durch eine engherzige Unterwürfigkeit gegenüber der französischen Lehre und Jurisprudenz gekennzeichnet ... diese Art von Rechtsauslegung hat einen populären, kasuistischen Charakter, der ohne Methode ist und gegenüber neuen Fragen zu groBen Ungereimtheiten und Unsicherheiten Anlaß gibt ... Die italienische Lehre und Jurisprudenz beschränkt sich darauf, jene Modelle r:u reflektieren. Die Werke Demolombes, Troplongs, Larombieres und Laurents finden sich in den Händen aller Rechtsanwälte, es werden Übersetzungen und Nachahmungen jener Werke angefertigt, und die ersten Traktate r:um Codice civile sind Reproduktionen, Gegenüberstellungen, Anmerkungen und Zusammenfassungen des französischen Rechts; ohne dabei den in Text und Formeln bestehenden Unterschieden zwischen den beiden Gesetzbüchern Rechnung zu tragen. Daraus ergeben sich falsche Interpretationen und Mißverständnisse ... In diesem Zustand der Isolierung und Unbildung treten auf einmal wache und aufgeklärte Gelehrtengeister auf, die ausnahmsweise die Fortschritte der deutschen Wissenschaft kennen und das Bedürfnis haben, deren neue Methoden und Ergebnisse zu verbl'eiten. Denn der französisischen Lehre, die kasuistisch, analytisch, exegetisch ist, wird die deutsche Lehre gegenübergestellt, die spekulativ, abstrakt und konstruktiv ist. Die Untersuchungsmethode ist hier eine andere, denn es wird versucht, die allgemeinen Rechtsprinzipien zu gewinnen, die den besonderen Bestimmungen der Rechtsordnung ~:ugrundeliegen, auf die Leitlinien, die GrundzUge des Systems zurückzugehen und auf diese Weise zu einer Rechtskonstruktion zu gelangen: Abstraktion, Spekulation, Systematisierung ... der Jurist kann auf die systematische Methode nicht
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verzichten, denn sie ist Voraussetzung für die Entwicklung, die Entfaltung und den Fortachritt des Rechtsmaterials. Um eine Erneuerung des Rechtslebens und eine nationale der rechtswissenschaftliehen Studien zu erreichen, war die der fremden Rechtskultur Voraussetzung. Nunmehr ist die 1860 und 1890 vorrangig der Verbreitung und Assimilierung Lehre gewidmet• 8 .
Wiedergeburt Assimilierung Zeit zwischen der deutschen
Die "Methode" nahm somit eine zweideutige Stellung ein. Auf der einen Seite war sie Interpretationskategorie, mit deren Hilfe eine vorwissenschaftliche Periode "ohne Methode" des Fachs gekennzeichnet wurde. Auf der anderen Seite war sie mit dem privatrechtliehen Untersuchungsgegenstand selbst identisch. Auch auf diesem Wege entstand allmählich durch die Juristen des positiven Rechts selbst eine Rechtsgeschichte, die zu dem Gegenstand der Wissenschaft, zu der man sich bekannte, keinerlei Distanz hielt4 • Sicherlich beruhte die Überzeugungskraft dieser Interpretation auf tilteren Quellen, die in aller Deutlichkeit von dem unüberbrückbaren Gegensatz der beiden Methoden in Frankreich und Deutschland zeugten. So stellte Bemaert 1854 fest:"L'enseignement du droit se borne presque, en France, au droit positif, formet et materiel, tandis qu'en Allemagne le droit philosophique et l'histoire du droit occupent, dans les etudes, une ilace importante. On peut dire que Ia science du droit est morte en France. L'exception de commentaires des lois positives, il n'y a point paru depuis cinquante ans un ouvrage de droit important. Rien ou presque rien sur l'histoire du droit, sur Ia philosophie du droit, sur Ia legislation comparee, et c'est a peine si l'on s'apercoit seulement de ces vastes cunes ... Ia France n'a rien ä opposer a ce mouvement scientifique ... le droit est demeure sans base historique ni philosophique et l'on se borne ä une aride exegese" 6 • Derartige Ansichten, die dann später in der Historiographie zu Stereotypen geworden sind, können jedoch durch eine genauere Auswertung der Quellen differenziert werden. Gerade im Bereich 8 F. FERRARA, (Fn. 2), S. 276-277 (Übersetzung P. B .) 4 Zu diesen Aspekten im zeitgenössischen italienischen öffentlichen Recht vgl. G. CIANFEROTTI: II pensiero di Vittorio Emanuele Orlando e Ia giuspubblicista italiana tra otto e novecento, Milano 1980. 6 BEERNAERT: De 1'6tat de l'enseignement du droit en France et en Allemagne. Rapport address6 au Ministre de l'lnt6rieur, Bruxellea 1864, S. 68 ff.
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der scheinbar unbeweglichen Exegese - eine Kategorie, die in Wirklichkeit unterschiedliche Autoren und Richtungen vereint besteht ein Interesse für Deutschland und für eine Interpretation des code civil, die philosophisch vorgeht. Juristen wie Jourdan, Lerminier, Klimrath, Eschbach, Warnkönig, Blondeau und Zeitschriften wie "Themi", "Revue Wolowsky", "Revue critique de legislation", entdecken in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Savigny und Hugo und verbreiten in Frankreich die historische Methode und die deutsche rechtswissenschaftliche Literatur6 • Diese Autoren sahen sich bald der "terrible accusation de germanisme" gegenüber, d. h. der Anschuldigung, in Frankreich eine ecole allemande etablieren zu wollen. Die "Exegesegermanisten", die der italienischen Rechtswissenschaft der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sicherlich nicht unbekannt waren, blieben die Antwort jedoch nicht schuldig. Die gesamte deutsche Kulturgeschichte, von Luther bis Kant, von Goethe und Schiller bis Savigny, mußte herhalten, um die "aufregende" Entdeckung von Savignys Rechtsdenken durch Lerminier ins rechte Licht zu rücken:"Je ne revins pas de ma surprise:l'auteur distinguit le droit de Ia loi, parlait du droit d'une maniere passionnee; en faisant quelque chose de reel de vivant et de dramatique; puis dirigeait contre les legislations et les codes proprement dits de vehementes critiques. Quoi donc Ia legislation et le droit n'etaient donc pas meme chose! les cinq codes ne constituaient donc pas Ia Jurisprudence!"7•
6 Ober diesen Abschnitt der Exegese vgl. bereits STOLFI, (Fn. 2), S. 42 ff., der seineneits die Arbeiten von J. BONNECASE zitiert. Auf diesen französischen Privatrechtier geht die Bezeichnung "Ecole de I'Edgbe" zurück. Es handelt sich um eine recht voreingenommene Geschichte dieser Richtung. Dazu und zur Verbreitung in Italien vgl. G. TARELLO: La "Scuola dell'esegesi" e Ia sua diffusionein Italia, in: Scritti per il XL della morte di P . E . Bensa, Milano 1969, S. 239-276. Eine Neubewertung der Exegese ist in Frankreich seit einigen Jahren im Gange, z. B. durch XAVIER MARTIN und LEVY. Zum Frankreichbild in der italienischen Kultur dea auegehenden 19. Jahrhunderte vgl. L. MANGANI: Una crisi di fine secolo. La cultura italiana e Ja Francia tra Otto e Novecento, Torino 1986. 7 LERMINIER: Introduction generale l l'etude du droit, Paria 1838, S. XI. Der Autor führt dabei auch daa Werk von MadamedaStael an, um su beweiaen, daß die "notwendigen Kulturimporle" swischen Frankreich und Deutachland der nationalen Ehre und Identität keinerlei Abbruch tun. Die aenaible und ceniale Frau habe mannigfaches Mißtrauen überwunden und die beiden Länder auf kultureller Ebene suaammengebracht "comme une femme d'eaprit entre deux hommes aup6rieura, lea
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Für Lerminier, Klimrath und Eschbach stellte der Rückgriff auf eine "vergleichende Anatomie" der Gesetzgebungen und der ausländischen Jurisprudenz einen wesentlichen Bestandteil der enzyklopädischen Sichtweise des Juristen dar. Der vergleichend-historische Gesichtspunkt, der ja im allgemeinen den exegetischen Arbeitsrichtungen nicht fremd war, legte im Ergebnis die Unterschiede und Analogien zwischen beiden Ländern offen und vermehrte auf diese Weise Blickwinkel, aus denen das französische Recht betrachtet werden konnte. Dies sollte nicht zuletzt der Einführung von Reformen und Neuerungen dienen, die sich die "presciene des resultats" ausländischer Gesetzgebungsinitiativen zunutze machen sollten. Unter diesem weit gesteckten vergleichenden Horizont entfalteten Juristen wie Lerminier beispielsweise in einem "Cours d'histoire des legislations comparees" (Brüssel 1838) ihr "gefährliches" Interesse für Deutschland. Die italienische Rechtskultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts greift, wie später zu zeigen sein wird, unter veränderten Umständen auf ähnliche Argumente zurück, um ihre Beziehungen zur französischen und deutschen Rechtskultur zu rechtfertigen8 • Andererseits, um wieder zu Ferrara zurückzukommen, galten in Italien am Ende des Jahrhunderts, und zwar nicht nur unter Juristen, "deutsche Methode" und "Wissenschaft" als Synonyme. Vor allem nach Abschluß des Dreibundes mit Österreich und Deutschland im Jahre 1882 war die "deutsche Wissenschaft" - wie Gioacchino Volpe schrieb - die Wissenschaft "par excellence"9 • Man sah in der deutschen Wissenschaft eine Art Metapher für die universale und moderne Form der Wissenschaftsorganisation.
rapprocher, les faire valoir tour a tour, Iee mettres en saillie par les cotes ou ils se peuvent prendre". 8 FRaNCESCO BUONAMICI &itiert in: Introdu&ione allo studio del diritto o Enciclopedia giuridica, Pisa 1869 in einer Anmerkung aus LERMiniER, EMERICO AMARI: Critica di una scien&a delle legisla&ioni comparate, Genova 1867 sowie SAINT-JOSEPH: Concordances entre les codes civiles etrangera et le francaia, Bruxelles 1842. 9 G. VOLPE: Italia moderna 1816-1898, Firen&e 1973, S. 43-46. Zur Modernisierungsfunktion der "deutschen Wissenschaft" im politischen System des Kaiserreichs vgl. P. SCHIERA: II laboratorio borghese. Seien&& e politica nella Gerrnania dell'ottocento, Bologna 1987.
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Um die Komplexität dieser Haltung besser zu verstehen, sei hier auf Croce verwiesen. Er warf die Frage auf, welches Deutschlandbild eigentlich im Spiegel der italienischen Bildungswelt nach den Siebziger Jahren und der großen nationalen Schulen von Vullari und de Sanctis wiedergegeben werde, welcher Art also jener italienische "Germanismus" sei, der in diesem Fall in einem positivistisch beeinflußten Klima entstanden sei und kaum historische oder philosophische Akzente aufweise. Der in den Universitäten und Schulen verbreitete "Germanismus" habe mit dem klassischen Deutschland wenig zu tun und verweise auf das weit ärmere Bild Deutschlands, aus der Zeit nach 1848: "philologisch, technisch, wissenschaftlich die eigene philosophische Tradition verleugend" 10 • Einige Jahre später berief sich der Privatrechtier Stolfi auf die Gedanken Croces und reihe die spät auf der Bildfläche erschienene italienische Rechtsschule unter die anderen berühmteren nationalen Schulen der Literatur, Geschichte und Dichtung ein. Auf diese Weise sollte, so Stolfi, auf intellektueller Ebene mit Deutschland gleichgezogen werden, um die politisch-militärische Übermacht, wie sie im Dreibund empfunden wurde, nicht auch auf kulturellem Gebiet erleiden zu müssen. Ähnlich wie Rocco (1911) und Ferrara (1939) unterstrich auch Stol/i die Vorzüge der "germanisierten" Privatrechtsschule, zeigte aber auch ihre Schattenseiten auf. Er wies dabei auf die zahlreichen Nachteile einer "falschen Assimilierung" hin, die von Deutschland eingleisig gestaltet werde, aus der Überzeugung heraus, ein Wissensmonopol innezuhaben und daher allein als "Exporteur" und nicht als "Importeur" von Kultur fungieren zu können. Im übrigen sei die Ausgewogenheit der Lehrmeister (Serafini, Alibrandi, De Crescenzio, Polignani, Gianturco, Nicola Coviello u. a.) im Konformismus der Nachfolger verlorengegangen. Die derzeitigen Germanisten würden ausschließlich die deutschen Juristen zitieren und dabei die italienischen, französischen und englischen übergehen. Die eigenen Lehren würden zum Teil mit deutschen Worten dargestellt "als besäße die italienische Sprache keine entsprechenden Worte", ja die italienische Sprache selbst werde der deutschen bis an den Rand des Unmöglichen angeglichen:"Cosi si e parlato di erezione del negozio giuridico; di occasionabilita; di stabilizione per situazione, di sussumire, ecc. Si e finanche dato alle parole significato opposto a quelleo ehe hanno nella lingua italiana. Vi e, per. es. chi dice inapprezzabile non nel senso di 10 B. CROCE: Storia d'Italia e d'Europa, Bari 1928. S. 136-137.
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trascurabile, ma in luogo di inestimabile, la quale ultima parola ha tutta una tradizione dottrinale, ed e ormai accolta nella lingua colta" 11 . Auf diese Weise seien lange Zeit das Bemühen um die Rechtskonstruktionen sowie die Auseinandersetzungen um Begriffe und die Einordnung der Rechtsinstitute vorherrschend gewesen. Aus diesem Grunde, so Stolfi, seien vielfach für die Gerichtspraxis dunkle und unbrauchbare Bücher geschrieben worden. Nicht selten seien zudem die positiven Ergebnisse, zu denen das Studium des römischen Rechts geführt habe, ins Gegenteil verkehrt worden, sobald man versucht habe, jegliche moderne Rechtsfigur in die romanistischen Schemata zu pressen, wie z. B. im Fall des Urheberrechtsverhältnisses. Die Mißachtung der geltenden Norm ließ Rechtslehren überleben, die andernfalls einer genauen Exegese der Gesetzgebung zum Opfer gefallen wären. Das kaum verklungene Echo des Weltkrieges erklärt zu einem großen Teil die Ernüchterung und die Zweifel, die Stolfi dem Modell Deutschland entgegenbrachte, dessen Anziehungskraft durch den Vorwurf der auf den "pangermanistischen Wahn" zurückgeführten Kriegsschuld stark gelitten hatte. Dieses Umfeld erklärt auch die beständige Gegenüberstellung zwischen lateinischem und deutschem Geist und entsprechend die wiederentdeckte Nachbarschaft zu Frankreich, die Stolfi an anderer Stelle hervorhebt. Die historiographischen Überlegungen Stolfis zur Entstehung des Privatrechts zeichnen sich jedoch durch eine Besonderheit aus: Sie fragen nach den tiefer liegenden, konstitutiven Grundzügen der italienischen Rechtskultur. In diesem Zusammenhang tritt der Autor für eine Wiederbelebung der alten Rechtstraditionen ein und stellt einen Juristentypus in den Vordergrund, der in erster Linie Rechtsanwalt und Richter und sodann erst Gelehrter und Universitätsprofessor ist. Dabei ist er überzeugt, daß der Wissenschaftsimport sich nicht auf Deutschland beschränken darf, sondern "aus jedwedem Lande" kommen soll.
U STOLFI, (Fn. 2), S. 66. Stolfi sitiert CROCES Text La atoriografia in ltalia dai cominciamenti del aecolo decomonono ai giorni nostri, in: La Critica, 1916. - Hinweise sum Germanismus im öffentlichen Recht bei P . BENEDUCE: Punto di vista amministrativo e Stato di diritto, in: Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, X, 1984, S. 119-194.
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Wir beschränken uns zunächst auf diesen letzten Aspekt. Stolfi griff auf die Vorstellung einer vergleichenden Geschichtsbetrachtung zurück, unter deren Vorzeichen "fremde" Elemente in die italienische Kultur Einlaß gefunden hatten. Diente die historische Untersuchung dazu, Rechtsordnungen unterschiedlicher Epochen miteinander zu vergleichen und auf diesem Wege das geltende Recht zu "vervollständigen", so ermöglichte die vergleichende Untersuchung des gegenwärtigen Rechts, die Rechtsordnungen anderer Staaten kennenzulernen und dabei festzustellen, inwieweit sie auf die derzeitigen Umstände Italiens Anwendung finden konnten. Daß dazu das Vorbild der Renaissance bemüht wurde, darf hierbei nicht verwundern. Sto/fi sah das Geheimnis jener Kultur in der Begegnung des nationalen Genius mit allen Denkrichtungen der damaligen Zeit begründet. Dieser habe sich dabei zu den fremden Einflüssen weder "fremd noch dienend" verhalten. So sollte sich auch die Privatrechtswissenschaft das "Geheimnis" Jener glanzvollen Kunst- und Kulturbewegung zueigen machen 1 • 2. "Französische Exegese" und "deutsches System" - zur Kritik des herkömmlichen Schemas Wenn wir nun ein letztes Mal Ferraras Text heranziehen, so eröffnet sich die Möglichkeit einer vergleichenden Lektüre, wie sie vom Autor selbst vielleicht gar nicht vorgesehen worden ist. Ausgehend von der Definition Alan Watsons könnte man nämlich paradoxerweise sagen: Beide Gründungsereignisse der nationalen Rechtskultur, der codice civile von 1865 und später die italienische Rechtsschule, waren Vergleichshandlungen 13. Unser "Urlaster" bestand für Stolfi darin, daß sich die Rechtsvereinheitlichung nicht so sehr auf die Etablierung eines Nationalrechts, als vielmehr auf die Anpassung eines ausländischen Rechts, nämlich des französischen code civil mit Hilfe der exegetisch vorgehenden Literatur richtete. In ähnlicher Weise war die Assimilierung der deutschen Rechtskultur für Ferrara Voraussetzung für die Entstehung einer nationalen Schule gewesen. Dank des "patriotischen" Werkes von Filippo Serafini, der sich während der Vorherrschaft 12
STOLFI, (Fn. 2), S. 67 ff. 13 A. WATSON: TheMakingof the Civil Law (1981), ital. Üben.: La formazione del diritto civile, Bologna 1986, S. 197 Cf.
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der Exegese für die Begründung einer wirklich nationalen Schule einsetzte, wurde die deutsche Rechtsliteratur durch die Zusammenfassungen und die Rezensionen des "Archivio giuridico", die mit Anmerkungen versehenen Übersetzungen Serafinis und die Bildungstätigkeit des rechtsgeschichtlichen Seminars in Pisa verbreitet. Sowohl die Kommentare und Schriften der exegetischen Arbeitsrichtungen, als auch die Werke der Pandektisten waren in Italien in Umlauf, und zwar entweder als Übersetzungen oder häufiger - als Auszüge oder freie Bearbeitungen der Originaltexte14. Ein enges Netz von Stellungnahmen und Erläuterungen zur nationalen Gesetzgebung und Rechtsprechung verband diese Werke untereinander und gab ihnen einheitliche Form und Sprachführung, so daß sie Eingang in die Argumente der italienischen Rechtsliteratur fanden. Beständige vergleichende Betrachtung und zudem die Übersetzungen lenkten in beiden Fällen das Einsickern "fremder" Schriften und Methoden in Italien. Unsere Privatrechtskultur hatte so von Anfang an eine zeitgleiche Vielzahl von Profilen zu "verwalten". Dabei versuchte sie nicht etwa, die Modelle in ihrer ursprünglichen, realen oder angenommenen Unverfälschtheit wiederzugeben. Einzelne Lehren und Theorien aus dem Ausland dienten vielmehr der Ausbildung eines Denkstils, der vom Enzyklopädismus und von den Argumentationsfiguren der forensischen Kultur nicht weit entfernt ist. Dieser Grundzug der "italienischen Wissenschaft", der gleichzeitig eine notwendige Durchgangsphase ihrer Entstehung darstellt, hat mit der sogenannten Imitation der Exegese, als deren Anhängsel die italienische Rechtswissenschaft durchweg dargestellt worden ist, ebenso wenig gemein wie mit der einer unmittelbaren sogenannten Assimilierung der deutschen systematischen Methode. Das doppelgleisige Schema Exegese-System, vermittels dessen eine einseitige Geschichtsschreibung das Eindringen der beiden Richtungen in Italien strikt voneinander getrennten Umständen und Epochen zugeordnet hat, bedarf deshalb weiterer Differenzierung.
14 Zur Übersetzungskultur vgl. F. RANIERI: Le traduzioni e Je annotazioni di opere giuridiche straniere nel secolo XIX come mezzo di penetrazione e di influenza delle dottrine, in: La formazione storica del diritto moderno in Europa, Atti del conve~tno della Societa italiana di storia del diritto, III, Faenza 1977, S. 1487 ff.
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Einige Beispiele sollen dies verdeutlichen: So finden sich nicht nur in den Einleitungen juristischer Schriften zahlreiche Kompromißerklärungen. Verbreitet sind auch Verteidigungschriften über das "rechte Mittelmaß", das die italienische Wissenschaft zwischen beiden Methoden einhalten solle 15. Hervorzuheben sind dabei Juristen, die Rechtsanwälte und gleichzeitig Romanisten oder Zivilrechtier waren, wie Gianturco, Paci/ici, Mazzoni, Melucci, Landucci, Savarese 16• Darüber hinaus steht die literarische Form selbst unter dem Zeichen des Kompromisses und der Vermittlung. Neben der "elementaren" literarischen Gattung der Principii oder des Commentario der sich an die Reihenfolge der Artikel hält, wie sie durch die Titel des Gesetzbuchs vorgegeben ist - werden in Frankreich und Italien Texte erstellt, die sich dem Traktat annähern. Dieser weist insofern eine "gemischte" Form auf, als er zwischen exegetischer oder analytischer und dogmatischer Darstellung die Mitte hält. Mit dem Commentario hatte er zudem die vergleichend-historischen Exkurse, die Informationen über den neuesten Stand von Jurisprudenz und Gesetzgebung und die romanistischen Bezüge gemein. In Italien übernehmen viele Bücher diesen gemischten Genre, freilich vielfach unter unscharfer Verwendung des Terminus. Auf jeden Fall erfährt dieses Genre sowohl in dem von der Exegese beherrschten als auch in dem darauffolgenden Zeitraum große Verbreitung. Erwähnt seien der "Trattato" von Ricci (1877-1884), der auf den Grundsätzen Laurents fußt, die "Istituzioni" von Pacifici-Mazzoni (1867-1870), deren erste Auflage unter dem Einfluß des Traktats von Aubry und Rau stand und der "Trattato" von Stolfi (1919). Dieser behandelte im ersten Band den Allge16 Dazu P. BENEDUCE: Queetione del "metodo" e critica dello "Stato indifferente" nella cultura giuridica italiana di fine Ottocento, in:"Materiali per una atoria della cultura giuridica, XIII, 1983, S. 67-84; den., II giusto metodo di Emanuele Gianturco. Manuali e generi letterari alle origini della "scienza italiana", in: A. MAZZACANE (Hg.): L'esperienza giurdica di Emanuele Gianturco, Napoli 1987, S. 297-364, mit breiter Quellen- und Literaturangabe. 16 Diese Haltun( war auch in den forensischen Schriften der Rechtaanwlilte spürbar. Cenni wies auf die "mente italiana" in den Allegationen von Roberto Savarese hin. Sie suchte "il mezzo equidistante tra i1 sentimentalismo giuridico de' francesi, spesso torbido e impetuoso, ehe precipita al fine; ed i1 Iento, e spesso incerlo ed intralciato procedere dell' erudizione tedesca". Vgl. CENNI (Hg.): Scritti forensi di Roberto Savarese, Napoli 1876, S. LI.
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meinen Teil und stellte dabei die allgemeinen Theorien und Grundsätze des Rechts nach Hugo, Savigny, Puchta, Demburg und Unger dar. Darüber vernachlässigte er jedoch weder die historischen und kritischen Untersuchungen noch die forensischen Auseinandersetzungen. Obgleich dieser Traktat sich deutlich von den Kommentaren exegetischer Prägung, von den monographischen Sammlungen (Fiore) und von den "schematisierenden" Arbeiten (Gianturco, Simoncelli) unterschied, war Stolfi das Modell der "scholastischen Traktate" französischer Prägung (Acollas. Arntz. Baudry-Lacantiniere, Co/in et Capitant. Co/met de Santerre, Laurent u. a.) nicht unbekannt 17. In diesem Zusammenhang gilt es, sich einige Stationen aud der langen und komplexen Werkgeschichte des "Handbuch des französischen Civilrechts" von K. S. Zachariä zu erinnern. Zum ersten Mal 1808 in Heidelberg erschienen, erlebte es im 19. Jahrhundert in Deutschland acht Auflagen und erfreute sich auch in Frankreich größter Beliebtheit. Das "Handbuch" stellte eine wichtige deutsche Behandlung des code civil dar, wie er in den deutschen Regionen, die zum Reich gehörten, Geltung besaß. Der Text ist jedoch an und für sich eine Besonderheit. Von den zeitgenössischen französischen Exegese-Handbüchern, etwa von Delvincourt, Toullier u. a., unterscheidet er sich nämlich durch die Methode und durch die Anordnung der Materien. Wie Giovanni Tarel/o in einem unübertroffenen Aufsatz von 1969 nachgewiesen hat, bestand die Methode in der Ausarbeitung von ordnenden Begriffsfamilien, die in einem hierarchischen System zusammengefaßt waren. Für die Anordnung der Materien war kennzeichnend, daß der dargestellte Normenbestand zerstückelt wurde, um ihn in das "wissenschaftlichere" oder "logischere" Begriffssystem eingliedern zu können 18. Kaum weniger paradox ist das französische Kapitel dieser Werkgeschichte. Zwei Begebenheiten markieren hier die Ausarbeitung des "Handbuchs": Zum einen die verschiedenen Versionen von Aubry und Rau, die wenigstens ab 1857 gegenüber der deutschen Vorlage eine immer größere Eigenständigkeil erreichten; zum anderen die Übersetzung von Masse und Verge, die die Paragraphen von Zachariäs Werk nach dem Vorbild des code civils umsetzten und somit dessen systematische Gliederung aufhoben. Unter den Händen Aubrys und Raus wurde das Werk Zachariäs in den späteren Versionen im Bereich der exegetischen Rechts-
17 STOLFI, (Fn. 2), S. 68-78. 18
Vgl. TARELLO, (Fn. 6), S. 251-252.
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kultur zu einer gänzlich neuen Arbeit: Erhalten blieb lediglich Zachariäs Gliederung, als System ante litteram, während der Text und die Anmerkungen von den beiden französischen Autoren stammten. Als Landucci 1900 die Übersetzung des Cours vorstellte, schrieb er lapidar, daß Zachariä darin als eine wissenschaftliche Autorität unter anderen vorkomme 19• Das Paradoxon setzte sich in Italien fort. Auf der einen Seite wurde das Handbuch niemals unmittelbar bekannt. Wenn man Landucci glauben darf, so befand sich in den italienischen Bibliotheken kein einziges Exemplar. Auf der anderen Seite gab es im Zeitraum vor der Einheit nicht weniger als sieben italienische Versionen dieses Textes, die allesamt die Gliederungen und Mißverständnisse der französischen Vorlagen übernahmen. So folgte z. B. die Ausgabe Muzjs (Napoli 1857-59) der Version von Aubry und Rau, während De Matteis oder Capasso (beide Napoli 1862 bzw. 1854) sich mehr an die unzuverlässige Version von Masse und V erge hielten. Der bezeichnend weitschweifige Titel einer dieser Übersetzungen gibt Einblick in die vertrakte Textmanipulierung: "Cono di diritto civile francese di K. S. Zachariä, profeasore nella Regia Universita di Eidelberga. Prima traduzione italiana, eseguita nello studio dell'avvocato Vincenzo Oe Matteis, arricchita del confronto degli articoli del codice civile vigente neUe Provincie Meridionali e di notizie deUe disposizioni legislative emanate posteriormente aUa pubblicazione del detto Codice, fatta sull'ultima edizione parigina dell'anno 1864, tradotta suUa quinta traduzione tedesca, annotata e ridotta secondo l'ordine del Codice Napoleone da G . Masse, giudice del Tribunale di Reims e . G . Verge, avvocato in diritto. Corredata di un copioso indice alfabetico della materia e da altri tre indici deU'articolo del Codice civile col rinvio ai corrispondenti paragrafi e daUe note di ciascun paragrafo deU'opera, di concordanza tra i paragrafi deU'originale tedesco con quelli di Masse Verge e vicevena per facilitarne le ricerche, cose mancano neUe edizioni finora pubblicate, Napoli 1862" 20.
Kommentare und Traktate wie diejenigen von Delvincourt oder Toullier wurden in Italien nicht selten der Wissenschaft gegenübergestellt, die sich in den rechtswissenschaftliehen Zeitschriften 19 Vgl. hier~~u und zum folgenden L. LANDUCCI: Trattato di diritto civile italiano, I, Torino 1900. 20 L. LANDUCCI, (Fn. 19), S. LX ff.
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heranbildete. G. Lomanaco faßte die wichtigsten Urteilssprüche der Gerichtshöfe des Königreichs zwischen 1866 und 1877 zusammen und stellte nach dem Vorbild (der "Revue de legislation" jedem Urteil "historische" und theoretische Informationen voran, die er den in den italienischen Zeitschriften publizierten Einzeldarstellungen entnahm 21 . Später veröffentlichte Vittorio Scialoia für die Leser des "Archivio giuridico" die Zusammenfassung der wichtigsten Einzeldarstellungen, die von den deutschen rechtswissenschaftliehen Zeitschriften publiziert worden waren, und unterstrich dabei auf ähnliche Weise die Bedeutung dieser Vorgehensweise: "Nei periodid si viene continuamente elaborando Ia sdem:a, Ia quale per tal modo a poco a poco si eleva, quasi per mezzo di gradini ehe sommati portano a grandissima altezza. Nei periodid trovo luogo ogni idea appena spuntata, ogni nuova questione pratica, e appunto co, tener conto di questo forse Iento, ma continuo progresso, ehe si formano quelle opere monumentali, le quali sono come Je pietre miliagri del cammino della scienza" 22 .
3. Vergleichung und Eklektizismus in der italienischen Rechtskultur
Ein Querschnitt der Lehrsysteme und der sie tragenden Denkströmungen gibt Einblick in die Neigung zum Vergleich und zu jenem vernünftigen Eklektizismus, der über die Praxis der einzelnen Disziplinen - und nicht mehr bloß über die methodischen Absichtserklärungen - in der italienischen Rechtswissenschaft Fuß faßte. Diese widmete sich nach der Veröffentlichung des codice 1865 - so Landucci - den vom Gesetz vernachlässigten, wenn nicht gar gänzlich vergessenen, Rechtsthemen. Sie rekonstruierte auf diese Weise auf wissenschaftlicher Ebene jenen Allgemeinen Teil, der in der Kodifikation fehlte: das nego=io giuridico, die 21 G. LOMANACO: II codice dvile italiano illustrato dalla giurisprudenza ossia questioni scelte del diritto civile, Napoli 1877, S. 7 ff. 22 V. SCIALOIA: Studi giuridici, I, Diritto romano, prima parte, Roma 1932, S. 52. Ein Oberblick über die Zeitschriften und die Erneuerung der italienischen Rechtskultur bei P. BENEDUCE: II giusto metodo, (Fn. 15), S. 309. Zur Geschichte einer kleineren, aber emblematischen Zeitschrift der Privatrechtskultur am Ende des 19. Jahrhunderts vgl. P. GROSSI: La Sdenza del diritto privato. Una rivista-progetto nella Firenze di fine secolo 1893-1896, Milano 1988.
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vtzl del consenso, die colpa civile, die limiti del/a proprietil, die capacitil di agire, die trascrizione usw.
Die italienischen Autoren übernahmen den Allgemeinen Teil nur unter zahlreichen Abänderungen und Einschränkungen gegenüber den Originalvorlagen. Emanuele Gianturco z. B. wies darauf hin, daß die systematische Methode die besonderen Institute zerstören und ihre organische Einheit brechen wolle, nur um dessen verschiedenen Elemente in abstrakte Kategorien einpassen zu können, die ihrer Natur nicht immer entsprächen 23 . Darüber hinaus hat der an sich nicht unzutreffende Gemeinplatz, die Literatur der Exegese zeichne sich im Stil durch Wiederholungen und durch ausufernde Kasuistik aus, mit der Zeit andere nicht weniger wichtige Aspekte verdeckt. Zunächst läßt sich mit Tarello darauf hinweisen, daß die konkreten Fälle stets "vorqualifiziert", d. h. mit den Worten und im Sinne der Artikel des Codice geschildert wurden, als kleinere Prämissen von Syllogismen. Die größere Prämisse dieser Syllogismen war durch den Artikel des Codice gegeben, während die Schlußfolgerung darin bestand, die von der größeren Prämisse festgelegten rechtlichen Folgen dem konkreten Fall zuzuordnen 24 . Die von der Exegese praktizierte rechtliche Deduktion entsprach insofern den Erfordernissen wissenschaftlicher Logik, wenngleich sie unsystematisch war. Darüber hinaus war es der Rechtskultur der Exegese nicht fremd, in beschränktem Maße vereinheitlichende Begriffe und Rechtsfiguren zu erarbeiten. Erwähnt sei nur das Beispiel des sogenannten "Erreur-obstacle", den Larombiere in seiner "Theorie et pratique des obbligations" (Paris 1857) im Zusammenhang mit der Interpretation des Art. lll 0 des Code civil dem "Erreur-nullite" entgegensetzt. Während letzterer, wie Nicola Coviel/o 1915 schrieb, "die Bildung des Rechtsgeschäfts nicht verhinderte, sondern es nur aufhebbar machte", war der vom Code nicht vorgesehene, sondern von der Rechtslehre entwickelte "Erreur-obstacle" der Grund für die "fehlende Übereinstimmung zwischen Willen und Willensäußerung, er entzog das wesentliche Element des Willens und war dehalb für das Rechtsgeschäft ein Hindernis" 25 .
23 Vgl. E. GIANTURCO: Prefazione al Sistema di diritto civile italiano (1884), in: Opere giuridiche, I, Roma 1947, S . 33-34. 24 TARELLO, (Fn. 6), S. 253-254. 25 N. COVIELLO: Manuale di diritto civile italiano, Parte generale, 11, ediz. riveduta da Leonardo Coviello, Milano 1915, S. 380 ff. (Oberetzung P. B.).
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Auf das allgemeine Problem des Willens und der Willensmängel wird noch zurückzukommen sein. Festzuhalten bleibt hier zunächst: Während die italienische Privatrechtswissenschaft die Unterscheidung Savignys zwischen unechtem und echtem Willen zurückwies, machte sie sich von Giorgi an bis hin zu den klassischen Traktaten des 19. Jahrhunderts von Coviello, Stolfi u. a. diese von Larombiere formulierte Lehre zueigen. Auch der italienische Codice civile (Art. 1108, 1109, 1110) hatte ebenso wie der Code civil (Art. 1109, 1110) dem "errore-vizio del consenso" behandelt, de facto und de jure fast immer der Grund für die Aufhebung des Rechtsgeschäfts. Giorgi hatte Larombieres Bezeichnung "Erreur obstache" mit "errore- ostativo" übersetzt und ihn in den Sprachgebrauch der italienischen Lehre eingeführt, und zwar ebenfalls als Gegenbegriff zu "Erreur-nullite" (der nicht die Übereinkunft verhinderte, sondern lediglich das Rechtsgeschäft aufhebbar machte). Auch in diesem Falle fehlte es aber nicht an Mißverständnissen und Trugschlüssen, die zunächst einmal auf mangelnde Sprachkenntnisse zurückzuführen waren: So hielt Brugi "Erreur-obstacle" für gleichbedeutend mit "Erreur-nullite", während doch der Text Larombieres die beiden Begriffe eindeutig als Gegensätze faßt 26 • Das Paradigma des Willens, auf das uns das eben erörterte Beispiel führte, muß uns als einen zentralen Aspekt im Rechtsdenken der liberalen Kultur Italiens noch weiter beschäftigen. An dieser Stelle sollen nicht etwa die klassischen Lehren des Willens dargestellt werden ("Theorien" des Willens, der Willenserklärung, der Zurechnung usw.). Vielmehr geht es darum, daraus jene Gesichtspunkte aus der Argumentation herauszugreifen, die die logische Tragfähigkeit und die reale Anwendungsmöglichkeit dieses Begriffs betreffen. Denn es handelt sich um den Leitbegriff zahlreicher Institute und Figuren der italienischen Privatrechtswissenschaft (der entscheidende Faktor beispielsweise des Rechts des Vertragsschlusses und des klassischen und berühmten Dogmas der Privatautonomie), gleichzeitig aber, wie ein zeitgenössischer Jurist schrieb, um eine schleierhafte und ungreifbare Kategorie 27• Kelsen bezeichnete sie sehr viel später aufgrund ihres unklaren psychologischen Gehalts als zweideutig und schließt sie in 26 Vgl. GIORGIO GIORGI: Teorie delle obbligazione nel diritto moderno italiano, 111, Firenze 1925, S. 258-282; LAROMBI RE: Theorie et pratique des obligations, Paris 1857, S. 43 ff.; N. STOLFI: Diritto civile, I, parte seconda, Torino 1931, S. 682-694; B. BRUGI: Istituzioni di diritto civile, IV, Milano 1923, S. 24 (Anm.). 27 Vgl. r.. B. COVIELLO, (Fn. 25), S. 367-371.
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scharfer Form aus dem Bereich der rechtswissenschaftliehen Untersuchung 28 aus. Dennoch ist sie gegenwärtig geblieben und hat sich zur Errichtung eines in der privatrechtliehen Praxis ungemein produktiven Zusammenhangs von Lehrsystemen als unverzichtbar erwiesen. Dieser Begriff des individuellen und privaten Willens, der sich als frei und autonom, als unbegrenzt in seinen verpflichtenden und verfügenden Wirkungen darstellt, tritt indes im italienischen Rechtsdenken von Anfang an in einer von inneren Beschränkungen regierten und regulierten Gestalt auf, die seine abstrakte Fassung und seine Verbreitung innerhalb des zivilrechtliehen Diskurses hemmt. So werden dem Willen die sogenannten Nützlichkeits-, Sozial-, Zweck-, Opportunitäts-, Verantwortungsprinzipien usw. als Schranken auferlegt und verhindern seine Absolutheit. Beispielhaft seien zwei Texte unterschiedlicher Autoren angeführt, die diese Aspekte hervortreten lassen. So schrieb Enrico Amari in der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Vorhersehbarkeit des individuellen und freien Verhaltens in der öffentlichen und privaten Sphäre: "Gii uomini liberi quanto Ii voglio fantasticare il piu inflessibi assolutista, liberi sino al capriccio di agire senza altro motivo ehe quello di dirsi liberi, pure ... agiranno in un dato ordi cosi certo e prevedibile dayregolarvi sopra in ogni momento ed in ogni occasione della vita ... Ia privata condotta" .29
Andere Autoren äußern sich in dem gleichen, in der damaligen Privatrechtswissenschaft üblichen "philosophischen" Stil, um ähnliche Auffassungen zum Ausdruck zu bringen. Einige heben hervor, der Mensch sei durch die "geheimnisvolle" Bindung von Freiheit und Notwendigkeit zur Tat bestimmt. Andere definieren den individuellen Besitzegoismus als "den Willen, der in der Sache zu sich selbst gekommen ist" und die Grundsätze der Landwirtschaft, der Industrie und der Gesundheit "tolerieren" muß. Wieder andere versuchen die als Schuldmaßstab im Zivilrecht verwandte romanistische Figur des "buon padre di famiglia" mit der statistischen Größe des modernen "homme moyen" zu identifizieren. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang die folgenden Aus28 Vgl. H. KELSEN: Hauptprobleme der Staatslehre, Tübingen 1923; ders., Sui confini fra metodo giuridico e metodo sociologico. Sulla metafora dello Stato come "volonta" nelle argomentazioni della giuspubblicistica; P. COSTA: Lo Stato immaginario, Milano 1986, S. 224 ff. 29 E. AMARI, (Fn. 8), S. 250.
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führungen von Matteo Pescatore, eines zugleich praktisch und philosophisch veranlagten Juristen, der als origineller Interpret der exegetischen Richtung hervorgetreten ist: "Un dualismo ehe eonsiste ... nell'antagonismo di due principali, individuale l'uno e sociale l' altro, eioe prineipio eonservatore dell'ordine e del diritto sociale ... essi si misurano e mutualmente si cireoserivono ... Ia storia intera del diritto a ehi voglia penetrarne i piu reeonditi sensi non e ehe Ia storia della perpetua lotta tra due principali rivali ... " Aber gerade dieser "eoneorso dei due prineipi individiale e sociale, qua! prima e segreta origine dei fenomeni legislativi e scientifici ehe Ii rende entrambi vers eosiehe il loro eonflitto non puö essere ehe apparente e neeessario l'uso simultaneo di entrambi nella deduzione" .30
Der Antagonismus und zugleich das Zusammenwirken der beiden unbestimmbaren Ursprungsprinzipien sowohl der Gesetzgebung als auch der Rechtswissenschaft gehören demnach "von jeher" zum Gehalt des privaten Willens, der folglich eine unstabile Größe für die Privatrechtswissenschaft darstellt, seit sie sich mit ihm befaßt. Daraus ergibt sich nun meine folgende These: Gerade aufgrund seiner Instabilität, die in erster Linie den begrifflichen Gehalt betrifft, konnte die innere Schlüssigkeit innerhalb eines praktischen Wissensbereichs wie der Privatrechtswissenschaft, deren Denkleistungen immer auf die konkrete Rechtsanwendung bezogen sind, nur durch den steten Rückgriff auf die argumentative Vorgehensweise gewährleistet werden. Die Argumentation verarbeitet dabei in dem langwierigen Prozeß der Beweisführung, neben den romanistischen Quellen selbst, auch psychologische und "historisch"-philosophische Elemente. Sie alle geraten zu subordinierten Kategorien des Rechtsdenkens und haben als solche zu ihren ursprünglichen Wissenszusammenhängen keine Beziehung mehr. Der argumentative Gebrauch dieser Elemente ist jedoch mit der logisch-deduktiven Ebene des Rechtsdenkens unter dem Ziel der Interpretation verbunden31 . Dies sind die widersprüchlichen Grenzen eines Archetypus des "Willens", der sich als "vernünftig" auszuweisen hat, wenn er als vereinheitlichender Bezugspunkt zahlreicher Aspekte des privatrechtlichen Diskurses Bestand haben soll. Um diesen Aufgaben gewachsen zu sein, bedarf er sowohl der Sicherheit und Evidenz, wie sie der demonstrativen Logik eigen ist, als auch der Wahr30 M . PESCATORE: Logiea del diritto, I, Torino 1869, S. 52-55. 31 Vgl. C . FERELMAN/L. OLBRECHTS: Trattato dell'argomentazione. La nuova retoriea, Torino 1966.
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scheinlichkeit und der problembezogenen Regelbegründung, die Kennzeichen einer argumentativen Logik sind. Der Bezug auf den Willen konstituiert am Ende als notwendige Durchgangsphase den Gesamtzusammenhang des privatrechtliehen Diskurses, selbst wenn der Rückgriff aufgrund der "Unergründlichkeit" der psychologischen Natur dieses Bezugspunktes lediglich indirekt oder polemisch ausfällt. Dieser Gesichtspunkt findet sich beispielsweise bei Giorgi, wenn er nach dem Wesen des Vertragsschlusses fragte. Auf Grund der von ihm herangezogenen französischen Lehre stellte er dabei nicht nur auf die äußere Erklärung ab, sondern geht davon aus, daß diese ihren ursprünglichen Wert aus einem inneren Willensakt bezieht. Jene Lehre hatte die wichtige Unterscheidung zwischen "Erreur-obstacle" und "Erreur-nullite" formuliert. Der italienische Autor aber hielt die Ausgangsbasis der Überlegung für "sehr unstabil und gefährlich". Er brachte deshalb einige Korrekturen an: "lnvero, non si nega essere precipuamente nell'atto interno della volinta l'effieacia giuridica del eonsenso; ma questa volonta, di grazia, eon quali meni e resa manifesta all'altro eontraente? Con l'esterna diehiarazione,
senza dubbio, Ia quale e appunto destinate a parteciparlo. Tolta questa, Ia volonta di un eontraente, non aequisterebbe mai estrinseea eertena per l'altro eontraente, e non diverrebbe mai Ia base del vineolo eontrattuale. E'dunque negli atti esterni, e uniea, ente in questi, ehe l'aeeettante ha diritto di Ieggere Ia volonta del promittente: ed e negli atti esterni Ia prova naturale e legittima dell'atto psieologico del eonsenso. Divorzio eontro
natura e quello ehe disgiunge l'atto interno della parola, dall'atto esterno ehe lo rende manifesto" .32
Vittorio Scialoia untersuchte einige Jahre später eine Frage, die der von Giorgi aufgeworfenen ähnelte. Allerdings verlagerte sich die Auseinandersetzung auf die deutsche rechtswissenschaftliche Literatur, die Scialoia den Lesern des "Archivio giuridico" vorstellte. Der Anlaß war eine Rezension von Windscheids Untersuchung über das Verhältnis zwischen Wille und Willenserklärung, die ein Jahr zuvor im "Archiv für die civilistische Praxis" veröf- . fentlicht worden war33 . Der deutsche Autor vollzog darin eine Identifizierung von Willenserklärung und Rechtswillen. Aber dies 32 GIORGI,
(Fn. 26), S. 333-335. 33 B. WINDSCHEID: Wille und Willenserklärung. Eine Studie, AeP 63 (1880); V. SCIALOIA: Sunti di seritti giuridici tedesehi: volonta e dichiarazione di volonta (1880), in: Studi giuridici, I, Diritto romano, S. 52 ff.; vgl. in demselben Band die Kurzportraits Jherings und Windseheids, S. 431 ff.
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war für Scialoia paradoxerweise nicht der interessanteste Aspekt der Arbeit. Was Scialoia am meisten ansprach, waren die Argumente, die Windscheid gegen jene Autoren einsetzte, die die Bedeutung der reinen Erklärung hervorhoben, ohne zu prüfen, ob diese einem realen Willen entspricht oder nicht (Rege/sberg, Röver, Bähr, Schloßmann, Hölder, Schall). Zunächst wies Windscheid darauf hin, daß die Thesen jener Autoren auf eben jener herrschenden Meinung beruhe, die sie zu bekämpfen vorgaben. Die Willenserklärung erschien nämlich als ein Beweismittel hinsichtlich der Existenz dieses Willens. Aber es handele sich gerade um das Wollen als "innerer Seelenzustand", eine zu unsichere und unergründbare Wirklichkeit, als daß sie das Recht interessieren könnte. Windscheid verglich sie mit einer Welle, die von der nächsten Welle verschluckt werde. Das Recht messe lediglich dem geäußerten Willen Folgen zu, und dies sei die Willenserklärung. Darüber hinaus griff Windscheid die These jener Autoren unter Zuhilfenahme des romanistischen Arguments an, daß sich in den Digesten keine Textstellen zugunsten der neuen Lehren fänden, dafür viele zu ihren Ungunsten34 . Die romanistische Argumentation beherrschte Scialoias römische Einleitung zur Pandektenvorlesung von 1885. Scialoia trat bei dieser Gelegenheit nicht etwa dafür ein, die "mystische Begegnung der beiden Willensarten" angesichts der zusehends komplizierteren sozialen Beziehungen schlichtweg zu verwerfen. Vielmehr sprach er sich für ein Miteinander von Willens- und Verantwortungsprinzip innerhalb des rechtlichen Geltungsbereichs aus. Zu diesem Zweck gebrauchte er das romanistische Element als ein entscheidendes Argument des Rechtsdenkens. Das römische Recht hatte nämlich in wachsendem Maße dem subjektiven Element des "inneren Willens" gegenüber dem ursprünglichen Formalismus größeren Raum gewährt. Aber während er konkret bei einer Reihe von Rechtsgeschäften den Willen als wesentlich ansah (Testamente, Übertragung des Sklaven, Volljährigkeit des Sohnes, Ernennung des Vormundes usw.), beschränkte sich das römische Recht bei anderen Rechtshandlungen, bei denen es weniger auf die individuelle Autonomie als auf die Sicherheit des Handels anzukommen schien, auf das Verantwortungsprinzip. Das römische Recht scheint mithin einen logischen Sprung vollzogen zu haben, indem es die Verpflichtung anerkennt, eine Leistung auch dort auszuführen, wo der Wille fehlt. Für Scialoia erklärt sich dies indes letztendlich aus dem faktisch akzeptierten Mit34 Die zitierten Passagen bei SCIALOIA, (Fn. 33), S. 54-55, 62.
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einander von Verantwortungs- und Willensprinzip. Diese Doppelgewalt könne noch heute das Privatrecht beherrschen35 . So unterschiedlich die Argumentationsansätze und -ziele sind, lassen doch die wenigen hier angeführten Beispiele bereits deutlich erkennen, daß der Willensbegriff bei aller Komplexität zahlreiche Lehrsysteme zusammenschloß. Lehrsysteme, die sich auf ihn als ein Paradigma, einen offenen Problemhorizont beziehen konnten. 4. Ergebnisse und Hypothesen für die weitere Forschung Abschließend bleiben die Ergebnisse der vorgetragenen Überlegungen zusammenzufassen und einige Hypothesen für die weitere Forschung anzusprechen. Es hat sich gezeigt, daß die italienische Privatrechtswissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts starke vergleichende Züge bewahrte und daß diese für den enzyklopädischen Denkund Argumentationsstil kennzeichnend sind. Dieser wissenschaftliche Stil wurzelte auch in der neueren forensischen Praxis nach der nationalen Einigung. Insbesondere in der vielseitigen und paradigmatischen Figur des Rechtsanwalts kam der Jurist der nationalen Schule und zugleich der in Italien dominante bürgerliche Intellektuellentypus zum Ausdruck, und zwar in deutlichem Unterschied auch zum Typus des Juristen in anderen Ländern. Dieser Typus des Rechtsanwalts faßte in Italien am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert gewissermaßen emblematisch die "besonderen" Qualitäten des Professors, Publizisten, Parlamentariers und Regierungsverantwortlichen zusammen. Es würde jedoch eine grobe Vereinfachung bedeuten, hierbei von einem besonderen Mentalitätsprofil oder von einer einheitlichen sozialen Rolle zu sprechen. Nur die inneren Struktur des Rechtsdenkens, die Regeln, die den Gebrauch der Argumente im Bereich spezifischer Lehren steuern, kann den Denkstil dieser eigentümlichen Juristengestalt besser klären helfen. Von diesem Ausgangspunkt läßt sich auch ein weiterer Aspekt genauer fassen. Ich habe mit einer provisorischen Definition auf die eklektizistische Praxis, auf eine a priori nicht einzuordnende "cultura media" in der italienischen Rechtskultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts hinzuweisen versucht. Ich habe deren Tendenz 35 SCIALOIA: Responsabilita e volonta nei negor.i giuridici (1885), in: Studi giuridici, I, S. 272-288.
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zur Verschränkung unterschiedlicher Theorien und Kulturen im Bereich des Rechtswissens hervorgehoben und mich gefragt, ob dies tatsächlich widersprüchlich ein vorfachwissenschaftliches, der modernen Entwicklung entgegenstehendes Residuum sei, obgleich doch der fachwissenschaftliche Spezialisierungsprozeß, an dem auch die Rechtskultur teilhatte, in vollem Gange war. An dieser Stelle ist es nunmehr möglich, einige Ursprünge und Regeln dieses "Eklektizismus" näher zu erläutern. Die argumentative Logik war zusammen mit dem logisch-deduktiven Verfahren in der Beweisführung der Privatrechtslehren wirksam. Dies erfogte innerhalb eines praktischen Wissensbereichs, der sich sowohl als "Kunst" als auch als Wissenschaft verstand und das Moment der Rechtsanwendung nie unberücksichtigt ließ. Die hergebrachte Argumentationsstruktur der Privatrechtskultur nahm im Rechtsdenken eine bedeutende Stellung ein. In den Allegationen der Rechtsanwälte, von Savarese bis zu Mancini, Gianturco und Fadda, in den Werken der "philosophischen Privatrechtler" wie Pescatore 36 und Gabba37 , in den Schriften der sogenannten praktischen Juristen italienischer Art, wie Giorgi oder Mirabelli, und bei den ersten romanistischen Privatrechtlern bediente sich die Argumentation gelehrter Elemente, historisch-philosophischer Bezüge. romanistischer Studien sowie fachfremder Figuren und Methoden (so aus dem Bereich der Statistik, der Psychologie, der Nationalökonomie usw.). Der Argumentationsverlauf beruhte zum Teil auf einer Denkstruktur enzyklopädischer Prägung. Der Enzyklopädismus erfaßte nämlich all jene heterogenen Elemente in einer Art zirkulären Reflexionsbewegung, die im Dienst der Interpretation stand. Diese Elemente waren im "enchainement" der einzelnen Teile und Hilfswissenschaften zusammengeschlossen, die das enzyklopädische Ganze der Jurisprudenz konstituieren. Eschbach hatte diesen Gesichtspunkt in zwei Beiträgen unter dem Titel "De l'utilite d'un cours d'Encyclopedie du droit" 38 weiter vertieft. Er vertritt darin 36 PESCATORE (Fn. 30), S. 75 ff. 37 C. F . GABBA: De Jura vicinitatis, A proposito di due sentenze delle sezioni unite della Corte di cassazione di Roma, in: Questioni di diritto civile, I, Torino 1897, s. 176. 38 ESCHBACH: De l'utilite d'un coura d'Encyclopedie du droit, Bruxelles 1840, zum folgenden insbes. S. 257-263, 344- 350. Zur Bedeutung des Schrifttums über die Anwaltschaft und die Gerichtsrhetorik vgl. für die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts ZANARDELLI: L'avvocatura, Firenze 1879; CURATI: Arte forenae, Torino 1878; FORLANI: Dell'arte forense, Napoli 1883; VANELLI: Ragionamento
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die Auffassung: "faire l'encyclopedie d'une science, c'est, SI Je puis dire, en tracer le centre, Ia circonference, les rayons et tangentes". Die Instrumente und Hilfswissenschaften, die in jenem Mittelpunkt zusammentreffen konnten, faßte der Autor in einem Katalog zusammen, der später von den deutschen und italienischen Autoren der Rechtsenzyklopädie übernommen und zum Teil ergänzt wurde. Er besteht im wesentlichen aus folgenden Fächern: Philosophie, Geschichte, vor allem römisches Recht, Altertumsstudien, alte und neue Sprachen, Rechtsgeschichte, Diplomatik, Bibliographie, Juristenbiographie, forensische Rhetorik, Rechtsanwendungslehre, Rechtshermeneutik, vergleichende Studien ausländischer Gesetzgebungen. Alle diese Fächer waren der Rechtsauslegung untergeordnet, d.h. vorqualifi=iert durch ihre Funktion als Hilfswissenschaften, als notwendige "Voraussetzungen" der "Hauptwissenschaft" Jurisprudenz. Die Regeln dieses Rechtsenzyklopädismus waren nicht weit entfernt von denjenigen, die August Boeckh für die Philologie in seiner "Encyclopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften" (1877)39 aufgestellt hatte - einem Text, der auch in den italienischen rechtsenzyklopädischen Schriften erwähnt wird. Diese Wissenschaft, von Boeckh als "Wissen des Gewussten" definiert und mit der Geschichte identifiziert, wies einige nicht unwesentliche Berührungspunkte mit der Jurisprudenz auf. Beiden stellte sich unter dem Gesichtspunkt des Verstehens und der Auslegung des Textbestandes dieselbe Aufgabe. Sich wechselseitig entsprechend war auch das Rangverhältnis bestimmt. Auf der einen Seite fiel das Verhältnis zugunsten der Philologie aus, die in diesem Fall (zusammen mit der Philosophie) die Hauptwissenschaft gegenüber den anderen "Fachwissenschaften" war, während sie innerhalb der Rechtsenzyklopädie nur als "Hilfswissenschaft" rangierte. Auf der anderen Seite hatte die Philologie (ähnlich wie die Philosophie, die notwendig stets alle Fachwissenschaften zuinterno all'eloquenza del foro, 1887; CENERI: Ricordi di cattedra e foro, 2. Auf!. Bologna 1886; ders., Nuovi ricordi di cattedra e foro, Bologna 1886; MANCINI: Opere e diecorsi editi dal Renantoni, Torino 1890. Gesamtdarstellungen: SERAFINI: Sulla causa Trafford-Blanc, Pisa 1883; PIO E ARGENTI: Processi celebri napoletani, Napoli 1889; TARANTINI,ARRENGHE,TRANI: 1889. 39 A. BOECKH: Encyklopädie und Methodenlehre
der philologischen Wissenschaften, hg. v. E. BARTUSCHEK, 2. Auf!. Leipzig 1886, Nachdruck Stuttgart 1966. Lt. Obere. hg. v .: A. GARZYA, Napoli 1987, S. 52-55, 65, 84-85; Boeckh wird zitiert von dem Italiener P. DELGIUDICE: Enddopedia giuridica, 7. Aufl., Milano 1927, S. 2.
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sammenfaßte) ihren Stoff den Fachwissenschaften zu entnehmen, "ohne die es kein wechselseitiges Beeinflussungsverhältnis gäbe ... Der Jurist bedarf der Philologie zur Erkenntnis der Quellen durch Kritik und Erklärung; der Philologe aber bedarf der Rechtsbegriffe, um die rechtlichen Verhältnisse eines Volkes zu reconstruieren, ja selbst um die Sprache zu verstehen" 40 • Ziel der Philologie war es, fremde Wissenselemente als "etwas Eigenes" "neu zu schaffen". Für Jurisprudenz und Philologie war darüber hinaus das Verhältnis zum Altertum, in dem alles Wissen wurzelte, gleichermaßen grundlegend: "Wer kann läugnen, daß das Römische Recht noch immer die Grundlage unserer Rechtsverhältnisse ist, soviel auch davon geändert worden? Kurz, es ist noch jetzt auch dieser Theil des historischen Studiums, den wir Altertumskunde nennen, die Basis aller Disciplinen"41 • Aber wie sollte sie untersucht werden, wie sollte man dabei vorgehen? Auch im Falle der Philologie leistete die "historische" Betrachtung Hilfe. Sie war nicht reine Chronologie, äußere Beschreibung, Reihenfolge der Ereignisse, sondern ein untergeordneter Begriff, eine theoretische Funktion, ein "Hilfsmittel" der Enzyklopädie der philologischen Wissenschaften. Die richtige Methode war dabei nicht die lineare und chronologische, "als ob auf einer Landstrasse durchreist, wo man alle Tage eine Anzahl Meilen macht" 42 , sondern die "cyklische, wo man Alles auf einen Punkt zurückbezieht und von diesem nach allen Seiten zur Peripherie übergeht" 43 • Boeckhs posthum erschienene, aber bereits teilweise in Form von Vorlesungen oder Universitätsblättern bekannte Lehre steht im Zusammenhang des Prozesses fortschreitender Spezialisierung der Wissenschaften. Es ist deshalb - nicht zuletzt wegen der vorhin erwähnten Analogien - bemerkenswert, daß das enzyklopädische Studium unmittelbar neben das fachwissenschaftliche gestellt wird: "Man muß also die Uebersicht, welche die Encyclopädie giebt, als Corrective des speciellen strengen Studiums anwenden, indem man sie sich im Anschluss an dieses und neben demselben aneignet" 44 •
40 A. BOECKH, 41 A. BOECKH, 42 A. BOECKH, 43 A. BOECKH, 44 A. BOECKH,
(Fn. 39), (Fn. 39), (Fn. 39), (Fn. 39), (Fn. 39),
S. 19. S. 31, 32. S. 47. S. 47. S. 48.
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Die Hypothese, daß es in der italienischen Privatrechtskultur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Grundzug vergleichender, enzyklopädischer und organisatorischer Art gegeben habe, findet hierdurch eine erste Bestätigung. Die historisch-vergleichende Haltung, die Manipulierung des "historischen" Elements im Horizont der Rechtsauslegung, das noch nicht vergessene Vermächtnis der Rechtsenzyklopädie, schließlich die breite Argumentationsbasis, die auf der praktischen forensischen Kultur ruhte, wirkten auf diese als besondere Anachronismen und als unaktuel/e, aber notwendige Elemente eines modernen Rechtswissens. Diese Entstehungsbedingungen und Eigentümlichkeiten der italienischen Privatrechtskultur klären meines Erachtens auch die Frage des "Germanismus". Dieser ist nicht als äußere Einwirkung anzusehen, auch nicht als Durchsetzung eines Modells, das sich durch konstruktive und systematische Stringenz auszeichnet und jäh die zwischen der italienischen Rechtskultur und der ecole de l'exegese bestehenden Brücken abbricht. Es handelt sich vielmehr um eine Übersetzung und Adaptierung der deutschen rechtswissenschaftliehen Literatur, die der Rezeption der französischen Exegese durchaus ähnlich ist und innerhalb einzelner Lehrsysteme und spezifischer Zusammenhänge mit Hilfe von Vergleich und Argumentation erfolgt. Dies wird vor allem durch zwei Tatsachen belegt: Zum einen faßt der "Germanismus" in Italien bereits während der Vorherrschaft der Exegese Fuß. Zum anderen hatte sich gerade innerhalb der ecole de l'exegese eine Frühform von "Germanismus" entwickelt, deren Verfechter, die Gruppe Jourdan, unter die furchtbare Anklage gestellt wurde, in Frankreich eine "ecole allemande" etablieren zu wollen. Stimmen diese Voraussetzungen, dann sind der Enthusiasmus für die deutsche Methode oder - als Gegensatz dazu - die Germanismus-Anklage weit weniger unwiderstehlich oder "furchterregend", als es bislang den Anschein hatte.
Anhang Korrespondenz F. Serafini/P. Ellero
Korrespondenz F. Serafini/ P. Ellero, der der Vorgänger Serafinis als Leiter des "Archivio Giuridico" war.
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Undatiert
"Serivimi anehe del tuo Giornale perehe e molto tempo ehe non ne sento parlare. Io ho rieevuto le due prime dispense e te ne sono obbligato, quando avrö tempo seriverö aleuni articoli in lingua tedesca sullo stato attuale della giurisprudenza in Italia, ed allora avrö oeeasione di parlare eon una eerta eompiaeenza del mio Ellero e del suo giornale. Ebbi l'invito del Sig. Lebmann di Berlino di essere eollaboratore pagato del suo gioranale. I patti vantaggiosi ehe mi furono offerti mi eonsigliano di aeeettare ( ... ) l'ineariee. Si guadagna di piu a serivere un paio di eolonne in un giornale tedeseo ehe a stampare un'opera di piu volumi in lingua italiana."45 Bologna 19.1.1869 Serafini al suo amieo Pietro. Avvertenza
"La traduzione e Ietterale fino allo serupolo, ti basti il sapere ehe ritradussi Ietteralmente perfino quei passi ehe eontengono Ia traduzione di aleuni brani del tuo Programma (ritraduzione della traduzione!). S'intenda da se ehe, pubblieando si questa traduzione, eonvemi riportare i passi originali quali si leggono nel tuo Programma, e non la ritraduzione dei medesimi, dappoiche eome sempre le traduzioni letterali rieseono alquanto indigeste. Per lo stesso motivo bisogna aeeomodare Ia traduzione anehe del restante alla legge della lingua italiana, per intanto albiti Ia traduzione letterale. Aneh'essa ha il suo pregio quello della fedeltä. Addio il tuo Filippo."46 Bologna 18.3.1869 "11 eelebre Prof. Arndts ha terminato il volume 46 dell'opera alla quale feci eenno nell' Arehivio vol. I, pag 198-20 I. Nella 45 Aus einem Brief von SERAFINI an ELLERO, in: "Archivio Ellero", ms 4208, XVI, I, 22, Universitätsbibliothek Bologna. 46 Aus einem Brief von SERAFINI an ELLERO, in: ebd., ms 4208, IX, VI, 27. Der Brief enthielt - wie SERAFINI bemerkte - eine wortgetreue Übersetzung der Rezen sion B. WINDSCHEIDS des "Archivio giuridico" in der von POTZL und WIND SCHEID geleiteten "Kritischen Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft", Bd. X, München 1868.
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P. Beneduce, Germanisme, Ia terrible accusation
prefazione egli fa un eenno all'Archivio Giuridico, e diee ehe il giudizio ivi eontenuto gli sara di forte eeeitamento a eontinuare nella pubblieazione dell'opera. Ho voluto serivertelo, perehe l'elogio piu grande ehe si possa fare in Germania ad una Rivista e quello di tenere eonto dei giudizi ivi espressi, e tenerne eonto tale da farne soggetto di apposita prefazione. Questo fatto ti serva di eeeitamento a perseverare nella intrapresa via. So fosse possibile avere una eopia dell'ultimo faseieolo dell' Arehivio (Vol II, fase. 6) da mandare allo stesso Prof. Arndts, te ne sarei obbligatissimo. Addio tuo affezionato Filippo." 47 Pavia 22.9.1869 "A Heidelberg mi sono divertito immensamente. L' Archivio giuridieo passö il tema di diseorso eoi primi luminari della scienza giuridiea tedesea, feei il possibile per stringere patti d'alleanza scientifica tra Italia e Germania. Mi furono usate le piu squisite gentilezze e eortesie. A voee ti raeeonterö il resto ... "48
47 Aus einem Brief von SERAFINI an ELLERO, in: ebd., ms 4208, IX, 111, 6. 48 Aus einem Brief von SERAFINI an ELLERO, in: ebd., ms 4208, IX, VII, 1.
Der Einfluß des deutschen Unterrichtsmodells auf die italienische Rechtskultur: Die Fallrechtsmethode
Von Ferdinando Treggiari (1) "La Germania ... e un paese ehe vive d'intelligenza, un paese ehe ha scosso da molto tempo quel certo giogo di autorita morale, ehe pur troppo pesa sopra Ia ragione di altri popoli, in cui Ia ragione e perfettamente libera, un paese insomma ehe ha un amore eccessivo di studio e di sapere."
Das Bild Deutschlands als "Kulturnation" und Mittelpunkt von Bildung und Kultur der Völker Europas war in Italien bereits weitverbreitet, als der Bildungsminister Carlo Matteucci dem ersten Parlament des erst seit kurzem vereinten Italiens seinen Entwurf einer Studienordnung für Universitäten vorlegte 1. Dieser Entwurf, erstmals eingebracht mit der Zielsetzung "condurre le Universita italiane a quel grado di perfezione in cui sono le Universita germaniche", war nicht zufällig auf der Grundlage eines ausführlichen Meinungsbilds erstellt worden, das der Minister in den Monaten vor der Vorlage des Entwurfs anband der Aussagen zahlreicher "dotti tedeschi" hatte ausarbeiten lassen. Hierbei waren diese deutschen Gelehrten über die günstigen Arbeitsbedingungen und die Effizienz des Lehrbetriebs an ihren Universitäten befragt worden 2 • 1 Atti Parlamentari, Camera dei Deputati, Discussioni, Sitzung vom 12. Juli 1862, S. 3196. CARLO MATTEUCCI (1811-1868} war Dozent für Physik an der Universität Pisa und Unterrichtsminister des Kabinetts RATTAZZI in der Zeit vom 31. März bis zum 7. Dezember 1862. 2 Atti Parlamentari, (Fn. 1}, S. 3195 und 3196: "lo ho un fascio di lettere ehe potrei mostrare alla Camera, di Mittermaier, di Liebig, di Magnus. Ho domandato a
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Über die Diskussion der Matteucci- Vorlage entspann sich in Italien eine Debatte, die eben die Schul- und Universitätsausbildung zum Thema hatte und die jahrzehntelang vom Beispiel "degnissimo d'imitazione" - des wissenschaftlichen Deutschlands beherrscht sein sollte3 . Mit der Zeit - auch als Begleiterscheinung der zunehmenden politischen Bedeutung des wilhelminischen Deutschlands im europäischen Maßstab - sollte die Begeisterung der Italiener für das deutsche didaktische Modell ins Uferlose steigen und durch die immer zahlreicheren Zeugnisse der von langen und fruchtbaren Studienaufenthalten in Deutschland zurückgekehrten Wissenschaftler noch verstärkt werden. "So bene" - so 1847 in den Worten des Physikers Dino Padelletti - "ehe dopo il 1866 e il 1870 e diventato di moda ammirare la Germania, e molti accetterebbero a chiusi occhi qualunque cosa, senza dimandare se si adatti o no alle nostre condizioni, purehe abbia un'origine tedesca. Ma almeno in quello ehe concerne (I') Universita ... Ia nostra ammirazione e ben giustificata: la superiorita della Germania in questo rapporto e incontrastabile ... E dall'altro canto non dobbiamo vergognarci di riconoscere la nostra inferiorita, dove esiste, di riconoscere e prendere il buono dove si trova: nel Medio Evo gli studenti tedeschi accorrevano in folle alle Universita di Bologna e di Padova; adesso le parti sono cambiate."4 tutti questi amici: come fate ad avere 20 o 21 Universitä perfette?". Die Briefe (vom 9. Juli und vom 6. August 1861), die CARLO MATTEUCCI an C. J. A. MITTER-
MAIER während der Vorbereitung des Geset&entwurfe sandte, befinden sich in der Handschriftenabteilung der Universität Heidelberg. 3 Vgl. dazu I. CERVELLI: Cultura e politica nella storiografia italiana ed europea fra Otto e Novecento, in: Belfagor, XXIII, 1968, S. 473-483, 696-616 (insbes. S. 603 und 610 f.); XXIV, 1969, S. 66-89 (insbes. S. 68 f.); R. ROMEO: La Germania e Ia vita intellettuale italiana dall'Unitä alla prima guerra mondiale (1971), in: R. ROMEO, L'ltalia unita e Ia prima guerra mondiale, Bari 1978, S. 109-140; 0 . WEISS: La "scienza tedesca" e l'Italia nell'Ottocento, in: Annali dell'Istituto storico italogermanico in Trento, IX, 1983, S. 9-85 (insbes. S. 67 ff.) . Das Zitat von B. MALFATTI, das ich im Text wiedergegeben habe, findet sich aufS. 68. 4 D. PADELLETTI: Le scuole politecniche d'Italia e di Germania con speciale riguardo all'insegnamento della meccanica, in: Nuova Antologia, Heft Män 1874, S. 678. DINO PADELLETTI (1852-1892) war Dozent für Rationale Mechanik an den Universitäten Mailand, Palermo und Neapel. Zur Veränderung des politischen und kulturellen italienischen Szenariums, die auf den Krieg von 1866 und den deutschfranzösischen Krieg von 1870 folgte, vgl. F. CHABOD: Storia della politica estera italiana da! 1870 al 1896, I. Le premesse, Bari 1961, insbes. das erste Kap.; CER-
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Andererseits trug als weiterer Grund für den Neid auf die blühenden kulturellen Institutionen in Deutschland auch das von ausgeprägtem Selbstmitleid gekennzeichnete Urteil über die Bedingungen des Lehrbetriebs an Italiens Universitäten bei 6• Es ging mit der durchaus weitsichtigen Skepsis derjenigen einher, die bereits damals in der "indifferenza" und der "forza d'inerzia" die wahren Hemmnisse für einen ernsthaften Versuch eines geistigen Wiederaufschwungs erkannt hatten6 .
VELLI, (Fn. 3), S. 66 ff.; ROMEO, (Fn. 3), passim; WEISS, (Fn. 3), S. 11 und 34 ff. Den Einfluß, den diese Ereignisse auf die italienische Rechtskultur, die sich nach der italienischen Einigung entwickelte, wenigstens als "sfondo em.-,tivo" hatten, hat ALDO MAZZACANE betont: A. MAZZACANE: Vorwort zu L'esperienr;a giuridica di Emanuele Gianturco, hg. v . A. MAZZACANE, Napoli 1987, S. 13 ff. 5 "lo non esito a proclamarlo in faccia alla Camera ed al paese: l'insegnamento universitario ... non fu mai cosi bassa come ora e; l'insegnamento universitario e nelle condizioni le piu miserabili ehe si possano immaginare", so der Abgeordnete BOGGIO in: Atti Parlamentari, (Fn. 1), S. 3191. Nicht sehr abweichend ist die Ansicht des Romanisten PIETRO COGLIOLO 25 Jahre danach: "si e detto ehe mentre da noi tutto va a rotoli, in Germania tutto fulge e prospera vigorosamente, mostrando cosl l'ingenito difetto italiano di avvilire se stesso per esaltare gli altri. Ma per quanto riguarda l'universita come istituzione ... non esito di dire ehe in Italia e fiacca e morente, mentre in Germania e sana e forte. Vita universitaria da noi non ce n'e ... non c'e l'amore alle cose universitarie, non il reciproco interessamento, non Ia comunione di idee e di conversazione tra docenti e discepoli, non quella emulazione di ricerca, quella vita di studio, quell'entusiasmo scolastico ehe fece lo splendore dei nostri studi antichi", in: P. COGLIOLO: La riforma universitaria, in: Rassegna di scienze sociali e politiche, XCIII, 1887, S. 470 f. 6 Vgl. das Zeugnis des Romanisten GUIDO PADELLETTI, das ALBERTO DEL VECCHIO überliefert hat, in: Archivio storico italiano, 4. Serie, tomo II, 1878, S. 478-491 (siehe S. 489). GUIDO PADELLETTI (1843-1878), Professor für Pandekten an der Universität Perugia und Pavia, später für Rechtsgeschichte in Bologna und Rom, hatte sich - wie es zu jener Zeit fast obligatorische Praxis war - zwei Jahre lang (" i piu proficui al suo sviluppo intellettuale", achreibt DEL VECCHIO) in Berlin und Heidelberg aufgehalten, um sich in den Studien der römischen Rechtsgeschichte fortzubilden. Später in einem an DEL VECCHIO 1875 gerichteten Brief, in dem er "gli ostacoli ehe da ogni parte oppongono in Italia l'indifferenza e Ia cosl detta forza d 'inerzia" tadelte, erinnerte er sich an die in Deutschland verbrachte Studienzeit: "cotesto ambiente intellettuale e scientifico" - so schrieb er - "rafforza e raddoppia Ia vita dello spirito" . Die wissenschaftliche "Fortbildung" in Deutschland war damals in Italien weitverbreitet. Vgl. dazu ROMEO, (Fn. 3), S. 121 ff.; WEISS, (Fn. 3), S. 75.
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Die Bedingungen des Wissenschaftsbetriebs und der Rechtslehre in Italien waren zudem Gegenstand des harten Urteils eben der Deutschen. Zuallererst ist hier Savigny zu nennen. Der negative Tenor dieses Urteils ist vor allem auf die geringe Zeit zurückzuführen, die die italienischen Professoren der wissenschaftlichen und didaktischen Arbeit widmeten, weil sie (damals wie heute) zeitgleich dazu auch einen anderen Beruf ausübten. In erster Linie handelte es sich dabei um eine anwaltliehe Tätigkeit7 während die Universität häufig lediglich dem Renamme diente . Savignys negativer Eindruck sollte sechzig Jahre später von Levin Goldschmidt geteilt werden: Auch dies ein Hinweis darauf, daß auf die "deutschfreundliche" verbale Propaganda bis dato keine institutionellen Reformen gefolgt waren - und auch im nachhinein nie folgen sollten -, die das erklärte Übernahmestreben in die Praxis umsetzten8 .
(2) Das ideologische Konzept der intellektuellen Hegemonie der Deutschen, das in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet war9 , gründete sich demnach zu großen Teilen 7 F. C. VON SAVIGNY: Ueber den juristischen Unterricht in Italien (1828), in: F. C. VON SAVIGNY: Vermischte Schriften, IV, Berlin 1850, S. 317, 320, 331, 336. SAVIGNYS Schrift wurde 1852 ins Italienische übersetzt: Sull'insegnamento del dritto in ltalia, in: Ragionamenti storici di dritto del Prof. F. C. Savigny tradotti dall'originale tedesco e preceduti da un discorso da A. TURCHIARULO, Napoli 1852, parte IV, S. 67-84. Das Zeugnis SAVIGNYS wird durch das Charakterbild des neapoletanischen Privatdozenten bestätigt, das der Romanist NICOLA DE CRESCENZIO in seinem Brief vom 5. Januar 1861 an MITTERMAIER zeichnet (auch dieser Brief wird in der Handschriftenabteilung der Universität Heidelberg aufbewahrt): "In Napoli e stato sempre il mal vezzo ehe un professore dovesse essere enciclopedico ... Questo professore e nello stesso tempo o avvocato o impiegato pubblico. Cosl egli impiega quattro ore al giorno all'insegnamento, quattro alle sue occupazioni dell'impiego e non gli resta ehe qualehe ora allo studio della aua facolta". Seinerseits aber befürwortete MITTERMAIER das italienische System des Miteinanders von Lehrauftrag und Anwaltsberuf. Vgl. M. T. NAPOLI: La cultura giuridica europea in Italia. Repertorio delle opere tradotte nel secolo XIX, I. Tendenr;e e centri dell'attivita scientifica, Napoli 1987, S. 22 f. 8 L. GOLDSCHMIDT: Rechtsstudium und Prüfungsordnung. Ein Beitrag r:ur Preußischen und Deutschen Rechtsgeschichte, Stuttgart 1887, S. 426. Vgl. auch COGLIOLO, (Fn. 5), S. 469 f. 9 Aber immerhin war die Situation geprägt durch einen erbitterten ideologischen Antagonismus, der mehr durch die nationalistische Gegenüberstellung Italiens und Deutschlands - auch in den Jahren der weitestgehenden Verbreitung des "germanesimo" - als durch andauernde frankophile Sympathien ausgelöst war. Vgl.
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auf die besondere Faszination, die das deutsche Universitätssystem auf die italienische (und allgemein auf die europäische) Kultur ausübte. Effizienz der Verwaltungsabläufe, Lehr- und Lernfreiheit, Seminarstruktur der Kurse, Status des Privatdozenten, praxisbezogene Ausbildung: Die deutschen Universitäten waren anscheinend nicht mit dem kleinsten Makel behaftet10• Auch für die italienische Rechtswissenschaft erschien dieses System als vollkommen, und zwar sowohl hinsichtlich der didaktischen Methodik als auch in bezug auf das Verhältnis zwischen Hochschulausbildung und späterer rechtspflegerischer Berufsausübung11. ANTONIO LABRIOLA an EDUARD ZELLER am 4. August 1874, in: A. LABRIOLA: Lettere inedite (1862-1903) hg. v. S. MICCOLIS, Roma 1988, S. 32. Die nationalistische Gegenüberstellung Italiens und Deutschlands wird auf Dauer - und vor allem an der Schwelle des Ersten Weltkriegs - die dominierende Richtung werden. Vgl. CERVELLI, (Fn. 3), S. 69 ff.; ROMEO, (Fn. 3), S. 129 ff.; WEISS, (Fn. 3), s. 74 ff. 10 Vgl. L. PALMA: Organamenta dell'azione dello Stato in ordine alla pubblica istruzione e alle sue relazioni colla liberta d'insegnamento in Francia, Prussia, lnghilterra e Stati Uniti d'America, in: Studi di legislazione scolastica comparata raccolti e pubblicati per cura del Ministere d'lstruzione pubblica, Firenze 1875, S. 1143, insbes. der 2. Teil, Par. 4., S . 104 ff. und 127 ff.; ders., Regelamento universitario italiano comparato agli statuti e ai regolamenti delle principali universita germaniche in ciö ehe concerne le autorita universitarie, i diritti e i doveri degli insegoanti e degli studenti, ebd., S. 144-210 (insbes. S. 206-210). Ober die Ordnung der juristischen Fakultäten in Deutschland vgl. M. GHIRON: Studi sull'ordinamento delle facoltä giuridiche, Roma 1913, S. 21-69; ders., Anmerkungen zu E . ZITELMANN: 1/educazione del giurista (= Die Vorbildung der Juristen, Leipzig 1909), italienische Übersetzung mit Anmerkungen von DOTT. MARIO GHIRON, in: Rivista di diritto civile, IV., 1912, S. 319-324.
11 Erst später wird der nationalistische Antrieb die italienische Rechtswissenschaft sich von dem deutschen Modell abwenden lassen, dessen "l'abito eccessivamente teorico e schematico degli insegnamenti" (GHIRON: Studi, (Fn. 10), S. 64; vgl. auch E. GIANTURCO: Discorsi parlamentari, Roma 1909, S. 310-322, insbes. S. 317) man immer mehr kritisieren wird und dem man den italienischen "senso pratico" und die "via di mezzo" entgegensetzen wird (COGLIOLO, (Fn. 5), S. 472). In bezug auf die Universitätsreformprojekte kann man allerdings behaupten, daß das "Modell Deutschland" mindestens bis 1885 einen konstanten Einfluß auf Italien ausübte. Im Jahre 1885 legte CREMONA seinen Bericht über den Universitätsrefomentwurf des Senats vor, der sich an mehreren Stellen am deutschen Modell orientiert (Atti Parlamentari, Senato del Regno, Documenti, Sessione 1882-1885, N. 100-A; siehe unten Fn. 71).
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Insbesondere in Hinblick auf diese spätere Berufstätigkeit schien das - für preußische Verhältnisse typische 12 - Modell der in zwei streng voneinander getrennten Phasen (einer theoretischen und einer praktischen) verlaufenden Juristenausbildung, der unangebrachten Verschmelzung dieser beiden Phasen vorzuziehen zu sein, die die Berufsordnung von 18 74 in Italien zuließ, und die schon zuvor ein grundlegender Artikel des Casati-Gesetzes von 1859 (der "Magna Charta" der italienischen Universität), ermöglichte. Der Universitätsausbildung war darin nämlich sowohl die wissenschaftliche Weiterbildung als auch die Vorbereitung auf das Berufsleben zugewiesen worden 13• In didaktischer Hinsicht wiederum wurden die wissenschaftlichen Ansprüche und die methodologische Orientierung der neuen Generationen italienischer Rechtswissenschaftler umgesetzt. Vor allem seit Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts, bedeutete dies im Einklang mit der kulturellen Anpassung der Rechtspraxis die Ausrichtung eben auf das übergeordnete hegemoniale Beispiel der "Deutschen Wissenschaft". Die Übernahme der Methoden der deutschen Rechtswissenschaft konnte schließlich den Bereich der juristischen Ausbildung nicht auslassen. Wenn die theoretischen Forderungen der Lehrmeinung in den neuen Rechtsschriften und Handbüchern ihren Ausdruck fanden, ergab es sich daraus zwingend, daß gerade der didaktische Bereich den Prüfstand und zugleich die Gelegenheit zur Weiterentwicklung der Verfahren darstellen mußte. Dem als 12 F. C. VON SAYIGNY: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), Freiburg 1892 (Neudruck nach der dritten Aufl. 1840}, S. 88 f.: "Offenbar ist also gegenwärtig die Bildung der Juristen, als aus zwei Hälften bestehend, gedacht, daß die erste Hälfte (die Universität) nur die gelehrte Grundlage, die zweite dagegen die Kenntniß des Landrechts, die des Preussischen Prozesses, und die praktische Fertigkeit zur Aufgabe hat". Diese Stelle bei SAVIGNY wurde von JOHN AUSTIN erläutert: J. AUSTIN: On the Uses of the Study of Jurisprudence (1863), in: J. AUSTIN: Lectures on Jurisprudence or the Philosophy of Positive Law, Fourth edition revised and edited by R. CAMPBELL, II, London 1873, S. 118 f. Dazu vgl. A. GIULIANI: Observations on Legal Education in Antiformalistic Trends, in: L'educazione giuridica, 1: Modelli di universita e progetti di riforma, hg. v . A. GIULIANI und N. PICARDI, Perugia 1976, S. 82; H. COING: Die Juristenausbildung der deutschen historischen Schule als eines der Modelle des 19. Jahrhunderts, ebd., S. 116-134 (auch mit Hinweisen auf die Überlegungen HUMBOLDTS) . 13 Dazu vgl. F. TREGGIARI: Scienza e insegnamento del diritto tra due secoli: l'opera e Ia fortuna di Emanuele Gianturco, in: L'esperienza giuridica di Emanuele Gianturco, (Fn. 4}, S. 112 ff.
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umfassendes kulturelles Vorbild aufgefaßten deutschen Modell entlehnten die italienischen Juristen daher neben dem Inhalt auch die Ausdrucksformen und die eigentlichen Praktiken der Übermittlung der neuen juristischen Lehre. (3) Eine sicherlich nicht nebensächliche Rolle nahm hierbei die Methode des Rechtsunterrichts anband praktischer Beispielsfälle ein. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war dieser Lehrpraxis an den deutschen juristischen Fakultäten nicht überall der gleiche Erfolg beschieden gewesen. Insbesondere hatte sich der preußische Einflußbereich (die einzige Ausnahme stellt die kurze Lehrtätigkeit von Jherings in Berlin dar 14 ) lange Zeit der Einführung dieses neuen didaktischen Instruments verschlossen, das dagegen "mit großem Erfolg" bereits an vielen anderen deutschen Universitäten übernommen worden war 15 . Die Ablehnung der Praktika seitens der juristischen Fakultäten in Preußen gründete sich auf die Überzeugung, daß "der Referendar die praktische Geschicklichkeit während seiner vieljährigen Vorbereitungslaufbahn im Staatsdienst zu erlangen hinreichende Gelegenheit habe". "Diese Vorstellung" - hatte Levin Goldschmidt bemerkt - "ist eine völlig irrige, sie verwechselt die schon auf der Universität nach Massgabe der Unterrichtseinrichtungen ebenso mögliche wie 14 Vgl. Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen. Zu akademischen Zwecken hg. v . R . JHERING, Dr. und ordentlicher Professor der Rechte zu Rostock. Erstes Heft, 100 Rechtsfälle vom Verfasser und 36 vom verstorbenen G. F. PUCHTA, Leipzig 1847, S. VII und Anm.:"Selbst in Berlin, wo doch ein solcher Reichtum von Lehrkräften vorhanden ist, war, wie der Verf. sich dort als Privatdozent habilitierte und mit einem Pandektenpraktikum auftrat, dieser Mangel Jahre lang vorhanden gewesen; erst im neuesten Lectionskatalog findet der Verf. diese Vorlesungen wieder angekündigt". 15 L. GOLDSCHMIDT: Das Preußische Recht und das Rechtsstudium auf den Preußischen Universitäten, in: Preußische Jahrbücher, 29. Bd., Heft Mai 1859, S. 2957, zum Teil wörtlich in L. GOLDSCHMIDT, (Fn. 8), S. 261 (vgl. auch S. 88), wiedergegeben. 1859 hatte GOLDSCHMIDT das von den Universitäten Göttingen, Jena, Heidelberg, Kiel, Bonn und den Juristen MITTERMAIER, THÖL, GUYET, BRIEGLEB und JHERING dargestellte Beispiel dem negativen Primat der "Preußischen Tradition" entgegengesetzt. 1887 ist seine Bilanz weitaus tröstlicher: Vgl. S. 263 und Anm. 487 und 488. GOLDSCHMIDT selbst war der Verfasser einer kasuistischen Sammlung: L. GOLDSCHMIDT: Privatrechtsfälle zum Gebrauch fUr praktische Übungen, Berlin 1882. Eine Sammlung der kasuistischen Übungen, die an den wichtigsten Universitäten Deutschlands gehalten wurden, findet sich bei J. SCHRÖDER: Wissenschaftstheorie und Lehre der "praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1979, S . 193 ff.
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nothwendige praktische Gymnastik, eine Art 'juristischer Klinik', mit der späteren Bethätigung des Wissens in mehr oder weniger selbständiger Arbeit. Wir verlangen von dem in die Praxis eintretenden Juristen keineswegs diejenige sichere und gleichmässige Beherrschung, schnelle und gewandte Handhabung des Rechtsstoffes, noch weniger jene blosse Geschicklichkeit, welche häufig nichts anderes als Routine ist, wohl aber wissenschaftliche Durchdringung der Theorie durch Selbstarbeit und Uebung an praktischen Fällen." 16 Levin Goldschmidt hatte hier in wenigen Worten das Wesen des fallbezogenen didaktischen Instruments zusammengefaßt, wie es von der deutschen Rechtswissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, beginnend mit Jhering, eingesetzt wurde. Die Fälle, die in den Hörsälen der Universitäten zu behandeln und zu lösen waren, konnten nicht als Vorwegnahme des eigentlichen Inhalts der praktischen Berufsausbildung verstanden werden. Denn die ihnen zugewiesene Rolle bestand exakt darin - hier sei auf die eindeutigen Aussagen Jherings 1847 verwiesen das Wissen zu "Rechtsbegriffen" mittels der Formulierung konkreter Beispiele zu unterstützen, die dem "Gedächtnis" des "Anfängers" besonders leicht zugänglich sein sollten 17• 16 L. GOLDSCHMIDT, (Fn. 8), S. 262. Die didaktische Wichtigkeit der Praktika ist von GOLDSCHMIDT auf der vorhergehenden Seite genau erklärt: Sie "erscheinen uns als die notwendigen Ergänzungen und Gegengewichte gegen den immer mehr sublimirten dogmatischen Unterricht, als die wesentlichen Mittel zur Erweckung eigener Selbstthätigkeit"; sie "sollen unmittelbar in das Getriebe des Lebens einführen, das spiritualistische Dogma aus seiner Lehrsatzhöhe herabziehen zur wirklichen Anwendung" . 17 JHERING schreibt: "Kein Studium, etwa das der Mathematik und reinen Philosophie ausgenommen, möchte eben wegen jenes Requisites bei seinem Beginn so schwierig und darum so wenig anziehend sein, als das der Jurisprudenz. Der Anfänger sieht sich hier gewissermaßen in eine ganz fremde Begriffs-Welt versetzt, die keine Anknüpfungspunkte mit seiner bisherigen Bildung darbietet ... Es wird die Anforderung an ihn gestellt, sich sicher auf diesem abstrakten Boden zu bewegen, mit den Rechtsbegriffen sich vertraut zu machen, zu verkehren und zu operiren, als wären es concrete Gegenstände ... Die Hauptaufgabe des Lehrers muß aus diesem Grunde darauf gerichtet sein, ihm erst diese technische Anschauungsweise zu verschaffen. Dieser Zweck wird nun am sichersten dadurch erreicht, daß man dem Anfänger das Abstrakte anfänglich nicht in seiner reinen, nackten Form vorführt, sondern in seiner Verkörperung im Rechtsfall ... Dieser scheinbare Abweg führt gerade am schnellsten und sichersten 11um Ziel, denn das benutzte Hülfsmittel setzt ihn bald in den Stand, dasselbe zu entbehren und mit den Rechtsbegriffen ohne weitere Ver-
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Die enge Anlehnung der Didaktik der praktischen Fälle an die Phase der wissenschaftlichen Juristenausbildung, ihr Einsatz als Hilfsmittel der dogmatischen Lehre 18 und zur "Verinnerlichung" der Rechtsbegriffe (Jhering hatte die an den Hochschulen zu lösenden praktischen Fälle ausdrücklich als "mnemotechnisches Hülfsmittel" bezeichnet) erklärt auch die besondere Typologie des kasuistischen Rechtsunterrichts, die sich in Deutschland im letzten Jahrhundert herausgebildet hatte, und ihre deutliche Abweichung vom fast zeitgleich aufgekommenen anglo-amerikanischen didaktischen Modell 1'9.
mittlung r.u verkehren ... Ihr (der praktischen Übungen) Nutzen ist nicht für das spätere praktische Leben berechnet, sondern noch für die Universität; anstatt den theoretischen Studien gegenüber als Zweck r.u erscheinen, sollen sie umgekehrt ein bloßes Mittel derselben sein, ihnen dienen" (Civilrechtsfälle, 1847, (Fn. 14), S. VIII-
X).
18 Für OTTO LENEL r.. B. ist die Aufgabe der Übungen, die Studierenden "in die
Kunst der juristischen Konstruktion, der Auslegung und Anwendung" des Rechts einzuführen: 0 . LENEL: Praktikum des Bürgerlichen Rechts. Praktische Rechtsfragen r.um Gebrauch bei Übungen und Vorlesungen, 11. Aufl., Leipzig 1929, S. III (Vorwort r.ur 1. Aufl. 1901). Vgl. auch R. STAMMLER: Übungen im Bürgerlichen Recht für Anfänger zum akademischen Gebrauch und zum Selbststudium, 2 Bde, Leipzig 1903, S. V f. 19 Anderer Meinung ist D. S. CLARK: Tracing the Roots of American Legal Education - A Nineteenth Century German Connection, in: Rabels Zeitschrift für Ausländisches und Internationales Privatrecht, 51. Jg., 1987, S. 313-333. Zum Verhältnis zwischen der amerikanischen und der deutschen kasuistischen Methode siehe J. H. MERRYMAN: Legal Education in Civil Law and Common Law Universities: a Comparison of Objectives and Methods, in: L'educatione giuridica, (Fn. 12), S. 168199; M. RHEINSTEIN: The Case Method of Legal Education: the First OneHundred Years, ebd., S. 15-32; W. 0. WEYRAUCH: The Art of Drafting Judgements: A Modiried German Case-Method, in: Journal of Legal Education, 9, 1957, S. 311-331; H. KRONSTEIN: Reflections on the Case-Method in Teaching Civil Law, ebd., 3 . 1950, S. 265-272. Zur deutschen Erfahrung der letzten Jahrzehnte siehe W. HARDWIG: Die methodologieehe Bedeutung von Rechtsfällen für die Behandlung rechtswissenschaftlicher Probleme, in: Juristische Schulung, 7. Jg., 1967, S . 49-54; K. MICHAELIS: Recht und Unrecht des "Mißbehagens" gegenüber dem akademischen Reehtsunterricht, in: Neue Juristische Wochenschrift, 20. Jg., 1967, S . 1881-1884; W . FIKENTSCHER: Rechtsunterricht mit Entscheidungssammlungen, in: Tübinger Festschrift für Eduard Kern, Tübingen 1968, S . 139-166. Gegen das Übergewicht der Fallösungstechnik in der heutigen deutschen juristischen Ausbildung kürzlich B. GROßFELD: Rechtsausbildung und Rechtskontrolle, in: Neue Juristische Wochenschrift, 42. Jg., 1989, S. 875-881.
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(4) Am Anfang der deutschen Rechtsfallsammlung und ihrem anschließenden strukturellen Ausbau sowie am herausragenden Erfolg im europäischen Rahmen steht zweifellos die wissenschaftliche und didaktische Erfahrung des Rudolf von Jhering, die die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts ausfüllt. Denn die wenigen Fallsammlungen, die in der ersten Hälfte des vergangeneo Jahrhunderts erschienen sind, waren in der Regel nicht für den Lehrbetrieb bestimmt. Beispielsweise kam in den Werken eines Nicolaus Thaddäus Gönner gewiß die Notwendigkeit zum Ausdruck, mit der die Theorie sich an das praktische Material anlehnen muß, um ihm Anregungen zu entnehmen und "manche unerkannte theoretische Wahrheit" ans Licht zu bringen; doch war der Nutzen noch nicht erkannt worden, den die Verwendung dieses in geeigneter Form aufbereiteten Materials für die Erfordernisse des Lehrbetriebs bieten kann 20 . Auch Heinrich Thöl, als dessen Student Jhering selbst in Göttingen 1837 die Methodik der praktischen Übungen gelernt hatte und dem er später als Zeichen der Anerkennung die Erstaufla~e seiner "Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen" widmen sollte 1 , war es nicht gelungen, eine Fallsammlung für die Lehre zusammenzustellen. Die von Thöl in sei20 N. T. GöNNER: Auserlesene Rechtsfälle und Ausarbeitungen, 1. Bd., Landshut 1801, S. 1 f.: "Sammlungen von Rechtsfällen sind fUr den Rechtsgelehrten das Archiv der Erfahrungen ... Manche unerkannte theoretische Wahrheit wurde durch diesen Weg an das Licht gestellt, manche Lücke ausgefüllt, manche Unvollkommenheit dessen, was in der Theorie auf gut Glück gelehrt wurde, aufgedeckt". GÖNNERS Rechtsfälle wurden in fünf Bänden (1801-1805) veröffentlicht. Ihnen sollen zwei andere vorhergehende Werke GÖNNERS zur Seite gestellt werden: Juristische Abhandlungen, Bamberg 1795, und Grundsätze der juristischen Praxis, Bamberg 1797. Zu GÖNNER siehe G. KLEINHEYER/J. SCHRÖDER: Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 2. Auf!., Heldeiberg 1983, S. 329 f. (dort aber keine Hinweise auf die in dieser Anm. zitierten Bücher). 21 R. VON JHERING: Civilrechtsfälle (1847), (Fn. 14), S. IV-VI; den., Civilrechtsfälle, 3. Auf!., Jena 1876, S. 111, VI ("In Göttingen gehören die Praktika zu den alten Traditionen des juristischen Studiums, und nach meinen penönlichen Erfahrungen gibt es keine deutsche Universität, wo sie von den Studierenden mit dem Eifer - und ich glaube, hinzusetzen zu dürfen: auch mit dem Erfolg - besucht werden als hier") . Zu HEINRICH THÖL siehe E. LANDSBERG: Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 111, München/Berlin 1910, S. 626 ff.. ; KLEINHEYER/SCHRöDER, (Fn. 20), S. 353; M . G. LOSANO: Studien zu Jhering und Gerber, Ebelsbach 1984, S. 409; ders., Undici lettere inedite da! carteggio fra Jhering e Gerber, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, II, 1972, S. 374, Anm. 100; J . SCHRÖDER, (Fn. 15), s. 205.
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nen Vorlesungen verwendeten Fälle waren allerdings mit größter Wahrscheinlichkeit der Judikatur entnommen und sind Teil einer allgemeineren Bestandsaufnahme auf dem Gebiet der praktischen Rechtsprechung, die dieser deutsche Jurist 1836 begann und die dann 1857 mit der Herausgabe einer wichtigen Entscheidungssammlung abgeschlossen wurde 22 . Die von Thöl in Göttingen abgehaltenen Pandekten-Praktika sollten Jherings "iuristische Bildung" nachhaltig beeinflussen 23 und zumindest teilweise die besondere Qualität seiner später abgehaltenen kasuistischen Lehrveranstaltungen bestimmen. So sollte sich auch auf diesem Gebiet der Einfluß Puchtas - bei dem Jhering allerdings nie gehört hatte 24 - bald als rückläufig erweisen25 (5) Jhering ist damit der erste deutsche Professor gewesen, der die Methodik der Übungen anband praktischer Fälle fest in den universitären Rechtsunterricht aufnahm und der gleichzeitig ein Lehrmittel für diese didaktische Methode erstellte 2 • 1847 griff er
22 H. THÖL (Hg.): Ausgewählte Entscheidungsgründe des Oberappellationsgerichts der vier freien Städte Deutschlands, Göttingen 1857 (vgl. das Vorwort). Ee ist überflüssig, daran zu erinnern, daß das von I. A. SEUFFERT herausgegebene "Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in den deutschen Staaten" seit 1847 in München veröffentlicht wurde. Hierzu siehe R. VON JHERING: Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Eine Weihnachtsgabe für das juristische Publikum, Darmstadt 1988 (Nachdruck der 13. Auf!., Leipzig 1924), S. 101 ff. 23 R. VON JHERING: Civilrechtsfälle (1847), (Fn. 14), S. VI; ders., Civilrechtafälle (1876), (Fn. 21), S. III; ders., Scherz und Ernst, (Fn. 22), S. 871. 24 R. VON JHERING, (Fn. 22), S. 18, Anm. 1. 25 R. VON JHERING, (Fn. 22), S. 338 f.: "Es gab eine Zeit, wo Puchta mir als Meister und Vorbild der richtigen juristischen Methode galt, und wo ich so tief in derselben befangen war, daß ich das Vorbild hatte überbieten können ... Aber dann kam bei mir der Umschwung ... nicht zum geringsten Teil auch durch das Pandektenpraktikum, das ich mein ganzes Leben hindurch gehalten habe, und das in meinen Augen für den Lehrer selber eins der wertvollsten Korrektive gegen ungesunde theoretische Ansichten enthält" . Siehe auch S. 366 f. 26 Über JHERING als Begründer der juristischen Übungen FIKENTSCHER, (Fn. 19), S. 140; ders., Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 111, Tübingen 1976, S. 272; C. HELFER: Rudolf von Jhering über das Rechtsstudium, in: Juristenzeitung, 23. Jg., 1966, S. 506 f.; E. E. HIRSCH: Jhering als Reformator des Rechtsunterrichts (Die Jurisprudenz des täglichen Lebens), in: Jherings Erbe. Göttinger Symposium zur 150. Wiederkehr des Geburtstags von Rudolph von Jhering, hg. v. F . WIEACKER und C. WOLLSCHLAGER, Göttingen 1970, S. 91; F. STURM: Rudolf von Jhering: scienza ed insegnamento del diritto romano, in: Studi
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eine Arbeit des ein Jahr zuvor verstorbenen Georg Friedrich Puchta auf und veröffentlichte "zu akademischen Zwecken" den Band "Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen", wobei er den sechsunddreißig ursprünglichen, von Puchta für dessen Pandekten-Vorlesungen aufbereiteten Fällen eine Sammlung von hundert von ihm selbst zusammengestellten praktischen Fällen voranstellte27. Dieser Band wurde als "erstes Heft" einer Sammlung vorgestellt, die nach den ursprünglichen Absichten des Verfassers in den Folgejahren aufgrund der schnellen didaktischen "Verschleißerscheinungen", denen die Jahr für Jahr den Studenten vorgestellten Fälle unweigerlich unterliegen, überarbeitet und erweitert werden sollte. Die Notwendigkeit, über "reiches Material" verfügen zu können, um zu verhindern, daß an der Universität eine "traditionelle Sammlung" der von ihm zusammengetragenen Lösungen entsteht, hatte Jhering ursprünglich veranlaßt - entgegen dem wahllosen Einsatz von Fällen der praktischen Jurisprudenz zu didaktischen Zwecken - seine "Civilrechtsfälle" als ein sich weiterentwickelndes Sammlungswerk zu planen. Dazu sollten nach und nach neben dem eigentlichen Inhalt alle zweckdienlichen kasuistischen Beiträge aufgenommen werden, die Juristen aus Wissenschaft und Praxis hierfür zur Verfügung stellen. Genau diesem Zweck sollte die Herausgabe der Sammlung in regelmäßig erscheinenden Heften dienen. Als weiteren Beleg für den praktischen Nutzen des Vorhabens (wobei die endgültige Mischstruktur des Werkes natürlich Voraussetzung war) führte Jhering das Beispiel der Puchtaschen Fälle an, die im zweiten Teil des ersten Heftes aufgeführt waren: "einen Beitrag ... der sonst dem größeren Publikum schwerlich bekannt geworden wäre" 28 . Doch der lange Zeitraum, fast ein Vierteljahrhundert, der zwischen der ersten und der zweiten Auflage (1870) der "Civilrechtsfälle" liegt, sollte Wesen und Bestimmung dieser Sammlung nachhaltig beeinflussen, so daß Jhering von seinen ursprünglichen senesi, LXXXIII, 1971, S. 51; E. WOLF: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 1963, S. 657 f. Vgl. auch SCHRÖDER, (Fn. 15), S. 208 f. 27 Siehe oben in Fn. 14. Hinweise über PUCHTAS kasuistische Methode in R. VON JHERING: Civilrechtsfälle (1847), (Fn. 14), S. X und Anm., S. XII; ders., Civilrechtsfälle, 2. Aufl., Jena 1870 (siehe unten Fn. 30), S. III. Ober die von PUCHTA an den Universitäten Leipzig und Berlin von 1837 bis 1845 gehaltenen Übungen SCHRÖDER, (Fn. 15), S. 202, 208. Zu den 100 Fällen, die in der ersten Abteilung der 'Civilrechtsfälle' (1847) enthalten sind, vgl. JHERING aufS. III des Vorworts zu dieser Aufl. 28 R . VON JHERING, Civilrechtsfälle (1847), (Fn. 14), S. X-XII.
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Absichten abwich. Die Aufgabe der konstruktivistischen Methodik - ein nun endgültiger Abschied von einem Weg, den der Verfasser nach seinen eigenen Worten "als junger Mensch ebenfalls gewandelt" war 29 - und die entschlossene Polemik gegen den "Kultus des Logischen", die vor allem in den Schriften aus den frühen sechziger Jahren entflammte, mußten sich auch auf die didaktische Biografie und das kasuistische Werk Jherings auswirken. Auch auf diesem Gebiet war der einstige Lehrmeister Puchta der Zielpunkt. So fällt in der zweiten Auflage der "Civilrechtsfälle"30 dessen Fallsammlung weg, um durch eine erste, der "Jurisprudenz im täglichen Leben" entnommene Gruppe ersetzt zu werden (zwölf Fälle, die in den dreißig Seiten des neu hinzugekommenen zweiten Abschnitts dieses Werks abgehandelt werden). Dies stellt das eigentlich Neue in jener Auflage dar, und dieses Kapitel wird gleichzeitig auch gesondert für sich herausgegeben31 • Auch im ersten Teil der Sammlung, dessen Umfang im Vergleich zum zweiten Teil weit konsistenter ist, wird bei der Neuauflage mehr als ein Drittel der ursprünglich angeführten Fälle ersetzt. In diesem Teil des Werkes ist aber trotz der beachtlichen Aktualisierung die Distanz zum traditionellen Stil der Falldarstellung nicht so deutlich, d.h. zur gern als "unpraktisch" bezeichneten Lehrmethode der Pandekten, die Jhering veranlaßt hatte, sich gegen Puchtas didaktische Methodik auszusprechen: Er schreibt zur Begründung der endgültigen Entfernung aus der Fallsammlung lapidar, daß dessen Übungen "im Grunde nichts als theoretische 29 R. VON JHERING, (Fn. 22), S. 337. 3 Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen. Zum akademischen Gebrauch bearbeitet und herausgegeben von RUDOLF VON JHERING, k. u . k. ordentlicher Professor der Rechte zu Wien. Zweite, wesentlich veränderte Auf!., Jena 1870. 31 Die Jurisprudenz im täglichen Leben. Zum akademischen Gebrauch bearbeitet und herausgegeben von RUDOLF VON JHERING, Jena 1870. Die gleichzeitige unabhängige Drucklegung der "Jurisprudenz" wurde von JHERING selbst angekündigt: Vgl. Civilrechtsfälle (1876), (Fn. 21), S. III; Civilrechtsfälle, 4 . Aufl., Jena 1881, S. III. Alle folgenden Auflagen sowohl dieses Werks (das seit der zweiten erweiterten Aufl. von 1873 den neuen Titel trug "Die Jurisprudenz des täglichen Lebens. Eine Sammlung von leichten, an Vorfälle des gewöhnlichen Lebens anknüpfenden, Rechtsfragen") als auch der "Civilrechtsfälle" werden von STURM, (Fn. 26), S. 51, Fn. 56, aufgezählt. Die "Jurisprudenz"wird nur bis r.ur dritten Aufl. (1876) der "Ci-
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vilrechtsfälle" miteingeschlossen bleiben. Im Laufe der folgenden Auflagen wird sie von den ursprünglichen 30 Seiten von 1870 bis auf über 130 in der achten und damit letzten von JHERING betreuten Ausgabe von 1892 anwachsen. Zu diesem Werk vgl. auch M. G. LOSANO: chiacchierata su di un romanista, in: Sociologia del diritto, IX, 1982, s. 161-168.
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mit den Namen A und B versehene Fragen" und "nichts als in die äußere Form eines Rechtsfalles gebrachte Compendien-Paragraphen"32 waren. (6) Die abstrakte und dogmatische Typologie der puchtaschen Fälle wäre aber ohnehin nicht mit der eindeutigen Seminarstruktur der von Jhering abgehaltenen Praktika und Kurse zum römischen Recht in Einklang zu bringen gewesen. Jhering schreibt 1870: "Die bloße Mittheilung von Rechtsfällen in den Pandekten ist mir nie als ausreichend erschienen, vielmehr habe ich von meinem ersten Auftreten als Privatdocent an stets noch eine andere Form der Benutzung derselben damit verbunden, nämlich die der eigenen Bearbeitung der Rechtsfälle von seiten der Zuhörer, m.a.W. die des Pandekten-Praktikums"33. In "Scherz und Ernst" wird er zum Abschluß seiner vierzigjährigen Lehrerfahrung hinzufügen: "Mit dem bloßen Vortragen von Rechtsfällen von Seiten des Lehrers und der eigenen Entscheidung derselben ist es aber nicht getan. Sowohl für ihn selber wie für die Zuhörer erlangen derartige Übungen ihren Wert nur durch den regsten Wechselverkehr zwischen beiden Teilen, durch den unausgesetzten Austausch der Ansichten. Der Lehrer muß den Widerspruch gegen die von ihm aufgestellten Behauptungen und den Versuch ihrer Widerlegung nicht bloß dulden, sondern herausfordern, sich auf eine Linie mit seinen Zuhörern stellen, gleich als wären er 32 R. VON JHERING, Civilrechtsfälle {1847), {Fn. 14), S. III, VI. Ein aus den PUCHTASCHEN Fällen der "Civilrechtsfälle" von 1847 (~weite Abt., S. 151 f., Fall IV) entnommenes Beispiel wird das Urteil JHERINGS aufklären: "X, der Sohn des A und der B, ist von seinem väterlichen Großvater C dem Bruder desselben D in Adoption gegeben worden, der ein leibliches Kind E hat. X stirbt in der Adoption und hinterläßt außer den genannten Personen einen leiblichen Bruder F . In welcher Ordnung sind diese Personen intestaterbberechtigt?". Der ausdrückliche Be~ug auf PUCHTA verschwindet in der dritten Aufl. der "Civilrechtsfälle" {1876). Um die "Rechtsfälle, denen man sofort ansieht, daß sie nichts sind als Paragraphen eines Compendiums in casuiatiacher Fassung" besser ~u definieren, verwendet JHERING stattdessen einen wirkungsvollen und karikaturistischen Ausdruck: "Haubenstockrechtsfälle". Die Bedeutung des Wortes "Haubenstock" wird im Deutschen Wörterbuch von JACOB und WILHELM GRIMM, 4. Bd., II. Abt., Leip~ig 1877, Sp. 567, erklärt {"ein rundlicher klot~ worauf man die haube set~t, damit sie die form behalte ... in bildernfür einen höhlkopfigen menschen") . Einen Versuch, die beiden Juristen in einer gemeinsamen Würdigung ~u porträtieren, findet man bei HOLTZE: Puchta und v. Jhering, in: Deutsche Juristen-Zeitung, III, 1898, S. 483-485. 33 R . VON JHERING, Civilrechtsfälle {1870) , {Fn. 30), S. V .
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und sie Mitglieder eines Richterkollegiums ... Er muß herabsteigen von seiner Höhe und gewärtigen, daß die Rollen des Fragenden und Gefragten vertauscht und daß ihm Fragen vorgelegt werden, auf die er nicht gefaßt war." 34 Die Tatsache, daß sich die Jheringsche Unterrichtsmethode vornehmlich durch diese hohe Meinung von dialektischen Gesichtspunkten und vom Beteiligungscharakter der kasuistischen Übung von den gleichfalls kasuistischen Praktiken unterscheidet, die in den übrigen Universitätszentren Deutschlands zum Einsatz kamen, wird durchgän~if vom Zeugnis der wichtigsten Schüler Jherings unterstrichen , wie auch von gelegentlichen Hörern seiner gut besuchten Universitätsvorlesungen36. Allerdings eignete sich die Verknüpfung von Seminar und Übung im Jheringschen Modell auch zur (zumindest impliziten) Vorankündigung einer effizienten und radikalen didaktischen Alternative zum traditionellen System der akademischen Vorlesungen (das - man erinnere sich - nie untergehen sollte, auch nicht angesichts der radikalsten Änderungen der Methoden des Rechtsunterrichts). Die Einführung der neuen didaktischen Instrumente sollte die juristische Vorlesung aber am Leben lassen, indes mit negativen Konsequenzen bezüglich der Qualität der als Unterrichtsmaterial ausgewählten Fälle und damit in bezug auf die Effizienz des kasuistischen Experiments37. 34 R. VON JHERING, (Fn. 22), S. 367. Allgemein führt man die Einführung des Seminars in den deutschen Universitäten auf die Thesen zurück, die WILHELM VON HUMBOLDT in einer Denkschrift von 1810 entfaltete: Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin, in: W. VON HUMBOLDT, Studienausgabe, 2. Bd.: Politik und Geschichte, Frankfurt a. M . 1971, S. 133- 141. Diese Schrift HUMBOLDTS wurde mehrmals ins Italienische übersetzt: W . VON HUMBOLDT: Sull'organizzazione interna ed esterna degli istituti scientifici superiori in Berlino, in: W. VON HUMBOLDT, Universita e umanita, hg. v. F. TESSITORE, Napoli 1970, S. 35-48. Vgl. auch W. VON HUMBOLDT: Stato societa e storia, hg. von N. MERKER, Roma 1974, S. 171-176. Dazu vgl. FIKENTSCHER, (Fn. 19), S. 140. 35 Vgl. E. ZITELMANN: Rechtsfälle für bürgerlich-rechtliche Übungen, München/Leipzig 1917, S. 202 f. 36 Vgl. HELFER, (Fn. 26) , S. 507, der von einem beachtenswerten Zeugnis eines amerikanischen Studenten berichtet. Zu einigen bedeutungsvollen Angaben bezüglich der Zahl der Teilnehmenden an den theoretischen und praktischen Kollegien JHERINGS vgl. R . VON JHERING : Civilrechtsfälle (1876), (Fn. 21), S. V; Rudolf von Jhering in Briefen an seine Freunde, Aalen 1971 (Nachdruck der Ausg. Leipzig 1913), s. 268, 279, 297, 345. 37 FIKENTSCHER, (Fn. 19), S. 141: "Die 'ex-cathedra-Methode' wird ... als Vortragen des Systems verstanden, wobei die Verwendung praktischer Beispiele und
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Auch in Italien sollte sich die geschlossene Kritik, die nur wenige Jahre später ein großer Teil der akademisch-juristischen Welt sowohl der "ex-cathedra-Methode" als auch dem System der vorlesungsbegleitenden Prüfungen gegenüber vortrug, als gar nicht unbedingt marginaler Gesichspunkt eines generellen Erneuerungsvorhabens der juristischen Wissenschaft in ihren Formen und in ihren Inhalten ausdrücken. Allerdings blieb jeder Reformversuch der juristischen Didaktik in dieser Hinsicht fruchtlos 38• (7) Die von Jhering gewählte Seminarform erforderte natürlich eine besondere "Natur" des zu behandelnden Falls. Inhalt und Form der Lehrveranstaltungen fanden eine Übereinstimmung, in einem Verhältnis gegenseitiger Weiterentwicklung. Im Vorwort zur zweiten Auflage seiner "Civilrechtsfälle" hatte Jhering unter Hervorhebung seiner impliziten Loslösung vom Puchtaschen Modell insbesondere die Notwendigkeit betont, dem Unterricht einen wirklich praktischen Charakter zu geben. Um die aktive Einbeziehung der Studenten zu ermöglichen, muß der Fall laut Jhering so angelegt sein, daß das Problem selbst für den juristischen Laien in gewisser Hinsicht attraktiv wird. Nur so kann die Übung den Stellenwert eines "mnemotechnischen Hülfsmittels" erlangen und damit geeignet sein, dem Gedächtnis der Anfänger "das ganze Rechtsmaterial, welches zum Zwecke seiner Entscheidung in Bewegung gesetzt worden ist", einzuprägen89 • Dieser von Jhering formulierten Forderung nach konkretem Bezug kamen nur Fallbeispiele nach, die, wie die in der "Jurisprudenz" zitierten, in der Lage waren, auf möglichst einfache und wahrheitsgetreue Weise Vorfälle des gewöhnlichen Lebens nachzuvollziehen: Ausgehend von all den juristisch relevanten Vorfällen, die ohne die Anwendung auf einen konkreten, zu entscheidenden Fall zu kurz komme ... Nur sind diese Beispiele fast durchweg hypothetische Fälle, dadurch gekennzeichnet, daß die in ihnen auftretenden Personen A, B und C oder allenfalls Maier und Schulze heißen. Die Verwendung wirklicher Entscheidungen in der Vorlesung stieß im allgemeinen auf Ablehnung, da die Schilderung des Sachverhalts zu schwierig sei, und die Darstellung der oft verwickelten und zahlreichen Rechtsfragen zu viel Zeit kosten würde". Vgl. aber schon ZITELMANN, (Fn. 10), S. 279: "Un abile insegnante si industrierä pure a vivificare Je regole astratte con eaempi concreti, ma qui si incontra un Iimite inesorabile nella necessitä di completare Ia materia delle lezioni in un tempo determinato, ed oltre a cio questi esempi aono poi sempre casi astratti, e non mai alcunche di vivo ehe Jo studente arrivi a vedere innanzi a se". 38 Dazu vgl. TREGGIARI, (Fn. 13), S. 108 ff. 39 JHERING, Civilrechtsfälle (1870), (Fn. 30), S. IX.
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vorherige Ankündigung vom Betreten eines Omnibusses bis zu seinem Verlassen eintreten können, bis hin zu den tausend unvorstellbaren Konfliktsituationen, die die banale Bestellung einer Flasche Wein im Restaurant zur Folge haben kann, bzw. bis hin zur Entscheidung, vom Schneider einen Anzug anfertigen zu lassen, oder auch bis hin zur Auseinandersetzung, in die ein Hund zufällig verwickelt wird, und so weiter. Bei den "geringfügigen" Fällen der "Jurisprudenz" wird jedes dieser Bruchstücke des täglichen Lebens unter dem Vergrößerungsglas des Dogmatikers untersucht, der jeden hypothetischen Streitgrund multipliziert und hervorhebt, um eben den Anfängern möglichst anregenden Stoff für Debatte und Studium bieten zu können. Die ausgereizte Konfliktdimension, die für die in der "Jurisprudenz" angeführten Fälle charakteristisch ist, wurde im Grunde bereits von jenem Gefühl ungetrübten und beharrlichen Vertrauens in den gerichtlichen Schutz des verletzten Rechts geprägt, und zwar auch des noch so geringfügig verletzten Rechts, dessen volle Anerkennung wenig später in "Kampf um's Recht" folgen sollte. (8) Wenn nun aber "Vorfälle des gewöhnlichen Lebens" die "grammatikalische Struktur" der neuen Fallsammlung bildeten, ist dies darauf zurückzuführen, daß jetzt die reellen und konkreten Aspekte des Rechtslebens (und nicht nur seine gedanklichen Konstruktionen) den Gegenstand der rechtswissenschaftliehen Tätigkeit ausmachten, und zwar auch in der Tradition des römischen Rechts. 1865 hatte Jhering an Windscheid geschrieben: "Gegenüber dem, was das Leben verlangt, kann keine angebliche Logik des Rechts aufkommen, und für den Verkehr ist es vollkommen gleichgültig, ob der Jurist die Anforderung desselben konstruieren kann oder nicht." 40 In der Krise, die im 19. Jahrhundert das Verhältnis zwischen Pandektistik und der in der Entwicklungsphase befindlichen deutschen Industriegesellschaft belastete, konnte das Problem eines möglichen heutigen Gebrauchs des römischen Rechts nur angegangen werden unter Hinweis auf wirklich praktische Ergebnisse, die die Anwendung dieses alten Rechtsgebildes auf die modernen Erfordernisse des deutschen Alltagslebens noch nicht zu gewährleisten vermochte 41 . Die Er40 Rudolf von Jhering in Briefen, (Fn. 36), S. 176. 41 über dieses Thema siehe G. MARIN!: Teoria e pratica neUe "Vermischte Schriften" di Jhering, in: Index, II, 1971, S. 160 ff.; A. MAZZACANE: Pandettistica, in: Enddopedia del diritto, XXXI, 1981, S. 605 f.; LOSANO, (Fn. 31), S. 164 ff.; HIRSCH, (Fn. 26), S. 99; P . CAPPELLINI, Systema iuris, I. Genesi del sistema e nascita della "scienza" delle Pandette, Milano 1984, S . 54 f.
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fahrungen mit der rechtspflegerischen Praxis und mit damaligen Rechtsstreitigkeiten nährte in Jhering sicherlich das Bewußtsein um die praktische Zweckbindung jeder theoretisch-dogmatischen Forschung42 . Parallel dazu war aber auch sein Vertrauen auf die Eignung des römischen Rechts als Antwort auf die neuen Erfordernisse des gewöhnlichen Lebens geschwunden. In den für den Pandektenunterricht bestimmten Fällen, den alten wie den neuen, erkennt man in der Tat zwischen den Zeilen die Schwierigkeiten, und noch deutlicher das Paradoxon, bei der Behandlung von Rechtsbeziehungen des modernen Alltagslebens anhand von antiken Materialien; zum Beispiel (wie dies im letzten Fall der neuen "Civilrechtsfälle" geschieht, in dem eine berühmte und gelehrte, von Jhering 1867 vertretene Meinung wiederaufgegriffen und didaktisch eingesetzt wird) bei der Lösung einer verzwickten han-' delsrechtlichen Kontroverse, die Aktiengesellschaften und Eisenbahnen zum Gegenstand hat, allein mit den Prinzipien des justinianischen Rechts 43 . (9) Der Gipfelpunkt der Krise, die das gemeine Recht in Deutschland an der Schwelle der Kodifizierung durchlief, fiel damit mit dem Zeitpunkt der am stärksten ausgeprägten empirischen Praxis der Fallrechtsmethode zusammen. Nach Jhering waren die Fallsammlungen durch ein deutliches Gefühl für das Konkrete gekennzeichnet, wobei jene sozusagen "vitalistische" Richtung der didaktisch-kasuistischen juristischen Literatur konsolidiert und fortentwickelt wurde 44 , die dann auch 42
Vgl. JHERING, (Fn. 22), S. 9 f., Fn. 1 und S. 338 f. 43 JHERING, Civilrechtsfälle (1881}, (Fn. 31}, S. 196-203. Der Fall ist entnommen aus: Der Lucca-Pistoia-Eisenbahnstreit. Ein Beitrag zu mehreren Fragen des Obligationenrechts, insbesondere der Theorie des Dolus und der Lehre von der Stellvertretung, in: Archiv für praktische Rechtswissenschaft, Neue Folge, IV, 1867, S. 225-334. Der Lucca-Pistoia-Actienstreit. Zweiter Beitrag, ebd., S. 335-344 (später zusammengestellt in: Jhering: Vermischte Schriften juristischen Inhalts, Leipzig 1879). 44 So ist "das Leben des Rechts" der Ausdruck, der häufiger in der Sprache der Verfasser der Fallsammlungen wiederkehrt (als ein Beispiel sei genannt: P. SCHULIN: Bürgerliches Recht im Leben, Stuttgart 1949). Als Nachahmung JHERINGS verstehen sich ausdrücklich die folgenden Sammlungen: J . RIESER: HandelsrechtsPraktikum. Zum Selbststudium sowie zum academischen Gebrauche, Freiburg i. B. 1885; K. HELLWIG: Civilprozeßpraktikum. Zum Gebrauch bei civilprozessualen und konkursrechtlichen Übungen, Freiburg i. B. 1888; K. DICKEL: Rechtsfälle. Zum Gebrauche bei Vorlesungen und juristischen Übungen, Berlin 1899; R . STAMMLER, (Fn. 18); E. ZITELMANN, (Fn. 35), später gelöst von G. KLARENAAR: 60 Mu-
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Grundlage des Erfolgs dieser literarischen Gattung in Europa und speziell in Italien wurde 45 . Echten Fällen und Richtersprüchen wurden aber weiterhin, zumindest in Deutschland, "falsche" Fälle vorgezogen, die dem Geist des Lehrers entsprungen waren. Die persönliche Erfindung des konkreten Falls - wiederum natürlich unter dem Gesichtspunkt des Alltagslebens, des "Falls, der eintreten kann" - sollte die Verwendung nichtjuristischen Materials jeglicher Art nicht umgehen, sofern dies die schulische Übung suggestiv und attraktiv erscheinen ließ oder wenn dies auch lediglich geeignet war, die unverwechselbare persönliche Note des Lehrmeisters zu hinterlassen 46
sterlösungen - Paradigmata - der Rechtsfälle für Bürgerliche Übungen, von Ernst Zitelmann nebst einer Anleitung zur Lösung bürgerlichrechtlicher Fälle, München/Leipzig 1935. Andererseits versteht es sich, daß die bloße Betonung der praktischen Ziele im didaktischen Bereich keine Ablehnung der traditionellen dogmatischen Methode an und für sich darstellt. Tatsächlich ist die Alternative nicht zwischen praktischem und theoretischem Unterricht zu sehen, sondern zwischen den verschiedenen Auffassungen des Rechts und der Rechtswissenschaft. Dazu vgl. R. ORESTANO: Sulla didattica giuridica in Italia tra il XIX e i1 XX secolo, in: L'educazione giuridica, (Fn. 12), S. 144. Siehe auch T. VIEHWEG : Topik und Jurisprudenz. Ein Beitrag zur rechtswissenschaftliehen Grundlagenforschung, 5. Aufl., München 1974, S. 49 (dort wird die Kasuistik, die "ein System zu veranschaulichen" bezweckt, von jener unterschieden, die dagegen ein Teil des "Problemdenkens" ist); A. GIULIANI: Sistematica e case-method come metodi d'istruzione giuridica, in: Jus, VIII, 1957, S. 319-325. 45 Z. B. wurde auch in Frankreich das Augenmerk auf das deutsche Universitätssystem gerichtet. Vgl. M . A . BEERNAERT: De l'etat de l'enseignement du droit en France et en Allemagne. Rapport addresse a M. le M inistre de !'Interieur, Bruxelles 1854; A. RONDELET: L'emploi du loisir a l'ecole de droit, Paris 1878; G . BLONDEL: De l'enseignement du droit dans !es universites allemandes, in: Revue internationale de l'enseignement, 1885, tome IX, S. 432-451, 521-544; tome X, S. 39-56, 89105; C. APPLETON: Observations sur Ia methode dans l'enseignement du droit en general du droit romain en particulier et sur !es reformes adoptees en 1889, ebd.,
1891, S. 235- 278; DUQUESNE: L'organisation des etudes de droit en Allemagne a Ia suite du vote d'un Code civil de !'Empire, ebd., 1903, S. 233 ff., 323 ff., 431 ff., 538 ff.; A . ROUAST: La methode allemande des exercises pratiques dans l'enseignement du droit, ebd., 1909, S. 37-45. 46 Es genügt, den Fall bezüglich des Erwerbes und Verlustes des Besitzes zu zitieren, den RUDOLF STAMMLER, (Fn. 18), S. 2, den Märchen der Brüder GRIMM entliehen hat (der Fall betrifft den Besitz von Aschenputtels Pantoffel). Die Beispiele ließen sich aber unendlich fortsetzen.
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(10) Mit der von Jhering herausgegebenen "Jurisprudenz im täglichen Leben" beginnt auch das kurze Kapitel der Fallrechtsmethode in Italien. Die Rezeption des deutschen didaktisch-kasuistischen Modells verläuft in Italien auf zwei Ebenen: Einerseits die enger gefaßte literarische Gattung, das heißt die Fallsammlung als Universitäts-Lehrmaterial, und andererseits die weiterreichende Ebene der materiellen Lehr-Erfahrung im - römischen und bürgerlichen - Privatrecht im universitären und außeruniversitären Zusammenhang. (11) Ein Zeugnis der engen Bindung der italienischen Lehre an das historische deutsche Vorbild auf dem Gebiet der kasuistischen Methode stellt bereits die einzigartige Tatsache dar, daß die erste in Italien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschienene juristische Fallsammlung eben eine Übersetzung der "Jurisprudenz im täglichen Leben" ins Italienische war, bearbeitet bereits 1841 in Bologna von Vito Perugia mit fachkundiger Unterstützung des Romanisten Filippo Serafini47 • Die Übersetzung von Jherings Buch stellt nur einen Abschnitt der ausführlichen und genauen Wiedergabe der deutschen juristischen Kultur dar, die Filippo Serafini in Italien seit den sechziger Jahren des vergangeneo Jahrhunderts geleistet hat 48 . Von sei4 La giurisprudenza della vita quotidiana di RODOLFO JHERING Consigliere Aulico e Prof. ordinario di Diritto nella Universitä di Vienna tradotta e annotata da VITO PERUGIA sotto Ia direzione di FILIPPO SERAFINI Professore di Diritto romano nella Universitä di Bologna e Direttore deli'Archivio Giuridico, Bologna 1871. Zu FILIPPO SERAFINI siehe Fn. 48. VITO PERUGIA war damals ein sehr junger SchUler von SERAFINI. Ein Jahr nach der Übersetzung der "Jurisprudenz" wird FILIPPO SERAFINI die Übersetzung eines anderen Aufsatzes von JHERING veröffentlichen: Die "Beiträge zur Lehre von der Gefahr beim Kaufcontract" (1869-1860): = R. VON JHERING: Sulla teoria del rischio e pericolo nel contratto di compra e vendita con speciale riguardo ad un caso pratico. Dissertazione tradotta da! tedesco per FILIPPO SERAFINI, Pavia 1872. Vgl. LOSANO: Studien, (Fn. 21), S. 216 f. und 243. 48 Die ganze Bildung FILIPPO SERAFINIS (1831-1897) war im übrigen österreichisch und deutsch geprägt . Im Trentino geboren, hatte er die Grundschule in Hall und einen Teil der Unter- und Oberstufe des Gymnasiums in Innsbruck besucht. Danach nahm er in Innsbruck, Heidelberg, Wien - wo er promovierte - und Berlin, wo er die Vorlesungen SAVIGNYS hörte, das Universitätsstudium auf. Deutsch waren seine Meister: VANGEROW, KELLER, RUDORFF, ARNDTS UND MITTERMAIER. Gerade dank ihres Einflusses erhielt er seinen ersten Lehrstuhl für Römisches Recht an der Universität Pavia. Über ihn siehe: FILIPPO SERAFINI: Commemorazione tenuta neli'Aula Magna deli'Universitä di Pisa il 21 aprile 1931,
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nen Lehrstühlen in Pavia, Bologna und Pisa aus, in den Spalten des "Archivio Giuridico" (einer der bekanntesten juristischen Zeitschriften in Italien, gegründet 1868 vom Strafrechtler Pietro Ellero und bereits ab April des darauf folgenden Jahres bis zu seinem Tod unermüdlich von Serafini geleitet) und aus dem "Seminario giuridico" der Universität Pisa heraus (das er 1877 zusammen mit Saverio Scolari und Francesco Buonamici in Anlehnung an die Seminare an deutschen Universitäten gegründet hatte 49 ) leistete Filippo Serafini eine intensive und systematische Informationsarbeit über all das, was die deutsche juristische Wissenschaft zeitgleich dazu hervorbrachte, ohne Grenzen zwischen den einzelnen Disziplinen zu errichten. In der "Rivista mensile del movimento giuridico in Germania" und in den folgenden regelmäßig erscheinenden informativen Artikeln im "Archivio Giuridico" wurden die interessantesten Meldungen über deutsche juristische Veröffentlichungen rezensiert. Serafinis Aufmerksamkeit war besonders den Werken der deutschen Jurisprudenz gewidmet, die, wie beispielsweise das 1852 in Darmstadt veröffentlichte "Archiv für praktische Rechtswissenschaft", gekennzeichnet waren durch - in seinen eigenen Worten - "il nobile scopo di unire in felice connubio Ia teoria e Ia pratica; il ehe dovrebbe essere Ia principale cura tanto di chi si dedica all'insegnamento del diritto quanto di coloro ehe sono chiamati ad applicarlo" 50 .
Von dieser Sensibilität inspiriert, die im übrigen den kulturellen Programmen der ganzen akademisch-juristischen Generation des geeinten Italiens gemein war, sollten die von Serafini am deutschen Beispiel (Seminare und Übungen) vollzogenen Versuche einer experimentellen Didaktik in Jherings Werk ihren idealen Bezugspunkt finden. Pisa 1931 (insbes. den Vortrag von LANDO LANDUCCI, S. 19-32); G. PACCHIONI: Deutsche und Italienische Romanisten im neunzehnten Jahrhundert. Zwei Gastvorlesungen, gehalten am 16. und 17. Januar 1934 an der Universität Leipzig, Leipzig 1935, S. 14 f. Hier wird SERAFINI als "populärster und einflußreichster Professor der Rechte des neuen Italien" dargestellt: Ein Ausdruck, den später auch PAUL KOSCHAKER wiederverwenden wird: P. KOSCHAKER: Europa und das Römische Recht, München 1947, S. 276. 49 Vgl. Archivio giuridico, XVIII, 1877, S. 560-570. 50 Archivio giuridico, I, 1868, S. 598. In dem Verzeichnis der Herausgeber des "Archiv für praktische Rechtswissenschaft aus dem Gebiet des Civilrechts, des Civilprozesses und des Criminalrechts" (Darmstadt, 1852-1897) erschien auch der Name JHERINGS.
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(12) Diese italienische Ausgabe war die erste von zahlreichen im Ausland erschienenen Auflagen, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts in ganz Europa zu dem außerordentlichen Erfolg beitrugen, der Jherings Büchlein in der Heimat bereits beschieden war: Ein Erfolg, der den der selbst in nicht wenigen Neuauflagen (und fremdsprachigen Übersetzungen) erschienenen "Civilrechtsfälle" noch übertraf51 • So war der Text, auf den die italienische Ausgabe der "Jurisprudenz" zurückging, die zweite Auflage der "Civilrechtsfälle". In jener Auflage erschien bekanntlich die neue Fallsammlung erstmals (anstelle der Puchtaschen Fälle) als "Anhang" zu den bereits 1847 veröffentlichten hundert Fällen, die selbst großenteils überarbeitet wurden. Durch ein Exemplar, das ihm Jhering selbst zukommen ließ oder vielleicht persönlich anläßtich seines ersten kurzen Aufenthalts in Bologna 1870 übergeben hat52 , lernte Filippo Serafini auch diese Ausgabe der Jheringschen Fälle sofort kennen. Nicht zufällig fiel die Wahl der für die italienischen Leser zu übersetzenden Fälle auf den zweiten Teil dieses Werks, 51 Vgl. das "Vorwort zur achten vermehrten Auflage" (1892) der "Jurisprudenz", in dem JHERING neben der italienischen auch die ungarische, griechische und portugiesische Übersetzung seiner Sammlung nennt. Die griechische und portugiesische Übersetzung sind nicht in der Bibliographie der Übersetzungen der Schriften Rudolf von Jherings von LOSANO (in: Studien, (Fn. 21), S. 243-259) enthalten. LOSANO weist aber auf die russische und englische Ausgabe der "Jurisprudenz" hin. Zur russischen und ungarischen Übersetzung der "Civilrechtsfälle" siehe noch die Bibliographie von LOSANO. 52 Zu dieser italienischen Reise JHERINGS siehe den von JHERING an GERBER am 20. Mai 1870 aus Wien geschriebenen Brief, in: LOSANO, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber, Ebelsbach 1984, S. 633: "Die letzten Tage (vor der Abreise) hatte ich noch so angestrengt zu arbeiten, daß ich nicht einmal die Zeit fand, mich aufs nothdürftigste auf meine Reise vorzubereiten; ich war nämlich mit der Besorgung einer zweiten Auflage meiner Rechtsfälle beschäftigt, die zum neuen Semester fertig werden sollte. Am 3. April setzten wir uns auf die Bahn". Der 3. April ist auch das Datum des Vorworts zur zweiten Aufl. dieser Sammlung. In diesem Brief weist JHERING zwar auf den Aufenthalt in Bologna hin, den er während der Reise verbracht hatte, die ihn zum ersten Mal nach Neapel geführt hatte, aber nicht auch auf die Begegnung mit SERAFINI. Die Begegnung fand mit Sicherheit im folgenden Jahr statt. Vgl. den Brief JHERINGS an OSKAR BüLOW vom 21. Mai 1871, in: Rudolf von Jhering in Briefen, (Fn. 36), S. 263. JHERING hatte allerdings an SERAFINI einige Tage vor seiner Abreise nach Italien geschrieben (siehe den Brief an GERBER vom 27. März 1870, in: LOSANO: Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber, a . a. 0 ., S. 661).
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wozu sich der Übersetzer folgendermaßen ausläßt: "e certo Ia piu originale e Ia piu amena", denn "trattando di casi ehe tuttodi s'avverano aggiunge non poco diletto, e con domande a prima giunta frivole ne abitua ad un distinguere accurato, dote precipua del giureconsulto" 53 • Die Anlehnung an Jherings Wortlaut und an die methodologische Begründung der "Jurisprudenz" ergab sich bereits eindeutig aus dem Vorwort zur italienischen Ausgabe, das fast vollständig in der Wiedergabe eines langen Abschnitts aus Jherings Vorrede zur deutschen Ausgabe aufgeht, wobei auch der kritische Hinweis auf Puchta nicht ausgenommen ist 54 • Zur vollständigen Wiedergabe der zwölf in der "Jurisprudenz" behandelten Fälle kam in der italienischen Ausgabe ferner ein nützliches Fußnotenwerk mit Verweisen auf Fragmente des Corpus iuris hinzu, meist im Anschluß an die Artikel des Zivilgesetzbuchs und der Zivilprozeßordnung. Die Methode des Vergleichs des römischen Rechts mit den Rechtsgebilden des kodifizierten bürgerlichen Rechts war bereits Jahre zuvor von Filippo Serafini in seinen "Istituzioni di diritto romano comparato al diritto civile patrio" 55 angewandt worden, wobei dies auch die korrekte Bezeichnung der universitären Lehrveranstaltung war. Die in der italienischen Romanistik verbreitete Sitte, auf dem Schreibtisch neben den justinianischen Schriften auch die modernen Kodizes stets aufgeschlagen zu haben, wurde so von den Universitätslehrplänen im positiven Sinn unterstützt, die diese Methode als in typischer Weise geeignet für die Lehre der "Istituzioni di diritto romano" vorschrieben. Dieses Studienfach wurde gemeinhein verstanden als "una specie di Introduzione generale di diritto positivo ai due corsi di Diritto civile, romano e patrio" 56 . Auch aufgrund dieser formalen Voraussetzung hatte der Professor des Römischen Rechts innerhalb der juristischen Fakultäten Ita53 La giurisprudenza della vita quotidiana, (Fn. 47), S. 6. 54 In diesem Zusammenhang ist das, was ERMANNO BONAZZI in bezug auf das Vorwort von VITO PERUGIA zur Übersetzung der "Jurisprudenz im täglichen Leben" erwähnt, zu berichtigen und ergänzen. Sie war tatsächlich die Übersetzung der "zweiten Abteilung" der Auflage der "Civilrechtsfälle" von 1870. Aus diesem Grunde mußte die vom Obersetzer in Anführungszeichen zitierte Stelle den Seiten der Vorrede zu diesem letzten Werk notwendigerweise entsprechen. Vgl. E. BONAZZI: La fortuna di Jhering in Italia, in: Carteggio Jhering-Gerber (1849-1872), hg. v. M. G. LOSANO, Milano 1977, S. 642 unter 4. 55 1. Auf!., Firenze 1858; 2. Auf!., Firenze 1872. 56 A. MESSEDAGLIA: Sulla distribuzione degli insegnamenti nella facolta di giurisprudenza, in: Archivio giuridico, VI, 1870, S. 218 f., 225 f.
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liens damit eine ausgesprochen wichtige pädagogische Rolle inne, die zugleich einen entscheidenden Einfluß auf die parallele Entwicklung der romanistischen und zivilrechtliehen Lehrmeinung hatte. Diese Vorherrschaft sollte erst mit Einführung des selbständigen Unterrichts der "Istituzioni di diritto civile" - festgelegt in der Universitätsordnung vom 22. Oktober 1885 - zurückgehen, womit der privatrechtliehen Forschung und Didaktik in Italien ein neuer und weiterer Horizont eröffnet werden sollte 57 . Doch war es nicht nur der fortwährende Bezug auf das positive Privatrecht, der die italienische Ausgabe der "Jurisprudenz" vom deutschen Original unterschied. In den Fußnoten zu dieser Ausgabe hatte Serafini zusätzlich auch einen systematischen Verweis auf das "Lehrbuch der Pandekten" des Ludwig Arndts anbringen wollen, dessen Übersetzung er selbst in den Monaten der Drucklegun~ der "Giurisprudenza nella vita Quotidiana" abgeschlossen hatte 5 • Der häufige Verweis auf Abschnitte von Amdts Handbuch bei jeder wichtigen dogmatischen Passage der Jheringschen Fälle war der Ausdruck der didaktischen Absichten des italienischen Romanisten: Die italienischen Ausgaben sowohl der "Pandekten" von Arndts als auch der "Jurisprudenz" Jherings (beide deutsche Juristen waren, Kuriosität am Rande, in jenen Jahren Professoren für römisches Recht an der Universität Wien 59) sollten nämlich gemeinsam als Lehrmaterial für die von
57 Vgl. dazu TREGGIARI, (Fn. 13), S. 85-87. Im allgemeinen zur Geschichte der Ordnung der juristischen Fakultät in Italien GHIRON, Studi, (Fn. 10}, S. 111 ff. 58 Vgl. die dritte Umschlagseite des Archivio giuridico, April-Mai 1870. Die erste Auflage des Trattato delle Pandette von LUDWIG ARNDTS ("arricchito di copiose note, appendici e confronti di FILIPPO SERAFINI") wird im Jahre 1872 veröffentlicht. Schon im Jahre 1874-75 erscheint die zweite Auflage. Der Charakter des Werkes ändert sich bei der vierten Auflage ("interamente rifusa con speciale riguardo alla
pratica forense", Bologna 1882): "Non e quindi piu soltanto l'opera dell'Arndts, e un'opera in gran parte nuova, ehe abbiamo compilato con lungo studio e grande amore, tutta compulsando Ia letteratura giuridica, antica e moderna, italiana e straniera ... E i risultamenti della dottrina abbiamo confortato coi responsi della giurisprudem:a, specialmente italiana" (S. 10). FILIPPO SERAFINI ist auch der Verfasser der "traduzione ed annotazione" des
siebten Bd. des Commentario delle Pandette di Federico Glück, Milano o . D . 59 Vgl. Rudolf von Jhering in Briefen, (Fn. 36), S. 229, 245. Vgl. auch JHERING, (Fn. 22}, S. 254: Arndts bestand die Zulassungsprüfung zum Begriffshimmel deshalb nicht, weil "er den Bedürfnissen des praktischen Lebens auf Kosten der reinen Theorie zuviel koncediert habe".
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ihm abgehaltenen Kurse in römischem Recht in Bologna und Pisa dienen. (13) Der von Filippo Serafilii beim Pandekten-Unterricht beschrittene Weg war ein Vorgriff auf eine ähnliche Wahl, die nur wenige Jahre später weitere Hochschullehrer in bezug auf den Unterricht des italienischen Privatrechts treffen sollten. So sollte in kurzer Zeit das didaktische Zweigespann aus systematischem Lehrbuch und praktischer Fallsammlung - das die nunmehr berühmten Modelle der deutschen Rechtswissenschaft kopierte auch in Italien den gemeinsamen Nenner des universitären Rechtsunterrichts darstellen und sich rasch vom ursprünglichen Bereich der Disziplinen des römischen Rechts auf die methodisch und didaktisch benachbarten Gebiete des bürgerlichen Rechts ausweiten. Dieses Werk der Rezeption und Verbreitung der deutschen Literatur - die sich hauptsächlich über das Instrument der universitären Lehrbücher vollzog - hatte zunächst einmal sein Zentrum in Neapei60 . Hier war bereits Mitte des 19. Jahrhunderts eine der ersten italienischen Übersetzungen unter anderem eines der wichtigsten deutschen Handbücher zum Römischen Recht erschienen, nämlich des Lehrbuchs von Theodor Marezol/ 61 . Ihr Verfasser war Giuseppe Po/ignani, Professor für Römisches Recht an der Universität Neapel von 1863 bis 1882, der eine rege Korrespondenz mit vielen deutschsprachigen Juristen unterhielt, darunter
60 Siehe: A. B. SCHWARZ: Einflüsse deutscher Zivilistik im Auslande {1931), in: A. B . SCHWARZ: Rechtsgeschichte und Gegenwart. Gesammelte Schriften 11ur Neueren Privatrechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, Karlsruhe 1960, S. 46 f.; F . RANIERI: Le traduzioni e le annotazioni di opere giuridiche straniere nel sec. XIX come mezzo di penetrazione e di influenza delle dottrine, in: La forma11ione atorica del diritto moderno in Europa, III, Firenze 1977, S. 1487-1504 (über NeapelS. 1495 f.). Vgl. auch D. MAFFEI/K. W . NÖRR: Lettere di Savigny a Capei e Conticini, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Rom. Abt.), XCVII, 1980, S. 181-212; 0 . WEISS, (Fn. 3) , (über NeapelS. 26 ff.); M . T. NAPOLI, (Fn. 7), passim; G. CIANFEROTTI: Germanesima e universita in Italia alla fine dell'Ottocento. II caso di Camerino, in: Studi senesi, C, 1988, S. 327 ff. 61 Trattato delle Istituzioni di diritto romano di TEODORO MAREZOLL tradotto dall'originale tedesco ... , Napoli 1852 (2. Auf!. 1866). über die deutschen und italienischen Lehrbücher des Römischen Rechts siehe die sorgfältige Untersuchung von E. BETTI: Problemi e criteri metodici d'un manuale d'istituzioni romane, in: Bollettino dell'Istituto di Diritto Romano, XXXIV, 1925, S. 225 ff.
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eben auch Jhering, den er 1871 in Neapel persönlich kennenlernt62. Schon vor Serafini hatte Polignani die neue didaktische Methodologie des Römischen Rechts entlang den parallel verlaufenden Strängen des institutionell-systematischen Lehrbuchs und der Übungen anhand praktischer Fälle angelegt. Die vom neapolitanischen Romanisten aufgestellte Kontinuität der Methode zwischen Studium des Römischen Rechts, Studium des geltenden Rechts und Technik der forensischen Berufsausübung führte sogar dazu, der neuen didaktischen Entscheidung die Rolle eines allgemeingültigen eigentlichen rechtspädagogischen Modells zuzuweisen. Nicht zufällig schloß das Vorwort zur "Sinopsi delle Pandette giustinianee" - einem von Polignani 1874 veröffentlichen Lehrbuch, das den Studenten seines Pandektenkurses als "Leitfaden" dienen sollte - mit einem peremptorischen Hinweis auf die Notwendigkeit, daß in der universitären Didaktik (des Römischen Rechts) Exegese, systematisches Textverständnis und Studium der Lehre ständig begleitet sein müssen "da un altro esercizio di non minore importanza; quello cioe di applicarne i principi con Ia scorta del professore a casi giuridici accaduti o possibili ad accadere nella vita pratica odierna; senza di ehe il passaggio dall'universita al foro riesce cosi nuovo, ehe spesso le piu agevoli lotte forensi scoraggiano i piu animosi" 63. Und auf die Übung anhand wahrer oder nachgestellter Fälle, "tratti alcuna volta dalla pratica forense e molte altre volte ricavati alla maniera dei glossatori dai testi del diritto romano" 6\ hatte sich Polignani in seinen Universitätsvorlesungen ständig berufen, um schließlich in den letzten Monaten seines Lebens eine eigene neue Fallsammlung zusammenzustellen, die gemeinsam mit weiteren noch nicht veröffentlichten Schriften als Nachlaß von seinen Söhnen hätte herausgegeben werden sollen (was aber dann nicht geschah).
62 Zu GIUSEPPE POLIGNANI (1822-1882) vgl. Onoranze a Giuseppe Polignani, Napoli 1883 (insbes. den Aufsatz von NICOLA DE CRESCENZIO) . Auf S. 79 f. ist außerdem ein Brief veröffentlicht, den JHERING am 2. September 1882 an DOMENICO DE PILLA aus Göttingen schrieb. Hier bezieht sich JHERING auf die Bekanntschaft POLIGNANIS, die er während seines "kunen Besuchs in Neapel" gemacht hatte. Siehe auch den auf S. 80-82 veröffentlichten Brief. Zu POLIGNANI vgl. auch TREGGIARI, (Fn. 13), S. 80-88. 63 Sinopsi delle Pandette giustinianee per GIUSEPPE POLIGNANI ad uso de suoi uditori, Bd. I, Parte generale, Napoli 1874, S. VI. 64 DE CRESCENZIO, (Fn. 62), S. 54.
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(14) Die Dialektik zwischen Prinzip und Fall, die für den Vorlesungsunterricht entwickelt und anschließend in der Schaffung und provisorischen Verwurzeluns der neuen literarischen Gattungen des institutionellen Handbuchs und der Fallsammlung konkretisiert wurde, machte sich natürlich die Erfahrungswelt des "Professors und Anwalts" zunutze - dies gilt für Polignani wie auch für den überwiegenden Teil der italienischen Romanisten und Zivilrechtier im 19. Jahrhundert -, und zwar in dem Maße, wie es gerade Jhering 1871 bei Gelegenheit seiner Begegnungen mit italienischen Juristen der Universität Neapel öffentlich gelobt hatte65 . Die taditionell feste forensische Verwurzeluns der akademisch- juristischen Welt in Italien ließ in der Tat die Übernahme eines Streitfalls aus dem Gerichtssaal in den Hörsaal fast zu einer alltäglichen Begebenheit werden. Und eben diese vorrangige Bedeutung, die den "echten" Fällen und den Rechtsstreitigkeiten aus der Welt der Gerichtspraxis beigemessen wurde, unterscheidet so deutlich die didaktisch-kasuistische Erfahrungswelt der italienischen Zivilrechtier von ihrem romanistischen Prototyp in Deutschland. Am Ursprung dieser Differenz stand bekanntlich ein klarer Unterschied zwischen deutschem und italienischem System: Letzteres gestattete dem Dozenten die Ausübung des Anwaltsberufs, wähend dies im deutschen System unterbunden war. In Italien gehörte zum Berufsbild des Juraprofessors in der Regel, ja sogar fast ausnahmslos, die anwaltliehe Tätigkeit: Auf die Konsequenzen dieses Umstands in bezug auf die wissenschaftliche Produktivität und die für die Lehre verbleibende Zeit hatte bereits Savigny hingewiesen, der vor allem unter Verweis auf Nea-
65 Vgl. das Zeugnis von NICOLA DE CRESCENZIO, (Fn. 62, S. 54 f.). Nicht gerade schmeichelhaft ist dagegen der Bericht, den JHERING an OSKAR BOLOW in seinem Brief vom 21. März 1871 über seine Erfahrung mit der juristischen Fakultät zu Neapel erstattete (in: Rudolf von Jhering in Briefen - Fn. 36 -, S. 263 f.): "Mit der ganzen juristischen Fakultät Neapels und einer Menge von Praktikern Bekanntschaft gemacht ... Alles, was sie an juristischen Büchern, Abhandlungen usw. geschrieben hatten, brachten sie mir, so daß ich genötigt gewesen bin, den Bücherballenper Spedition nachkommen zu lassen. (Beiläufig ein teures Vergnügen: 25 fl., das in keinem Verhältnis zum Wert der Bücher steht.) Hospitiert bei fünf Professoren (bei zwei fast unfreiwillig) . Bei dem einen bestanden die Studenten darauf, daß ich auch ihn hören mußte, den sehr beliebten Kriminalisten Pessina, der andere, ein Privatdozent, preßte mich dazu für seine Vorlesung, in der er meine Besitztheorie, die er angenommen hat, vortragen wollte - fast wörtlich nach mir, aber mit dem Nimbus eigener Erfindung! Höchst komisch!".
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pel, "die Stadt der Advocaten"66 , von der unzureichenden Vereinbarkeit beider Lebensberufe gesprochen hatte. Ein zwar theoretisch ausführlicher durchleuchtetes, aber in der Schlußfolgerung diesem nicht unähnliches Urteil sollte Jhering bereits 1884 verlauten lassen67. ( 15) Klar wurde aber, daß in der Lehre des kodifizierten bürgerlichen Rechts die Nachahmung der literarischen Normen der deutschen Jurisprudenz nicht den gleichen Weg einschlagen konnte, der beim römischen Recht in Italien bereits beschritten worden war. Denn wenn für die Lehre des römischen Rechts die italienischen Professoren sich noch, zumindest anfangs, auf Übersetzungen der deutschen rechtswissenschaftliehen Werke mit eigenen Anmerkungen beschränken konnten (wie bereits geschildert, gilt dies auch für kasuistische Werke), mußte bei der Didaktik des Privatrechts die Verbreitung der deutschen Doktrin notwendigerweise einhergehen mit der Erstellung juristischer Lehrbücher neuer Art. Hierzu .kam beim italienischen Privatrecht noch die Notwendigkeit, die aus der Tradition des römischen Rechts entlehnten literarischen Formen mit eigenem Inhalt zu füllen, wobei dem neuen Lehrbuch der Rechtsgebilde des kodifizierten Privatrechts eine Sammlung praktischer Zivilrechtsfälle zur Seite zu stellen war. Insbesondere diesbezüglich konnte das mittlerweile endgültig eingeführte Adjektiv "praktisch" nur gewährleistet werden über eine enge Beziehung zur alltäglichen Gerichtspraxis durch die freiberufliche Erfahrung anwaltlieh tätiger Dozenten, und damit über eine eingehendere Kenntnis des Materialbestands der praktischen Jurisprudenz. Dies vorausgeschickt wird deutlicher, warum die erste italienische Fallsammlung zum Privatrecht mit didaktischer Zielsetzung aus dem Bereich der neapolitanischen Jurisprudenz stammt und stark von der forensischen Verwurzelung der Rechtswissenschaft geprägt ist. Ihr Autor ist der Zivilrechtler und Rechtsanwalt Emanuele Gianturco. Sein Werk "Crestomazia di casi giuridici in uso accademico" erschien erstmals
66 SAVIGNY: Ueber den juristischen Unterricht, (Fn. 7), S. 331, 334, 336. Zur
neapoletanischen forensischen Tradition G . LOMONACO, Dei foro napoletano e della sua efficacia nella legislazione e in generale nell'opera della civilta dell'intera nazione, in: 11 Filangieri, VII, 1882, I, S. 301-313, 366-380, 435-445, 631-662; VIII, 1883, I, S. 231-237, 375-380, 571-592. 67 JHERING, (Fn. 22), S. 363 f.
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188468 mit einer auffälligen Widmung an die Adresse Rudolf von Jherings, von dem im Vorwort die methodischen Ansätze wiedergegeben und übernommen wurden. Für Gianturco wie auch schon für Serafini war es die "Jurisprudenz im täglichen Leben" mit ihrer besonderen praktischen Ausrichtung, die zur Zusammenstellung und Verbreitung des kasuistischen Unterrichtsmaterials in Italien anspornte. Die Begeisterung für Jherings Vorlage ging soweit, daß es in Gianturcos ursprünglichem Arbeitsplan vorgesehen war, Jherings Fälle für die italienische Leserschaft zu "accomodieren", indem man sich womöglich darauf beschränken sollte, "die deutschen Namen in italienische (zu) verändern, die Orte aus Deutschland nach Italien (zu) verlegen", wie es der deutsche Jurist seinem italienischen Bewunderer selbst vorgeschlagen hatte69 . Doch der geplante Jheringsche Teil der "Crestomazia", der für den zweiten Band der Sammlung vorgesehen war, sollte niemals herauskommen. Die achtundfünfzig Fälle des ersten und einzigen Bandes der "Crestomazia" umfaßten dagegen mehrheitlich tatsächlich eingetretene Fälle, die unmittelbar gerichtlichen Tatbeständen entnommen waren (und auch leicht in den Archiven der öffentlich zugänglichen Jurisprudenz nachvollzogen werden konnten) oder die zumindest solchen Tatbeständen geschickt nachempfunden waren. Neben diesen Fällen - die getreu dem deutschen Vorbild sämtlich ohne dazugehörige Lösung wiedergegeben waren - hatte Gianturco auch zehn Fälle angeführt, die einer entsprechenden Zahl "Quaestiones" der Glossatoren entlehnt sind, die zum großen Teil bereits in Savignys "Geschichte des Römischen Rechts im 68 E . GIANTURCO: Crestomazia di casi giuridici in uso accademico, 1. Heft, Napoli 1884. Das Buch wurde 1885 und 1892 wieder abgedruckt. Hierzu siehe TREGGIARI, (Fn. 13), S. 88-98; und aus jüngster Zeit ders., ltinerari della casistica. La Crestomazia di Emanuele Gianturco fra modelli illustri e nuove istanze, einführender Aufsatz zu dem anastatischen Nachdruck der Aufl. 1884 der Crestomazia (Bologna 1989), S. V-XLVI. Dem Aufsatz ist ein Anhang beigefügt, in dem die Briefe GIANTURCOS an JOSEF UNGER veröffentlicht sind. Ein Teil dieser letzten Schrift wurde in dem vorliegenden Aufsatz verarbeitet und erweitert. Zu EMANUELE GlANTURCO vgl. auch den von ALDO MAZZACANE hg. Bd. (siehe Fn. 4) . 69 So JHERING in dem am 27. Oktober 1884 aus Göttingen geschriebenen Brief. Diesen Brief, der schon von GIANTURCO als Beginn der Crestomazia veröffentlicht wurde, hat jetzt CRISTINA VANO mit anderen Briefen GIANTURCOS veröffentlicht: C. VANO, I "problemi del lavoro" e Ia civilistica italiana alla fine dell'Ottocento: il contributo di Emanuele Gianturco, in: L'esperienza giuridica, (Fn. 4), s. 167-219.
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Mittelalter" 70 Erwähnung findet. Die Entscheidung, historisches Material in eine ausschließlich für Lehrveranstaltungen im modernen Privatrecht bestimmte Fallsammlung aufzunehmen, entsprach nicht nur einer Tendenz, die Geschichte des Privatrechts anhand dogmatischer Richtlinien zu interpretieren. Es war auch implizit beabsichtigt, die Kontinuität mit den historischen Ursprüngen des italienischen Rechtsunterrichts zu wahren: Eine Kontinuität, von der man in jenen Jahren fast gemeinhin glaubte (und dies gilt auch für viele Italiener), daß sie eben anhand des zeitgenössischen Modells der deutschen Universitäten gewährleistet werden könne, als deren "Prototyp" die italienischen Universitäten des Mittelalters, auch kraft der beeindruckenden Analogien in der didaktischen Technik, (nicht neidlos) angesehen wurden71.
°
7 F. C . VON SAVIGNY: Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, Bd. 111, Bad Hornburg 1961 (Nachdruck der zweiten Ausgabe von 1834), S. 3; Bd. IV, Darmstadt 1956, S. 636 (=Storia del diritto romano nel Medio Evo per Carlo de' Savigny. Prima versione da! tedesco dell'avvocato Emmanuele Bollati con note e giunte inedite, I, Torino 1854, S. 472; III, Torino 1857, S. 477).
71
G. GORRINI: Guido Baccelli. La vita, l'opera, il pensiero, Torino 1916, S. 60 f.:
"L'Universita italiana medievale
e il prototipo dell'Universita tedesca contemporanea
e come tale presenta molti punti ehe ad essa Ia rendono superiore. E su questo modello ehe dobbiamo architettare il nuovo edificio" . Vgl. auch ders., La riforma universitaria. Studi e proposte. II riordinamento delle facolta giuridiche, Milano 1893, S. 22; E. COPPI: La riforma universitaria e i1 disegno di !egge Baccelli, in: Rassegna di scienze sociali e politiche, Heft 1., April 1883, S. 374-385; ders., Le Univeraita italiane nel Medioevo, 3. Auf!., Torino 1886, S. 5 f.; F. MONTEFREDINI: Le piu celebri universita antiehe e moderne, Torino 1883, S. 29, 103 ff.; S. SCOLARI: Aleune proposte per il riordinamento degli studi nella Facolta di Giurisprudenza, in: Bollettino ufficiale dell'lstruzione, XIV, 1888, S. 1028; P. COGLIOLO: Malinconie univeraitarie, Firenze 1936 {l.Aufl., Firenze 1887), S. 150 f.; ders., (Fn. 5), S. 470, woraus es sich lohnt,
die
folgende
Stelle
wiederzugeben:
"A
questo
proposito
voglio fare
un 'osservazione circa il continuo parlare ehe si fa, peraino nella relazione Cremona, delle universitä germaniche. Le nuove riforme discusse in Senato riproducono aleuni ordinamenti di oltr'alpe, ma non percio essi non sono roba nostra: e infatti noto ehe i Tedeschi nel fondare Je loro universitä copiarono quello ehe si faceva nei nostri studi medioevali, in ispecie di Bologna e di Pavia. Dunque per questo lato non facciamo ehe tornare alle nostre splendide tradizioni passate". Zur Kontinuität zwischen den mittelalterlichen Universitäten und den modernen deutschen Universitäten vgl. schon F . C . VON SAVIGNY: Wesen und Werth der Deutschen Universitäten {1832), in: F. C. VON SAVIGNY: Vermischte Schriften, (Fn. 7), S . 270-308 (insbes. S . 283 f. und S. 290 f.) . Dieser Aufsatz SAVIGNYS wurde wenigstens zweimal ins Italienische übersetzt: Essenza e pregj delle universitä. germaniche. Discorso del Dott.
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(16) Jenseits der nachvollziehbaren inhaltlichen Unterschiede wies Emanuele Gianturcos Sammlung sowohl methodologisch als auch hinsichtlich der didaktischen Zielsetzung enge Analogien zum Jheringschen Modell auf. Auch bei Gianturco wurde, wie bei Jhering, der Einsatz des praktischen Falls zu didaktischen Zwecken im wesentlichen als Hilfsmittel zur Konsolidierung der wissenschaftlichen Bildung der künftigen Juristen verstanden sowie als mnemotechnisches Hilfsmittel für das Studium der Rechtsgebilde und Prinzipien des Privatrechts. Im Modell des italienischen Zivilrechtiers hatte das enge Verhältnis zwischen F a/1 und wissenschaftlichem Prinzip sogar noch eine größere Bedeutung als beim entsprechenden Ansatz des deutschen Juristen gewonnen, weil es nunmehr eine feste Position im parallelen Zusammenhang der literarischen Gattungen einnahm: Einerseits das systematische Lehrbuch des Zivilrechts (das Gianturco zeitgleich mit der "Crestomazia" in Druck gegeben hatte 72 ) und andererseits die Sammlung juristischer Fälle. Im Vorwort zur "Crestomazia" hatte Gianturco die methodologische Zielsetzung seiner Sammlung überaus deutlich dargelegt, hier heißt es: a) "ehe la risoluzione dei casi giF. C. di Savigny estratto originalmente dalla Gazzetta atorica ec. del Sig. Prof. LEOPOLDO RANKE, Pisa 1838; Sul merito e sulla importanza delle Universita tedesche, in: Ragionamenti storici, (Fn. 7) , 4. Teil, S. 46-66. Zu den italienischen Übersetzungen der Werke SAVIGNYS und im allgemeinen zu seinem Anklang in Italien vgl. F. RANIERI, (Fn. 60), S. 1497, Fn. 28; ders., Savignys Einfluß auf die zeitgenössische italienische Rechtswissenschaft, in: Ius Commune, 8, 1979, S. 192-219 (in Fn. 6 werden andere Hinweise über die Beziehungen SAVIGNYS und der historischen Schule zur zeitgenössischen italienischen Rechtswissenschaft gegeben); ders., Savigny e il dibattito italiano sulla codificazione nell'eta del Risorgimento. Aleune prospettive di ricerca, in: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno, 9, 1980, S. 360 f.; D. MAFFEI/K. W. NÖRR, (Fn. 60), insbea. S. 191 und Anm. 24; D . MAFFEI: Quattro letteredel Capei al Savigny e l'insegnamento del diritto romano a Siena nel 1834, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart (Festschrift H. Coing) , München 1982, Bd. I , S. 203-224; L. MOSCATI: Da Savigny al Piemonte. Cultura storico- giuridica subalpina tra Ia Restaurazione e l'Unita, Roma 1984. 72 E. GIANTURCO: Istituzioni di diritto civile italiano: Parte generale, Napoli 1885. Das Werk ist JOSEF UNGER gewidmet. Ab der 2. Aufl. (1892) wird GIANTURCO den ursprünglichen Titel in "Sistema di diritto civile italiano" ändern, um dieses Werk von seinem neuen, im Jahre 1886 veröffentlichten Lehrbuch der Istituzioni zu unterscheiden. Zu den zahlreichen Ausgaben und Nachdrucken dieser zwei Werke siehe TREGGIARI: Bibliografia degli scritti giuridici e politici di Emanuele Gianturco, in: L'esperienza giuridica , (Fn. 4), S. 365-413; ders., (Fn. 13), S. 62, Fn. 26, s. 84 f .
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uridici dovesse essere il necessario complemento della teoria, dommaticamente esposta nelle mie 'Istituzioni di diritto civile italiano"'; b) "ehe di regola i casi non dovessero comprendere tesi di diritto controverso, ma ipotesi concrete alla cui risoluzione bastassero i principii esposti nelle suddette mie Istituzioni"73• Die untergeordnete Stellung der Fallsammlung im Vergleich zum Lehrbuch der Institutionen drückte folglich ein theoretisches Schema deutlich dogmatischer Prägung aus. Der in der Sammlung enthaltene konkrete Fall war in Wirklichkeit nichts als ein Hinweis auf eine im Handbuch bereits als sicher aufgeführte Lösung. Der Ausschluß strittiger Fragen, der Gewicht und didaktische Bedeutung des Materials der Rechtsprechung drastisch einschränkte, bestätigte andererseits das Fehlen jeder Problemdimension im kasuistischen Apparat der Sammlung. Unter diesem Gesichtspunkt reduzierte sich die kasuistische Übung endgültig auf die alleinige Funktion, die (in den Worten Gianturcos) "riprova della teoria" 74 zu liefern: Die Gegenprobe zu einer mittels dogmatischer Verfahren errichteten Theorie, deren didaktische Übermittlung eben noch vor der Fallsammlung der Lehrveranstaltung und dem Lehrbuch der Institutionen des Zivilrechts übertragen wurde. (17) Trotz des beachtlichen verlegerischen und von der Leserschaft bestätigten Erfolgs sollte Emanuele Gianturcos Fallsammlung eine Episode bleiben, die im Panorama der italienischen juristischen Literatur des 19. Jahrhunderts fast eine isolierte Position einnimmt. So blieben denn noch fast dreißig Jahre bis zum Erscheinen der zweiten italienischen Fallsammlung zum Privatrecht: Sie wurde 1911 von einem treuen Schüler Gianturcos veröffentlicht, dem Richter und Zivilrechtier Nicola Stolfi, seinerzeit Privatdozent an der Universität Turin 75 . Auch diesem Werk treu dem einzigen, in Italien bis dahin erschienenen Modell nachgebildet, aber im Unterschied dazu mit fast ausschließlich forensischen Quellen entnommenen Fällen - sollte es nicht gelingen, in Italien eine literarische Gattung Fuß fassen zu lassen, deren Erfolg sich dagegen in Deutschland im Lauf der Zeit weitgehend konsolidiert hatte. Angesichts der raschen Verbreitung der italienischen Lehrbücher der Institutionen des Privatrechts hatten die Fallsammlungen
73 GIANTURCO, (Fn. 68), S . 16. 74
GIANTURCO, (Fn. 68), S . 18. 75 N . STOLFI: Crestomazia di casi giuridici in uso accademico. 1. Heft, Salerno 1911.
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ihnen also gleich den Vortritt gelassen. Kurioserweise geschah dies gerade im Namen einer falschverstandenen Treue zum zeitgenössischen deutschen wissenschaftlichen Modell. So sollte sich schließlich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine einseitig pandektenorientierte juristische Wissenschaft erst spät und unzureichend eine wissenschaftliche Tradition aneignen, die in Deutschland bereits seit längerer Zeit ganz andere Wege eingeschlagen hatte 76 • Auf dem Gebiet der juristischen Lehre wenigstens konnte der Versuch, mit der deutschen juristischen Wissenschaft Schritt zu halten, nur als lediglich anfänglich und teilweise gelungen beizeichnet werden. Die "Esercitazioni romanistiche su casi pratici", (veröffentlicht 1930 von Emilio Betti77 der diese didaktische Technik als Schüler von Ernst Zitelmann gelernt hatte, der wiederum Schüler von Jhering in Göttingen und Autor berühmter Fallsammlungen sowohl des bürgerlichen Rechts als auch des römischen Rechts war 78 ) waren weniger Zeugnis einer Kontinuität nationaler italienischer Tradition, als vielmehr der dürftigen Ergebnisse, derer sich die italienische Rechtswissenschaft insgesamt bis dahin auf dem Gebiet der kasuistischen Didaktik rühmen konnte. (18) In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die ausgebliebene Verbreitung der didaktisch-kasuistischen literarischen Gattung jedenfalls nicht verhindern können, daß sich die Fallmethode, auch durchaus weit verbreitet, auf dem Gebiet der materiellen Erfahrung im Rechtsunterricht behauptete. In dem Zusammenhang, in dem diese Erfahrung reifte, war die Universität
76 R . ORESTANO, (Fn. 44), S. 142. 77 E. BETT!: Esercitazioni romanistiebe su casi pratici. Anormalita del negozio giuridico, Padova 1930. 78 Vgl. E. BETT!: Ernst Zitelmann, in: Bollettino dell'lstituto di Diritto Romano, XXXIV, 1925, S. 349-365 (insbes. S. 355-358); ders., Metodica e didattica del diritto secondo Ernst Zitelmann, in: Rivista internazionale di filosofia del diritto, V, 1925, S. 49-85 (insbes. S. 77 ff.); ders., Ernst Zitelmann e il problema del diritto internazionale privato, in: Rivista di diritto internazionale, XVII, 1925, insbes. S. 37. Wertvoller Zeuge des kasuistischen Unterrichts ZITELMANNS ist auch A. ROUAST, (Fn. 45), S. 87-45 . Vgl. auch M. GHIRON, Studi, (Fn. 10), S. 37. Auf JHERINGS Übungen in Göttingen bezieht sich ZITELMANN, (Fn. 35), S. 202-204. Vgl. auch HIRSCH, (Fn. 26), S. 90 f. Außer den zitierten "Rechtsfälle für bürgerlich-rechtliche Übungen" war ZITELMANN auch der Verfasser einer Fallsammlung des Römischen Rechts, die aber nie veröffentlicht wurde. Dazu P. KLEIN: Ernst Zitelmann, in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1923/24, S. 510 und Fn. 37.
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allerdings nur am Rande einbezogen: Ausgeprägtere Geltung hatte diesbezüglich dagegen der außeruniversitäre Bereich. Die Untersuchung dieser ungewöhnlichen Dimension der juristischen Didaktik bietet der historischen Forschung ein sicher weniger konventionelles und in vielerlei Hinsicht unbekanntes Bild der Geschichte der juristischen Ausbildung in Italien. Großenteils bloßgelegt wird hierbei insbesondere das lang vorherrschende Eigenlob der akademischen Kultur, das stets dazu führte, die gesamte Geschichte der Rechtswissenschaft mit der Geschichte der Universitäts-Lehrstühle zu identifizieren und die juristischen Ausbildungsmethoden mit den an den staatlichen Hochschulen praktizierten gleichzusetzen79. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erschöpfte sich die juristische Didaktik in Italien nicht allein im universitären Zusammenhang. In den privaten Rechtsschulen, die vor allem im Gebiet um Neapel aufblühten, wurden beispielsweise Lehrmethoden praktiziert, die sich deutlich von jenen unterschieden, die zeitgleich dazu von den Lehrstühlen der Universitäten herab diktiert wurden. Unterricht in Seminarform und kasuistische Übungen fanden hier ein fruchtbares Anwendungsgebiet80 . Entsprechendes kann vom Privatdozententurn an den Universitäten berichtet werden. Auch infolge der erbittert antagonistischen Rolle, die ihm die Universitätsordnung im Verhältnis zum offiziellen Lehrkörper zugewiesen hatte, zog es schließlich wissenschaftliche Prärogative und didaktische Zielsetzungen (neben der keinesfalls marginalen Aufgabe der berufsvorbereitenden Ausbildung der Studenten der Rechtswissenschaft), die im sonstigen akademischen Leben von der - im Laufe der Jahre an der Universität fest verwurzelten - Ausrichtung auf schulischen Unterricht und Repetitorium ausgeschlossen worden waren. 79 Vgl. r;um Beispiel B . BRUGI: Per Ia storia della giurisprudenr;a e delle universitfl. italiane, Torino 1915, S. 23; P. COGLIOLO: II progresso del diritto privato nell'ultimo cinquantennio, in: P . COGLIOLO: Scritti varii di diritto privato. II, Torino 1913, S. 12. Auf diese letzte Seite kommt GIULIANO CRIFO zurück: G. CRIFO, Emilio Betti. Note per una ricerca, in: Emilio Betti e Ia scienza giuridica del Novecento, in: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico modemo, 7, 1978, S. 170 f. Gegen den verbreiteten Irrtum, die Geschichte der Rechtskultur mit dem Kriterium der Annahme des "primato, anzi ( del) l'esclusivita, degli studi universitari" zu interpretieren, siehe A. MAZZACANE, in: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno, 15, 1986, S. 455. 80 Einige Hinweise bei TREGGIARI, (Fn. 13), S. 75 ff.
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Eine noch wichtigere Rolle sowohl auf dem Gebiet der Anwendung der kasuistischen Methode als auch hinsichtlich einer engeren Verknüpfung zwischen Theoriestudium und der Erfahrungswelt der rechtspflegerischen Berufe hatten die zahlreichen privaten juristischen Vereinigungen ausgeübt, die im Verhältnis zur akademischen Welt autonom und zuweilen auch antagonistisch auftraten. Die Übungsinstitute, wissenschaftlichen Seminare und "Circoli giuridici", die in Italien seit Ende der sechziger Jahre spontan und zahlreich entstanden waren, hatten die Juristenausbildung wieder zu ihren authentischen und ursprünglichen Inhalten zurückfinden lassen: Vermittlung - und nicht bloße Rezeption - der Lehrinhalte, praktische Ausrichtung der juristischen Forschung, Studium der Rechtsstreitigkeiten, die seinerzeit, und zwar mit großem Erfolg, als In-vitro- Tribunal in Szene gesetzt wurden, das heißt in Form von in den Hörsälen simulierten, konstruierten Verfahren81 . All diesen Erfahrungen gemein war die beständige Tendenz zur Nachahmung des deutschen didaktischen Modells. In nahezu sämtlichen Statuten juristischer Zirkel in Italien waren exegetische und praktische Übungen vorgesehen. Im Programm des neapolitanischen Zirkels waren, gleichsam als Beweis der getreuen Ableitung der neuen und spontanen Initiativen der italienischen juristischen Kultur vom deutschen Modell, sogar ein Kursus in deutscher Sprache und die Übersetzung der "apere giuridiche di Germania" vorgesehen82 . Die italienische Realität unterschied sich aber klar vom ihr zugrundeliegenden Modell durch das enge Symbioseverhältnis, das durch die zeitliche Parallelität zwischen theoretischem Universitätsstudium und praktischer Vorbereitung auf die Rechtsberufe hergestellt werden sollte. Bewerkstelligt werden sollte dies eben über den gemeinsamen Inhalt, den die neuen didaktischen Experimente charakterisierten. Zu den Aufgaben, die die neuentstandenen Vereinigungen sich stellten, gehörte folgerichtig auch der Ersatz der praktischen Berufsausbildung, wofür in der Tat in Italien eine ernsthafte und wirksame institutionelle Disziplin fehlte. So wurde mit der "clinica giuridica" (eine Formulierung, die sehr häufig anzutreffen war, der aber vor allem Jhering zu ihrer Po81 Zu diesen Erfahrungen der juristischen Didaktik in Italien verweise ich noch auf TREGGIARI, (Fn. 13), S. 120-135. 82 Vgl. N. MINUTILLO: Sull'opportunita di costituire in Napoli un Circolo giuridico. Discorso tenuto nella R. Universita nel giorno 4 dicembre 1899, Napoli 1899, S. 28.
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pularität verholfen hatte83 ) eine Stätte genannt, in der der Nachwuchs hauptsächlich mittels der Beschäftigung mit Fällen im Zuge der Prozeßkostenhilfe weit besser auf das künftige Berufsleben vorbereitet werden konnte, als dies allein durch zudem noch frustrierende Aufenthalte in Anwaltskanzleien möglich gewesen wäre84 . Es ist offenkundig, daß diese gleichzeitig mit der Phase der wissenschaftlichen Juristenausbildung ablaufende und damit eindeutig vorgezogene praktische Ausbildung, wenngleich sie zumindest teilweise die großen Lücken in der in Italien geltenden Rechtsberufsordnung füllen sollte, im offensichtlichen Widerspruch zu den Eckpfeilern des deutschen Universitätssystems stand85 . (19) Diese diffusen Erfahrungen in der juristischen Ausbildung, die gleichwohl auch jenseits der naiveren und kulturell weniger anspruchsvollen Episoden einen Rahmen für die außergewöhnliche Ausbreitung der Fallmethode bildeten, stellten damit auch ein deutliches Anzeichen des Mißtrauens gegenüber dem seinerzeit vorherrschenden italienischen Universitätsbetrieb dar. Die durchaus auch sichtbare politische und parlamentarische Resonanz der am ehesten betroffenen Instanzen der italienischen Rechtswissenschaft (Institution der Seminare und praktischen Übungen, Abschaffung der vorlesungsbegleitenden Prüfungen, Reform der praktischen Ausbildung, Neuordnung des Lehrbetriebs an den juristischen Fakultäten nach freiberuflichem Berufsziel und angestrebter Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung) sollte aber nur zu extrem unvollständigen und vorübergehenden Ergebnissen führen. "L 'exemple de 1' Allemagne", das bei den italienischen Bildungsministern in großem Ansehen stand, sollte nicht ausreichen, um die italienische Universität - wie Carlo Matteucci mit einigem Optimismus und wenig Voraussicht 1861 an Carl Mittermaier
83 JHERING,
(Fn. 22), S. 79 ff. Vgl. TREGGIARI, (Fn. 13), S. 111 ff., 123 ff. 85 Wichtige Reformvorschläge in diese Richtung sind aber auch in Deutschland erfolgt. Im Jahre 1909 zum Beispiel wird ZITELMANN vorschlagen, Universitätsstu84
dium und praktische Ausbildung sich abwechseln zu lassen; ZITELMANN, (Fn. 10), passim. Später wird ein Schüler ZITELMANNS für eine völlige Fusion des theoretischen und des praktischen Teiles der Juristenausbildung eintreten: A. WALLER: Zur Geschichte des Rechtsstudiums, in: Juristische Wochenschrift, 39. Jg., 1910, S. 788794; ders., Zur Reform des Rechtsstudiums, ebd., S. 853-860.
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schrieb86 - "tirer dans l'etat d'inferiorite scientifique ou nous sommes, avec nos Instituts scolastiques, avec le peu de respect qu'on a pour Ia Science, avec les preoccupations politiques, qui nous tourmentent et qui nous tourmenteront encore pour longtemps ...".
86 Am 9. Juli 1861 (siehe Fn. 2).
Diskussionsbeitrag: Formalismus und vergleichbare Konzepte im 19. Jahrhundert
Von Joachim Rückert Die Vorträge verwendeten in verschiedenen Zusammenhängen ein Konzept mehr oder weniger deutlich, dessen Verwendung genauere Vertiefung erfordert. Stichwortartig geht es um den sogenannten Formalismus, den man der Pandektenwissenschaft oder der Rechtswissenschaft des 19. oder späten 19. Jahrhunderts überhaupt bzw. der sogenannten Begriffsjurisprudenz als wesentliches Charakteristikum zuschreibt. Das beliebte Stichwort formal/formalistisch assoziiert dann in der Regel mit lebensfremd, konservativ, Jurist als solcher/Nur-Jurist, und zielt ganz allgemein auf die Funktion von Recht und Rechtswissenschaft in dieser Zeit. Das Konzept produziert für die Rechtsgeschichte und besonders die Rechtswissenschaftsgeschichte Überblick und große Linien, auch politische, bis heute. Es ist nicht zuletzt deswegen so beliebt, und in der Tat benötigt man derart übergreifende Stichworte in historischer wie aktueller Perspektive sehr. Aber ebenso klar ist, daß Konzepte dieser Tragweite und allgemeinen Funktion verführerisch sind und leicht zu abstrakt, historisch unfruchtbar und dann auch irreführend werden. Daß dies für "Formalismus" gilt, möchte ich zunächst an einem Beispiel entwickeln. Ein Blick auf die Entstehungs- und Verwendungsbedingungen dieses Konzepts soll dann seine spezifischen Leistungen, klärende wie verzerrende, weiter präzisieren. 1. Das Beispiel Philipp Lotmar Das Beispiel betrifft den mir vertrauten Pandektisten Philipp Lotmar und einige parallele Fälle. Lotmar lebte 1850-1922, also genau und zentral in der hier interessierenden Zeit. Als "Lieblings- und Musterschüler" (Landsberg) des großen Brinz (geb.
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J. RUckert, Formalismus und vergleichbare Konzepte
1820), einem der führenden Pandektisten neben Windscheid (1817) und Jhering (1818), wird Lotmar einer der letzten großen Pandektisten. Aber zugleich verlegte er sich mit seinem trotzigen Eintritt in die verbotene SPD schon unmittelbar nach Erlaß des Sozialistengesetzes (1878) eine Universitätskarriere in Deutschland und wurde erst 1888 in Bern Professor für Römisches Recht. Er schrieb "formalistische" Dogmatik, aber auch scharf-präzise sog. Gerechtigkeitskritiken, etwa zum BGB, und lebensnah-aufgeschlossene Grundlegungen zum frisch-umkämpften modernen Arbeitsrecht (Tarifvertrag, Arbeitsvertrag, Streikrecht, Berufsfreiheit)1. Im Rahmen der üblichen Verwendung von "Formalismus" dürfte dieser Fall eines lebensnahen und progressiven Pandektisten eigentlich nicht vorkommen. Lotmar ist hier auch nicht einfach Außenseiter, sondern nur ein etwas zugespitzter Fall, der durchaus in der Linie von Windscheid, Jhering u. a. liegt 2. Das Konzept muß also verbessert werden. Der Fall Lotmar weist die Richtung.
FormaUsmus und Sozialismus, aber auch der Liberalismus eines Windscheid und Jhering passen zusammen, wenn strenge Gesetzestreue im Status-quo und politische Offenheit für Wandel kombiniert werden sollen. Revolution stand als juristisches Konzept in dieser Zeit nicht ernsthaft zur Debatte. PatriarchaUsehe Status-quo-PoUtik bildete einen ernsthafteren Gegner. Man muß diese Zusammenhänge beachten, denn so allgemeine Konzepte wie "Formalismus" impUzieren ja Aussagen über die Funktion von Recht und Rechtswissenschaft überhaupt, sogar als pars pro toto für Justiz und Rechtssystem im ganzen genommen. Der Blick darf sich daher nicht bloß auf Rechtsdogmatik, juristische Methode und ähnliches richten. Entscheidend wird vielmehr die Rollen- und Kompetenzverteilung zwischen Rechtswissenschaft, Gesetzgebung/Parlament und Justiz im Verhältnis zu Staat und Gesellschaft3 . Erst damit sind die Hauptfaktoren für die Rechtsgeschichte des Kaiserrei1 Vgl. zu LOTMAR und dem Parallelfall LOEWENFELD J. ROCKERT in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, 1987, S. 91 f. und 245 f. 2 Vgl. dazu J. ROCKERT, in: Autonomie des Rechts in rechtshistorischer Perspektive, (Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Hannover), Bd. 19 Hannover 1988, hier S. 67-76, 95-98 und für WINDSCHEID jetzt U. FALK: Ein Gelehrter wie Windscheid, Frankfurt 1989, im ganzen eine treffende Widerlegung der bisherigen pauschalen Einordnungen. 3 Näher zum 19. Jahrhundert im Sinne dieses Ansatzes J. ROCKERT, (Fn. 2}, S. 35 f. und der gesamte dritte Teil aufS. 35-102.
J. Rückert, Formalismus und vergleichbare Kon11epte
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ches einigermaßen vollständig in den Blick genommen; evtl. wäre hier die Administration zu ergänzen, soweit sie nicht unter "Staat" mitbegriffen werden kann. Nimmt man "Formalismus" also nicht schwer faßbar allgemein, sondern konkreter als strenge Gesetzes/reue, so bedeutet dies nach 1871 auf Reichs- und Landesebene auch die reale Chance zu mehr oder weniger gründlichen politischen Reformen durch Gesetz, wie sie ja auch erreicht wurden. Diese Chance wird primär den Parlamenten in die Hand gegeben, nicht der demgegenüber abhängigeren Justiz oder Administration, und auch nicht politisch-institutionell ganz unklaren Instanzen wie Volksgeist, Volk, Juristen allgemein, Leben, Natur der Sache usw. Daneben garantiert und produziert Gesetzestreue als Prinzip in hohem Maße Rechtssicherheit gegenüber reaktionären und patriarchalen Tendenzen, freilich nicht für Bürger und Arbeiter in gleichem Maße, da etwa Normbindungsintensität, Normpräzision, Gerichtsschutz und Zugang zum Gerichtsschutz differenzieren. In diesem präzisierten Sinne möglichst buchstäblicher Gesetzestreue ist "Formalismus" rechtsoptimistisch und geradezu rechtlich streng, um politisch offen sein zu können 4 . Lebensfremder Konservativismus konnte damit verbunden sein, war es aber schon bei den führenden Figuren wie etwa Windscheid, Jhering, Brinz und anderen nicht, und noch weniger bei einem Lotmar, Loewenfeld, Dernburg, Baron u. a. Der "Jurist als solcher" (Windscheid) sollte bei seinem juristischen Leisten bleiben und sich nicht eine höherwertige politische Stimme anmaßen. Das und nur das meint Windscheids berühmte Sentenz6 • Am kritischen Punkt Gesetzestreue ist selbst Gierke mit Laband völlig einig6 • Intensität und Grad der politischen Offenheit und rechtlichen Gleichbehandlung konnten dann natürlich sehr verschieden und sehr parteibildend sein. Das System des Kaiserreiches bot dafür gerade eine weitestgehend akzeptierte politische Plattform. "Formalismus" im abstrakten Sinne geht an diesen Kontexten vorbei und führt nicht weiter. Begriffsjurisprudenz paßt als allgemeine Charakteristik ebensowenig. Mit Begriffsjurisprudenz kann ohne Anspruch auf allgemeine historische Aussagen über "das Recht im Kaiserreich usw." eine bestimmte ziviHstische Argumentationstechnik gemeint 4 Näher da11u J. ROCKERT, (Fn. 2), S. 86 f., 97. 5 Vgl. ebd., S. 95 f. 6 Vgl. ebd., S. 93 f.
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J. Rückert, Formalismus und vergleichbare Konzepte
sein, die besser als begriffsrealistische Methode bezeichnet würde. Deren historischer Ort ist gesetzgebungskritisch und liegt vor 1871. Die methodischen Prämissen sind philosophisch-idealistisch, nicht etwa empiristisch. Die politische Seite fiel je nach angenommener Substanz sehr unterschiedlich aus, von Idealismen der Freiheit (aller, einiger, des Volkes, der Proletarier) bis zu Idealismen des Staates (Rechtsstaat, Ständestaat, Machtstaat usw.). Gegen diese Begriffsmetaphysik richtete Jhering seine Polemik, nicht gegen juristische Text- oder Gesetzestreue. Nimmt man diesen Zivilistischen Begriffsrealismus aber als pars pro toto, so trifft dies schon wenig für vor 1871 und das frühe 19. Jahrhundert (vgl. nur die sog. Positivisten und Pragmatiker wie etwa Thibaut. Mühlenbruch, Vangerow u. a. im Zivilrecht) und noch weniger für nach 1871, als das metyphysische Fundament verfallen ist. Bloße Gesetzestreue und Buchstabenjurisprudenz sind gerade nicht "Begriffsjurisprudenz" in einem historisch konkret faßbaren Sinne. Ob andere Verwendungen sinnvoll sind, sei dahingestellt. Auch Positivismus als Gesetzespositivismus wird als Charakteristik dann schief, wenn man damit, wie meist, Konservativismus per se konnotiert. Die Lage ist der bei "Formalismus" als Gesetzestreue analog. Irreführend vermischt wird damit öfter das erkenntnistheoretische und wertphilosophische Problem richtigen Rechts, das keine historische, sondern eine philosophische Aufgabe stellt. Was diese Einschränkungen für die aktuelle Diskussion mit diesen Stichworten bedeuten, ist eine weitere Frage. Da Behauptungen über historische Zusammenhänge offenbar beliebte, solide wirkende und vielleicht sogar wirksame Argumente bilden, besteht aber insoweit jedenfalls ein Interesse an Klarheit und Wahrheit. Wesentlich scheint mir darüberhinaus, als übergreifende Problemstellung die Rollenverteilung im Zusammenhang von Recht und Politik festzuhalten. Historische Quer- und Längsschnitte erfassen sonst nur eine Seite von zwei korrespondierenden und werden schief.
2. Entstehungs- und Verwendungsbedingungen des Formalismuskonzeptes
Die Entstehungs- und Verwendungsbedingungen des Konzeptes "Formalismus" lassen sich mit einem Blick auf seine Väter, Söhne
J. Rückert, Formalismus und vergleichbare Konzepte
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und Großväter andeuten. Zu den "Söhnen" zählen etwa Wilhelm (Zur juristischen Methodenlehre im 19. Jahrhundert, 1958, aber eigentlich 1955), von Oertzen (Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, 1974, aber eigentlich 1953), Zwirner (Politische Treupflicht des Beamten, 1987, aber eigentlich 1956), Böckenförde (Gesetz, 1958, Verfassungsgeschichtliche Forschung, 1961, Historische Schule, 1965), später etwa G. Di/cher (Der rechtswissenschaftliche Positivismus, 1975), evolutionstheoretisch Luhmann (Rechtssoziologie 1972f, zugleich in marxistischer Variante etwa Kuczynski, Klenner, H. Schröder8 , E. Polay (Pandektistik, 1981) oder H. Wagner (Politische Pandektistik, 1985), in Italien etwa Fioravanti (Giuristi e Costituzione, 1979) oder Mazzacane (etwa in Pandettistica, EDD 31, 1981), früher schon Porzio (1962) und Negri (1962), in Spanien etwa Vicen (1961)9 . Zu den "Vätern" rechnen etwa E. Wolf (geb. 1902), Larenz (1903), Welzel (1904), Schaffstein (1905), Coing (1912), von historischer Seite etwa Otto Brunner (1898), davor auch E. Kaufmann (1880), C. Schmitt (1888), Schönfeld (1888), Binder (1870) und Smend (1882). Für die philosophische Seite sei wenigstens auf Max Sehe/er (1874) und Nicolai Hartmann (1882) hingewiesen. Zu den "Großvätern" gehören Jhering (1818) und Gierke ( 1841) mit ihren Polemiken gegen Puchta und Laband, daneben etwa Kohler (1849) 10• Nach Wort und Sache reicht die Konzeptbildung zurück bis in Hegels Polemik gegen einen kantianischen "Formalismus" 11 und Stahls schellingianisch geprägte Rechtsphilosophie. So sehr dies Skizze sein muß, es läßt sich doch eine auffallende Gemeinsamkeit festhalten: Das Formalismuskonzept wendet sich polemisch gegen nichtmetaphysische Wert- und Rechtskonzeptionen und befördert umgekehrt metaphysisch-idealistische Konzepte. Dieser metaphysische Rahmen kann hegelianisch, marxistisch, sozialistisch, lebensphilosophisch, neuhegelianisch, völkisch, sachontologisch oder anders gefüllt sein. Jedenfalls werden 7
Vgl. ebd., S. 19 ff. 8 Näher dazu J. ROCKERT: Savigny, 1984, S. 56, 412 f. und RJ 3 (1984), S. 4461.
9 Vgl. die Hinweise bei F. WIEACKER: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S. 368, in der Fn., fUr Italien und Spanien. NEGRI behandelt freilich nur die unmittelbaren Kantianer, also etwa nicht Savigny. 10 Näher dar.u J. ROCKERT, (Fn. 2), S. 87 ff. 11 Vgl. ebd., S. 52, 60.
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J. Rückert, Formalismus und vergleichbare Konzepte
Recht und Gesetz, Politik und politische Institutionen mediatisiert auf eine Substanz hin. Seit den dreißiger Jahren wird darüber hinaus mit antiliberaler Energie diese zuvor mehr philosophische und rechtspolitische Argumentation ganz allgemein und direkt gegen die politischen Institutionen Gesetz und Parlament gewendet12. Auf diese Weise wird nun das positive Recht selbst mediatisiert, teils metaphysisch, teils bloß politisch direkt. Das Formalismuskonzept impliziert seitdem eine entschiedene Parlamentarismuskritik und dies bis heute 13• In der juristischen Rollenverteilung bedeutet dies ein Plädoyer für "die Juristen" ganz allgemein als legitime Organe irgendeiner Substanz. Trotz der liberalen Renaissance des Gesetzes nach 1945 blieben diese gesetzeskritischen Konzepte zugleich in der sogenannten Naturrechtsrenaissance ungebrochen, ja sie wurden mehr als wiederbelebt. Die daraus folgenden Spannungen bis heute liegen auf der Hand. Sie beeinflussen auch unsere rechtshistorischen und allgemeinhistorischen Geschichtskonzepte sehr. Dessen müßte man sich konkreter bewußt sein, da sowohl historische Charakteristiken bestimmter Epochen wie bis in die Gegenwart hineingezogene Linienführungen und Bewertungen davon geprägt sind. Maßgebend wurden hier besonders die Darstellungen der Generation der dreißiger Jahre, also etwa Wieacker mit seiner Privatrechtsgeschichte, Larenz mit dem historischen Teil seiner Methodenlehre und Coing mit dem historischen Teil seiner Rechtsphilosophie. Demgegenüber ist festzuhalten, daß nicht Begriffsjurisprudenz oder ein juristischer Formalismus und auch nicht einfach etwas wie "Realjurisprudenz" oder "Naturalismus", sondern immer noch die methodische und politische Vermittlung von Recht und Politik eine wesentliche theoretische und praktische Aufgabe sind. Bloße Konzentration auf Jurisprudenz für sich, sei es kritisch oder apologetisch, greift also zu kurz.
12 Vgl. ebd., S. 86 und Fn. 248. 13 Vgl. dar.u meine Hinweise in: The Unrecognir.ed Legacy: Savignys lnfluence on German Jurisprudence after 1900, in: AmJofComp Law 37, Berkeley 1989, S. 121 ff., hier Fn. 48.
Teil C
Die soziale Frage in Rechtswissenschaft und Staatslehre
Verwaltungslehre und Sozialpolitik: L. v. Stein und C. F. Ferraris
Von Gustavo Gozzi 1. Wissenschaft und Politik
Das Thema dieses Vortrages betrifft einen Sonderfall des allgemeineren Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik. Er soll im Hinblick auf Italien und zum Teil, mit Hilfe eines vergleichenden Ansatzes, auch im Hinblick auf Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts analysiert werden. Vorab sollen die Grundprinzipien der Verwaltungslehre geklärt werden. In einem zweiten Durchgang sollen dann deren Beziehungen zur Politik aufgezeigt werden. Die erste Fragestellung hinsichtlich der Grundlagen der Verwaltungslehre impliziert vor allem eine ausführliche Darlegung der Gründe, die zu deren Differenzierung gegenüber dem Verwaltungsrecht geführt haben. Die zweite Fragestellung betrifft hingegen das Verhältnis zwischen Verwaltungslehre und Sozialpolitik. Im Jahre 1892 erschien der von B. Brugi für die "Enciclopedia giuridica italiana" verfaßte Artikel "Scienza dell' amministrazione". An ihm läßt sich der Fortgang der Ende der siebziger Jahre in Italien einsetzenden Debatte zwischen Rechtswissenschaft und politischen Wissenschaften ablesen. Brugis Abhandlung beleuchtet aufmerksam das Königliche Dekret vom 22. Oktober 1885, das eine Zusammenlegung der Fächer Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht1 verfügt und darüber hinaus unter Artikel 2 folgendes festhielt "Das F~ch Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht befaßt sich mit den rationalen Grundnormen der öffentlichen Verwaltung, und zwar sowohl mit deren äußerer Tätigkeit als auch mit deren internen Verfahrensordnungen; darüber 1 B. BRUGI: Scienr.a dell' amministrar.ione, in: Enddopedia giuridica italiana, Bd. 1, Teil li, Milano 1892, S. 1978 ff.
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G. Gozzi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik
hinaus mit dem gesamten System der öffentlichen Verwaltung Italiens mit Ausnahme der Finanzverwaltung". Im Einklang mit der allgemein vertretenen Auffassung lief dieser Artikel darauf hinaus, der Verwaltungslehre die Grundsätze zuzuweisen, auf denen das Verhältnis zwischen Verwaltern und Verwalteten beruht. Aber damit hätte sie den Grundzug einer induktiven Wissenschaft verloren, die sich mit der Tätigkeit des Staates befaßt. Als solche war sie 1878 auf der Grundlage der Verordnung Bonghis von 1875 und der Verordnung Coppinos von 1876 erstmals in Italien eingeführt worden. Für V. E. Orlando 2 bedeutete das Königliche Dekret von 1885 die Etablierung der französischen Schule und damit von Autoren wie Vivien und Macare/ 3 , die der Verwaltungslehre als Untersuchungsgegenstand die Grundsätze zuwiesen, die die Verwaltung in ihrem Verhältnis zu den Bürgern bestimmen, dem Verwaltungsrecht hingegen die positiven Gesetze. Aber auf diese Weise wurde die Verwaltungslehre zu einer Art Philosophie des Verwaltungsrechts. Dieser These hatte C. F. Ferraris widersprochen und dabei die Verwaltungslehre als autonome politische Wissenschaft zu entwickeln versucht. 2. Die Verwaltungslehre als politische Wissenschaft Im Jahre 1878 hebt Ferraris bei seiner Antrittsvorlesung an dem Lehrstuhl für Verwaltungslehre in Pavia zwar den "deutschen"4 Grundzug dieser neuen Wissenschaft hervor. Gleichzeitig
2 V. E. ORLANDO: Diritto amministrativo e scienza dell' amministrazione, in: Archivio giuridico, Bd. XXXVIII, 1887, S. 368. 3 M. MACAREL: Cours d' Administration et de Droit Administratif, 1. Teil, Paris 1852, 2. Aufl.: "Dans sa generalite, Ia science de I' administration a pour but de rechercher, a Ia source meme des besoins, les regles de Ia vie pratique des nations, les principes sociaux qui doivent les regir dans les relations des administrateurs avec les administres ... Je droit administratif se compose des lois d' interets publies qui, dans teile ou teile nation donnee, reglent les droits et les devoirs respectifs de I' administration et des citoyens, comme membres de I' Etat. De ces premieres notions i1 resulte que Ia science de I' administration est du domaine de Ia speculation, et que Ia science du droit administratif est partout renfermee dans Ia sphere du positif', (S. 19). 4 C . F . FERRARIS~ La scienza dell' amministrazione. Oggetto, limiti ed ufficio. Antrittsrede am 2. April 1878 in der Universität von Pavia im Kurs für
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aber kündigt er an, sie den italienischen Verhältnissen anpassen zu wollen, damit sie wie eine in Italien entwickelte Wissenschaft erscheine und imstande sei, "über das, was hier geschieht, Rechenschaft" abzulegen5 . Um sich durchzusetzen, hat sich die Verwaltungslehre vom Verwaltungsrecht französischer Prägung getrennt, da dieses keine Aussagen darüber machen kann, wie der Staat den neuen Bedürfnissen der bürgerlichen Gesellschaft begegnen soll. Nach Meinung von Ferraris ist das Verwaltungsrecht nämlich bei einer "einsamen Betrachtung der Staatstätigkeit" stehengeblieben und hat "vergessen, die Fragen der Bevölkerung und des Wohlstandes zu behandeln, die davon unabhängig sind"6 . Andernorts fügt er hinzu, daß auch das Verwaltungsrecht von einer abstrakten Staatsauffassung ausgeht und seine Funktionen nach dieser Auffassung bestimmt. In Deutschland hingegen habe ein tatsächlicher Fortschritt stattgefunden, da man dort begonnen habe, zwischen der Untersuchung der vollziehenden Gewalt und der Untersuchung der Verwaltung in ihrer Tätigkeit, in ihren Gegenständen und in ihren Sachfragen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung findet er z.B. im Werk H. Röslers, der zwar die alte Bezeichnung Verwaltun.psrecht beibehält, es jedoch in ein formales und ein materiales unterteilt. Das formale befaßt sich mit dem Verwaltungsorganismus, das materiale hingegen mit den Verwaltungssachen. Aber vor allem das Werk L. v. Steins genießt
Verwaltungslehre gehalten, Rom 1878, S. 4, zuvor bereits in: Archivio EconomicoAmministrativo, Mai 1878. 5 Ebd., S. 30. 6 Ebd., S. 6. Allgemein über diese Problematik vgl. C. MOZZARELLI und S. NESPOR: Giuristi e scienze sociali nell' Italia liberale, Venezia 1981. 7 H. RÖSLER: Das Sodale Verwaltungsrecht, 1. Abt., Erlangen 1872, S. 1: "Das materielle Verwaltungsrecht zerfällt 1) in das sociale Verwaltungsrecht, welches die rechtliche Ordnung der menschlichen Culturverhältnisse ... ; und 2) in das politische Verwaltungsrecht, welches die durch die menschlichen Culturbedürfnisse gegebenen Verhältnisse zwischen Staat und Gesellschaft... begreift. Das formelle Verwaltungsrecht handelt von der Einrichtung und den Formen der Thätigkeit der Verwaltungsorgane des Staates (Politik der Staatsverwaltung)". - FERRARIS nimmt für sich in Anspruch, die Unterscheidung zwischen Organismus und Handeln des Staates auch in der von GERBER vorgenommenen Differenzierung zwischen dem Staatsrecht (dem er das Studium der Souveränität des Staates, der Organe und der Formen zuweist, in welchen dieser seinen Willen kundgibt), und dem Verwaltungsrecht (dem er das Studium der materiellen Richtungen der Staatsgewalt zurechnet) wiederzugeben. Vgl. hierzu C. GERBER: Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, Leipzig 1869, 2. Auf!., § 23.
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C. F. Ferraris' Wertschätzung. Stein habe der Verwaltungslehre "eine systematische, beinahe endgültige Form" gegeben. Stein ersetzt das Verwaltungsrecht8 durch drei Fächer: die Finanzwissenschaft, die Lehre von der Heeresverfassung und die Verwaltungslehre, die ihrerseits aus zwei Teilen besteht: der erste liefert eine Theorie der vollziehenden Gewalt9 , der zweite befaßt sich mit den Gegenständen der Verwaltungstätigkeit Ferraris behält das Verwaltungsrecht bei und schlägt es dem inneren öffentlichen Recht zu. Er beschränkt das Verwaltungsrecht auf die Behandlung des Verwaltungsorganismus 10, während er der Verwaltungslehre die Untersuchung der Verwaltungssachen, d.h. die genaue Bestimmung der Staatstätigkeit vorbehält. Auf der Grundlage dieser Unterscheidungen distanziert er sich, im Spektrum der italienischen Lehre, vor allem von der Position G. De Gioannis Gianquintos, für den die Personen und die Sachen, d.h. die Kompetenzen der Verwaltungstätigkeit sowie die Verwaltungsgerichtsbarkeit, Gegenstände des Verwaltungsrechts sind 11 . Diese 8 Es handelt sich wahrscheinlich um ein Mißverständnis FERRARIS', da STEIN das Verwaltungsrecht erhalten möchte und ihm eine bestimmte Bedeutung beimißt, wenn er z.B. schreibt: "Und nun sagen wir, daß der zur wirklichen Geltung erhobene Wille des Staats für diese Ordnung seiner Verwaltung das positive Verwaltungsrecht ist." In: L. VON STEIN: Handbuch der Verwaltungslehre, Stuttgart 1876, 2. Auf!., S. 64. Vgl. hierzu L. ZAMMARANO: La scienza dell' amministra~>ione nell' insegnamento delle universitä, in: Nuova Antologia, LV, 1881, S. 109. 9 Vgl. L. VON STEIN: Die Verwaltungslehre, Teil 1, Abt. 1, Die vollziehende Gewalt (1869), Aalen 1962. 1 FERRARIS beansprucht, daß seine Konzeption des Verwaltungsrechts mit dem übereinstimmt, was VON MOHL als den formalen Teil der Polizei-Wissenschaft definiert. VON MOHL schreibt: "Eine zweite, freilich minder schwürige und umfassende, Hälfte der Disciplin gibt die Grundsätze über die Art und Weise der Ausführung, das Formelle, an. Hier wird erstens gezeigt, welche Behörden bestehen müssen, und welche Einrichtung ihnen frommt; zweitens aber, welcher Geschäftsgang zweckmäßig ist." In: R. VON MOHL: Die Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Tübingen 1866, I, § 9, S. 54. 11 DE GIOANNIS GIANQUINTO: Corso di diritto pubblico amministrativo, Bd. 1, Firenze 1877, S. 184-185: "Dalla definizione del diritto pubblico amministrativo
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scientifico ... deducesi, ehe nella sfera del suo concetto esistono tre parti destinte: v' ha un organismo di agenti, una serie di materie, un termine di azione ... Il primo elemento sono i funzionari amministrativi: il secondo Je materie amministrative: il terzo I' azione e Ia giurisdizione amministrativa. I1 qua! concetto a forma piu compendiosa riducendo, noi possiamo riassumere I' universa partizione teorica della scienza nostra nella triade delle Persone, delle Cose, delle Azioni."
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wichtigen Vorbestimmungen arbeitet Ferraris dann noch gründlicher aus. Er trennt nunmehr die Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung in eine "indirekte" und eine "direkte". Die Wege, auf denen der Staat sich die notwendigen finanziellen Mittel und die persönlichen Dienstleistungen mit Hilfe von Finanzwesen, Heer und ziviler Verwaltung verschafft, entsprechen der indirekten Tätigkeit des Staates und sind Gegenstand der politischen Verwaltungs/ehre. Die Eingriffe des Staates zur Förderung der wirtschaftlichen, physischen und geistigen Entwicklung der Gesellschaft stellen hingegen die direkte Tätigkeit des Staates dar und sind Gegenstand einer Gruppe von Fächern, die Ferraris als soziale Verwaltungslehre bezeichnet12 • Der Organisation des Staates tritt demnach als Untersuchungsgegenstand die Staatstätigkeit zur Seite, die durch den sozialen Wandel bestimmt ist. Aber was bestimmt Umfang und Maßstäbe dieser Tätigkeit? Ferraris greift auf Steins Unterscheidung zwischen Verfassung und Verwaltung zurück, durch die er die Grundsätze der Staatstätigkeit deutlich herauszuarbeiten vermag. In der zweiten Auflage des "Handbuchs der Verwaltungslehre" schreibt Stein, daß "die endgültige Aufnahme der Begriffe der Vollziehungsgewalt und Regierung in dem erweiterten Begriff der Verfassung" als "ein durchgreifender Fortschritt" anerkannt werden müsse 13 . Ferraris heißt die Übereinstimmung der vollziehenden Gewalt mit der Verfassung gut. Die verfassungspolitische und die administrative Ordnung müßten übereinstimmen, da sonst beide nicht stabil seien. Die Verwaltungstätigkeit habe deshalb die Grenzen des "Rechtsstaates" einzuhalten, mit dessen Ordnung sie übereinzustimmen und dessen Bewahrung sie zu dienen habe: "Auf diese 12 Nach FERRARIS hat für Italien nur PERSICO eine korrekte Vorstellung der sozialen Verwaltung entwickelt. PERSICO definiert die soziale Verwaltung als "quella forza collettiva ehe lo Stato adopera per aiutare, accompagnare, disciplinare, ed equilibrare Ia forza libera dell' uomo singolo nell' attuazione del suo fine", in: F. PERSICO: Principii di diritto amministrativo, Bd. II, Napoli 1874, S. 270. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß für FERRARIS Verwaltung nicht lediglich Vollzug der Gesetze bedeutet. Im Gegenteil "in senso politico amministrazione e sinonimo d' intervento dello Stato vuoi colla sola !egge, vuoi coi soli organi esecutivi anche quando manca ogni disposizione di !egge, vuoi infine colla !egge e gli organi esecutivi contemporaneamente", C. F. FERRARIS: Le relazioni della scienza dell' amministrazione col diritto amministrativo, in: Saggi di economia, statistica e scienza dell' amministrazione, Torino 1880, S. 53. 13 L. VON STEIN, (Fn. 8), S. 61.
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Weise werden die Freiheits- und Gleichheitsprinzipien zu organischen Verwaltungsgrundsätzen erhoben" schreibt Ferraris und fährt fort: "Denn ohne Freiheit und Gleichheit gibt es keine individuelle Energie, kein Leben, keine Bewegung und keine Differenzierung in den sozialen Phänomenen" 14• Ferraris gründet die Verwaltungslehre auf die genaue Unterscheidung zwischen den rechtlichen und den politischen Funktionen des Staates, d.h. zwischen öffentlichem Recht und Politik. Das öffentliche Recht befaßt sich mit dem "Zusammenhang politischer und administrativer Institutionen, aus denen sich die Rechtsverhältnisse zwischen Staat und Bürgern ergeben"16 . Mit Holtzendorff weist Ferraris hingegen der Politik die Aufgabe zu, "di determinare gli scopi dello Stato ed il retto uso e gli effetti dei mezzi disponibili per raggiungerli, all' infuori dell' amministrazione della giustizia" 16. Diese Staatszwecke sind durch den sozialen Wandel bestimmt, der die Entstehung neuer Funktionen des Staates mit sich bringt, die diesen Zwecken dienen. Die Untersuchung des sozialen Wandels und der staatlichen Funktionen ist den politischen Wissenschaften vorbehalten, zu denen Ferraris insbesondere die Politik als allgemeine Lehre von den Staatszwekken und die Verwaltungspolitik oder Verwaltungslehre zählt, die - wie bereits gesehen - die politische und die soziale Verwaltungslehre miteinschließt, "die die positive und direkte Tätigkeit des Staates im wirtschaftlichen, physischen und geistigen Leben der Gesellschaft" 17 untersucht (Ferraris baut diese Definition
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C. F. FERRARIS, (Fn. 12) S. 17. C. F . FERRARIS, (Fn. 12), S. 47. 16 Ebd., S. 46. Vgl. dazu F . VON HOLTZENDORFF: "Die Politik, als Wissenschaft, hat in unseren Augen zum Objekt und Inhalt: den richtigen Gebrauch und die Wirkungen der auaserhalb der Rechtspflege zur Erfüllung der Staatszwecke
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thatsächlich verfügbaren Mittel", in: Principien der Politik, Berlin 1879, S. 10. 17 C. F. FERRARIS, (Fn. 12}, S. 49. FERRARIS nimmt nur das positive soziale Handeln &um Gegenstand der eozialen Verwaltungswissenschaft, um auf diese Weise, entgegen der Hypothese VON STEINS, das Polizeihandeln auszugrenzen. FERRARIS hatte diese Interpretation bereits in La scienza dell' amministrazione, S. 26, dargestellt . STEIN erkennt die Gültigkeit von FERRARIS' Kritik an, indem er zugibt: "Allerdings war dabei ein Hauptpunkt unentschieden geblieben; das war die große Frage nach dem Polizeirecht, in welcher sowohl INAMA als in neueater Zeit Ferraris (Archivio economico ed amministrativo, 2. Jg., V 3, Fase. V, La Scienza dell' Amministrazione, S. 302 ff.), die hier unfertige Auffassung STEINS mit vollem Recht angegriffen", in: L. VON STEIN: Rechtsstaat und Verwaltungsrechtspflege, in:
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weiter aus und stellt die Sozialverwaltung mit der von der deutschen Volkswirtschaftslehre propagierten "Sozialpolitik" auf eine Stufe). Die Verwaltungslehre ist demnach Teil des Systems der politischen Wissenschaften. Aus diesem Grunde ist Ferraris der Meinung, Stein habe das Gebiet der Verwaltungslehre zu sehr ausgedehnt, als er auch die Rechtspflege zu ihren Gegenständen hinzurechnete. In der Tat begreift Stein unter Staatsverwaltung die Staatswirtschaft, die Rechtspflege und die Verwaltung des Innern, die der Entwicklung jedes einzelnen Rechnung trägt und Gegenstand einer inneren Verwaltungslehre ist 18. Die strikte Trennung der politischen von den rechtlichen Aufgaben des Staates weist eindeutig auf die politische Absicht hin, die der Verwaltungslehre von C. F. Ferraris zugrundeliegt. Durch die Bestimmung der im Hinblick auf die soziale Wirklichkeit notwendigen staatlichen Eingriffe versucht sie den Rechtsstaat und dessen vornehmlichste Funktion, den Rechtsschutz, zu bewahren. Die Verwaltungslehre soll jene Eingriffe bezeichnen, die zur Schließung der möglichen Lücken zwischen Staatsprinzipien und sozialen Beziehungen notwendig sind. 3. Die Gesellschaft und das Verwaltungshandeln des Staates
Um die sozialen Bedingungen zu erforschen und die notwendigen staatlichen Tätigkeitsbereiche genau zu umreißen, bedient sich die Verwaltungslehre eines Komplexes von Sozialwissenschaften, die es ihr ermöglichen, dem inneren Gefüge der Gesellschaft auf den Grund zu gehen. Es sind dies: die soziale Wirtschaftslehre, die Bevölkerungsstatistik (in diesem Zusammenhang erwähnt Ferraris vor allem das Werk von Wappäus 19 ) sowie die moralische und pädagogische Statistik. Diese drei Wissenschaften verweisen wiederum auf drei Organismen, die zusammen die Gesellschaft ausmachen: den wirtschaftlichen, den physischen und den geistigen. Der wirtschaftliche Organismus betrifft die Bildung und Verteilung von Wohlstand sowie die Organisation der Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, 6. Bd., Wien 1879,
s. 319.
18 L. VON STEIN, (Fn. 9), S. 12. ORLANDO stellt zwischen der sozialen Verwaltungslehre FERRARIS' und der inneren Verwaltungslehre STEINS eine Äquivalenz her, vgl. V. E. ORLANDO, (Fn. 2), S. 384. 19 J. E. WAPPÄUS: Allgemeine Bevölkerungsstatistik, 1. Theil, Leipzig 1859.
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Arbeitsteilung. Der physische Organismus besteht aus den die Bevölkerung in Mitleidenschaft ziehenden Erscheinungen sozialen Wandels. Der geistige Organismus schließlich betrifft die Organisation der Kultur. Auf der Grundlage der zwischen diesen Organismen bestehenden Beziehungen konstituieren sich die sozialen Klassen, deren ungelöste Spannungen zur "sozialen Frage" geführt haben. Diese besteht für Ferraris sowohl aus den Problemen der wirtschaftlichen Entwicklung als auch aus einer "jahrhundertelangen Erbschaft des Elends", die unter anderem in den Gruben Siziliens oder in den Wohnverhältnissen Neapels zutage trete 20 . Ferraris ist sich der Rückständigkeit der "sozialen Frage" in Italien sehr wohl bewußt, messe man sie an den Problemen der höher entwickelten europäischen Nationen. Aber er glaubt, daß auch Italien sich in Zukunft mit derartigen Problemen werde auseinandersetzen müssen. Die Verwaltungslehre hat die schwere Last, die Aufgabe der Verwalter und Gesetzgeber näher bezeichnen zu müssen. Parallel zu den aufgezeigten drei Organismen der Gesellschaft fächert sich auch die Verwaltungslehre in drei unterschiedliche Ansätze auf, die getrennt die Probleme eines jeden Organismus behandeln: die ökonomische, die innere sowie die Verwaltungslehre der öffentlichen Bildung. Die Behandlung der staatlichen Aufgaben beginnt bei den Wirtschaftsfragen, da deren Lösung zu einer beinahe vollständigen Lösung der sozialen Frage führen wird, die für Ferraris in einer inadäquaten Verteilung des Wohlstandes besteht. Der Staat soll Normen zur Regelung der Versicherungs- und Kreditanstalten, der Wohlfahrts- und Sparinstitute sowie der Gegenseitigkeitsvereine erlassen. Darüber hinaus soll ein Normensystem den Arbeitsvertrag, die Arbeitergewerkschaften und die industriellen Schiedsgerichte abdecken. Die Gesamtheit der wirtschaftlichen Maßnahmen des Staates wird im Zusammenspiel mit den Maßnahmen zur Hebung des physischen und geistigen Lebens der Bevölkerung ausreichend sein, um die soziale Frage zu lösen. Auf diese Weise wird nach Meinung von Ferraris ein spezifischer Eingriff des Staates in die Lage der sozialen Klassen, wie ihn noch L. v. Stein gefordert hat, überflüssig 21 .
20
C. F . FERRARIS, (Fn. 4), S. 30. 21 L. VON STEIN, (Fn. 8) , S. 818 ff.
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4. Die liberale Reformbewegung Das Werk von Ferraris zeichnet deutlich die Konturen des liberalen Reformprojekts, innerhalb dessen die Sozialtätigkeit des Staates die Auswüchse des Individualismus korrigieren soll. Die Verwaltungslehre stellt sich in den Dienst dieses Projekts, das Ferraris nach eigener Aussage den deutschen Kathedersozialisten, als deren Schüler er sich bezeichnet, abgewonnen hat. Gelehrten wie Brentano. Schmoller, Wagner, Cohn, Engel erkennt er den Verdienst zu, frundlegende Beiträge zur Verwaltungslehre geleistet zu haben 2 • Die Darstellung soll deshalb auf den Einfluß der deutschen Volkswirtschaftslehre in Italien ausgedehnt werden. Dabei soll die Entstehung des italienischen Kathedersozialismus (oder der scuola lombardo-veneta) geschildert werden, zu deren Vertretern Ferraris enge Kontakte unterhielt. Im Jahre 1875 schreibt Ferraris an L. Luzzatti und erklärt sich bereit, an der Verbreitung der neuen Volkswirtschaftslehren, deren Luz::atti sich schon seit geraumer Zeit angenommen hat, mitzuwirken 23 . Es handelt sich um die von der deutschen historischen Schule der Nationalökonomie entwickelten Lehren, die die italienischen Kathedersozialisten zur Grundlage der staatlichen Sozialtätigkeit machen möchten. Sie erachten einen wissenschaftlichen Ansatz für notwendig, der induktiv begründet werden soll. Diesen stellen sie den deduktiven Richtungen entgegen, wie sie von den Freihändlern vertreten werden. Der italienische Kathedersozialismus entsteht im Umkreis der historischen Rechten, vor allem auf der Grundlage der interventistischen Erfahrungen und Initiativen des Ministeriums für Landwirtschaft, Industrie und Handel 24 . Die scuola lombardo-veneta, auch als historische Schule der Nationalökonomie bekannt, untersucht unter Zuhilfenahme der Sozialwissenschaften volkswirtschaftliche Störungen 25 und weist dabei dem Staat die Aufgabe
22 C . F. FERRARIS, (Fn. 4), S. 29.
23 FERRARIS an LUZZATTI am 27.3.1875. Der Brief befindet sich im Archiv von LUIGI LUZZATTI, Istituto veneto di Scienze, lettere ed arti Venezia, Mappe 22. Diesen Hinweis gibt R. ROMANI in: Carlo Francisco Ferraris (1850-1924) . Note preliminari, in: Schema, Facolta di scienze politiche di Padova, 1986, S. 157. 24 FERRARIS gibt zu, daB die Verwaltungslehre die Theorie aus dem speist, was tatsächlich die staatlichen Einrichtungen in Ausübung ihrer sozialen Tätigkeit durchführen, vgl. C. F. FERRARIS, (Fn. 4), S. 17. 25 L. LUZZATTI: Le perturbazioni economiche (1879). in: Opere, Bd. IV, L' ordine sociale, Bologna 1952, S. 36 ff. Über die scuola lombardo-veneta in Italien
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zu, diese vermittels Sozialgesetzgebung zu lösen. Diese Thesen werden von sämtlichen Vertretern dieser Schule rezipiert. Sie finden sich bei Luzzatti ebenso wie bei Lampertico, Cossa, Boccardo und Toniolo. Sie glauben an natürliche ökonomische Gesetze, räumen aber ein, daß im Laufe der Geschichte Bedingungen entstehen können, die deren Verwirklichung im Wege stehen. Die staatliche Sozialpolitik soll deshalb die Bedingungen sicherstellen, unter denen diese Gesetze wirksam werden können. Im Mittelpunkt dieses vom sozialen Liberalismus entworfenen Projekts steht jedoch weiterhin die Freiheit des einzelnen. Von ihr allein hängt die Bewahrung der Interessenharmonie ab. Die soziale Tätigkeit des Staates soll nämlich in keiner Weise an die Stelle der individuellen Freiheit treten, sondern sie vielmehr ergänzen. In diesem Zusammenhang sei z.B. an die Volksbanken erinnert, die Luzzatti in Italien nach dem Vorbild von SchulzeDelitzsch einführte 26 , um das Volkssparen zu fördern und gleichzeitig für die sittliche Erziehung und die Freiheit der einzelnen zu wirken. Zur Freiheit erziehen sollte auch die im Gegensatz zur Zwangsversicherung Bismarcks von Luzzatti eingerichtete "freiwillige Versicherung'127• In einem im "Giornale degli Economisti", dem Organ des italienischen Kathedersozialismus, 1877 erschienenen Aufsatz vertritt auch Ferraris diese ideologische Richtung. Die Staatstätigkeit habe sich nach dem Grundsatz der freien Persönlichkeitsentwicklung zu richten und müsse "jenen Klassen, die sie verloren haben, die Freiheit in ihren Bewegungen und in ihrer Tätigkeit zurückgeben" 28 . Diese Auffassung verweist auf L. v. Stein, der im Staat jenes politische Subjekt erkannte, das die Unfreiheit der Gesellschaft auf die Stufe der Freiheit heben konnte. Im übrigen zitiert Ferraris ihn ausdrücklich. Bei L. v. Stein heißt es denn auch: "Und da wir nun den Ietztern Zustand den der gesellschaftlichen Unfreiheit, das Princip des Staats aber den der gesiehe besonders V. SELLIN: Die Anfänge staatlicher Sozialreform im liberalen Italien, Stuttgart, 1971. 26 L. LUZZATTI: La diffusione del credito e le banehe popolari, Padova 1868, jetzt in: Attualita di Luigi Luzr.atti (Hg. F. PARRILLO), Milano 1964, S. 225 ff. 27 L. LUZZATTI: Le rivelazioni della previdenza all' eaposizione nazionale di Milano. II, L' aaaicurazione contro gli infortuni del lavoro in un opificio italiano (1881), in: L' ordine sociale, S. 762 ff. LUZZATTI stellt die fakultative Versicherung der von BISMARCK vorgeschlagenen obligatorischen ausdrücklich gegenüber. 28 C. F. FERRARIS: La atatiatica e Ia acienza dell' amminiatrazione nelle facolta giuridiche, in: Giornale degli Economisti, Jg. 111, September 1877, S. 461.
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seilschaftliehen Freiheit nennen, so werden wir sagen, daß der erste und allgemeinste Inhalt der Idee einer socialen Verwaltung der ist, durch die Herstellung der Bedingungen aller persönlichen Entwicklung oder der Bedingungen der gesellschaftlichen Freiheit der gesellschaftlich unfrei gewordenen Ordnung ihre freie Bewegung wieder zu geben" 29 • Auch für Ferraris besteht die Aufgabe der Verwaltung darin, auf der Grundlage der Sozialwissenschaften und der Verwaltungslehre jene staatlichen Maßnahmen einzuleiten, die notwendig sind, um die individuellen Freiheitsbedingungen zu schaffen und neben die Rechtsgleichheit die faktische Gleichheit zu stellen. Das Problem der Sozialverwaltung besteht nämlich in der Überbrückung der Kluft zwischen Gesellschaft und Rechtsstaat. Sie soll deshalb dazu beitragen, auf der Ebene der materialen Verfassung die Grundsäzte zu verwirklichen, die in der formalen Verfassung des Rechtsstaates aufgestellt worden sind. Die von L. v. Stein entlehnten Kategorien Verfassung und Verwaltung erlauben es Ferraris, die soziale Frage als Teil der Verfassungsfrage zu sehen. Die Lösung der sozialen Probleme ist demnach für Ferraris von der Frage abhängig, welches Verfassungsorgan die Sozialpolitik leiten soll. Bekanntlich erkannte Stein dieses Organ im Königtum der sozialen Reform30 , und auch die deutschen Kathedersozialisten (allen voran G. v. Schmoller) wiesen der preußischen Monarchie die Aufgabe zu, die soziale Frage zu lösen. In Italien hingegen bewog die parlamentarische Entwicklung der Monarchie die Vertreter der scuola lombardo-veneta, den englischen Parlamentarismus als Verfassungsmodell zu rezipieren. In diesem Sinne äußert sich auch C. F. Ferraris: "Jede Verfassung muß, um bestehen zu können, den sozialen Bedingungen entsprechen. Sie muß sich deshalb der sozialen Elemente bedienen und ihnen durch die politischen und administrativen Vertretungen den ihnen zukommenden Anteil am Staatsorganismus gewähren. Hierin liegt das große Regulierungsprinzip der englischen Verfassung. Mehr als jede andere ist sie Frucht der sozialen Bedingungen ... Auf diese Weise weist die englische Verfassung die denkbar vollkommenste Fusion von Staat und Gesellschaft auf, und hieraus ergibt sich ihre Stabilität"31 . 29 L. VON STEIN, (Fn. 8), S. 102. 30 Vgl. L. VON STEIN: Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, 3. Bd., Das Königtum, die Republik und die Souveränität der französischen Gesellschaft seit der Februarrevolution 1848 (1850), Nachdruck der von G. SALOMON hg. Ausgabe von 1821, Darmstadt 1959, S. 41.
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Diese Interpretation der englischen Verfassung findet sich bei allen Vertretern der scuola lombardo-veneta: Luzzatti z.B. zweifelt nicht daran, daß auch Italien den Weg des englischen Parlamentarismus einschlagen wird, sobald die Entwicklung des industriellen Systems in Italien voranschreitet32 . Die Vertreter des italienischen Kathedersozialismus lehnen sich demnach an die deutsche Volkswirtschaftslehre an, indem sie die Werke Roschers, Wagners, Steins und Schäffles lesen und übersetzen. Auf diesem Wege glauben sie, die Legitimationsgrundlagen für die staatliche Sozialtätigkeit aufzufinden und die Grenzen des Freihandels zu überwinden. Das beste Beispiel für die erfolgreiche Anwendung dieser Lehren und das auch für Italien entwicklungsfähige Verfassungsmodell ist jedoch England. Die unterschiedliche Verfassungsentwicklung beeinflußt auch die unterschiedlichen Ausformungen der Sozialpolitik. Im Unterschied zu Deutschland ist in Italien im Zuge der vollständigen Durchsetzung des parlamentarischen Regimes eine Einbeziehung der Arbeiterbewegung in die Vorbereitung und Verabschiedung der Sozialgesetz~ebung möglich, so vor allem während der Regierungszeit Giolittis 3 . Die von Ferraris Ende der siebziger Jahre zur Lösung der Sozialfrage entwickelten Lösungen stimmen mit der ideologischen Konzeption der scuola lombardo-veneta überein. So fordert er ein Gesetz zur Frauen- und Kinderarbeit und regt vor allem die Schaffung von Sparkassen, Gegenseitigkeitsvereinen und Gewerkschaften an. Auf diesem Wege soll die Erziehung zur persönlichen Freiheit gefördert werden. Stein macht vor den achtziger Jahren ähnliche Vorschläge. Er tritt vor allem für "Sparcassen, Creditvereine, Consumvereine und Unternehmungsvereine "3', die traditionellen Organe der Arbeiterselbsthilfe, ein. In den achtziger Jahren hingegen stellt Stein sich ganz offen hinter Bismarcks Sozialpolitik und die Zwangsversicherungen.
In Italien versuchte die liberale Reformbewegung, die soziale Frage durch philanthropische Reformen, Sparkassen und das Wirken von Gegenseitigkeitsvereinen zu lösen. Die Sozialgesetze, die 31
C. F. FERRARIS, (Fn. 28), S. 458-459. 32 L. LUZZATTI: La Legisluione sociale nel Parlamento in1leae, in: Opere, Bd. IV, L' ordine sociale, S. 700. 33 Ober diese Entwicklung, vgl. G. GOZZI: Modelli politici e questione sociale in Italia e in Germania fra Otto e Novecento, Bologna 1988, besonders Kap. IV. 34 L. VON STEIN, (Fn. 8) , S. 894.
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sich daraus ergaben die Anerkennung der Gegenseitigkeitsvereine im Jahre 1886, die Gründung einer nationalen freiwilligen Unfallsversicherung 1883 und das Gesetz zur Kinderarbeit von 1886 - waren von geringerer Bedeutung und zur Lösung der sozialen Frage völlig ungeeignet. Dieser Rückschlag führte Ende der neunziger Jahre auch in Italien dazu, das deutsche Modell der Zwangsversicherungen zu übernehmen35 . Ferraris war mitverantwortlich für diese Wende. Dadurch geriet er in Widerspruch zu den Hauptvertretern des italienischen Kathedersozialismus36, deren Anschauungen er in den siebziger Jahren geteilt hatte. 5. Die Verwaltungslehre in der Studienordnung der Universitäten
Die Frage nach der Ausdehnung und den Grenzen staatlicher Tätigkeit bildet den Ausgangspunkt einer breiten Debatte über die Ordnung jener Studien, die diese Tätigkeit im Rahmen des Rechtsstaates abstützen sollen. Diese Auseinandersetzung befaßt sich mit dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik und versucht zu klären, über welches "Wissen" die Verwaltungsbeamten, Richter und Politiker verfügen sollen, die immer nachhaltiger in eine soziale Wirklichkeit im Wandel einzugreifen haben. Diese Frage beschäftigt z. B. M. Minghetti, wenn er schreibt: "Se l'amministrazione deve essere esercitata da uomini esperti, uopo e ehe vi sia un corso di studi destinato a formarli" 37. Er schlägt deshalb die Schaffung einer "wirklichen Fakultät für Politik und Verwaltung" vor, die Klarheit darüber schaffe, "worin SS Die deutsche Lösung der obligatorischen Sozialversicherungen bedeutete das Ende dessen, was Sellin als das "liberale System sozialer Reform" definierte, in: V. Sellin, (Fn. 25), S. 19 und S. 154 ff. 36 FERRARIS erinnert z.B. daran, daß er der Schöpfer des letzten Gesetzesentwurfes über die obligatorische Unfallversicherung (der 1898 Gesetz wurde) war, während andererseits LAMPERTICO, der wie FERRARIS dem Kathedersozialismus angehörte, im Dezember 1896 dem Senat einen Gesetzesentwurf präsentierte, in dem er die Stellungnahme für die fakultative Versicherung gegenüber der obligatorischen bekräftigte, vgl. C. F . FERRARIS: Gli infortuni sul lavoro e Ia !egge, Relazione al Consiglio della Previdenza - sessione del 1897, Roma 1897, S. 92 ff. 37 MINGHETTI: I partiti politici e Ia loro ingerenza nella giustizia e neU' amministrazione (1881), in: Scritti politici (hg. von R. GHERARDI), Roma 1986, S. 749.
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die öffentliche Verwaltung bestehe und dabei die Unterschiede zur Rechtswissenschaft aufzeigt"88 . Dabei bewertet er positiv sowohl die Verordnung Bonghis von 1875, die in die juristischen Fakultäten einige politische Nebenfächer eingeführt hatte, wie die Finanzwissenschaft, die Verwaltungslehre, die Staatsbuchhaltung usw., als auch das von dem Minister F. de Sanctis im Dezember 1878 erlassene Dekret, das, zum Zweck einer besseren Ausbildung der staatlichen Verwaltungsbeamten, die Schaffung einer Wirtschafts- und Verwaltungsschule an der juristischen Fakultät der Universität Rom ermöglicht hatte. Auch Ferraris greift in die Debatte ein. Zwar tritt er nicht für eine Fakultät der politischen Wisenschaften ein, wohl aber für eine Umwandlung der rechtswissenschaftliehen Fakultät in eine rechtswissenschaftlich-politische89 , die alle rechtswissenschaftliehen und politischen Disziplinen umschließen sollte. Die Zusammenlegung beider Fachrichtungen innerhalb derselben Fakultät erlaube eine Vorbereitung, die über "die Geschichte und die Gründe" der Gesetzgebung informiere und die Erkenntnis fördere, daß diese nach Maßgabe des sozialen Wandels verändert werden müsse. Auch in diesem Zusammenhang ist das Werk Steins ein wichtiger Bezugspunkt. Für Stein bilden nämlich die Kräfte und Gesetze des realen Lebens den Inhalt des Rechts, das "nur ein Glied desjenigen Ganzen ist, dessen große Gestalt den Inhalt der Staatswissenschaft bildet"40 . Deshalb ist die Rechtswissenschaft ein Teil der Staatswissenschaft. Für Stein folgt daraus, "daß es vom höheren Standpunkt des Lebens wie des Wissens überhaupt zwar wohl eine Rechtswissenschaft, aber keine juristische Fakultät geben soll, sondern daß gegenüber den anderen Fakultäten überhaupt nur eine staatswissenschaftliche Fakultät richtig und denkbar ist, innerhalb derer die Rechtswissenschaft als ein organischer, selbständiger Teil erscheint, (welcher Verständis, Ordnung und historische Entwicklung eben nicht im Wesen des Rechts, sondern im Wesen der Kräfte findet, die in der Staatswissenschaft das gesamte Gebiet des Lebens der Gemeinschaft beherrschen)"41 • 38 Ebd. 39 C. F. FERRARIS: L' insegnamento delle scienze politiche nelle Univeraita italiane, in: Annuario delle scienze giuridiche, sociali e politiche, 3. Jg. 1882, S. 450. 40 L. VON STEIN: Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands (1876), in: Gesellschaft-Staat-Recht (hg. und eingeleitet v. ERNST FORSTHOFF), Frankfurt/Main-Berlin-Wien 1972, S . 478.
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Stein beklagt, daß die deutschen Universitäten, die doch seiner Meinung nach "die Zukunft der Wissenschaft sind", dieses Modell nicht auszubilden vermocht und die Rechtswissenschaft von den Staatswissenschaften getrennt haben. Auch Ferraris teilt diese Einschätzung und weist darauf hin, daß die preußischen, sächsischen und badischen Universitäten die Lehrgänge der Staatswissenschaften in die philosophischen Fakultäten eingegliedert haben. An den Universitäten München und Tübingen seien hingegen staatswissenschaftliche Fakultäten gegründet worden, die beide von den juristischen Fakultäten getrennt seien.
Aber auch in Deutschland sei man inzwischen zu dem Schluß gekommen, daß die rationalste Lösung in der Umwandlung der juristischen Fakultät in eine juristisch-politische bestehe. Das bewiesen, laut Ferraris, die Beispiele Würzburgs und der Reichsuniversität Straßburg42 . Ausdrücklich positiv bewertet er eher das in Österreich durch die Ordonanz vom 2. Oktober 1855 eingeführte Modell einer Fakultät für Rechts- und Staatswissenschaften. Die Österreichische Lösung zeige, daß dort politische und juristische Disziplinen als eine Einheit betrachtet würden, deren Grenzen fließend seien43 . Das Königliche Dekret vom 22. Oktober 1885 hat diese organisatorische Lösung auch in Italien eingeführt. Ferraris begrüßt dabei vor allem, daß in der juristischen Fakultät Fächer wie Geschichte des römischen Rechts, Verwaltungslehre und Finanzwissenschaft obligatorisch geworden sind. Der im Artikel 2 des Dekrets von 1885 vorgelegten Interpretation der Verwaltungslehre als Lehre der Verwaltungsgrundsätze bringt er zwar einige Vorbehalte entgegen. Seine Bedenken sind jedoch nicht gravierend, da, wie er selber feststellt, "es sich um Bestimmungen handelt, die bloß auf dem Papier stehen und weiterhin stehen werden, da man in Italien glücklicherweise nicht akzeptiert, daß die Regierung die Aufgaben und die Grenzen der einzelnen Wissenschaften festlegt" 44.
41 Ebd., S. 479.
42
C. F. FERRARIS, (Fn. 39), S. 449. C. F. FERRARIS: Gli insegnamenti della facolta giuridica in Austria ein Italia, Bologna 1888, S. 16. 44 Ebd., S. 20. 43
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G. Gozzi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik
6. Die Etablierung der juristischen Methode Auch V. E. Orlando untersucht das Königliche Dekret von 1885 und weist darauf hin, daß es, wie eingangs bereits erwähnt, die französische Auffassung von der Verwaltungslehre gegenüber der deutschen etabliert. Aber Orlando ist nicht so sehr an der wörtlichen Interpretation des Dekrets interessiert, sondern vielmehr an der tatsächlichen Umsetzung der Verwaltungslehre innerhalb des akademischen Betriebs Italiens. Zwar schätzt er das Werk von Ferraris, aber er stimmt nicht überein mit dessen Unterscheidung zwischen politischer Verwaltung (die sich mit den staatlichen Verwaltungsmitteln befaßt) und sozialer Verwaltung (die hingegen die konkrete Tätigkeit des Staates innerhalb der Gesellschaft untersucht). Nach Meinung Orlandos kann die Untersuchung der Verwaltungszwecke nicht von derjenigen der Verwaltungsmittel getrennt werden. Für ihn hat die Verwaltungslehre einen spezifischen Inhalt, der sowohl in der deutschen als auch in der italienischen Lehre durchschlägt. Bei Gerber gehe es um die Verwaltungstätigkeit des Staates mit "materiellem wirtschafts- und sozialrechtlichem Charakter", bei Stein um die Aufgaben des Staates bei der Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit, bei Ferraris schließlich um die Grundsätze, die den Staat bei seinen Eingriffen in die Organismen, aus denen sich die Gesellschaft zusammensetzt, leiten sollen45. Dennoch sieht Orlando den spezifischen und bedeutenden Grundzug der italienischen Lehre in der von Ferraris getroffenen Unterscheidung zwischen dem Verwaltungsrecht als Rechtswissenschaft und der Verwaltungslehre als politischer Wissenschaft46 . Diese Unterscheidung habe Stein nicht vollzogen, da er, so Orlando, die Verwaltungslehre dem System des Staatsrechts zugeordnet und sie somit als Teil der Rechtswissenschaft angesehen habe. Orlando stützt sein Urteil dabei auf die Tatsache, daß für Stein die Innere Verwaltungs/ehre, in der die Verwaltung des lnnern enthalten ist, zum Staatsrecht gehört 47. Zum besseren Ver45 V. E . ORLANDO, (Fn. 2), S. 384. 46 ORLANDO bekräftigt dies auch,
indem er behauptet, daß das Konzept der Verwaltungslehre in Antithese zu dem des Verwaltungsrechts nirgendwo sonst existiert als in Italien, in: V. E . ORLANDO: Principi di diritto amministrativo, Firenze 1892, 2. Auf!., S. 38. 47 ORLANDO stUtzt sein Urteil auf die folgende Aussage VON STEINS: "Das Staatsrecht ist die als Recht aufgefaBte und bestimmte Ordnung der Organe und
G. Gozzi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik
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ständnis der Kritik Orlandos bedarf es einer gründlicheren Darstellung von Steins Position. Stein unterscheidet die Verwaltungslehre vom Verwaltungsrecht und stellt dabei fest:"Die erstere zeigt, was im Gebiet der inneren Verwaltung sein soll, das zweite, was ist" 48 . (Die Verwaltungslehre soll die Idee der Verwaltung entwickeln, das Verwaltungsrecht hingegen zeigt, wozu man aufgrund des Staatswillens verpflichtet ist.) Dennoch hebt Stein deren innere Einheit hervor, da die Verwaltungslehre, deren Ausgangspunkt die Gesellschaftslehre ist, die Voraussetzungen verdeutlicht (Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft), auf denen das Verwaltungsrecht beruht. (Die Verwaltungslehre soll "die inneren und äußeren Kräfte zum Verständis bringen, welche dem positiven Verwaltungsrecht seine concrete Gestalt gegeben und damit eben jene Differenz zwischen ihm und den Forderungen der Verwaltungslehre erzeugt haben" 49.) Die Verwaltungslehre, die das Verwaltungsrecht in sich birgt und dessen Beziehung zu den realen Kräften aufzeigt, wird als Wissenschaft der Verwaltung bezeichnet 50• Innerhalb einer derartigen Wissenschaft der Verwaltung weist die Verwaltungslehre auf die beständige Spannung zwischen "Idee des Rechts" und "Natur der Sache" hin: zwischen formalrechtlicher Gleichheitsauffassung und der tatsächlichen Ungleichheit innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen, zwischen geltendem Recht und den Kräften, die auf dessen Änderung drängen. Stein versucht ständig, eine nichtjuristische Verwaltungsauffassung zu begründen. Unter dieser Voraussetzung kann die Verwaltungslehre zutreffend als Staatswissenschaft bezeichnet werden, wäh-
ihrer staatlichen Thätigkeiten in sofern dieselben die Einheit des Staates bilden; das ist, die Gränze der Aufgabe und Thätigkeit jedes einzelnen Organes, gesetzt durch ihre in Begriff und Wirksamkeit erscheinende Einheit mit allen anderen", in: L. v. Stein, (Fn. 9), S . 23. Diese Stelle sagt tatsächlich aber gar nichts aus über das Verhältnis zwischen Staatsrecht und Verwaltungslehre (das nach meiner Auffassung anders als bei ORLANDO lliU interpretieren ist, wie man anhand meiner hier angestellten Analysen erkennt). In der zitierten Passage bezieht sich STEIN vielmehr auf das partikulare Recht der Staatsorgane (Staatsoberhaupt, Gesetzgebung, Verwaltung), das dem System des Staatsrechts angehört . 48 L. VON STEIN: Die Verwaltungslehre, Teil 2, Die Lehre von der inneren Verwaltung (1866), Aalen 1975, S . 75 . 49 Ebd. 50 Ebd., S. 76.
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rend das Verwaltungsrecht eine Rechtswissenschaft darstellt51 . Die Spannung zwischen Rechtsidee und sozialer Wirklichkeit, wie sie von der Verwaltungslehre aufgezeigt wird, verkörpert für Stein den ungelösten Widerspruch des Rechtsstaates. So weist er darauf hin, daß der Rechtsstaat "gar keine Anknüpfung für das Wesen und den Inhalt der inneren Verwaltung enthält" 52 . Er gründet ausschließlich auf der Rechtsidee, die die Grenzen der staatlichen Tätigkeit und den Freiheitsraum des einzelnen festsetzt; "die Verwaltung dagegen geht im Namen der Gesamtentwicklung eben über diese Gränze hinaus" 53. Die Verwaltungslehre legt nämlich die Abhängigkeit der Staatstätigkeit von den Kräften der Gesellschaft offen. Aber gerade diese Auffassung Steins lehnt Orlando ab. Er möchte die Souveränität des Rechtsstaates, den er als "die Behauptung des Staates als juristische Person" definiert, uneingeschränkt erhalten 54 . Orlando lehnt daher eine Staatsidee ab, die sich aus dem Interessensystem der Gesellschaft herleitet und bezeichnet den Staat vielmehr als "einen für sich stehenden Organismus, der über eine eigene Autonomie verfügt, die sich unbeschadet der Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit entwickelt und festigt" 55 . So faßt er auch die Verwaltung als "Durchsetzung der staatlichen Souveränität", als "Mittel zum Zweck des Rechtsschutzes" auf. Nur in diesem Fall besitze die Verwaltung einen rechtlichen Inhalt. Trage sie hingegen für die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der einzelnen Sorge, sei ihre Voraussetzung nicht der Staat, sondern die Gesellschaft, "die kein Rechtsorganismus ist, sondern die Wirkung des menschlichen Zusammenlebens zum Zwecke der Bedürfnisbefriedigung unter dem Einfluß der Interessen"56. Der Konflikt zwischen Verwaltungslehre und Verwaltungsrecht, zwischen politischen Wissenchaften und Rechtswissenschaft, tritt 51 W. SCHMIDT: Lorenz von Stein. Ein Beitrag zur Biographie, zur Geschichte Schleswig-Holateins und zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts, Eckernförde
1956, s. 122. 52 L. VON STEIN, (Fn. 48), S. 29. 53 Ebd. 54 V. E. ORLANDO: Principii di diritto 4. Auf!., S. 54. 55 V. E. ORLANDO,. (Fn. 2), S. 386. 56 Ebd., S. 392.
costituzionale
(1888),
Firenze
1904,
G. Gor.zi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik
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hier deutlich zutage: der Konflikt verweist auf das Problem einer gesellschaftlichen Entwicklung und der darin wirkenden Interessen, die gegen die Einheit und die Souveränität des Rechtsstaates gerichtet ist. Orlando hebt somit die Autonomie der juristischen Staatsidee gegenüber der Entwicklung des sozialen Verwaltungsstaates hervor, der die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen hat. Er fürchtet nämlich, daß die Etablierung des Sozialstaates die Vorherrschaft der Interessenvielfalt innerhalb des Rechtsstaates mit sich bringen könnte. Aber gerade dies trat ein und führte zur Krise des Staates. Um sich diesen Entwicklungen entgegenzustellen, entwirft Orlando Ende der achtziger Jahre das Programm einer juristischen Methode, die an der Autonomie der Rechtsordnung festhält und sie streng von der politischen Ordnung trennt, wobei sie das öffentliche Recht als "einen Komplex systematisch geordneter rechtlicher Prinzipien" auffaßt 57 . Die juristische Methode setzt sich zwar in der akademischen Kultur durch, aber sie ist nicht in der Lage, den sozialen Wandel und die inzwichen unaufhaltsame Krise des Staates zureichend zu interpretieren. Santi Romano sieht die Gründe dieses Niedergangs gerade in der aufkommenden Pluralität korporativ organisierter sozialer Interessen und in der Unangemessenheit der von der Rechtslehre und dem politischen System des liberalen Rechtsstaates bereitgestellten doktrinären und institutionellen Lösungen 58 • Die sozialen Interessen werden vorerst nur auf dem Verwaltungswege, in den Institutionen des Sozialstaates berücksichtigt, z. B. in den Verwaltungsstrukturen der Sozialversicherungen, den Schiedsgerichten oder in Organismen wie dem Consiglio Superiore del Lavoro, das die Regierung Zanardelli-Giolitti 1902 ins Leben rief. Diese Interessengruppen beeinflussen vor allem nach dem ersten Weltkrieg auch die Diskussion um die Verfassungsänderung. So wird unter anderem der Vorschlag gemacht, den vom König ernannten Senat durch eine berufsgenossenschaftliche Kammer zu ersetzen, die auf der Interessenvertretung beruht59 . All das trägt entscheidend dazu bei, das innere Gleichgewicht des Rechtsstaates zu stören. 57 V. E. ORLANDO: I criteri tecnici per Ia ricostruzione giuridica del diritto pubblico (1889), in: Diritto pubblico generale, Milano 1940, S. 20. 58 S. ROMANO: Lo stato moderno e Ia sua crisi (1910), Milano 1969, S. 23. 59 Zu dieser Problematik und allgemein zum Verhältnis zwischen politischer Vertretung und Interessenvertretung, vgl. GOZZI, (Fn. 33), bes. Kap. V .
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G. Gozzi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik
7. Die Entwicklung der Staatswissenschaften
Das Werk V. E. Orlandos leistete einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung der juristischen Methode und zur Aus~renzung der Verwaltungslehre in den italienischen Universitäten Letztere hielt jedoch an ihrer Autonomie fest. Das gilt z. B. für A. Brunialti, der eine Auswahl der Schriften Steins zur Verwaltungslehre zusammenstellte und sie mit einer Einleitung in der "Biblioteca di Scienze politiche e amministrative" herausgab. Er hob die Unabhängigkeit der Verwaltungslehre vom Verwaltungsrecht hervor, dessen Zuständigkeit Orlando auf alle Rechtsbeziehungen ausdehnen wollte, die sich aus der Tätigkeit des Staates ergaben61 • Sorge um die Ausdehnung des Verwaltungsrechts auf die Sachgebiete der Verwaltungslehre äußerte auch L. Rava, der in Bologna an der Scuola libera di Scienze politiche lehrte, die D. M antovani-Orsetti als Ergänzun% zu den Lehrgängen der juristischen Fakultät geschaffen hatte 2• Ebenso wie D. Giura und andere Gelehrte63 hob Rava die italienischen Ursprünge der Verwaltungslehre hervor und verwies dabei hauptsächlich auf das Werk von G. D. Romagnosi64 •
°.
60 Vgl. G. CIANFEROTTI: II pensiero di V. E . Orlando e Ia giuspubblicistica italiana fra Ottocento e Novecento, Milano 1980, bes. S. 195 ff. 61 A. BRUNIALTI: La scienr;a della pubblica amministrazione, Vorwort zu La scienza della pubblica amministrazione secondo L. v . Stein, Torino 1897, S. XLVIII. Die von ORLANDO dem Verwaltungsrecht zugewiesene "Tätigkeit des Staates" wird von ihm in eine "juridische" und eine "soziale" unterteilt. Letlltere wird aufgeteilt in Eingriffe zugunsten der Bevölkerung, ökonomisch-soziale Beziehungen und das Bildungswesen, vgl. V. E. ORLANDO: Introduzione al diritto amministrativo, in: Primo trattato completo di diritto amministrativo italiano, Bd. 1, Milano 1897-1933, s. 101 ff. 62 Zu dieser Scuola libera di scienr;e politiche vgl. D . MANTOVANI-ORSETTI: II corso Iibero di scienze politiche nell' Universita di Bologna. Cenni storici, Bologna 1901. In Art. 1 der Gründungsurkunde dieser Schule heißt es: "Allo scopo di accrescere Ia coltura superiore e di meglio preparare agli offici pubblici e specialmente alle carriere amministrativa, finanziaria, diplomatica e consolare, e istituita in Bologna una Scuola libera di scienze politiche a complemento degli studi della Facolta di Giurisprudenza", ebd., S. 29. Über diese Entwicklungen der Verwaltungslehre in Italien vgl. C. MOZZARELLI und S. NESPOR, (Fn. 6), S. 105 ff. 63 D . GIURA: Introduzione allo studio della scienza dell' amministrazione, Bologna 1896, S. 108.
G. Gozzi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik
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Die Etablierung der juristischen Methode und die Konzeption des Staates als Rechtsperson steht einer Bestandsaufnahme der großen Veränderungen entgegen, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im politischen System Italiens auftraten. Nur die politische Wissenschaft, vor allem das Werk G. Moscas erkennt diese Veränderungen, indem sie die Beziehungen zwischen den Interessen und den politischen Eliten in den Mittelpunkt rückt und dabei auf die juristische Staatsidee verzichtet. Aber auch das wissenschaftliche Projekt der Verwaltungslehre war zum Scheitern verurteilt, da es eine politische Wissenschaft begründen wollte, die in einer einheitlichen Synthese die Ergebnisse anderer Fächer, wie der Statistik und der Volkswirtschaftslehre, verarbeiten wollte. Aber gerade diese Wissenschaften - allen voran die Volkswirtschaftslehre - erhoben jetzt Anspruch auf vollständige Autonomie und steckten ihr ausschließliches Zuständigkeitsgebiet ab 65 . Nach dem ersten Weltkrieg 66 wurde die Verwaltungslehre als Universitätslehrgang eingestellt. Damit endeten auch die Bemühungen um das wissenschaftliche Statut dieses Fachs. Zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert hatte sie dennoch an der Untersuchung und Formulierung der sozialpolitischen Grundsätze67 sowie an deren Durchsetzung im Rahmen der Sozialgesetzgebung großen Anteil (vor allem C. F. Ferraris war,
64 L. RAVA: Scienza dell' amministrazione, Bologna 1898, S. 4 ff. und passim; ders., L' italianita della scienza dell' amministrazione, in: Nuova Antologia, Bd. 73, Serie IV, 16. Februar 1898, S. 721 ff. 65 Vgl. z. B. M . PANTALEONI: Dei carattere delle divergenze d' opinione esistenti tra economisti, in: Giornale degli Economisti, Dezember 1897, S. 530. PANTALEONI bestimmt das "Gebiet der wirtschaftlichen Erscheinungen" in den vertraglichen oder auch Austauschbeziehungen zwischen Vertretern verschiedener Interessen. 66 Vgl. noch C. MOZZARELLI und S. NESPOR, (Fn. 6), S. 111. 67 Außer den Texten von L. RAVA, (Fn. 64). S. 7 ff. und von B. BRUGI, (Fn. 1), S. 1984 ff., wird der Zusammenhang von Verwaltungswissenschaft und Sozialpolitik auch unterstrichen von W . CAVAGNARI: Elementi di scienu dell' amministrazione, Firenze 1894, 2. Aufl., S. 143 ff. Nochmals sei hier besonders das Werk C. F. FERRARIS' erwähnt, der einer der ersten Protagonisten einer modernen sozialen Gesetzgebung in Italien war. Siehe insbes. außer den bereits erwähnten Texten C. F . FERRARIS' : L' assicurazione degli operai in Germania, in: Nuova Antologia, XXII, 1889, S. 724-758 und C. F. FERRARIS: L' assicurazione obbligatoria e Ia responsabilita dei padroni ed imprenditori per gli infortuni sullavoro, Roma 1890. In Deutschland wird das Verhältnis zwischen Verwaltungswissenschaft und Sozialpolitik
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G. Gozzi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik
wie bereits erwähnt, der Vordenker der beiden Gesetzesentwürfe, aus denen dann schließlich 1898 das Gesetz zur Unfallzwangsversicherung resultierte). Die Verwaltungslehre trug auf diese Weise zur Begründung des modernen Sozialstaats im liberalen Italien bei. 8. Abschließende Betrachtungen
Aufgrund der Diskussion des Beitrages auf der Tagung füge ich den vorstehenden Analysen einige abschließende Bemerkungen an. (I) Ein besonders wichtiges Problem stellt die Zulässigkeit des Gebrauchs der Kategorie "Modell" (z. B. "Deutsches Modell" oder "Englisches Modell") in der historiographischen Rekonstruktion dar.
In den Quellen erscheint die Kategorie "Modell" nicht. Gleichwohl bezieht sich die Literatur des 19. Jahrhunderts auf die unterschiedlichen Formen der Sozialpolitik aufgrund einer stärkeren oder schwächeren Einmischung des Staates in die sozialen Beziehungen oder weist auf die unterschiedlichen konstitutionellen Gegebenheiten hin, die auf politischen Ordnungen mit verschiedenen organisatorischen Prinzipien (entweder monarchisch oder parlamentarisch) beruhen und den Gebrauch der Kategorie "Modell" durchaus gestatten. In diesem Sinne kann das "Modell" einer Art "Idealtypus" gleichgestellt werden. Es gehört zu einem begrifflichen Apparat, der die aus dem Material der Forschung abgeleiteten charakteristischen Merkmale einer politischen Form erfaßt. Er erlaubt es, das Handeln der Akteure eines politischen Systems zu verstehen, indem er die sie leitenden Ziele und Werte erhält (dies gilt vor allem für die verschiedenen Modelle der Sozialpolitik). Die historiographische Rekonstruktion erarbeitet allerdings die Modelle, indem sie auch das Bestehen von Zusammenhängen aufzeigt, die dem wissenschaftlichen Denken der Epoche nicht oder nur teilweise bekannt waren, so z.B. das Verhältnis zwischen sozialer Frage und Verfassungsfrage. Weiterhin bleibt zu präzisieren, daß die Analyse der Rezeption von Modellen immer die
deutlich hervorgehoben von I. JASTROW: Sozialpolitik und Verwaltunpwissenschaft, Berlin 1902, S. 46 ff. Er beruft sich dabei ausdrücklich auf die Werke von R. VON MOHL und L. VON STEIN.
G. Gozzi, Verwaltungslehre und Sozialpolitik
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starke Bedingtheit durch die verschiedenen nationalen Gegebenheiten in Rechnung stellen muß. So erstreckte sich 1898 die Übernahme des deutschen Modells der Unfallversicherung in Italien zwar auf das Pflichtprinzip, nicht aber auf die organisatorische Struktur: In Deutschland beruhte diese auf dem System der Berufsgenossenschaften, während in Italien die obligatorische Einschreibung in die Cassa nazionale di assicurazione oder anderer privater Versicherungsgesellschaften zugrundelag. (2) Desweiteren ist auf die Komplexität der wissenschaftlichen und politischen Position L. v. Steins zurückzukommen. L . v. Stein entwickelte mit Hilfe der Analyse der französischen Geschichte von der Revolution bis 1848 eine eigene Konzeption der sozialen Frage. In diesem Zusammenhang erkannte er das Bestehen von Beziehungen der Unfreiheit zwischen den sozialen Klassen und die ungleiche Verteilung des Besitzes als das Problem seiner Zeit. Dem Staat wies er die Aufgabe zu, durch die innere Verwaltung den Zugang zum Besitz und damit zur Freiheit auch den bislang davon Ausgeschlossenen zu eröffnen. Das Staatsmodell, das diese Aufgabe zu bewältigen vermag, sieht v. Stein in der preußischen Monarchie. Ihr weist er die Aufgabe zu, den Übergang vom Absolutismus zur Epoche der Demokratie (die sich für v. Stein in der Zweiten Französischen Republik andeute~ zu garantieren und so das Trauma der Revolution zu vermeiden 8 . Seine Perspektive wurde somit zu einer europäischen Vision69: Ganz Europa müßte in die Epoche der Demokratie eintreten, oder es wäre verloren. In Italien wurde das Werk v. Steins hingegen als ein grundlegender Ausdruck der "deutschen" Wissenschaft aufgenommen, von dem C. F. Ferraris, wie wir gesehen haben, eine auf Italien bezogene Interpretation vorlegt. 68 Vgl. D. BLASIUS: Lorenz von Stein und Preußen, in: Historische Zeitschrift, 212, 1971, 5. ·362. 69 E.-W . BÖCKENFÖRDE: Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat, in: Staat und Gesellschaft, Darmstadt 1976, S. 164. Was STEINS Auffassung der europäischen Rechtageschichte als Gesellschaftsgeschichte betrifft, vgl. E . V. HEYEN: Lorenz von Stein und die europäische Rechtsgeschichte. Zur Einführung in ein neues Feld der historischen Wissenschaftsforschung, in: Wissenschaft und Recht der Verwaltung seit dem Ancien Regime, hg. v . E . V. HEYEN, Frankfurt am Main 1984. Mit Bezug auf STEINS staatswissenschaftliche Methode, vgl. E. V. HEYEN: Lorenz von Stein (1815-1890), in: Juristen in Österreich {1200-1980), hg. v. W. BRAUNEDER, Wien 1987, S. 160165.
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(3) Bei der Auseinandersetzung mit den verschiedenen nationalen Erfahrungen im Hinblick auf die soziale Frage kommt den kulturellen Unterschieden besonderes Gewicht zu. Es genügt hier, beispielsweise an die Bedeutung des Protestantismus bei den Analysen und bei der Lösung der sozialen Frage in Deutschland zu erinnern, um die Verschiedenheit der deutschen Geschehnisse von den italienischen zu verstehen. Es handelt sich um einen Gesichtspunkt, den das von mir vorgestellte Werk mit seinem Schwerpunkt auf den Beziehungen zwischen Verfassungsfrage und sozialer Frage nicht in Betracht gezogen hat, obwohl sich daraus weitreichende Folgerungen für die Analyse der hier diskutierten Fragen ergeben, wie es gerade neuere Beiträge deutlich erkennen lassen70 . (4) Endlich darf in der Forschung über die soziale Frage die Rolle, die die Arbeiterbewegung in den verschiedenen nationalen Realitäten spielte, nicht vernachlässigt werden. In Deutschland brachte sie im politisch-parlamentarischen Bereich gegenüber der sozialen Gesetzgebung Bismarcks fortwährende Ablehnung zum Ausdruck, da sie die Zusammenarbeit zwischen Arbeitern und Unternehmern innerhalb des Versicherungssystems als unvereinbar mit ihrer Autonomie und dem Antagonismus der Arbeitswelt verstand. Einzig 1899 stimmte die Sozialdemokratie für ein Gesetz, das die Invaliditätsversicherung modifizierte. Dennoch muß hervorgehoben werden, daß aufgrund des Gesetzes zur Krankenversicherung von 1883 bereits ein Prozeß der "administrativen Integration" der Sozialdemokratie in die organisatorischen Strukturen der Krankenversicherung eingesetzt hatte 11 . In Italien organisierte sich die Arbeiterbewegung als Partei erst 1892. Nach der Krise gegen Ende des Jahrhunderts bot die Regierung Zanardelli/ Giolitti mannigfache Garantien zur Respektierung der Prinzipien des parlamentarischen Systems; es kam zu einer Beteiligung der Arbeiterbewegung an den Prozessen der sozialen Gesetzgebung. Die Errungenschaften waren jedoch nicht sehr bedeutsam. Es handelte sich vor allem um einen politischen Wandel, der bestätigte, wie sehr die Verfassungsfrage die soziale Frage beeinflußt hatte, weil die sozialistische Partei das Gewicht, das sie durch die Wahlen im parlamentarischen System erreicht hatte, geltend machte, um Fortschritte auf dem Feld der sozialen 70 Vgl. E. I. KOURI: Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage 18701919, Berlin-New York 1984. 11 G. GÖCKENJAN: Verrechtlichung und Selbstverantwortlichkeit in der Krankenversicherung, in: Leviathan, IX, 1981, Heft 1, S. 20.
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Gesetzgebung zu erlangen. Im Gegensatz dazu verhinderten das Übergewicht der Monarchie gegenüber dem Parlamentarismus in Deutschland sowie das preußische Wahlsystem eine Aussöhnung der Sozialdemokratie mit dem Kaiserreich. In diesem Rahmen gelang der Sozialpolitik des Staates die politische Integration der Arbeiterbewegung insofern nicht, als sie sich der Arbeiterfrage nur als Verwaltungsfrage, nicht aber auch als Verfassungsfrage stellte 72 .
72 K. E . BORN: Staat und Sozialpolitik im Deutschen Kaiserreich, in: Geschichte in der Gegenwart, Festschrift für Kurt Kluxen zu seinem 60. Geburtstag, hg. v . E . HEIM/J. SCHEPS, Paderborn 1972, S. 197.
Der Genossenschaftsgedanke in der deutschen Rechtswissenschaft und sein Einfluß auf Italien
Von Maximilian Fuchs Daß es in der letzten Phase des 19. Jahrhunderts und zu Beginn dieses Jahrhunderts in Italien einen nachhaltigen Einfluß der deutschen Genossenschaftslehre, wenn nicht gar eine Rezeption dieser Denkrichtung gegeben hat, ist unschwer nachzuweisen. Haben sich die maßgeblichen Rechtsgelehrten doch ausdrücklich auf die deutschen Vertreter der Genossenschaftstheorie, vornehmlich Gierke, gleichsam als Autoritäten berufen, wenn es um die Begründung bestimmter Lehrmeinungen oder gar umfassender Kodifikationsideen ging. Der nachstehende Beitrag verfolgt zwei Ziele. Einmal soll der Befund, der gerade angedeutet wurde, etwas näher dargestellt werden. Dabei werden zunächst in einem kurzen Abschnitt die Einflüsse der Genossenschaftstheorie auf die Zivilistik behandelt. Der Schwerpunkt wird aber in der Darstellung der allgemeinen Rechtslehre liegen, die von dem Öffentlich-Rechder Santi Romano in seinem berühmten Werk L'ordinamento giuridico (1918) 1 begründet wurde und dessen Herkunft aus der Genossenschaftstheorie Gierkes ich schon an anderer Stelle nachgewiesen habe 2 • Zum anderen versucht mein Beitrag eine Antwort auf die Frage zu finden, wo denn die tieferen Gründe für diese weitgehende Akzeptanz der deutschen Genossenschaftstheorie zu suchen sind. Vorab ist es jedoch sinnvoll, einige Kernthesen und -aussagen der Genossenschaftstheorie vorzustellen. 1 Im Rahmen dieses Beitrags wird nach der von ROMAN SCHNUR herausgegebenen deutschen Ausgabe Die Rechtsordnung, Berlin 1976, zitiert. 2 Vgl. insbes. MAXIMILIAN FUCHS: La "Genoasenschaftstheorie" di Otto von Gierke come fonte primaria della teoria generale del diritto di Santi Romano, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, 1979, S. 65 ff.
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M. Fuchs, Der Genossenschaftsgedanke
1. Communio, universitas, Genossenschaft: Der Genossenschaftsbegriff Beselers und Gierkes
Die erste große Darstellung des Genossenschaftsgedankens und die Herausarbeitung des Genossenschaftsbegriffs ist untrennbar mit dem Werk Georg Beselers3 verbunden4 • Ausgangspunkt und gleichzeitig Gegenstand der Kritik Beselers ist die römisch-rechtliche Unterscheidung von communio (oder - wo diese auf Vertrag gegründet ist - societas) und universitas 5 • Bei der ersteren - so Bese/er6 - sei charakteristisch die ursprüngliche Trennung der Rechtssubjekte, welche nur vorübergehend verbunden sind, so daß immer nur ein Kollektivwille mehrerer, nie aber ein davon zu unterscheidender selbständiger Wille der Gesamtheit vorliegt und die Rechte und Pflichten der einzelnen nach bestimmten, entweder arithmetischen oder ideellen Teilen voneinander unterschieden sind. Bei der universitas ist die Vereinigung selbst zu einem selbständigen Rechtssubjekt geworden, welches die Stellung einer juristischen Person annimmt. Rechte und Pflichten entstehen nur in der Person der universitas, die einzelnen Mitglieder erlangen Bedeutung nur in ihrer Eigenschaft als Substrat der Gesamtheit und als deren verfassungsmäßige Vertreter 7 • Beseler kritisiert8, daß das römische Recht von diesem schroffen Gegensatz ausgehe, vermittelnde Lösungen nicht kenne. Ganz anders das deutsche Recht. Zwar gebe es auch dort die vergleichbaren Institute der communio und universitas, aber dazwischen liegen zahlreiche verschiedenartige Vereinigungen, die eine gewisse Vermischung jener beiden Institute darstellen. Bese/er nennt auch die Gründe für das Fehlen dieser Zwischenlösungen im römischen Recht. Es sind das Fehlen des Assoziationsgeistes und der Freiheit der Bewegung9 . Daraus folgert er 10: "Über die romanistische Theorie hinweg muß unmittelbar an das germanische Volksleben 3
Zu Person und Werk BESELERS vgl. BERND-RÜDIGER KERN: JuS 1988, S. 598 ff. 4 Zur stufenweisen Entwicklung des Genossenschaftsbegriffs siehe bei BERNDRüDIGER KERN, (Fn. 3), S. 601. 5 Siehe dazu GEORG BESELER: Volksrecht und Juristenrecht, Leip~:ig 1843, S. 158 ff.; ders.: System des gemeinen deutschen Privatrechts, Berlin 1885, S. 260 ff. 6 GEORG BESELER: System, (Fn. 5), S. 260. 7 GEORG BESELER: System, (Fn. 5), S. 261. 8 GEORG BESELER: System, (Fn. 5), S. 261. 9 GEORG BESELER: Volksrecht und Juristenrecht, (Fn. 5), S. 163. 10 GEORG BESELER: System, (Fn. 5), S. 275.
M. Fuchs, Der Genossenschaftsgedanke
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angeknüpft werden, um den Assoziationsgeist der Nation in dieser Richtung und Gestaltung wissenschaftlich zu begreifen". Diese Untersuchungen führen Beseler zur Rechtsfigur der Genossenschaft. Der Gattungsbegriff, dem die Genossenschaft unterfällt, ist der der Corporation 11 . Die Corporation ist die Vereinigung mehrerer Personen zur Erreichung gemeinschaftlicher Zwecke, auf Dauer errichtet. In dieser beabsichtigten Dauer des Zusammenwirkens unterscheide sich die Corporation von der bloßen Gemeinschaft (communio), ein für Bese/er ganz wesentlicher Aspekt, denn dadurch erhalte die Corporation "einen gewissen organischen Charakter, der sie befähigt, nachhaltig in das ganze Staats- und Rechtsleben einzugreifen" 12 . Durch die Vereinigung der Mitglieder entsteht ein selbständiges Rechtssubjekt, welches, wenn auch die Mitglieder wechseln mögen, doch in sich selbst eine feste Bestimmung trägt und durch seinen Zweck und seine Verfassung unabhängig von dem Willen der einzelnen existiert13. Die so verstandene Corporation zerfällt in zwei Gruppen: die Gemeinden und die Genossenschaften 14. Die wichtigsten, im Rechtsleben vorkommenden Genossenschaften sind nach Beseler folgende acht 15: Genossenschaften von unmittelbar politischer Bedeutung, Genossenschaften der Grundbesitzer eines bestimmten Bezirkes, kirchliche Genossenschaften, Genossenschaften für Handel und Gewerbe, Genossenschaften zur Beförderung der Kommunikationsmitttel, Genossenschaften gegen eine gemeinschaftliche Gefahr, Genossenschaften für religiöse, sittliche, wissenschaftliche, künstlerische, ökonomische und gesellige Zwecke und schließlich die Genossenschaften in der Familie. Kennzeichnend für alle Genossenschaften ist, daß "unter den mannigfaltigsten Kombinationen das Recht der Gesamtheit immer mit dem der einzelnen Mitglieder durchwachsen und in Beziehung auf das Vermögen eine Verbindung von universitas mit communio eintritt"16.
5), S. 161. 5). S. 161. BESELER: Volksrecht und Juristenrecht, (Fn. 5), S. 161. BESELER: Volksrecht und Juristenrecht, (Fn. 5), S. 162; ders., System, (Fn. 5), S. 274. 15 Vgl. GEORG BESELER: Volksrecht und Juristenrecht, (Fn. 5), S. 165 ff. 16 Vgl. GEORG BESELER: Volksrecht und Juristenrecht, (Fn. 5), S. 164 ff. 11 GEORG BESELER: Volksrecht und Juristenrecht, (Fn. BESELER: Volksrecht und Juristenrecht, (Fn.
12 GEORG 13 GEORG 14 GEORG
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Auf dem gleichen Verständnis basierte der Genossenschaftsbegriff des bedeutendsten Schülers von Beseler, Otto von Gierke 11• In seiner Einleitung zum ersten Band des deutschen Genossenschaftsrechts hat Gierke dies ausdrücklich hervorgehoben 18: "Unter Genossenschaft im engsten und technischen Sinne wird, wie dies auch von Beseler, der diesen Ausdruck zuerst wieder als teeminus technicus in Aufnahme gebracht hat, geschieht, jede auf freier Vereinigung beruhende deutsch-rechtliche Körperschaft, d.h. ein Verein mit selbständiger Rechtspersönlichkeit, verstanden". So sehr Gierke Anliegen und Zielrichtung seines Lehrers geteilt hat, so ist er dennoch in seiner Genossenschaftslehre über die Arbeiten Beselers hinausgegangen. Seine Genossenschaftstheorie ist umfassender, quantitativ wie qualitativ. Die Sichtung, Aufbereitung und Verarbeitung historischen Materials ist überwältigend, vor allem ist sie ein eindrucksvolles Beispiel einer überzeugend vorgetragenen Methode geschichtlicher Rechtsbetrachtung 19. Gierke hat auch qualitativ den Bogen der Genossenschaftslehre weitergespannt, indem er mit ihr die Idee eines totalen Neubaues der gesamten Lehre vom rechtlichen Wesen der Verbände verband. Ihr Ziel war der Ersatz der herrschenden romanistischen Corporationstheorie durch eine aus dem deutschen Rechtsgedanken heraus gestaltete moderne Körperschaftstheorie 20• Dem entspricht es, daß Gierke als den Kern der Genossenschaftstheorie die im Gegensatz zur Fiktionstheorie stehende Auffassung der Körperschaft als realer Gesamtperson betrachtet21 • Und schließlich - wiederum den Ausführungen Gierkes selbst zu entnehmen 17 Zu Person und Werk GIERKES siehe ERIK WOLF: Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, TUbingen 1963, S. 669 ff. Zu den Schwierigkeiten der Einordung GIERKES siehe GERHARD DILCHER: Genossenschaftstheorie und Sozialrecht: Ein "Juristensozialismus" Otto von Gierkea?, in: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiereo giuridico moderno, 1975, S. 319 ff. 18 OTTO VON GIERKE: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I (1868), Graz 1954, S. 5; ders.: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. II (1873), Graz 1954, S. 865 f. Zur Genossenschaftslehre GIERKES siehe auch LAUFS: JuS 1968, S. 311 ff. 19 Vgl. dazu die Arbeit von ALBERT JANNSEN: Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, Göttingen u. a. 1974. 20 OTTO VON GIERKE: Die Genossenschaftstheorie und die deutsche Rechtsprechung (1887), Mildesheim 1963, S. 4. 21 OTTO VON GIERKE, (Fn. 20), S. 5. Zum Meinungsstreit zwischen Vertretern der Fiktionstheorie und der Theorie der realen Verbandspersönlichkeit vgl. HANS J. WOLFF: Organschaft und Juristische Person, Bd. 1, Aalen 1968, S. 2 ff.
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beansprucht die Genossenschaftstheorie, auch eine moderne Gemeinschafts- und Gesellschaftstheorie, ja letzlieh Staatstheorie zu sein22: "Denn das Genossenschaftsrecht empfing nun die Aufgabe, die rechtlichen Grundverhältnisse darzulegen, aus welchen in der Welt der Gemeinwesen bis aufwärts zum Staate sich die Rechtsordnung des Gemeinlebens aufbaut. Es erweiterte sich zu einem Sozialrecht, als dessen Gipfel das Staatsrecht erschien. Und wenn überall im Bereiche der Gesellschaft wie der Natur das Verständnis der vollkommensten und verwickeltsten Organismen durch das Studium der niederen und einfacheren Organismen gefördert worden ist, so wird auch die Hoffnung sich erfüllen, daß die Genossenschaftstheorie durch das von ihr eingeschlagene Verfahren klärend und befruchtend auf das Staatsrecht einwirke". Diese Passage wurde bewußt in voller Länge wiedergegeben, weil sie zentrale Aspekte zum Ausdruck bringt, die später in Erinnerung gerufen werden müssen, wenn es um das Verhältnis Gierke - Romano geht. 2. Die Genossenschaftstheorie und die italienische Zivilrechts:wissenschafl
Ich bin weit davon entfernt, über den Einfluß der Genossenschaftstheorie auf die italienische Zivilrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts einen erschöpfenden Bericht vorlegen zu können. Was ich bei einer ersten Sichtung der Literatur eruieren konnte, ergibt folgendes 23 . Im letzten Jahrzehnt des vergangeneo Jahrhunderts hat es eine rege Diskussion um das Gesamteigentum (proprieta collettiva) gegeben24. Dabei trat eine starke Richtung in Erscheinung, die sich mit den Namen Filomusi Guelfi und Venezian verbindet, und die ihren Argumentationsvorrat ganz wesentlich aus den Werken der deutschen Genossenschaftstheoretiker, allen voran Gierkes bezog. Grossi spricht von einem "filogermanismo", der darin zum Ausdruck kommt, daß sich die italienischen Autoren auf die deutschen Vertreter quasi als Autoritäten stützen 25 . Die Stoßrichtung 22 OTTO VON GIERKE, (Fn. 20), S. 10. 23 Die folgenden Ausführungen stütr;en sich
ausschließlich auf die Schrift von PAOLO GROSSI: Un altro modo di possedere, Mailand 1977. 24 PAOLO GROSSI, (Fn. 23), S. 374 ff. 25 PAOLO GROSSI, (Fn. 23), S. 383. GROSSI schreibt, (S. 383 f.):"L'aggancio alla tradir;ione germanica e germanistica assumeva pertanto il significato di render
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ist eindeutig gegen die vorherrschende romanistische Tendenz der Privatrechtswissenschaft gerichtet, das von den Genossenschaftstheoretikern aufbereitete historische Material wird unmittelbar für die Begründung einer rechtlichen Theorie des Gesamteigentums benutzt. Die wesentlichen Konstruktionselemente dabei sind - und das überrascht nicht -: die Gruppe als organische Wesenheit, die schützend und integrierend das Individuum ergreift, ein stets präsenter Begriff des Organismus, der die Aufmerksamkeit stärker auf die Gesamtheit als auf die einzelnen Teile, stärker auf die Gemeinschaft denn auf das einzelne Individuum lenkt26 • Einer Konzeption des Gesamteigentums, die sich nur als quotenmäßiger, ideeller Anteil an e.inem Vermögensgegenstand versteht, wird die Konzeption eines Gesamteigentums entgegengesetzt, die eine organische Verbindung der einzelnen Mitglieder mit dem gesamten Vermögen herstellt. Grossi formuliert dazu: "Hinter Gierke steht für Filomusi und seine Schule ein Gesamteigentumsbegriff, der auf dem Nutzen zwischen der Vielzahl der Eigentumsnutzer und der Einheit der Körperschaft steht'm. Ein weiterer Strang, der die Rezeption von Gedankengut der deutschen Genossenschaftslehre betrifft, verbindet sich mit den Ideen einer Gruppe von Autoren, die sich um die Zeitschrift "La scienza del diritto privato" geschart haben, eine Zeitschrift, der nur eine kurze Lebensdauer, nämlich von 1893 bis 1896, beschieden war. Diese Zeitschrift oder besser dieses Zeitschriftenprojekt ist in einem kleinen Buch von Paolo Grossi im letzten Jahr sehr eindrucksvoll vorgestellt worden 28 • Die folgenden Bemerkungen stützen sich ganz auf diesen Beitrag von Grossi. Den hier angesprochenen Denkern ist das Bestreben gemeinsam, eine neue Privatrechtswissenschaft zu begründen. Zentraler Angriffspunkt ist der bestehende codice civile. Das Hauptübel wird im ahistorischen Festhalten am Modell des römischen Rechts gesehen, das zu einer Verabsolutierung des Individuums geführt
definita, precisata, concreta l'insoddisfazione per gli schemi logori della tradizione nostrana e, nel tempo stesso Ia prefigurazione di schemi nuovi; e vi si fa riferimento come ad un momento autoritativo per superare le vecchie confinazioni romane, per costruire qualcosa nel territorio Iibero e franeo ma estremamente labile del nonromano". 26 PAOLO GROSSI, (Fn. 23), S. 384. 27 PAOLO GROSSI, (Fn. 23), S. 384. 28 PAOLO GROSSI: "La scienza del diritto privato". Una rivista-progetto nella Firenze di fine secolo 1893- 1896, Mailand 1988.
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habe 29 . Das Interesse gilt den neuen gesellschaftlichen Formulierungen, den "strutture intermedie", die sich jenseits von Individuum und Staat in der modernen Gesellschaft immer größeres Gehör verschaffen. Von daher war es nur allzu naheliegend, auf das Material und die Ideen zurückzugreifen, die von der deutschen Genossenschaftslehre angeboten wurden 30 . Eine Passage aus einem berühmten Aufsatz von Vadaliz-Papale zeigt diese Nähe zur deutschen Genossenschaftsdoktrin, sie könnte fast aus einem Werk von Gierke stammen31: "Da wir die sozialen Phänomene analysieren müssen, um zu einer Begründung des Privatrechts zu gelangen, ist es nützlich zu beobachten, daß der soziale Körper sich in zahlreiche soziale Einheiten gliedert, welche entweder aus einem einzelnen Individuum oder aus einer Gesamtheit von Personen, aus einer Vermögensgesamtheit, aus einer Gesamtheit von Aktivitäten und Nutznießungen bestehen, die alle zusammengenommen als Ergebnis das soziale Leben mit seiner Dynamik und das unermeßliche Feld sozialer Beziehungen ergeben, die den Gegenstand des Rechts, der Wirtschaft und der Moral bilden. Das Privatrecht untersucht diese sozialen Einheiten in ihren Bewegungen und Abstufungen bis hin zum Individuum. Es hat keinen, und darf keinen anderen Gegenstand haben. Deshalb ist es notwendig, das Privatrecht inmitten dieser Aktionen und Reaktionen jener sozialen Einheiten von den umfassendsten bis zu den einfachsten zu begreifen, Aktionen und Reaktionen, die das Phänomen des Privat-Sozialen begründen ... Das Privatrecht beschäftigt sich seinem philosophischen Grundgehalt nach nicht nur mit den individuellen Beziehungen und Rechten. Wenn auch das Individuum als eine soziale Einheit gelten kann, die einfachste nämlich, wird es dennoch in eine Reihe von Beziehungen und Institutionen, sozialer Organe und Gewebe eingebunden, die ihrerseits als unabhängige, für sich selbst bestehende Einheiten funktionieren; so wie die Individuen, haben auch die Staaten, die Körperschaften, die körperschaftlichen Vereinigungen, die Gesellschaften, die Familien privatrechtliche Rechte und Pflichten, insofern als diese als Rechtssubjekte, als unabhängige Person in einen äußerlich sichtbaren sozialen Austausch mit anderen ethischen Einheiten oder mit Individuen treten". 29 PAOLO GROSSI, (Fn. 28), S. 123. 30 PAOLO GROSSI, (Fn. 28), S. 58 und 149 f . 31 G . VADAL -PAPALE: Diritto privato e codice privato-sociale, in: La scienza del diritto privato, 1893, S. 21 f. (Übersetzung M . F.) .
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Hinter diesen Gedanken Vadalas steht als herausragende Quelle die Idee des sozialen Körpers, wie sie in den ökonomischen Lehren Schäffles32 , rechtlich-pro§:rammatisch aber in zahlreichen Schriften Gierkes enthalten ist 3 • In den Arbeiten von Vadala, Cimbali, D'Aguanno und anderen werden die juristischen Personen zu Herz und Motor in der konstruktiven Arbeit an einer neuen Privatrechtsordnung34 . Gemeinsam ist der hier vorgestellten Forschungsgruppe das Unbehagen an der herrschenden und dominierenden romanistischen Rechtstradition, die in der Verherrlichung des abstrakten Individuums den Blick für die Probleme des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht fand. Deren Lösung wurde in die Sondergesetzgebunf (leggi speciali) verbannt, vor allem in die Sozialgesetzgebung3 . Diejenigen Vertreter der Privatrechtswissenschaft, die mit der überkommenen Tradition brechen wollten, fanden in den deutschen Genossenschaftslehren ein ihnen solide erscheinendes gedankliches Gebäude, das die Aufnahme neuer Probleme und Problemlösungen erlaubt hätte. Ziel ihrer Bemühungen war die Neugestaltung des Zivilgesetzbuches, die sich in der Konzeption eines codice privato-sociale ausdrückte36 . Tragender Gedanke eines codice privato-sociale ist die Einbindung des Individuums in den sozialen Körper, d.h. die verschiedenen Formen von Gesellschaften, Vereinigungen und Zusammenschlüssen jedweder Art. Abschließend sei angemerkt, daß die Genossenschaftstheorie Gierkes, vor allem aber die daraus abgeleiteten Folgerungen für die Neugestaltung des Privatrechts, auch bei den Vertretern der herrschenden Richtung der Zivilrechtswissenschaft Beachtung fanden, wenn dies auch mit einer ablehnenden Haltung verbunden war37 . 32 ALBERT SCHÄFFLE: Bau und Leben des sozialen Körpers, Bd. 1-4, TUbingen 1875- 1878. 33 Siehe dazu unten 3 b bb. 34 So die Formulierung von PAOLO GROSSI, (Fn. 28), S. 126. 35 Zu der Kontroverse innerhalb der italienischen Zivilrechtswissenschaft über das Verhältnis von Zivilrecht und Sondergesetzgebung siehe ausführlich GIOVANNI CAZZETTA: Leggi sociali, cultura giuridica ed origini della scienza giuslavoristica in ltalia tra Otto e Novecento in: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno, Bd. 17 (1988), S. 167 ff. 36 Ausführlich dazu PAOLO GROSSI, (Fn. 28), S. 123 ff. 37 Siehe dazu beispielhaft die Auseinandersetzung mit GIERKE bei CESARE NANI: II socialismo nel codice civile, Turin 1892, S. 35 ff.
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3. Die Genossenschaftschaftstheorie Otto von Gierkes und die Allgemeine Rechtstheorie Santi Romanos
a) Kernthesen der Allgemeinen Rechtstheorie Santi Romanos
Die Allgemeine Rechtstheorie Santi Romanos, welche dieser in zahlreichen Beiträgen vorbereitet, am vollendetsten aber in seiner 1918 erschienenen Monographie L'ordinamento giuridico, ausgearbeitet hat38 , zerfällt in zwei Teile: die Theorie der Institution39 und die Theorie der Pluralität der Rechtsordnungen40 • Die wesentlichen Gedanken, die hinter Rommws Institutionentheorie stecken, sind folgende 41 . Der Begriff des Rechts muß nach Romano folgende unverzichtbare Elemente enthalten: Er muß auf den Begriff der Gesellschaft zurückgeführt werden, er muß ferner die Idee der sozialen Ordnung enthalten und schließlich berücksichtigen, daß das Recht, noch bevor es zur Norm wird, Organisation, Struktur und Grundlage der Gesellschaft ist, in der es sich entfaltet und die es als Einheit begründet. Alle diese Elemente sieht Romano im Begriff der Institution vereinigt. Das führt zu dem berühmten Satz42: "Jede Rechtsordnung ist Institution, und umgekehrt, jede Institution ist Rechtsordnung: Die Gleichung zwischen beiden ist notwendig und absolut". Unter Institution versteht Romano "ogni ente o corpo sociale•43 . Schon jetzt sei dieses Bild vom sozialen Körper hervorgehoben, weil schon darin erste Anklänge an die Genossenschaftstheorie Gierkes zum Ausdruck kommen. Vier Eigenschaften müssen gegeben sein, damit wir es mit einer Institution im Sinne dieser 38 Vgl. dar;u monographisch MAXIMILIAN FUCHS: Die Allgemeine Rechtstheorie Santi Romanos, Berlin 1979. 39 Vgl. SANTI ROMANO: Die Rechtsordnung, 1. Teil, S. 15 ff. 40 Vgl. Santi Romano: Die Rechtsordnung, 1. Teil, S. 15 ff. 41 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 29. Zu einem ähnlichen Verständnis des Rechtabegriffs siehe GEORGE GURVITCH: Grundzüge der Soziologie des Rechts, 2. Aufl., Darmstadt 1974, S. 90. 42 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 32. Ausführlich zum Institutionenbegriff ROMANOS, insbesondere auch zum Verhältnis zur Institutionentheorie des französischen Rechtstheoretikers und Verwaltungsrechtiers MAURICE HAURIOU siehe MAXIMILIAN FUCHS, (Fn. 38) , S. 42 ff. 43 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 38. Es wird an dieser Stelle dem italienischen Originaltext der Vorzug gegeben, da die deutsche Übersetzung "jedes konkrete soziale Etwas, jede reale soziale Erscheinung" als zu blaß erscheint.
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Definition zu tun haben 44 . Übersetzt man einmal das Wort "ente" mit Verband, so muß dieser eine objektive und konkrete Existenz besitzen und trotz seiner Immaterialität nach außen sichtbar sein. Das Attribut "sociale" will anzeigen, daß man es nicht mit einer bloß individuellen, sondern einer gesellschaftlichen Äußerung des menschlichen Lebens zu tun hat. Das dritte Merkmal einer Institution besteht in der eigenen Individualität und Abgeschlossenheit gegenüber anderen Institutionen. Und schließlich verlangt der Institutionenbegriff, daß eine auf Dauer angelegte Einheit vorhanden sein muß, d.h. eine Unabhängigkeit des Bestandes von dem zugrundeliegenden Substrat (Mitglieder, Vermögen). Es ist leicht vorzustellen, wie aus dieser institutionellen Rechtskonzeption geradezu zwangsläufig eine Theorie der Pluralität der Rechtsordnungen hervorgehen muß. Die von Romano formulierte Theorie lautet schlicht und einfach, daß es so viele Rechtsordnungen wie Institutionen gibt 45 . Damit steht diese Theorie in erklärter Gegnerschaft zur vorherrschenden monistischen oder etatistischen Rechtsauffassung, die alles Recht auf den Willen des Staates zurückführen will. Der zweite Teil des Hauptwerkes von Romano ist deshalb der Demonstration der Richtigkeit seiner Rechtsauffassung von einer Pluralität der Rechtsordnungen gewidmet. Er versucht, sowohl im Bereich des öffentlichen wie des privaten Rechts den Nachweis zu erbringen, daß nur auf der Basis der institutionellen Rechtstheorie und einer Pluralität der Rechtsordnungen ein adäquates Verständnis sozusagen auf der Makroebene, aber auch auf der Mikroebene, wenn es um die Bewältigung einzelner Rechtsprobleme geht, zu erreichen ist46 • b) Die 1/erkunft der Allgemeinen Rechtstheorie Santi Romanos aus der Genossenschaftstheorie Otto von Gierkes Ich habe bereits in früheren Arbeiten 47 den Nachweis zu erbringen versucht, daß die Allgemeine Rechtstheorie Romanos in Abhängigkeit von der Genossenschaftstheorie Gierkes zu sehen ist, in einer Abhängigkeit, die es rechtfertigt, von einer Herkunft der ersteren von der letzteren zu sprechen. Dagegen sind bis heute auch von italienischer Seite - soweit ich sehen kann - keine zentralen Einwände erhoben worden. Meine Auffassung stützt sich auf folgende Überlegungen: 44 Vgl. SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 38 ff. 45 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 88. 46 Vgl. dazu SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 93 ff. 47 Siehe dazu MAXIMILIAN FUCHS, (Fn. 38), S. 117 ff.; ders., (Fn. 2).
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aa) Gemeinsame Grundpositionen. Wenn man zur Beschreibung der Grundpositionen von Gierke und Romano einen plakativen Ausdruck wählen wollte, wäre sicherlich der Ausdruck Antiindividualismus naheliegend 48 . Gemeint ist damit jene Kritik an Strömungen der Rechtswissenschaft, die alles Recht vom autonomen und isoliert gedachten Individuum her denken und konstruieren wollten. Auf diesem Hintergrund verstehen sich alle Naturrechtslehren in ihrer vernunftrechtlichen Ausprägung. Besonderer Kritikpunkt ist die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, nach Gierke die Basis für eine atomistische und mechanische Staatsauffassung49. Ebenso deutlich fällt die Kritik Gierkes und Rommws an der romanistischen Rechtskonzeption aus. Für Gierke erschöpft sich der Geist des römischen Privatrechts in einseitigen und nur von außen her beschränkten Machtbefugnissen geschlossener Einzelwillen, die nichts von einer gegenseitigen Abhängigkeit und rechtlichen Verbundenheit der Willen weiß und im Grunde nur die individualistische Beziehung als wahres Rechtsverhältnis, jede gemeinheitliehe Beziehung als bloßes Ordnungsverhältnis erfaßt50 . Romano leitet daraus die Konsequenz ab, daß man einen allgemeinen Begriff des Rechts nicht aus dem Privatrecht, sondern vom öffentlichen Recht her ableiten muß 51 .
bb) Genossenschaft und Institution. Wenn man die Herkunft der Romanaschen Rechtslehre aus der Genossenschaftstheorie Gierkes behauptet, so empfiehlt es sich zunächst einmal, Romano selbst zu diesem Punkt zu hören. Nachdem Romano seine Institutionenlehre
und seine Theorie der Pluralität der Rechtsordnungen vorgestellt hat, erklärt er zu Beginn von § 32 der "Rechtsordnung"52: "Damit nähern wir uns jener bekannten, insbesondere von Gierke und zahlreichen Nachfolgern vertretenen Auffassung, wonach jede organische Gemeinschaft in der Lage ist, Recht zu schaffen. Unsere Auffassung ist jedoch in verschiedenen Punkten anders als diese Lehre. Dies gilt vor allem für die Gemeinschaft, an deren Stelle wir von Institution sprechen, einem unserer Meinung nach weiteren und umfassenderen Begriff, der darüber hinaus auch noch 48 Dazu näher MAXIMILIAN FUCHS, (Fn. 38), S. 120 f. 49 OTTO VON GIERKE: Johannes Althusiua und die Entwicklung der naturrechtliehen Staatstheorien (1880), 6. Aufl., Aalen 1968, S. 116 und 120. 50 Vgl. OTTO VON GIERKE: Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft (1883), 2. Aufi., Darmstadt 1961, S. 27. 51 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 16 ff. 52 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 106 f.
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in wesentlich stärkerem Maße juristisch geprägt ist. Der zweite Grund ist, daß Gierke nach wie vor von dem allgemein anerkannten Prinzip ausgeht, daß das objektive Recht ein Komplex von Normen, Regeln oder Vorschriften sei, während wir das objektive Recht gerade nicht als das Produkt der Institution ansehen, sondern als die Institution selbst". Und er fügt hinzu, daß "wir die Genossenschaftstheorie erweitert haben". Zunächst ist damit einmal unmißverständlich klargestellt, daß Romano selbst die Genossenschaftstheorie Gierkes zum Bestandteil seiner Rechtslehre gemacht hat. Und man kann zeigen, daß dies in einem stärkeren Maße Keschehen ist, als die Bemerkungen Romanos es erwarten lassen 5 . Dabei muß man sich folgendes vergegenwärtigen. In der Entwicklung und Konzeption des Rechtsbegriffs dominiert bei Romano und überragt alle anderen Elemente der Gedanke der Ordnung. Ordnung und Organisation der sozialen Umwelt ist das kennzeichnende Ziel des Rechts. Und Romano hebt ausdrücklich das Verdienst Gierkes in dieser Hinsicht hervor54: "Einer von denjenigen, die am meisten dazu beigetragen haben, diese Eigenschaft des Rechts hervorzuheben, ist Gierke, von dem man sagen kann, daß alle seine Werke sich mit dem Beweis dieser These befassen". Nun könnte aber gerade die Entscheidung für den Begriff der Institution - wie das ja auch in der obigen Bemerkung Romanos zum Ausdruck kommt - als Abweichung von Gierke betrachtet werden. Man muß jedoch sehen, daß der Unterschied lediglich in der Wortwahl besteht, in der Sache zwischen dem Gemeinschaftsbegriff Gierkes und dem Institutionenbegriff Romanos kein Unterschied besteht. Dazu muß man bedenken, daß Gierke selbst an 53 Mit der hier vertretenen Auffassung einer Herkunft der Theorie ROMANOS aus der Genossenschaftstheorie GIERKES jetzt auch übereinstimmend ANTONIO TARANTINO: Dell'istituzionalismo. Ancora sui precedenti dottrinali di Santi Romano, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, Bd. XI (1981), S. 169 ff., insbes. S. 173. TARANTINO beschäftigt sich darüber hinaus mit weiteren Quellen des Werkes von ROMANO. 54 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 43, Fn. 31. Siehe in diesem Zusammenhang auch die Äußerung von EUGEN EHRLICH: Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), 3. Aufl., Berlin 1967, S. 17 f.:" ... das Recht ist eine Ordnung. Es ist das unvergängliche Verdienst GIERKES, diese Natur des Rechts bei den Gebilden, die er als Genossenschaften bezeichnet, zu denen er auch den Staat zählt, erkannt und in einer ins Einzelne gehenden Untersuchung dargelegt zu haben".
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Stelle des Begriffs der Gemeinschaft sehr häufig das Bild des sozialen Körpers verwendet 55 . Gerade dieses Bild ist aber von Romano auf~egriffen worden, um seinen Begriff der Institution zu definieren 6: "Unter Institution verstehen wir jede soziale Einrichtung, jeden sozialen Körper". Interessant ist die von Romano gelieferte Begründung für die Wahl des Begriffes "corpo sociale". Von ihm wird gesagt, daß er objektiv und tatsächlich existieren muß und auch wenn er selbst immateriell ist, so muß er doch nach außen hin als eigenständig erkennbar sein - "und um eben diese seine Eigenschaft besser zu verdeutlichen, haben wir es auch als corpo sociale bezeichnet" 57. Diese Äußerungen stimmen voll mit dem überein, was Gierke in seiner Theorie der realen Verbandspersönlichkeit zum Ausdruck gebracht hat, die im Gegensatz zur Theorie der Fiktion behauptet, daß die menschlichen Verbände existierende Wesenheiten und somit auch für das Recht reale Personen seien 58 . Für Gierke ist die Realität der juristischen Person nicht eine empirische, sondern eine rechtliche Realität, aufgrund ihrer Immaterialität den Sinnen nicht zugänglich, sondern nur im Zusammenspiel von äußerer und innerer Erfahrung 59 erfahrbar ist. In gleicher Weise kritisiert Romano die Theorie der Fiktion, weil sie juristische Personen lediglich als künstliche Gebilde ansieht, kritisiert aber auch jene organistischen Konzeptionen, die die Realität der juristischen Personen als wirkliche und tatsächliche begreifen, während es sich in Wahrheit um eine bloß juristische Realität handelt60 .
55 Vgl. OTTO VON GIERKE, (Fn. 20), S. 613; ders., Daa Wesen der menschlichen Verbände (1902), Darmstadt 1954, S. 13, 16, 17, 20. 56 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 38. 57 SANTI ROMANO, (Fn. 1). S. 38. 58 Vgl. OTTO VON GIERKE: Deutsches Privatrecht, Bd. I, Leipzig 1895, S. 466; ders., Das Wesen, (Fn. 55), S. 12 f. 59 Vgl. dazu die ausdrückliche Klarstellung von GIERKE in: Das Wesen, (Fn. 55), S. 23 ff. Die Theorie der realen Verbandspersönlichkeit hat Anlaß zu zahlreichen Mißverständnissen gegeben. Bis in die Gegenwart hat man angenommen, daß GIERKE unter dem Begriff des sozialen Körpers oder Organismus sich ein reales, empirisch wahrnehmbares Wesen vorgestellt hätte, vgl. HEINRICH LANGE/HELMUT KÖHLER: Bürgerliches Gesetzbuch, Allgemeiner Teil, 1977, S. 169. Zum philosophischen Hintergrund der Lehre von der Realität der Verbandsperson eingehend und überzeugend ERIK WOLF, (Fn. 17), 8.693 ff. 60 Vgl. dazu SANTI ROMANO: Frammenti di un dizionario giuridico, Stichwort:"Realtä. giuridica", 2. Auf!., Mailand 1953, S. 207.
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Die andere, von Romano angesprochene Abweichung zwingt ebenfalls nicht zu einer Korrektur der Auffassung, die Romano in der Tadition der Genossenschaftstheorie sieht. Daß Gierke das objektive Recht als einen Komplex von Normen betrachtet, ist richtig. Romanos Antinormativismus darf jedoch nicht überschätzt werden. Auch Romano hat immer wieder betont, daß das Recht auch Norm ist und unter diesem Gesichtspunkt betrachtet werden muß61 . Romanos Antinormativismus zielt eher auf eine Absage an jene Autoren, die das Recht auf staatliche Normen reduzieren wollten. Insoweit wird man präziser von einer antietatistischen Position sprechen können. Im übrigen bleibt die Frage, ob Romano mit seinem Begriff der Institution/Rechtsordnung tatsächlich etwas anderes bezeichnet hat als einen Komplex von Normen, Vorschriften, Regeln etc. So ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß Romano die Institution ausdrücklich mit dem Begriff der Organisation identifiziert und klargestellt hat, daß die wesentlichen Eigenschaften des Rechts mit den Worten wie Organisation, System, Struktur etc. gekennzeichnet werden können 62 . Und in der Tat kann man sich dann schwerlich vorstellen, was Organisation anderes sein soll als ein Komr:lex von geschriebenen oder ungeschriebenen Normen oder Regeln 3 cc) Genossenschaftstheorie und Theorie der Pluralität der Rechtsordnungen. Daß Rommws Theorie der Pluralität der Rechtsordnungen ihren Ausgang bei Gierke genommen hat, ist unschwer festzustellen und von Romano selbst bestätigt worden. Gierkes Beitrag zur Genossenschaftstheorie wird ganz allgemein als die Begründung des modernen Rechtspluralismus angesehen. So heißt es in einer neueren Untersuchung hierzu64: "Die Genossenschaftslehre Otto von Gierkes Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckte für die Bereiche des Rechts das Grundphänomen des Pluralismus, die Existenz und wachsende Bedeutung einer Vielzahl sozialer Verbände aller Art". Es ist allgemein bekannt und braucht hier nicht näher ausgeführt zu werden, daß die Ideen Gierkes in allen Teilen der Welt, ganz 61 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 15 ff. (insbesondere S. 27 f.). 62 Vgl. SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 41-43. 63 NORBERTO BOBBIO: Teoria e ideologia nella dottrina di Santi Romano, in: Amministrare, 1975, S. 451, kommt deshalb zu dem Ergebnis, daß "lo sbocco dell'istituzionalismo giuridico e ancora una volta il normativismo se pure un normativismo piu consapevole e piu progredito" . 64 HANS KREMENDAHL: Pluralismustheorie in Deutschland, Leverkusen 1977, s. 84.
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besonders nach dem 1. Weltkrieg in England starken Anklang gefunden haben. Einer der Kernsätze der Gierkeschen Rechtsauffassung ist jener berühmte Satz65: "Zur Rechtserzeugung befähigt ist jede organische Gemeinschaft". Das von Gierke aufbereitete historische Material sollte den Nachweis erbringen, daß der Fortschritt der Menschheit mit einer Vielzahl von Gemeinschaften verbunden ist, die ihr eigenes Recht hervorbringen. Damit stellt Gierke seine Theorie in den bewußten Gegensatz zu Auffassungen, die das Recht nur dort erkennen, wo es der Staat geschaffen hat. Es sei so Gierke66 - schlechthin verwerflich, das Wesen des Rechts durch eine Definition desselben als staatliches Gebot erschöpfen zu wollen. Der Staat ist nicht mehr "die menschliche Allgemeinheit schlechthin", er ist "einer unter den gesellschaftlichen Organismen der Menschheit"67. Der Staat ist "das wichtigste unter den Organen der Rechtserzeugung", aber "auch andere organisierte Verbände erzeugen autonomisch Recht" 68 . Auch Romano ging es in seiner Theorie der Pluralität der Rechtsordnungen um die Vermittlung der gleichen Botschaft. Sein erklärter Widerpart ist die monistische Rechtsauffassung69 . Wie für Gierke ist für Romano die mittelalterliche Welt der Schauplatz, auf dem eine Unzahl von untereinander verbundenen Gemeinschaften waltet, die immer mit einer begrenzten Rechtsautonomie ausgestattet sind 70 . Der Staat ist danach nur eine Art der Gattung Recht. Diese Auffassung bildet den Hintergrund der berühmten Formulierung, wonach es soviele Rechtsordnungen wie Institutionen gibt. dd) Gründe für die Orientierung Roma~ws an der Genassenschaftstheorie Gierkes. Die tieferen Gründe für die Gemeinsamkeit in der Denkweise zwischen Romano und Gierke muß man in den Eigentümlichkeiten der geschichtlichen Epoche sehen, in der beide Autoren ihre Denkwelt entfalteten, und in dem Zustand der herrschenden Strömungen innerhalb der Rechtswissenschaft der damaligen Zeit. Beide Denker sind aufmerksame Beobachter des 65 OTTO VON GIERKE: Deutsches Privatrecht, Bd. 1, (Fn. 58), S. 119. 66 OTTO VON GIERKE: Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien (1915), Aalen 1973, S. 31. 67 OTTO VON GIERKE, (Fn. 66), S. 99. 68 OTTO VON GIERKE, (Fn. 66) S. 31. 69 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 88 ff. 70 SANTI ROMANO, (Fn. 1), S. 108.
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Zeitgeschehens, die die ungeheuere ökonomische Expansion in ihren Ländern verfolgen, die aber auch die Augen nicht vor den großen ökonomischen und sozialen Problemen und den politischen Spannungen, die daraus resultieren, verschließen. Und sie verlangen von der Rechtswissenschaft, daß sie auf die modernen Probleme Antworten findet. Die Genossenschaftstheorie des Privatrechtlers Gierke interessiert auch den Staats- und. Verwaltungsrechtier Romano, weil ihre zentralen Gedanken weit über das Privatrecht hinausreichen. Im übrigen hat sich Gierke selbst aktiv in die staatsrechtliche Diskussion eingemischt71 • Das verwundert nicht. Von der Anlage seiner Genossenschaftstheorie her konnte Gierke die staatswissenschaftliche Entwicklung nicht gleichgültig sein. Und so verfaßt Gierke eine fast hundert Seiten umfassende Rezension in Schmollers Jahrbuch zu dem Staatsrechtslehrbuch von Laband72 , den er an anderer Stelle als Haupt der romanisierenden Richtung, diesen "eigenartigen Arzt mit seiner Pandektenkur" bezeichnete, der "die deutsche Seele im deutschen Rec;ht tötete"73. Zwei Hauptvorwürfe sind es, die Gierke an Laband' richtet. Einmal die Reduktion des Staates auf den Willen der einzelnen Mitglieder, worin Gierke eine atomistisch-mechanische Auffassung des Staates erblickt74 . Und in zweiter Linie wendet Gierke sich gegen die Auffassung des Staates als Herrschaft, während der Staat in seiner Wesenheit auch Genossenschaft isr75 • Die Labandsche Staatsauffassung führe unvermeidlich zu einem Auseinanderreißen von Staat und Volk. Der Staat trete außer und über das Volk 76 . Gegen die Zentralisierung der Regierung und die Atomisierung des Volkes setzt Gierke seine Hoffnung auf die Entwicklung des modernen Genossenschaftswesens. Geradezu emphatisch hatte er in der Einleitung zu seinem ersten Band des deutschen Genossenschaftsrechts vermerkt77: "Was der Mensch ist, verdankt er der Vereinigung von Mensch zu Mensch. Die Möglichkeit, Assoziationen hervorzubringen ... gab uns die Möglich7l Eingehend dar.u GERHARD DILCHER,
(Fn. 17), S. 339 ff. 72 LABANDS Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft, in: Jahrbuch für Gesetr.gebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich (Schmollen JbJ, N. F. 1883, S. 1097-1195, hier r.itiert als Sonderdruck (siehe Fn. 50). 3 Zit. nach PETER VON OERTZEN: Die sor.iale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, Frankfurt 1974, S. 217. 74 OTTO VON GIERKE, (Fn. 50), S. 32 f. 75 OTTO VON GIERKE, (Fn. 50), S. 34. 76 OTTO VON GIERKE, (Fn. 50), S. 35. 77 OTTO VON GIERKE: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I, (Fn. 18), S. 1.
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keit der Entwicklung, der Geschichte ... diese engeren Gemeinwesen und Genossenschaften, welche der Allgemeinheit gegenüber als Besonderheiten erscheinen, ihren Gliedern gegenüber aber selber Allgemeinheiten sind, bieten allein die Möglichkeit, eine große und umfassende Staatseinheit mit einer tätigen bürgerlichen Freiheit, mit der Selbstverwaltung zu vereinen". Diese Sicht des Assoziationswesens ist es wohl gewesen, die Romano an dem Werk Gierkes am meisten beeindruckt und die er sich zu eigen gemacht hat. Dazu ist es nötig, sich einige Daten zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des damaligen Italiens vor Augen zu führen 78 . Nach der Einigung Italiens um Jahre 1861 erlebte das Land einen ungeheueren ökonomischen Aufschwung. Im Norden entstanden die ersten Aktiengesellschaften. Der wirtschaftliche Aufschwung vollzog sich aber nicht ohne Brüche, schwere Krisen erschütterten das Land. Die Emigration in die Vereinigten Staaten, Kolonialismus und Protektionismus waren, freilich unzulängliche, Antworten. Im Zuge der Entwicklung der Arbeiterbewegung entstand ein reiches Assoziationswesen, schlagwortartig seien nur die Arbeits- und Produktionsgenossenschaften, die Hilfsvereinigungen auf Gegenseitigkeit und schließlich mit Beginn der 90er Jahre die ersten Arbeitskammern genannt. Die Gründung der sozialistischen Partei Italiens ist ebenso bemerkenswert wie die Aktivitäten der katholischen Bewegung. Der Staat schwankte in seinem Verhalten gegenüber dieser neuen Assoziationsbewegung zwischen rigider Härte und vorsichtigem Taktieren. Unter Giolilli schien sich ein Pakt zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen anzubahnen, der aber nicht von dauerhafter Natur war. Die Rechtswissenschaft schenkte der neuen wirtschaftlichen und politischen Realität wenig Beachtung. Im öffentlichen Recht dominierte die formalistische Methode 79 • Soweit das Problem des associazionismo überhaupt in die Betrachtung eingeht, überwiegen Positionen, die den neuen Vereinigungen abweisend gegenüberstehen, da sie sie als Bedrohung des Staatsgefüges betrachteten80 . 78 Die bedeutsamsten sozialen, ökonomischen und kulturell-geistesgeschichtlichen Prozesse der fraglichen Zeit habe ich im ersten Abschnitt meiner Monographie: Die Allgemeine Rechtstheorie, (Fn. 38), S. 17-36 dargestellt. 79 Vgl. dazu SABINO CASSESE: lpotesi sulla formazione di "L'ordinamento giuridico" di Santi Romano, in: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno, 1972, S. 245 . 80 Nachweise bei SABINO CASSESE, (Fn. 79), S. 277 f.
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In diesem Kontext erlangt Romanos berühmte Pisaner Inauguralrede von 1909 mit dem bezeichnenden Titel "Lo stato moderno e Ia sua crisi"81 zentrale Bedeutung82 . Es lohnt sich, einige Passagen aus dieser Rede zu zitieren, weil Romano mit seltener Klarheit das Problem formuliert, auf das er schließlich mit seiner "Rechtsordnung" die juristische Antwort geben will. Romano konstatiert die Krise des modernen Staates, den er als "1' espressione piu alta di quella cooperazione fra gli individui e i gruppi di individui, senza Ia quale non c' e societa ben ordinata; supremo potere regolatore e perciö poderoso mezzo di equilibrio ... questa luminosa concezione dello Stato ... sembra ehe, da qualehe tempo in qua, subisca un' eclissi, ehe di giorno in giorno diviene piu intensa ..."83 . Die Krise, die Verdunkelung beschreibt Romano wie folgt 84: "In seno ad esso (allo stato, M.F.), e sovente, come vedremo, contro di esso, si moltiplicano e fioriscono con vita rigogliosa ed effettiva potenza, una serie di organizzazioni ed associazioni, ehe, alla loro volta, tendono ad unirsi e collegarsi fra loro: Esse si propongono gli scopi speciali piu disparati, ma tutte hanno un carattere comune: quello di raggruppare gli individui col criterio della professione, o, meglio, del loro interesse economico. Sono federazioni o sindacati di operai, sindacati patronali, industriali, mercantili, di agrari, di funzionari, sono societa cooperative, istituzioni di mutualita, camere di lavoro, leghe di resistenza o di previdenza, tutte costituite sul pricipio indicato, dal quale ricavano la loro collettiva fisionomia." Romano glaubt, daß die heutige (1909 !) staatliche Organisation den Bedürfnissen der neuen gesellschaftlichen Gruppen nicht gewachsen ist, weil sie zu sehr nach dem Vorbild der französischen Revolution konstruiert ist und "spesso non volle riconoscere ciö ehe dimostrava di avere ancora un' indistruttibile vitalita, solo per
Sl Abgedruckt ff.
bei SANTI ROMANO : Scritti minori, Bd. I, Mailand 1960, S. 311
82 Zu einer Analyse und Bewertung dieses Textes siehe Roberto Ruffilli: Santi Romano e l'analisi liberal-riformista della "crisi dello Stato" nel'eta giolittiana, in: PAOLO BISCARETTI DI RUFFIA (Hg.): Le dottrine giuridiche di oggi e l'insegnamento di Santi Romano, Mailand 1977, S. 223 ff. VIRGILIO MURA: Pluralismo e neo-statualismo nella cultura giusfilosofica italiana del primo novecento, in: ALDO MAZZACANE (Hg.): I giuristi e Ia crisi dello Stato liberale in Italia fra Otto e Novecento, Neapel 1986, S. 381 ff. 83 SANTI ROMANO, (Fn. 81), S. 314. 84 SANTI ROMANO, (Fn. 81), S. S. 316.
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timore ehe con tale riconoscimento potesse dare adito e pretesto alla ricostituzione del passato. Scomparsi e soppressi ceti e corporazioni, ridotti alla minima espressione persino i comuni, non si volle porre di fronte allo Stato ehe 1' individuo ..."85 .
Romano erblickt in den neuen gesellschaftlichen Vereinigungen eine Möglichkeit, die Gespaltenheit und Zerrissenheit der Gesellschaft zu überwinden: "La distinzione in classi della societa e, del resto un fenomeno, ehe solo in periodi transitori puo attenuarsi, senza ehe comunque venga mai meno ... Da questo punto di vista, il sistema corporativo, considerato nel suo svolgimento normale e non nelle sue degenerazioni, appare naturale, puo servire a mitigare le dannose conseguenze dell' eccessivo individualismo, fonte di contrasti e di lotte, a sviluppare il sentimento di solidarieta fra i singoli, e il sentimento di reciproco rispetto fra i diversi gruppi di individui, contribuendo cosi ad una piu completa e compatta organizzazione sociale." 86 4. Schlußbemerkung
Im Rahmen eines Beitags zur Feier des 100. Geburtstages von Santi Romano im Jahre 1975 hat Scarpelli von zwei Wegen gesprochen, auf denen man an das Werk von Autoren der Vergangenheit herangehen muß87: Der erste Weg ist der Pfad der Rekonstruktioin eines Werkes in Verbindung mit dem kulturellen Kontext, in dem es entstand; der zweite Weg führt auf die Aktualität und Nützlichkeit einer Doktrin für die Diskussion der Gegenwart. Nur der erste Weg konnte und sollte in diesem Beitrag beschrieben werden. Der kulturelle Kontext, von dem Scarpelli spricht, ist im Falle von Romano ein vielschichtiger. Wie andere 85
SANTI ROMANO, (Fn. 81) , S. S. 317. SANTI ROMANO, (Fn. 81), S. S. 320. 87 ALBERTO SCARPELLI: Santo Romano, teorico conservatore teorico progressista, in: BISCARETTI Dl RUFFIA (Hg.), (Fn. 82), S. 45:" Agli autori del passato ci si dovrebbe avvicinare, secondo me, con due tipi di accostamento. Un primo accostamento e diretto a ricostruire Ia genesi di un pensiero, a comprenderne lo avolgimento, ad elaborarne l'interpretazione corretta in relazione al contesto culturale in cui si manifestava. II secondo accostamento e diretto al vaglio critico delle dottrine, per determinarne l'attualita ai fini di un discorso ehe noi stiamo svolgendo, di un lavoro ehe noi stiamo compiendo". 86
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große Persönlichkeiten hat auch Sa11ti Romano seine Ideen geformt in der Auseinandersetzung mit dem Vorrat an Ideen und Gedanken, die er zu seiner Zeit vorfand. Und contesto culturale, das bedeutet bei Romano auch und vor allem contesto internazionale. Seine Kenntnis ausländischer Rechtsliteratur ist beeindruckend. Im Namensregister der "Rechtsordnung" lassen sich allein 53 deutsche Autoren finden. Nicht die einzige, aber die tragende Säule in dem Gedankengebäude Romanos ist die Genossenschaftstheorie Otto von Gierkes. In ihr fand Romano das historische Material und das methodische Rüstzeug für die Antworten, die er auf die ihn bewegenden Probleme geben wollte.
TeilD
Arbeitsrecht
Hypothesen zur Interpretation der "vergleichenden Methoden" im Arbeitsrecht an der Wende zum 20. Jahrhundert
Von Cristina Vano 1. Fragestellung
Im Vergleich zur Entwicklung anderer Rechtsdisziplinen im 19. Jahrhundert zeichnete sich die Ausbildung der Arbeitsrechtsordnungen im Industriezeitalter durch das Wechselspiel moderner Arbeitsbeziehungen und formalisierten Rechtsdenkens aus. Das enge Verhältnis zwischen "juristischer Welt" und "Arbeitswelt" war jedoch nicht frei von Widersprüchen. Beide suchten ihre "Spielregeln" durchzusetzen. Die Geschichte des Fachs ist also durch die Wechselwirkung der sozialen, politischen und rechtlichen Entwicklungen geprägt. Im sozialen und im politischen Bereich bestand in Zusammenhang mit neuen Formen abhängiger Arbeit ein vermehrter Regelungsbedarf. Im juristischen Bereich hingegen fand ein differenzierter und auf die Sozialfrage bezogener Verrechtlichungsprozeß 1 statt. 1 Der Begriff "Verrechtlichung" wird hier in allgemeinem Sinn verstanden und umfaßt nicht nur die Fälle eines legislativen Eingriffs in die Arbeitsbeziehungen, sondern auch andere Arten der "Übersetzung" in juristische Begriffe. Nicht näher eingegangen zu werden braucht daher auf den Meinungsstreit bei der Verwendung dieses Begriffs. Im Zentrum dieser Kontroverse steht die von SIMITIS vertretene Theorie, nach der der Prozeß der Verrechtlichung von Arbeitsbeziehungen vom staatlichen Eingreifen in die Arbeitsbeziehungen charakterisiert ist und so als "trend universale" der Entwicklung industrieller Beziehungen in den demokratischen Ländern erscheint. Vgl. die Beiträge von SPIROS SIMITIS: Juridification of Labor Relations, in: GUNTHER TEUBNER (Hg.): Juridification of social spheres, Berlin 1987, S. 113-161; dagegen JON CLARK und LORD KENNETH W. WEDDERBURN: Juridification - a Universal Trend? The British Experience in Labor Law, ebd., S. 163-190. Zuvor schon HANS F. ZACHER, S. SIMITIS u.a. (Hg.): Verrecht-
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C. Vano, Vergleichende Methoden im Arbeitsrecht
Bei aller Verschiedenheit der Sozial- und Wirtschaftsverfassungen und trotz aller nationalen Unterschiede ist dieser Vorgang in verschiedenen westeuropäischen Staaten anzutreffen. Die Wahrnehmung dieser "gemischten" Natur des Ausformungsprozesses des Arbeitsrechts bestimmte die Methoden unterschiedlicher Rechtskulturen und lud unter anderem zu vergleichenden Gegenüberstellungen ein. Welche Rolle spielte also der Gebrauch dieser Gegenüberstellungen, wie sah er aus und wo hat sich jene Austauschbeziehung zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen auf diesem Feld bemerkbar gemacht? In Bezug auf die deutsch-italienischen Beziehungen ließe sich unsere Frage auch folgendermaßen formulieren: Ist ein wachsender "Germanisierungsprozeß", wie er in anderen Rechtsdisziplinen mit dem (mehrfach erwähnten) Methodenstreit einsetzte 2 , auch im Bereich des Arbeitsrechts feststellbar? Eine derartige These ohne weiteres aufzustellen oder gar dieses Phänomen der "Germanisierung" als "offensichtlich" bestimmendes Moment in der Bildung des italienischen Arbeitsrechts zu betrachten, wird jedoch der Tatsache nicht gerecht, daß in eben den Jahren der großen Expansion der "deutschen Wissenschaft" lichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität: vergleichende Analysen, Baden-Baden 1984. Vgl. darüber hinaus BOB HEPPLE (Hg.) : The Making of Labor Law in Europe, London 1986, bes. S. 1-6; allgemein zur Frage der Verrechtlichung und zu den verschiedenen Gebrauchsweisen des Begriffs RüDIGER VOIGT: Verrechtlichung in Staat und Gesellschaft, in: ders. (Hg.): Verrechtlichung, Königstein 1980. Schließlich ist an RAINER ERD zu erinnern: Verrechtlichung industrieller Konflikte. Normative Rahmenbedingungen des dualen Systems der Interessenvertretung, Frankfurt-New York 1978. 2 Zum Methodenstreit in den sozialhistorischen Wissenschaften in Italien und zu den Beziehungen mit der deutschen Debatte, vgl. INNOCENZO CERVELLI: Gioacchino Volpe, Napoli 1977, S. 67 ff. Für die Wirtschaftswissenschaften bes. ANTONIO CARDINI: Antonio de Viti de Marco, Roma-Bari 1985; ders.: Gli economisti, i giuristi e i1 dibattito sullo Stato, in: ALDO MAZZACANE (Hg.): I giuristi e Ia crisi dello Stato liberale in Italia fra Otto e Novecento, Napoli 1986, S. 173 ff. Für Rechts- und Politikwissenschaft: RAFFAELLA GHERARDI: Sul "Methodenstreit" nell'eta della sinistra (1875-1895) : costituzione, amministrazione e finanza nella "via media" di Giuseppe Ricca Salerno, in: Materiali per una storia della cultura giuridica, XIII (1983), S. 85-121; PASQUALE BENEDUCE: Questione del "metodo" e crit ica dello Stato indifferente nella cultur a giuridica italiana di fine ottocento, ebd., S. 57- 84; GUSTAVO GOZZI: Modelli politici e questione sociale in Italia ein Germania fra Otto e Novecento, Bologna 1988.
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auf der europäischen Bühne auch andere ausstrahlungskräftige "Modelle" für den Bereich der industriellen Beziehungen wirksam waren. Dem Zauber von Phänomenen wie dem "Trade Unionism" und dem "Collective Bargaining" in England konnte sich ja auch Deutschland nicht entziehen3 . In den Quellen der entstehenden italienischen Arbeitsrechtswissenschaft sind sicherlich zahlreiche detaillierte oder oberflächliche Bestandsaufnahmen, bewundernde und kritische Urteile, gemeinverständliche Studien und akurate Analysen der in Deutschland angewandten Lösungen der Arbeits- und Sozialfrage anzutreffen - jene Lösungen, die von der vielfach zitierten "mente tedesca pacata e calcolatrice, scevra da ogni pregiudizio giuridico ed economico"4 gefunden worden waren. Aber aus Gründen, die später noch deutlich werden, halte ich es beim Stand der rechtsgeschichtlichen Forschungen für notwendig, einen Schritt zurück zu gehen und zunächst zu versuchen, die Plausibilität, oder wenn man will, die Aktualität jener Fragen zu prüfen. Wenn man nämlich für einen Augenblick vorausbestimmte interpretative Kategorien beiseite läßt (weil diese dazu verleiten, ganze Abschnitte der Rechtsgeschichte jener Jahre mit den Termini "Einflüsse" und ihnen entsprechenden "Rezeptionen" zu fassen5), kann man es vielleicht vermeiden, in der Rechtskultur 3 Zur maßgeblichen Rolle der britischen Erfahrungen in wichtigen Fragen der Entwicklung europäischer arbeitsrechtlicher Ordnungen im industriellen Zeitalter vgl. vor allem den unübertroffenen OTTO KAHN-FREUND: Labour and the Law, 2. Auf!., London 1972 (deutsche Übersetzung von FRANZ MESTITZ: Arbeit und Recht, Köln 1978). Vgl. weiterhin THEO MAYER-MALY: Zur exemplarischen Bedeutung des englischen Arbeitsrechts, in: F . GAMILLSCHEG u .a. (Hg.), Gedächtnisschrift Sir Otto Kahn-Freund, München 1980, S. 563-569; ders., Arbeitsrecht, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, hg. v . H . COING, III/3, München 1986, S. 3635-3745 (mit weiterer Bibliographie) . Vgl. weiterhin THILO RAMM, Laissez-faire and protective Legislation, in: BOB HEPPLE, (Fn. 1), S. 76 ff. (In diesem Beitrag wird die britische Schutzgesetzgebung explizit als "The Model" bezeichnet. Ober die methodischen Voraussehungen der Verwendung des "Modells" in dem Sammelband siehe die Hinweise von HEPPLE, S. 5). 4 G. L. PROFUMO: Le assicurazioni operaie nella legislazione eociale, Torino, Bocca 1903, S. 271. 5 Eine interessante kritische Analyse über den Gebrauch dieser Kategorien anband eines bestimmten historiegraphischen Falles findet sich jetzt bei ANTONIO SERRANO GONZALES: Die "Doctrina legal" des spanischen "Tribunal Supremo" in
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"Originale" und "Imitationen" zu unterscheiden. Ein solches Vorgehen sollte wahrscheinlich überhaupt vermieden werden. Im Fall des Arbeitsrechtes ist es aber ganz sicher fehl am Platz, da wenn mir diese Bemerkung erlaubt ist - die Hauptbestandteile des modernen Arbeitsrechts ja weder von einem einzigen Kopf erfunden worden noch innerhalb eines bestimmten Juristenkreises entstanden sind. Sie stammten aus verschiedenen Steinbrüchen der Rechtskultur sowie aus der sozialen Praxis. Die Hauptbegriffe dieses Fachs sind also - um eine Metapher zu verwenden - keineswegs als das Bild eines einzelnen berühmten Meisters oder Ateliers zu bezeichnen. Die im Titel meines Beitrags enthaltene Wendung vergleichende Methoden bezieht sich auf den Gesamtzusammenhang der von Juristen verwandten Verfahren und Vorgehensweisen der Gegenüberstellung. Auf ihn möchte ich meine Aufmerksamkeit beschränken, um die Methoden zu analysieren, zu einer ersten Wertung der aus ihrer Anwendung gewonnenen Resultate zu gelangen und schließlich zu verstehen, was in jener Zeit und für jene Juristen Vergleichen, Gegenüberstellen und Einführen fremder Lösungen in den Konflikt von Kapital und Arbeit bedeutete6 . Dabei werde ich von einigen Beispielen ausgehen, um die verschiedenen "Vergleichsmethoden" aufzuzeigen, die auf dem Gebiet des Arbeitsrechts bei der Ausbildung einer nationalen Rechtskultur verbreitet waren. 2. Beispiele zur Vergleichung im italienischen Arbeitsrecht Der "avvocato" Camillo Cavagnari, Richter in Mailand in Diensten des Justizministeriums und Wortführer der "Commissione per lo studio dei contratti agrari e del contratto di lavoro" veröffentlichte 1901 einen umfangreichen Band von "Beobachtunder rechtshistorischen Analyse des Justizbegriffs, in: Jus Commune, 16 (1989), im Druck. 6 Der Begriff "vergleichende Methode" wird bewußt nicht in restriktiver Bedeutung verwendet; er bezieht sich weder auf die Definition spezifischer, mit der Entwicklung der Rechtsvergleichung als eigener Disziplin verbundener Techniken, noch entspricht er auf der anderen Seite den heutigen methodologischen Kriterien auf dem Gebiet der historisch-komparativen Analysen. Die Unverbindlichkeit des Begriffs ist vielmehr ein Hinweis auf die inhomogene Natur des beobachteten Phänomens und seine geringe methodologische Strenge.
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gen und Informationen• 7 • Er bot so eine Bestandsaufnahme der Materie, wie sie sich zu Beginn des Jahrhunderts darstellte. Dabei war er bestrebt, die Vielfalt und Verschiedenartigkeit der "Stimmen" in der zeitgenössischen Diskussion, die kontroversen Auffassungen trotz aller Dissonanzen auf den bescheidenen, aber immer effizienten gemeinsamen Nenner des "gesunden Menschenverstandes" zu bringen. In diesem Band erwies sich Cavagnari als typischer Jurist, der eher daran gewöhnt ist, mit praktischem Sinn konkrete Fälle zu lösen, als Theorien zu formulieren. Er faßte die vorausgehenden Studien der Kommission zusammen und unternahm den Versuch, die Vielzahl der juristischen und nicht- juristischen Materialien zu systematisieren. Mit der Abfolge, in der er die einzelnen Teilbereiche behandelte, setzte er zugleich logische und chronologische 7 CAMILLO CAVAGNARI: Studi preliminari della Commissione per lo studio dei contratti agrari e del contratto di lavoro. Osservazioni e notizie, Roma 1901. Die Kommission, deren Sekretär CAVAGNARI war, wurde zum ersten Mal vom italienischen Ministro di Grazia e Giustizia e dei Culti (mit dem Untersekretär EMANUELE GIANTURCO), in Einvernehmen mit dem Minister für Landwirtschaft, Industrie und Handel durch Dekrete vom 2. Sept., 29. Okt ., 21. Dez. 1893, 5. und 7. Jan. 1894 eingesetzt; sie wurde wieder einberufen - weitgehend in der ursprünglichen Besetzung - durch Dekret vom 29. Juli 1901 (unterzeichnet von GIUSEPPE ZANARDELLI, Präsident des Consiglio dei Ministri). Der Auftrag der Kommission bestand im Studium der "modificazioni da introdurre nel diritto vigente in ordine ai contratti agrari e al contratto di lavoro". In der Folge wurden zwei Unterkommissionen gebildet. Das Resultat der Arbeit war ein Gesetzesentwurf zum Arbeitsvertrag (Atti parlamentari, Camera Deputati, Legislazione XXI, 2° sessione, 1902, Relaz. n° 205), der jedoch niemals in Kraft trat. Auf diesem Weg bedeuteten die Studi preliminari della Commissione eine bedeutende Zwischenstation. Weitere Hinweise bei GIOVANNI PINO: Modelli normativi del rapporto di lavoro all'inizio del secolo, in: Politica del Diritto, XV Jhg., 1984, S. 207 ff. Für die Rolle von Gianturco vgl. CRISTINA VANO: I "problemi del lavoro" e Ia civilistica italiana alla fine dell'Ottocento: il contributo di Emanuele Gianturco, in: A. MAZZACANE (Hg.): L'esperienza giuridica di Emanuele Gianturco, Napoli 1987, bes. S. 186 ff.; vgl. auch LAURA CASTELVETRI: Le origini dottrinali del diritto del lavoro, in: Rivista trimestrale di diritto e procedura civile, XLI, 1, 1987, S. 265. Eine interessante Darstellung über den schwierigen Beginn der Arbeit der Kommission findet sich in einem Brief von GIUSEPPE SALVIOLI an WERNER 50MBART aus Padua vom 22.12 .1893 (Zentrales Staatsarchiv Merseburg, Rep. 92, Sombart Nr. 9a, BI. 86-88), jetzt vollständig abgedruckt bei ANDREA GIARDINA: Analogia, continuita e l'economia deli'Italia antica, Einleitung zu G. SALVIOLI: II capitalismo antico, Roma-Bari, 1985, S. LVII-LIX.
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Prioritäten, die der Arbeit des italienischen Gesetzgebers die Richtung weisen sollten. Den "theoretischen Prinzipien und Problemen" wies er "natürlicher- und logischerweise" den letzten und kürzesten Teil in den "Beobachtungen" zu. Dies rechtfertigte er vor allem für das Gebiet der Arbeitsverhältnisse folgendermaßen: "Ia dottrina si alimenta della giurisprudenza e della legislazione comparata, quella apprestandole il materiale dedotto da ciö ehe
e,
questa
apprestandole il materiale deducibile da ciö ehe sara e dovra easere" .8
In der logischen Gliederung des Buches standen die Informationen über die Gesetzgebungswerke der ausländischen Staaten hinter der Prüfung des Rechtsprechungsmaterials an zweiter Stelle. Sie nahmen mehr als ein Drittel des Bandes ein (203 von 490 Seiten). Ihnen wurde also unter den Materialien, die man für die Annäherung an den Untersuchungsgegenstand für erforderlich hielt, der größte Raum gewährt. Großes Gewicht wurde ihnen vor allem für die Vorbereitung möglicher zukünftiger Lösungen der Rationalisierungsprobleme der Materie beigemessen. Der Titel "legislazione comparata" schloß allerdings nicht nur die im Zusammenhang mit dem Arbeitsvertrag erlassenen Gesetze ein, sondern auch einige gesetzgeberische Maßnahmen, die sich in allgemeinerem Sinne auf die Arbeitswelt bezogen9 . Und über die Analyse der "speziellen, die Industrie betreffenden" Gesetze hinaus befaßte er sich zudem mit Normen aus anderen Rechtsgebieten, insbesondere aus dem Schuldrecht und aus dem Familienrecht zahlreicher Bürgerlicher Gesetzbücher sowie aus Handelsgesetzbüchern. 8 CRISTINA VANO, ebd., S 398. 9 Um ein Beispiel für die Auswahl zu geben: Unter den "leggi dell'lmpero germanico" grundlegend das Gesetz vom 17. Juli 1878 (betreffend die Abänderung der Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund, 21.06.1869); indes wurden Normen zitiert, die die Maßstäbe bzgl. der Verkaufsverbote der "bevande spiritose" in den Einkaufsgenossenschaften erhöhten. Von den deutschen Gesetzesbüchern wurden die Regelungen des Siebenten Abschnitts, VI. Titel, §§ 611-630 des Zweiten Buchs des BGB bzgl. des Dienstvertrags wiedereingefügt, aber auch zahlreiche Normen des Handelsgesetzbuches über den Auftrag, die Lehrlinge und Handelsagenten, obwohl das Gesetzesprojekt, zu dem die Kommission letztendlich gelangen sollte, sich nicht "a tutte le varie forme ehe assume il contratto di servizio" erstrecken, sondern auf "contemplare soltanto gli operai" beschränken sollte (die Zitate stammen von EMANUELE GIANTURCO, in: Verbali della Sottocommissione, Roma 1902, Sitzung vom 7.12.1901).
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Die Ratio einer solchen massiven Berücksichtigung ausländischer Quellen durch die Kommission wurde als "natürliche Tatsache" dargestellt: "In sostam:a, in virtii delle crescenti relar.ioni internar.ionali, in virtii della pure crescente comunione delle associar.ioni e dei bisogni diminuendo notevolmente Je differenr.e fra popoli e popoli, fra Stati e Stati, Je leggi e istituzioni di un paese acquistano una efficacia di costringimento morale al di Ia dei suoi confini, suscitandovi, svolgendovi energie, precorritrici dell' opera del patrio legislatore; il quale necessariamente deve tenere conto di questa spontanea unificar.ione morale, ehe puo sotto un aspetto generale divenire anche di carattere giuridico, se il legislatore a suo tempo si cura di apprestare le condizioni favorevoli di ambiente per accogliervi il prodotto pratico di quelle leggi e di quelle istituzioni, ehe percio diventano forastiere solo di forma"10.
Der Jurist Cavagnari beschränkte sich jedoch nicht darauf, die Wichtigkeit und Nützlichkeit ausländischer gesetzgeberischer Erfahrung hervorzuheben. Diese ausländischen Vorgaben ordnete er sogar ganz bestimmten Nutznießern zu. Seiner Meinung nach war ihre "Kenntnis" in der Tat "nützlich" für den Gesetzgeber; "absolut notwendig" war sie aber vor allem für die Privatautonomie. Diese erschien als das "natürliche" Subjekt, das daraus den besten
°
1 C. CAVAGNARI, (Fn. 7), S. 364. Die Vorstellung, nach der nicht nur gegenüber der "spontanea unificazione morale" im Bereich der Arbeitsbeziehungen die nationalen Grenzen zwischen den Staaten ihre Bedeutung verlieren, sondern auch darüber hinaus das Prinzip der Territorialität sich aufzulösen scheint, findet sich zwischen den Zeilen auch in anderen Stellungnahmen des Autors. Auch bestand das Interesse CAVAGNARIS für soziale und Arbeitsfragen schon vor seiner Berufung in die Kommission und nahm im Laufe der Zeit zu. Vgl. C. CAVAGNARI: Rassegna giuridica: legislazione sociale, in: II pensiero italiano, VIII (1888), fase. 33; ders., II codice civile e Ia questione sociale, Anhang zu: ders., I nuovi orizzonti del diritto civile in rapporto colle istitur.ioni pupillari, Milano 1891, S. 421-451; ders., La quistione operaia a Milano, in: La scuola positiva, I, 1891, S. 132 ff.; ders., I progetti di legislazione sociale, in: II pensiero italiano, 111 (1893), Bd. 9, S. 67 ff.; ders., II diritto marittimo eil contratto di lavoro, ebd., VII (1897), Bd. 20, S. 35 ff. (unabhängig davon nochmals 1901 in Turin gedruckt); ders., Le contraversie del lavoro. Note di giurisprudenza, Milano 1900; ders.: Studi sul contratto di lavoro col testo del progetto di !egge sul contratto di lavoro presentato alla camera dei deputati, Roma 1902; ders., L'arbitrato negli scioperi dei servir.i pubblici secondo il progetto di !egge sul contratto di lavoro, in: Problemi del lavoro, II (1903), S. 1 ff.; zahlreiche weitere Schriften erwähnt bei MARIO SBRICCOLI: Elementi per una storia del pensiero giuridico moderno, 3-4, (1974-1975), Bd. II, S. 890-894 (ein unverzichtbarer Beitrag zur Orientierung auf den verworrenen Wegen des italienischen socialismo giuridico).
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Nutzen ziehen konnte, und zwar auch deshalb, weil gerade über sie vermittelt einige jener "istituti preventivi e soccorritivi complementari per eliminare o attenuare gli effetti patologici del mondo industriale", de facto in Italien wirksam wurden 11 . Zu bedenken bleibt allerdings, daß diese Aussagen weder von einem der bekanntesten Fachleute der damaligen Rechtswissenschaft getroffen wurden noch in einem offiziellen Text enthalten sind. Sie rühren vielmehr von einem Richter her, dessen Gedanken sich bisweilen in dem schlecht definierten und "verdächtigen" Raum des socialismo giuridico bewegten. Erwähnt sei auch, daß dieser Richter 1894 ein "revolutionäres" Urteil fällte, das ohne Nachahmung blieb. In ihm wurde dem Unternehmer aufgrund der Theorie des Berufsrisikos ausdrücklich eine Haftung sine culpa auferlegt 12 . Obwohl ein derartiger Ansatz in Deutschland 11 C. CAVAGNARI, (Fn. 7), S . 362 ff. Die Privatautonomie bildete in der Tat das dynamischste und aktivste Element in der Rechtsgeschichte der Industriearbeit Italiens: vgl. C. VANO: Riflessione giuridica e relazioni industriali fra Ottocento e Novecento: alle origini del contratto collettivo di lavoro, in: A. MAZZACANE (Hg.), (Fn. 2), S. 127 ff. und die dort angegebene Bibliographie, S. 127 ff. Hervorzuheben bleibt, daß sie von zeitgenössischen Juristen als "coefficente molto importante" und bisweilen als notwendiges "alter ego" des Gesetzgebers betrachtet wurde. Neben CAVAGNARI könnte man zahlreiche Juristen zitieren, die, von verschiedenen Perspektiven und Orientierungen ausgehend, sich von der Privatautonomie einen wertvollen Beitrag zur Lösung arbeitsrechtlicher Probleme erwarteten, so den einflußreichen LUDOVICO BARASSI (Il contratto di lavoro nel diritto positive italiano, Milane 1901, dann in zwei Bd., Milano 1915-17), der auf Grund der hiesigen Ausprägung der romanistischen Zivilrechtswissenschaft den Schutz der individuellen Privatautonomie als Ausgangspunkt seines gesamten Werkes zur begrifflichen Systematisierung des Arbeitsvertags anstrebte. Andere Autoren dagegen verfolgten dieses Ziel, indem sie auf gewerkschaftliche Organisationstätigkeiten und Tarifverhandlungen abstellten, so GIUSEPPE MESSINA: I concordati di tariffa nell'ordinamento giuridico dellavoro, 1904, jetzt in: Scritti giuridici, Milano 1948, Bd. IV, S. 1-54. Vgl. hierzu U. ROMAGNOLI: Lavoratori e sindacati tra recchio e nuovo diritto, Bologna 1974; G . VARDARO: Contratti collettivi e rapporto individuale di lavoro, Milano 1985; GAETANO VARDARO und BRUNO VENEZIANI: La Rivista di diritto commerciale e Ia dottrina giuslavoristica delle origini, in: Quaderni Fiorentini, 16 (1987), S. 441 ff.; GIOVANNI CAZZETTA: Leggi sociali, cultura giuridica ed origini della scienza giuslavoristica in Italia tra otto e novecento, in: Quaderni Fiorentini, 17 (1988), S. 191 ff.; LAURA CASTELVETRI, (Fn. 7), S. 246 f. 12 Mailänder Gerichtsurteil vom 27. Juni 1894, Cantimorri-Ferrovie mediterranee, in: li Filangieri, II, 1894, S. 514. Zu diesem Urteil und generell zu einer komplexen Analyse der Unfälle in Italien mit besonderem Augenmerk auf die Position der Ju-
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maßgebliche theoretische Befürworter fand und in Frankreich zum Teil vom Gesetzgeber aufgenommen wurde, war er in Italien nur für wenige Grundlage oder Gegenstand wissenschaftlicher Arbeit. Dennoch finden die Aussagen Cavagnaris über die Notwendigkeit der Vergleichung ihren Platz in dem erwähnten institutionellen Zusammenhang der Kommission, die wir als einen situationsbedingten Träger der Auseinandersetzung mit den sozialpolitischen Problemen des Landes bezeichnen können. Cavagnaris Ausführungen haben alles andere als revolutionären Charakter, und es kommen in ihnen eher allgemein verbreitete Denkmuster zum Ausdruck. Sie klingen wie das Echo einiger jener allgemeineren kulturellen Vorstellungen, die in Italien im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts als "mittlere" , oft nicht scharf gefaßte, aber doch erahnbare und weithin geläufige Elemente des Rechtswissens hervortreten. Besonders zeigen sich diese Vorstellungen bei den italienischen Juristen, die sich darauf einrichteten, auf das industrielle Wachstum des Landes und die neuen Arbeitsverhältnisse zu "reagieren". Solche Tendenzen aber, so verbreitet und landläufig sie auch waren, entfernten sich doch von der Selbstdarstellung der italienischen Rechtskultur jener Zeit hinsichtlich ihrer Aufgabe und ihres Verhältnisses zum Ausland. Denn den Juristen hatte sich schon seit der politischen Einigung Italiens als Hauptaufgabe die kulturelle Einigungsarbeit gestellt, "um die staatlichen Strukturen zu verfestigen und ihnen einen Konsens zu verschaffen, der dem Land inneren Zusammenhang und Autorität im Zusammenhang der europäischen Mächte verleiht" 13 . Bei der Konstruktion dieses "Gebäudes der nationalen Rechtswissenschaft" war es zwar ebenfalls üblich gewesen, sich auf das Ausland zu beziehen, aber in einem anderen Sinne: In einer Art Konkurrenzdenken bezog man sich auf andere Länder unter dem Ziel, wieder "den Vergleich mit Deutschland und Frankreich aufnehmen" zu können 14 . stiz, vgl. LORENZO GAETA: lnfortuni sullavoro e responsabilita civile. Alle origini del diritto del lavoro, Napoli 1986, S. 47, 129-131. Zu den Grundlagen der Theorie des Berufsrisikos vgl. GIOVANNI CAZZETTA, (Fn. 11), S. 191 ff. Vgl. ferner GIAN GUIDO BALANDI: Un caso di archeologia industriale: cio ehe resta del rischio professionale, in: Rivista giuridica dellavoro, 1976, 111, S. 93 ff. 13 A. MAZZACANE: in der Einleitung zu I giuristi e Ia crisi dello Stato liberale tra otto e novecento, Napoli 1986, S. 12. 14 So PASQUALE STANISLAO MANCINI (Programma del' Enddopedia giuridica italiana, 1881), für die Tendenzen der italienischen juristischen Kultur nach der
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Mit Cavagnari, dem Wortführer der Kommission (man könnte aber auch andere Juristen zitieren), ging man dazu über, auch ausländische arbeitsrechtliche Lösungen für annehmbar und grundsätzlich mit der eigenen Rechtsordnung vereinbar zu halten. Man war theoretisch bereit, sie unmittelbar in diese Ordnung einzufügen. Mit anderen Worten: Die Vergleichstätigkeit, die Dokumentation und das Studium fremder Gesetze auf dem Gebiet der Arbeitsverhältnisse konnten in zunehmendem Maße beanspruchen, "spontan" und "direkt" in die endogene Dynamik des Entstehungsprozesses nationalen Expertenwissens einzutreten. Bevor wir jedoch nach den konkreten Ergebnissen dieser Stellungnahme fragen, wollen wir genauer feststellen, wie groß die (allgemeine) Bereitschaft, anderswo erarbeitete Lösungen in die Rechtsordnung einfließen zu lassen, war. Die Aufnahmebereitschaft der Rechtsordnung für derartige vergleichende Ansätze wurde durch die Formulierung extrem vager und allgemeiner Kriterien und Prinzipien ermöglicht, wie zum Beispiel durch die bereits erwähnte Phrase "moralischer Zwang oder Nötigung". Durch die Verwendung derartig allgemein gehaltener Begriffe konnten einerseits die Grenzen des nationalen juristischen Wissensvorrates leicht überwunden, andererseits aber auch neue Grenzen gezogen werden. Unter dem Gesichtspunkt von moralischen Prinzipien wie "Solidarität, Gemeinschaft, Brüderlichkeit, Nächstenliebe" konnte so eine breite Palette belgischer, deutscher, russischer, französischer, englischer, österreichischer und australischer Gesetze nur noch der Form nach als ausländisch gelten ("forastiere solo di forma", schrieb Cavagnari)15 .
nationalen Einigung. Der Gebrauch der Metapher "Konstruktion" der nationalen Rechtswissenschaft ähnlich einem "Gebäude", war eine der am häufigsten benutzten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und begleitete oft die Beschäftigung mit der Vergleichung oder mit der Konkurrenz zu anderen europäischen juristischen Ordnungen, besonders im Hinblick auf das solide Gebäude der deutschen Wissenschaft. Zu MANCINI vgl. ERIK JAYME: Pasquale Stanislao Mancini. Internationales Privatrecht zwischen Risorgimento und praktischer Jurisprudenz, Ebelsbach 1980. 15 CAVAGNARIS Bezugnahmen auf ausländische Rechtsetzung sind noch umfangreicher. Er führt Gesetzbücher aus 14 Staaten sowie die Industriegesetze weiterer Staaten an.
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3. Zur Typologie der Vergleichung
Das angeführte Beispiel läßt indes noch nicht das ganze Spektrum der angewandten vergleichenden Methoden erkennen und hat uns auch über die tatsächlich vermittelten Inhalte kaum Aufschluß gegeben. Immerhin ist deutlich geworden, daß diese generellen - und in den Worten mancher Juristen "universellen" Prinzipien Argumentationsformen bildeten, um die Vergleichung praktikabel zu machen. Aber es ist auch offenkundig, daß auf der Basis gleicher ethischer oder humanitärer Prinzipien recht unterschiedliche technisch-juristische Lösungen für denselben Untersuchungsgegenstand gewählt werden konnten. Diese Lösungsansätze waren im allgemeinen nicht zufällig, sondern spiegelten die wechselnden politisch-ideologischen Haltungen gegenüber der Sozialfrage wider, die damals in Italien jeweils vorherrschend waren. Daher wird ein dominierendes Modell selten in seiner Gesamtstruktur "rezipiert"; es wird vielmehr von Fall zu Fall verzerrt dargestellt. Dazu sei lediglich ein Beispiel angeführt: In dem Bestreben, die "Arbeiter zu schützen und ihnen mit edlen und effizienten Institutionen der Vorbeugung zu Hilfe zu kommen", legte Domenico Berti, Minister für Agricoltura, industria e commercio, zwischen 1881 und 1884 eine Reihe von Gesetzesentwürfen (zu Arbeitsunfällen, Streiks, Probiviri, Haftung und Versicherung, usw.) vor. In ihnen kamen seine vom englischen Modell geleiteten Vorstellungen über das staatliche Vorgehen in der Arbeiterfrage zum Ausdruck. Dabei lehnte er die Zwangsversicherung der Bismarckschen Sozialgesetzgebung ausdrücklich ab 16 . Auf das Bismarcksche Reformwerk bezog sich hingegen durchweg seit den achtziger Jahren und weit über den Beginn des Jahrhunderts hinaus in ähnlich ethisch motivierter Schutzabsicht der Abgeordnete Emanuele Gianturco. Um den "armen, von übermächtigen Kapitalisten zum Hunger verurteilten Arbeiter" zu schützen, bemühte sich Gianturco, die Notwendigkeit organisatorischer Bindung und staatlicher Intervention hervorzuheben, um die "Interessenbindungen zwischen den Klassen (zu) verstärken" 17. 16 D. BERTI: Le classi lavoratrici e il parlamento, Roma 1885. Ober das politische Anliegen und die konkreten Folgen vgl. D. MARUCCO: Mutualiemo e sietema politico. II caso italiano (1862-1904), Milano 1981, bes. S. 102-117, 133-146. 17 Vgl. E. GIANTURCO: Diacorso agli elettori del collegio di Acerenza, 1° giugno 1900, in: Diacorsi parlamentari, Roma 1909, S. 32. - Dazu A. MAZZACANE (Hg.):
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Es ließen sich weitere Beispiele - auch zu Einzelfragen - anführen. Sie würden allesamt belegen, daß in Italien die vergleichende Argumentation - mit größerer oder geringerer Behutsamkeit - in allen Phasen des discorso giuridico über die Arbeitsfragen benutzt wurde. Es führt uns aber weiter, wenn wir die verschiedenen Ebenen in den Blick nehmen, auf denen die vergleichenden Methoden erarbeitet und angewandt wurden. Mit dem Risiko, das gewöhnlich mit Schematisierungen verbunden ist, läßt sich dabei eine Art Typologie gewinnen, um eine große Menge von Materialien zu klassifizieren und die eine oder andere U nterscheidung anzustellen. (1) Zunächst einmal muß das Feld der politischen Debatte, auf dem der Gesichtspunkt der Rechtsvergleichung in erheblichem Maße in Erscheinung tritt, aufgegliedert werden. Denn der Bezug und der Rückgriff auf ausländische Normen (und bisweilen auch auf die damit verbundene Gesetzgebungspolitik) dienten als Argument zur Unterstützung politischer Auffassungen. Die Ziele und die praktischen Anwendungsweisen der rechtsvergleichenden Methode waren dabei unterschiedlicher Art. Sie reichten vom einfachen rhetorischen Appell an das "nationale Rechtsgewissen" bis hin zur Steuerungsfunktion bei konkreten sozialpolitischen Optionen.
(2) Ein andersartiger Gebrauch der Vergleichung - und zwar offensichtlich mehr technischer Natur - findet sich in der Rechtsprechung jener Zeit. Um seine Bedeutung und Charakteristika zu bewerten, bedürfte es spezifischer und vertiefter Studien, die in Italien für die Judikatur des 19. Jahrhunderts noch nicht einmal eingeleitet sind 18. Man kann sich jedoch einen Überblick verschaffen, wenn man beispielsweise die wichtigsten italienischen und deutschen Fachzeitschriften überprüft, die auch die Rechtsprechung zum Arbeitsrecht berücksichtigen und dabei ausländische Rechtsprechung anführen und kommentieren. L'Esperienza giuridica di Emanuele Gianturco, Napoli 1987, bes. die dort erschienenen Beiträge von A. CARDINI: Statualismo giuridico e riformismo conservatore nelliberalismo di Emanuele Gianturco ministro giolittiano, S. 221 ff. und C. VANO, (Fn. 7) . 18 Ausgenommen L. GAETA (Fn. 12); B . VENEZIANI: I conflitti collettivi e Ja Joro composizione nel periodo precorporativo, in: Rivista di diritto del lavoro, 1972, I, S. 209-300; M. CAPPELLETTO: Per una storia del diritto del Javoro: il contratto collettivo e i probiviri, in: Rivista trimestrale di diritto e di procedura civile, 1977, S. 1198 ff. Vgl. auch G. NEPPI MODONA: Sciopero, potere politico e magistratura (1870-1922), 2. Auf!., Roma-Bari, 1973.
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(3) Ein dritter Typ der Vergleichung wird von den Rechtswissenschaft/ern, von den "Professoren" angewandt. Dabei werden nunmehr Doktrinen gegenübergestellt und vornehmlich innerhalb der Expertenkreise und der wissenschaftlichen Gemeinschaft diskutiert. Die Theorien sind der Gegenstand, auf den sich die Aufmerksamkeit der Geschichtsschreibung des Arbeitsrechts bisher zumeist beschränkt hat. Gerade dies ist aber der Bereich, der am leichtesten dazu verleitet, in den Begriffen der "Originalität" und der "Imitation" zu denken. Demgegenüber ist jedoch zunächst hervorzuheben, daß die Herausbildung der Theorien des Arbeitsrechts sich auf komplexere Weise vollzog. Eine Reihe von Begriffsbildungen in Italien erfuhr zwar durchaus eine Bereicherung und Fortentwicklung von außen, aus einem internationalen Zusammenhang; diese läßt sich aber kaum zutreffend mit den herkömmlichen Beeinflussungs- oder Rezeptionsschemata erfassen19. Desweiteren bleibt zu bedenken, daß die Theorie, die Ausarbeitung arbeitsrechtlicher Doktrinen, nur ein Element des Formationsprozesses im Arbeitsrecht darstellt. Der vergleichende Dialog zwischen Akademikern blieb oft innerhalb eines geschlossenen Kreislaufes. Es kann deshalb irreleitend sein, sich ausschließlich auf aus solchen Quellen stammende Darstellungen zu verlassen. Das gilt besonders für Italien in jener Zeit. Denn die Trennung zwischen akademischer Welt und praktischem Gerichtswesen, zwischen den Universitäten und den "Gesetzeslaboratorien" wurde oft beklagt und stets getadelt, aber blieb doch immer ein konkretes und drängendes Problem der gesamten Rechtskultur 20 . 19 Nur als ein Beispiel unter vielen sei die theoretische Konstruktion der Tarifvereinbarungen bei MESSINA genannt. Sie ist sicherlich eng mit den Theorien LOTMARS verbunden, ohne daß dieser Bezug aus der Perspektive rigider Rezeptionsschemata völlig verständlich wäre; vgl. dazu die Hinweise bei G. VARDARO: L'inderogabilita del contratto collettivo e le origini del pensiero giuridico sindicale, in: Giornale di diritto del lavoro e delle relazioni industriali, 1979, S. 537-584; vgl. weiter B. VENEZIANI/ G. VARDORO, (Fn. 11), S. 449. Ein zweitrangiger, aber bezeichnender Ausschnitt des verworrenen Kreislaufs der Theorien zeigt sich in einem Brief vom 10. Dez. 1907 von SZYMON RUNDSTEIN an HUGO SINZHEIMER. RUNDSTEIN informiert hier Sinzheimer über das von MESSINA dem consiglio superiore del lavoro vorgestellte Gesetzesprojekt über die Tarifverträge und empfiehlt die Einbeziehung einer Übersetzung in den zweiten Teil des Werkes von SINZHEIMER über den "korporativen Arbeitsnormenvertrag". Der Brief, der sich im Besitz der Tochter SINZHEIMERS in New York befindet, wurde mir freundlicherweise in Form einer Kopie von Professor FRANZ MESTITZ zur Verfügung gestellt.
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(4) Schließlich ist noch ein technischer Gebrauch der Vergleichung zu berücksichtigen, der sich im Laufe der Jahre immer weiter verfeinerte und der wahrscheinlich die größte praktische Relevanz hatte: die Anwendung der vergleichenden Methode in institutionellen Gremien sowie in staatlichen und gewerkschaftlichen Organismen. In Italien denke man an das Consig/io superiore del lavoro (1902 eingerichtet) und an die zahlreichen U/fici teonici ministeriali, die auf dem Gebiet des Sozialwesens tätig waren21; für Deutschland sei das Beispiel der Aktivität des Kaiserlichen Statistischen Amtes, unter der Führung von Zacher, erwähnt. Mit dem Namen Zacher muß man denn auch das monumentale Dokumentationswerk über die Arbeiterversicherung im Ausland in Erinnerung bringen22 • Hier trifft man auf vergleichende Verfahren, die im wesentlichen auf der Sammlung von Daten basieren, die mehr oder weniger systematisch und vollständig, aber sicherlich immer sehr umfangreich waren. Die ausgewählten juristischen Informationen umfaßten in der Hauptsache legislatives und statistisches Material und hatten im wesentlichen den Zweck, Gesetzesentwürfe auszuarbeiten. Mit der Einführung internationaler Arbeitsorganismen folgte das Vorgehen in versphiedenen Ländern sich einander annähernden Maßstäben und -brachte zudem weitere Organe zur Sammlung und Verbreitung von Daten hervor. Für Italien verweise ich auf das Bollettino dell'Ufficio del Lavoro (ab 1904 erschienen); es begann einer Bahn zu folgen, die parallel zu der des Bulletin du Bureau International du Travail verlief.
20 Vgl. dazu F. TREGGIARI: Scienza e insegnamento del diritto tra due secoli: l'opera e Ia fortuna di Emanuele Gianturco, und P. BENEDUCE: Il "giusto" metodo di Emanuele Gianturco. Manuali e generi letterari alle origini della "scienza italiana", in: A. MAZZACANE (Hg.), (Fn. 7), bes. S. 45 ff., S. 245 ff. 21 Vgl. statt aller DORA MARUCCO: Lavoro e previdenza daii'Unita al Fascimo. Il Consiglio della Previdenza dal 1869 al 1923, Milano 1984; GUIDO MELIS: La cultura e il mondo degli impiegati, in: SABINO CASSESE (Hg.): L'amministrazione centrale, Torino 1986, S. 343 ff.; G . GOZZI, (Fn. 2), S. 255 ff. 22 H. ZACHER: Die Arbeiterversicherung im Auslande, 5 Bde, Berlin 1898-1908. Das Werk erschien als Abfolge monographischer Hefte für jedes Land, jeweils mit Darstellung und Übersetzung der Gesetzestexte am Beginn. Italien wurde in Heft 6 (1899) und 6a (1906, bearbeitet von VINCENZO MAGALDI) behandelt. Besonders interessant für den Vergleich ist Heft 16 (1902): Rückblick und Ausblick auf die Entwicklung der Arbeiterversicherung in Europa.
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4. Vergleichung als internationales Phänomen im 19. Jahrhundert Aus dem unter 3. geschilderten Befund ergibt sich, daß das Phänomen, mit dem wir uns hier beschäftigen, kein typisch italienisches ist, sondern sich im Gegenteil von mehreren Richtungen aus zugleich entwickelte. Jede nationale Arbeitsrechtskultur zog ihre Vorteile daraus, wenn auch in verschiedenem Umfang und unterschiedlicher Weise 23 . Das Studium der Beziehungen, die zwischen Deutschland und Italien in bezug auf das Arbeitsrecht bestanden, stellt daher einen spezifischen Teil eines strukturell sehr komplexen Prozesses des Austausches, der Integration und der Transformation dar, an dem auch andere Rechtskulturen mitwirkten. Es läßt sich eine Reihe von Erklärungen dafür finden, daß vielen Arbeitsrechtskulturen ein gewisses Maß an "Fremdtümelei" gemein ist, und zwar auch jenen, die im Vergleich zu Italien im Industrialisierungsprozeß weiter fortgeschritten waren. Ich möchte hier nur eine Hypothese zu einem dieser Gründe aufstellen: Die Rechtsvergleichung erfüllte bei der Bildung der Arbeitsrechtsordnungen praktisch die Aufgabe, die in jeder Rechtskultur regelmäßig der Ansammlung juristischer Erfahrung der Vergangenheit zukam. Anders ausgedrückt: Der Rückgriff auf ausländische Quellen ergänzte die auetorilas der Tradition und ersetzte sie stellenweise. Durch die Vermischung von Komparation und Tradition sollten die radikal neuen industriellen Beziehungen erfaßt werden. Das rapide Tempo der sozialen und wirtschaftlichen Veränderung um die Jahrhundertwende verschaffte derjenigen Rechtskultur einen entscheidenden Vorsprung, die zu einem einzelnen Problem auch nur eine halbwegs fortschrittlichere juristische Erfahrung anbieten konnte. Dies machte jedenfalls für alle eine aktuellere und detailliertere Dokumentation unverzichtbar. So gab z. B. für Deutschland das "Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik" die Anregung, das italienische Beispiel in den Blick zu nehmen und die eigene Organisation auf dem Sektor der Statistik zu verbessern. Denn 1889 beschrieb und verarbeitete dort Werner Sombart als aufmerksamer Beobachter der Entwicklungen der Ar23 Umfangreiche Hinweise diesbzgl. finden sich bei GINO GIUGNI: Diritto dellavoro (voce per un'enciclopedia), in: Quaderni di economi dellavoro, 1979, bes. S. 1213.
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beitswelt, der sich lange Zeit auch mit Italien beschäftigte, die Tätigkeit der italienischen Direzione generale della Statistica und deren Ergebnisse in Hinblick auf die abhängige Lohnarbeit24 . Um eine unmittelbare Vorstellung von Umfang und Charakter der vergleichenden Dokumentationstätigkeit in Deutschland zu erhalten, genügt es bereits, beispielsweise die ersten drei Ausgaben des" Handwörterbuchs der Staatswissenschaften" 25 zu überfliegen. Dabei nehmen Schlüsselthemen der Herausbildung des Arbeitsrechts einen großen Raum ein. Es reicht, sich auf Stichworte wie Arbeitsschutzgesetzgebung, Arbeitseinstellung, Arbeitsversicherung zu beschränken, um von der ungeheuren Menge an gesammelten Daten und dem weiten geographischen Einzugsbereich einen Eindruck zu bekommen, vor allem aber von der gewissenhaften redaktionellen Sorgfalt, dank derer die Vergleichung ein tragendes Moment der sytematischen Gliederung des Werkes wird. Italien nimmt einen festen Platz im "Handwörterbuch" ein. Die Daten werden auf zweierlei Weise gesammelt: In der ersten Auflage veröffentlichen italienische Autoren eine Reihe von Artikeln; in der Folge nehmen die von Deutschen verfaßten Stichworte zu Italien zu, ohne daß aber die Praxis der Zusammenarbeit unterbrochen wird. Es ist charakteristisch, daß unter den italienischen Mitarbeitern Namen von Statistikforschern aus dem Ministerialbereich begegnen (wie Bodio, Sbrojavacca und Virgili), und es ist leicht erklärlich, daß ihre Sachkunde von den Verfassern der Enzyklopädie besonders geschätzt wurde. Sie verstanden es nämlich, "vor allen Dingen in der wissenschaftlichen Betrachtung der konkreten Tatsachen die Lösung schwebender 24 Vgl. W. SOMBART: Lohnstatistische Studien, in: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik, II, 1889, S. 259. Über SOMBART und Italien vgl. das bedeutende Werk von ERNESTO RAGIONIERI: Socialdemocrazia tedesca e socialisti italiani 1875-1895. L'influenza della socialdemocrazia tedesca sulla formazione del PSI, (1961), 2. Auf!., Milano 1976, 25 1. Auf!., 6 Bde, Jena 1890-1894, Sachregister 1895, 2 Suppl.-Bde 1895 und 1897; 2. Auf!.; 3. Auf!. 8 Bde, Jena 1909-1911. In dem betreffenden Zeitraum setzte sich die Direktion wie folgt zusammen: Dr. J . Conrad (Prof. d. Staatw., Halle a.S., Geh.Reg.Rat); DR. L. ELSTER (Geh.Ober-Reg.Rat u . votrag. Rat in Berlin); DR. W. LEXIS (Prof. d. Staatw., Gö, Geh.Ober-Reg.Rat); DR. EDG. LOENIG (Prof. d. Rechte, Halle a.S., Geh. Justizrat). Sie führte ein einheitliches Programm für die Artikelgestaltung ein; jeder Artikel umfaßt danach mehrere Abteilungen, so die Untersuchung historischer Aspekte - hier nochmals unterteilt in die verschiedenen Epochen - und die Untersuchung einer beträchtlichen Zahl ausländischer Staaten.
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Fragen zu suchen". Auf dieses Ziel hatten sie ihr Programm von der ersten Edition an festgelegt: "Die wirtschaftliche Geaetr;gebung Deutschlands und aller wichtigeren übrigen Staaten wird in großer Ausführlichkeit dargelegt, aber nicht zum Zwecke einer juristischen Systematik, sondern im Anschluß an die Untersuchung der Frage, welches die Schranken und die Erfolge der staatlichen Einwirkung auf das Wirtschaftslebens sind"26.
Eine solche Perspektive steht ganz im Einklang mit den Überzeugungen von Schlüsselpersönlichkeiten der neuen Generation der italienischen Bürokratie, wie Luigi Bodio, einem Juristen und Direktor des statistischen Amts im Ministero di agricoltura industria e commercio. Seit 1869 nämlich hatte Bodio der Statistik die Aufgabe zugeschrieben, auch für eine korrekte Gesetzgebung jene "neuen Untersuchungen der Tatsachen" zu liefern, die durch die drängende "industrielle Bewegung" notwendig waren. Die Statistik sollte sich dafür eine "universelle" Wissenschaftssprache auf der Grundlage einer den verschiedenen Ländern gemeinsamen Terminologie aneignen 27. Die politischen und wissenschaftlichen Initiativen dieser Länder verfolgte er mit großer Aufmerksamkeit. 5. Ergebnisse
Abschließend läßt sich somit festhalten: (1) In Italien entfaltete sich im Zusammenhang mit der Verrechtlichung der industriellen Beziehungen eine Praxis intensiver Rechtsvergleichung. Sie prägte die Herausbildung der Fachsprache und der Arbeitsrechtswissenschaft mit und erlangte entscheidende Bedeutung für die Schaffung des nationalen Arbeitsrechts.
(2) Die "metodi-comparativi" - d. h. der Gesamtzusammenhang des "Imports", des Austausches und des Vergleichs arbeitsrechtlicher Wissenskerne - waren jedoch nicht homogen und stringent genug, um über das einzelne Beispiel hinaus Verallgemeinerungen 26 Vorwort der Redaktion zum I. Band des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften. 27 Vgl. L. BODIO: Della statistica nei suoi rapporti coll'economia politica e colle scienza affini. Prelezione al corao di statistica della R . Scuola superiore di commercio in Venezia i1 3 dicembre 1863, Milano 1869, S. H . Zu BODIO und den von ihm behandelten Gegenständen D. MARUCCO, (Fn. 16), S. 53 ff.; zur Biographie F. BONELLI, in: Dizionario Biografico degli Italiani, Bd. XI, ad vocem.
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zuzulassen. Man sollte deshalb nicht allgemein von einem deutschen Einfluß auf das italienische Arbeitsrecht sprechen. Vielmehr sollte die internationale Verbreitung und Zirkulation von Begriffen und Theorien von Fall zu Fall untersucht werden. (3) Darüber hinaus spricht ein weiteres Argument gegen eine Verallgemeinerung des Rezeptions- oder Beeinflussungsmodells: im italienischen Fall haben die kollektive Autonomie - und besonders die spezifischen Merkmale der Arbeiterbewegung - bei der Entwicklung und Lenkung der industriellen Beziehungen eine große Rolle gespielt. (4) Die Funktion der rechtsvergleichenden Ansätze in Deutschland und Italien, aber auch in anderen europäischen Ländern, bestand vor allem darin, angesichts des traditionellen Rechtswissens große Materialiensammlungen für die institutionelle Ausgestaltung der Staatspolitik im Bereich der Arbeitsrechtsverhältnisse bereitzustellen.
TeilE
Internationales Privatrecht
Mancini, v. Savigny und die Kodifikation des deutschen internationalen Privatrechts von 1896
Von Heinz-Peter Mansei Für Irene r.um 6.8./10.9.1989
Der italienische Codice civile von 1865 enthält in seinen Einführungsbestimmungen eine der ersten modernen Kodifikationen des internationalen Privatrechts. Sie stammen aus der Feder Pasquale Stanislao Mancinis. Die Wechselbeziehung zwischen der deutschen Rechtswissenschaft und Mancini ist stark. Die Lehren v. Savignys und Mittermaiers haben Mancini beeinflußt und in z. T. kritischer Auseinandersetzung angeregt. Mit Mittermaier verband ihn über den wissenschaftlichen Austausch hinaus eine persönliche Freundschaft1 . Die wissenschaftlichen umd menschlichen Beziehungen Mancinis zu Johann Caspar Bluntschli, dem Schöpfer des Privatrechtlichen Gesetzbuchs für den Kanton Zürich von 1853, das der Schweiz erste, moderne internationalprivatrechtliche Regelungen brachte, und späteren Universitätslehrer in Heidelberg2, wären näher zu beleuchten. Die Perversion der Lehren Vgl. r.u den Ber.iehungen Mancinis und Mittermaiers ERIK JAYME: Mittermaier und Italien, in: WILFRIED KÜPER (Hg.): Carl Joseph Anton Mittermaier- Symposium 1987 in Beideiberg- Vorträge und Materialien, Beideiberg 1988, S. 19 !.; ERIK JAYME: C.A.J. Mittermaier, Italienische Zustände, Beideiberg 1988 (Neuauflage des Werkes von 1844), S. XII f.; vgl. auch HEINZ-PETER MANSEL: Mancini und das deutsche internationale Privatrecht, in: ANTONIO VILLANI/ISTITUTO SUOR ORSOLA BENINCASA DI NAPOLI (Hg.): Pasquale Stanislao Mancini - L 'uomo, lo studioso, il politico - Convegno a cento anni dalla morte - Ariano Irpino 11.-13. novembre 1988, dort weitere Nachweise. Zu der Tagung vgl. HEINZ-PETER MANSEL: Mancini-Kongrell in Ariano Irpino, in: Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts 1989, S. 256 r. 2 Zu BLUNTSCHLI und seiner kollisionsrechtlichen Lehre vgl. ERIK JAYME: Consid6rations historiques et actuelles sur Ia codification du droit international prive, in: Recueil des Cours 177 (1982 IV) S. 9 ff., 29 ff.; KURT SIEHR: Johann
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H.P. Mansel, Mancini und das EGBGB
M ancinis durch die nationalsozialistische Rechtstheorie harrt der
Untersuchung3 .
Ich möchte mich hier der Bedeutung v. Savignys für die Ausbildung der internationalprivatrechtliehen Lehren M ancinis (2.) und - in Umkehrung des Spiegelverhältnisses unseres Tagungsthemas - dem Einfluß Mancinis auf die Kodifikation des deutschen internationalen Privatrechts im Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch, dem sogenannten EGBGB, von 1896 zuwenden (3.). Zuerst soll jedoch ein Blick auf Person und Lehren Mancinis geworfen werden (1.). 1. Mancini - Leben und Lehren
M ancini 4 wurde 1817 im Hinterland Neapels geboren. Er nahm schon im Alter von 12 Jahren sein Jurastudium in Neapel auf6 • Caapar Bluntschli et Je droit des conflits de lois dans Je Code civil du Canton de Zurich 1853/56, in: Liber Memoralis Francois Laurent, Brüssel 1989, S. 1017 ff.; ANTON K. SCHNYDER: Heimatrecht und Internationales Privatrecht - Bluntachli, in: ERIK JAYME/HEINZ-PETER MANSEL (Hg.): Nation und Staat im Internationalen Privatrecht, Heidelberg 1989 (im Erscheinen); vgl. auch (zu BLUNTSCHLIS Verhältnis zum Staatsangehörigkeitsgrundsatz) HEINZ-PETER MANSEL: Personalatatut, Staatsangehörigkeit und Effektivität, München 1988, S. 23 ff. Zu BLUNTSCHLIS Verständnis von der Nation vgl. FR. J. NEUMANN: Volk und Nation, Leipzig 1888, S. 5 f. Zu BLUNTSCHLI vgl. auch REGINA BARSARA WEIGLE: Die Staatsrechtslehrer der Universität Heidelberg im 19. Jahrhundert Lebensbilder und Forschungabeiträge, Frankfurt, Bern u. a. 1986, S. 76 ff., 230 ff. 3 Ein erster Verauch wird unternommen bei HEINZ- PETER MANSEL: Mancini, (Fn. 1). 4 Zu Mancinia Leben und Werk vgl. ERIK JAYME: Paaquale Stanislao ManciniInternationales Privatrecht zwischen Risorgimento und praktischer Jurisprudenz, Ehelabach 1980. Eine erweiterte, ins Italienische übersetzte Ausgabe erschien 1988 in Padua unter dem Titel: Paaquale Stanislao Mancini - II diritto internazionale privato tra Risorgimento e attivita forense. Dort zahlreiche biographische und bibliographische Nachweise. Vgl. auch ERIK JAYME: Paaquale Stanislao Mancini (18171888) - Die Nation als Rechtsbegriff im Internationalen Privatrecht, in: Juristische Schulung 1988, S. 933 ff. Weitere Nachweise bei HEINZ-PETER MANSEL: Mancini-Kongre8, (Fn. 1); vgl. zuletzt ANTONIO VILLANI: Paaquale Stanislao Mancini- Meridionalista d'Europa, Neapel ohne Jahr (1989). 5 Vgl. FAUSTO GREMALDI: Pasquale Stanislao Mancini - Breve Biografia, in: Comune di Castel Baronia (Avellino), Commemorazione del Centenario della morte di Pasquale Stanialao Mancini (Castel Baronia 1817 - Napoli 1888), 1988, S. 1.
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In der "Stadt der Advocaten"6 begann er mit 18 Jahren eine äußerst erfolgreiche Karriere als Anwalt, die ihn auch bald in politische Ämter führte. Im Jahre 1848 wurde er in das Parlament des Königreichs beider Sizilien gewählt. Weil er sich gegen die Überwachung des Parlaments auflehnte, mußte er kurze Zeit später nach Turin, in das liberale Piemont, fliehen. Schon in Neapel hatte er als "privato docente", später auch an der Universität gelehre. Er trat für die Einigung Italiens ein, wurde Abgeordneter im neuen italienischen Parlament, 1862 Minister, 1876-1878 Justiz-, 1881-1885 Außenminister. Ab 1872 war er Professor in Rom. Mancini gilt als juristisches und politisches Universalgenie, trat auch als Verfasser von Opernarien und Lyrik hervor8 , war der neapolitanischen Aufklärung Vicos verhaftet9 . Kurzum, er war der Prototyp 6 Eine Einschätzung von VON SAVIGNY, vgl. FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: Ueber den juristischen Unterricht in Italien, in: ders., Vermischte Schriften Bd. IV, Berlin 1850 (Neudruck Aalen 1981), S. 334 ff., italienische Fassung in: Ragionamenti atorici di diritto del Prof. F. C. Savigny tradotti dall'originale tedesco e preceduti da un discorso da A. Turchiarato Bd. IV, Neapel 1852, S. 67 ff. 7 Vgl. FERDINANDO TREGGIARI: Scienza e insegnamento del diritto tra due seculi: l'opera e Ia fortuna Emanuele Gianturco, in: ALDO MAZZACANE (Hg.): L'esperienza giuridica di Emanuele Gianturco, Neapel 1987, S. 75 f. 8 Nachweise bei HEINZ-PETER MANSEL: Mancini-KongreB, (Fn. 1). Zur Wertung als Universalgenie vgl. die Gedächtnisrede GIANTURCOS, EMANUELE GIANTURCO: In memoriam di P. S. Mancini, in: G. GRASSO: Ricordi monumentali a Pasquale Stanislao Mancini ed a Francesco de Sanctis in Ariano di Puglia - 8. novembre 1903, Ariano 1904, S. 31 ff.; dazu die Besprechung in: La Critica, III, 1906, s. 167 ff. 9 Vgl. ERIK JAYME: Mancini (1980}, (Fn. 4), S. 23 f. = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 61 ff.; ferner ders., Pasquale Stanislao Mancini (1817-1888} - L'attualita del suo pensiero (Vortrag in Rovereto am 30.9.1988, der in den Jahrbüchern der Accademia Roveretana veröffentlicht werden wird), bei Fn. 5; dort auch Hinweise zu MANCINIS Verhältnis zu GIAN DOMENICO ROMAGNOSI. Vgl. auch E. L. CATALLANI: II diritto internazianale privato e i suoi recenti progressi Bd. II: II Savigny, Ia Scuola italiana e gli sviluppi piil recenti della dottrina dell'ordine pubblico, 2. Aufl. Turin 1905, S. 23 ff. Bereits in seiner ersten, vielbeachteten Rede von 1861 ber.ieht sich MANCINI mit Nachdruck auf VICO (und auch ROMAGNOSI), den er voll bewunderndem Enthusiasmus zitiert. Vgl. PASQUALE STANISLAO MANCINI: Della nazionalita come fondamento del diritto delle genti - Prelezione al corso di diritto internazianale e marittimo - Pronunziata nella R . Universita di Torino nel 22 gennaio 1851, in: ders., Diritto internazianale - Prelezioni con un saggio sul Machiavelli, Neapel 1873, S. 19 ff. Zur philosophischen Kultur Neapels in der zweiten
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des weit gebildeten, liberalen, auch musisch-philosophisch schaffenden neapolitanischen Anwaltsgelehrten und Politikerjuristen10• Er starb im Jahr 1888. In Vorträgen, Prozeßschriften und Aufsätzen 11 errichtete er sein kollisionsrechtliches Lehrgebäude Hälfte des 19. Jahrhunderts vgl. zuletzt: EUGENIO GARIN: Da un secolo all'altro, Neapel ohne Jahr (1989). Zu MANCINIS Rechtsphilosophie vgl. zuletzt FRANCESCO GENTILE: Sulla Riforma della Facolta di Giurisprudenza - II poato della filosofia del diritto negli studi legali secondo Pasquale Stanislao Mancini, in: Rivista di diritto civile 1989 II, S. 341 ff. 10 Zu diesem neapolitanischen Juristentypus vgl. FERDINANDO TREGGIARI, (Fn. 7), S. 79; vgl. auch FRIEDRICH CARL V. SAVIGNY: Juristischer Unterricht, (Fn. 6), S. 334 f. l1 Vgl. insbesondere PASQUALE STANISLAO MANCINI: La vita de' popoli nell'umanita - Prelizione al corso di diritto internazianale pubblico, privato et marittimo - Pronunziata nella Universita di Roma nel 23 gennaio 1872, in: ders., Diritto internazionale, (Fn. 9), S. 163 ff.; ders., De l'utilite de rendre obligatoires pour tous !es Etats, sous Ia forme d'un ou de plusieurs traites internationaux, un certain nombre de regles generales du droit international prive pour assurer Ia decision uniforme des conflits entre les differentes legislations civiles et criminelles, Institut de in: Clunet (Journal du droit international prive) 1 (1874), S. 291-299 droit international - Travaux preliminaires a Ia aession de La Haye (1874-1875) Ure commission: Regles pour assurer Ia decision uniforme des conflits entre !es diverses legislations civiles et criminelles. - Rapport deM. Mancini, in: Rev. dr. int. leg. comp. 7 (1875), S. 345-356. Zu den italienischen Fassungen dieses Textes vgl. die Nachweise bei ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 45 unter dem Stichwort "Utilita" = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 85; PASQUALE STANISLAO MANCINI: Corte di Appello di Lucca - Per gli Eredi Testamentari del Cu Conte Caid Nissim Samama contro i pretendenti alla sua eredita ab intestato - Ricerca della Lege Regolatrice della Sucessione del Testatore, Roma 1879, in: ders., Questioni di diritto Bd. II, Neapel 1880, S. 230. Eine Zusammenstellung der internationalprivatrechtliehen Schriften MANCINIS findet sich bei ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 43 Cf. = Mancini (1988), (Fn. 4) , S. 84 Cf.; MAX GUTZWILLER: Der Einfluß Savignys auf die Entwicklung des Internationalprivatrechts, Freiburg (Schweiz) 1923, S. 150 Cf. Aus der neueren deutschsprachigen Literatur vgl. zu den international-privatrechtliehen Lehren MANCINIS ERIK JAYME: a.a.O., S. 3 ff. = a.a.O., S. 20 ff. et passim; ders., Nation, (Fn. 4), S. 933 ff.; CHRISTIAN VON BAR: Internationales Privatrecht Bd. I: Allgemeine Lehren, München 1987, Rz. 474 ff.; GERHARD KEGEL: Internationales Privatrecht, 6. Auf!. München 1987, S. 120 ff.; MAX KELLER/KURT SIEHR: Allgemeine Lehren des internationalen Privatrechts, Zürich 1986, S. 62 ff.; HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 15 ff.; PAUL HEINRICH NEUHAUS: Das Internationale Privatrecht im italienischen Zivilgesetzbuch von 1942, in: RabelsZ 15 (1949/60), S. 25 ff.; KLAUS VOGEL: Der räumliche Anwendungsbereich der Verwaltungsrechtsnorm - Eine Untersuchung
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auf drei Grundbegriffen: der nazionalita, der liberta und der sovranita.
a) Kollisisionsrecht als Völkerrecht Für ihn lassen sich Völkerrecht und internationales Privatrecht nicht voneinander scheiden 12 . Das internationale Privatrecht ist bei Mancini gerade nicht das "illegitime Schoßkind des Völkerrechts"13. Er spricht von dem umfassenden Diritto internazionale. Diese Gleichstellung zeigt sich im universitären Leben darin, daß eigens für Mancini an der Turiner Universität 1850 erstmals ein Lehrstuhl für Völkerrecht und internationales Privatrecht ("diritto pubblico esterno ed internazionale privato") geschaffen wurde 14. Vielzitierter Ausgangspunkt seines Systems ist die Rede, mit der er 1851 die Vorlesungen in Turin aufnahm 15 . In ihr entwickelte er seine "idea prima e cardinale ehe dominera nel mio (Mancinis~ Corso: Ia nazionalitil come base razionale del Diritto del/e genti." 1 Er kündigte an, daß er das Schwergewicht seines "Corso" auf "Ia Scienza del Diritto Internazionale Pubblico e Privato" legen werde 17. Es ist deshalb unrichtig 18, wenn immer wieder behauptet
über die Grundlagen des Internationalen Verwaltungs- und Steuerrechte, Frankfurt, Berlin 1966, S. 94 ff.; vgl. ferner ERIK JAYME: Conaideration, (Fn. 2), S. 44 f. 12 Vgl. etwa PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 227 ff., 285 ff. = Institut, (Fn. 11), S. 333 ff., 345 ff. Vgl. dazu ERIK JAYME: Nation, (Fn. 4), S. 934; den., Dionisio Anzilotti und das deutsche Internationale Privatrecht (in diesem Bd.), bei Fn. 6; MAX KELLER/KURT SIEHR, (Fn. 11), S. 63 f .; HELMUT COING: Europäisches Privatrecht Bd. II: 19. Jahrhundert, München 1989, s. 261. 13 So das Bild von KAHN, vgl. FRANZ KAHN: Die einheitliche Kodifikation des internationalen Privatrechts durch Staatsverträge, Leipzig 1904, S. 6. 14 Das Gesetz ist abgedruckt bei PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 6, Fn. 1. Nachweise zur Genese dieses Lehrstuhls bei ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 15, Fn. 67 = Mancini (1988) , (Fn. 4), S. 40, Fn. 67. 16 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 1 ff. 16 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 9 (Hervorhebung im Original) . 17 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 8. 18 Vgl. dazu auch RENE CASSIN: La nouvelle conception du domicile dans le reglementdes conflits de Iais, in: Recueil des Coure 34 (1930 IV), S. 713; sowie ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 1, Fn. 3 = Mancini (1988), (Fn. 4}, S. 16, Fn. S; HEINZ-PETER MANSEL: Pereonalstatut, (Fn. 2), S. 16, 19, Fn. 72.
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wird 19 , es sei sein Schüler Esperson gewesen, der Mancinis völkerrechtliche Lehren auf das internationale Privatrecht übertragen habe und dem sich Mancini dann in seiner Genfer Rede von 1874 vor dem Institut de Droit international 20 angeschlossen habe. Deutlicher als in der allgemein bekannten Turiner Antrittsrede von 1851 hat er sich in der Vorlesung des Jahres 1852 zu seinem methodischen Grundanliegen geäußert: "In tutte queste materie (auch: Diritto Internazianale Privato) io seguitero sempre a dedurre dal Principio della Nazionalita le dottrine e Ia Verita secondarie ehe Ia scienza e in obbligo di dimonstrare." 21 Und so entwickelt er in den Folgejahren lange vor dem Genfer Vortrag aus dem Nationalitätsprinzip heraus seine Vorstellung eines völkerrechtlichen internationalen Privatrechts der freien und gleichberechtigten Nationen und Individuen 22 .
b) Die Nation als "Monade" des internationalen Rechts Für ihn ist die Nation Basis des Völkerrechts: Sie ist die "unita elementare, Ia monade razionale della scienza" 23 . Die nazionalita gilt als "Ia forma necessaria e spontanea sotto Ia quale perpetuamente apparero Je famiglie umane." 24 Gerade weil die Nation 19
So etwa von MAX GUTZWILLER, (Fn. 11), S . 152, Fn. 2; EDUARD WAHL: Zur Entwicklung des Personalstatuts im europäischen Raum - Rückblick und Ausblick, Festschrift zum 50jährigen Bestehen des lnstiuts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, 1967, S. 137; ähnlich L. I. DE WINTER: Nationality or Domicile - The present state of affairs, in: Recueil des Cours 128 (1969 111), S. 372; PAUL HEINRICH NEUHAUS: Die Grundbegriffe des Internationalen Privatrechts, 2. Aufl. Tübingen 1976, S. 94, Fn. 274; KLAUS VOGEL, (Fn. 11), S. 95, Fn. 30; vgl. auch CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 478. 20 Pasquale Stanislao Mancini: Oe l'utilite, (Fn. 11), S. 220 ff., 285 ff. = Institut, (Fn. 11), S. 329 ff. 21 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Lineamenti del veccio edel nuovo diritto delle genti - Prelizione del corso accademico dell'anno 1852 insegnato nella R. Universita di Torino, in: ders., Diritto internazionale, (Fn. 9), S. 87. 22 Vgl. etwa PASQUALE STANISLAO MANCINI: Lineamenti, (Fn. 21}. S. 74 f.; ders., De'progressi del diritto nella societa, nella legislazione e nella scienza durante !'ultimo secolo ni rapporto co'principi e con gli ordini liberi - Discorso pronunziato nella Grande Aula della R . Universita di Torino per Ia solenne inaugurazione dell'anno accademico 1858-59, in: ders., Diritto internazionale, (Fn. 9), S. 155 f .; ders., La vita, (Fn. 11), S. 209 ff., {Rom 1872). 23 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 8 . 24 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn . 9), S. 42.
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vorrechtlich in dem Sinne ist, daß sie der menschlichen Ordnung vorgegeben und einer willkürlichen Definition durch die staatliche Macht nicht zugänglich ist, sei sie der natürliche Zustand eines menschlichen Gemeinwesens. Mancini fährt fort: "Ci proveni in fine Ia verita di quella sentenza del Vico, ehe le cose fuori del loro stato naturale ne si adagiano, ne vi durano, additandoci Ia perenne impotenza di tutti gli umani artifizi contro le necessita della natura, Ia vanita di tutt'i tentativi ripetuti nel giro de'secoli per opprimere sotto Ia mole di gigantesche creazioni politiche, il gran fatto naturale della partizione dell' umanita in nazionalita distinte per caratteri assai piu certi e durevoli degl'instabili arbitrii delle combinazioni diplomatiche." 25 c) Bilaterale Kollisionsnormen und Rechtsgleichheit
Ein Schi üsselsatz ist für M ancini die "Coesistenza della Nazionalita"26. Daraus folgert er die Gleichberechtigung und Ebenbürtigkeit aller Nationen. Sie seien aber auch unterschiedlich wie Individuen und hätten ein Recht auf Wahrung ihrer Individualität. Im internationalen Privatrecht, das sich nicht dem Zusammenleben der Nationen, sondern dem der Menschen zuwendet, folge aus der Ebenbürtigkeit der Nationen und aus dem Respekt vor dem Einzelnen, daß Ausländern im Inland die gleichen bürgerlichen Rechte und Freiheiten zustehen müßten, unabhängig davon, ob die Reziprozität verbürgt ist. Zivilrechtliche Sonderregelungen für Fremde seien untersagt 27 . Mancini schreibt 1858/59: "Nel sistema del diritto Internazionale Privato quasi piu non rimangono le vertigia dell'albinaggio e dell'antica inospitalita, la condizione degli stranieri da per tutto e migliorata, ne piu si crede esercitare a loro riguardo un atto di generosa cortesia, quando si rispetta in essi l'humana personalita, il diritto perfetto dell'uman1ta." 28 Im Kollisionsrecht bedeute das, daß die Kollisionsnorm bilateral zu sein hat: Das Personalstatut jedes Menschen ist nach dem gleichen Prinzip zu bestimmen, d.h. für In- und Ausländer ist der gleiche Anknüpfungspunkt zu verwenden. Die Gleichheit der 25 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 46. 26 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 26. 27 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Lineamenti, (Fn. 21) , S. 74 f.; ders., De'progessi, (Fn. 22), S. 155 ff. ; ders., La Vita, (Fn. 11), S. 210; ders., De L'utilite, (Fn. 11), S. 293 f. = Institut, (Fn. 11), S. 350 f. 28 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De'progressi , (Fn. 22), S. 155 ff.
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Verweisungsnormen ist für Mancini deshalb begriffliches wie völkerrechtliches Postulat29 .
d) Nationalitätsprinzip Bei der Anknüpfung selbst will Mancini aber der Verschiedenheit der Nationen Rechnung tragen. In Anlehnung an Vico 30 nennt Mancini als Elemente, die eine Nation formen, "Ia regione, Ia razza, Ia lingua, le costumanze, Ia storia, le leggi e le religioni"31. Dabei betont er unter Hinweis auf Fichte die hervorragende Bedeutung der Sprache32 . Er fährt fort: "Ma Ia doppia serie fin qui discorsa di condizioni Naturali e Storiche, la comunanze stessa di territorio, di origine e di lingua ad un tempo, ne pur bastano ancora a costituire compiutamente una nazionalitil siccome noi Ia intendiamo. Questi elementi sono come inerte materia capace di vivere, ma in cui non fu spirato ancora il soffio della vita. Or questo spmto vitale, questo divino compimento dell'essere di una Nazione, questo principio della sua visibile esistenza, in ehe mai consiste? Signori, esso la coscienza della nazionalitil, il sentimento ehe ella acquista di se medesima e ehe Ia rende capace di cosittuirsi al di dentro e di manifestarsi al di fuori. Moltiplicate quanto volete i punti di contatto materiale ed esteriore in mezzo ad un'aggregazione di uomini; questi non formeranno mai una Nazione senza Ia unita morale di un pensiero comune, di una idea predominante ehe fa una societa quel ch'essa e, perehe in esse vien realizzata." 33 Durch das neue subjektive Element der Nation34 gewann das Nationalitätsprinzip eine stärkere politische Bedeutung, verlangte doch das Nationalbewußtsein danach, die Nation auch als recht29 FRANZ KAHN, (Fn. 13), S. 210. 30 ERIK JAYME: Nation, (Fn. 4), S. 934. 31 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 27. 32 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 31; vgl. auch ders., La Vita, (Fn. 11), S. 189. Kritisch zur Sprache als Nationenmerkmal etwa FR. J. NEUMANN, (Fn. 2), S. 56 ff.; aus heutiger Sicht relativierend ALBERT F. REITERER: Die unvermeidbare Nation, Frankfurt, New York 1988, S. 224 ff. 33 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 35 (Hervorhebungen im Original). 34 ERIK JAYME: Nation, (Fn. 4), S. 934. Kritisch zum nationalen Zusammengehörigkeitsgefühl etwa FR. J. NEUMANN, (Fn. 2), S. 63 ff.; es als konstitutives Merkmal ansehend z. B. ALBERT F. REITERER, (Fn. 32), S. 89, 194 ff.
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liehe Einheit anzuerkennen35. Mit der Figur der coscienza della nazionalita hat Mancini auf Überlegungen Giuseppe Mazzinis zurückgegriffen36. Ma::zini (1805-1872), Genueser Anwalt und spiritus rector des radikalen Teils der italienischen Einigungsbewegung, trat für eine allein auf dem Willen der italienischen Nation beruhende Republik ein. Er initiierte deshalb 1870 einen Aufstand gegen das neue Königreich Italien, der allerdings erfolglos blieb.
Mancinis Nationenverständnis ist personalistisch. Ihm erscheint die Nation als großes Individuum37. Sie ist "una unita di territorio, di origine, di costumi e di lingua conformati a comunanza di vita e di coscienza sociale" 38. Das Recht und die Pflicht zum Zusammenschluß leitet er aus der "liberta di ciascun uomo" ab: "Il diritto di nazionalita adunque non e ehe Ia stessa liberta dell'individuo, estesa al comune svilupamento dell'aggregato organico degl'individui ehe formano le nazioni; Ia nazionalita non e ehe Ia esplicazione colletiva della liberta, ( ... )"39 . Die Wechselwirkung zwischen Nation und Individuum sieht Mancini nicht nur auf der Ebene der Rechte, sondern auch im Tatsächlichen. Die Elemente, die die Nation definierten, prägten auch die Angehörigen der Nation. Die Nationalität wird zum Ausdruck der Persönlichkeit des Einzelnen. Die Rechtsnormen der Nation "appartiennent aux hommes comme hommes, et non pas comme membres d'une societe politique." 40 M ancini bezieht sich hier zur Rechtfertigung seiner These auch auf M ontesquieu 35 ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4). S. 26 = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 26. 36 EUGENIO DI CARLO: II concetto di nazionalita in P. S. Mancini, in: II Circolo giuridico, Palermo 1957, Sonderdruck, S. 1, unter Hinweis auf ALESSANDRO LEVI: La filoaofia politica di Giuseppe Mazzini, Bologna 1917, S. 216; FERDINANDO TREGGIARI: Nationales Recht und Recht der Nationalität Mancini, in: ERIK JAYME/HEINZ-PETER MANSEL (Hg.): Nation und Staat im Internationalen Privatrecht, Heidelberg 1989 (im Druck), bei Fn. 13. Auch bei LAURENT, der auf dem Fundament der Lehren MANCINIS sein kollisionsrechtliches Werk errichtete, wird die Nähe zu MAZZINI deutlich. V gl. HANS-ULRICH JESSURUN D'OLIVEIRA: Princ:ipe de nationalite et droit de nationalite, in: Liber Memorialis Francois Laurent, Brüssel 1989, S. 824. 37 Vgl. dazu nur ERIK JAYME, (Fn. 3), S. 934.
38 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9). S. 37. 39 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 37 f. Vgl. auch ders., De l'utilite, (Fn. 11), S. 292 =Institut, (Fn. 11), S. 349 f. 40 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 292 f., 224 f. = Institut, (Fn. 11), S. 349 f.
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und Hippokrates4 \ die beide meinten, Geographie und Klima beeinflußten die Menschen, folglich müßten die Gesetze dem Rechnung tragen und sich je nach Klimazone und Landschaftstyp unterscheiden42 . Das Recht einer Nation ist daher für Mancini das dem Individuum angemessene Recht, sobald personenbezogene Rechtsverhältnisse in Rede stehen. Der Anknüpfungspunkt müsse deshalb die nazionalita sein, genauer: Da die rechtliche Organisationsform der Nation der Staat sei, sei ·an die Staatsangehörigkeit anzuknüpfen43.
M ancini gab so dem kollisionsrechtlichen Staatsangehörigkeitsprinzip eine theoretische Basis und Rechtfertigung, die bis dahin fehlte, obgleich es schon seit 1804 im französischen Code civil und seit 1811 im Österreichischen ABGB erstmals Gesetz geworden war, allerdings aus anderen als kollisionsrechtlichen Gründen44. e) Grenzen der Geltung des Heimatrechts Die Geltung des Nationalrechtes schränkt Mancini durch zwei Prinzipien ein: Aus der Freiheit und Selbstbestimmungsmacht des 41 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 29, Fn. 1; zur "Klimaargumentation" bei MANCINI vgl. auch dere., De l'utilite, (Fn. 11), S. 224 ff., insbesondere auch S. 293 =Institut, (Fn. 11), S. 332; dazu vgl. etwa noch FRANCO MOSCONI: Capacita nel diritto internazionale privato, S. 5 ff.; in: Digeato, 4. Aufl. 1988; sowie MAX GUTZWILLER: Nationalismus und Internationalismus im Recht, in: ANTON HEINI (Hg.): Max Guhwiller, Elemente der Rechtsidee - Ausgewählte Aufsätze und Reden, Basel, Stuttgart 1964, S. 45 ff., 58. 42 Zur Bedeutung des "Klimaarguments" in der kollisionsrechtlichen Literatur vor und nach MANCINI bis in die heutige Zeit als Begründungstopos des Staatsangehörigkeitsprinzips vgl. HEINZ-PETER MANSEL: Pereonalstatut, (Fn. 2), s. 17. 43 Oft wird es als inkonsequent angesehen, daß Mancini nicht an die nazionalita im Sinne einer Volkszugehörigkeit, sondern an die cittadinanza (Staatsangehörigkeit) angeknüpft hat; vgl. etwa LUDWIG VON BAR: Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts Bd. 1, 2. Aufl. Hannover 1889, S. 107; relativierend CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 479. Dazu ausführlich mit Nachweisen HEINZ-PETER MANSEL, Personalstatut, (Fn. 2), S. 25 ff.; ERIK JAYME: Nation, (Fn. 4), S. 935. Zur Gleichsetzung von Nation und Staat bei FRANCOIS LAURENT, einem Anhänger der Lehren MANCINIS, vgl. HANS-ULRICH JESSURUN D'OLIVEIRA, (Fn. 36), S. 834. 44 Vgl. dazu HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2) S. 1 ff., 13 f.
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einzelnen folge, daß in Bereichen, die weniger eng mit der Persönlichkeit verknüpft sind, z. B. im internationalen Vertragsrecht, nach dem Willen der Parteien das anzuwendende Recht zu bestimmen sei. Die "liberta" drückt sich hier aus46 . Aber nicht nur die "liberta" begrenzt den Anwendungsbereich des Nationalitätsprinzips. Auch die "sovranita" ziehe eine Grenze, d. h. die Souveränität und territoriale Macht des Staates, der die öffentliche Ordnung zu wahren habe 46 . Der ordre public ist bei M ancini kein bloßes Korrektiv, sondern wird zu einem tragenden Anknüpfungsprinzip. Er sei zu beachten, da er Ausdruck der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Staates sei. Jedem der drei Grundprinzipien ordnet Mancini einen Teilbereich der Rechtsordnung zu. Die sovranita, der ordre public, bestimmt den Bereich des droit public et politique. Das Gegenstück ist das droit prive et domestique. Es ermöglicht die freie Entfaltung des Individuums in seinen Rechtsbeziehungen zu anderen Menschen. Die "partie necessaire" dieses Rechtsbereichs ist kollisionsrechtlich durch das Prinzip der nazionalita geprägt, die "partie volontaire" durch das der liberta47. 2. Maocioi und -v. Savigoy Mancini und v. Savigny (1779-1861) werden - neben Story - zu den drei Großen des Kollisionsrechts des 19. Jahrhunderts gezählt48, die bleibenden Einfluß auf das internationale Privatrecht unserer Zeit ausüben. Nur selten werden allerdings in der Rechtswissenschaft unseres Jahrhunderts die Verbindungslinien, die zwischen den kollisionsrechtlichen Lehren beider bestehen, näher betrachtet49 . Eine neuere Arbeit, die dieser Frage u. a. 4& PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 293 ff. , 298 = Institut, (Fn. 11), S. 349 ff., 356. 46 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 296 ff., 299 Institut, (Fn. 11), S. 362 ff. 47 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 293 ff. = Institut, (Fn. 11), S. 360 ff. 48 MAX GUTZWILLER: Internationales Privatrecht: Die drei Großen des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für Vischer, Zürich 1983, S. 131 ff. 49 Vgl. vor allem MAX GUTZWILLER, (Fn. 11), S. 150 ff.; Gutzwiller macht sich die Forschungsergebnisse von E. L. CATALLANI, (Fn. 9), S. 168 ff. , 170 ff., zu eigen (Gutzwiller, (Fn. 11), S. 166 ff.) ; vgl. auch CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz.
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nachgeht, ist noch unveröffentlicht60. Mancini brachte v. Savignys internationalprivatrechtliehen Lehren großen Respekt entgegen, lehnte aber das kollisionsrrechtliche Gesamtsystem v. Savignys ausdrücklich ab 51 • Dennoch wurzeln seine konzeptionellen Ansätze vielfach bei v. Savigny. In dem im Jahr 1849 erschienenen achten Band seines "Systems des heutigen Römischen Rechts" 52 hat v. Savigny seine Sicht des internationalen Privatrechts in geschlossener Form vorgelegt63 . Teilweise wird angenommen, er habe sich vor 1849 noch nicht intensiv mit diesem Rechtsgebiet befaßt64• Mitschriften der Pandekten-Vorlesung v. Savignys an der Berliner Universität im Wintersemester 1840/41 zeigen jedoch, daß v. Savigny bereits zu dieser Zeit die Grundzüge seines Systems des internationalen Privatrechts ausgebildet hatte. Es ist das Verdienst Sakuradas, diese 482; ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 1 f. = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 17 ff. Vgl. auch LEO STRISOWER: Die italienische Schule des internationalen Privatrechtes, Rev. Separat-Abdruck aus der Gerichtshalle Nr. 20 bis 26, Jg. 1881, s. s ff. 5 FRANK C. CHAPMANN li: Nicht allein das Angeborene - Ein Venuch zum Herausarbeiten der philosophischen und theoretischen Grundsätze der Ursprünge des Internationalen Privatrechts, Magisterarbeit vom 23.6.1987, Juristische Fakultät der Universität Tübingen, S. 42-86, 89 ff. Der Autor ist Chef de Ia Bibliothl!que de !'Institut suisse de droit compare, Lausanne. 51 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 287 = Institut, (Fn. 11), S. 345. Zu MANCINIS Kritik aus heutiger Sicht vgl. PAOLO MICHELE PATTOCHI: Rl!gles de rattachement localisatrices et rl!gles de rattachement a caractl!res substantiel, Genl!ve 1985, Rz. 442. 52 Berlin 1849 (Nachdruck Darmstadt 1956 und 1981). Zu den italienischen Übersetzungen vgl. sogleich Fn. 53. 53 Der achte Band wurde 1850/51 durch eine ausführliche Zusammenfassung in italienischer Sprache durch BELLAVITE erstmals der italienischen Fachwelt nähergebracht. Vgl. LUIGI BELLAVITE: Savigny - Diritto internazianale privatoSuccinta esposizione della dottrina di ... sul diritto internazianale privato, e aulla retroattivita della !egge compreso nel vol. VIII ed ultimo dell'opera Il Sistema dell'odierno diritto romano, in: Giornale per le scienze politico-legali I (Mailand 1850) S. 706-726, li (Mailand 1851), S. 1-35; 490-509, 664-679. (Zitiert nach FILIPO RANIERI: Savignys Einfluß auf die italienische Rechtswissenachaft, in: Ius Commune VIII (1979), S. 206, Fn. 87; dort auch weitere Nachweiae zu italienischen übenetzungen von SAVIGNYS "System" im 19. Jahrhundert) . 54 Vgl. z. B. MAX GUTZWILLER, (Fn. 11), S. 8 ff.; FRITZ STURM: Savigny und das internationale Privatrecht seiner Zeit, in: Iua Commune VIII (1979), S. 96 f.; PAUL HEINRICH NEUHAUS: Abschied von Savigny?, in: RabelsZ 46 (1982), S. 5.
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Quellen zugänglich gemacht zu haben66 . - Im Gegensatz zu v. Savigny hat Mancini sein internationales privatrechtliches Konzept in verschiedenen Einzelpublikationen entwickelt66• a) Kodifikation und Rechtsentstehung M ancini konnte und wollte sein kollisionsrechtliches Ideengebäude in die Gesetzeswirklichkeit umsetzen. Hierin besteht ein großer Unterschied zu v. Savigny, der bekanntlich dem Kodifizierungsgedanken ablehnend gegenüberstand67. Mancini warnte 55 YOSHIAKI SAKURADa: Zur !PR-Theorie von Savigny - insbesondere über seinen Gedanken der völkerrechtlichen Gemeinschaft (in japanischer Sprache), in: Hokkaido Law Review 33 (1982/83), S. 689 ff., 944 ff., 1039 ff., 1463 ff. Die Mitschriften der Vorlesungshörer W. A. KUCKUCK und ALBERT VON GRöNING sind in deutscher Sprache veröffentlicht a.a.O., S. 944-951 und Hokkaido Law Review 35 (1985), S. 643- 655. 56 Vgl. die Nachweise in Fn. 11. 67 Vgl. nur FRIEDRICH CARL V. SAVIGNY: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814; auch veröffentlicht in: JACQUES STERN (Hg.): Thibaut und Savigny -Ein programmatischer Rechtsstreit auf Grund ihrer Schriften, mit Nachträgen der Verluser und Urteilen der Zeitgenossen, Berlin 1914 (Nachdruck Darmstadt 1969); und in: HANS HATTENHAUER: Thibaut und Savigny - ihre programmatischen Schriften, München 1973. GIUSEPPE TEDESCHI hat die Schrift in daa Italienische übersetzt: Savigny, La vocazione del nostro secolo per Ja Jegislazione e Ja giurisprudenza - Con un'introduzior.'! di Giuseppe Tedeschi, Della vita scientifica e delle opere di Savigny e della importanza della scuola storica del diritto, Verona 1857 (Nachdruck: Bologna 1968); zur früheren Übersetzung von Lo Gatto und Janne vgl. FILIPO RANIERI: Savigny e iJ dibatto italiano sulla codificazione nell'eta del Risorgimento, in: Quaderni fiorentini per Ia storia del pensiero giuridico moderno IX (1980): Su Federico Carlo di Savigny S. 360 f., Fn. 10. Eine auszugsweise italienische übersetl:ung findet sich bei FRANCADE MARINI (Hg.): Friedrich Karl von Savi&ny - Antolo&ia di scritti giuridici, Bologna 1980, S. 43-72, und ALDO MAZZACANE: Savingy e Ja storiografia giuridica tra storia e sistema, Neapel 1974, S. 62- 73. Vgl. ferner FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: Stimmen für und wider neue Gesetzbücher, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 3 (1816) S. 1-52, auch veröffentlicht in: ders., Vom Beruf unserer Zeit, a.a.O. (ab der 2. Aufl.), S. 163-191 (und in den Nachdrucken); auszugsweise ins Italienische übenetzt von FRANCA DE MARINI: Savigny, a.a.O., S. 72, 76 und ALDO MAZZACANE: Savigny, a.a.O ., S. 86. Zu diesen beiden Schriften VON SAVIGNYS v&l. aus der italienischen Literatur etwa auch GIULIANO MARINI: Friedrich Carl von Savigny, Napoli 1978, S. 91 ff.; PIO CARONI: La cifra codificatoria nell'opera di Savigny, in: Quademi fiorentini IX, a.a.O., S. 69 ff., 71 ff.; MARIO BRETONE: II ftBeruf' e Ja
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denn auch vor dem lähmenden Einfluß der Historischen Schule auf die Kodifikationsbewegung58 • Er verfaßte als Mit§lied einer Gesetzgebungskommission des italienischen Parlaments5 die Artikel 6-12 der Disposizioni sulla pubblicazione, interpretazione ed applicazione delle leggi in generate des italienischen Codice civile vom 25. Juni 1865, die das Kollisionsrecht regelten. Oft wird die Autorenschaft Mancinis bezweifelt60 oder abgeschwächt dar~estellt61 • Aber aus den Processi verbali ergibt sich das Gegenteil 2. Mancini teilt selbst mit, daß die Artikel von ihm Ricerca del "tempo claaaico", in: Quaderni fiorentini IX, a.a.O., S. 189 ff. Aus der neueren deutschen Literatur relativierend zu den scheinbaren Antipoden im Kodifikationastreit THIBAUT/SAVIGNY, vgl. die schöne Abhandlung von JOACHIM RÜCKERT: Beideiberg um 1804 oder: die erfolgreiche Moderniaierung der Jurisprudenz durch Tibaut, Savigny, Heiae, Martin, Zachariä u . a., in: FRIEDRICH STRACK (Hg.): Beideiberg im säkularen Umbruch, Stuttgart 1987, S. 83 ff., (dort weitere Nachweiae); 11um Kodifikationsgedanken des 19. Jahrhunderts vgl. jetzt HELMUT COING, (Fn. 12), S. 15 ff. 58 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De' progressi, (Fn. 22), S. 143. Dazu FERDINANDO TREGGIARI, (Fn. 36), in: ERIK JAYME/HEINZ-PETER MANSEL (Hg.), (Fn. 2), bei Fn. 42; FILIPO RANIERI, (Fn. 57), S. 368. 59 Dazu vgl. ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4) , S. 7 f. = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 27 f. ; weitere Nachweise bei ERIK JAYME: Nation, (Fn. 4), S . 933, Fn. 3. Der Text des von MANCINI verfaßten Entwurfs, der später nur geringfügig abgeändert Gesetz geworden ist, ist veröffentlicht in: Processi verbali delle aedute della commiasione speJ:iale nominata con R. Decreto del 2 aprile 1956 al fine di proporre le modificazioni di coordinamento delle disposi11ioni del Codice Civile e le relative disposiJ:ioni transitorie a mente della !egge di detto giomo, Turin 1866, auch abgedruckt bei ERIK JAYME: Mancini (1988), (Fn. 4), S. 99 ff.; deutsche Übersetllung bei ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 56 ff. Allgemein J:Ur Kodifikation des Codice civile (1865), vgl. FILIPO RANIERI: Italien, in: HELMUT COING (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte Bd. 111: Daa 19. Jahrhundert, 1. Teilbd.: Gesetzgebung 11um Allgemeinen Privatrecht, München 1982, S. 297 ff. 60 Vgl. BORIS BARON NOLDE: La codification du droit international priv~. Recueil des Cours 55 (1936 1), S. 323 f., 325: "Jusqu'a ce jour, Iee juristes italiens souvent n'h~sitent paa a renverser !'ordre historique en affirmant l'Ecole a cr~er le Code , tandis que c'est le contraire qui est vrai" . 61 MAX GUTZWILLER, (Fn. 11), S. 152: MANCINI habe die gesetllliche Regelung "inspiriert". Richtig ist: sie stammt von MANCINI. Vgl. auch SEVOLD BRAGA: Staatsangehörigkeitsprinzip oder Wohnsitr.prinJ:ip?, Erlangen 1954, S. 18. 62 Vgl. Processi verbali, (Fn. 59), S. 630 ERIK JAYME: Mancini (1988), (Fn. Mancini (1980), (Fn. 4), S. 61. Vgl. auch CARLO FADDA/PAOLO 4), S. 101
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bearbeitet ("redigees en autant d'article de loi par moi-meme"63), von ihm formuliert ("ces regles furent formulees en autant d'article du code par l'auteur de ce rapport ..."64) wurden. Nehmen beide Wissenschaftler eine gegensätzliche Position zur Frage des gesetzgeberischen Auftrags ein, so ist ihre Sicht der Rechtsentstehung ähnlich. Für v. Savigny ist "der Stoff des Rechts ... durch die gesammte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch Willkühr, so daß er zufällig dieser oder ein anderer seyn könnte, sondern aus dem ionersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen"65 . Für ihn hat "das positive Recht selbst seinen Sitz in dem Volk als einem großen Naturganzen, ...." Er meint sodann:"Es ist aber nur ein anderer Ausdruck derselben Wahrheit, wenn wir sagen, das Recht habe seinen Sitz in dem Staat, ... , da eben nur in dem Staat das Volk wahre Realität hat, indem mir hier der Wille der Einzelnen in einem Gesammtwillen wahrhaft aufgeht"66 . Das Recht bilde sich - so v. Savigny - mit Entwicklung der Gesellschaft alsbald in der Sprache aus. Wie es zuvor im Bewußtsein des Volkes gegenwärtig war, so werde es jetzt auch durch die Juristen bewußt gemacht, die dabei das Volk in dieser Funktion repräsentierten. Es werde durch die stillen, inneren Kräfte von Sitte und Volksglaube, alsdann durch die Jurisprudenz EMILIO BENSA, in: WINDSCHEID: Diritto delle Pandette. Prima tradur;ione italiana so Ia consentita dall'Autore e dagli Editori, fatta sull'ultima edir;ione tedesca degli avvocati Prof. Carlo Fadda dell'Universitä di Napoli e Prof. Paolo Emilio Bensa dell'Universita de Genova. Arricchitä di nota e riferimenti al Diritto italiano vigente Bd. I, 1. T., Turin 1902, S. 147: "La base del sistema seguito dal nostra legislatore e'negli insegnamenti dell'illuatre Mancini, e specialmente nella proculusione aul principo di nazionalitä". 63 Negor;iati del Governo Italiano e Convocazione di Conferenza diplomatica in Roma per Norme convenzionali di diritto internazianale privato e per Ia esecur;ione dei giudicati stranieri (1881-85) - Estratto dalla racolta documenti diplomatici presentata alla Camera (28 giugno 1885 dal Ministerio degli affari esteri (Mancini)), Rom: Tipografica della camera dei Deputati 1885, S. 14. 64 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 234 = Institut, (Fn. 11), S. 339. 66 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: Ober den Zweck dieser Zeitschrift, 1 (1814), in: HANS Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft HATTENHAUER (Hg.), (Fn. 57), S. 264. 66 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System des heutigen Römischen Rechts Bd. VIII, Berlin 1849, S. 14 unter Hinweis auf die Grundlegung dieser These in Bd. I seines Systems (1840), § 8 (= S. 18 ff.).
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erzeugt. Nicht Recht schaffen könne die Willkür eines Gesetzgebers6t:
Mancini sieht als Quelle des Rechts "la Legge Morale, fonte di'ogni dopere" und die "Utilita". die die legge morale instrumentalisiert, indem "per opera del quale rengono assegnati i mezzi ed i limiti"68. Er fährt fort: "Il diritto non puo mai essere un prodotto della nuda volonta umana: esso e sempre una necessita della morale natura" ...69. Die gemeinsame Sprache ist für ihn eines der vornehmsten Merkmale einer Nation. Die Sichtweisen v. Savignys und Mancinis sind somit im Kern identisch. - Er nimmt auch Stellung zur Volksgeistlehre v. Savignys, d. h. genauer zur Historischen Rechtsschule, und meint: Die Vertreter dieser Ansicht "abbiam forse bisogno di mostrare come la nazionalita, ... rappresenti anzi il cordine primo e quasi Ia pietro angolare del loro intero sistema giuridico?"70• Mancini sieht die Historische Rechtsschule somit ähnliche Positionen einnehmen wie er selbst. Nach der Wertung Gutzwillers war er sich dabei nicht bewußt, daß er wiederum viel von der Volksgeistlehre v. Savignys aufgenommen hatte 71 • b) Anwendung ausländischen Rechts Eine vieluntersuchte Frage des Kollisionsrechts ist es, warum der inländische Richter auch ausländisches Recht anwenden 67 FRIEDRICH
CARL VON SAVIGNY: Beruf, (Fn. 67), in: HANS HATTENHAUER (Hg.), (Fn. 67), S. 104 f.; vgl. &ur Rechtsentstehungslehre FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System des heutigen Römischen Rechts, Bd. I, Berlin 1840, S. 13 ff. (§ 7 Allgemeine Entstehung des Rechts), S. 18 ff. (§ 8 Volk), S. 145 ff. (§ 14 Wissenschaftliches Recht), S. 60 ff. (§ 15 Die Rechtsquellen in ihrem Zusammenhang). Zulet&t &ur Historischen Rechtsschule HELMUT COING, (Fn. 12), S. 41 ff.; vgl. &ur Volksgeistlehre auch (neben vielen) den., Savigny und die deutsche Privatrechtswissenschaft, in: Jus Commune VIII (1979), S. 22 f.; WULF-HENNING ROTH: Internationales Versicherungsvertragsrecht, Tübingen 1986, S. 133 ff.; HORST HAMMEN: Die Bedeutung Friedrich Carl v. Savignys für die allgemeinen dogmatischen Grundlagen des Deutschen Bürgerlichen Geset&buches, Berlin 1983, S. 52 ff. 68 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Na&ionalita, (Fn. 9), S. 24. 69 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nuionalita, (Fn. 9), S. 26 (Hervorhebungen im Original). 70 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Na&ionalita, (Fn. 9), S. 66. Da&u vgl. auch FRANCESCO GENTILE, (Fn. 9), S. 326 f. Vgl. ferner LEO STRISOWER, (Fn. 49), S. 22 f . 71 MAX GUTZWILLER, (Fn. 11), S. 161, Fn. 1.
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kann72 . Aus seiner Überzeugung, daß die Basis des gesamten internationalen Rechts die "coesistenza delle nazionalilta" ist, schließt Mancini - wie dargestellt - auf die Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Nationen. Deshalb sei auch das Recht, welches eine fremde Nation sich und ihren Angehörigen gibt, nicht nur aus bloßer comitas, sondern aus einem devoir stricte heraus zu achten und anzuwenden73 . Für Mancini ist damit die Anwendung ausländischen Rechts eine völkerrechtliche Pflicht, die ihre Quelle letztlich in der menschlichen Natur habe und auf den "leggi naturali e neccessarie dell'uomo" beruhe 74 . v. Savigny hinfsegen folgt unter Berufung auf Huber, Johannes Voeth und Story jedenfalls vordergründig der comitas gentiumLehre. Danach gründet sich die Anwendung fremden Rechts nicht auf eine Pflicht des Völkerrechts, sondern auf den Gedanken der "freundlichen Zulassung unter souveränen Staaten". Die ratio der "Zulassung" liege in der "völkerrechtlichen Gemeinschaft unter unabhängigen Staaten" ("der miteinander verkehrenden Nationen")76. Die "Zulassung" sei zwar nicht "Ausfluß bloßer Großmuth oder Willkür, die zugleich als zufällig wechselnd und vorübergehend zu denken wäre." Sie sei aber auch - im Verhältnis zum fremden Staat - nicht zwingend, sondern erfolge im Zuge einer "eigenthümliche und fortschreitende Rechtsentwicklung", die gleichen Schritt halte, "mit der Behandlung der Collisionen unter den Partikularrechten desselben Staates" 7\ In seinem Postulat, das die interlokalen und die internationalen Kollisionsfälle nach den gleichen Grundsätzen zu lösen sind, liegt 72 Dazu zuletzt CHRISTIAN V. BAR: Theorien zur Erklärung der Anwendung ausländischen Rechts und kollisionsrechtliche Methode, in: Liber Memorialis Francoie Laurent, Brüssel 1989, S . 1167 ff. 73 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 228, 231 Institut, (Fn. 11), S. 333, 336. Dazu HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), s. 16. 74 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Realzione alla Facolta di leggi della Regia Universita di Torino del Professore Pasquale Stanislao Maneini, nella pubblica largizione del primo aggiudicato del concorso tra gli studenti del Corso completivo di Jeggi per l'anno 1852, Turin 1852, S. 16 f., auuugsweise abgedruckt bei ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 54 f. (mit deutscher Übersetzung) = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 98 f. 75 Vgl. zu diesen CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 145 ff., 446 ff.; MAX KELLER/KURT SIEHR, (Fn. 11), S. 41 ff.; Gerhard Kegel, (Fn. 11), S. 111 ff., 116. 76 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 27, 29. 77 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 28.
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die eigentliche Rechtfertigung der Anwendung ausländischen Rechts. Stets sei nämlich das Recht berufen, welchem das zu beurteilende "Rechtsverhältniß seiner eigenthümlichen Natur nach angehört oder unterworfen ist" 78 , das heißt "worin dasselbe seinen Sitz hat" 79 . Nicht völkerrechtliche, sondern rein kollisionsrechtliche Erwägungen, nämlich der umfassende Geltungsanspruch seiner Sitzregel, die er als "formellen Grundsatz" zur Lösung der Gesetzeskollisionen bezeichnet80 , verlangen somit nach v. Savigny gegebenenfalls die Anwendung fremden Rechts. Deutlich wird das auch, wenn er feststellt, "... daß der vorherrschende Gesichtspunkt der neueren Gesetzgebung und Praxis nicht in der eifersüchtigen Handhabung der ausschließlichen eigenen Herrschaft besteht, ja daß sie vielmehr gerade umgekehrt auf die Förderung einer wahren Rechtsgemeinschaft gerichtet ist, also auf die Beurtheilung der Collisionsfälle nach dem inneren Wesen und Bedürfniß eines jeden einzelnen Rechtsverhältnisses, ohne Rücksicht auf die Gränzen der Staaten und ihrer Rechtsgebiete."81 . Im Gegensatz zu einer häufig zu findenden Ansicht ist damit für v. Savigny die comitas gentium-Lehre nicht der eigentliche Rechtsgrund, um ausländisches Recht zu beachten. Er zieht aus ihr und seinem Satz von der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Nationen, die "Grundlage und letztes Ziel" des Kollisionsrechts sei82 , keine direkte Folgerung für die Anwendung ausländischen Rechts, sondern beruft sich lediglich unterstützend auf sie83 • 78 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 28.
79 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 108. 8 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 120. 81 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 128 (Hervorhebung vom Verfasser). 82 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 117. Ähnlich charakterisiert er die Gemeinschaft an anderer Stelle, vgl. S. VI, 28, 29, 30, 38, 114 f., 117, 128. 83 Ähnlich bereits MAX GUTWILLER, (Fn. 11), S. 42; den., Zitelmanns völkerrechtliche Theorie des Internationalprivatrechts, in: Anton Heini (Hg.), (Fn. 41), S. 186; PAUL HEINRICH NEUHAUS: Savigny und die Rechtsfindung aus der Natur der Sache, in: RabelsZ 15 (1949/50), S. 368; vgl. nun auch WULF-HENNING ROTH, (Fn. 67), S. 139 f.; GERHARD KEGEL: Story und Savigny, in: American Journal of Comparative Law 1989, S. 59 = Festschrift zur 600-Jahr-Feier der Universität zu Köln, Köln, Berlin u . a. 1988, S. 65 ff. Tendenziell eher andere 11. B. EGON LORENZ: Zur Struktur des Internationalen Privatrechts - Ein Beitrag zur Reformdiakussion, Berlin 1977, S. 41 f.
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Sein Konzept stimmt mit der comitas gentium-Lehre überein, soweit er die Vorteile aufzählt, die die Beachtung ausländischen Rechts mit sich bringt. Löse man interlokale (= innerstaatliche) und internationale Gesetzeskollisionen nach dem gleichen Grundsatz (nämlich der Sitzregel), entspreche dies dem in einer "völkerrechtlichen Gemeinschaft der miteinander verkehrenden Nationen" erforderlichen Standpunkt; v. Savigny meint: "Dieser Standpunkt hat im Fortschritt der Zeit immer allgemeinere Anerkennung gefunden, unter dem Einfluß theils der gemeinsamen christlichen Gesittung, theils des wahren Vortheils, der daraus für alle Theile hervorgeht."84 Er benutzt die comitas gentium-Lehre vor allem aber, um den notwendigen Freiraum für seine methodische Anknüpfungsmaxime zu schaffen. Diese Lehre stellt den Staat gegenüber anderen Staaten von der Rechtspflicht frei, ausländisches Privatrecht anzuwenden; v. Savigny führt aus, "daß jeder Gesetzgeber ausschließlich Herrschaft über sein Land hat, in diesem Gebiet also die Einmischung irgendeines fremden Rechts nicht zu dulden braucht."85 Für ihn entscheidet allein die als logisch richtig und gedanklich zwingend erkannte Anknüpfungsregel vom Sitz des Rechtsverhältnisses, wann der inländische Richter ausländische Gesetze zu beachten hat. Das internationale Privatrecht erscheint hier somit als nationales Rechtsgebiet und nicht als Teil des Völkerrechts. Das Völkerrecht ist nicht Quelle des internationalen Privatrechts86• Dieses ist rein nationales Recht mit - so die Historische Rechtsschule - übernationaler Quelle, nämlich - die Verkürzung sei gestattet - der des klassischen römischen Rechts. Die Sitzregel läßt sich nicht als völkerrechtlich verbindliches Recht rechtfertigen; v. Savigny leitet sie auch nicht aus dem Postulat der völkerrechtlichen Gemeinschaft der Nationen ab87. 84 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 27. 85 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 127. 86 Vgl. dazu auch MAX KELLER/KURT SIEHR, (Fn. ll), S. 57 f. Dort auch zu der Vorstellung, VON SAVIGNY habe das Internationale Privatrecht eher dem Völkerrecht als dem nationalen Recht zugeordnet. 87 MAX GUTZWILLER, (Fn. ll), S. 42; ders., (Fn. 83), S. 186. Bedenkenswert ist der Zusammenhang zwischen der völkerrechtlichen Gemeinschaft als hier relevantem Begründungstopos und der Rechtsentstehungslehre VON SAVIGNYS; vgl. dazu GEORGE S. MARIDAKIS: Die inernationalprivatrechtliche Lehre Savignys im Lichte seiner Rechtsentstehungstheorie, in: Festschrift für Hans Lewald, Basel 1953, S. 314.
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Er möchte zwar die universale Geltung seiner Anknüpfungsmaxime erreichen, da dann erst die erstrebte einheitliche Beurteilung der Kollisionsfälle gesichert ist, doch beziehen die Anknüpfungsvorschläge ihren überstaatlichen Geltungsanspruch allein aus ihrer methodisch logischen Überzeugungskraft. Es ist ein national verankertes, aber universell ausgerichtetes und kosmopolitisches internationales Privatrecht88, das er vertritt, denn es will nur kraft seiner Lösungen allgemein überzeugen. Ein Unterschied zu den von v. Savigny zitierten Vertretern der comitas gentium-Lehre, Huber, Voeth und Story, besteht folglich darin, daß bei v. Savigny das Kollisionsrecht rein national ist, während die Gelehrten, die es ausschließlich auf die comitas gentium-Lehre gründen wollen, einen letzten völkerrechtlichen Kern nicht abstreiten können 89• Mancini hingegen trennte das internationale Privatrecht und das Völkerrecht nicht voneinander90• Sein Kollisionsrecht ist übernational, völkerrechtlich begründet.
Ein weiterer Unterschied zu v. Savigny ist seine Ablehnung der comitas gentium-Lehre. Mancini hat sich mehrfach dezidiert gegen sie ausgesprochen91 , so etwa schon 1843 in einer Besprechunl des internationalprivatrechtliehen Werkes von Nicolai Rocco9 • Hingegen war die comitas gentium-These für v. Savigny - wie wir gesehen haben - zwar nicht der alleinige Rechtfertigungsgrund für die Anwendung fremden Rechts. Er zog sie jedoch unterstützend heran. Mancini sah allerdings v. Savigny auf seiner Seite, denn P-r schrieb: "Deja le grand Savigny, tandis qu'il n'osait pas encore Ia refuter, en gardait bien plus le nom que Ia sub88 PAUL HEINRICH NEUHAUS, (Fn. 83), S. 372. 89 Vgl. aulebt MAX KELLER/KURT SIEHR, (Fn. 11), S. 43 ff.; dort auch Nachweise aur Gegenmeinung. 90 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 12. 91 Vgl. PASQUALE STANISLAO MANCINI, (Fn. 74), S. 16 ff.; dera., De l'utilit~, (Fn. 11), S. 228 ff. Institut, (Fn. 11), S. 333 ff.; dera., Relaaione della commissione composta dei Soci Messedaglia, Mariotti e Mancini (relatore) sul Programme del Concorso, letta dal Socio Mancini nell'adunanaa generale del 2 giugno (1878), in: Programma di Concorao al premio di Lire 5 000, latituto dal Municipio di Saasoferrato, sul tema: Bartolo da Sassoferato, i auoi tempi e le sue dottrine, Estratto dagli Atti della Reale Accademia dei Lucei - Serie 3a - Bd. II, S. 10 f. 92 Vgl. die Nachweise bei KURT H. NADELMANN: On Rocco, Count Portalis and Mancini: A memoir for the Joseph Story Bicentenary, in: Rivista di diritto intemaaionale privato e processuale 1980, S. 163 f.
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stance, quand il ecrivait que, dans les accords des nations sur ces matieres, 'il ne fallait pas voir I'effet d'une pure bienveillance, l'acte revocable d'une volonte arbitraire, mais bien plutot un developpement propre du droit, suivant dans son cours Ia meme marche que les regles sur Ia collision entre les droits particuliers d'un meme Etat. •93 Hier übersah Mancini jedoch - wie es z. T. auch heute noch geschieht94 -, daß v. Savigny keinesfalls den Staat als völkerrechtlich gebunden ansah, fremde Gesetze anzuwenden. Die völkerrechtliche Gemeinschaft begründete für ihn keine Rechtspflicht zur Anwendung ausländischen Rechts. c) Gleichheit von Einheimischen und Fremden, Gleichheit der zivilisierten Nationen Für Mancini folgte aus der Gleichheit der Nationen und der einzelnen Menschen96 Gleiches wie für v. Savigny aus der völkerrechtlichen Gemeinschaft, nämlich: "... die Gleichheit in der Beurteilung der Einheimischen und Fremden."96 v. Savigny stellt fest, daß die großen Kodifikationen seiner Zeit, nämlich das Preußische Allgemeine Landrecht, der französische Code civil und das Österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch, "den Grundsatz der Rechtsgleichheit in der Behandlung der Inländer und Ausländer sehr bestimmt" und "unzweideutig" anerkennen97. Das entspreche auch der (damals) aktuellen Rechtsentwicklung98 und sei zu begrüßen, denn sie sei zum gemeinsamen Vorteil der Völker wie der einzelnen Menschen und aus christlicher Gesinnung geboten99 .
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93 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 229 Institut, (Fn. 11), S. 334. Das Zitat (FRIEDRICH CARL SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 28) lautet im deutschen Original: "Nur darf diese Zulassung nicht gedacht werden als Ausflull bloller Grollmuth oder Willkür, die zugleich als zufällig wechselnd und vorübergehend zu denken wäre. Vielmehr ist darin eine eigenthümliche und fortschreitende Rechtsentwicklung zu erkennen, gleichen Schritt haltend mit der Behandlung der Collisionen unter den Particularrechten desselben Staate". 94 CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 477. 95 Siehe oben bei Fn. 27. 96 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 27. 97 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 182 f. 98 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 114. 99 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 27.
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Er spricht sich aus für die "Anerkennung der überall gleichen sittlichen Würde und Freiheit des Menschen." 100 Mit dieser Wertschätzung gleicher Rechte aller Menschen kontrastiert allerdings seine indifferente Haltung zu dem Verbot des Grundstückerwerbes durch Juden. Entsprechende Normen beruhen für ihn auf Gründen des öffentlichen Wohls (politischen, polizeilichen oder volkswirtschaftlichen Charakters), die streng positiv und deshalb zwingend anzuwenden seien. Sie setzten sich mittels des positiven ordre public stets durch, unabhängig von dem eigentlich anwendbaren Recht. Kenne ein Staat eine solche Beschränkung hingegen nicht, so überwinde die liberale Regelung umgekehrt eine entsprechende Beschränkung des Personalstatuts des Erwerbers101 . Mancini tritt stärker als v. Savigny für Gleichheit und Freiheit ein102 . Der Mensch habe die jedem Staat vorgegebene Freiheit, "d'exercer sa liberte tant quelle ne blesse pas la liberte des autres ..." 103. Er entwickelt diese These nicht auf der Basis "christlicher Gesinnung" und von Nützlichkeitserwägungen wie v. Savigny, sondern sieht den Staat zur Achtung der individuellen Freiheit kraft der Legge Morale als verpflichtet an, ja: "Ed in vero il titolo del diritto e fornito dalla enviolabile leggittimita dell'exercizio della liberta di ciascun uomo." 104 Er rekurriert nicht auf christliche Werte. Das verwundert nicht, trat Mancini doch für die Trennun~ von Staat und Kirche und eine Säkularisierung des Rechts ein 10 . Erst sein Anhänger Laurent bringt das Nationalitätsprinzip Mancinis immer wieder mit einem ausdrücklich christlich geprägten Rechtsverständnis in Verbindung 106•
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10 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System I, (Fn. 67), S. 50 ff. 101 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 36 f. Zu SAVIGNYS antisemitischer Einstellung vgl. FRITZ STURM, (Fn. 64), S. 102. 102 Vgl. FRANK C. CHAPMAN, (Fn. 50), S. 72. 103 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Oe l'utilite, (Fn. 11), S. 230 =Institut, (Fn. 11), S. 336. 104 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 37; vgl. auch ders., Oe utilite, (Fn. 11), S. 293 f. =Institut, (Fn. 11), S. 350. 105 Dazu vgl. ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 36 = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 70 f.; ANTONIO VILLANI, (Fn. 1), S. 16 ff.; vgl. fer.ner MANCINIS distanzierte Stellungnahme zu den "fanatici propugnatori del diritto divino": PASQUALE STANISLAO MANCINI: Nazionalita, (Fn. 9), S. 55. 106 Vgl. HANS-ULRICH JESSURUN D'OLIVEIRA, (Fn. 36), S. 822 ff.; FRANCOIS RIGAUX: Le juge, arbitre des confiits de lois, in: Liber Memorialis Francois Laurent, Brüssel 1989, S. 1000 ff.
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Spiegelseite der individuellen Freiheit ist für M ancini die Rechtsgleichheit. Sie ist aus den gleichen Gründen zu gewähren, nämlich aus Respekt vor dem Menschen, als Ausfluß des "diritto perfetto dell'umanitä." 107 War für v. Savigny die Rechtsgleichheit mehr wünschenswertes Ziel denn zwingendes Gebot - eine für den eher pragmatischen Juristen v. Savigny typische Position -, so ist es ebenso charakteristisch für Mancinis kämpferischen Freiheitsdrang, dem Staat die entsprechende Rechtspflicht aufzuerlegen 108• Deshalb erstaunt es auch nicht, daß v. Savigny die Rechtsgleichheit 1849 weitgehend als gesichert ansah 109 und dabei verschwieg, daß bis auf wenige Ausnahmen die Staaten sie von der Verbürgung der Gegenseitigkeit abhängig machten 110• - Es war wohl seine nüchterne Sicht der Dinge, die ihn zu seiner Einschätzung führte. Das Hindernis der Gegenseitigkeit konnte nämlich faktisch vernachlässigt werden, da diese regelmäßig gegeben war. Somit konnte es die gleiche rechtliche Behandlung nicht beeinträchtigten. Mancini indes, mehr in verpflichtenden Prinzipien denkend, kämpfte in beredten Worten gegen das Reziprozitätsverlangen an. Er rühmte später zugleich Italiens Fortschrittlichkeit, das in seinem Codice civile 1865 auf die Verbürgung der Gegenseitigkeit verzichtet hatte 111 . Was für die Freiheit und Gleicheit des einzelnen gesagt wurde, übertragen beide Autoren auch auf die der Nationen bzw. Völker, wie sich bereits oben unter b) gezeigt hat. Interessant ist zu vermerken, daß v. Savigny den Kreis der Völkergemeinschaft mehr oder weni~er deutlich auf die zivilisierten christlichen Staaten beschränkt 12 , was seinem religiösen Bekenntnis 113 und dem da107 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De'progressi, (Fn. 22), S. 156 f . 108 Zu dem sich hier erneut r:eigenden Unterschied der konr:eptionellen Ansli.tr:e wie der Persönlichkeit der beiden Gelehrten vgl. FRANK C. CHAPMAN, (Fn. 60), S. 83 f. : "Savigny gab der Person dann Rechte. Mancini dagegen gab ihr eine Seele." 109 Vgl. die Nachweise in Fn. 98. 110 Vgl. die Nachweise bei HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 20 ff. 111 Vgl. die Nachweise in Fn. 98. 112 Vgl. FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 27: "Einfluß ... der gemeinsamen christlichen Gesittung"; S. 17: "Besonders darf nicht verkannt werden der Einfluß des Christenthums, welches als gemeinsames Band des geistigen Lebens die verschiedenen Völker umschlingend, die eigenthümlichen Unterschiede derselben mehr in den Hintergrund treten läßt."; ders., System I, (Fn. 67), s. 63 f.
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maligen Zeitgeist114 entsprach. Indessen hat Mancini auch die islamischen Staaten miteinbezogen115• Erst als Außenminister hat er aus politischen Gründen davon Abstriche gemacht116• d) Kollisionsrechtliche Gleichbehandlung, Entscheidungsharmonie und Rechtsvereinheitlichung
Auch v. Savigny trat - wie später Mancini 117 - für allseitige Kollisionsnormen ein, um der materiellrechtlichen auch eine kollisionsrechtliche Gleichbehandlung der Einheimischen und Fremden an die Seite zu stellen 118• Für beide folgt sie zwingend aus der Wahl ihrer Anknüpfungspunkte. Sie bestimmen sie nach der Natur der Sache119: v. Savigny fragt nach dem Sitz des RechtsverllS Dazu vgl. ERIK WOLF: Große Rechtsdenker der deutschen Gesetzesgeschichte, 4. Aufl., TUbingen 1963, S. 478; JOHN E. TOEWS: The immanent Genesis and Transcendent Goal of Law: Savigny, Stahl and the Ideology of the Christian German State, in: American Journal of Comperative Law 1989, S. 189 ff. 114 Zum Begriff der zivilisierten Nationen vgl. ERIK JAYME: Rechtaver&leichung und Fortschrittsidee (Festvortrag anläßlich des 75. Geburtstags von Professor Frit& Schwind, Wien 9.6.1988; der Vortrag wird in den Sitzungsberichten der Österreichischen Akademie der Wissenschaft, Philosophisch-Historische Kasse, veröffentlicht werden), bei Fn. 68. Noch GEBHARD, der Redaktor des EGBGB, sah die nichtchristliehen Völker außerhalb der Rechtsgemeinschaft der zivilisierten Nation, vgl. ALBERT GEBHARD: Erster und Zweiter Gebhardscher Entwurf (1881/1887) mit Motiven, in: THEODOR NIEMEYER (Hg.): Zur Vor1eschichte des Internaitonalen Privatrechte im Deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch ("Die Gebhardschen Materialien"), München, Leipzig 1915, S. 60 f. 115 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Modificazione della giurisdizione esercitata dai Consolati italiani in Egitto, Camera dei Deputati, in: Discorsi Parlamentari di P. S. Mancini Bd. IV, Rom 1895, S. 577 f., 579, 588; v&l. dazu ERIK JAYME: L'attualita, (Fn. 9), bei Fn. 30. 116 Vgl. FERDINANDO TREGGIARI, (Fn. 36), bei Fn. SS; HEINZ-PETER MANSEL: Mancini-Kongreß, (Fn. 1), S. 257 (dort weitere Nachweise). 117 Siehe oben bei Fn. 28. 118 Vgl. FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 27, 114 f., 128 f., 140 (zum Personalstatut), 367 (gegenseitige Geltung des Formstatuts). 119 Zu VON SAVIGNY vgl. PAUL HEINRICH NEUHAUS, (Fn. 88), S. 864 ff. Dazu, ob VON SAVIGNYS Frage nach dem Rechtsverhältnis eine "Kopernikanische Wende" (ders., (Fn. 19), S. 94) des internationalen Privatrechts bedeutet, vgl. statt vieler (dorl Nachweise) EGON LORENZ, (Fn. 88), S. 26 ff. einerseits und FRITZ STURM, (Fn. 54), S. 106 f. sowie CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), R&. 470,
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h!Utnisses, M ancini nach der nazionalita oder dem Parteiwillen. Eine Differenzierung der Anknüpfungsmethode danach, ob die Anknüpfungsperson In- oder Ausländer ist, kann hier deshalb nicht begründet werden. Die von beiden gefundenen Anknüpfungspunkte sollen universell gelten120• Schließlich sind bilateral formulierte Verweisungsregeln auch Grundvoraussetzung für die von beiden erstrebte Entscheidungsharmonie; v. Savigny will, "daß auch die Rechtsverhältnisse, in Fällen einer Collision der Gesetze, dieselbe Beurtheilung zu erwarten haben, ohne Unterschied, ob in diesem oder jenem Staat das Urtheil gesprochen wird." 121 Mancini verlangt identische Kollisionsnormen, anderenfalls "on tomberait dans un Iabyrinthe de contradictions et de difficultes inextricables, qu'il serait absolument impossible de le rc~soudre." 122
Beide streben nach einem in der Welt vereinheitlichten internationalen Privatrecht. Mancini glaubt an die Durchsetzungskraft eines Systems, weil er es als völkerrechtlich zwingend 123 ansieht, v. Savigny hingegen hofft auf die gedankliche Macht seiner Lehren, die zu dem genannten wünschenswerten 124 Ziel führen möge. Ein Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, ist für beide der Staatsvertrag. In seinem Bericht für das Institut de Droit international spricht sich Mancini 1874 für ein staatsvertraglich vereinbartes Kollisionsrecht aus. Er zitiert dabei voll Respekt auch v. Savigny, und zwar jenen Passus, in welchem v. Savigny zur Durchsetzung der Entscheidungsharmonie den Abschluß von Staatsverträgen empfiehlt125 . andererseits; weitere Nachweise bei HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 43, Fn. 11. 120 Besonders deutlich: PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite (Fn. 11), S. 232 Institut (Fn. 11), S. 337. 121 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn.66), S. 27; vgl. auch S. 32, 129. Zur Entscheidungsharmonie bei VON SAVIGNY vgl. noch FRITZ STURM, (Fn. 54), S. 106 ff. 122 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 232 =Institut (Fn. 11), S. 337. 123 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 232 Institut (Fn. 11), S. 337. 124 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 30, 129. 125 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite (Fn. 11), S. 235 f. =Institut (Fn. 11), S. 340; FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 30 f., vgl. auch S. 114 f., 129.
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Mancini tritt aktiv für eine solche Staatenverständigung ein und macht als Politiker Italien zum Motor der Rechtsvereinheitlichung126. Die Raager Konferenz für internationales Privatrecht ist letztlich auf ihn zurückzuführen127; das der Rechtsvereinheitlichung dienende Wissenschaftsgremium des Institut de Droit international ist sein Gründungswerk 128 . Anders liegen die Dinge bei v. Savigny. Mir ist nicht bekannt, daß er als Staatsmann 129 oder als Wissenschaftler konkrete Schritte in diese Richtung unternommen hat. Letztlich hält er sich auch literarisch zurück. Während Mancini 130 in Staatsverträgen "le 126 Vgl. PASQUALE STANISLAO MANCINI: La vita, (Fn. 11), S. 210 f.; ders., De l'utilite, (Fn. 11), S. 236 ff. =Institut, (Fn. 11), S. 340 ff.; Negoziati del Governo italiano, (Fn. 63), S. 9 ff. (Materialien über die Aktivitäten Italiens unter MANCINI als Außenminister für eine IPR-Vereinheitlichung durch Staatsverträge); ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 16 = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 41 f. (dort ein weiterer Hinweis auf eine Rede MANCINIS); ders., L'attualita, (Fn. 9), bei Fn. 25 ff.; ANTONIO VILLANI, (Fn. 4), S. 29 ff. (mit Hinweisen auf weitere Primärquellen); FRANZ KAHN, (Fn. 13), S. 11 ff.; KURT H. NADELMANN: Mancinis Nationality Rule and Non- Unified Legal Systems: Nationality versus Domicile, in: American Journal of Comperativ Law 1969, S. 420 ff. = Conflict of Laws: International and Interstate - Selected Essays, Den Haag 1972, S. 51 ff.; MAX KELLER/KURT SIEHR (Fn. 11), S. 76 ff.; CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 48. 127 Vgl. ERIK JAYME/REINHART HEPTIN: Rechtsvereinheitlichung oder Rechtsangleichung im internationalen Privatrecht, in: Le nuove frontiere del diritto e il problema dell'unificazione Bd. II, 1979, S. 613; MAX KELLER/KURT SIEHR, (Fn. 11), S. 76 ff. ; CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 181 ff. FRANCO MOSCONI: Italy and the Hague Conventions of Private International Law, in: Liber Memorialis Francoie Laurent, Brüssel 1989, S. 895; vgl. allgemein auch J. H. A. VAN LOON: Quelques reflexions sur l'unification progressive du droit international prive dans le cadre de Ia Conference de La Haye, in: a .a.O., S. 1133 ff. 128 Vgl. RUDOLFO DE NOVA: Mancini, in: Institut de Droit international, Livre du Centenaire 1873-1973, Evolutions et Perspectives du Droit international, Basel, München 1973, S. 2 ff.; FRANZ KAHN, (Fn. 13}, S. 8 Cf.; KURT H. NADELMANN: Mancinis Nationality Rule, (Fn. 126), S. 428 ff. = Conflict of Law, (Fn. 126), S. 60 ff.; MAX KELLER/KURT SIEHR, (Fn. 11), S. 75; ERIK JAYME, L'attualita, (Fn. 9), bei Fn. 28; allgemein vgl. auch A. L. G. A. STILLE: Asser et Rolin-Jaequemyns, in: Liber Memorialis Franccis Laurent, Brüssel 1989, S. 1090 ff. 129 Zu v. Savignys politischen Ämtern vgl. zuletzt JOACHIM ROCKERT: Lacune palesi e carenze occulte nella ricerca su Savigny, in: Rivista internazianale di filosofia del diritto 1986, S. 501 ff. 130 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 235 =Institut (Fn. 11), S. 339.
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seul moyen" sieht, hält v. Savigny ihren Abschluß für einen von mehreren Wegen, ein einheitliches Recht zu erlangen. Er fährt fort: "Ich sage nicht, daß ein solches (Staatsvertragsabschluß) wahrscheinlich wäre, oder auch nur räthlicher oder heilsamer, als die blos wissenschaftliche Vereinbarung."131 Wenn er die Betonung auf die gleichmäßige wissenschaftliche Erfassung des Rechts legt, so entspricht dies seiner Kodifikationsskepsis und der Bedeutung, die er der Wissenschaft zuerkennt. Sie ist für ihn Organ des Gewohnheitsrechts, welches u. a. das Recht zum Bewußtsein des Volkes bringt132 . Gemein ist Mancini und v. Savigny allerdings wieder die Überzeugung, daß die Staatsverträge nur das internationale Privatrecht, nicht aber das materielle Zivilrecht selbst vereinheitlichen sollen. Ist dieser Gedanke bei v. Savigny nur mittelbar dadurch spürbar, daß er nur zu kollisionsrechtlichen Abkommen Stellung nimmt 133, lehnt Mancini eine Angleichung des Sachrechts ausdrücklich ab, soweit es nicht allgemeine Rechtsgrundsätze oder das Handels- und Seehandelsrecht betrifft. Ein einheitliches Zivilrecht für alle Nationen sei eine gefährliche Illusion, da die Nationen sich unterschieden und deshalb eigenständige, ihrer Individualität angepaßte Rechtsordnungen notwendig seien. Zudem sei eine Verbesserung des Rechts nur erschwert möglich, da eine Abänderung der Zustimmung der Vertragsstaaten bedürfte. Es bestünde die Gefahr, auf den kleinsten gemeinsamen rechtlichen Nenner festgelegt zu sein 134; ein Nachteil, den bereits Amari beschrieben hat 135 . Gerade weil M ancini von der "orginalita del sistema giuridico" überzeugt war 136, mußte er gegen eine Sachrechtsvereinheitli131 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 114, vgl. auch
s. 30.
132 Vgl. FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System I, (Fn. 67), S. 45 ff, 83 ff.
(§§ 14, 19, 20 Wissenschaftliches Recht); zur Kodifikationsskepsis vgl. oben bei Fn. 57. 133 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 30 f., 114 f., 129. 134 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Oe l'utilite, (Fn. 11), S. 224-227 Institut (Fn. 11), S. 331-333. 135 Vgl. dazu ERIK JAYME: Emerico Amari (1810-1870) - Diritto comparato e
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teoria del progresso, in: Rivista di diritto civile 1989 I, S. 109. 136 Vgl. dazu ERIK JAYME: L' attualiU. (Fn. 9), bei Fn. 36; ders., Nation, (Fn. 4), S. 935 (dort Nachweise); vgl. auch FERDINANDO TREGGIARI: Mancini, (Fn. 36), bei Fn. 41.
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chung eintreten. Mancini geht es um "l'unita nella varieta". Er weist einen die Unterschiede zwischen den Nationen einebnenden "Cosmopolitismo" zurück 137, während v. Savigny wohl die Möglichkeit eines umfassenden Weltzivilrechts anerkennt, wie es später Zitelmann 138 visionär beschreiben sollte. Dies kann zumindest der Vorrede zu dem achten Band seines Systems des Römischen Rechtes entnommen werden:"Wenn ferner ein abschließendes Hervorgehen der Nationalität zu den verschiedenen Richtungen neuester Zeit gehört139, so kann sich gerade diese Richtung in einer Lehre nicht geltend machen, die ihrer Natur nach darauf ausgehen muß, die nationalen Gegensätze in einer anerkannten Gemeinschaft der verschiedenen Nationen aufzulösen". 140 In diesem Punkt unterschieden sich v. Savigny und Mancini. Mancini - Internationalist wie v. Savigny 141 - sah gerade in seinem Nationalitätsprinzip die Chance, ein Kollisionsrecht zu schaffen, das einerseits auf der Gleichberechtigung der Rechtsordnungen aufbaut, andererseits die Vielfalt der Kulturen und damit auch der Rechte bewahrt. Ihm geht es nicht um Auflösung der Gegensätze, sondern - ganz im Sinne des romantischen Internationalismus142 - um Bewahrung der Individualität der Nation, so wie für ihn die Individualität des Menschen durch das Recht zu schützen ist. v. Jhering sollte später ganz im Sinne Mancinis formulieren:"Die Idee, daß das Recht im Grunde überall dasselbe sein müsse, ist um nichts besser, als daß die ärztliche Behandlung bei allen Kranken die gleiche sein müsse - ein Universalrecht für alle Völker und alle Zeiten steht auf einer Linie mit dem Universalrezept für alle Kranken, es ist der ewig zur Suche stehende Stein der
137 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Lineamenti, (Fn. 21), S. 78 f. 138 ERNST ZITELMANN: Die Möglichkeit eines Weltrechts, Separatdruck aus der Allgemeinen Österreichischen Gerichts-Zeitung, Wien 1888. 139 COING nennt die Idee der Nation eine der mächtigsten Ideen des 19. Jahrhunderts, HELMUT COING,(Fn. 12), S. 72. 14 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. VIII; vgl. auch S. VII f. Dort erhofft v. Savigny Annäherung, Angleichung, Verständigung und "eine in dae Allgemeine gehende praktische Gemeinschaft des Rechtsbewußtsein und des Rechtslebens." Kritisch dazu FRANCOIS LAURENT: Droit civil international Bd. I, Brüssel, Paris 1880, S. 638. 141 CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 475, 482. 142 ERIK JAYME: Kar! Mittermaier und dae Internationale Privatrecht, in: Liber Memorialis Francoie Laurent, Brüsel 1989, S. 805; vgl. auch HANS-ULRICH JESSURUN D'OLIVEIRA, (Fn. 36), S. 819 ff., 823 et passim.
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Weisen, den in Wirklichkeit nicht die Weisen, sondern nur die Toren zu suchen ausgehen können." 143 Indessen treten für v. Savigny die "eigenthümlichen Unterschiede" der Nationen unter dem "Einfluß des Christenthums, welches als gemeinsames Band des geistigen Lebens die verschiedenen Völker" umschlinge, mehr in den Hintergrund. Die "schroffen Gegensätze der Nationalitäten" seien beseitigt worden durch den vielseitigen und lebendigen Verkehr der Völker untereinander144. Recht entsteht zwar auch für ihn - wie bei Mancini - durch das Volk. Aber:"Was in dem einzelnen Volk wirkt, ist nur der allgemeine Menschengeist, der sich in ihm auf individuelle Weise offenbart. Allein die Erzeugung des Rechts ist eine That, und eine gemeinschaftliche That.... Da nun eine solche Gemeinschaft nur innerhalb der Gränzen des einzelnen Volkes vorhanden ist, so kann auch nur hier das wirkliche Recht hervorgebracht werden, obgleich in der Erzeugung desselben die Äußerung eines allgemeinen menschlichen Bildungstriebes wahrzunehmen ist, also nicht etwa die eigenthümliche Willkühr mancher besonderer Völker, wovon in anderen Völkern vielleicht keine Spur angetroffen werden könne" 145 • Die Individualität des nationalen Rechts, die Mancini so herausstreicht, tritt bei v. Savigny zurück 146. Daher und weil sein Denken letztlich auf ein neues ius gentium gerichtet ist, erscheint ihm die Vereinheitlichung des materiellrechtlichen Zivilrechts möglich und erstrebenswert; v. Savigny betont das gemeinsame abendländische kulturelle Erbe. Hier zeigt sich zum einen die Begrenztheit seines Begriffs der völkerrechtlichen Gemeinschaft - nur die christlichen Staaten nehmen an ihr teil -, gleichzeitig offenbart sein Denken eine gesamteuropäische Dimension. Das Verweisungsrecht hat in Mancinis System einen bleibenden Platz und die Funktion, durch Koordinierung Rechtseinheit herzustellen; für v. Savigny wäre hingegen ein Verzicht darauf durch Sachrechtsvereinheitlichung wohl denkbar, wenngleich er einen solch utopischen Gedanken in seiner vorsichtigen, nüchternpragmatisch Art wohl nicht niedergeschrieben hätte. 143 RUDOLF VON JHERING: Der Zweck im Recht Bd. I, 4 . Aufl., Leipzig 1904,
s. 342.
144 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 17. 145 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System I, (Fn. 67), S. 21. 146 Vgl. auch bei Fn. 190. Gegen die Schlußfolgerungen aus der Volksindividualität für das Staatsangehörigkeitsprinzip im Kollisionsrecht etwa LEO STRISOWER, (Fn. 49), S. 23 ff., 28.
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e) Persona/statut: Staatsangehörigkeit und Domizil - die Frage nach dem Rechtsverhältnis Mancini und v. Savigny ist gemein 147, daß sie danach fragen 148, welches Recht die Rechtsverhältnisse der Person regelt und nicht, wie weit der Herrschaftsbereich der Sachnormen reicht. Sie formulieren ihre Kollisionsnormen jeweils für bestimmte Rechtsprobleme/Rechtsverhältnisse. Nur den Anknüpfungspunkt bestimmen sie unterschiedlich. Mancini wendet sich zwar dezidiert gegen die Sitzlehre v. Savignys, da der Sitz des Rechtsverhältnisses oft nicht genau ermittelbar sei149• Methodisch geht er aber keinen anderen Weg. v. Savigny sah das Personalstatut einer Person bestimmt durch ihren Wohnsitz160. Er fand sich damit in Übereinstimmung mit der im gemeinen deutschen Recht herrschenden und unbestrittenen Ansicht 161 • Anders als viele der Autoren vor ihm (und mancher nach ihm) 162 trennte er allerdings die Begriffe des Wohnsitzes oder Domizils genau von dem der Staatsangehörigkeit - er spricht von "Unterthanenverhältnis" oder "Staatsbürgerrecht" -, in welchem eine "modifizierte Rückkehr zu dem Römischen Begriff der orgio" liege 163•
147 Vgl. ERIK JAYME: Mancini (1980) (Fn. 4), S. 2 = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 19; CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 477; LEO STRISOWER, (Fn. 49), S. 3 mit Fn. 11. 148 Zu den drei Typen der internationalprivatrechtliehen Generalprinzipien vgl. MAX GUTZWILLER: Norm, Richterspruch, Wissenschaft im Internationalprivatrecht, in: ANTON HEINI (Hg.) , (Fn. 41), S. 176 ff. MANCINIS Konzept ist dem zweiten, VON SAVIGNYS dem dritten Typus zuzuordnen, die beide vom Rechtsverhältnis ausgehen. 149 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 287 ==Institut (Fn. 11), S. 345; hierzu vgl. MAX GUTZWILLER, (Fn. 11), S. 153 ff.; ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 2 = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 19. 15 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 95-101. 151 Vgl. Reichsgericht vom 29.1.1883, Entscheidungen des Rechtsgerichts in Zivilsachen Bd. 8, S. 146; F . ENDEMANN: Einführung in das Studium des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts Bd. I, 5. Auf!., Berlin
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1889, S. 68, Fn. 5; GERHARD KEGEL: Wohnsitz und Belegenheit bei Story und Savigny, RabelsZ 52 (1988), S . 434, 437 ff.; ferner die Nachweise bei MAX KELLER/KURT SIEHR, (Fn. 11), S. 66 Fn. 18. 162 Vgl. dazu HEINZ - PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 11. 153 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 98.
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Eine Anknüpfung an das "Unterthanenverhältnis" lehnt er als falsche Meinung ab 154. Wenn andernorts, etwa in Artikel 3 111 des französischen Code civil an die Staatsangehörigkeit angeknüpft werde, so bringe das keine Neuerung, da damit das Domizil gemeint sei 155 - eine im übrigen noch lange in ähnlicher Weise vertretene Auffassung 156. Die neuen (preußischen) Staatsangehörigkeitsgesetze veranlassen v. Savigny zu keinen abweichenden Überlegungen. Sie hätten keinen kollisionsrechtlichen Gehalt. Allgemein werde als der wahre Grund des "Unterthanenverhältnis (in Beziehung auf das Privatrecht)" der Wohnsitz anerkannt 157. Der Wohnsitz und nicht die von ihm als Nationalität bezeichnete Volksabstammung bildet für v. Savigny das "Band der einzelnen Personen zur Gemeinschaft eines und desselben positiven Rechts", den Sitz der persönlichen Rechtsverhältnisse, denn weil sich die Nationalitäten im Laufe der Zeit angeglichen hätten, sei die Territorialität des Rechts wichtiger als die Abstammung des einzelnen 158. Hier offenbart sich ein fundamentaler Unterschied zu Mancini, der, wie wir gesehen haben 159, von der Verschiedenheit der Nationen und der Notwendigkeit der Beachtung dieser Unterschiede ausgeht und deshalb das Personalstatut durch die Staatsangehörigkeit bestimmt. Vielleicht beruht die unterschiedliche Wahl der Anknüpfungspunkte auch darauf, daß v. Savigny - wie dargestellt - sein internationales aus dem interlokalen Privatrecht entwickelt hat und für beides identische Lösungen empfahl, während Mancini sein Verweisungsrecht für den Rechtsverkehr mit ausländischen Staaten konzipierte. Im interlokalen Privatrecht ist nämlich der Wohnsitz vielfach der bessere Anknüpfungspunkt, weil oft Regeln über die Partikularstaatenzugehörigkeit fehlen werden.
154 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66}, S. 100 f . 155 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 98 mit Anm. d, 146. 156 Dazu mit Nachweisen HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2}, S. 8 ff.
157 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66}. S. 100 f. 158 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 14-117; manche Position findet sich bereits in der Vorlesung vom Wintersemester 1840/41, vgl. YOSHIAKI SAKURADA, (Fn. 55), S. 950; vgl. auch oben im Text bei Fn. 55. 159 Siehe oben bei Fn. 30 ff., 136, 141.
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f) Parteiwille und ordre public
Korrektiv des Nationalitätsprinzips, dem Mancini einen weiten Anwendungsbereich gibt, sind die Parteiautonomie und der ordre public, d. h. die libertä und die sovranitä160. In den Bereichen, in denen die Bürger sich gleichberechtigt gegenüber stehen, haben sie die Macht, das anwendbare Recht selbst zu bestimmen und das nationale Recht zurückzudrängen. Das gilt für das Recht der Verträge und außervertraglichen Obligationen wie für die Wahl des Gerichtsstandes 161 . Diese Auffassung war nicht neu 162, doch verdient die ausdrückliche Anerkennung der Rechtswahl durch M ancini in Art. 9 111 Disp. prel. Codice civile (1865) hervorgehoben zu werden. Für v. Savigny beruht der "besondere Gerichtsstand der Obligationen (zusammenfallend mit dem wahren Sitz der Obligationen) ... auf der freiwilligen Unterwerfung der Parteien, die jedoch meist nicht in einer ausdrücklichen, sondern in einer stillschweigenden Willenserklärung liegt, und daher stets durch eine entgegengesetzte ausdrückliche Erklärung ausgeschlossen sein wird ...." Er fährt fort: "Wir haben also zu erforschen, auf welchen Ort die Erwartung der Partei gerichtet war, welchen Ort sie sich als Sitz der Obligation gedacht haben?" 163 v. Savigny fragt hier nach den typischen Parteierwartungen, nicht etwa sucht er nach dem hypothetischen Parteiwillen der konkret Beteiligten. Er verwirft die Iex loco contractus als Vertragsstatut und gibt die Antwort: "Es liegt daher im Wesen der Obligation, daß der Ort der Erfüllung als Sitz der Obligation gedacht, daß an diesen Ort der besondere Gerichtsstand der Obligation durch freie Unterwerfung verlegt worden" 164 und damit das Recht dieses Ortes anzuwenden sei16"5. Das steht jedoch unter dem Vorbehalt, daß die Parteien nicht 160 Siehe dazu oben bei Fn. 45 ff. 161 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 296, 298, 302 = lnstiut, (Fn. 11), S. 352, 356, 359. 162 Vgl. ERIK JAYME: Codification, (Fn. 11), S. 47. 163 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 206, vgl. auch 110 ff., 203 f., 248 f. 164 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 208. 165 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 110 ff., 205 ff., 246 ff. Zur Wirkungsgeschichte seiner Anknüpfungsmaximen im internationalen Schuldrecht vgl. MAX GUTZWILLER, (Fn. 11), S. 92 ff. Zur Rechtsprechung vgl. VOLKER D. ANHÄUSER: Das internationale Obligationenrecht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts, Frankfurt, Bern, New York 1986.
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selbst den Sitz - und damit das anwendbare Recht - anders bestimmen166. Die freiwillige Unterwerfung ist für die Anküpfungsmaximen v. Savignys bedeutsam, wie bereits Gebhard hervorgehoben hat 167. Sie kann - wie geschildert - durch Rechtswahl geschehen. Sie dient aber auch als Rechtfertigung für die von ihm gefundenen objektiven Anknüpfungspunkte 168. Die Geltung der lex rei sitae und der lex domicilii "entspringt aus freiwilliger Unterwerfung" unter das in diesem Gebiet herrschende örtliche Recht für das jeweilige Rechtsverhältnis, da der Betroffene freiwillig den Wohnsitz an jenem Ort gewählt oder sich freiwillig entschieden hat, ein Recht an einer dort belegenen Sache zu erwerben169. Durch die hier objektivierte Verwendung des Topos "Unterwerfung" wird seine Lokalisierungsfunktion besonders deutlich. Rechtswahl bedeutet für v. Savigny subjektive Bestimmung des Sitzes des Rechtsverhältnisses, weniger Ausübung eines Gestaltungsrechtes. Bei Mancini hingegen ist die Parteiautonomie Ausfluß der individuellen Freiheitsrechte der Bürger. Trotz äußerer Ähnlichkeiten, die etwa die Anknüpfungsgegenstände des Parteiwillens betreffen, ist somit erneut ein Unterschied beider Konzepte festzustellen. Allerdings darf nicht verkannt werden, daß v. Savigny die Rechtsverhältnisse als "Gebiet unabhängiger Herrschaft des individuellen Willens" versteht und dem Privatrecht die Aufgabe auferlegt, dem individuellen Willen einen Bereich anzuweisen, in welchem er unabhängig von jedem fremden Willen zu herrschen habe 170. Beide Systeme unterscheiden sich im übrigen auch in der Ersatzanknüpfung bei fehlender RechtswahL M ancinis Art. 9 III Disp. prel. Codice civile (1865) beruft das gemeinsame Heimatrecht der Parteien, hilfsweise die Iex loci contractus; v. Savigny
166 FRIEDRICH f.
CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn.
66),
S.
110, 203, 248
167 ALBERT GEHBARD (Fn. 114), S. 46; vgl. auch GEORGE S. MARIDAKIS, 87), S. 312 f. 168 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 110 ff. 169 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 169, 303, 331. 17 Friedrich Carl von Savigny: System I, (Fn. 67), S. 333 f. Zur Bedeutung der
(Fn.
°
Freiheit bei VON SAVIGNY vgl. JOACHIM ROCKERT: Idealismus, Jurispruden11 und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ehelabach 1984, S. 367 ff.
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knüpft hingegen an den Erfüllungsort, subsidiär an den Wohnsitz des Schuldners an. Vielfach festgestellte Unterschiede 171 zeigen sich auch bei der Funktion des ordre public. Mancini sieht ihn als dem Nationalitätsprinzip gleichrangigen Grundsatz 172: Wahrt das eine die Interesse des einzelnen, so das andere die des Staates 173 • Bei v. Savigny ist er bloßes Korrektiv, eine Ausnahmeregel 1 u. Gesetze des Gerichtsstaats, die "von streng positiver, zwingender Natur" sind 175 , haben stets Geltung, auch wenn das anwendbare Recht eigentlich ein ausländisches ist. Dabei unterscheidet er erstmals klar die positive und die negative Funktion des ordre public 176. Naturgemäß ist im System Mancinis die positive Funktion des ordre public, d. h. die Durchsetzung einer inländischen Rechtsnorm gegenüber eigentlich anzuwendendem ausländischem Recht, stärker als bei v. Savigny. Auf Mancini wird die traditionelle romanische Lehre über den positiven ordre public zurückgeführt177. Beide Ansätze, die letztlich streng nationalistisch sind, will eine von Kahn angedeutete und J ayme begründete internationalistische Sicht des ordre public auflösen, die die Rechtsvergleichung fruchtbar macht 178.
171 V gl. etwa ERIK JAYME: Methoden der Konkretisierung des ordre public im Internationalen Privatrecht, Heidelberg 1989, S. 61 f.; DIETER BLUMENWITZ: Art. 6 n. F. EGBGB, in: J. VON STAUDINGER: Kommentar zum BGB, 10./11 . Auf!. Berlin 1988, Rz. 14. 172 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 298 f. = Institut (Fn. 11), S. 355 f. 173 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11) S. 295 f. =Institut (Fn. 11), S. 353. 174 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66) , S. 32 - 39. 175 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 33. 176 FRITZ STURM, (Fn. 54), S. 101; vgl. auch YOSHIOKI SAKURADA: Wirkungsbereich und Funktion des Kollisionsrechts - Einige Gedanken über Savignys IPR, in: WOLFGANG HOLL/ULRICH KLINKE (Hg.): Internationales Privatrecht, internationales Wirtschaftsrecht, Köln, Berlin u. a. 1985, S. 135 ff. 177 DIETER BLUMENWITZ, (Fn. 171), Rz. 23. 178 Vgl. FRANZ KAHN: Bedeutung der Rechtsvergleichung mit Bezug auf das internationale Privatrecht, in: OTTO LENEL/HANS LEWALD (Hg.): Franz Kahn, Abhandlungen zum internationalen Privatrecht Bd. I, München, Leipzig 1928, S. 498 ff. ; ERIK JA YME, (Fn. 171), S. 44 ff.
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g) Würdigung
"Die Lehren Savignys und Mancinis sind alt und müde geworden; seit einem Menschenalter klagen ihre berufenen Hüter über die Unlösbarkeit ihrer Probleme. Niemand wird die Dienste vergessen, die sie bald ein Jahrhundert der Menschheit geleistet haben."179 So schreibt 1928 Frankenstein im Vorwort zu dem zweiten Band seines Grenzrechtes. Beide wirken aber im heutigen Kollisionsrecht fort. Der Ausgangspunkt beim Rechtsverhältnis für die Aufstellung kollisionsrechtlicher Normen ist eine Erbschaft v. Savignys, auch wenn umstritten ist, wieviel Originalität ihm hier zukommt180. Der Siegeszug des Staatsangehörigkeitsprinzips ist das Verdienst Mancinis, auch wenn bereits der Code civil von 1804 an die Staatsangehörigkeit anknüpfte 181 . Die in den Nebensätzen gemachten Einschränkungen zeigen, daß die Bedeutung beider vor allem darin zu sehen ist, daß sie bisher eher dunkel Geahntes klar erfaßt, mit einer ratio versehen und in griffige Lehrsätze umgesetzt haben, die große Wirkungskraft zeitigten. Insofern haben v. Savigny und Mancini jeder auf seine Weise "kopernikanische Wenden" bewirkt. Der Widerhall des Nationalitätsprinzips Mancinis sei - so Melchior - über alles hinausgegangen, was ein einzelner Jurist je erreicht habe 182 . Es fällt schwer, das Verhältnis Mancinis zu v. Savigny zu würdigen. Die obigen Ausführungen lassen folgendes Fazit zu: In vielen Punkten stimmen die Thesen v. Savignys und Mancinis überein 183, so bei den Fragen: Anwendung ausländischen Rechts, Gleichbehandlung von In- und Ausländern, allseitige Kollisionsnormen, Überwindung der Nachlaßspaltung 184 , Ideal der Entscheidungsharmonie, Sympathie für Rechtsvereinheitlichung 179 ERNST
FANKENSTEIN: Internationales Privatrecht (Grenzrecht) Bd. II, Berlin-Grunewald 1929, S. X.
180 Siehe oben Fn. 119. 181 Dazu vgl. HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 7 ff., 27 ff. 182 GEORGE MELCHIOR: Die Grundlagen des deutschen internationalen Privatrechts, Berlin, Leipzig 1932, S. 12. 183 Vgl. dazu auch CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 477; MAX GUTZWILLER, (Fn. 11), S. 156 f.; FRANK C. CHAPMAN, (Fn. 50), S. 68 ff., 72 ff., 80-86, 89-92. 184 Vgl. FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System VIII, (Fn. 66), S. 302 ff.; zur Nachlaßeinheit bei MANCINI vgl. nur ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 8 ff. = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 29 ff.; vgl. noch (zu MITTERMAIER} ders., (Fn.
142), s. 810 f.
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durch Staatsverträge, Betonung der Parteiautonomie im internationalen Schuldrecht, Durchsetzung der Wertungen des Forumstaates mittels des ordre public. Ähnlichkeiten bestehen auch da, wo sie Mancini bestreitet, nämlich beim Ansatz der Kollisionsnorm an dem Rechtsverhältnis. Denn auch er geht von dem "rapporto giuridico" aus, wofür die Kollisionsnormen der Disp. prel. Codice civile von 1865 beredtes Zeugnis abgeben. Mancini baute auf dem Werk v. Savignys auf. Er entwickelte vieles in einem politischen Sinne weiter. Deshalb sind die hier und andernorts festgestellten Übereinstimmungen zu relativieren. Die Anwendung fremden Rechtes, die Gleichbehandlung von Inund Ausländern, bilaterale Verweisungsnormen, Entscheidungsharmonie, ein welteinheitliches Kollisionsrecht sind für M ancini ein völkerrechtlich zwingendes, nicht nur ein im Sinne v. Savignys wünschenswertes Ziel. Der ordre public wird von der Ausnahmereget zum Grundprinzip.
Fundamental ist der Unterschied bei der Bestimmung des Personalstatuts: statt Wohnsitz entscheidet die Nationalität. Ähnlichkeiten sind aber auch gegeben. v. Savigny und Mancini betonen beide die Freiheit des einzelnen, eine Änderung des Anknüpfungspunktes herbeizuführen. Der Wohnsitz ist nur Sitz i. S. v. Savignys, weil er freiwillig gewählt wurde. Mancini billigt dem einzelnen das Recht zu, seine Staatsangehörigkeit aufzugeben 185 . Die von M ancini formulierten Ideen sind ohne das Fundament der Lehren v. Savignys nicht denkbar. Das dreigliedrige System Mancinis läßt sich im Kern bereits bei v. Savigny finden. Die Herrschaft des "persönlichen Rechts" (Wohnsitz/Nationalität), der "persönlichen Freiheit" (Parteiautonomie) und der staatlichen Gebietshoheit (ordre public) bestimmt bei beiden die Grundstrukturen ihres Systems 186. Hinzu kommt ein weiteres: Auch Mancinis Dreiteilung der Rechtsordnung 187 ist bei v. Savigny begrifflich vorgebildet. Den Bereich des ordre public nennt Mancini Droit public et politique; v. Savigny spricht von den zwingenden, streng positiven Gesetzen. Das Privatrecht (Droit prive et domestique) zerfällt bei M ancini in die durch den individuellen Willen beherrschte "partie volontaire" 185 Vgl. dazu ERIK JAYME: Mancini (1980), (Fn. 4), S. 32 ff. = Mancini (1988), (Fn. 4), S. 66 ff. (dort weitere Nachweise). 186 Vgl. dazu auch die knappen Bemerkungen von MAX GUTZWILLER (Fn. 11), S. 157, unter Hinweis auf CATELLANI. 187 Siehe oben bei Fn. 47.
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und die diesem entzogene "partie necessaire". v. Savigny bezeichnet die beiden Bereiche als "reines" und als "annomalisches" Rechtsgebiet. Das daraus erwachsende Recht nennt er "regelmäßiges" bzw. "annomalisches" Recht. Beide Wissenschaftler grenzen die bezeichneten Teilbereiche der Rechtsordnungen ähnlich voneinander ab. Im ersten, der "partie volontaire" bzw. dem "reinen Rechtsgebiet", wird der Freiheitsraum der Bürger abgesteckt, die als Gleiche am Rechtsverkehr teilnehmen. Kernbereich ist hier das Schuldrecht. Die hierzu gegensätzlich zu denkenden Rechtskomplexe der "partie necessaire" bzw. das "annomalische Rechtsgebiet" betreffen die RechtsverMltnisse, in denen nicht nur Freiheitsausübung zu regeln ist, sondern bei welchem daneben sittliche Zwecke, Staatsinteressen oder die wohlwollende Fürsorge für den einzelnen zur Verwirklichung drängen. Das Familienrecht bildet hier das Herzstück 188 . Die Ähnlichkeiten reichen bis in die Wortwahl; v. Savigny schrieb: "Der Stoff der Obligation ist willkürlicher Natur, indem bald diese bald jene Handlung zum Inhalt der Obligation gemacht werden kann; der Stoff der Familienverhältnisse ist durch die organische Natur des Menschen bestimmt, trägt also den Charakter der Nothwendigkeit in sich." 189 Bei Mancini wird daraus die "partie necessaire", zu der das Familienrecht zu rechnen ist, und die "partie volontaire", die das Obligationenrecht umfaßt. v. Savigny denkt übernational. Er begreift zwar das internationale Privatrecht nicht als Völkerrecht, sondern als nationales Recht. Aber trotz seiner Rechtsentstehungslehre, die auf den Volksgeist abstellt, sieht er - wie oben dargestellt - die Rechtsordnungen der abendländisch-christlichen Staaten nicht als unverwechselbare Größen. Sein Streben ist auf Ausgleich der Gegensätze gerichtet. Auch wenn er auf die Nation als Größe im Recht eingeht, so geschieht dies nicht mit nur nationaler Ausrichtung, sondern immer auf der Suche nach den alle Völker verbindenden Grundentscheidungen. Nationales erscheint ihm nur als spezielle Eigenart derselben übernationalen Gemeinsamkeiten und Werte 190 , als Ausprägung des einen umfassenden Menschengei188
FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System I, (Fn. 67), S. 61 ff., 347 ff.: Die Familie hat neben dem rechtlichen auch ein sittliches PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. 11), S. 293 ff. = (Fn. 11), S. 350 ff. 189 FRIEDRICH CARL VON SAVIGNY: System I, (Fn. 67), (Hervorhebungen vom Verfasser) . 190 Vgl. JOACHIM RÜCKERT, (Fn. 170), S. 393 f .
218, 343, Element; Institut, S.
343
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stes 191 . - Für Mancini ist hingegen die Rechtsordnung die Emanation nationalen Selbstverständnisses 192 . Die Eigenart der Nation und ihres Rechts ist des internationalen Ausgleichs nicht fähig. Möglich ist nur die "unita nella varieta" durch Schaffung kollisionsrechtlicher Entscheidungsharmonie. Dies ist der nationale Zug in Mancinis Lehren, die paradoxerweise von der Übernationalität des internationalen Privatrechts ausgehen, denn sie verstehen es als Völkerrecht. Beide Gelehrte sind aber Internationalisten in dem Sinne, daß sie fremdes wie eigenes Recht als gleichberechtigt achten. Sowohl M ancini als auch v. Savigny sehen das Recht als Kulturphänomen. Während aber v. Savigny analytisch-empirisch 193 seine Verweisungsnormen findet, den Stoff ordnet, systematisiert und griffige Formulierungen, wie die Sitz-Formel, als Kristallisationspunkte juristischer Ideen zur Verfügung stellt, klagt M ancini die Rechte des einzelnen und seiner Nation mit kämpferischer Emphase ein. Was die Persönlichkeiten der beiden Gelehrten betrifft, so wird man unwillkürlich an ein Bild Gustav Radbruchs erinnert. Er sah v. Savigny als ruhig-heiteren Olympier, als den das geschichtliche Werden ehrfürchtig belauschenden Gegner gesetzgeberischer Willkür; Feuerbach hingegen, der hier für Mancini stehen möge, beschrieb er als tatenfrohen Gesetzgeber, als Titan 194• Voll Respekt begegnet dieser Titan v. Savigny, wissend, wieviel er von ihm im Keime übernommen hat. Die Hochachtung ist spürbar, wenn Mancini, nachdem er v. Savignys Anknüpfung an den Sitz des Rechtsverhältnisses abgelehnt hat, bekennt: "Habitues, comme nous Ie sommes, a rendre hommage a l'intelligence superieure du savant professeur de Berlin, comment ne devrions-nous pas reconnaitre et deplorer les profondes difficultes dans Iesquelles s'enveloppe Ia recherche du principe fondamentat du droit inter191 Vgl. das Zitat bei Fn. 145. 192 HANS-JüRGEN SONNENBERGER: Anerkennung der Staatsangehörigkeit und effektive Staatsangehörigkeit natürlicher Personen im Völkerrecht und im Internationalen Privatrecht, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, Heft 29, Heidelberg 1988, S. 12. 193 Zur analytischen Methode im internationalen Privatrecht V . SAVIGNYS vgl. WERNER GOLDSCHMIDT: Die philosophischen Grundlagen des internationalen Privatrechts, in: Festschrift für Martin Wolff, Tübingen 1952, S. 209. 194 GUSTAV RADBRUCH: Paul Johann Anselm Feuerbach, 3. Auf!., Göttingen 1969, hg. v. ERIK WOLF, S. 51.
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national prive, si dans cette tache une intelligence aussi elevee que la sienne a ete impuissante a atteindre la verite?" 196 3. Mancini und die Kodifikation des Einführun~sgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (1896) 19
a) Mancinis Lehren im Spiegel der deutschen Wissenschaft Hatte v. Savigny stark auf Mancini gewirkt, so stieß das kollisionsrechtliche Gedankengebäude Mancinis bei der deutschen Wissenschaft des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts auf wenig Gegenliebe. Insbesondere die Auffassung Mancinis, der ordre public sei zu einem tragenden Grundprinzip des Kollisionsrechts zu erheben, wurde abgelehnt. Dem ganzen Konzept warf man idealistische Realitätsferne vor. Kahn kleidete das in die Worte: "Schon in Haymarket hat man aber die Erfahrung gemacht, daß Pegasus kein ausdauernder Pflugstier ist. Nicht viel anders ging es in Italien, als man begann, mit der neuen Lehren das Feld des internationalen Privatrechts umzupflügen." 197 Schon bald erkannte man aber auch in Deutschland Mancinis eminente Bedeutung für allseitig formulierte Staatsangehörigkeitsanknüpfungen und die Gleichstellung der Ausländer und Inländer in ihren zivilen Rechten unter Verzicht auf die ReziprozitätsklauseL Ludwig v. Bar formulierte 1889: "Können wir nun auch die Prinzipien der neuen italienischen Schule nicht für haltbar oder ausreichend erklären, so müssen wir doch in den mannigfachsten praktischen Resultaten in Übereinstimmung mit Brocher die größte Anerkennung zollen. Wenn auch die Begründung der sogenannten Personalstatute auf die Nationalität (Staatsangehörigkeit) schon im Code civil und theilweise auch im Österreichischen Gesetzbuch sich findet, und ebenso die Regel der 195 PASQUALE STANISLAO MANCINI: De l'utilite, (Fn. ll), S. 287, vgl. auch S. 229 ("Deja le grand Savigny"), 235 ("Savigny, dont nous avons plusieurs fois reppele le nom avec respect,") Institut, (Fn. ll), S. 334, 340, 345. 196 Vgl. dazu z. T. bereits HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 30 ff.; ders., L'adoption du principe de Ia nationalite par le EGBGB du 18. aout
=
1896, in: Liber Memorialis Francois Laurent, Brüssel 1989, S. 869 ff. 197 FRANZ KAHN: Die Lehre vom ordre public (Prohibitivgesetze), in: OTTO LENEL/HANS LEWALD (Hg.), (Fn. 178), S. 197; vgl. zur Kritik auch ders., über Inhalt, Natur und Methode des internationalen Privatrechts, in: a .a.O., S. 269 ff.; LEO STRISOWER, (Fn. 49), S. 29 ff.
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gleichen Rechtsfähigkeit der Einheimischen und Fremden in privatrechtlicher Beziehung keineswegs im italienischen Gesetzbuch zuerst aufgestellt ist, so ist doch der erste dieser beiden Sätze von der neuen italienischen Schule tiefer begründet und consequenter durchgeführt worden ... und die energische Festhaltung und Vertheidigung des zweiten muss einer Nation hoch angerechnet werden, welche so lange Zeit unter der Einmischung der Fremden in ihre politische Gestaltung gelitten hatte, ..."198. In der deutschen Rechtswissenschaft war v. Savignys Wohnsitzanknüpfuns herrschend 199• Aber ab 1862 gewann die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit und damit die Verdrängung des Domizils als Anknüpfungspunkt an Boden. Ludwig v. Bar, Roßhirt, sowie der große Pandektist Friedrich Mommsen und Bähr sind hier als Protagonisten zu nennen 200 . L. v. Bar versucht die Domizilanknüpfung v. Savignys mit der Idee Mancinis in der ersten Auflage seines Lehrbuchs zum internationalen Privat- und Strafrecht zu versöhnen. Er hielt an der Theorie Savignys fest, weil er - wie er in dem Vorwort zur 2. Auflage seines Werkes schreibt - in seiner Jugendarbeit sich nicht allzuweit von den Grundsätzen des anerkannten Meisters entfernen wollte 201 . Es sollte zwar das Heimatrecht einer Person für die persönlichen Rechtsverhältnisse gelten. Unter Heimat verstand er aber den Staat, "in welchem die Person ihren Wohnsitz und zugleich Wohnrecht, d. h. einseitig von der Staatsgewalt nicht aufzuhebendes Recht auf dauernden Aufenthalt hat." Ein neues Domizil könne erst erworben werden, wenn die Person aus dem bisherigen "Unterthanenverbande" entlassen und in einen neuen aufgenommen wurde. Die verbürgte Auswanderfreiheit gebe ihr das Recht zu einem solchen Wechsel202 . 198 LUDWIG VON BAR: Theorie und Praxis des internationalen Privatrechts Bd. I, Hannover 1889, S. 100 f . 199 Vgl. die Nachweise in Fn. 150. 200 Dazu HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut , (Fn. 2), S. 33 f. Vgl. zu den Stimmen, die sich auch für das Staatsangehörigkeitsprinzip aussprachen, noch die Hinweise bei ALBERT GEBHARD, (Fn. 114), S. 51, 304 ff.; vgl. auch FERDINAND BöHM: Die räumliche Herrschaft der Rechtsnormen (Oertliche Statutenkollision), Erlangen 1890, S. 31 ff. 201 LUDWIG VON BAR, (Fn. 11), S. VI. 202 LUDWIG VON BAR: Das internationale Privat- und Strafrecht, 1. Auf!., Hannover 1862, S. 83 f., 90 f. , 98 f.
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Die Auswanderungsfreiheit, ein in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutsamer Argumentationstopos, spielte auch bei der Frage eine Rolle, an welche Staatsangehörigkeit eines Doppelstaaterg anzuknüpfen ist. Es soll, so Barazetti, die zuletzt erworbene sein. Dies folge daraus, daß die Staatsangehörigkeit nach derjenigen Entscheidung zu bemessen sei, die das Individuum nach dem Prinzip der Auswanderungsfreiheit getroffen habe 203 • Sogleich wurde v. Bars Neuansatz entschieden kritisiert. Conrad Eugen Franz Roßhirt, Kanonist, Zivilist und Strafrechtslehrer an der Universität Heidelberg 204 , sprach sich 1863 in einem auch später noch vielbeachteten Aufsatz im Archiv für civilistische Praxis gegen die Thesen v. Bars aus, denn ein von der Staatsangehörigkeit getrennt zu sehendes Wohnrecht werde es im Ausland vielfach nicht geben. Die dauerhafte Staatsangehörigkeit sei als Anknüpfungspunkt dem leichter zu verändernden Wohnsitz und dem modifizierten Wohnsitz v. Bars überlegen. Zudem sei der Wohnsitz schwerer zu ermitteln als die Staatsangehörigkeit. Für die Nationalität spreche auch der sich in den Staatsverträgen der deutschen Staaten offenbarende ZuJi der Zeit. Sie verwendeten oft Staatsangehörigkeitsanknüpfungen 2 • Im Jahre 1878 veröffentlichte Friedrich Mommsen gleichfalls im Archiv für civilistische Praxis einen Artikel zur Kodifikation des 203 CESAR BARAZETTI: Das internationale Privtrecht im Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich, Hannover 1897, S. 22; vgl. auch CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), S. 260 f. 204 Zu Roßhirta Leben und Werk vgl. REGINA BARBARA WEIGLE, (Fn. 2) , S. 47 ff., 197 ff. mit weiteren Nachweisen; vgl. auch KARL VON LILIENTHAL: Heidelberger Lehrer des Strafrechts im 19. Jahrhundert, in: WILFRIED KüPER (Hg.): Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 1986, S. 14 ff. ROßHIRT (1793-1873) - vor allem Kanonist und Strafrechtler - hatte Gelegenheit, als Student der Landshuter Universität bei VON SAVIGNY und dem jungen Privatdozenten MITTERMAIER zu hören. (Zu MITTERMAIERS Landshuter Zeit vgl. VIERNSTEIN : Kar! Joseph Anton Mittermaier als Student und Lehrer an der Universität Landshut, in: Bayern-Zeitung 18. Juli 1931, S. 2 ff.). ROßHIRT war mit MITTERMAIER befreundet, vgl. Regina Barbara Weigle, (Fn. 2), S. 47, 197 mit Fn. 7. Zu dem Bericht VICTOR V. SCHEFFELS Uber ROßHIRT als "Höllenrichter" seines Rigorosums am 11.1.1849 vgl. REINER HAEHLING VON LANZENAUER: Dieherjurist Scheffel, Schriftenreihe des Rechtshistorischen Museums Karlsruhe (bisher Kleine rechtsgeschichtliche Schriften aus Karlsruhe) , Heft 6, November 1988, S. 21, zu Roßhirt auch S. 16. 205 FRANZ ROßHIRT: Beitrag zum internationalen Privatrecht, in: Archiv für civilistische Praxis 46 (1863) S. 325, 328 f., 333 f.
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internationalen Privatrechts 206 . Er trat de lege ferenda für das Staatsangehörigkeitsprinzip ein. Sein Aufsatz sollte gewichtigen wissenschaftlichen Einfluß auf die Vorarbeiten zur Kodifikation des Kollisionsrechts haben, worauf noch zurückzukommen sein wird. Zu Mommsens äußeren Lebensdaten ist zu sagen, daß er 1818 in Flensburg geboren wurden und 1892 in Rom starb. Er war seit 1854 außerordentlicher, später ordentlicher Professor an der Universität Göttingen. Seine zivilrechtliehen Werke waren von großem Einfluß. 1867 wurde er Rat am Oberappelationsgericht Berlin und 1884 Mitglied des Staatsrates. Bedeutsam war der 18. Deutsche Juristentag in Wiesbaden (1886), der sich mit großer Mehrheit für das Staatsangehörigkeitsprinzip im Kollisionsrecht ausgesprochen hat 207. Ludwig v. Bar führte den Meinungsumschwung in der deutschen Kollisionsrechtswissenschaft ausdrücklich auf M ancinis italienische Schule zurück: Endlich habe die neue italienisch-französische Schule des internationalen Privatrechts zu einer tiefgehenden erneuten Prüfung der Grundsätze geführt. Auch wer sich den Prinzipien jener neuen Schule nicht anschließen könne, müsse dankbar anerkennen, was sie direkt und indirekt gefördert habe. Für v. Bar waren Mancinis Lehren der Anstoß, die in der damaligen deutschen Jurisprudenz herrschende Theorie Savignys einer erneuten Prüfung zu unterwerfen 208 . Diese Überprüfung erfolgte auch bei den Vorarbeiten am Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB), das 1896 erstmals für das Deutsche Reich das internationale Privatrecht kodifizierte und zur Rechtseinheit auf diesem Gebiet führte. Die Überwindung der Rechtszersplitterung in Deutschland war das vornehmste politische Ziel der Kodifikatoren 209. 206 FRIEDRICH MOMMSEN: Wie ist in dem bürgerlichen Gesetzbuch für Deutachland das Verhältnis des inländischen Rechts zu dem ausländischen zu normieren?, in: Archiv für civilistische Praxis 61 {1878), S. 149 ff. 207 Verhandlungen des 18. Deutschen Juristentages, hg. v . Schriftführer Hauptamt der ständigen Deputation, Bd. II, Berlin 1987, S. 141. 208 LUDWIG VON BAR, {Fn. 198), S. VI. Ähnlich auch F. MEILI: Geschichte und System des Internationalen Privatrechts im Grundriß, Leipzig 1892, S. 55 f. 209 Vgl. dazu ALEXANDER LÜDERITZ: Kodifikation des bürgerlichen Rechts in Deutschland 1873 bis 1977: Entstehung, Entwicklung, Aufgabe, in: Vom Reichsjustizamt zum Bundesministerium der Justiz, 1977, S. 219 f. Eine Quellensammlung des bis 1.1.1900, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des EGBGB,
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b) Mancinis Bedeutung für die Kodifikationsarbeiten aa) Wisssenschaftlicher Einflu.Jl. Das EGBGB beruht auf den Entwürfen von Albert Gebhard 10, einem Ministerialrat in den Diensten des Großherzogs von Baden. Gebhard legte einen Entwurf zur Kodifikation des internationalen Privatrechts als Kornmissionsmitglied während der Arbeiten am Bürgerlichen Gesetzbuch 1881 vor, den er 1887 auf den damals neuesten Stand brachte; beide Entwurfsfassungen sind veröffentlicht 211 • Die dazugehörigen Motive bilden eine brillante Bestandsaufnahme des damaligen internationalen Privatrechts und der damals modernen Tendenzen. Die Begründungen für seine Vorschläge und diese selbst stellen eine großartige wissenschaftliche Leistung dar.
Unveröffentlicht ist ein Vorentwurf Gebhards, der sogenannte Heidelberger Entwurf. Die Witwe Gebhards schenke 1910"2 12 Teile des Nachlasses ihres Mannes dem Juristischen Seminar der Uni-
geltenden Kollisionsrechts bietet THEODOR NIEMEYER: Das in Deutschland geltende Internationale Privatrecht, Leipzig 1894. 210 Zu GEBHARD vgl. MICHAEL BEHN: Die Entstehungsgeschichte der einseitigen Kollisionsormen des EGBGB unter besonderer Berücksichtigung der Haltung des badischen Redaktors Albert Gebhard und ihre Behandlung durch die Rechtsprechung in rechtsvergleichender Sicht, Frankfurt 1980, S. 117 ff.; WERNER SCHUBERT: Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB - Einführung, Biographien, Materialien -, Berlin, New York 1978, S. 73 f. 211 Dazu vgl. den Überblick bei ERNST ZITELMANN: Artikel 7 bis 31 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch für das Deutsche Reich nebst sämtlichen Einwürfen, Leipzig 1908, S. 1 f.; GERHARD KEGEL, (Fn. 11), S. 135; CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 490 ff.; OSKAR HARTWIEG: Die Entstehung der Art. 7-31 EGBGB, in: OSKAR HARTWIEG/FRIEDRICH KORKISCH (Hg.) : Die geheimen Materialien zur Kodifikation des deutschen Internationalen Privatrechts 1881-1896, Tübingen 1973, S. 23 ff., dazu GERHARD KEGEL: Besprechung, in: RabelsZ 39 (1975), S. 131 ff.; MICHAEL BEHN, (Fn. 210), S. 117 ff.; die Entwürfe Gebhards nebst Motiven sind veröffentlicht worden in: THEODOR NIEMEYER, (Fn. 114), S. 4 ff.; weitere Quellennachweise geben CHRISTIAN VON BAR (Fn. 11), Rz. 490, Fn. 345 und HEINZ-PETER MANSEL, (Fn. 2), S. 34, Fn. 150. Nachweise zur Veröffentlichung der Protokolle der beiden Kommissionen zur Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuches vor 1932 finden sich bei GEORGE MELCHIOR, (Fn. 182), S. 32. Die Protokolle sind aunugsweise abgedruckt bei OSKAR HARTWIEG/FRIEDRICH KORKISCH: Materialien, a.a.O .,
s. 75 ff.
212 Vgl. dazu auch WERNER SCHUBERT, (Fn. 210), S. 17.
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versität Heidelberg. Werke aus seiner international-rechtlichen Bibliothek befinden sich im Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht Zum Nachlaß gehört ein von zwei Schreibern geschriebener und mit handschriftlichen Notitzen Gebhards versehener Band mit dem Einbandtitel "Internationales Privatrecht - Entwurf zu den Gebhard'schen Motiven". Das Manuskript selbst trägt die Überschrift "Die räumliche Herrschaft der Gesetze". Es ist das Verdienst Mant,red Wochners, auf dieses Werk aufmerksam gemacht zu haben 2 3. Das Manuskript ist nicht datiert, -doch zitiert Gebhard ein erst 1876 erschienenes Lehrbuch214 . Andererseits geht er nicht auf den von Friedrich Mommsen 1878 veröffentlichen Aufsatz ein. Diesen hat er aber bei der Abfassung des Entwurfs von 1881 vielfach herangezogen215. Der Heidelberger Entwurf muß daher um 1877 entstanden sein. Er geht von einem Mischsystem zwischen Wohnsitz- und Staatsangehörigkeitsanknüpfung aus 216, wobei aber nur die Handlungsfähigkeit, Eheschließung und das Kindschaftsstatut durch die Staatsangehörigkeit bestimmt wird 217. Der Wohnsitz ist 213 Vgl. MANFRED WOCHNER: Gesamtetatut und Einzelstatut - Zur Auslegung des Art. 28 EGBGB unter besonderer Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte, Festschrift für Eduard Wahl, Heidelberg 1973, S. 164. Teile des schwer lesbaren MANUSKRIPTS GEBHARDS hat WOCHNER in einem unveröffentlichten Typoskript vorgelegt. Die vollständige Übertragung wird von ihm veröffentlicht werden. Ich möchte auch an dieser Stelle Herrn PROFESSOR WOCHNER dafür herzlich danken, daB er mir die Materialien zugänglich gemacht hat. 214 ALBERT GEBHARD: Manuskript, (Fn. 213), Blatt 1 Rückseite. 215 Zur Datierung vgl. auch MANFRED WOCHNER: Gesamtstatut, (Fn. 213), S. 164; ihm folgend GERTE REICHELT: Gesamtstatut und Einzelstatut im IPR, Wien
1985, s. 28, 42. 216 MANFRED
WOCHNER: Gesamtstatut, (Fn. 213), S. 164, Fn. 16, sieht den Heidelberger Entwurf noch stark durch das sächsische Kollisionsrecht beeinfluBt. Zu diesem vgl. HEINZ-PETER MANSEL: Peraonalstatut, (Fn. 2), S. 22 (dort weitere Nachweise) . 217 Die Paragraphen des Heidelberger Entwurfs sehen folgende Anknüpfungen vor: § 1 Rechtsfähigkeit: Iex causae br;w. Gesellschaftaaitz; § 2 Handlungsfähigkeit: Staatsangehörigkeit; § 3 Sachen: Iex rei sitae (mit Ausnahmen); § 4 vertragliche Schuldverhältnisse: Schuldnerwohnsitr; mit Ausweichklausel und Günstigkeitsprüfung; §§ 5, 6 Sonderregeln r;u § 4; § 7 vertragsähnliche Schuldverhältnisse: Schuldnerwohnsitz; § 8 Delikt: Begehungsort; § 9 Eheschließung: Staatsangehörigkeit; § 10: Scheidung: Iex fori; § 11 Anerkennung ausländischer
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noch ganz im Geiste v. Savignys vorherrschender Anknüpfungspunkt. Breiten Raum verwendet Gebhard auf die Rechtfertigung des Staatsangehörigkeitsprinzips 218 • Er hat hier bereits fast alle Argumente und Überlegungen versammelt, die in den Motiven seines Entwurfs von 1881 dazu dienen werden, die im Bereich des Personalstatuts ausnahmslose Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit zu rechtfertigen 219 . Gebhard beruft sich u. a. darauf, daß Mancini, dessen Aufsatz in Clunet 1 (1874) er zitiert, und dessen Anhänger Laurent und Esperson das Nationalitätsprinzip rechtfertigen. Auf dieses Zitat verzichtet er in der Parallelstelle im Entwurf von 1881 220 . Sodann schreibt Gebhard im Heidelberger Entwurf weiter: "Die Gesetze, welche das persönliche Recht normieren, fußen nicht auf der räumlichen Beziehung der Person zum Boden, nicht auf der Thatsache des Zusammenwachsens innerhalb des Staatsgebietes, sondern bringen die durch Abstammung und Nationalität begründeten Eigenthümlichkeiten eines Volkes zum Ausdruck. Die für die Regelung der Heirathsfähigkeit, des Volljährigkeitsalters u. s. w. maß~ebenden Momente sind nationaler, nicht territorialer Natur." 2 1 Sodann zitiert er einen längeren Abschnitt aus einem Werk Laurents, in dem dieser - auf Mancini fußend 222 - das Staatsangehörigkeitprinzip mittels des Einflusses des Klimas auf die Nation und ihr Recht rechtfertigt. Gebhard vermerkt im Anschluß:"ähnlich auch Mancini, Journal 1874, p. 293." 228 Das Zitat Ehetrennungsurteile; § 12 Ehegüterrecht: Manneswohnsitz; § 13 Kindschaftsrecht: Staatsangehörigkeit; § 14 Bevormundung/Entmündigung: Staatsangehörigkeit/Wohnsitz;§ 15 Vormundschaftsverfahren; § 16 Erbfolge: Wohnsitz mit Anerkennung des Renvoi und Einzelstatutsvorrang für Grundstücke; § 17 Form von Rechtsgeschäften: Iex causae, u. U. Iex loci; § 18 ordre public; § 19 Retorsion; § 20 Gesetzesdefinition. Zu § 16 vgl. MANFRED WOCHNER: Gesamtstatut, (Fn. 218), s. 164 ff. 218 ALBERT GEBHARD, (Fn. 218), Blatt 31 Vorderseite- Blatt 43 Vorderseite. 219 ALBERT GEBHARD , (Fn. 114), S. 50 ff. Ein Überblick über diese Argumente findet sich bei HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 85 ff.; den., L'adoption, (Fn. 196), S. 875 f. 220 ALBERT GEBHARD, (Fn. 213), Blatt 33 Rückseite; den., (Fn. 114), S. 51. 221 ALBERT GEBHARD, (Fn. 213), Blatt 35 Vorder-und Rückseite. 222 Dazu, daß LAURENT unabhängig von MANCINI ähnliche Thesen wie dieser aufgestellt haben soll, vgl. LEO STRISOWER, (Fn. 49), S. 3. 223 ALBERT GEBHARD, (Fn. 213), Blatt 35 Rückseite. Der Hinweis auf MANCINI bezieht sich auf Clunet 1 (1874), S. 293.
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Laurents und den Hinweis auf Mancini hat Gebhard dann im Manuskript gestrichen. In den Motiven von 1881 sind die entsprechenden Ausführungen Gebhards gekürzt. Das Zitat erscheint dort jedoch wieder, allerdings ohne die gleichzeitige Erwähnung Mancinis224.
Es kann festgehalten werden, daß Gebhard, ohne in der Argumentationslinie etwas zu ändern, 1881 - anders als 1877 - nicht mehr direkt auf Mancinis Lehre von der nazionalita verweist, um das Staatsangehörigkeitsprinzip zu rechtfertigen, sondern sich mit der Berufung auf Laurent bescheidet. Das erstaunt, entspricht doch der Entwurf von 1881 viel stärker dem nazionalita-Konzept Mancinis als der von 1877. Man hat dennoch von einer wissenschaftlichen Beeinflussung Gebhards durch Mancini auszugehen. Gebhard kannte Mancinis Gutachten für das Institut de Droit international, in welchem dieser sein System und die Staatsangehörigkeitsanknüpfung darlegte. Das zeigen die gestrichenen Zitate im Heidelberger Entwurf. Er war ausweislich eines Zitats in den Motiven von 1881 225 auch mit der in der Rev.dr.int.leg.comp. 7 (1875) veröffentlichten Fassung dieses Textes 226 vertraut. Mittelbar war Mancinis Einfluß auf Gebhard via Laurent 227. Gebhard berücksichtigte dessen wissenschaftliche Stellungnahme mehrfach 228 . Laurent war stark von Mancini beeinflußt. Daß er ihn als Autorität anerkannte, zeigt sich in der Widmung seines achtbändigen Werkes über das internationale Privatrecht an Mancini mit den Worten:"C'est un hommage que je rends a l'Italie, qui a inaugure le droit international prive, et a l'homme eminent SOUS l'inspiration duquel les principes de notre science ont ete inscrits dans le Code italien" 229 . Auch für Laurent folgt die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit mit naturrechtlicher Notwendigkeit aus der Individualität der Nation und der des Menschen 230 . Festzuhalten ist: Die gedankenprägende Kraft des Nationalitätsprinzips Mancinis hat direkt und indirekt über Laurent auch das deutsche 224 ALBERT GEBHARD, (Fn. 114), S. 55. 225 ALBERT GEBHARD, (Fn. 114.), S. 37. 226 Zu den verschiedenen Fassungen vgl. oben Fn. 11. 227 Zu LAURENT vgl. ERIK JAYME/JOACHIM HERTH: Francois Laurent und das Internationale Privatrecht, in: Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts 1988, S. 125 Cf., dort weitere Nachweise; sowie viele der Beiträge im Liber Memorialis Francois Laurent, Brüssel 1989, dort auch zu dem Reformprojekt. 228 ALBERT GEBHARD, (Fn. 114.) S. 55, 308. 229 FRANCOIS LAURENT, (Fn. 140), S. V. 23 FRANCOIS LAURENT, (Fn. 140), S. 624 ff., 638 CC.
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EGBGB beeinflußt. Jayme findet das Bild:"I pensieri Manciniani erano entrati nella mente di Gebhard quasi per osmosi." 231 Das von Mancini geschaffene Kollisionsrecht des italienischen Codice civile galt außerdem auch dem Reichsjustizamt, d. h. dem Justizministerium, als nachahmenswertes Beispiel, wie ein Brief vom 4.11.1895 an den Reichskanzler Fürst Bismarck zeigt232 . Auch hier wirkte die italienische Schule auf den deutschen Gesetzgeber. Weniger stark war Mancinis Einfluß auf Gebhard in anderen Punkten. So stand Gebhard Mancinis dreigliedrigem System eher abwartend gegenüber. Er stellte es dar, als er die Frage aufwarf, was die Rechtfertigung für die Anwendung ausländischen Rechts durch inländische Gerichte ist233 . Vor allem ist zu bemerken, daß er sich kritisch gegen die aus seiner Sicht zu weitgehende ordre public-Auffassung v. Savignys wandte 234 , also inhaltlich erst recht M ancinis Ansicht insoweit ablehnen mußte. Freundlich äußerte sich Gebhard in den Motiven zum Entwurf von 1887 zu M ancinis Bestrebungen, durch Staatsverträge ein einheitliches Kollisionsrecht der Völker zu schaffen. Gleichzeitig ließ er offen, ob dieses Ziel zweckmäßig sei und zweifelte an seiner Realisierbarkeit in absehbarer Zeit2"35 . bb) Mancini und Bismarck. Manche glauben, daß vor allem der persönliche Einfluß M ancinis auf den Reichskanzler Fürst Bismarck dazu führte, daß das EGBGB an die Staatsangehörigkeit anknüpfte. Eine solche Beeinflussung nimmt jedenfalls Simons in 231 ERIK JAYME: Paaquale Stanislao Manc:ini e lo sviluppo del diritto internazianale tedeaco (Vortrag gehalten am 27. Februar 1987 in Trient auf der Tagung _"Fondazione delle acienze e organizzazione della cultura alle fin dell'ottocento: L'enciclopedia giuridica italiana." Der Vortrag wird in einem von ALDO MAZZACANE herausgegebenen Tagungsband veröffentlicht werden.). 232 Der Brief ist abgedruckt bei OSKAR HARTWIEG/FRIEDRICH KORKISCH, (Fn. 211) S. 222 ff. mit Fn. 363. 233 ALBERT GEBHARD, (Fn. 114), S. 37. Der Heidelberger Entwurf geht auf diese Frage noch nicht so vertieft ein wie der Entwurf von 1881. Vgl. ALBERT GEBHARD (Fn. 213), Blatt 8 Vorderseite. 234 ALBERT GEBHARD, (Fn. 114), S. 257 f. Die Erläuterungen zur Parallelnorm im Heidelberger Entwurf sind wesentlich kürzer. Offenbar hat der Aufsatz von FRIEDRICH MOMMSEN GEBHARD zu Änderungen im Entwurf von 1881 veranlaßt, wie aus einschlägigen Zitaten und der Übernahme von Gedankengängen zu ersehen ist. Dazu sogleich im Text. 235 ALBERT GEBHARD, (Fn. 114), S. 303 f.
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seiner Haager Vorlesung im Jahre 1926 an: "... c'est l'influence de Mancini. A ce moment, Bismarck s'appuyait sur les nationaux-liberaux, et c'etait Mancini qui, par le porte-voix de ce parti dominant la Diete, dictait sa theorie au chanceHer de fer." 236 Walter Simons (1861-1937) 237 war ab 1907 im Reichsjustizministerium, zuvor als Richter, ab 1911 im Auswärtigen Amt tätig. 1918 wurde er Berater des Reichskanzlers und war Mitglied der deutschen Delegation in Versailles im Jahre 1919. In den Jahren 1920/21 wurde er Außenminister; von 1922 bis 1929 war er Reichsgerichtspräsident. Ab 1927 lehrte er als Honorarprofessor an der Universität Leipzig. Ihm kommt das Verdienst zu, als I. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht diese Vereinigung vor der Gleichschaltung durch die nationalsozialistischen Machthaber dadurch bewahrt zu haben, daß er die Arbeiten der Gesellschaft suspendierte238 . Simons gibt keine Beweise für seine Aussage. Als Mitarbeiter im Reichsjustizministerium, später als Berater des Reichskanzlers, dann als Außenminister des Deutschen Reichs und als Präsident des Reichsgerichts hatte er aber Zugang zu allen Materialien und einen guten Einblick in alle Internas der politischen Entscheidungsstellen. Plausibel wird seine Darstellung auch, wenn man bedenkt, daß Mancini und Bismarck in Briefkontakt standen 239 . Mancini kannte zudem Bismarck persönlich, hat er doch 1867 als Vertreter der italienischen Regierung mit Bismarck und Delbrück die Rechtsvereinheitlichung durch kollisionsrechtliche Staatsver236 WALTER SIMONS: La conception de droit international prive d'apres Ia doctrine et Ia pratique en Allemagne, in: Recueil des Cours 15 {1926), S. 482. Dazu bereits HEINZ- PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 37 f. 237 Zu SIMONS vgl. H. GRÜNDER: Walter Sirnone als Staatsmann, Jurist und Kirchenpolitiker, 1975. 238 HERRMANN MOSLER: Die deutsche Gesellschaft für Rechtsvergleichun&, ihr Beitrag zum Internationalen Privatrecht seit der Wiedergründung 1949, Festvortr ag in Harnburg anläßlich der 40 Jahr-Feier der Gesellschaft am 12.4.1989. 239 Vgl. dazu ERIK JAYME: Mancini {1980) , (Fn. 4), S. 26 mit Fn. 112 Mancini {1988), (Fn. 4), S. 57 mit Fn. 112; ders., Potere politico e codificazione del diritto internazianale privato: Da Mancini a Bismarck, in: Diritto e potere nella storia europea - Atti del quarto congresso internazianale della Societa Italiana di Storia del Diritto, in onore di Bruno Paradisi, Florenz 1982, S. 1181 f., auch abgedruckt in: ders., Mancini (1988), {Fn. 4), S. 113 f. Zu BISMARCKS Verhältnis zu V. SAVIGNY vgl. MARIO LOSANO: Bismarck parla di Savigny con Jhering, in: Quaderni fiorentini, {Fn. 57), S. 523 ff.
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träge verhandelt 240 . - Zu beachten ist auch, daß Bismarck anderweitig konkret Einfluß auf die Kodifikation des deutschen internationalen Privatrechts genommen hat. Im Gegensatz zu Gebhard 241 teilte Bismarck Mancinis Ansicht und sah das internationale Privatrecht nicht als Teil der nationalen Rechtsordnung, sondern als Völkerrecht an. Bismarck ließ in einem Brief des Auswärtigen Amtes vom 30. September 1887 das federführende Reichsjustizamt wissen: "Aus anderen Anlässen ist Eurer Excellenz bekannt, daß Seine Durchlaucht eine solche Regelung im Verhältnis von Staat zu Staat nicht für wünschenswerth erachtet. Fürst Bismarck ist der Meinung, daß Bestimmungen über das internationale Privatrecht auch nicht in ein Gesetzbuch hineingehören, sondern dem Völkerrecht in seiner fortlaufenden Entwicklung zu überlassen sind. Von dem politischen Standpunkt ist es bedenklich, wenn wir Normen für die Beurtheilung internationaler Fragen in einem deutschen Gesetzbuch festlegen und uns dadurch in perpetuum binden. Seine Durchlaucht würde aus diesen Rücksichten nicht in der Lage sein, seine Zustimmung zu der Aufnahme solcher Vorschriften zu ertheilen." 242 Bei Berücksichtigung dieser Umstände ist eine Absprache zwischen Mancini und Bismarck hinsichtlich der Einführung des Staatsangehörigkeitsprinzips vielleicht nicht abwegig, auch wenn sich in den Materialien Gebhards und den anderen von Hartwieg und Korkisch publizierten Schriftstücken kein direkter Anhaltspunkt dafür finden läßt. Dagegen spricht jedoch einiges. Die von Gebhard 1881 und 1887 vorgelegten Entwürfe zum Kollisionsrecht gingen bereits vom Staatsangehörigkeitsprinzip aus. Eine direkte Einflußnahme Mancinis hätte also zuvor stattfinden müssen. In der Tat sah der Heidelberger Entwurf Gebhards, den er - wie ausgeführt - um 1877 erstellt hatte, noch das dargestellte Mischsystem aus Domizil- und Staatsangehörigkeitsprinzip vor, wobei dem Domizil als Anknüpfungspunkt größere Bedeutung zukam. Unbekannt ist aber, ob der Heidelberger Entwurf den Regierungsstellen überhaupt zur Kenntnis gelangt ist, was wohl eher zu verneinen ist. - Als Grund für den vollen
240 FRANZ KAHN, (Fn. 13), S. 12.
s.
241 Vgl. ALBERT GEBHARD, (Fn. 114), S. 39 ff. 242 Abgedruckt bei OSKAR HARTWIEG/FRIEDRICH KORKISCH, (Fn. 211), 159 f.
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Umschwung auf das Staatsangehörigkeitsprinzip in den späteren Entwürfen Gebhards wird der ~enannte grundlegende Aufsatz von Friedrich Monmtsen angesehen 43 , in dem er sich 1878 für den Staatsangehörigkeitsgrundsatz aussprach. Gebhard zitierte ihn oft und mit großem Respekt, wie etwa aus den Worten ersichtlich ist: "Mommsen hat keine Bedenken kundgetan." 244 Die Richtigkeit der Annahme erscheint wegen vieler Textparallelen des 1881 von Gebhard verfertigten Entwurfs zu dem Aufsatz Mommsens plausibel, während es kaum vorstellbar ist, daß Bismarck schon vor 1881 auf Verlangen Mancinis in Sachen internationales Privatrecht bei Gebhard interveniert hat, zumal Bismarck einer Kodifikation des Kollisionsrechts grundsätzlich ablehnend gegenüberstand 245 . So ist es bei der heutigen Quellenlage nicht mehr als bloße Spekulation, einen direkten Einfluß Mancinis auf die Kodifikation des EGBGB anzunehmen. Die vorbildlichen Entwürfe Gebhards wurden nicht Gesetz 246 • Weil Bismarck das internationale Privatrecht zum Völkerrecht zählte und sich nicht vorschnell auf bestimmte Anknüpfungsgrundsätze festlegen wollte, um keinen Spielraum bei der Aushandlung von Staatsverträgen zu verlieren, wurden aufgrund dieser politischen Überlegungen in das EGBGB als Kompromiß nur unilaterale Kollisionsnormen aufgenommen, die allein an die deutsche Staatsangehörigkeit anknüpften. 1986 wurde das EGBGB reformiert. Die einseitigen Kollisionsnormen wurden durch allseitige ersetzt. Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit blieb als Grundprinzip erhalten. Die Gründe, die der deutsche Gesetzgeber dafür nennt 247, sind die Mancinis:
243 Vgl. MANFRED WOCHNER, (Fn. 213) S. 164, 167 ff.; GERTE REICHELT,
(Fn. 215), S. 28, 42. 244 ALBERT GEBHARD, (Fn. 114), S. 43. 245 Vgl. den im Text soeben zitierten Brief sowie OS KAR HARTWIEG/FRIEDRICH KORKISCH, (Fn. 2ll), S. 12 ff., ferner die dort abgedruckten Quellen, insbes. S. 159 f., 297 f.; vgl. außerdem MICHAEL BEHN, (Fn. 210), S. 219 ff.; KURT H. NADELMANN: Mancini (1969), (Fn. 126), S. 438, Fn. 126 Conflict of Law, (Fn. 126), S. 70, Fn. 126; ERIK JAYME: Da Mancini a Bismarck, (Fn. 239) , S. 1178 ff. = Mancini (1988), (Fn. 4) , S. 113 ff. 246 Zur weiteren Gesetzgebungsgeschichte vgl. etwa CHRISTIAN VON BAR, (Fn. 11), Rz. 490 ff.; HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2), S. 38 f., jeweils mit weiterführenden Nachweisen. 247 Vgl. dazu HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, (Fn. 2) , S. 64 ff.
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Die typischerweise engste Beziehung des Menschen an seine Heimat (seine Nation) verlangt die Geltung des Heimatrechts.
Dionisio Anzilotti und das deutsche Internationale Privatrecht
Von Erik Jayme 1. Einführung
Im italienischen internationalen Privatrecht gehört das 19. Jahrhundert Pasqua/e Stanislao Mancini 1, das 20. Jahrhundert dagegen Dionisio Anzilolli. Mancini hatte die Kodifikation des internationalen Privatrechts in dem Einführungsgestz zum Codice civile von 1865 entworfen und durchgesetzt 2 • Seine Konzeption des Nationalitätsprinzips ohne Erfordernisse der Gegenseitigkeit war die Grundlage bilateraler Kollisionsnormen geworden. Die italienische Schule des internationalen Privatrechts hatte Anhänger auch außerhalb Italiens gefunden3 . Mancini versuchte, die neuen Ideen in einer internationalen Vereinheitlichung des IPR durchzusetzen 4 • Als er 1888 starb, war sein Ruhm nahezu unangefochten. 1 Vgl. ERIK JAYME: PASQUALE STANISLAO MANCINI (1817-1888) - Die Nation als Rechtsbegriff im Internationalen Privatrecht, in: Juristische Schulung, 1988, S. 933 ff. GEORGE MELCHIOR: Die Grundlagen des deutschen internationalen Privatrechts, 1932, S. 12, schreibt &ur Lehre MANCINIS:"Ihr Widerhall ging über alles hinaus; was ein einzelner Jurist je erreicht hat, weil Mancini sich die stärkste Gemeinschaftsempfindung, welche seine Zeit zur Entfaltung gebracht hatte, &unut&e machte, das nationale Gefühl". 2 ERIK JAYME: Pasquale Stanislao Mancini - II diritto interna&ionale privato tra Risorgimento e attivita forense, Milano 1988, S. 27-28. 3 ERIK JAYME/ JOACHIM HERTH: Francoie Laurent und das Internationale Privatrecht - Tagung in Gent, in: IPRax 1988, S. 125-127. 4 PASQUALE STANISLAO MANCINI: Negoziati des governo italiano e convocazione di conferenza diplomatica in Roma per norme conven&ionali di diritto internazianale privato e per Ia esecuzione dei giudicati stranieri (1881-1885), Roma 1885.
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Kurze Zeit später begann dieses Ideengebäude zu versinken. Dionisio Anzilotti wurde der Gegenspieler in fast allen grundsätzlichen Fragen. Seine ersten Schriften fallen noch in das augehende 19. Jahrhundert5 . Sie sind zunächst vor allem der Demontage Mancinis gewidmet, ehe später die dogmatischen Figuren gemeißelt wurden, die noch heute das Bild des internationalen Privatrechts in Italien bestimmen. Es ist die Zeit des aufkommenden Positivismus6 . Die Nation interessiert nicht mehr; es ist der Staat, der in den Vordergrund tritt. Bei Mancini waren es die Privatinteressen, die unter dem Dach des Völkerrechts noch beachtet wurden, ja sich gerade dort besonders gut entfalten konnten. Es war nämlich das Völkerrecht, das zur Anerkennung der dem Ausländer nach seinem Heimatrecht zustehenden Rechte zwang. Jetzt wurden die Sphären geschieden. Der einzelne Mensch wurde wieder dem Staat zugeordnet, das staatliche Recht wurde vom Völkerrecht getrennt. Das dualistische Nebeneinander von Völkerrecht und innerstaatlichem Recht hatte seine Folgen für das internationale Privatrecht7. Die staatliche Souveränität und Justizhoheit wurden als absolute, ja logische Vorgaben verstanden. Was bei Mancini noch selbstverständlich war, z. B. die Anwendung ausländischen Rechts durch inländische Gerichte oder die Wahl des anwendbaren Rechts durch die Parteien 8 , bedurfte jetzt eines ungeheuren Begründungsaufwands. Nichts bezeichnet die Wende zu einem staatlich orientierten internationalen Privatrecht deutlicher als eine Bemerkung Anzilottis aus dem Jahre 1906, es sei absurd zu meinen, der in Art. 9 Disp. Prel. C.c. enthaltene Hinweis auf den
5 DIONISIO ANZILOTTO: La codificazione del diritto intenazionale privato, Discorso letto nel R. Istituto di Scienze Sociali "Cesare Alfieri" in Firenze il giorno 12 Novembre 1898 per Ia solenne inaugurazione degli studi, Firenze 1894; ders.: Studi critici di diritto internazianale privato, Rocca S. Casciano 1898. 6 GIORGIO GAJA: Le prime annate della "Rivista di diritto internazionale" ed il rinnovamento del metodo, in: Quaderni fiorentini 16 (1987), S. 485 ff., 488 ff. Auch dort, wo man weiterhin einem "unbewußten Weltrecht" auf der Spur war, sprach man vom "positiven Naturrecht", vgl. ERNST ZITELMANN: Die Möglichkeit eines Weltrechts, Wien 1888, S. 4, 19. 7 Vgl. TOMASO PERASSI: Dionisio Anzilotti, in: Rivista di diritto internazianale 86 (1958), S. 5 ff., S. 11 f.; DIONISIO ANZILOTTI: II diritto internazianale nei giudizi interni, Bologna 1905. 8 V gl. ERIK JAYME: Paaquale Stanislao Mancini - Internationales Privatrecht zwischen Risorgimento und praktischer Jurisprudenz, Ebelsbach, 1980, S. 8 - 4.
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Parteiwillen sei so zu verstehen, daß das anwendbare Recht für den Vertrag von dem Willen der Partein abhängig sein könne9 • "art. 9 ... non ha ne puö avere l'assurdo significato di fa dipendere dalla volonta delle parti Ia determinazione della legge regolatrice del contratto come tale, nei suoi reguistiti di esistenza e di validita, e generalmente in tutto ehe non rientra nella libera disposizione di contraenti". Die Rechtswahl der Parteien wird bei Anzilotti zum bloßen Indiz für die effektive Verbindung 10 eines Vertrages mit einer Rechtsordnung. Noch ein Hinweis zur völlig gewandelten Auffassung des Verhältnisses von innerstaatlichem Recht zum Völkerrecht. Sie wird deutlich in einem Besprechungsaufsatz von 1894 zu einigen Entscheidungen italienischer Gerichte zur Gerichtsbarkeit über ausländische Staaten 11 . Die italienische Rechtsprechung hatte die uns heute ganz geläufige Unterscheidung entwickelt, daß der ausländische Staat der italienischen Gerichtbarkeit unterworfen werden könne, wenn er nicht hoheitlich, d.h. iure imperii, sondern als Privatperson, iure gestionis, gehandelt hatte 12 • Vorausgegangen waren in der Wissenschaft M ancini und Pisanelli 13• Bei Mancini ging es in einem bedeutenden Anwaltsschriftsatz aus dem Jahre 1847 vor allem darum, die Fürsten - im konkreten Fall den Herzog von Lucca - den Schranken der Zivilgesetze zu unterwerfen 14. In der bahnbrechenden Kommentieruns der sar9 DIONISIO ANZILOTTI: Clausola compromissoria. Collegio arbitrale da costituirsi all'estero. Nullita, in: Opere IV, Padova 1963, S. 71 ff., 75. 10 Vgt. DIONISIO ANZILOTTI, (Fn. 9), S. 75 - 76. 11 DIONISIO ANZILOTTI: Competenza di tribunali italiani in confronto di Stati esteri, in: Opere IV (1963), S. 7 ff. 12 Nachweise bei DIONISIO ANZILOTTI, (Fn. 11), S. 10. 13 P(ASQUALE) S(TANISLAO) MANCINI, G(IUSEPPE) PISANELLI, A(NTONIO) SCIALOJA: Commentario del Codice di procedura civile per gli Stati Sardi con Ja comparazione degli altri Codici italiani, e delle principali Legislazioni straniere, Bd. 1, Torino 1855, S. 528. Zur Unterscheidung zwischen "atti gestione" und "atti d'impero" vgl. SANTI ROMANO: Principii di diritto amminiatrativo italiano, 3. Aufl. 1912, S. 609, der allerdings meint: "Piu corretto ed opportuno t sostituire all'espressione atti di gestione l'altra di negozii giuridici privati e designare gli atti d'impero comme atti amministrativi ... " 14 Zum "Principe come private" vgl. PASQUALE STANISLAO MANCINI: Per Marchese D. Ferdinando Rohrlach contra il tutore surrogato de'suoi figli minori
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dischen Zivilprozeßordnung, die Mancini, Pisane/li und Scialoja verfaßten und ab 1855 in Turin herausgaben, baute Pisanelli diese Lehre aus, die später von den Gerichten des Königreichs Italien übernommen wurde 15 • Ganz anders Anzi/otti16• Er hält diese Unterscheidung für ganz verfehlt, weil sie innerstaatliche Überlegungen über die Abgrenzung zwischen Öffentlichem Recht und Privatrecht in das Völkerrecht überträgt. Ob eine Angelegenheit politisch oder unpolitisch für einen Staat sei, könne von einer fremden Souveränität nicht entschieden werden. Logisch sei dies nicht möglich 17. Der ausländische Staat könne auf seine Rechte verzichten, dann sei die Gerichtsbarkeit gegeben 18 . Zwischen Staat und Einzelperson klaffen bei Anzi/otti Welten. Das interne und das externe Rechtssystem sind getrennt. Daß wir heute eher an Mancini anknüpfen - man denke an den Fall des Bundesverfassungsgerichts zu den Kosten für die Reparatur der Heizung in der Iraniscshen Botschaft19 - ändert nichts an der Tatsache, daß die Frage Anzi/ottis, woher der Qualifikationsmaßstab für die Entscheidung über Staatenimmunität zu nehmen ist, noch immer Probleme aufwirft 20 . Der genannte Aufsatz von Anzi/otti erschien übrigens in deutscher Sprache 1895 in der neu gegründeten Böhms Zeitschrift für Internationales Privat- und Strafrecht21 , die später einmal als Niemeyers Zeitschrift für einige Jahrzehnte zur deutschen Stimme für Internationales Recht wurde. procreati con Ia defunta D. Giulietta Cattaneo, Napoli 1847, S. 45, 48 (zur Frage des materiellen Rechts) . 15 Zur "Vorreiterrolle" der italienischen Rechtsprechung in diesem Bereich vgl. HERBERT KRONKE: Erstreckung der Staatenimmunität auf deutsche Landesrundfunkanstalten?, in: IPRax 1989, S . 176. 16 Vgl. Fn. 11. 17 Vgl. Fn. 11, S. 24 ff. 18 Vgl. Fn. 11, S. 30. 19 BVerfG, 30.4.1963, BVerfGE 16, S. 27. 20 Vgl. RUDOLF GEIGER: Staatenimmunität: Grundsatz und Ausnahme, in: NJW 1987, S . 1124 ff.; JAN BROWNLIE: Contemporary problems concerning the jurisdictional immunity of States, in: Institut de Droit international, Annuaire Bd. 62/I (Session du Caire 1987), S. 13 ff. 21 DIONISIO ANZILOTTI: Die Zuständigkeit der italienischen Gerichte gegenüber fremden Staaten, BöhmsZ (Zeitschrift für Internationales Privat- und Strafrecht) 1895, S. 24 ff.
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Manches, was Manchini begonnen hatte, wurde von Anzilotti aber auch fortgesetzt. Hierzu gehört die Weiterentwicklung eines internationalen Zivilprozeßrechts 22 . Hier ist die italienische Lehre auch heute noch führend 23 . In ihrer Größe, aber auch in ihren Schwächen ist sie ganz von Anzilotti geprägt. Wer vom Staat und seiner Souveränität ausgeht, kann kaum erklären, wieso ausländische Urteile überhaupt Wirkungen im Inland entfalten können. Früher hatte nur die Vollstreckung ausländischer Urteile eines internen Staatsakts bedurft24; jetzt muß jede Wirkung staatlich legitimiert werden. Das italienische Delibationsverfahren, d.h. ein justizförmiges Anerkennungsverfahren für ausländische Urteile vor dem Appellationshof, geht in seiner heutigen Gestalt auf Anzilotti zurück 25 . Der Nachteil der Theorien Anzilottis lag in der Verkümmerung der Privatinteressen; ferner: was früher einfach war, wurde jetzt kompliziert. Das dogmatische Ideengebäude, das sich um das Delibationsverfahren rankte, etwa die Entwicklung eines auf dem ausländischen Urteil beruhenden, internrechtlichen Parallelanspruchs, der einer gesonderten Verjährung unterliegt, 26 ist für Außenstehende auch heute noch kaum durchdringlich. Es bedurfte erst der Gründung der Europäischen Gemeinschaften, um durch die Lockerung der Souveränitäten jene Durchlässigkeit der Staatsgrenzen wieder zu erreichen, die der internationale Privatrechsverkehr für sein Funktionieren benötigt und die im System Mancinis voraugsestzt war27• Was aber von Anzilotti bleibt, ist der Reichtum an dogmatischen Denkfiguren und der Mut, einem so komplexen und sich ständig ändernden ::Jebilde wie dem internationalen Privatrecht eine klare Struktur zu geben. Im Zusammenhang der Eörterung auf diesem Symposium stellt sich nun die Frage, welche Rolle das deutsche IPR in der 22 DIONISIO ANZILOTTI: Studi di diritto processuale civile internar.ionale e di filoaofia di diritto, Opere IV (1963) . 23 Dies gilt besonders für das große Werk von GAETANO MORELLI: Diritto processuale civile internar.ionale, 2. Aufl., Padova 1954. 24 Vgl. ERIK JAYME, (Fn. 8), S. 30- 31. 25 RAINER HAUSMANN: Die kollisionsrechtlichen Schranken der Gestaltungskraft von Scheidungsurteilen, München 1978, S. 143 ff. 26 Cass., 15.7.1963, n . 1932, in: Rivista di diritto internazionale 47 (1964), S. 122, Anm. GIORGIO GAJA = ERIK JA YME: Die italienische Rechtsprechung r.um internationalen Privat- und Pror.eßrecht 1945 - 1966, in Raheis Zeitschrift 31 (1967), s. 446 ff., 518. 27 ERIK JAYME, (Fn. 8).
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Ideenwelt Anzilottis spielte. Schon jetzt kann festgehalten werden, daß Anzilotti mit größter Aufmerksamkeit alles beobachtete, was in Deutschland geschah 28 • Zu nennen ist hier vor allem sein großangelegter Aufsatz "Una pagina di storia della codificazione civile in Germania", der 1898 in den Studi critici di diritto internazionale privato erschien29• Es soll nun zunächst ein etwas näherer Blick auf Anzilotti und seine Ideen zum IPR geworfen werden, ohne daß diese Bemerkungen der Fülle des gewaltigen Lebenswerks gerecht werden können; dann soll auf sein Verhältnis zur deutschen Lehre eingegangen werden. 2. Anzilotti - Leben und Werk
Dionisio Anziloui wurde am 20.2.1867 in Pescia in der der toskanischen Provinz Pistoia geboren30. Er starb dort am 23.8.1950. Im Jahre 1890 promovierte er an der Universität Pisa; das dortige Institut für Internationales Privatrecht trägt noch heute seinen Namen. Von 1892-1902 unterrichtete er Internationales Recht am "lstituto di Scienze Sociali Cesare Alfieri" in Florenz, war kurze Zeit außerordentlicher Professor an der Universität Palermo, ehe er 1903 an die Universität Bologna berufen wurde. Von 1911-1937 hatte er den Lehrstuhl für Internationales Recht in Rom inne. Als Internationalist gewann Anzi/otti Weltruhm. 1921 wurde er zum Richter der "Cour Permanente" des Völkerbundes gewählt, deren Präsident er von 1928-1930 war. Er war Mitglied des "Institut de Droit International" und 1932-1934 Vizepräsident des Instituts. In unserem Zusammenhang interessieren seine Lehre zum Internatinalen Privatrecht31 . Eigentümlich ist dabei die Wendung 28 Vgl. z.B. r;ur Frage der Rückverweisung DIONISIO ANZILOTTI: La questione del rinvio ed i conflitti fra le disposizioni legislative di diritto internazianale privato, in: Studi critici di diritto internazianale privato, Rocca S. Caaciano 1898, S. 193 ff., 201 ff. 29 DIONISIO ANZILOTTI, (Fn. 28), S. 1 ff. 30 Vgl. hierzu G . P. NITTI: Dionisio Anzilotti, in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 3 (1961), S. 599 f. 31 Die Einzelschriften ANZILOTTIS r;um internationalen Privat- und Verfahrensrecht sind gesammelt in: Opere, Bd. III (1960) und Bd. IV (1963). Der
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ins Grundsätzliche. Dies ist deshalb so auffallend, weil Anzilotti immer wieder gefordert hatte, daß sich die Lehre des IPR mehr mit dem positiven Recht beschäftigen müsse32 . Anzilotti hatte 1906 die Rivista di diritto internazianale gegründet und besprach dort zwar auch Gerichtsentscheidungen. Seine eigentliche Vorliebe galt aber der theoretischen Erfassung des IPR. Dies beschäftigte ihn sein ganzes Leben, wobei er zwei völlig verschiedene Versuche unternahm, das Wesen des IPR zu erfassen33. Der erste Ansatz ist vor allem in der grundlegenden Schrift "Leggi interne in materia internazionale" enthalten!4 • Das IPR hat demnach die Aufgabe, Konflikte zwischen konkurrierenden Rechten zu lösen und auszugleichen35 . Das nationale IPR übernimmt internationale Aufgaben, da es an entsprechenden übernationalen Organen für die Rechtsetzung und Rechtsanwendung fehle 36 .
Anzilotti gibt diese Lehre später auf. Die Normen des IPR enthalten in seinem 1925 veröffentlichten "Corso di diritto internazionale privato" eine Doppelfunktion37. Sie begrenzen zum einen den Anwendungsbereich der internen Sachnormen, zum anderen bezeichnen sie die anwendbaren ausländischen Sachnormen und verleihen diesen Rechtsregeln den Charakter einer nationalen Norm. Anzilotti entwickelt also eine Art "Local Law-doctrine"38. Die staatliche Souveränität ist so sehr logisches Postulat, daß die italienische Rechtslehre für viele Jahrzehnte bis zur Erschöpfung diesen Denkansatz Anzilottis weiterverfolgt, inhaltsgleiche inländische Normen zu schaffen, um das Phänomen der Anwendung ausländischen Rechts mit der Souveränität des Gerichtsstaates zu vereinbaren39 . Diese Theorien gipfeln in der Ansicht Morellis, "Corso di diritto interna&ionale privato" (1925) war dem Verfasser nicht &ugänglich; er ist in die gesammelten Werke nicht aufgenommen worden. 32 Vgl. 11.B. DIONISIO ANZILOTTI: Una pagina di storia, Fn. 29, S. 18. 33 Vgl. TOMASO PERASSI, (Fn. 7). 34 Studi critici (1898), S. 103 ff. = Opere III (1960), S. 189 ff. 35 Studi critici, S. 121 - 122. 36 Studi critici, S. 161. Zu dieser Lehre ANZILOTTIS vgl. SANTI ROMANO: Die Rechtsordnung (Hg. ROMAN SCHNUR), Berlin 1975, S. 132 f.; &u SANTI ROMANO vgl. MAXIMILIAN FUCHS: Die Allgemeine Rechtstheorie Santi Romanos, Berlin 1979. 37 Vgl. G. P . NITTI, (Fn. 30), S. 599 ("duplice ufficio"). 38 Zur "Local Law-doctrine" von WALTER WHEELER COOK vgl. ALBERT A . EHRENZWEIG: A Treatise on the Conflict of Laws, 1962, S. 14- 15. 39 GAETANO MORELLI: Elementi di diritto interna&ionale privato italiano, 8. Auf!., Napoli 1965, S. 20 mit Nachweisen, an deren erster Stelle ANZILOTTI steht.
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das IPR selbst sei Verfassungsrecht, da es wie das Verfassungsrecht Rechtserzeugungsnormen enthalte40 . 3. Deutsche Lehre
Es geht hier nun nicht um eine Kritik der italienischen Theorie zum IPR, sondern um den Einfluß der deutschen Lehre. a) Triepel
Bevor man sich mit dem IPR beschäftigt, kann man zunächst den Einfluß von Triepels fundamentalem Werk "Völkerrecht und Landesrecht" feststellen 41 . Anzilotti übernimmt die dualistische Konzeption einer Trennung von Völkerrecht und nationalem Recht, mag er auch gegenüber gewissen Auswirkungen dieser Lehre Bedenken äußern 42 • Gaja hat in einem schönen Artikel zur Entstehung der Rivista di diritto internazianale aufgezeigt, daß ein Briefwechsel zwischen Triepel und Anzilotti existiert, der bisher noch nicht veröffentlicht ist43 . Betroffen von der dualistischen Lehre war aber bei Anzilotti das Internationale Privatrecht. Dieses wird mit der Zeit ausschließlich als nationales Recht für internationale Sachverhalte begriffen44 . b) Kahn, Niemeyer
In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, daß die Schriften von Niemeyer 45 und Kahn 46 bei der Entwicklung dieser Auffassung eine große Rolle spielen. Hier bereitet sich die Wende vom Internationalismus zur nationalen Sicht des Kollisionsrechts 40 GAETANO MORELLI, (Fn. 39), S. 25. 41 Erschienen 1899; vgl. hier&u FRIEDRICH
BERBER:
Lehrbuch
des
Völkerrechte Bd. 1, 1960, S. 93 (TRIEPEL und ANZILOTTI werden hier &usammen als die beiden Hauptvertreter der dualistischen Theorie gesehen). 42 Vgl. hier&u GIORGIO GAJA, (Fn. 6), S. 494. Vgl. auch PAUL GUGGENHEIM: Völkerrechtliche Schranken im Landesrecht, Karlsruhe 1955, S. 3, der hier von dem großen Einfluß spricht, "den Richter An&ilotti auf die Rechtsprechung des Ständigen Internationalen Gerichtshofes &u Beginn seiner Tätigkeit ausübte". 43 Vgl. Fn. 42, S. 494 Fn. 27. 44 TOMASO PERASSI, (Fn. 7), S. 9 oben. 45 ANZILOTTI, (Studi critici, S. 17) spricht von der "precisione quasi matematica da! Niemeyer".
E. Jayme, Anzilotti und das deutsche IPR
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vor. Anzilotti findet in der Forderung der deutschen Lehre, das IPR als staatliches Recht zu begreifen, die Stütze für seine Lehren'47• Vor allem geht es Anzilotti um eine Kritik der Nation als Grundlage des internationalen Privatrechts48 . Der Übergang zum Staatsangehörigkeitsprinzip hatte sich in Deutschand unabhängig von der Theorie des nationalen Charakters der Rechte vollzogen (62 N. 71 ). Etas vorschnell hält Anzilotti die italienische Theorie für "completamente abbandonato" 49 . Daß man auch in Deutschland - vor allem bei Gebhard 50 - rechtspolitische Argumente für das Staatsangehörigkeitsprinzip aus den Lehren Mancinis übernahm, trat zurück. Wichtig war für Anzilotti die Tatsache, daß in Deutschland der Staat, nicht die Nation, das maßgebende Anknüpfungsmerkmal stützte. Es ging um die "cittadinanza", nicht um die "nazionalita"51 . So sah Anzilotti die deutsche Entwicklung: Nicht die von der Nation gefärbte Zugehörigkeit einer Person zu einem Staat, sondern dieser selbst bestimmte aus seiner Hoheit heraus die privatrechtliehen Angelegenheiten in Auslandsfällen. Zurück zur Staatlichkeit des Internationalen Privatrechts: Kahn schrieb 1899 in Jherings Jahrbüchern für Dogmatik des bürgerlichen Rechts in seinem grundlegenden Aufsatz über Inhalt, Natur, Methode des internationalen Privatrechts folgenden Satz52: "Das Völkerrecht liefert uns nicht, oder wenigstens nur in ganz unzulänglicher Weise, die Mittel, um die Herrschaft der verschiedenen
46 FRANZ KAHN: Ueber Inhalt, Natur und Methode des internationalen Privatrechts, Abdruck aus Jherings Jahrbüchern für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts XL Bd . 2 2.F . IV Bd., 1899. 47 Vgl. z.B. in Studi critici, S. 18, 145. So veröffentlichte THEODOR NIEMEYER 1894 ein Buch mit dem Titel: Positives Internationales Privatrecht - Nebst Übersichten über die Rechtsquellen. Erster Teil: Das in Deutschland geltende internationiale Privatrecht. NIEMEYER schreibt S. 9: "De lege lata ist nach Vorstehendem für die Wissenschaft des positiven internationalen Privatrechts die Feststellung der in den einzelnen Rechtsgebieten geltenden ausdrücklichen und konkludenten Kollisionsnormen nicht nur die erste, sondern die einzige Aufgabe." 48 DIONISIO ANZILOTTI, in: Opere III (1960), S. 56 Fn. 68, und S. 61 f. 49 Opere III, {1960), S. 62 Fn. 71. 50 Vgl. HEINZ-PETER MANSEL: Personalstatut, Staatsangehörigkeit und Effektivität, 1988, S. 35 - 36. 51 Vgl. Opere III (1960), S. 62 Fn. 71. 52 FRANZ KAHN, (Fn. 46), S. 49.
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E. J ayme, Anzilotti und das deutsche IPR Rechtaordnungen untereinander abzugrenzen. Wir müaaen Kolliaionsnormen also in unaerer nationalen Rechtsordnung suchen."
die
Diesen Gedanken übernahm Anzilotti nach und nach in seinen Schriften, allerdings mehr aus logischen Gründen; die praktischen Unsicherheiten des Völkerrechts, die für Kahn so wichtig waren, treten bei Anzilotti zurück 53. Was die deutsche und die italienische Lehre dann bis heute trennt, ist, daß Anzilotti nur die eine Hälfte der Kahnsehen Überlegungen heranzog. Die andere, nämlich daß internationales Privatrecht von einer präzisen Kenntnis des materiellen Zivilrechts auszugehen habe, fand keine Resonanz. In Italien ist auch heute noch das IPR eine Domäne der Internationalisten. Kahn hatte dagegen schon 1899 geschrieben: "Ohne dieae materielle Grundlage ein internationales Privatrecht konzipieren zu wollen, hieBe einen Kirchturm in die leere Luft stellen."54
Das Faszinierende an der Auseinandersetzung Anzilottis mit der deutschen Lehre liegt darin, daß sich die beiden Wissenschaften hier sehr nahe kamen, sich aber zugleich wieder trennten. c) Savigny
Noch ein Wort zu Savigny. Bezüge zu den Lehren Savignys finden sich im gesamten Werk von Anzilotti55 . Seine großangelegte Kritik an jeder internationalen Kodifikation des Kollisionsrechts und an der konkreten italienischen Gesetzgebung nimmt die Argumente hauptsächlich aus Savignys Kritik der Kodifikation von Rechtsregeln überhaupt 56 . Diese Nähe zu Savigny findet sich vor allem in seiner 1894 erschienenen Monographie "La codificazione del diritto internazianale privato" 57. Anzilotti schreibt hier gegen den Strom der Zeit. Nicht nur hatte die italienische Kodifikation von 1865 53 Bei ANZILOTTI ist es der Dualismus von Völkerrecht und Landesrecht, der den Ausschlag gibt, das Internationale Privatrecht dem Landesrecht zuzuachlagen. 54 FRANZ KAHN, (Fn. 46}, S. 56. 55 SAVIGNY: System des heutigen römischen Rechts, Bd. VIII (1849}. 56 Vgl. DIONISIO ANZILOTTI: La codificazione del diritto internazianale privato, in: Opere III (1960}, S. 12 ff., 16. Die Zitate aus SAVIGNY betreffen zwar sein Werk zum IPR (vgl. Fn. 55}; die allgemeinen Argumente gegen jede Art der Kodifikation, die ANZILOTTI vorträgt, sprechen jedoch dafür, daB ihm der KodifikationBatreit in Deutschland und die Schrift SAVIGNYS hierzu bekannt war. 57 Vgl. Fn. 56.
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S07
ein weites Echo gefunden, sondern man bereitete im Haag die Vereinheitlichung des Internationalen Privatrechts durch Staatsverträge vor 58 .Anzilotti schien das Fach noch nicht wissenschaftlich ausgereift. Mit Hilfe von Savigny legt Anzilotti die historischen Wurzeln der neuen italienischen Regeln bloß. Nach Art. 7 A bs. I der Disp. prel. von 1865 waren bewegliche Sachen dem Recht der Nation unterworfen, dem der Eigentümer angehört, vorbehaltlich der entgegenstehenden Vorschriften des Belegenheitsstaates. An=ilotti spricht hier von einem "infelice connubio della critica di Savigny allo statuto personale di mobili col principio di nazionalita" 59 . Die Monographie An=ilottis erfuhr eine ausführliche, eher beschreibende Rezension von Silberschmidt in Böhms Zeitschrift im Jahre 1895 60 . In jener kodifikationsfreudigen Zeit findet An=ilottis Rückgriff auf Savigny in Deutschland damals wenig Verständnis. 4. Ausblick - Einseitigkeit
Wenn man vorsichtig einige erste Ergebnisse formulieren möchte, so fällt die Einseitigkeit des deutsch-italienischen Dialogs auf. Der großen Aufmerksamkeit, die An=ilotti der deutschen Lehre widmet, steht die relativ geringe Beachtung der italienischen IPR-Lehren in Deutschland gegenüber. Dort, wo An=ilotti der deutschen Lehre folgt, nahm man dies beifällig zur Kenntnis 61 • Eine vertiefte Auseinandersetzung, wie sie noch im 19. Jahrhundert selbstverständlich war, fand nicht mehr statt. Erst die EG zwang die divergierenden Lehren wieder in das gleiche Boot. Unter dem Dach des europäischen IPR wird man wieder zueinander finden, ja finden müssen. 58 Vgl. PASQUALE STANISLAO MANCINI, (Fn. 4) . Vgl. daa positive Echo auf nationale Kodifikationen des IPR bei JOSEPHUS JITTA: Die Kodifikation des internationalen Privatrechts im Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das deutsche Reich vom Standpunkt eines Ausländers, in: Jahrbuch der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre II (1896), S. 55 ff., S. 63 f. ("direkte Pflicht des Staates der Menschheit gegenüber"). 59 Opere 111 (1960), S. 62. 60 BöhmZ 5 (1895), S. 526 - 528. 61 Vgl. z. B . ERNST FRANKENSTEIN: Internationales Privatrecht (Grenzrecht), Bd. 1, Berlin-Grunewald 1926, S. 253 - 254, Fn. 196.
Teil F
Selbstverwaltung und Kommunalrecht
Deutsche Lehren der lokalen Selbstverwaltung und deren Einfluß auf die italienische Literatur (1870 - 1914)
Von Fabio Rugge "The Soveraign, in every Commonwealth, is the absolute Representative of all the subjects; and therefore no other, can be Representative of any part of them, but so far forth, as he shall give leave" (T. Hobbes, Leviathan). "Die ganze Geschichte der letzten vier Jahrhunderte ... bestätigt fortdauernd den Satz des Hobbes, daß der Staat der große Leviathan sei, der alles ursprüngliche Herrschaftsrecht der ihm Eingegliederten verschlungen habe" (G . Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte).
Ich sollte vor allem eines klarstellen: Wenn ich von der deutschen Lehre der Selbstverwaltung spreche, so dient dabei die Lehre Rudolf von Gneists lediglich als Hintergrund für die Analyse anderer Autoren 1 . Dies nicht etwa deshalb, weil die Gneist'sche Lehre zwischen Reichsgründung und Weltkrieg plötzlich an Gehör und Autorität verliert; ganz im Gegenteil. Als lose/ Redlich 1901 eine Studie veröffentlichte, die eine eingehende Prüfung der Gneist'schen Auffassung der Selbstverwaltung enthielt, und zwar eine Entwertung der Untersuchungen, aus denen 1 Zur Stellung GNEISTS innerhalb der Geschichte der deutschen Selbstverwaltung vgl. vor allem das Standardwerk von H. HEFFTER: Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert. Geschichte der Ideen und Institutionen, 2. Auf!., Stuttgart 1969, das allerdings den praktischen und theoretischen Einfluß GNEISTS geringer einschätzt; ferner W. HOFMANN: Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung von 1848 bis 1918, in: Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, hg. v. G. PüTTNER, Bd. 1, Berlin 1981; G. SCHMIDT-EICHSTAEDT: Staatsverwaltung und Selbstverwaltung bei Rudolf von Gneist, in: Die Verwaltung, 1975, s. 345 - 362 .
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jene Auffassung hervorgegangen war, gab es von mehreren Seiten Reaktionen der Entrüstung und zur Verteidigung des Gneist'schen Erbes 2 • Andererseits wird sich bis zum Kriegsausbruch keine weitere Lehre der Selbstverwaltung durchsetzen, die imstande ist, mit der Gneist'schen zu konkurrieren, und zwar weder hinsichtlich der Vollständigkeit der Darstellung noch der Verankerung in einer umfassenden Vision der Gesellschaft und des Staates und der Reichhaltigkeit des bei ihrem Aufbau verwendeten Materials. Eine einzige Ausnahme könnte man in diesem Sinne erwähnen, und zwar die Betrachtungen von Hugo Preuß, von denen man jedoch nicht sagen kann, daß sie sich durchgesetzt hätten, denn sie fanden weder Eingang in die Ministerien noch in die herrschenden Lehren3 . Unabhängig von seiner praktischen Auswirkung auf die konkrete Entwicklung der lokalen Selbstverwaltungsinstitutionen im deutschen Raum war Gneist tatsächlich der letzte große einflußreiche Jurist, der der Theorie der Selbstverwaltung eine so bedeutende und selbständige Rolle innerhalb seiner Überlegungen einräumte; er gab dem Begriff selbst eine Prägung, die sich als außerordentlich dauerhaft erwies. Auch eine der gründlichsten und angesehensten Betrachtungen zum Thema, diejenige von Heinrich Rosin aus dem Jahre 1883, welche sichtlich bemüht war, andere methodologische Bedürfnisse zu befriedigen, und die durch ein anderes soziales Umfeld geprägt war, unternahm keinen Versuch, Gneist prinzipiell zu widerlegen. Wie bekannt ist, stellte Rosin dem Gneist'schen Begriff einer lokalen Selbstverwaltung unter ehrenamtlicher Teilnahme von Bürgern an der staatlichen Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten eine Auffassung gegenüber, wonach nicht die Bürger, sondern die Gemeinden selbst als Körperschaften Träger der Selbstverwaltung 2 Vgl. J. REDLICH: Englische Lokalverwaltung. Darstellung der inneren Verwaltung Englands in ihrer geschichtlichen Entwicklung und ihrer gegenwärtigen Gestalt, Leipzig 1901. Zum Beitrag REDLICHS vgl. H . HEFFTER, (Fn. 1), S. 744746. Ein Beispiel für die Reaktionen auf REDLICHS Werk findet sich in: Deutsche Gemeinde-Zeitung, 1901, S. 106. 3 Siehe zu PREUß neben der bekannten Schrift von C . SCHMITT: Hugo Preuß, sein Staatsbegriff und seine Stellung in der deutschen Staatslehre, Tübingen 1930, die detaillierteren Untersuchungen seiner Selbstverwaltungslehre bei: H. HEFFTER, (Fn. 1), S. 751-759 und S. GRASSMANN: Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, Lübeck 1965.
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waren. Allerdings unterstrich Rosin, daß nur die letztgenannte Auffassung, welche er als "körperschaftliche Selbstverwaltung" bezeichnete, in juristischer Hinsicht als fundiert gelten könne; hingegen sei der von Gneist erarbeitete Begriff, den er als "bürgerliche Selbstverwaltung" definierte, nur in politischer Hinsicht als gültig anzusehen4 • Damit schuf Rosin das Konzept für einen Kompromiß, welcher der Gneist'schen Lehre ein Überleben im Hinblick auf die tiefgehende Umstrukturierung ermöglichte, die sich inzwischen in der Vorstellung von den Aufgaben und Mitteln der Rechtswissenschaft vollzogen hatte. Daher blieb Gneist noch lange in der juristischen Literatur als Schöpfer eines nicht-juristischen Begriffs der Selbstverwaltung gegenwärtig. Man könnte sogar darüber nachdenken, ob es nicht gerade seine Autorität gewesen ist, die in dieser Frage eine Art Lehre der zwei Wahrheiten einführte, weshalb die Gelehrten im deutschen Raum - und dann infolge der Rezeption auch in Italien - mindestens bis zum Anfang des Jahrhunderts weiterhin über eine juristische und eine politische Bedeutung der Selbstverwaltung diskutierten, ohne letztere fallen zu lassen 5 . Auf diesen Punkt werde ich noch zurückkommen, um klar zu stellen, wie die zwei Wahrheiten über die Selbstverwaltung am Ende der gleichen Sache dienten. Betrachten wu hingegen das Ergebnis der damaligen Unstrukturierungen im Bereich der Rechtswissenschaft und insbesondere ihre Rückwirkungen auf den hier interessierenden Begriff. Sicher konnte ein Begriff der Selbstverwaltung, der so offen ideologisch war wie der Gneist'sche, so geschichtsträchtig und von politischem Zweckmäßigkeitsdenken durchsetzt, nicht in die weitaus strengeren Systeme aufgenommen werden, welche die 4 "Diese Bedeutungen des Wortes 'Selbstverwaltung' haben begrifflich gar nichts
mit einander zu thun. Bezieht sich die erste lediglich auf das Verhältnis eines Verwaltungskörpers zu einer ihm übergeordneten Gewalt und hat sie mit der Organisation der Verwaltung innerhalb des Selbstverwaltungskörpers nichts zu theilen, so bezieht sich die zweite, völlig absehend von dem Verhältnis des Verwaltungskörpers zu anderen Faktoren, lediglich auf die Art der Organisation der Verwaltung innerhalb der Gemeinwesen". H . ROSIN: Souveränität, Staat, Gemeinde, Selbstverwaltung. Kritische Begriffsstudien, in: Annalen des deutschen Reiches für Gesetzgebung, Verwaltung und Statistik, 1883, S. 319. 5 Tatsächlich schrieb OTTO MAYER 1896, daß der Begriff der Selbstverwaltung sich "in einem durch die Juristen und Politiker geschaffenen Schwebezustand" befinde. OTTO MAYER: Deutsches Verwaltungsrecht, 1. Aufl., Leipzig 1895- 1896, Bd. 2, S. 372.
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juristische Methode zu erarbeiten begonnen hatte. Zieht man das Laband'sche Staatsrecht hinzu, so wird das insgesamt romantische Szenario, aus dem die Gneist'sche Selbstverwaltung hervorgegangen war, durch die folgende nüchtern-logische Behauptung ersetzt: "Selbstverwaltung bedeutet seinem Wortsinne nach den Gegensatz zum Verwaltetwerden" 6 . Was von dieser zur Schau gestellten Selbstverständlichkeit zu erwarten ist, ist schnell gesagt: "Wird von einer Körperschaft ausgesagt, daß sie sich selbst verwaltet, so setzt das stillschweigend immer eine höhere Macht voraus, von der sie auch verwaltet werden könnte". Paul Laband hält sich nicht einmal einen Augenblick im semantischen Bereich auf, auf den die Vorsilbe 'Selbst' des Wortes Selbstverwaltung verweist. Er verwertet die darin enthaltene Bedeutung der Unabhängigkeit nicht, sondern geht unmittelbar auf die Gegenwart einer übergeordneten Körperschaft über, und nur aus dieser gelingt dem Autor eine vollständigere Definition der Selbstverwaltung. Dies tritt dann ein, wenn eine "obere Gewalt die ihr zustehenden Hoheitsrechte ... ihr untergeordneten politischen Körpern" überträgt oder überläßt; diese verwalten sich also selbst, folgen gleichwohl den von den übergeordneten Körperschaften zu diesem Zweck aufgestellten Normen und bleiben unter ihrer Aufsicht. Mehr noch: die Selbstverwaltung verdankt ihre Existenz allein einer Selbstbeschränkung des Staates, der die Selbstverwaltung zur Vollziehung seiner Aufgaben benutze. Die Selbstverwaltung stellt sich somit als vollziehende Tätigkeit staatlicher Aufgaben dar. Über die vollständige Unterordnung der Träger einer derartigen Selbstverwaltung unter den Staat auch nur zu reden, hat keinen Sinn. Nicht zufällig erfährt das logischelegante Vorgehen der Laband'schen Argumentation an dieser Stelle· einen Bruch, und der große Meister greift auf eine psychologische Beurteilung zurück: "Herrscher ist nicht der Bürgermeister, sondern der König. Das offenbart sich in dem allgemeinen politischen Empfinden und ist eine Wahrheit, die man fühlt, auch wenn man über die logische Formulierung derselben streiten mag"8 .
6 P . LABAND: Das Staatsrecht des deutschen Reichs, 5. Auf!., Tübingen 1911, S. 103. 7 P. LABAND, (Fn. 6), S. 103-104; vgl. ebenfalls die Auf!. aus dem Jahre 1888. 8 P . LABAND, (Fn. 6), S. 65.
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Welche Bedeutung Laband dem Thema Selbstverwaltung einräumt, kann man im übrigen daraus ableiten, wieviel Raum er seiner Diskussion widmet: nicht mehr als sieben Seiten in der Ausgabe von 1888, die in der Ausgabe von 1911 sogar lediglich in einer Fußnote zusammengefaßt sind. Auf diese Weise sinkt die Selbstverwaltung, einst bei Gneist Grundlage des Rechtsstaates, zu einer Fußnote ab; und aus dieser marginalen Position wird sie so bald nicht herauskommen. Wenn man einen anderen Höhepunkt der Rechtslehre betrachtet, und zwar die Werke von Georg Jellinek, stößt man auf eine weniger drastische Lösung, eine differenziertere Untersuchung, jedoch mit im wesentlichen nicht verschiedenen Ergebnissen. Sicher, hier begegnet man der Behauptung, daß die Träger der Selbstverwaltung als vom Staat verschiedene Rechtssubjekte "staatliches Imperium als ein ... zustehendes Recht" ausüben9 , aber die Erläuterung, es handle sich bei diesem Recht in jedem Falle um ein abgeleitetes Recht, und mehr noch die gesamte allgemeine Argumentationsstrategie - zur Stütze der genannten Behauptung -, setzen auf Unterordnung der lokalen Gewalten, die nicht weniger drastisch ist als die von Laband. Zur unmittelbaren Einstimmung auf das jene Strategie beherrschende Pathos empfiehlt sich die nähere Betrachtung der abschließenden Worte eines Vortrages, den Jellinek 1889 vor der "Juristischen Gesellschaft" zu Wien dem Thema "Staat und Gemeinde" widmete. Die moderne Staatsidee - so Jellinek - "verlangt ... dass alle öffentlichen Verbände im Staate sich als Glieder des Staates fühlen, die dem großen Ganzen gegenüber nicht auf ihr eigenes, unveräusserliches, unantastbares Herrschaftsrecht pochen können. Date Caesari quod Caesaris! Dieses gewaltige Wort tönt heute überall allen entgegen. Und wer es nicht vernehmen will, der sündigt gegen den heiligen Geist der Geschichte, der der Menschheit vorgezeichnet hat, im Staate ihre grosse Lebensaufgabe zu erfüllen" 10• Es sind also zwei Punkte klarzustellen - oder wieder klarzustellen -, um dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist; und in beiden Fällen führt dies zu einer scharfen Auseinandersetzung mit Otto von Gierke und seiner Schule. Vor allem ist festzustellen, daß die Macht, über die Städte als Verbände zu verfügen, nur darin besteht, ihren eigenen 9 G. JELLINEK: System der subjektiv öffentlichen Rechte, 2. Aufl., Tübingen 1905, S. 291; den.: Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Berlin 1905, S. 627. 10 G. JELLINEK: Ausgewählte Schriften und Reden, Aalen 1970, Bd. 2, S. 360.
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Mitgliedern Verpflichtungen aufzuerlegen (vis obligandi), jedoch nicht darin, sie zu deren Erfüllung zu zwingen (vis cogendi). Andererseits stellt nur die vis cogendi das für die öffentliche Gewalt charakteristische Imperium dar; und dieses Imperium können die lokalen Körperschaften nur von dem Staat erhalten, der - und das ist der zweite Punkt - in einem langen und erbitterten Prozeß einziger und ausschließlicher Inhaber des Imperiums geworden ist. Diejenigen, die in den Städten ursprüngliche Hoheitsrechte zu erkennen glauben, verkennen ganz und gar das Wesen des modernen Staates, der sich gerade durch den angesprochenen Zentralisierungsprozeß gebildet hat. Damit scheint die Frage der Selbstverwaltung in Wirklichkeit ein neuralgischer Punkt geblieben zu sein. Kaum angesprochen, zwingt sie dazu, grundlegende ideologische Voraussetzungen ins Feld zu führen: Herrschen als Gewalt und eine streng monistische Auffassung des Staates 11 • Auf der Grundlage dieser Voraussetzungen verurteilt Jellinek unwiderruflich die alte Lehre des pouvoir municipal, die in den Gemeinden natürliche, bereits vor dem Staat bestehende Körperschaften und damit Inhaber einer Gewalt sah, auf deren Anerkennung der Staat sich beschränkt habe. Preuß, für den der Verfassungsstaat des 19. Jahrhunderts, "als Gebietskörperschaft erkannt und rechtlich anerkannt, die homogene Natur der ihm eingegliederten Körperschaften als korporative Organismen erkennt und rechtlich anerkennt" 12 , ist Opfer eines Irrtums; denn wahr ist hingegen, daß "die Revolution und die in ihrem Gefolge vordringende konstitutionelle Idee ... das Werk des Absolutismus in dieser Hinsicht nicht gestört, sondern vollendet" haben 13. Kurz und gut: der moderne Staat kennt keine anderen Beschränkungen als diejenigen, die er sich selbst auferlegt; er hat jedes andere Imperium vereinnahmt, dessen Inhaber Freiherren, Städte und Kirchen waren; infolgedessen kann jede heute ausgeübte Herrschaft ihren Ursprung nur vom Staat herleiten. "Der Staat ... ", schließt Jellinek, "der an dem Herrschaftsrecht der ihm eingeordneten Verbände seine absolute Grenze hatte, ist der Staat des Mittelalters ... Diese mittelalterliche Staatsidee ist für die Erkenntnis des modernen Staates nur als ein für alle 11 Bezeichnend ist, daß JELLINEK gerade bei der Behandlung der öffentlichen Rechte der Gemeinde zur Frage "Was heißt herrschen?" gelangt, vgl. G. JELLINEK: System, (Fn. 9), S. 284. 12 H. PREUß: Das städtische Amtsrecht in Preußen, Berlin 1902, S. 133. 13 G. JELLINEK: System, (Fn. 9), S. 287.
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Zeiten abschreckendes Beispiel zu gebrauchen und aller juristischen Romantik wird es nicht gelingen, ihr wieder einiges Leben einzuhauchen" 14• Als Jellinek diese Worte schrieb, bildete jene "juristische Romantik" in Italien die "opinione predominante" 15 . Dies räumt Santi Romano im Jahre 1899 ohne weiteres ein, als er klarstellt, daß diejenigen, welche der Gemeinde "diritti di sovranta pari a quelli dello Stato e costituenti anzi dei veri e propri limiti per lo Stato medesimo" zusprechen, "ricorrono volentieri ... alla storia piu ehe ad argomenti, diciamo cosi, di dommatica giuridica" 16. Diese Juristen - fährt Romano fort - "traggono molto partito dalle condizioni dei Comuni medioevali, dotati di poteri sovrani e indipendenti, e non sdegnano ripetere i principi proclamati in proposito dalla rivoluzione francese, tendenti alla restaurazione delle antiehe liberta comunali". Tatsächlich weiß man nicht viel - und jedenfalls zu wenig über diese "opinione predominante". Eine erste summarische Untersuchung ermöglicht gleichwohl eine Bestätigung der Beurteilung Romanos: wir stehen vor einer lebendigen Studientradition, die aufgrund historischer Überlegungen eine wesentliche "Ranggleichheit" zwischen Gemeinden und Staat behauptet. Es handelt sich bisweilen um äußerst naive, kümmerliche, ausschmückende Überlegungen mit geradezu mythologischem Beigeschmack: so bei Giusto Emanuele Garelli della Morea 17, Salvatore De Luca Car14 Ebd.: S. 287. 15 S. ROMANO: II Comune (Diritto amministrativo) (1899), in: Digesto Italiano (von jetzt ab: Comune-Digesto), vol. VII, parte Sa, S. 647. 16 S. ROMANO, (Fn. 15), S. 654-655. Bereits r.wei Jahre r.uvor hatte ROMANO die Meinung, welche "ai eomuni, se non espressamente, eerto implicitamente ... una vita giuridica propria, anehe senr.a i1 rieonoscimento espresso dello Stato" auwies als "dominante" und "preponderante" ber.eiehnet. "II Comune, si dice, altro non e ehe un' esplieazione spontanea del fenomeno della socialita umana . ... La sua origine deve eerearsi o in un fatto storieo eosciente ... o nel Iento, inavvertito sviluppo di un vineolo di eoesione fra personediverse ehe eomunanza di interesse e di sangue pose 1' una aeeanto all' altra". S. ROMANO: Deeentramento amministrativo (1897), in: Enddopedia giuridiea italiana, vol. 4, parti 1-3, Milano, S. 451. 17 G. E . GARELLI DELLA MOREA: II diritto amministrativo italiano. Ler.ioni, 4a ed., Torino 1872, S. 15: "le rebubbliehe greehe ed etrusehe, Ia repubbliea romana s' immedesimarono nel Comune, i Municipi romani sopravvissero alla rovina e allo sfasciamento del grande impero, i Comuni furono le primi civili societa ehe fiorirono nel rinnovvamento europeo dopo i tempi di mezzo; neUe piu ealamitose vieende della
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nazza18 , Leone Neppi Modona 19• Zuweilen vermischt sich das Argument der historischen Priorität der Gemeinde gegenüber dem Staat mit dem Postulat einer absoluten Natürlichkeit des gemeindlichen Verbandes, um in dem bekannten Schluß übereinzustimmen, demzufolge der Staat sich im wesentlichen aus einer Ansammlung von Gemeinden zusammensetze: so bei angesehenen Gelehrten wie Giovanni M anna 20 und Lorenzo M eucci 21 •
Zuweilen wiederum bezweckt die Berufung auf die Vergangenheit nicht nur, für die Gemeinden "Ranggleichheit" festzustellen und damit die Auseinandersetzung gegen den Zentralismus zu fördern, sondern sie dient sogar dazu, den Gemeinden eine besondere Rolle in der materiellen Verfassung des Staates zuzuweisen. In diesem Sinne sollte man die glänzenden Seiten von Saverio Scolari lesen, wo es heißt: "quando la Regalita pote accogliere il pensiero di fondare una dominazione italiana, erano tali le condizioni civili generali, ehe non avrebbe potuto lusingarsi di edificare ... il suo potere sulle rovine di tutti i poteri locali e particolari"22. rivoluzione frane~ae dello seoreo aecolo fu I' energia dei Comuni ... ehe salvo Ia Franeia dall' invasione straniera." 18 S. DE LUCA CARNAZZA: Elementi di diritto amministrativo, Torino 1880, S. 5: "L' aumento della popolazione, lo sviluppo dei nuovi bisogni mere6 lo estenderai delle relazioni, e piu Ia neeeasita di un territorio obbligano Ia tribu a prender stanze determinate, e quindi naaee il Comune." 19 L. NEPPI MODONA: I poteri eentrali e locali in rapporto alla eeienza ed a1 diritto amminiatrativo. Studio storico, teorico e pratico, Bologna 1890, S. 415: "E pertanto dall' organizzazione munieipale degli antichi romani, eome altresi della Franeia, dell' lnghilterra e degli altri prineipali Stati d' Europa, si seorgera come il diritto comunale trovl Ia conaacrazione dei auoi prineipi fondamentali, MEGLIO ANCORA NELLA STORIA di quello ehe esaminando filosoficamente i1 principio di sua primitiva or&anizzazione" (Hervorhebung durch den Verfasser). 20 G. MANNA: Principi di diritto amministrativo, Sa ed., Napoli 1876, S. 254: "I municipi esistono prima ehe lo stato naaca e Ia nazionale aasoeiazione si formi, ed anehe quando lo atato e Ia nazione aonosi formati e costituiti, i municipi non scompariscono anzi ne diventano gli elementi essenziali . ... gl' individui dello stato sono i municipi essi medesimi." 21 L. MEUCCI: Istituzioni di diritto amministrativo, 3a ed., Torino 1892, S. 165:
"il Corpo dello Stato non e un organismo solo e semplice, ma un organiamo compoato di organismi minori ehe della loro autonomia non saerifieano se non quanto e mestieri a creare I' unita atatuale superiore". 22 S. SCOLARI: Dei diritto amministrativo, Pisa 1866, 2a. ed., S. 182, siehe auch s. 118-123.
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Der Beständigkeit dieser Gewalten, der "perduranza del municipio" sah Scolari die Mission - und die Möglichkeit - anvertraut, im neuen Königtum Freiheit und Obrigkeit zu vereinigen. Wir hören damit genau das Gegenteil von dem, was Jellinek zum Schicksal der lokalen Gewalten gegenüber der Durchsetzung der Zentralgewalt schreibt und entdecken hingegen Worte, die merkwürdigerweise mit denen von Preuß bei der Beschreibung der Rolle der städtischen Selbstverwaltung im Verfassungsrahmen des Wilhelminischen Reiches übereinstimmen. Weit über die 'Ranggleichheit' hinaus geht auch die von Federico Persico gelieferte Darstellung der Gemeinde. Hier ist die historische Wiedergabe des gemeindlichen Schicksals weniger optimistisch: die Gemeinde ist überall "assorbito e stremato di vita dallo stato". Aber trotz des derzeitigen "artificiale" Zustandes hat die gemeindliche Gesellschaft eine ganz andere zukünftige Bestimmung, was man bei einem Rückblick ins Mittelalter leicht erkennen kann. Die große Bedeutung der Gemeinden für das Zunftwesen ist nicht ganz ausgelöscht, sondern wartet nur darauf, sich erneut ausdrücken zu können als Garant eines "Iibero e ordinato esplicamento" der "diversi stati di vita" 23 . Aus derartigen Lehren bildet sich die "opinione predominante", von der Romano spricht; aber auch aus neueren Lehren, in denen unter anderem das deutsche Denken mehr Raum und größeres begriffliches Gewicht einnimmt als in der bisher zitierten Literatur. 1890 erscheint die Monographie von Giovanni Vacchelli, "11 comune nel diritto pubblico moderno", die mit der Unterscheidung der verschiedenen Gemeindetypen beginnt, die der Autor nach seiner ausdrücklichen Erklärung aus Gierkes Werk, "Das deutsche Genossenschaftsrecht", entnommen hat. Vor allem beruft sich Vacchelli auf die Autorität des deutschen Lehrers, um schließlich den archetypischen Charakter der gemeindlichen Institutionen zu behaupten: Gierke "non dubita" - sagt Vacchelli - "... a considerare lo stato moderno come in gran parte derivato dalle istituzioni comunali". Ich brauche nicht den Weg zu erläutern, der Vacchelli von dieser Behauptung zu einer Vision des modernen Staates als "sistema policentrico" führt 24 . 23 F. PERSICO: Principi di diritto amministrativo, Napoli 1873/74, S. 293-303. 24 G. VACCHELLI: II Comune nel diritto pubblico moderno, Roma 1890, S. 31; nach VACCHELLI ist die wichtigste Eigenschaft, die der moderne Staat r.:u erwerben versucht, die eines "sistema policentrico": "dato un sistema policentrico, si hanno piii oggetti e soggetti di diritti pubblici ... tra i quali non deve imperare ehe i1 diritto costituito" (S . 12).
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Eine ausführlichere Darstellung der von Romano wahrscheinlich angesprochenen "opinione predominante" ist hier nicht möglich. Es sei nur hinzugefügt, daß der Rückgriff auf die Geschichte sowohl bei den zitierten Autoren wie auch bei anderen weitgehend mit ausgesprochen politischen Überlegungen, wenn nicht mit echten Projekten zur Reform des Staates und der Gesellschaft verbunden ist. In diesen Darstellungen behalten die Gemeinden immer einen Charakter originärer und jedenfalls unabhängiger Gewalt, ganz verschieden vom Staat; sie behalten schließlich das, was mit einem stark politisch und jedenfalls allgemein akzeptierten Begriff als ihre "autonomia" bezeichnet wurde. In dieser Entwicklung verursachen die beiden Beiträge, die Romano im Abstand von zwei Jahren an zwei namhaften und einflußreichen Stellen wie der Enciclopedia giuridica 25 und dem Digesto italiano26 unter zwei für die behandelte Frage entscheidenden Stichworten, nämlich "Decentramento amministrativo" und "Comune", veröffentlicht, einen tiefen und unüberwindbaren Bruch. Auch wenn es in denselben Jahren an ebenso wichtigen, wenn nicht sogar wichtigeren Stellungnahmen zum Thema nicht mangelt, wie etwa denjenigen von Vittorio Emanuele Orlando 21 oder Carlo Francesco Ferraris 28 , so scheint mir, daß sich die Frage der Selbstverwaltung erst nach den beiden Beiträgen von Romano - und großenteils durch sie - in gänzlich neuer und von daher unumgänglicher Form stellt 29 . Welches sind die Merkmale der von Romano vorgeschlagenen Lösung? Vor allem die Ablehnung der Geschichte oder die Ablehnung jener "Erzählungen", die verlangt hatten, zugunsten der lokalen Gewalten eine Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart festzustellen. "Tali indagini storiche" - bemerkt Romano - "avrebbero, senza alcun dubbio, un grandissimo valore, solo quando perö si dimostrasse ehe le condizioni ehe 25 S. ROMANO: Decentramento, (Fn. 16).
26 S. ROMANO: Comune-Digesto, (Fn. 15). 27 V. E. ORLANDO: Principi di diritto amministrativo (1891), Firenze 1903; aber siehe auch dera.: Sulla natura giuridica della facolta di vigilanza sui Comuni, in: Archivio di diritto pubblico e dell' amministrazione italiana, 1902, S. 642. 28 C. F. FERRARIS: La no&ione acientifica del dicentramento amministrativo, in: Atti del R . latituto Veneto di Scienze, Lettere ed Arti, Tomo LVI, serie VII - tomo primo (1898). 29 Vgl. etwa D. MAJORANA: La nozione dell' autarchia amministrativa, Roma 1900; S. LA FRANCA-CANNITO: Dei concetto di autarchia, in: Archivio Giuridico Serafini, 1901, S. 339-350.
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determinarono quello stato di cose continuino a rimanere immutate". Das ist aber nicht der Fall: "II Comune moderno non e piu l'antico: esso deve considerarsi ... come un nuovo Comune ehe lo Stato ha creato". "L' indagine sociologica, Ia geografica, e magari Ia storica, potranno prescindere da questo fatto; ma il giurista non ~uö trascurarlo e deve trarne tutte le importantissime conseguenze" 0 • Dies ist der zweite Schritt: nach Ablehnung der Geschichte und zu deren Verstärkung - die Erklärung einer spezifischen Sicht des Juristen zum fraglichen Gegenstand. "Altro e voler determinare un istituto al solo fine di studiarne le relazioni giuridiche ... , altro e il volerne indagare I' an sich, come direbbero efficacemente i tedeschi ... e un grave errore quel sincretismo metodico, oggi cosi frequente, per cui non si tengono ben distinte indagini intrinsecamente diverse" 31 . So gelangt man und das ist der dritte Schritt - zu einem geeigneten Beurteilungsmaßstab, um die Frage der Selbstverwaltung zu lösen: nicht politische oder verwaltungswissenschaftliche, sondern rechtswissenschaftliche Kriterien sind entscheidend. In diesem Sinne stellt sich die Selbstverwaltung - laut Romano dar als "amministrazione indiretta dello Stato compiuta da una persona giuridica ehe Ia esercita per diritto subbiettivo e nell' interesse, oltre ehe dello Stato anche proprio" 32 • Die zentralistische Verflechtung dieser Definition erfordert keine besonderen Klarstellungen: die Verwaltungen der lokalen Körperschaften beinhalten Staatsverwaltung; bei dem Interesse, das sie zum Handeln bewegt - und legitimiert -, handelt es sich auch um eigenes, aber vor allem um Staatsinteresse. Hinzu kommt, daß auch die hier ohne weiteres den Subjekten der Selbstverwaltung zugestandene Rechtspersönlichkeit anderswo durch eine ungenaue Definition derselben als "organi dello stato" gefährdet erscheint. Eine nähere Bewertung dieser Schlußfolgerung interessiert in diesem Zusammenhang nicht so sehr. Wichtiger scheint die Feststellung einer massiven Präsenz der deutschen Lehre sowohl in der Anlage des Textes als auch unmittelbar in seiner Abfassung. Insbesondere Jellinek liefert Romano das Muster für seine Argumentation: etwa, als der italienische Gelehrte den spezifischen Charakter der juristischen Betrachtungsweise herausarbeitet - und 30 S. ROMANO: Comune-Digesto, (Fn. 15}, S. 656. 31 Ebd.: S. 649. 32 Ebd.: S. 664.
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er verweist dann mit seltenem Superlativ in der Fußnote auf die "osservazioni acutissime del Jellinek"33 - oder als er darauf besteht, daß das von den Gemeinden ausgeübte Imperium abgeleiteter Natur ist; oder weiter, als er daran erinnert, daß die Subjekte der Selbstverwaltung ein Eigeninteresse an der Ausübung der ihnen vom Staat übertragenen Aufgaben haben34 . Offensichtlich führt Jellinek auch bei der Auswahl der Zielscheibe die Hand: "Ia scuola tedesca ehe fa capo al Gierke" 35 . Jedenfalls wird die angesprochene theoretische Lösung - wie gesagt - ein Fixpunkt der Selbstverwaltungslehre in Italien bleiben. Insbesondere ersetzte der Begriff der "autarchia", welcher die lokale Verwaltung im Verhältnis zur staatlichen definierte, von jenem Zeitpunkt an, und zwar unwiderruflich, den alten Begriff "autonomia", welcher zu sehr in die vorhergehenden, unterlegenen Lehren, in deren methodologischen Elektizismus, in deren antizentralistische Polemik verwickelt war 36. Wenn sich derselbe Romano einige Jahre später in seiner ausführlichen Monographie für
33 Ebd.: S. 649. 34 Mit aus der deutschen Lehre stammenden Zitaten, Argumentationen und Thesen durchwoben ist auch S. ROMANO: Decentramento, (Fn. 16). Hier finden sich sogar die rhetorischen Kunstgriffe LABANDS wieder: So bei der Definition der Selbstverwaltung (" Autarchia significa, come I' etimologia della parola ci dice, amministrarsi da se stesso; nel medesimo tempo, oltre questo senso, tale vocabolo include anche Ia possibilita ehe si venga amministrati da altri" - S. 447- 448) oder in der Polemik gegen RÖSLERS Begriff der Selbstverwaltung ("Non puö quindi sorprendere ehe il Rösler faccia rientrare nella dottrina dell' autarchia tutt3 le forme di liberta individuale: quella di coscienza e quella di associazione, Ia personale e quella di contrarre matrimoni: ne sarebbe fuori di proposito, come scherzosamente osserva il Laband, comprendervi i1 bere, il mangiare, il prender tabacco, il Ieggere i giornali", S . 447). Des von der deutschen Rechtsdoktrin auf die italienischen Juristen ausgeübten Einflusses scheint sich LABAND bewußt zu sein: "Die deutsche Literatur hat auf die reich entwickelte staatsrechtliche Literatur Italiens in dieser Lehre einen sehr grossen Einfluß ausgeübt", P. LABAND: Abhandlungen und Rezensionen aus dem Archiv für öffentliches Recht (1885-1918), Leipzig 1980, S. 301. 35 Eine kritische Bemerkung bezüglich des "diritto corporativo (Genossenschaftsrecht) dei Tedeschi" findet sich bereits in S. ROMANO: Decentramento, (Fn. 16), s. 446. 36 Vgl. F . RUGGE: Autonomia ed autarchia degli enti locali: all' origine dello Stato amministrativo, in: I giuristi e Ia crisi dello stato liberale in Italia fra otto e novecento, hg. v. A. MAZZACANE, Napoli 1986, S. 276.
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Orlandos Trattato mit dem Thema Gemeinde befassen wird37, wird er nicht unerhebliche Änderungen in seiner Argumentation vornehmen, auf die Vervollkommnungsbedürftigkeit der Auffassung Jellineks hinweisen38 und die Polemik gegen die Lehren des "diritto sociale germanico" abschwächen39; die Grundlage aber, die Bedeutung der "autarchia" als "amministrazione statuale indiretta", wird im wesentlichen bestätigt.
Bevor wir den frühen Romano verlassen, sollten wir uns allerdings kurz mit zwei von ihm hervorgehobenen deutschen Lehrern befassen: Gneist und Laband. Letzterem überträgt Romano die Aufgabe, der von Gneist erarbeiteten Lehre der Selbstverwaltung die juristische Grundlage zu entziehen; er erkennt jedoch an - wie im übrigen auch Laband -, daß die Gneist'sche Lehre "e un eccellente criterio nel campo della politica o della scienza dell' amministrazione"40 • Somit finden wir in Italien jene Lehre der zwei Wahrheiten - oder der zwei Selbstverwaltungen - wieder, die wir in Deutschland mit der Schrift Rosins verlassen haben und die in der Zeit zwischen dem Erscheinen letzterer sowie der angesprochenen Beiträge Romanos besondere Aufmerksamkeit und eine weitere Entwicklung in Werken wie denen von Oscar Gluth 4 \ Hermann Blodig42 und Julius Hatschek 43 erfahren hatte. Die früheste Auswirkung dieser Studien in Italien findet man in der angesprochenen Schrift Romanos, der darin tatsächlich alle drei genannten Autoren zitiert. Die eingehendste Darstellung der Theorie der zwei Selbstverwaltungen - der politischen und der 37 S. ROMANO: II Comune (1908), in: Primo trattato completo di diritto amministrativo italiano, hg. v. V. E . ORLANDO, Milano 1915. 38 "II diritto d' impero del comune non e una deriva10ione del diritto subbiettivo di impero dello Stato" - wie Jellinek behaupten würde - ", ma e attribuito, come un diritto da quest' ultimo distinto, dall' ORDINAMENTO GIURIDICO STATUALE.", S. ROMANO, (Fn. 15), S. 542 f. (Hervorhebung durch den Verfasser) . 39 Vgl. F . RUGGE, (Fn. 36), S. 284. Zum Verhältnis des späteren ROMANO zum "diritto sociale germanico" vgl. M . FUCHS: La Genossenschaftstheorie di Otto von Gierke come fonte primaria della teoria generale del diritto di Santi Romano, in: Materiali per una Storia della cultura giuridica, IX, 1979, S. 65-80. 40 S. ROMANO, (Fn. 15), S. 661. 41 0 . GLUTH: Die Lehre der Selbstverwaltung im Lichte formaler Begriffsbestimmung, Prag 1887. 42 H. BLODIG : Die Selbstverwaltung als Rechtsbegriff, Wien 1894. 43 J. HATSCHEK: Die Selbstverwaltung in politischer und juristischer Bedeutung, Leipzig 1898.
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juristischen - bietet jedoch ein Werk von Luigi Raggi aus dem Jahre 1902. Es handelt sich nicht um ein Werk von besonderer wissenschaftlicher Bedeutung"''; es gibt allerdings Gelegenheit zum Hinweis auf eine Problematik von gewissem Ausmaß. Raggi erklärt, wie sich zwei Auffassungen von Selbstverwaltung behaupten: die erste - juristischer Natur - macht in der Selbstverwaltung eine besondere Beziehung zwischen lokaler Körperschaft und Staat aus; die zweite - politischer Natur betrifft die Art und Weise, in der sich das leitende Organ der lokalen Körperschaft bildet. Es ist jedoch festzustellen, daß zwar eine konsolidierte Meinung Gneist die Urheberschaft an der politischen Konzeption zuschrieb - so auch Raggi45 -, daß aber diese Konzeption ein weitaus weniger eindeutiges Gepräge annahm als das, welches ihr Schöpfer ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Für Gneist war die Selbstverwaltung die Verwaltung der lokalen Angelegenheiten durch ehrenamtliche Beamte. Die politische Auffassung der Selbstverwaltung hingegen - so wie Raggi sie darstellte - war nicht unvereinbar mit anderen Verfahren zur Bildung der gemeindlichen Leitung, insbesondere mit dem durch Wahl. Raggi selbst, prinzipiell Anhänger der juristischen Auffassung, für welche die Art und Weise, in der die örtlichen Ämter besetzt wurden, irrelevant sein sollte, erkannte trotzdem ohne Bedenken an, daß die juristische Auffassung durch das politische Kriterium der demokratischen Wahl ergänzt werden mußte, um die Verbindung der leitenden gemeindlichen Organe zu den von ihnen zu vertretenden örtlichen Interessen zu sichern46 .
44 L. RAGGI: Esame critico delle varie teorie moderne sopra Ia nozione d' autarchia, Torino 1902. 45 "Una prima aerie di opinioni, cui comunemente si da il nome di acuola politica ... ha per suo antesignano Rodolfo Gneist", L. RAGGI, (Fn. 44), S. 33. Sonderbar iat auch RAGGIS Kennr:eichnung LORENZ VON STEINS als "capo" der juristischen Strömung (ebd.). LABAND bemerkt in einer Rezension zu RAGGIS Werk: "wenn der Ver!. r:.B. im Gegensatz zu Gneist als dem Hauptvertreter der politischen Betrachtungsweise Lor. v. Stein als den Begründer der juristischen Begriffsbestimmung der Selbstverwaltung bezeichnet, so hätte dieser selbst vielleicht diese Charakterisierung dankend abgelehnt.", P. LABAND, (Fn. 34) , S. 302. 46 "La nomina degli organi per eler:ione o per parte degli altri organi eletti e un mezzo, ... mezr:o ehe appare oggidl anche ad un osservatore superficiale corrispondente assai intensivamente ai principi politico-amministrativi piu adatti al nostro regime e alle nostre tendenze democratiche.", L. RAG GI, (Fn. 44), S. 104.
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Eine derartige Position drohte die Grundlage des friedlichen Zusammenlebens zwischen den zwei Wahrheiten über die Selbstverwaltung selbst zu untergraben, sie bedrohte die Gründe ihres gemeinsamen Vorhandenseins sogar in Werken wie denen von Laband und Romano, welche die juristische Sicht zur Selbstverwaltung zu entwickeln suchten. Jenes friedliche Zusammenleben fand tatsächlich seine Voraussetzung in einer zentralistischen und einer gemäßigten Anschauung: Die juristische Auffassung forderte lokale Verwaltungen, die der Verwaltung des Staates untergeordnet sein und von diesem ihre Existenz herleiten sollten; die politische Auffassung forderte die Übertragung der lokalen Verwaltung auf Bürger, die gewiß unabhängig von Ministern und Regierungsparteien sein sollten, aber auch nicht dem Druck von Einzelinteressen und dem Ausdruck politisch unwürdigen Wählerwillens unterliegen. Es handelte sich nicht nur um vollständig miteinander zu vereinbarende, sondern sich tatsächlich ergänzende Auffassungen, insoweit, als beide damit beschäftigt waren, das Eindringen des in den staatlichen gesellschaftlichen Pluralismus Verwaltungskörpern zu filtern. Man beachte, mit wieviel Unbehagen Romano die Wählbarkeit lokaler Ämter einräumt47; man beachte seine Polemik gegen "quel dottrinarismo ehe ravvisa la liberta solo quando la designazione alle pubbliche cariche parte dagli elettori"48 . Keine anderen Töne kann man den Ausführungen eines anderen Autors von Rang wie Ferraris entnehmen, dessen Selbstverwaltungsideen eindeutig von der Gneist' sehen Lehre beeinflußt sind. Er läßt ohne weiteres das Wahlsystem zu; aber - man spürt es deutlich - mit zusammengebissenen Zähnen: es ist evident, daß sein Herz für etwas anderes schlägt, für eine Selbstverwaltung, die von wirtschaftlich unabhängigen und gebildeten Bür~ern ausgeübt wird, für eine aristokratische Selbstverwaltung4 . Bildet dieselbe Verschwörung 47 "E'inutile deplorare ehe il sistema adottato da! legislatore italiano non dia buoni frutti : esso e i1 solo ehe, date Je eondizioni attuali d'ltalia, si offriva al legislatore medesimo e a eui si deve rieorrere non gia perehe si ereda intrinseeamente ottimo, ma per neeessaria esclusione degli altri.", S. ROMANO, (Fn. 15), S. 696. 48 S. ROMANO: Deeentramento, (Fn. 16), S. 454; und in nahezu demselben Wortlaut in: Comune-Digesto, (Fn. 15), S. 697. 49 "E'uopo eonfessare, ehe un' autarehia loeale veramente degna di questo nome ha neeessariamente un CARATTERE ARISTOCRATICO, nel senso originario e piu vero della parola. . .. L' aristoerazia inglese mantenne e mantiene sempre Ia sua autorita anehe neU' odierna demoerazia, perehe ha sempre assunto per prima Je
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von gemäßigten Gesinnungen auch die Grundlage der Herrschaft der zwei Wahrheiten in der deutschen Lehre? Ich würde dies bejahen. Tatsächlich, als Laband 1901 das Werk Ferraris über den "Dicentramento" rezensiert, ist er nicht besonders streng gegenüber dem theoretischen Irrtum des italienischen Gelehrten, und zwar gegenüber der Anknüpfuns an die "alte Gneist' sehe Ansicht", während er hingegen die Billigung des Wahlsystems durch Ferraris durchaus kritisch beurteilt: "Die Erfahrung lehrt" - sagt Laband - ", daß klerikale, sozialdemokratische, agrarische und andere Demagogen bei Kommunalwahlen nicht zurückhaltender sind wie bei Wahlen zum Parlament huldigt hinsichtlich der Übertragung dieses Systems auf die Organisieruns der Selbstverwaltung einem großen Optimismus, der ihn verführt, diejenigen Beschränkungen und Sicherungsmaßregeln unbeachtet zu lassen, welche durchaus erforderlich sind, um die Gefahren abzuwenden, welche ohne sie mit dem System der Selbstverwaltung verbunden sind" 50 . Der gleiche Verdacht, die gleiche Vorsicht betreffen jedoch nicht nur die Verfassungsform der lokalen Gewalten - die Selbstverwaltung im politischen Sinne -, sondern auch die Beziehungen zwischen jenen Gewalten und dem Staat - die Selbstverwaltung im juristischen Sinne. Das stellt Paul Schoen fest, der nach einer Stellungnahme a Ia Laband folgendermaßen schließt: "Oft sind auch politische Rücksichten maßgebend. Die starke Durchsetzuns einzelner Gebietsteile des Staates mit fremden, staatsfeindlichen Volkselementen kann es angezeigt erscheinen lassen, ... von einer Übertragung der Staatsgeschäfte und einer Ausdehnung der Selbstverwaltung abzusehen" 51 . Schoens Behauptung bezieht sich auf die Situation in Posen; aber der Hinweis auf den dort vorrückenden Feind kann auch in bezug auf die zahlreichen anderen 'Staatsfeinde' gelten, durch die eine Vereinnahmuns der örtlichen Verwaltungen droht. Gegenüber dieser Bedrohung ist ein Überdenken der Verfassungsrolle der lokalen Selbstverwaltung erforderlich, damit nicht cariche pubbliche, esercitandole nei doveri non meno ehe nei diritti con piena devozione all' interesse generale ... E cosi se Ia democrazia odierna, per invidia alla ricchezza ed in supino omaggio ad una falsa uguaglianza, vorra togliere all' autarchia locale il suo carattere aristocratico ... rendera difficile i1 funzionamento delle liberta locali.", C . F . FERRARIS, (Fn. 28), S. 409- 411; Hervergebung durch den Verfasser. 50 P. LABAND, (Fn. 34), S. 272. 51 P. SCHOEN: Das Recht der Kommunalverbände in Preußen. Historisch und dogmatisch dargestellt, Leipzig 1897, S. 8.
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auch sie Opfer der entfesselten Interessenpolitik wird. Zu diesem Zweck kann natürlich das alte Gneist'sche Rezept verwendet werden: die Selbstverwaltung als Staatsverwaltung tout court; ehrenamtliche Beamte als Schöpfer einer durch Selbständigkeit und Sorge um das Gemeinwohl geprägten Verwaltung. Aber jenes Rezept besitzt nunmehr praktisch die Kraft eines Exorzismus: im neuen Jahrhundert ist die Verwaltung nicht mehr eine Frage von wohlwollenden Männern, sondern von Apparaten; und wo ist jener Stand gebildeter Besitzer, dem Gneist seine Selbstverwaltung hätte anvertrauen wollen? Nein; die Demokratisierung der Kommunalpolitik scheint nunmehr ein unwiderruflicher Prozeß und die Anrufung Gneists kann nur dazu dienen, ein wenig nützliche Nostalgie nach vergangenen Zeiten zu fördern. Für die Zukunft ist dagegen eine neue, weitaus differenziertere Darstellung erforderlich. Sie hat die Erinnerung an jegliche Autonomie der lokalen Gewalt auszulöschen und damit ihre unbedingte Unterordnung unter die staatliche Gewalt zu legitimieren; sie soll eine Selbstverwaltung darstellen, die dem Staat jene Obrigkeit verdankt, die allein sie über die Privaten hinaushebt und sie zu einer öffentlichen Gewalt macht; sie soll letztlich und vor allem klarstellen, daß kein einziges von dieser Selbstverwaltung verfolgtes Interesse ausschließlich als ihr eigenes gelten kann, sondern in erster Linie immer Staatsinteresse ist. Eine derartige Darstellung findet sich bei Jellinek und Romano, und zwar mit einer gedanklichen Symmetrie und gleichlautenden Akzenten, die um so beeindruckender sind, je mehr man sie als Ergebnis einer einstimmigen Sorge um das Schicksal des politischen und sozialen Systems, um das Schicksal der zeitgenössischen Staatlichkeil versteht.
Diskussionsbeitrag: Autoritärer Liberalismus im Vergleich
Von Christof Dipper Die von Fabio Rugge wiederentdeckte Rezeption deutscher Staatsund Verwaltungsrechtslehrer durch italienische Zeitgenossen wirkt auf den ersten Blick mehr als überraschend. Man muß sich doch nur die Welten zu vergegenwärtigen versuchen, die zwischen der deutschen Tradition städtischer Selbstverwaltung, dem Inbegriff der bürgerlichen Bewegung hierzulande, und der im Zuge des Einigungsprozesses gleichgeschalteten Gemeindeverfassung in Italien liegen. Hinzu kommt ja, daß diesen Unterschieden gewissermaßen spiegelverkehrt zueinander die politischen Systeme beider Länder entsprachen: hier die konstituionelle Monarchie, die der Krone eine in Verfassungssstaaten einmalige Kompetenz zugestand und daher gefahrlos das allgemeine Wahlrecht konzedieren konnte, dort das am englischen Vorbild orientierte parlamentarische System, das nur funktionierte, solange es durch einen rigorosen Zensus von den "Reichsfeinden" abgeschottet wurde. Wenn daher Stefano Jacini, Repräsentant des lombardischen moderatismo, der die Verteidigung der Gemeindeautonomie seit jeher auf seine Fahnen geschrieben hatte, vom "mostruoso connubio" zwischen britischem Verfassungsmodell und französischem Zentralismus sprach1 , so könnte man dieses Urteil sinngemäß auch auf die deutschen Verhältnisse übertragen.
1 Zit. bei PIERO CALANDRA: Storia dell'amministrazione pubblica in Italia, Boloilla 1978, S. 131. Einen knappen Forschungsüberblick zum hier an,eachlagenen Thema lieferte ALBERTO CARACCIOLO: Moderne Stadtgeschichtsforschung in Italien, in: Moderne Stadtgeschichtsforschung in Europa, USA und Japan. Ein Handbuch, hg. v. CHRISTIAN ENGELI U. HORST MATZERATH, Stuttgart 1989, S. 75-83 (Bibliographie ebd., S. 359-367).
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Ch. Dipper, Autoritärer Liberalismus
Die Unterschiede sind nämlich eher vordergründiger Natur, über denen man wichtige Gemeinsamkeiten nicht vergessen sollte. Was beide Systeme in gleicher Weise kennzeichnete, war der autoritäre Zug, den der Liberalismus hier wie dort angenommen hatte, weil er nicht bereit war, dem sozialen Wandel Rechnung zu tragen. So wurde das Wahlrecht immer deutlicher zum Instrument der bürgerlichen Vorherrschaft. Der Zensus ließ bei den Parlamentswahlen in Italien seit 1882 ca. 7,3 % der Bevölkerung zu den Urnen (bis dahin waren es ganze 2,2 o/o gewesen), jedoch senkte Crispi, der sich stark an der deutschen Spielart des Sozialimperialismus orientierte, den Anteil 1884 wieder auf 6,8 %; dabei blieb es bis 19122 • Die verschiedenen Ausprägungen etwa des preußischen Kommunalwahlrechts, das hier den einzig sinnvollen Vergleichsmaßstab darstellt, denn in beiden Ländern war die Wahl weder gleich noch geheim, führten fast zu denselben Ziffern; bis zum Jahrhundertende erlangten nicht mehr als durchschnittlich 10 % der Gemeindebürger das Recht auf politische Mitwirkung3 . Katholiken und Sozialisten waren also in beiden Ländern in nicht zu übersehender Weise ausgeschlossen und konnten sich daher, ob dies den wahren Sachverhalt traf oder nicht, als die einzigen Vertreter der Demokratie ausgeben. Die Minderheitenposition der liberalen Eliten in Deutschland wie in Italien verwies zwangsläufig die Experten immer wieder aufeinander, wobei der deutsche Vorsprung in Verwaltungslehre und Staatsrecht von den Italienern um so lieber genutzt wurde, als die herrschende Klasse dort ein notorischer Gegner des Zentralstaats war. Es waren also die gemeinsamen Interessen, die die von Rugge beobachteten Rezeptionskanäle haben entstehen lassen, nicht irgendwelche abstrakten juristischen Wahlverwandtschaften. Wenn eine Autorität wie Laband die Position einer liberalen Rechtsordnung im starken Staat vertrat, so Die neueste und bisher beste Zusammenstellung von Daten zur Geschichte italienischer Wahlen und ihrer Ergebnisse bei PIER LUIGI BALLINI: Le elezioni nella storia d'ltalia dall'Unita al fascismo, Bologna 1988. 3 Eine zusammenfassende wahlsoziologische Darstellung für Deutachland fehlt. Für die preußische Kommunalgeschichte sei auf folgende Einzeldarstellungen verwiesen: HELMUTH CROON: Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Gemeindewahlrechts in den Gemeinden und Kreisen des Rheinlandes und Westfalens, Köln, Opladen 1960. WOLFGANG HOFMANN: Preußische Stadtverordnetenversammlungen als Repräaentativorgane, in: Die deutsche Stadt im lndustriezeitalter: Beitr. zur modernen deutschen Stadtgeachichte, hg. v . JÜRGEN REULECKE, Wuppertal1978, S. 31-56.
Ch. Dipper, Autoritärer Liberalismus
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entsprach dies genau der Interessenlage dieser Spielart des Liberalismus-'. "Government by consent", dessen man sich durch Wahlen auf allen Ebenen ständig vergewisserte, wie dies unter Verweis auf England noch Gneist vertreten hatte, war eben angesichts des Umstandes, daß die bürgerlichen Honoratioren von jeglicher Demokratisierung nur Nachteile zu gewärtigen hatten, längst obsolet geworden. Der Gedanke der Sicherung und des Ausbaus der kommunalen Selbstverwaltung, der in beiden Ländern unter Berufung auf historische Vorbilder unablässig beschworen wurde, kam darum in der Praxis ohne den Rückgriff auf die Hoheitsverwaltung des Staates, d. h. ohne dessen schützende Hand nicht aus. Aus diesem Widerspruch hat sich das liberale Kommunalrecht nicht mehr zu lösen vermocht. Wenn trotzdem der Ausbau der Leistungsverwaltung - Kanalisation, Energieversorgung, Verkehr, Schulwesen usw. - rasch vorankam, (in Deutschland sicherlich rascher als in den überschuldeten Kommunen Italiens, die viele dieser Dienstleistungen an ausländische Konsortien verpachteten und mit dieser Vernachlässigung wichtiger städtischer Belange ihre wahren Interessen nur um so deutlicher zu erkennen gaben), so entsprang dies wie im Falle der Sozialgesetzgebung der Absicht, auf diese Weise der Arbeiterbewegung das Wasser abzugraben. Der Munizipalsozialismus schlug allerdings ebenso fehl wie der Staatssozialismus. Die deutsche liberal-konservative Selbstverwaltungstheorie wurde für die italienischen Honoratioren noch attraktiver, nachdem man 1889 das Kommunalwahlrecht erheblich erweitert hatte. Die Zulassung stieg auf 10,8 % und war damit eineinhalbmal so hoch wie bei den Parlamentswahlen. Es drohte namentlich im Norden das Ende der Notabelnherrschaft und damit das Ende der politisch garantierten Aufsicht der Großgrundbesitzer über das flache Land, das in Italien in Gestalt der Samtgemeinde seit Jahrhunderten den Städten inkorporiert war. Es rächte sich nun einmal mehr, daß sich die Agrarier, die in Italien das altliberale juste milieu verkörperten, durch den säkularen Konflikt mit der Kirche jegliche Chance zur Ausbildung eines ländlichen Populismus unter ihrer Führung bzw. 4 Das autoritäre Gesicht des Liberalismus ist bislang für Italien wenig, für Deutschland überhaupt nicht thematisiert worden. Zu Italien siehe RAFFAELE ROMANELLI: L'ltalia liberale (1861-1900) , Bologna 1979, sowie neuerdings, und zwar aus ungewohnter Perspektive, JOHN A. DAVIS: Conflict and Control. Law and Order in 19th-Century Italy, London 1988.
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Kontrolle beraubt hatten, wie er die Verhältnisse etwa in der französischen Provinz oder in Ostelbien kennzeichnete. Die lokalen Notabeln verlangten nun erst recht, daß der Staat ihnen Schutz und Hilfe gewähre und das Zusammenspiel zwischen der vom Präfekten geleiteten Giunta Provinciale Amministrativa und dem Sindaco entsprach im Ergebnis vielfach der Arbeitsteilung zwischen (Ober-) Bürgermeister und Regierungspräsidenten in Preußen; was in beiden Fällen formal als Aufsicht galt, glich in Wirklichkeit weit eher kooperativen Handlungsmustern. Auf diese Weise ließ sich der Entzug kommunaler Zuständigkeiten durchaus verschmerzen. Die Demokratisierung des politischen Lebens im Vorfeld bzw. als unmittelbare Folge des Ersten Weltkriegs hat dann überall tatsächlich das Ende der überlieferten Notabelnherrschaft bewirkt. Von nun an gingen beide Länder verschiedene Wege. In Deutschland schlüpften Zentrum und Sozialdemokratie in die Rolle der Stadtväter und leiteten, namentlich in Preußen, eine neue Phase weitsichtiger und energisch betriebener Kommunalpolitik ein. In Italien dagegen eroberten die soeben entmachteten Eliten im Bündnis mit den Faschisten 1922 die Macht zurück. Es überrascht daher nicht, daß 1926 die Wählbarkeit der Kommunalämter beseitigt und diese zu unbesoldeten Ehrenstellen erklärt wurden. Damit war der Restauration der lokalen Notabeln der Weg geebnet.
TeilG
Italien 1861 bis 1915 -Nationalstaat ohne Nation
Italien 1861 bis 1915 -Nationalstaat ohne Nation
Von Christof Dipper Die Beurteilung des liberalen Nationalstaats, d. h. der Geschichte Italiens zwischen 1861 und 1922 hängt ganz wesentlich davon ab, ob Risorgimento und Faschismus, also die vorangehende und die nachfolgende Epoche, in einen historischen Zusammenhang gebracht werden oder nicht. Der in dieser Frage herrschende Dissens ist zwar im Abklingen, aber noch immer sind die italienischen Historiker deutlich gespalten. Eine Einigung wird durch die Zuordnung wissenschaftlicher Aussagen zu parteipolitischen Bezeichnungen und Positionen erschwert - kein Wunder in einem Land, in dem Intellektuelle oft zugleich Politiker sind. So gilt als "links", wer für die eigentlich naheliegende Kontinuität der Geschichte plädiert und dementsprechend in den Handlungen und Unterlassungen der Politiker seit dem Risorgimento einen wesentlichen Grund für die spätere Machtergreifung Mussolinis sieht. Die "rechte" Position betont demgegenüber den gewaltsamen Einbruch des Faschismus, der hinsichtlich seiner Ziele und Methoden vom ethisch-politischen Charakter des Risorgimento und von den graduellen Fortschritten des Nationalstaates durch Abgründe getrennt war. Im Grunde handelt es sich um eine Debatte, wie wir sie auch aus Deutschland kennen, mit dem bemerkenswerten Unterschied jedoch, daß die hierzulande schon seit 1918 manifeste Krise nationalstaatlichen Geschichtsdenkens und die viel weiter vorangeschrittene Erforschung des "Dritten Reiches" die säuberliche Scheidung der Vergangenheit in schwarze und weiße Seiten heutzutage niemandem mehr plausibel erscheint. Das dornige Problem der Einheit der deutschen Geschichte zwischen 1850 und 1945 wird derzeit am überzeugendsten von jenen Historikern vertreten, die mit Hilfe der Modernisierungstheorie die Größe der zu leistenden Aufgaben - nationale Einigung, Parlamentarisierung
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und Industrialisierung - in Relation zum knappen Zeitbudget Deutschlands setzen und die sich daraus erklärenden schweren Störungen des politischen und sozialen Lebens als typische Modernisierungskrisen bezeichnen; ihre massive Häufung habe zum Zusammenbruch des politischen Systems geführt. In entsprechender Weise läßt sich auch die Geschichte Italiens zwischen 1861 und 1943 verstehen, nämlich als die Geschichte einer gleichfalls "verspäteten Nation", die ihren raschen Weg aus großer relativer Rückständigkeit mit einer enormen Häufung innerer Krisen bezahlen mußte und der die Integration großer Teile des Volkes ebenfalls so sehr mißlang, daß der liberale Nationalstaat nach längerer Agonie schließlich 1922 in einer bürgerkriegsähnlichen Situation unterging. Demnach wäre der Faschismus nur eine andere, nämlich modernere (und zunächst übrigens auch effizientere) Antwort auf die mehrfachen Modernisierungskrisen Italiens, während die für das vorangegangene System typische Politik einer Mischung aus Modernisierung und Repression an ihrem Unvermögen, Staat und Gesellschaft miteinander auszusöhnen, zuletzt gescheitert ist. Diese beiden Hauptmerkmale liberaler italienischer Politik zwischen 1861 und 1915 sollen im folgenden knapp skizziert werden. Der berühmt gewordene Satz des Piemontesen Massimo d'Azeglio vom Jahre 1861, "fatta l'Italia bisogna fare gli Italiani", enthüllt vielleicht mehr als alles andere das Außerordentliche der Situation, in der sich die soeben vollzogene politische Schöpfung befand: ein Nationalstaat auf der Suche nach seiner Nation. Denn das Risorgimento war nicht nur ohne Beteiligung der überwiegenden Mehrheit der Italiener zum Ziel gelangt - das allein wäre damals kein Problem gewesen -, sondern die liberal-laizistischen Eliten hatten die mit Abstand wichtigste, nämlich die katholische Identität der Massen auch noch herausgefordert. Für weitere Spannungen, die bis zur Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsteile reichten, sorgten die sozialen Spannungen auf dem Lande, zu denen ganz allmählich noch die vom Industriesystem bedingten gesellschaftlichen Verwerfungen kamen. Diese nicht wieder rückgängig zu machenden Geburtsfehler der Einheitsbewegung führten dazu, daß bei weitem die meisten Feinde dieses Staates im Inland zu finden waren. Als erste wehrten sich Kleinbauern und Landarbeiter des Südens in einem fünfjährigen Guerillakrieg gegen das neue Regime. Auch anderswo waren Aufstände an der Tagesordnung: 1864 in Turin aus Protest gegen die Verlegung der Hauptstadt, 1866 in Palermo gegen das neue Regime überhaupt, 1869 im ganzen Land gegen die Einführung der verhaßten Mahl-
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steuer. Die Katholiken blieben zwar ruhig, aber ihre innere Distanz zur herrschenden politischen Ordnung wirkte belastend genug, vor allem, als in den späten 1880er Jahren eine neue Gruppe von "Reichsfeinden" hinzukam: die Arbeiterbewegung. Sie war vielfach keineswegs reformistisch gesonnen und versuchte die herrschende Gesellschaftsordnung auf revolutionäre Weise umzustürzen. Der Partita d'azione, wie sich die von Cavour zusammengeschmiedete Koalition liberaler Konservativer und gemäßigter Nationalisten nannte und die den politischen Apparat konkurrenzlos beherrschte, war auf diese Fatalitäten nicht vorbereitet gewesen. Wollte er seine Grundsätze, innerhalb derer eine liberale Wirtschaftspolitik und parlamentarische Regierungsweise ganz oben rangierten, in den Nationalstaat hinüberretten, blieb ihm nichts anderes übrig, als das politische System durch hohen Zensus, rigide Zentralisierung und Schaffung eines machtvollen Repressionsapparates abzusichern. Nichts konnte die Destra storica - so bezeichnete man später rückblickend die bis 1876 herrschende "Partei" - in ihrem Vertrauen auf die Ratio einer von einer starken Exekutive betriebenen Modernisierung patriarchalischer Spielart erschüttern. Hohe Steuern, ein ausgeglichenes Budget und die Einführung der damals modernsten administrativen und technischen Errungenschaften, so vor allem das 1865 in Kraft gesetzte Zivilgesetzbuch und die Schaffung eines Eisenbahnnetzes zur Herstellung eines nationalen Marktes, sollten dem Land den Anschluß an die fortgeschrittensten Staaten Europas sichern. Bis Anfang der 1870er Jahre regierte die Rechte unangefochten, weil ihre wirtschaftliche Hauptstütze, die Großlandwirtschaft, prosperierte. Unter dem doppelten Ansturm der internationalen Wirtschaftskrise und dem Durchbruch amerikanischen Getreides auf dem europäischen Markt wurden die Aporien einer industrialisierungsfeindlichen Freihandelspolitik jedoch so offenkundig, daß in der sogenannten rivoluzione parlamentare vom 18. März 1876 die Linke an die Regierung gelangte. Deren Programm sah entschiedene Staatsintervention im Interesse der Industrie, d. h. Schutzzölle vor, ferner Volksbildung, Steuersenkung und allgemeines Wahlrecht. Dahinter stand angesichts der nach wie vor massiven innenpolitischen Gefährdung des Regimes die plausible Idee, daß man die Massen mit dem Nationalstaat aussöhnen müsse. Es zeigte sich jedoch recht schnell, daß der Weg der Linken nicht gangbar war, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens war diese Linke bei weitem nicht so links, wie ihre Propaganda glauben machen wollte. Vielmehr handelte es sich um ein Bündnis
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des alten, betont laizistischen Linksliberalismus mit Repräsentanten des konservativen süditalienischen Agrarbürgertums; weder die ländliche Arbeiterschaft (das städtische Fabrikproletariat spielte mit einer halben Million Beschäftigter noch keine politische Rolle) noch die Katholiken waren darum integrierbar. Zweitens existierten keine wirklichen Parteien, so daß das Parlament sehr stark personenbezogen, klientelistisch strukturiert war. Eine klare politische Alternative fehlte daher, stattdessen sorgte der Prozeß des trasformismo für eine zunehmende Verschmelzung der beiden Lager zu einer einzigen Gruppe, deren Hauptziel es war, das Land gemeinsam zu regieren. Die programmatischen Positionen verloren daher rasch an Trennschärfe. Drittens schließlich erwiesen sich die Ressourcen des Staates als zu schwach, um die geplanten Reformen zu finanzieren. Die immer ambitiösere Großmachtpolitik, die Versuche überseeischer Expansion verschlangen enorme Mittel, die kostspieligen Reformen blieben auf der Strecke. Statt zu schrumpfen, nahmen die Dimensionen sozialer Ungleichheit weiter zu und verschärften die Klassengegensätze. Das politische System blieb darum faktisch unverändert, denn die Erweiterung des Wahlrechts im Jahre 1882 von 2,2 auf 7,3 Prozent der Bevölkerung bewirkte wenig. Die Aufgabe der Integration wurde daher alsbald dem Instrumentarium des Sozialimperialismus zugewiesen, doch erfüllte diese Strategie ebensowenig wie anderswo auf Dauer die Hoffnungen der politischen Klasse. Crispi, der von 1887 bis 1896 fast ununterbrochen als Ministerpräsident amtierte, verkörperte die neue Phase des autoritären Liberalismus wohl wie kein anderer italienischer Politiker. Sein Regierungsantritt fiel in die Zeit, als das nach zweimaliger Verlegung der Hauptstadt sehr wichtige Baugewerbe sowie viele Banken und neugegründete Industriebetriebe, zusammenbrachen. Hinzu kam die anhaltende Agrarkrise. Das Land wurde von einer Welle der Streiks und des gewaltsamen Protests überschwemmt. Crispi, der Bismarck bewunderte und ihn in Friedrichsruh besuchte, handelte energisch: erhöhte Schutzzölle, weiterer Ausbau des Zentralismus, Stärkung des Polizeiapparates sowie ein erstes Gesetz zur Förderung der Auswanderung sollten unmittelbar Entlastung im Ionern schaffen; ein liberalisiertes Strafgesetzbuch und die Anfänge staatlicher Sozialgesetzgebung kamen hinzu. Gleichzeitig suchte eine aktivere Außenpolitik den Konflikt mit Frankreich und wollte das Land im Bündnis mit Deutschland und Österreich zur Großmacht im Mittel- und im Roten Meer erheben. So zeichneten sich rasch die Merkmale der Crispischen de-
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mocrazia totalitaria ab, die einerseits die soziale Basis ihrer Macht erweiterte, andererseits aber mit so sehr verschärfter politischer Kontrolle den Demokratisierungsprozeß eindämmen und lenken zu können hoffte, daß Crispi zeitweilig faktisch eine vom König gedeckte Diktatur ausübte.
Die enormen sozialen Spannungen haben weder Crispi noch seine Nachfolger vermindern können. Das hätte wohl auch die Kräfte jede anderen Regierung überstiegen. Aber die Repression, die immer brutaler wurde - 1893 endete der Massenstreik der Fasci siciliani blutig, 1898 brachen die Hungerunruhen in der Emilia-Romagna und der Arbeiteraufstand in Mailand im Feuer der Carabinieri und des Heeres zusammen -, sollte schließlich nicht mehr die Verfassung schützen, sondern bildete das Vorspiel zu ihrer Revision. Parteien- und Vereinsverbote, Kriegsrecht und Militärgerichtsbarkeit für ganze Landstriche genügten nicht mehr. Am Tiefpunkt der 25jährigen Wirtschaftskrise und nach der ebenso blamablen wie vernichtenden Niederlage des italienischen Heeres bei Adua schlug Somzino Anfang 1897 in einem berühmt gewordenen Artikel mit der Überschrift "Torniamo allo Statuto" den Übergang Italiens zur konstitutionellen Monarchie nach preußisch-deutschem Vorbild vor, um so die "Schwarzen" und die "Roten" ein für alle Mal auszuschalten. Damit drang er zwar nicht durch, aber 1898 hoffte der König, daß General Pelloux, der neue Ministerpräsident, mit der Suspension wichtiger Grundrechte doch noch zum Ziel kommen würde. An dieser Frage zerbrach jedoch die Regierungsmehrheit, Rücktritte, Neuwahlen und die Ermordung Umbertos I. machten den Weg frei für eine neue Phase liberaler Politik. In der nun folgenden Ära Giolitti, die bis Anfang 1914 reichte, wurde die unzureichende Massenbasis der Liberalen vollends offenbar. Zwar gelang den Regierungen durch Wahlmanipulation und transformistische Parlamentspraxis die Minderung des Einflusses der Abgeordnetenkammer, aber weder die Wiederaufnahme der Sozialpolitik noch die Kontakte mit dem reformistischen Flügel der Arbeiterbewegung minderten den Druck von unten. Auf der entgegengesetzten Seite des politischen Spektrums versuchten die Nationalisten, Einfluß auf die Regierung zu gewinnen, um im Mittelmeer das zerfallende Osmanische Reich zu beerben, möglichst aber auch noch den Franzosen das mehrheitlich von Italienern besiedelte Tunis abzunehmen. Die Katholiken verhielten sich abwartend, gaben aber ihre imperialistischen Sympathien deutlich zu erkennen.
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Von links und rechts in die Zange genommen, suchte Giolitti seinen Spielraum durch eine Kombination von Sozialimperialismus und Demokratisierung zu erweitern. Die entscheidende Rolle kam dabei den Katholiken zu, mit denen Giolittis Anhänger ein dauerhaftes liberal-konservatives Bündnis einzugehen hofften. 1911 begannen die Italiener die Okkupation Libyens, an die sich die Besetzung des Dodekanes anschloß, 1912 erweiterte die Regierung das Wahlrecht radikal auf ca. 24 Prozent der Gesamtbevölkerung und 1913 erzielte sie nach einem Übereinkommen mit dem Chef des katholischen Wählervereins einen fulminanten Wahlsieg, der ihr scheinbar die gesuchte Festigkeit brachte. Das Gegenteil war freilich der Fall, denn zugleich hatte der reformistische Flügel der Sozialisten gegen Mussolini eine deutliche Niederlage erlitten, und auch die Nationalisten, denen gleichfalls der liberale Nationalstaat ein Dorn im Auge war, gewannen im Bürgertum und namentlich in Banken- und Industriekreisen rasch an Einfluß. Wie im Kaiserreich damals Bethmanns-Hol/wegs "Politik der Diagonale" an den unüberbrückbaren Parteigegensätzen scheiterte, so mißlang auch in Italien Giolittis Versuch, den Radikalen durch teilweise Zugeständnisse die Spitze zu brechen. In beiden Ländern war 1914 das politische System ernsthaft bedroht, weil die Regierungen einer Fundamentalopposition gegenüberstanden, die zwar in sich gespalten war und keinen direkten Einfluß auf die Politik besaß, aber die Mehrheit der Wähler hinter sich hatte. In dieser ausweglosen Lage schien vielen nur noch der Krieg als das letzte Mittel, Staat und Gesellschaft wieder miteinander auszusöhnen. Das gänzlich unerwartete Ergebnis entsprach freilich dem tollkühnen Charakter dieses Versuchs. Warum erlag Italien dem Faschismus noch eher als Deutschland, d. h. warum hielt das im 19. Jahrhundert etablierte politische System den Herausforderungen nur ein Menschenalter stand? Eine Antwort ergibt sich am ehesten, wenn man vergleichbare Länder im Blick behält. Zu diesen zählen nicht die angelsächsischen Demokratien, sondern "verspätete Nationen", deren Verspätung Institutionen oder wirtschaftliche Entwicklung oder beides zugleich betraf. Dann jedenfalls zeigt sich, daß es nicht Cavours Großgrundbesitzerattitüden, Crispis autoritäres Temperament oder Giolittis begrenzte Einsicht in die Probleme seiner Zeit waren, mit anderen Worten, daß der historische Verlauf nicht in erster Linie eine Folge persönlicher Schwächen und Verfehlungen war, sondern daß diese Persönlichkeitsmerkmale nur in der gegebenen historischen Konstellation ihre volle Wirkung entfalten konnten. Die Verantwortlichkeit der Politiker wird also keineswegs igno-
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riert, wenn man feststellt, daß Italien seit den 1870er Jahren, d. h. lange bevor es industrialisiert war, an der Weltkonjunktur und damit an ihren Krisen teilnahm und darüber hinaus schwer am Erbe vor allem seiner jüngsten Vergangenheit zu tragen hatte. Zu dieser Erbschaft zählte zunächst einmal die italienische Variante des Liberalismus. Wies er in seinen Anfängen alle Merkmale des juste milieu, ja teilweise sogar noch ständisch-libertäre Elemente auf, so gelang ihm auch nach der Staatsgründung nicht der Ausbruch aus dem sehr begrenzten Milieu agrarischer oder bildungsbürgerlicher Prägung. Etwas dem Harnbacher Fest, der Paulskirche, den Schillerjubiläen Vergleichbares, in denen der deutsche Liberalismus sich als echte Massenbewegung erwies, kennt die italienische Geschichte nicht. Die großbürgerlichen Liberalen bezeichneten sich nicht von ungefähr als Moderati, weil ihre Gegner nämlich entweder das Programm klerikaler Reaktion oder dasjenige agaradscher Revolution vertraten, zwei Zielsetzungen, die sich nicht einmal grundsätzlich ausschlossen und daher zur tödlichen Umklammerung des Fortschritts werden konnten. Der Katholizismus war seit 1848, seit Pius IX. sich aus der italienischen Einheitsbewegung zurückgezogen hatte und seit nach dem Scheitern aller förderalistischen Projekte nur noch die "Piemontisierung" Italiens übriggeblieben war, zum grundsätzlichen Gegner des liberalen Nationalstaats geworden. Die wirkliche "Aussöhnung", die conciliazione, wie es die Zeitgenossen nannten, brachte erst Mussolini 1929 zuwege. Im Deutschen Reich kam dagegen das Zentrum nach dem Abbruch des Kirchenkampfes vergleichsweise rasch aus der Abseitsstellung eines "Reichsfeindes" heraus und wurde spätestens in den 1890er Jahren zu einer der staatstragenden Säulen. In Frankreich schließlich fand die große Auseinandersetzung zwischen den Katholiken und der modernen Nation erst eine Generation nach der Gründung der III. Republik statt. Die laizistischen Republikaner siegten nicht zuletzt deshalb, weil sie mittlerweile auch auf dem Lande zur Massenbewegung geworden waren. Eine staatstragende ländliche Massenbewegung war aber in Italien schon im Risorgimento und erst recht nach der Einigung unmöglich. Ob Rentenkapitalismus im Süden, ob Agrarkapitalismus im Norden, beide verschärften die an sich schon alten sozialen Grundsätze so sehr, daß schließlich die seltene Erscheinung einer im Marxschen Sinne perfekten Klassengesellschaft zustande kam, die nur noch durch die objektiven Verwertungsbedingungen von Kapital und Arbeit bestimmt, aber durch keinerlei Klammern
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der subjektiven Sphäre mehr zusammengehalten wurde. Auf diesem Boden gedieh nach 1861 sowohl der als grande brigantaggio mißverstandene legitimistische Sozialprotest, dem das Ziel der Umverteiluns des Bodens nicht fremd war, aber auch ein gleichsam naturwüchsiger Sozialismus der Landarbeiter, der sich vielfach den Anhängern Bakunins öffnete und seine syndikalistischen Ziele im Wege der "direkten Aktion", der spontanen Massenerhebung durchzusetzen suchte. Die Erfolglosigkeit solcher Strategie hat deren Attraktivität in den Augen der sich erst vergleichsweise spät formierenden Sozialistischen Partei kaum gemindert, so daß diese ständig in einen revolutionären und einen reformistischen Flügel gespalten blieb. Aus der Sicht der Obrigkeit war die Arbeiterbewegung, von der kurzen Verständigungsphase unter Giolitti abgesehen, ein reines Polizeiproblem. Unter diesen Umständen kam es, anders als im Kaiserreich, nicht einmal, um einen bekannten Buchtitel aufzunehmen, zu einer "negativen Integration". Auch die französische Arbeiterbewegung hatte sich trotz aller Vorbehalte gegenüber der bürgerlichen Republik so weit mit dieser arrangiert, daß sie im Sommer 1914 den international abgesprochenen Generalstreik unterließ. Französische Sozialisten und deutsche Sozialdemokraten bewilligten die Kriegskredite und schulterten die Gewehre, die italienische Arbeiterbewegung blieb dagegen mehrheitlich bei der Neutralität und schloß den zur Intervention drängenden Mussolini samt seinem Minderheitenflügel aus. Dessen sofortiges Zusammengehen mit den von d'Annunzio geführten radikalen Nationalisten legt einiges von den gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen bloß, die das liberale Königreich durchzogen und die sich nachmals der Faschismus zunutze .nachte. Auch anderswo kam es gerade im 19. Jahrhundert immer wieder zu tiefer Entfremdung zwischen Staat und Gesellschaft. Selbst in England sprach Disraeli von den "two nations", die im Lande neben-, jedoch nicht miteinander lebten. Aber die Häufung der Krisen war doch geringer, wo wenigstens der politische Rahmen altvertraut und jedenfalls bis zu einem gewissen Grade akzeptiert war und wo Dynastie, Sprache und nationale Traditionen einheitsstiftend wirkten. Auch dies fehlte in Italien. Die casa Savoia blieb, namentlich im römischen Umfeld, ein dauernder Fremdkörper, die meisten Italiener verstanden einander nicht einmal, weil die Hochsprache mangels ausreichender Beschulung nur von wenigen 10.000 Menschen beherrscht wurde, und es gab keine "liberties of an Englishman", keinen Bastillesturm, ja nicht einmal einen Luther, an die eine nationale Legende hätte anknüpfen
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können. Mit dem einstigen Hauptfeind Österreich im Dreibund vereint, konnten auch Gedenktage wie die deutschen Sedansfeiern kaum populär werden. Für die allermeisten seiner Angehörigen hatte der junge Nationalstaat buchstäblich nichts zu bieten. Von den Eliten mißtrauisch beobachtet, von der politischen Willensbildung durch Zensus und korrumpierenden trasformismo ausgeschlossen, bei spürbar sinkendem Lebensstandard sahen viele nur noch die Alternative: Widerstand oder Emigration. Beides wurde reichlich praktiziert. Tausende blickten in die Gewehrläufe der Erschießungspelotons, Millionen kehrten dem Land den Rücken. Sämtliche Herrschaftsmuster des 19. Jahrhunderts erwiesen sich schließlich als ungeeignet oder nicht gangbar. Für bonapartistische Experimente fehlte jegliche Voraussetzung, der Sozialimperialismus verfehlte sein Ziel und als die parlamentarische Monarchie den Schritt zur Demokratisierung wagte, bezahlte sie diesen mit ihrem Untergang. Daß erst der Faschismus mit seinen völlig neuen Methoden die Italiener im consenso vereinte, machte den breiten Wunsch der Gesellschaft nach Identifikation mit ihrem Staat mehr als deutlich. Freilich verspielte Mussolini diesen consenso alsbald wieder. Erst der Resistenza gelang die Schaffung eines politischen Modells, das dem Land jenes dauerhafte Maß an Flexibilität und Standfestigkeit beschert hat, dessen moderne Gesellschaften bedürfen. Literaturhimveise
Für die hier vorgetragene Interpretation der italienischen Geschichte gibt es nur wenig weiterführende Literatur in deutscher Sprache. Daher sei wenigstens auf zwei italienische Titel verwiesen, nämlich auf den souveränen Essai von Alberto Aquarone: Alla ricerca dell'Italia liberale, in seinem gleichnamigen Buch, Napoli 1972, und auf den immer wieder aufgelegten, vorzüglichen Überblick von Raffae/e Romane/li: L'Italia liberale, 1861-1900, Bologna 1979. Weitere wichtige Werke sind in der überarbeiteten Bibliographie der schon älteren Gesamtdarstellung von Michael Seidlmayer: Geschichte Italiens, Stuttgart, 2. Aufl. 1989, aufgeführt. Die Antipoden der eingangs erwähnten Diskussion um die Einheit der italienischen Geschichte sind einerseits Rosario Romeo, dessen letzter einschlägiger Vortrag "Das Risorgimento in der neueren historiographischen Diskussion" auf deutsch vorliegt, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Biblio-
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theken, Bd. 64, 1984, S. 345-364, während die Vertreter der Gegenseite, zu denen Romeo neben Romane/li Roberto Vivarelli, Giampiero Carocci und vor allem Stuart J. Woolf zählt, nur im Original vorliegen. Woolfs vorzüglicher Überblick reicht leider nur bis zur Einigung: A History of ltaly 1700-1860. The Social Constraints of Political Change, London 1979. Eine der Modernisierungstheorie abgewonnene und vergleichende Einordnung von Faschismus und Nationalsozialismus hat Wolfgang Schieder vorgelegtDas Deutschland Hitlers und das Italien Mussolinis. Zum Problem faschistischer Regimebildung, in: Die Große Krise der 30er Jahre, hg. v. Gerhard Schulz, Göttingen 1985, S. 44-71. Siehe auch Schieders zahlreiche Wortmeldungen in dem vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Tagungsband: Der italienische Faschismus. Probleme und Forschungstendenzen, München, Wien 1983. Die Eigentümlichkeiten des frühen italienischen Liberalismus hat jüngst Marco Meriggi mehrfach herausgestrichen. Siehe dazu: Der Iombarda-venezianische Adel im Vormärz, in: Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters, 1780-1860, hg. v. Armgard von Reden-Dohna und Ralph Melville, Stuttgart 1988, S. 225-236, sowie: Der Adelsliberalismus in der Lombardei und in Venetien, 1815-1860, in: Liberalismus im 19. Jahrhundert, hg. v. Dieter Langewiesche, Göttingen 1988, S. 367-377. Zum italienischen Bürgertum liegt ebenfalls eine Skizze Meriggis vor: Italienisches und deutsches Bürgertum im Vergleich, in: Bürgertum im 19. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Kocka, Bd. I, München 1988, S. 141-159. Ferner der wichtige BeHrag von Hartmut Ullrich: Bürgertum und nationale Bewegung im Italien des Risorgimento, in: Nationalismus und sozialer Wandel, hg. v. Otto Dann, Harnburg 1978, s. 129-156. Für die Bedeutung der Agrarfrage, die in der vorliegenden Skizze ebenso wie die Industrialisierung viel zu kurz kommt, ist grundlegend Volker Hunecke: Soziale Ungleichheit und Klassenstrukturen in Italien vom Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Klassen in der europäischen Sozialgeschichte, hg. v. Hans-U/rich Weh/er, Göttingen 1979, S. 210-232. Hingewiesen sei auch auf die vorzügliche Studie von Friedrich Vöchting: Die italienische Südfrage. Entstehung und Problematik eines wirtschaftlichen Notstandsgebiets, Berlin 1951. Kurze Gesamtüberblicke der Wirtschafts- und Sozialgeschichte des italienischen Nationalstaats vor dem I. Weltkrieg gaben in den vergangenen Jahren Luciano Ca/agna: Die industrielle Revolution in Italien
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1830-1914, in: Europäische Wirtschaftsgeschichte, hg. v. Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, Bd. 4, Stuttgart 1977, S. 309-339, sowie Peter Hertner: Italien 1850-1914, in: Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd. 5, hg. v. Wolfram Fischer, Stuttgart 1985, S. 705-776. Von Hertner stammt auch ein informativer Forschungsüberblick: Erklärungsansätze zur Industrialisierung Italiens, in: Deutschland und Europa in der Neuzeit, Fs. f. Karl Otmar Frh. v. Aretin, hg. v. Ralph Me/ville und anderen, Stuttgart 1988, Bd. 2, S. 727-738. Hingewiesen sei auch noch auf Volker Sellin: Die Anfänge staatlicher Sozialreform im liberalen Italien, Stu ttgart 1971. Zur italienischen Arbeiterbewegung liegen zwei bibliographische Überblicke vor: Volker Hunecke: Die neuere Literatur zur Geschichte der italienischen Arbeiterbewegung, Teil 1: Von den Anfängen bis zum Vorabend des 1. Weltkriegs, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 14, 1974, S. 543-592. Ferner Giulio Sapelli: Zur Erforschung der Probleme der Arbeiter in der Fabrik um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Italien, in: ebd., Bd. 21, 1981, S. 399-426. Eine vielbeachtete Synthese des herkömmlicherweie als alternativ aufgefaßten Klassenbildungsprozesses durch Kultur und Industrialisierung lieferte ebenfalls Volker Hunecke : Arbeiterschaft und Industrielle Revolution in Mailand, 1859-1892, Göttingen 1978. Italien im inernationalen Vergleich behandelt Christo! Dipper: Nationalstaat und Klassengesellschaft, 19. Jahrhundert, in: Epochen der modernen Geschichte, hg. v. Gero/d Niemetz und Uwe Uffelmann, Freiburg 1986, S. 73-92. Die Ciolitti-Ära wurde von der deutschen Forschung bislang allenfalls gestreift, sieht man von der grundlegenden Studie Hartmut Ullrichs ab, die allerdings nur in italienischer Sprache vorliegt:La classe politica nella crisi di partecipazione dell'Italia giolittiana, 3 Bde., Roma 1979. Immerhin gibt es eine vorzügliche Studie, die den Zusammenhang von Imperialismus und Zusammenbruch des liberalen Sytems in Italien thematisiert: Wolfgang Schieder: Aspekte des italienischen Imperialismus vor 1914, in: Der moderne Imperialismus, hg. v. Wolfgang J. Mommsen, Stuttgart 1971, S. 140-171.
Autorenverzeichnis
Beneduce, Pasquale, Dottore di ricerca in Storia del diritto, Universita degli Studi di Napoli, Istituto di Storia del Diritto Italiano, Mezzocanone 16, 1-80133 Napoli. Dilcher, Gerhard, Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Kirchenrecht und Zivilrecht, Johann Wolfgang GoetheUniversität, Fachbereich Rechtswissenschaft, Institut für Rechtsgeschichte, Senckenbergstr. 31, 6000 Frankfurt a.M. Dipper, Christo/, Professor für Neuere Geschichte, insbesondere für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Trier, Postfach 38 25, 5500 Trier. Fuchs, Maximilian, Professor für Recht an der Universität Bamberg, Fachbereich Sozialwesen, Postfach 1549, 8600 Bamberg. Gherardi, Raffaella, Professore straordinario di Storia delle Dottrine politiche, Universita degli Studi di Bari, Facolta di Giurisprudenza sowie Professore supplente di Storia contemporanea, Universita degli Studi di Bologna, Dipartimento di Politica, Istituzioni, Storia, Facolta di Scienze Politiche, Strada Maggiore, 45, 1-40125 Bologna. Gozzi, Gustavo, Professore associato di Storia delle Dottrine politiche, Universita degli Studi di Bologna, Dipartimento di Politica, Istituzioni, Storia, Facolta di Scienze Politiche, Strada Maggiore, 45, 1-40125 Bologna. Heyen, Erk Volkmar, Professor für Rechts- und Sozialphilosophie an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer, Freiherr-vom-Stein-Str. 2, 6700 Speyer.
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Autorenverzeichnis
Jayme, Erik, Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Direktor des Instituts für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, Augustinergasse 9, 6900 Heidelberg I. M ansel, Heinz-Peter, Akademischer Rat am Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht der Universität Heidelberg, Augustinergasse 9, 6900 Heidelberg I. Mazzacane, Aldo, Professore ordinario di Storia del diritto, Universita degli Studi di Napoli, Istituto di Storia del Diritto Italiano, Mezzocanone 16, 1-801333 Napoli. Rückert, Joachim, Professor für Zivilrecht und Rechtsgeschichte an der Universität Hannover, Fachbereich Rechtswissenschaft, Hanomagstr. 8, 3000 Hannover 91. Rugge, Fabio, Ricercatore, Universita di Trento, Dipartimento di Metodologia Teoria e Storia Sociale, Via Verdi 26, I-38100 Trento. Schiera, Pierangelo, Professore ordinario di Storia delle Dottrine politiche sowie Mitglied des Comitato scientifico dell' Istituto storico italo-germanico in Trento, Direttore degli Annali dell' Istituto, Via S. Croce, 77, 1-38100 Trento. Schulze, Reiner, Professor für Bürgerliches Recht, Deutsche und Neuere Europäische Rechtsgeschichte an der Universität Trier, Fachbereich Rechtswissenschaft, Postfach 38 25, 5500 Trier. Treggiari, Ferdinando, Dottore di ricerca in Storia del diritto, Universita degli Studi di Perugia, lstituto di Storia del diritto e Filosofia del diritto, Via Pascoli 33, 1-06100 Perugia. Vano, Cristina, Dottorando di ricerca in Storia del diritto, Universita degli Studi di Napoli, Istituto di Storia del Diritto Italiano, Mezzocanone 16, 1-80133 Napoli.
Personenregister Acollas 115 Agunno, d' 21 0 Ahrens 88 Alibrandi 110 Amari 120, 271 Annunzio, d' 342 Anzilotti 297 ff Arndt 154 Arntz 115 Aubry 115 f Azeglio, d' 336 Bakunin 342 Ba1estreri 66 Bar, v. 283 ff Barazetti 285 Baron 171 Baudry-Lacantiniere 115 Bähr, v. 88, 123, 284 Below, v. 48 Beneduce 66 ff, 72 Bernaert 107 Berti 235 Bese1er 204 ff Bethmann-Hollweg 340 Betti 163 Binder 173 Bismarck, v. 33, 186, 188, 200, 235, 291 ff, 338 Blodig 323 Blondeau 108 Bluntschli 245 Boccardo 87 f, 90, 93, 186 Bockenförde 173 Bodio 240 Boeckh 126 f Bonghi 178, 190
Brentano 48 f, 90, 185 Brinz 58, 171 f Brugi 96 f, 119, 177 Brunia1ti 69, 86, 88, 90 ff, 196 Brunner 5, 42, 173 Buonamici 151 Capasso 116 Capitani 96 Capitant 115 Cappellini 19, 62 Cardini 69 Carnazza, De Luca 317 Casati 136 Cassese 65 Cavagnari 228 f, 231, 233 ff Cavallari 70 Cavour 337, 340 Cianferotti 65 f, 69, 71 Cimba1i 210 Cohn 185 Coing 3, 173 f Colao 69 Colin115 Coppino 178 Cossa 90, 186 Costa 66 Coviello 110, 118 f Craig 8 Crescenzio, de 110 Crispi 330, 338 ff Croce 110 De1brück 292 De1vincourt 115, 116 Demburg 115, 171 Dilcher 173
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Personenregister
Disraeli 342 Dumoulin 8 Ehrlich 43, 48 Eichhorn 7 Ellero 128, 151 Engel 185 Eschbach 108 f, 125 Esperson 250, 289 Fadda 125 Ferrara 57, 87, 89, 97, 105 f, 109 f, 112 f Ferraris 85, 178 ff, 198 f, 320, 325 f Feuerbach 282 Fichte 252 Filomusi 207, 208 Fioravanti 19, 30, 44, 64, 70, 173 Fiore 115 Fischer 39 Frankenstein 279 Gabba 125 Gaja 304 Galizia 63 Garelli della Morea 317 Gebhard 287 ff, 293 f, 304 Gennaro, de 70 Gerber 4·,, 59, 192 Gerhard 5 Gherardi 67, 69 Giannini 63 Gianquintos 180 Gianturco 56,70 ff, 110, 114 f, 118, 125, 158 f, 161 f, 235 Gierke, v. 15, 17, 43, 48 ff, 171' 203, 206 ff, 222, 315, 319 Giolitti 188, 195, 200, 219, 339 f, 342 Giorgi 119, 122, 125 G1uth 323 Gneist 84, 88, 311 ff, 323 ff, 327' 331
Goethe, v. 108 Goldschmidt 134, 137 f Gozzi 67, 69 Gönner 140 Grossi 19, 43, 61 f, 73, 207 f Guelfi 207 Gutzwiller 260 Hartmann I 73 Hartwieg 293 Hatschek 323 Hegel 173 Heyen 37 Hintze 49 Hippokrates 254 Hohenstein 4 7 Holtzendorff 182 Hölder 123 Huber 261, 264 Hugo 108, 115 Humboldt 88 lrti 58 Jacini 329 Jayme 278, 291 Jellinek 47, 59, 315 ff, 319, 321 ff, 327 Jhering, v. 48, 62, 137 ff, 150 ff, 156 ff, 161, 163, 165, 170 ff, 272 Jourdan 108, 128 Kahn 278, 283, 304 f Kant 108 Kaufmann 173 Kehr 39 Kelsen 59, 119 Klenner 173 Klimrath 108 f Knie 90 Kohler 173 Korkisch 293 Koschaker 3 Kuczynski 173 Laband 47, 59, 171, 173, 218, 314 f, 323, 325 f, 330 Lampertico 90, 97, 186
Personenregister
Landucci 114, 116 f Larenz 173 f Larombiere 118 f Lassalle 87 Laurent 114 f, 266, 289 ff Lerminier 108 f Leroy-Beaulieu 87 Lewis 91 Loewenfe1d 171 Lomanaco 117 Losano 62 Lotmar 169 ff Luhmann 173 Luther 108, 342 Luzzatti 87, 89 ff, 185 f, 188 Macarel 178 Maitland 47 Mancini 94 f, 125, 245 ff, 249 ff, 258 f, 261, 265 ff, 286, 289 ff, 305 Mangoni 68 Manna 318 Mannheim 40 Mantovani-Orsetti 196 Marezoll 155 Marx 33, 87, 341 Masse 115 f Matteis, de 116 Matteucci 131 f, 166 May 88 Mazzacane 20, 30, 44, 173 Mazzini 253 Mazzoni 114 Melchior 279 Melis 69 Me1ucci 144 Menger 16 f Meucci 318 Mill 88 Minghetti 83 ff, 189 Mirabelli 125 Mittermaier 53, 166, 245 Modona 318 Moh1 85
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Mommsen 284 ff, 288, 294 Montanari 70 Montesquieu 8, 253 Morelli 303 Moriondo 95 Mosca 197 Mura 70 Musso1ini 335, 340 ff Muzj 116 Mühlenbruch 172 Napo1i 73 Negri 173 Niemeyer 304 Oertzen, v. 44, 173 Or1ando 58 f, 63 ff, 68, 70, 178, 192 ff, 320, 323 Pacifici 114 Padelleti 132 Pelloux 339 Persico 319 Perugia 150 Pescatore 121, 125 Pisanelli 299 f Pius IX. 341 P1essner 39 Po1ay 173 Polignani 110, 155 ff Popper 40 Porchiani 69 Porzio 173 Preuß 50, 312, 316, 319 Privetti 70 Prodi 44 Puchta 115, 141 ff, 146, 152 f, 173 Radbruch 282 Raggi 324 Rascio 72 Rau115f Rava 196 f Redlich 311 Regelsberg 123 Ricca-Salerno 90 Ricci 114
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Personenregister
Rocco, Alfredo 55 ff, 105, 110 Rocco, Nico1ai 264 Romagnosi 197 Rarnano 68, 70, 195, 203, 207, 211 ff, 317, 319 ff, 325, 327 Roseher 87, 90 f, 188 Rosin 312 f Roßhirt 284 f Rotondi 57 Rösler 179 Röver 123 Rugge 69, 329 f Sakuradas 256 Sanctis 190 Santerre, de 115 Savarese 114, 125 Savigny, v. 46 f, 56, 62, 85, 108, 115, 119, 134, 157, 159, 245 f, 255 f, 259 ff, 286, 289, 291' 306 f Sbricco1i 62 Sbrojavacca 240 Scarpelli 221 Schaffstein 173 Schall 123 Schäffle 87, 90, 188, 210 Scheel 90 Scheler 173 Schiera 20, 44, 50, 66, 73 Schiller 108 Schilter 8 Schlössmann 123 Schmitt, C. 173 Schmoller 34, 48 f, 185, 187, 218 Schoen 326 Schöneberg 87 Schönfeld 173 Schröder, H. 173 Schultze-De1itzsch 87, 186 Scia1oia 117, 122 ff, 300 Sco1ari 151, 318 f
Serafini 110, 113, 129, 150 ff, 159 Silberschmidt 307 Sirnon 291 Simoncelli 115 Sinzheimer 50 Smend 173 Smith 90 Sambart 49, 239 Sonnino 339 Spencer 87 Stahl 173 Stein, v. 33, 85, 179 ff, 183 f, 186 ff, 190 f, 193 f, 196, 199 Stintzing-Landsberg 52, 170 Stolfi 110 ff, 115, 119, 162 Stalleis 52 Story 256, 261, 264 Tarello 60, 115, 118 Tessitore 163 Thibaut 85, 172 Thöl 140 Thun 47 Tonio1o 186 Toqueville 88 Toullier 115, 116 Treggiari 71 Triepel 304 Troe1tsch 49 Umberto I. 339 Unger 115 Vacchelli 319 Vada1a-Papale 209 f Vangerow 172 Vano 37, 51, 67, 69, 71, 73 Venezian 207 Verge 115 f Vicen 173 Vico 247, 251 f Virgili 96, 240 Vivien 178 Voeth 261, 264 Vo1pe 110
Personenregister
Wagner 87, 89 Wagner, H. 173, 185, 188 Walras 87 Wappäus 183 Warnkönig 108 Watson 112 Weber 34, 40, 43, 48 f Wehler 39 Weizsäcker, v. 52 Wetzet 173 Wesenberg 3 Wesener 3
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Wieacker 3, 52, 61, 174 Wilhelm 44, 173 Windscheid 122 f, 147, 170 f Wittgenstein 40 Wochner 288 Wolf 52, 173 ZacharHi 115 f Zacher 238 ZanardeUi 195, 200 Zitelmann 163, 272 Zwirner 173