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Die Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die protestantische Welt im Lichte der neueren und neuesten Forschung [Reprint 2019 ed.] 9783111668819, 9783111284095


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German Pages 71 [76] Year 1910

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Die Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die protestantische Welt
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Die Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die protestantische Welt im Lichte der neueren und neuesten Forschung [Reprint 2019 ed.]
 9783111668819, 9783111284095

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Verlag von Alfred Opelmann (vormals 3- Ricker) in Gießen

Johann Lalvin von

H. Boffert Deutsche Ausgabe

besorgt von

Prof. Dr. Hermann Rrollick

Bitt dem Bilde des Reformators

Geh. Irt. 3.60

1908

Geb. Irt. 4.50

Diese Lalvin-Siographie ist von der französischen und deutschen Kritik günstig beurteilt worden. Man rühmt dem Suche umfassende Kenntnis der Werke von und über Calvin, tiefes, nach allen Seiten eindringendes Verständnis des geschilderten Helden, wohl erwogene Urteile sowohl über die Persönlich­ keit als geschichtliche Bedeutung Calvins nach, von den kurzen Calvinbiographien dürfte die vor­ liegende die am besten orientierende sein, die auch die neue Literatur genügend berücksichtigt. (Histor. Jahrbuch.) Der durch wichtige Arbeiten bei uns sehr vorteilhaft bekannte Sossert hat 1906 eine durch gründ­ liches Huellenstudium, gedrängte Zusammenfassung des Stoffs und lichtvolle Darstellung ausgezeichnete Schrift über Calvin veröffentlicht. S.'s Such ist in erster Linie für ein größeres Laienpublikum be­ stimmt. Vieser von dem Verfasser verfolgte Zweck bedingt selbstverständlich eine Reduktion des rein theologischen Materials, tut aber der Wissenschaftlichkeit des Werkes keinen Abbruch. Vie Übersetzung liest sich angenehm und bringt die Vorzüge des französischen Originals in hinreichendem Matze zum Ausdruck. (Cheol. Lit.-3tg.)

Ich fteue mich von Herzen der wohlverdienten Anerkennung, welche die vortreffliche Schrift Vosserts durch diese Übertragung in unsere Sprache gefunden hat. (fl. Baur i. d. Deutschen Lit.-3tg.) Um so mehr aber ist auch die nun vorliegende deutsche Ausgabe mit Freuden zu begrützen, die gewitz manchem willkommen sein wird. Sie liest sich wie ein Original und hat stets den richtigen Ausdruck für das gefunden, was der ftanz. verf. hat sagen wollen. Auch darf bezeugt werden, datz uns hier das Bild des Reformators in voller Deutlichkeit und geschichtlicher Wahrhaftigkeit vor Augen geführt wird, nicht bloh, worin seine Grötze und Bedeutung für die Ausgestaltung des Protestantismus Überhaupt besteht, die vollauf anerkannt wird, sondern auch in dem, worin Calvin seiner Zeit hat Tribut bezahlen müssen und was wir in unseren Tagen nicht mehr zu billigen imstande sind, was man aber doch auch erst recht versteht, wenn man sich in die Schwierigkeiten versetzt sieht, mit denen der Mann in seinen Tagen zu kämpfen gehabt hat. (Lit. Zentralblatt.)

So war es ein glücklicher Gedanke, die treffliche biographische Skizze, die A. Bossert dem fran­ zösischen Reformator gewidmet hat, durch eine wohlgelungene Übersetzung dem deutschen Publikum zu­ gänglich zu machen. (Lit. Rundschau f. d. ev. Deutschland.)

wissenschaftlich zuverlässig auf Grund eingehenden Ouellenstudiums, und dabei doch für jedermann so leicht verständlich geschrieben, datz es zu Vorträgen über Calvin sich ebenso eignet wie zum ver­ senken in Calvin. Am wohltuendsten berührt die freimütige Kritik, mit der der scharfsichtige Verfasser den übertriebenen Schroffheiten der Calvinschen Lebens- und Weltanschauung begegnet. (Kartell-3tg.) Vie packend, glänzend und geistreich geschriebene Biographie Calvins von Bossert liegt uns in einer wirklich guten, durch Anmerkungen wissenschaftlich bereicherten Übersetzung vor. Das Such ist ein treffliches Exempel der ftanzösischen wissenschaftlichen Arbeit, die meisterhaft versteht, ihre Früchte einem weiteren Kreise zugänglich und genietzbar zu machen. (Vie Reformation.)

Vorträge der theologischen Nonserenz zu Sichen 1 - — 30. Folge ■

Vie Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die protestantische Welt im Lichte der neueren nnd neuesten Forschung von

Professor D. Emil ttnodt Direktor des predigerseminars zu Herborn

Verlag von Mfred Töpelmann (vormals 3. Ricker) * Gießen *1910

Druck von C. G. Röder G. m. V. H., Leipzig.

Sr. hochgeboren

dem Herrn Grafen D. Dr. Douglas, dem Nachkommen des edlen schottischen Vekennergeschlechtes, dem Stifter des Evangelischen Trostbundes, dem Vorkämpfer für Volkswohlfahrt

in Verehrung

der Verfasser.

Wenn ich es versuche, über die Bedeutung Calvins und

des Calvinismus

für die protestantische Welt im Lichte der

neueren und neuesten Forschung meine Anschauungen darzulegen,

so bin ich mir der großen Schwierigkeit dieser Aufgabe voll und ganz bewußt, da es sich um ein sehr verwickeltes Problem

handelt, das nur durch das Zusammenwirken von Forschern sehr verschiedener Gebiete (Theologie, Welt- und Kunstgeschichte,

Staatswissenschaft, Nationalökonomie) endgültig gelöst werden kann.

Da aber gerade von nichttheologischer Seite aus in der

letzten Zeit hochbedeutsame Veröffentlichungen über diese Sache

erfolgt sind, so halte ich es für angezeigt, diesem Thema jetzt einmal näher zu treten.

Von der religiösen und kulturellen Bedeutung des Pro­

testantismus überhaupt — mag man nun Alt- und Neuprotestantismus auch verschieden abgrenzen und würdigen — weiß jeder Gebildete etwas zu sagen, aber wieviel von diesem Einfluß bei der Konfessionen- und Völkermischung dem Luthertum, wie­

viel

dem Calvinismus zuzuschreiben ist, ist weniger

bekannt.

Auch ist der Calvinismus selbst ein sehr kompliziertes Gebilde,

weil er sich in der Schweiz, in Frankreich, Holland, England, Schottland, Ungarn, Amerika und Deutschland bei aller Einig­ keit im Geiste doch sehr verschieden entwickelt und ausgeprägt hat.

Ferner muß man auch den früheren Calvinismus vom

späteren unterscheiden.*)

Dabei muß auch auf die kleinen und

*) Vgl. K. Rieker, Grundsätze reformierter Kirchenverfassung. Leipzig

1899. S. 5: „Der moderne Calvinismus unterscheidet sich in wichtigen Punk­

ten von dem des 16. und 17. Jahrhunderts."

6 größeren Denominationen gesehen werden, welche trotz vieler Ab­ weichungen vom Altcalvinismus doch Calvins Geist zum Vater haben, wie Baptisten, Methodisten und andere.

Auch haben sich

Calvinismus und Luthertum beeinflußt: so hat sich z. B. in

manchen Ländern Deutschlands die mild lutherische, von Melanchthon beeinflußte Richtung öfters mit Calvins Geist vermählt und

eigenartige kirchliche Gebilde hervorgebracht, wie z. B. in der Pfalz, Anhalt, Hessen-Cassel, Nassau-Dillenburg usw.; Cuno*) zählt mehr als 30 solcher Territorien in Deutschland auf.

In

diesem, alle von Calvins Geist bestimmend beeinflußte Denomi­

nationen einschließenden Sinn rede ich bei meinen Ausführungen über den Calvinismus (vgl. auch HorstStephan?), A. Kuyper^)

und Kattenbusch^).

A. Kuyper sagt mit Recht: „Man muß

also auch zum calvinistischen Erbe rechnen, was in gewisser Hin­ sicht die gerade Linie verlassen hat.

So ist die Church of

England in ihren 39 Artikeln sehr bestimmt calvinistisch, wenn

sie auch in ihrer Hierarchie und Liturgie den rechten Pfad ver­ ließ, um jetzt im Puseyismus und Ritualismus auf die bedenk­

lichen Folgen dieser Abweichung zu stoßen.

Ebenso entschieden

calvinistisch war die Konfession der Independenten, wiewohl in

ihrem Kirchenbegriff der Individualismus die organische Struk­ tur zerbrach.*)

Und wenn schon die meisten Methodisten schließ­

lich unter Wesleys Einfluß in einen Gegensatz zu

der theo­

logischen Grundauffassung des Calvinismus geraten sind, so war

es doch gerade der calvinistische Geist, der diese geistliche Reaktion

gegen eine damals schon mehr versteinerte Kirche ins Leben rief... Selbst der Baptismus suchte Zuflucht im Lager des Calvinis­ mus. . .

Der Calvinismus, der weder kirchlicher Hierarchie noch

magistraler Einmengung, noch einer ecclesia docens huldigt, *) Vgl. Rieker a. a. O.

S. 55: „Der Jndependentismus bildet zu­

sammen mit dem Baptismus den linken Flügel des reformierten Protestan­

tismus." — S. 84: „In ihm werden gleichsam die verborgenen Gedanken

des Calvinismus offenbar (in bezug auf das Gemeindeprinzip)."

konnte sich nicht anders als in vielgestaltigen Schattierungen entwickeln, mußte dann aber auch, gerade infolge dieser Schat­ tierungen die Gefahr der Abweichung und gegen diese Gefahr eine ebenso einseitige Reaktion ins Leben rufen."

Als später im 17. Jahrhundert der Pietismus sein Leben

in die Totengebeine der Kirche einströmen ließ, war es wieder der Hauch von Calvins Geist, der uns zuletzt auch im Todeskampf der Buren mächtig entgegenweht. Und wenn in der Heilsarmee uns ein Sturm und Drang begegnet, der seine Boten mit ihren abstoßenden Äußerlichkeiten, aber mit ihrer großartigen Selbst­

verleugnung und Aktivität bis in die schmutzigsten Winkel des Lasters hineintreibt, so verspüren wir in dieser Sturmkolonne

— wenn auch karikiert — den militärischen Geist Calvins, der uns dann wieder in ganz andrer Weise in Carlyles Losung „Arbeiten und nicht verzweifeln" entgegentritt. Unter den Völkern Europas und Nordamerikas bis hin nach Indien und Südafrika hat der Calvinismus eine solche

Ausdehnung gewonnen, daß er auch numerisch das Luthertum weit überflügelt, ganz abgesehen von seinen indirekten Einwir­ kungen auf die letztgenannte Kirche. Während sich auf der gan­ zen Erde (vgl. Kattenbusch a. a. O. S. 144) nur ca. 56 Mil­

lionen Lutheraner befinden (darunter in Deutschland ca. 31, in Amerika 6, in Schweden und Norwegen zwischen 7 und 8 Mil­ lionen), gibt es ca. 120 Millionen Calvinisten, zu welchen Nord­ amerika den Hauptanteil mit ca. 57 Millionen stellt; in Groß­

britannien zählt man 57, in Deutschland 3, in Holland 3, in der Schweiz 3, in Ungarn 2%, in Frankreich %, in Kanada 2,

in Australien l1^, in Südafrika 1, in niederländisch Indien ]/4 Million. So ist also der Calvinismus, besonders durch seine Entfaltung in Amerika, die Großmacht des heutigen Pro­ testantismus: eine Tatsache, die für die Lebensfähigkeit und die gemeindebildende Kraft dieser Richtung ein glänzendes Zeugnis ablegt. Man kann es deshalb verstehen, wenn es Karl Müllers

8 „ als

gewiß

erscheint,

daß

in

der

evangelischen Christenheit

der Zukunft der Geist der allgemeinen evangelisch-reformierten

Kirche überwiegen wird," selbstredend in unionistischer Weitherzig­ keit.

Während also die reformierte Kirche mächtig wuchs, ging

schon im 17. Jahrhundert die lutherische zurück.

Es ist bekannt,

daß vor dem dreißigjährigen Kriege ungefähr neun, nach anderen

Angaben sieben Zehntel der deutschen Bevölkerung dem evange­ lischen, hauptsächlich lutherischen Bekenntnis angehörten, daß aber

die Gegenreformation einen großen Teil dieser Gemeinden zer­

störte, da dieselben keine Widerstandskraft hatten, während sich in den meisten Fällen die calvinistischen Gemeinden in allen Ländern widerstandsfähiger erwiesen.

Das erkennt man jetzt

auch in den weitesten Kreisen an, nachdem in den letzten Jahr­

zehnten und besonders auch durch die vor und während des Calvinjubiläumsjahres erschienene Literatur die Kenntnis und

Würdigung Calvins und seines Werkes in das Helle Licht ob­ jektiver Geschichtsforschung gerückt worden ist. Als vor zehn Jahren D. A. Erichson die 1869 von Baum,

Cunitz und Reuß unternommene. 59 Quartbände zählende und ca. 20000 Seiten umfassende Gesamtausgabe von Calvins Werken mit seiner Bibliographia Calviniana abschloß, zählte er bei­ nahe 900 Druckschriften über Calvin auf, die sich mit dem Leben,

der Theologie und dem Werke Calvins beschäftigen und zum Teil jetzt noch von hohem Werte sind (s. Anm. 6).

Blicken wir

auf die Resultate der darin niedergelegten Forschung, so können

wir sagen:

das biographische Material erscheint in denselben

immer mehr vervollständigt, gesichtet und kritisch durchleuchtet, besonders durch Kampschulte

und

verschiedene monographische

Darstellungen. Die große Bedeutung seiner Theologie wird immer mehr anerkannt. Die Probleme der Bekehrung Calvins, seines Ver­

hältnisses zum Humanismus, zu seinen Mitarbeitern, zu Luther und

dem Luthertum, seiner Prädestinations- und Sakramentslehre, seines Kirchenbegriffs, seiner Tätigkeit für die Union der Evangelischen,

9 seiner ethischen Anschauungen, seiner Bedeutung für die Politik

und Nationalökonomie und damit auch für die Jetztzeit sind in Behandlung genommen und zur Diskussion gestellt. Selbstredend

haben die Geschichtswerke von L. von Ranke, Häusser-Oncken, von Bezold und Erich Marcks (G. Coligny) viel dazu bei­ getragen, das Verständnis des Calvinismus nach seiner politischen und kulturgeschichtlichen Bedeutung für die protestantischen Völker zu zeigen, und Elsters Abhandlung (vgl. Anm. 6) hat den

Einfluß Calvins auch auf die Nationalökonomie darzustellen versucht. An alle diese Untersuchungen und Fragestellungen hat

nun die neueste Calvinliteratur angeknüpft, die Forschung weiter­

geführt und neue Gesichtspunkte eröffnet. Vielfach haben auch berufene Forscher und Schriftsteller, aus Anlaß des Jubiläums größere oder kleinere Charakterbilder Calvins und des Calvinis­ mus dargeboten, die bis in die weitesten Kreise hinein erhellend, anregend und begeisternd wirkten.

Da man den Calvinismus

und seine Früchte nur dann recht würdigen kann, wenn man einen Einblick in diese ganze Arbeit tut, so muß ich auf diese wertvolle Literatur jetzt eingehen, indem ich bei den sich mit unserem Thema speziell befassenden Arbeiten am längsten ver­

weile. Größere oder kleinere Biographien lieferten uns der Amerikaner Walker,') der Franzose Soffert,8) von deutschen Gelehrten A. Lang,8) Paulsen/8) E. Knodt,") Sodeur/8) Baur/8) Diener-Wyß") und Beß"). Alle diese Bücher

Das Walkersche Buch wurde auch in die französische Sprache übersetzt und fand weite beruhen

auf

eingehenden

Studien.

Verbreitung, das Bossertsche Werk wurde von vr. Kroll ick auch deutsch herausgegeben und mit wertvollen Anmerkungen versehen, die die durch eine etwas sprunghafte Behandlung ent­

standenen Lücken ausfüllen. Am wertvollsten ist die Calvin­ biographie von Lang; sie ist streng wissenschaftlich, beherrscht die ganze Literatur, gruppiert den Stoff in organischer Weise und regt durch spannende Formulierung der Probleme auch zur

10 Weiterarbeit an. Weniger wissenschaftlich gehalten ist das Buch

von Paulsen. Für weitere Kreise, besonders für das christliche Haus bestimmt und in Calvins Schriften einführend, ist das

Die anderen Autoren liefern kleinere Porträts von Calvin: am besten gelungen darunter scheint mir das Beßsche

Knodtsche Werk.

Charakterbild. Eine vorzügliche Jubiläums gabe ist: Johann Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl in deutscher Über­ setzung von Rudolf Schwarz.") Mit einem Geleitswort von Prof. Wernle. 2 Bde. 1909. Die mit großer Sachkenntnis ausgewählten 759 Briefe zeigen uns Calvins ganze Größe. Mit Calvins Bekehrung beschäftigen sich die Untersuchungen von Karl Müller") und Prof. Wernle,'8) üon denen ersterer ein

späteres, letzterer ein früheres Datum derselben annimmt.

Die Akten

sind noch nicht geschlossen. — Ch. Borgeaud ") hat uns eine klare Beschreibung der Akademie Calvins gegeben. Über Calvins Ein­

fluß auf die deutsche Reformation hat P. Schütte?") eine gute Übersicht dargeboten. Prof. M. Schulze2') hat uns zwei Arbeiten über Calvins Jenseitschristentum gegeben, diese Seite in Calvins Lebensauffassung aber viel zu einseitig betont. Das Verständnis

der Rechtfertigungslehre des großen Theologen hat Lüttge22) ge­

fördert, Strathmann28) das seiner Bußlehre in ihrer späteren

Entwickelung; Beth das seiner Bedeutung für die systematische Theologie überhaupt.28*) Auch PaulTschackert2') ist hier zu er­

wähnen, der uns eine Darstellung des Calvinismus in lutherischem Geiste darbietet. Wertvoller sind die Calvinstudien von Bohatec,28) eine Festschrift der reformierten Gemeinde in Elberfeld. Die große Bedeutung des Calvinismus tritt uns vor allem entgegen, wenn wir die besonders von Universitätsprofesforen gehaltenen Jubi­

läums-Vorträge auf uns wirken lassen, unter denen die von Holl,28) Barth,2') Eck,28) von Schubert22) und Sieffert88)

besonders hervorragen.

Auch die Vorträge von Lobstein,8')

Arnold,82) Will,88) Reichel,8') Simons,88) Wernle88) und Dörner8') sind sehr lesenswert. R. Weiß88) gibt gute An-



11

gaben über die Calvinliteratur.

@. Soumcrgue38) hat eine

Calvinische Ikonographie mit 102 Abbildungen herausgegeben. Während in allen diesen Arbeiten die geistesmächtige Per­

sönlichkeit Calvins als Christ, Theologe und Organisator hervor­ tritt, und der Geist des Calvinismus als ein Geist der Aktivität, der Unionsgesinnung, des radikalen Bruchs mit Rom, strenger Ge­ meindeerziehung und sittlicher Energie in großen Strichen gezeichnet

wird, legen einige Schriften, zu denen ich mich jetzt wende, in speziellerer Weise die Bedeutung des Calvinismus für die protestan­ tische Welt dar.

Zuerst ist die Schrift von A. Kuyper3) zu

nennen. Diese Vorlesungen sind ein glühendes, in geistsprühender Sprache geschriebenes Zeugnis von der Herrlichkeit des Calvinis­ mus, in welchem der Verfasser die am weitesten vorgeschobene, reinste Offenbarung des Christentums, die einzig entscheidende,

einzig gültige, einzig standhaltende Wehr für die protestantischen Völker gegen den eindringenden und hinüberströmenden natura­ listischen Modernismus findet.

Kuyper redet zuerst über den

Calvinismus in der Geschichte, damit man verstehe, was der Calvi­ nismus sei, nämlich jene selbständige Lebensrichtung, die aus einem eignen Lebensprinzip eine eigne Form für unser Leben und Denken unter den Völkern Westeuropas, Nordamerikas bis nach Südafrika hin entwickelt hat.

Es folgt die 2. Vorlesung über Calvinismus

und Religion, dann wird der C. als politische Macht geschildert,

ferner in seinem Verhältnis zu Wissenschaft und Kunst, worauf die 6. Vorlesung die Hoffnung schildert, die in dem Calvinismus für die Zukunft liegt. In diesen zündenden Ansprachen wird der Calvinismus als die mit der allwirksamen Souveränität Gottes voll und ganz Ernst machende Weltanschauung geschildert. „Das wahre Weltzentrum", so schreibt der Herausgeber in der Vorrede, „hat am schärfsten der Calvinismus erkannt und aner­ kannt: Gott. Gottes Souveränität ist sein A und O, die Sou­ veränität des Schöpfers, die Souveränität des Richters, die Sou-

12 veränität des begnadigenden Königs, und dies alles zusammen­ gefaßt in die Souveränität des Vaters mit seiner heiligen Liebe. Ihr sich bedingungslos anvertrauen und unterwerfen: das ist

Religion.

Trotz der tiefsten und demütigenden Erkenntnis der eignen Unwürdigkeit und Schuld und der Schwäche der andern doch Gottes Gesetz und Recht geltend machen im Haus, im Beruf,

im Staat, das ist Autorität.

Nicht Eindrücken und Einfällen sich hingeben, sondern Gottes Gedanken in der Geschichte des Alls wie des Einzelnen nachgehen und nachspüren: das ist Wissenschaft.

Nicht Wahnbilder, sondern Gottes Wirklichkeit darstellen und in ihr das Gesunde als gesund und das Kranke als krank: das ist Kunst.

Das alles aber vermag der Mensch nur, gehalten und gelenkt

von dem Geist des souveränen Gottes, der sich ihm in Christo

offenbart hat." Über den sittlichen Einfluß des Calvinismus schreibt Kuyper: „Er begriff, daß die Welt nicht mit ethischem Philosophieren,

sondern nur durch Wiederherstellung der Zartheit des Gewissens

zu retten war.

Darum vernünftelte er nicht, sondern griff die

Seelen an und stellte sie von Angesicht zu Angesicht vor das

Antlitz des Allmächtigen, daß das Herz wieder bebte vor seiner heiligen Majestät und in dieser Majestät die Glorie seiner Liebe entdeckte."

(S. 67.)

„Die Furcht Gottes wird als eine Wirk­

lichkeit in das ganze Leben hineingetragen, in Familie und Gesell­

schaft, in Wissenschaft und Kunst, ins persönliche und politische

Leben.

Ein Erlöster, der bei jedem Ding und in jeder Lebens­

entscheidung sich einzig von einer ihn tief bewegenden Ehrfurcht

vor dem ihm stets gegenwärtigen und auf ihn schauenden Gott bewegen läßt: sehen Sie, das ist der echte Calvinist! . . . Welt­

flucht ist nie sein Kennzeichen, sondern die Parole der Ana­ baptisten gewesen — dualistisch stehen diese Heiligen der Welt

13 gegenüber. ...

Jede Verpflichtung gegen, jede Verantwortlichkeit

für diese alte Welt schütteln sie von sich ab und meiden

systematisch aus Furcht vor Besudelung und Beschmutzung. gerade dies bestreitet und leugnet der Calvinist. ...

sie

Aber

Es ist viel­

mehr seine höhere Berufung, diese Welt nach Gottes Verheißung

aufs höchste zu entwickeln und inmitten dieser Welt alles, was als menschlich ehrbar gilt, lieblich und wohllautet, um Gottes

willen hochzuhalten....

Kaum, daß die Calvinisten ein Viertel­

jahrhundert in den Niederlanden festen Fuß gefaßt, da sprudelt

auch schon das Leben nach allen Seiten, und braust unbezähm­ bare Energie auf jedem Gebiet menschlichen Handelns, und ihre

Schiffahrt und ihr Handel, ihr Gewerbe- und Fabrikwesen, ihr Land- und Gartenbau, ihre Kunst und Wissenschaft blüht mit bisher unbekanntem Glanz auf und gibt ganz Westeuropa den Anstoß zu einer völlig neuen Entwicklung menschlichen Lebens. Nur eine Ausnahme gebe ich zu und wünsche, sie ausdrücklich

sowohl aufrechtzuerhalten als ins rechte Licht zu setzen: nicht jeden intimem Verkehr mit der unbekehrten Welt hielt der

Calvinismus für gefahrlos, und namentlich warf er ein Bollwerk

auf gegen den unheiligen Einfluß dieser Welt in schlossenen Brechen mit Kartenspiel,

dem

ent­

Theater und Tanz.. . .

Zur Genüge hatten unsre Väter beobachtet, wie es gerade Tanz,

Spiel und Komödie waren, worauf der weltliche Teil der Welt schier versessen schien.

Das galt in diesen Kreisen nicht als Bei­

werk, sondern als Hauptsache fürs Leben, und am bittersten ge­ schmäht und am heftigsten angefallen wurde gerade der, der diese drei Herrlichkeiten anzutasten wagte.

kannten sie, daß tatsächlich in diesen

der nicht überschritten werden dürfe,

Lebens vor dem Lebensspiel und die

Jagd nach Sinnengenuß kapituliere. Erfolg ihren klugen Protest gekrönt?

Und gerade deswegen be­ dreien der Rubikon liege,

ohne daß der Ernst

des

Furcht des Herrn vor der

Und hat nun nicht

der

Jetzt noch, nach drei Jahr­

hunderten, lassen sich in meinem Vaterlande ganze Lebenskreise

14 aufweisen, wo es dem Weltsinn unmöglich ist, einzudringen, wo

sich das Leben von außen nach innen gekehrt hat, und wo, dank dieser heiligen Konzentratton, ein Sinn für das Höhere und eine

Energie für das Heilige gepflegt wird, um die jede andre Gruppe

uns beneidet.

Nicht nur der Flügel des Falters ist in diesen

Kreisen unversehrt geblieben, sondern der Goldstaub glitzert auf

solchem Flügel noch mit ungebrochenem Glanz." (S. 64 ff.) Ganz vorzüglich sind die Ausführungen über Volkssouveränität, Staatssouveränität und calvinistische Gottessouveränität, durch welche das konstitutionelle Staatsrecht regeneriert wird.

Gegen

die Staatsomnipotenz, die auch die Lebenskreise der Wissenschaft, Kunst, Schule, Familie und Gemeinde zu absorbieren droht, wendet sich Kuyper mit scharfen Worten und weist nach, wie in

diesen Kreisen Freiheit herrschen muß, und das diesen Kreisen ein­

erschaffene Lebensgesetz zu respektieren ist, wie es der Calvinismus anstrebe.

„Gott herrscht in diesen Sphären ebenso freimächtig,

wie er im Staat durch die Obrigkeit die Herrschaft führt.

Ge­

bunden durch ihr eignes Mandat, darf also die Obrigkeit das

göttliche Mandat, worunter diese Sphären stehen, nicht ignorieren, noch abändern, noch verkürzen. .. .

Weder das wissenschaftliche

Leben, noch das Kunstleben, noch der Landbau, noch die Industrie, noch der Handel, noch die Schiffahrt, noch das Hausgesinde, noch das Familienleben, noch das Gemeindeleben darf gezwungen

werden, sich der Gnade der Obrigkeit zu fügen.

Der Staat darf

keine Wucherpflanze sein, die alles Leben aufsaugt.

Auf eigner

Wurzel hat er inmitten der andern Stämme seinen Platz

in

dem Wald einzunehmen und somit alles Leben, das selbständig

aufschießt, in seiner heiligen Autonomie zu erhalten."

„Wie auch

die Form sich änderte, bleibt es der calvinistische Gedanke, dem

Volke in allen seinen Rängen und Ständen, in allen seinen

Kreisen und Sphären, in allen seinen Korporationen und selb­

ständigen Instituten in gesund demokratischem Sinn gesetzlich geregelten Einfluß auf die Gesetzgebung zu geben."

(S. 88 ff.)

15

„Ein Volk, das seine häuslichen Rechte, oder eine Universität,

die das Recht der Wissenschaft der Einmischung der Obrigkeit preisgibt, steht ebenso schuldig vor Gott, wie eine Nation, die sich am Recht der Obrigkeit vergreift, und so ist der Kampf für

die Freiheit nicht nur für einen jeden in seinem Kreis für erlaubt

erklärt, sondern sogar zur Pflicht gemacht, nicht dadurch, daß man, wie in der französischen Revolution, Gott beiseite schiebt

und den Menschen auf den Thron der Allmacht setzt, sondern gerade dadurch, daß sich alle Menschen, die Behörden eingeschlossen, tief ehrerbietig beugen müssen vor der Majestät des allmächtigen Gottes."

(S- 91.)

Im dritten Abschnitt seines Buches führt

Kuyper aus, daß der Calvinismus den Sinn für Wissenschaft

gepflegt, in weitem Maß der Wissenschaft ihr Gebiet zurückgegeben und die Freiheit der Wissenschaft befördert habe. Der Calvinis­ mus hat die unerschütterliche Überzeugung, daß unser ganzes

Leben unter dem Eindruck der Einheit, Festigkeit und Ordnung, die in Gott ihren Rückhalt finden, steht, konsequent durchgeführt

und dadurch der Wissenschaft den Weg gebahnt.

Gerade die

calvinistischen Länder haben für die Wissenschaften viel geleistet,

man denke nur an die Niederlande und an England.

Im folgen­

den Abschnitt spricht Kuyper über den Calvinismus und die Kunst, darin zeigt er, warum der Calvinismus keinen eignen Kunststil entwickeln konnte, was aus seinem Prinzip für das Wesen der Kunst hervorgeht, und was er tatsächlich für die

Blüte der Kunst getan hat.

Besonders auf die Malerei und

Musik weist Kuyper hin, die unter dem Einfluß des Calvinis­

mus „in das reiche Volksleben hinabgesüegen sind", während sie

vorher hoch über demselben schwebten.

Kuyper erinnert daran,

was im 16. und 17. Jahrhundert aus der niederländischen Kunst­

schule mit Pinsel und Nadel hervorgezaubert worden ist.

„Rem­

brandts Name allein ruft hier eine Welt von Kunstschätzen vor

den Geist".

Gerade weil der reformierte Geist die Bilder in den

Kirchen nicht duldete, wurde auch die weltliche Malerei mehr

16

gepflegt.

„Das Volk zählte ehedem nicht mit; mitzählen konnte

nur, wer sich hoch über das Volksleben erhob, die hohe Welt

der Kirche, und die hohe Welt der Ritter und Fürsten.

Aber nun­

mehr war das Volk mündig geworden, und unter den Auspizien

des Calvinismus hat es als Prophezeiung des demokratischen Lebens der neueren Zeiten zuerst diese Mündigkeit proklamiert.

Die Familie hörte auf, ein Anhängsel der Kirche zu sein und kam in ihrer selbständigen Bedeutung zum Vorschein.

Unter

dem Glanz der allgemeinen Gnade schien auch das außerkirchliche

Leben hohes Interesse und allseitige Kunstmottve zu besitzen.

Das

gewöhnliche Menschenleben kam, nachdem es sich jahrhundertelang

unter dem Druck der höheren verborgen hatte, in all seiner

nüchternen Wirklichkeit wie eine neue Welt aus seinem Versteck zum Vorschein.

Es erfolgte eine weitgehende Emanzipation unsres

gewöhnlichen irdischen Lebens."

(S. 162.)

Vgl. auch Tai ne,

Philosophie de l’art dans les Pays-Bas. p. 148. H und Carriere,

Die

Kunst

im Zusammenhang

mit der

Kultur­

entwicklung. IV. S.308. „Die holländische Malerei, sagt Carriere (S. 362), ist eine Kunst der Lebenswirklichkeit im vollsten Sinne

des Worts.

Die reformierte Kirche will keine Bilder, da solche

die Christenheit zu abergläubischem Bilderdienst verführt hatten;

damit werden die kirchlichen Sttlüberlieferungen und Typen auf­

gegeben, und wo der Maler biblische Stoffe behandelt, da tut er es mit dem freien Sinne, der selber in der Schrift forscht,

und die Gegenstände nicht nach dogmatischen Reflexionen, sondern nach ihrem Eindruck auf das Gemüt, nach ihrem psychologischen Ausdruck, nach ihrer sittlichen Bedeutung wählt und ausprägt;

nicht wie eine vergangene, fremde Begebenheit, wie eine gegen­ wärtige Wirllichkeit sollen sie erscheinen und werden daher in das

Gewand der Zeit gekleidet.

Die Kunst ward aber dem öffentlichen

Leben nicht entzogen; statt der Kirchen wurden die Stadthäuser, die Rathaussäle und Gildenstuben mit Bildern geschmückt.

Da

lassen sich die Ratsherren, die Schützenmeister, die Zunftmeister

17 porträtieren, und das geschieht mit solcher Energie, daß wir in

ihren Zügen, in ihrer Haltung die Männer erkennen, die ihre Waffe nicht bloß zum Spiel, sondern auch im Kampf fürs

Vaterland geführt, die nicht bloß die Wohlfahrt ihres Hauses, sondern auch ihrer Stadt im Herzen tragen und im Rat be­ sprechen." Carriöre erinnert dann auch an die zahlreichen Bilder, die das genügsame Frohgefühl der niedern, den behag­ lichen Wohlstand der höheren Stände schildern, er erwähnt das Genrebild, das Stilleben, das Landschaftsbild usw. „In der

Harmonie der Farben im Zauber des Helldunkels wissen die Maler den Dust einer dichterischen Stimmung über das Bild auszubreiten.

Und so zeigt die holländische Malerei im Ver­

gleich zu der Glanzzeit Italiens statt des großen, monumentalen Zuges epischer Poesie dieselbe Richtung und Wendung des Geistes, die zum Roman und zur Novelle führte; sie gibt Bilder der Sitte, des häuslichen Lebens, der Privatgeschicke mit feiner psycho­ logischer Charakteristik und unübertrefflicher Genauigkeit des Details, statt der sagenschöpferischen Phantasie zu folgen und die Geschichte in Jdealgestalten verklärt abzuspiegeln." Dieser

Wirklichkeitssinn hängt mit der reformierten Art eng zusammen. „Keine Macht der Kirche leitete den Künstler jetzt mehr, keine

Macht des Geldes aus dem Palast band ihn. Es war der Künstler als Mensch, der, frei unter Menschen wandelnd, etwas

ganz andres und viel Reicheres in und hinter dem menschlichen Leben entdeckte als die tiefsten Seher auf dem Gebiete der Kunst ehedem auch nur von ferne vermutet hatten."

„Aus dem reichen

Inhalt dieser neu entdeckten Welt hat die niederländische Maler­ schule dadurch, daß sie ein Auge für das Kleine und Un­

bedeutende, ein Herz für das Leiden der Menschheit hatte, diesen wunderbaren Kunstschatz auf die Leinwand gebracht, der jetzt noch ihren Ruhm verewigt und

den Weg zu neuen Kunst­

eroberungen allen Völkern erschlossen hat." (S. 163.) Was die Musik betrifft, so weist Kuyper auf Bourgeois und Goudimel, Knodt, Die Bedeutung Calvins.

2

18 Palestrinas Lehrmeister, hin, die in der Tonkunst Unsterbliches

geleistet haben.

Wenn der Verfasser in seiner großen Begeisterung für den

Calvinismus sich gewiß zuweilen zu einer allzu kühnen Behaup­ tung hinreißen läßt, bei der man es sofort sieht, daß die Ge­

schichte seines Herzens die Geschichte seines Gedankens ist, so bietet die ganze Darstellung doch eine solche Fülle von großen

Gesichtspunkten, einen solchen Reichtum von Tatsachen und eine so geistvolle und großzügige Darbietung, daß man gerne wieder zum Lesen dieses Buches zurückkehrt.

Kuyper versucht, auf

Grund von den vorhandenen fachwissenschastlichen Spezialfor­ schungen auf diesem Gebiet eben eine konstruktive Aufgabe zu lösen,

bei welcher immer besondere Gefahren und Abwege der falschen Ver­ allgemeinerung vorliegen: er will den Calvinismus schildern, wie

er als Weltanschauung sich mit den verschiedensten Kulturgebieten vermischt und verflochten hat.

Tröltsch hat vollkommen recht,

wenn er in seinem auf der IX. Versammlung deutscher Historiker in Stuttgart 1906 gehaltenen Vortrag

„Die Bedeutung

des

Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt" ein­ mal sagt: „Solche konstruktive Darstellung muß immer wieder

unternommen werden,

weil in ihr das eigentliche Geschichts­

denken seinen Ausdruck findet. arbeitete

Sie ermöglicht allein, das ver­

Material für weitere Fortarbeit zu gruppieren,

die

Zusammenhänge herauszuarbeiten und neue Fragestellungen an

den Stoff heran zu bringen: sie vor allem ermöglicht allein

das stillschweigend befolgte Hauptziel aller Geschichte, das Ver­ ständnis der Gegenwart zu erreichen.

Bei allem Bewußtsein

um die Masse der ihr drohenden Fehlerquellen darf sie daher doch sich geltend

machen."

In

diesem Sinne halte ich die

Kuypersche Geschichtskonstruktion für sehr wertvoll für die fernere

Calvinforschung. Von noch viel größerer Bedeutung für das Verständnis

und die Beurteilung des Calvinismus, vor allem nach seiner

19 Bedeutung für die Kultur, besonders für das wirtschaftliche Leben, als die meisten der seither genannten Werke, sind die Aufsätze von

Max Weber,") F. I. Schmidt,") Felix Rachfahl,") Car­ dauns") und Ernst Tröltsch").

Der zuerst genannte Heidel­

berger Nationalökonom hat auf Grund eingehender kirchen- und

dogmengeschichtlicher Studien, die er mit seinen nationalökono­

mischen Kenntnissen mit großer Kombinationsgabe zu einer speku­ lativen Geschichtskonstruktion aufbaut, eine Fülle von Anregungen gegeben, die zu ernster Nachprüfung und Mitarbeit anregen.

Bei

Ernst Tröltsch, F. I. Schmidt und E. Gothein hat er im

großen und ganzen Zustimmung gefunden, während F. Rachfahl ihm in vielen Punkten widerspricht.

Schon Sombart hat in

seinem Werk „Der moderne Kapitalismus" gegenüber der mate­

rialistischen Geschichtsmethode von Karl Marx, nach der die ökonomischen Verhältnisse die Gesamttätigkeit des Menschen

bedingen, betont, daß für die Erklärung der sozialen Erscheinungs­ welt als primär wirkende Ursachen das menschliche Handeln,

bzw. die Motive und Zweckreihen, unter denen es erfolgt, an­ zusehen seien.

Darauf bauend, hat nun MaxWeber bei seiner

Suche nach den geistigen Motiven für die moderne kapitalistische

Erwerbswirtschaft folgende Behauptungen aufgestellt und zu be­ gründen versucht, die ich mit Tröltschs Worten wiedergebe:

„Sombart hatte gezeigt, wie der Geist des Kapitalismus eine

dem natürlichen Triebe zu Genuß und Ruhe, zu Erwerbung der bloßen Existenzmittel ganz entgegengesetzte Rastlosigkeit und

Grenzenlosigkeit zeigt, wie er Arbeit und Erwerb zum Selbstzweck und den Menschen zum Sklaven der Arbeit um ihrer selbst willen

macht, wie er das ganze Leben und Handeln unter eine absolut rationalistisch-systematische Berechnung bringt, die alle Mittel kom­ biniert, jede Minute ausnützt, jede Kraft verwertet, wie er im

Bunde mit der wissenschaftlichen Technik und dem alles ver­ knüpfenden Kalkül dem Leben eine durchsichtige Rechenhaftigkeit

und abstrakte Genauigkeit verleiht.

Dieser Geist aber, sagte sich 2*

20 Weber, kam nicht von selbst mit den industriellen Erfindungen,

den Entdeckungen und dem Handelsgewinn; er hat sich auch in der spätmittelalterlichen Geldwirtschaft, in dem Kapitalismus der

Renaissance und in der spanischen Kolonisation nicht stark ent­ wickelt.

Er ist zu sehr gegen die Natur des Menschen, als daß

er ohne eine die Natur (der Menschen) gewaltsam und syste­

matisch unterdrückende ungeheure Geistesmacht sich hätte bilden

können. So kam Weber auf die Vermutung, aus der Tatsache

der Blüte des Kapitalismus gerade auf calvinistischem Boden den Schluß auf eine besondere Bedeutung des calvinistischen,

religiös-ethischen Geistes für die Entstehung dieses kapitalistischen Geistes zu ziehen."

(Rachfahl a. a. O. S. 1223.)

Die Welt ist, so führt Weber eingehend aus, nach calvi-

nistischer Auffassung bestimmt, der Selbstverherrlichung Gottes zu dienen, und der Christ dazu da, den Ruhm Gottes durch Er­

füllung seiner Gebote zu mehren.

Gott will , nun die soziale

Arbeit der Christen, denn er will, daß die soziale Lebensgestaltung so eingerichtet werde, daß sie seinen Geboten entspreche.

Diesen

Charakter, zur Ehre Gottes zu dienen, muß also die Berufs­ arbeit stets tragen. Nun hat der Calvinist als Erwählter seinen Beruf und Erwählung zu bewähren: das tut er in seiner Arbeit,

und darin hat er auch eine gewisse Selbstkontrolle. Diese rastlose Berufsarbeit allein verscheucht den religiösen Zweifel und gibt als Erkenntnisgrund die Gewißheit vom Gnadenstand. In dieser

Gewißheit, sagt Weber, berührt sich der Calvinismus mit dem Katholizismus, aber für die Katholiken ergibt sich daraus die

Notwendigkeit des Bußsakraments, für die Reformierten die der

prakttschen Bewährung durch Wirken innerhalb der Welt.

Als

Zeichen der Erwählung sind deshalb gute Werke unentbehrlich.

Diese guten Werke sind aber keine vereinzelten, sondern ein zu­ sammenhängendes System gesteigerter Werktätigkeit.

Die ethische

Praxis wird ihrer Planlosigkeit entkleidet und zu einer konse­ quenten

Methode

der

ganzen'Lebensführung

umgestaltet

21 (XXI. S. 27).

Dadurch entsteht in der Lebens- und Berufs­

auffassung sofort ein aszetischer Zug, alles ist präzisiert: es gllt, ein waches, bewußtes, Helles Leben zu führen und die Unbefangen­

heit des triebhaften Lebensgenusses zu vernichten. Nebenbei be­ merkt, ist dieses aszetische Prinzip der Selbstbeherrschung durch den Puritanismus auch mit zum Vater der militärischen Dis­ ziplin geworden (cf. Moritz von Dränten als Schöpfer moderner

Heeresinstitutionen, Preuß. Jahrb. 1903. S. 255). Diese asze­ tische Disziplinierung nennt nun Weber im Gegensatz zur mönchischen mit ihrem überweltlichen durch die Consilia evangelica allein erreichbaren Ziel eine innerweltliche Aszese.

Diese erhält ihre Norm aus dem geoffenbarten Willen Gottes, wobei auch das Alte Testament eine große Rolle spielt.

Besonders an

dem calvinistischen Puritaner R. Baxter zeigt nun Weber diese

innerweltliche Aszese.

Danach ist das Ausruhen auf dem

Besitz und der Genuß der Reichtümer etwas durchaus Verwerf­

liches; — die Ruhe kommt drüben, „Zeitvergeudung durch Ge­

selligkeit, Gerede, Luxus, langen Schlaf" ist eine furchtbare Sünde, verwerflich auch alle Kontemplation, wenn man arbeiten sollte. Es gilt arbeiten, und zwar in einem festen Beruf, der aber dann vertauscht werden darf, wenn ein anderer mehr Segen von Gott aufweist. „Für Gott dürft ihr arbeiten, um reich zu sein" (nicht für Zwecke der Fleischeslust und Sünde sR. Baxter)). Alles, was dieses geordnete Leben stört und gefährdet, ist zu

verwerfen (Tanz, Wirtshausleben, Theater, idle talk), auch aus dem Grund, weil wir dann unnötiges Geld für uns selbst aus­

geben, und sind doch Verwalter von Gottes Gut.

Die Be­

deutung dieser Motive für den Kapitalismus liegt auf der Hand:

durch den intensiven Fleiß, der die Zeit auskauft und den Glauben damit bewährt und durch den aszetischen Sparzwang mußte der Wohlstand mächtig zunehmen.

So war der „kapitalistische Lebensstil" ein Produft der calvinischen Berufsethik, und der Gedanke fand eine Heimstätte,

22 „daß der Mensch seinem Besitz verpflichtet ist, daß er ihm als

dienender Verwalter als Erwerbsmaschine untergeordnet ist". Die

Konsumtion wird eingeschränkt, und alle überflüssigen Ausgaben werden vermieden.

Der Erwerb erscheint der calvinischen Ethik

nicht nur gestattet, sondern direkt von Gott geboten, nur muß alle triebhafte Habgier und Genußsucht fernbleiben.

Aber zuletzt

wuchs doch aus diesem Gedankenkreis das Bestreben hervor, den

Reichtum zu dem Endzweck zu suchen, um reich zu sein, nicht

mehr, um damit Gott zu verherrlichen und ihm zu dienen. Dieses trat ein durch einen Prozeß der Säkularisation der religiösen

Motive.

Schon Baxter hatte utilitaristische Gedanken mit den

religiösen geltend gemacht; da die letzteren später absterben, siegte die utilitaristisch-liberale Anschauung.

So entsteht nun,

wie

Tröltsch sagt, eine Wendung zum Erwerb um des Erwerbs

willen mit seinem harten und brutalen Konkurrenzkampf, seinem agonalen Siegesbedürfnis und seiner weltlich triumphierenden

Freude an des Kaufmanns Herrschgewalt.

Damit löst sich die

kapitalistische Tätigkeit völlig von ihrem ursprünglichen Boden

und wird zu einer dem echten Calvinismus und Protestantismus entgegengesetzten Macht; diesem wachsen seine eigenen Schöpfungen über den Kopf; er wird die Geister nicht mehr los, die er rief.

(Vgl. F. Rachfahl a. a. O. S. 1232.) „Was jene religiös lebendige Epoche des 17. Jahrhunderts

ihrer utilitarischen Erbin vermachte, war aber (nach Weber) vor allem ein ungeheuer gutes — sagen wir getrost ein pharisäisch gutes — Gewissen beim Gelderwerb, wenn anders nur er sich in

legalen Formen vollzog.

Jeder Rest des deo placere non potest

— bei dem Reichen — ist verschwunden: eine spezifisch bürgerliche Berufsethik ist entstanden. Mit dem Bewußtsein, in Gottes voller

Gnade zu stehen und von ihm sichtbar gesegnet zu werden, ver­ mag der bürgerliche Untemehmer, wenn er sich innerhalb der

Schranken formaler Korrektheit hält, wenn sein sittlicher Wandel untadelig und der Gebrauch, den er von seinem Reichtum macht,

23 kein anstößiger ist, seinen Erwerbsinteressen zu folgen, und soll

dieses tun." —

Diese Anschauungen Max Webers werden von Ferd. Jak. Schmidt (Preuß. Jahrb.), der das einzige Korrektiv gegen diesen Erwerbssinn in Luthers Protestantismus findet, noch weit ein­

seitiger aufgefaßt und übertrieben.

Während M. Weber doch

nur einen konstitutiven Bestandteil des kapitalistischen Geistes in der auf Grund der Berufsidee kontrollierten calvinistischen Ethik findet, erklärt F. I. Schmidt in sehr scharfen, fast ver­

letzenden Ausführungen den Calvinismus für die einzige Ursache

dieses Geistes des Kapitalismus und ruft aus:

„Dadurch sind

wir,Knechte jener grausamen Tyrannis' der Gütervermehrung geworden".

Während M. Weber ausdrücklich mit Bezug auf

den ältesten Calvinismus sagt:

„Nur wie ein dünner Mantel,

den man jederzeit abwerfen könnte, sollte nach Baxters Ansicht die Sorge um die äußeren Güter um die Schultern seiner Hei­

ligen liegen, aber aus dem Mantel ließ das Verhängnis ein stahlhartes Gehäuse werden", und während er den Grund der letzteren Erscheinung in einem Absterben der religiösen Wurzel

findet, macht Schmidt den Calvinismus allein für das alles

verantwortlich (S. 207),

und

beruft

sich

auf Weber.

Schmidt sagt

der Mensch sinkt — wozu er eben nach der refor­

mierten Lehre von Anfang an bestimmt ist

— zum bloßen

Werkzeug oder Mittel einer allgemeinen, die persönliche Freiheit

ausschaltenden Lebensmacht herab — der Reformierte achtet weder

den eigenen Willen, noch den des Nächsten, sondern nur den abstrakt allgemeinen Willen ohne konkrete Verschmelzung mit

der menschlichen Person, und diese abstrakt allgemeine Macht objektiviert sich ihm zuletzt in der abstrakt unpersönlichen Form

der absoluten Gütererzeugung.

Mit dieser von ihm selbst ver­

ursachten Herrschaft der Sache über die Person erlebt so der

Mensch einen zweiten Sündenfall, nur mächtiger und erschüttern­

der als der erste."

„Heute liegen die Dinge so, daß die prak-

24 tische Tendenz der reformierten Religiosität sich in der Erzeugung des kapitalistischen Geistes völlig objektiviert und erst dadurch die ,harte Einseitigkeit ihres Grundprinzips zum Bewußtsein gebracht hat"'. — Hat Weber schon übertreibend konstruiert und das,

was andere Faktoren zur Hervorhebung des oft materialistischen, einseitigen Geschäftssinns in erster Linie getan haben, fast ganz

zurücktreten lassen, so ist Schmidts Ansicht mit seinen ungerechten Behauptungen über das reformierte Prinzip noch mehr abzu­

lehnen. Auch Eberhard Gothein, eine Autorität auf ge­ schichtlichem und nationalökonomischem Gebiet hat die Verwerfung

des Zinsverbots durch Calvin als das „erste Zeichen erklärt,

daß aus dem Geist des Calvinismus der Geist des Kapitalismus hervorgehen werde". (Staat und Gesellschaft des Zeitalters der Gegenreformation. In Hinneberg, Kultur der Gegenwart. II, 5,1. S. 226.) Ähnlich urteilt H. von Schubert, Calvin. Tübingen 1909, S. 32. Den Ausführungen Webers wurde von Prof. F. Rach fahl in einer sehr gründlichen Weise vom Standpunkt

des Historikers aus geantwortet. Er führt etwa Folgendes aus: Was Weber mit dem Geist des Kapitalismus bezeichnet, ist ein schillernder Begriff; er ist bald zu eng und bald zu Rach fahl weist solches an Beispielen nach und sagt mit Recht: „Es kann anderseits recht zweifelhaft sein, ob eine Wirksamkeit, die den Gelderwerb als einen Selbstzweck statu­

weit.

iert,

überhaupt noch das Prädikat -ethisch' verdienen würde.

Denn aus einer also gerichteten -Berufsethik' könnten Hand­ lungen entspringen, die sich nicht mit den allgemeinen ethischen Grundsätzen vertragen." (S. 1250.) „Jede spezielle Berufs­

ethik empfängt ihre Normen aus dem Schatze der allgemeinen Ethik, und wer möchte leugnen, daß gerade eine auf den Geld­ erwerb gerichtete Berufsethik solcher Normierung und Abhängig­ keit von den Grundsätzen allgemeiner Sittlichkeit am dringendsten bedarf?" (S- 1250. 1251.) — Ich füge noch folgendes hinzu: der Ausdruck „kapitalistischer Geist" wird von Weber einmal

25 für die calvinistische Ethik als etwas aus der religiösen Wurzel Hervorwachsendes gebraucht, und dann wird derselbe Ausdruck

für die spätere Zeit, nachdem die Säkularisation der religiösen

Motive eingetreten, und die religiöse Wurzel abgestorben ist, wiederum angewendet. Das ist irreführend. In der calvinistischen Ethik wird der aus rein religiösen Motiven und aus Nächsten­ liebe heraus geborene, von kapitalistischem Erfolg gesegnete Arbeits­ geist immer mit Unrecht „kapitalistischer Geist" genannt werden dürfen. Für solche religiös-ethische Gesinnung paßt dieser Name

nicht, denn Leute mit solcher Gesinnung erwerben nicht bloß, um zu erwerben. Auch kann ein Unternehmer für seine Person fleißig und genügsam sein und ist doch von Motiven getrieben,

die untersittlich und unsittlich sind; in diesem Falle darf man nicht von „innerweltlicher Aszese" reden. Ferner waren auch nach Rachfahl die reformierten Gebiete in England, Holland und Nordamerika durch ihre Lage und ihre Beschaffenheit zum Wohlstand viel mehr prädisponiert wie

die lutherischen Gebiete. Sehr wertvoll sind Rachfahls Ausführungen im IV. und V. Abschnitt seiner Abhandlung. Er beantwortet hier zuerst die

Fragen: Welches war die Stellung Calvins und des Calvinismus zum Wirtschaftsleben und insbesondere zum Kapitalismus? Hören wir seine Antwort. Calvin hat für eine freiere Betrachtung der ökonomischen Verhältnisse vom religiösen Standpunkte aus ge­ wirkt. Er legte die Rechtmäßigkeit des Zinsnehmens im An­

schluß an Zwingli dar.

Sodann betonte er nicht einseitig die

Produktivität des Ackerbaues, fonbcrn auch die von Gewerbe

und Handel und verteidigte den Gewinn des Großhandels. Dabei soll aber die christliche Liebe nicht verletzt und aus dem Zinsnehmen kein Geschäft gemacht werden. So war der dem kapitalistischen Geist gewährte Spielraum ziemlich beschränkt. Der Drang der Umstände hatte die Ausschaltung des Zinsverbotes

schon vorher bewirkt, so auch in Genf.

Die Ansammlung großer

26 Reichtümer verwarf Calvin. Ihm kam es vor allem auf die Durchdringung der Arbeit mit dem Geiste christlicher Sittlichkeit an.

Mit Recht weist Rachfahl es zurück, wenn Tröltsch sagt:

„So verwendet sich die Genfer venerable Compagnie selbst für Errichtung einer Darleihungsbank, so entstehen die großen Handelskompagnien, die großen Banken und die großen

Unternehmer" und „Der kausale Zusammenhang, der durch diese Ausdrucksweise zwischen Calvins Zinslehre und der Ent­ stehung der großen Kompagnien, Banken und Unternehmungen angedeutet wird, ist tatsächlich nicht vorhanden." Auch den

von Weber und

von Tröltsch

allerdings

in

verschiedener

Nuancierung gebrauchten Begriff des Prinzips der „inner­ weltlichen Aszese" im Calvinismus bekämpft Rachfahl mit

triftigen Gründen. Er erkennt voll und ganz an, daß das calvinische Regiment in Genf mit seinem rigoristischen Moralis­ mus der dort fest eingewurzelten Sittenverderbnis gegenüber mit Recht einen aszetischen Zug trug: aber diese weltverleugnenden Züge hatten keine herrschende Stellung bei Calvin, sondern ord­

neten sich dem Hauptbegriff in Calvins Ethik und Dogmatik, dem des Dienstes zu Gottes Ehre völlig unter, waren also nur sekundär. In dieser Stellung eignen sie jeder ernsten christlichen

Religiosität, die den Schwerpunkt nie ins Diesseits legt, sondern das Leben als einen Pilgrimsstand auffaßt. Überhaupt kann eine methodisch gepflegte und kontrollierte Lebensführung nicht als innerweltliche Aszese bezeichnet werden, da die Abgrenzung

gegenüber einer planlosen Lebensführung noch lange nicht den Begriff der „Aszese" konstituiert. Letztere ist immer ein ganz besonderes Handeln, das ganz bestimmte freiwillige Enthaltungen von weltlichen Gütern und Genüssen, bis zur vollkommenen Er­ tötung der sinnlichen Triebe vorschreibt und eine besondere Qua­ lität zu besitzen beansprucht, durch die eine höhere Vollkommen­ heit erreicht wird. (Vgl. Scheel, Artikel „Aszese" in Religion und Geschichte der Gegenwart I, S. 730.) Scheel sagt hier

27 mit Recht:

„Auf

jeden Fall tritt die Aszese als

besonderes

Handeln mit Verheißungen auf, die dem gewöhnlichen Han­

deln nicht in dem Maß oder dem Umfang beschieden sind.

Irgendwie ist mit der Aszese eine weltabgewandte Stimmung vorhanden. — Sie kann sich in gelinder Entsagung äußern,

in leichter Abkehr von Gütern und Betätigungen, deren Un­

wert nicht von vornherein festgestellt ist und auf die eventuell nicht prinzipiell und dauernd verzichtet werden soll.

Sie kann

aber auch zu vollständiger Weltflucht und Weltverneinung sich auswachsen.

Die Erscheinungsweisen und Stärkegrade sind sehr

verschieden.

Stets aber legt das als aszetisch bezeichnete Han­

deln dem insünktiven und natürlichen Seelenleben eine Beschrän­ kung auf und Zurückhaltung in der Berührung mit dem Welt­ lichen."

Sodann macht Scheel auch geltend, daß in der pro­

testantischen Ethik die Aszese entweder ein pädagogischer Begriff ist, der als solcher bestimmt ist, sich selbst überflüssig zu machen, oder sich dem Zusammenhang von Charakter und Pflicht ein­

ordnet und damit aufhört, ein Besonderes zu sein."

S. 738.)

(A. a. O.

Es führt nur zu einer heillosen Begriffsverwirrung,

eine zielstrebige, sich selbst kontrollierende Lebensführung, wie sie

jedem Protestanten als Pflicht zusteht, als „innerweltliche Aszese" zu bezeichnen, auch wenn sie aus pädagogischen Gründen mit

moralischem Rigorismus auftritt. wenn er S. 1264 sagt:

Rachfahl hat ganz Recht,

„Wenn man die calvinistische Berufs­

ethik Aszese nennen will, so darf man nie vergessen, daß sie mit

der katholischen Aszese, die konsequenter Ausdruck des Mönch­

tums ist, durchaus inkommensurabel ist, indem sie mit ihr nichts

gemeinsam hat als den Namen, so daß man am besten täte, ihn fallen zu lassen."

Im IV. Abschnitt seiner Abhandlung beantwortet Rachfahl die Fragen: Welches ist nun der Zusammenhang der „kapita­ listischen Geister" der Gegenwart, wie man ihn auch immer ver­

stehen möge, mit „der innerweltlichen Aszese", oder unzweideutig

28

gesagt, mit der Berufsethik des Calvinismus? Und welches war überhaupt der Einfluß des Calvinismus auf die Entwicklung

des Kapitalismus? Daß zwischen „Calvinismus und Kapitalismus innere Be­ ziehungen bestehen", erkennt Rachfahl gerne an (S. 1265), aber

er wirft mit Recht Weber und Tröltsch vor, daß sie es sich ziemlich leicht gemacht haben, quellenmäßig den Nachweis ihrer

Existenz zu führen, ihre besondere Art und ihren Umfang zu Eine eingehende und zusammenhängende Prüfung des

ermitteln.

Sachverhalts in den einzelnen calvinistischen Ländern fehlt. Die spärlichen und unzulänglichen Angaben, die Weber und Tröltsch

darüber machen, werden ferner als zweideutig, unbestimmt und widerspruchsvoll nachgewiesen. (Vgl. S. 1265—1268.) Aus diesen mit genauen historischen Daten belegten Ausführungen Rachfahls, zumal denen über Holland und England, erhellt,

daß das Auftreten des Kapitalismus älter ist als die „aszetischen Richtungen" der Reformation und schon daher auch von ihnen unabhängig. Das gleiche gilt erst recht von Deutschland, den katholischen Ländern des Südens und Westens von Europa. —

Das kanonische Zinsverbot hat sie dabei wenig geniert, sie

wußten sich damit trefflich abzufinden. Hatte doch schon eine so große Kirchenleuchte, wie Thomas von Aquino, seine Um­ gehung empfohlen, indem er es dahin erklärte: Man dürfe Geld bei einem Wucherer deponieren, der schon mit anderem Gelde Wucher treibe; denn dann sündige man nicht selbst, sondern man bediene sich nur eines sündigen Menschen. viele Sünden, die leichter wogen.

Es gab nicht

Indem sich die Kurie selber

darüber hinwegsetzte, sanktionierte sie, daß es faktisch beiseite ge­ schoben wurde. (S. 1299.) Der moderne Kapitalismus wird sich mehr als Erbe des Geistes eines Fugger, wie eines Baxter

wissen; es wird schwerlich ein qualitativer Unterschied zwischen

dem Geist bestehen, von dem er getragen ist, und dem, der die Fugger und ihre Berufsgenossen im Zeitalter des Übergangs

29

vom Mittelalter zur Neuzeit beseelte, — Rationalisierung der

Geschäfts- und der ganzen Lebensführung: das Geschäft wird berufsmäßig aufgefaßt und rückt in den Vordergrund des Lebens­ interesses, so daß die übrigen Beziehungen zwar keineswegs ab­

sorbiert werden, aber sich doch bis zu einem gewissen Grade unterordnen oder anpassen müssen; die Rücksicht auf das Ge­

schäft bildet ein konstantes Motiv, welches kontrollierend und regulierend auf die ganze Lebensführung einwirkt; damit ver­

bindet sich zweckmäßige Geschäftsführung, deren höchste Bewäh­

rung in der spezifischen Tugend „des kapitalistischen Geistes" gipfelte, im spekulativen Kalkül, in der schnellen und richtigen

Erfassung der Konjunktur, verbunden mit entsprechender Ab­

schätzung der für die Erreichung des Zweckes, d. h. des geschäft­ lichen Erfolgs, erforderlichen Mittel.

Dieser kapitalistische Geist

aber ist nicht erst ein Produkt der Säkularisation reformierter

Sittlichkeit, und ebensowenig ist das der Fall bei einem bis zur Überspannung gesteigerten Erwerbstrieb, der alle andern Triebe und Interessen im Menschen unterdrückt und ihn zu einer bloßen

Erwerbsmaschine herabdrückt; er ist auch gar nicht konstitutiv für den Begriff des kapitalistischen Geistes, auch nicht immer

sein Jdealtypus, sondern sein Extrem.

(S. 1322.)

Hierauf beantwortet Rachfahl die Fragen: Liegt der „kapi-

talistische Geist" wirklich derart im Wesen der calvinistischen Be­

rufsethik, daß er aus ihr heraus geboren werden konnte? War

die

calvinische

Ethik,

als

Ganzes

stande, ihn hervorzubringen?

betrachtet,

überhaupt im­

Rachfahl sagt: Niemals hätte

den Intentionen der Väter und Führer des Calvinismus eine Berufsethik entsprochen, die nicht orientiert war an den Grund­ sätzen ihrer allgemeinen Ethik, daher lag auch der Hauptnach­

druck ihrer Berufsauffassung auf der Arbeit, nicht auf Gewinn

und Reichtum, diese waren in ihr nur Faktoren von akzessorischer Bedeutung,

und

ebendadurch unterscheidet

sie

sich von dem

„Lebensstil" sowohl eines Fugger, als auch des modernen Groß-

30

kapitalismus.

Auf die Aussprüche Calvins, Cromwells und

Baxters hin ließe sich wohl eher eine sozialpolitische Gesetz­

gebung begründen, welche den „kapitalistischen Geist" einzudäm­ men bestimmt wäre (S. 1324). So ungeheuerlich ist nach Rachfahl die Einseitigkeit und Übertreibung des Weberschen Schemas,

daß sich selbst Tröltsch diesem Eindruck nicht ganz entziehen kann. Die Macht der Tatsachen öffnet ihm die Augen dafür, daß für

die Entwicklung

„des kapitalistischen Geistes"

doch

wohl noch

andre Faktoren maßgebend waren als die reformierte Berufsethik;

es gibt ihm auch zu denken, daß sich schon sehr früh ein protestan­

tischer Kapitalismus nichtcalvinistischer Provenienz konstatieren läßt, und daß der Calvinismus keineswegs überall Kapitalismus

in seinem Gefolge hatte.

Indem er bemerkt, daß „seines Er­

achtens" Weber der Nachweis seiner These „vollständig gelungen" sei, fügt er eine Einschränkung hinzu, die, richtig betrachtet, eine

Zurückziehung dieser Erklärung bedeutet:

„Man dürfe vielleicht

stärker betonen, daß diese besondre Art der reformierten Arbeitsaszese doch noch durch die besonderen Bedingungen der weltlichen

Geschäftslage und besonders durch das Zurückdrängen des Dissent vom Staat und der staatlichen Kultur mitbestimmt worden ist, wie andrerseits das Luthertum seine traditionalistische Haltung in

dem wirtschaftlichen Niedergang Deutschlands noch verschärft hat. In Ungarn, Ostfriesland und auch in den bäuerlichen Provinzial­

staaten der Niederlande hat der Kapitalismus meines Wissens

eine bedeutende Entwicklung nicht gefunden, und andrerseits hat

das gut lutherische Hamburg die günstigen Gelegenheiten der

atlantischen Verhältnisse eifrig mitbenutzt, hat auch der mit der

lutherischen und katholischen Ethik vielfach näher verwandte Angli­ kanismus sich diesem Geiste geöffnet."

(S. 1325 ff.)

Tröltsch

gesteht hier also selber zu: es gibt einerseits große calvinistische Gebiete, wo kapitalistischer Geist und Kapitalismus entstanden,

und zwar keineswegs nur auf der Grundlage reformierter Aszese; wir haben andrerseits zwar protestantische, aber nicht calvinische

31

Gebiete, wo sich aus eigner Wurzel kapitalistischer Geist regte

und kapitalistische Blüte entfaltete.

Da liegt doch die Frage

nahe: Sollte es nicht einfacher sein, die Entstehung des Kapita­ lismus, wo immer er sich findet, und die doch ohne Mitwirkung

des kapitalistischen Geistes nicht denkbar ist, auf andre Ursachen zurückzuführen, wie günstige Verkehrslage, Reichtum an natür­ lichen Produktionsmitteln, Anlage vor allem der Bevölkerung oder bestimmter ihr zugehöriger Klassen und andres mehr, wobei

bereitwilligst zugestanden werden soll, daß die reformierte Berufs­ auffassung als ein mächtiger Hebel der Entwicklung zu dienen

vermochte? Wie recht Rachfahl hat, zeigt das Beispiel des luthe­ rischen Norddeutschlands, besonders Hamburgs und Danzigs. —

Besonders scharf lehnt Rachfahl auch die Tröltschschen Kon­ struktionen über das Verhältnis des Luthertums zu Merkantllismus und Absolutismus ab: er nennt sie „ebenso kühn, wie falsch". So bleibt also von dem durch den Calvinismus ent­ standenen Einfluß auf die wirtschaftliche Entwicklung folgendes übrig: indem Calvin den sittlichen Segen der Arbeit so ent­

schieden betonte, wie das noch nie zuvor der Fall gewesen war, stärkte er Fleiß und Ausdauer, Ehrlichkeit und Sparsamkeit. Das kam natürlich dem ökonomischen Fortschritt zugute, trug aber nicht gerade von vornherein eine ausgeprägte kapitalistische Tendenz; das wirtschaftliche Leben blieb der religiösen Idee unter­ geordnet, indem Zucht, Sitte, Ordnung, Rücksicht auf das Wohl des Rächsten und der Gesamtheit die leitenden Gesichtspunkte waren.

So ist denn vielleicht durch den Calvinismus der mitt­

lere Wohlstand mehr gefördert worden als der Kapitalismus im großen Stile. Dabei soll die Möglichkeit nicht in Abrede gestellt werden, daß auch der Reichtum auf dem Boden der calvinistischen Berufsethik Begünstigung fand. Bei der englischen

Wirtschaftsgeschichte des 17. Jahrhunderts läge der Fall vor, daß religiöse Momente einer schon im Wesen der Dinge liegen­ den Entwicklung befreiend und helfend zur Seite standen.

Rach-

32 fahl zeigt hierauf noch, daß überhaupt der Protestantismus auf das Wirtschaftsleben befreiend und fördernd, der Katholizismus mehr bannend und hemmend wirkte, und daß der moralische Habitus dort ein überlegner war, daß auch bei den protestan­

tischen Völkern sich das Prinzip der Toleranz zuerst erfolgreich

durchsetzte und dauernd behauptete, wenngleich mit Restriktionen. So schreibt Rachfahl dem religiösen Momente für die Entwick­ lung der ökonomischen Verhältnisse eine große Bedeutung zu, ohne in die Übertreibungen von Weber und Tröltsch zu ge­

raten, wobei er aber ausdrücklich hervorhebt, daß es Webers

Verdienst bleibt, auf diesen Faktor auch als Triebkraft „kapita­ listischen Geistes" aufmerksam gemacht zu haben, wofür ihm die Religions- und Wirtschaftsgeschichte zu Dank verpflichtet sei.

Im Schlußkapitel spricht Rachfahl über Calvins Bedeutung und seinen und des Calvinismus Einfluß auf die weltgeschicht­ liche Entwicklung. Es ist durchaus berechtigt, daß er dabei den genuinen Calvinismus des Genfer Reformators von dem späteren

mit puritanischen und baptistischen Elementen gepaarten unter­ scheidet, und daß er es für ungeschichtlich erklärt, Calvin direkt etwas zuzuweisen, was erst einer späteren Entwicklung und Um­ gestaltung seiner Ideen angehört. So ist Calvins Anteil an der

Ausbildung individueller und politischer Freiheit begrenzt und

die Grundsätze der Duldung, der Gewissens- und Denkfreiheit erst später durch die Synthese calvinistischer und baptistischer Religiosität hervorgetreten.

Man muß auch Calvins direkten

Einfluß auf den Werdegang des modernen Staates nicht über­

schätzen.

Calvin wollte Staat und Kirche nur begrifflich sauber

geschieden wissen, sie keineswegs tatsächlich trennen. Aber es war für den Protestantismus von denkbar höchstem Wert, daß er in Genf eine Stätte fand, wo er dem Staate nicht dienend, sondern selbständig und sogar herrschend gegenüberstand, denn so wurde

in ihm die innere Freiheit der Gesinnung dem Staate gegen­ über gefestigt, woran es die Epigonen des Luthertums nur

33

allzuoft fehlen ließen. (S. 1355.) — Die Demokratie, die Volks­ souveränität und die Lehre von den unveräußerlichen Menschen­ rechten lassen sich nicht direkt von Calvin ableiten, der die

Aristokratie für die beste Verfassungsform erklärte.

Erst durch

das Eindringen neuer Elemente in den Calvinismus sind jene Anschauungen entstanden. Rachfahl geht meines Erachtens zu weit, wenn er im Hinblick auf die genannten Erscheinungen davon redet, daß solche nur durch die Kapitulation des Calvinismus

vor seinen ursprünglichen Todfeinden, Täufertum und ratio­ nalistischem Libertinismus, möglich geworden seien. Nicht um eine Kapitulation handelt es sich doch, sondern um eine Ver­

schmelzung, und nicht von Todfeinden sollte Rachfahl hier reden, da es sich doch vielfach um die Konsequenzen des persönlichen Glaubenslebens, also eines individualistischen Prinzips, handelt. Gerade die Worte Rachfahls selbst geben doch viel zu denken, wenn er sagt: „Trotz alledem, wenn sie (die Calvinisten) auch in diesen Stücken (Demokratie und Volkssouveränität) über die eigent­

lichen Lehren Calvins weit hinausgingen, wenn sie sogar direkt den Weisungen zuwiderhandelten, die sie von Genf empfingen, es war

doch der Geist calvinischer Religiosität, von dem sie getragen wurden,

der sie erfüllte in allen ihren Leiden und Taten, und dieser

Geist wirkte in ihnen um so stärker, als ihm der Reformator in seiner Gemeindeverfassung die denkbar zweckmäßigste und erfolgverheißendste Form der Organisation zur Verfügung gestellt hatte,

die alle Kräfte aller in seinen Dienst spannte, die auf dem Prinzip der engsten und durchgreifendsten sozialen Korporation beruhte." (S. 1361.) „Aber eines gibt es, das stammt im Calvinismus all­ überall, wo es immer auftritt, von Calvin selbst: das ist das Beste,

was er der Kirche einflößte, die nach ihm benannt wurde, sein

Größtes, und darauf beruht seine universale Wirkung: jene eigen­ tümliche Religiosität, die, aus seiner Prädestinationslehre heraus­ gewachsen, doch nicht mit ihr steht und fällt, deren einziger und unverrückbarer Zielpunkt die Wahrung von Gottes Ruhm und Knodt, Die Bedeutung Calvins.

3

34

Ehre ist, das Wirken in seinem Dienste, die Entzündung und

Unterhaltung jenes brennenden und leidenschaftlichen Glaubens­

eifers, der vor nichts zurückschreckt, der keine Kompromisse und Nachgiebigkeit kennt. Die Religion wurde bei ihm zur Leiden­ schaft, die alles andre beherrschte und mit sich fortriß." (S. 1363.) Aus diesem Geiste heraus können meines Erachtens Männer wie Cromwell und Milton allein erklärt werden. Wer mit solchem calvinischen Geiste die staatlichen Verhältnisse, wie sie damals in England lagen, ansah, der kann es verstehen, daß diese Männer so wirkten, weil sie sich um die Restriktionen nicht kümmerten,

mit denen Calvin das Recht aktiven Widerstandes verschränkte. — Eines solchen aktiven Heroismus waren das moralistisch und rationalistisch geachtete Reformchristentum eines Erasmus, das nach der Münsterschen Katastrophe friedfertige, weltabgewandte,

alles Blutvergießen scheuende und nur im Leiden starke Täufertum nicht fähig. (S. 1364.) Nach Rachfahl bleibt das beste Erbteil des genuinen Calvinismus: unermüdliches Schaffen und Wirken

im tiefinnerlichst empfundenen Streben nach Gottes Dienst, Ruhm und Ehre als höchstes Ideal christlicher Sittlichkeit; es hat seine

unverrückbare Geltung. (S. 1366.) Davon leben aber — mag es nun direft oder indirekt beeinflußt sein — die modernen Prinzipien im staatlichen, kirchlichen und wirtschaftlichen Leben mehr, als man glaubt.

Ich wende mich nun zu den Tr ö lisch scheu Ausführungen. Was den „kapitalistischen Geist" betrifft, der eine Frucht des Calvinismus sein und aus der „innerweltlichen Aszese" sich entwickelt haben soll, so stimmt wie schon bemerkt wurde Tröltsch

a. a.O. mit einigen Modifikationen in diesem Punkte M. Weber zu und findet vor allem die Entstehung dieses Geschäftsgeistes in der Herkunft der Puritaner aus den kleinbürgerlichen Mittel­

klassen, die durch den materiellen Kampf des Koloniallebens und ihre Geschäftsinteressen dazu gedrängt worden seien. Restringierend fügt er aber hinzu: „In Genf selbst, bei den Hu-

35 genotten, in Holland und vollends in dem aristokratisch-agrari­ schen Ungarn ist diese Entwicklung nicht eingetreten. Dagegen hat sie allerdings den Charakter der englisch-amerikanischen Welt

durchgreifend bestimmt."

Ich verweise hier auf die oben ge­

nau angegebenen Rachfahlschen Ausführungen, die nicht bloß Weber, sondern auch Tröltsch rektifizieren. Auch auf Kattenbuschs kritisches Referat (Theol. Rundschau 1910, Heft 4) sei

hier hingewiesen.

Aber trotz aller berechtigten Ausstellungen

darf man sich die Freude an den Anregungen der Tröltschschen Ausführung nicht verderben lassen.

Die Tröltschsche Darstellung, die zuweilen allzu kühn kon­ struiert, bietet manche neuen Gesichtspunkte und weiß die feinen Zusammenhänge mit dem Welt- und kulturgeschichtlichen Werde­ gang der Dinge meist geschickt bloßzulegen. (S. 305 bis 315, 333

bis 372, 398 ff.).

Insbesondere hat Tröltsch die Unterschiede

von Luthertum und Calvinismus gut herausgearbeitet: wie sie

durch die Dogmatik, Ethik und die ganze Lebensanschauung der zwei Konfessionen sich hindurchziehen. Ich stimme hierin Tröltsch gegen Rachfahl bei, wenn er sagt: „Nicht Erlaß der Sünden­ folgen, sondern Bestimmung zur Teilnahme am göttlichen Willen ist nach Calvin der Kern der christlichen Religion: es ist die Re­

ligion des Heroismus und der Aktivität. Aber Calvins Gemeindegedanke, seine Bekämpfung des Müßig­ gangs und Bettels, seine Anerkennung des Zinsnehmens, die Heran­ ziehung des Laienelements — darf nach Tröltsch nicht zu mo­ dern demokratisch aufgefaßt werden. Die Seele ist wohl innerlich frei, aber die Besten sollen die Herrschaft haben, um die

Masse zu erheben, zu erziehen und zu strafen.

Glanzvoll wird

es geschildert, wie der Calvinismus sich auf den geistig, politisch und wirtschaftlich höchst entwickelten Teil Europas ausbreitet, wie

er in den großen Seemächten Holland und England gedeiht, wie er aggressiv und antikatholisch vorwärts geht. Militärische Ausdrücke, wie die „Armee der Heiligen", „der 3*

36 Kriegsdienst Christi", „das Fähnlein Jesu" sind für ihn charak­

teristisch. Sehr gut sind auch die Farben der verschiedenen calvinistischen Gebilde in Holland, Schottland, Frankreich, Amerika,

Deutschland voneinander abgetönt. „Doch überall, und darin liegt die Einheit, imponiert das merkwürdig Abgeschlossene und

Rückenfreie bei allen echten Calvinisten, der Freiheitssinn, die strenge Selbstzucht und Moralität und die granitne Gläubigkeit." Mit Recht verweilt Tröltsch länger bei dem calvinischen Kirchen­

begriff, den er dem lutherischen gegenüber in seinen Vorzügen darlegt und scharf herausstellt, wenn er S. 341 sagt: „So sind durch die eisernen Klammern calvinistischer Logik in dem Kirchen­ begriff vier schwer zu vereinigende Gedanken eng verbunden: erstens die Innerlichkeit und Individualität des Heilsbesitzcs, der die Prädestination in jedem einzelnen rein für sich, und zwar

völlig innerlich und geistig weckt; zweitens die Objektivität der Schrift und der von der Schrift getragenen Lehre und Ver­ fassung, indem die Prädestination ja in erster Linie den Glauben an die Schrift wirkt; drittens die Herstellung einer Gemeinde der Heiligen, insofern alle Gnadenwirkung durch die Schrift ja

nur auf die Darstellung der erwählten Gemeinde Christi hin

arbeitet und nur in einer solchen Gemeinde die Ehre Gottes sich verwirklicht, wenn alle Mitarbeiten; viertens die theokratische

Verbindung mit dem Staat und die religiös-sittliche Einheit der Territorialkultur. — In der Vereinigung von alledem beruht die heroische persönliche Kraft und Überzeugung, der organisa­

torische Gemeinsinn und die rücksichtslose Herrscherkunst des Calvi­ nismus, der auch Kollisionen mit dem Staat nicht scheut. Während aber Calvin selber (Inst. IV, 14,7) von dem Gehorsam der Ein­ zelnen auch der schlechten, tyrannischen Obrigkeit gegenüber sehr friedsam und beruhigend redet und nur den Volksvertretungen es einschärft, dem Übermut der Regenten zu widerstehen, zeigt Tröltsch (S. 343), wie im sekundären Calvinismus das Wider-

37

standsrecht des Volkes vor allem in Frankreich und Schottland

auftaucht und die Lehre von der christlichen Volkssouveränität verkündigt wird.

Das christliche Volk handelt, wenn es

sündigen, die Gemeinde Gottes zerstörenden

Herrscher

den

absetzt

und einen neuen wählt, dem es gehorcht, dann nach einem Notstandsrecht.

nur

wirksam

Dabei ist das christliche Volk doch immer

gedacht

die Magistrats

durch

Interieurs,

denen es bei dem Versagen der obersten Gewalt zukommt, an deren Stelle zu handeln oder sie zu berichtigen; der Tyrannen­

mord ist dem ration,

Individuum nur auf Grund göttlicher Inspi­

wie der Jael und

Schlächtereien

der

Judith erlaubt.

Hugenotten

zeitigten

Die furchtbaren

derartige

Gedanken

und besonders die Bartholomäusnacht rief eine Anzahl solcher

Publikationen

hervor:

so

die

Franco-Gallia

des

berühmten

Juristen Hotman 1573, in welcher zum erstenmal die Ge­ schichte in umfassender Weise zugunsten konstitutioneller Ideen verwertet wird.

Dieses Buch hat die französische und damit

indirekt auch die Weltgeschichte auf lange Zeit beeinflußt.

Die

berühmteste staatstheoretische Schrift aus dem Hugenottenlager

war aber: Vindiciae contra tyrannos 1579, deren Verfasser

wahrscheinlich Melanchthons Freund Hubert Languet ist, der nach der Bartholomäusnacht flüchtete nnd fünf Jahre in Deutsch­ land lebte.

Diese Schrift ist der Ausdruck einer Seele, die im

Hinblick auf die verbrecherischen Handlungen der französischen Herrscher gegenüber den Hugenotten die Volkssouveränität aufs stärkste betont, aber in ungerecht verallgemeinernder Weise über

die Fürsten den Stab bricht.

„Glaube man nicht, daß wegen

dieser hundert armen Menschen, die meist weit schlechter und

untüchtiger als die übrigen sind, die Gesamtheit geschaffen worden

ist: das Gegenteil ist der Fall." Lehren später selbst verdammt.

Die Hugenotten haben diese

Interessant sind die Ausführungen

über diese Materien in der erwähnten Schrift von Cardauns,

Bonn 1903.

(Die Lehre vom Widerstandsrechts des Volkes.)

38

Tröltsch zeigt dann weiter (S. 345), wie in den Nieder­

landen der Toleranzgedanke sich entwickelte, nicht etwa schon eine religiöse Neutralität des Staates fordernd, aber doch so

konziliant, daß neben der Staatskirche auch andre Kirchen ge­ duldet werden und eine dogmatisch freie Literatur veröffentlicht

werden darf.

So duldete man dort Descartes und Spinoza,

und in Amsterdam (Eleutheropolis) erschienen die freisinnigsten

Werke.

Auch der Kunst gegenüber ließ man freien Spielraum:

„aber sie zeigt nicht immer puritanische Sitten und Toiletten."

Weil sie in den Kirchen nicht mehr geduldet wurde, warfen sich die Künstler vielfach auf weltliche Stoffe, und die Früchte sind allbekannt (Rembrandt), womit Carridres und Kuypers Urteil übereinstimmt.

Weil in Holland die Durchdringung mit rigoristisch-calvi-

nistischen Ideen das Volksleben nicht so durchdrang wie in Genf

und Schottland, entstand dort die Neigung zur Konventikelbildung (Pietismus). Tröltsch bemerkt dazu: sie widerspricht zwar völlig dem Geist des alten Calvinismus und der Theokratie, aber sie

ist deren notwendiges Ergebnis, und wenn in einer herrschenden

Staatskirche die theokratische Strenge bei Regierung und Masse zu vermissen ist, dann müssen sich aus der »Wellen Kirche die

eigentlich präzisen Christen zu besonderer Gemeinschaft absondern. Auch in dem heutigen Pietismus und der damit zusammenhängen­

den Gemeinschaftsbewegung sieht der Kenner die Wirkungen des

Calvinismus.

Hochinteressant ist die Entwickelung desselben in Amerika. Der Geist der ersten Generationen mit seiner strengen puri­ tanischen Disziplin, der die Quäker und Independenten nicht

duldete, konnte auf die Dauer nicht standhalten.

Handel und

Verkehr, englische und deutsche Literatur führten allmählich zu einer weitherzigen, freikirchlichen Theorie, die an der Christlich­

keit des Staates im allgemeinen festhält, aber dessen Tätigkeit

auf rein weltliche Funktionen einschränkt und ihr gegenüber das

39

Recht der freien Kirchenbildung als Forderung der Gewissens­ freiheit proklamiert. Im Zusammenhang damit entsteht auch der Gedanke der Menschenrechte und der vollen Gewissensfreiheit,

d. h. „der prinzipiellen Unantastbarkeit von Leben, Freiheit und

Besitz des Individuums außer auf dem Wege ordentlichen Rechts", ferner der Respektierung des individuellen Religionsbekenntnisses und der individuellen Überzeugungsäußerung: diese Ideen sind durch die französische Verfassung in alle modernen Ver­

fassungen

übergegangen

und

überall mit demokratischen

und

repräsentativen Ideen vereinigt. Bei dieser Gelegenheit ist auf die vorzügliche Abhandlung von Prof. Georg Jellinek: Die

Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, hinzuweisen. (Leipzig, Duncker & Humblot, 2. Ausl. 1904.) In derselben bringt er den Nachweis, daß Nordamerika die Wiege der vollen Gewissens­ freiheit und Anerkennung der Menschenrechte ist und daß, was dem positiven englischen Recht, der utilitarischen und skeptischen

Toleranz und den literarischen Erörterungen nicht gelang, nur durch die Energie der prinzipiellen religiösen Überzeugung mög­ lich wurde. Erst mit dieser religiösen Fundamentierung sind, sagt Jellinek, diese Forderungen absolut und dadurch einer prin­ zipiellen juristischen Erklärung fähig und bedürftig geworden. Nur so gelangten sie in das Staatsrecht als Grundlehre

und kamen von Nordamerika nach Frankreich. Tröltsch sagt mit Bezug auf diese Jellineksche Untersuchung: damit stünden wir allerdings vor einer überaus wichtigen Wirkung des Pro­ testantismus, der damit ein Grundgesetz und Grundideal modernen Wesens in die Wirklichkeit geführt hätte, und in der Tat ist im allgemeinen Jellineks Darlegung eine wirklich erleuchtende

Entdeckung. — Nur das korrigiert Tröltsch mit Recht, daß nicht der eigentlich calvinistische Puritanismus, sondern der weitherzigere Baptismus der Vater dieses Gedankens war. In den damaligen

demokratischen amerikanischen Puritanerstaaten war, wie oben

40 bemerkt wurde, die Gewissensfreiheit noch nicht vorhanden, nur in dem Baptistenlande Rhode-Island, wo der große Roger

Williams organisatorisch wirkte, und später im Quäkerstaat Pennsylvanien.

Ich bemerke hierzu, wenn auch dieser große

Fortschritt nicht direkt auf eine Wirkung des alten Calvinismus zurückzuführen ist, so doch indirekt, da die Baptisten enge mit dem Jndependentismus Zusammenhängen und dieser wieder mit

calvinistischem Geist, der doch zur vollsten Selbständigkeit dis­

ponierte.

Die übrigen Tröltschschen Ausführungen kann ich nur noch kurz streifen.

Bei dem Universitätswesen des Calvinismus

rühmt Tröltsch mit Recht die dort geübte systematische und

universale fassende,

Denkgewöhnung,

Einheitliche

den

Zug

ins

Große

und

Um­

und Systematische, den bewegten leben­

digen und vornehmen Geist, wie er durch den beständigen Aus­

tausch von Gelehrten verschiedener Länder und Nationen sich

bildete, er zeigt, welche Opfer man für die Hochschulen brachte, wie man sie schützte, er erwähnt die großen Theologen, Juristen,

Gräzisten, Latinisten, Orientalisten, Romanisten und Publizisten,

er zeigt, wie die Kultur des Humanismus und der Renaissance

hier mehr gepflegt wurde

wie im Luthertum, das unter der

Enge der kleinstaatlichen Verhältnisse, dem Elend des Kriegs,

der Roheit des Pennalismus und der Dumpfheit der niedergehen­ den deutschen Kultur litt. Genf und Lehden sind Weltzentren, und

freie als Bürger behandelte Studenten arbeiten als Studentenkom­

pagnien mit an der Verteidigung Genfs, während in den deut­ schen Universitätsdörfern kleinlichster Theologenzank oder Bier

und

Tanz herrscht. — Hochinteressant

in der Tröltschschen

Darstellung ist seine Ausführung über die calvinistische Ethik. Der Gottesbegriff ist voluntaristisch, Christus ist non otiosus, seine Werkzeuge wirken, daß sein Reich komme: alles atmet Aktivität,

die Persönlichkeitsidee ist scharf ausgeprägt, und der Wert der Gemeinschaft ebenso hoch gewertet.

Da die Bibel mit ihren Ge-

41

boten als Maßstab für das Leben herangezogen wird, so ent­ steht ein großer Ernst und eine herbe Strenge. Calvin handelt aber hier als Pädagoge: solange die Menschen sich noch nicht

selbst ein Gesetz sind, sollen sie die Autorität bewährter Ord­ nungen und Schranken spüren.

Die Freiheit eines Christen­

menschen ist ein hohes Ideal, aber es gilt, die Menschen dafür zu erziehen. Es sind innere Spannungen und Schwierigkeiten der christlichen Ethik überhaupt, die sich hier auftun und die

vom Calvinismus jedenfalls in der dem Durchschnittscharakter

der Menschen entsprechenderen und daher wirksameren, vom Luther­

tum in der der christlichen Idee gemäßeren und freilich auch un­ wirksameren Weise aufgelöst worden sind. (Tröltsch, S. 355.)

Die Ausführungen über Anglikanismus und Jndependentismus sind in einem besondern Kapitel gegeben. Tröltsch schildert, wie die große calvinistische Partei der Hochkirche gegenüber sich auf­ lehnte, wie sie auswanderte, in Schottland und den Niederlanden sich änderte und, weil sie mit dem Täufertum in Berührung kam

und durch den holländischen Toleranzgedanken und die republi­ kanischen Verhältnisse sich umbildete, auch auf England einen

rückwirkenden Einfluß ausübte.

Dort entstand 1581 der Jnde-

pendentismus, und „als Wendepunkt in der Geschichte des Pro­ testantismus das Reich der Cromwellschen Heiligen, die letzte große Volksbewegung, das Ende der Religionskriege, der Aus­ gangspunkt der modernen Welt". — Tröltsch findet in allen diesen Bewegungen eines independenten, undogmatischen, rein

religiösen, innerlichen Christentums die läuferischen Ideen und konstatiert die Zersetzung des Calvinismus in den Kümpfen der englischen Revolution: damals sei die protestantische Nachblüte der

mittelalterlichen Idee einer in ihrem Gesamtumfang religiös be­

stimmten Kultur und der sie tragenden Gottesstiftung der Kirche für immer abgestorben. Er sagt: die Jndependenz und im letzten Grunde das Täufertum hat den Calvinismus aufgelöst und besiegt, und es hat auf reformiertem Boden gesiegt, weil hier die

42 Ideen der persönlichen Erwählung und der heiligen Gemeinde Anknüpfungspunkte boten. Aber der Sieg auf reformiertem Boden bedeutete nur den Anfang des Siegs: er hat indirekt

durch Locke, Wolff und den Pietismus auch das ganze Luther­

tum überflutet.

Hier stehen wir vor der bekannten Auffassung

von Tröltsch, der den stark mittelalterlich gefärbten Altprotestan­ tismus und damit den mittelalterlichen Einfluß prinzipiell erst

mit der englischen, bzw. französischen Revolution zu Ende gehen läßt, also zwei Protestantismen scharf unterscheidet und den Neu­ protestantismus viel mehr von den modernen Kulturfaktoren und

besonders von den in der Reformationszeit unterdrückten Ideen des Täufertums, der Renaissancebildung und des mystischen Spiritualismus, als von dem sich weiter entwickelnden Altpro­ testantismus herleitet.

Damit ist eines der wichtigsten Probleme

aufgerollt, das die heutige Kirchen-, Kultur- und Weltgeschichte

beschäftigt. Es ist nun unzweifelhaft richtig, daß der Alt- und Neuprotestantismus auseinander zu halten sind, daß die Kritik, die Tröltsch übt, vielfach berechtigt ist, daß er auf manche über­ sehene Faktoren aufmerksam gemacht hat, daß er mit Nachdruck

auf die mittelalterlichen Faktoren im ersten Protestantismus hin­ weist: aber er schießt über das Ziel; Luthers Zentralidee ver­ kennend, macht er die Kluft zwischen Luther, Calvin und Neu­ protestantismus viel zu groß und überschätzt den Einfluß der

Täufer und des mystischen Spiritualismus. Sodann nennt er im

sogenannten Neuprotestantismus Positionen protestantisch, die

von dem größten Teil des neueren reformierten und lutherischen Protestantismus mit Recht abgelehnt werden: z. B. die Verwer­ fung des biblischen oder kirchlichen Supranaturalismus. Treffend sagt Loofs, der sich in seiner Rektoratsrede 1907: „Luthers Stellung zum Mittelalter und zur Neuzeit" mit Tröltsch aus­ einandersetzt: „Kein moderner Mensch wird in der Naturwissen­

schaft oder Geschichte mit dem Supranaturalen als einer Ge­ gebenheit für das wissenschaftliche Erkennen rechnen, aber daß

43

dem Glauben der Gedanke einer nicht rein evolutionistisch zu

verrechnenden Offenbarung

und

einer nicht rein immanenten

Erlösung durch die Naturwissenschaft unmöglich gemacht worden ist, ist das wirklich ein Axiom und zwar ein unverwüstliches Axiom

aller wahren modernen Bildung? Ich glaube das nicht. Einzelne, ja meinetwegen die meisten in den Universitätskreisen denken über

den Supranaturalismus und in bezug auf die drei anderen Punfte (Sünde, Afzese, Jesus — Paulus) ebenso wie Tröltsch.

Aber selbst wenn sie recht hätten, würde gelten: sie find nicht die moderne Welt, geschweige denn eine Inkarnation dessen, was

Die moderne Welt, die Tröltsch konstruiert, ist da in einzelnen hier und da die moderne Welt seit 200 Jahren gedacht hat.

sehr zahlreichen Kreisen. Aber noch ist die Entscheidungsschlacht zwischen der Diesseitigkeitsreligion pantheistischer Jmmanenzvorstellungen und den Traditionen eines lebendigeren Theismus nicht

geschlagen. Die neue Zeit, zu der Luther und — ich füge hinzu Calvin — in einem solchen Gegensatz steht, wie Tröltsch ihn malt, hat so wenig vor 200 Jahren eingesetzt, daß sie noch nicht einmal jetzt wirklich ganz geboren ist (S. 23 f.)." Es laufen auch sonst verschiedene Widersprüche mit unter. Ich will nicht von dem reden, worauf Kattenbusch und Loofs Hinweisen, mir ist es nur

aufgefallen, daß der Calvinismus einmal durch die Jndependenz zersetzt, abgestorben sein soll und dann doch wieder auflebt, wo Tröltsch den Protestantismus des 18. und 19. Jahrhunderts schildert (S.398). Vgl. auch Böhmer, Luther usw. Leipzig 1910.**) Zwischen Alt- und Neuprotestantismus

dürfte doch der

richtigverstandene evangelische Glaubensbegriff das Binde­ glied bilden, und hat es auch für den neuzeitlichen religiösen Fortschritt gebildet. Nicht was man glaubt, sondern wem man glaubt und gehorcht, bestimmt den genuinen lutherischen und calvinistischen Glaubensbegriff.

Weil man wieder seit Schleier­

macher daran anknüpfte und den Ertrag des und Rationalismus dabei verwertete, und weil

Pietismus man das

44

Wesentliche vom Unwesentlichen schied, hat sich, abgesehen von anderen Faktoren, die neuere Zeit für den Protestantismus an­

gebahnt.

Deshalb soll man den Geisteseinfluß des Täufertums

nicht maßlos überschätzen und ihm zuschreiben, was dem recht verstandenen, sich weiterbildenden und die Gewissensfreiheit und

Toleranz prinzipiell in sich tragenden Protestantismus, besonders

dem Calvinismus, zukommt. Ohne Calvinismus hätten sich die kleinen lebendigen englischen und amerikanischen Denominationen, wozu auch Quäker und Baptisten gehören, gar nicht gebildet. Horst Stephan sagt mit Recht: (Krüger, Handbuch der Kirchen­ geschichte IV, S. 290:) „Wer die Kirchengeschichte von der Re­ formationszeit an durchwandert, der empfängt den Eindruck, daß sie noch immer von den Impulsen dieser Zeit beherrscht wird. Die Hauptrichtungen, die das 16. Jahrhundert den einzelnen Typen

des Christentums verliehen hat, sind in dem 1814 beginnenden Zeitraum mit einer Kraft und Klarheit ausgebildet worden, die nach dem 17. und 18. Jahrhundert überraschen. — Der Calvinismus hat seinen eingeschlafenen Drang nach Aktivität erneuert und

in einer Weite ausgewirkt, die für das 16. Jahrhundert unmöglich war; dank seiner festen Verbindung mit der englisch-amerikanischen Kultur und seiner missionarischen Triebkraft ist er zu einer

wahrhaft weltumspannenden Macht geworden. Er führt vor allem die Eroberungskriege des evangelischen Christentums: er hat die Arbeit an den großen christlich-sozialen Fragen früher

und energischer in Angriff genommen, als das staatlich gebundene und in religiös-theologische Probleme verstrickte Luthertum

es vermochte.

Er bildet vereinsmäßige und kirchliche Organi­

sationen aus, die an umfassender Größe und Kühnheit keine Parallele im Luthertum haben." — Die Frage, ob diese Typen (Luthertum, Calvinismus und Katholizismus) bei der Ausbildung

ihrer ursprünglichen Sonderkräfte auch deren Schranken über­ nommen, oder durch Selbstkritik und Bereicherung an wahlver­ wandten Elementen eine innere Fortbildung begonnen haben,

45 beantwortet Stephan so, daß das Luthertum zu seinen Vorzügen (Weltoffenheit und Wiffensfreude) sich noch „der calvinistischen

Aktivität in der kirchlichen Organisation und Liebestätigkeit mehr erschlossen habe". „Die bereits im Pietismus begonnene Über­ nahme calvinistischer Elemente verstärkte sich daher im 19. Jahr­

hundert beständig: sie erzeugte eine Intensität und Vielseitigkeit

des christlichen Lebens, die vordem bei den deutschen Lutheranern unbekannt war, ihnen jetzt aber auf dem Gebiete der Inneren Mission sogar die Führung gab.

Sie bietet auch die Mittel,

die Gefahren der kirchlichen Zersetzung zu überwinden, die sich drohend mit der religiös-theologischen Leistung, der Enge wert­ voller religiöser Strömungen und dem religiösen Individualismus verbinden. Umgekehrt hatte im Calvinismus bereits der Metho­ dismus, freilich in pietistischer Umformung, sich verstärkt, indem

er mit der englisch-calvinistischen Eigenart ein starkes Drängen

auf christliche Heilsersahrung verband.

Während des 19. Jahr­

hunderts bereichert sich das englisch-amerikanische Christentum ununterbrochen an der Vertiefungs- und Klärungsarbeit der deutschen Theologie; in den letzten Jahrzehnten hat es so rasch von ihr gelernt, daß zumal manche amerikanische Kirchen sich früher als die schwerfällige deutsche Heimat zu ihrer vollen Ver­ wertung erheben durften. So findet eine ununterbrochene stille

Fortbildung und Ausweitung der protestantischen Typen des Christentums durch gegenseitige Bereicherung statt." Die direkten und indirekten Wirkungen des Calvinismus werden hier gut

hervorgehoben. Unser Rundgang durch die neuere und neueste Calvin­ forschung ist zu Ende: die Größe und Bedeutung des Calvinismus

ist uns dadurch vor die Seele getreten. Wir haben gesehen, wie recht Karl Holl a. a. O. hat, wenn er sagt: „Nicht allein in Amerika, wo das ganze Luthertum calvinischen Einfluß aufweist, auch bei uns in Deutschland ist Calvin heute eine Macht oder

doch ein Problem geworden: zuletzt und nicht am wenigsten da-

46 durch, daß die beiden größten Dogmatiker des 19. Jahrhunderts

bei Calvin in die Schule gegangen sind.

Wo man heute Hin­

sicht, in den Fragen der Theologie, der Kirchenverfassung, des

Verhältnisses von Staat und Kirche, der Ethik, des sozialen

Lebens: allenthalben findet man calvinische Gedanken bei uns wirksam.

Die Durchsetzung des Luthertums

mit

calvinischen

Ideen und das Ringen beider ist geradezu eines der Kennzeichen

der gegenwärtigen kirchlichen und theologischen Lage."

Nicht

Gegensätze muß man in der calvinischen und lutherischen Art

sehen: nicht soll Luther etwa hinter Calvin zurücktreten.

Er

bleibt immer der größte und reichste der Reformatoren und

Calvins schwache Seiten treten ihm gegenüber stets hervor, aber Calvin hat Luthers Werk ausgenommen und fortgebildet und

seine wichtigsten Gedanken theoretisch und praktisch ausgebaut. Hätte die lutherische Kirche — die Luthers Geiste im 16. und 17. Jahrhundert oft sehr unähnlich sich gezeigt hat — sich nicht

durch ihre Scholastik und Polemik von dieser reichen, aktiven, kon­ sequenten und unionsfreundlichen Form des Protestantismus se­ pariert, und hätte der deutsche lutherische Protestantismus mit

seinen unzähligen kleinen Landeskirchen, statt über schwierige,

abstrakte und unlösbare dogmatische Probleme polemisierend zu predigen und die Kraft mit solchen Zänkereien zu zersplittern, mit den reformierten Brüdern sich zusammengeschlossen und zu­

sammengearbeitet,

dann

hätten

wir

eine andre Blüte

evan­

gelischen Christentums erlebt und hätten auch wohl jetzt noch lebendigere Gemeinden.

Es gibt doch sehr zu denken, wenn man

die rheinisch-westfälische Kirche oder das reformierte Dilltal mit

der Schleswig-Holsteinischen oder Mecklenburgischen Kirche ver­ gleicht.

Gottlob, daß die beiden Konfessionen immer mehr ihre

Gaben austauschen, miteinander arbeiten und voneinander lernen.

Dankbar sollen sich deshalb alle Evangelischen freuen, daß Gott auf die Fortsetzung des Lutherwerkes im Calvinismus einen so

reichen Segen gelegt hat.

47 Zu den dauernden Segensfrüchten des Calvinismus in der protestantischen Welt rechne ich folgende:

1. Die ernste Auffassung der christlichen Religion nach der sittlichen Seite, als Gehorsam neben dem Vertrauen; der Wille

und dessen Bedeutung in der Religion tritt hier mächttg hervor. Bei solcher Auffassung der Religion unterbricht dann die sittliche

Tättgkeit, die Nächstenliebe nicht den Verkehr mit Gott, nein, sie gehört selbst in diesen hinein, denn sie gestaltet sich für den

Glauben zu der Erfahrung von der lebendig machenden Kraft Gottes, wodurch wir viel mehr unsre Heilsgewißheit erleben als

durch Grübeln über unser inneres Leben und über unsern geist­ lichen Geburtstag.

2. Die Betonung des christlichen Lebens im Kirchenbegriff

(Kirchenzucht) und die Erziehung der Gemeindeglieder zur Selb­ ständigkeit und zur Mitarbeit in den Gemeinden,

also

zum

aktiven allgemeinen Priestertum, zur allgemeinen Dienstpflicht.

Im Zusammenhang damit steht die Einführung und Entwicklung der Presbyterial- und Synodalordnung, zu deren Ausgestaltung

allerdings noch andere Faktoren mitwirkten.

Hiermit hängt auch

die Betonung des persönlichen Christentums und die seelsorgerische Beeinflussung der Gemeindeglieder durch Geistliche und Älteste

zusammen. Der Calvinismus will keine bloß gottesdienstlichen Gemeinden.

Es ist dem reformierten Kirchenwesen abgelauscht, wenn Schleiermacher (Prakt. Theologie, S. 483) sagt: „Es gibt kein andres Mittel, den Gemeingeist zu wecken, als indem man den Gliedern

eine Tätigkeit anweist, wodurch sie die unmittelbare Erfahrung bekommen, daß sie zum Wohl des Ganzen etwas leisten können.

Nach dem Dasein oder Fehlen einer solchen Organisation kann man auf die Vorzüglichkeit oder Fehlerhafttgkeit der Kirchen schließen."

3. Die Betonung der Notwendigkeit der Gemeindediakonie,

besonders der Armenpflege.

(Weseler Kirchenordnung.)

4. Anbahnung und Pflege der Werke der äußeren und

48

inneren Mission.

Reformierter Geist im Pietismus.

Wertvolle

aszetische Literatur. 5. Pflege des ökumenischen Sinnes in der evangelischen Kirche und Beförderung der Unionsbestrebungen. 6. Konsequenter, radikaler Bruch mit dem römisch-katholischen

Christentum und Bekämpfung der judaistischen und paganistischen

Elemente in demselben, des Sakramentarismus, des Zeremonien­ dienstes, des magischen Elementes in der Religion und konse­

quente Durchführung, Betonung der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit. Das calvinistische Christentum bildete das stärkste Bollwerk dem Papsttum gegenüber, das auch jetzt noch,

nur mit veränderten Mitteln, die Gegenreformation betreibt. 7. Geltendmachung der Gewissensfreiheit und Toleranz im Bunde mit dem dem Calvinismus verwandten Jndependentismus, Baptismus und Quäkertum. 8. Einwirkung des religiösen Faktors auf das staatliche und kommunale Leben;

Heranziehung der Bürger zur Mit­

arbeit auf diesem Gebiete; Entstehung des Selfgovernment; Calvin einer der größten Völkererzieher; Einfluß auf die Aufhebung der Sklaverei und Leibeigenschaft; Steins Wirken nach englischem Vorbild; Bedeutung der vom calvinistischen Geiste beeinflußten Völker Westeuropas und Nordamerikas.

9. Betonung des sittlichen Charakters der Arbeit; Wert­ schätzung des Handels und der Industrie; Bekämpfung des

Verbots des Zinsnehmens. 10. Einfluß auf Kunst und Wissenschaft; hier sind auch die großartigen Leistungen auf dem Gebiete der wissenschaftlichen

Theologie, besonders der Exegese zu erwähnen. Wie hoch schätzen Reuß und Jülicher Calvins Kommentare! (Vgl. Dörner, Gesch. der prot. Theologie. 1867. S. 429—519 und S. 887—918.) 11. Pflege des Wirklichkeitssinns, besonders bei holländischen

und englischen Gelehrten und Naturforschern. Als ich mir alle diese gewaltigen Nachwirkungen des Geistes

49 Calvins, die sich im Bunde mit andern Kulturmächten während

der letzten Jahrhunderte entfalteten, vor mein geistiges Auge

stellte und sah, wie aus dem Bergquell, der dort in Genf ent­ sprang, ein Riesenstrom geworden ist, der immer mehr anschwillt und immer reicheren Segen spendet, der alle die Bruderquellen

mit sich fortreißt, die sonst Sand und Sonne vernichtet hätten,

fiel mir Goethes bekanntes Gedicht „Mahomets Gesang" ein, in welchem der Strom den Quellen, Bächen und Flüssen, die von

ihm mit zum Ozean genommen sein wollen, zuruft: Kommt ihr alle!

Und nun schwillt er herrlicher, ein ganz Geschlechte trägt

den Fürsten hoch empor.

Und in rollendem Triumphe gibt er

Ländern Namen, Städte werden unter seinem Fuß.

Unauf­

haltsam rauscht er weiter, läßt der Türme Flammengipfel, Mar­ morhäuser, eine Schöpfung seiner Fülle hinter sich — und so

trägt er seine Brüder, seine Schätze, seine Kinder dem erwarten­ den Erzeuger Freude brausend an das Herz. —

Soli Deo Gloria.

Knodt, Die Bedeutung Calvins

4

50

Anmerkungen. x) F. W. Cuno,

Gedächtnisbuch deutscher Fürsten und Fürstinnen

reformierten Bekenntnisses.

5 Lieferungen.

Barmen.

H. Klein, o. I.

2) Handbuch der Kirchengeschichte, herausgegeben von G. Krüger. IV. Teil.

Die Neuzeit von lic. G. Stephan.

Tübingen 1909.

S. 282 ff.

8) Abraham Kuyper, Reformation wider Revolution. Sechs Vor­ lesungen über den Calvinismus. Gehalten zu Princetown. Übersetzt von M. Jäger.

Gr.-Lichterfelde.

1904.

S. 9.

4) Hauck, Realenzyklopädie. Bd. 16. Art. Protestantismus. S. 143ff. 6) Symbolik, Erlangen und Leipzig.

1896.

S. 540.

6) Bon den früheren biographischen Werken über Calvin behält seinen

Wert: Vie de Calvin par Theodore de Böze als Vorwort zu Commen­ taires sur le livre de Josuö, ouvrage posthume de Calvin, Genf

1564; davon gibt es eine neue vermehrte Ausgabe von Nicolas Colladon, Genf 1565 (vgl. die Straßburger Ausgabe von Calvins Werken Bd. 21).

Außerdem nenne ich : Stähelin, E. Joh. Calvins Leben und ausgewählte

Schriften, Elberfeld 1863 und die erste, streng wissenschaftliche Biographie von I. W. Kamp schulte, I. Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf,

2 Bde., 1869 und 1899.

gegeben.

Der zweite Band wurde von W. Götz heraus­

Kampschulte, ein Schüler Rankes, Altkatholik, bringt eine

Fülle von quellenmäßigen Mitteilungen unter neuen Gesichtspunkten, ist aber nicht unbefangen genug und bietet deshalb kein genaues Bild von Calvins Charakter. Über Calvins Jugend orientiert immer noch am besten von den früheren Schriften Abel Lefranc, La jeunesse de Calvin,

Paris 1888 und M. Crie, the early years of J. Calvin, 1880, über

sein „häusliches Leben" Aug. Lang (München 1893), einer der gediegensten Calvinforscher unsrer Zeit; ebenfalls Lang über seine Bekehrung.

Leipzig

1897 und der Kirchenhistoriker K. Müller; über die zwei letzten Lebensjahre Ad. Zahn, Leipzig 1895, ein ergreifendes Buch, das uns zeigt, wie Calvin

als ein Held litt und starb.

Ein lebendiges Bild von der Theokratie in

Genf zur Zeit Calvins zeichnet uns Eugen Choisy, La thöocratie ä

Genöve, Genf 1897, welcher auch über die Servet-Angelegenheit geschrieben

hat, worüber sich auch der Magdeburger Pfarrer Tollin in etwas ein-

51 fettig verurteilender Weise und ferner Lochenmann verbreitet haben. Phil. Godet und Sayous schrieben über Calvins Bedeutung für die Ent­

wicklung, Fortbildung der französischen Sprache und Literatur, worin Calvin eine ähnliche Stellung einnimmt wie Luther bei uns. Ein sehr gediegenes zuverlässiges Quellenwerk ist

„ Herminjard,

Correspondence des Röformateurs dans les pays de la langue fran-

9aise“, Genöve 1866—1897, 9 Bde.

schung sind die beiden

Werke

Unentbehrlich für eingehende For­

von A. Roget,

L’dglise et l’6tat

ä

Genöve aux temps de Calvin, 1867 und „Histoire du peuple de Ge-

növe depuis la Rtiforme jusqu'a l’Escalade“, 1870/83, 7 Bde.

Wert­

volle Gesichtspunkte bieten die Biographien von Schaff (Neuyork 1892). Dyer, the Ilse of J. 0., 1850, der Holländer Pierson, Studien over J. K. (1881/91), 3 Teile, wird Calvin nicht gerecht, weil er zu einseitig nur

Schattenseiten hervorhebt.

Objektiver ist Ploos van Am siel in seinem

„Het leven van Calvijn“, 1888. — Wer sich über den französischen Hu­

manismus, ohne den Calvin gar nicht recht zu verstehen ist, unterrichten will, findet in dem ausführlichen zweibändigen Werk des Franzosen Buisson,

S. Casteilion, Paris 1892, reiche und zuverlässige Mitteilungen.

Ein

großartiges Prachtwerk mit sehr wertvollen Illustrationen und glänzend

ausgestaltet, auf 5 Bände berechnet, von denen drei erschienen sind, hat

Les hom=

Prof. Doumergue, Lausanne, 1899 begonnen: Jean Calvin.

•mes et les choses de son temps, Lausanne, 1899 ff.

Das Gedie­

genste über Calvins Institutio schrieb I. Köstlin (Studien und Krit.

1868) Heft 1 und 3, über seine Ethik Lobstein, Straßburg 1877, über seine Sakramentslehre I. M. Usteri (Studien u. Krit. 1884), über seinen

Kirchenbegriff K. Seeberg, über seine Prädestinationslehre M. Scheibe, Halle 1897.

Der bekannte Berliner Philosoph, W. Dilthey, der Ernst

Tröltsch angeregt und beeinflußt hat, verdient mit seinen sich auch auf

Calvin beziehenden Arbeiten * eingehendes Studium, sowohl seine Auf­ sätze „über die Auffassung und Analyse des Menschen im 15. u. 16. Jahr­ hundert- (Archiv für Gesch. der Phil., IV u. V (1891/92), sowie über „das

natürliche System der Geisteswissenschaften im 17. Jhdt." (V u. VI (92/93),

sodann über „die fundamentale Bedeutung von Calvins Institutio" (VI). „Weder im Schriftprinzip noch in dem Solafide" liege der „Kern der refor­

matorischen Religiosität", diese sei vielmehr das einheitliche Resultat eines

recht komplizierten Prozesses, eine Explosion von Oppositionsgedanken, die sich besonders im 15. Jahrh, entwickelt hätten" (Geltendmachung des Selbst­ wertes der Person. Spannung zwischen diesen und der Hierarchie. Zer­ setzung der Metaphysik durch den Nominalismus. Drang, die Religion selbst

zu erleben.

Wertschätzung der weltlichen Berufe). — In den Jahrbüchern 4*

52 für National-Okonomie und Statistik 1878 schildert uns Dr. L.

Elster unsern Reformator als Staatsmann, Gesetzgeber und NationalÖkonom. Er zeigt darin in geistvoller Weise, wie religiöse und politische Freiheit stets miteinander verbunden sind, und wie Calvin „in unerschütter­ lich konsequenter Weiterbildung seines religiösen Wirkens auch an die poli­

tischen und sozialen Verhältnisse die reformatorische Hand legte, freilich auch wesentlich dabei begünstigt durch die freiheitliche Stellung des Staatswesens,

in dem er wirkte". Elster zeigt, wie in Begleitung des Calvinismus zwei Hauptrichtungen, eine politische und wirtschaftliche, hervortreten, wie die

politische die bürgerliche Freiheit und politische Gleichberechtigung, und die wirtschaftliche eine bedeutende Jndustriegeschicklichkeit hervorruft, indem sie

die Menschen zu ernster, von sittlichen Gedanken erfüllter Arbeit antreibt.

Elster gibt darüber hochinteressante zahlenmäßige Nachweise.

Man hat

70 000 Kaufleute und Handwerker reformierten Glaubens gezählt, die nach der Aufhebung des Edikts von Nantes nach Britannien flohen.

dessen wuchs dort die Industrie in erstaunlichem Maße.

Infolge­

Sie führten ent­

weder völlig neue Industriezweige ein oder verfeinerten die vorhandenen, so z. B. die Seidenmanufaktur. Während England zuvor bedeutende Summen für solche Fabrikate an Frankreich zahlen mußte, produzierte es jetzt nicht allein für seinen eignen Bedarf, sondern auch für das Ausland.

Ebenso

wichtig wurden die Hugenotten für Brandenburg; die Industrie und Land­ wirtschaft blühte durch sie nach den Verwüstungen des 30 jährigen Krieges mächtig empor.

Zirka 15 000 Refugiös nahm ganz der große Kurfürst auf.

(Droysen, Gesch. der preuß. Politik, 1868, LH.)

Wo sie hinkamen, för­

derten sie die Industrie: Spiegelfabriken, Gold- und Silberspinnereien, Tuch-

und Lederindustrie.

Auch Prof. Hundeshagen hatte schon vorher in

seinem Vortrag „über den Einfluß des Calvinismus auf die Ideen von Staat und staatsbürgerlicher Freiheit" 1841

voller Weise hingewiesen.

auf diese Tatsache in licht­

Sowohl dieser Vortrag wie auch seine anderen,

die Lichtseiten und Segensfrüchte des Calvinismus auf Grund gediegener Forschung aufzeigenden Bücher: „Der deutsche Protestantismus" (1841) und

„Beiträge zur Kirchenverfassungsgeschichte und Kirchenpolitik", insbesondere des Protestantismus Bd. I, 1864, sind für das Verständnis des Calvinis­

mus noch heute von großem Werte. Sodann sind die Ausführungen von A. Schweitzer, M. Göbel und Matth. Schneckenburger über die Unterschiede von lutherischer und ealvinistischer Religiosität und Kirchenwesen hier lobend zu nennen. Eine wertvolle Bereicherung für das Verständnis des Calvinismus bieten auch die Ausführungen Albrecht Ritschls im I und III. Band seines Werkes: die christliche Lehre von der Rechtfertigung

und Versöhnung und in der Geschichte des Pietismus.

53 Zu erwähnen ist hier auch noch die Auffassung des Calvinismus, wie sie uns Reinhold Seeberg (Lehrbuch der Dogmengeschichte, II, S. 405)

darlegt. Mit Recht weist er auf die Abhängigkeit Calvins von Luther hin und betont die Übereinstimmung mit demselben in den wichtigsten Punkten.

Wenn er aber in dem Calvinismus keine originelle religiöse

Konzeption sehen will, sondern die Eigenart des Calvinismus aus der Fortwirkung und Erhaltung von Idealen und Lehren der vorreformatori­ schen Zeit ausreichend erklären zu können vermeint, so ist dieser Behauptung

entschieden entgegenzutreten. Die sieben Punkte, die er für seine Ansicht an­ führt, beweisen nur, daß im Mittelalter schon ähnlich lautende Anschauungen geäußert worden sind, und wo gibt es überhaupt etwas Neues in der ge­ schichtlichen Entwicklung, das nicht irgendwie vorbereitet wäre und allerlei

Zusammenhänge mit dem Vorhergehenden aufweise!

Mit solchen Mitteln

kann man auch Luthers Gedanken unschwer als Fortwirkung und Erhaltung von vorreformatorischen Gedanken nachweisen.

Bei dem calvinischen Typus

kommt es aber vor allem darauf an, daß Calvin eine einheitliche Konzeption von Theologie und Kirche ausgeprägt hat, die Vorhandenes benutzte, aber

unter Ausscheidung des ihm falsch Erscheinenden ein eigenartiges Verständnis

von Christentum und Kirche offenbarte, und zwar durch Herausarbeitung des Prädestinationsgedankens, um den sich bei Calvin alles gruppiert.

Die Prädestination ist bei ihm Quelle der Heilsgewißheit, Motiv zum Handeln und Kontrolle der Heilsgewißheit im sittlichen Handeln.

einer großartigen Einheit zusammengeschlossen.

Alles ist darin zu

Von dieser Lehre aus be­

kommt Calvins Kirchen- und Kirchenzuchts-Jdeal seine Begründung und Be­ leuchtung. — Von diesen Gesichtspunkten aus ist Seebergs Ansicht über

die Eigenart des Calvinismus zurückzuweisen. Als Fortwirkung vor re­ formatorischer Ideale und Lehren nennt er bei Calvin folgende sieben Punkte. 1. Das vorreformatorische kirchliche Reformideal. (Anti­ römischer Zug bei Calvin.)

Staat.

2. Das Verhältnis von Kirche und

Calvin denkt aber nicht an hierarchische Beherrschung des Staats­

wesens durch die Kirche, sondern durch die Bibel und an die Pflicht des Staats,

die großen Gottesgedanken immermehr in die Praxis umzusetzen (christlich-so­ ziale Gedanken), alles soll auch im Staate zur Ehre Gottes geschehen, nicht

zur Ehre der Kirche. 3. Das praktischeLebensideal. (Dagegen lese man

Inst, in, 6—10 de vita hominis christiani.)

Calvin begründet seine Aszese doch ganz anders als Rom. — 4. Den Gebrauch der Schrift als wörtlich inspiriertes Gesetzbuch. — Hier heißt es: Wenn zwei das­

selbe tun, so ist es nicht dasselbe, Calvins Auffassung hängt mit seiner Prädestination zusammen, der Prädesttnierte muß genau wissen, was Gott

will. Ethischer Biblizismus. — 5. Der erasmisch-skotistisch-nomina-

54 listische Sakramentsbegriff.

Dagegen ist zu sagen, daß Calvin alles

Magische, Stoffliche und Kreatürliche in einem Gnadenmittel ablehnen muß, weil er antipaganistisch denkt und ihm das Sakrament dann als Götzendienst

Vorkommen muß, während es nur pignus gratiae ist. — Bei Duns nötigt das Sakrament die Gnade gleichsam herbei, das ist doch anders als bei Calvin, der das Sakrament zum Wort Gottes rechnet und ganz geistig wirken läßt.

6. Die augustinisch-scholastische Auffassung von Christi lokal-begrenzter Leiblichkeit, wie sie beim Abendmahl wirkt. — Hiergegen ist zu bemerken, daß Calvins Auffassung von Christi verklärter, im Himmel thronender Leib­

lichkeit sich ebensogut auf Paulus zurückführen läßt, als auf Augustin und

die Scholastiker. 7. Zuletzt bemerkt Seeberg, daß der „Determinismus" auch schon vorreformatorisch gewesen und keine neue Errungenschaft sei. Darauf kommt es hier gar nicht an, ob der Gedanke des Determinismus

von Calvin anderswoher ausgenommen, sondern daß er ihn mit der Prä­ destination in das Zentrum seiner christlichen Auffassung gerückt hat, wo­ durch sein ganzes Christentum vom Gottesbegriff bis zur Eschatologie ein

bestimmtes Gepräge erhält.

Wenn Seeberg dann den Rat gibt, das

lutherische Kirchentum möge von der praktischen Energie der reformierten Ideale lernen, aber in kritischen Zeilen solle man die Rettung nicht bei

Calvin, sondern bei Luther suchen, so vergißt er, daß die praktische Energie des calvinistischen Ideals nur die Frucht des calvinistischen Erwählungs­

glaubens ist, aus dem allein das sittliche Handeln zu Gottes Ehre in

Kirche, Staat und Gesellschaft herausspringt. Auf die Bedeutung des Calvinismus für die Union weist ein viel zu wenig bekanntes, hochinteressante Forschungen darbietendes Werk hin: Ge­

schichte der kirchlichen Politik des Hauses Brandenburg von v. F. Brandes. 2 Teile, Gotha 1872.

Vor allem aber seien die großzügigen reformationsgeschichtlichen Werke von L. von Ranke, Ludw. Häusser-Oncken 1868 und von Bezold 1886 unvergessen.

Eine vorzügliche, knappe Charakterzeichnung Calvins

und seines Werkes hat meines Erachtens aber Erich Marcks in seinem

Werke „Gaspard von Coligny", 2 Bde., Stuttgart, 1892, geliefert. — „Der Calvinismus", sagt er, „hat vorwiegend den heißen Kampf für Bestand und Ausbreitung der Reformation gestritten; mit einziger Ausnahme wohl des

nationalen Militärstaates Schweden sind, vermöge einer gegenwärtigen An­ ziehung der Energie, alle großen politischen Kräfte des Protestantismus calvinischer Herkunft gewesen. Ein gewaltiges Geschlecht ist aus den Mauern

der kleinen Stadt in die Welt hinausgegangen. Damals in den Tagen der Reformation blieb die Stadt selbst noch der Mittelpunkt der Bewegung — ein unvergängliches Schauspiel für alle Zeit, wie dieses Genf sein blitzend

55 scharfes Licht über einen wirren Erdteil ringsum ausgießt unter einem

großen Mann von der harten Erhabenheit der Firnen, auf denen die Rosen

nicht blühn, aber im Scheine der geschichtlichen Ewigkeit leuchten sie über

die Jahrhunderte hin". Von großem Interesse ist auch die Auffassung des Calvinismus, wie sie Prof. Karl Müller in seiner Symbolik, Erlangen 1896, darlegt.

Reformierten, so führt er aus,

menschlichen Typus,

sie

rechnen

Die

wollen keine einseitige Herrschaft eines auch Luther

zu

ihren

Reformatoren.

Luther war tatsächlich derjenige, welchem Gott die entscheidende und durch­

schlagende evangelische Erkenntnis für die gesamte Kirche verliehen hat. Aber Calvin zeigt sich darin ganz selbständig, daß er Luthers Lehre von der Buße, der Realpräsenz und der momentanen Wirkung der Sakra­

mente ablehnt.

Der die Werkheiligkeit bekämpfende Glaube und das Be­

tonen der unsichtbaren Kirche drängten bei Luther den Trieb nach sittlicher

und kirchlicher Gestaltung znrück — oder leiteten ihn in falsche Bahnen. —

Nach dem Gesetze menschlicher Geschichte war diese Einseitigkeit wahrschein­ lich notwendig, nur sie vermochte mit ihrem eignen Nachdruck den Katholi­ zismus aus den Angeln zu heben. Aber nun schwingt das Pendel der Be­

wegung zurück, um in der normalen Lage, dem Ergebnis des Schwingens zwischen falscher Äußerlichkeit und einseitiger Innerlichkeit, stehen zu bleiben.

Es ist die Bedeutung Calvins, den Protestantismus in diese

normale Lage übergeleitet zu haben, nicht bloß praktisch, sondern auch durch

die Klärung seiner Grundgedanken.

Zwingli eignet überwiegend

die Bedeutung, ein von Luthers Alleinherrschaft freies Gebiet durch An­ bahnung evangelischer Grundlinien für den Calvinismus osfengehalten zu Haven.

In der Gestalt des Calvinismus hat die evangelische Lehre die

Länder und Weltteile erobert. Die Entschlossenheit und Kraft des Calvi­ nismus hat die Schutzwehr des Protestantismus gegen römische Über­ schwemmung gebildet.

Müller sieht im Calvinismus die normale Gestalt

des Protestantismus.

Den Unterschied zwischen Luthertum und Calvinis­

mus erklärt er nicht aus einer dogmatischen Formel, einem Prinzip, sondern aus einer eigentümlichen Bestimmtheit der Heilsgewißheit und des religiösen Verhaltens; dort sieht er die Unmittelbarkeit des Glaubens, hier die Reflexion

auf die Werke, bzw. auf das sittliche Verhalten, Gehorsam gegen den Gott

der Heiligen Schrift auf Grund der Erwählung ist calvinistischer Grundzug. Des Reformators Calvin Härte, sagt er, ist viel getadelt worden, aber

man sollte vor der Beugung unter Gottes Willen bewundernd stille stehn,

welche Calvin der Welt auferlegte, weil er sie sich selbst zumutete.

Auch

auf die Verbreitung der Schriftkenntnis im reformierten Volke weist Müller hin.

Ich erwähne hier schon das verdienstvolle Werk Karl Müllers, Die

56 Bekenntnisschriften der reformierten Kirchen, Leipzig 1903, 976 S., 58 Be­ kenntnisse enthaltend, die er in 9 Gruppen teilt. Besonders interessant sind

die 11 modernen reformierten Bekenntnisse: der pfälzischen Union 1818, der

Calvinistischen Methodisten 1823, der englischen Independenten 1833, der waadtländischen Freikirche 1847, der Genfer 1848, der Chiesa Evangelica

Italiana 1870, der französischen Generalsynode von 1872, der Neuenburger Freikirche 1883, der amerikanischen Kongregationalisten 1883. — Gute Ein­

leitungen und vortreffliche Register erhöhen den Wert des Buches. — Müller hat uns auch eine vortreffliche, gekürzte Übersetzung von Calvins Institutio, Neukirchen 1910, geschenkt.

Ein

sehr wertvolles Buch zum Verständnis des

seiner Bedeutung

für die protestantische Welt ist:

Grundsätze reformierter Kirchenverfassung Leipzig,

gerade die Verfassungsfrage

in

der

Calvinismus und

Dr. Karl Rieker:

1899, 208 S.

Weil

eine so

große

reformierten Kirche

Rolle spielt und die Wissenschaft diese Frage sehr stiefmütterlich behandelt

hat — auch Rudolf Sohm widmet in seinem Kirchenrecht, Bd. I, 1892 dieser Sache nur 23 Seiten — ist das Riekersche Buch doppelt ver­ dienstvoll.

In demselben werden die Grundsätze, die allgemeinen Grund­

anschauungen und die treibenden Grundgedanken der reformierten Kirchen­

verfassung von streng wissenschaftlichem Standpunkte aus dargelegt und mit denen der lutherischen Kirche verglichen. Im ersten Teil wird eine Ge­ schichte der Quellen und Literatur der reformierten Verfaffungslehre darge­

boten; unser Blick wird zuerst auf Calvins Werke und die Genfer Kirchen­ verfassung gelenkt, dann folgen Neuenburg, das Waadtland, die Hugenotten­

kirche in Frankreich, die Kirche von Böarn, die Kanalinseln, die Niederlande, Schottland, die englische Kirche und der Presbyterianismus, Irland, Polen, Ungarn und Siebenbürgen, Deutschland, die reformierten Fremdengemeinden,

Nordamerika und der Jndependentismus.

Der zweite Teil bringt die Dar­

stellung der Grundsätze reformierter Kirchenverfassung.

Zuerst entwickelt

Rieker den reformierten Kirchenbegriff. Er stellt dar, wie die Kirche nicht sowohl Heils- als Heiligungsanstalt ist, und welchen Wert sie auf die Kirchen­

zucht legt, daß sie nicht bloß gottesdienstliche Gemeinschaft, sondern ein so­ zialer Organismus ist.

Der aktive Charakter der reformierten Frömmigkeit

wird ins rechte Licht gesetzt.

„Durch die Arbeit an ihr (der Kirche) baut

der Reformierte den Gottesstaat auf Erden; das ganze bürgerliche und ge­ sellschaftliche Leben soll von hier aus dem Gesetze Gottes gemäß reformiert werden.

(S. 68.)

„Während der lutherische Christ von der Kirche, der er

kraft der Taufe angehört, nichts weiter erwartet, als daß sie ihm das Wort

Gottes und die Sakramente rein und lauter darbiete, ist dem Reformierten die Kirche das eigentliche Feld seines Eiferns um Gottes Ehre und seiner

57 Arbeit für das Reich Christi, daher gebraucht Calvin, wenn er die Tätigkeit

der Christen schildern will, mit Vorliebe militärische Ausdrücke, spricht vom Gott der Schlachten und von Schlachten Christi, vom Kriegsdienst, Fähnlein

Jesu, vergleicht die Christen mit einem Heere, nennt sie Krieger Gottes usw."

(S. 72.) Im zweiten Abschnitt des zweiten Teils schildert Rieker die Be­ deutung der Verfassung für die reformierte Kirche, im dritten das Formal,

im vierten das Materialprinzip der reformierten Kirchenverfassung". Dann

folgt ein Abschnitt über die Garantien gegen die Verletzung des Material­ prinzips, sodann werden die reformierten Presbyterien und Synoden mit

den modernen verglichen (Abschnitt VI) und im Schlußkapttel über Staat

und Kirche nach reformierten Grundsätzen gesprochen.

Obgleich Rieker

als Ergebnis seiner Untersuchung feststellt, daß die modernen Presbyterien und Synoden etwas anderes sind als die reformierten Einrichtungen gleichen Namens, daß bei Calvin die Ältesten nicht Vertreter der Gemeinde im

modernen Sinn, nicht Mandatare eines über ihnen stehenden Volkswillens,

sondern Funktionäre Christi, des Herrn der Kirche sind, daß der politische Konstttutionalismus die neueren Kirchenverfassungen beeinflußt hat (S. 171),

so sagt er doch ausdrücklich: „Mit alledem soll nicht bestritten werden, was ja auch unbestreitbar ist, daß das Vorbild der reformierten Verfassung den Anstoß zur Einführung von Presbyterien und Synoden in den Organismus

der lutherischen Kirchenverfassung gegeben hat, daß der modernen Kirchen­

verfassungsbewegung reformierte Einrichtungen als Muster gedient haben."

(S. 171.)

Der Auffassung von Kampschulte, daß Calvins Kirchenregiment

durchaus auf demokratischer Grundlage ruhe, was auch Erich Marcks und Dilthey annehmen, tritt Rieker entgegen. (S. 137.) 7) Walker, Williston, John Calvin, The Organizer of Beformed Protestantism. Neuyork und London 1906. 8) A. Bossert, Johann Calvin. Deutsche Ausgabe besorgt von Prof.

Dr. Hermann Krollick.

Mit dem Bild des Reformators. Gießen 1908.

9) Die. Aug. Lang, Johannes Calvin.

Leipzig.

Verein für Refor-

mattonsgeschichte. 1909. 10) Paulsen, Joh. Calvin, ein Lebens- und Zeitbild aus dem Re­ formationsjahrhundert.

Stuttgart 1909.

n) D. Knodt, Prof., Joh. Calvin, Mitteilungen aus seinem Leben und seinen Schriften.

Herborn 1909.

12) Sodeur, Joh. Calvin.

") Baur, Joh. Calvin.

Leipzig 1909.

Tübingen 1909.

") Diener-Wyß, Joh. Calvin.

Zürich.

") Beß, Unsre religiösen Erzieher.

(Rel. Volksbücher.) (Neue Ausgabe.)

Bd. II.

S. 62 ff.

1908.

ie) Rudolf Schwarz, Pfr. Johannes Calvins Lebenswerk in seinen

58 Briefen.

Eine Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung.

Mit einem Geleitswort von Prof. v. PaulWernle.

bis zum Jahre 1553.

I. Band: Die Briefe

II. Band: Die Briefe bis zum Jahre 1564.

Tü­

bingen 1909. 17) Müller, Karl (Tübingen), Calvins Bekehrung (Nachrichten der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften).

1906.

18) D. Paul Wernle, Calvins Bekehrung. (Zeitschrift für Kirchen­ geschichte.)

1906.

Was die Untersuchungen von Müller und Wernle betrifft, so ist

die Ansicht über das Bekehrungsdalum Calvins noch immer schwankend, Müller setzt es später, um 1533, Wernle früher bei dem Übergang vom juristischen zum theologischen Studium.

Auch jetzt sind die Akten noch nicht

geschlossen, ich halte das spätere Datum für richtiger, da ich nicht annehmen kann, daß Calvin nach seiner Bekehrung noch seine katholische Pfründe

ausnützte, und solches geschah bis 1534. 19) Charles Borgeaud hat uns in seiner Histoire de Füniver-

sit6 de Genöve, 1900, eine eingehende Beschreibung der Akademie Calvins in Genf gegeben, und deren große Bedeutung hervorgehoben: nur dadurch

konnte Calvin sich einen theologischen Nachwuchs sichern; er kollektierte selbst

für seine Lieblingsschöpfung und hatte in kurzer Zeit 10 024 Gulden zu­ sammengebracht.

Bei der Eröffnungsfeier wurde den Studenten u. a. zu­

gerufen: „Ihr seid hier zusammengekommen, um einzudringen in die Erkenn-

nis der wahren Religion und aller guten Künste, damit ihr dereinst den Ruhm des göttlichen Namens befördern und vermehren und eurem Vater­ land und den Eurigen eine Stütze und Zierde sein könnt.

Vergesset nie,

daß ihr von diesem heiligen Kriegsdienst vor dem höchsten Kriegsherrn

dereinst werdet Rechenschaft ablegen müssen."

600 Studenten da.

Gleich am Anfang waren schon

So ward die Akademie, wie Michelet sagt, die Er­

ziehungsstätte der Heiligen und Märtyrer, die ernste Werkstatt, in der die

Erwählten des Todes zubereitet und gestählt wurden (man denke nur an

die Hugenottenprediger).

Diese Akademie hatte Weltruf, nach ihrem Muster

wurden überall in Holland, Frankreich und Deutschland Hohe Schulen ein­ gerichtet, wie z. B. auch 1584 die Johannea in Herborne. 20) Schütte, Pastor, Über Calvins Einfluß aus die deutsche Refor­ mation. (Deutsch-evangelische Blätter. 1907. Heft 3. S. 145—178.) 21) Die Publikationen von Prof. M. Schulze sind: Meditatio futurae vitae, ihr Begriff und ihre herrschende Stellung im System Cal­

vins, Leipzig 1901, und Calvins Jenseitschristentum in seinem Verhältnis zu den religiösen Schriften des Erasmus, Görlitz 1902.

Die erste Schrift soll ein Beitrag zum Verständnis der Institutio

59 sein.

Schulze behauptet, datz bei Calvin die entschiedene und anhaltende

Richtung des Gemüts auf das jenseitige Lebensziel sein ganzes Christentum

bestimmen, daß gründliche Verachtung deS gegenwärtigen und heißes Ver­ langen nach dem zukünftigen Leben die Calvinsche Doppellosung für das Leben bedeute, und daß Calvin dem gegenwärtigen Leben vorwiegend ab­

lehnend und negativ gegenüberstehe.

Er stehe darin ganz anders wie der

„Stifter des weltförmigen Christentums" (Luther), er sei auch „persönlich

sür die Richtung auf das Jenseits disponiert gewesen", dann hätten auch seine Platostudien und seine Kränklichkeit dazu beigetragen.

Ich frage:

diese finstre, düstre Mönchsgestalt soll Calvin sein, diese personifizierte Tat­ kraft und Energie, dieser Vertreter eines so praktischen, auf Kirche und Staat, Familie und Schule einwirkenden Christentums.

Wer findet in

dieser Zeichnung den Mann wieder, der in Genf auf Bitten des Magistrats die Ordonnances politiques ausarbeitete, der die Wohlfahrtseinrichtungen

daselbst ins Werk setzte, Gutachten über die Kanalisation, über Fragen des Feuerlöschwesens und der Artillerie, über die Preise auf den Wochenmärkten und anderes verfaßte?

Selbstredend hat Calvin wie jeder ernste Christ auch

sub specie aeternitatis gelebt und gewirkt und diese Gedanken ausge­

sprochen, aber er wußte sich von Gott auch hienieden auf seinen Platz gestellt und hat hier auch alles zu Gottes Ehre gestalten wollen.

Er tröstet die

Leute, die in schwerem Beruf und in großen Sorgen stehen (Teil III, 10, 6)

bannt, daß sie volle Erleichterung in dem Bewußtsein finden, „daß Gott sie in dies Alles hineingeführt hat" und fügt hinzu: „es ist ein herr­ licher Trost, daß selbst das geringste und verächtlichste Werk, welches

wir in den Schranken unsers'Berufs ausrichten, von Gott glänzend und

hochgeachtet wird." Der Calvinische Gedanke, sich auf diesem irdischen Arbeitsfeld erwählt zu wissen, Gottes Ehre zu verbreiten, gibt schon hienieden die stolzeste Unabhängigkeit des Christen von der Welt.

„Calvin kannte, wie

A. Dörner (Vortrag über Calvin am 18. Jan. 1910) S. 12 richtig sagt, auch das Gebiet der gratia universalis, der allgemeinen Gnade im Unterschiede

Don der spezifischen Erwählungsgnade, wir würden sagen, das Gebiet der welt­

lichen Ethik, der Kultur.

Auch hier ist das Motiv: die Ehre Gottes.

Aber

hier wird Gottes Ehre keineswegs gefördert durch Selbstverleugnung in negativ­

pietistischem Sinn.

Hier hat die Vernunft frei zu bestimmen, wie je nach

Zeit, Umständen und Verhältnissen die Angelegenheiten zu ordnen seien":

ich füge hinzu, erleuchtet durch Gottes Walten in der Schrift. — Stimmt

es zu der Schulzeschen Auffassung, wenn Calvin (Corp. Bef. XXIX, S. 200) sagt: „Elfenbein und Gold und Reichtum sind gute Kreaturen Gottes, den Menschen zum Gebrauch überlassen, ja durch die göttliche Vorsehung be-

stimmt.

Es ist nicht verboten, zu lachen, sich zu sättigen, neuen Besitz dem

60 alten hinzuzufügen, an Musik sich zu ergötzen oder Wein zu trinken.

Man

entferne die maßlose Begierde, Verschwendung, Leerheit, Anregung, damit man mit gutem Gewissen diese Gottesgeschenke gebrauchen kann."

Bild ist hier von Schulze sehr einseitig gezeichnet. „Calvins Jenseits-Christentum

Calvins

In der zweiten Schrift

in seinem Verhältnis zu den religiösen

Schriften des Erasmus untersucht" wird die Behauptung aufgestellt, Calvin

habe seine besonders durch Plato veranlaßte Jenseitsstimmung von Erasmus erhalten.

Abgesehen davon, daß die Schulzesche Auffassung von Calvins

Jenseits-Christentum einseitig ist, kann der Nachweis, daß Erasmus' Ge­

danken über diese Sache vielfach mit denen Calvins zusammenstimmen, uns darüber kein Licht bringen, ob nicht beide gemeinschaftlich sowohl durch die ganze Gedankenwelt des Mittelalters, wie auch durch die Eschatologie des

Neuen Testaments beeinflußt sind.

Auch kann Calvin durch Luther, der den

Begriff der meditatio vitae futurae in seinem Römerbrief-Kommentar hat, beeinflußt sein.

Mit Recht hat Prof. Köhler (Zürich) darauf hingewiesen

(TH.Lit.-Zeit. 1903, S. 338), daß die Probleme hier viel verwickelter liegen, als Schulze sie vorführt. — So könnte man auch aus Luthers Wort:

„Jammertal", mit dem er die Erde bezeichnet, ganz falsche Konsequenzen

für seine Ethik ziehen. M) Lüttge, Die Rechtfertigungslehre Calvins.

Berlin 1909.

2S) Strathmann, Calvins Bußlehre in ihrer späteren Entwicklung. (Studien und Kritiken 1909, Heft 3.)

21 a) Zeitschr. f. Theo!, u. Kirche.

Tübingen, 1909.

24) Prof. D. P. Tschackert, Die Entstehung der lutherischen und re­ formierten Kirchenlehre samt ihren innerprotestantischen Gegensätzen. Göttingen

1910.

(S. 381-446.) 9B) Calvinstudien.*) Festschrift zum 400. Geburtstage Johann Calvins.

Unter Redaktton von Lic. Dr. Bohatec, herausgegeben von der reformierten Gemeinde Elberfeld. Mit Beiträgen von I. Bohatec, W. Hollweg, W. Kolfhaus, I. Neuenhaus, H. Strathmann, Th. Werdermann.

Leipzig 1909.

Haupt.

(VI. 441 S.)

5 Mk.

Die Abhandlungen, die fast

alle aus der Feder Elberfelder Pfarrer und der ehemaligen Mitglieder des dortigen reformierten Kandidatenstifts stammen, „sollen eine Apologie des großen Organisators und Vollenders des Protestantismus sein". Die ersten 26 Seiten füllt eine Abhandlung von Pfarrer Neuenhaus: „Calvin als

Humanist."

Der Verfasser versucht den Nachweis, wie Calvin, „alle huma­

nistischen Bildungsstoffe in sich aufnehmend, diese seinem starken Gottes­

bewußtsein dienstbar zu machen gesucht und die von ihnen drohenden Gefahren Die mit * versehenen Besprechungen aus dem Gebiete der Calvinliteratur habe ich zuerst in „I. Jordan, theologischer Literaturbericht" Gütersloh, veröffentlicht.

61 kraftvoll gemieden hat, wie der griechische Geist bei ihm immer mehr zurücktrat,

aber der Ruhm eines ausgezeichneten Humanisten von ihm bis ans Ende behauptet worden ist*

Dieser Nachweis ist dem Verfasser, der die wichtigsten

Daten in ansprechender Form zusammenstellt, gut gelungen und der Gegen­ satz zwischen der humanistischen Art Calvins und der des Erasmus tritt

klar hervor. — Von großem Interesse ist die II. Abhandlung: „Der Ver­ kehr Calvins mit Bullinger" (bis S. 125).

Besonders auf Grund des

reichen Briefwechsels beider, der sich vom 1. November 1537 bis zum Tode

Calvins erstreckt, werden von W. Kolfhaus die theologischen, kirchenpoli­

tischen und persönlichen Beziehungen dieser beiden Männer mit besonderer Berücksichtigung ihrer Verhandlungen über das Abendmahl und die Prä­

destination dargestellt.

Wir hören, wie ihre Beziehungen am Streite Calvins

mit Caroli sich anspinnen, und wie beide Luther und Zwingli gegenüber denken, wie sich Bullinger über Calvins Kirchenzucht äußert, wie sich die

beiden Männer immer näher kommen und im Consensus TigurinuS ein für

die ganze Entwicklung der reformierten Kirche und des ganzen Protestantis­ mus hochwichtiges Werk schufen.

In ihm halten die reformierten Kirchen

nun ein Einheitsband, und auf den Zwinglianismus mit seiner profanen Abendmahlslehre war verzichtet.

Im sechsten Abschnitt wird Bullingers

Stellung in Calvins Kampf um die Prädestinationslehre geschildert und ge­

zeigt, wie sie im Fundament dieser Lehre übereinstimmen, wie aber Bullinger die calvinischen Schlüsse, die über die Einfalt der Bibel hinausgingen, ab­

lehnte.

Sehr wertvoll ist es, daß alles aus den Quellen herausgearbeitet

ist, und man die Belegstellen im Corp. Bef. leicht nachschlagen kann.

Da­

durch tritt uns alles konkret und unbedingt zuverlässig entgegen, so auch Bullingers Stellung im Kampfe Calvins mit Servet, mit Bern, mit dem Lutheraner Westphal, der als „Luthers Affe" bezeichnet wird.

In

den beiden letzten Abschnitten wird noch das gemeinsame Handeln der beiden Freunde zugunsten verfolgter Evangelischer und Calvins und Bullingers

literarischer und privater Verkehr geschildert.

Die Unionstendenz, die beide

Männer beseelte und wirksame Früchte für die reformierte Kirche trug, tritt uns in dieser Skizze recht klar entgegen. — In dem III. Beitrag unter­ sucht Dr. W. Hollweg (bis S. 187) „Calvins Beziehungen zu den Rhein­

landen".

Ehe die in der letzten Zeit oft aufgeworfene Frage, ob der Cal­

vinismus im wesentlichen von den Niederlanden oder von der Pfalz in die

Rheinlande eingedrungen ist, beantwortet werden kann, müssen zuerst ein­ mal Calvins persönliche Beziehungen zu diesem Gebiet klargelegt werden. Dies unternimmt die genannte Arbeit und behandelt zuerst Calvins Ver­ hältnis zu dem Reformationsversuch des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied in Köln selbst, dann zu Trier, Wesel und Aachen.

In einem

62 zweiten Abschnitt wird untersucht, welchen Einfluß die wissenschaftliche Tätig­ keit des Reformators während seiner Lebenszeit auf die Rheinlande aus­

geübt hat. Die milgeteilten Details sind gut verarbeitet und geben ein an­ schauliches Bild; besonders interessieren Calvins Beziehungen zu Wesel, das

er für das reformierte Bekenntnis rettete.

Das letztere ist eine Tatsache

von der größten Tragweite, denn die Weseler Synode, die bald darauf tagte, war von größtem Einfluß.

des Teuffels andre Hell."

„Genfs, Wefel und la Rochelle Seindt

Der zweite Teil der Arbeit gibt hoffentlich An­

regung, diesen Beziehungen immer weiter nachzuforschen, denn es ist noch

manches Dunkel aufzuhellen. — Hatten diese drei ersten Abhandlungen ge­ schichtliche Themata zum Gegenstände ihrer Forschung gemacht, so begegnen

uns in den drei letzten Abschnitten dogmatische bzw. dogmengeschichtliche

Stoffe. Lic. theol. Strathmann behandelt die „Entstehung der Lehre

von der Buße" und untersucht zuerst die ursprüngliche Lehre des Reforma­ tors von der poenitentia auf Grund der Institutio von 1536 und zum

andern die Genesis derselben.

Da bekanntermaßen über die Calvinsche Buß­

lehre durch Ritschl, Lobstein, Lipsius, Sieffert u. a. allerlei Fragen

ventiliert worden sind, und die Ansichten sehr auseinandergehen, so hat diese Untersuchung ein aktuelles Interesse. Die R it s ch lscheAuffassung der calvinischen

Bußlehre von 1536 erklärt Strathmann für ungenügend, da poenitentia dort nicht nur den negativen Sinn der mortificatio habe, sondern auch

zugleich die gesamte positive neue Lebensgestattung bezeichne. Ritschl habe nur unzureichend die Aussagen Calvins benutzt und die wichtigen Aussagen

aus Kap. I, II und IV übergangen. Ich sehe in der Darlegung St rath manns eine berechtigte Kritik A. Ritschls und eine Förderung des Pro­

blems, wenn mir auch noch nicht das letzte Wort über das Problem ge­ sprochen zu sein scheint.

Calvins Aussagen über die Buße sind nicht ein-

deuttg, so daß einzelne gelegentliche Äußerungen nicht festgenagelt werden dürfen, sondern auf das Wesentliche und die großen Hauptpunkte zu sehen

ist. Der zweite Teil der Arbeit bietet auch eine Fülle interessanter Ausfüh­

rungen, die uns die Entstehung der calvinischen Bußlehre aus dem Gegen­ satz gegen die okkamistische Theologie, dem Einfluß von Melanchthons Loci, Luthers Kleinem Katechismus und Bucers Evangelienkommentar mit starkem Zusatz eigener, originaler Anschauungen erklären.

Was letzteres betrifft, so

sagt Strathmann zutreffend: „Errechnet nicht mit einem Zustand langer Gewissensangst vor dem Glauben — ohne doch die Bedeutung der Sünden­ erkenntnis irgendwie zu kurz kommen zu lassen.

Er unterscheidet schärfer

als Bucer und Melanchthon die religiöse und die sittliche Erneuerung.

in dieser kommt der Prozeß zu voller Auswirkung.

Erst

Aber eben die schärfere

Unterscheidung ermöglicht es ihm, trotzdem auch jene unverkümmert aufzu-

63 fassen.

Das neue sittliche Leben wird nicht unmittelbar triebhaft hervor­

gebracht, sondern ist Gehorsam gegenüber dem geoffenbarten Gotteswillen".

— Die „Lehre Calvins von der Kirche in ihrer geschichtlichen Ent­ wicklung" untersucht Cand. theol. Werdermann. Er referiert zuerst über

die vorhandene Literatur über diese Frage und hält es für zweckdienlich,

im Hinblick auf diese Arbeiten die dogmenhistorischen Verbindungen, soweit sie Calvin negativ und positiv in dieser Lehre beeinflußt haben, klarzulegen.

Eine Entwicklung in dieser Lehre stellt W. fest und hält das so oft nach­

gesprochene Urteil, Calvin habe seine theologischen Anschauungen nie ge­

ändert, nur mit Einschränkung fest.

Werdermann hält Calvins Lehre

von der Kirche für den Ausdruck von Calvins lauterster Frömmigkeit, die

nur den einen Zweck hat, daß die Ehre Gottes gefördert werde. Nicht die Tat­ sache, daß Calvin ein romanischer, zu Formen und Organisationen anregender

Geist ist, nicht daß er juristische Studien getrieben, macht seinen Kirchen­ begriff verständlich und erklärlich, sondern nur der zuerst genannte Umstand. — Im letzten Abschnitt (S. 339—441) behandelt der Herausgeber Lic. Dr. Bohatec „Calvins Vorsehungslehre", die seither nie selbständig be­

arbeitet worden ist, sondern immer in Verbindung mit der Prädestinations­

lehre.

Nachdem A. Schweizer die Prädestinationslehre als Calvins Zentral­

dogma bezeichnet hatte, während sie A. Ritschl nur für sekundär erklärte, und die von Gottes Allwirksamkeit durchdrungene, auf die Gemeinde der

Erwählten gerichtete Providenz für Calvins Stammlehre erklärte, worauf

Scheibe und Seeberg diese Frage wieder etwas anders beantworteten, nimmt die genannte Abhandlung alle seit Schweizer aufgeworfenen Fragen

wieder auf, hält aber die Vorsehungslehre Calvins an sich für so wichtig, daß sie einmal eingehend gewürdigt werde; besonders wegen der darin ent­ haltenen Freiheilslehre und wegen ihres Zusammenhangs mit Calvins eigen­ artiger Frömmigkeit hält der Verfasser diese Untersuchung für nötig.

Zu­

erst wird der Inhalt und die Art von Calvins Vorsehungslehre aus den Quellen zutreffend dargelegt und sodann (S. 394 ff.) die Stellung dieser

Lehre im System Calvins untersucht.

Bohatec stellt fest: „Die Prädesti­

nationslehre ist die Zentrallehre Calvins, aber nicht im Sinn des dogma­ tischen Ausgangspunktes; demgegenüber kann die Vorsehungslehre als Stamm­

lehre bezeichnet werden, indem in ihr die allgemeinen Voraussetzungen für die Lehre von der Prädestination, vom Gesetz, vom Werke Christi und den

Gnadenmitteln enthalten sind."

So interessant und wertvoll diese Aus­

führungen sind, so glaube ich nicht, daß die Frage damit endgültig beant­ wortet ist. Der Unterschied, der zwischen Zentrallehre und Stammlehre ge­ macht wird, wird sich schwerlich aufrechterhalten lassen. Sodann ist aber die Frage, ob der Providenzglaube aus dem Erwählungsglauben folgt —

64 nicht umgekehrt — doch entschieden zu bejahen, wenn man nicht wieder mit natürlicher Religion operieren will. Im dritten Kapitel wird der Charakter

der Frömmigkeit Calvins in seiner Vorsehungslehre gezeichnet.

Das wert­

volle Buch verdient ein ernstes Studium.

26) Holl,*) K., D.: Johann Calvin.

Ebd. 1909. (IV, 69 S.) 0,80M.

Der Text dieses Vortrags und die beinahe die Hälfte der Schrift umfassen­

den Anmerkungen, voll wissenschaftlicher Gesichtspunkte, machen diese Arbeit zu einer besonders wertvollen.

Holl zeigt, wie nicht allein in Amerika,

sondern auch bei uns Calvin heute eine Macht oder doch ein Problem

geworden ist; in den Fragen der Theologie, der Kirchenverfassung, der Ethik, des sozialen Lebens, allenthalben findet man calvinische Gedanken bet uns

wirksam, und die Durchsetzung des Luthertums mit calvinischen Ideen und

das Ringen beider ist geradezu eines der Kennzeichen der gegenwärtigen theologischen und kirchlichen Lage der Gegenwart.

— Holl gibt uns ein

knappes, aber scharf gezeichnetes Bild von Calvins religiöser Eigenart. Seine Bekehrung setzt er viel früher, als Lang und Karl Müller, schon ins Jahr 1527 oder 1528.

den Anmerkungen. nicht überzeugt.

Darüber verbreitet er sich besonders auch in

Seine Gründe gegen die genannten Forscher haben mich

Daß Calvins Religiosität unter dem Gesichtspunkt der

Pflicht und des Gehorsams steht, halte ich, auch Schubert gegenüber, für richtig.

Wie der Konflikt des Selbstwollens mit der Gehorsamspflicht Gott

gegenüber bei Calvin gelöst wird, wie seine Prädestinationslehre entsteht, und der Erwählungsglaube mit innerer Notwendigkeit freimacht und den Menschen treibt, Gottes Ehre zu suchen und auszubreiten, wird gut darge­ legt. Alles Ästhetische, alles Romantische, Sentimentale, alles Naturalistische

und Magisch-Superstitiöse ist von der Religion Calvins abgestreift, überall

zeigt sich Bewußtheit und klarer Wille. So sucht er auch das Ideal der Bekenntniskirche als einer Gemeinschaft von lauter Überzeugten und Ent­ schlossenen festzustellen und Kirchenzucht zu fordern.

Die Illusion eines

kirchenfreien Christentums wäre ihm ein Unding gewesen, denn die christ­ lichen Ideen können kein körperloses Dasein führen. — Keiner hat so wie er die Gesamtinteressen des Protestantismus gefördert, und er wurde ein Völkererzieher von weltgeschichtlichem Rang.

Das ganze Volksleben will er

von religiösem Geist durchdrungen wissen.

Auch für soziale Dinge hat

Calvin mächtige Anregungen gegeben.

Was von Genf aus für die Wissen­

schaft geschah, wird am Schluß gezeigt.

27) Barth,*) Fr., D. Prof., Bern: Calvins Persönlichkeit und ihre Wirkungen auf das geistige Leben der Neuzeit. Bern 1909, A. Francke. (24 S.) 0,50 M.

Um Calvins Persönlichkeit verständlich zu machen, schil­

dert er zuerst die geradezu glänzende geistige Ausrüstung, dann die gründ-

65 liche humanistische Bildung und zuletzt den sittlich-religiösen Charakter dieses

Mannes „mit dem wunderbar einheitlichen Leben aus einem Guß".

Nun

werden die immer größere Kreise ziehenden Wirkungen dieses Lebens skizziert.

Hierauf zeigt Barth, daß in Calvins Vorzügen auch die Gefahr großer Mißgriffe lag, und daß er mit seinem dogmatischen Intellektualismus und

einem gewissen gesetzlichen Zug dieser Gefahr nicht entgangen sei.

In einem

dritten Abschnitt schildert er die Nachwirkungen von Calvins Leben in dem

gesamten geistigen Leben der Neuzeit: diese Ausführungen sind das Wert­ vollste in dem gediegenen Vortrag.

Es wird zuerst erläutert, wie durch

den Calvinismus der Sinn für die Wirklichkeit in der Natur und in der

Geschichte gepflegt worden sei.

Dann schildert der Redner das calvinistifche

Christentum als eine Religion der Arbeit, welche auch das christliche Leben

Als Konsequenz

als angespannte Aktivität für die Sache Gottes auffaßt.

des Erwählungsglaubens mit seinem Bewußtsein der Selbständigkeit und Selbstachtung sucht er den Individualismus zu begreifen.

„Calvins Lehre

hat mehr als alle Naturrechtstheorien dem Individuum zu seinem Rechte verhalfen."

(S. 21.)

vinismus.

„Calvin kann uns zeigen, wie sich ein ganzes Volk sozial um­

gestalten läßt."

Zuletzt kommt Barth auf den sozialen Zug im Cal­

Er erklärte die Versorgung der Armen und Kranken für

eine integrierende Aufgabe der Kirche, er erzog zur Arbeit, förderte das Handwerk und die Industrie und beschränkte den Luxus, „um den Ertrag

der Arbeit für die gemeinsamen Zwecke zur Verfügung zu haben, für den

Bau der Wälle, für Anstalten wie das städtische Spital und die Akademie, für die Versorgung der Flüchtlinge, die zu allen Toren hereinströmten."

Der Vortrag schließt mit der begeisterten Anerkennung, daß Calvin für die in dem lebendigen Gott der Menschenseele zuteil werdenden Güter, Wahr­

heit, Freiheit und Seligkeit sein Leben geopfert habe, als einer der größten

Helden der Geschichte. 28) Eck,*) S., D.: Johann Calvin.

Ebd. 1909.

(38 S.)

0,80 M.

„Wenn deutscher Protestantismus vor drohender Vernichtung bewahrt worden ist,

so hat Calvin, ein treuer Wächter und ein heldenmütiger Kämpfer an den Grenzen, das Beste wohl dazu getan," so schließt Prof. Eck seinen in der

Aula zu Gießen gehaltenen Vortrag.

Er zeigt, wie dem Luthertum gegen­

über, dessen Fürsten sich im Besitz der seligmachenden Formeln zufrieden

fühlten und darauf ihre kurzsichtige Politik gründeten, Calvin und sein

Werk aktiv eingreifen und nur dadurch der Kampf um den Bestand des Protestantismus siegreich zum Ziele geführt wird.

Vorher wird dargelegt,

wie Calvin zu diesem Manne des Gesamtprotestantismus heranreifte, und wie er sich Genf als Stützpunkt für sein Werk und als Missionshaus für West­ europa zurichtete.

Der Unterschied Luthers und Calvins wird in geistvoller,

Knodt, Die Bedeutung Calvins.

5

66 zutreffender Weise dargelegt.

des großen Genfer Theologen,

Das Bild

Organisators, Politikers und Vollenders der Reformation wird mit tiefem

Verständnis in großzügiger Weise gezeichnet. 29) von Schubert,*) H.: Calvin.

Ebd. 1909.

(39 S.)

0,80 M.

H. von Schubert betont im Eingänge seines Vortrages, daß von Calvin Wirkungen ausgegangen sind, die mit denen Luthers sehr gut konkurrieren

können, daß die Gemeinschaften, die ihren Typus irgendwie auf ihn zurück­

führen, das Luthertum sogar weit überflügelt haben und daß gerade aus ihnen die wichtigsten Fortschritte auf dem Gebiete der Kultur, die entschei­

denden Vorzüge zur Entfeffelung der Persönlichkeit hervorgegangen sind, obgleich Calvin doch augenscheinlich den Eindruck macht, die Persönlichkeit

zu binden.

Von Schubert

erklärt diesen

Widerspruch.

Hierauf

wird

gezeigt, daß Calvinismus und Luthertum nicht nebeneinander zu stellen sind, sondern daß die deutsche und Genfer Reformation aufeinander­ folgende Größen sind. Calvin kann nur auf dem Grunde der lutherischen Reformation, aus der Zeit heraus, als schon die Gegenreformation einsetzte,

verstanden werden.

In feinsinniger Weise wird geschildert, wie Calvin ein

gewaltiger Organisator war, der alle kirchlichen und bürgerlichen Dinge nach Gottes Willen geordnet wissen wollte, wie eine gewaltige Gottesleidenschast

in ihm glühte, wie er den Willen in der Religion geltend machte, wie er feine Weltwirksamkeit entfaltete, wie er die Einigung der Evangelischen er­

strebte und wie sein Verlangen der Freiheit von Menschen die Gewissens­ und Glaubensfreiheit und damit die Grundlagen der modernen Kultur

später mit Notwendigkeit hervorbringen mußte.

Der Vortrag ist reich an

seinen Beobachtungen und hebt das Charakteristtsche in der Persönlichkeit Calvins und im Wesen des Calvinismus klar hervor.

80) Sieffert,*) Fr., D. Pros., Bonn: Johann Calvins religiöse Ent­ wicklung und sittliche Grundrichtung. 0,80 M.

Leipzig 1909, R. Haupt.

(44 S.)

Im Eingang weist der Redner darauf hin, daß der Protestantis­

mus seine gegenwärtige Weltstellung Calvin verdankt, und daß die rheinische Kirche segensreiche Einwirkungen des Calvinismus erfahren habe: den Sinn

brüderlicher Zusammengehörigkeit unter den Evangelischen und die presby-

terial-synodale Form der kirchlichen Verfassung.

Dann hebt er, der vor­

herrschenden akademischen Sitte folgend, auch bei festlichen Anlässen be­

stimmte wissenschaftliche Einzelprobleme zu erörtern, die beiden am meisten umstrittenen Punkte der neuesten Calvinforschung zur Behandlung heraus: die religiöse Entwicklung Calvins vor seinem reformatorischen Auftreten,

seine subita conversio und seine sittliche Grundrichtung mit Einschluß seines Verhältnisses zur weltlichen Kultur.

Der Vortrag schöpft aus dem

vollen und bringt auf dem knappen Raum die wichtigsten Punkte der

67 beiden in Rede stehenden Probleme zur Darstellung.

Interessant ist seine

Auffassung der bekannten Selbstaussage Calvins über seine subita con-

versio, die sich im Psalmen-Kommentar befindet. Sieffert behauptet (S. 9):

„Das Verständnis dieser Stelle und damit auch das Verständnis der religiösen Entwicklung Calvins haben sich die Erforscher der letzteren meines Erachtens dadurch sämtlich verbaut, daß sie den Ausdruck Bekehrung in einem unrich­

tigen Sinn gesetzt haben.

deutung."

Man nahm ihn in der vollen dogmatischen Be­

Sieffert will nun nach seiner Auffassung des Zusammenhanges

in Verbindung mit einer ähnlich lautenden Stelle in der Institutio von

1559 das Wort Bekehrung in unserer Stelle in einem ganz schwachen Sinne fassen, gleichsam als Hinwendung zur evangelischen Wahrheit, als Herstellung

einer Möglichkeit, sich belehren zu lassen.

Dieser Versuch, die Schwierig­

keiten des Problems zu lösen, verdient jedenfalls Beachtung; es entstehen aber wieder neue Schwierigkeiten durch denselben, so die Erklärung des Wortes „subita“, die beweisen würde, Calvin sei bis zu seiner Beeinflussung

durch Oliv6tan von den reformatorischen Strömungen in Frankreich her­ metisch abgeschloffen gewesen.

Die Interpretation Karl Müllers,

der

auch Wernle folgt, ist jedenfalls nicht widerlegt. — Sehr interessant und

feinsinnig sind die Ausführungen über die sittliche Grundrichtung Calvins. Wertvoll ist auch die Heranziehung der national-ökonomischen Literatur.

81) Lobstein, P., v.: Calvin und Montaigne. E. von Hunten.

(20 S.)

0,60 M.

Straßburg 1909,

Lobstein verzichtet auf das verlockende

Thema, die Beziehungen Calvins zu Straßburg näher zu beleuchten, einmal,

weil er vorzüglich geleistete Arbeiten einfach in vielen Fällen wiederholen

müßte und sodann, weil die Fortführung solcher Untersuchungen für den Hörerkreis wenig geeignet erschien.

Wegen der französischen Abstammung

und Art Calvins (der logischen Konsequenz des Denkens, der Gabe licht­

voller Darstellung, der praktischen Virtuosität und zähen Herrschkunst, des feineren, vornehmen Sinnes, der von der urwüchsigen Derbheit und der

volkstümlichen Naivität Luthers, des deutschen Bauernsohnes, weit abliegt), stellt Lobstein dem auch um die Fortbildung der französischen Sprache

verdienten Calvin denjenigen unter seinen Volks- und Zeitgenossen an die Seite, der in der Geschichte des geistigen Lebens und der modernen Kultur

neben ihm die erste Stelle behauptet: Michel de Montaigne. Die Parallele wird geistreich und mit großer Sachkenntnis durchgeführt.

Während bei

Montaigne die Person des Verfassers in seinen Essays immer im Vorder­ gründe steht, tritt sie in Calvins Schriften fast ganz zurück.

Beide leben

im Zeitalter der Renaissance, an deren Ideale Montaigne viel enger und beharrlicher sich anschließt.

Bei Montaigne ist der Weisheit letzter Schluß

die Ungewißheit, sein: Que suis-je, bei Calvin ist aber eine. Wahrheitsgewiß-

68 heit, die nicht wankt.

Welche Verschiedenheit ihres praktischen Verhaltens, der

individuellen Lebensführung und des sittlichen Ideals geht daraus hervor! Beide haben eben eine verschiedene Auffassung vom Verhältnis der Religion zur Sittlichkeit.

Darum sind auch die von beiden Männern ausgegangenen

Wirkungen so sehr verschieden.

Die geistigen Nachkommen Montaignes

bilden eine bunte Mannigfaltigkeit: Pascal, Bayle bis Sainte-Beuve, Renan, Anatole France u. a. Dem Riesenwerk Calvins gegenüber, dessen

Glaubensheroismus der Gegenreformation gegenüber den Protestantismus rettete, erscheint Montaignes Werk schier wie „geistreicher Dilettantismus".

82) Arnold, Dr. D.: Calvin.

0,60 M.

Breslau 1909, W. G. Korn.

Er zeigt in einleuchtender Weise, daß

Calvin

(34 S.)

„der von den

Verhältnissen seiner Epoche geforderte" und der unter den Zeitgenossen wirk­ samste Reformator gewesen ist, weil er eine Brücke vom deutschen zum

römischen Empfinden gebildet hat und unablässig auf feste Formen und

Organisation drängte, weil er eine mit der reichsten literarischen und gesell­

schaftlichen Bildung ausgestaltete Persönlichkeit und durch seine logische und

und psychologische Begabung gleich hervorragend war.

Treffend weist der

Redner auch auf die edle Einfalt und stille Größe der Antike, die sich in

Calvins Art neben seiner reichen Innerlichkeit findet.

In lichtvoller Weise

ist es gezeichnet, wie Calvins Werk der Gegenreformation gegenüber noch später sich entwickelt, wie es dem Tridentinum, der List der Jesuiten und

der brutalen Macht der Inquisition sieghafte Mächte in der reformierten

Theologie und dem reformierten Glaubensheroismus lebendiger Gemeinderi

entgegenstellte.

Besonders wertvoll sind die Ausführungen S. 29 ff., wo

dargelegt wird, wie Calvin die Arbeit des sittlichen Menschen zur Gelturrg

gebracht hat.

Mit dem Mahnruf, daß wir dem Andenken Calvins „tätige

Ehrfurcht" zollen müssen, schließt der gediegene Vortrag.

S8j Will,*) R., Pfarrer: Calvins Bedeutung für unsere Zeit. burg 1909, I. G. H. Heitz.

(30 S.)

0,40 M.

Straß­

Dieser auf einer Straßburger

Pastoralkonferenz gehaltene Vortrag gibt dem Bilde Calvins eine religiöse Umschrift, die die Grundstimmung des Reformators spiegelt, das Paulus­

wort: von Gott und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.

Ihm sei

Ehre in Ewigkeit: von Gott: was Calvin mitbekam, seine geistig-sittliche

Anlage; durch Gott: was er geworden ist, seine religiöse Eigenart; zu Gott:

was er geschaffen hat, sein welthistorisches Werk.

Eine Fülle charakteristischer

historischer Details und geistvoller Bemerkungen wird hier in kraftvoller Sprache dargeboten. ") Reichel, G., Die.: Calvin als Untonsmann.

I. C. B. Mohr.

(42 S.)

0,80 M.

Tübingen 1909,

Es war ein glücklicher Gedanke, daß

in dem im theologischen Seminar der Brüdergemeine zu Gnadenfeld gehal-

69 lenen Calvin-Vortrag unser Reformator als Unionsmann vorgeführt ward.

Reichel hat das schwere Problem, wie in Calvins Seele der schroffe, starre Dogmatismus und ein wahrhaft ökumenischer Sinn sich vereinen, in seiner

Tiefe erfaßt und Calvins Unionsstreben dessen Gesamtcharakter einzugliedern

verstanden.

Er bietet uns hiermit eine eingehende Darlegung von Calvins

Unionsgesinnung und Unionsbestrebungen, wie sich solche besonders auch noch zuletzt in dem konfessionellen Kampf bewährt hat.

Calvins Unions­

gesinnung ruht nicht in einem schmiegsamen, inkonsequenten Gefühlsleben, nicht in der Unbestimmtheit und Unklarheit seines Standpunktes, nicht in einem die Unterschiede übersehenden Herzenschristentum, sondern in dem

Vertrauen, daß die von ihm erkannte Wahrheit, die Schriftlehre, die er mit seiner Lehre identifiziert, unbedingt siegen muß, und daß die andern Theo­ logen dieser zuletzt doch zustimmen müssen.

Vor allem aber ist es der

Enthusiasmus für die Kirche Gottes, der ihn treibt, daß er immer und

immer wieder mit dem Haupt der Züricher Kirche und den Führern der deutschen Reformation Anknüpfungspunkte sucht.

Ihn schmerzt es vor

allem, „daß der Leib der Kirche mit zerstreuten Gliedern verstümmelt daliegt". Dies ist nach Reichel die stärkste Triebfeder für Calvins Unionsstreben.

8B) Simons, E., D.: Ein Vermächtnis Calvins an die deutsch-evang. Kirchen.

Ebd. 1909.

(28 S.)

0,80 M.

Die evangelische Christenheit, so

führt Simons aus, hat nächst dem Besitz des in Christus ihr geschenkten

Heils keinen größeren Schatz als ihre Gemeinden. Aber der Schatz ist ver­ graben, solange die Gemeinden in Untätigkeit verharren, in Unselbständigkeit

zurückgehalten werden.

Es schlummern Kräfte in ihnen, die wir noch ganz

anders als bisher uns zunutze machen sollten.

Dazu kann Calvin uns

Es wird gezeigt, wie seit der urchristlichen Zeit keiner so nachdrück­

helfen.

lich den Gedanken der Gemeinde, dieser Keimzelle der Kirche, betont hat als

Calvin.

Es müssen selbständige, selbsttätige, lebendige Gemeindeglieder er­

zogen werden, dazu gehört Seelsorge, und um diese üben zu können, müssen übersehbare Gemeinden gebildet werden.

Mit dem Anpredigen ist es nicht

getan: es soll jedes Gemeindeglied zur Tätigkeit für die Gesamtheit heran­

gebildet und herangezogen werden; nur so gibt es lebendige Gemeinden. Das ist Calvins Vermächtnis.

8°) Wernle,*) P., v.: Johann Calvin.

Ebd. 1909.

(35 S.)

Prof.

Wernle hat sich um die Würdigung Calvins große Verdienste erworben. Seine Vorrede zu der großen Ausgabe von Calvins Briefwechsel von

Schwarz, sein in MevR. 1909, Heft 7, erschienener Calvin-Vortrag, und das auf der Tagung der Schweizer reformierten Predigergesellschaft von

St. Gallen gehaltene Referat über Calvins Bedeutung für die Gegenwart zeigen uns den gründlichen Calvinkenner.

Diesen wertvollen Publikationen

70 schließt sich dieser akademische in Basel gehaltene Vortrag an.

Wernle

schildert darin mit seiner frischen, lebendigen Art die Beziehungen Calvins

zu Basel und sodann dessen Bedeutung für den Gesamtprotestantismus. Zuerst in der Forderung des offenen, radikalen Bruchs mit Rom und der

Forderung strenger Disziplin in den Gemeinden sieht Wernle das, was

Calvin zu dem reformatorischen Erwerb des Luthertums hinzugebracht habe, dem fügt er noch den Wissens- und Welteroberungsdrang hinzu, ein Unions­

protestantismus steht vor seinem Geistesauge.

Sehr interessant ist die

Beurteilung von Calvins Theologie, in der er einen gesetzlich und kirchlich

zurechtgeordneten Paulinismus sieht.

Auch über Calvins Exegese verbreitet

sich Wernle und hebt deren Vorzüge, aber auch ihre Mängel hervor. 87) Dörner, D., Dr.: I. Calvin.

Vortrag gehalten am 18. Jan.

1910 in der Aula der Universität Königsberg.

(20 S.)

0,75 M.

Es ist

ein mächtiges Zeugnis von der gewaltigen intensiven und expansiven Kraft des Calvinismus, der mit großer Geschlossenheit des religiösen Bewußtseins,

getrieben von der Macht des Erwähltseins seine ganzen Kräfte und Gaben

in den Dienst der Ehre Gottes stellt.

Nicht Gehorsam gegen die Kirche,

nein, gegen Gottes Wort ist seine Parole.

Kirche will er schaffen.

Eine arbeitende, kämpfende

Aber neben der gratia specialis in der Kirche

kannte er auch die gratia universalis, d. h. das Gebiet der weltlichen Ethik

der Kultur.

Dörner setzt sich öfters mit Trölisch auseinander und

schreibt Calvin und seinem Geiste trotz

für die

Entwicklung des

Tröltsch.

heutigen

einzelner

Protestantismus

mittelalterlicher Züge

viel mehr

zu als

Die Aufgabe der Kirche, sich zum Zwecke der Gesinnungsbildung

in einer die Laien zuziehenden Form zu organisieren, hat er nickt nur er­

kannt, sondern auch in den Grenzen seiner Zeit realisiert.

Er will persön­

liche, selbständige Christen, die überall, wo sie stehen, Gottes Willen durch­ setzen, in der Kirche, im Staat, im Beruf, in der Wissenschaft, im Erwerbs­

leben.

Strenge Sittlichkeit, in Gottes Willen begründet, ist ein Hauptzug

des Calvinismus.

Keine berauschenden Liturgien, nein vor allem Anbetung

vor der Majestät Gottes, in der Predigt Betonung der Christusnachfolge, Gesinnungsbildung und Zucht.

Es ist kein Geringerer als Kant, der hierin

Calvin, wenn auch in freierer Form gefolgt ist, wenn nach ihm die Aufgabe der Kirche in der gegenseitigen Kräftigung in der Tugendgesinnung besteht,

wenn er gegen alles überflüssige Zeremonienwesen ebenso scharf opponiert, wie es Calvin getan hat.--------- Es ist die Absolutheit des Sittlichen, die

Calvin gewahrt wissen will, und die er in der Ehre und Majestät Gottes begründet sieht. — Soweit Dörner.

") Weiß, N., A propres du quatriöme centenaire de la naissance de Calvin. Paris 1909. (15 S.)

71 Weiß, N., Le jubile de Calvin. Paris 1909. (27 S.) Die beiden Aufsätze des Pariser Professors Weiß referieren über die Bücher und Vorträge, die anläßlich des Calvinjubiläums erschienen sind und bringen auch allerlei interessante auf Calvin bezügliche Abbildungen. Sehr interessant ist die Wiedergabe des auf Veranlassung des bekannten Straßburger Professors Baum von dem Maler Anken gemalten Porträts Calvins, welches dieser Künstler auf Grund aller ihm zugänglichen Bilder Calvins in genialer Weise geliefert hat. 80) E. Doumergue, Iconographie calvinienne. Lausanne, Bredel 1909. VII. 280 S. Fol. Porträts, Medaillen, Karikaturen mit Text, 76 Abbildungen int Text und 26 Bilder in Photographie. 40) Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapi­ talismus im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik". Tübingen 1905. Bd. XX. 1—54 und XXI 1—110. 41) Ferdinand Jacob Schmidt, Kapitalismus und Protestantis­ mus. (Preuß. Jahrbücher 1905. S. 189—230.) ") Felix Rachfahl (Kiel), Calvinismus und Kapitalismus. (Inter­ nationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik von Hinne­ berg, 3. Jahrg. Nr. 39—43. 1909.) 48) Cardauns, Die Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes im Luthertum und Calvinismus. Bonn 1903. ") Tröltsch, Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit in Hinnebergs Kultur der Gegenwart. Teil I. Abt. 4. S. 253—458) 1906 und „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt. München 1906. 46) Heinrich Böhmer, Luther im Lichte der neueren Forschung. Ein kritischer Bericht. Zweite völlig umgearbeitete Auflage. Leipzig 1910. S. 155—163. Leider ist mir diese Schrift erst nach Vollendung meiner Arbeit zugegangen; ich verfehle aber nicht, dieselbe warm zu empfehlen, da die Gründe, die Böhmer gegen Tröttschs Gesamtbeurteilung der Reformation anführt, sehr gewichtig sind.

Verlag* von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker) in Gießen

Vorträge der theologischen Konferenz zu Giessen Sell, K., Die geschichtliche Entwicklung der Kirche im 19. Jahrh, und die ihr dadurch gestellte Aufgabe. Erschien zusammen mit: Heinrici, G., Die Forschungen üb. die paulin. Briefe (V. 2) M. 1.60 Herrmann, W., Der Begriff der Offenbarung. Erschien zusammen mit Müller, K., Bericht über den gegenwärtigen Stand der Forschung auf d. Gebiet der vorreformatorischen Zeit. (V. 3, vergl. 28) M. 1.— Sachße,E., Über d.Möglichkeit, Gott zu erkennen. (Vortr. 4) M. 1.— Eibach, Re, Über die wissenschaftliche Behandlung und praktische Benutzung der Heiligen Schrift. Erschien zusammen mit: Schürer, E., Über den gegenwärtigen Stand der johanneischen Frage. (Vortr. 5) M. 1.— Ehlers, R., Das Neue Testament und die Taufe. (Vortr. 6) M. 1.— Kattenbusch, F., Von Schleiermacher zu Ritschi. Zur Orien­ tierung über die Dogmatik des 19. Jahrh. 3., veränd. Ausl, mit e. Nachtrag über die neueste Entwicklung. (Vortr. 7) M. 1.75 Reischle, M., Sohms Kirchenrecht und der Streit über das Ver­ hältnis von Recht und Kirche. (Vortr. 8) M. 1.— Flöring, Fr., Das Alte Testament im ev. Relig.-Unterr. (V.9) M. 1.— Walz, K,, Veräußerlichung, eine Hauptgefahr für die Ausübung des geistlichen Berufes in der Gegenwart. (Vortr. 10) M.—.80 Mirbt, C., Der deutsche Protestantismus und die Heidenmission im 19. Jahrhundert. (Vortr. 11) M. 1.20 Deißmann, G. A., Die sprachliche Erforschung der griech. Bibel, ihr gegenwärtiger Stand u. ihre Aufgaben. (Vortr. 12) M. —.80 Rade, M., Religion u. Moral. Streitsätze f. Theologen. (V. 13) M. —.60 Krüger, G., Die neuen Funde auf dem Gebiete der ältesten Kirchengeschichte (1889—1898). (Vortr. 14) M.—.60 Foerster, E., Die Rechtslage des deutschen Protestantismus 1800 und 1900. (Vortr. 15) M.—.80 Weiß, J., Die Idee d. Reiches Gottes in d. Theologie. (V. 16) M. 1.50 Holtzmann, 0., Die jüdische Schriftgelehrsamkeit zur Zeit Jesu. (Vortr. 17) M. —.70 Budde, K., Das Alte Testament und die Ausgrabungen. Ein Beitrag zum Streit um Babel und Bibel. 2. Ausl, mit vielen Anmerkungen. (Vortr. 18) M.—.90

Verlag von Alfred Töpelmann (vormals J. Ricker) in Gießen

Drews, P., Die Predigt im 19. Jahrhundert. merkungen und praktische Winke.

Kritische Be­ (Vortr. 19) M. 1.—

Eibach, R., Unser Volk und die Bibel. Ein Nachwort zum Bibel und Babel streit.

(Vortr. 20)

M.—.60

Wiegand, F., Das apostolische Symbol im Mittelalter. Skizze.

Eine M. 1.—

(Vortr. 21)

Dechent, H., Herder und die ästhetische Betrachtung der Heiligen Schrift. (Vortr. 22) M. —.75 Köhler, W., Katholizismus und Reformation. Kritisches Referat über die wissensch. Leistungen der neueren kathol. Theologie auf dem Gebiete der Reformationsgeschichte. (Vortr. 23) M. 1.80

Eger, K., Das Wesen der deutsch-evangelischen Volkskirche der Gegenwart.

(Vortr. 24)

M. 1.25

Knopf, R., Der Text des Neuen Testaments. Neue Fragen, Funde und Forschungen der Neutest. Textkritik. (Vortr. 25) M. 1.—

Bornemann, W., Der Konfirmanden- und der Religionsunterricht in der Schule in ihrem gegenseitigen Verhältnis. (V.26) M. 1.80

Preuschen, E., Die philologische Arbeit an den älteren Kirchen­ lehrern und ihre Bedeutung für die Theologie. (Vortr. 27) M. 1.20

Herrmann, W., Offenbarung und Wunder. Zwei Vorträge [wo­ von der erste ein vielfach veränderter Abdruck von Vortrag 3, s. dort]. (Vortr. 28) M. 1.40

Veit, W., Was soll der evangelische Gemeindepfarrer sein: Priester, Evangelist oder Seelsorger? (Vortr. 29)

M. 1.50

Vorträge des Hessischen und Nassauischen Ferienkurses Achelis, E. Chr., Der Dekalog als katechetisches Lehrstück. M. 1.40

(Vortr. 1)

Holtzmann, 0., Der christliche Gottesglaube. Seine Vorgeschichte und Urgeschichte.

(Vortr. 2)

M. 1.60

Jülicher, A», Neue Linien in der Kritik der evangelischen Überlieferung. (Vortr. 3)

M. 1.60