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German Pages 142 [145] Year 1991
AUFKLÄRUNG Interdisziplinäre Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte
In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts Herausgegeben von Günter Birtsch, Karl Eibl, Norbert Hinske, Rudolf Vierhaus
Jahrgang 5, Heft 1, 1990
Thema: Die deutsche Aufklärung im Spiegel der neueren italienischen Forschung Herausgegeben von Carla Carboncini
F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M B U RG
Unverändertes eBook der 1. Aufl. von 1991. ISBN 978-3-7873-0979-5· ISBN eBook 978-3-7873-3496-4 · ISSN 0178-7128
© Felix Meiner Verlag 1991. Das Jahrbuch und alle in ihm enthaltenen Beiträge sind urheber rechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.meiner.de/aufklaerung
INHALT
Einleitung. Von Sonia ~noitii .. .. ........................... .... „ ..... „..............
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Abhandlungen Carla de Pascale: Das Bild der Aufklärung in der italienischen Forschung des 20. Jahrhunderts ................................. ................. ............. .......... .....
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Mario A. Cattaneo: Die Strafrechtsphilosophie der deutschen Aufklärung . . . . . . . .
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Pietro Pimpinella: Reluctantia subiectiva und repugnantia obiectiva in der Inauguraldissertation Kants ........................... „ „ ........ „ ... „ ........ „ .. „ „ ... „ „ .
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Massimo Mori: Aufklärung und Kritizismus in Kants Geschichtsphilosophie
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Luigi Cataldi Madonna: Gewißheit, Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft in der Philosophie von Leibniz ...... „ „ . „ „ •. „ .. „ . „ „ „ „ „ „ .. „ . „ . „ . „ .. „ „ „ „ .. „ „ „ „ 103 Kurzbiographie Horst Mühleisen: Christian Wilhelm von Dohm (1751-1820)
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Diskussionen und Berichte Carsten Zelle: Gießen im 18. Jahrhundert. Universität - Stadt - Region. Tagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts in Verbindung mit der Justus-Liebig-Universität vom 14. bis 16. Juni 1990 in Gießen ........ 119 Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Zu den Autoren der Abhandlungen ..... „ „ .. „
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AUFKLÄRUNG ISSN 0178-7128. Jahrgang 5, Heft 1. 1990. lnterdisziplinire Halbjahresschrift zur Erforschung des 18. Jahrhundens und seiner Wirkungsgeschichte. In Verbindung mit der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhundens herausgegeben von Günter Binsch, Karl Eibl, Narben Hinske, Rudolf Vierhaus Redaktion: Prof. Dr. Klaus Geneis, Universitit Trier, Fachbereich ll1 - Geschichte, Postfach 3825, 5500 Trier. Telefon (0651) 201-2200 C> Felix Meiner Verlag GmbH. Hamburg 1991. Printed in Germany. - Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen For· schungsgemeinschaft.
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EINLEITUNG
Daß die Philosophie der deutschen Aufklärung in Italien in der Nachkriegszeit zum Objekt zahlreicher Untersuchungen gemacht wurde, ist gegenwärtig eine in der Forschungswelt wohlbekannte Tatsache. Interessant ist aber nicht ausschließlich der quantitative Aspekt dieses Phänomens. Was vielmehr relevant ist: Einige Beiträge - man denke hier zum Beispiel an Campo oder Tonelli - haben Maßstäbe gesetzt und gehören nunmehr, neben einigen bahnbrechenden Arbeiten in deutscher Sprache, zu den Standardwerken über diese komplexe Geistesbewegung. Dies hat in einer gewissen Weise eine Forschungstradition zustandegebracht, auf die sich heute eine Generation von jungen Wissenschaftlern direkt oder indirekt berufen kann. Mit dem vorliegenden Sammelband wird ein erster Überblick über dieses Phänomen präsentiert. Zunächst hinsichtlich des zeitlichen Umfangs der untersuchten Geistesbewegung: sie umfaßt den Zeitraum von Leibniz bis Kant. Ist für eine beträchtliche Zeit die Beschäftigung mit der Philosophie des 18. Jahrhunderts in Deutschland im Schatten dieser beiden Großen gestanden, so hat aber auch das Interesse für die wirkungs- und quellengeschichtliche Entwicklung dieser Philosophien die Aufklärungsforschung in Italien vorangetrieben. Im Einklang mit dieser Tradition stehen auch in diesem Heft Leibniz und Kant jeweils als Termini a quo und ad quem und dies sowohl im historischen als auch im systematischen Sinn. Was insbesondere Kant betrifft, so werden in den Untersuchungen über seine Philosophie zwei Hauptströmungen der gegenwärtigen italienischen philosophiehistorischen Forschung miteinander verknüpft: die Aufklärungsforschung, die in den letzten zwei Jahrzehnten eine neue Blüte erlebt hat, und die ldealismusforschung, die in der italienischen philosophischen Kultur des 20. Jahrhunderts weitgehend präsent war. Diese Verknüpfung hat nicht nur kulturelle, sondern auch sachliche Gründe: Eine der wichtigsten Tendenzen der italienischen ldealismusforschung der letzten Jahre besteht im Rückgriff auf die Quellen des 18. Jahrhunderts. An zweiter Stelle ist aber auch die große Bandbreite der Themen zu dokumentieren, die heutzutage untersucht werden. Hier können nur wenige Beispiele aus den Bereichen der praktischen und der theoretischen Philosophie gegeben werden. Schließlich sei auch an die innovatorischen Ansätze erinnert, welche die Aufklärungsforschung selbst bei so intensiv erforschten Autoren wie Leibniz und Kant ans Licht gebracht hat: Davon sind in dem vorliegenden Band deutliche Spuren zu finden. In der Annahme, daß die italienischen Autoren dieses Heftes den deutschen Lesern weniger bekannt sind, werden sie am Schluß des Heftes in Kurzbiographien vorgestellt. Sonia Carboncini
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o Felix Meiner Verlag,
1990, ISSN 0178-7128
ABHANDLUNGEN
CARLA DE PASCALE
Das Bild der Aufklärung in der italienischen Forschung des 20. Jahrhunderts
Ihre Einstellung gegenüber der Aufklärung wirft ein bezeichnendes Licht auf die Kulturszene Italiens im 20. Jahrhundert, besonders auf die Zeit seit dem zweiten Weltkrieg. Wenn man im allgemeinen in der Forschung schon unterscheiden muß zwischen den verschiedenen (geographischen) Stammländern der Geistesbewegung, die das Zeitalter der Aufklärung geprägt hat, so wie insbesondere zwischen ihren unterschiedlichen zeitlichen Abläufen, dann ist um so mehr die Situation der italienischen Kultur in den letzten vierzig oder fünfzig Jahren gefragt. Einerseits hat sie sich für die verschiedenen Ideen, die im Laufe des 18. Jahrhunderts aufkamen, vor allem für die aus Frankreich, aber auch aus England, begeistert, andererseits zeigt sie sich, mit nur wenigen, jedoch bahnbrechenden Ausnahmen, völlig unempfänglich für die deutsche Aufklärung. Um dieses Phänomen zu verstehen, sei, bevor die Spezifizität der deutschen Aufklärung und ihre chronologische Gliederung analysiert werden 1, daran erinnert, daß im intellektuellen Kontext Italiens um die Mitte des 20. Jahrhunderts der Begriff „Illuminismo" zunächst eine Weltanschauung impliziert, die eng mit dem revolutionären Prozeß der gesellschaftlichen Umwandlung verbunden ist. Im Zentrum des
1 Im Anschluß an Untersuchungen in deutscher Sprache, vor allem Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung , Tübingen 1945 (Neudruck Hildesheim 1964) und Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung, Bern 21963 (11949), wurde auch in Italien eine chronologische Gliederung und eine differenzierte Analyse der deutschen Aufklärung versucht; vgl. Angelo Pupi, llluminismo tedesco e romanticismo, in: Questioni di storiografia filosofica , Bd. 3, Brescia 1975, 133-163; Mario Casula, L'illumi· nismo critico. Contributo allo studio dell 'influsso del criticismo kantiano sul pensiero morale e religioso in Germania tra il 1783 e il 1810, Mailand 1967; Bruno Bianco, L'llluminismo tedesco , in: Grande Antologia Filosofica, Bd. 15, Mailand 1968, 1359-1632; Raffaele Ciafardone, L'illuminismo tedesco, Turin 1983; trotz des spezifischen Blickwinkels des Buches finden sich einige für unsere Untersuchungen wichtige Anmerkungen auch in: Giuseppe Santinello (Hg.), Storia delle storie generali deUa filosofia , Bd. 2: Dall'eta cartesiana a Bruckner, Kap. 5-8; Bd. 3 in zwei Teilen: Il secondo illumioismo e l'eta kantiana, 2. Teil, Kap. 8 und 9, Brescia 1979. Giorgio Tonelli unterstreicht einige eigentümliche und charakteristische Merkmale der deutschen Aufklärung im Vergleich w den entsprechenden Bewegungen zuerst in England und in den Niederlanden und später in Frankreich, Spanien und Italien in seinem Essay: La .debolezza" della Ragione nell' eta deU'llluminismo , in: ders. , Da Leibniz a Kant. Saggi sul pensiero del Settecento, hg . von Claudio Cesa, Neapel 1987, 19- 41 (Erstfassung unter dem Titel: The • weakness" of Reason in lhe Age of Enlightenment, in: Diderot Studies, 14 (1971), 217- 244).
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Carla de Pascale
Interesses stand vor allem der philosophische Hintergrund der Französischen Revolution und, Hand in Hand damit, die Ideengeschichte und die Geschichte schlechthin. Es ist also leicht erklärlich, daß das Denken der Philosophes und ihrer Epigonen eine rege sowohl positive als auch kritische Debatte hervorrief, während die deutsche Aufklärung, die nicht durch ein besonderes Interesse für politische oder gesellschaftliche Themen charakterisiert ist2 , obwohl in dieser Hinsicht nicht arm an interessanten Persönlichkeiten, außerhalb des Untersuchungsfeldes blieb, weil sie zu weit von jeder Einbindung in die Revolution entfernt war. Was aber die deutsche Früh- und Hochaufklärung insbesondere betrifft, so fand sie nur innerhalb besonderer Kreise (wie denjenigen des Spiritualismus oder der Neoscholastik3), in denen einige philosophische Systeme und wichtige Lehrzusammenhänge untersucht wurden, Resonanz. Und auch dafür kann man versuchen, eine Erklärung in den kulturellen Zeitumständen zu finden. Hier sei nur beiläufig an die Hegemonie erinnert, die der Neoidealismus von Croce und Gentile jahrzehntelang auf die italienische Kultur ausgeübt hat", eine Hegemonie, die einerseits mit ihrem "Italozentrismus" und mit ihren kulturellen Tabus (wie z.B. im Falle der Soziologie) die italienische Kultur in eine provinzielle Isolierung getrieben hat, andererseits aber durch die raffinierte Verlagspolitik Croces auch Themen und Autoren aus dem deutschen Geistesleben eingeführt hats. Bekanntlich bedeutete „Neoidealismus" für das Denken des 20. Jahrhunderts in Italien zunächst eine tiefgehende Aufarbeitung der Hegelschen Philosophie und daran anschließend auch der vielen Thematiken im Umkreis des deutschen Idealismus, mit Rückblick auf Kants Kritizismus. Von jener Zeit an hat dieses Interesse, obwohl heute nicht mehr vorherrschend, nie nachgelassen. Nicht weniger bedeutungsvoll, wenn auch nur als Anhaltspunkt für den vorliegenden Überblick, ist die Präsenz der Hegelschen Philosophie in der italienischen Kultur bereits von der Mitte des 19. Jahrhunderts an. Wenn wir über Gramsci, Gentile und Croce hinweg auf die Wurzeln des italienischen Neoidealismus zurückblicken, scheint der „Hegelianismus" - lange vor seiner Neu-„Entdeckung" in unserem Jahrhundert - eine dauerhafte Hinterlassenschaft der Vergangenheit zu sein, beginnend bei Bertrando Spaventa und dem gesamten süditalienischen Hegelianismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 6 • Der 2 Und dies gilt sowohl für die Spätaufklärung als auch für die Früh- und die sogenannte Hochaufklärung. 3 Vgl. hierzu die neueste Rekonstruktion von Adriano Bausola, Neoscolastica e spiritualismo, in: La filosofia italiana da! dopoguerra a oggi, hg . von Adriano Bausola u.a„ Bari 1985, 273-352. 4 Für eine aktuelle Bilanz vgl. La Cultura filosofica italiana da! 1945 al 1980 nelle sue relazioni con altri campi de! sapere. Atti de! Convegno di Anacapri (giugno 1981), Neapel 1982; Eugenio Garin, Cronache di Filosofia italiana 1900-1943, 2 Bde. Bari 21975 ('1955), darin im Anhang: Quiodici anni dopo 1945 - 1960, ders„ Agonia e morte dell'idealismo italiano, in: La filosofia ita· liana da! dopoguerra (wie Anm. 3), 3-29 (enthält eine Revision der früher aufgestellten Thesen). s Vgl. meinen Aufsatz: Destioo e cuhura della Germania in Carlo An1oni, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento, 9 (1983). 295-353. 6 Guido Oldrini, Gli hegeliani di Napoli. A. Vera e Ja correnle ortodossa, Mailand 1964; ders„ La cuhura filosofica napoletana dell'Ottocento , Bari 1973; Claudio Cesa, Hegel in Italien. Positionen im Streit um die Interpretation der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 3.2 (1978), 1- 21. Um das Interesse an Italien von deu1scher Sei1e aus zu doku·
Das Bild der Aufklärung
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begrenzte Umfang dieser Arbeit erlaubt es nicht, sich tiefergehend mit den charakteristischen Aspekten der italienischen Kultur des 19. Jahrhunderts zu beschäftigen. Man weiß noch zu wenig über diese Zeit, so daß es hier nicht möglich ist, die Frage zu erörtern, inwieweit diese kulturelle Konstellation eine Blüte der Aufklärungsforschung verhindert hat. Anders sieht es im Falle des 20. Jahrhunderts aus, denn der „Historizismus" hat sich von vornherein sehr kritisch gegen den Rationalismus in der Philosophie des 18. Jahrhunderts in Deutschland verhalten, und die Reaktion gegen den Rationalismus traf mit gleicher Vehemenz sowohl den Intellektualismus der sogenannten Leibniz-Wolffschen Tradition als auch das entfernte Echo der auf französischem Boden triumphierenden „abstrakten" Vernunft. Das von Croce geschaffene Interpretationsscbema7 wurde, bis auf wenige Ausnahmen, von fast allen Gelehrten übernommen, die sich im Einflußbereich der Crocianischen Philosophie bewegten8 • Die bedeutungsvollste dieser Ausnahmen bildete die außergewöhnliche Persönlichkeit Carlo Antonis9, eines berühmten Germanisten und insbesondere Spezialisten für das 18. und 19. Jahrhundert. Ich beschränke mich hier darauf, seine bekannteste für uns interessante Studie zu zitieren: 'La lotta contro la ragione' 10 • Darin rekonstruiert Antoni die Geschichte des Begriffs „Nation" - von Beginn des 18. Jahrhunderts an und unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands - in seiner doppelten Bedeutung von „Gemeinschaft von Traditionen, Interessen und Willen" einerseits und von letzten Resultaten eines Vorgangs, der zur Bildung eines „Nationalstaates" geführt hatte, andererseits. Auf diesem Interpretationswege begegnete er einem anderen Begriff, jenem der „Vernunft", der ebenfalls für eine Bedeutungsaufsplittung empfänglich ist: „Aufgeklärte Vernunft" und „historische Vernunft". Antoni verfolgte die Entwicklung dieser zwei Arten von „Vernunft", indem er die Schäden aufzeigte, die eine lediglich „abstrakte"
mentieren, vgl. Theodor Sträeter, Briefe ilber die italienische Philosophie (1864 - 1865), erschienen in: Der Gedanke, Fasz. 4, 1864 (263-267); Fasz. 1, 1865 (71 - 77); Fasz. 2 (123 - 135); Fasz. 3 (153-163); Fasz. 4 (230-247); die neueste italienische Übersetzung wurde von Antonio Gargano besorgt: Lettere sulla filosofia italiana, Neapel 1987. 7 Vgl. dazu meinen Beitrag: Immagini della .AufKlärung" filosofica in ltalia, in: Annali dell' lstituto storico italo-germanico in Trento, 15 (1989), 241-297, bes. 250, Anm. 18. u. 19. 8 Wenn man die zwei Bände durchblättert, die dem Thema gewidmet sind: Cinquanti anni di vita intellettuale italiana 1896-1946. Scritti in onore di Benedetto Croce, hg. von Carlo Antoni und Raffaele Mattioli, Neapel 1950, findet man keine einzige Seite, auf der italienische Untersuchungen zur deutschen Aufklärung aufgeführt wären. Die .Neubewertung" oder ~Rehabilitierung~ der AufKlärung taucht erst später und auch nur als .Import" auf. Es wird nötig sein, jene ganz eigene Art des Historismus, die das Denken Diltheys prägt, abzuwarten, um das Vergangene mit anderen Augen zu lesen (vgl. Pietro Rossi, La .rivalutazione" dell'llluminismo eil problema de) rapporto collo Storicismo, in: Rivista critica di storia della filosofia, 12 (1957). 146-174, und Antonio Santucci, L'llluminismo .riabilitato", in: Lezioni sull'Illuminismo. Atti del Seminario di studi organizzato della Provincia di Reggio Emilia (ottobre 1978-febbraio 1979), Mailand 1980, 222-244. 9 Vgl. hierzu Gennaro Sasso, L'illusione della dialettica. Profilo di Carlo Antoni, Rom 1982; Stefano Fantini, Carlo Antoni e lo storicismo crociano, in: Rivista di studi crociani, 20 (1983), 140-151; 21(1984),84-93 u. 155-170; Dario Quaglio, Umanesimo liberaledel giusnaturalismo di Carlo Antoni , Neapel 1987; ferner meinen in der Anm. 5 zitierten Beitrag. 10 Carlo Antoni, La lotta contro la ragione, Florenz 1942.
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Carla de Pascale
Vernunft verursacht, gleichzeitig aber aus Überzeugung das simple und falsche Bild einer antihistorischen Aufklärung bekämpfte. Er machte die Forderung geltend, daß zur gleichen Zeit verschiedene Elemente in der „historischen Vernunft" zusammenfließen, so daß der Historismus nicht all die Freiräume usurpiere, auf die die „Vernunft" ein gutes Recht hatte 11 • In diesem kulturellen Panorama nimmt auch Felice Battaglia eine besondere Stellung ein. Er ist der Autor des Buches 'Cristiano Thomasio filosofo e giurista" 2 , einer Untersuchung, die die idealistische Herkunft Battaglias sehr deutlich zeigt, aber vielleicht zur gleichen Zeit Einblicke in einige Aspekte der neuen spiritualistischen Orientierung erlaubt, die er wenig später erreichte. Für BattagHa ist Thomasius ein Paradigma: Seine Wirksamkeit13 , die in die Epoche des Übergangs Deutschlands vom Mittelalter zur Neuzeit fällt, gibt sich als sichtbare Exemplifikation jener „zugleich modernen, liberalen und säkularisierten Welt", die aus der Reaktion auf die ermüdete und statische Wirklichkeit des politischen, religiösen und kulturellen Lebens des ausgehenden Jahrhunderts entstand. Der Geist der Erneuerung, den Thomasius in das intellektuelle Milieu , zuerst in Leipzig14 und später an der Universität Halle, einführen wollte, erklärt sowohl seine anfängliche Neigung zum aufkommenden Pietismus als auch seine Trennung von ihm, als dieser den Weg in den Mystizismus einschlug. Battaglia untersucht die Bedeutung von Thomasius' Eklektik, gespalten zwischen dem Lockeschen Sensualismus und einer pietistischen Inspiration, die er in Wirklichkeit nie aufgab.
11 Herder und Kant sind in Deutschland die berübmiesten Beispiele für den Aufbau einer .geschichtlichen Vernunft", wie Antoni es darstell!. Beispielhaft für das, was Antoni mildem wünschenswerten Zusammenfließen von Naturrecht und Historismus meint, ist seine Interpretation der Funktion, die die Göttinger Schule in der deutschen Kultur des 18. Jahrhunderts ausüble, s. La lotta (wie Anm. 10), 129-159. Zu diesem Thema vgl. auch die neuere Arbeit von Luigi Marino, l mestri della Germania, Göttingen 1770- 1820, Turin 1975, und für den hisloriographischen Bereich Gabriella Valera (Hg.), Scienza dello Sta10 e metodo storiografico nella scuola storica di Gottinga, Neapel 1980. 12 Felice Battaglia, Cristiano Thomasio filosofo e giurista, Bologna 21982 (Rom 11936). Das Bild von den Hauptströmungen der italienischen Aufklärungsforschung, das ich zu skizzieren beabsichtige, wird noch klarer und ausführlicher, wenn ich auch die Untersuchungen aus dem Bereich der Rechtsphilosophie kurz erwähne. Hier haben beispielsweise die breitangelegten Studien über das Naturrecht, die in erster Linie von Gioele Solari und Norberto Bobbio durchgeführt worden sind, dazu beigetragen, den Horizont der Forschung zu erweitern und den Blick auf denjenigen Teil des deutschen Denkens zu richten, der sich mit der Geistesströmung kreuzt, die den Wurzeln des Naturrechts nachging, also mit AJthusius , Grotius, Pufendorf usw. bis hin zu den Autoren des neueren Kontraktualismus , nicht ohne eine Spur bis tief ins 19. Jahrhundert zu legen. Für unser Thema reicht es zu erwähnen: Giorgio Dei Vecchio, Lezioni di fiJosofia del dirilto, Rom 1936; Gioele Solari, Christiano Thomasio, in: Rivista di fiJosofia, 30 (1939), 39- 65, neuaufgelegt posihum in: Luigi Firpo (Hg.), La fiJosofia politica, 2 Bde., Bari 1974, Bd. 1; Dino Dei Bo, Le dottrine giuridiche di Cristiano Thomasio, in: Rivista di filosofia neoscolastica, 31 (1939), 80ff. ; Norberto Bobbio, n diritto naturale nel secolo XVIIT, Turin 1947. Vgl. auch neuerdings: Raffaele Ciafardone, Agli albori dell'illuminismo tedesco: C. Thomasius, in: ll Pensiero, 17 (1974), 177- 195. 13 Felice Battaglia, Chris1iano Thomasio (wie Anm . 12), 8; "Typischer Ausdruck der deutschen Aufklärung" wird der Autor sie am Ende des Buches definieren. 14 Vgl . z.B. seine Vorlesungen in deutscher Sprache und vor allem die wissenschaftlichen Veröffentlichungen in deutscher Sprache. Battaglia erinnert daran, daß Thomasius auch der Schöpfer eines .für Deutschland neuen literarischen Genres, nämlich des wissenschaftlichen Journalismus" war.
Das Bild der Aufklärung
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Er zeigt außerdem, daß die Behauptung der Vernunft gegenüber der Autorität - einer Vernunft, die sich ihrer eigenen Grenzen bewußt ist, „vervollständigt" durch den Glauben und „gestärkt" durch die Erfahrung - immer auch den „Respekt vor der historischen Konkretheit" impliziert. is Ist der italienische Neoidealismus von Hegel ausgegangen, um einerseits ein stark nationalbezogenes Kulturgebilde zu errichten und andererseits Themen des deutschen Idealismus weiterzudenken, so hat efoe ganz andere - wenn nicht zu stark vertretene - Richtung Kant und insbesondere den vorkritischen Kant in den Mittelpunkt gestellt. Darüber hinaus wurde der bis zu jener Zeit völlig vernachlässigte Denkweg „von Leibniz zu Kant" entdeckt. Von diesem Gesichtspunkt aus ist zum Beispiel der Annäherungsversuch von Augusto Guzzo an Kant bahnbrechend und paradigmatisch: Gegenüber dem virtuell weltlichen „Formalismus" des Kantischen Denkens - auf den, um ein weiteres Beispiel zu nennen, wenige Jahre später Gioele Solari aufmerksam gemacht hat 16 - unterstrich er die entscheidende Funktion des „Gefühls" und des „Glaubens" neben der „ Vernunft". Der in der Abhandlung 'Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes' (1763) vollzogene „Sprung von der mentalen in die extramentale Wirklichkeit" hatte den Weg für die kritischen Werke geebnet. Kant hatte die Existenz Gottes nicht „gegen" die Vernunft, sondern „über" sie hinaus postuliert, nämlich über alles hinaus, was sie uns sagen kann. Diese Existenz - und das ist mehr als alles andere signifikant - ist, auch wenn sie nur als Erfordernis verstanden wird, die Quelle jeder moralischen Verpflichtung (die absolut ist, weil sie von Gott kommt) 17 • Auch Mariano Campo, auf dessen Untersuchungen im folgenden eingegangen wird, gebt von den „metaphysischen Problemen" aus, die trotz allem in Kants Denken präsent sind und die Fähigkeit des Philosophen bezeugen, über die Grenzen des abstrakten Rationalismus der Aufklärung hinaus auf die Tradition der klassischen Metaphysik zurückzugreifen, um auf deren Grundfragen einzugeben und sie neu zu gestalten. Der Abschnitt der Philosophiegeschichte, der von Wolffzum frühen Kant führt , wird für Campo ein günstiges Untersuchungsfeld, um, wie er erklärt, „im idealistischen Denken" (also nicht mehr nur im Innern des Kantischen Kritizismus) „die tiefen Erfordernisse von den enttäuschenden Ansprüchen trennen zu können" 18 . Der Terminus a quo und der Terminus ad quem der vorliegenden Rundschau erscheinen beide und nicht von ungefähr in der Arbeit von Campo 19 • Ende der dreißiger Jahre nannte der Gelehrte, der wenig später dem vorkritischen Denken
1s Ebd. 36 und 113 -118. 16 Vgl. z.B. Gioele Solari, La concezione kantiana del diritto e dello Stato come liberta, Turin
1929. 17 Augusto Guzzo, Kant precritico, Turin 1924, insb. 66-79; vgl. ders„ I primi scritti di Kant, Mailand 1921. 18 Mariano Campo, La genesi del criticismo kantiano, Varese 1953 (Nachdruck Hildesheim 1982), 101; vgl. auch seine exemplarische Kritilc an Gentiles .Logik des Konkreten", ebd. 98-105. 19 Mariano Campo, Cristiano Wolff eil razionalismo precritico, 2 Bde„ Mailand 1939 (Nachdruck Hildesheim/New York 1980). Aus derselben Zeit ist noch zu erwähnen: Sofia Vanni Rovighi , L'ontologismo critico di Wolff, Mailand 1941.
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Kants eine große Arbeit widmete (dazu angeregt von dem Plan, mit einer quellengeschichtlichen Untersuchung die Hauptlinien der Kantschen Philosophie aufzurollen), seine Monographie, die noch heute, nicht nur in Italien, als die ausführlichste gilt, eine „Art von Einführung" in seine Studien zu Kant. Wolff erscheint da wie ein notwendiger Übergangspunkt, nicht nur weil Kant vierzig Jahre lang nach der Wolffschen Philosophie Vorlesungen gehalten und Wolffsche Handbücher kommentiert hat, sondern vor allem weil Campo der Überzeugung ist, dje Kantsche Kritik sei nicht - wie meistens behauptet - gegen die antike Metaphysik gerichtet, sondern vielmehr gegen diejenige „Kontaminatfon" antiker Metaphysik, Cartesischer und Leibnizscher Philosophje, ilie den „dogmatischen Realismus" Wolffs ausmacht. Wollte man mit wenigen Worten den Eindruck zusammenfassen, den Campo von dem Weg hat, den die philosophische Reflexion von der antiken Metaphysik bis hin zur großen Wende durch die kritische Philosophie gegangen ist, so würde man ihn als eine konstante und progressive Verlagerung der Aufmerksamkeit vom Sein zum Denken darstellen; nämlich als ein Verschwinden oder nur ein In-Klammern-Setzen der „realen Welt", um Platz zu lassen für die „Vorstellung", die wir von ihr in unserem Bewußtsein haben20; als eine „Mentalisation" erkennender Tätigkeit, die der entscheidenden Anwesenheit Cartesischer Motive verbunden ist. Das Ganze wird mit einem Verständrus Leibnjzscher Philosophie in Zusammenhang gebracht, das deren logische Komponente so stark betont, wie den Reichtum des Gesamtwerkes vernachlässigt, sowie mit dem schließlichen Sturz in den „Mechanizismus" , der in erster Linie eine Art von „Sublimation" analytischer Rationalität bildet, während er in zweiter Linie dahin gelangen kann, das eigene Fundament im sensualistischsten Empirismus zu finden . In der Mitte dieser Kreuzung verschiedenster Gedankenlinien steht die Figur Wolffs, dessen Philosophie sehr analytisch aufgebaut ist und ihre einzelnen Bestandteile bis hin zu den letzten Konsequenzen verfolgt, wenn auch rucht ohne den Versuch, sie innerhalb ihrer „systematischen" Struktur wieder zusammenzustellen. Das System, das Wolff aufgestellt hat, erscheint darum manchmal wie ein fester Knoten, zu dem Fäden verschiedenster Herkunft zusammengeknüpft sind, manchmal aber auch wie Flickwerk, das nicht nur jenes objektive Datum der „Kontarrunation", von der schon gesprochen wurde, nicht verbergen kann, sondern auch sehr deutlich alle jene Dissonanzen sehen läßt, die das System nicht miteinander vereinbaren konnte. Allerdings dreht sich diese Interpretation der Wolffschen Philosophie ganz um einen Angelpunkt, der nicht mühelos beibehalten werden kann . Wenn diese Operation in der Regel auch gelingt, so läßt sich Campo21 andere Male zu vorschnellen Urteilen hinreißen. Das geschieht vor allem dort, wo er einen Vergleich zwischen Leibniz und Wolff anstellt. In solchen Fällen schlägt die Waage ganz zu Gunsten von Leibniz aus, der von Wolff „ verelendet" und „arm gemacht" worden ist, und zwar hauptsächlich auf zweierlei Art: Einmal, weil er einige der fruchtbarsten , durch die antike Tradition angeregten Einfälle Leibnizschen Den-
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Campo, Cristiano Wolff (wie Anm. 19), Bd. 1, JOf. Vgl. z. B. ebd. Bd. 2, 445 f.
Das
Bild der Aufklärung
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kens vernachlässigt habe22 , z.B. die Lehre der Prästabilierten Harmonie (von der Wolff sich immer mehr entfernte bis er sie ganz verließ) und die Leibnizsche Auffassung von der Monade, von der Leibniz „die Ursprünglichkeit, die Entwicklung, die Liebe und die Vollendung" wiederherzustellen wußte; dazu zählt Campo auch die „Neubewertung" der „aristotelischen Substanzen, Kräfte und Seelen" (es darf auch nicht vergessen werden, daß Campo explizit von einem „christlichen Leibniz" spricht). Und zum zweiten, weil Wolff alle Cartesianischen Verkrustungen in der Leibnizschen Philosophie , von denen sie sich nicht befreien konnte, sedimentiert und einbehalten habe, und daß er gerade diejenigen Überbleibsel des Cartesischen Rationalismus erfaßt und aufgenommen habe, die Leibniz eliminieren oder denen er sich entgegenstellen wollte. Es gibt aber auch zahlreiche Leibnizsche Ideen, die Wolff wachzuhalten verstand, und es ist Kant negativ anzurechnen, daß diese wichtigen Denkrichtungen verlassen worden sind. Wenn Wolff von Leibniz in erster Linie „das logische Problem geerbt hat" 23 , dann gilt seine Aufmerksamkeit von Anfang an Leibniz' Vorhaben, eine „ars charakteristica-combinatoria" zu entwerfen; anders konnte es in Anbetracht seiner „rationalistischen und aufklärerischen Mentalität" auch nicht sein. Die beiden Momente der „Charakterisierung" und „Kombination" , die sich zur Begründung einer „enzyklopädischen Wissenschaft" eignen - „einer sowohl logischen und mathematisierenden Wissenschaft, als auch gleichzeitig methodologischen und kategorisierenden" - liefen aber Gefahr, zu einem sterilen Formalismus zu führen; dieses Schicksal wäre ihm sogar sicher gewesen (wir sehen es bei Kant), wenn es Wolff nicht geglückt wäre, jenem wichtigen „Korrektiv" (wie Campo es nennt) der ars inveniendi, das fähig ist, „all das in sich zurückzurufen, was lebt und gedeiht" 24 , bereits in seiner Logik Raum zuzugestehen. Während die formale Logik Kants nicht mehr ist als eine „tendenziöse Abstraktion" (Campo zögert nicht, sie als „Mumie" oder als „Karikatur" zu bezeichnen), versucht die Logik Wolffs - und das scheint im Bereich der Logik eine der Differenzen zwischen Wolffund dem kritischen Kant zu sein - den Kontakt zur Wirklichkeit, zur Welt der Erfahrung nie zu verlieren, ein Kontakt, den selbst die antike Metaphysik geschätzt hatte2 s und der zu Zeiten Wolffs dank der aufblühenden Naturwissenschaften wieder stark thematisiert wird.
22 Es muß hier die zentrale Rolle zumindest angedeutet werden, die Campo in seiner Interpretation der Leibnizischen Philosophie einräumt (vgl. seinen Aufsatz: Leibniz, l'lliuminismo eil Romanticismo, in: Rivista di filosofia neoscolastica, 39 (1947), 295-329) und dies auch in Bezug auf die folgenden Entwicklungen, zuerst die Aufklärung, die .erneuert aus der Auseinandersetzung mit dem Leibnizschen Geist hervorgeht .. . " und dann die Romantik bzw. jene Autoren wie Lessing oder Herder, deren Betrachtungen über die Geschichte der Menschheit der .Leibnizschen Idee der Entwicklung" sehr nahe stehen. 23 Und Campo zeigt, daß der .analytische Rationalismus" Wolffs letzten Endes weder mit der Metaphysik einerseits noch mit der Gnoseologie andererseits harmonisieren kann. Einer der Gründe dafür liegt wohl in dem außerordentlich großen Gewicht, das für Wolff Überlegungen .methodologischer" Art haben, wie man z.B. in dem der Ethik gewidmeten Kapitel sehr deutlich sieht. 24 Campo, Cristiano Wolff (wie Anm. 19), Bd. l, 87. 2$ Ebd. 17.
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Die These der Präsenz "tiefwirkender Zusammenhänge" zwischen Logik und Metaphysik im Denken Leibniz' bildet auch den Ausgangspunkt für die Untersuchungen Francesco Barones in seinem Buch 'Logica formale e logica trascendentale'26. Wie der Titel - eine Anspielung auf Busserls Schrift von 1929 suggeriert, kann man in dieser Arbeit, deren hauptsächliches Ziel darin besteht, die Radikalität der Opposition der beiden Typen von Logik zu entkräften, zwei große Forschungsansätze ausmachen, die zwar voneinander unterschieden sind, aber, wie angedeutet, auch in enger Wechselbeziehung zueinander stehen: Der erste ist der Logik gewidmet, die sich "von Leibniz zu Kant" entwickelt hat, während der zweite sich mit den Beziehungen zwischen Kants Philosophie und der formalen Logik beschäftigt, ferner mit den Problemen, die das nachfolgende philosophische Denken von Kants transzendentaler Logik geerbt hat, und dem Einfluß, den letztere ausübte. In vielen Punkten stimmt die Analyse Barones mit der Campos überein, insbesondere hinsichtlich der zentralen Stellung des Verhältnisses von Wolff zu Leibniz und in der Betonung der vielen Differenzen, die die beiden Philosophien trennen. Es ist darum grundfalsch, von einer „Leibniz-Wolffschen" Philosophie zu sprechen, vor allem weil Wolffs Orthodoxie der Lehre Leibniz' gegenüber vorwiegend eine "verbale" ist und seine „Adhärenz" an sie lediglich eine "äußerliche"; die Wiederaufnahme von Leibniz durch Wolff ist substantiell simplifizierend und nicht frei von Deformation, was besonders deutlich wird, wenn man seine Aufmerksamkeit auf die nur schwache Spur richtet, die die beiden großen Leibnizschen Themen der Monadologie und der Prästabilierten Harmonie im Wolffschen System hinterlassen haben. Bei Wolff und seinen Anhängern „ wird der ontologische Wert der Logik - welcher ein spezifischer Charakter des dogmatischen Rationalismus ist - und die rationale Verkettung auf der Basis des Identitätsprinzips beibehalten, aber man "übergeht" jenes "mysteriöse Fundament", von dem gesprochen wurde; die logische Untersuchung wird „beschränkt auf den bereits fest kodifizierten Teil der traditionellen Logik" und befreit von jenen „kabbalistischen Elementen", die notwendigerweise „den Anforderungen der Klarheit der aufklärerischen Mentalität suspekt sind". Nachdem er sich ausführlich mit der Wolffschen Logikkonzeption auseinandergesetzt hat27, verlagert sich Barones Aufmerksamkeit - sein Blick ist in Wirklichkeit voll und ganz auf die Logik des 19. und 20. Jahrhunderts gerichtet28 - auf die unmittelbaren Nachfolger Wolffs, in der Absicht, den Stand der
26 Francesco Barone, Logica formale e logica trascendentale, Bd. 1: Da Leibniz a Kant, Turin 21965 (11957). 21 Logik als. Wissenschaft der Naturgesetze des Denkens"; Wolff greift .Leibniz' Hinweis auf eine Wissenschaft rein formaler Strukturen" nicht auf (Barone, Logica formale (wie Anm. 26), 99). 28 1965 erscheint zusammen mit der zweiten Edition seines Buches auch der zweite Band unter dem Titel 'L 'algebra della logica', dessen Ausgangspunkt die englischen Autoren des 19. Jahrhunderts sind (z.B. George Boole und Augustus de Morgan), auf die Barone bereits in der Einleitung des Buches von 1957 hingewiesen hatte und die die ersten waren, die nach über zwei Jahrhunderten die Leibnizische Problematik wieder aufgriffen, wenn auch völlig unabhängig von jeglichem direkten Einfluß der Leibaizschen Philosophie selbst.
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Reflexion auf dem Gebiet der Logik in post-wolffianischer Zeit darzulegen. In dem philosophischen Panorama, das sich nun mit Persönlichkeiten zu füllen beginnt, tritt ein einzigartiges Faktum zutage: Trotz der Verschiedenheit der Positionen, die in Auseinandersetzung mit der Philosophie Wolffs entstanden, und dem unterschiedlichen Grad der Anlehnung an sie findet sich auf der Ebene der formalen Logik nichts Neues: Sie bleibt unter strenger Wolffscher Observanz. Dasselbe gilt - wie Barone unterstreicht - für die späte Aufklärung, in deren Innern sich übrigens starke Elemente der Diskontinuität ihren Weg bahnen: Man denke an die neue philosophische Kreativität, die die Lessing-Zeit durchflutet und an Lessings Fähigkeit, aus dem verengten Kreis akademischer Traditionen herauszutreten, um seine Stimme in den verschiedensten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens hören zu lassen. Trotz alledem erscheint die philosophische „Atmosphäre" jener Zeit mit ihren beiden Haupt-„Chara.kteren", der „Eklektik" und der „Populärphilosophie", ein weiteres Mal besonders geeignet, die von Wolff entwickelte Logik, die „letzten Endes darauf ausgerichtet ist, ein Regelsystem für das 'gute Denken' und eine 'gesunde Vernunft' zu bilden" 29 , aufzugreifen. Wolffs Auffassung von Logik und Ontologie wird definitiv von Kants transzendentaler Logik überholt, zu deren Genese allerdings die seltenen zögernden Versuche in Richtung einer Trennung von Logik und Ontologie lebenswichtig sind, eine Denkorientierung, die dem gesamten 18. Jahrhundert, bis auf wenige Ausnahmen, wie die Reflexionen eines Gottfried Plouquet und eines Johann Heinrich Lambert (denen Barone ein Kapitel seines Buches widmet), fremd ist. In seinem Buch 'Alla soglia dell'eta romantica' 30 wagt Angelo Pupi sich auf ein Untersuchungsfeld, das bis zu jenem Zeitpunkt weithin unerforscht war: die Spätaufklärung (was umso mehr überrascht, wenn man bedenkt, mit welcher Aufmerksamkeit die Denker anderer europäischer Staaten bedacht wurden, Frankreich an erster Stelle). Bei diesem Buch handelt es sich um eine ausführliche Darstellung der einzelnen Etappen des Pantheismus-Streits, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ausbrach und in dessen Zentrum das „Bündnis" zwischen Lessing31 und Mendelssohn eine bedeutende Rolle spielt. Pupi zieht am Ende eine Art von Bilanz der Einwirkung von Spinozas Philosophie auf das deutsche Denken jener Zeit32•
29 Barone, Logica formale (wie Anm. 26), 113. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht, nach Meinung des Autoren, der Fall von J.G.H. Feder, demzufolge eine natürliche Logik existiere, die seiner Ansicht nach durch die künstliche Logik perfektionierbar sei. Das bedeutet für Barone, der Wissensc.haft der Logik unabhängige Entwicklungsmöglichkeiten abzustreiten und . den direkten Kontakt zu Aristoteles" - ihrem Gründer - zu verlieren. 30 Angelo Pupi, Alla soglia dell'eta romantica, Mailand 1962. 31 Was diesen Autor betrifft, muß wenigstens erwähnt werden, daß die italienische Sekundärliteratur enorm reich und schon sehr alt ist (vgl. Luigi Tonelli, L' anima moderna. Da Lessing a Nietzsche, Mailand 1925), unvergleichbar reicher als zu irgend einem anderen Denker dieser Zeit. Das erklärt sich aber aus dem Platz, den Lessing auch in der Literaturgeschichte einnimmt. 32 Dabei findet man auch Ausführungen , die mehr Licht auch auf kleinere Episoden in der Spinoza-Debatte werfen , wie die grobe Antwort Jacobis an Hemsterhuis, der in einem vorangegangenen Brief sehr taktvoll Spinoza kritisiert hatte, in dem er die Notwendigkeit betont hatte, den lnhalt der Spinozascben Philosophie näher zu betrachten, ohne sieb von einem .esprit de geometrie" in die Irre leiten zu lassen, der nur an der Oberfläche bliebe.
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Das Buch orientiert sich hauptsächlich an den Schriften, die die Entwicklung der Debatte widerspiegeln - vor allem an Mendelssohns 'Morgenstunden' und Jacobis 'Über die Lehre des Spinozas in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn' und ' An die Freunde Lessing's' - und versucht zum Teil die kulturelle Atmosphäre zu rekonstruieren, in der Wahlverwandtschaften entstanden, die nicht nur für die Philosophie bedeutend waren. Ich meine hier das grundlegende Einverständnis, das Jacobi und Hamann im Kampf gegen die „abstrakte" Vernunft verband (unter dieser Rubrik wird auch das aufgeklärte Judentum aufgeführt, gegen das Hamanns 'Golgotha und Scheblimini' gerichtet ist33) oder Jacobis Nähe zu Thomas Wizenmann - einem Schwärmer, wie Pupi ihn abqualifiziert. Das letzte Kapitel ist Kant gewidmet, dessen Intervention praktisch von allen beteiligten Parteien erbeten wurde, da jede hoffte, aus der Autorität seiner Stellungnahme Vorteil ziehen zu können 34 • In Wirklichkeit gelang es Kant, insbesondere mit dem Aufsatz ' Was heißt: sich im Denken orientieren?' sich keiner Seite anzuschließen; er schraffierte das Umfeld jener „reinen Vernunft" , die, obwohl ihr der Bezugspunkt eines Gegenstandes der Erfahrungswelt fehlt, immer noch über ein Kriterium verfügt, um sich an dem Urteil zu orientieren: Die nie stumme Forderung der Vernunft selbst. Von Beginn der siebziger Jahre an nimmt die Zahl der Untersuchungen über die deutsche Aufklärung deutlich zu35 ; wesentliche Etappen dieses Prozesses sind die Bücher von Mario Casula über Baumgarten36 und die Arbeiten Raffaele Ciafardones über Lambert37 , zwei Denker, die in Italien so gut wie unbekannt waren, vor allem Lambert, dessen Werk von nun an jedoch verstärkt Objekt der Forschung und zu guten Teilen auch übersetzt wird. Eine entscheidende Wende in der Forschung zeichnete sich allerdings schon einige Jahre zuvor ab. Sie stand unter dem Zeichen der umfangreichen Untersuchung von Nicolao Merker über
33 Zu erwähnen wären hier diejenigen Seiten, auf denen einige Texte des aufgeklärten Judentums aufgeführt werden , beginnend mit Mendelssohns 'Jerusalem ' . Dies ist ein Aspekt, der in Italien noch nicht erforscht worden ist. 34 Zu diesem Thema kehrte fast 15 Jahre danach Bruno Bianco zurück, vgl.: Kant e il Pantheismus-Streit, in: Rivista di filosofia neoscolastica, 68 (1976), 461 - 476. JS Andererseits stand schon seit einigen Jahren ein Überblick über die deutsche Aufldärungsforschung von Valerio Verra dem italienischen Publikum zur Verfügung: La riscopena dell'illuminismo tedesco negli ultimi vent'anni, in: Cultura e scuola, V, 20 (1966), 131 - 138. Ln derselben Zeitschrift (IV, 16 (1965), 113 - 126) war vorher eine Zusammenstellung von deutschen Aufsätzen zur ~Goethezeit" erschienen: Vent'anni di studi sul pensiero dell'etA di Goethe, ebenfalls von Verra besorgt. Außer seinen Büchern zu Jacobi und Herder (F. H. Jacobi. Dall'illuminismo all'idealismo, Turin 1963; Mito, rivelazione e filosofia in J. G. Herder eil suo tempo, Mailand 1966) müssen seine Einleitung zu Herders ·Ideen zur Ph ilosophie der Geschichte der Menschheit', Bologna 1971 und sein·Aufsatz: La rivoluzione francese nel pensiero tedesco dell'epoca, in: Filosofia, 60 (1969), 411-440 sowie sein Buch unter dem gleichen Titel (Turin 1969) erwähnt werden . 36 Mario Casula, La metafi sica di A.G. Baumgarten, Mailand 1973. 37 Raffaele Ciafardone, II problema della .mathesis universafü" in Lambert, in: Il Pensiero, 16 (1971), 171-208 (später als Einleitung zum folgenden Buch veröffentlicht); ders. , J.H . Lambert e la fondazione scienlifica della filosofia, Urbino 1975; J.H. Lambert, Semeiotica e Fenomenologia, übers . u. hg. von R. Ciafardone, Bari 1973; J.H. Lambert, Nuovo Organo, übers. u. hg. von R. Ciafardone, Bari 1977.
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die Lessingzeit ('L'eta di Lessing')38 • Diese Arbeit, die in der Folgezeit fortgesetzt wurde39 , hat neue Perspektiven eröffnet und eine Phase der Forschung eingeleitet (ich denke an die neueren Studien über den Jakobinismus in Deutschland, die Merker selbst vorgelegt hat4°), deren fruchtbare Resultate schon abzusehen sind. Was die Frühaufklärung anbelangt, so wird die neue Forschungsphase von einigen Aufsätzen, die in einem Sammelband von Marco Paolinelli, einem Schüler von Sofia Vanni Rovighi, herausgegeben wurden41 , eingeleitet. Ziel dabei ist wieder einmal Kant, mit Wolff als wesentlichem Moment des Übergangs. Kernstück dieser Aufsätze ist die natürliche Theologie des 18. Jahrhunderts, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle, die der Satz vom zureichenden Grund spielt. Kant hatte keinen Zweifel über die Möglichkeiten, die die physisch-theologische Reflexion bietet, und insbesondere über seine Fähigkeit, die Entwicklung der Wissenschaft zu favorisieren, doch was besondere Aufmerksamkeit verdient, ist, daß diese Überzeugung schon seit geraumer Zeit auch von anderen geteilt wurde. Sie war, so der Autor, auch Thema bei Boyle, Maupertuis und Formey, insofern sie sich mit den Philosophien von Leibniz und Wolff auseinandersetzen mußten. Hier kann nicht ausführlich auf die "Korpuslrularphilosophie" von Boyle eingegangen werden, da dies den vorliegenden Themenbereich sprengen würde. Bevor ich aber Wolff behandle, möchte ich einige Ergebnisse bezüglich Maupertuis zusammenfassen - womit ich der Exposition des Autors folge, der bei Maupertuis Denkansätze sieht, die sich ausschließlich im physisch-theologischen Bereich bewegen, was seiner Meinung nach bei Wolffnicht der Fall ist. Maupertuis' Vorschlag ist, der physischen Theologie einen neuen Ausgangspunkt zu verschaffen: Anstelle des traditionellen Ausgangspunktes, das Unendliche aus dem Endlichen zu verstehen und zu ergründen, ist es möglich, von absolut allgemeinen Phänomenen wie den Gesetzen der Bewegung auszugehen 42 •
38 Nicolao Merker, Die Aufldärung in Deutschland, München 1982 (L'Illuminismo tedesco. Eta di Lessing, Bari 11967, 21974); ders. (Hg.), Gonhold Ephraim Lessing: Religione, storia e societa, Messina 1973. 39 Vgl. z.B. Merker (Hg.), 1. Kant, Che cos'e l'illuminismo? con altri testi e risposte di Erhard, Forster, Hamann, Herder, Laukhard, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wedekind, Wieland, Turin 1987. 40 Ders„ Alle origini dell'ideologia tedesca. Rivoluzione e utopia nel giacobinismo, Bari 1977. 41 Marco Paolinelli, Fisico-teologia e principio di ragion sufficiente. Boyle, Maupertuis, Wolff, Kant, Mailand 1971. 42 Eine analoge Interpretation ist auch bei Campo zu finden, und zwar bezüglich der Kosmologie Maupertuis' unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur Kantischen, in: La geoesi del criticismo kantiano (wie Anm. 18) 304, 307f. u. 312 ff.. Zu Maupertuis vgl. auch Giorgio Tonellis Einleitung zum Nachd.r uck von: P. L. Moreau de Maupertuis, Oeuvres, 4 Bde., Hildesheim-New York 1964-1975; ders„ Maupertuis et la critique de la metaphysique, in: Actes de lajoumee Maupertuis, Paris 1975, 79-90; Tbemiseul de Saint Hyacynthe (H. Cordonnier, 1684-1746). A smiling sceptic, in: International Studies in Philosophy , 10 (1978), 163-166; und ders„ The Scepticism of Fran~ois Quesnay, in: International Studies in Philosophy, 11 (1979), 77-89. Diese Aufsätze bilden nur den kleinsten Teil von Untersuchungen Tonellis zu Maupertuis, die handschriftlich geblieben und erst kürzlich von Claudio Cesa unter dem Titel: La pensee philosophique de Maupertuis. Son milieu et ses sources, Hildesheim-Zürich-New York 1987 herausgegeben worden sind.
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In eine ganz andere Perspektive sah sich Wolff, und in dessen Gefolge auch Formey43 , versetzt; der Autor widerspricht der herrschenden Meinung, dfo in Wolff einen der größten Verfechter des physisch-theologischen Gottesbeweises sieht, und setzt seinen Akzent ganz auf Wolffs natürliche Theologie; er macht darauf aufmerksam, daß die natürliche Theologie die Möglichkeiten einer physisch-theologischen Reflexion auf die einfache Rolle der „Bestätigung" der Wahrheiten, die jene erreicht hat, beschränkt. Kurz gefaßt: Nur ein metaphysischer Kontext erlaubt, auf die Existenz Gottes zu schließen 44 • 1973 erschien das bereits erwähnte Buch, das Casula der Metaphysik Baumgartens widmete, eine bedeutungsvolle Arbeit, nicht nur wegen ihres eigenen Wertes, sondern auch im Hinblick auf die neuen Perspektiven, die sie der Forschung eröffnet hat. Der Autor unterstreicht, daß das Werk Baumgartens gerade deswegen verdienstvoll gewesen ist, weil es lange Zeit der Referenzpunkt für die Vorlesungen Kants gewesen sei und weil der Philosoph aus Königsberg es mit der größten Aufmerksamkeit durchdacht habe4s. Tatsächlich wurde bei der Untersuchung des Denkens Kants zumindest in der Vergangenheit zu häufig auf die Namen von bekannteren, aber zeitlich entfernteren Vorgängern zurückgegriffen, während das intellektuelle Milieu, in dem der Philosoph lebte, zu wenig berücksichtigt wurde. Wenn man schon den Blick auf Kants näheres philosophisches Umfeld gerichtet hat, ist es oft die Popularphilosophie, die bevorzugt abgehandelt wurde, und diese Sichtweise bedingte auch die Themenauswahl der Forschung, die ihr Interesse zum Beispiel auf Kants Polemik gegen den Eudämonismus oder den ausschließlichen Rekurs auf den „gesunden Menschenverstand" lenkte46.
43 Seine Lehre ist ein merkwürdiges Gemisch von Wolffianismus und Maupertuisschem Ansatz. 44 Paolinelli zeigt einige Jahre später in seinem Aufsatz: Metodo ma1ematico e oniologia in Chri· s1ian Wolff, in: Rivista di filosofia neoscolasiica, 66 (1974), 3-39, daß für Wolff der Satz vom zureichenden Grund die ontologische Grundlage der mathematischen Methode darstellt, dessen Nütz· lichkeit in der Metaphysik völlig ausbleibt, wenn man seine Allgemeingültigkeit - wie der kriti· sehe Kant - leugnet. Ein weilerer Beitrag von Paolinelli über das Thema ist unter dem Titel: San Tommaso e Ch. Wolff sull'argomenlo oniologico, in: Rivisia di filosofia neoscolastica, 66 (1974), . 897 -945 erschienen. 45 Kants Reflexionen zur Metaphysik drehen sieb bekanntlich um die Metaphysik Baumgartens. Andererseits ist nach Casulas Meinung der Einfluß Martin Knuizens auf Kam größer als man gemeinhin annimmt. 46 Eine Untersuchung der Sekundärliteratur zu Kant wurde aus dieser Arbeit ausgeschlossen, obwohl eine Bezugnahme auf Kant oder zumindest auf den vorkritischen Kant auch hier unvermeid· bar ist - was man vielleicht auf der Basis jener bereits erwähnten theoretischen Gründe erklären kann. Man kann demnach nicht unerwähnt lassen, welche außergewöhnliche Ausnahme zur beschriebenen Vorgehensweise die Schriften Giorgio Tonellis darstellen. Ich zitiere hier nur zwei Untersuchungen, die eine aus der Mitte, die andere aus dem Ende der 50er Jahre, um einen Einblick in die hervorragende Methode der gleichzeitigen Untersuchung der begrifflichen und historischen Zusammenhänge zu gewinnen. Die Ergebnisse sind umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, in welcher Zeil diese Untersuchungen entstanden sind. Ich beziehe mich auf seinen Aufsatz: Kant dall'estetica me.rafisica all'estetica psicoempirica. Studi suJla genesi de! criticismo (1754-1771) e sulle sue fonti , in: Memorie della Accadernia delle Scienze di Torino, 3,III,2, Turin 1-345, in dem die Beziehungen zwischen Kant und seinem Umfeld eingehend analysiert werden, und mehr noch auf sein Buch: Elementi metodologici e metafisici in Kant, dal 1745 al 1768. Saggio di sociologia della conoscenza, Turin 1959.
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Casula geht es dabei hauptsächlich darum, Baumgarten, der gemeinhin zu d.en Schülern Wolffs gerechnet wird, eine gewisse Selbständigkeit und Unabhängigkeit zuzugestehen, darüber hinaus auch eine gewisse Fähigkeit der Elaboration - wenn es wahr ist, daß Baumgarten, wie Casula behauptet, in der Lage war, die unentbehrlichen Beweise für das System Leibniz' zu geben, die Leibniz selbst nicht zustande gebracht hatte47 • Es war, nach Meinung des Autors, eben Leibniz, der auf Baumgarten die größte Anziehungskraft ausübte, da er von ihm die beiden zentralen Lehren der Monadologie und der universalen prästabilierten Harmonie geerbt und alles zusammen im Stile Wolffs systematisiert hat48 • Es gäbe vieles, was erwähenswert wäre. Hier beschränken wir uns aber auf zwei Hinweise, die Casula uns bezüglich der Differenzen zwischen Baumgarten und Wolff gibt: Der eine betrifft die unterschiedliche Auffassung vom Begriff der Vernunft, der andere die Beziehung zwischen empirischer und rationaler Psychologie49 , insbesondere die „grundlegend rationale" Natur, die Baumgarten der empirischen Psychologie beimißt50 • Unter den Arbeiten, die dem italienischen Publikum wenig bekannte Denker nahe bringen und deren philosophische Lehren aufwerten, sind die Arbeiten Ciafardones über Lambert zu erwähnen. Ciafardone kommt auch das Verdienst zu, einige Schriften des Philosophen übersetzt zu haben, an erster Stelle das monumentale 'Neue Organon' . Das bereits zitierte Buch 'J. H. Lambert e la fondazione scientifica della filosofia ' setzt seinen Schwerpunkt in der Beschreibung von Lamberts Versuch einer Synthese aus Locke und Wolff - ein Versuch, der vom Autor als „absolut originell" bezeichnet wird, obwohl er eigentlich nicht geglückt ist. Lambert versuchte, Vernunft und Erfahrung auf einem gleichwertigen Niveau koexistieren zu lassen. Indem er die „anatomische" Methode Lockes wieder aufgriff - freilich nicht in der apriorischen, sondern in der aposteriorischen Vorgehensweise -, wollte er die rationalistische Methode Wolffs verbessem51 • Das wissenschaftliche Wissen - also die Philosophie - ist zu allererst mathematisches Wissen und seine Konstruktion muß bei „einfachen Begriffen" beginnen, um die universalen Möglichkeiten ihrer Kombinationen herauszufinden. Lambert war hauptsächlich Leibnizianer, was man sehr gut sowohl an den Untersuchungen ersehen kann, die er sehr früh über das „logische Kalkül" angestellt hat, als auch
47 •• •. ein genialer Denker mit brillianten Einfällen, aber losen Ideen" (Casula, La metafisica di A.G. Baumgarten (wie Anm. 36), Vorwort) . 48 Vgl . hierzu das Urteil Casulas , nach dem die Metaphysik von Baumgarten . der erste Text einer wahrhaft Leibniz-Wolffschen Philosophie" ist. 49 Zu dem Argument des komplizierten Verhältnisses bei Wolff zwischen empirischer und rationaler Psychologie (ein Verhältnis von großem Wert auf der methodologischen Ebene, das aber die Quelle eines unausweichlichen .Dualismus" aufgrund des Wolffschen Begriffs der Seele als .Substanz" darstellt) vgl. den Beitrag von Daniela Verducci, Esperienza e ragione nella Metafisica latina di Ch. Wolff, in: Pilosofia oggi, 5 (1982), 485-504. In dieser Analyse der Grundelemente der lateinischen Metaphysik geht es vor allem um die Hervorhebung des .spezifisch rationalistischen Kontextes, in den jede Bezugnahme auf die Erfahrung einzuordnen ist" (503). so Casula , La me.tafisica (wie Anm. 36), 161 ff. und bes. 167. 51 Z.B. indem die Methode der . Zergliederung" anstatt jener der .Abstraktion" gewählt wird .
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seinen Versuchen, eine geometrische Symbolik aufzubauen und an dem damit verbundenen Experiment, eine Wissenschaftssprache zu schaffen. Er war jedoch gleichzeitig für zahlreiche andere Einflüsse offen. In diesem Zusammenhang wurde Locke erwähnt: Der Autor fragt zu Recht nach den Motiven Lamberts, die Rolle der Erfahrung im wissenschaftlichen Prozeß zu unterstreichen und sich damit mehr auf Locke als auf Wolff zu beziehen. Hier sind nicht die Details der Antwort von Interesse52, sondern überhaupt die Tatsache, daß diese Frage gestel1t wurde. Es soll daran erinnert werden, daß seit dem bereits erwähnten Artikel von Merker, seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahre also, sehr oft auf die Beziehung von Vernunft und Erfahrung bei Wolff eingegangen wird, in der Regel, um die entscheidende Rolle zu unterstreichen, die die Erfahrung im Umfeld des Wolffschen „Rationalismus" spieJtS3. Die Frage nach der Funktion der Erfahrung in der Philosophie Lamberts ist auch einer der Anhaltspunkte einer anderen Untersuchung, die einige Jahre später erschien 54 . Doch wird sie hier aufgrund eines insgesamt anderen Ansatzes in ganz anderen Termini gestellt. Für den Begriff der Erfahrung gilt der Bezug auf Newton wesentlich mehr als der auf Locke, und wenn Locke erwähnt wird, zum Beispiel bezüglich des von Lambert übernommenen Vorgangs der „ Wiederholung", dann geschieht es, um die deutlich verschiedenen Gültigkeitsbereiche zu unterstreichen - zum einen den psychologischen, zum anderen den epistemologischen55. Die Selbständigkeit Lamberts ist in erster Linie eine Unabhängigkeit von Wolff, bei gleichzeitiger großer Aufmerksamkeit für das Denken Leibniz ', dem Dello Preite in diesem Band eine eingehende Betrachtung widmet, sei es um dessen Hauptlehren darzustellen, sei es um die Koordinaten seiner Präsenz in der deutschen Schulphilosophie zu entdecken. Abschließend möchte ich noch zwei Hinweise geben: Der eine betrifft den Einfluß, den Crusius auf Lambert ausübte, der andere betrifft die Möglichkeit, eine nicht nur provisorische Brücke zwischen Lambert und dem kritischen Kant zu sch1agen56 • Bevor ich diesen Forschungsbericht mit einem Blick auf die einschlägige Literatur der achtziger Jahre abschließe, möchte ich noch auf einige Untersuchungen verweisen, die in der vorhergehenden Periode im juristisch-philosophischen Bereich angestellt wurden, einem Bereich, der hier leider nur annäherungsweise
S2 Der Grund würde in der unterschiedlichen Bedeutung liegen , die die Erfahrung in den beiden Philosophien einnimmt (Ciafardone, J .H. Lambert e la fondazione scientifica della filosofia (wie Anm.37), 38 Anm.). 53 Ciafardone, der einige Jahre später eine neue italienische Übersetzung der deutschen Logik besorgt hat (Christian Wolff, Logica tedesca, in appendice la Corrispondenza di J.H. Lambert con F.J. Holland e Kant, Bologna 1978; die erste italienische Übersetzung war bereits im 18. Jahrhundert erschienen), haue auch über: Le origini teologiche della filosofia wolffiana e il rapporto ragioneesperienza, in: U Pensiero, 18 (1973), 54-78 geschrieben( •... die Erfahrung repräsentiert für ihn [Wolff) den Ausgangspunkt und das Endziel der rationalen Vorgehensweise" (55)). S4 Maria Dello Preite, L'immagine scientifica del mondo di Johann Heinrich Lamberl. Razionalita ed esperienza, Bari 1979. ss Über diese zwei Punkte vgl. jeweils die Seiten 105 und 131, auf denen das Streitmotiv offen sichtlich ist, obwohl der Ansprechpartner, gegen den polemisiert wird, nicht genannt wird. S6 Ebd . 113ff.
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berührt werden kann, trotz des bedeutenden Einflusses, den das deutsche Rechtsdenken zu bestimmten Zeiten auf Italien ausgeübt hat (ich denke vor allem an das 19. Jahrhundert), und des großen Interesses, das Italien, auch bezüglich der hier betreffenden Zeitspanne, traditionell für diesen Sektor des deutschen Denkens gezeigt hat. Cattaneos Arbeit, die hier kurz besprochen werden soll, ist Thomasius gewidmetS7 , und das nicht zufällig, wenn man bedenkt, daß dieser Denker, wie bereits angedeutet, die Lehrer der derzeitigen Generation von Rechtsgelehrten und Philosophen tief angeregt hat. Des weiteren ist noch an das Buch 'Illuminismo e legislazione'58 desselben Autors zu erinnern, das sich vorwiegend mit Frankreich befaßt, aber sich schon auf die 'starke' These stützt (in dem Kapitel über die aufgeklärte Rechtswissenschaft in Deutschland: „Preußen, Österreich, Bayern"), daß der Beitrag, den Deutschland für die Aufklärung auf rechtlichem Gebiet geleistet hat, sehr wichtig gewesen ists9 • Thomasius' Denken ist wie ein „Verbindungsring" zwischen der Schule des Naturrechts und der Rechtsphilosophie der Aufklärung, deren frühester Exponent er war«>, indem er den „Prozeß der Säkularisierung" des Naturrechts begonnen und weitgehend durchgeführt hat. Cattaneos Untersuchung will das strafrechtliche Werk von Thomasius in seiner Ganzheit illustrieren (wobei indes die 'Fundamenta Juris Naturae et Gentium' in aller Regel nur geringes Interesse erregen). Aus interpretatorischer Sicht ist zu bemerken, daß der Autor seine besondere Aufmerksamkeit aufThomasius' „Eklektik" und deren philosophischen Wert richtet, sofern sie eine
s1 Mario A. Cattaneo, Delitto e pena oel pensiero di Christian Thomasius, Mailand 1976. ss Ders., llluminismo e legislazione, Mailand 1966. S9 Es sei hier nur an das Gesetzeswerk erinnert, das Friedrich II. erlassen hat, nämlich das ·Allgemeine Landrecht für die königlich-preußischen Staaten· (und an die ihm zugrundeliegenden Schriften wie den• Antimachiavel' - diese letzte Schrift ist vor kurzem in italienischer Übersetzung erschienen - oder an den Erlaß des Kodex Martini in Österreich oder an die fortschrittliche Strafgesetzgebung in Bayern, die unter dem Einfluß von Anselm Peuerbach (einem weiteren von den von Cattaneo erforschten Autoren) verabschiedet wurde. Zu diesem Thema vgl. Em.ilio Bussi, Stato ed amministrazione nel pensiero di Carl Gottlieb Svarez, Mailand 1966, (mit einer partiellen italienischen Übersetzung von Svarez, Unterricht für das Volk über die Gesetze); Giovanni Tarello, Le ideologie della codificazione. Da! particolarismo giuridico alla codificazione napoleonica , Genua 1969. Es sollte vielleicht hier noch erwähnt werden, daß kürzlich in italienischer Übersetzung die Untersuchung erschienen ist, die dieses Thema mit größter Sorgfalt behandelt, nämlich Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart 1967. Ders., Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg-München 1959 wurde bereits 1972 ins Italienische übersetzt, und immer wiede.r erscheinen Übersetzungen seiner Werke. Das Leitmotiv seiner Untersuchungen, die Begriffsgeschichte, hat in diesen Jahren auch in Italien zahlreiche Anhänger gefunden. 60 Cattaneo, Delitto e pena nel pensiero di Christian Thomasius (wie Anm. 57), vgl. insbesondere die Einleitung, in der Cattaneo die Bedeutung der Rechtslehre und der Philosophie der deutschen Aufklärung im allgemeinen betont, "vor allem gegenüber der verbreiteten Tendenz, Deutschland ... lediglich in Bezug auf das ' Nach-Kant' zu betrachten". Die Untersuchungen Cattaneos sind mit diesem Interpretationsbild kohärent, vgl. z.B. ders., Karl Ferdinand Hammel, il .Beccaria tedesco", in: Materiali per la storia della cultura giuridica, 5 (1975), 261-349; ders., La dottrina penale di Carl Grolman nella filosofia giuridica del criticismo, in: Materiali per la storia della cultura giuridica, 3 (1973), 261 - 347, sowie die Interpretationen von Kants Philosophie als - unter anderem - die Vollendung der Rechtsphilosophie der deutschen Aufklärung in ders., DignitA umana e pena nella filosofia di Kant, Mailand 1981.
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intellektuelle Haltung ausdrückt, die in Kohärenz zum „erneuernden und pragmatischen Wert" seiner Philosophie steht. Was das Aufzeigen der Rolle betrifft, die die Eklektik in der Philosophie gespielt hat, ist es angebracht, hier eine weitere Studie zu erwähnen, in der diesem Begriff die Dimension und die Weite einer eigenen philosophischen Strömung zukommt. Es handelt sich um das Buch, das Paola Zambelli einem wichtigen italienischen Aufklärer, Antonio Genovesi, gewidmet hat61 • Darin skizziert die Autorin treffend ein Panorama des deutschen Denkens im 18. Jahrhundert62 , das Genovesi nicht wenig beeinflußt hat, da er vielfältige Anregungen daraus entnahm, um sie dann folgerichtig mit den Hauptmotiven seines eigenen Denkens zu kombinieren. Der „Eklektizismus", der das Denken Genovesis auszeichnet, ist in Wirklichkeit eine bedeutende Konstante des italienischen Denkens nicht nur in dieser Zeit, sondern auch im 19. Jahrhundert. In diesem Zusammenhang macht die Autorin den Vorschlag, den „Eklektizismus" auch als charakteristischen Teil der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts zu betrachten63 ; d.h. auch als interpretatorisches Moment, das in mancher Weise ein Gegengewicht zum oft zu sehr betonten Interesse für die innere Gliederung der Schulphilosophie darstellt. 1982 veröffentlicht Ferdinando L. Marcolungo ein Buch, das ausschließlich Wolff gewidmet ist: ' Wolff eil possibile'64 • Im Grunde dreht sich das Buchhauptsächlich um das Wolffsche Problem der Beziehung zwischen dem Aufbau einer Wissenschaft des Möglichen und der unvermeidlichen Bezugnahme auf das Moment der Erfahrung. Die Notwendigkeit der Koexistenz beider Elemente bestimmt auch die Funktionalität und den Anwendungsbereich des Begriffs des „Möglichen". Die progressive Transformation der Widerspruchsfreiheit des Möglichen in die Widerspruchsfreiheit des Identischen belegt eine Evolution, in der Schritt für Schritt der Reichtum der Erfahrung erschöpft wird. In jüngster Zeit wurde der Impuls, der von den bislang besprochenen Arbeiten ausging, durch den Zugang jüngerer Kräfte, die sich häufig in neue Forschungsgebiete wagten, am Leben gehalten. Man hat den Eindruck, daß nun clie Früchte der bahnbrechenden Forschungstätigkeit eines der bedeutendsten Gelehrten der vorangegangenen Zeit geerntet werden: Giorgio Tonelli 65 • Er scheint in erster Linie das Interesse für die Geistesströmung, die von Thomasius zu Crusius verläuft, vermittelt zu haben . Also für den Pietismus, könnte man verkürzt sagen,
61 Paola Zambelli, La formazione filosofica di Antonio Genovesi, Neapel 1972. 62 Ebd. 366-417. 63 .Die kritische Untersuchung der Philosophen der klassischen Antike sowie der des vorange-
henden Jahrhunderts ist ein Charakteristikum des 18. Jahrhunderts, ein Jahrhundert, in dem man gar nicht versucht, neue Systeme zu erstellen, sondern vielmehr jene Erfindungen und illre nicht erschöpften fruchtbaren Prinzipien zu überdenken und häufig sehr frei zu kombinieren , und dies nicht nur im Hinblick auf eine bloß äußerliche conciliatio" (ebd. 327). In dem Aufsatz von Norbert Hinske, Le idee portanti dell'llluminismo tedesco . Tentalivo di una tipologia, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, 15 (1985), 997 - 1034, wird die Ekleklik als eine der programmatischen Ideen der ersten Phase der Aufklärung dargestellt (vgl. bes. 1009 ff.). 64 Ferdinando L. Marcolungo, Wolff e il possibile, Padua 1982. 6S Wie Cesa in der Einleitung zu dem bereits erwähnten Band 'Da Leibniz a Kant' (wie Anm. 1) bemerkt. Vgl. ders., In ricordo di Giorgio Tonelli, in: Giornale critico della filosofia italiana,
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doch es leuchtet ein, daß dies nicht der angemessene Ausdruck ist, denn - kurz gefaßt - die Hauptrichtung des weiten Interessenfeldes von Tonelli bildet das „Problem der Grenzen des menschlichen Verstandes", das wir zwar in seiner entscheidenden Ausprägung beim kritischen, auch schon beim vorkritischen Kant finden, das aber seine Wurzeln nicht nur in der deutschen Aufklärung, sondern auch zu großen Teilen im französischen und englischen Denken des 18. Jahrhunderts hat66. Was zählt, ist im Grunde die Oppositionsbewegung gegen Wolff und den Wolffianismus67 als Vertreter einer 'starken' Vernunft, einer Vernunft der unbegrenzten Möglichkeiten. Zu dieser Oppositionsbewegung zählen in erster Linie Crusius und auch Maupertuis - während nicht alles, was die vielseitige Welt des Pietismus darstellt, für diesen Gesichtspunkt ins Gewicht fällt68. Nach Lambert und nach Baumgarten erscheint wieder ein anderer wichtiger Aufklärer im Lichtfeld der italienischen Forschung: Christian August Crusius. Ich beziehe mich auf die Untersuchungen von Luigi Cataldi Madonna, 'Osservazioni sul concetto di tempo in Crusius, Lambert eil Kant precritico'69, auf Raffaele Ciafardones 'Über das Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen bei Tho-
1-4 (1980), 28-46, mit einer voUständigen Bibliographie der Schriften von Tonelli. Cesa hat sich außerdem auch selbst mit FragesteUungen auseinandergesetzt, die mit der Aufklärung zusammenhängen, obwohl sie nur in einer quellengeschichtlichen Funktion im Hinblick auf den deutschen Idealismus untersucht werden. Vgl. Le origini dell'idealismo tra Kante Hegel, Turin 1981; Armonia e felicita. Dall 'illuminismo all'idealismo, in: Piacere e felicita: Fortuna e destino, Padua 1982, 79-104; D cammino dell'eticita. Dall'eta dei lumi a Hegel, in: Fondamenti, 9 (1987), 5-38; Hegel e l'idealismo, in: Educazione e Scuola, 6 (1987), 71-81. 66 Tonelli, La discussione sui limiti dell'intelletto umano nel Settecento e la genesi del criticismo kantiano, con particolare riferimento al problema dell'infinito, in: ders., Da Leibniz a Kant (wie Anm. 1), 43-78 (im Original veröffentlicht unter dem Titel: La question des bornes de l'entendement humain au XVID si~le et la gen~se du criticisme kantien, particuli~rement par rapport au probl~me de l'infini , in: Revue de M~taphysique et de Morale, 65 (1959), 396-427). 67 Das bedeutet jedenfalls nicht, daß diese Geistesströmung heute nicht mehr untersucht wird. Ganz aktuell ist z.B. die Arbeit von Fabio Todesco, Scettici, idealisti e dogmatici nella recezione tedesca di Wolff, in: Rivista di filosofia, 80 (1989), 215-239. 68 In dem Aufsatz: L' ambiente storico-culturale di Koenigsberg e Ja formazione della filosofia italiana, in: ders., Da Leibniz a Kant (wie Anm. 1), 147 -168 (im Original veröffentlicht unter dem Titel: Conditions in Koenigsberg and the Making of Kant's Pllilosophy, in: Bewußt sein. Gerhard Funke zu eigen, hg. v. Alexius J. Bucher u.a., Bonn 1975, 126-144) rekonstruiert Tonelli die Beziehungen zwischen den einzelnen akademischen .Parteien", die es an dieser Universität gab (zum einen jener des Pietismus, zum anderen der der Anhänger des Wolffianismus), aber auch die zeitweise unterschiedliche Haltung, die Kant gegenüber diesen Parteien und ihren Auseinandersetzungen einnahm, so daß ,das pietistische Erbe Kants mit seiner Philosophie letztenendes nur noch wenig zu tun zu haben scheint" (162). 69 Luigi Cataldi Madonna, Osservazioni sul concetto di tempo in Crusius, Lam.bert eil Kant precritico, in: n Cannocchiale, 1-3 (1981), 51-79 (Sonderheft zum Thema: Tempo e temporalita) . Von den ersten beiden Denkern wird die Wichtigkeit betont, sei es isolien betrachtet, sei es im Verhältnis zum vorkritischen Kant , und bei allen dreien wird ihre ,radikal antiwolffsche" Position bei der Auffassung des Begriffs der Zeit hervorgehoben, bei aller Aufmerksamkeit für die Unterschiede. Im Hinblick auf Crusius wird insbesondere auf die Bedeutung des .Problems der Grenzen der menschlichen Vernunft" in dessen Denken, auf den Einfluß Newtons und (um eine gewisse Unterbewertung des Crusianischen 'Empirismus' von seilen Tonellis zu korrigieren) auf die Wichtigkeit seiner Bezugnahme auf die Erfahrung hingewiesen.
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Carla de Pascale
masius und Crusius mit Beziehung auf Kant' 70 und auf Sonia Carboncini71, unter anderem zusammen mit Reinhard Finster Herausgeberin des vierten Bandes der philosophischen Werke von Crusius - einer 1969 bei Olms von Tonelli begonnenen Eclition72 • In der Einleitung dieses Bandes hebt die Autorin den Wert des letzten, von Crusius in lateinischer Sprache verfaßten philosophischen Essays hervor, 'Epistola ad Jo. Ern. L.B. ab Hardenberg de summis rationis principiis, speciatim de principio rationis determinantis' (1752), insbesondere wegen des von Leibniz und Wolff geprägten Satzes des zureichenden Grundes und wegen des philosophischen Aufbaus, der sich von dieser Basis aus erhebt. Die Verbindung von Philosophie und Theologie, auf die sich diese Kritik stützt - wirksam nur in der Polemik gegen den Rationalismus - hat generell keine Spuren in der philosophischen Konzeption der Aufklärung hinterlassen. Es gibt noch einige Untersuchungen, die sich anderen Sektoren zuwenden. Die Aufmerksamkeit, die den „Grenzen" der menschlichen Vernunft entgegengebracht wurde, hat zum Beispiel einer neuen Aufmerksamkeit gegenüber dem Thema der „ Wahrscheinlichkeit" Platz gemacht. Exemplarisch ist das Buch von Luigi Cataldi Madonna, 'La filosofia della probabilita nel pensiero modemo: dalla Logique di Port-Royal a Kant' 73 , in dem in aller Breite die Beziehung zwischen wahrer
10 Raffaele Ciafardone, Über das Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen bei Thomasius und Crusius mit Beziehung auf Kant, in: Studia Leibnitiana, 16 (1982), 127-135. Das Thema des Primats der praktischen Philosophie, so wie es von der vorkantschen deutschen Philosophie aufgestellt wurde, ist eines der wichtigsten Probleme. Allerdings zeigt der Autor sehr gut, welchen fundamentalen Unterschied der Sinn dieses Primats für den Kritizismus und für Crusius hat (die absolute Autonomie der Freiheit auf der einen und die Freiheit als Wille Gottes, also als heteronomes Prinzip, auf der anderen Seite). Der Autor beschäftigt sieb wieder mit dieser Problematik in seinem Be.itrag: Von der Kritik an Wolffzum vorkritischen Kanl. Wolff-Kritik bei Rüdiger und Crusius, in: Christian Wolff 1679-1754. Interpretationen zu seiner Philosophie und deren Wirkung, hg . v. Werner Schneiders, Hamburg 1983, 289-305. Von Ciafardone ist in der Folge erschienen: La tradizione analilica dell'Illuminismo tedesco , in: II Pensiero, 1 (1985), 53-69. 71 Sonia Carboncini, lmperativo morale e religio nella filosofia pratica di Christian August Crusius, in: Archivio di filosofia . Nuovi studi di filosofia della religione, 1-2 (1982), 73-94 (in der doppelten Un1erscheidung zwischen logischer und metaphysischer Wahrheit einerseits und zwischen logischer und moralischer Freiheit andererseits wird der Fonschrin im Denken Crusius' dargestellt, der schlie.ßlich in eine • Transformation der Metaphysik in praktische Phllosophle" und in die .Fixierung eines neuen Verhältnisses zwischen Moral und Religion" mündet , wobei die zweite nicht von der ersten getrennt werden kann. Interessant ist die von der Autorin vertretene These, daß beim Hervorheben der empiristischen Elemente, die in den Lehren der Wolff-Gegner vorkommen , behauptet .die religiösen und moralischen Motivationen" hätten die Gegner auf den Boden des Empirismus gezwungen und nicht umgekehn) . Dies., Christian August Crusius und die Leibniz-Wolffsche Phllosophie, in: Beiträge zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte von Gonfried Wilhelm Leibniz., hg. v. Alben Heinekamp, (Studia Leibnitiana, Supplementa, Bd. 26), Stuttgan 1986, 110-125. Crusius' kritische Auseinandersetzung mit der Leibniz-Wolffscben Philosophie ist nicht bloß eine Widerlegung von einzelnen problematischen Stellen, sondern vielmehr eine umfangreiche theoretische Haltu.ng, die ihre Wurzeln in seiner Theologie hat und sich theoretisch in dem Kampf gegen den .Fatalismus", den . Synkretismus" und die darin enthaltenen theoretischen • Voruneile" konkretisiert. 72 Christian August Crusius, Die philosophischen Hauptwerke, Bd. 4: Kleinere philosophische Schriften, hg. v. Sonia Carboncini u. Reinhard Finster, Hildesheim-Zürich-New York 1987. 73 Luigi Cataldi Madonna, La filosofia della probabilitl! nel pensiero moderno: dalla Logique di Port-Royal a Kant, Rom 1988.
Das Bild der Autl Felix Meiner Verlag,
1990, ISSN 0178-7128
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Mario A. Cattaneo
philosophie eine Vollendung, in bezug auf die Strafrechtsphilosophie der Aufklärung eine Reaktion bedeutete - in Deutschland schon herrschend war. Die Behauptung Grolmans ist jedoch mehr auf die Strafrechtswissenschaft als auf die Strafrechtsphilosophie gerichtet, denn der Erneuerung der Strafrechtswissenschaft galten in jener Zeit seine Bemühungen und auch diejenigen von seinem Freunde und Gegner P.J. Anselm Feuerbach. Aber die Namen, die in den zitierten Stellen von Hommel und Grolman erwähnt werden, sind höchst bezeichnend. Es ist besonders wichtig, daß der Name von Christian Thomasius an beiden Stellen auftaucht. Eigentlich darf Christian Thomasius als der Bahnbrecher der deutschen Aufklärung im allgemeinen und im besonderen der Strafrechtsphilosophie der deutschen Aufklärung betrachtet werden. Thomasius lebte zwischen dem Ende des 17. und dem Anfang des 18. Jahrhunderts, und philosophisch gesehen steht er in der Mitte zwischen der modernen Naturrechtsschule und der Aufklärung. Gewöhnlich unterscheidet man zwei Perioden seines Lebens und seiner Tätigkeit als Jurist: Die Periode von Leipzig, in der er sein großes Werk lnstitutiones Jurisprudentiae Divinae (1688) veröffentlichte, steht noch unter dem Einfluß der Rechtsphilosophie Samuel Pufendorfs; in der Periode von Halle, in der er sein zweites großes Werk Fundamenta Juris Naturae et Gentium (1705) herausbrachte, entwickelte Thomasius seine eigenen naturrechtlichen Gedanken. In dieser zweiten Periode erschienen die meisten seiner strafrechtlichen Schriften, die im strengen Sinne als reformatorischaufklärerisch gelten. In den lnstitutiones entwickelt Thomasius die Unterscheidung zwischenpoena divina und poena humana. Nach ihr ist die göttliche Strafe auf Vergeltung ausgerichtet: „Illa vero poena, quae solum tendit ad expiationem propter delictum tantum, ad species divinarum pertinet, quia homo nunquarn debet in puniendo spectare solum malum praeteritum, sed semper reflectere ad bonum aliquod futurum". 3 Im Gegensatz dazu ist seiner Meinung nach die menschliche Strafe auf die Zukunft gerichtet; sie ist „positio mali seu dolor, quem propter delictum infert superior inferiori invito, in emendationem communem civium" 4 • Aus dieser Definition erhellt, daß Thomasius die Idee einer Strafe behauptet, die im allgemeinen auf die GeneraJprävention abzielt; obwohl man hinzufügen sollte, daß die emendatio communis ein merkwürdig gemischter Begriff ist, der zwei Ideen enthält, die Idee der alJgemeinen Abschreckung durch das Beispiel , und die Idee einer moralischen Besserung der Mitglieder der Gesellschaft (die jedoch nicht weiter geklärt wird). s In der Straflehre der ersten Periode des Lebens und der Tätigkeit von Thomasius treten also zwei Merkmale hervor: die Säkularisierung des Strafrechts (aus
3 Christian Thomasius, lnstitutiones Jurisprudentiae Divinae, Fraocofurti et Lipsiae 1688, Neudruck der 7. Auflage Halle 1720 Aalen 1963, Liber ill, Caput VII,§ 25, 413. 4 Ebd. , § 28, 413. s Über die Idee der ~emendatio" im Strafdenken von Thomasius s. Friedrich Mallhis, Christian Thomasius. Seine Lehre und sei ne Bedeutung für die Rechtswissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der strafrechtlichen Seite seiner Lehre, Köln 1900- 190 I , 51; Gioele Solari, Kante la dourina penale della retribuzione, in: Rivista di Filosofia, 20 (1929), 34.
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der Thomasius jedoch noch keine weitreichenden Folgerungen zieht) und der „relative" Charakter des Strafzwecks. Es fehlt noch der Humanitätsgedanke, der eines der Hauptmerkmale der strafrechtlichen Aufklärung war. Man kann in diesem Zusammenhang daran erinnern, daß Thomasius die Rechtmäßigkeit der Todesstrafe (sogar für den Diebstahl!) verteidigt und daß er dieser Idee immer treu geblieben ist. 6 Bis zu diesem Zeitpunkt ist „das Aufklärerische" in seinem Denken noch nicht reif. Er steht erst am Anfang dieser Ideenbewegung. Die Lage ändert sich in der zweiten Periode, als Thomasius seine Fundamenta schreibt: Hier wird der Gedanke der Säkularisierung, nämlich die Unterscheidung zwischen Theologie und Naturrecht, zwischen Moral und Recht, vollständig entwickelt. Innerhalb seiner Dreiteilung von honestum (innerlicher Moral), decorum (sozialer Moral) undjustum (Recht), vertritt Thomasius die Auffassung, daß die Regel des Rechts in der Pflicht besteht, die subjektiven Rechte der anderen zu achten: „Non turbabis alios, nec impedies in usu juris sui s. superiores s. inferiores, sive pares, omnes enim sunt aeque homines. "7 Die typische Stütze (auxilium) des justum ist die Strafe (poena). 8 Das Recht (justum) betrifft nur die äußeren Handlungen, und die Strafe ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie für die Verletzung der individuellen Rechte angedroht wird. Auf dieser Grundlage entwickelt Thomasius seine eigenen Beiträge zur Reform des Strafrechts. In der Schrift Problema Juridicum: An Haeresis sit Crimen ?, die schon in Leipzig 1679 publiziert wurde, bekämpft er die rechtliche Bestrafung der Ketzerei; der Ausdruck von Ideen und Meinungen darf keinem Zwang, keiner Strafe unterworfen werden, weil er niemandes Recht verletzt. Außerdem kann die Ketzerei höchstens ein Irrtum des Verstandes (error intellectus) sein, während das subjektive Merkmal des Verbrechens der böse Wille, der Vorsatz ist; der Vorsatz gehört zum Willen, nicht zum Verstand. 9 Die zwei thomasischen Schriften, die seinen vorzüglichsten Beitrag zur Reform von strafrechtlichen Einrichtungen bilden, sind De Crimine Magiae (1701) und De Tortura ex foris Christianorum proscribenda (1705). In der ersten Schrift bekämpft Thomasius nicht nur die rechtliche Bestrafung, sondern schon den Begriff des vermeintlichen Verbrechens der Zauberei. Auf diesem Gebiet war dem Werk von Thomasius in Deutschland schon die Schrüt des Jesuiten Friedrich von Spee vorausgegangen. Die Cautio criminalis, seu de processibus contra sagas, die von Spee 1632 veröffentlichte, war eine herausragende Anklagerede gegen den Hexenwahn und die Hexenverfolgung. Das Hauptziel von Thomasius in der Schrift über die Zauberei ist der Beweis der Nichtexistenz dieses Verbrechens. Da als Wesen der Hexerei der Vertrag mit dem Teufel (pactum cum diabolo) angegeben wurde, zeigt Thomasius, daß hier das „corpus delicti" vollkommen fehlt: „Cum enim in hoc crimine numquam ullum verum corpus
Christian Thomasius, Institutiones, Liber Ill, Caput VII, § 45, 415; § 129, 427. Christian Thomasius, Fundamenta Juris Naturae et Gentium, Halle 1705, Neudruck der 4 . Auflage Halle 1718 Aalen 1963, Liber I, Caput VI , § 62, 181. 8 Ebd., Caput VII,§§ 9 - 14, 190- 191. 9 Christian Thomasius, Problema Juridicum: An Haeresis sit Crimen?, Halle 1697, § IX, 26. 6 7
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delicti adfuerit, quilibet videt, quod nec umquam ullum verosimile iudicium adesse potuerit, quia non entis nulla sunt indicia" . 10 Die Beweisführung von Thomasius geht also darauf aus, zu zeigen, daß das „Verbrechen" der Hexerei oder Zauberei keinen Tatbestand hat. Das objektive Merkmal eines Verbrechens schlechthin fehlt. Mit der erwähnten ist auch die kurz später erschienene Schrift über die Folter verbunden . In der Tat wurden die „Geständnisse" der "Hexen" - wie schon von Spee bewiesen hatte" - meistens durch die Tortur erzwungen. In dieser Schrift zeigt Thomasius, daß erstens die Tortur ungerecht ist, weil sie oft den Unschuldigen zwingt, nie begangene Verbrechen zu gestehen 12 , daß sie zweitens gegen das naturrechtliche Prinzip der Selbstverteidigung verstößt13 und daß sie aus heidnischem Ursprung und gegen die christliche Religion ist 14 • Nach einigen Interpreten beeinflußte die thomasische Schrift gegen die Folter die Maßnahme Friedrichs des Zweiten von Preussen, der die Tortur kurz nach seiner Krönung in seinem Staate abschaffte. is In diesem Zusammenhang sollte man daran erinnern, daß Friedrich auch der Verfasser der Dissertation sur Les raisons d'etablir ou d 'abroger /es lois (1748) gewesen ist, in der er gegen die Todesstrafe für den Diebstahl und gegen die Tortur schrieb. 16 Vor allem die letztgenannten reformatorischen Schriften kennzeichnen Thomasius als Aufklärer, insofern er hier den Humanitätsgedanken hervorhebt und gegen die grausamsten Einrichtungen des Strafrechts kämpft.
//. Säkularisierung urzd Strafrecht
Christian Thomasius mag also zurecht als der Bahnbrecher oder als der erste Vertreter der deutschen Aufklärung im Felde des Strafrechts betrachtet werden. Aus dem Thomasischen Denken stammen zwei Hauptideen, die den Charakter der deutschen strafrechtlichen Aufklärung prägen: die Säkularisierung des Strafrechts und der Humanitätsgedanke, der bei ihm besonders in der Bekämpfung der Tortur und der Verfolgung der Hexerei zum Ausdruck kommt. Zunächst befasse ich mich mit dem ersten Problem, das heißt mit der Säkularisierung in der deutschen strafrechtlichen Aufklärung. Da das Wort "Säkularisierung" ziemlich unklar und zweideutig ist, so daß es verschiedenen sich widerChristian Thomasius, De Crimine Magiae, Halle 1701 , §XLVIII, 719. Friedrich von Spee, Cautio criminalis, seu de processibus contra sagas, Rinteln 1632, Dubium XX , 111: .periculum igitur est , ne non multae, ut se cruciatibus, equulei expediant, fateantur crimen quod non habent, ac quaevis de se scelera mentiantur quaecunque vel suggerunt quaesitores, vel ipsi rei ut fateantur meditati antea sunt"; s. auch 130, 132-133. 12 Christian Thomasius, De Tortura ex foris Christianorum proscribenda, Halle 1705, Caput II, § l , 22- 23. 13 Ebd., §V, 28 - 29. 14 Ebd. , VI, 30-32; § VII, 33. 1s Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 31951, Kapitel X • Christian Thomasius • , 410. 16 Friedrich II. von Preussen, Dissertation sur les raisons d 'etablir ou d 'abroger les lois (1748), in: Oeuvres de Fr&leric II, roi de Prusse, Tome U, 1790, 111 - 113, 114 - 115. 10 II
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sprechenden Interpretationen unterworfen ist, muß hier kurz darauf hingewiesen werden, was ich unter diesem Ausdruck verstehe: Es handelt sich um die Trennung des Gebiets des Naturrechts von dem Gebiet der Moraltheologie, eine Trennung, die von der Naturrechtsschule des 18. Jahrhunderts vollzogen worden war. Wenn ich von „Trennung" spreche, meine ich damit keineswegs „Gegensatz". Es geht um eine Unterscheidung von Bereichen, nicht um eine Verneinung der Religion und der Transzendenz. Die Naturrechtler jener Zeit waren alle gläubige Christen, und ihre Säkularisierung entsprach dem Erfordernis einer Verinnerlichung des christlichen Lebens und einer Erweiterung der menschlichen Freiheit. Der Anfang der Säkularisierung in der modernen Naturrechtslehre mag in dem berühmten Satz von Grotius gefunden werden, wo der niederländische Jurist schreibt, daß die Grundsätze des Naturrechts auch dann gelten würden, wenn man sich einbildete, „quod sine summo scelere dari nequit, non esse Deum, aut non curari ab eo negotia humana" 17 • Die Grundlage des Naturrechts wird also in der menschlichen Vernunft und nicht unmittelbar in der Bibel verortet, weil das Naturrecht - wie die Moral - für alle Menschen aller Bekenntnisse gilt. Das bedeutet keineswegs Ablehnung des religiösen Standpunktes, weil es letzten Endes Gott selbst ist, der als Schöpfer des Menschen und seiner Vernunft die moralischen und naturrechtlichen Grundsätze in ihn einpflanzt. Nach Grotius war es Pufendorf, der den säkularisierenden Gedanken weiterführte. Deshalb wurde er von Leibniz und auch von den orthodoxen Lutheranern scharf getadelt und kritisiert (obwohl Pufendorf im Laufe seines Werkes oft Bibelstellen zur Erläuterung von naturrechtlichen Geboten aufführt). In der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung entspricht der Idee der Säkularisierung die Unterscheidung zwischen Sünde im moralisch-religiösen und Verbrechen im rechtlichen Sinne. Verbrechen, das legitimerweise bestraft werden darf, ist nur eine äußerliche Handlung und eine Verletzung des subjektiven Rechts eines Anderen. In Deutschland ist eine solche Idee hervorragend und fortdauernd im Denken Rommels vorhanden. Beccaria hatte nur das allgemeine Prinzip behauptet, insofern er schrieb, daß die Beurteilung des Rechtes und Unrechtes in bezog auf die innere Güte oder Bösartigkeit der Handlung dem Theologen obliegt, während die Aufgabe der Beurteilung des politischen Rechtes und Unrechts in bezug auf den Nutzen der Gesellschaft dem Juristen und dem Politiker zufällt18. Rommel vertritt dagegen das Prinzip mit größerer Genauigkeit und wendet es in verschiedenen Fällen an. Das mag durch die größere Vertrautheit mit der Bibel in den protestantischen Ländern erklärt werden, die eine beständige Bemühung hervorbrachte, die Grenzen zwischen den mosaischen Geboten und dem Recht des Staates zu ziehen.
17 Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis, Paris 1625, Prolegomena§ II , Auflage Amsterdam 1720, X. 18 Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene, .A chi !egge~, hg. von Piero Calamandrei, Firenze 1950, 153: . Spetta a' teologi lo stabilire i confini del giusto e dell'ingiusto, per cill ehe riguarda l' intrinseca malizia o bonta dell 'atto: Jo stabilire i rapporti del giusto e dell' ingiusto politico, cioe dell 'utile o del danno della societa, spetta al pubblicista [ ... ]~.
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Schon in seiner lateinischen Rede Principis Cura Leges hatte Hommel bemerkt, daß viele mosaische Gebote, welche damals als moralisch und allgemeingültig betrachtet wurden, als bloß rechtliche Bestimmungen für das Hebräische Volk gelten sollten: "multas, quae olim morales credebantur, Mosaicas leges, nunc forenses putamus" 19. In der Vorrede zur Übersetzung von Beccarias Buch unterscheidet Hommel drei Arten von Strafe, nämlich „wahre Strafen, die auf wahre Verbrechen gesetzt sind" , „Polizeistrafen, auf Quasi delicta gesetzt" und endlich „geistliche Strafen wegen der Sünde, welches wiederum keine eigentlichen Strafen, sondern bloß Censurae sind, und da kann die höchste weiter nichts, als der Bann oder Ausschließung aus der Kirche sein, jedoch ohne den allermindesten Verlust der Ehre oder Güter, als welches eine bürgerliche Strafe ist" 20 • Hommel räumt ein, daß auch die Kirche ihre Gesetze und ihre Strafen haben darf; diese aber sollen auf das geistliche Gebiet beschränkt werden. Der Kirche steht kein Zwang zu: Ihre Strafen dürfen nur „die Beraubung der heiligen Sakramente und zuletzt[ .. .] [der] [ ... ) Bann" sein. „Alles was darüber ist, ist von Übel" 21 • Hommel erklärt den Sinn seiner Stellungnahme folgendermaßen: "Wenn ich dieses alles nicht dächte, wie ich es denke, wenn ich es nicht lehrte, nicht schriebe, so wäre ich kein evangelischer Christ und nicht eingedenk des neunten Schmalkaldischen Artikel: ' Die Prediger sollen geistliche Strafen nicht mengen in die weltliche Strafe'"22. Die Ideen, die Hommel in der Vorrede zu Beccaria niedergeschrieben hatte, werden von ihm in den Philosophischen Gedanken über das Criminalrecht weiter entwickelt und vertieft. Hommel lehnt jeden Zwang in Religionssachen deutlich und entschieden ab. Das Verhältnis zwischen Menschen und Gott darf nicht ein auf Furcht gegründetes Verhältnis sein: " Denn das ist ein nichtswürdiger Sklav, den blos die Furcht gehorsam macht. Da mag ich nicht wohnen, wo man nur aus Zwang gutes thut. Wer blos durch Furcht von Lastern abgehalten wird, wo Hölle der Grund einer Tugend ist, so achte ich einen solchen gar wenig . " 23 Eine auf Furcht gegründete Religion ist eine bloß äußerliche und heuchlerische Religion: "Wenn man die Leute durch weltliche Strafe in die Kirche und zum Abendmahle zwinget, wenn man das Innerliche und Wesentliche, welches den Christen machet, verwechselt mit dem Aeusserlichen, woran die Menge klebet, so entstehet daher das für die wahre Kirche und den Staat, so höchst gefährliche Uebel, dass der gemeine Haufe meynet, es besteht die Religion in einem knechtischen Zittern, in Feyerüchkeiten, in Kirchengehen, in blossen Singen und Bethen. Ein solcher Gottesdienst ist gerade das Gegenteil von dem wahren" 24 • Später spricht sich Hommel klar gegen die Vennengung von Sünde und Verbrechen aus: „Da Mord ein beleidigendes Verbrechen, fleischliche Vergebung aber blos
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Karl Ferdinand Homroel , Principis Cura Leges , Lipsiae 1765, Caput VII , 22. Ders„ Vorrede , (wie Anm. 1), 19. Ebd., 22.
Ebd„ 21.
Karl Ferdinand Hommel, Philosophische Gedanken über das Criminalrecht, hg . von Karl Gottlob Rössig, Breslau 1784, § 46, 91. 24 Ebd., § 47, 92. 23
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Sünde ist, dem Fürsten aber keineswegs die himmlische, sondern blos die irdische Wohlfahrt seiner Unterthanen anvertrauet, so sieht wohl ein jeder den Unterschied. Fleischliche Vergehungen, wodurch niemand beleidiget wird, entstehen aus Schwachheit, Verbrechen aber aus Bosheit. " 25 Er argumentiert noch mit demselben Grund wie Thomasius gegen die Bestrafung der Ketzerei: "Der vernünftige Regent weiss als Landesherr keine andere Ketzer, als Betrüger und Mörder. Er bestraft nicht lrrthum, sondern Bosheit und Beleidigungen. " 26 Verbunden mit der Idee der Säkularisierung des Strafrechts ist auch das Problem des Maßes, der Größe des Verbrechens. Nach Hommel, der hier den Gedanken Beccarias wiederaufnimmt, muß der "selbst denkende Jurist und Staats.kündige [.. .] sich nicht irre machen lassen, das Wesen und die Grösse des Verbrechens irgend in etwas anders, als einzig und allein in dem Schaden zu suchen, welcher daraus der Gesellschaft erwächset". Deshalb: "Je trauriger der Erfolg, den eine That dem gemeinen Wesen verursachet, desto straffälliger ist sie. Hat sie aber keinen nachtheiligen Erfolg im gemeinen Wesen, so ist sie gleichgültig; allerwenigstens kein Gegenstand der bürgerlichen Strafgeseze" 27. Auf dieser Grundlage entwickelt Hommel dieselbe Klassifikation der Strafen, die er schon in der Vorrede vertrat: nämlich wahre Strafen, Polizeistrafen und geistliche Strafen. Auch hier sagt er, daß sich die Kirchenstrafen darauf beschränken sollen, die "Beraubung der geistlichen Gemeinschaft" zu verursachen; die irdische Gewalt habe jedoch nichts damit zu tun28. Als Befürworter der Säkularisierung des Strafrechts ist Hommel natürlich ein Fortsetzer Thomasius' und durch häufige Erwähnung erkennt er seine Schuld gegen den großen Naturrechtler an. Man hört aber aus seinen Worten auch Gedanken Lockes und Montesquieus heraus, die beide behauptet hatten, daß die Kirchenstrafen einen bloß heiligen Gegenstand haben sollten, und kein vom Staate geschütztes Recht berühren dürften. 29 Hommel unterstreicht eine Fortdauer der Prinzipien der evangelischen Reformation in der Aufklärung: Er fühlt und betrachtet sich selbst als einen treuen Erben der Reformation, wie seine Hinweise auf die Schmalkaldischen Artikel deutlich zeigen. Es muß jedoch bemerkt werden, daß er eine rationalistische Auslegung der Reformation vertritt, welche derjenigen des späteren Anselm Feuerbachs ähnlich ist. Dieser wird in der Tat die Lutherische Idee der "Freiheit des Christenmenschen" durch die Kantische Theorie der Moral ausdeuten30 • Von diesem Standpunkte aus kann man sagen, daß Hommel ein echter Erbe des 'liberalen' Stroms der Reformation ist, der jedoch seit den Anfängen des Protestantismus immer in der Minderheit gewesen war. Seine Polemik gegen die Luthera-
2s
Ebd., § 60, 121-122.
26 Ebd. , § 85, 163. 27 Ebd. , § 67, 137 - 138. 28 Ebd., § 78, 155; § 81 , 157 . 29 John Locke, Epistola de Tolerantia, Gouda 1689; Charles de Montesquieu, De l'esprit des Lois (1748), Paris 41949, liv. XII, 198- 199. 30 S. darüber Gustav Radbruch , Paul Johann Anselm Feuerbach. Ein Juristenleben, Göttingen
31969, 139; Mario A. Cattaneo, Anselm Feuerbach filosofo e giurista liberale, Milano 1970, 562.
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nische Orthodoxie und seine Verteidigung der Toleranz bestätigen es: An einer Stelle voll Zorn und Leidenschaft aus den Philosophischen Gedanken, wo er viele berühmte Fälle von religiöser Verfolgung erwähnt, brandmarkt Hommel die Hinrichtung Servets seitens Calvins31 • Der Hommel-Forscher Karl Rosenbaum hat die Säkularisierung des Strafrechts vom 'nationalen' Standpunkt her ausgelegt. Er schreibt: „Der Gedanke, das Strafrecht in der Richtung auf völlige Verweltlichung hin zu entwickeln, entbehrt namentlich bei Hommel nicht einer Besonderheit, die diesem Gedanken einen starken positiven Gehalt gibt und ihn dadurch sowohl von den französischen Verfechtern derselben Idee, unter welche wohl auch Beccaria gerechnet werden darf, als auch von einer großen Zahl späterer oder gleichzeitiger deutscher Rechtslehrer unterscheidet: Es ist dies die Betonung des nationalen Elementes in der Rechtsentwicklung"; nach Rosenbaum hätte Hommel die Idee behauptet, „Gott habe diese Gesetze nur den Juden geben wollen", um zu zeigen, daß sie nicht zu „dem deutschen Charakter" passen32• Auch ein Satz aus der Rhapsodia Quaestionum in foro quotidie obvenientium, „Caveat sibi princeps, ne suae leges judaizent"33 , wird von Rosenbaum als Ausdruck des „gegen das judaische Recht gerichteten Teils des nationalen Gedankens" betrachtet34 • Eine solche Auslegung ist nach meiner Meinung wenig überzeugend. In der Tat besteht der Grund, warum Hommel den Einfluß des „jus mosaicum" aus dem modernen Strafrecht verbannen will, nicht in der äußerlichen Tatsache, daß es ein fremdes Recht ist, sondern in seinem theokratischen Ursprung und Charakter. In dieser Beziehung hat Rommel oft Stellen aus dem Werke des rationalistischen Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (des Vaters der berühmten Caroline, die August von Schlegel und später Schelling heiratete) erwähnt. Michaelis hatte die lange Vorrede zum sechsten Band seines Werkes Mosaisches Recht dem Problem der Strafe gewidmet und darin das Mosaische Recht, wie E. Schmidt geschrieben hat, „als national-jüdisches Recht ohne jede verbindliche Kraft für die Gegenwart" betrachtet35 • In der Vorerinnerung zum vierten Band desselben Werkes hatte Michaelis in der Tat geschrieben: „Ich muß hier von manchen Levitischen Gesetzen reden, die GOtt als Vorbilder auf etwas zukünftiges verordnet hatte, und die dem Israelitischen Volk, obgleich auf eine etwas dunklere Weise, aber doch nach authentischer Erklärung des Alten Testaments, die Lehren des Evangelii sagten: allein von dieser Religions-Seite betrachte
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Karl Ferdinand Hommel, Philosophische Gedanken (wie Anm. 23), § 58, 120.
32 Karl Rosenbaum, Karl Ferdinand Hommel in seinen Beziehungen zum Naturrecht und zur juri·
stischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, Berlin 1907, 32 - 33. 33 Karl Ferdinand Hommel, Observatio 330, in: ders., Rhapsodia Quaestionum in foro quotidie obvenieotium neque tarnen legibus decisarum, Bayreuth 1766 - 1787, 169. 34 Karl Rosenbaum, Karl Ferdinand Hommel (wie Anm. 32), 34. 35 Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, Göttingen 31965, 213, 222; s . auch 01to Fischl, Der Einfluß der Ausfkläruogsphilosophie auf die Entwicklung des Strafrechts in Doktrin, Politik und Gesetzgebung und Vergleichung der damaligen Bewegung mit den heutigen Reformversuchen, Breslau 1913 [Neudruck Aalen 1973], 93 - 94.
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ich sie hier nicht, sondern blos , wie sie dem Rechtsgelehrten, oder dem über Gesetzgebende Klugheit philosophirenden, in die Augen fallen. Dadurch aber leugne ich ihre vorbildliche Bedeutung und prophetische Absicht auf Christum nicht, sondern rede nur deswegen nicht von ihr, weil sie hier nicht gehöret [... ] Handelte ich anders, so würde ich des Zweckes, den ich mir vorgesetzt habe, verfehlen, und kein Mosaisches Recht, sondern eine Mosaische Theologie in Vorbildern schreiben, und dabey allen Lesern, die nicht gerade etwas theologisches suchen, unerträglich werden" .36 Als Anwendung des Prinzips der Säkularisierung auf das Strafrecht seitens Michaelis' mag man seine klare Behauptung der Nutzlosigkeit der Bestrafung solcher Handlungen wie der Selbstbefleckung, des außerehelichen Beischlafes, des Selbstmordes usw. (d.h. unmoralischer oder irreligiöser Taten ohne Verletzung der Rechte von Anderen) betrachten: „Wenn das Verbrechen blos dem schadet, der es begehe[... ] kann man die unnütz werdenden Strafen aufheben, und das heißt am Ende, das Gesetz aufheben[ ...]"37. Diese Behauptung Michaelis' entspricht vollkommen der folgenden Fußnote Hommels zu Beccaria: „Sodomiterei ist Sünde, außerdem auch Unflat, Schmutz, Unanständigkeit, die Schande bringt, aber kein Verbrechen, weil es niemanden das Seinige entzieht und nicht aus betrügerischen, boshaften Herzen entspringt, noch die bürgerliche Gesellschaft zerrüttet". 38 Die Säkularisierung des Strafrechts, auf die die erwähnten Zitate Hommels und Michaelis' abzielen, erreicht einen typischen Erfolg: die Erweiterung der menschlichen Freiheit durch die Verminderung der Zahl der durch die Strafgesetze unter Strafe gestellten Verbrechen und besonders durch die Ausschließung der Bestrafung jedes Verhaltens, das reiner Ausdruck des Gewissens ist. Dieses Ziel wollte Hommel bewußt erreichen; oft betont er die Pflicht des Oberherrn, Gesetze, die die Freiheit erweitern, zu erlassen und im Bereich der gleichgültigen Handlungen keinen Zwang auszuüben. Es sei mir erlaubt, noch einige Sätze zu zitieren, die diesen Gedanken ausdrücken: „Freiheit. Handlungen, deren Unterlassung der Schatzkammer oder Kämmerei keinen Vorteil stiften und, weil sie niemanden beleidigen, im bürgerlichen Rechtsverstande der Republik unschädlich sind, muss der Beherrscher als gleichgültig betrachten[ ... ] Zwang in Kleinigkeiten[... ] macht die Menschen verdriesslich [... ] Verordnungen, Gesetze und Verbote, welche sowohl wider der Menschen Neigungen als wider ihre Denkungsart streiten, sind dem freien gemeinen Wesen höchst schädlich [ ... ] [der Fürst] [... ) hüte sich, etwas zu verbieten, wodurch dem Nächsten kein Schaden erwächst, wodurch niemand beleidigt wird. "39 Hier erscheint eine scharfe Kritik an der Praxis des Polizeistaates des aufge-
36 Johann David Michaelis, Mosaisches Recht, IV. Theil, Frankfurt am Main 1774, Vorerinnerung, 1-4. 37 Johann David Michaelis, Mosaisches Recht, VI. Theil, Frankfurt am Main 1775, Vorrede,
60-61. 38 Karl Ferdinand Hammel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (wie Anm. 1), Anmerkung k) , 136. 39 Ebd., Anmerkung z), 165-168.
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klärten Absolutismus nach der Leibniz-Wolffschen Art, welcher der Tätigkeit der Untertanen zu viele Grenzen setzt und welcher die Untertanen als Minderjährige zu behandeln sucht. Von diesem Standpunkte könnte man sogar bemerken, daß einige Punkte des Liberalismus im Denken Rommels vorhanden sind.
III. Die Auseinandersetzung der deutschen Aufklärung mit Beccaria Die zweite Idee der Strafrechtsphilosophie des Thomasius , der Humanitätsgedanke, vereinigt sich in Beccarias Buch Dei delitti e delle pene mit dem Prinzip der Rechtssicherheit, mit der Idee der strengen Bindung des Richters an das Gesetz. Die europäische strafrechtliche Aufklärung behauptet im allgemeinen drei wesentliche Prinzipien: die Säkularisierung, den Humanitätsgedanken und die Rechtssicherheit. Eigentlich hat Thomasius sich nicht ausdrücklich mit dem letzten, d.h. mit dem Problem der Rechtssicherheit, befaßt. Während Hobbes und Pufendorf auf verschiedene Weise das Prinzip behauptet haben, daß keine Strafe wegen einer Tat verhängt werden darf, die vom Strafgesetz nicht als Verbrechen bezeichnet ist, und so auch die rückwirkende Kraft des Strafgesetzes abgelehnt haben40 , hat Thomasius solche Gedanken nie ausdrücklich und bestimmt geäußert. Diese Tatsache hatte zur Folge, daß einige Interpreten ihn als verantwortlich für die Einführung einer gewissen Rechtssicherheit in Deutschland im 18. Jahrhundert bezeichnet haben; W. Küper schreibt, daß sein „Hauptanliegen es war, alles überkommene Recht vor den Richterstuhl der Vernunft zu ziehen". Mit seinem Kampf gegen die Bestrafung von Hexerei und Ketzerei leitete Thomasius „eine umfassende Revision des überlieferten Strafrechts ein", die zur „größtmöglichen Freiheit des Richters vom Gesetz und zu naturrechtlicher Rechtsschöpfung" führte41 • Eine solche Interpretation scheint mir jedoch übertrieben. Vom historischen Standpunkt ist sie gewissermaßen richtig, weil die Bemühungen der deutschen Aufklärer, die Bestrafung der Hexerei und ähnlicher Straftaten, die in der Constitutio Criminalis Carolina vorgesehen war, aufzuheben, notwendig dazu führten, dem Richter die Befugnis zuzuerkennen, gewisse Strafgesetze nicht anzuwenden. Aber was Thomasius in dieser Beziehung in De Crimine Magiae schreibt, ist nur das Folgende: „Et quamvis probe nobis constet, magistratus intermedios esse exsecutores potestatis sumrnae in re publica, nec posse eos vel leges vel mores receptos corrigere, simul tarnen certi sumus, numquam adfutura esse indicia sufficientia ad inquisitionem, adeoque iudicem inferiorem etiam legibus ipsis, et quae illae de indiciis delictorum disponunt, si concedas denuntiatis defensionem pro avertenda inquisitione, se ac suum procedendi modum defendere
40 Thomas Hobbes , Leviathan (Everyman's Library) London 1957, XXVIl, 156; XXVIIl, 165 - 166; Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium libri octo, Francofurti et Lipsiae 1759, Liber VII, Caput Ill , § 7. 41 Wilfried Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen, Berlin 1967, 37, 38 und 42.
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posse". 42 In der Tat, wenn wir diese Stelle analysieren, bemerken wir, daß Thomasius erstens die untergeordnete Stellung des Richters gegenüber dem Gesetzgeber behauptet; gleich danach lädt er die Richter ein, nie die angeblichen Hexen und Zauberer zu verurteilen, weil es nie ausreichende Anzeichen entweder zur Untersuchung oder zur Verurteilung geben wird. Thomasius erkennt keine Befugnis zur Rechtsschöpfung auf Seiten des Richters an; aber gleichzeitig zeigt er, daß der Richter nie imstande ist, eine Person wegen Zauberei zu verdammen, weil dieses" Verbrechen" , obwohl es die geltenden Gesetze verpönen, schlechthin nicht existiert. Solcherart ist die Stellung Thomasius', der eigentlich das Problem des Richters gegenüber dem Gesetze entweder nicht oder nur am Rande behandelt, und dem nur das Hauptziel der Nichtbestrafung der Zauberei am Herzen liegt. Im Gegenteil, es war Rommel, der, um das Ziel der Nichtanwendung der Strafgesetze gegen die Zauberei zu erreichen, bewußt die These vertrat, daß der Richter die Befugnis habe, die unmenschlichen Gesetze zu umschiffen. In seiner Schrift Principis Cura Leges sagt Rommel: "Interdum licebit ab insolentibus nec tempori convenientibus legibus, ac se tueri iuris notissirni regula, tanquam generali legum ineptarum abrogatione, qua cessante legis causa, ipsa lex cessare dicitur" .43 In der Observatio 439 seiner Rhapsodia Quaestionum in foro quotidie obvenientium schreibt Rommel noch ausdrücklicher: "Nempe haec salva recti conscientia non possunt impia, secundum inconvenientes tempori, nec tarnen abrogatae leges, responsa dare et sceleratas sententias effutire. ltane enim adhuc hodie sagas, quae nefandas cum daemone societates inire putantur, vivas concremabimus? Cremandae autem sunt, nisi a legibus quae talem poenam irrogant, neque tarnen ullibi sublatis, recedamus"; und kurz später erwähnt er Christian Thomasius, der „hunc errorem [die Existenz des Verbrechens der Zauberei) oculis omnium deridendum exposuit, qui etiam haeresin delictorum numero exernit".44 In der vierten Übersetzung des Buches Beccarias von 1778 sind zwei wichtige Fußnoten von Rommel vorhanden, die Beccarias Ideen über die Auslegung der Gesetze betreffen. Zu der Stelle, wo Beccaria von der „necessita di un magistrato, le cui sentenze sieno inappellabili, e consistano in mere asserzioni o negative di fatti particolari" 45 spricht, merkt Rommel an: „Hierwider findet man triftige Zweifel in meiner Rhapsodie Obs. 439, wo ich zeige, daß ein Richter mit gutem Gewissen abgeschmackte Gesetze zu umschiffen bemüht sein kann, und die Hexen nicht verbrennen soll, wenngleich das Gesetz, das es anbefiehlt, noch bis zu dieser Stunde nicht abgeschafft ist. "46 Zu der Stelle, wo Beccaria sehr entschieden sagt: „Nemmeno l'autorita d'interpretare le leggi penali puo risie-
Christian Tbomasius, De Crimine Magiae, Halle 1701, § LVI, 723. Karl Ferdinand Hom.mel, Principis Cura Leges, Lipsiae 1765, Caput II, 6. 44 Karl Ferdinand Hom.mel, Rbapsodia Quaestionum in foro quotidie obvenientium neque tarnen legibus decisarum, Bayreuth 1769, Observatio 439, 697-698. 45 Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene (wie Anm. 18), 169. 46 Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (wie Anm. 1), Anmerkung b), 41. 42
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dere presso i giudici criminali, per la stessa ragione ehe non sono legislatori"47, erwidert Rommel: „Er hätte dieses nur von der Auslegung, die die Strafgesetze erweitern will, nicht aber von der, die sie einzuschränken sucht, sagen sollen. Siehe vorige Anmerkung" .48 Wie aus den zitierten Stellen hervorgeht, begünstigt Hommel ein freies Ermessen des Richters; er schreibt ihm mit anderen Worten die Befugnis zu, die Strafgesetze unter gewissen Umständen „zu umschiffen" bzw. nicht anzuwenden. Aber - dies zeigt die zuletzt erwähnte Stelle - diese Freiheit der richterlichen Auslegung, die Rommel behauptet, betrifft lediglich die Möglichkeit, die Reichweite des Strafgesetzes einzuschränken oder ein Strafgesetz nur „in favorem rei" auszulegen. Gerade auf diesen Punkt der Hommelschen Theorie zielt die Kritik von J. E. F. Schall, die er in seinem 1779 veröffentlichten Buch Von Verbrechen und Strafen. Eine Nachlese und Berichtigung zu dem Buche des Markese Beccaria eben dieses Inhalts entwickelt. Eigentlich stimmt auch Schall nicht mit Beccaria überein, da er diesem vorwirft, nicht zu wissen, „daß eben die Gesetze, die dem Richter eine gewisse Auslegung verstatten, nicht nur diese Befugniss sehr einschränken, sondern auch seine Auslegung selbst durch die ihm vorgeschriebenen Auslegungsregeln im Voraus bestimmt haben" 49 • Er kritisiert besonders die letzt erwähnte Fußnote Rommels zu Beccaria: Schall nimmt die Rommelsche Unterscheidung auf, wenn er einwendet, daß die Rechtmäßigkeit der Auslegung des Richters nur darauf beruht, „ob 1) seine Auslegung ein wirklich dunkles oder zweideutiges Gesetz betrifft, und 2) ob sie analogisch richtig ist; und wenn sie diese beiden Erfordernisse aufweisen kann, so ist sie [... ] rechtmässig, sie mag erweiternd oder einschränkend seyn" 50 • Außerdem, sagt Schall, hat Rommel „ganz etwas anders vor Augen [ . ..] als dasjenige, wovon der Markese spricht: denn die oben angeführte Anmerkung verweiset am Ende den Leser auf eine gewisse Observation der Rhapsodie, in welcher von einer ganz andern Befugniss des Richters die Rede ist, als derjenigen der blossen Auslegung. Herr Rommel nennt solche die Befugniss, gewisse Gesetze zu umschiffen". Nach Schalls Meinung soll „diese Befugniss [ . . .] darinn bestehen, auf gewisse, obgleich nicht ausdrücklich abgeschaffte Gesetze gar nicht zu achten, sondern sie als nicht vorhanden anzusehen. Insofern diese Befugniss blos von solchen Gesetzen verstanden wird, die als stillschweigend aufgehoben angesehen werden können, ist sie ohnstreitig gegründet, aber auch nichts weiter als was schon in den Compendien des positiven bürgerlichen Rechts bey der Lehre de longa consuetudine gelehrt wird" . Die Befugnis aber, die Hommel dem Richter zuschreiben will, könnte nach Schall „gar leicht die allereigenmächtigsten und willkührlichsten Entscheidungen zuziehen" 51• Schall tadelt Rommel , weil dieser ein unzutreffendes Bei-
47 Cesare Beccaria, Dei delitti e deUe pene (wie Anm. 18), IV , 170. 48 Karl Fe.rdinand Bommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (wie Anm. 1), Anmerkung i), 42. 49 Johann Eberhard Schall, Von Verbrechen und Strafen. Eine Nachlese und Berichtigung zu dem Buche des Markese Beccaria eben dieses Inhalts, Leipzig 1779, 23 [Fußnote].
50 SI
Ebd„ 196-197. Ebd„ 198-199.
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spiel, dasjenige der Strafgesetze gegen die Hexen, gewählt hat: "Denn bey diesem [Beispiel) fällt es zu sehr in die Sinne, dass diese Gesetze zu den stillschweigend aufgehobenen gehören; und dass wir also wider diese Gesetze gar keiner neuen richterlichen Befugniss bedürfen". Zum Schluß sagt Schall: "Aber die Härte der Gesetze zu beurtheilen, oder auch die vermeintlich harten Gesetze zu umschiffen, müssen wir den Gerichten ja nicht erlauben, wenn wir uns nicht der Gefahr eines willkührlichen Rechts aussitzen wollen. " 52 Insgesamt ist die Stellung Schalls gegenüber diesem Problem diejenige eines gemäßigten und zugleich traditionellen Juristen. Einerseits erkennt er, im Gegensatz zu Beccaria, dem Richter die Befugnis zu, die Strafgesetze auszulegen; andererseits spricht er, im Gegensatz zu Hommel, dem Richter die Befugnis ab, die Strafgesetze zu umschiffen oder gemäß den Prinzipien einer menschenfreundlichen Philosophie zu mildern. 53 Der Punkt, der den echten Sinn der Schallsehen Stellung aufklärt, ist nach meiner Meinung die Stelle, wo Schall darlegt, daß die Entscheidung, ob die richterliche Befugnis zur Auslegung rechtmäßig ist, nicht von der Tatsache abhängt, ob diese Auslegung erweiternd oder einschränkend ist. Im Gegenteil, hier liegt das Eigentümliche der Hommelschen Auffassung; diese ist nicht theoretisch-wissenschaftlicher Natur, wie diejenige Schalls. Hommels Idee der Auslegung der Gesetze hat primär eine politisch-reformatorische Bedeutung, da ihm vor allem die Möglichkeit der Abschaffung der unmenschlichen Strafgesetze, wie derjenigen gegen die Hexen, am Herzen liegt. Aufgrund dessen findet das aufklärerische Erfordernis der Reform des bestehenden Strafrechts nach Hommel seine erste Aufgabe auf der gerichtlichen Ebene, wenn die Aussichten einer gesetzgeberischen Reform noch zu weit entfernt liegen. Hommel will also nicht die Rechtssicherheit mindern oder dem Richter ein allgemein freies Ermessen zuschreiben. Das Ermessen, das er dem Richter zuerkennt, gilt nur zugunsten des Angeklagten; schon in seiner Jugendschrift De legum civilium et naturalium natura von 1743 hatte er geschrieben: „lnterpretatione enim legum molliendae sunt potius quam asperandae", da es besser ist, "impunitum facinus nocentis relinquere, quam innocentem damnare" 54 • Im übrigen hat auch Hommel hervorgehoben, daß das Recht zu strafen der souveränen Gewalt obliegt und auf der Grundlage eines Gesetzes beruht; die Anwesenheit des Strafgesetzes als Grund und Grenze der Strafgewalt und selbstver-
s2 Ebd., 200-201. Eine solche Kritik wird später wiederaufgenommen und noch schärfer geprägt von Paul Johann Anseltn Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Bd. 1, Erfurt 1799, Neudruck Aalen 1966, 206 (Fußnote]: .Hommel schämt sich nicht dies gerade zu sagen und aus einer abscheulichen Philosophie den Ric-htem zu rathen die Gesetze für aufgehoben zu achten und (doch unter dem Schein der Gesetzmässigkeit) nach dem Geiste des philosophischen Jahrhunderts ihr Urtbeil zu sprechen" . SJ S. darüber Madeleine van Bellen-Finster, Die Rezeption Cesare Beccarias (wie Anm. !), 208: .Bei all dem zeigt sich sehr deutlich, daß Schall keine strafrechtsphilosophischen Prinzipien und strafrecbtspolitiscben Ziele im Namen der Aufklärung zu verwirklichen anstrebt, sondern an juristischen Einzelfragen, an der alltäglichen Jurisprudenz, wie es Hommel bezeichnete, interessiert ist." S4 Karl Ferdinand Hommcl, Disscrtatio iuridica de lcgum civilium et naturalium natura, Lipsiae 1743, § XXXITI, XXII.
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ständlich auch des Strafgerichts tritt in seinem Denken klar hervor. Als er in den Philosophischen Gedanken über das Criminalrecht die natürlichen traurigen Folgen einer Tat von der wahren juristischen Strafe. unterscheidet, schreibt er: „Man muss traurige Erfolge und Strafen nicht vermengen. Strafen kann niemand, als der Obere und zwar nach einem Geseze [meine Hervorhebung]. " 55 Um die Grenzen der Hommelschen Stellung noch besser auszuleuchten, könnte man noch eine Stelle seines strengsten Kritikers, Anselm Feuerbachs, erwähnen; nachdem er behauptet hat: „Blos aus den positiven Gesetzen kann daher der Richter die Handlungen, welche vor das Strafgericht gehören, erkennen [„.]", fragt er in einer Fußnote: „Also müsste es auch wohl ein Verbrechen der Zauberei geben? also müsste auch noch dieses in dem Criminalrecht eine Stelle einnehmen? Ich antworte, nein; und bin darum nicht unconsequent. Die Gesetze gegen die Zauberei müssen doch annehmen, dass das corpus delicti diesem Verbrechen ausgemacht seyn müsse, wenn das Gesetz angewendet werden soll, denn ohne die gewisse Existenz der Voraussetzung findet auch nicht die rechtliche Folge statt. Da es nun aber gewiss ist, dass das corpus delicti hier niemals zur Gewissheit kommen könne, so ist es auch gewiss, dass das Gesetz nie werde in Anwendung kommen und aus dieser Ursache dürfen und müssen wir denn auch dem veralteten crimen magiae den Eingang in ein geläutertes Criminalrecht verschliessen" .56 Die Anspielung auf das crimen magiae zeigt die klare Beziehung dieser Stelle auf die Thesen Rommels; obwohl Peuerbach einerseits stets die Bindung des Richters an das Strafgesetz behauptet und Hommels Idee einer „Umschiffung" der Strafgesetze streng kritisiert, sagt er andererseits, daß im Falle der Zauberei der Mangel eines corpus delicti jegliche Möglichkeit einer Bestrafung ausschließt. Sogar Feuerbach behauptet also, daß ein Strafgesetz, welches ein angebliches Verbrechen verbietet, das nicht sichtbar existiert, nicht angewendet werden darf. Dieselbe Position vertreten Thomasius und Hommel. Die erwähnte Stelle Feuerbachs zeigt mittelbar, daß auch Hommel dem Richter nicht ein freies Ermessen an sich zuschreiben, sondern vor allem die Nichtbestrafung des sogenannten Verbrechens der Zauberei erreichen wollte. Das Problem der Auslegung der Gesetze ist der erste Punkt der Auseinandersetzung der deutschen strafrechtlichen Aufklärung mit Beccaria; der zweite Punkt betrifft, wie man leicht einsehen kann, die Todesstrafe. Hommel nimmt Beccarias Ablehnung der Todesstrafe nicht an. In der Vorrede zur Übersetzung des Werkes Beccarias schreibt er: „Das Bedenklichste im ganzen Werke des Beccaria ist wohl vermutlich dieses, dass er die Todesstrafe gänzlich abgeraten hat. Eine ganze Herde von Schriftstellern hat ihn darüber angeschnattert. Hätte er aber nicht wenigstens den vorsätzlichen Mord ausnehmen und des Spruches gedenken sollen. Wer Menschenblut vergiesst, dessen Blut wird wieder vergossen werden! Selbst habe ich noch immer einen starken Hang, wenigstens den Totschlag,
55 Karl Ferdinand Hommel, Philosophische Gedanken über das Criminalrecht, Breslau 1784, § 45, 85. S6 Paul Johann Anselm Peuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegrüfe des positiven peinlichen Rechts, Il, Chemnitz 1800, 14 - 15.
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(nämlich den meuchelmörderischen und vorsätzlichen, nicht den, welcher aus Jähheit des Zorns entstanden) mit dem Schwerte zu belegen. "S7 Dann, in bezug auf die Stelle, wo Beccaria schreibt, daß die Strafe für den mit Gewalttätigkeit verknüpften Diebstahl "un misto di corporale e di servile"58, sein soll , merkt Homrnel an: „Nein, auf den Diebstahl, der mit Gewalt verknüpft ist, muss Todesstrafe stehen, wenn auch noch niemand getötet worden wäre. Denn wer mit dem Gewehr zum Stehlen geht, hat die Absicht denjenigen, der sich ihm widersetzt, zu verwunden und folglich zu töten. Von ihm hat also das gemeine Wesen das Äusserste zu besorgen. " 59 Das Merkwürdige ist, daß der oben erwähnte Schall - der eigentlich, wie gesagt, keinen großen Beitrag zur Reform des Strafrechts wie Hommel geleistet hat - hier Hommel von einem Standpunkt kritisiert, der näher an demjenigen Beccarias ist; erstens kann der Dieb mit Gewehr nur die Absicht haben zu schrecken; zweitens ist es „nöthig, mit der Todesstrafe wohl zu ökonomisieren, sie so selten als möglich zu gebrauchen". Drittens kann der Mord in diesem Falle „ein Mittel seyn [ ... ] entweder das Verbrechen desto sicherer zu vollbringen, oder doch nach vollbrachter That es zu verheimlichen[.. .] Wider alle diese einen Mord dräuende Umstände hat der Gesetzgeber, zur Abschreckung des Diebes vom Morde, nichts, als die Furcht einer härteren Strafe; und wenn diese also, wie durch den Gebrauch der Todesstrafen in diesen Fällen geschieht, hinwegfällt, so ist nichts wahrscheinlicher, als dass der Dieb mit Gewehr zugleich mordet, weil für ihn bei dem Morde nichts weiter zu verlieren, wohl aber zu gewinnen ist" 60 • Hier entwickelt Schall dieselbe Schlußfolgerung, welche schon Montesquieu und Beccaria gezogen hatten. 6 1 Diese Tatsache schließt jedoch nicht aus, daß Schall keineswegs ein Gegner, sondern ein Befürworter der Todesstrafe im allgemeinen ist; er widmet einen großen Teil seines Werkes dem Versuch einer Widerlegung der Gründe von Beccaria, Sonnenfels, Barkhausen gegen die Todesstrafe62 und schreibt, daß die Todesstrafe „das kräftigste Mittel in der Natur, die Menschen von Verbrechen zurückzuhalten, und den Staat gegen ähnliche Eingriffe des Verbrechens zu sichern" ist: "sie ist die einzig allgemein wirksame und sichere Strafe. "63 Es mag nun erlaubt sein, um die Erörterung dieses Problems zu ergänzen, noch kurz auf einen Schriftsteller hinzuweisen, der sich kaum mit dem Strafrecht befaßt und doch einige Bemerkungen gegen Beccarias Thesen über die Todesstrafe geäu-
57 Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (wie Anm. !), Vorrede, 11. S8 Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene , (wie Anm. 18), XXX, 331. S9 Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (wie Anm. 1), Anmerkung o), 99. 60 Johann Ferdinand Schall, Von Verbrechen und Strafen (wie Anm . 49), 192-194. 61 Montesquieu, Esprit des Lois, Vl, Garnier, Paris 161949, 98: ~En Moscovie, ou la peine des voleurs et celle des assassins sont les m~mes, on assassine toujours. Les morts, y dit-on, ne racontent rien"; C . Beccaria, Dei delitti e delle pene (wie Anm. 18). XXII, 298 ff. 62 Johann Eberhard Friedrich Schall, Von Verbrechen und Strafen (wie Anm. 49), 101-190. 63 Ebd., 67-68.
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ßert bat: Ich meine Moses Mendelssohn, den großen Vertreter der deutschjüdischen Aufklärung, der in zwei Anhängen zu seinem großen und berühmten Werk Phädon schreibt: „Ich setze dabey zum voraus, dass die Todesstrafen in gewissen Fällen Rechtens sind. Nun scheinet aber der Marquis Beccaria in seiner Abhandlung von den Verbrechen und Strafen diesen Satz in Zweifel zu ziehen. Da dieser Weltweise der Meynung ist, daß sich das Recht zu strafen einzig und allein auf den gesellschaftlichen Vertrag gründe, woraus denn die Unrechtmäßigkeit der Todesstrafen freilich folget ; so habe ich die Meynung selbst, in dieser zwoten Auflage, in einer Anmerkung zu widerlegen versucht. [... ] Ueberhaupt ist wohl der Satz nicht in Zweifel zu ziehen, daß alle Verträge in der Welt kein neues Recht erzeugen; sondern unvollkommene Rechte in vollkommene verwandeln. Wenn also die Befugniß zu strafen nicht in dem Rechte der Natur gegründet wäre; so könnte solches durch keinen Vertrag hervorgebracht werden. Gesetzt aber, das Recht zu strafen sey, ohne Vertrag, ein unvollkommenes Recht, wiewohl ich dieses für ungereimt halte; so verlieret mein Beweis dennoch nichts von seiner Bindigkeit, denn vor dem Richterstuhle des Gewissens sind die unvollkommenen Rechte eben so kräftig, die unvollkommenen Pflichten eben so verbindlich, als die vollkommenen. Ein unvollkommenes Recht, jemanden am Leben zu strafen, setzet wenigstens eine unvollkommene Obliegenheit voraus, diese Strafe zu leiden. Diese Obliegenheit wäre aber ungereimt, wenn unsere Seele nicht unsterblich wäre, wie an seinem Orte weitläufiger ausgeführt worden. " 64 Einige Bemerkungen aus diesem Stücke sind bedeutungsvoll und dürfen hervorgehoben werden: zuerst Mendelssohns Ablehnung der Begründung des Rechts zu strafen durch den gesellschaftlichen Vertrag; hier zeigt er sich seinem gründlichen Platonismus treu , insofern er den juristischen Einrichtungen eine absolute und ideelle von menschlichem Übereinkommen unabhängige Grundlage zu geben sucht. Dagegen könnte man jedoch einwenden, daß der gesellschaftliche Vertrag in Beccarias Denken nicht als eine empirische und historische Tat, sondern als eine ideelle und rationelle Grundlage betrachtet werden soll. Deswegen ist es Beccarias Hauptidee, daß das Recht auf das eigene Leben kein verfügbares Recht ist, das der Gesellschaft und dem Staat übertragen werden kann. So beruht auch Beccarias Begründung des Strafrechts auf einem ideellen Prinzip und nicht auf einem menschlichen Übereinkommen. Bemerkenswert ist zweitens die Idee Mendelssohns, daß der Vertrag keine neue Begründung eines Rechts geben, sondern nur eine Umwandlung eines unvollkommenen Rechts in ein vollkommenes verursachen kann, und gleichzeitig seine Meinung, daß auch ein unvollkommenes Recht eine unvollkommene Obliegenheit vor dem Gewissen voraussetzt. Der wichtigste Punkt der Mendelssohnschen Erörterung liegt jedoch in dem letzten Satz: „Diese Obliegenheit [die Todesstrafe zu erleiden] wäre aber ungereimt, wenn unsere Seele nicht unsterblich wäre" .65 Was hier bemerkenswert ist, ist seine Verknüpfung einer strafrechtlichen Theorie mit einem metaphysischen und
64 Moses Mendelssohn, Pbädon oder über die Unsterblichkeit der Seele, bg. von Dominique Bourel, Hamburg 1979, Anhang zur zweiten Auflage 1768, 139- 140. 6S Ebd.
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religiösen Prinzip. Es mag eigentlich bedauert werden, daß ein so edler und so tief religiöser Mann wie Moses Mendelssohn nicht gewahr wurde, daß der Staat kein Recht hat, ein menschliches Leben zu vernichten. Immerhin bedeutet sein vernünftiger Glaube eine ideelle Grenze bezüglich der Theorie der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe und der daran geknüpften Obliegenheit, sie zu leiden. Nur die metaphysische Voraussetzung der Fortsetzung des menschlichen Wesens in einem zukünftigen Leben ist imstande, die Theorie der Rechtmäßigkeit der Todesstrafe so zu prägen, daß sie weniger finster und grausam wird. Die Darlegung Mendelssohns, obwohl an sich nicht richtig und nicht überzeugend, beruht auf einem metaphysischen Prinzip, das erlaubt, noch eine Art von menschlicher Hoffnung gegenüber der Todesstrafe beizubehalten. Bisher habe ich nur die Auseinandersetzung der deutschen Aufklärung, besonders Rommels, mit Beccaria hervorgehoben und auf die Gegensätze hingew~e sen. Aber die strafrechtliche Aufklärung in Deutschland wurde auch von der Theorie Beccarias beeinflußt, und Hommel, als hervorragende Gestalt der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung in Deutschland, wurde mit Recht „der deutsche Beccaria" genannt66. Wenn Thomasius der Bahnbrecher, der Vorbereiter der strafrechtlichen Aufklärung in Deutschland war, war Hommel ihr wichtigster Vertreter in der späteren Periode, als es dieser Bewegung gelang, einige Ergebnisse zu erreichen und einige Reformen zu verwirklichen. Das Verhältnis zu Beccaria war für die Entwicklung des Hommelschen Denkens entscheidend. Schon vor seiner Kenntnis des Werkes Beccarias hatte er in der lateinischen Rede Principis Cura Leges die Notwendigkeit der Milderung der Strafen hervorgehoben. In diesem Werk verteidigte Hommel zum ersten Mal die Idee, die schon bei Montesquieu und anderen Denkern der europäischen Aufklärung vorhanden war, daß nicht die Strenge der Strafen, sondern die Vernichtung der verbrecherischen Wurzel die Verbrechen vermeiden kann: „Neque enim poenarum capitalium atrocitas, sed potius radicitus excisa a prima origine sua peccandi occasio homines a criminibus avocat („ .) Nullo, credite mihi, laqueo nec cruce opus, si habeant pauperiores unde vitam sustentare possint". 67 Kurz darauf schreibt Hommel noch: „Parum prodesse capitales poenas, sed primam mall originem corrigi debere". 68 Später vertritt Rommel die Idee der Strafe als Besserung und lehnt das Gefängnis als Strafe ab: „Cui bono enim poena, quae neminem emendat?" Er verwirft die Gefängnisse, „qui desidiosos efficiunt homines et per illud tempus saltim, quo includuntur, reipublicae plane inutiles [.„] Corrumpit carcer mores, non emendat; vinciuntur manus, quae laborare poterant; subtrahitur, ad tempus saltim, reipu. blicae operarius"69. Andere Strafen sollten dem Gefängnis vorgezogen werden: „Unde ad triremes, ad opus publicum, ad metalla, ad alios leviores labores rectius damnantur. " 70 66 Diese Benennung stammt aus Georg Wilhelm Böhmer, Handbuch (wie Anm. !). 67
Karl Ferdinand Hommel , Principis Cura Leges, Lipsiae 1765, Caput VII, 20.
68 Ebd., 21.
69 10
Ebd., 23-24. Ebd. , 24.
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In seiner Vorrede zur Übersetzung des Buches Beccarias erzählt Hommel, wie seine Begegnung mit dem Werk des italienischen Denkers stattfand. Als er seine Rede Principis Cura Leges am 30. April 1765 hielt, die eine „feierliche Disputation" in Anwesenheit „des damals minderjährigen und nun glorwürdigst regierenden Kurfürsten von Sachsen" Friedrich Augustus gewesen war, wurde jene mit geringerem Beifall empfangen, da viele Zuhörer fürchteten, daß eine Milderung der Strafen die öffentliche Sicherheit gefährdet hätte. Hommel bemerkt hierauf: „Der geringe Beifall, den die Rechtsgelehrten diesen damals ungewöhnlichen Lehren beilegten, machte mich kleinmütig, bis kurze Zeit darauf dieses Mißtrauen gegen mich in Zufriedenheit sich verwandelte, als ich in gegenwärtiger Schrift des Herren Marquis von Beccaria sehr vieles von demjenigen, was ich in finsterer Sprache Latiens entworfen hatte, durch der Redekunst Fackeln erleuchtet und in Worte umgeschaffen sah, die nur die En~el reden können. " 71 Hommel las das Buch Beccarias in der zweiten deutschen Ubersetzung von 1766, welche ihrerseits auf der Grundlage der französischen Übersetzung von Morellet angefertigt worden war72 • Das Lesen dieses Buches ermutigte Rommel, dieselben Ideen, die er vor dieser Begegnung behauptet hatte, weiterzuführen; deswegen lud der Verleger Korn aus Breslau Hommel ein, eine Vorrede und Fußnoten zu einer neuen Übersetzung des Werkes Beccarias vorzubereiten. Rommel wollte darauf aufmerksam machen, daß er kein Philosoph, sondern Jurist ist. Der Verleger Korn hatte also zwei verschiedene Temperamente vereinigen wollen, „da Beccaria bloß Philosoph und wenig Jurist, ich aber bloßer Jurist und wenig Philosoph bin. Dessen hohes Genie und meine lange Erfahrung werden sich begatten; just was dem einem fehlt, das besitzt der andere" 73 • Im Buch Philosophische Gedanken über das Criminalrecht, das nach Hommels Tod 1784 von seinem Schwiegersohn Karl Gottlob Rössig veröffentlicht wurde, hat er seine Ideen über die Humanisierung und Milderung der Strafen weiterentwickelt. Hier unterstreicht er zuerst die Wichtigkeit der Philosophie für das Strafrecht: „In allen Arten der Rechtsgelährtheit ist die Philosophie diejenige Wissenschaft, ohne welche der Rechtsgelehrte mit wenigem Glücke arbeitet [... ] Ihr danken wir es in den neuem Zeiten, daß in den positiven Rechten vieles richtiger bestimmt und aufgeklärter ist[ ... ] Dennoch aber ist die Philosophie in keinem Theile der Rechtsgelährtheit nothwendiger, als in dem Rechte, das sich mit Verbrechen und Strafen beschäfftiget. "74 Hommel fordert die Freiheit, die Gesetze zu kritisieren (eine Freiheit, die Kant in demselben Jahre 1784 in der Schrift über die Bedeutung der Aufklärung behauptete75); philosophieren heißt „ Verstand brauchen" : „ Wenn irgendwo ein selbstdenkendes Geschöpf mit Bescheidenheit, daß ein gegebenes Gesez dem gemeinen Wesen nicht zuträglich
71 Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (wie Anm. 1), Vorrede 1-4. S. auch ders., Philosophische Gedanken (wie Anm. 23), § 29, 47. 72 Karl Ferdinand Hommel, Vorrede, 4. Ders., Philosophische Gedanken, § 30, 48-49. S. darüber Adam Wandruszka, Beccaria e la Germania, in: Atti del Convegno intemazionale su Cesare Beccaria, Torino 1966, 299. 73 Karl Ferdinand Hommel, Vorrede, 4 und 24. 74 Ders., Phi losophiscbe Gedanken, § 1, 3-4.
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sey, erinnert; jedoch seine Meynung , wie er thun muss, der Majestät unterwirft und unterdessen selbst gegen die gegebenen Geseze nicht handelt, sondern sie beobachtet und fürchtet , so soll man einen solchen Freywilligen, der mit leisen Schritten nicht ohne Gefahr, gleichsam auf der Zehen herbey kommt, keineswegs abweisen, sondern wenigstens dessen guten Willen belohnen, gesetzt auch, daß seine Vorschläge nicht annehmlich scheinen. " 76 In dieser Schrift unterstreicht Rommel seine Übereinstimmung mit Beccaria, insofern dieser „wider die Grausamkeit" eifert und „absonderlich die allzuhäufigen Lebensstrafen" verwirft: „Dieses ist meine Meynung schon vorher gewesen" , fügt er hinzu 77 • Dann erklärt Rommel seinen Abscheu vor dem Schauspiel der allzu vielen Galgen auf den Straßen: „Wie können doch die Großen der Erde auf den Landstrassen, welche sie selbst befahren, die Scheusale des Galgens, des Rades und der zerfleischten Gerippe erdulden? Warlich ein schöner Putz eines Landes[ ...] Wir [ .. . ]putzen unsere Strassen mit Galgen und Rade, gleichsam als wollten wir den fremden Wandrer zeigen, in welchem Lande er wäre. Man findet auf den Strassen mehr Scheusale des Schreckens, als Obstbäume[ ... ] Je mehr man Leute an den Galgen hängen siehet, desto größer ist des Landes Elend, denn es stiehlt niemand, der nicht muß. Ey denket der Reisende, was muß es hier nicht Armuth, was muß es nicht für eine schlechte Regierung geben. Hier denket er, mögen wohl die Minister nicht Philosophen seyn. " 78 Am Ende dieses Werkes bezeichnet Hommel Milde und Mitleiden als Merkmale des gerechten Gesetzgebers und Richters: „Ein Gesezgeber und Richter muß insonderheit hüten, dass nicht etwa seine Geseze und Urtheil nach Rache schmecken. "79 Und seine letzte Ermahnung an die Richter klingt folgendermaßen: „Haltet euch ja nicht etwa deswegen für Weise, weil ihr auf Universitäten ein Inquisition nach Carpzovischer Methode zu führen gelernet, sondern glaubet, daß einige eurer Lehrer wohl noch Ursache gehabt haben möchten, den Beccaria zu hören, diesen Weisen, diesen Sokrates unserer Zeit, dem die künftige Welt Bildsäulen setzen, und aus Dankbarkeit Altäre bauen wird. " 80 Wenn Rommel als der „deutsche Beccaria" bezeichnet wurde, wurde Joseph von Sonnenfels der „deutsche Montesquieu" genannt81 • Sonnenfels, ein zum Katholizismus bekehrter Jude aus Berlin mag als der größte Vertreter der österreichischen Aufklärung, insbesondere der aufklärerischen Rechtsphilosophie, betrachtet werden. 1765 hatte Sonnenfels seine Grundsiitze der Polizey, Hand-
1s Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Auflclärung? [1784], in: Jürgen Zebbe (Hg.) , Immanuel Kant, Was ist Auflclärung? Aufsätze zur Geschichte und Philosophie, Göttingen 1967, 61 : . daß selbst in Ansehung seiner [des Staatsoberhaupts] Gesetzgebung es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft (Jjfentlichen Gebrauch zu machen, und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben , sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich vorzulegen" . 76 Karl Ferdinand Honunel, Philosophische Gedanken (wie Anm . 23), § 33, 35. 11 Ebd. , § 50, 100. 78 Ebd., § 52, 103-104. 79 Ebd., § 87, 166. 80 Ebd., § 88, 168-169. 81 Auch diese Benennung stammt aus Georg Wilhelm Böhmer, Handbuch (wie Anm. !).
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Lung und Finanzwissenschaft veröffentlicht, in denen er Todesstrafe und Tortur bekämpft hatte. In diesem Werk schreibt er, daß wir einen Fehler begehen, indem wir „uns an die Stelle der Verbrecher" setzen und „die Furcht des Todes, als den wirksamsten abhaltenden Beweggrund ansehen"; dagegen ist der Tod für den Bösewicht nicht das größte Übel: „Wie schwach der Eindruck des Todes auf Bösewichte wirke, läßt sich daraus abnehmen, daß nicht selten unter der Vollstreckung der Urtheile selbst, Diebstähle begangen werden. Man kann auch die Martern, welche die Gesetze bey gewissen Verbrechen vor dem Tode hergehen lassen, als einen Beweis des Mistrauens ansehen, das sie in den Eindruck des Todes gesetzt haben. " 82 Im Gegenteil: „Die Arbeit ist daher in den Augen des Verbrechers ein größeres Uebel, als der Tod selbst [„ .] das Beyspiel einer lebenslangen, schweren Arbeit, die Verlängerung eines mühsamen, qualvollen Lebens wird mächtiger, und die Art der Strafe für das gesamte Wohl der Gesellschaft nützlicher seyn. " 83 Gegen die Tortur schreibt Sonnenfels: „Die Untersuchung hat zu ihrem Endzwecke nicht allein, den Untersuchten des Verbrechens zu überführen, sondern auch ihm Gelegenheit anzubieten, seine Unschuld dazuthun. Eben, weil die Untersuchung noch erst nothwendig ist, ist es deutlich, daß es zweifelhaft sey , ob der Untersuchte ein Uebel der Handlung begangen habe? und so lange kann die Gerechtigkeit gegen ihn kein Uebel der Empfindung verhängen, welches erst die Folge des Verbrechens, das ist, die Strafe seyn soll. Die gewaltsame peinliche Frage der Folter scheint also wider den besseren Endzweck der Gerechtigkeit sich in das Criminalverfahren eingedrungen zu haben: besonders, da dieses entsetzliche Verfahren nicht einmal ein zuverlässiges Mittel ist, die Gewissheit eines Verbrechens zu bestättigen". 84 Wegen seiner Stellungnahme in dieser Sache hatte Sonnenfels Schwierigkeiten mit der Kaiserin Maria Theresia, die ihm verbot, sich in Zukunft mit der Tortur und der Todesstrafe zu befassen. In einer Anrede an die Kaiserin hob Sonnenfels - wie früher Hommel und später Kant - die Idee der Vereinbarkeit der Pflicht des Gehorsams den Gesetzen gegenüber mit der Freiheit, die Gesetze zu kritisieren, hervor: „diese Folgsamkeit [gegen die Gesetze] streitet gänzlich nicht mit der Freiheit einer ehrbietigen Vorstellung, zu welcher ich mich vor dem Throne Euerer Majestät durch mehr als einen Beweggrund berechtigt glaube"ss. Da die Kaiserin die Argumente von Sonnenfels günstig aufnahm und ihn aufforderte, seine Ideen ausführlicher zu entwickeln, entstand die Schrift Ueber die Abschaffung der Tortur, die Sonnenfels 1775 in Zürich bei dem Verleger J. F. Füssli veröffentlichte. In dieser Schrift unterstreicht Sonnenfels, nachdem er die Folter als eine „endzwecklose Grausarnkeit" 86 bezeichnet hat, die Tatsache, daß die angeblichen
s2 Joseph von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung und Finanz, Wien 1765, § 350, 394 -396. 83 Ebd. , § 351 , 396. 84 Ebd „ § 81 , 80- 81. 85 Joseph von Sonnenfels, Ueber die Abschaffung der Tortur, Zürich 1775, Anrede an Maria Theresia, 92. 86 Ebd„ § 4, 20.
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Ergebnisse der Tortur nur die Wirkung des Zwanges sind: „Was durch Zwang geschieht, geschieht durch eine überwältigende Macht, der unmöglich widerstanden werden kann [.„] Das auf der Marterbank abgelegte Geständniss ist demnach ein Geständniss, das der untersuchte Schwächling hat ablegen müssen[ .. .] die Straffe ist nicht die Folge des erwiesenen Lasters, sondern der Schwachheit des Gefolterten. Gleichwie aus demselben Grunde die Lossprechung nicht als die Folge der erwiesenen Unschuld, sondern der stärkeren Sehnen und einer größem Entschlossenheit betrachtet werden kann. " 87 So nimmt Sonnenfels das Argument wieder auf, das schon Thomasius und Beccaria und andere wichtige Denker vor ihnen dargestellt hatten, daß nämlich das sichere Ergebnis der Folter die Verdammung des schwachen Unschuldigen und der Freispruch des starken Verbrechers ist. Sonnenfels erinnert an die Namen der unschuldig Hingerichteten, deren „Seufzer [... ] in ihrem Blut erstickt sind", an die berühmten Namen von Menschen, für deren Rehabilitierung besonders Voltaire gekämpft hatte: „Die Namen der de la Barre, der Calas sind nicht mehr National, nicht mehr Namen einzelner Menschen, sie sind gemeinschaftliche Namen der bestrafften Unschuld. " 88 Dann erwähnt er die Argumente von berühmten Schriftstellern, unter anderem von Grotius, Montesquieu, Beccaria, Blackstone, Friedrich von Preussen, die die Tortur bekämpft hatten89; um diesen letzten Namen zu erwähnen, mußte Sonnenfels einigen Mut zeigen, da Friedrich der Feind Maria Theresias war. Schließlich erklärt er: „Daß die Folter aus dem Rechtsverfahren gänzlich zu verweisen sey. "90 Im zweiten Teil seines Werks erörtert Sonnenfels die Frage, ob die Folter in einigen Fällen beibehalten werden könne. Er akzeptiert nicht, daß sie bei außerordentlich schweren Verbrechen beibehalten werden solle, denn: „Die Ursachen gegen die Folter sind nicht aus dem Wesen der Uebelthaten hergeholt, sondern aus dem Wesen des Zwangs[ . . .] Die Größe des Lasters, und seine Abscheulichkeit kann den Thäter, wenn er immer ist, strafwürdiger machen; aber sie ändert die Natur der Zwangsstrafe nicht, welche die Richter verführen kann, jemanden für den Thäter zu halten, der es wirklich nicht ist. " 9 1 Nur eine Ausnahme räumt Sonnenfels ein: die Anwendung der Tortur, um die Mitschuldigen eines überführten Angeklagten zu entdecken. Er nimmt ausdrücklich Stellung gegen die Schlußfolgerung Beccarias, nach der , da die Folter kein taugliches Mittel ist, die Wahrheit zu entdecken, sie auch nicht zur Entdeckung der Mitschuldigen beitragen kann. Sonnenfels antwortet, daß, um über den Punkt „Wer sind die Mitverbrecher?" Klarheit zu erlangen, es dem Recht und der Sicherheit gemäß ist, „einen Uebelthäter zu peinigen, der sich zum gutwilligen Geständnisse nicht bequemen will. " Es entspricht dem „Recht, weil er verbunden ist, dem fragenden Richter zu antworten; und ist er gegen diese Verbindlichkeit widerspenstig, so wird er, nicht wegen der Verbrechen anderer, er wird seines StillEbd „ Ebd „ Ebd „ 90 Ebd„ 91 Ebd „
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§ 6, 22 -24. § 8, 35- 36. § 9 , 41 - 45. § 11, SO. §21 , 79.
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schweigens wegen gequält, und eigentlich gestraft, weil dieses Stillschweigen ein neues Verbrechen gegen die gemeinschaftliche Sicherheit ist [... ]"; es ist gemäß der "Sicherheit, denn er kann keinen Unschuldigen in Gefahr bringen: Seine Aussage ist bey einem wohl eingerichteten Halsprocesse nur ein Anzeichen zur Untersuchung, nicht ein Grund zur Verurtheilung [ ... )"92. In dieser Frage bezieht Beccaria eine reinere und klarere Position, weil er die Folter vollkommen ablehnt. Man kann folgern, daß Sonnenfels' Haltung gegenüber der Tortur - obwohl richtig und gut erörtert - nicht vollständig ist, auch wenn er sie nur in demjenigen Falle einräumt, in dem sie über eine Person verhängt wird, deren Schuld schon festgestellt worden ist. Seine Stellung ist jener Voltaires ähnlich, der im Prix de La justice et de l 'humanite schrieb: "J 'oserais croire qu'il n'a ete qu'un seul cas ou Ja torture pariit necessaire; et c'est l'assassinat d'Henri IV , l'ami de notre republique, l' ami de l 'Europe, celui du genre hurnain [...] L'interet de Ja terre etait de connaitre !es complices de Ravaillac" .93 Trotz des Vorhandenseins dieser Ausnahme ist die Sonnenfelssche Schrift über die Tortur sehr wichtig; man kann sagen, daß sie zur Abschaffung der Tortur in Österreich 1776 mächtig beitrug. Im allgemeinen spielt das Werk Sonnenfels' eine erhebliche Rolle in der Auseinandersetzung der deutschen Aufklärung mit Beccaria; in dieser Beziehung mögen Rommel und Sonnenfels wegen ihrer Beiträge zur Humanisierung des Strafrechts richtigerweise gleichgestellt werden.
W. Die Rechtfertigung der Strafe: Abschreckung gegen Vergeltung Die oben erwähnten Stellen der Werke Hommels erhellen deutlich seine Abneigung gegen die Strafe als Rache und seinen Vorzug der Idee der Besserung. Auch in einer Anmerkung zu einer Stelle Beccarias, wo der Mailänder Aufklärer sagt: "ogni pena ehe non derivi dall'assoluta necessita, dice il grande Montesquieu, e tirannica"94, befaßt sich Rommel mit dem Problem des Zwecks der Strafe: "Daß alle Strafen, die dem Verbrecher nicht zur Besserung gereichen, grausam und ungerecht sind, hat schon Grotius (J.B. ac P., li.2 c.20 § 4) gelehrt. Sie sind ungerecht, weil sie des Endzwecks verfehlen, der darin besteht, daß man entweder dem Missetäter seine üble Gewohnheit abgewöhnen, oder das gemeine Wesen vor seinen künftigen Anfällen schützen oder andere dadurch abschrecken will. Widrigenfalls und außerdem sind die Strafen nichts als eitel Rache. Aber die Rache ist unter allen menschlichen Begierden die niederträchtigste und wider die erste Hauptregel des Christentums. Nur amerikanische Wilde zerfleischen
92 Ebd., § 22, 81 - 83. Beccaria hatte darüber gesagt: .Ma se e dimostrato , ehe ella [la tortura) non e un mezzo opponuno per iscuoprire Ja veritll, come potrll ella servire a svelare i compliei, ehe e una delle veritll da seuoprirsi? Quasi ehe l'uomo ehe aceusa se stesso, non aceusi piu facilmente gli altri. E'egli giusto tormentar gli uomini per l'altrui delitto?", Dei delilli e delle pene (wie Anm. 18), xn. 223-224. 93 Voltaire, Prix de la justice et de l'humanite (1777], in: Oeuvres completes de Voltaire, T . VI, Paris 1817, Artikel XXIV , 180. 94 Cesare Becearia, Dei delitti e delle pene, hg . V . Armani , Milano 1987, n. 11.
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ihre Gefangenen. Wer härtere Strafen auf die Verbrechen setzet, als es die Not erfordert, der mordet" 95 . Die jetzt erwähnte ist eine lehrreiche Stelle; in den Vordergrund tritt die Idee der Besserung, welche Hommel schon in der Principis Cura Leges hervorgehoben hatte. Jede Strafe, die nicht zur Besserung gereicht, ist grausam und ungerecht. Die Besserung erscheint also nach ihm als der Hauptzweck der Strafe. Gleichzeitig aber vertritt er auch die anderen drei Zwecke der Strafe, die Grotius als Spezialprävention, soziale Verteidigung und Abschreckung der anderen bezeichnete. 96 Die Rache (als die Grundlage der Vergeltung betrachtet) wird von Hommel einerseits entschieden abgelehnt. Andererseits aber hat Hom.mel keine ausführliche und vollständige Erörterung des Problems des Strafzwecks vorgenommen; er beschränkt sich nur auf Hinweise bezüglich dieser Frage. Eine solche Haltung ist aber nicht nur für Hom.mel und die deutsche Aufklärung, sondern für die ganze europäische Aufklärung typisch. Wenn wir das Denken der französischen oder der italienischen Aufklärer betrachten, bemerken wir, daß ihre Stellung gegenüber dem Problem des Strafzwecks, im Gegensatz zu ihrer klaren Neigung zur Reform des Strafsystems, schwankend und unklar ist. Es gibt einige Stellen Montesquieus, welche zeigen, daß für ihn der Zweck der Strafe die Besserung des Täters (im Gegensatz zur Rache) sein sollte97 . Auf der anderen Seite spricht er im Zusammenhang mit der Notwendigkeit der Todesstrafe für den Mord von dieser als einer „espece de talion" (also einer Art von Wiedervergeltung)98. Auch Beccaria, der sehr deutlich gegen die Auffassung der Strafe als die bloße Zufügung eines Leidens ohne irgendeinen Zweck ist, spricht der Strafe eine zweifache positive Funktion zu, nämlich die der Abschreckung des Verbrechers und die der Abschreckung Anderer (also Spezial- und Generalprävention)99. Aber es geht daraus nicht klar hervor, inwiefern und auf welcher Ebene (der Zufügung oder der Androhung der Strafe) diese Abschreckung eine Rolle spielen sou 100 . Dies ist für die Aufklärung bezeichnend; ihr Hauptanliegen ist und bleibt die Humanisierung des Strafrechts. Aus diesem Grund vertreten die Strafrechtler der
9S
Karl Ferdinand Hommel, Des Herrn Marquis von Beccaria unsterbliches Werk (wie Anm.
1), Anmerkung d), 37.
96 Hugo Grotius, De Jure Belli ac Pacis, Liber 2, Caput 20, § 6, Auflage Amsterdam 1720, S. 508: .Dioemus ergo, in poenis respici aut utilitatem ejus qui peccavit, aut ejus cujus intererat non peccatum esse, aut indistincte quorumlibet". 97 Montesquieu, Esprit des Lois, (wie Anm. 29), VI, 13: .n n'est pas question de corriger le coupable, mais de venger Je prince. Ces idees sont tirees de la servitude... • (in bezug auf die Strafgesetze in Japan). 98 Montesquieu, Esprit des Lois, (wie Anm. 29), XII , 4: . Les peines de ces derniers crimes sont ce qu 'on appelle des supplices. C'est une es~ce de talion, qui fait que la societe refuse La surete ~ un citoyen qui en a prive, ou qui a voulu eo priver un autre" (in bez.ug auf die Strafen, die die Sicherheit schützen). 99 Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene (wie Anm. 18), XV , 243: .n fine dunque [delle pene) non e altro ehe d 'impedire il reo dal far nuovi danni ai suoi cittadini, e di rimuovere gli altri dal farne uguali". 100 S. darüber Mario A. Cananeo, La filosofia della peoa nei secoli XVII e XVIIl, Ferrara 1974, 122-126.
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Aufklärung, daß die Androhung der Strafen, besonders von strengen oder sogar grausamen Strafen und vor allem unter spezifischen Umständen (wie z.B. Armut, Elend), unwirksam ist. Da die Aufklärer für menschlichere Strafen eintreten, verwerfen sie die Idee eines Leidens als Selbstzweck, und betrachten die Rache als die Grundlage der Vergeltung. Ihre Ablehnung der Vergeltungstheorie führt sie jedoch dahin, eine Theorie der Generalprävention und der Abschreckung zu vertreten, ohne deren Bedenken und Fehler in Erwägung zu ziehen. Hier ist ein Widerspruch, welcher in bezug auf Homrnel von zwei Interpreten betont und erörtert worden ist. In etwas abgeschwächter Weise hat Karl von Zahn, mit entschiedener Betonung Johannes Nagler das Vorhandensein (oder sogar die primäre Stellung) der Idee der allgemeinen Abschreckung oder Generalprävention in der Homrnelschen Straftheorie unterstrichen. Nachdem er bemerkt hat, "dass von einer abgeschlossenen Strafrechtsphilosophie bei ihm [Hommel] keine Rede sein kann", schreibt Karl von Zahn: „Dass ohne Strafgesetze die Menschen gegen einander wie wilde Tiere wüten würden und die Erhaltung der bürgerlichen Gesellschaft ein Ding der Unmöglichkeit sein würde, hat Hommel schon im Propositum § 205 scharf betont. Dieser Ansicht ist er sein Leben lang treu geblieben; am eindringlichsten wird sie im 'Joch' vorgetragen. In den Noten zu Beccaria und in den Philosophischen Gedanken über das Criminalrecht tritt sie in den Hintergrund, weil sie einer grossen Milde gegen den Verbrecher nicht günstig ist [„.) Allein die Furcht, sagt er sowohl im Propositum als im 'Joch', bewirkt, dass die Menschen den Gesetzen gemäss leben. Die Furcht vor Strafe motiviert also die Menschen, Leidenschaften zu unterdrücken, denen sie ohne diese Furcht folgen würden [„.)" 10 1• Darüberhinaus weist noch von Zahn darauf hin: „Der Besserungstheorie steht Homrnels Theorie noch am nächsten, nur betont er energischer als diese das Recht der Gesellschaft, sich vor dem Verbrecher hinreichend zu schützen; infolgedessen finden sich schon in 'Joch' ab und zu Gedanken, die sich mit der Theorie der Spezialprävention vollständig vertragen. Von der abschreckenden Wirkung des Strafvollzugs hat sich Hommel niemals viel versprochen. " 102 Johannes Nagler schreibt: „In dem Reformprogramm Principis Cura Leges (1765) wird zwar auf S. 23 u. 24 die Besserung des Verbrechers als (einziger) Maßstab für den Wert einer Strafsatzung (cui bono enim poena, quae neminem emendat?) und Strafart (Ablehnung der Freiheitsstrafe ... ) verwendet, sowie die geringe Abschreckungswirkung (Diebstahl unter dem Galgen, S. 20f.) betont, doch kehrt er alsbald wieder zur Generalprävention zurück. Denn die Strafe ist ihm noch in (Alexander v. Joch) Über Belohnung und Strafe nach türkischen Gesetzen 1772 [„.] eine 'Heimkette, welche dem gar zu starken Lauf der Leidenschaften [„ .] Einhalt' tut [„.] AJ!ein erst unter der Einwirkung Beccarias
101 Karl von Zahn, Karl Ferdinand Hommel als Strafrechtsphilosoph und Strafrechtslehrer. Ein Beitrag zur Geschichte der strafpolitischen Aufklärung in Deutschland, Leipzig 1911, 75. Für die von von Zahn erwähnten Stellen s. Karl Ferdinand Hommel, Propositum de novo systemate Juris Naturae et Gentium, Lipsiae 1747, § 205, 143 - 144. 102 Ebd„ 79.
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gewinnen Besserung und Unschädlichmachung neben der Generalprävention ihren endgültigen Platz (... )"103 Eigentlich vertritt die Hommelsche Schrift Über Belohnung und Strafe, worauf von Zahn und Nagler sich beziehen, einen ganz verschiedenen Standpunkt von demjenigen der oben erwähnten Schriften. Rommel ist Determinist und widmet dieses Buch der Versöhnung zwischen Determinismus, der Ablehnung der Freiheit des Willens, mit dem Strafrecht. Die folgende Stelle aus diesem Werk ist sehr bezeichnend: „Sie [die Strafen] sind notwendig und müssen bleiben, wenn auch alle Freyheit aufgehoben wird. Denn Lob und Tadel, Belohnung und Strafe, Furcht und Hofnung, Schande und Ehre sind ja eben die unsichtbaren Strike, die Räder und Triebfedern, wodurch die menschliche Geselschaft bleibet und herum betrieben wird. Ohne Geseze und Strafen würden die Menschen noch weit böser seyn, als sie jezo sind [ ... ] Die Strafen sind also Gewichten, welche der Fürst dem moralischen Uhrwerke anhänget, bald schwerer bald leichter, um die Unterlassung des Missfälligen zu behindern, oder das Gefällige zu befördern[... ) Wenn man in Gedanken Belohnungen und Strafen aufheben wil, so würde auf einmal die ganze moralische Welt stille stehen und das bürgerliche Leben aufhören. Niemand würde weiter Gutes thun" . 104 Diese Stelle läßt die üblichen Bedenken entstehen, welche allen Versuchen, den Determinismus und das Strafrecht zu versöhnen, entstammen. Rommel wird nicht gewahr, daß die Begriffe selbst vom Guten und Bösen, die er hier so weit gebraucht, mit der Verneinung der Willensfreiheit jeden möglichen Sinn verlieren. Richtig bemerkt von Zahn dazu: „Die Antwort paßt zunächst nicht auf die Frage, die hervorheben will, dass der gewöhnliche Sprachgebrauch die erwähnten sechs Worte mit der stillschweigenden Unterstellung der Richtigkeit des Indeterminismus anwende [... ]" ios Rommels Stellung ist mit derjenigen Hobbes' vergleichbar, der geschrieben hatte: „I say, what necessary cause soever precede an action, yet if the action beforbidden, he that doth it willingly may justly be punished. For instance, suppose the law on pain of death prohibit stealing, and that there be a man, who by the strength of temptation is necessitated to steal, and is thereupon put to death, does not this punishment deter others from theft? Is it not a cause that others steal not? Doth it not frame and make their wills to justice? The intention of the law is not to grieve the delinquent, for that which is past, and not to be undone: but to make him and others just, that eise would not be so, and respecteth not the evil act past, but the good to come" . 106 Die Hobbessche und die Hommelsche Stellung klingen also besonders zynisch und ungerecht: Die Bestrafung des Verbrechers wird gerechtfertigt, obwohl er unfrei ist und sich nicht anders hätte verhalten können, nur weil sie den Zweck
100 Johannes Nagler, Die Strafe. Eine juristisch-empirische Untersuchung, Leipzig 1918, Neudruck Scientia Verlag, Aalen 1970, 354 [Fußnote]. 104 Karl Ferdinand Hornmel [unter dem Pseudonym von Alexander von Joch] , Über Belohnung und Strafe nach türkischen Gesetzen, Neudruck der 2. Ausgabe von 1772, Berlin 1970, § 110, 98. 1os Karl von Zahn, Karl Ferdinand Hommel (wie Anm. 101), 72. 106 Thomas Hobbes, OfLiberty and Necessity, in: English Works, hg. v. William Molesworth , London 1840, Neudruck Aalen 1962, Bd. IV , 253.
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der Generalprävention, der allgemeinen Abschreckung und des Schutzes der Gesellschaft erreicht. Der Verbrecher wird bewußt, wie hier Kant ganz richtig einwenden würde, als ein bloßes Mittel zum allgemeinen Interesse der Gesellschaft gebraucht. Hommels Stellung in diesem Buch ist keineswegs aufklärerisch geprägt und widerspricht seinen Ideen, die in den Werken vorhanden sind, die wir oben betrachtet haben. Der Widerspruch ist auffallend: Hier findet Hommel vernünftig, einerseits die Begehung des Verbrechens als notwendig, d .h. bedingt, andererseits aber auch die Strafe als notwendig zu betrachten 107 • In der Principis Cura Leges und in den Philosophischen Gedanken über das Criminalrecht verneint er, daß die Strafe wirksam sei, wenn z.B. das Elend jemanden zwingt, zu stehlen. Nur in den letztgenannten Werken ist der aufklärerische Humanitätsgedanke vorhanden; und in diesen Werken, wie wir sahen, verneint Hommel die abschreckende Wirkung besonders der strengen Strafen. Es ist also sehr schwer, diesen Widerspruch zu lösen; wie schon oben gesagt, ist die Hommelsche Stellung gegenüber dem Problem des Strafzwecks schwankend. Allerdings ist die Behandlung dieses Problems seitens der Aufklärung gewissermaßen ungenügend und unbefriedigend, während ihr wichtigster Beitrag der Strafrechtsreform dient. Wenn wir also richtigerweise die früher erwähnten Schriften (und nicht sein Buch über den Determinismus) als die typischen strafrechtlichen Werke Hommels betrachten, sind wir imstande, die Folgerung zu ziehen, daß der bezeichnende Charakter seiner Haltung gegenüber dem Problem des Strafzwecks ein stetes Mißtrauen in die abschreckende Wirksamkeit der Strafe ist. Das Auftauchen des Generalpräventionsgedankens in Über Belohnung und Strafe spielt dagegen nur eine untergeordnete Rolle; dieser Gedanke gilt nur als eine Folge des Determinismus; aber dieses Erfordernis der theoretischen Philosophie in seinem Denken, nämlich die Verneinung der Willensfreiheit, verblaßt und verschwindet fast im Vergleich mit den Prinzipien seiner praktischen Philosophie, welche eine Vermenschlichung des Strafrechts erheischen. Es ist wahr, daß Eduard Hertz in seinem Buch über die Strafrechtsphilosophie Voltaires das Reformprogramm der Aufklärer in bezug auf das Strafrecht mit ihrem Determinismus verbindet: „Mit dem Determinismus war die herrschende Auffassung von der Strafe unvereinbar. Denn das Strafrecht ruhte auf dem moraltheologischen Satze einer vergeltenden Gerechtigkeit, welche Lohn und Strafe nur als untrennbare Folgen des Guten und Bösen zu begreifen vermochte [ . .. ) Den unter dem Zwange der Naturnothwendigkeit handelnden Verbrecher zu bestrafen, widerstreitet der Idee der vergeltenden Gerechtigkeit"; im Gegenteil: „Erst der Gedanke, daß die den Verbrecher umgebende Welt mit all ihren Einflüssen zu seiner That mitwirkte, leitete zu dem Gesichtspunkte hin, durch Modificirung dieser Einflüsse und durch eine prophylaktische Thätigkeit des Staats 101 Karl Ferdinand Hommel, Über Belohnung und Strafe (wie Anm. 104), 11 l , 98 - 99: . Sie [die Strafgesetze] sind auch nothwendig, weil sie die Menschen vom Bösen abhalten und in die götliche Verbindung aller, so wohl kleiner als größer, Dinge gehören. Also müssen Geseze, es müssen Henker und Strafen seyn, damit zuweilen ein einziges Schlachtopfer des Schicksals verhindere, dass nicht tausend andere Ung.lük erregen" .
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mit dem Entstehen des Verbrechens zu steuern" 108 • Aber eine solche Verknüpfung scheint mir höchst fragwürdig, da nicht alle aufklärerischen Strafrechtler den Determinismus klar und deutlich behaupten und da andererseits auch die Deterministen unter ihnen nicht die Konsequenz gezogen haben, wie derselbe Hertz einräumt, „daß die Nothwendigkeit unserer Handlungen den Wegfall der Strafe zur Folge haben müsse" 109 • Die Aufrechterhaltung der Strafe auch unter der Voraussetzung des Determinismus bedeutet bloß eine Huldigung der Generalprävention und des Utilitarismus, was grausame Folgen haben kann (s.o. das Zitat aus Hobbes). Der Widerspruch bleibt, und wir können uns darauf beschränken, auf diesen Widerspruch hinzuweisen und doch im allgemeinen den hohen Wert des Hommelschen Beitrags zum Strafrecht unberührt lassen. Übrigens ist kein Denker von Widersprüchen frei. Aber was ich betonen möchte, ist, daß, wenn er verdiente, der „deutsche Beccaria" genannt zu werden, Hommel es dem Teil seines Denkens verdankt, der die Menschlichkeit im Strafrecht und den ungenügenden Charakter der Generalprävention behauptet, und keineswegs seinem fragwürdigen Determinismus, der solche unbefriedigende und widersprechende Folgen mit sich führt. In bezug auf das Problem der Bedeutung der Abschreckung in der deutschen strafrechtlichen Aufklärung spielt auch die Theorie des schon oben erwähnten Theologen Johann David Michaelis (den Hommel oft erwähnt) eine eigentümliche Rolle, welcher in seiner hier zitierten Vorrede schreibt: „Die Grösse der Strafen muß nach ihrem Endzweck bestimmet werden: so groß, als es nöthig ist, um diesen Endzweck zu erreichen, aber auch so klein, als es die Absicht der Strafen zuläßt („.] denn Strafen sind ein Uebel, und wo das zu einem gewissen Endzweck, etwa zu Verhütung eines grösseren Uebels, nöthig ist, soll man so doch so geringe wählen, als man kann, und des Uebels in der Welt nicht ohne Noth mehr machen[ ... ] Der Zweck der Strafen kann wol nicht seyn, daß dem Schuldigen so wehe geschehe, oder so viel Uebel angethan werde, als seiner Bösartigkeit oder bösen Handlungen proportionirt ist [„ .] Dis blosse Uebel ohne einen weitem Zweck, der es rechtfertigte, wozu sollte es helfen? Er, der Delinquent, ist böse, dis ist ein Uebel: er thut viel böses, und beleidiget andere, dis ist noch ein Uebel mehr. Aber warum sollte ich ohne weitere Ursache das dritte Uebel dazu thun, Schmerz und Strafe für ihn, wenn das weiter keinen Nutzen schaffte, als daß nun statt zweier Uebel, die ich 1 und 1 zählen will, noch einen ihnen beiden die Wage haltendes Uebel, also statt zwey, vier, in der Welt wären?" 110• Bisher finden wir die Ablehnung der Vergeltung, insofern sie die Zufügung eines Schmerzens als Selbstzweck bedeutet, und den Wunsch, das Maß der Strafe zu beschränken und die Übel in der Welt nicht zu vermehren; und bisher mag die Erörterung überzeugend sein. Nachdem Michaelis betont hat, was die Stra-
108 Eduard Hertz, Voltaire und die französische Strafrechtspflege im achtzehnten Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des Aufklärungszeitalters, Stuttgart 1887, Neudruck Aalen 1972, 127 und 132.
Ebd„ 130. Johann David Michaelis, Mosaisches Recht , Vorrede zum VI. Theil, Frankfurt am Main 1775, 10-12. 109
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fen nicht sein sollen, weist er auf den positiven Zweck der Strafe hin: „Der wesentliche Zweck der Strafen ist kein anderer, als [... ] andern zum Exempel[ ... ] so ist doch jener Satz, Strafen sind andern zum Exempel, so evident, daß keiner, der die Gerechtigkeit zu administriren hat, ihn miskennen wird, und jeder der die Sache Erfahrungsmäßig kennet, ihn als ausgemacht annimt, vieUeicht ohne zu wissen wie er darauf gekommen ist". Also: „Strafen sind ein Uebel, aber um ein größeres, sie sind ein einziges, aber um ein tausendfaches und unzähliches Uebel zu verhüten, nothwendig; ihr Zweck ist: die Abschreckung von Verbrechen. Soll der, der seinen Vortheil bey der Begehung eines Verbrechens siebet, oder zu sehen meint, davon abgehalten werden, so muß ihm mehr Uebel gedrohet werden, als der vermeinte Vortheil beträgt, und dis selbst nach seiner eigenen Rechnung, d . i. ein Uebel, das er, alles in Anschlag gebracht, die Gewißheit des vermeinten Vortheils, und die Ungewißheit des Uebels, doch größer schätzt, als den Vortheil. Weil aber eine Drohung nicht viel ausrichten würde, wenn man sähe, daß sie unerfüllet bliebe, so muß sie an jeden, der sich des Verbrechens schuldig macht, vollzogen werden." 11 1 Auch der Maßstab der Strafe wird von Michaelis in Beziehung auf den Zweck der Abschreckung bestimmt: „Hieraus ist nun die Größe der Strafen zu bestimmen: sie soUen so groß, als der Endzweck es erfordert, das ist, hinlänglich seyn, von Verbrechen abzuschrecken. Dies heißt aber nicht, hinlänglich so abzuschrecken, daß schlechterdings kein Verbrechen begangen werden kann[ ... ] sondern, die Verbrechen so selten zu machen, und so viel davon abzuschrecken, als es dem Gesetzgeber bey der unrichtigen Lage des menschlichen Herzens möglich ist, ohne dabey ein größeres Uebel anzurichten. " 112 Von diesem Standpunkt aus verwirft Michaelis ausdrücklich das Erfordernis einer Proportion zwischen Verbrechen und Strafen und behauptet, daß es erlaubt ist, eine strengere Strafe anzudrohen und zuzufügen, wenn eine gelindere nicht ausreicht. Er schreibt: „Lebensstrafen können und sollen auf manchen das Leben nicht betreffenden Verbrechen, und Beleidigungen viel härtere Strafübel stehen. " 113 Die entgegengesetzte Position setzt den folgenden Satz voraus: „Der Zweck der Strafe sey, daß dem Bösen nach Proportion seiner Bösartigkeit wehe geschehe". Michaelis fügt jedoch sofort hinzu: „Dis ist er aber nicht, sondern die Abschreckung von Uebelthaten. Das gelindeste Uebel, so zum Abschrecken genug ist, wird immer zu wählen seyn [... ]" 114 Dann erwägt Michaelis den wichtigsten Einwand zu seiner Stellungnahme: „Aber würde auf die Art nicht ein größeres Uebel zu Verhütung eines geringeren angewandt?" und antwortet: „Das dächte ich nicht, oder besser zu sagen, es geschieht gewiß nicht, die Strafe soll ja nicht blos von dem einzelnen Verbrechen, von dem sie nicht abgehalten hat, von dem wirklich begangenen, sondern von tausend, von unzähligen abschrecken, die begangen werden würden, wenn keine Strafe wäre; der Eine Dieb der gehangen wird, soll ich weiß nicht wie viele Diebstähle hindern, und hindert sie wirk111 112 113
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
17-25. 40. 49. 57-58.
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lieh". Michaelis schließt die Erörterung dieses Punktes folgendermaßen: „ Will man die Größe des Strafübels mit dem Uebel des Verbrechens vergleichen, so muß man die Summe aller der Verbrechen, die begangen werden würden, wenn keine Strafe wäre, nebst allen Folgen dieser Verbrechen nehmen, und denn die Summe aller der Straf-Uebel, die wirklich exsequiret werden. Wäre denn die letztere Summe größer, so wäre es freylich unaushälterisch weniger Uebel in der Welt durch mehreres abgekauft: aber der Fall wird sich nicht leicht finden. Soll die Strafe ein Gegengewicht gegen die Versuchung zum Verbrechen seyn, so wird sie um viel schärfer seyn müssen, je stärkere Triebe oder Bewegungsgründe es sind, die zum Verbrechen reitzen [.. .]" 11s Hier spricht Michaelis deutlich die Sprache des Utilitarismus; die Übel des Verbrechens und der Strafe werden vom reinen quantitativen Standpunkte erörtert (der Ausdruck „Summe" ist bezeichnend). Man darf sagen, daß Johann David Michaelis der Schriftsteller der Zeit der Aufklärung ist, der ohne Zögern die Abschreckung als einzigen und ausschließlichen Zweck der Strafe sieht und konsequent alle Folgen aus diesem Zwecke zieht. Es ist gerade eine solche Konsequenz, die die schlimmsten Ergebnisse verursacht; wie wir gesehen haben, behauptet Michaelis ausdrücklich, daß um der Abschreckung willen die Strafe auch sehr viel größer als das Verbrechen sein kann, das heißt daß sie nicht mit dem Verbrechen proportioniert werden braucht. In diesem Zusammenhang rechtfertigt er zumindest theoretisch 116 sogar die Todesstrafe für den Diebstahl, wenn sie in diesem Falle „notwendig" erscheint. Die oben erwähnten Stellen sind deutlich; der Satz „der Eine Dieb der gehangen wird, soll ich weiß nicht wie viele Diebstähle hindern, und hindert sie wirklich" (s. o.) ist bedeutungsvoll: Hier wird der Verbrecher von Michaelis bloß als ein Mittel zum Zweck der allgemeinen Abschreckung betrachtet, und die Frage seiner wirklichen Schuld und der Grösse seines Verbrechens wird vollständig vernachlässigt. Man kann also leicht die Strenge der kantischen Stellungnahme verstehen, man kann leicht einsehen, warum Kant so entschlossen gegen den strafrechtlichen Utilitarismus, welcher einen Teil der Aufklärung ausmachte, eintrat117 ; obwohl es dahingestellt bleibt, ob und inwieweit Kant Michaelis' Werke kannte. Nun möchte ich noch kurz auf die spätere Entwicklung der Theorie der Generalprävention in Deutschland nach ihrer ersten Blüte während der Aufklärung hinweisen. Johannes Nagler - der als erster sehr deutlich drei Arten der Strafprävention, nämlich Spezialprävention, Generalprävention durch die Zufügung der Strafe und Generalprävention durch Strafdrohung im Strafgesetz, unterschieEbd „ 62-64. Ebd., 48; hier schreibt er, er sei .aus ganz anderen Ursachen nicht für die Lebensstrafe der Diebe". 117 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Rec.htslehre [1797] , hg. v. Karl Vorländer, Abdruck der 4. Auflage 1922, Hamburg 1966, 158: .Richterliche Strafe[ .. . ] kann niemals bloss als Mittel, ein anderes Gute zu befördern, für den Verbrecher selbst oder für die bürgerliche Gesellschaft, sondern muss jederzeit nur darum wider ihn verhängt werden, weil er verbrochen hat ; denn der Mensch kann nie bloss als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden , wowider ihn seine angeborene Persönli chkeit schützt [„ .]". llS 116
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den hat - zählt zu dieser letzten Theorie, welche der typischen Straflehre Feuerbachs entspricht, auch die Lehre Michaelis': „Vor Feuerbach, mit dessen Namen die kräftvolle Entfaltung dieser Straflehre für immer verknüpft bleibt, hatten sich (in Deutschland) bereits v. Sonnenfels[ ... ) Michaelis[ ... ) für diese Generalprävention entschieden. " 118 Der Grund dieser Auslegung liegt vielleicht in dem Gebrauch des Wortes „Drohung" vonseiten Michaelis' im Zusammenhang mit seiner Theorie der Strafe als Abschreckung 119 • In der Tat aber darf man vor Feuerbach eigentlich nicht klar zwischen Zufügung und Drohung der Strafe unterscheiden und damit von zwei entsprechenden Arten von Generalprävention sprechen. Es ist Feuerbach, der eine solche Unterscheidung vollführt hat, als er in bezug auf den berühmten Satz Senecas sagte: „Dieser Spruch, den unsere Criminalisten so oft für ihre Theorien anführen, ist, eine so schöne Wahrheit er auch enthält, doch nur in gewisser Rücksicht wahr; so wie er in anderm Betracht ganz falsch ist. Sieht man auf die Execution der Strafe, so ist er durchaus falsch. Diese findet nicht darum statt, ne peccetur, sondern allein quia peccatum est. Versteht man ihn von der Drohung der Strafe, so ist er völlig wahr. Denn nicht um begangene Beleidigungen zu hindern (quia praeterita revocari non possunt), sondern um zukünftige unmöglich zu machen, wird das Strafgesetz gegeben. " 120 Andererseits ist die Gefahr einer Behandlung des Verbrechers als ein bloßes Mittel zum Nutzen der Gesellschaft, der wie gesehen Michaelis oft unterliegt, ein typisches Ergebnis der Generalprävention durch Zufügung der Strafe durch das Beispiel. Dagegen nimmt Feuerbach gegen eine solche Abschreckungstheorie Stellung und versucht, dem Kantischen Prinzip treu zu bleiben: „Denn nach der gewöhnlichen Darstellung dieser Theorie, soll die Wirkung, welche die Zufügung des Uebels auf die Gemüther der andern Bürger hat, indem sie dadurch abgeschrecket werden, der Grund seyn, um dessentwillen die Strafe wirklich verhängt wird. Diese Abschreckung wäre also der Zweck, Schmerzen einer Person wären das Mittel zu demselben: und so würde ein vernünftiges Subjekt als Sache gebraucht, welche es nie ist, und so lange seine Natur nicht zerstört ist, nie werden kann. Dieser Zweck der Strafe kann also unmöglich Rechtsgrund derselben seyn, wenn man nicht das Nützliche zum Maaflstab des Rechts erheben will („.)" 121 Seinerseits glaubt Feuerbach diese Gefahr durch seine auf dem Strafgesetz gebaute Generalpräventionstheorie vermieden zu haben: „Der Zweck des Gesetzes und der in demselben enthaltenen Drohung, ist daher Abschreckung von der mit dem Uebel bedingten That. Daß der Staat zu der Androhung dieses Uebels berechtigt sey, bedarf keines Beweises. Niemandes Rechte werden dadurch gekränkt; weil das Uebel nur auf den Fall der Verletzung der Rechte gesetzt ist." 122 Johannes Nagler, Die Strafe (wie Anm. 103), 358-359. Johann David Michaelis, Mosaisches Recht, VI. Theil (wie Anm. llO), 20: .so muß ihm mehr Uebel gedrohet werden, als der vermeinte Vortheil beträgt"; 23-25: "Weil aber eine Dro· hung nicht viel ausrichten würde , wenn man sähe , daß sie unerfüllet bliebe, so muß sie an jeden, der sich des Verbrechens schuldig macht, vollzogen werden". 120 Paul Johann Anselm Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts , I, Erfurt 1799, Neudruck Aalen 1966, 61. 12 1 Ebd „ 89-91. 122 Ebd. , 49-50. 118 119
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Der Einklang der Feuerbachsehen Straflehre mit den Prinzipien der Gerechtigkeit und mit der Kantischen Theorie ist jedoch bezweifelt worden 123; besonders der Freund und Gegner Feuerbachs, Karl Grolman, Befürworter der Spezialpräventionstheorie, hat die Güte einer solchen Rechtfertigung der Strafe durch die bloße Drohung in Frage gestellt. Grolman schreibt, „daß kein rechtlicher Zwang weiter gehen könne, als bis zur völligen Aufhebung dessen, was unsre rechtliche Freiheit beengt: so ist es klar, daß in dem willkürlichen Faktum des Androhens keineswegs ein Rechtsgrund für den auszuübenden Zwang enthalten seyn könne." Wenn „der vorher angedrohte Zwang dem Grade nach nicht größer" ist „als der, welcher wirklich nöthig ist, um das Individuum, welches seine Freiheit gemißbraucht hat, in die Lage zu setzen, daß für die Zukunft die Freiheit der Ubrigen sicher neben der seinigen bestehen kann", ist es in diesem Fall „keinem Zweifel unterworfen, daß die Ausübung des angedrohtes Zwangs, wenn die Bedingung der Drohung eintritt, gerecht sey; allein es leuchtet, daß, auch ohne die Androhung, die Ausübung desselben Zwangs dem Rechtsgesetz gemäß gewesen wäre[ ...)", wenn dagegen das vorher angedrohte Übel größer ist, „dann würde der Rechtsgrund der Ausübung desjenigen Theils des angedrohten Zwangsübels, welcher den Grad des zur Bewirkung der Rechtssicherheit nothwendigen Zwangs übersteigt, keineswegs in der That dessen, welcher gezwungen wird (daß dieser nämlich ein Hinderniss der allgemein gesetzlichen Freiheit sey), sondern einzig und allein in der Androhung liegen können, und eben dieses ist es, was ich( ... ) läugnen muß; denn das Rechtsgesetz erlaubt schlechthin keinen Zwang, wenn er nicht bloß und allein darauf gerichtet ist, ein Hinderniss der Freiheit zu entfernen" 124 • Mit dieser deutlichen Erörterung hat Grolman die Gültigkeit der Generalprävention als Zweck und Rechtfertigung der Strafe in Frage gestellt, nicht nur der Generalprävention durch die Zufügung der Strafe, welche den Verbrecher als ein bloßes Mittel behandelt, sondern auch der Generalprävention durch die Drohung der Strafe, welche als willkürlich erscheint und vom Willen des Gesetzgebers, d.h. letzten Endes von der politischen Macht, abhängt. Zum Schluß dieser Erörterung möchte ich die Tatsache betonen, daß die Behandlung des Problems der Rechtfertigung der Strafe den schwächsten Teil der strafrechtlichen Aufklärung ausmacht; und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für die ganze strafrechtliche Aufklärung. Diese geht von der Ablehnung der Vergeltung aus, insofern sie diese als bloße Rache deutet; sie geht also von einem menschlichen Standpunkt aus. Im Laufe ihrer Entwicklung gelangt jedoch die Aufklärung zur Behauptung der Theorie der allgemeinen Abschreckung oder Generalprävention, welche - in ihren verschiedenen Arten - mit den Menschen123 Wolfgang Naucke zweifelt über den eigentlichen Einfluß der Kantischen Theorie der Menschenwürde auf die Straflehre Feuerbachs: s. Wolfg~J! Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs, Hamburg 1962, 76ff. ; Ders., Uber den Einfluß Kants auf Theorie und Praxis des Strafrechts im 19. Jahrhundert, in: J. Blühdom, J. Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1969, 36-37. 124 Karl Grolman, Ueber die Begründung des Strafrechts und der Strafgesetzgebung, nebst einer Entwickelung der Lehre von dem Maasstabe der Strafen und der juridischen Imputation, Giessen 1799, Neudruck Frankfurt am Main 1968, 10-11.
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rechten kaum vereinbar ist. Der wichtige und unleugbare Beitrag der Aufklärung ist dagegen die Beförderung der Humanisierung und der Milderung der Strafen, die klare Behauptung der Menschenrechte und der Rechtssicherheit im strafrechtlichen Gebiete. Ein Widerspruch ist also in der Strafrechtsphilosophie der Aufklärung vorhanden. Einerseits herrscht der Humanitätsgedanke, andererseits tritt aber auch der Utilitarismus hervor; nach meiner Meinung entsprach aber mehr der erste der Absicht der Aufklärer. Gerade dieser besondere Charakter der Aufklärung im Gebiete des Strafrechts zeigt, daß keine eindeutige Auslegung möglich ist und zugleich , daß kein übereiltes und kein endgültiges Urteil über solche Doktrin ausgesprochen werden darf: Die strafrechtliche Aufklärung soll in ihrer Gesamtheit und mit ihren Schwierigkeiten und Widersprüchen verstanden und geschätzt werden.
Dieser Aufsatz analysiert die Strafrechtsphilosophie der deutschen Aufklärung, als deren Bahnbrecher Christian Thomasius betrachtet werden kann. Da die deutsche Aufklärung hier tief von Beccarias Buch Dei delitti e delle pene beeinflußt wurde, wird die deutsche Diskussion über Beccarias Thesen erörtert. Der Jurist, der am meisten zu dieser Diskussion beitrug, war Karl Ferdinand Rommel, er wurde sogar der „deutsche Beccaria "genannt. Die Hauptgegensttinde in diesem Zusammenhang, die analysiert werden, sind die Säkularisierung des Strafrechts, die Humanisierung und Milderung der Strafen, die Problematik der Rechtssicherheit und der Bindung des Richters an das Strafgesetz. Eine besondere Aufmerksamkeit wird der Frage nach dem Zweck der Strafe gewidmet; in dieser Beziehung erscheint die Stellung der deutschen Aufklärung - wie im allgemeinen diejenige der europäischen Aufklärung - schwankend zwischen der Idee der Besserung des Verbrechers und der Generalprävention und Abschreckung der anderen. This paper deals with the philosophy of criminal law in the German Enlightenment, whose pioneer may be considered Christian Thomasius. Since the German Enlightenment was deeply influenced here by Beccaria 's book Dei delitti e delle pene, the German discussion on Beccaria 's ideas is examined. The most important contribution to this discussion came from the jurist Karl Ferdinand Rommel, who was even called the „ German Beccaria ". The main topics analysed in this context are the secularization of criminal law, the mitigation ofpunishments, the problem ofthe certitude of law and the bond ofthejudge to the law. Particular attention is given to the question of the aim of punishment; in this respect the position of the German Enlightenment - as that of European Enlightenment in general - appears wavering between the idea of moral reform of the criminal and the idea of general prevention and deterrence of others.
Prof. Dr. Mario A. Cattaneo, lstitut6 di Filosofia e Sociologia del Diritto, Universitll degli studi di Milano, v. Pesto del Perdono 7 , 1-20122 Milano
PIETRO PIMPINELLA
Reluctantia subiectiva und repugnantia obiectiva in der Inauguraldissertation Kants 1
Es mag kaum gerechtfertigt, ja geradezu überflüssig erscheinen, Indizes und Konkordanzen zu Kants Inauguraldissertation zu erarbeiten, dem kurzen und deshalb, wie man vermuten sollte, leicht in seinem sprachlichen Bestand überschaubaren Werk, das darüber hinaus noch Gegenstand einer nunmehr hundertjährigen Auslegung ist. 2 In Wirklichkeit sind sogar die Entstehung der Dissertation von 1770 und ihre Stellung in der Entwicklung des Kantischen Denkens noch immer Gegenstand von Auseinandersetzungen. Interpretationsprobleme solcher Art müssen sicherlich auf Schwierigkeiten im Verständnis des Begriffsgefüges des Werkes zurückgeführt werden, das in einem äußerst knappen Stil abgefaßt und von großer semantischer Dichte ist. Eine eingehende Analyse des Wortbestandes, die Indizes und Konkordanzen ermöglichen, kann daher zu einem angemesseneren Textverständnis beitragen. 3
t Dieser Aufsatz ist als Prefazione (Vorwort) zu dem Band: Pietro Pimpinella und Antonio Lamarra, Indici e concordanze degli scritti latini di Immanue.l Kant, Bd. l: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, Rom 1987 [ = Lessico Intellettuale Europeo XLil), entstanden. Das Vorwort trägt das Datum vom 15. Dezember 1986 und ist dem Vater des Verfassers, Giovanni, aus Anlaß seines neunundsiebzigsten Geburtstages gewidmet. 2 Der Edition liegt der Text von Kant's gesammelten Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2: Vorkritische Schriften II. 1757-1777, Berlin 21912, S. 385-419 zugrunde. Die deutsche Übertragung von Textstellen aus der Inauguraldissertation wurde der Übersetzung von Norbert Hinske in der Ausgabe von Wilhelm Weischedel (Hg.): Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd 3: Schriften zur Metaphysik und Logik, Darmstadt 61983 entnommen. 3 In dieser Einleitung sollen nur einige, wenn auch die signifikantesten, begriffsgeschicbtlichen Zusammenhänge des Werkes einer Prüfung unterzogen werden. Tullio Gregory bat die Aufmerksamkeit auf die Neuartigkeit und die Bedeutung der Sprache der Inauguraldissertation gelenkt (vgl. Pour un Thesaurus Mediae et Recentioris Latinitatis, in: Lessico Intellettuale Europeo, Ordo. ll. Colloquio lnteroazionale, Rom 7.-9. Januar 1977, hg. von Marta Panori und Massimo Biancbi, Bd. 2, Rom 1979, S. 729 f.). Die vorliegende Arbeit verschreibt sich einer weitläufigeren Suche nach den Quellen der Terminologie der Philosophie Immanuel Kants und ihrem Verhältnis zur lateinischen philosophischen Pachsprache und derjenigen Christian Wolffs und seiner Schule, die Gegenstand eines bilateralen Porscbungsvorhabens ist, das in Zusammenarbeit mit der Abteilung Datenverarbeitung und Editionen des Pachbereichs 1 - Philosophie der Universität Trier und des Lessico lntellenuale Europeo durchgeführt wird.
Aufklärung 5/1
Cl Pelix Meiner Verlag, 1990, ISSN 0178-7128
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De Vleeschauwer hat in seinem großen Werk aus der Mitte der dreißiger Jahre darauf hingewiesen, daß die Kantinterpreten und -biographen über die Frage nach der Entstehung der Inauguraldissertation hoffnungslos zerstritten sind. 4 Bei dem Versuch, den Leser durch das Dickicht der unterschiedlichen historischen Rekonstruktionen zu führen , hat er eine lange, zugestandenermaßen noch unvollständige Klassifikation entworfen, bei der er sich zweier Kriterien bediente: der Probleme, die am Anfang der Inauguraldissertation gestanden haben mögen, und parallel dazu , der Einflüsse, die Kant bewegt haben mögen, diese Probleme vorzutragen.5 In neuerer Zeit ist Josef Schmucker auf die Frage nach der historischen Einordnung der Inauguraldissertation zurückgekommen. Er hat die communis opinio, die die Dissertation von 1770 als die Wasserscheide zwischen der sog. vorkritischen und der kritischen Periode betrachtet, erneut zur Diskussion gestellt und mit Nachdruck deren Einordnung in die letztere verteidigt. 6 Genau gesehen ist die traditionelle und weit verbreitete These alles andere als eindeutig, da die Kantinterpreten, je nachdem, ob sie einen 'retrospektiven' oder 'prospektiven' Standpunkt einnehmen, zu Differenzierungen neigen. Rosario Assunto hat die Theorie vertreten, daß diese beiden Betrachtungsweisen die „beiden möglichen Lesarten" (Je due letture possibili") der Inauguraldissertation begründen. 7 Die These Assuntos findet ihr genaues Gegenstück im Feld der italienischen philosophiegeschichtlichen Tradition. In der Tat bedienen sich zwei der größten italienischen Kenner des vorkritischen Kant, Mariano Campo und Pantaleo Carabellese, der beiden entgegengesetzten Metaphern, um die Stellung der Inauguraldissertation zu verdeutlichen; der erste betrachtet sie als „die Kuppel des vorkritischen Tempelchens" {„Ja cupola del tempietto precritico") , während der andere „ von jener Knospe des Kritizismus, die die Dissertation von 1770 darstellt" („di quel bocciolo del criticismo, ehe e la Dissertazione de! '70"), spricht.8 4 Vgl. Herman Jean de Vleeschauwer , La deduction transcendentale dans roeuvre de Kant, Bd. 1: La deduction transcendentale avant la critique de la raison pure , Antwerpen, Paris, 's Gravenhage 1934, (Nachdruck in: The philosophy of Immanuel Kant. A selection of eleven of the most important books on Kant's philosophy reprinted in 14 volumes, ausgewählt von Lewis White Beck, Bd. 2,1, New York, London 1976, S. 147). Im folgenden zitiert als Deduction. s Ebd. S. 147 f. 6 Josef Schmucker, Zur entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Inauguraldissertation von 1770, in: Kant-Studien-Sonderheft. Akten des 4. lntemationalen Kant-Kongresses, Mainz 6. -10. April 1974, 65.1 (1974). S. 263*-282*. 7 1. Kant, Scritti precritici, Bari 1982, S. XIl: . In der Dissertation De mundi sensibilis arque inrelligibilis forma er principiis können wir geradezu eine Art Knoten sehen, in dem alle Fäden des Kantischen Philosophierens zusammenlaufen, und die im Mittelpunkt der beiden möglichen Lesarten steht: der prospektiven, die dem Denken Kants folgt , wie es sich in der Zeit entwickelt, und der retrospektiven, die bestimmte seiner Schlußfolgerungen im Auge hat und die philosophische Reiseroute Ka.nts nach rückwärts verfolgt". 8 Vgl. E. Kant, Le quattro dissertazioni latine, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Mariano Campo, Corno o . J. , S. XL; noch wichtiger erscheint die Monographie desselben Autors La genesi de! criticismo kantiano, Varese 1953, die jedoch bis in das Jahr 1769, das .Jahr des großen Lichts" (.!'anno della 'gran luce'"), (ebd. Teil 2 , S. 448) zurückreicht; und Pantaleo Carabellese, Prefazione, in: 1. Kant, Scritti precritici, (wie Anm . 7). S. XXV . Vgl. auch Augusto Guzzo, Kant precritico, Turin 1924.
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Diese Duplizität der Akzente findet ihre Rechtfertigung in der Tatsache, daß in der Inauguraldissertation zwei Lehrstücke vorliegen, die, urteilt man von den Ergebnissen der kritischen Periode her, sich gegenseitig auszuschließen scheinen: die Lehre von der Sinnlichkeit und diejenige vom realen Verstandesgebrauch (usus intellectus realis). Denn einerseits wird die Kritik der reinen Vernunft die Lehre von der Sinnlichkeit, wie sie in der Inauguraldissertation vorliegt, aufgreifen, andererseits wird sie, auch auf der Grundlage dieser Theorie, die Unbrauchbarkeit des realen Verstandesgebrauchs als eines Werkzeugs zur Errichtung der Metaphysik aufzeigen.9 Die in der Inauguraldissertation vorliegende Lehre vom realen Verstandesgebrauch verursacht auch de Vleeschauwer ein gewisses Unbehagen bei der historischen Einordnung der Inauguraldissertation. Wenn überhaupt, so weist er, im Anschluß an Riehl, der Dissertation von 1770 in der Deduction wohl eher einen eigenständigen Platz in der Nähe der Kritik der reinen Vernunft (1781) als in der Nähe der Trtiume eines Geistersehers (1766) zu, indem er einräumt, daß sie viele Gemeinsamkeiten mit der Kritik der reinen Vernunft habe, wie zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Materie und Form der Erkenntnis, zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Rezeptivität und Spontaneität, zwischen Phänomenon und Noumenon . 10 In der Zusammenfassung, die zwei Jahre nach der Vollendung des Hauptwerks abgefaßt wurde, geht er sogar so weit, zu behaupten, daß die Dissertation von 1770 „die Wiege des Kritizismus" gewesen sei („a ete Je berceau du criticisme") . 11 Dennoch spricht de Vleeschauwer in der Deduction von einem „unerhörten Dogmatismus" („dogmatisme inoui") der Inauguraldissertation und beurteilt sie in Einklang mit Riehl als „die am meisten dogmatische Schrift Kants" („l'ecrit Je plus dogmatique de Kant"). Außerdem gibt er zu verstehen, daß sie, gemessen an den Träumen eines Geistersehers, unter bestimmten Gesichtspunkten einen Rückschritt darstelle: „Au contraire, Kant y fait preuve d 'un dogmatisme si grand qu 'il ne peut manquer de nous etonner apres !es Trtiume eines Geistersehers." („Im Gegenteil , Kant beweist hier einen derartig ausgeprägten Dogmatismus, daß wir uns nach den Träumen eines Geistersehers beinahe wundern müssen. ") 12 Dieses Urteil ist zum Teil Ausdruck einer Überbewertung der Trliume eines Geistersehers, die de Vleeschauwer in der Evolution korrigiert hat, wo er nachdrücklich betont, daß es sich bei der brillanten
9 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, 21787, in: Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 3, Berlin 21911. 10 Herman Jean de Vleeschauwer, Deduction, (wie Anm. 4), S. 153: .Nous croyons bien faire de Ja considerer avec Riehl comme occupant une place apart, bien qu'elle soit plus proche de 1781 que de 1766." (.Wir glauben gut daran zu tun, wenn wir mit Riehl annehmen, daß sie einen Platz am Rande einnimmt , wenn sie auch näher zu 1781 als zu 1766 steht.") 11 Ders. , L 'evolution de Ja pensee kantienne . L' histoire d 'une doctrine, Paris 1939, S. 58 . Im folgenden zitiert als Evolution. 12 Ders., Dtduction, (wie Anm. 4), S. 208 , 154, 53. Vgl. auch S. 151 und S. 161. Vgl. Alois Riehl , Der philosophische Kritizismus, Bd. 1, Leipzig 1924: . Unter allen Schriften Kants seit den sechziger Jahren ist sie [die Inauguraldissertation] die am meisten dogmatische" .
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Schrift von 1766 um eine Kampfschrift handele. 13 Der eigentliche Grund für diese Widersprüchlichkeiten in der Beurteilung des hervorragenden Wissenschaftlers, der sich allerdings der Disparatheit seiner aus unterschiedlichen Blickwinkeln gegebenen Einschätzungen bewußt ist, muß in dem Leitfaden gesucht werden, den er wählt, um die Entwicklung des Kantischen Denkens nachzuzeichnen, das ist die Frage, wie der Gegenstand der Erkenntnis gegeben und wie er wirklich gemacht werde. 14 De Vleeschauwer schätzt die Inauguraldissertation deshalb als dogmatisch ein, weil Kant sich in dieser Schrift nicht die Frage stelle, wie die Gegenstände der Metaphysik gegeben werden, ein Problem, das kaum zwei Jahre später in dem bekannten Brief an Markus Herz vom 21. Februar 1772 erstmals vorgetragen wird. 15 In Wahrheit muß der eher unterschwellige und kohärente Leitfaden, der die Inauguraldissertation mit der Kritik der reinen Vernunft verbindet, in der Frage nach der Methode der Metaphysik und besonders in der Gegenüberstellung der Methode der Naturwissenschaften und der Mathematik einerseits mit derjenigen der Metaphysik andererseits gesucht werden. Die Inauguraldissertation hebt in der Tat mit dem Stichwort Methode an und schließt damit ab. Gleich zu Beginn des Paragraphen 1 deutet Kant, indem er das zentrale Thema des Werkes, die Unterscheidung zwischen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis und den ihnen eigenen Gegenständen (sensibilia und intelligibilia), vorwegnimmt, hin „ad duplicem [... ] e mentis natura genesin [ ... ] quae, quoniam, exempli instar, methodo in metaphysicis penitius perspiciendae inservire potest, rnihi haud parum commendabilis esse videtur" („auf die zweifache Entstehung aus der Natur der Erkenntniskraft [... ] sie kann als Beispiel dafür dienen, die Methode im Felde der Metaphysik tiefer zu durchschauen, und scheint mir daher recht empfehlenswert"). Der Schlußabschnitt der Inauguraldissertation kündigt dann schon im Titel den Zusammenhang zwischen Metaphysik und Methode an, und ihr erster Paragraph ist der Unterscheidung zwischen dem Gebrauch der Methode in der
13 de Vleeschauwer, Evolution, (wie Anm. 11), S. 45: .C'est un pamphlet qui, tres vite, depasse son objet primitif pour deverser son sarcasme sur la metapbysique elle-meme." (.Sie ist eine Kampfschrift, die sehr schnell ihren primitiven Gegenstand hinter sieb läßt, um ihren Sarkasmus über die Metaphysik selbst auszugießen.") 14 de Vleeschauwer, Dc!duction, (wie Anm. 4), S. 163: .Si l'on doit au contraire voir dans la Critique une thc!orie de l'objectivite, alors l'importance de Ja Dissertation palit . . „ Ja Dissertation ne construit pas Ja theorie critique de l'objectivite." (.Wenn man dagegen in der Kritik eine Theorie der Objektivität sehen muß, dann verblaßt die Wichtigkeit der Dissertation ... , die Dissertation begründet nicht die kritische Theorie der Objektivität"); ders., Evolution (wie Anm. 11), S. 61: . Je crois personellement que Je probleme de l'objectivitc! est Je probleme spc!cifiquement critique." (.Ich persönlich glaube, daß das Problem der Objektivität das spezifisch kritische Problem ist.") 1s Ders., Deduction (wie Anm. 4), 153: .Kant ne s'est pas pose clairement la question de savoir comment nous allons nous assurer que nous connaissons les choses telles qu'elles som, au moyen de concepts qui ne decoulent pas des choses memes, mais qui sont les formes de Ja spontaneitc! de l'entendement. • (.Kant hat sich die Frage nicht klar gestellt, wie wir sicher gehen können, daß wir mit Hilfe von Begriffen, die nicht von den Dingen selbst herrühren, sondern die die Formen der Spontaneität des Verstandes sind, die Dinge erkennen, wie sie sind.") Vgl. auch ebd. S. 250ff.
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Naturwissenschaft und der Metaphysik gewidmet. 16 Im übrigen sind die metaphysischen Thesen, die er in dem kurzen vierten Abschnitt der Inauguraldissertation vorbringt, gerade eben angedeutet, und de Vleeschauwer bemerkt mit Recht, daß Kant sich nicht sehr klar über die Art und Weise äußere, wie der Verstand die intelligiblen Gegenstände erkenne. Es ist also nicht weiter verwunderlich, wenn der Paragraph 8 die Inauguraldissertation ausdrücklich als ein Beispiel einer Propädeutik zur Metaphysik charakterisiert: „Philosophia autemprima continens principia usus intellectus puri est Metaphysica . Scientia vero illi propaedeutica est, quae discrimen docet sensitivae cognitionis ab intellectuali; cuius in hac nostra dissertatione specimen exhibemus." („Die Philosophie nun, welche die ersten Grundsätze des Gebrauchs des reinen Verstandes enthält, ist die Metaphysik. Die Wissenschaft jedoch, die ihr zur Vorübung dient, ist die, welche den Unterschied der sinnlichen von der Verstandeserkenntnis lehrt; wovon wir in dieser unserer Abhandlung eine Probe liefern.") Um den tieferen Zusammenhang zwischen Inauguraldissertation und Kritik der reinen Vernunft zu verdeutlichen, vergleiche man schließlich die zitierten Textstellen der Inauguraldissertation mit dem bekannten Abschnitt aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: „In jenem Versuche, das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern, und dadurch, daß wir nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen, besteht nun das Geschäfte dieser Kritik der reinen spekulativen Vernunft. Sie ist ein Traktat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst" (B XXII). Die Gegenüberstellung von Naturwissenschaft und Metaphysik ist der rote Faden, der die Inauguraldissertation auch an die vorhergehenden Werke anbindet, angefangen bei den Gedanken von der wahren Schtitzung der Lebendigen Kräfte , wie Norbert Hinske überzeugend nachgewiesen hat. 17 Weist man der Inauguraldissertation „une place apart" zu, wie de Vleeschauwer verlangt, muß man diese Zuordnung eher als eine Herausarbeitung der Besonderheit der Dissertation von 1770 im Hinblick auf die Kontinuität des zentralen und bleibenden Themas verstehen, das die Entwicklung des Kantischen Denkens leitet. Was die Inauguraldissertation unter diesem besonderen Gesichtspunkt aus den vorhergehenden Werken heraushebt, ist nicht nur die Unterscheidung zwischen logischem und realem Verstandesgebrauch, sondern vor allem die Grundlegung der Geometrie und der Mechanik ausgehend von der ursprünglichen Anschauung (intuitus originarius) des Raumes und der Zeit und vom Verstandesbegriff der Zahl, der seinerseits zu seiner konkreten Ausführung die zeitliche und räum-
16 .De methodo circa sensitiva et intellectualia in metaphysicis" .• „. in scientia naturali, et Mathesi, usus dat methodum .... Verum in Philosophia pura, qualis est Metaphysica, „. Methodus antevertit omnem scientiam. • (.Von der Methode in Bezug auf das Sinnliche und das Intellektuelle im Felde der Metaphysik.• • ... in der Naturwissenschaft und Mathematik, gibt der Gebrauch die Methode . „ . Aber in einer reinen Philosophie wie der Metaphysik ... geht die Methode aller Wissenschaft vorher.") (§ 23) 11 Norbert Hinske, Kants Weg zur Transzendentalphilosophie. Der dreißigjährige Kant, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1970, S. 83 ff.
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liehe Anschauung voraussetzt18 • Aus diesen Voraussetzungen geht jener Schluß hervor, der gegenüber dem rationalen Wolffianismus eine tiefgreifende Neuerung darstellt: „Sensualium itaque datur scientia" („Bei den Sinneserkenntnissen gibt es demnach Wissenschaft"). Im Gegensatz zur Kritik der reinen Vernunft liegt der Dreh- und Angelpunkt dieser Unterscheidung in der von Kant in der Inauguraldissertation postulierten Möglichkeit einer Neubegründung der Metaphysik durch einen von aller Beimischung des Sinnlichen gereinigten (sensitivae cognitionis cum intellectuali contagium) realen Verstandesgebrauch. Dieses wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen beiden Werken ist eng an die in der Inauguraldissertation behauptete Identität von Verstand und Vernunft (cognitio intellectualis seu rationalis) sowie von Verstandesbegriffen (conceptus intellectuales) und reinen Ideen (ideae purae) geknüpft. Die Kritik der reinen Vernunft dagegen unterscheidet sorgfältig zwischen Verstand und Vernunft einerseits und den „reinen Verstandesbegriffen (Kategorien)" und „Begriffen der reinen Vernunft (transcendentalen Ideen)" andererseits. Der Unterschied (discrimen) zwischen Sinnlichkeit und Verstand ist grundlegend für die in der Inauguraldissertation in Angriff genommene Neubegründung der Metaphysik; im übrigen bilden die Formen der sinnlichen Anschauung die Grundlage der Naturwissenschaften. Diese Lehrstücke legen Rechenschaft ab über die durchdachte und genaue Ausarbeitung der in der Inauguraldissertation dargebotenen Lehre von Raum und Zeit. Auch die Unterscheidung zwischen Phaenomena und Noumena sowie zwischen logischem und realem Verstandesgebrauch richtet sich nach den theoretischen Absichten dieser Unterscheidung. Es besteht also eine enge Verbindung zwischen den Inhalten der Kantischen Schrift. Verkennt man aber die innere Einheitlichkeit der grundlegenden Thesen der Dissertation von 1770 und legt dagegen den Akzent auf einzelne, vom Kontext losgelöste und mit einzelnen, früheren oder späteren Phasen des Kantischen Denkens wieder verbundene Aspekte des Werkes, dann nimmt man entweder die Alternative der „beiden möglichen Lesarten " an, wie es Rosario Assunto tut, oder man folgt, wie de Vleeschauwer, gleichzeitig beiden Lesarten oder man bemüht sich, wie Schmucker, die Dissertation von 1770 in die kritische Periode einzuordnen, nachdem er, kaum zu Recht, die vorkritische mit der dogmatischen Periode identifiziert hat. 19 Die Schwierigkeiten, auf die die Kantinterpreten bei der philosophiegeschichtlichen Einordnung der Inauguraldissertation stoßen, stehen in engem Zusammen-
18 .Hinc Mathesis pura spatium considerat in Geometria, tempus in Mechanica pura. Accedit hisce conceptus quidam, in se quidem intellectualis; sed cuius tarnen actuatio in concreto exigit opitulantes notiones temp0ris et spatii (successive addendo plura et iuxta se simul p0nendo), qui est conccptus numeri, quem tractat Arithmetica." (.Daher betrachtet die reine Mathematik den Raum in der Geometrie, die Zeit in der reinen Mechanik. Zu diesen kommt ein gewisser Begriff hinzu, der an sich zwar intellektuell ist, dessen Verwirklichung in concreto aber dennoch die Hilfsbegriffe von Zeit und Raum fordert (dadurch, daß man mehreres nacheinander hinzutut und nebeneinander zugleich setzt); das ist der Begriff der Zahl, den die Arithmetik behandelt.") (§ 12) 19 Zur Entwicklung des Kantischen Denkens um die siebziger Jahre vgl. die scharfsinnigen Beobachtungen von Ernst Cassirer, Kants Leben und Lehre, Berlin 1918, S. 97 ff.
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hang mit denen, die aus ihrer Entstehung herrühren, d.i. aus der Frage, inwieweit Kant sich bewußt war, daß er an einem entscheidenden Punkt in seiner philosophischen Entwicklung stand, dem zehn Jahre des Schweigens folgen werden. Ein Anzeichen für die Komplexität der Fragestellung sind die feinen Schwankungen zwischen dem Hauptwerk de Vleeschauwers, seinem der Entstehung der 'Antinomien' gewidmeten Artikel in Mind 20 und der Evolution. Sich auf die Untersuchungen Riehls und Erdmanns berufend, räumt er in der Deduction ein, daß die Antinomie bei der Entstehung der Inauguraldissertation eine erhebliche Rolle gespielt habe, unterstreicht jedoch deren enge Beziehung zu den Reflexionen über den Raum und schließt: „Que Je probleme de l'espace et de l' antinomie se confondent en grande partie pour ne plus former qu'un prob!eme." („Daß das Problem des Raumes und der Antinomie sich zu einem großen Teil vermischen und nur noch ein Problem bilden.") Im Artikel in Mind äußert de Vleeschauwer Zweifel an der enthüllenden Rolle („röle revelateur") der Antinomien im Jahre 1769 und gibt zu bedenken, daß bisher noch kein Interpret das kleine Geheimnis aufgelöst habe, woher Kant 1769, dem Jahr des „großen Lichts", selbst der Gedanke der Antinomie („l'idee meme des antinomies") gekommen sei: „C'est que, malgre tout, un petit mystere continue aentourer le vraie röle joue par l'antinomie a ce moment precis. Le premier signal du criticisme est donne dans Ja Dissertatio. Or cet ouvrage, loin de traiter ex professo des antinomies, ne les mentionne meme d 'une maniere expresse . .. " („ Weil , trotz allem, ein kleines Geheimnis fortfährt, die wahre Rolle, die die Antinomie eben zu diesem Zeitpunkt spielt, zu umgeben. Das erste Zeichen des Kritizismus ist in der Dissertation gegeben. Nun aber erwähnt dieses Werk, weit davon entfernt die Antinomien ex professo zu behandeln, sie nicht einmal ausdrücklich . .. ").21 Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Debatte über die Paradoxa, die sich aus dem Konflikt zwischen unendlicher Teilbarkeit der Materie und ihrer Zusammensetzung aus einfachen Teilen erhebt, die in ganz Europa durch den Artikel über Zeno in Bayles Dictionnaire entfesselt worden war. Unter anderem erinnert er daran, daß in den Jahren vor 1770 Eulers Lettres a une princesse allemande und die deutsche Übersetzung des Briefwechsels zwischen Leibniz und Clarke erschienen waren . Schließlich gelangt de Vleeschauwer in der Evolution zu dem problematischen Schluß: „On pourrait croire sur la foi de nos textes que le probleme des antinomies a ete Je berceau du criticisme ... . Quoi qu' il en soit, c 'est en tout cas sur la base de l' espace absolu que le probleme antinomique pouvait etre souleve." („Auf das Zeugnis unserer Texte hin könnte man glauben, daß das Antinomienproblem die Wiege des Kritizismus darstelle .... Was es auch immer sei , in jedem Fall konnte das Antinomienproblem nur auf der Grundlage des absoluten Raumes entstehen. ")22
20 de Vleeschauwer, Les antinomies kantiennes et la Clavis universalis d' Arthur Collier, in: Mind. New Series 47 (1938), S. 303-320. Im folgenden zitiert als Les antinomies. 21 Ebd. , S. 306. Eine ähnliche These, in der sich aber keinerlei Hinweis auf die Antinomien findet, wird von Klaus Reich in der Einleitung zu seiner im Verlag Felix Meiner erschienenen zweisprachigen Ausgabe der Inauguraldissertation vertreten. 22 de Vleescbauwer, Evolution, (wie Anm. 11), S. 58.
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Zweifellos hat, wie de Vleeschauwer in seinem Artikel in Mind mit außerordentlicher Kompetenz und Klarheit aufgezeigt hat, die Gesamtheit der Probleme, die mit dem Begriff des Raumes in Verbindung stehen, in den Jahren seit dem Versuch Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume von 1768 bis hin zur Dissertation von 1770, den Gegenstand des Kantischen Denkens gebildet. Es versteht sich, daß Kant in der Inauguraldissertation mittels der Unterscheidung zwischen Sensiblem (sensibilia) und Intellektuellem (intellectualia) eine Lösung der mit dem Raum verbundenen metaphysischen Fragen findet oder zu finden glaubt, etwa nach der Gegenwart Gottes in der Welt (virtuelle Gegenwart, nicht örtliche; praesentia virtualis, non localis) (§ 27) und der Gemeinschaft von Seele und Leib (abgeleitete Örtlichkeit, nicht ursprüngliche; localitas derivativa, non primitiva) (§ 30. Nota), letztere ein zentrales Thema der Träume eines Geistersehers. Es gelingt ihm überdies, die Betrachtungen über den Ursprung des Inkongruenten in einen angemesseneren Begriffszusammenhang einzuordnen, da die subjektiven Bedingungen der Unterscheidung der Gegenden im Raume, Oben und Unten, rechte und linke Seite, vordere und hintere Seite sich besser mit der Vorstellung des Raumes als einer reinen Form der Sinnlichkeit (intuitus purus) vereinbaren als mit dem Postulat des absoluten Raumes .23 In der Dissertation von 1770 weist Kant ausdrücklich auf die Frage des Inkongruenten hin, wenn er den Begriff "incongruent", den er in der vorangegangenen Schrift gebraucht, durch den lateinischen Neologismus "discongruens" ersetzt (§ 15.C). Dennoch ist es gleichfalls unbezweifelt, daß der Begriff der Zeit - verglichen mit dem des Raumes - in der Inauguraldissertation eine zentrale und hervorragende Stelle einnimmt. Im ersten Abschnitt des Werkes, in welchem die grundlegenden Thesen umrissen werden, erscheint der Begriff Raum (spatium) nur einmal in Verbindung mit Zeit (tempus): „conceptibus spatii ac temporis" („ von den Begriffen des Raumes und der Zeit"), während der Begriff Zeit (tempus) sieben Mal begegnet. 24 Auf den Raum wird aber, was das einmalige Vorkommen von spatium nicht belegt, häufiger hingewiesen, und zwar in der Wendung : )nfinitum simultaneum" (das gleichzeitige Unendliche), die synonym mit "continuum" (das Stetige) gebraucht wird. Es scheint daher bezeichnend, daß das räumliche Kontinuum in zeitlichen Begriffen ausgedrückt wird, da simultaneus (gleichzeitig) offensichtlich ein Adjektiv ist, das der Zeit angehört. Diese, wenn man will banale Anmerkung, hat ihr genaues begriffliches Gegenstück. Kant behauptet in der Tat, daß die Prozesse der Analysis und Synthesis, die den metaphysischen Begriff Welt durch die Zusammensetzung ihrer Teile (compositio, simplicia; totum, partes) und durch die Aufeinanderfolge ihrer Zusttinde (status
23 Vgl. 1. Kant, Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume, in: Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2: Vorkritische Schriften Il. 1757-1777, Berlin 21912, S. 375-383. 24 Wie die Indizes belegen, ist tempus (Zeit) der philosophische Begriff, der mit 108 Stellen einen höheren Rang (Platz acht) einnimmt; ihm folgt unter den größeren Häufigkeiten conceptus (Begriff), das sich mit 98 Stellen auf Platz 10 findet.
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successivi) erklären, in ihrer konkreten Ausführung durch das sinnliche Erkenntnisvermögen (per facultatem cognoscendi sensitivam), die Bedingungen der Zeit voraussetzen: die Synthesis beruht auf „condicionibus temporis" („auf Bedingungen der Zeit") (§ 1) und dasselbe gilt für die „analysin, quae iterum nititur condicione temporis" („Zergliederung, die wiederum auf den Bedingungen der Zeit beruht") {ebd.). Außerdem ist das aufeinanderfolgende Unendliche (infinitum successivum), in dem die Unteilbarkeit der Zeit in den Vordergrund rückt, die Bedingung des gleichzeitigen Unendlichen (infinitum simultaneum), d.i. des räumlichen Kontinuums: „Verum si infinitum simultaneum admittatur, concedenda etiam est totalitas infiniti successivi, posteriori autem negata, tollitur et prius." {„Allein, wenn man ein gleichzeitiges Unendliches zuläßt, so muß man auch die Ganzheit des aufeinanderfolgenden Unendlichen einräumen, verneint man aber die letztere, so hebt man auch das erstere auf.") (§ l.III) Schließlich bekräftigt Kant im Zusatz zum Paragraphen 15, daß die Zeit sich mehr als der Raum einem allgemeinen und Vernunftbegriff nähere; Scaravelli, der sich auf diese Stelle bezieht, bemerkt daher zu Recht, daß in der lnauguraldissenation die Zeit den Vorrang („primato") vor dem Raum einnehme. 25 In der Dissertation von 1770 begegnet man also noch einmal einer scheinbar paradoxen Tatsache, die leicht der Aufmerksamkeit entgeht: die mit dem Raum verbundenen Probleme stehen am Anfang jener Betrachtungen, die zur lnauguraldissenation führen; in ihr finden sich die Lösungen jener metaphysischen und epistemologischen Schwierigkeiten, die, wenn auch nicht ausschließlich, so doch vorwiegend, an den Raum gebunden sind; und doch ist der Angelpunkt, um den sich die Kantische Beweisführung dreht, in hervorragender Weise, wenn auch nicht ausschließlich, der Begriff der Zeit. Die Aufgaben, die sich Kant in der Inauguraldissertation unter den Begriffen des aufeinanderfolgenden und des gleichzeitigen Unendlichen (infinitum successivum, infinitum Simultaneum) stellt, sind eng mit denen verbunden, die in der Nova dilucidatio und in der Monadologia physica abgehandelt wurden, in denen der Zusammenhang zwischen Metaphysik und Naturwissenschaften mit Blick auf Leibniz und die Wolffianer im Mittelpunkt der Überlegungen steht. In der Nova dilucidatio nimmt er in der Tat das Problem des Satzes des Zugleichseins (principium coexistentiae) der Substanzen im Vergleich mit dem Satz der Aufeinanderfolge (principium successionis) ihrer Bestimmungen durch eine Analyse des Begründeten (rationatum), die in gedrängter Form in der Inauguraldissertation wiederaufgenommen wird, in Angriff. 26 Die Monadologia physica dagegen for2s • Tempus autem universali atque rationali conceptui magis appropinquat, complectendo omnia omnino suis respectibus, nempe spatium ipsum et praeterea accidentia, quae in relationibus spatii comprehensa non sunt, uti cogitationis anirni." (.Die Zeit aber nähen sich mehr einem allgemeinen Vemunftbegriff, indem sie schlechthin alles in ihren Beziehungen umfaßt, nämlich den Raum selber und die Akzidenzien, die in den Verhältnissen des Raumes nicht einbegriffen sind, wie die Gedanken des Gemüts.") Vgl. Luigi Scaravelli, Gli incongruenti e La genesi dello spazio kantiano, in: Scritti Kantiani, Florenz 1968, S. 306. 26 I. Kant, Principiorum primorum cognitionis metapbysicae Nova Dilucidatio, in: Kant's gesammelte Schrift.eo, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 1: Vorkriti· sehe Schriften 1. 1747-1756, Berlin 21910, passim.
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mulierte ausdrücklich das Problem des Stetigen: „Sed quo tandem pacto hoc in negotio metaphysicam geometriae conciliare licet, cum gryphes facilius equis, quam philosophia transcendentalis goometriae iungi posse videantur? Etenim cum illa spatium in infinitum divisibile esse praefracte neget, haec eadem, qua cetera solet, certitudine asseverat. " („Doch auf welche Art und Weise läßt sich denn bei diesem Geschäft die Metaphysik mit der Geometrie zusammenbringen, da man Greife leichter mit Pferden als die Transzendentalphilosophie mit der Geometrie verbinden zu können scheint? Denn während jene schroff verneint, daß der Raum ins unendliche teilbar sei, behauptet es diese mit ihrer gewohnten Gewißheit und Strenge. ")27 Andererseits verweisen das aufeinanderfolgende Unendliche (infinitum successivum) und das gleichzeitige Unendliche (infinitum simultaneum) auf die in der ersten und zweiten Antinomie gestellten Probleme, das ist auf die Fragen, ob die Welt einen Anfang in der Zeit habe oder nicht und ob eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt aus einfachen Teilen bestehe oder nicht. Man kann also verstehen, wie der Gedanke der Antinomien, das ist eigentlich eine spezifische, mit dem Begriff des Unendlichen verbundene Problematik, 1769 in Kants Denken aufgetaucht ist; sie ist in der Tat die Frucht des Heranreifens von alten Problemen und ihrer Wiederaufnahme in bestimmteren und komplexeren Begriffen. Sie standen immer im Brennpunkt seiner Überlegungen und werden ihren Ausdruck und ihre endgültige Lösung in der Kritik der reinen Vernunft finden. Wie Hinske hervorgehoben hat, bezeichnet Kant, in offensichtlicher Anspielung auf die Leibnizische Wendung labyrinthus continui (Labyrinth des Stetigen), mit dem Begriff labyrinthus die metaphysischen Schwierigkeiten, die er in der Nova dilucidatio und in der Monadologia physica in Angriff genommen hatte.28 In der Anmerkung, die er in der Inauguraldissertation dem Unendlichen widmet und in der er die Verwechslung des Unendlichen (infinitum) mit dem Größten (maximum) kritisiert, verweist Kant auf die Leibnizische Tradition, auf „Leibnizius et asseclae" („Leibniz und seine Schüler") , wie er ausdrücklich in einem anderen Zusammenhang sagt (§ 14.5). Die Syntagmen infinitum successivum (aufeinanderfolgendes Unendliches) und infinitum simultaneum (gleichzeitiges Unendliches) gehören nicht zur Fachterminologie Leibnizens, ihr Ursprung läßt sich jedoch bis auf den leibnizianischsten der Wolffianer, Alexander Gottlieb Baumgarten, zurückverfolgen. Er unterscheidet in seiner Metaphysica, nachdem er den Begriff der Monade eingeführt hat, zwischen einem auf einmal Seienden (ens simultaneum) und einem nach und nach Seienden (ens successivum): „Coniuncta iuxta se posita sunt simultanea, post se posita successiva. Totum simultanoorum est ens simultaneum, successivorum Ens successivum"
27 1. Kant, Metaphysicae cum geometria iunctae usus in philosopbia naturali, cuius specimen 1. continet monadologiam physicam, in: Kant 's gesammelte Schriften, bg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. l: VorkritiscbeSchriften 1. 1747-1756, Berlin21910, S.475. 28 Hinske, (wie Anm. 17), S. 101. Wie aus dem folgenden hervorgeht , taucht die Wendung ' inextricabili labyrintho' ('unentrinnbares Labyrinth ') in der lnauguraldissertation in einem sehr bedeutungsvollen Zusammenhang auf, nämlich in Bezug auf jene metaphysische Schwierigkeit, die auftritt, wenn man den Begriff der Zeit, dessen Gültigkeit sich nur auf die Realität von Erscheinungen erstreckt, auf die intelligible Gegenwart Gottes auszudehnen sucht.
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(„Dinge, die bei einander sind, sind nebeneinander seiend, die nach einander sind, aufeinanderfolgend. Das Ganze der nebeneinander seienden Dinge ist ein auf einmal Seiendes, der aufeinanderfolgenden ein nach und nach Seiendes"). 29 Was die Schwierigkeiten angeht, die sich im Labyrinth des Unendlichen und des Stetigen verbergen, so läßt sich die Besonderheit der Inauguraldissertation in drei Punkten zusammenfassen, die aufs engste miteinander verbunden sind: 1) die Entdeckung des Zusammenhangs zwischen aufeinanderfolgendem und gleichzeitigem Unendlichen (infinitum successivum, infinitum simultaneum), das ist, daß die Zeit auch auf die Vorstellung des räumlichen Stetigen einwirkt; 2) ein heuristisches Beweisverfahren, um jene Schwierigkeiten ans Licht zu ziehen, die aus der Vorstellung des Unendlichen als in der Zeit seiend herrühren, und das eine trügerische Ähnlichkeit mit den 'Antinomien' der Kritik der reinen Vernunft aufweist; 3) der Versuch, der sich als kurzlebig erweisen sollte, durch die Unterscheidung zwischen sinnlicher Anschauung, deren Form in hervorragender Weise die Zeit ist, und dem Verstand, dessen Gebrauch real, das ist frei von jeder Vermischung mit dem Sinnlichen sein soll, einen Ausweg aus diesem Labyrinth zu finden. Das heuristische Beweisverfahren der Inauguraldissertation wird sehr genau durch die Begriffe elencticus (elenktisch) und reductio (Widerlegung) bestimmt; der letztere ist in der Redewendung „principium reductionis axiomatis cuiuslibet subrepticii" („Grundsatz der Widerlegung eines jeden erschlichenen Axioms") gegenwärtig.30 Kant unterscheidet zwischen einem negativen und einem dogmatischen Zweck der Verstandesbegriffe, und führt dazu aus, daß der elenktische Zweck der Verstandeserkenntnisse (jinis elencticus intellectualium) einen negativen Nutzen habe, der verhindere, daß die Sinnlichkeit sich in den Verstand mische, das heißt, daß sinnliche Begriffe (sensitive concepta).mit Verstandesbegriffen (noumena) verwechselt werden.31 Elencticus ist von elenchus abgeleitet,
29 Alexander Gottlieb Baumgarten, Metaphysica, § 230, S. 69: .Substantia vel est simplex, vel composita. Prior Monas (atomus, perfecta unitas) dicitur." (.Eine Substanz ist entweder einfach oder zusammengesetzt. Die erste wird Monade (Atom, vollkommene Einheit) genannt.") Die Unterscheidung zwischen ens simultaneum und ens successivum findet sich in § 238, S. 71. 30 In der sehr häufig zitierten und diskutierten Refl. 5037: .Das Jahr 69 gab mir grosses Licht", weist Kant auf seine Versuche hin, Satz und Gegensatz zu beweisen, um eine vermutete Illusion des Verstandes zu entdecken (.eine Illusion des Verstandes, worin sie släke"). Es läßt sich nur schwer feststellen, ob Kant auf das heuristische Verfahren Bezug nimmt, das man ausgehend vom Text der Inauguraldissertation rekonstruieren kann, oder ob Kant eben nur im Rückblick auf ein Denken, das sieb in einem fortwährenden und schnellen Wechsel vollzogen hat, eine sukzessive Entwicklung annimmt. Die Absicht dieser Vorrede ist, wie bereits gesagt, kurz einige begriffsgescbichtliche Zusammenhänge des Textes zu erläutern, ohne aus den Reflexionen, dem Briefwechsel aus den siebziger Jahren oder irgendwelchen anderen Dokumenten, einschließlich der nachfolgenden Selbstinterpretationen Kants, zu schöpfen. Diese Materialien sind in der Kantliteratur über diese Periode hinreichend diskutiert worden. Man vergleiche den Beitrag von Giorgio Tonelli, Die Umwälzung von 1769 bei Kant, in: Kant-Studien 54 (1963), S. 369-375, der wertvolle Hinweise und scharfsinnige Beobachtungen enthält, auch wenn der Verf. die Schlußfolgerungen dieses gelehrten Wissenschaftlers nur partiell teilen kann. 31 . Intellectualium duplex potissimum finis est: prior elencticus, per quem negative prosunt quando nempe sensitive concepta arcent a noumenis." (.Die Verstandeserkenntnisse haben vorzüglich einen zweifachen Zweck. Der erstere ist elenktisch: durch ihn sind sie von negativem Nutzen, weil sie nämlich das sinnlich Erfaßte von den Noumena fernhalten.") (§ 9)
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der Transliteration des aristotelischen Begriffs elenchos; Aristoteles nämlich definiert die Widerlegung als einen Syllogismus, der den verneinenden Satz aus der Schlußfolgerung des Gesprächspartners ableite. 32 Eine Bestimmung der logischen Form der Widerlegung wird durch den Begriff reductio gegeben, der im Lexicon philosophicum von Chauvin wie folgt definiert wird: „Reductio autem per impossibile est, qua is , qui negat bonitatem syUogismi imperfecti, eo redigitur, ut cogatur aliquid impossibile aut absurdum concedere .... Atque ideo haec reductio indirecta vocatur et per repugnantiam [„.]" („Die Widerlegung durch das Unmögliche aber ist, daß derjenige, der die Gültigkeit eines unvollkommenen Schlußes leugnet, so weit gebracht wird, daß er etwas Unmögliches oder Ungereimtes zugeben muß[ ... ] Und daher heißt diese Widerlegung indirekt und durch einen Widerspruch.") Aristoteles nenntjenen Syllogismus unvollkommen, der die Ergänzung einer oder mehrerer Bestimmungen verlangt, diese wiederum werden notwendig durch die zugrundegelegten Begriffe erfordert, sind aber nicht in den Prämissen mit gegeben. 33 Während Kant die Blendwerke des erschlichenen Axioms der zweiten Klasse erläutert, sei es, daß sie die beiden Gesichtspunkte des Unendlichen, sei es, daß sie den Zusammenhang zwischen dem Satz des Widerspruchs und der Zeit betreffen, versichert er, daß in beiden Fällen die Zeit als Mittel (medium) diene. 34 Der Zweck der heuristischen Beweisgründe der Inauguraldissertation ist es also, folgendes aufzuzeigen: wenn man in die Diskussion um das Unendliche den Begriff Zeit (tempus) einbringt, der nicht aus den Prämissen übernommen wurde und dennoch notwendig zu der konkreten Vorstellung des aufeinanderfolgenden Unendlichen (infinitum successivum) und des gleichzeitigen Unendlichen (infinitum simultaneum) erfordert wird, dann ist man gezwungen, etwas Widersprechendes oder Ungereimtes anzunehmen. Darin besteht die Widerlegung der Leibnizianer. Kant, obwohl er zum Dasein des wirklichen mathematischen Unendlichen (infinitum mathematicum actuale) nicht Stellung bezieht, behauptet in der Tat, daß das Ungereimte dann auftrete, wenn man, wie es seiner Meinung nach die Leibnizianer tun, die sinnliche Anschauung der Zeit in eine Eigenschaft der Dinge verwandle, und diese stillschweigend zu einem Prädikat des Begriffs des Unendlichen werde. Denn für Kant ist, wie oben bereits dargelegt wurde, die Zeit keine Eigenschaft, die dem Verstandesbegriff des Unendlichen prädiziert werden kann, sondern die Bedingung der Möglichkeit seiner Vorstellung durch die sinnliche Anschauung. Die Beweisführung in Anbetracht der beiden Gesichtspunkte des Unendlichen, das ist des aufeinanderfolgenden Unendlichen (infinitum successivum) und des
Aristoteles, Analytica Priora, 66b. Ebd. , 24bl0 34 "In utroque conceptus temporis quidem non ingreditur notionem ipsam praedicati, neque censetur nota esse subiecti, attamen ut medium inservit conceptui praedicati informando, adeoque ... nonnisi ipsius subsidio ad hunc pertingimus." ("In beiden dringt der Begriff der Zeit zwar nicht in den Begriff des Prädikats selber ein und wird auch nicht für ein Merkmal des Subjekts gehalten, aber er dient doch als Mittel, um den Begriff des Prädikates zu bilden, sofern „ . wir zu diesem nur mit seiner Unterstützung gelangen.") (§ 28) 32 33
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Stetigen (continuum), werden in der Inauguraldissertation in einer logischen Form vorgetragen, die scheinbar derjenigen der beiden ersten Antinomien der Kritik der reinen Vernunft ähnlich ist. Eine lange und bedeutende philosophiegeschichtliche Tradition, die de Vleeschauwer wieder aufgegriffen hat, hat eine Analogie zwischen diesen und jenen gesehen. 3S 1970 hat Norbert Hinske versucht, den Antinomiebegriff der Inauguraldissertation im Hinblick auf denjenigen der Kritik der reinen Vernunft genauer zu bestimmen, indem er ihn in der Nichtübereinstimmung der Gesetze des Verstandes und der Vernunft (intellectus et rationis) mit den Gesetzen der anschauenden Erkenntnis (cognitionis intuitivae) ansiedelt: "Zwar kennt Kant auch in dieser Schrift noch keinen Widerstreit von Gesetzen der reinen Vernunft, aber der 'dissensus' von verschiedenen Gesetzen der menschlichen Erkenntnis ist eines seiner beherrschenden Themen" 36 • Gegen die These Hinskes hat Schmucker polemisiert: "Und wo sollte hier auch eine Antinomie stecken, wenn die sinnliche Erkenntnis, deren Objekt die Welt als Erscheinung ist, den Intellektualbegriff von Welt nicht anschaulich zu vergegenwärtigen vermag, zumal Kant immer wieder betont, daß daraus nicht auf die Unmöglichkeit des nicht mehr sinnlich Vorstellbaren geschlossen werden kann?" 37 Mit anderen Worten, wie kann eine Nichtübereinstimmung (dissensus) zwischen zwei verschiedenen Vermögen eine Schwierigkeit begründen oder Schwierigkeiten erzeugen, wenn jedes einzelne Vermögen seine Grenzen nicht überschreitet? Wenn aber eine strenge Unterscheidung zwischen beiden Vermögen, das ist ihrer Erzeugung und nicht einer bloßen Verschiedenheit des logischen Grades (Undeutlichkeit und Deutlichkeit) nach, der Schlüssel zur Lösung der Schwierigkeiten ist, muß man annehmen, daß an deren Ursprung eine Verwechslung der Bereiche steht. Was die Inauguraldissertation angeht, wo der Begriff, wie de Vleeschauwer bemerkt, nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist also eine gewisse Vorsicht im Gebrauch des Begriffs Antinomie angebracht. Wenn man den Begriff „Antinomie (Widerstreit der Gesetze)" aus der Kritik der reinen Vernunft entlehnen will, um anzudeuten, daß das sinnliche und das intellektuelle Erkenntnisvermögen O. In der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant vom transzendentalen Schein, der die Vernunft veranlasse, die Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs für objektive Grundsätze der Bestimmung der Dinge an sich selbst oder auch Noumena zu halten. Die transzendentale Dialektik ist die Logik dieses Scheins, das ist das Werkzeug, das ihre Gliederung freilegt. Aber die Illusion des Verstandes ist natürlich und unvermeidlich, auch wenn die transzendentale Reflexion zumindest ein Gegengift gegen diese Illusion darstellen kann. In der Inauguraldissertation dagegen hält Kant einen realen Gebrauch des Verstandes oder der Vernunft für möglich , und die 'elenktischen' Beweisführungen sollen dazu dienen , den Weg zur Bestimmung des Noumenons von dem Hindernis des Erschleichungsfehlers (vitium subreptionis) freizuräumen. Derartige Beweisführungen schreiben also ein Heilmittel vor, das in der Unterscheidung von Sinnlichkeit und Verstand besteht, so, daß die reine Vernunft (intellectus purus), frei von aller Vermischung (contagium) mit der Sinnlichkeit, die objektive Wirklichkeit der Ideen oder auch die intelligibilia erfassen kann. ln der Dissertation von 1770 hat Kant daher die zeitweilige Hoffnung gehegt, daß seine Liebe zur Metaphysik ihrer Erfüllung nahe sei; wie man sich erinnern wird, hatte er in den Träumen über den Mangel an Gunst geklagt, die ihm die Metaphysik erweise: „Die Metaphysik, in die ich das Schicksal habe, verliebt zu sein" 61 • [Übersetzung: Birgit Nehren)
Die Schwierigkeiten, die die Frage nach der entwicklungsgeschichtlichen Einordnung von Kants Inauguraldissertation von 1770 den Kantinterpreten bereitet, versucht der Verfasser durch die Erläuterung so grundlegender Begriffe wie reluctantia subjectiva und repugnantia objectiva aufzuhellen. Es soll gezeigt werden, daß Kant in dieser Phase seines Denkens das Hindernis bei der Grundlegung der Metaphysik im vitium subreptionis, in der Vermischung von sinnlichen und Verstandesbegriffen, sah. Die Nichtübereinstimmung von sinnlichem und intellektuellem Vermögen macht es der Erkenntniskraft unmöglich, metaphysische Begriffe, deren Ursprung im Verstand liegt, in sinnliche Anschauungen
60 Natürlich ist den Gelehrten der von Kant klar herausgestellte logische Unterschied zwischen den widerlegenden Beweisführungen der Inauguraldissertation(§ 28) und den antinomischen Beweisen der Krit.ik der reinen Vernunft nicht entgangen, aber er ist nie genau untersucht worden und vor allem wurden nie die erforderlichen Konsequenzen daraus gezogen. 61 1. Kant, Träume eines Geistersehers, erläutert durch die Träume der Metaphysik, in: Kant 's gesammelte Schriften, hg . von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften , Bd. 2 : Vorkritische Schriften II . 1757-1777, Berlin 21912, S. 367.
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umzuwandeln. Aufdiese Art verursacht das subjektive Widerstreben zwischen Sinnlichkeit und Verstand den trügerischen Schein eines objektiven Widerstreits metaphysischer Begriffe. Wird die eigentliche Beschaffenheit des subjektiven Widerstreits eingesehen, ltißt sich auch der Unterschied zwischen dem elenktischen Verfahren der Inauguraldissertation und den Antionomien der KrV genauer bestimmen. By explicating such fundamental concepts as reluctantia subjectiva and repognantia objectiva the autor attemps to darify the difficulties posedfor interpreters of Kant by the question of the place of the inaugural dissertation of 1770 in the history of his development. lt is to be shown that in this phase of his thought Kant saw the obstacle to the founding of metaphysics in the vitium subreptionis, in the confusion of sensitive and intellectual concepts. The non-correspondence of the sensitive and the intellectual faculty makes it impossible for the capacity of knowledge to transform metaphysical concepts, the origin ofwhich Lies in the understanding, into sensitive intuitions. In this manner the subjektive opposition of sensitivity and understanding brings about the deceptive illusion ofan objective repugnancy of metaphysical concepts. Jf the genuine character of the subjective repugnancy is recognized, the difference between the elenctic procedure of the inaugural dissertation and the antinomies of the Critique of Pure Reason can also be more precisely determined.
Dr. Pietro Pimpinella, Lessico lntellettuale Europeo - CNR, Universitll La Sapienza (Roma), Via Nomentana 118, 1-00161 Roma
MASSIMO MORI
Aufklärung und Kritizismus in Kants Geschichtsphilosophie
/ . Das Erbe der Aujkltirung
Die Geschichtsphilosophie hat im Denken Kants keine systematische Darstellung gefunden. Ihre Behandlung beschränkte sich auf eine Reihe von kleineren und zuweilen gelegentlichen Schriften, die zwischen 1777 und 1798 erschienen sind 1• Aus diesen Schriften und vor allem aus der 'Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht' von 1784, die den ausführlichsten Grundriß der Kantischen Position darstellt, gewinnt man ein progressives Verständnis von Geschichte. Geschichte wird darin als stufenweise Entfaltung der "Naturanlagen" des Menschengeschlechts, die auf den Gebrauch der Vernunft abzielen, verstanden. Wesentliche Abschnitte, wenn nicht gar unerläßliche Bedingungen dieses Prozesses sind sowohl die Errichtung einer vollkommenen Verfassung, die die vollständige Verwirklichung des Rechts innerhalb des Staates gewährleistet, als auch die Schaffung eines Völkerbundes, der den Frieden unter den Staaten garantiert. Werkzeug des geschichtlichen Fortschritts ist dagegen über den freiwilligen Einsatz des Einzelnen hinaus der soziale Antagonismus (die „ungesellige Geselligkeit"), der, obwohl durch die bürgerliche Gesellschaft diszipliniert, den gegenseitigen Eifer weckt und die bürgerliche und kulturelle Weiterentwicklung des Menschengeschlechts fördert. Diese wenigen Grundzüge des Kantischen Geschichtsverständnisses weisen bereits aufseine Nähe zum geschichtsphilosophischen Denken des 18. Jahrhunderts und seine Gemeinsamkeiten mit den komplexen Geistesbewegungen hin, die man der Einfachheit halber "Aufklärung" zu nennen pflegt. Der Zusammenhang wird noch deutlicher, wenn man die Bezüge berücksichtigt, die zwischen
1 Von den verschiedenen Racen der Menschen, 1777; Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784; Beantwortung der Frage: Was ist Aufldärung?, 1784; Recensionen von I. G. Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Theil 1.2., 1785; Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace, 1785; Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, 1786; Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793; Das Ende aller Dinge, 1794; Zum ewigen Frieden, 1795; Der Streit der Fakultäten, 2. Abschnitt , 1798. Kant wird nach der Ausgabe: Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und ihren Nachfolgern, Berlin 21910 ff. (11900 ff.) zitiert. Die römische Zahl bezieht sich auf den Band, die arabische auf