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German Pages 320 Year 2017
Christiane Bürger Deutsche Kolonialgeschichte(n)
Histoire | Band 105
Christiane Bürger (Dr. phil.) studierte Geschichte, Philosophie und Kunstgeschichte an den Universitäten Heidelberg und Wien. Sie war Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes und wurde 2015 an der Universität Heidelberg promoviert. Ihre Arbeit wurde mit dem Johannes Zilkens-Promotionspreis ausgezeichnet. Seit 2016 ist sie unter anderem für die Stiftung Haus der Geschichte in Berlin tätig.
Christiane Bürger
Deutsche Kolonialgeschichte(n) Der Genozid in Namibia und die Geschichtsschreibung der DDR und BRD
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG WORT. VG-Wort-Zusage (Nr. 7411-2016) Die vorliegende Publikation wurde unter dem Titel »Kolonialgeschichte(n). Das koloniale Nambia in der Geschichtsschreibung der DDR und BRD« als Dissertation an der Universität Heidelberg eingereicht.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt Danksagung | 7 I. Einleitung | 9 I.1 I.2 I.3 I.4 I.5
Kolonialgeschichte(n) | 9 Auf bau | 16 Forschungsstand | 18 Quellen | 25 Theoretische und methodische Überlegungen | 36
II.
Kolonialgeschichte(n) schreiben nach 1945 Zwischen Amnesie und Kontinuität | 47
II.1 Koloniale Amnesie? | 47 II.2 Akademische und populäre Wissenstraditionen | 50 Akademisches Wissen | 50 Populäre Erzähltraditionen | 55 II.3 Kolonialdiskursive Erzähllogiken | 61 Apologetik und damnatio memoriae | 61 Legitimationsnarrative kolonialer Gewalt | 71 II.4 Zwischenfazit | 90
III. Ein »unverfälschtes Afrikabild« Erzähl- und Wissenstransformation in der DDR | 93 III.1 Programmatische Kritik | 93 III.2 Schreibbedingungen | 97 III.3 Sprachnormierungen und neue Erzählformen | 105 Metanarrativ und Erzählkonventionen im Widerspruch | 112 Genozid erzählen | 132 III.4 Zwischenfazit | 155
IV. Kontroversen in der BRD Wissen im Generationenkonflikt | 157 IV.1 Neue Medien und Erzählformen – »Heia Safari« | 158
IV.2 Kolonialgeschichte als kritische Sozialgeschichte | 171 »Endlich ein westdeutscher Beitrag zur deutschen Kolonialgeschichte!« | 171 Historiografisches Wissen als Politikum | 183 Kolonialgeschichte als Zeitgeschichte | 191 IV.3 Zwischenfazit | 207
V. 1984 Die Suche nach einem verbindlichen Narrativ | 209 V.1 Wissenszirkulation | 209 V.2 Narrative und Darstellungskonventionen im Wandel | 218 Postkoloniale Erzählformen | 225 Genderperspektiven | 235 V.3 Kontroversen und koloniale Kontinuitäten | 240 Normatives Wissen | 241 Die »gängige These vom ›Völkermord‹ an den Herero« | 249 V.4 Zwischenfazit | 263
VI. Fazit | 265 VII. Bibliografie | 279 VII.1 Quellen | 279 Filme | 300 Archivbestände | 301 VII.2 Literatur | 302
Danksagung
Ich möchte an erster Stelle meiner Doktormutter, Frau Prof. Katja Patzel-Mattern, für ihre stetige Unterstützung, die vielen Gespräche und Ermutigungen danken, mit denen sie meine Promotion begleitete. Außerdem gilt mein Dank Herrn Prof. Christoph Marx, der mich mit inhaltlichen Anregungen unterstützte und sich als externer Zweitgutachter zur Verfügung stellte. Der Studienstiftung des deutschen Volkes bin ich für die finanzielle und ideelle Förderung über den gesamten Forschungs- und Schreibprozess zu Dank verpflichtet sowie der Landesgraduiertenförderung und der Fazit-Stiftung für die Unterstützung von Archiv-, Forschungs- und Vortragsreisen. Die VG Wort förderte die Drucklegung in vollem Umfang, wofür ich auch ihr sehr dankbar bin. Danken möchte ich außerdem den vielen ›HeidelbergerInnen‹, die mich stets durch anregende Diskussionen unterstützten. Meinen Berliner FreundInnen danke ich ganz besonders für Ihre Hilfe während der Familiengründung. An dieser Stelle sei auch meine Familie genannt und besonders mein Mann. Herzlicher Dank gebührt ihm für seine Unterstützung und unermüdliche Geduld – ohne ihn wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.
I. Einleitung I.1 K olonialgeschichte (n) Seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass die deutsche Kolonialgeschichte nicht nur in wissenschaftlichen Bibliotheken und Fachtagungen verhandelt wird, sondern auch im öffentlichen Raum, der deutschen Medienlandschaft sowie der Landes- und Bundespolitik. Diese Konjunktur hängt entscheidend mit der Geschichte des kolonialen Namibias und besonders dem Genozid und den Gewaltverbrechen zusammen, die sich in den Jahren 1904-1908 im damaligen ›Deutsch-Südwestafrika‹ ereigneten.1 Das koloniale Namibia avancierte in den letzten Jahren zum Ausgangspunkt, um die langfristigen Nachwirkungen des kolonialen Projekts in den Blick zu nehmen. Zugleich wird ein zentrales identitätspolitisches Thema der deutschen Erinnerungskultur verhandelt: Waren die Verbrechen im kolonialen Namibia der erste deutsche Völkermord? Und damit der Vorläufer des Holocaust? Der Streit um diese Frage stieß in den vergangenen Jahren auf erhebliche Resonanz außerhalb der Fachwissenschaft, und nicht zuletzt die Appelle der OpfervertreterInnen2 der Herero und Nama
1 | Vor allem der 100. Jahrestag des kolonialen Völkermordes im Jahr 2004 führte innerhalb der Geschichtswissenschaft zu einem regelrechten Forschungsboom. Aus gegenwärtiger Forschungsperspektive ist der Genozidbegriff etabliert. Vgl. Kundrus: From the Herero to the Holocaust?, 2005; Marx: Entsorgen und Entseuchen, 2005; Melber: Genozid und Gedenken, 2005; Zimmerer/Zeller: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, 2003; Zimmerer: Nationalsozialismus postkolonial, 2009; Dedering: The German-Herero War of 1904, 1993; Schaller: From Conquest to Genocide, 2008; Lewy: Can There Be Genocide Without the Intent to Commit Genocide?, 2007; Melber: How to Come to Terms with the Past, 2005. 2 | Obgleich individuelle Geschlechtsidentitäten auch für die in der Analyse beschriebenen Personen Gültigkeit besitzen, wird im Folgenden die Schreibweise des ZweiGeschlechter-Modells beibehalten, die auf sozial konstruierte Geschlechterrollen verweist. Für die Praxis der Kolonialhistoriografie können so geschlechtsspezifische Zuweisungen berücksichtigt werden. Das Majuskel-I wird verwendet, wenn bei der Be-
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und ihre Restitutions- und Entschädigungsforderungen trugen das Thema ins öffentliche und politische Bewusstsein. Die Bundesregierung verweigerte jahrzehntelang die Anerkennung des Genozids sowie eine Diskussion über potenzielle Entschädigungen und reagierte zögerlich auf politische und zivilgesellschaftliche Kritik. Doch am 9. Juli 2015 veröffentlichte die Wochenzeitung Die Zeit eine Stellungnahme des Bundestagspräsidenten Norbert Lammert, in der dieser die Ereignisse im kolonialen Namibia als Völkermord bezeichnete.3 Auf der Regierungspressekonferenz am darauffolgenden Tag bestätigte der Sprecher des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer, diese Kategorisierung – wenn auch äußerst zögerlich. Die Bundesregierung erkennt die Verbrechen seit 2015 als Völkermord an. HistorikerInnen werden dabei gleichsam in den Zeugenstand gerufen. Als ExpertInnen kommt ihnen die Aufgabe zu, verbindlich Auskunft über die Vergangenheit zu geben. Doch bei der Rekonstruktion der Vergangenheit des kolonialen Namibias zeigt sich besonders deutlich, dass Geschichtsschreibung und das von ihr produzierte Wissen keine Tätigkeit ist, die sich lediglich auf die Vergangenheit bezieht. Vielmehr wird sie durch gegenwärtige Fragestellungen provoziert, zu deren Klärung sie zugleich beiträgt. Besonders die Frage, mit welchen Kategorien und Begriffen die Vergangenheit adäquat erzählt und verortet wird, ist Gegenstand wissenschaftlicher und politischer Kontroversen. Dies betrifft vor allem die Kategorie des Genozids. Als juristischer Straftatbestand verjährt Völkermord nicht und ermöglicht so Schadenersatzund Wiedergutmachungsforderungen seitens der betroffenen Nachkommen. Daran wird deutlich, welche politische und juristische Relevanz der historiografischen Kategorisierung der Gewaltverbrechen als Genozid zukommt. Moralische sowie erinnerungs- und identitätspolitische Konflikte, die wesentlich an die Kategorie des Genozids und die damit verbundenen Zuschreibungen geknüpft sind, schließen sich daran an. Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, dass der Völkermord an den Herero und Nama ein Thema ist, das sowohl akademisch als auch gesellschaftspolitisch erst seit rund einer Dekade in Deutschland diskutiert wird. Betrachtet man die Geschichte der Geschichtsschreibung über die Ereignisse am Waterberg und ihre Folgen, dann zeigt sich, dass die historiografischen Kontroversen selbst eine Geschichte aufweisen. Das Wissen über den kolonialen Genozid ist seit nunmehr über 100 Jahren Gegenstand politischer, ge-
zeichnung von Personengruppen sowohl die männliche als auch die weibliche Form gemeint ist. 3 | Lammert: Deutsche ohne Gnade, in: D ie Z eit, 9.7.2015. Die politische Auseinandersetzung um den Völkermord an den Armeniern sorgte dafür, dass auch der Genozid im kolonialen Namibia auf die politische Agenda trat.
I. Einleitung
sellschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Kontroversen und hat dabei zahlreiche Interpretationen und Umdeutungen erfahren. Die Reformulierungen und Umdeutungen, die die Historiografie der Ereignisse seit ihrem Beginn prägen, verweisen nachdrücklich darauf, dass historiografisches Wissen relativ ist. Das bedeutet jedoch auch, dass sich jede Interpretation und Darstellung der Vergangenheit – mitsamt ihrer Wortwahl und rhetorischen Strategie – wiederum selbst historisieren lässt und Geschichte, verstanden als relatives und narrativ verfasstes Wissen über die Vergangenheit, selbst zum Gegenstand historischer Forschung werden kann. Diesem Ansatz folgt die vorliegende Arbeit, denn »angesichts der Unmöglichkeit, divergierende Sichtweisen mit Hinweis auf die ›Realität‹ zu harmonisieren«, so etwa der Historiker Sebastian Conrad, werden sich »ausschließende oder widersprechende Deutungen zum Gegenstand vergleichender Historiographiegeschichten«.4 Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bildet die Beobachtung, dass trotz der anhaltenden Kontroversen über den kolonialen Genozid eine Auseinandersetzung mit der Historiografie über das koloniale Namibia bislang weitestgehend fehlt. Die historischen Wurzeln sowie die Wissenschafts- und Wissensgeschichte dieser Debatten blieben also bisher unberücksichtigt. Eine narratologisch fundierte Historiografiegeschichte über das koloniale Namibia soll dazu beitragen, die gegenwärtige Forschungsdebatte inhaltlich und wissensgeschichtlich zu historisieren, gegebenenfalls neu zu bewerten und einen kritischen Beitrag zur Verortung des eigenen Faches zu leisten. Sie knüpft damit an die aktuelle Frage an, ob und wie die Geschichte der ehemaligen Kolonien unter Berücksichtigung der Theorieangebote der Postcolonial Studies geschrieben werden kann. Besonders aufschlussreich ist dabei die Periode zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Wiedervereinigung beziehungsweise der Unabhängigkeit Namibias, die ebenfalls durch das Ende des Kalten Krieges eingeleitet wurde. Dieser zeitliche Fokus mag zunächst irritieren, denn innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Kontroversen entsteht oftmals der Eindruck, der Genozid sei erst im Jahr 2004, als sich die Ereignisse zum hundertsten Mal jährten, auf die geschichtswissenschaftliche Forschungsagenda getreten. Für Ulrike Lindner handelt es sich etwa um einen »in der Historiografie lange weitgehend vergessenen Krieg«.5 Es muss in Anbetracht der Vielfalt aktueller Forschungsarbeiten konstatiert werden, dass die Beschäftigung mit dem kolonialen Namibia seit der Adaption postkolonialer Theorieangebote in der deutschen Geschichtswissenschaft und dem Erinnerungsjahr 2004 eine regel4 | Conrad/Conrad: Wie vergleicht man Historiographien?, 2002, S. 17. 5 | Lindner: Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, 2011, ohne Seitenangabe.
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rechte Konjunktur erlebt. Doch mit dem generalisierenden Verweis auf eine gesellschaftliche und wissenschaftliche Kolonialamnesie wird ausgeblendet, dass die Geschichte des kolonialen Namibias bereits nach dem Zweiten Weltkrieg Gegenstand strittiger und bis heute forschungsrelevanter historiografischer Kontroversen und Deutungskämpfe war. Gängig ist es auch, die Kolonialgeschichtsschreibung in diesem Zeitraum pauschalisierend als akademischen Austragungsort des Kalten Krieges zu betrachten. Alternativ wird sie innerhalb einer methodologischen Phaseneinteilung der Kolonialgeschichtsschreibung verortet, die einem westdeutschen, auf den gegenwärtigen Forschungsstand bezogenen Schema folgt: »At the risk of simplification«, so Sebastian Conrad, »one can identify three main currents, each articulating scholarly concerns with the broader sociopolitical context: a politically revisionist literature in the 1920s; a critical social history of colonialism in the 1970s; and a postcolonial historiography since the 1990s.«6 Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass bisherige Modelle den Blick auf spannende Aushandlungs- und Zirkulationsprozesse von historiografischem Wissen verstellen. Dieser Befund regte zu der vorliegenden Studie an, deren Ziel es ist, wissensgeschichtliche Veränderungen und Kontinuitäten in der historiografischen Beschäftigung mit dem kolonialen Namibia aufzuzeigen und sie auf ihre Verschränkung mit politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen zu befragen. Dabei steht die Verhandlung, Interpretation und Repräsentation des kolonialen Genozids im Fokus des analytischen Interesses. Gerade an der Interpretation und Darstellung kolonialer Gewalt kann das Fortwirken von kolonialen Epistemen, mit denen der koloniale Genozid gerechtfertigt und plausibilisiert wird, und deren Veränderung nachvollzogen werden. Dabei soll die von Sebastian Conrad vorgeschlagene methodologische Epocheneinteilung jedoch nicht weiter ausdifferenziert werden. Stattdessen wird hier ein weites Verständnis von Historiografiegeschichte vorgeschlagen, das historiografische Texte im Hinblick auf die Zirkulation von Wissen über Epochen, Staatsgrenzen und Medien hinweg ins Zentrum der Analysen stellt und damit eine klassische wissenschaftsgeschichtliche Perspektive auf bricht. Hierzu wird die Narrativität wissenschaftlicher Texte betont, die eine Zirkulation über Genregrenzen hinweg befördert. Am Beispiel der Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia leistet die Arbeit damit auch einen Beitrag zum theoretischen Verständnis akademischer Wissensproduktion. Mit der Frage nach Kontinuitäten und Veränderungen strukturieren zwei Forschungsperspektiven die Analysen, die auf der Hypothese gründen, dass die Historiografie über das koloniale Namibia nach 1949 janusköpfigen Charakter hatte. Sie changierte zwischen Brüchen und Kontinuitäten, da sich neue 6 | Conrad: Historiography, 2008, S. 237.
I. Einleitung
Vergangenheitsdeutungen nur bedingt gegen ältere Wissensformationen und Darstellungskonventionen durchsetzen können. Brüche liegen zunächst aufgrund der politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Veränderungen nach dem Zweiten Weltkrieg nahe. Es ist davon auszugehen, dass sich erzählerische Fluchtpunkte nach 1949 verschieben: Vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Völkermords, der afrikanischen Unabhängigkeiten, der Auseinandersetzung um das südafrikanische Apartheidregime und der politischen und wissenschaftlichen Systemkonkurrenz von DDR und BRD mussten nach 1949 neue Vergangenheitsdeutungen entworfen werden. Doch inwiefern gelang es HistorikerInnen nach 1949 mit etablierten Wissensformationen und Darstellungskonventionen zu brechen, die der »imaginären Erforschung« 7 des kolonialen Namibias zugrunde lagen und als Teil eines umfassenden kolonialen Diskurses dazu dienten, die Macht- und Herrschaftskonstruktion des deutschen Kolonialsystems zu stabilisieren? Oder weiter gefasst: Trug die weltweite politische Dekolonisationsbewegung zu einer kulturellen und wissenschaftlichen Dekolonisation bei und forderte gegebenenfalls das bis dahin gültige Wissenschaftsverständnis heraus? Da Kolonialgeschichte in beiden deutschen Staaten immer auch als Teil der jeweiligen Nationalgeschichte geschrieben wurde, stellt sich die Frage, wie die kolonialen Gewaltverbrechen und der Rassismus des Kaiserreiches vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Völkermords in die jeweilige deutsche Nationalgeschichte eingepasst wurden. Wie schlug sich die Aufarbeitung des nationalsozialistischen Völkermordes in der Historiografie kolonialer Gewalt nieder? Welche inhaltlichen, rhetorischen und semantischen Bezüge wurden zwischen den beiden Ereignissen hergestellt? Doch auch kolonialdiskursive Kontinuitäten blieben Bestandteil jener Texte und Textwelten, die HistorikerInnen nach dem Zweiten Weltkrieg über das koloniale Namibia entwarfen. Als HistorikerInnen begannen, die Geschichte des kolonialen Namibias zu schreiben, geschah dies nicht voraussetzungslos, sondern vor der Folie bereits bestehender Deutungs-, Interpretations- und Repräsentationsvorlagen, die als Quellen, aber auch als unreflektierte Narrative historiografische Texte entscheidend mitbestimmten. Schließlich stand das koloniale Namibia als Siedlungskolonie während des Kaiserreiches im Zentrum kolonialer Erforschungs- und Bemächtigungsfantasien, die als Suprematie- und Herrschaftsdiskurse auch die Deutungsfolie für die Ereignisse der 7 | Der Terminus »imaginäre Erforschung« stammt von Edward Said. Er verwendet ihn im Hinblick auf die wissenschaftliche Konstruktion des Orients. Da der Orient laut Said eine europäische Projektion ist, die dazu dient, sich mittels der Repräsentation des »Anderen« der eigenen Identität zu versichern, kann die Erforschung des Orients nicht auf eine außerdiskursive Wirklichkeit verweisen. Folglich handelt es sich um »imaginäre Erforschung«, die letztlich selbstreferenziell ist. Said: Orientalismus, 2009, S. 17.
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Jahre 1904 bis 1908 bereitstellten. Hinzu kam, dass das akademische und vor allem populäre Wissen über die Ereignisse im kolonialen Namibia enorm war. Bereits im Kaiserreich stellten die Ereignisse ein »regelrechtes Diskursereignis« dar, das Niederschlag in einer »Flut von Texten unterschiedlicher Genres« fand.8 Hierzu trug auch bei, dass der ›Kolonialkrieg‹ massiv auf die Metropole zurückwirkte und unter anderem zu einer innenpolitischen Krise führte, als deren Kulminationspunkt gemeinhin die ›Hottentottenwahlen‹ gelten – jene Reichstagswahlen, die die diffamierende Bezeichnung für die Bevölkerungsgruppe der Nama tragen. Da sich die Befürworter des Krieges durchsetzten, wurden kritische Stimmen in der Folge weitestgehend verdrängt. Kolonialdiskursive Deutungen der Ereignisse blieben zudem auch nach der politischen Dekolonisation in Folge des Ersten Weltkriegs politisch und gesellschaftlich relevant, denn die ›Kolonialkriege‹ und der Umgang mit den Kolonisierten vor, während und nach den Gewalttaten standen im Zentrum der Versailler Verhandlungen um die Aberkennung der Kolonien. Infolgedessen wurden sie im Kolonialrevisionismus der 1920er Jahre Gegenstand zahlreicher Erzählungen unterschiedlicher Genres. Diese lange Tradition kolonialapologetischer Deutungen führt zu der Frage, welche Bedeutung ihnen für die Historiografie nach 1949 zukommt. Blieben historiografische Texte in der BRD und DDR weiterhin in kolonialen Sprach- und Darstellungskonventionen verhaftet, die essentiell für die Vermittlung und Legitimation des Kolonialismus und seiner rassifizierten Episteme waren? Inwiefern lassen sie sich in Interpretationen, Narrativen, Rhetorik oder auch einzelnen Begriffen in historiografischen Texten als Versatzstücke des kolonialen Diskurses wiederfinden? Und welche Rolle kam dabei personellen und institutionellen Kontinuitäten zu? Diese Fragen und Überlegungen basieren auf der Prämisse, dass koloniale Diskurse in beiden deutschen Staaten als machtvolle politische und soziale Konstrukte bestehen blieben und von den langfristigen Nachwirkungen des Kolonialismus zeugen. Auf Politik, Gesellschaft und Wissenschaft der DDR und BRD kann daher die Denkfigur »postkolonial«9 angewendet werden. Postkolonial wird dabei nicht als zeitliche Zäsur verstanden, die das Ende des politischen Kolonialismus für Kolonisierende und Kolonisierte markiert, sondern als komplexes Machtverhältnis, das auch nach dem Ende des formalen Kolonialismus weiter besteht.
8 | Brehl: Vernichtung der Herero, 2007, S. 86. 9 | Vgl.: Varela/Dhawan: Postkoloniale Theorie, 2005; Conrad/Randeria: Jenseits des Eurozentrismus, 2002. Die Bedeutung und Verwendung des Präfixes »post« wurde innerhalb der postkolonialen Studien intensiv diskutiert. Vgl. Ashcroft: On the Hyphen in Post-Colonial, 1996.
I. Einleitung
Der Untersuchungszeitraum und der darin angelegte Vergleich zwischen dem diktatorischen System der DDR und der demokratischen BRD legt es nahe, einem etablierten Forschungsparadigma zu folgen. Die wissenschaftlichen Beziehungen der beiden Staaten zum afrikanischen Kontinent werden hierbei in erster Linie unter dem politischen Vektor des Kalten Krieges und politische Zäsuren als dominante Faktoren für die Veränderung von Wissen betrachtet. Tatsächlich kann davon ausgegangen werden, dass das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander, ihre jeweilige Verortung im Kalten Krieg und die divergenten gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen wichtige Faktoren für die Konstruktion der Geschichte des kolonialen Namibias darstellten. Doch eine solche politische Perspektivierung kann dazu führen, historiografisches Erzählen lediglich als erinnerungspolitisches Instrument zu verstehen und andere Faktoren auszublenden. Im Gegensatz dazu soll die Relevanz politischer Zäsuren für die Geschichtsschreibung hinterfragt werden. Die Vielzahl konkurrierender Deutungen nach 1949 verweist darauf, dass Geschichtsbilder nicht plötzlich ihre Deutungskraft verlieren, sondern langsam durch Alternativdeutungen abgelöst werden, die nicht zwingend mit politischen Zäsuren einhergehen. Hinterfragt wird auch eine an politischen Grenzen orientierte, komparatistische Analyse der Geschichtsschreibung in den beiden deutschen Staaten, die bereits im Forschungsdesign zwei getrennte historiografische Entwicklungen konstruiert. Sebastian Conrad etwa warnt davor, dass die »analytische Isolierung der DDR-Historiografie zu einem verzerrten Bild der deutschen Geschichtsschreibung in der Zeit der Teilung« führen könne.10 Anstatt beide wissenschaftlichen Systeme a priori als hermetisch getrennt zu denken, wird der historiografische Umgang mit dem Erbe des Kolonialismus verschränkt analysiert. Dies ermöglicht es, die gegenseitige Beeinflussung und Zirkulation von Wissen in den Blick zu nehmen, die hinter der offiziellen Abgrenzungsrhetorik möglicherweise das Verhältnis der beiden Staaten zueinander bestimmte: »Nirgendwo stärker als in der deutschen Fachgeschichte in der Zeit der OstWest-Spaltung drängt sich die Notwendigkeit stärker auf, zeitgleiche Formen der Vergangenheitsaneignung in vergleichende Beziehung zu setzen, die ihre eigene Identität zu einem Gutteil aus einem wechselseitigen Ausschließungsverhältnis gewann.«11 Damit schließt die Arbeit an neuere Forschungsansätze an, die »die Annahme einer starken Verflechtung beider deutschen Staaten und Gesellschaften« betonen.12
10 | Conrad/Conrad: Wie vergleicht man Historiographien?, 2002, S. 24. 11 | Jarausch/Sabrow: Meistererzählung, 2002, S. 23. 12 | Ihme-Tuchel: Die DDR, 2010, S. 5.
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I.2 A ufbau Nimmt man den Konstruktionscharakter von Geschichtsschreibung ernst, so folgt hieraus, dass es nicht Ziel der Arbeit sein kann, eine vermeintlich neutrale oder gar wahre Erzählung als Blaupause der Analysen zu entwerfen, die dazu dient, die Texte auf eine vermeintliche historische Realität oder in Bezug auf die aktuelle Forschungsposition hin zu prüfen und zu kritisieren. Eine solche Erzählung ist gemäß einem konstruktivistischen Geschichtsverständnis nicht möglich. Zugleich ist auch diese Arbeit zwangsläufig der eigenen Narrativität und Diskursivität verhaftet und läuft damit Gefahr, eine linear-chronologische Fortschrittsperspektive historiografischen Forschens und Erzählens zu konstruieren, die gegebenenfalls den derzeitigen Forschungsstand zum Maßstab erhebt. Um dies sichtbar zu machen, folgt die Arbeit einer Gliederung, die exemplarisch Brüche, Kontinuitäten und Leerstellen in der Historiografie des kolonialen Namibias aufzeigt und somit keine Gesamtdarstellung kolonialer Gewalt anstrebt. Die einzelnen Kapitel fokussieren Momente und Phasen, in denen das Wissen über das koloniale Namibia sowie die Beurteilung und Darstellung des kolonialen Genozids in Texten verhandelt wird und gegebenenfalls einen Wandel erfährt. Das Augenmerk liegt dabei auf synchronen und diachronen Zirkulationsprozessen von Wissen – etwa zwischen Epochen und Staatsgrenzen – sowie den verschiedenen Medien und Texten historiografischen Wissens. In allen Kapiteln werden Textpassagen und Erzählverfahren analysiert und historisch kontextualisiert, anhand derer Zirkulation, Veränderung und Kontinuität kolonialdiskursiven Wissens nachgezeichnet werden. Konkret wird nach Welt-, Geschichts- und Menschenbildern gefragt, die in historiografischen Texten bemüht oder entworfen werden. Im Fokus der Analysen stehen Figuren und Handlungsträger, die konstitutiv für das Erzählen von Geschichte sind. Besondere Relevanz kommt hierbei den Entwürfen Schwarzer13 und Weißer Menschen zu. Anhand der Repräsentationen des vermeintlich Anderen und des Eigenen wird die Verhandlung kolonialdiskursiver Wirklichkeitsentwürfe besonders deutlich. Einen weiteren Schwerpunkt der Analysen bildet die Erzählung des Genozids an den Herero und Nama, in dem sich die Beurteilung und Legitimationsdiskurse des kolonialen Projekts wie in einem Brennglas verdichten. Gerade anhand der Darstellung des kolonialen Genozids kann gefragt werden, inwieweit es den in der DDR und BRD publizierten Texten ge-
13 | Um kenntlich zu machen, dass es sich bei den Bezeichnungen »Schwarz« und »Weiß« um soziale, politische und kulturelle Konstrukte handelt, die nicht auf eine natürliche, außerdiskursive Differenz verweisen, werden beide Begriffe auch im adjektivischen Gebrauch groß geschrieben.
I. Einleitung
lingt, differenziert mit tradierten Denkmustern umzugehen anstatt sie – und sei es unwillkürlich – zu reproduzieren. Die Analyse setzt mit der historiografischen Auseinandersetzung im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Bislang wird für diesen Zeitraum vor allem das Schlagwort der »Kolonialen Amnesie«14 bemüht, das dazu dient, die vermeintlich fehlende Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus in den 1950er Jahren und weit darüber hinaus zu beschreiben. Inwiefern dieser Befund für die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia tragfähig ist, gilt es zu hinterfragen. Strukturell interessiert hierbei zunächst, inwiefern Netzwerke sowie personelle und institutionelle Kontinuitäten die politische Zäsur 1949 unbeschadet überstanden und so die Zirkulation von Wissen über die Epochengrenze hinaus ermöglichten. Anhand der Texte wird auch das Spektrum kolonialer Wissenstraditionen aufgezeigt und gefragt, welche spezifischen Darstellungs- und Erzählformen sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgebildet haben. Narrative und Begriffe werden zum Ausgangspunkt, um die zeitgenössische und kolonialrevisionistische Debatte zu skizzieren. Die nachfolgenden Kapitel fokussieren auf Kontroversen in der Geschichtsschreibung der DDR und BRD. Zunächst wird in Kapitel III die Entwicklung der Kolonialgeschichtsschreibung in der DDR nachgezeichnet, die durch Fachkräftemangel und eine verzögerte Institutionalisierung gekennzeichnet ist. Auf Textebene wird analysiert, inwiefern es der im Selbstverständnis antikolonialen und antirassistischen Geschichtsschreibung der DDR gelang, mit kolonialen Darstellungskonventionen zu brechen und gegebenenfalls neue Erzähl- und Darstellungsverfahren zu entwickeln. HistorikerInnen suchten sich hierbei auch in literarischen Darstellungen Anleihen. Hierdurch kann die Zirkulation und spezifische Gestalt von Wissen über verschiedene Textgattungen hinweg zum Gegenstand der Analysen werden. Zu fragen ist aber vor allem, inwiefern koloniale Darstellungskonventionen und Stereotype auch in der DDR, trotz eines ideologisch motivierten und durch politische Vorgaben forcierten Antikolonialismus, unwillkürlich weitergeführt wurden. Das vierte Kapitel zeigt Wechselbeziehungen zwischen der bundesrepublikanischen Kolonialgeschichtsschreibung und den Forderungen der 68erGeneration, der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit sowie den Positionen der Fischer-Kontroverse auf. Aber auch die Zirkulation von Wissen zwischen den beiden deutschen Staaten wird analysiert, denn als sich HistorikerInnen der Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren der Geschichte des kolonialen Namibias in kritischer Absicht zuwandten, geschah dies auch vor der Deutungsfolie der Texte, die in der DDR entstanden waren. 14 | Vgl.: Albrecht: (Post-)Colonial Amnesia?, 2011; Albrecht: Europa ist nicht die Welt, 2008; Zimmerer: Von Windhuk nach Auschwitz?, 2011, S. 14 und 40ff.
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Daher wird mittels narratologischer Methoden nach Austauschprozessen zwischen der Kolonialhistoriografie der DDR und der BRD gefragt. Verschränkungen zwischen der Kolonialhistoriografie beider deutscher Staaten nahmen in den 1980er Jahren weiter zu, wie im fünften Kapitel anhand unterschiedlicher Textgattungen herausgearbeitet wird. Hierzu trug auch bei, dass sich eine politische und wissenschaftliche Annäherung zwischen BRD und DDR abzeichnete und sich die politische Situation in Namibia erheblich veränderte. Zugleich jährte sich im Jahr 1984 die koloniale Expansion zum 100sten Mal und bot damit für verschiedene Personen und Gruppen Anlass sich mit der Geschichte des kolonialen Namibias zu befassen. Erneut wurden kolonialrevisionistische und kolonialapologetische Positionen formuliert. Hiervon ausgehend ist nach kolonialdiskursiven Kontinuitäten zu fragen. Ob und inwiefern sich die Texte der 1980er Jahre von den Texten unterscheiden, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den kolonialen Genozid legitimierten, ist dabei leitendes Erkenntnisinteresse.
I.3 F orschungsstand Während noch 2004 eine »Kolonialamnesie«15 konstatiert und zugleich moniert wurde, dass der Kolonialismus in der deutschen Forschungslandschaft unterrepräsentiert und kaum im kollektiven Gedächtnis verankert sei sowie selten öffentlichkeitswirksam thematisiert werde, lässt sich dieser Einschätzung aktuell kaum mehr zustimmen. Im Gegenteil: In der letzten Dekade wurde das Forschungsfeld immer differenzierter. Das erfordert eine Positionierung der Studie in der derzeitigen Forschungslandschaft.16 Die Beschäftigung mit der Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia kann grundsätzlich innerhalb der Forschung zur deutschen Afrikahistoriografie und ihren »politischen und gesellschaftlichen Bedingungen«17 verortet werden, die Wolfgang Kaese bereits vor über einem Jahrzehnt forderte. Sein Plädoyer blieb jedoch lange Zeit ungehört. Erst in den letzten Jahren entstanden mehrere Forschungsarbeiten, die sich vor allem mit den institutionellen Strukturen der Afrikanistik in der Phase der Dekolonisation beschäftigten. Neben Holger Stoeckers Studie »Afrikawissenschaften in Berlin von 1919 bis 1945. Zur Geschichte und Topographie eines wissenschaftlichen Netzwerkes« ist besonders Felix Brahms komparative Arbeit zum Verhältnis von Wissen-
15 | Albrecht: (Post-)Colonial Amnesia?, 2011; Albrecht: Europa ist nicht die Welt, 2008; Zimmerer: Von Windhuk nach Auschwitz?, 2011, S. 14 und 40ff. 16 | Einen Überblick bietet: Conrad: Jenseits des Eurozentrismus, 2002. 17 | Kaese: Deutsche Afrikageschichtsschreibung, 2001, S. 430.
I. Einleitung
schaft und Dekolonisation im Fachbereich der Afrikanistik hervorzuheben.18 Holger Stoecker und Felix Brahm zeichnen in ihren Arbeiten die institutionelle und personelle Entwicklung der Afrikawissenschaften nach. Aufgrund der institutionsgeschichtlichen Schwerpunktsetzung bleiben hier jedoch Texte und Textwelten unberücksichtigt, mit denen WissenschaftlerInnen Sinnwelten erzeugen, die koloniale Episteme weiterführen oder auf brechen. Beide Arbeiten bieten für die vorliegende Untersuchung dennoch wichtige Anregungen, um die AutorInnen der untersuchten historiografischen Texte innerhalb ihres akademischen Feldes zu verorten. Obwohl die deutsche Kolonialgeschichte in der Regel weiterhin an Historischen Seminaren erforscht und geschrieben wurde, war sie durch Forschungsergebnisse und -paradigmen der Afrikanistik beeinflusst, die nach dem Zweiten Weltkrieg an verschiedenen Universitäten nach kurzer Unterbrechung weitergeführt wurden. Hierzu gehören vor allem die Institute in Hamburg, Leipzig und Berlin. Arbeiten, die sich explizit mit der Historiografie über das koloniale Namibia befassen, stellen trotz der deutlich intensivierten Forschung zum deutschen Kolonialismus ein Desiderat dar. Lediglich einige Aufsätze widmen sich dem Thema.19 Sie reflektieren dabei jedoch meist affirmativ den Forschungsstand, während die Geschichtsschreibung selbst nicht als eigenständiger Analysegegenstand in den Blick genommen wird.20 Besonders die bis heute einflussreiche Historiografie der DDR wird hierbei vernachlässigt, anstatt ihre spezifische Relevanz für die Wissenskonstruktion über das koloniale Namibia herauszuarbeiten. Eine Ausnahme bildet die Monografie Gesine Krügers »Kriegsbewältigung und Geschichtsbewusstsein. Realität, Deutung und Verarbeitung des deutschen Kolonialkriegs in Namibia 1904 bis 1907«, die einen groben Überblick über die historiografischen Debatten liefert.21 Da sich Gesine Krüger in ihrer Studie jedoch um die Rekonstruktion einer historischen »Realität« bemüht, bleibt diese zugleich der Bewertungsmaßstab der historiografischen Texte. Entscheidend inspiriert ist die vorliegende Analyse historiografischen Wissens durch postkolonial orientierte Forschungsarbeiten, die gerade für den deutschen Kontext nachdrücklich gezeigt haben, dass koloniale Erfahrungen 18 | Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010; Stoecker: Afrikawissenschaften in Berlin, 2008. 19 | Conrad: Historiography, 2008; Eckert: Nationalgeschichtsschreibung und koloniales Erbe, 2002; Heyden: Die Afrikawissenschaften in der DDR, 1999. 20 | Eine Ausnahme bildet hierbei Andreas Eckl, der sich jedoch auf die Frage konzentriert, ob die Ereignisse der Jahre 1904-1907 in Anbetracht der Quellenlage als Genozid kategorisiert werden können. Eckl: Zur Historiographie eines umstrittenen Kolonialkrieges, 2005. 21 | Krüger: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein, 1999.
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auch für die Wissenschaften viel prägender waren als lange Zeit angenommen. Inwiefern dieser Befund auch für die Geschichtswissenschaft gilt, wurde auf institutioneller Ebene stellenweise in den bereits erwähnten Arbeiten Holger Stoeckers und Felix Brahms aufgezeigt. Doch eine Anwendung postkolonialer Theorieangebote auf die Praktiken der Geschichtsschreibung und die mit ihr entworfenen Textwelten und Wissensbestände stellt ein wissensgeschichtliches Desiderat dar.22 Anknüpfungspunkte bieten literaturwissenschaftliche Arbeiten, die inhaltliche und vor allem methodische Anregungen für die Umsetzung postkolonial orientierter Textanalysen bereitstellen.23 Medardus Brehl, Stefan Hermes und Monika Albrecht haben sich in ihren Arbeiten dezidiert mit belletristischen Erzählungen über das koloniale Namibia und dem literarisch verfassten Wissen über den Genozid an den Herero befasst.24 Analysiert wurden sowohl die zeitgenössische literarische Verarbeitung des Kriegs als auch dessen Darstellung und Deutung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um (post-)koloniale Wissens- und Machtepisteme offen zu legen. Die Ergebnisse ihrer überzeugenden und dichten Analysen sollen im Hinblick auf historiografische Texte geprüft werden. Dies eröffnet sowohl auf inhaltlicher als auch methodischer Ebene die Möglichkeit zum interdisziplinären Dialog. Aus wissensgeschichtlicher Perspektive ist hierbei aufschlussreich, dass fiktionale (post-)koloniale Texte literaturwissenschaftlich zumeist unter der Fragestellung analysiert werden, wie sie den historischen Stoff – bewusst oder unbewusst – ideologisch aneignen und verfremden. Implizit unterliegt einem solchen Vorgehen die Annahme, dass Historiografie eine objektive Rekonstruktion der Vergangenheit leistet. Folglich werden historiografische Texte anderen Textsorten als Korrektiv gegenübergestellt und der Konstruktionscharakter geschichtswissenschaftlicher Forschung ausgeblendet. Wie noch näher ausgeführt werden wird, erscheint eine solche epistemologische Abgrenzung von Textgattungen aus wissensgeschichtlicher Perspektive durchlässig.25 Im Rahmen der Arbeit wird daher vorgeschlagen, den Konstruktionscharakter 22 | Dies verwundert auch deshalb, weil die Adaption postkolonialer Theorieangebote in der Selbstwahrnehmung der Geschichtswissenschaft teilweise zu einem deutlichen Bruch mit »älteren« Formen der außereuropäischen Geschichtsschreibung geführt hat, der sich besonders auffällig in den Selbst- und Fremdzuschreibungen – Histoire Croisée, Globalgeschichte und Entangled History – derselben spiegelt. Vgl. Conrad: Postkoloniale Ansätze in der deutschen Geschichtsschreibung, 2001; Conrad: Doppelte Marginalisierung, 2002. 23 | Vgl. Göttsche: The Rediscovery of Colonialism in Contemporary German Literature, 2013. 24 | Brehl: Vernichtung der Herero, 2007; Albrecht: Europa ist nicht die Welt, 2008; Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009. 25 | Vgl. hierzu S. 36ff.
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historiografischer Texte ernst zu nehmen, und hiervon ausgehend die intertextuellen Bezüge zwischen literarischem und historiografischem Erzählen in den Blick zu nehmen. Literarisches und historiografisches Erzählen werden als miteinander verschränkt gedacht, denn schließlich teilen beide Textgattungen nicht nur einen soziokulturellen und diskursiven Bezugsrahmen und dessen Regeln, sondern sind auch intertextuell miteinander verwoben. Deutlich wird dies an Erzähl- und Darstellungstopoi, die sich in beiden Textgattungen finden und die nicht auf eine außerdiskursive Realität rekurrieren. Ganz konkret wäre unter anderem an Uwe Timms Roman »Morenga« zu denken, der Passagen aus historiografischen Werken übernimmt und zitiert. Ein weiteres Beispiel wäre die Fachgutachterpraxis der DDR, die Historikern die Aufgabe zuwies, historische Romane inhaltlich und ideologisch zu beurteilen. Gerade im Hinblick auf Themen, Erzählverfahren und terminologische Entscheidungen lässt sich daher fragen, inwiefern fiktionale und faktuale Texte für die Analysen in Beziehung zueinander gesetzt werden müssen. Das Nach- und Weiterwirken kolonialer Diskurse wurde bislang vor allem für die Bundesrepublik untersucht, während die Verhandlung kolonialer Episteme in der Wissenschaft der DDR selten berücksichtigt wurde. Nach Sebastian Conrad steht die »Forschung zu der Frage, in welchem Maße auch in der DDR – in der Popkultur, in Comics und Filmen, aber auch in der Entwicklungshilfe und der Migrationspolitik – koloniale Stereotype und Strukturen weiterlebten […] bislang noch in den Anfängen«.26 Nur wenige Arbeiten befassen sich mit den angrenzenden Phänomenen des Rassismus und der Xenophobie in der DDR, denn nicht zuletzt die schwierige Quellensituation, die sich aus der offiziellen Nichtexistenz von Rassismus und Diskriminierung in der DDR ergibt, hat die Forschung hierzu bislang verzögert.27 Die Geschichtsschreibung der DDR ist bis heute ein eher »sperriger Forschungsgegenstand«.28 Dies betrifft vor allem ihre wissenschaftsgeschichtliche Einordnung und Bewertung, die aufgrund ihrer methodischen Grundlagen und der Gebundenheit des sozialistischen Wissenschaftssystems besonders nach der deutschen Wiedervereinigung in den 1990er Jahren intensiv und kritisch diskutiert wurden.29 Nicht unerheblich ist dabei, dass »die Geschichtswissenschaft in der DDR Teil der öffentlichen Diskussion über die Bewertung
26 | Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, 2008, S. 121. 27 | Zudem zielt die Forschungsperspektive oftmals auf Rassismus und Neonazismus nach 1990 ab. Krüger-Potratz: Anderssein gab es nicht, 1991; Behrends: Fremde und Fremd-Sein in der DDR, 2003; Zatlin: Scarcity and Resentment, 2007. 28 | Jarausch: Die DDR-Geschichtswissenschaft als »Meta-Erzählung«, 1997, S. 19. 29 | Vgl. Jarausch/Middell/Sabrow: Störfall DDR-Geschichtswissenschaft, 1998; Hüttmann: DDR-Geschichte und ihre Forscher, 2008.
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der ostdeutschen Vergangenheit geworden ist«.30 In der Folge werden »die Verfehlungen oder Leistungen der DDR-Historiografie in Übereinstimmung mit einer generellen Charakterisierung des Systems als ›Unrechtsstaat‹ oder ›antifaschistischer Neuanfang‹ eingestuft«.31 Für die Analyse der Kolonialhistoriografie ist die Debatte um die Reichweite der politischen Instrumentalisierung von besonderem Interesse. Ob es sich bei der Geschichtsschreibung der DDR um eine reine »Legitimationswissenschaft« handelte, infolgedessen der SED die »ungeteilte Herrschaft auch über die Geschichte« attestiert werden muss, oder aber den Wissenschaften ein gewisser Freiraum zugestanden werden kann, der zumindest in Nischen ein weitestgehend ideologiefreies Forschen ermöglichte, wird weiterhin kontrovers diskutiert.32 Allerdings hat sich der wissenschaftsgeschichtliche Blick auf die Geschichtsschreibung der DDR in den letzten Jahren verändert. Während vor allem die 1990er Jahre durch politische und wissenschaftspolitische Fragen des vereinten Deutschlands geprägt waren, lässt sich nunmehr feststellen, dass sich das Verhältnis zur historisierten DDR-Geschichtsschreibung entspannt hat und die »Schärfe der Polemik«33 mehr und mehr abnimmt. Dabei zeichnet sich ab, dass die Geschichtsschreibung der DDR als historischer Untersuchungsgegenstand nicht mehr pauschal als unwissenschaftliche, methodologisch rückständige und ideologisch instrumentalisierte Form der Herrschaftslegitimation betrachtet wird. Allerdings differiert die Verortung der DDR-Geschichtsschreibung in den einzelnen Fachgebieten erheblich. Dies gilt in besonderem Maße für die Kolonialgeschichtsschreibung. Konrad Jarausch, Matthias Middell und Martin Sabrow führen hierzu aus: »Vor allem die marxistisch beeinflusste französische Revolutionsforschung, die Erforschung des Kolonialismus und der Befreiungsbewegungen im spanischsprachigen Raum und die historische Afrikaforschung hatten bereits in den sechziger Jahren die Arbeiten von DDR-Historikern wie Walter Markov und Manfred Kossok vorbehaltlos als seriösen Beitrag zu eigenen Fragekomplexen anerkannt. Auch in der nordamerikanischen Geschichtswissenschaft begegnete man der zweiten deutschen Geschichtswissenschaft seit ihrer Herausbildung mit einer deutlich unverkrampfteren Haltung als in der Bundesrepublik.« 34
Hieran lässt sich die Frage anschließen, ob sich gerade die Kolonialhistoriografie als Sujet des idealtypischen »Nischenwissenschaftler[s]« anbot, »der 30 | Jarausch/Middell/Sabrow: Störfall DDR-Geschichtswissenschaft, 1998, S. 1. 31 | Ebd. 32 | Sabrow: Geschichte als Herrschaftsdiskurs, 2010, S. 12ff. 33 | Jarausch/Middell/Sabrow: Störfall DDR-Geschichtswissenschaft, 1998, S. 1. 34 | Ebd., S. 24.
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durch Flucht in parteiferne Zonen der Vergangenheit seinen Freiraum zu wahren suchte«.35 Für den DDR-Historiker Ulrich van der Heyden gilt etwa, dass sich für die Kolonialgeschichtsschreibung wenigstens zwei verschiedene Arbeitsweisen nachweisen lassen. Auf der einen Seite »orthodoxe« HistorikerInnen und auf der anderen Seite HistorikerInnen, »die ihre empirischen Forschungsergebnisse […] im Prinzip hätten ebenso in westlichen Ländern erzielen können«.36 Gegenwärtig wird der Kolonialgeschichtsschreibung der DDR ein hohes Innovationspotenzial zugebilligt. Sebastian Conrad verweist unter dem Lemma »Historiography« im »Historical Companion to Postcolonial Literatures« auf entscheidende Impulse der DDR-Forschung: »In particular, East German scholarship played a crucial role in posing new questions and initiating source-based research.«37 Nicht unerheblich scheint hier auch die Frage, inwiefern die retrospektive Beurteilung durch aktuelle Forschungsparadigmen der postkolonialen Studien beeinflusst wird. Obgleich die »Rolle des Marxismus innerhalb postkolonialer Theorie […] eine widersprüchliche«38 bleibt, gilt grundlegend, dass »marxistische Theorie zentral für die intellektuellen und politischen Arbeiten vieler postkolonialer Aktivisten und Theoretiker/innen«39 ist und sich die Bewertung der marxistischen Kolonialgeschichtsschreibung daher gegebenenfalls mit der Durchsetzung postkolonialer Theorien positiv verändert hat. Ein weiteres, jedoch gänzlich anders gelagertes Problem ergibt sich daraus, dass die Debatte um den wissenschaftlichen Wert der DDR-Geschichtsschreibung von HistorikerInnen geführt wird, die aufgrund ihrer eigenen wissenschaftlichen Vita direkt von der politischen Entwicklung in beiden deutschen Staaten betroffen waren und mit ihren Beiträgen die Entwicklung ihrer jeweils eigenen Forschungsfelder und vor allem ihrer akademischen Lebensläufe skizzieren.40 Die retrospektive Verortung der eigenen Fachdisziplin fand dabei in einem wissenschaftlichen Milieu statt, das sich nach 1989 stark gewandelt hat. Nachdem sich das ›andere‹ politische und wissenschaftliche System als dominant erwiesen hatte, markierte dies sowohl individuell-biografisch als auch wissenschaftlich einen Bruch. Entlassungen, die im Zuge der Umstrukturierung der Universitäten vorgenommen wurden, trafen auch jene Histori35 | Sabrow: Geschichte als Herrschaftsdiskurs, 2010, S. 24. 36 | Heyden: Die Afrikawissenschaft in der DDR, 1999, S. 443. 37 | Conrad: Historiography, 2008, S. 237. 38 | Varela/Dhawan: Postkoloniale Theorie, 2005, S. 121. 39 | Ebd., S. 64. 40 | Beispiele für eine retrospektive Selbstverortung: Büttner: The Development of African Historical Studies, 1992; Stoecker: Socialism with Deficits, 2000; Markov: Zwiesprache mit dem Jahrhundert, 1989; Heyden: Kolonialgeschichtsschreibung in Deutschland, 2003.
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kerInnen, die zur Kolonialgeschichte gearbeitet hatten: »Sämtliche sich mit der Kolonialgeschichte beschäftigenden Historiker aus der ehemaligen DDR wurden von langfristig gesicherten Forschungsvorhaben durch ›Abwicklungen‹ und Entlassungen von ihren Arbeitsplätzen verdrängt«, konstatiert etwa der DDR-Historiker Ulrich van der Heyden.41 Diese wissenschaftlichen und biografischen Zäsuren haben Auswirkungen auf Lebensnarrative, die retrospektive Einordnung der eigenen Forschungsleistungen und die Bewertung der politischen Rahmenbedingungen. Forschungsbeiträge zur Geschichte der Afrikanistik, respektive der Kolonialgeschichtsschreibung, müssen also auf ihren möglichen affirmativen Gehalt hin gelesen werden.42 Für die retrospektive Beurteilung der Vergangenheits- und Zukunftsentwürfe, die HistorikerInnen der DDR für den afrikanischen Kontinent entwarfen, ist ferner die politische Entwicklung Afrikas nach 1990 entscheidend. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde auch im Hinblick auf die sozialistische Entwicklung Afrikas Bilanz gezogen. Die Historikerin Thea Büttner resümiert hierzu: »Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Scheiterns antikapitalistischer Modelle der sozialistischen Orientierung in den Entwicklungsländern, vor allem im subsaharischen Afrika, stehen insbesondere die für Afrika relevanten formationsspezifischen, revolutions- und entwicklungstheoretischen Konzepte unter Kritik.«43 Die hier skizzierte ambivalente wissenschaftsgeschichtliche Verortung der Kolonialgeschichtsschreibung kann und soll im Rahmen der Analyse nicht aufgehoben werden. Sie zielt nicht auf eine Bewertung der akademischen Leistungen, die am derzeitigen Stand der Forschung orientiert ist und die Geschichtswissenschaft der DDR aus der ex-post-Perspektive beurteilt. Vielmehr wird die ›Einheit von Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit‹ als umfassender Teil der Forschungs- und Schreibbedingungen berücksichtigt, die möglicherweise Aufschlüsse darüber erlaubt, warum und wie sich die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia wandelte. Zu fragen ist hier vor allem, ob innerhalb der DDR-Forschung spezifische Themen und Erzählformen entwickelt wurden. Neben politischen Instrumentalisierungsmaßnahmen gilt es, die rhetorischen, lexikalischen und linguistischen Spezifika der gebundenen Geschichtswissenschaft zu beachten, die wiederum die Narrative und vor allem die Metanarrative historiografischer Erzählungen prägen. Die Wissenschaftssprache kann dabei aber gegebenenfalls auch auf widerständige Momente hinweisen, denn »ihre normierte Oberfläche«, so etwa Konrad Jarausch, »verbirgt weitgehend ihre innere, oft spannungsgeladene Botschaft«.44 41 | Heyden: Die Afrikawissenschaft in der DDR, 1999, S. 271. 42 | Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Forschung zur Geschichtsschreibung der Bundesrepublik. 43 | Büttner: Die Afrikawissenschaft in der DDR, 1995, S. 475. 44 | Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 262.
I. Einleitung
Für die konkrete Analyse historiografischer Erzählungen kann auf sprachwissenschaftliche Untersuchungen zurückgegriffen werden, die den Konnex von Sprache und politischer Ideologie aufzeigen. Bislang fehlen jedoch Studien, die diese Ergebnisse dezidiert auf die Wissenschaftssprache der DDR übertragen. Auf dieses Forschungsdesiderat weist auch Konrad Jarausch hin: »Überraschenderweise scheint sich die reichhaltige sprachwissenschaftliche Literatur kaum mit der Wissenschaftssprache der DDR und noch weniger mit der Historiografie beschäftigt zu haben.«45 Eine narratologische Analyse der Kolonialgeschichtsschreibung kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten.
I.4 Q uellen Wenn bislang generalisierend auf ›die Geschichtsschreibung‹ über das koloniale Namibia Bezug genommen wurde, suggeriert diese Formulierung eine Homogenität der untersuchten Texte, die in ihrer antizipierten Zugehörigkeit zu einer bestimmten Textgattung gründet. Unter ›Geschichtsschreibung‹ werden im klassischen wissenschaftshistorischen Verständnis Texte subsumiert, in denen die Erforschung und Rekonstruktion der Geschichte ihren Niederschlag findet. Ihre AutorInnen können innerhalb dieses Historiografieverständnisses institutionell eindeutig verortet werden und es wird vorausgesetzt, dass sie in der Abfassung ihrer Texte kontingenten, aber dennoch klar definierten akademischen Regeln folgen. Zusammen mit formalen Darstellungs- und Repräsentationsformen – etwa Fußnoten oder Literatur- und Quellenverzeichnissen – unterscheidet sich Geschichtsschreibung idealtypisch von anderen Textgattungen. Akademische Geschichtsschreibung bürgt so idealiter für wissenschaftliche Autonomie und Objektivität und auf diesem als ›Wissenschaft‹ identifizierbaren Diskurs gründet wiederum die Autorität von HistorikerInnen, denen als anerkannte ExpertInnen eine erhebliche Bedeutung für die Schaffung und Aufrechterhaltung von Wissens- und Machtdiskursen zukommt. Fasst man Historiografiegeschichte jedoch als Teilgebiet der Wissensgeschichte auf, dann zeigt sich, dass eine solche, rein formale Kategorisierung aus der ex-post-Perspektive wichtige Texte ausblendet, die textpragmatisch als historiografische Erzählungen rezipiert wurden – und somit Teil des untersuchten Wissensfeldes sind.46 Hierzu gehört etwa die Memoirenliteratur über das koloniale Namibia oder wissenschaftliche Texte angrenzender Disziplinen. Hieraus folgt, dass historiografische Erzählungen unterschiedlicher Provenienz das Quellenkorpus der Studie bilden. Ihre wissenschaftliche Bedeutung 45 | Ebd., S. 262f. 46 | Vgl. hierzu S. 36ff.
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und ihre aktuelle Relevanz weisen dabei einen ganz unterschiedlichen Status auf. Einige der untersuchten historiografischen Texte gelten bis heute als Standardwerke über die Geschichte des kolonialen Namibias. Anderen wird ihr wissenschaftlicher Status im Untersuchungszeitraum abgesprochen. Sie werden stattdessen zunehmend einem literarischen, biografischen oder bestenfalls populärwissenschaftlichen Kontext zugeordnet. Aus heutiger Forschungsperspektive gelten sie als wissenschaftlich überholt oder sind gänzlich in Vergessenheit geraten. Ihre Berücksichtigung im Korpus erlaubt es jedoch erst, Wandlungen im akademisch rezipierten und akzeptierten Wissen sichtbar zu machen und die Zirkulation von wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Wissen zu verfolgen. Erweitert werden muss das Korpus auch um jene Texte, die Rückschlüsse auf angrenzende Diskurse erlauben, denn auch akademisch-institutionell verfasstes Wissen partizipiert und konstituiert sich in Abhängigkeit von angrenzenden Diskursen, die Deutungen und Repräsentation der Vergangenheit mitbestimmen. Eine wichtige Stellung nimmt hierbei etwa die juristische Kategorie des Genozids ein, die eine völlige Neubewertung der Ereignisse ermöglichte. Folgt man der Prämisse, dass historiografische Erzählungen textpragmatisch bestimmt werden können, das heißt über den ihnen zugeschriebenen Status, ihre Rezeption und ihre Funktion innerhalb eines jeweils zeitspezifischen historiografischen Diskurses, ergeben sich weitere Überlegungen, die vor allem auf die Abgrenzung gegenüber fiktionalen Texten zielen.47 Hierfür lassen sich einige Differenzkriterien zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen festlegen, die leitend für die Auswahl der analysierten historiografischen Erzählungen sind: Der Germanist Stephan Jaeger verweist im Hinblick auf historiografisches Erzählen darauf, dass die »Leitdifferenz Fakt/Fiktion bzw. wahr/unwahr«, mit der historiografisches Erzählen von fiktionalem Erzählen gemeinhin abgrenzt wird, zu kurz greift, wenn berücksichtigt wird, »dass sich die Untersuchung textstrukturell darauf richten kann, wie Fakten und Fiktionen dargestellt werden, oder pragmatisch darauf, was als Fakt und was als Fiktion angesehen wird«.48 Textpragmatisch, also in ihrer kommunikativen Funktion, unterscheiden sich fiktionale und faktuale Texte in erster Linie durch ihren Anspruch, »auf eine außertextuelle vergangene Welt zu referieren und nicht eine eigenständige fiktionale Welt zu erschaffen«.49 Ganz ähnlich fragt die Historikerin Angelika Epple: »Wie lässt sich eine Grenzziehung zwischen literarischer und historischer Erzählung begründen, ohne sich in den Fallstricken einer falschen Alternative zwischen Fakt und Fiktion zu verfan47 | Vgl. Kittstein: »Mit Geschichte will man etwas«, 2006; Jaeger: Erzählen im historiographischen Diskurs, 2009. 48 | Jaeger: Erzählen im historiographischen Diskurs, 2009, S. 110. 49 | Ebd.
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gen?«50 Angelika Epple verweist in ihrer Antwort auf den »historiographischen Pakt«51. Hierunter versteht sie »einen Vertrag, der zwischen Rezipienten und Produzenten geschlossen wird. Er besagt, dass sich die Erzählung auf die Darstellung und Deutung tatsächlicher Erfahrungen festlegt und als solche von Rezipienten gelesen wird. Dies ist ihr spezifisches Wahrheitskriterium.«52 Dies bedeutet nicht, dass historiografische Erzählungen vorgeben müssen die Vergangenheit mimetisch abzubilden oder dies überhaupt erst zu versuchen. Entscheidend ist der Versuch eine intersubjektiv nachvollziehbare Darstellung der Vergangenheit zu leisten, die etwa textimmanent durch Verweise auf den Paratext überprüf bar sein muss. Neben dem Referenzanspruch ist das Überprüf barkeitskriterium entscheidend für den epistemologischen Wahrheitsanspruch der historiografischen Erzählung. Fiktionale und faktuale Texte unterscheiden sich damit nicht zwingend auf der Ebene des discours, also der sprachlichen Darstellungsebene der Ereignisse. Sie sind aber dennoch grundsätzlich differente Erzählformen, wie der Romanist Axel Rüth ausführt: »Historiographische Texte können prinzipiell ebenso anschaulich geschrieben sein wie fiktionale, oder sie können trockenste Wissenschaftsprosa bieten, ›ihre wissenschaftliche Begründung haben sie außer sich‹ (Jörn Rüsen). Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld zwischen Anschaulichkeit und Wissenschaftlichkeit, zwischen Mimesis einerseits und Theoriebildung und Überprüfbarkeit andererseits.« 53
Folglich kann der epistemologische Status historiografischer Erzählungen nicht allein über die verwendeten Erzählmittel definiert werden. Entscheidend ist vielmehr ihre kontextabhängige, textpragmatische Funktion innerhalb eines historiografischen Diskurses, der durch den Wahrheitsanspruch der Geschichtsschreibung definiert ist.54 »Es handelt sich um eine rein formale Bestimmung, nach der es die Instanzen Produzent/Rezipient und die Trennung zwischen wahren und erfundenen Geschichten gibt. Die spezifische Wahrheit der historischen Erzählungen ist einem Prozess des Aushandelns zwischen diesen Instanzen unterworfen. Gleichzeitig ist sie das Produkt der jeweiligen Produktions- und Rezeptionsbedingungen, die in einer Gesellschaft festgeschrieben und hervorgebracht werden.« 55
50 | Epple: Von Werwölfen und Schutzengeln, 2007, S. 178. 51 | Ebd. 52 | Ebd. 53 | Rüth: Erzählte Geschichte, 2005, S. 49. 54 | Vgl. Jaeger: Erzähltheorie und Geschichtswissenschaft, 2002. 55 | Epple: Von Werwölfen und Schutzengeln, 2007, S. 178.
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Gerade für historiografische Texte über die Geschichte des kolonialen Namibias sind diese Überlegungen relevant, denn im Untersuchungszeitraum ändert sich die »spezifische Wahrheit der historischen Erzählungen«56 immer wieder. Deutlich wird dies etwa an der Rezeption Gustav Frenssens Romans »Peter Moors Fahrt nach Südwest«, der zeitweise als Wirklichkeitserzählung und als ideologisch verzerrte oder gar fiktionale Erzählung zugleich rezipiert wurde.57 Ähnliches gilt für die umfangreiche Memoirenliteratur, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand. Auch die institutionelle Anbindung der AutorInnen bietet für die wissenschaftliche Verortung der analysierten Texte kein hinreichendes Kriterium. Wie bereits erwähnt, entstanden vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts historiografische Erzählungen nicht zwingend im Kontext der institutionalisierten Geschichtswissenschaft und wurden teilweise dennoch bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als faktuale historiografische Texte rezipiert. Exemplarisch können hierfür die Arbeiten des Missionars Heinrich Vedder stehen.58 Obgleich Heinrich Vedder niemals Geschichte studiert hatte, galt er bis weit in die 1960er Jahre als »leading authority«.59 Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass er für sein »Geschichtsbuch«60 mit dem Titel »Das alte Südwestafrika. Südwestafrikanische Geschichte bis zum Tode Mahareros 1890« im Jahr 1934 von der Universität Tübingen die Ehrendoktorwürde verliehen bekam.61 Der historiografische Text galt »über Jahrzehnte als das Standardwerk über die vorkoloniale Geschichte des heutigen Namibia«62 oder gar als »the orthodox interpretation of pre-colonial Namibian history«.63 Bis in das Jahr 2001 erfuhr das Werk zahl-
56 | Ebd. 57 | Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, 1906. 58 | Vgl. grundlegend Gewald: The making of historical sources in the 1920s, 2000. 59 | Cornevin: The Germans in Africa before 1918, 1969, S. 385. 60 | Vedder: Das alte Südwestafrika, 1934, S. VIII. 61 | Ebenso einflussreich wurden die Werke seines Kollegen Jakob Irle (1843-1924) und dessen zweiter Frau Hedwig Irle, die ebenfalls als Missionare der Rheinischen Missionsgesellschaft im kolonialen Namibia tätig waren und zahlreiche Abhandlungen über die Herero und Nama verfassten. Vgl. Irle: Die Herero,1906. Irle: Deutsch-Herero-Wörterbuch, 1917; Irle: Wie ich die Herero lieben lernte, 1914. 62 | Helbig/Helbig: Mythos Deutsch-Südwest, 1983, S. 57. 63 | Siiskonen: The Seven Year War, 2000, S. 344. Er führt auf S. 354 weiter aus: »The influential position that Vedder achieved in Namibian historiography is interesting. He was not a trained historian and did not use any notes in his book, nor did he include any bibliography. He freely incorporated his own collections of oral tradition, written documents, stories, literature etc.«
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reiche Neuauflagen.64 Dass die Produktion von faktualem Wissen über die Geschichte des kolonialen Namibias nicht zwingend disziplinär und institutionell begrenzt war und die Verhandlungen über die ›wahre‹ Geschichte nicht auf Orte und Texte des akademischen Diskurses beschränkt blieben, lässt sich ähnlich auch für die Kolonialhistoriografie nach 1949 konstatieren. Ein Großteil der historiografischen Erzählungen über ›Deutsch-Südwestafrika‹ wurde bis in die 1960er Jahre vor allem von Zeitzeugen verfasst, das heißt Kolonialbeamten, SiedlerInnen und Missionaren, die ihre Erlebnisse – durchaus mit wissenschaftlichem Anspruch und Anerkennung – niedergeschrieben haben. Aber auch WissenschaftlerInnen angrenzender Disziplinen, vor allem der Ethnologie, Geografie und Anthropologie, waren mit der historiografischen Beschreibung ›Deutsch-Südwestafrikas‹ und seiner Bewohner betraut. Ausschlaggebend war hierfür ein historisch gewachsenes Disziplinenverständnis. Ausgehend vom Diktum der vermeintlichen Schrift-, Staaten-, und Kulturlosigkeit wurde Afrika seit der Aufklärung als statischer und damit geschichtsloser Kontinent imaginiert, dessen Erforschung somit nicht als genuines Aufgabenfeld von HistorikerInnen betrachtet wurde. Für die Studie ergab sich hieraus die Notwendigkeit, für die Textauswahl nicht allein die institutionelle Bindung der AutorInnen zum Kriterium zu erheben, sondern die Disziplinengrenzen zugunsten einer textpragmatischen Bestimmung historiografischer Texte aufzubrechen. Für die leichtere Nachvollziehbarkeit der Argumentation ist es jedoch sinnvoll, die Spezifika der einzelnen Textgattungen zu berücksichtigen und eine heuristische Trennung beizubehalten. Die Quellenbasis setzt sich aus einem Korpus heterogener Textarten zusammen. Zuvorderst werden mit Lexika, Überblickswerken, Monografien und Aufsätzen der Jahre 1949 bis 1990 Texte analysiert, die der klassischen, das heißt institutionell verankerten, Geschichtswissenschaft zugerechnet werden können und Ausgangspunkt einer weiter gefassten Analyse sind. Für die Ermittlung des Korpus wurde auf bibliografische Verzeichnisse zurückgegriffen, um auch heute randständige oder vergessene Publikationen aufzunehmen.65 Dabei verfügen die Texte über einen unterschiedlichen Status innerhalb der akademischen Wissensproduktion sowie spezifische Darstellungs- und Reprä64 | Die Historikern Gesine Krüger bezieht sich noch 1999 zur Rekonstruktion einer »Herkunftsgeschichte der Herero« auf Heinrich Vedder, den sie als »bis heute einflußreichsten ›Südwester‹ Historiker« bezeichnet. Krüger: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein, 1999, S. 29. 65 | Bleek/Mertens: Bibliographie der geheimen DDR-Dissertationen, 1994; Eriksen/ Moorsom: An Annotated Critical Bibliography, 1989; Köhler: Deutsche Dissertationen über Afrika, 1962; Duignan/Gann: A Bibliographical Guide to Colonialism, 1973; Bridgman/Clarke: A selected annotated Bibliography, 1965; Reichskolonialbund: Kolonien im deutschen Schrifttum, 1936.
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sentationsmöglichkeiten, die für die quellenkritische Textarbeit besonders berücksichtigt werden müssen. Lexika, Überblicksdarstellungen und Handbücher reflektieren gemeinhin kanonisches Wissen. Diesen Publikationen kommt daher für die Bestimmung zeitgenössisch normativ gültigen Wissens hohe Relevanz zu. Jedoch ist Lexika und Überblicksdarstellungen aufgrund ihres spezifischen, meist langwierigen Produktionsprozesses zugleich eine Tendenz zur »Veralterung« inhärent, sie sind »immer bereits überholt«66. Daher kann keinesfalls generalisierend und simplifizierend auf eine zeitgenössische Akzeptanz der Inhalte geschlossen werden, wie in der Konfrontation mit anderen Texten herausgearbeitet wird. Monografien sind für die Analyse besonders relevante Quellen, da sie idealiter die zeitgenössisch aktuellen Forschungsdebatten und -kontroversen relativ zeitnah spiegeln und ihnen deshalb für die Verhandlung kolonialen Wissens und wissenschaftlicher Hierarchien eine entscheidende Rolle zukommt. Randständige oder heute vergessene Monografien wurden erfasst, wenn sie in mindestens einer geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift rezensiert wurden. Diese Form der Rezeption wurde als ein hinreichender Beleg für ihre Wahrnehmung im historiografischen Diskurs betrachtet. Die zentralen untersuchten Werke wurden vornehmlich von einer Generation verfasst, die nicht im Kaiserreich, der Weimarer Republik oder dem Nationalsozialismus sozialisiert wurde und sich an einer neuen, kritischen Form der Kolonialgeschichtsschreibung versuchte. Für das koloniale Namibia kommt den Werken des bundesrepublikanischen Historikers Helmut Bley und den Arbeiten des DDR-Historikers Horst Drechsler besondere Signifikanz zu. Horst Drechslers 1966 erstmals erschienene Monografie »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus (18841915)« gilt ebenso wie Helmut Bleys 1968 erschienene Arbeit »Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914« als Standardwerk oder gar als »point of reference ever since«.67 Für Sebastian Conrad stellen sie die »beiden bis heute wichtigsten Grundlagenwerke zum deutschen Kolonialismus«68 dar. Sie gaben und geben dennoch Anlass zu vielfältigen Kontroversen: »Their different though somehow similar approaches, analyses and conclusions«, so der Historiker Henning Melber, »turned into a contested area resembling certain similarities to the famous ›Historikerstreit‹.«69 Beide Monografien – fast zeitgleich in einem diktatorischen und einem demokratischen System entstanden – sind bis heute ganz entscheidend für die Verhandlung, 66 | Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1980, S. 164. 67 | Melber: How to Come to Terms with the Past, 2005, S. 139. 68 | Barth: Genozid, 2004, S. 10. 69 | Melber: How to Come to Terms with the Past, 2005, S. 139.
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Interpretation und Darstellung des kolonialen Genozids. Der Historiker Boris Barth sieht in Horst Drechsler den Erfinder der kolonialen Genozidthese. Sie sei, so Boris Barth, »von dem undogmatischen DDR-Historiker Horst Drechsler entwickelt, der als erster die entsprechenden Akten des Reichskolonialamtes auswertete«.70 Die Verortung Horst Drechslers als »undogmatisch« mag hierbei auch der Tatsache geschuldet sein, dass Boris Barth eine direkte Forschungstradition zwischen ihm und gegenwärtigen Forschungspositionen konstatiert: »Mehrere bundesdeutsche Autoren übernehmen seit den 1990er Jahren seine These.« 71 Besonders relevant ist hierbei, dass Horst Drechslers Monografie zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen durchlief, die Anfang der 1980er Jahre auf Initiative der UNO einstanden. Sowohl Horst Drechslers als auch Helmut Bleys Werke standen zugleich in Konkurrenz zu älteren, kolonialismusaffinen Werken und populärwissenschaftlichen Darstellungen, die weiterhin im wissenschaftlichen Diskurs rezipiert wurden und von der Gleichzeitigkeit verschiedener Wissensformationen zeugen. Aufsätze verfügen als wissenschaftliche Textgattung schließlich idealtypisch über das größte Potenzial, andere oder gar kontroverse Forschungsmeinungen und Erzählformen beizusteuern. Dies liegt auch daran, dass sie eine Publikationsform bieten, in der neue Standpunkte ausgetestet werden können. Obgleich der Zugang zum Medium nicht hierarchiefrei erfolgt, können gerade NachwuchswissenschaftlerInnen von der Diskussionskultur in Zeitschriften profitieren. Zudem können Aufsätze relativ zeitnah veröffentlicht werden und damit gegebenenfalls auch auf zeitgenössische Fragestellungen antworten, die außerhalb der Geschichtswissenschaft begründet sind. Dieses Aktualitätsmoment gilt für die Geschichtswissenschaft der DDR aufgrund der Vorgaben der Jahrespläne oder der zeitweise eingeschränkten Produktionsmöglichkeiten nur bedingt. Rezensionen, die in nationalen und internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht wurden, bilden schließlich eine weitere berücksichtigte Quellengattung. In Rezensionen schlagen sich historiografische Kontroversen besonders verdichtet nieder. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass mithilfe von Rezensionen der wissenschaftliche Status oder die zeitgenössisch zugesprochene (oder in Abrede gestellte) Qualität einzelner Werke nicht zweifelsfrei bestimmt werden kann. Schließlich fungieren Rezensionen auch als ein Medium, mit dem innerwissenschaftliche und persönliche Hierarchieund Machtkämpfe ausgetragen werden, die sich wiederum entscheidend auf die Durchsetzung oder Bewertung historiografischen Wissens auswirken. Rezensionen verweisen daher auch auf die Diskrepanz zwischen wissenschaftlichem Objektivitätsanspruch und machtdurchzogenen Strukturen der akade70 | Barth: Genozid, 2004, S. 128. 71 | Ebd.
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mischen Praxis. Anhand der Rezensionspraktiken zwischen DDR und BRD können ferner die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster, aber auch (wissenschafts-)politische und sprachliche Abgrenzungsmechanismen besonders gut nachvollzogen werden. Innerhalb der bereits beschriebenen Textgattungen finden sich zudem immer wieder abgedruckte Karten, Fotografien oder Zeichnungen, die teilweise mit Bildunterschriften versehen sind und über den gesamten Untersuchungszeitraum zirkulieren. Da Abbildungen und besonders Fotografien in der Regel eine beträchtliche visuelle Evidenz zugeschrieben wird, kann ihre Verwendung innerhalb historiografischer Texte sehr aufschlussreich für den Umgang mit kolonialen Sehgewohnheiten sein. Bedeutsam ist ferner, dass für das verwendete Bildmaterial zum Teil eine eigene Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte rekonstruiert werden kann, die in der Verwendung der Bilder gleichsam zitiert wird. Dies betrifft besonders Darstellungen kolonialer Gewaltverbrechen und die visuellen Belege des kolonialen Genozids. Es gilt grundlegend, nach ihrer Funktion und Verwendung als Wissensspeicher und -medium zu fragen, changierende ikonografische Referenzsysteme aufzuzeigen und das Verhältnis von Bild und Text zu bestimmen. Dies ist vor allem dann geboten, wenn visuelle Elemente in Konkurrenz zum Erzähltext stehen. Die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia war in beiden deutschen Staaten kein hermetisch abgeschlossenes Feld, sondern in vielfacher Hinsicht in Austauschprozesse eingebunden, die sich nachweislich auf die sprachliche Rekonstruktion der Vergangenheit auswirkten. Um sie in den Debatten ihrer jeweiligen Entstehungszeit zu verorten, wird sie in Beziehung zu angrenzenden Forschungsfeldern gesetzt. Hierzu gehören besonders kolonialhistoriografische Arbeiten, die im Kreis der sogenannten Markov- bzw. Fischer-Schüler entstanden. Walter Markov fungierte in der DDR für viele KolonialhistorikerInnen als wissenschaftlicher Mentor und war unter anderem als Herausgeber der Reihe »Studien zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas« für die Paradigmenbildung der Afrika-Geschichtsschreibung mitverantwortlich. In der BRD eröffneten die von Fritz Fischer vertretenen Thesen zur deutschen Hegemonialpolitik seinen Schülern zugleich neue Interpretationsmöglichkeiten der deutschen Kolonialgeschichte. Damit ist bereits angedeutet, das die Paradigmen der Kolonial- und Nationalgeschichtsschreibung in der Analyse verschränkt werden müssen, um vielfältige Bezüge zwischen Leitlinien, Debatten und Kontroversen herauszuarbeiten. In der Bundesrepublik waren neben der bereits erwähnten Fischer-Kontroverse die historiografischen Debatten um Holocaust und nationalsozialistische Gewaltherrschaft einschneidende Zäsuren für die Interpretation und Darstellung des kolonialen Genozids. Das Spektrum reicht hier von Friedrich Meineckes Monografie »Die
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deutsche Katastrophe« 72 aus dem Jahr 1946 bis zum »Historikerstreit« der späten 1980er Jahre. Für die Kontextualisierung historiografischer Texte wurden zudem internationale Texte berücksichtigt. Während die Beschäftigung mit dem kolonialen Namibia vor dem Zweiten Weltkrieg weitestgehend einem methodologischen Nationalismus verhaftet war, schien nach 1945 eine politische und wissenschaftliche Internationalisierung geboten. Gerade für die DDR waren Außenpolitik und Wissenschaft aufgrund der zunächst fehlenden außenpolitischen Anerkennung eng aufeinander bezogen. Vor allem die Texte der Geschichtswissenschaft galten als »besondere Form der Hilfe« 73 und als Möglichkeit, sich dem potenziell unabhängigen Namibia als Bündnispartner anzubieten. Für beide deutsche Staaten gilt jedoch, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Afrika durch die politische Situation des Kalten Krieges geprägt war und auch methodologisch eine Internationalisierung erfuhr. Daher wurden auch ausgewählte Werke der internationalen Historiografie, die nachweislich die deutsch-deutsche Kolonialhistoriografie beeinflusst haben, in das Korpus aufgenommen. Für die Geschichtsschreibung der DDR ist hierbei zu fragen, ob Werke aus der Sowjetunion möglicherweise verpflichtenden Vorbildcharakter für HistorikerInnen der DDR hatten.74 Exemplarisch berücksichtigt wird auch die internationale Rezeption der deutsch-deutschen Kolonialhistoriografie. Mit verschiedenen Mitteln und unterschiedlicher Reichweite wurde in beiden deutschen Staaten versucht, politisch Einfluss auf die Afrikahistoriografie zu nehmen. Für die wissenschaftliche Praxis der DDR bieten das Bundesarchiv sowie Verlags- und Universitätsarchive wichtige Aktenbestände, die sowohl politische Einflussnahme als auch deren Ausbleiben dokumentieren. Im Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv finden sich Druckgenehmigungen, Zensur- und Berufungsakten sowie programmatische Texte zur Gründung der Institute. Auch biografische Aktenbestände, die – gegebenenfalls manipulierte – Informationen zu einzelnen HistorikerInnen bieten, lassen sich hier einsehen. Dies gilt auch für die Aktenbestände des Universitätsarchivs in Leipzig, mit denen konkrete institutionsgeschichtliche Entwicklungen, Debatten und Personalentscheidungen verfolgt werden können. Im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften befindet sich das Archiv des Akademie-Verlags, das detaillierte Einblicke in Publikationsprozesse und Zensurverfahren gewährt. Für die Bundesrepublik lassen sich direkte politische Interventionen nur exemplarisch nachzeichnen. Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes 72 | Meinecke: Die deutsche Katastrophe, 1946. 73 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 8. 74 | Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn die jeweiligen Werke in deutscher Übersetzung vorliegen.
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finden sich jedoch Aktenbestände zur »International Conference on South West Africa« in Oxford, die die politische Dimension der Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia belegen. Ergänzende Akten und Materialien sind zudem in der Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte in Hamburg vorhanden. Mit ihnen kann nach dem Einfluss der sogenannten 68er-Bewegung auf die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia gefragt werden. Die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia befindet sich in ständigen Transferprozessen zu politischen und gesellschaftlichen Diskursen, die sowohl durch das akademische Umfeld als auch biografische Zugänge aufgezeigt werden. Hierbei gilt, dass WissenschaftlerInnen mit ihren Vorannahmen, Forschungsthemen, Fragestellungen, Studien und Texten maßgeblich an der Konstruktion und Naturalisierung von Machtstrukturen beteiligt sind. Edward Said führt hierzu treffend aus: »Die meisten Wissenschaften stehen unter dem Anspruch ›unpolitisch‹ zu sein, das heißt sachlich, akademisch wertfrei, unparteiisch, über Machtinteressen oder engstirnige doktrinäre Überzeugungen erhaben. Dagegen ist theoretisch vielleicht gar nichts einzuwenden, doch in der Praxis stellt sich die Sache viel problematischer dar, denn bislang hat noch niemand eine Methode gefunden, den Gelehrten aus seinem Umfeld herauszulösen – aus der (bewussten oder unbewussten) Bindung etwa an eine schichtenspezifische Weltanschauung und soziale Stellung oder an die Gesellschaftszugehörigkeit als solche.« 75
Demnach scheint es geboten danach zu fragen, welche persönlichen Werturteile und Absichten in historiografische Erzählungen einfließen. Im Hinblick auf die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia ist davon auszugehen, dass die Arbeiten von HistorikerInnen auch durch biografische und gesellschaftliche Zäsuren geprägt werden, die gegebenenfalls den Gegenstand, seine Erforschung und seine Repräsentation entscheidend beeinflussen. Zu denken wäre hier etwa an die Erfahrung des Ersten respektive Zweiten Weltkriegs, die unterschiedliche politische Sozialisation in DDR und BRD und die nationale Identität der ForscherInnen. Eine biografische Verortung ist dabei in unterschiedlichem Maße möglich, da das Archivmaterial durch Sperrfristen und divergente quantitative Überlieferungen zu einzelnen Personen sehr unterschiedlich ausfällt. Eine wichtige und zugleich problematische Quelle sind autobiografische Texte, die vor allem von HistorikerInnen der DDR nach 1990 verfasst wurden. Sie bewerten auf diese Weise die eigene Forschung aus einer ex-post-Perspektive.76 Für die westdeutsche Geschichtsschreibung gilt, 75 | Said: Orientalismus, 2009, S. 19. 76 | Büttner: The Development of African Historical Studies in East Germany, 1992; Stoecker: Socialism with Deficits, 2000; Markov: Zwiesprache mit dem Jahrhundert,
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dass überproportional viele KolonialhistorikerInnen ihre Arbeit als Teil einer politisch engagierten Wissenschaft auffassten. Es ist daher kaum verwunderlich, dass sie an Transferprozessen zwischen Wissenschaft und außerwissenschaftlichen Wissensformen beteiligt waren. Deutlich wird dies an Zeitungsartikeln, Interviews und populärwissenschaftlichen Texten. Eine besonders aufschlussreiche Quelle für die Zirkulation von Wissen zwischen wissenschaftlichen und populären Texten ist der Dokumentarfilm »Heia Safari«, der in den späten 1960er Jahren im WDR ausgestrahlt wurde. Historiker waren als wissenschaftliche Berater tätig, korrespondierten mit den Produzenten der Sendung und stellten sich als Experten in der anschließenden Fernsehdiskussion zur Verfügung. Zu fragen ist hier, inwiefern »Heia Safari« der Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse mittels des Mediums des Fernsehens diente oder aber die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik beförderte. Neben Mitschnitten, die im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart gesichtet wurden, konnte umfassendes Archivmaterial zur Sendung und zur Diskussion im WDR-Archiv ausgewertet werden. In der Geschichtswissenschaft der DDR waren vor allem literarische und wissenschaftliche Texte eng aufeinander bezogen. Romanautoren lieferten mit ihren Werken noch vor der akademischen Geschichtsschreibung literarische Gegenentwürfe zur Kolonialapologetik und stellten damit eine sozialistische Deutungsfolie bereit, die gegebenenfalls auch für historiografische Erzählungen richtungsweisend wurde. Historiker griffen wiederum mittels ihrer Tätigkeit als Gutachter – und damit faktisch mittels Zensur – korrigierend in literarische Texte ein. Diese Interdependenzen lassen Rückschlüsse auf normierte Deutungs- und Schreibpraktiken zu. Um nach Kontinuitäten und Brüchen mit dem kolonialen Wissenssystem zu fragen, werden die historiografischen Erzählungen auch immer wieder in Beziehung zu jenen Texten gesetzt, das als Deutungsrahmen für die Ereignisse bereitstand. Dabei handelt es sich um Texte, die auf unterschiedliche Weise in historiografische Erzählungen nach 1949 Eingang fanden – als Quellen, Forschungsliteratur sowie als negativ oder positiv bewertete Erzählvorlagen, die die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem kolonialen Namibia präfigurierten und in Texten und Paratexten verhandelt wurden. Neben wissenschaftlichen Darstellungen angrenzender Disziplinen ist hier vor allem die umfangreiche Memoirenliteratur von Beamten, SiedlerInnen und Soldaten eine zentrale Deutungsvorlage für die Historiografie. Relevant sind ferner Kolonialromane, die als bewusste oder unbewusste Deutungsfolie in die Histo1989; Heyden: Kolonialgeschichtsschreibung in Deutschland, 2003. Für die bundesrepublikanische Forschung lässt sich gewinnbringend auf die Zeitzeugeninterviews zurückgreifen, die Armelle Cressent führte. Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997.
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riografie Eingang fanden. Solche Transferprozesse können über den Vergleich narratologischer Strukturen aufgezeigt werden.
I.5 Theore tische und me thodische Ü berlegungen Historiografiegeschichte ist zumindest in Deutschland keine eigenständige Disziplin der Geschichtswissenschaft.77 Die verschiedenen Zugänge zur Erforschung der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsschreibung sind kaum systematisch zu überblicken. Folglich ist es besonders relevant, das Forschungsfeld ›Historiografiegeschichte‹ definitorisch einzugrenzen, um so auch die Reichweite der Analysen zu bestimmen. Der Begriff Historiografiegeschichte weist bereits zwei Bedeutungsfacetten auf. Einerseits beinhaltet er die ›Geschichte der Geschichtsschreibung‹ und andererseits die ›Geschichte der Geschichtswissenschaft‹, und damit zugleich die Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft. In der vorliegenden Studie wird Historiografiegeschichte jedoch in erster Linie als Teilgebiet der Wissensgeschichte verstanden. Damit ist auch der theoretische Rahmen der Arbeit definiert. Hinsichtlich der methodologisch-theoretischen Grundlagen und Prämissen werden dabei keine geschlossenen Konzepte verfolgt, sondern verschiedene – durchaus disparate – Überlegungen zueinander in Beziehung gesetzt. Die Wissensgeschichte fungiert hierbei als offener »Denkrahmen« 78, der eine theoretische Klammer für nachfolgende Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Geschichtsschreibung bereitstellt. Historiografiegeschichte blieb lange einem wissenschaftsgeschichtlichen Modell verhaftet, das über eine idealtypische Entwicklung der Disziplin argumentierte und eine progressive historiografische Entwicklung implizierte oder gar postulierte. Dabei wurde Historiografiegeschichte meist als eine Form der geschichtswissenschaftlichen Selbstreflexion betrieben, die der Vergewisserung der eigenen fachlichen Standards oder gar der jeweiligen weltanschaulichen Position dienen sollte. Sie blieb dabei in ihren Frage- und Forschungsansätzen wissenschaftlichen Institutionen und disziplinären Grenzen verhaftet. Dies liegt nicht zuletzt darin begründet, dass VertreterInnen des 77 | Eckel/Etzemüller: Vom Schreiben der Geschichte der Geschichtsschreibung, 2007, S. 8. 78 | Philipp Sarasin führt hierzu aus: »Zum Schluss soll nur festgehalten werden, dass Wissensgeschichte kein in Stein gemeißeltes Konzept darstellt, sondern zu einem Denkrahmen werden könnte, der den – immerhin moderaten – Materialismus und Ökonomismus der Sozial- bzw. Gesellschaftsgeschichte durch einen moderat materialistischen, das heißt auf Medien und materiale Praktiken abhebenden ›Kulturalismus‹ ersetzt.« Sarasin: Was ist Wissensgeschichte?, 2011, S. 172.
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eigenen Fachs die Geschichte ihrer jeweiligen Disziplin schrieben und sich so innerhalb einer Fortschrittsgeschichte verorteten. Kennzeichnend für dieses Konzept ist ein lineares Entwicklungsnarrativ, in dessen Folge konkurrierende methodologische Ansätze, Interpretationen und Darstellungsformen als sich ablösende Forschungsparadigmen aufgefasst und als logische – und damit zwangsläufige – Geschichte des methodischen Fortschritts stilisiert werden können. Dies trifft auch auf die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia zu, die zumeist auf eine postkolonial beeinflusste Historiografie zuläuft. Zahlreiche Arbeiten zur Wissenschafts- und Historiografiegeschichte haben jedoch gezeigt, dass der Prozess historischer Forschung nicht linear verläuft, sondern durch Brüche geprägt ist. Historische Forschung mündet nicht in eine methodisch ausgefeiltere Annäherung an die Vergangenheit.79 Zudem wurde deutlich, dass ein hermetisches Verständnis wissenschaftlichen Forschens und Schreibens an den Bedingungen historiografischen Arbeitens vorbeizielt. Gerade die Praxis der Geschichtsschreibung ist in besonderem Maße durch eine grundlegende Offenheit gekennzeichnet und muss in Anlehnung an Sebastian Conrad als ein »teiloffenes System« gedacht werden, denn die »Schnittstellen und Grenzziehungen zur Ideologie, zur Literatur, zur Erinnerungspolitik oder zu den Nachbarwissenschaften sind immer wieder neu zu verhandeln und zu definieren«.80 In ihrer deutlichsten Ausprägung zeigt sich dies in der politischen Instrumentalisierung der Geschichtsschreibung, aber bereits die Standortgebundenheit jedweder Historiografie steht im Widerspruch zur Idee einer unabhängigen Forschungs- und Schreibsituation. Für die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia gilt in besonderem Maße, dass die Deutungen der Vergangenheit in Austauschprozessen mit anderen Diskursen entstehen, politisch und gesellschaftlich verhandelt werden, und dabei innerhalb heterogener Textgattungen und Darstellungsformen zirkulieren. Hierbei sind Korrekturvorgänge kennzeichnend, sei es als Prozess des Umschreibens, aber auch der Aussonderung, der gelenkten Amnesie oder der Neuerfindung von Traditionen, wie sich paradigmatisch in der stetigen Reformulierung und Umdeutung der Ereignisse der Jahre 1904-1908 beobachten lässt. Folgt man der Prämisse, dass die historiografische Beschäftigung mit der Vergangenheit eine interessengeleitete und konstruktive Tätigkeit ist, in die unweigerlich Überzeugungen, Bedürfnisse und Konflikte der jeweiligen Gegenwart einfließen, ergeben sich ambivalente epistemologische Folgen für die Geschichtswissenschaft, die bereits seit den siebziger Jahren zu anhaltenden Debatten führen.81 Ein klassisches Wissenschaftsverständnis, das interna79 | Eckel: Vom Schreiben der Geschichte der Geschichtsschreibung, S. 18. 80 | Conrad/Conrad: Wie vergleicht man Historiographien?, 2002, S. 40. 81 | Vgl. Eckel: Der Sinn der Erzählung, 2007.
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listisch und modernisierungstheoretisch orientiert ist und dabei auf der Idee eines stetigen Zuwachses an Rationalität und Wissenschaftlichkeit gründet, darf mittlerweile als überholt gelten.82 Einige der oben skizzierten Leerstellen und Probleme wurden auch von der Wissensgeschichte problematisiert, die seit einigen Jahren klassische wissenschaftsgeschichtliche Zugänge erweitert und daher im Folgenden als theoretische Grundlage herangezogen wird. Die Potenziale einer wissensgeschichtlich orientierten Historiografiegeschichte werden vor allem in Abgrenzung zur Wissenschaftsgeschichte und deren Desideraten erläutert. Die Entwicklung und Kontroversen innerhalb der Wissensgeschichte, die sich vor allem aus der Breite des Forschungsfeldes ergeben, treten demgegenüber in den Hintergrund.83 In Abgrenzung zur klassischen Wissenschaftsgeschichte verschiebt sich zunächst der Untersuchungsgegenstand. Aus wissensgeschichtlicher Perspektive wird in erster Linie das mittels historiografischer Erzählungen repräsentierte ›Wissen‹ zum Gegenstand der Analysen, das grundlegend historisiert wird. Die Frage, »ob bestimmte Wissensbestände nun wahr oder falsch, besser oder schlechter, nützlich oder unnütz sind«84 tritt hingegen in den Hintergrund. Stattdessen wird gefragt, warum und wie Wissen entsteht. Der soziale Charakter von Wissen wird betont und davon ausgegangen, dass Wissen in sozialen Kontexten erschaffen, vermittelt und überprüft wird. Damit wird ein Wissensbegriff in Anschlag gebracht, der nicht auf eine außerdiskursive Wahrheit verweist, ferner nicht allgemeingütig ist, sondern aufgrund seiner sozialen Dimension über verschiedene soziale und historische Reichweiten verfügt und an Personen, Gruppen oder Gesellschaften gebunden ist. Hieraus ergeben sich auch soziologische Implikationen für das Verständnis der akademischen Wissensproduktion. Ludwik Fleck hat bereits 1935 in »Die Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache« dargelegt, dass die Generierung akademischen Wissens als eine soziale Tätigkeit aufgefasst werden müsse.85 Um diese Dimension zu erfassen, bietet Ludwik Fleck mit den Begriffen 82 | Vgl. Schneider: Wissensgeschichte, nicht Wissenschaftsgeschichte, 2001; Vogel: Von der Wissenschafts- zur Wissensgeschichte, 2004; Chassé/Gugerli: Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, 2012. 83 | Vgl. ebd., S. 85. Dies liegt auch in der Entwicklung der Wissensgeschichte begründet, unter deren disziplinenübergreifendem Forschungsprogramm heterogene Ansätze subsumiert werden. Zu den wichtigsten Impulsgebern gehören Ludwik Fleck, Thomas S. Kuhn, Michel Foucault, Philipp Sarasin sowie die derzeit prominenten Vertreter Bruno Latour und Hans-Jörg Rheinberger. 84 | Sarasin: Was ist Wissensgeschichte, 2011, S. 165. 85 | Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1980. Vgl. Etzemüller: »Ich sehe was, was Du nicht siehst«, 2007, S. 65.
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»Denkkollektiv« und »Denkstil« zwei heuristische Modelle an, die dabei helfen können, die soziale Dimension »wissenschaftlicher Tatsachen« zu erfassen. Das »Denkkollektiv« bezeichnet die soziale Einheit von WissenschaftlerInnen eines Fachs, die sich etwa im Rahmen von historiografischen Schulen ausbilden. Der »Denkstil« bezeichnet die sozial akzeptierten Voraussetzungen und Vorannahmen, auf denen das Kollektiv sein Wissensgebäude auf baut, also die Prämissen, Theorieansätze, Methoden und Darstellungsweisen, die für die Lösung wissenschaftlicher Probleme als richtig gelten. Mit dem Begriff des »Denkzwangs« umreißt Fleck die soziale Abhängigkeit der individuellen ForscherIn von ihrem »Denkkollektiv« und dessen »Denkstil«. Erst »über den Vergleich der eigenen Arbeitsweise mit anderen Forschern des Kollektivs«, so argumentiert Ludwik Fleck, »ergibt sich als soziologisch vermittelte Erfahrung des Denkzwangs so etwas wie wissenschaftliche Tatsachenerkenntnis«.86 Aufgrund der sozialen Dimension und der offenen Praxis der Geschichtsschreibung wird für die Analyse historiografischer Texte ein Wissensbegriff in Anschlag gebracht, der Zirkulationsprozesse mit anderen Wissensformen berücksichtigt. Die zentrale Frage, wie und warum sich akademisch verfasstes Wissen verändert, über lange Zeit stagniert oder verworfen wird, lässt sich aus wissensgeschichtlicher Perspektive nicht binnendisziplinär beantworten. Die Wissensgeschichte gründet auf der Annahme, dass Wissen zwar »mit zumeist akademisch bzw. universitär verfasster Wissenschaft« verbunden ist, aber dennoch als Gegenstand gedacht werden muss, der »keinen klaren, das heißt entweder logisch-systematisch definierbaren oder aber sozial distinkten Ausgangspunkt hat, dem keine definierten Grenzen zukommen und auch kein eindeutig bestimmter institutioneller oder gesellschaftlicher Ort«.87 Begründet wird dies mit der potenziellen Zirkulation von Wissen über gesellschaftliche, soziale, institutionelle, politische und geografische Grenzen hinweg.88 Während solche Austausch -und Zirkulationsprozesse innerhalb einer an Institutionen und Disziplinen orientierten Wissenschaftsgeschichte weitestgehend unberücksichtigt bleiben, stellen sie innerhalb wissensgeschichtlicher Perspektiven das zentrale theoretische Fundament dar, um Wandlungsprozesse zu verstehen. Als zentrales Resultat dieser Überlegungen werden traditionelle Grenzziehungen der Wissenschaftsgeschichte und ihre binnendisziplinäre Perspektive aufgelöst und stattdessen »der forschende Blick über die Grenzen von Disziplinen sowie über die Grenzen zwischen dem akademischen Wissensbetrieb und populären Wissenskulturen hinweg« angestrebt.89 86 | Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1980, S. XXXVI. 87 | Sarasin: Was ist Wissensgeschichte, 2011, S. 166. 88 | Vgl. ebd., S. 164. 89 | Chassé/Gugerli: Wissensgeschichte. Eine Standortbestimmung, 2012, S. 86.
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Diese Überlegungen sind besonders für die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia aufschlussreich, da sich das in historiografischen Erzählungen formulierte und repräsentierte Wissen »trotz seiner intrinsischen Verbindung mit zumeist akademisch bzw. universitär verfasster Wissenschaft«90 in stetigen – synchronen und diachronen – Zirkulationsprozessen befindet. Dies wird anhand der Schnittstellen zu anderen Disziplinen, Textgattungen und dem Feld der Erinnerungspolitik und -kultur besonders deutlich. Aber auch geografische und politische Grenzen, die sich – gegebenenfalls trotz gegenteiliger politischer Bemühungen – als überwindbar erwiesen, können theoretisch begründet hinterfragt werden. Auf eine solche Entgrenzung des Wissensbegriffs und seiner Untersuchung folgen jedoch zugleich praktische Probleme, denn eine Engführung des Untersuchungsgegenstandes scheint kaum mehr möglich. Um den Gegenstand der Untersuchung nicht beliebig auszudehnen, wird die akademische Geschichtsschreibung als Zentrum und Knotenpunkt historiografischen Wissens konzipiert. Eine solche Perspektivierung lässt sich auch theoretisch innerhalb der Wissensgeschichte begründen. Auch wenn »Wissen zirkuliert« wird es nach Philipp Sarasin nicht zwingend »ortlos«, denn es ist eine »unvermeidliche Verhakung des Wissens mit seinen wechselnden Orten und ›partialen Perspektiven‹«91 zu konstatieren. Folglich kann mittels wissensgeschichtlicher Überlegungen ein Wissensbegriff verwendet werden, der einerseits die historischen und sozialen Spezifika wissenschaftlich generierten Wissens – im Sinne eines zentralen Ortes – berücksichtigt und andererseits eine institutionelle und disziplinäre Engführung auf bricht. Innerhalb einer so verfassten wissensgeschichtlichen Perspektive kommt der Medialität und den Repräsentationsformen von Wissen entscheidende Bedeutung zu, denn Wissen ist nicht nur auf Akteure und Institutionen angewiesen, sondern an Speicher und Medien der Vermittlung gebunden, die jedoch keine neutralen Hüllen oder Vehikel darstellen. Vielmehr wird Wissen durch die Charakteristik und Logik des jeweiligen Mediums geformt.92 Das Medium ist damit selbst konstitutiver Teil des Wissens. Historiografisches Wissen über die Vergangenheit ist an Sprache und sprachliche Darstellungsmedien gebunden, denn die Erforschung, Darstellung und Deutung der Vergangenheit kann nicht sprachunabhängig vollzogen werden, da der Gegenstand der Geschichtswissenschaft – die Geschichte – nicht außerhalb ihrer Texte existiert. Texte müssen nicht zwangsläufig als Buch oder Aufsatz gedacht werden, auch Filme, Ausstellungen oder Vorträge können als solche verstanden werden. Diese Texte eint, dass sie mittels einer 90 | Sarasin: Was ist Wissensgeschichte, 2011, S. 166. 91 | Ebd. 92 | Vgl. ebd.
I. Einleitung
Erzählung kontingente vergangene Ereignisse zu einer sinnvollen Einheit verbinden, die als ›Geschichte‹ Wissen über die Vergangenheit vermittelt. Historisches Wissen ist damit vom zentralen Medium seiner Vermittlung, der historischen Erzählung, nicht zu trennen. Historiografische Texte entfalten ihre Wirkung nicht allein durch das, was sie erzählen, sondern auch wie sie es erzählen. In diesem Sinne sind narrative Formen nicht nur Bedeutungsträger, sondern sind selbst Teil der narrativen Sinnbildung und formen als Medium die Logik und Inhalte historiografischen Wissens. Historiografische Narrative können als Repräsentationen aufgefasst werden, die als »Organisationsformen des Wissens« fungieren.93 Welche Bedeutung dem Erzählen im Prozess der Vergangenheitskonstruktion und -darstellung zukommt und welche Folgerungen daraus für den epistemologischen Status historiografischen Erzählens abgeleitet werden müssen, wurde im Zuge des Lingustic Turn intensiv diskutiert. Innerhalb der zeitweilig hitzigen Diskussion wurde besonders Hayden Whites Position immer wieder zum Anstoß heftiger Kontroversen. Hayden White stellte die poetologischen Dimensionen der Geschichtsschreibung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er stellt dabei keineswegs die ontologische Faktizität historischer Ereignisse in Abrede, verweist aber darauf, dass ihre vergangene Existenz in einem epistemologischen Sinn nicht als Garant für die »Wahrhaftigkeit« historischer Erkenntnis bürgt, da eine sprachunabhängige, mimetische Abbildung unmöglich ist. Für jeden scheinbar mimetischen Text kann laut White gezeigt werden, »dass er etwas bei der Beschreibung seines Gegenstandes ausgelassen oder eingefügt hat, das irgendein Leser mit mehr oder weniger Berechnung als unwesentlich ansieht, für das, was er für eine adäquate Beschreibung hält. Jede Mimesis erweist sich bei genauerer Analyse als verzerrt.«94 Die narrative Bedingtheit historiografischer Texte führt nach Hayden White dazu, dass Geschichtsschreibung immer eine »Fiktion des Faktischen« erschaffe, die auf einer Referenzillusion basiert, da die ›Geschichte‹ erst in der retrospektiven Deutung und durch die sinnhafte Anordnung kontingenter Ereignisse innerhalb einer narrativen Struktur konstruiert wird. Diese narrativen Deutungsprozesse sind insofern »erfunden«, als dass sie kulturellen Erzählmustern folgen, die nicht in der historischen Realität begründet sind.95 Besonders für die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia gilt, dass sich inhaltliche 93 | Ankersmit: Die drei Sinnbildungsebenen der Geschichtsschreibung, 1997, S. 105. 94 | White: Auch Klio dichtet, 1986, S. 9. 95 | Diese Thesen führte Hayden White vor allem in seinem einflussreichen Werk »Metahistory« aus dem Jahr 1973 an ausgewählten historiografischen Werken des 19. Jahrhunderts aus. Er teilte hierin die untersuchten Werke in vier kulturspezifische Plotstrukturen – Romanze, Tragödie, Drama, Komödie – und dazu gängige Erzählmittel ein. White: Metahistory, 1973.
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und rhetorische Spezifika nicht ohne den Einfluss anderer Erzähltexte erklären lassen, die über ein bestimmtes narratives und rhetorisches Repertoire verfügen, das sich in Form von intertextuellen Bezügen in der Geschichtsschreibung wiederfindet. Dies betrifft nicht nur narrative Strukturen, sondern das gesamte Spektrum der sprachlichen Repräsentation von Vergangenheit. Der kulturell spezifische Konstruktionscharakter historiografischen Erzählens verweist auch auf den Konnex von Macht und Wissen. Schließlich sind die sprachlichen Darstellungsformen der Geschichtsschreibung nicht neutral, sondern spielen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung und Stabilisierung kolonialer Wissens- und Machtverhältnisse. Aber auch die Texte, die dezidiert eine antikoloniale oder rassismuskritische Schreibweise verfolgen, können an dieser Absicht scheitern, denn »[d]er akademischen Ordnung des Wissens sind mithin Dichotomien bereits eingeschrieben, die als ›blinde Passagiere‹ den Gang der Erkenntnis nachhaltig beeinflussen«.96 Diese »blinden Passagiere« schlagen sich in historisch gewachsenen, wissenschaftlich scheinlegitimierten und naturalisierten Begriffen, Denk- und Erzählfiguren nieder, die für die Rezipienten und Produzenten in der (ehemaligen) Metropole als natürlich erschienen und nicht hinterfragt wurden.97 Um sowohl »blinde Passagiere« als auch die Stabilisierung und Destabilisierung von Machtverhältnissen zwischen Metropole und (ehemaligen) Kolonien in historiografischen Texten aufzuzeigen, wird auf Überlegungen postkolonialer Studien zurückgegriffen. Obwohl sich postkoloniale Theorien aus heterogenen methodologischen Ansätzen zusammensetzen, sind trans- und interdisziplinäre Anschlüsse an die Literatur- und Kulturwissenschaften bis heute prägend. Sie sind in der Entwicklung der postkolonialen Studien selbst begründet, deren Anfänge in den Commonwealth Literary Studies zu verorten sind.98 Diese Nähe kennzeichnet auch die Schlüsseltexte der postkolonialen Theorie, denn »[b] ezeichnenderweise haben Vordenker der postkolonialen Studien wie Edward W. Said, Homi Bhabha, Gayatri C. Spivak und Walter Mignolo einen literaturwissenschaftlichen Hintergrund«.99 Modifizierte erzähltheoretische Modelle und Analysekategorien aus der Literaturwissenschaft und Narratologie prägen daher das grundsätzlich offene methodische Set postkolonialer Theorieangebote. Sie eint zugleich das Ziel, asymmetrische Machtkonstellationen und hierarchische Repräsentationen zu beschreiben und zu analysieren.100 In Anbetracht des zugrunde gelegten narratologischen Verständnisses historiografischer Texte verspricht gerade die theoretische und methodische Nähe zur 96 | Conrad: Doppelte Marginalisierung, 2002, S. 151. 97 | Vgl. Said: Orientalismus, 2009, S. 32f. 98 | Varela/Dhawan: Postkoloniale Theorie, 2005, S. 22. 99 | Kaltmeier: Postkoloniale Geschichte(n), 2012, S. 203f. 100 | Vgl. Birk/Neumann: Go-between, 2002.
I. Einleitung
Literaturwissenschaft aufschlussreiche Ergebnisse. Da der hier herangezogene Korpus aus heterogenen Textgattungen besteht, wird nicht versucht, die Analyse mit einem einzigen, geschlossen theoretischen Konzept postkolonialer Theorieüberlegungen zu bewerkstelligen. Ebenso wenig soll versucht werden, die untersuchten Texte über das koloniale Namibia an der gegenwärtigen Vorstellung einer ›richtigen‹ Schreib- und Darstellungsweise zu messen. Stattdessen werden die Erzählungen historisiert und nach ihrer zeitspezifischen Gültigkeit gefragt. Für die Analyse werden anhand von Metanarrativen, aber auch an einzelnen Erzählsequenzen und Begriffen koloniale Vorstellungswelten aufgezeigt, die der umfassenden Legitimation des Kolonialismus und des kolonialen Genozids dienten. Der historische Vergleich ermöglicht es, auf Veränderungen zu verweisen. Hilfreich für kleinteilige, begriffliche Analysen sind die Arbeiten Susan Arndts und Antje Hornscheidts, die sich in den letzten Jahren mit der deutschen Lexik befassten und die Bedeutung einzelner Wörter und Begriffe für die Konstruktion, aber auch kritische Intervention des hegemonialen Denkens aufzeigten.101 Für die Analyse und kritische Dekonstruktion visueller Quellen kann ebenfalls auf methodische Überlegungen der postkolonialen Studien zurückgegriffen werden.102 Die Bedeutung des ›kolonialen Blicks‹, die dichotome Konstruktion des vermeintlich ›Anderen‹, aber auch Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten sind der Ausgangspunkt für die Untersuchung von visuellen Repräsentationspraktiken. Besonders relevant ist im Hinblick auf die untersuchten Bilder, in welcher Wissenstradition die Visualisierung kolonialer Herrschaftsvorstellung steht, welche Implikationen sich hieraus für die Verwendung im historiografischen Diskurs ergeben und mit welchen Mitteln in historiografischen Texten gegebenenfalls subversive Lesarten eröffnet werden. Auch Karten, die mit vermeintlich visueller Evidenz Raum- und Landschaftsimagination stützen oder unterlaufen, werden in diesem Sinne Gegenstand der Analyse.103 Sprache ist kein neutrales Mittel zur Beschreibung einer objektiv gegebenen Wirklichkeit, sondern entscheidend an der Konstruktion von Machtverhältnissen beteiligt. Diese Prämisse gilt auch für die Analyse historiografischer Erzählungen, die ebenfalls sprachlich vollzogen wird und Dominanzverhältnisse nicht nur sichtbar macht, sondern gegebenenfalls selbst (re-)produziert. Dies liegt bereits in der eigenen Forschungsposition begründet, deren eurozentri101 | Arndt: Wie Rassismus aus Wörtern spricht, 2011; Arndt/Hornscheidt: Afrika und die deutsche Sprache, 2009. 102 | Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, 2009; Zeller: Bilderschule der Herrenmenschen, 2008; Zeller: Weiße Blicke – Schwarze Körper, 2010. 103 | Noyes: Colonial Space, 1992; Weigel: Zum »topographical turn«, 2002; Döring: Spatial Turn, 2009.
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scher Ausgangspunkt zwar kritisch reflektiert, jedoch nicht aufgelöst werden kann. Begriffe und Konzepte, die Teil kolonialer Wissensordnungen und Wirklichkeitskonstruktionen sind, werden daher in einfache Anführungszeichen gesetzt oder – soweit möglich – nicht verwendet.104 Eine Schwierigkeit ergibt sich jedoch zwangsläufig daraus, dass die Dekonstruktion oder Problematisierung von kolonialen Vorstellungswelten oder einzelnen Begriffen nicht zu ›neutralen‹, außerdiskursiven Beschreibungsmöglichkeiten führt. Auch zentrale analytische Begriffe können unwillkürlich (post-)koloniale Sinn- und Bedeutungswelten stabilisieren. Dies gilt etwa für den Versuch einer ›neutralen‹ Bezeichnung der Schwarzen Bewohner des kolonialen Namibias. Er verweist auf eine der zentralen Debatten innerhalb postkolonialer Studien sowie der Critical-Whiteness-Bewegung. Gefordert wird eine Benennungspraxis, die keine Hierarchie- und Machtdiskurse reproduziert.105 Eine Möglichkeit diese Forderung einzulösen besteht gegebenenfalls darin, konsequent Eigenbezeichnungen zu verwenden, anstatt über Fremdbezeichnungen koloniale Benennungs- und Machtpraktiken zu reproduzieren. Im Falle des kolonialen Namibias entsteht hierbei die Schwierigkeit, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zur Selbstbezeichnung zum Teil Begriffe verwenden, die dem kolonialen Kontext entstammen. Da sie im Zuge der Aneignung und Subversion kolonialer Sprache jedoch Teil postkolonialer Identitäten geworden sind, hat hier eine Begriffsverschiebung stattgefunden, die den Gebrauch der Termini weitestgehend unproblematisch macht. Zur Benennung größerer Gruppen wird auf die Bezeichnung ›AfrikanerInnen‹ zurückgegriffen, die in Analogie zum Begriff der ›EuropäerInnen‹ Verwendung findet, und damit als neutral verstanden wird. Die Darstellung und Interpretation kolonialer Gewaltverbrechen ist eines der zentralen Untersuchungsfelder der Analyse. Auch hier gilt, dass das dabei verwendete sprachliche Analyseinstrumentarium nicht neutral ist, sondern auf bestimmte Forschungspositionen und durchaus subjektive politische Entscheidungen verweist. In der Analyse werden die kolonialen Gewaltverbrechen an den Herero, Nama und Damara als kolonialer Genozid bezeichnet. Dies schließt an die aktuelle Forschungsposition an, der in den letzten Jahren eine intensive Debatte vorausging. Im Zentrum stand dabei die kontroverse Frage, ob und inwiefern es sich bei diesen Ereignissen um einen Genozid handelte, die Gewaltverbrechen im kolonialen Namibia als Vorläufer des nationalsozialistischen Genozids gelten müssen und der besonders im deutschen Forschungskontext spezifisch konnotierte Begriff des Genozids auf die Ereignisse Anwendung finden soll. Zu bedenken ist ferner die grundlegende Kritik an 104 | Auch dieses Vorgehen ist nicht unwidersprochen. Vgl. Dusini/Edlinger: In Anführungszeichen, 2012; Ashcroft: On the Hyphen, 1996. 105 | Vgl. Arndt: Wie Rassismus aus Wörtern spricht, 2011.
I. Einleitung
der Verwendung des Genozidbegriffs zu analytischen Zwecken. Dies gilt besonders dann, wenn der Begriff auf Ereignisse angewendet wird, die vor Inkrafttreten der Genozidkonvention stattfanden. Während einige AutorInnen kritisieren, dass »Genozid und Völkermord politische Kampf begriffe von begrenztem historischen Wert«106 sind und sich daher für eine erhebliche Differenzierung aussprechen, problematisieren andere die moralischen Implikationen. Boris Barth etwa merkt an, dass viele AutorInnen den Begriff gerade deshalb verwenden, weil er »von generellem gesellschaftlichem Interesse ist und das Gewicht von machtvoller moralischer Sanktion mit sich trägt.«107 Die Diskussion um die Einordnung und Benennung der Ereignisse im kolonialen Namibia fiel deshalb zunächst ausgesprochen kontrovers aus. In der gegenwärtigen geschichtswissenschaftlichen Debatte lässt sich jedoch ein weitestgehender Konsens feststellen.108 Zudem spiegelt der Begriff die gegenwärtige Deutung der Vergangenheit aus Betroffenenperspektive. Für die historiografische Analyse geht mit der Bezeichnung kolonialer Genozid dennoch die Gefahr einher, die aktuelle Forschungsposition – und die mit ihr verhandelten erinnerungspolitischen und juristischen Positionen – auf den Untersuchungsgegenstand zu projizieren. Folglich kann der Eindruck einer ex-post-Bewertung der Phänomene entstehen, die in der Analyse erst untersucht werden sollen. Da diese Problematik jedoch nicht aufgelöst werden kann, wird der Begriff reflektiert, aber dennoch verwendet.
106 | Barth, Genozid, 2004, S. 45. 107 | Ebd., S. 25. 108 | Gesine Krüger konstatiert: »Der Begriff Genozid zur Kennzeichnung der Politik von Trotha ist in der wissenschaftlichen Literatur bis auf wenige Ausnahmen allgemein übernommen worden.« Krüger, Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein, 2007, S. 67.
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Zwischen Amnesie und Kontinuität
II.1 K oloniale A mnesie ? Im Jahr 1950 stellte Percy Ernst Schramm fest, dass die deutsche Kolonialgeschichte »an Interesse verloren hat«1, und beschrieb damit zugleich eine grundlegende, internationale Entwicklung. Diese Tendenz war Teil eines historiografischen Trends nach dem Zweiten Weltkrieg und der Katastrophe des Nationalsozialismus, der sich in den 1950er und 1960er Jahren weltweit abzeichnete, »da im Zuge der fortschreitenden Dekolonisation vielen Forschern Kolonialismus als etwas Überholtes galt, mit dem man sich nicht mehr wissenschaftlich auseinanderzusetzen brauchte«.2 In der Bundesrepublik wurde die Gegenwart und Geschichte des Kolonialismus als ein Thema betrachtet, das vornehmlich jene Staaten betraf, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Kolonialmächte direkt mit den Unabhängigkeitsbewegungen konfrontiert waren.3 Die Erinnerung an die eigene koloniale Vergangenheit war hingegen durch »imperiale Nostalgie«4 geprägt, so dass Kaiserreich und Kolonialismus für einen positiven Identitätsentwurf bemüht werden konnten, der vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus dringend nötig erschien. Dies galt vor allem für jene Männer, deren militaristisches Selbstbild durch den Nationalsozialismus Risse bekommen hatte. Sofern sie im Kaiserreich in den Kolonien tätig waren, konnten sie sich seit Juni 1956 etwa im »Traditionsverband deutscher Schutz- und Überseetruppen« (TSÜ), um ein positives 1 | Schramm: Deutschland und Übersee, 1950, S. 8. 2 | Lindner: Neuere Kolonialgeschichte, 2011, S. 8. 3 | »Bis weit hinein in die Nachkriegszeit« seien »die Deutschen«, so Birgit Rommelspacher, »an den Diskussionen um Dekolonisierung, wie sie teilweise in den anderen westlichen Industrienationen geführt wurden« nicht beteiligt gewesen. Rommelspacher: Dominanzkultur, 1995, S. 50. 4 | Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger, 2006, S. 298.
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öffentliches Andenken an den deutschen Kolonialismus bemühen. Der TSÜ fungierte als Sammelbecken der Afrikaveteranen der Bundesrepublik und resultierte aus einem Zusammenschluss verschiedener »Afrikavereine«, die »in der direkten Tradition der Kolonialkriegervereine der Republik und des Nationalsozialismus« standen.5 Erzählungen, die die vermeintlich positiven Leistungen des deutschen Kolonialismus mit den kolonialen Topoi Infrastruktur, Kultur und Modernisierung betonten, waren zunehmend willkommen, um die Bundesrepublik den jungen afrikanischen Nationalstaaten als Bündnispartner anzubieten. Sie wurden durch die meinungsführenden Printmedien gestützt. Das grundlegend neokoloniale gesellschaftspolitische Klima fand nicht zuletzt Niederschlag in der bundesrepublikanischen Haltung zur sogenannten ›Südafrika-Frage‹, das heißt, dem politischen und wirtschaftlichen Umgang mit dem südafrikanischen Apartheidregime. Obgleich die deutsche Kolonialgeschichte vor diesem Hintergrund ein randständiges Thema war, bleibt dennoch zu fragen, ob sich tatsächlich von einer vollständigen Verdrängung der Kolonialvergangenheit in den Nachkriegsjahrzehnten sprechen lässt. Die »imperiale Nostalgie«6 verweist bereits auf einen parallelen Diskurs. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Monika Albrecht schlägt für die »These von der (post-)kolonialen Amnesie« der westdeutschen Nachkriegsjahrzehnte vor, von Generalisierungen Abstand zu nehmen und »die Frage dahingehend umzuformulieren, wer den deutschen Kolonialismus tatsächlich verdrängt hat – und wer nicht« [Hervorhebung im Original].7 Dies gilt auch für die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung. So widerspricht etwa der Historiker Hartmut Pogge von Strandmann der Einschätzung Percy Ernst Schramms und betont im Jahr 1967 im Hinblick auf die historiografische Beschäftigung, das Thema sei bereits in den 1950er Jahren »one of considerable concern in Germany and of a corresponding interest among historians«.8 Schließlich, so Hartmut Pogge von Strandmann, spielten die »four African territories« bereits damals eine »important role in German life and politics«9 und wurden schon in den 1950er Jahren als Forschungsthema entdeckt. Möglich wurde dies auch, weil die offiziellen Quellen des deutschen Kolonialismus in den 1950er Jahren zugänglich wurden. Hartmut Pogge von Strandmanns Einschätzung, dass die »German official archives were for 5 | Erst seit 1983 werden auch Mitglieder aufgenommen, die nicht der »Schutztruppe« angehörten. 6 | Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger, 2006, S. 298. 7 | Albrecht: Europa ist nicht die Welt, 2008, S. 47f. Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Stefanie Michels. Vgl. Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, 2009, S. 468. 8 | Pogge von Strandmann: The German Empire in Africa, 1967, S. 709. 9 | Ebd.
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the first time thrown open to unrestricted use«10, muss allerdings relativiert werden. Die zentralen Quellenbestände des Reichskolonialamtes, die 1955 nach Potsdam und Merseburg gelangten, waren für westdeutsche HistorikerInnen nur bedingt zugänglich, da sie der Kontrolle der DDR unterstanden.11 Für die These der ›Kolonialamnesie‹ ist zudem relevant, dass die Ergebnisse der frühen Forschungsbemühungen bis zum Ende der 1960er Jahre kaum sichtbar wurden, so dass im ersten Nachkriegsjahrzehnt tatsächlich eine Leerstelle innerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft entstand, die vor allem durch die Wiederauflage und Zirkulation von Gesamtdarstellungen, Lexika, Nachschlagewerken sowie von wissenschaftlichen und populären Erzählungen gefüllt wurde. Noch 1970 wurde moniert, dass Gesamtdarstellungen fehlten und diese Lücke nur im Rückgriff auf Werke der 1930er, 1940er und 1950er Jahre gefüllt werden könnte.12 Von der verzögerten geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus profitierten ältere, männliche Autoren, die ihre Karrieren nach 1949 fortsetzten. Mit dem Linguisten und Ethnologen Diedrich Westermann und dem ehemaligen stellvertretenden Gouverneur des kolonialen Namibias, Oskar Hintrager, werden zwei Autoren vorgestellt, die beide in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg historiografische Texte vorlegten, in denen die Geschichte des kolonialen Namibias verhandelt wurde. Obgleich Diedrich Westermann und Oskar Hintrager keine Historiker waren, sie in unterschiedlichen Kontexten zu verorten sind und ihre Texte aus heutiger Perspektive den Regeln des historiografischen Diskurses nicht genügen, wurde ihnen zeitgenössisch ein hoher Wahrheitsanspruch zugeschrieben. Entscheidend war hierfür nicht nur die institutionelle Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Vielmehr wird im Folgenden argumentiert, dass Diedrich Westermann und Oskar Hintrager in ihren Texten Erzähl- und Darstellungsformen verwendeten, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch für die Ausbildung und Beglaubigung 10 | Ebd. 11 | »Für ausländische Benutzer, etwa aus den USA oder Großbritannien, schien die Arbeit im zentralen Staatsarchiv der DDR in Potsdam nicht so komplikationsreich gewesen zu sein, wie für einige bundesdeutsche Historiker.« Heyden: Die Afrikawissenschaft in der DDR, 1999, S. 261. 12 | »An originalen deutschsprachigen Werken dieser Art besaßen wir in der Vergangenheit nur die ›Kulturgeschichte Afrikas‹ von Leo Frobenius (1933, Neuauflage 1954), ›Die Völkerkunde von Afrika‹ von H. Baumann, R. Thurwald und D. Westermann (1940), deren kulturgeschichtlicher Teil demnächst in einer völligen Neubearbeitung von H. Baumann herausgegeben wird: dann das von H.A. Bernatzik herausgegebene dreibändige Werk ›Afrika. Handbuch der angewandten Völkerkunde‹ (1947) und die ›Geschichte Afrikas. Staatenbildung südlich der Sahara‹ (1952) von D. Westermann.« Salzner: Rezension zu: Cornevin, 1970, S. 137.
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›akademischer‹ und ›populärer‹ Wissenstraditionen waren. Gestützt wurden diese Texte durch Netzwerke, die die Zäsur des Zweiten Weltkrieges unbeschadet überstanden hatten. Hieraus ergibt sich der erste Fragekomplex: In welchem Verhältnis standen die Textwelten der 1950er Jahre zu kolonialen oder kolonialrevisionistischen Texten, inwiefern war das in sprachlich-narrativen Formen vermittelte Wissen auch nach 1949 anschlussfähig und welche Rolle spielten Denkkollektive und Denkstile für die Durchsetzung von Wissen? Ferner soll so die Zirkulation von Wissen über die politische Zäsur des Zweiten Weltkriegs hinweg verfolgt werden. Diese Frage bedingt den Rückgriff auf Texte über das koloniale Namibia, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Sie werden im Hinblick auf Genretraditionen, koloniale Narrative, sprachliche Muster, Topoi und Darstellungskonventionen postkolonial gelesen und untersucht. Dabei wird gezeigt, dass sprachlich-narrative Formen nicht nur als Bedeutungsträger fungieren, sondern selbst konstitutiver Teil historiografischen Wissens sind.
II.2 A k ademische und popul äre W issenstr aditionen Akademisches Wissen Innerhalb der akademischen Wissenstradition lässt sich der Ethnologe und Linguist Diedrich Westermann (1875-1956) verorten, der 1952 die »Geschichte Afrikas. Staatenbildung südlich der Sahara« veröffentlichte. Das Werk wurde international rezipiert und erlangte bald den Status eines kanonischen Standardwerkes. Noch 2010 wird Diedrich Westermann als Gründungsfigur der deutschen Afrikanistik präsentiert: »Wer in deutscher Sprache über die Geschichte Afrikas schreiben will«, so der Politikwissenschaftler Franz Ansprenger in seinem seit 2002 mehrfach überarbeiteten und aktualisierten Handbuch »Geschichte Afrikas«, »steht in der Nachfolge Diedrich Westermanns (1887-1956), der als erster evangelischer Missionar nach Togo ging, Professor für afrikanische Sprachen an der Berliner Universität wurde und 1939 mit der Arbeit an einem Buch begann, das erst 1952 als Geschichte Afrikas mit dem Untertitel Staatenbildung südlich der Sahara gedruckt wurde«.13 Das Kapitel »Südwestafrika. Herero und Hottentotten« steht innerhalb des zwölfteiligen Werkes gleichwertig neben der historiografischen Darstellung anderer Regionen. Gerade aufgrund des handbuchartigen Wissenscharakters des Kapitels kann Diedrich Westermanns »Geschichte Afrikas« im Folgenden als exemplarisch für die akademische Wissenstradition über die Geschichte des kolonialen Namibias gelten. Sie wurde wesentlich durch Disziplinen außerhalb der Geschichtswissenschaft geprägt, denn traditionell wurde der Kolonialge13 | Ansprenger: Geschichte Afrikas, 2010, S. 117.
II. Kolonialgeschichte(n) schreiben nach 1945
schichtsschreibung innerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft wenig Aufmerksamkeit zuteil. Entscheidend dafür war das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft, die sich kaum mit zeithistorischen Themen befasste und die Kolonialgeschichte angrenzenden Disziplinen zuordnete. Ausgehend vom Diktum der vermeintlichen Schrift-, Staaten-, und Kulturlosigkeit wurde Afrika seit der Aufklärung als statischer und damit geschichtsloser Kontinent imaginiert, und in ein dichotomes Verhältnis zu den als dynamisch und historisch gewachsenen ›Kulturvölkern‹ gesetzt. Die Produktion von klassifizierendem Wissen über die ›Anderen‹, die Rekonstruktion ihrer vermeintlich rudimentären Geschichte oder gar ihre ahistorische Beschreibung wurden in der Folge nicht als genuiner Gegenstand der mit dem ›Westen‹ befassten Wissenschaften verstanden.14 So fanden zahlreiche »blinde Passagiere«15 als dichotome Vorannahmen und Stereotype in Narrativen, Kategorien und Begriffen ihren Niederschlag und wurden mit Hilfe der »akademischen Ordnung des Wissens«16 noch verstetigt. Diese disziplinäre Zuweisung wurde durch die politische Zäsur des Zweiten Weltkriegs zunächst nicht grundlegend infrage gestellt. Franz Ansprenger resümierte etwa hinsichtlich der Afrikahistoriografie in »Afrika heute«, dem Publikationsorgan der Deutschen Afrika Gesellschaft, im Jahr 1957: »Tatsächlich bauen die klassischen Darstellungen (von deutschen Autoren sei nur Westermann an dieser Stelle genannt) auf diesen Quellen auf, sie sind infolgedessen häufig nicht das Werk von Fach-Historikern, sondern von Gelehrten aus anderen Disziplinen.«17 Und auch als sich die Kolonialgeschichte zunehmend als Forschungsthema etablierte, basierten die Arbeiten auf Forschungsergebnissen angrenzender Disziplinen: »Die Zusammenarbeit mit Vertretern dieser Wissenschaftszweige, insbesondere der Völkerkunde, der Vorgeschichte und der Sprachwissenschaft, wird auch künftig für den an Afrika interessierten Historiker oder Politikwissenschaftler unerläßlich und in höchstem Grade fruchtbringend sein; er kann nur hoffen, daß die historiographische Tradition in diesen Disziplinen auch in Zukunft gewahrt wird.«18 In dieser wissenschafts- und wissensgeschichtlichen Entwicklung liegt unter anderem begründet, dass Diedrich Westermann als Linguist und Ethnologe auch in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkrieges eine vielbeachtete Geschichte Afrikas vorlegte, die bereits fünf Jahre nach Erscheinen zu den »klassischen Darstellungen«19 gehörte. Für die Zirkulation von Wissen über die 14 | Vgl. Conrad: Doppelte Marginalisierung, 2002, S. 151. 15 | Ebd. 16 | Ebd. 17 | Ansprenger: Neuere Geschichte und politische Wissenschaft, 1957, S. 133. 18 | Ebd. 19 | Ebd. Zur Vita Diedrich Westermanns: Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 146.
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politische Zäsur des Zweiten Weltkriegs und die Grenze der beiden deutschen Staaten hinweg ist besonders aufschlussreich, dass es Diedrich Westermann gelang, sowohl in der BRD als auch in der DDR an seine wissenschaftliche Karriere anzuknüpfen. Warum aber konnte die Rezeption der »Geschichte Afrikas« in beiden deutschen Staaten zunächst ausgesprochen positiv ausfallen? Als das Buch im Jahr 1952 im Kölner Greven Verlag erschien, galt Diedrich Westermann in beiden deutschen Staaten als Symbolfigur einer integren, unpolitischen Afrikanistik, deren Erbe beide Staaten für sich beanspruchten. Möglich war dies auch deshalb, weil Diedrich Westermanns wissenschaftliche Reputation die unmittelbare Nachkriegszeit, als »die Kolonial- und Auslandswissenschaften durch die enge Verknüpfung zur NS-Ideologie politisch diskreditiert waren«20, aus Sicht der beiden deutschen Wissenschaftssysteme unbeschadet überstanden hatte. Dadurch konnte er seine »Schlüsselposition […] im Feld der Afrikanistik«21 unangefochten behaupten. Diedrich Westermann war kein Mitglied der NSDAP gewesen. So konnte er bereits 1947 seinen Lehrstuhl für Afrikanistik an der Humboldt-Universität wieder besetzen und in der DDR beziehungsweise in der sowjetischen Besatzungszone lehren. Damit verbunden war auch die Stärkung seines wissenschaftlichen Netzwerkes, denn Westermann wurde »über Berlin hinaus unzweifelhaft zur wichtigsten Referenzperson für eine ›unbelastete‹ Afrikanistik und gefragtem Leumund auch für Fachvertreter anderer Disziplinen, etwa für den Historiker Egmont Zechlin«.22 Die zügige Wiedereingliederung Diedrich Westermanns in den Wissenschaftsbetrieb zeugt jedoch auch von einem blinden Fleck, der es in beiden deutschen Staaten ermöglichte, die Verstrickung der mit Afrika befassten Wissenschaftler mit dem Nationalsozialismus auszublenden. Aus heutiger Perspektive erstaunt, dass für Diedrich Westermann gerade in der DDR ein nahezu bruchloses Wiederanknüpfen an seine Karriere möglich war.23 Sein biografischer und wissenschaftlicher Werdegang weisen ihn als Vertreter des kolonialen Projekts und des Kolonialrevisionismus aus. Nachdem Diedrich Westermann als Missionar der Norddeutschen Mission von 1900 bis 1903 in der damaligen deutschen Kolonie Togo tätig war, das er zu Sprachforschungen 1907 erneut bereiste, wur20 | Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, S. 305. Zur aktuellen Einschätzung Diedrich Westermanns: Mischek: Autorität außerhalb des Fachs, 2000. 21 | Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, S. 305. 22 | Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 146. 23 | Franz Ansprenger distanziert Diedrich Westermann explizit vom rassistischen Weltbild des Nationalsozialismus: »Umso mehr hat mich beeindruckt, seit ich um 1960 begann, Westermanns Schriften zu lesen, dass er auch in der Hitlerzeit, als Rassismus zum schlechten Ton gehörte, respektvoll über die Afrikaner schrieb.« Ansprenger: Geschichte Afrikas, 2010, S. 117. Franz Ansprenger bezieht sich hierbei auf Diedrich Westermanns Schrift: Afrikaner erzählen ihr Leben, 1938.
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de er 1909 in der Nachfolge Carl Meinhofs Professor am Seminar für Orientalische Sprachen in Berlin.24 Den Kolonialismus unterstützte er während dieser Zeit öffentlichkeitswirksam – unter anderem als Herausgeber der »Kolonialen Rundschau«, der »Monatsschrift für die Interessen unserer Schutzgebiete und ihrer Bewohner«. Mit seinen wissenschaftlichen Arbeiten erlangte er zugleich internationales Renommee. Im Jahr 1926 war er Mitbegründer und Direktor des International African Institute in London, zwei Jahre später gründete er die Zeitschrift »Africa«, deren Herausgeber er bis 1940 war. Während des Nationalsozialismus setzte Diedrich Westermann seine Karriere bruchlos fort indem er seine Forschung unter die politischen Leitlinien des Regimes stellte, das die »Rückgewinnung« der deutschen Kolonien vor allem in den 1930er Jahren als politisches Ziel propagierte. Seine Schriften spiegeln die Unterstützung des Kolonialrevisionismus deutlich wieder.25 Auch Diedrich Westermanns »Geschichte Afrikas« ist innerhalb der nationalsozialistischen Kolonialforschung zu verorten: Trotz des Erscheinungsdatums 1952 muss die Entstehung des Buches, und damit sein diskursiver Rahmen, in diesem Kontext gelesen werden. Schon im Vorwort heißt es einleitend, dass die »Arbeit an diesem Buch bereits im Jahr 1939 begonnen worden« sei.26 Ursprünglich sollte die »Geschichte Afrikas« als ein Teilband der »großen Weltgeschichte« des Bibliographischen Instituts in Leipzig veröffentlicht werden. Allerdings verzögerte sich die Drucklegung, da in Folge des Krieges der zum Druck vorliegende Satz vernichtet wurde und eine Veröffentlichung durch das Bibliographische Institut unmittelbar nach dem Krieg nicht möglich war. Schließlich übernahm der Kölner Greven Verlag im Jahr 1950 die Betreuung des Werkes und publizierte es zwei Jahre später. Der Entstehungskontext im Kolonialrevisionismus spiegelt sich auch im Literaturverzeichnis. Hier werden etwa für den Teilbereich »Südwestafrika« 16 Titel aufgeführt, die ausnahmslos zwischen 1856 und 1938 entstanden sind.27 Während Diedrich Westermann an der »Geschichte Afrikas« arbeitete, setzte er sich in Publikationen der späten 1930er und frühen 1940er Jahre explizit für die Wiedererlangung der ehemaligen Kolonien und die Zurückweisung der ›Kolonia24 | Knak/Westermann: Die Stunde der Mission, Essen 1940. Vgl. zur Missionstätigkeit Diedrich Westermanns: Brahm/Jones: Afrikanistik, S. 303-305; Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 146. 25 | Seine Sprachforschung hatte er zeitweise auch an gefangenen AfrikanerInnen vorgenommen. Vgl. Stoecker: Sprachlehrer, Informant, Küchenchef, 2008, S. 236. Zu den wichtigsten Schriften aus dieser Zeit gehören: Westermann: Beiträge zur deutschen Kolonialfrage, 1937; Westermann/Baumann/Thurnwald: Völkerkunde von Afrika, 1940; Westermann: Der Afrikaner heute und morgen, 1937; Westermann: Afrika als europäische Aufgabe, 1941; Westermann: Beiträge zur deutschen Kolonialfrage, 1937. 26 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. V. 27 | Ebd., S. 469f.
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len Schuldlüge‹ ein. Hierzu gehören etwa die 1937 veröffentlichten »Beiträge zur deutschen Kolonialfrage«, »Der Afrikaner heute und morgen« und vor allem »Afrika als europäische Aufgabe«, das besonders deutlich dem Kolonialrevisionismus verhaftet ist.28 Dennoch wurde ihm im Zuge der Entnazifizierung keine nationalsozialistische Vergangenheit zur Last gelegt. In der DDR wurde sowohl Diedrich Westermann selbst wie auch sein Werk zunächst ausschließlich positiv beurteilt. Noch knapp zehn Jahre nach dem Erscheinen der »Geschichte Afrikas« wird Diedrich Westermanns wissenschaftliches Gesamtwerk anlässlich der Eröffnung des Instituts für Afrika-, Asien- und Lateinamerikastudien in Leipzig im Jahr 1961 von dem jungen Historiker Kurt Büttner als Beispiel für die »guten, humanistischen Traditionen der Afrikanistik in Deutschland« und »die Wurzeln und positiven Traditionen deutscher Afrikawissenschaft« aufgeführt.29 Die »Geschichte Afrikas« wird von Kurt Büttner ausdrücklich gewürdigt: »Diedrich Westermann unterscheidet sich in der Stellung zum Afrikaner und seiner Entwicklung in vielen Fragen von pseudowissenschaftlichen Rassentheorien, die den ›Neger‹ als minderwertigen Menschen betrachten und einen historischen Fortschritt in Afrika leugnen.« Seine Arbeit, so Kurt Büttner weiter, sei daher von »großer bleibender Bedeutung für die Erforschung der Geschichte Afrikas«. Problematische Passagen werden von Kurt Büttner ausgeblendet und auch Diederich Westermanns nationalsozialistische Biografie wird nur angedeutet, indem er von einer persönlichen Verantwortung freigesprochen wird: »Es ist eine gewisse Tragik um Diedrich Westermann wie um viele Wissenschaftler, dass sie in einer Zeit leben und arbeiten mussten, in der oftmals ihre grosse Begabung in den Dienst einer schlechten Sache gestellt wurde.« Und so bleibt Diedrich Westermann für Kurt Büttner »in all seiner Widersprüchlichkeit ein ausgewiesener Repräsentant guter wissenschaftlicher Traditionen der deutschen Afrikanistik«, dessen wissenschaftliche Fehlurteile den ideologischen Umständen seiner Vita geschuldet sind. Gerade für die DDR ist zu fragen, inwiefern die Stilisierung Diedrich Westermanns zur Galionsfigur einer »guten humanistischen Tradition der Afrikanistik in Deutschland« auch dem eklatanten Fachkräftemangel Rechnung trug, der es nötig machte zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf zumindest problematische Wissen28 | Westermann: Beiträge zur deutschen Kolonialfrage, 1937; Westermann: Der Afrikaner heute und morgen, 1937; Westermann: Afrika als europäische Aufgabe, 1941. Ursula Hintze, Westermanns Assistentin, versuchte ein Jahr nach Westermanns Tod zu belegen, dass sich Westermann von »Afrika als europäische Aufgabe« distanziert hatte: »Sein Buch ›Afrika als europäische Aufgabe‹, hat er immer als ›Bastard‹, (wie er es nannte) angesehen, weil er nicht verhindern konnte, daß amtlicherseits Züge der damaligen Kulturund Rassenpolitik hineingearbeitet wurden.« Hintze: Diedrich Westermann, 1957, S. 53. 29 | Hier und im Folgenden: Büttner: »Einige Bemerkungen zur Rolle und Geschichte der deutschen Afrikanistik.« 12.5.1961, in: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/249, Blatt 85ff.
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schaftler zurückzugreifen. Die positive Würdigung Diedrich Westermanns hielt jedenfalls über mehrere Jahrzehnte hinweg an. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass der Neugründung der Afrikanistik in der DDR auch ex post nicht der Makel kolonialer Kontinuität oder gar ein ideologisches Scheitern anhaften sollte. Entscheidend dürfte jedoch gewesen sein, dass eine Sensibilisierung für den rassistischen Gehalt kolonialer Wissensformationen zunächst nur bedingt vorhanden war. Erst mit der Etablierung einer dezidiert sozialistisch ausgerichteten Kolonialgeschichtsschreibung und Afrikanistik erfolgte nach und nach eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Wissenschaftstradition, die in der Folge auch zu einer Abgrenzung gegenüber Diedrich Westermann führte.30
Populäre Erzähltraditionen Drei Jahre später, im Jahr 1955, publizierte der nahezu gleich alte Oskar Hintrager (1871-1960) »Südwestafrika in der deutschen Zeit«. Es erschien im Kommissionsverlag des renommierten R. Oldenbourg Verlags und erfuhr bereits ein Jahr später eine zweite Auflage. Oskar Hintrager, der von 1905 bis 1914 Referent und stellvertretender Gouverneur im kolonialen Namibia war, schrieb für ein westdeutsches Publikum, bediente das Bedürfnis nach »imperialer Nostalgie«31 und wurde in der DDR nicht verlegt.32 Das amateurhistoriografische Werk steht in autobiografischer Texttradition, denn es handelt sich um »Geschichtsbilder und Erinnerungen«33, wie Oskar Hintrager einleitend ausführt. Es wurde aber gerade aufgrund seiner Genrezugehörigkeit als authentische und wahre Erzählung rezipiert. Drei Jahre zuvor hatte Oskar Hintrager bereits seine amateurhistoriografische »Geschichte von Südafrika« veröffentlicht. Seine Arbeiten wurden in »The American Historical Review« und der »Historischen Zeitschrift« rezensiert und fanden damit Eingang in die wissenschaftliche Debatte der wichtigsten deutschen beziehungsweise amerikanischen Fachzeitschriften.34 Noch 1962 wurden Oskar Hintragers Werke in einem Überblick Franz Ansprengers zur »Neueren Geschichte und politischen Wissenschaft« als einzige westdeutsche Beiträge unter der Rubrik »Größere wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Geschichte Afrikas und zur afrikanischen Politik« aufgeführt.35 Es erscheint zunächst überraschend, dass Oskar Hintrager mit 30 | Vgl. Brauner/Herms/Legère: Diedrich Westermann, 1975; Höftmann: Westermanns sprachwissenschaftliches Werk, 1976; Hutschenreuter: Einige Bemerkungen zur kolonialpolitischen Konzeption Diedrich Westermanns, 1976. 31 | Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger, 2006, S. 298. 32 | Vgl. Helbig/Helbig: Mythos Deutsch-Südwest, 1983, S. 72. 33 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, Vormerkungen, o. S. 34 | Jacob: Rezension zu: Hintrager, 1956; Wilde: Rezension zu: Hintrager, 1952. 35 | Ansprenger: Neueren Geschichte und politischen Wissenschaft, 1962, S. 139.
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seinen autobiografisch inspirierten Werken akademisch rezipiert wurde. Möglich war dies, weil er inhaltlich und formal an die Tradition der Augenzeugenberichte, Memoirenliteratur und Amateurhistoriografie anknüpfte. Diese hatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Repräsentation des ›Kolonialkriegs‹ endscheidend geprägt, wodurch eine Wissenskultur entstanden war, in der Zeugenschaft und vermeintlicher Authentizität eine zentrale Stellung zukam. Die Ereignisse des Jahres 1904 stellten ein »regelrechtes Diskursereignis« dar, das zu einer »Flut von Texten unterschiedlicher Genres«36 führte. Vor allem Angehörige des Militärs, SiedlerInnen und Missionare verfassten autobiografische Schriften, die hohe Authentizität suggerierten. Die »Memoirenliteratur von Soldaten, die mehr als hundert Titel allein über den Herero-Feldzug zählte«37, prägte dabei die inhaltlichen und rhetorischen Erzählkonventionen. Zu den bekanntesten Werken gehören die populären Erzählungen Maximilian Bayers, der als Generalstabsoffizier der als »Schutztruppe« euphemisierten militärischen Einheiten für seine Beteiligung an nahezu allen Schlachten des »Herero-Krieges« zahlreiche Auszeichnungen erhielt.38 Als Veteran und Begründer der Pfadfinderbewegung bot er vor allem während des Nationalsozialismus aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg Anknüpfungspunkte zur vielfältigen Heroisierung. Als offizielles Dokument, das sprachlich und narrativ den Charakteristika des Augenzeugenberichts folgt, kam den sogenannten Generalstabsberichten eine wichtige Funktion für die dezidiert soldatisch-militärische Erzähltradition zu. Die »Kriegsgeschichtliche Abteilung I des Großen Generalstabes« veröffentlichte »auf Grund amtlichen Materials« im Jahr 1906 einen Bericht über den »Feldzug gegen die Herero«. Ein Jahr später folgte die Darstellung des »Hottentottenkriegs«.39 Als Erzähl- und ›Faktengrundlage‹ – und damit als historiografische Quelle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – kommt den Berichten eine entscheidende Rolle für die Konstruktion von Wissen über die Ereignisse zu. Kolonialromane stellten eine weitere zentrale Textgattung für die Deutung und Repräsentation der Ereignisse dar. Sie richteten sich als Kinder-, Jugendund Erwachsenenliteratur an ein breites Lesepublikum. Da ihre AutorInnen in der Regel über keine eigenen Erfahrungen im kolonialen Namibia verfügten, nutzten sie die Soldaten- und Memoirenliteratur als Quellen- und Erzählgrundlage, die mit weiteren, kulturell verankerten Erzählformen verwoben wurden. Stereotyp männliche Erzählmuster, die literarisch am »Entwicklungs36 | Brehl: Vernichtung der Herero, 2003, S. 86. 37 | Krüger: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein, 1999, S. 29. 38 | Bayer: Mit dem Hauptquartier in Südwest, 1909; Bayer: Die Nation der Bastards, 1906; Bayer: Der Krieg in Südwestafrika, 1906; Bayer: Im Kampfe gegen die Hereros, 1911; Bayer: Die Helden der Naukluft, 1943. 39 | Vgl. Generalstab: Die Kämpfe der deutschen Truppen, 1906/1907.
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roman aber auch an Abenteuer-, Frontier- und Indianerliteratur«40 orientiert waren, überwogen. Doch es entstanden auch zahlreiche Romane, die sich im Hinblick auf Figurenauswahl und Themen dezidiert an Mädchen richteten.41 Typisch für die Romane sind Erzählverfahren, die durch historisch verbürgte Personen und Orte sowie im Rückgriff auf Textpassagen der Soldaten- und Memoirenliteratur die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen auflösen.42 Die Romane wurden zum Teil bis weit in die 1960er Jahre immer wieder neu aufgelegt. Sie trugen mit ihrer hohen Popularität und Verbreitung auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich zur einer Imagination des Kolonialismus bei, der durch Heroisierung und Apologetik geprägt war.43 Jene HistorikerInnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als junge Wissenschaftsgeneration in BRD und DDR über das koloniale Namibia forschten und schrieben, waren folglich mit den kolonialen Texten und den darin vermittelten Welt- und Geschichtsbildern aufgewachsen. Wie Armelle Cressent ausführt, begründeten zahlreiche mit Afrika befasste Wissenschaftler in Hamburg noch in den 1990er Jahren ihr wissenschaftliches Interesse an Afrika retrospektiv auch über die koloniale Jugend- und Kinderliteratur.44 Und auch der Schriftsteller Uwe Timm, der in der Bundesrepublik maßgeblich zur kritischen Thematisierung des Kolonialismus beitrug, bezieht sich in seinem Roman »Heißer Sommer« aus dem Jahr 1974 auf die koloniale Jugendliteratur.45 Eine besondere Stellung kommt hierbei Gustav Frenssens Roman »Peter Moors Fahrt nach Südwest« zu, der im Jahr 1906 als unmittelbare Reaktion auf den ›Aufstand der Herero‹ veröffentlicht wurde. Bereits im Untertitel – »Ein Feldzugbericht« wird suggeriert, dass der Roman den authentischen Soldatenund Memoirenberichten zugerechnet werden kann, wenngleich Gustav Frenssen das koloniale Namibia niemals bereist hatte. Bis in das Jahr 1945 erreichte 40 | Brehl: Diskursereignis »Herero-Aufstand«, 2009, S. 196. 41 | Einen Klassiker schrieb etwa die renommierte Jugendbuchautorin Henriette Koch: Die Vollrads in Südwest, 1916. 42 | Stefan Hermes hat diese Verfahren anhand zahlreicher Romane herausgearbeitet. Vgl. Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 30-32, 88-89, 145-146, 162-164, 184186, 202-204. 43 | Brehl: Das Drama spielte sich auf der dunklen Bühne des Sandfeldes ab, 2003, S. 87. 44 | Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 111. 45 | »Als Junge hatte er einmal zum Geburtstag ein Buch bekommen. Sein Vater hatte es, wie er damals extra betonte, mit einiger Mühe in einem Antiquariat aufgetrieben: Heia Safari. Von Lettow-Vorbeck. Ullrich hatte es in wenigen Tagen verschlungen und sich vorgestellt, wie er mit einem Trupp ihm treu ergebener Askari die Engländer in die Flucht schlug. Einige Wochen hatte er mit den anderen Jungen zusammen in dem Unkraut der Trümmerfelder Heia Safari gespielt. Aber es kam immer wieder zu Streitereien, weil niemand die Askari spielen wollte.« Timm: Heißer Sommer, 1974, S. 148.
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der Roman eine Auflage von einer halben Million Exemplare, die auch Ausgaben für den Schulgebrauch und eine Wehrmachtsausgabe umfassten.46 Noch 1953 wurde der Roman erneut aufgelegt. Medardus Brehl konstatiert, dass die »Bedeutung dieses Textes für die Produktion eines in bürgerlich-konservativen und nationalliberalen Kreisen allgemein geteilten Bildes über die Ereignisse des Jahres 1904 […] kaum zu überschätzen« sei.47 Dies liegt auch daran, dass Gustav Frenssen 1912 für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen, sein Roman also als literarische Hochkultur wahrgenommen wurde.48 Trotz seiner Genrezugehörigkeit fand der »Feldzugbericht« Eingang in die zeitgenössische wissenschaftliche Debatte. So rezensierte etwa »The journal of the Royal African Society« Gustav Frenssens Roman im Jahr 1907. Gleich zu Beginn wird deutlich, dass dem Werk eine über den rein ästhetisch-literarischen Wert hinausreichende Bedeutung beigemessen wurde: »It is not often that fiction is reviewed in our pages, but the latest production of the popular Holstein novelist calls for notice on account of its subject.« Der Wahrheitsgehalt des Buches, »the plain unvarnished narrative of a young man from Itzehoe on the Elbe, who volunteered for service in Hereroland at the beginning of 1904«, wird vor allem deshalb nicht in Frage gestellt, weil der Verweis auf die Binnenstruktur einen Erzähler zu Wort kommen lässt, der die Erlebnisse des jungen Peter Moors aufschreibt.49 Dieses literarische Verfahren der Authentizitätsgenerierung – der vermeintliche Verweis auf einen zuverlässigen Erzähler – führt dazu, dass »Peter Moors Fahrt nach Südwest« in der Rezension erst gar nicht auf seinen fiktionalen Charakter hin befragt wird. Auch im »Report on the Natives of South-West Africa and their Treatment by Germany«, der auf britische Initiative im Zuge des Ersten Weltkriegs zur Dokumentation der deutschen Kriegsgräuel erstellte wurde, wird der Roman zitiert.50 Und noch 1989 griff der populärwissenschaftliche und revisionistische Autor Walter Nuhn auf Gustav Frenssens »Tatsachenbericht« zurück.51 Lassen sich also populäre Authentizität suggerierende Erzählmuster und -topoi in nachfolgenden historiografischen Texten als Quellengrundlage oder als implizite Erzählvorlage finden? Fanden sie über Genregrenzen und politische Zäsuren hinweg Eingang in Erzähl- und Wissenskonventionen Mit Hayden White lässt sich die Bedeutung der Romane für historiografische Texte auch theoretisch begründen, denn 46 | Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 46. 47 | Brehl: Vernichtung der Herero, 2003, S. 88. 48 | Vgl. Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane, 1983, S. 133-136. 49 | N.N.: Rezension zu: Frenssen, 1907, S. 322. Vgl. zur Erzählsituation und den Verfahren der Authentizitätsgenerierung Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 50-52. 50 | United Kingdom: Report on the Natives of South-West Africa, 1918, S. 61f. 51 | »Häufig wurde von mir auch als Quelle Gustav Frenssens Werk ›Peter Moors Fahrt nach Südwest‹ benutzt. Obwohl als Roman geschrieben, ist dieses Buch als Tatsachenbericht zu werten […].« Nuhn: Sturm über Südwest, 1989, S. 356.
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»verschiedene Erzählformen«, so Hayden White, »machen Fakten verständlich, indem sie diese in archetypische Muster integrieren, die dem Historiker und seinem Rezipienten als Teil ihres kulturellen Erbes vertraut sind«.52 Unter narratologischer Perspektive ist aufschlussreich, dass den formalästhetischen Erzähl- und Darstellungsformen der Soldaten- und Memoirenliteratur eine zentrale Rolle für die Vermittlung und Beglaubigung der Textinhalte zukam. An diese Genrekonventionen kann Oskar Hintrager, der sich in seinem Literaturverzeichnis in erster Linie auf die Memoiren- und Soldatenliteratur bezieht, in den 1950er Jahren sowohl inhaltlich und sprachlich-narrativ als auch biografisch anschließen. Als Autor wurde ihm aufgrund seiner generationellen Zugehörigkeit und seines beruflichen Werdegangs ein hohes Maß an Autorität und Authentizität zugesprochen. Oskars Hintragers Biografie und seine »jahrzehntelange Anschauung und Mitarbeit« schienen etwa dem Rezensenten und Kolonialhistoriker Ernst Gerhard Jacob in der »Historischen Zeitschrift« Garant für die Authentizität der Darstellung und den »wissenschaftlichen Wert des Buches«.53 Ernst Gerhard Jacob hatte sich vor allem während des Nationalsozialismus entschieden für die Wiedererlangung der Kolonien und die Widerlegung der sogenannten kolonialen Schuldlüge eingesetzt.54 Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte er sich im kolonialrevisionistischen »Traditionsverband deutscher Schutz- und Überseetruppen«. Zwei Jahre zuvor hatte bereits der Geograf Warhold Ludwig Philipp Drascher in der »Historischen Zeitschrift« eine durchweg positive Rezension über Oskar Hintragers »Geschichte von Südafrika« veröffentlicht.55 Der 1892 geborene Warhold Drascher war bereits während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus Lehrbeauftragter für Auslandskunde und seit 1939 als außerordentlicher Professor der weltpolitischen Auslandskunde und Kolonialwissenschaft tätig gewesen und hatte zahlreiche revisionistische Schriften veröffentlicht.56 Er konnte seine Karriere auch nach 1949 als außerordentlicher Professor für 52 | White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, 1994, S. 106f. 53 | Jacob: Rezension zu: Hintrager, 1956, S. 727. 54 | Vgl. Jacob: Kolonialpolitisches Quellenheft 1935; Jacob: Die deutsche Kolonialehre,1937; Jacob: Deutschlands Recht auf Kolonien, 1934; Jacob: Der Kampf gegen die koloniale Schuldlüge, 1938; Jacob: Die deutschen Kolonien, 1938; Jacob: Rezension zu: Lukas, 1953. 55 | »Der Vf. ist einer der besten Kenner Südafrikas in Deutschland. Er hat den Krieg 1899/02 als Freiwilliger auf Seiten der Buren mitgemacht, seitdem engste Beziehungen zu ihren führenden Persönlichkeiten unterhalten und hatte auf Grund Dienststellung die Möglichkeit, sich jeweils die vertrauenswürdigen Informationen zu beschaffen.« Drascher: Rezension zu: Hintrager, 1954, 154f. 56 | Vgl. Drascher: Auslanddeutsche Charakterbilder, 1929; Drascher: Die Auslanddeutschen, 1934; Drascher: Die Vorherrschaft der Weißen Rasse, 1936.
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Auslandskunde an der Universität Tübingen fortsetzen und verfasste nach seiner vorzeitigen Emeritierung im Jahr 1954 mehrere revisionistische Werke zur deutschen Kolonialgeschichte.57 Während Warhold Draschers Werke in der konservativen »Historischen Zeitschrift« positiv beurteilt wurden,58 galt er in der DDR als »faschistischer Kolonialexperte«, »prominenter Kolonialpropagandist Westdeutschlands (und schon Hitlerdeutschlands)«59 und Paradebeispiel für jene neokoloniale Haltung, die der Bundesrepublik zugeschrieben wurde. Rezensionen aus dem anglo-amerikanischen Raum weisen einen wissenschaftlichen Anspruch der Arbeiten Warhold Draschers und Oskar Hintragers mit Hinweis auf ihre rassistische Grundhaltung zurück.60 Die bundesrepublikanischen Rezensionen verweisen nicht nur auf ein spezifisches Verständnis historiografischer Texte, sondern vor allem auf ein Denkkollektiv männlicher, kolonialapologetischer und nationalistisch orientierter Autoren, das in der Bundesrepublik über mehrere Jahrzehnte zur Stabilisierung apologetischer Positionen beitrug. Neben fachwissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Beiträgen stellten Rezensionen hierbei eine Möglichkeit dar, um die eigenen Positionen im wissenschaftlichen Diskurs zu behaupten. Warhold Drascher und Ernst Gerhard Jacob fungierten als Rezensenten für diverse Fachzeitschriften – etwa der »Historischen Zeitschrift« aber auch der »Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte« und »Africa Spectrum« – und nahmen im Rahmen dieser Tätigkeit auf die Wahrnehmung anderer wissenschaftlicher Arbeiten Einfluss.61
57 | Vgl. Marcon: 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften, 2004, S. 73. Drascher: Schuld der Weißen?, 1960; Drascher: Die Perioden der Kolonialgeschichte, 1961. 58 | Vgl. Treue: Rezension zu: Drascher, 1962. 59 | Markov: Probleme des Neokolonialismus, 1961, S. 32. Vgl. Rüger: Warhold Drascher, 1967. 60 | Im 1960 von der Londoner School of Oriental and African Studies gegründeten »Journal of African Studies« ist eine Rezension Hans Weilers zu Warhold Draschers Werken mit »A Revival of Racism« überschrieben. Welche Bedeutung wissenschaftlichen Netzwerken für die Stabilisierung von historiografischem Wissen zukommt wird an der Reaktion auf die Rezension deutlich. Als sich der Anthropologe Otto F. Raum, der zu diesem Zeitpunkt an der segregierten Universität Fort Hare in Südafrika lehrte, in einem »Protest« gegen die Kritik Hans Weilers wandte sah sich die Redaktion zu einer Entschuldigung veranlasst. Vgl. zur angloamerikanischen Rezension Hintragers: Wilde: Rezension zu: Hintrager, 1952; Pinkett: A Bibliography of Recent Publications, 1956; Gann: Rezension zu: Bley, 1973. 61 | Vgl. Jacob: Rezension zu: Boavida, 1972; Drascher: Neueste Geschichte, 1965; Jacob: Rezension zu: Trappe, 1972.
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II.3 K olonialdiskursive E rz ähllogiken Apologetik und damnatio memoriae In Oskar Hintragers »Geschichte Deutsch-Südwestafrikas« finden sich zwei bemerkenswerte Fotografien, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Teil der jahrzehntelangen Debatte um den Krieg gegen die Herero und Nama waren. In den beiden Bildern, den gewählten Textunterschriften und ihrer Einbettung im Gesamtnarrativ verdichten sich verschiedene Wissensund Erzähltraditionen, deren Spektrum sich zwischen offener Apologetik und dem Versuch einer umfassenden damnatio memoriae der Ereignisse bewegt. Folglich ist in der Fotografie zum Zeitpunkt ihrer erneuten Publikation im Jahr 1955 bereits eine Rezeptions- und Interpretationsgeschichte des Krieges gegen die Herero eingeschrieben, die Oskar Hintrager mit der Publikation aufgreift, indirekt thematisiert und mit seiner eigenen Deutung versieht.62 Bei der ersten Abbildung handelt es sich um eine Fotografie überlebender Herero nach der Schlacht am Waterberg im August 2004 und der daraufhin einsetzenden Verfolgung der Überlebenden in die wasserlose Omaheke-Wüste, die General Lothar von Trotha im Oktober 1904 anordnete. Die von Oskar Hintrager verwendete Fotografie zeigt eine Gruppe von neun bis auf das Skelett abgemagerten Personen in frontaler Ganzkörperaufnahme, die stark an ethnografische Fotografien erinnert und an deren Bildtradition anknüpft. Drei der Personen sind wahrscheinlich Frauen, wie die Kopf bedeckung vermuten lässt, bei zwei weiteren dürfte es sich um Kinder handeln. Zwei Personen sitzen im Bildvordergrund, links und rechts werden sie von zwei Frauen in gebückter Haltung flankiert, die offenbar aus der ausgezehrten körperlichen Verfassung resultiert. Alle Personen sind nur spärlich bekleidet. Die Blicke sind in die Kamera gerichtet, wenngleich einige Personen die Augen geschlossen halten und sich so dem kolonialen Blick entziehen.63 Im Bildhintergrund ist eine Steppenlandschaft zu sehen, ein Zelt könnte auf die Präsenz des Militärs hinweisen. Oskar Hintrager versieht die Fotografie mit der Bildunterschrift: »Aus dem Feld gekommene Hereros melden sich an der Bauspitze der Otavi-Bahn als Gefangene.«64 Kontrastiert wird die Fotografie durch eine weitere Aufnahme auf derselben Buchseite. Es handelt sich hierbei laut Bildunterschrift um »Hereros nach mehrwöchigem Aufenthalt bei der Otavi-Bahn.«65 Die Fotografie zeigt in analogem Bildauf bau eine Gruppe 62 | Beide Fotografien sind im Staatsarchiv Windhuk archiviert. Vgl. Timm: Deutschen Kolonien, 1981, Abbildungen S. 92 und 93, beziehungsweise Bildnachweise S. 218. 63 | Vgl. zu dieser Denkfigur: Zeller: Weiße Blicke – Schwarze Körper, 2010. 64 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 145, Abb. 27. 65 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 145, Abb. 28.
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von vierzehn Menschen, die sich in einem deutlich besseren körperlichen Zustand befinden. Sechs der abgebildeten Personen – fünf Männer und eine Frau – stehen, acht Frauen und Kinder sitzen zu ihren Füßen auf dem Boden. Im Hintergrund sind Hütten und eine Berglandschaft zu erkennen. Aufgrund der Überlieferung im Swakopmunder Museum ist davon auszugehen, dass die Bilder von Angehörigen der ›Schutztruppe‹ aufgenommen wurden.66 Das erste Bild diente im kolonialen Diskurs dazu, den Krieg gegen die Herero und Nama als militärische Leistung und erstrebenswertes Ziel zu stilisieren. Der ›Aufstand der Herero‹ war aus zeitgenössischer Sicht eine illegitime Erhebung gegen die juristisch legitimierte Kolonialmacht, die mit einem rechtmäßigen Kolonialkrieg geahndet wurde. Aber auch die Vertreibung der Herero in die Omaheke, die Lothar von Trotha im Oktober 1904 angeordnet hatte, in deren Folge ein Großteil der Herero starb, war an zeitgenössische Vorstellungen im Umgang mit den Kolonisierten anschlussfähig. Schließlich konnte der Krieg gegen die Herero und Nama im sozialdarwinistischen Diskurs des Kaiserreiches als unausweichlicher ›Rassenkrieg‹ gedeutet werden, der offen thematisiert werden konnte. Für die literarische und die fotografische Inszenierung der Ereignisse gilt, dass in zeitgenössischen Texten kaum versucht wurde, »die Vernichtung der Herero zu bestreiten oder als aus der Not geborene Maßnahme, also als militärstrategische Verzweiflungstat zu rechtfertigen«.67 Vielmehr wurden die brutalen Methoden der Kriegsführung, der Versuch der »Vernichtung der Eingeborenen« und die drastische Verschärfung kolonialer Herrschaftsmethoden nach dem ›Aufstand‹ als militärische Leistung stilisiert.68 In der Metropole zirkulierten Fotografien, Reklamesammelbilder und vor allem Postkarten, auf denen die Gefechte, Konzentrationslager und selbst der Transport von Schädeln getöteter Herero als Bildpostkartenmotive aufgegriffen wurden.69 Für den Soziologen und Historiker Reinhart Kößler ist die umfassende und ungeschönte visuelle Dokumentation und öffentliche Verbreitung der genozidalen Gewalt das Alleinstel-
66 | Oskar Hintrager gibt als Bildquelle das Swakopmunder Museum an, dessen Exponate und Fotosammlungen von einem ehemaligen Schutztruppenoffizier stammen. 67 | Brehl: Diese Schwarzen haben den Tod verdient, 2004, S. 39. 68 | Vgl. Bayer: Im Kampfe gegen die Hereros, 1911. Ein weiteres Beispiel für die uneingeschränkte Darstellung von Gewalt ist der »von einem Offizier der Schutztruppe« herausgegebene Memoirenband »Meine Kriegserlebnisse in Deutsch-Südwest-Afrika«. Die Memoiren sind 1907 erschienen und verfügen über umfangreiches Bildmaterial, das sich aus Fotografien und Zeichnungen zusammensetzt, die die Gewalt gegenüber Herero und Nama ungeschönt zeigen. Vgl. Anonymous: Meine Kriegserlebnisse, 1907. 69 | Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, 2009, S. 162. Vgl. Zeller: Bilderschule der Herrenmenschen, S. 123-152; Zeller: Weiße Blicke – Schwarze Körper, 2010, S. 64-73; Zeller: Grüße aus den Kolonien; Zeller: Wie Vieh wurden Hunderte zu Tode getrieben, 2001.
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lungsmerkmal »that sets off the colonial war in German Southwest Africa from most, or even all, subsequent genocides of the 20th century«.70 Abbildung 1
Hintrager: Südwestafrika in der deutschen Zeit, 1955, S. 145.
70 | Kößler: From Genocide to Holocaust?, 2005, S. 313. Zu einem ähnlichen Schluss kommt Stefanie Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, 2009, S. 162. Vgl. auch die Abbildungen in Zimmerer/Zeller: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, 2003, S. 53, 67, 128, 131.
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Inszeniert wurde dabei immer auch die vermeintliche Weiße Superiorität und militärische Übermacht, die sich gerade im Falle des Herero- und Namakriegs als ausgesprochen fragil erwiesen hatte. Die Kriege dauerten viel länger als angenommen und den Weißen Soldaten gelang es nicht, den Beleg der militärischen und zivilisatorischen Überlegenheit zu erbringen. Der Krieg gegen die Herero und der sich im Herbst 1904 anschließende Krieg gegen die Nama gerieten auch in der Metropole in Legitimationsnot. Als im August 1906 ein Nachtragshaushalt in Höhe von 29 Millionen Reichsmark beantragt wurde, um den kostenintensiven Krieg fortzuführen, brach eine Debatte über die Sinnhaftigkeit des kolonialen Projekts und die Herrschaftsmethoden in Namibia los, die die Ereignisse der kolonialen Peripherie direkt nach Berlin trug. Der Kolonialkrieg wurde auch zu einem innenpolitischen Kräftemessen zwischen den Gegnern des Kolonialkriegs, die vor allem aus der SPD und dem Zentrum stammten, und den Befürwortern aus dem konservativen und nationalliberalen Lager, die sich für eine Weiterführung des Krieges einsetzten. August Bebel, Matthias Erzberger, Georg Ledebour und Gustav Noske pochten in Anbetracht der »Kolonialskandale« auf eine Untersuchungskommission, die 1906 eingerichtet wurde. Nicht zuletzt die Kriegsführung Lothar von Trothas und die Behandlung der AfrikanerInnen in den deutschen Konzentrationslagern, die seit 1904 existierten und in denen fast 50 Prozent der Gefangenen starben, wurden im Reichstag diskutiert.71 Die Kriegsbefürworter forcierten daraufhin eine Inszenierung des Kolonialkrieges, die den Kritikern die Notwendigkeit militärischer Maßnahmen vor Augen führen sollte. Gesine Krüger stellt fest, dass die »Gräuelbilder vor allem der Propaganda angesichts eines verlustreichen, teuren und in der deutschen Öffentlichkeit zunehmend kritisierten Krieges« dienten.72 Die Kriegsgegner versuchten wiederum, mit denselben Bildern den Nachweis unverhältnismäßiger Grausamkeit zu erbringen. Sie nutzten ursprünglich apologetische Erzählungen und Fotografien als Grundlage ihrer kritischen Gegenerzählungen, die nun zur Beglaubigung und Anerkennung der kolonialen Gewaltverbrechen dienen sollten. Die Rückkehr der überlebenden Herero aus der Omaheke gehörte dabei zu einem wichtigen narrativen und visuellen Motiv, dessen Deutung je nach politischem Standpunkt variierte. Das Bild der »aus den Wüsteneien des Sandfeldes hervorströmenden, halb verhungerten und halb verdursteten Hererobanden« wurde etwa in den politischen Debatten des Reichstages immer wieder bemüht, um die Kriege zu rechtfertigen oder zu kritisieren.73 Kritisch verwendet wurde die Fotografie auch in der Autobiografie des einflussreichen Missionars August Kuhlmanns, der General Lothar von Trotha scharf kritisier71 | Vgl. Stuchey: Die europäische Expansion und ihre Feinde, 2010, S. 232-289; Schaller: Ich glaube, dass die Nation vernichtet werden muss, 2004, S. 422. 72 | Krüger: Bestien und Opfer, 2003, S. 157. 73 | Protokoll des Reichstages, 5.12.1904, Sitzung 105, Abgeordnete Bülow, S. 3376.
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te und die Fotografie als visuellen Beweis für die Grausamkeit der deutschen Kriegsführung einsetzte.74 Solche Positionen wirkten zugleich »als Ansporn auf die KolonialanhängerInnen, ihre Reihen fester zu schließen und ihre Überzeugungsarbeit zu intensivieren«.75 Mit den Neuwahlen, der Bewilligung des Nachtragshaushaltes und der Beendigung des Kriegs im Jahr 1908 wurden kritische Stimmen verdrängt, obwohl sie den Kolonialismus in der Regel nicht insgesamt ablehnten, sondern lediglich für eine gemäßigtere Form eintraten.76 Hierzu trug auch bei, dass die Befürworter des kolonialen Projekts publizistisch-strukturell im Vorteil waren und die Deutungshoheit über das Ereignis erlangten. Wie Sybille Benninghoff-Lühl aufzeigt, forcierte besonders die Koloniallobby die Publikation verschiedenster kolonialapologetischer Texte und sorgte damit in eigener Sache für die Legitimation des kolonialen Projekts.77 Im Zuge des Versailler Vertrags wurde der Krieg gegen die Herero und Nama erneut Gegenstand politischer Kontroversen. Als der Kolonialismus mit dem Ende des Ersten Weltkriegs formal endete, wurde das Kaiserreich im Vertrag von Versailles als »unfähig zur Kolonisation« befunden und die Kolonien als Völkerbundmandate unter den Alliierten aufgeteilt. Als Grund wurde »Deutschlands Versagen auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation« 78 und besonders die »kolonialen Verwaltungsmethoden« angeführt, die geprägt seien durch Bilder der »grausamen Unterdrückungen, den willkürlichen Requisitionen und den verschiedenen Formen von Zwangsarbeit […] ganz abgesehen von dem aller Welt bekannten tragischen Schicksal der Hereros in Südwestafrika«.79 Grundlage für diese Einschätzung bildete vor allem der bereits im Januar 1915 von der englischen Kronverwaltung in Auftrag gegebene »Report on the Natives of South-West Africa and their Treatment by Germany«, das sogenannte »Blue Book«, das anlässlich der Verhandlungen in Versailles im Jahr 1918 veröffentlicht wurde.80 Es diente dazu, die kolonialen Herrschaftsmethoden mittels amtlicher Erhebungen, Berichten und Fotografien systematisch zu erfassen. 74 | »Herero nach dem Kriege«. Abbildung aus August Kuhlmann: Auf Adlers Fluegeln, 1911. Kuhlmann leitete von 1905 bis 1907 ferner das »Sammellager« Omaruru. 75 | Kundrus: Moderne Imperialisten, 2003, S. 29. 76 | Vgl. Stuchey: Die europäische Expansion und ihre Feinde, 2010. 77 | Besonderen Anteil daran hatte die 1887 gegründete Deutsche Kolonialgesellschaft. Mit ihrem breiten Publikationsspektrum – Fachzeitschriften, belletristische, populärwissenschaftliche und wissenschaftliche Bücher – erreichte sie ein großes Publikum, das so mit den politischen Zielen der DKG vertraut wurde. Vgl. Benninghoff-Lühl: Deutsche Kolonialromane, 1983, S. 15-58; Deutsche Kolonialgesellschaft: Die deutsche Kolonialliteratur,1904-9. 78 | Pöschel: Die Kolonialfrage im Frieden von Versailles, 1920, S. 22. 79 | Ebd., S. 21. 80 | United Kingdom: Report on the Natives of South-West Africa, 1918.
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Der Bericht war »unusual in the prominence that it gave to African voices«,81 denn auch Augenzeugenberichte von AfrikanerInnen wurden erfasst, so dass ihnen eine gewisse Deutungshoheit über die Ereignisse ermöglicht wurde. Der Krieg gegen die Herero und Nama wurde als »extermination« gekennzeichnet und scharf verurteilt. Die Fotografie der abgemagerten und entkräfteten »überlebenden Herero« wurde als visueller Beweis abgedruckt und mit der Bildunterschrift versehen: »Hereros returning starved from the desert, into which they had been driven by the Germans. Two, women, are unable to stand upright.«82 Darüber hinaus werden im »Blue Book« die Herrschaftsmethoden und besonders die Strafgerichtsprozesse nach dem Krieg ausführlich dokumentiert. Die »Methods of Punishment« durch »Chains«, »Corporal Punishment« und »Hanging« werden von medizinischen Berichten und Fotografien im Anhang begleitet. Das »Blue Book« stand damit in Konkurrenz zu den Augenzeugenberichten der deutschen Soldaten und SiedlerInnen. Die Publikation des »Reports« veranlasste das Reichskolonialministerium noch vor der Unterzeichnung des Versailler Vertrags, den Vorwürfen publizistisch mit einem »Weißbuch« entgegenzutreten.83 In ihm wurde das »Blue Book« als Propagandaschrift und Beleg für eine geplante politische Instrumentalisierung der Anschuldigungen diskreditiert, die die 1919 erfolgte Unterstellung Südwestafrikas als Mandatsgebiet des Völkerbundes unter Verwaltung der Südafrikanischen Union vorbereiten sollte. Hierzu trug auch bei, dass das »Blue Book« seit Mitte der 1920er Jahre von der Südafrikanischen Union systematisch vernichtet wurde, mit dem Ziel »of achieving reconciliation within the white settler community between the remaining German community and a new wave of, mainly Afrikaner, settlers«.84 In der Weimarer Republik setzte sich dann die Idee der »kolonialen Schuldlüge« durch, um die in Versailles erhobenen Vorwürfe als politische Propaganda umfassend zurückzuweisen. Der stehende Begriff wurde wesentlich durch das Buch »Die Koloniale Schuldlüge« geprägt und popularisiert, das Heinrich Schnee, einer der ehemaligen Gouverneure des kolonialen Tansanias85, 1924 erstmals veröffentlichte.86 Heinrich Schnees zahlreiche Veröffentlichungen 81 | Gewald: Words cannot be found, 2003, S. XVIII. 82 | United Kingdom: Report on the Natives of South-West Africa, 1918, S. 101. 83 | Reichskolonialamt: Die Behandlung der einheimischen Bevölkerung, 1919. 84 | Gewald: Words cannot be found, 2003, S. XIV. 85 | Der Terminus »koloniales Tansania« ist der postkolonialen Theorie entlehnt, wenngleich er geografisch und politisch ungenau ist, da Tansania durch die Vereinigung von Tanganyika und Zanzibar eine postkoloniale Föderation ist. 86 | Schnee: Die Koloniale Schuldlüge, 1924. Vgl. Schnee: »Das Deutsche Koloniallexikon«, 1920, Schnee: Braucht Deutschland Kolonien?, 1921; Schnee: Das Buch der deutschen Kolonien, Leipzig 51937; Schnee: Die deutschen Kolonien vor, in und nach dem Weltkrieg, Leipzig 1935.
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über die deutschen Kolonien sind Teil der zweiten Textflut, die der ›Verlust‹ der Kolonien auslöste. Um die ›Rückgabe‹ der Kolonien zu erwirken, entwickelte sich eine revisionistische Debatte, die in den 1920er Jahren ihren quantitativen Höhepunkt erreichte und belegt, dass der deutsche Kolonialismus als »Phantasie- und Projektionsgeschichte« 87 enorm präsent war. Erneut waren insbesondere Zeitzeugen und vor allem ehemalige Kolonialbeamte gefragt, eine vermeintlich wahre Geschichte der ehemaligen Kolonien zu schreiben, die die positiven Aspekte des deutschen Kolonialismus herausstellen und die Brutalität der Kolonialherrschaft negieren sollte. Für Stefan Hermes lässt sich in den Texten des Kolonialrevisionismus eine regelrechte »damnatio memoriae« 88 kolonialer Gewalt konstatieren, die den Diskurs dominierte. Abbildung 2
Arbeiter Illustrierte Zeitung 1 (1927), S. 4.
Gegenstimmen artikulierten sich im linken, kommunistischen Milieu. Willi Münzenberger, einer der einflussreichsten Vertreter der KPD in der Weimarer Republik und Herausgeber verschiedener Zeitungen, veröffentlichte in seiner »Arbeiter Illustrierte Zeitung« im Jahr 1927 einen besonders kritischen Artikel. Er spricht von einem »Ausrottungskrieg« gegen die Herero, durch die 87 | Laak: Imperiale Infrastruktur, 2004, S. 71. 88 | Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 115.
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»barbarischsten Mittel« sei »ein ganzes Volk vernichtet« worden.89 Gestützt wird die Argumentation durch eine retuschierte Fotografie der »überlebenden Herero«.90 Gemäß dem künstlerischen Programm der »Arbeiter Illustrierte Zeitung« wird die Fotografie mit weiteren Bedeutungsebenen aufgeladen. Auf der Abbildung ist der Hintergrund nun ebenmäßig weiß. Auf der linken Bildhälfte ist der Schriftzug »Kolonien!« in schnellen Pinselstrichen gemalt, rechts ist eine Flagge des roten Kreuzes skizziert. Die Bildunterschrift ist explizit kritisch: »Hereros, die von den deutschen Schutztruppen in die Wüste getrieben und ausgehungert wurden«. Der Artikel verweist auf eine kolonialismuskritische Bewegung der Weimarer Republik, die sich vor dem Hintergrund der Reichstagswahlen des Jahres 1928 engagierte und unter anderem von Willi Münzenberger getragen wurde. Er war 1926 Gründer der Berliner »Liga gegen koloniale Unterdrückung«, die im Februar 1927 ein Mitglied der internationalen »Liga gegen Imperialismus und für nationale Unabhängigkeit« wurde.91 Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft endete jedoch jegliches antikoloniale Engagement. Jahrzehnte später konnte die Geschichtsschreibung der DDR an diese kritische, antikoloniale Auseinandersetzung und Darstellungstradition anknüpfen. Während des Nationalsozialismus blieben kolonialrevisionistische Texte anschlussfähig, denn in den 1930er Jahren gewann die Vorstellung der Rückgewinnung des deutschen Kolonialreiches erneute Popularität und die Kolonialforschung und -propaganda wurde ideell und finanziell unterstützt.92 Die Erwartungen der im Kaiserreich sozialisierten KolonialenthusiastInnen wurden jedoch bald enttäuscht. Bereits 1941 wurden kolonialrevisionistische Publikationstätigkeiten eingeschränkt und zwei Jahre später, im Jahr 1943, schließlich jede kolonialrevisionistische Betätigung untersagt.93 Doch trotz des politischen Richtungswechsels blieben die Kolonien »in der populären
89 | Münzenberg: Ausrottungskrieg gegen die Herero, in: AIZ 1(1927), S. 4f. 90 | Ebd. 91 | Vgl. Martin: Die »Liga gegen koloniale Unterdrückung«, 2005. 92 | »Doch trotz zahlreicher Forschungsarbeiten bleibt letztlich umstritten […], welchen Stellenwert die Kolonialfrage für die Reichsleitung der NSDAP einnahm.« Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, S. 25. Vgl. Laak: Der imaginäre Ausbau der imperialen Infrastruktur, 2003; Laak: NS-Colonialism, 2008; Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, 2008, S. 118f. 93 | Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, 2008, S. 118. Das Scheitern des Madagaskar-Plans und die Niederlage bei Stalingrad läuteten schließlich »das offizielle Ende jeglicher Tätigkeit auf kolonialem Gebiet« ein, so Dirk van Laak. Vgl. Laak: Imaginäre Infrastruktur, 2003, S. 83.
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Imagination«94 weiterhin eine wichtige Projektionsfläche für die deutsche Militär-, Kultur- und Rassenideologie. In Kino, Literatur und Schulbüchern wurde das Bild eines positiven deutschen Kolonialismus entworfen und an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.95 Die Erinnerung an den Kolonialismus war dabei vor allem selektiv an einzelnen Personen orientiert, die dem Helden- und Personenkult des Nationalsozialismus dienlich waren.96 Besonders die Kolonialsoldaten, kolonialen Offiziere und Gouverneure waren eine beliebte Projektionsfläche für die Konstruktion eines deutschen, soldatischen Heldentums und blieben es auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Oskar Hintragers »Geschichtsbilder und Erinnerungen«97 bedienen diese Projektionsfläche. Die Erzählung, die er in »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft« entwirft, steht zunächst deutlich in der Tradition der damnatio memoriae. Oskar Hintrager relativiert den Kolonialkrieg in weiten Teilen mittels Fotografien, Bildunterschriften und flankierenden Textpassagen: Die Weißen Soldaten treten nicht als Akteure in Erscheinung und selbst der Krieg wird ausgeblendet, indem es in der erwähnten Bildunterschrift scheinbar neutral heißt, die Herero seien »aus dem Feld gekommen«. Der Zusatz, die Herero »melden sich an der Bauspitze der Otavi-Bahn als Gefangene«, suggeriert, dass die Herero eines Vergehens einsichtig wurden, infolgedessen sie nun ihre legitime Strafe als Gefangene für den Bau der Eisenbahn antreten wollten. Flankiert man die Bilder mit Hintragers Erzählung, so wird das Bemühen deutlich, die Fotografie zum Zeugnis einer selbstverschuldeten Katastrophe zu machen. Innerhalb dieser Logik ist der Ausgang des Krieges nicht das Ergebnis einer inhumanen Kriegsführung, sondern der selbstverschuldeten Fehleinschätzung seitens der Herero. Die »Hereros«, so Oskar Hintrager, »flohen panikartig«98 und – so ließe sich ergänzen – grundlos. Damit wird die »Vernichtungsabsicht« Lothar von Trothas negiert, der in seiner Proklamation an die Herero vom Ok94 | Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, 2008, S. 117. 95 | Vgl. Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 120; Conrad: Deutsche Kolonialgeschichte, 2008, S. 118; Schulte-Varendorff: Kolonialheld für Kaiser und Führer, 2006. 96 | Ausdruck findet dies etwa im Personenkult um Carl Peters, dessen Leben 1941 verfilmt wurde. Die Hauptrolle spielte der nationalsozialistische Filmstar Hans Albers. Dirk van Laak führt zur spezifischen Erinnerung im Nationalsozialismus aus: »Die deutsche Kolonialepoche wurde entsprechend der deutschen ›Kulturträger‹-Ideologie ›gereinigt‹, das Nicht-Erfolgreiche wurde Juden und Sozialdemokraten zugeschrieben, die den deutschen Kolonialhelden wie Carl Peters, analog zum ›Dolchstoß‹ im Ersten Weltkrieg, vermeintlich in den Rücken gefallen seien.« Laak: Imaginäre Infrastruktur, 2003, S. 82. 97 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, Vormerkungen, o. S. 98 | Ebd., S. 62.
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tober 1904 unter anderem ankündigte: »Innerhalb der Deutschen Grenze wird jeder Herero mit und ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Hereros.« Dass Lothar von Trotha dabei die Absicht hatte, die Herero zu »vernichten«, und damit weit mehr als einen militärischen Sieg zu erringen, wird an einem Brief von Trothas an den Chef des Generalstabes der Armee deutlich, in dem er seine Kriegsführung rechtfertigt: »Ich glaube, daß die Nation als solche vernichtet werden muß, oder, wenn dies durch taktische Schläge nicht möglich ist, durch die weitere Detail-Behandlung aus dem Land gewiesen werden muß.«99 Die Vernichtungsabsicht, die bereits zeitgenössisch zur Kritik an Lothar von Trothas Kriegsführung geführt hatte, offen zu benennen spart Oskar Hintrager bewusst aus. Anstatt die Kontroverse um die Kriegsführung zu thematisieren und seine Bedeutung zu betonen, erzählt er ihn als einen relativ unbedeutenden Kolonialkrieg. Dies schlägt sich auch in einer semantischen Verschiebung nieder: Die Ereignisse des Jahres 1904 werden als »ein [Hervorhebung C.B.] blutiger Aufstand der Hereros« bezeichnet.100 Damit wird ihr exzeptioneller Status in Abrede gestellt, der vor dem Ersten Weltkrieg zur Legitimation des Krieges diente: Im Koloniallexikon, das Heinrich Schnee im Jahr 1920 herausgab, wurden die Ereignisse noch als »der schwerste Eingeborenenaufstand im Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika seit der Besitzergreifung«101 bezeichnet. Eine ähnliche Passage findet sich in der Biografie Maximilian Bayers, für den galt: »Deutschlands blutigster und langwierigster Kolonialkrieg hatte begonnen.«102 Auch Diedrich Westermann relativiert den Krieg gegen die Herero und Nama indem er ihn lediglich in wenigen Sätzen beschreibt.103 Er wird so zu einer kurzen Episode innerhalb der Geschichte des kolonialen Namibias, die auch innerhalb der Erzählstruktur nicht den Höhepunkt der Erzählung bildet. Damit wird der Krieg zu einem ›normalen‹– mit Kolonialkriegen anderer Kolonialmächte vergleichbaren – Krieg, der die in Versailles erhobenen Vorwürfe nicht rechtfertigt. Oskar Hintrager versucht durch das narrative Zusammenspiel der ersten und zweiten Fotografie, das »Blue Book« zu widerlegen. Die intendierte Lesart der Fotografien wird durch die Bildunterschriften und den Fließtext vorgegeben: »Die Männer lieferten ihre Waffen ab und fanden zu einem großen Teil sofort Arbeit beim Bau der Otavibahn, in Tsumeb im Kupferbergbau und auf Farmen. Abgemagert und abgehärmt kamen die Hereros aus dem Felde, 99 | Zitiert nach Sobich: Schwarze Bestien, rote Gefahr, 2006, S. 59. 100 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 45. 101 | Schnee: Deutsches Koloniallexikon, 1920, Bd. II, S. 59. 102 | Bayer: Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika, 1909, S. 2. 103 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 445.
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erhielten Kost und Unterkunft und kamen überraschend schnell wieder zu Kräften.«104 Mit der Bildfolge sollte auch visuell ein Beleg für die gute Behandlung der Herero nach dem Krieg erbracht werden, so dass diese sich aus eigenem Entschluss am Projekt der Moderne beteiligten, das durch den Bau der Otavi-Bahn versinnbildlicht wird. Der körperliche Zustand der Herero soll hier Beweis für die positive Kolonialherrschaft sein, und damit die »koloniale Schuldlüge« in der Tradition der »Augenzeugenberichte« mittels der vermeintlich dokumentarischen Fotografie widerlegen. Dieses Urteil »belegt« Oskar Hintrager ganz im Sinne des Kolonialrevisionismus mit Verweis auf die Zurückweisung des englischen »Reports« durch die Herero: »Dem englischen Blaubuch ist die beste Widerlegung von den Hereros selbst zuteil geworden. Am Ende des Ersten Weltkrieges beauftragte der Windhuker Administrator Gorges den Magistrat von Okahandja, die Ältesten des Hererovolkes zu befragen, ob die Hereros im Falle einer Volksabstimmung für die Rückkehr der deutschen Herrschaft sein würden. Wie früher erwähnt, haben die Ältesten diese Frage bejaht.«105 Doch die Vorher-Nachher Inszenierung ist in einer kritischen Lesart fragwürdig, schließlich werden die beiden Bilder von Oskar Hintrager instrumentalisiert, um seine Narration visuell zu belegen. Die Entstehungsbedingungen und das Verhältnis der beiden abgebildeten Gruppen werden einzig durch die Bildunterschriften geliefert. Folglich lassen gerade die visuellen ›Belege‹ den Wahrhaftigkeitsgehalt der narrativ dargebotenen Darstellung zweifelhaft erscheinen.
Legitimationsnarrative kolonialer Gewalt Oskar Hintragers und Diedrich Westermanns Interpretationen verweisen zunächst auf die politische Diskussion um die Ereignisse im Kontext der Verhandlungen von Versailles und dem sich anschließenden Versuch einer ›damnatio memoriae‹ des kolonialen Genozids. Gleichzeitig und im Widerspruch hierzu finden sich jedoch Versatzstücke jener kolonialen Episteme, die der umfassenden Legitimation des kolonialen Genozids dienen und sowohl in Narrativen und Erzähltopoi als auch in einzelnen Begriffen transportiert werden. Dabei spiegeln divergente und zum Teil widersprüchliche Vorstellungswelten und Konstruktionsmechanismen die eklektizistischen Konstruktionspraktiken kolonialen Wissens. Der koloniale Genozid wird in beiden Texten innerhalb eines Metanarrativs verortet, das den deutschen Kolonialismus als Geschichte des Fortschritts und der Modernisierung erzählt. Damit werden einerseits Argumente des ›Kolonialrevisionismus‹ plausibilisiert, andererseits ermöglicht das Fortschritts- und Modernisierungsnarrativ die ›Vernichtung‹ der Herero und 104 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 83. 105 | Ebd., S. 211.
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Nama als Instrument eines umfassenden Modernisierungsprojekts zu legitimieren. Gestützt wird diese Erzählung durch sozialdarwinistische und rassistische Vorstellungen. Sie lassen die Erzählung als biologistisch determiniert und naturalisiert erscheinen. Diedrich Westermann hinterfragt zunächst den seit der Aufklärung virulenten Topos der »Geschichtslosigkeit Afrikas«, der die koloniale Fortschrittserzählung idealtypisch ermöglicht. Er betont einleitend die bisherigen Beschränkungen der Geschichtsschreibung, »die Ranke und frühere Geschichtsforscher überhaupt sich auferlegten«.106 Sein Ziel sei es hingegen, die »Staatenbildung südlich der Sahara« darzustellen, während das Rankesche Diktum der Geschichtslosigkeit Afrikas eine Staatenbildung theorieimmanent ausschließt.107 Diese Position wurde in Ost- und Westdeutschland als historiografischer Paradigmenwechsel wahrgenommen.108 Die DDR-Historikerin Thea Büttner liest die Passage noch knapp fünfundzwanzig Jahre nach Erscheinen des Buches als »Polemik gegen die Rankesche europazentrische Geschichtsbetrachtung«.109 In der BRD wurde Diedrich Westermanns »Geschichte Afrikas« im Jahr 1960 von Egmont Zechlin zum Wendepunkt innerhalb der akademischen Beschäftigung mit Afrika stilisiert, da sie wesentlich zur »Neuorientierung unseres Geschichtsbildes« beigetragen habe. Erst Diedrich Westermann – so führt Zechlin in einem 1960 gehaltenen Seminar aus – habe die Ansicht etabliert, dass die »Kolonialgeschichte ein Bestandteil der Geschichte des europäischen Staatensystems« sei.110 Damit sei schließlich die Geschichtsauffassung Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Leopold von Rankes wissenschaftlich widerlegt, deren Thesen »nach dem Erscheinen der ›Geschichte Afrikas‹ v. Westermann doch revidiert werden mussten«.111 Doch zugleich schlägt Diedrich Westermann die Afrikahistoriografie der Ethnologie und Linguistik zu, und damit jenen Disziplinen, deren wissenschaftliches Selbstverständnis ganz entscheidend auf der Idee der zu erforschenden Alterität gründet, die als wesentliche Prämisse die Beschäftigung mit der Geschichte Afrikas leitet. Für Diedrich Westermann besteht eine unüberwindbare Differenz zwischen AfrikanerInnen und EuropäerInnen. Das »eigentliche Hemmnis in dem Bemühen um die Gewinnung eines geschichtlichen Bildes 106 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 1. 107 | Ebd. 108 | Vgl. Jacob: Grundzüge der Geschichte Afrikas, Darmstadt 1966, S. 24; Büttner: Westermanns »Geschichte Afrikas«, 1976, 424f. 109 | Büttner: Westermanns »Geschichte Afrikas«, 1976, 424f. 110 | Hauptseminar Prof. Zechlin: Afrika und die Politik der europäischen Großmächte, WS 60/61: 1. Seminarsitzung, 2.11.1960, in: SAH 364-13, Hist. Sem, M1 58 A 3/4, S. 1f. 111 | Ebd.
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vom Afrikaner« begründet Diedrich Westermann damit, dass dieser »uns in seiner Persönlichkeit ein Fremder«112 bleibe. Nur »mit den Mitteln der Völkerkunde und unter ihrer Mitwirkung« könne eine »Tiefenschau in das Leben und Werden der Naturvölker« gewonnen werden.113 Eine mit der europäischen Geschichtsschreibung vergleichbare historiografische Darstellung Afrikas – mitsamt der Anwendung ihres begrifflich-methodologischen Instrumentariums – wird auch von Diedrich Westermann dezidiert ausgeschlossen. Damit führt er eine folgenreiche disziplinäre Trennung fort, die im kolonialen Wissensdiskurs begründet ist. Auch Diedrich Westermann gelingt es nicht, das Stereotyp des ›dunklen Kontinents‹ zu dekonstruieren, wenn er über dessen Erforschung sagt: »Vieles, ja das Meiste, bleibt für uns dunkel.«114 Besonders gelte das für das koloniale Namibia: »Sie alle wissen wenig von ihrer Vergangenheit zu erzählen.«115 Konstitutiv für das Metanarrativ der kolonialen Modernisierung ist der Entwurf eines Geschichtsbildes, in dem das vorkoloniale Namibia und seine Bewohner »unter dem Gesichtspunkt eines Mangels«, der »Abwesenheit oder Unvollständigkeit« repräsentiert werden.116 Dieses Geschichtsmodell legitimiert scheinbar einen Repräsentationskomplex, der von Johannes Fabian als »Allochronie« bezeichnet wird und darauf abzielt, die »Anderen« aus einer eurozentrischen Perspektive als rückständig zu markieren und »temporale Distanzierungseffekte« herbeizuführen, die durch rassistische Zuschreibungen argumentativ gestützt werden.117 Der allochrone Diskurs ist entscheidend für die dichotome Konstruktion des ›Anderen‹ und des ›modernen Selbst‹. Er ermöglicht eine Hierarchisierung, die das Entwicklungsstadium des Westens als normativ und gegenwärtig setzt. Die Entwicklung der ›Anderen‹ hinkt folglich hinterher. Sprachlich schlägt sich der allochrone Diskurs in der »Geschichte Afrikas« in verschiedenen Attributen vermeintlicher Rückständigkeit nieder, die aus dem Repertoire der europäischen Geschichte stammen. Deutlich wird dies etwa an der homogenisierenden Beschreibung des vorkolonialen Afrikas, das in Rückgriff auf die seit dem 19. Jahrhundert etablierten stereotypen Vorstellungen des historischen Mittelalters beschrieben wird.118 »Hungersnöte und Unterernährung«, ein »Heer von Seuchen und Krankheiten, denen man schutzlos preisgegeben war«, eine primitive Landwirtschaft ohne »Kulturpflanze[n]« werden dabei als Charakteristika einer »bescheidenen Stu112 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. VI. 113 | Ebd., S. 2. 114 | Ebd., S. VII. 115 | Ebd., S. 440. 116 | Chakrabarty: Europa provinzialisieren, 2002, S. 286f. 117 | Fabian: Time and the Other, 1983, S. 30. 118 | Vgl. Patzold: Geschichtsvorstellungen, 2012.
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fe der menschlichen Entwicklung« angeführt, die damit aber zugleich einen Blick auf die eigene, längst vergangene Geschichte erlaubt.119 Implizit wird so zugleich eine Zukunftsvorstellung transportiert, die auf eine Überwindung des ›mittelalterlichen‹ Lebens zuläuft. Zentral für den allochronen Diskurs ist ferner der Topos der vorkolonialen kriegerischen Auseinandersetzungen der »verschiedenen »Stämme« und »Völker«, mit denen die EuropäerInnen konfrontiert waren, kurze Zeit nachdem sie »in Südafrika Fuß faßten«.120 »Um die Mitte des 18. Jahrhunderts«, so Diedrich Westermann weiter, »befand sich bereits im Norden Südwestafrikas der Nama-Stamm der Hottentotten mit den damals nach Süden vorstoßenden Herero im Kampf.«121 Westermann führt in seiner »Geschichte Afrikas« die stetigen Migrationsbewegungen innerhalb des kolonialen Namibias als historische Konstante ein, die einen zwingenden Krieg um die knappen Ressourcen, vor allem um die zunehmend knapper werdenden Weideplätze, auslösen musste: »Da Herero wie Hottentotten für ihre Viehherden große Räume brauchen, mußten sie früher oder später aufeinanderstoßen, und die Kämpfe zwischen beiden (in denen die Hottentotten auch Kampfstiere verwandten) bilden das eigentliche Thema der südwestafrikanischen Geschichte vor der deutschen Besitzergreifung.«122 Diese vorkolonialen Kriege bindet Diedrich Westermann an sozialdarwinistische und rassistische Vorstellungen, die entscheidend für das Gesamtnarrativ und die implizite Legitimation des kolonialen Genozids sind. Einleitend führt er aus, »es gibt auch große Unterschiede unter den Stämmen, die gleichwertigen Boden bebauen, der eine besitzt ein besseres Erbgut für den Kampf ums Dasein und läßt seinen Nachbarn hinter sich«.123 Die explizite terminologische Verwendung von »Boden«, »Erbgut«, »Kampf ums Dasein« sowie – an anderer Stelle – »Lebensraum« verweist deutlich auf die Fortführung des nationalsozialistischen Rassen- und Lebensraumdiskurses, der sich vor allem im Literaturverzeichnis und in früheren Publikationen abbildet.124 So wird nochmals deutlich, dass das Werk trotz seiner Publikation im Jahr 1952 während des Nationalsozialismus entstanden war. Obgleich der sozialdarwinistisch begründete »Kampf ums Dasein« nicht ausdrücklich mit den Handlungen der »Händler- und Siedlungsbevölkerung«125 in Zusammenhang gebracht wird, legt das Gesamtnarrativ eine solche Erklärung nahe. Das Narrativ ermöglicht es erst, den Krieg gegen die 119 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 447. 120 | Ebd., S. 441. 121 | Ebd., S. 441. 122 | Ebd., S. 441f. 123 | Ebd., S. 6. 124 | Ebd., S. 454-470. 125 | Ebd., S. 444.
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Herero und Nama und ihre ›Vernichtung‹ als biologistischen Determinismus zu rechtfertigen. Diedrich Westermann vertritt diese These wenige Jahre zuvor noch ganz explizit: »In einem europäisierten Afrika, das an den Eingeborenen ganz andere Anforderungen stellt und den Lebenskampf unendlich kompliziert, ist für Menschen, die über den primitiven Zustand offenbar nicht hinausgelangen, kein Platz mehr.«126 Mit der Repräsentation der AfrikanerInnen als »Stämme« und »Völker« konstruiert Diedrich Westermann ein »deutsches Volk«, das gemäß der von ihm bemühten Theorien als essentialistisch konzipierte Volksgruppe gedacht werden muss, die »Lebensraum« im kolonialen Namibia sucht.127 Die Konstruktion essentialistischer »Völker« und »Stämme« ist mit der Kategorie ›Rasse‹ verbunden, die im Sinne völkischer Ideologien die biologische Abstammung fundiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Begriff ›Rasse‹ jedoch diskreditiert, wie im Vergleich zu früheren Publikationen deutlich wird. Diedrich Westermann führt etwa in »Afrika als europäische Aufgabe« aus dem Jahr 1941 aus, dass die AfrikanerInnen »überall auf der unteren Stufe stehengeblieben« sind. Der Grund könne »nur ihre rassische Unterlegenheit sein«.128 Doch mittels sprachlicher Codierungen werden insbesondere in Diedrich Westermanns Text auch nach dem Zweiten Weltkrieg rassistische Vorstellungswelten, Wissenssysteme und vor allem das Konzept ›Rasse‹ fortgeführt: Die »Hamitentheorie« ersetzte als Sprachtheorie die biologistische Klassifikation der ›Rassen‹ durch linguistische Klassifikationen, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst als neutral galten. So konnte das Konzept der ›Rassen‹ unter linguistischen Klassifikationen verdeckt beibehalten werden.129 Die Theorie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts maß126 | Westermann: Afrika als europäische Aufgabe, 1941, S. 20. 127 | In Hinblick auf die bundesrepublikanische Geschichtswissenschaft ist nicht unerheblich, dass die Volksgeschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg weiterhin bestand hatte und Kategorien und vor allem implizite Vorstellungswelten des völkischen Diskurses fortgeführt wurden. Erst Winfried Schulze wies 1989 in seinem Buch »Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945« darauf hin, dass die Strukturgeschichte der fünfziger Jahre und die daran anknüpfende neue deutsche Sozialgeschichte und Gesellschaftsgeschichtsschreibung eine ihrer Wurzeln in der Volksgemeinschaftsideologie der Volksgeschichtsschreibung der NS-Zeit gehabt habe. Vgl. auch Lutz: Von der Volksgeschichte zur Strukturgeschichte, 2002; Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte, 2002. 128 | Westermann: Afrika als europäische Aufgabe, 1941, S. 27. 129 | Vor dem Hintergrund des NS hatte in der unmittelbaren Nachkriegszeit eine intensive wissenschaftliche Debatte über die Kategorie der ›Rasse‹ begonnen. Die Bemühungen der UNESCO, die 1949 ein wissenschaftliches Komitee zur Klärung der »Rassenfrage« einsetzte, mündeten zwar in ein »Statement on Race«, doch bereits
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geblich von Richard Lepsius und Diedrich Westermanns Lehrer, Carl Meinhof, entwickelt und als wissenschaftliches Paradigma durchgesetzt.130 Mit ihr sollten nicht nur AfrikanerInnen linguistisch-geografisch klassifiziert werden, sondern eine scheinbar natürliche Hierarchie zwischen ›hamitischen‹ und ›nichthamitischen‹ Völkern wissenschaftlich ›bewiesen‹ werden. Sie beruht auf einem ›Hamitenbegriff‹, der die biblische Wortbedeutung umkehrt.131 ›Hamiten‹ sind demnach keine AfrikanerInnen, sondern eine von Asien eingewanderte, als ›hellhäutig‹ konstruierte Gruppe, die durch ihre Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen und vermeintlich besonders komplexen Sprach- und Kulturfamilie definiert wird. Die Hautfarbe dient theorieimmanent als Marker im rassistischen Suprematiediskurs. Implizit wird zugleich eine Aussage über das ›Eigene‹ getroffen: Die Nähe zwischen den europäischen und den hamitischen Sprachen und die Verschränkung von Hautfarbe und Hierarchie dient auch dazu, europäische Herrschaftsvorstellungen zu begründen. Das rassifizierende Modell schlägt sich in der phänotypischen und kulturellen Repräsentation der ›Hamiten‹ nieder, die ihnen eine gewisse Nähe zu den EuropäerInnen zugesteht. Im Koloniallexikon wird etwa der »hohe, schlanke Wuchs, die helle Haut, das schmale Gesicht mit der scharf geschnittenen Nase […] und das seidenartig lockige, nicht krause Haar« der »Hamiten« betont.132 Der Linguist Diedrich Westermann folgt den rassifizierenden Kategorien in seinem Überblickswerk, wenn er einleitend vier hierarchisierte Gruppen einführt: »Buschleute, Hottentotten, Bergdama (23.000) und Bantu-Stämme, unter denen die Herero an erster Stelle stehen.« 133 Explizit verweist er auch auf das biologistisch-rassistische Fundament der Theorie. Die »Hottentotten«, so führt Diedrich Westermann aus, die erste Version aus dem Jahr 1950 löste eine breite wissenschaftliche Kontroverse aus, die auch publizistisch Niederschlag fand. Vgl. UNESCO (Hg.): The Race Concept. Results of an Inquiry, Paris 1952. Die Statements entstanden in den Jahren 1950, 1951, 1964 und 1967, wurden jedoch erst 1969 als Sammelpublikation veröffentlicht. Vgl. Banton: UNESCO, 2004, S. 431f. Die jahrzehntelange Auseinandersetzung um die Dekonstruktion der Kategorie zeugt von den Schwierigkeiten das Konzept der ›Rasse‹ aufzugeben. 130 | Vgl. Meinhof: Die Sprachen der Hamiten, 1912. 131 | Vgl. Arndt/Hornschneider: Afrika und die deutsche Sprache, 2009, S. 137-141. 132 | »Hamiten«, in: Deutsches Kolonial-Lexikon, 1920, S. 14. Vgl. »Hamitische Sprachen«, in: Koloniallexikon, 1920, S. 14. Ganz ähnlich bei Irle: »Vielfach findet man auch, trotz der schokoladenbraunen Hautfarbe, fast europäische Gesichtszüge, eine hohe Stirn, ein längliches Gesicht mit weniger platter Nase und weniger vorstehenden Backenknochen; nur eine geringe Minderzahl hat ein negerartiges Aussehen.« Irle: Die Herero, 1906, S. 54. 133 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 441.
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»tragen Hamitenblut in sich« 134, während es die »hottentottischen Orlam« auszeichnet, dass sie »teilweise schon Europäerblut in sich trugen.« 135 Ohne den Begriff der ›Rasse‹ zu verwenden, werden zentrale Axiome des Rassediskurses fortgeführt. Für die Logik der Erzählung und die Erzählmöglichkeiten des kolonialen Genozids ist dies zentral, denn erst der mit der ›Hamitentheorie‹ fortgeführte Rassediskurs ermöglicht es, die Geschichte des kolonialen Namibias weiterhin kohärent als sozialdarwinistischen Überlebenskampf zu erzählen, und damit auch den Kolonialkrieg innerhalb dieser Logik zu verorten. In der Erzähllogik der Texte Diedrich Westermanns und Oskar Hintragers erscheint der Kolonialismus jedoch zunächst als Kultur- und Zivilisationsprojekt. In Analogie zur Mittelaltererzählung wird in Diedrich Westermanns Erzählung die »Erschließung und Besetzung Afrikas durch den Europäer« zur Epochenschwelle, die »den Beginn eines neuen Zeitalters« anzeigt.136 Entscheidend für die umfassende Legitimation des kolonialen Projekts ist hierbei auch die Vorstellung, dass die räumlich-geographische Abgeschlossenheit des kolonialen Namibias eine besonders langsame Entwicklung zur Folge gehabt hätte, die nur die Innovationen von außen durchbrechen konnte.137 Diedrich Westermann bemüht hier implizit das kolonialwissenschaftliche Modell des Diffusionismus, demzufolge Neuerungen in der kolonialen Metropole entstehen und von dort in andere ›Kulturkreise‹ übertragen werden. Die essentialistisch begründete Differenz zwischen den ›Kulturkreisen‹ schreibt bereits ein hierarchisches Verhältnis fest. In der vorher zitierten Schrift »Afrika als europäische Aufgabe« legte Diedrich Westermann 1941 dar, dass die AfrikanerInnen »unter den vom Europäer ausgehenden Antrieben, die sie endgültig aus ihrer sterilen Abgeschlossenheit befreien, in Zukunft Fortschritte machen werden, wie sie das bisher schon getan haben, aber sie werden immer Menschen sein, die sich in wesentlichen Dingen vom Europäer unterscheiden und die, wenn sie auf den beschrittenen neuen Wegen bleiben und vorankommen wollen, der Leitung der Weißen bedürfen«.138
Diedrich Westermann und Oskar Hintrager bemühen dieses Modell auch noch nach 1949, um Veränderungen und Innovation zu erklären. Für Diedrich Westermann gilt weiterhin: »Große Umwälzungen kamen durch Einwirkung von
134 | Ebd., S. 440. 135 | Ebd., S. 442. 136 | Ebd., S. 447. 137 | Vgl. Honold: Raum ohne Volk, 2004. 138 | Westermann: Afrika als europäische Aufgabe, 1941, S. 27.
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außen.«139 Oskar Hintrager verbindet diese Vorstellung zugleich mit einem nationalistischen Diskurs und erklärt, dass die vermeintliche Zivilisierung und Kultivierung Afrikas das »Ergebnis deutscher Arbeit« sei, wie er auch ein Kapitel programmatisch benennt.140 Gestützt wird das Fortschrittsnarrativ in den Texten Oskar Hintragers und Diedrich Westermanns durch koloniale Raum- und Landschaftsimaginationen. Die Bedeutung dieser Imaginative und Topoi für die narrative Logik der Erzählungen ist kaum zu unterschätzen. Raum und Landschaft sind im kolonialen Diskurs keineswegs ›neutral‹ oder gar mimetisch sondern hochgradig konstruiert. Als entscheidender Teil des Macht- und Herrschaftswissens plausibilisieren sie Entwicklungsmodelle und Herrschaftsansprüche.141 Eine zentrale Funktion kommt dabei den Topoi der »räumlichen Abgeschlossenheit«142 und Leere zu, die ein Raumerschließungsszenario ermöglichen, in dem sich Raum – »ungeachtet seines tatsächlichen Besiedelungsgrades – den Europäern als in die Weite hingebreitetes Niemandsland darbietet«.143 Der Topos des menschenleeren, zu erschließenden Raums findet sich vor allem in Oskar Hintragers Erzählung. Er naturalisiert diese Position, indem er eine Erzählperspektive wählt, für die das koloniale Namibia und seine Bewohner lediglich die Erzählfolie und Staffage einer heroisierten Expansions- und Abenteuergeschichte bilden, die das Stereotyp des gefährlichen und unerschlossenen Afrikas transportiert.144 Seine Protagonisten sind Weiße, männliche Akteure, die eine terra nullis, eine bislang unerforschte und gefährliche Region, erkunden und in Besitz nehmen. Damit zitiert er zeitgenössische Helden- und Abenteuerromane sowie autobiografische Erzählungen. Die »Eingeborenen«145 werden in dieser Kolonialfantasie weitestgehend ausgeblendet, denn ihre Existenz und die Erzählung einer terra nullis et incognita widersprechen sich. Dies schlägt sich auch semantisch in einer regelrechten Entvölkerung des kolonialen Raumes nieder, der als leer und unbewohnt beschrieben wird. Damit kann seine Erschließung und Besiedlung als legitim vorgestellt und inszeniert wer139 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 6. Vgl.: »Wo sich ein größerer Reichtum zeigt, geht dieser ganz oder meistenteils auf unmittelbare Einwirkung durch Fremde zurück. Der Afrikaner hat weder auf materiellem noch geistigem Gebiet einen Beitrag zur Weltkultur geliefert; er war Empfänger, nie Geber.« Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 447. 140 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 173. 141 | Vgl. Soja: Postmodern Geographies, 2011; Noyes: Landschaftsschilderung, 2002; Noyes: Colonial Space, 1992. 142 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 5. 143 | Honold: Raum ohne Volk, 2004, S. 97. 144 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 8. 145 | Ebd., S. 101.
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den. Gestützt wird die Erzählung in der Visualisierung des Raums mittels der obligatorischen Karte »Deutsch-Südwestafrika«, die auch in Hintragers Darstellung nicht fehlt. Abbildung 3
Hintrager: Südwestafrika in der deutschen Zeit, 1955, Einband.
Scheinbar mimetisch wird hier ein abgeschlossener, leerer Raum entworfen, der über den Meereszugang erschlossen und durch das koloniale Eisenbahnnetz durchdrungen wird. Diese visuelle Naturalisierung des kolonialen Raums durch das Medium der Karte fungiert als zentrales Speichermedium kolonialen Wissens, das über mehrere Jahrzehnte nahezu unverändert tradiert wird. Die Rauminszenierung setzt das als Siedlungskolonie konzipierte ›DeutschSüdwestafrika‹ in ein dichotomes Verhältnis zur industriell erschlossenen aber überfüllten Metropole und schließt an den ›Lebensraumdiskurs‹ an, dem bereits im Kolonialismus eine entscheidende Funktion für dessen geopolitische Begründung zukam. Im Zuge des Kolonialrevisionismus der Weimarer
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Republik wurde der ›Lebensraum‹ durch den Geographen Friedrich Ratzels zu einer zentralen Parole, die mit Hans Grimms populistischem Bestseller »Volk ohne Raum« unter dem Eindruck des Kolonialrevisionismus seit 1926 popularisiert wurde.146 Im Nationalsozialismus wurde die sozialdarwinistisch begründete Vorstellung eines zu erobernden ›Lebensraums‹ zu einer zentralen ideologischen Prämisse der Politik. Wie virulent diese Vorstellungen auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieben, wird an einer Passage aus »Südwestafrika in der deutschen Zeit« deutlich. Im Rückgriff auf Hans Grimm galt auch für Oskar Hintrager, dass im »deutschen ›Volk ohne Raum‹ […] ein starkes Verlangen nach eigenen Kolonien« entstanden war.147 Die Rechtfertigung der »eigenen Kolonien« erfolgt dabei auch über die Inszenierung des Kolonialismus als Modernisierungs- und Fortschrittsprojekt, als das »Ergebnis deutscher Arbeit«148. Das koloniale Namibia als karger, unwirtlicher und lebensfeindlicher Raum steht im Gegensatz zum Stereotyp des vegetationsreichen Afrikas und war bereits im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein zentraler Topos.149 Oskar Hintrager stellt in seiner Exposition die rhetorische Frage: »Wie kam der Bremer Großkaufmann Lüderitz auf den Gedanken, eine Niederlassung an der nur Sand und Felsen bietenden Küste von Südwestafrika zu gründen, an der seit Bartholomäus Diaz (1487) unzählige Seefahrer achtlos vorbeigefahren waren? An dieser wenig einladenden Küste, die die Seeleute wegen der Opfer durch Schiffbruch und Verdurstungstod ›die Skelettküste‹ benannten?«150 146 | Vgl. »Auf halber Strecke vom Wilhelminischen Kaiserreich in die NS-›Lebensraum‹- und Kriegspolitik, bündelt Grimm die deutschen Kolonialerfahrungen zum Monument einer imperialen, arischen Siedlerkolonie.« Honold: Raum ohne Volk, 2004, S. 95. 147 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 9. Dies liegt für Felix Brahm unter anderem darin begründet, dass der Zweite Weltkrieg für die »Raumwissenschaften« keine Zäsur darstellte und »sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR« inhaltlich fortgeführt wurde. Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 71. 148 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 173. 149 | Für den Theologen, Kolonialbeamten und Schriftsteller Paul Rohrbach, der von 1903 bis 1906 als Ansiedlungskommissar und Wirtschaftssachverständiger im kolonialen Namibia tätig war, galt 1914: »Wenn wir an ein tropisches Land denken, z.B. an Kamerun oder an Ostafrika, so können wir uns die dortigen Verhältnisse vorstellen, sobald wir unsere heimischen Vorstellungen von Vegetationsfülle, Wasserreichtum, Klima usw. steigern, bis das Bild der tropischen Wirklichkeit erreicht ist. […] Wer dagegen von Südafrika sich ein Bild machen will, der kann gar keinen Vergleich aus der Heimat brauchen; er muß versuchen, sich ganz neue Vorstellungen aus dem Bilde der südafrikanischen Naturelemente aufzubauen.« Rohrbach: Die deutschen Kolonien, 1914, S. 19ff. 150 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 7.
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Indirekt greift er dabei eine Debatte des Kaiserreiches auf. Im Zuge der Auseinandersetzung um den Wert der Kolonie und die ökonomische Bedeutung des kolonialen Projekts stand vor allem die potenzielle agrarische Nutzung zur Debatte, die besonders den Kolonialkritikern fragwürdig schien. Auch der Generalstabsbericht charakterisiert das koloniale Namibia als »schwer zugängliches Gebiet«151 und »kümmerlich ausgestattetes Land«152, das sich durch eine »öde Gleichförmigkeit des Landschaftsbildes«153 auszeichnet. Ähnliche Beschreibungen finden sich auch in zahlreichen Berichten und Kolonialromanen.154 Erst diese kolonialen Raum- und Landschaftsrepräsentationen ermöglichen es, das koloniale Projekt als Fortschrittserzählung zu narrativieren. Sprachlichen Ausdruck findet dieses Narrativ in einer regelrechten Verwandlung der Landschaft durch die deutschen SiedlerInnen, die von wirtschaftlicher und kultureller Entwicklung zeugt.155 Das Narrativ ist dabei eng an der Erzählung der europäischen Industrialisierung orientiert. Neben den politischen, kulturellen und missionarischen Erfolgen werden vor allem die ökonomischen und infrastrukturellen Leistungen der deutschen Kolonialverwaltung und der Siedlergemeinschaft angeführt und als Gegenstand mehrerer Einzelkapitel hervorgehoben.156 Vor allem die Beschreibung der Eisenbahn, die geradezu als Ikone für die europäische Industrialisierung steht, ist eine Metapher für die Durchdringung des kolonialen Raums, die sowohl narrativ als auch durch abgedruckte Fotografien immer wieder zitiert wird. In Oskar Hintragers Erzählung werden 56 Schwarzweiß-Fotografien verwendet, mit denen der vermeintliche Fortschritt auch visuell bezeugt wird. Der überwiegende Teil der Bilder zeigt Landschafts- und Architekturaufnahmen, die den kulturellen und technischen Fortschritt visualisieren sollen, sowie Portrait und Gruppenaufnahmen deutscher Militärs und Generäle. Lediglich vier Fotografien zeigen Schwarze Menschen. Mit der Anordnung der Abbildungen innerhalb des Werkes – Brunnen, Straßen, Eisenbahnstrecken und städtisches Leben – ergibt sich eine Bildstrecke, die die zunehmende Er151 | Generalstab: Die Kämpfe der deutschen Truppen, Bd. 1, 1906, S. 6. 152 | Ebd., S. 9. 153 | Ebd., S. 7. 154 | Vgl. exemplarisch Peter Moors Fahrt nach Südwest, 1906, S. 32f. und S. 37: »Da standen alle und staunten und sprachen ihre Meinung aus. Viele sahen still und ernst nach dem ungastlichen, öden Lande; andere spotteten und sagten: ›Eines solchen Landes wegen so weit fahren!‹ […] Wir sahen keinen Strauch, nicht einmal einen Grashalm, und kein Tier.« 155 | Vgl. Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 173-180. 156 | Vgl. hierzu die Kapitel: »Die Diamantenfunde. Von Schuckmanns Abschied.«, S. 108-119 und »Ergebnisse deutscher Arbeit«, S. 173-179, in: Hintrager: Südwestafrika, 1955.
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schließung und Urbanisierung durch Weiße KolonisatorInnen dokumentiert. Der Erzähltext gibt dabei die Lesart der Bilder vor: »Brunnen und Häuser wurden gebaut, Staudämme gemacht, Gärten angelegt, und der Pflug durchfurchte ein Stück jungfräulicher Erde nach dem anderen. Der Deutsche ist ja als ein ausgezeichneter Kolonialist in allen Auswanderungszielländern bekannt und geschätzt.«157 Diese Passage ist zugleich charakteristisch für den Kolonialrevisionismus, der »Deutschlands Versagen auf dem Gebiete der kolonialen Zivilisation«158 im Rückgriff auf die vermeintlichen Leistungen des kolonialen Projekts widerlegen wollte. Das Projekt der Modernisierung führt in den Erzählungen in eine Zeit des Friedens, der Sicherheit und kolonialen Ordnung: »Dem erfahrenen Gouverneur Leitwein war es gelungen, den fortgesetzten Stammesfehden der Eingeborenen untereinander ein Ende zu machen und […] Frieden und Ordnung in dem großen Land zu halten.«159 Entscheidend für das Narrativ ist jedoch, dass die Bemühungen der Kolonisierenden letztlich vergeblich sind, denn die AfrikanerInnen scheitern am Anpassungsprozess an die Moderne. Für Diedrich Westermann gilt, die »deutsche Besetzung des Landes und die Zunahme einer Händler- und Siedlungsbevölkerung stellte die kriegsgewohnten und nomadisch gebliebenen Eingeborenen vor eine Lage, der sie sich nicht anzupassen vermochten«.160 Der Aufstand der Herero steht so im Kontext des Gesamtnarrativs als Teil des naturalisierten Geschichtsverlaufs, der aus der konstruierten Konfrontation zwischen der ›europäischen Moderne‹ und dem ›rückständigen Afrika‹ resultiert. Bereits für zeitgenössische BeobachterInnen war bedeutsam, dass der Aufstand den technischen und zivilisatorischen Fortschritt bedrohte. Im Generalstabsbericht ist die Demontage des Fortschritts- und Zivilisationsprojekts, das mit der Zerstörung der »Eisenbahnbrücke bei Osona« und der »Unterbrechung der Telegrafenverbindung bei Windhuk«161 metaphorisch angesprochen wird, entscheidend um militärisch gegen die Herero vorzugehen. Dieses Narrativ liegt auch »dem Gros der deutschen Romane über den ›Hererokrieg‹ zugrunde«162, auch Oskar Hintrager greift es auf. Für ihn gilt: »Was in langjähriger Pionierarbeit geschaffen worden war, wurde in wenigen Tagen von den Aufständischen zerstört.«163 Hintrager beschwört hier weit mehr als den Verlust mate157 | Ebd., S. 101. 158 | Pöschel: Die Kolonialfrage im Frieden von Versailles, 1920, S. 22. 159 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 46. 160 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 444. 161 | Generalstab: Die Kämpfe der deutschen Truppen, Bd. 1, 1906, S. 1. 162 | Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 47. Dieses Plotmuster wurde auch von Medardus Brehl rekonstruiert: Brehl: Vernichtung der Herero, 2007, S. 115-116. 163 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 46.
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rieller Güter. Es geht um die umfassende Bedrohung der kolonialen Ordnung, die sich in der konkreten Situation des Aufstands als prekäres Machtgefüge erwies. Das wird etwa daran deutlich, dass die Unvorhersehbarkeit des Aufstands zu einem stehenden Topos wird. In Anlehnung an Michel-Rolph Trouillots Studie über die haitische Revolution gilt auch für die Aufstände im kolonialen Namibia: »Was sich dort ereignete, waren für westliche Begriffe ›undenkbare‹ Tatsachen.«164 Bereits Gesine Krüger verweist darauf, dass der Ausbruch des Krieges nicht logisch-kohärent erzählt wird. »In der Kolonial- und Erinnerungsliteratur wird durchgängig behauptet, der Krieg sei plötzlich und unerwartet ausgebrochen. Dabei wird gleichzeitig von durchaus sichtbaren Vorbereitungen der Herero wie etwa dem umfangreichen Kauf von Proviant und Ausrüstung berichtet.«165 Diese Inkohärenz findet sich auch in der Erzählung Oskar Hintragers. In enger Anlehnung an den Generalstabsbericht heißt es: »Der 12. Januar war ein verhängnisvoller Tag in der Geschichte Südwestafrikas. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel brach an diesem Tage ein blutiger Aufstand der Hereros aus.«166 Sprachlichen Ausdruck findet die vermeintliche Unvorhersehbarkeit durch die Gleichsetzung mit einer unberechenbaren Naturkatastrophe. Eine ebenso »undenkbare Tatsache«167 war die Ermordung Weißer Siedler durch die Herero zu Beginn des Aufstandes. Sie erschütterte das koloniale Herrschaftsgefüge und bedrohte die Suprematie der Weißen KolonisatorInnen. Bereits im Kaiserreich war die Inszenierung des Aufstandsbeginns – mit über 100 toten männlichen Siedlern – ein zentrales Argument für die Legitimation des Krieges und seine Verlängerung.168 In den Debatten des Reichstages und der Erinnerungsliteratur wird die Ermordung der Siedler schließlich zur Metapher für die existenzielle Bedrohung des Weißen ›Volkskörpers‹, der bis dahin als unverwundbar konstruiert worden war. Kinder und Frauen wurden bis auf wenige Ausnahmen nicht getötet, sie spielten jedoch eine wichtige Funktion in der kollektiven Wahrnehmung und Erinnerung. Das Bild der be164 | Trouillot: Undenkbare Geschichte, 2002, S. 93. 165 | Krüger: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein, 2007, S. 46. Im Gebhardt aus dem Jahr 1910 heißt es: »Wie die meisten kolonialen Aufstände ist auch dieser mit größtem Geschick und in tiefstem Geheimnis vorbereitet worden.« Gebhardt, 1910, S. 907. 166 | Hintrager, Südwestafrika, 1955, S. 45. Geradezu literarisch eröffnet der Generalstabsbericht seine Erzählung unmittelbar mit einem Zitat des Telegramms, das die Metropole über den Aufstand der Herero informierte. »Dieses […] veröffentlichte Telegramm schreckte wie ein Blitz aus heiterem Himmel in der Frühe des 14. Januar 1904 die Gemüter in Deutschland höchst unbehaglich aus ihrer kolonialen Gleichmütigkeit auf.« Generalstab: Die Kämpfe der deutschen Truppen, Bd. 1, 1906, S. 1. 167 | Trouillot: Undenkbare Geschichte, 2002, S. 84. 168 | Vgl. Sobich: Schwarze Bestien, rote Gefahr, 2006, S. 56ff.
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drohten Weißen Frau, die die Reproduktion des ›Volkskörpers‹ sicherstellen sollte und als potenzielle Ehefrau und Mutter systematisch ins koloniale Namibia gesendet wurde, gehörte ebenfalls zu den zentralen Bildikonen der Kriegsinszenierung. Auf Sammelmarken, Postkarten und Buchcovern wird immer wieder auf ihre mögliche Vergewaltigung oder Tötung angespielt.169 Das Titelbild des 1913 erschienenen Romans »Ein alter Afrikaner« von Johannes Dose zeigt etwa einen mit Leopardenfell bekleideten und mit Gewehr und Kiri bewaffneten Schwarzen Mann, der im Begriff ist eine Weiße Frau in bodenlangem blauen Abendkleid zu erschlagen, die sich in seiner Gewalt befindet. In der Ferne nähern sich Weiße Soldaten, die das Paar möglicherweise noch erreichen und die angedeutete Ermordung der stilisierten ›Germania‹ verhindern.170 In Gustav Frenssens Erzählung dient die Ermordung der Frauen und Kinder dem Protagonisten als Grund für seine »Fahrt nach Südwest«: »›Hast Du schon gelesen?‹ Ich sagte ›Was denn?‹ Er sagte: ›In Südwestafrika haben die Schwarzen feige und hinterrücks alle Farmer ermordet, samt Frauen und Kindern.‹«171 Als normatives Wissen bildet die Ermordung der Frauen und Kinder unter dem Lemma »Herero« auch im 1920 erschienen Koloniallexikon einen zentralen Topos: »Wie der H. einen Hund in abscheulichster Weise zu quälen vermochte, so wurde er dem gefangenen Feinde gegenüber zur blutdürstigen Bestie. Die Martern, welchen selbst Frauen und Kinder während der Hottentottenkriege ausgesetzt wurden, suchten ihresgleichen […].«172 Auch im Gebhardt findet sich bereits in der Ausgabe von 1910 dieser Topos: »Sie überfielen die Farmen, plünderten und brannten sie aus, umlagerten alle befestigten Stationen und Plätze und unterbrachen die Eisenbahn nach der Küste. […] Was von deutschen Männern in die Hände des bestialischen Feindes fiel, wurde grausam hingeschlachtet. Auch Frauen und Kinder teilten das furchtbare Los. Viele von ihnen kamen jedoch mit Mißhandlungen davon.«173 Nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg war die hier inszenierte Bedrohung des als Weiß imaginierten ›Volkskörpers‹ weiterhin anschlussfähig. Vor allem für die Insze169 | Vgl. Herero-Aufstand in Deutsch-Südwest-Afrika. Überfall einer deutschen Farm. (Nr. 2.), in: DHM Do 2005/51. 170 | Dose: Ein alter Afrikaner, 1913. 171 | Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, 1906, S. 6. 172 | »Herero«, in: Deutsches Kolonial-Lexikon,1920, S. 57ff. 173 | Gebhardt, 1910, S. 907. Noch in der seit den 1950ern unter Herbert Grundmann völlig umgearbeiteten achten Ausgabe des Gebhardts findet sich im Jahr 1960 ein Passus, der keinen Zweifel daran lässt, dass die Herero und Nama sich unrechtmäßig und grausam gegen die deutsche Herrschaft erhoben haben: »In Deutsch-Südwestafrika hatten sich 1904 die Hereros und Hottentotten gegen die deutsche Herrschaft erhoben und ein Blutbad unter den deutschen Siedlern veranstaltet.« Born: Von der Reichsgründung bis zum ersten Weltkrieg,1960, S. 289.
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nierung der ›schwarzen Schmach‹ ist die potenzielle Vergewaltigung Weißer Frauen ein zentrales Motiv, das auch in der nationalsozialistischen Propaganda fortgeführt wurde.174 Oskar Hintrager richtet auf die Darstellung der Ermordung Weißer Siedler ebenfalls besondere Aufmerksamkeit: »Auf den Farmen gingen sie dabei meist so vor, daß sie den Farmer durch einen Jungen aus dem Hause herausrufen ließen. In dem Augenblick, in dem der Ahnungslose zur Haustüre heraustrat, schlugen ihm neben der Türe stehende Hereros mit ihren Knüppelstöcken (Kirris) den Schädel ein. […] Frauen und Kinder haben die Hereros mit wenigen Ausnahmen nicht getötet, sondern zur nächsten Missions- oder Militärstation geschickt.«175
Diedrich Westermann kennzeichnet die Ermordung der Siedler sprachlich als sinnloses und rational nicht nachvollziehbares Auf begehren gegen den deutschen Kolonialismus, denn er lässt den Aufstand der Herero »tollerweise mit der Ermordung von 123 Deutschen«176 beginnen. Das als irrational gekennzeichnete Verhalten der AfrikanerInnen, löst in der Erzählung Diedrich Westermanns eine zwingende Gegenwehr aus. Auf die »Ermordung von 123 Deutschen«177 folgt in der Erzähllogik unmittelbar die »Vernichtung der Herero«: »Die Herero wurden schließlich, 50.000 Mann stark, am Waterberg eingekreist und zum großen Teil vernichtet.«178 Die koloniale Kausallogik zwischen den beiden Ereignissen wird auch in der rhetorischen Gestaltung der Passage bekräftigt. Mit dem Terminus »Vernichtung« verwendet Diedrich Westermann an dieser Stelle einen zentralen Begriff des rassifizierten kolonialen Diskurses, der zugleich »als literarische Metapher, als Kategorie politischer Planung, als Realisierung ideologisch begründeten Anspruchs zu einer zentralen Denkfigur im 20. Jahrhundert«179 wurde. Auf der Inhaltsebene verweist der Begriff auf Lothar von Trotha, der die ›Vernichtung‹ der Herero zum militärischen Ziel erklärt hatte. Darüber hinaus beinhaltet er eine Interpretation des Kolonialkriegs, in der die Herero und Nama als Ergebnis eines naturalisierten, sozialdarwinistisch begründeten ›Rassenkampfes‹ sterben. Der Topos des unausweichlichen Geschichtsverlaufs ist bereits in zeitgenössischen Texten wesentlich für die Legitimation des Krieges. Im Gene174 | Zur narrativen und visuellen Inszenierung dieser Ängste: Krüger: Bestien und Opfer, 2003, S. 157. 175 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 45. 176 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 445. 177 | Ebd. 178 | Ebd. 179 | Benz: Vernichtung als politische Kategorie, 1998, S. 123.
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ralstabsbericht wird der Krieg als unvermeidliche Auseinandersetzung präsentiert, »denn waren es nicht diese Anlässe, so hätten sich tausend andere geboten. Kommen mußte die große Auseinandersetzung mit den Eingeborenen mit zwingender Notwendigkeit. Keine noch so geschickte Politik hätte diesen Rassenkampf abzuwenden vermocht.«180 Und auch für Maximilian Bayer steht der zwangsläufige »Untergang« fest: »Wir erwarteten nicht, daß die Hereros ohne energische Gegenwehr die letzten Wasserstellen am Rande der Omaheke räumen würden, sondern rechneten mit einem Verzweiflungskampf des untergehenden Volkes hart am Rande der Wüstensteppe, bevor es in dieser seinen Untergang finden mußte.«181 Im Kampf der ›Schutztruppe‹ gegen die Herero und Nama gipfelte ein naturalisierter Geschichtsverlauf, der durch die kolonialen Truppen lediglich beschleunigt wurde. Für Oskar Hintrager ist die Schlacht am Waterberg schließlich auch eine bewusste Entscheidung der AfrikanerInnen diesen »Entscheidungskampf anzunehmen«.182 Die rhetorische Naturalisierung der Ereignisse wird hier gesteigert, indem die Natur selbst als Akteur inszeniert wird. Oskar Hintrager bezieht sich ganz explizit auf diese zeitgenössische Interpretation, indem er auf den Generalstabsbericht rekurriert und feststellt: »Der Generalstabsbericht schließt mit der Feststellung, daß die Natur des Landes den geflohenen Hereros ein schlimmeres Schicksal bereitete, als es die deutschen Waffen durch eine Schlacht hätten tun können.«183 Um den Krieg gegen die Herero und Nama als »Entscheidungskampf«184 zu inszenieren, wurde bereits im kolonialen Diskurs die existenzielle Bedrohung der ›Schutztruppe‹, die stellvertretend für den Weißen Volkskörper steht, zu einem zentralen Motiv, das der ehemalige Gouverneur Oskar Hintrager fortführt. Er konnte auf den Generalstabsbericht und zahlreiche literarische Darstellungen soldatischer Erfahrungen zurückgreifen, in denen der Krieg als Bewährungsprobe innerhalb einer rite de passage fungiert.185 Gustav Frenssen widmet sich immer wieder den Leiden der Kolonialsoldaten: »Hier lagen wir, vierhundert Mann, in dunkler Nacht, übermüde, halb verdurstet und vor uns ein Volk von sechzigtausend.«186 Aber auch der Gebhardt aus dem Jahr 1910 bemüht den Topos zur Legitimation des Krieges: »Die Bewachung der in die Wüste führenden Straßen, fortdauernde starke Märsche bei mangelhafter Verpflegung in dem ausgedehnten, unwirtlichen, wasserarmen Lande stell180 | Generalstab: Die Kämpfe der deutschen Truppen, Bd. 1, 1906, S. 6. 181 | Bayer: Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika, 1909, S. 179. 182 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 61. 183 | Ebd., S. 61. 184 | Ebd. 185 | Vgl. Schwabe: Im deutschen Diamantenlande, 1910. 186 | Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, 1906, S. 159.
II. Kolonialgeschichte(n) schreiben nach 1945 ten ungeheure Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Truppen. Zum Unglück brach noch eine verheerende Typhusepidemie aus und forderte schwere Opfer. Trotzdem wurde die Verfolgung des Feinds unverzagt und mit unbeugsamer Energie fortgesetzt.«187
Lothar von Trothas ›Vernichtungsbefehl‹ konnte vor dieser Erzählfolie ebenso kohärent erzählt werden wie die Zeit- und Kostenintensität des Krieges. Oskar Hintrager greift das Motiv der existenziellen Bedrohung auf. Unterstrichen wird die Inhaltsebene durch den Satzduktus. Kurze, markante Sätze betonen auch rhetorisch die Entbehrungen der Soldaten: »Schon am Abend des ersten Tages der Verfolgung zeigte sich bei Menschen und Tieren äußerste Erschöpfung infolge der Hitze und des Mangels an Wasser. Die Weide war von den Herden der Hereros abgefressen. Die Ochsen brüllten vor Durst. Die Pferde waren so hungrig, daß sie die Dornbüsche abfraßen. Wasser war nur in geringer Menge und in großer Tiefe zu gewinnen. Selbst der ausdauernde alte Afrikaner Major von Estorff musste unter diesen Umständen am 16. August die Verfolgung aufgeben.«188
Die Darstellung der ›Schutztruppe‹ zeigt eindrücklich die Monopolisierung der Kolonialerinnerung durch Militärs. Die Angehörigen der ›Schutztruppe‹ wurden heroisiert und zu Vorbildern kriegerischer Tugenden und nationaler Gesinnung stilisiert.189 Diese Deutung wird von Hintrager in den 1950er Jahren fortgeführt, der damit auch den Selbstentwurf seiner Zeitgenossen adressierte. Schließlich galt der Militarismus des Kaiserreichs in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs als nahezu unbelastet. Der Krieg gegen die Herero und Nama konnte somit weiterhin als positiv besetzte, maskuline Erfahrung erzählt werden. Dies zeigt sich an der medialen Berichterstattung der 1950er Jahre. So finanzierte etwa die »Deutsche Illustrierte« im Jahr 1953 eine Afrikareise für Paul von Lettow-Vorbeck, der als Adjutant von Lothar von Trotha auch den Krieg gegen die Herero mitverantwortet hatte. Sein Reisebericht wurde über sieben Wochen in der Boulevardzeitung abgedruckt, in der Wochenzeitschrift »Der Spiegel« positiv rezensiert und erschien schließlich 1955 unter dem Titel »Afrika, wie ich es wiedersah« in Buchform.190 Der Krieg gegen die Herero und Nama wird hier ebenso offen eingestanden wie in Paul von Lettow-Vorbecks Biografie aus dem Jahr 1957.191 Die Herero, so Lettow-Vorbeck, seien »in Massen 187 | Gebhardt, 1910, S. 907. 188 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 63. 189 | Vgl. Schilling: Kriegshelden, 2002; Pesek: Colonial Heroes, 2011. 190 | Lettow-Vorbeck: Afrika wie ich es wiedersah, 1955. 191 | Lettow-Vorbeck verteidigte den kolonialen Genozid immer wieder. Vgl. Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger, 2006, S. 41f.
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zugrunde gegangen, soweit sie nicht über die Grenze in die britische Kalahari flohen«.192 Selbst die Kriegsführung Lothar von Trothas, dem »wegen seines rücksichtslosen Durchgreifens von mancher Seite Vorwürfe gemacht« wurden, wird von Lettow-Vorbeck explizit gutgeheißen: »Ich glaube, daß ein Aufstand solchen Umfangs erstmal mit allen Mitteln ausgebrannt werden muss. Der Schwarze würde in Weichheit nur Schwäche sehen.«193 Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Genozids erstaunt es, dass eine solch offene Thematisierung in den deutschen Printmedien möglich war. Gleichzeitig zeugt die Berichterstattung von einem fehlenden Problem- und Unrechtsbewusstsein und vor allem von hegemonialen Erzähl- und Darstellungskonventionen, die von der politischen Zäsur 1949 zunächst unbeeinflusst blieben.194 In den Texten Diedrich Westermanns und Oskar Hintragers erscheinen die Kriege als notwendige Bedingung für den ›Fortschritt‹ der Kolonie. Für Oskar Hintrager gipfeln die Ereignisse nicht in der Vernichtung der Herero und Nama sondern in der langersehnten Befriedung und Erschließung des Landes: »Erst die Niederwerfung des Herero- und Hottentottenaufstandes und die Befriedung des Landes haben freie Bahn für die Erschließung und Besiedelung geschaffen.«195 Eine Einsicht, die Oskar Hintrager auch den AfrikanerInnen in den Mund legt: »Was die Deutschen in Südwestafrika geleistet haben, haben führende Südafrikaner unumwunden anerkannt.«196 Mit diesem Narrativ wird der Versuch unternommen, die deutsche Kolonisation als Erfolgs- und Modernisierungsgeschichte zu erzählen, von der die Herero und Nama profitierten. Vor dieser kulturzivilisatorischen Leistung erscheint die koloniale Gewalt lediglich als notwendiges Übel oder gar als Wegbereiter der Moderne. Medardus Brehl bezeichnet diesen zynischen Topos, der charakteristisch für die koloniale Literatur ist, durchaus treffend als »Fortschritt durch Völkermord«.197 Es würde zu kurz greifen, die Vergangenheitsdeutungen Diedrich Westermanns und Oskar Hintragers lediglich auf die ungebrochene und unreflektierte Fortführung rassistischer Ideologien zu reduzieren. Vor allem in der Bundesrepublik lässt sich bis weit in die 1960er Jahre konstatieren, dass rassis192 | Lettow-Vorbeck: Mein Leben, 1957, S. 81. 193 | Ebd., S. 81. 194 | Sandra Maß verweist darauf, dass Lettow-Vorbeck »angesichts seiner vermeintlichen Distanz zum Nationalsozialismus sogar zum Vorbild der Bundeswehr zu taugen schien«. Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger, 2006, S. 300. Dies wird besonders deutlich an der Benennung von Bundeswehrkasernen, aber auch an seiner Beerdigung im Jahr 1964, bei der der damalige Verteidigungsminister, Kai-Uwe von Hassel, LettowVorbeck als »Beispiel für die Jugend« würdigte. 195 | Hintrager: Südwestafrika, 1955, S. 174. 196 | Ebd., S. 179. 197 | Brehl, Vernichtung der Herero, 2007, S. 217.
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tisches und koloniales Denken weiterhin anschlussfähig waren. Hinzu kam, dass Kolonialismus und Apartheid – die nicht nur in Südafrika, sondern auch von den westlichen Verbündeten der Bundesrepublik praktiziert wurden – weltanschaulich begründet werden konnten. Das in den Texten entworfene hierarchische Verhältnis von Weißen und Schwarzen Menschen lässt sich daher auch an die politische Gegenwart und Zukunftsvorstellungen der 1950er Jahre rückbinden. Das wird etwa in einer einleitenden Passage Diedrich Westermanns deutlich, die sich auf die Gegenwart und Zukunft der BewohnerInnen Südwestafrikas bezieht. Hier heißt es: »Sie […] haben von der Zukunft wenig zu erwarten, da ihnen der Weiße in zunehmendem Maße ihren Lebensraum nimmt.«198 Den Kontext bildet dabei das südafrikanische Apartheidregime. Südafrika galt aufgrund seiner Uran-, Kupfer- und Diamantenvorkommen als wichtiger Handelspartner und Bündnispartner im Kalten Krieg. Die Apartheid und die politische Haltung gegenüber Südwestafrika wurden von der Bundesregierung bis in die 1960er Jahre weitestgehend kritiklos akzeptiert. Auch die vermeintliche Verantwortung gegenüber der deutschsprachigen Minderheit, die in Südwestafrika lebte, trug hierzu bei.199 Eine grundlegende Kritik am Apartheidsystem hätte zugleich die politischen Privilegien der deutschsprachigen Minderheit infrage gestellt. Dieses Klima hatte auch unmittelbare Auswirkungen auf die beiden historiografischen Erzählungen, deren Gegenwartsbezug das südafrikanische Apartheidsystem ist. Es wird dezidiert bejaht sowie historisch und ideologisch legitimiert.200 Diedrich Westermann äußert sich in seinem letzten Kapitel, das die programmatische Überschrift »An der Schwelle zu einer neuen Zeit«201 trägt zwar verständnisvoll über die Unabhängigkeitsbestrebungen, doch der Zeitpunkt scheint ihm verfrüht. Schließlich gilt für Diedrich Westermann weiterhin die Idee, dass Fortschritt an die Präsenz von Europäern gebunden ist: »Der weiße Mann ist das Schicksal Afrikas geworden. Er baut in Afrika seine eigene Welt auf und zieht den Afrikaner in sie hin-
198 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 441. 199 | Bereits das Londoner Abkommen von 1925 ermöglichte es Deutschen wieder verstärkt im Mandatsgebiet zu siedeln. Zudem wurde ihre politische und kulturelle Identität infolge des Abkommens gestärkt. Bereits im Jahr 1949 erhielten die Deutschen ihren Besitz zurück, der formal nicht enteignet wurde. 200 | Auf inhaltlicher Ebene wird die Unterstützung des Apartheidsystems durch Oskar Hintrager besonders in seinem 1950 erschienenen Werk »Geschichte von Südafrika« deutlich. Oskar Hintrager dankt einleitend seinem wissenschaftlichen und persönlichen südafrikanischen Netzwerk und der durch »die von dem Rektor der Universität Stellenbosch, Professor Dr. H.B. Thom, vermittelte[n] Hilfe der Universität«. Hintrager, Südwestafrika, 1955, ohne Seitenangabe. 201 | Westermann: Geschichte Afrikas, 1952, S. 447-451.
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ein.«202 Diese Haltung war in den 1950er Jahren durchaus mit den politischen Vorstellungen der Modernisierungstheorien kompatibel, die im deutschen und internationalen Kontext die Beziehungen mit Afrika bestimmten. Hinzu kam, dass die afrikanischen Unabhängigkeiten, die aus der ex-post-Perspektive als logische Entwicklung erscheinen mögen, zu Beginn der 1950er Jahre keineswegs sicher oder wünschenswert schienen.
II.4 Z wischenfa zit Anhand der Texte, die in den 1950er Jahren zirkulierten, wurde deutlich, dass der koloniale Diskurs über das koloniale Namibia in der unmittelbaren Nachkriegszeit nahezu ungebrochen fortgeführt wurde. Gerade die ›koloniale Amnesie‹ der unmittelbaren Nachkriegsjahre führte in der BRD und DDR dazu, dass das Wissen über das koloniale Namibia in den 1950er Jahren personell und strukturell weiterhin durch »imperiale Nostalgie«203 sowie dezidiert koloniale und kolonialrevisionistische Positionen gekennzeichnet war. Männliche Netzwerke und Denkkollektive spielten hierbei eine wichtige Rolle. An dieses Ergebnis anschließend ist im Folgenden nach den Langzeitwirkungen dieser Konstellation in der DDR und BRD zu fragen. Auf der Textebene verweisen Oskar Hintragers und Diedrich Westermanns Erzählungen auf Zirkulationsprozesse zwischen akademischen und populärwissenschaftlichen Texten. Dies liegt auch darin begründet, dass der koloniale Diskurs eine textübergreifende Praxis ist, deren Suprematiediskurs nicht an disziplinäre und literarische Grenzen gebunden ist. Im Falle des kolonialen Namibias kommt hinzu, dass der Wissensgenese eine regelrechte »Wissensgeschichte« eingeschrieben ist, die eine solche Zirkulation begünstigte. Neben »akademischen Wissenstraditionen« spielten »populäre Wissenstraditionen« besonders aufgrund der unmittelbaren, zeitgenössischen und medialen Resonanz auf das Ereignis des sogenannten »Herero-Aufstandes« eine entscheidende Rolle für die inhaltliche und vor allem narrative Vermittlung von kanonischem Wissen. Entscheidend ist hierbei, dass den Kolonialromanen, der Memoirenliteratur und den Augenzeugenberichten, die im Zuge des »Diskursereignis[ses] Herero-Aufstand«204 entstanden waren, aufgrund ihrer vermeintlichen Authentizität eine hohe Relevanz für die Konstruktion »wah-
202 | Ebd., S. 447. 203 | Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger, 2006, S. 298. 204 | Vgl. Brehl: Diskursereignis »Herero-Aufstand«, 2009; Brehl: Die Vernichtung der Herero und Nama, 2003, S. 86.
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ren Wissens«205 über die Ereignisse zugesprochen wurde. Zentral für die Frage nach kolonialen Kontinuitäten erwies sich hierbei, dass die populäre Verarbeitung des Themas innerhalb kulturell beglaubigter Helden- oder Abenteuererzählungen stattfand, welche die Vorstellung und Legitimation der Ereignisse als kanonisches Wissen textgattungsübergreifend und über Generationen hinweg prägte. Im Hinblick auf die kritische Verhandlung der Geschichte des kolonialen Namibias in der DDR und BRD ist zu Fragen, ob sich diese Erzähltradition als poetologische Dimension der Geschichtsschreibung wiederfindet. Die Texte Diedrich Westermanns und Oskar Hintragers verweisen darüber hinaus auf die erinnerungspolitischen Kontroversen um die Ereignisse, die nach dem Ersten Weltkrieg einsetzte. Die kolonialen Herrschaftsmethoden konnten nach 1918 nicht länger offen eingestanden werden und es setzte eine regelrechte - ›damnatio memoriae‹ des kolonialen Genozids ein. In der Folge wandelte sich die Bewertung der Ereignisse und es wurde versucht, bisheriges Wissen zu unterdrücken und durch neue Deutungen zu überschreiben. Aus wissensgeschichtlicher Perspektive ist aufschlussreich, wie sich diese Umdeutungsprozesse und Amnesieversuche in den Texten Diedrich Westermanns und Oskar Hintragers niederschlugen: Kolonialdiskursive Versatzstücke der Legitimation des kolonialen Genozids fanden sich nicht unmittelbar in der Erzählung der Ereignisse des Jahres 1904. Ihre Darstellung folgt vielmehr dem kolonialrevisionistischen Diskurs der Zwischenkriegszeit, der eine offene Thematisierung geradezu tabuisierte. Gleichzeitig wird die Legitimation des kolonialen Genozids auf komplexe und zum Teil widersprüchliche Art im Gesamtnarrativ, einzelnen Erzählpassagen und Begriffen fortgeführt, die als normatives und intertextuell beglaubigtes Wissen nicht hinterfragt wurden. Folglich ist zu fragen, ob und wie kulturell verankerte und beglaubigte Erzählmuster unter den Vorzeichen einer sich kolonialismuskritisch generierenden Kolonialhistoriografie in den 1960er Jahren aufgebrochen werden konnten.
205 | Vgl. Jaeger: Erzählen im historiographischen Diskurs, 2009; Epple: Von Werwölfen und Schutzengeln, 2007.
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III. Ein »unverfälschtes Afrikabild«
Erzähl- und Wissenstransformation in der DDR
III.1 P rogr ammatische K ritik Anlässlich der Eröffnung des Leipziger Instituts für Afrika-, Asien- und Lateinamerikastudien im Jahr 1961 fasste der Historiker Kurt Büttner in seiner Stellungnahme zur »Rolle und Geschichte der deutschen Afrikanistik« das Programm des neu gegründeten Instituts folgendermaßen zusammen: »Im ersten Arbeiter- und Bauern-Staat bestehen für die Erarbeitung eines unverfälschten Afrikabildes, für die wahrhaft wissenschaftliche Forschung über die Geschichte der Völker Afrikas, ihre Kulturleistungen und das heroische Ringen um ihre Befreiung vom Kolonialjoch erstmals auf deutschem Boden uneingeschränkte Möglichkeiten, deren Garantie in dem von Walter Ulbricht gewürdigten Grundsatz der Politik unserer Republik liegt: Afrika den Afrikanern!«1
Kurt Büttners kurzes Zitat umreißt die wichtigsten Grundlagen und Ziele der sozialistischen Geschichtsschreibung über Afrika bereits knapp: Das Postulat eines »unverfälschten Afrikabildes«, das auf einer »wahrhaft wissenschaftlichen Forschung über die Geschichte der Völker Afrikas« gründen sollte, diente zunächst der politischen und historischen Selbstverortung der DDR, die mit ihrer Gründung 1949 einen grundlegenden politischen, ideologischen und wissenschaftlichen Bruch mit der kolonialen, imperialen und faschistischen Vergangenheit für sich in Anspruch nahm. Antikolonialismus, Antirassismus und internationale Solidarität waren Schlüsselbegriffe der Selbstlegitimation, fanden Eingang in den Gründungsmythos und fungierten als Leitvorgaben für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Afrika.2 HistorikerInnen der DDR sa1 | Büttner: »Einige Bemerkungen zur Rolle und Geschichte der deutschen Afrikanistik«, 12.5.1961, in: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/249, Blatt 91. 2 | In der DDR wurde dieser Bruch auch im öffentlichen Raum symbolisch inszeniert, denn im »sowjetischen Sektor bzw. der DDR sind, soweit nicht schon durch Kriegsein-
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hen in ihren Arbeiten daher auch »den völligen Bruch mit der imperialistischen und kolonialistischen Vergangenheit in Deutschland«3 verwirklicht. Der Slogan »Afrika den Afrikanern!« verweist auf die Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegungen durch die DDR. Diese war mit politischen Interessen gegenüber jenen 17 afrikanischen Staaten verbunden, die im ›Afrikanischen Jahr‹ 1960 ihre formale politische Selbstständigkeit erlangten. Dem Engagement lag die Hoffnung auf internationale diplomatische Anerkennung sowie die damit verbundene Ausweitung des politischen Handlungsspielraums zugrunde. Auch die Unabhängigkeit Namibias, wie Südwestafrika seit 1967 im Sprachgebrauch der UNO hieß, schien lediglich eine Frage der Zeit zu sein. Bereits in den 1950er Jahren hatten sich marxistische Parteien gegründet, die ihren Kampf um politische Autonomie mit Hilfe der Sowjetunion und der DDR führten. Doch aufgrund der sogenannten Hallstein-Doktrin, die eine außenpolitische Anerkennung der DDR durch Drittstaaten verhindern sollte, konnte sich die DDR bis zu ihrer politischen Anerkennung im Jahr 1973 nicht auf dem direkten politischen Weg um Namibia bemühen, das als verbündeter sozialistischer Staat gewonnen werden sollte. Eine Möglichkeit, den Unabhängigkeitskampf Namibias dennoch zu unterstützen, bot die Historiografie. Mit ihr konnte der Alleinvertretungsanspruch der BRD übergangen, die DDR als historisch unbelasteter Bündnispartner präsentiert und eine sozialistische Geschichte und Zukunft des potenziell unabhängigen Namibias geschrieben werden. Der Geschichtswissenschaft kam daher die Aufgabe zu, eine »besondere Form der Hilfe« zu leisten, wie Horst Drechsler im Vorwort zu seiner 1966 erstmals erschienen Monografie »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft« resümiert.4 Nicht nur politisch, sondern auch historiografisch war dabei die Abgrenzung gegenüber dem »unwissenschaftlichen Eurozentrismus der bürgerlichen Geschichtsschreibung«5, wie der Historiker Walter Markov 1960 programmatisch ausführte, eine wichtige Grundlage für die Entwicklung DDR-spezifischer Narrative und Erzählformen. Auch wenn eine dezidierte Kolonialhistoriografie in der BRD bis in die 1960er Jahre fehlte, dienten besonders die im Nachkriegsjahrzehnt veröffentlichten Überblickswerke der etablierten Vertreter der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft der identitätsstiftenden Kritik. Verhandelt wurde dabei jedoch weit mehr. Die Auseinandersetzung mit den westdeutschen Historikern und ihrem nationalen Geschichtsbild steht wirkungen vernichtet, ausnahmslos alle Kolonialdenkmäler entfernt worden«. Zeller: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewusstsein, 2000, S. 201. 3 | Deutsch-Afrikanische Gesellschaft in der DDR, 1961, in: DY 30/IV 2/904/131, Blatt 24. 4 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 8. 5 | Markov: Studien zur Kolonialgeschichte, 1960, S. 1100.
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vielmehr stellvertretend für die Kritik an einem vermeintlich neokolonialen Westdeutschland, das die koloniale Vergangenheit weiterhin verklärte. Der Historiker Helmuth Stoecker kritisierte etwa 1959 Gerhard Ritters Monografie »Europa und die deutsche Frage« sowie Fritz Hartungs kanonisches Überblickswerk »Deutsche Geschichte. 1871-1919«. Für Helmuth Stoecker stehen die Autoren in kolonialrevisionistischer Tradition. Sie hätten, in »Übereinstimmung mit ihrer Funktion als führende Ideologen des deutschen Imperialismus«, bereits »vor zehn Jahren begonnen, neben der Restauration anderer Bestandteile eines fragwürdig gewordenen Geschichtsbildes auch dem bevorzugten Gegenstand nazistischer Geschichtsklitterung, der deutschen Kolonialpolitik, wieder zum Ruf bürgerlicher Rechtschaffenheit zu verhelfen«.6 Hierzu griffen sie laut Stoecker »auf altbekannte Argumente zurück, die in den 20er und 30er Jahren eine Wiederherstellung des deutschen Kolonialbesitzes begründen helfen sollten«.7 Auch die »Politische Geschichte des deutschen Kaiserreichs« von Erich van Eyck wird scharf kritisiert, da »mit keinem Wort auf die Politik gegenüber der Bevölkerung der Kolonien eingegangen wird – mit Ausnahme der grausamen Unterdrückung des Herero-Aufstandes, die Eyck als ›anerkennenswerte militärische Leistung‹ […] nachdrücklich billigt«.8 Und auch der Gebhardt, der als »bürgerliches Standardwerk« eine »nicht zu unterschätzende Wirkung ausgeübt und die Leser im Sinne der bürgerlichen Ideologie beeinflußt«9 hat, wird von seinen Rezensenten nicht zuletzt wegen der Darstellung des Kolonialkrieges als »nationalistisch«10 verortet. »Kein Wort«, so kritisieren Historiker der DDR, »von der Schuld des deutschen Imperialismus an diesem Aufstand, kein Wort von dessen grausamer Unterdrückung, deren Folgen die Dezimierung des Volkes der Herero und Hottentotten war. Eine solche verfälschende Darstellung eines Teils des Befreiungskampfes der Völker Afrikas ist nur dazu angetan, dem Neokolonialismus in Westdeutschland Vorschub zu leisten.«11 Neben den etablierten Vertretern der westdeutschen Geschichtswissenschaft wurde besonders Oskar Hintrager eine zentrale Projektionsfläche für Kritik. Sein Buch »Südwestafrika in der deutschen Zeit« galt etwa dem Historiker Heinrich Loth im Jahr 1958 als ein Beleg für die »Offensive der Apologeten« und das Fortwirken kolonialer Strukturen, die politisch im »Bonner Neokolonialismus« ihren Ausdruck fanden.12 Besonders scharf kritisiert Heinrich Loth, dass Oskar Hintrager »den Kolonialismus nicht nur im allgemeinen, 6 | Stoecker: Die deutsche Geschichtsschreibung der Gegenwart, 1959/60, S. 71. 7 | Ebd. 8 | Ebd., S. 73 9 | Fricke/Steiger: Rezension zu: Gebhardt, 1962, S. 460. 10 | Ebd., S. 465. 11 | Ebd. 12 | Loth: Zu den Anfängen des Kampfes der Arbeiter Südwestafrikas, 1962, S. 351.
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sondern auch die Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus und die Ausrottung der südwestafrikanischen Völker im besonderen rechtfertigt«.13 Ähnlich äußert sich auch der Historiker Horst Drechsler in seinem Literaturüberblick über Oskar Hintrager »der in einer Zeit, in der das imperialistische Kolonialsystem zu Grabe getragen wird, Loblieder auf den deutschen Kolonialismus anstimmt«.14 Die intensive Auseinandersetzung der ostdeutschen – zunächst überwiegend männlichen – Historiker mit den wissenschaftlichen Beiträgen der westdeutschen Kollegen belegt nicht nur die Zirkulation von Texten über die politische Grenze der beiden deutschen Staaten. Sie verweist auch darauf, dass die Historiografie der »Konkurrenz- oder Referenzgesellschaft«15 eine wichtige Folie bot.16 Die kollektiv eingeübte Abgrenzung gegenüber den Interpretationen und Narrativen der »bürgerlichen« Historiografie diente auch der Profilierung einer sozialistischen Kolonialgeschichtsschreibung die idealtypisch in ein »unverfälschtes Afrikabild«17 münden sollte. Doch wie sah dieses vermeintlich richtige, »unverfälschte Afrikabild«18 im Fall des kolonialen Namibias aus? Wie schrieben HistorikerInnen eine Kolonialgeschichte, die der internationalen Profilierung der DDR-Wissenschaft und des sozialistischen Menschen- und Weltbildes dienen sollte? Im Folgenden soll aufgezeigt werden, dass in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten eine intensive Auseinandersetzung mit kolonialdiskursivem Wissen in der DDR stattfand. Es wurde versucht, koloniale Repräsentationspraktiken aufzubrechen und zugleich sozialismuskonforme Erzählungen zu entwerfen, die in Anlehnung an den Historiker Konrad Jarausch als »Sprachnormierungsprozesse«19 verstanden werden können. Hierbei handelt es sich um einen komplexen Prozess, der sowohl Metanarrative als auch terminologische, narrative und ästhetische Veränderungen umfasst und zwischen Kontinuitäten und Brüchen changiert. Im Weiteren wird argumentiert, dass eine junge Generation von KolonialhistorikerInnen einerseits den Vorgaben der sozialistischen Erinnerungspolitik folgte, andererseits aber unwillkürlich kolonialdiskursive Sprach- und Erzählmuster fortschrieb, die einer antikolonialen und antiras13 | Loth: Auf den Spuren des deutschen Imperialismus, 1961, S. 29. 14 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 18. 15 | »Ralph Jessen verweist, allerdings aus einem etwas anderen Blickwinkel, sogar auf drei Referenzgesellschaften der DDR: das nationalsozialistische System als »negative Kontrastgesellschaft«, die UdSSR als »offizielle Modellgesellschaft« sowie die Bundesrepublik als heimliche Vergleichsgesellschaft.« Ihme-Tuchel: Die DDR, 2010, S. 5. 16 | Vgl. Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 269. 17 | Büttner: »Einige Bemerkungen zur Rolle und Geschichte der deutschen Afrikanistik«, 12.5.1961, in: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/249, Blatt 91. 18 | Ebd. 19 | Vgl. Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 273.
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sistischen Geschichtsschreibung zuwider liefen. Darüber hinaus wird nach dem Potenzial der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft für die Überwindung des »unwissenschaftlichen Eurozentrismus der bürgerlichen Geschichtsschreibung«20 gefragt. Die Auseinandersetzung um ein »unverfälschtes Afrikabild«21 vollzog sich in der geschichtswissenschaftlichen Konsolidierungsphase der 1950er und 1960er Jahre, die bis in die 1970er Jahre andauerte und mit der politischen Anerkennung der DDR endete.22 In den nachfolgenden Jahrzehnten blieben neue Publikationen zur Geschichte des kolonialen Namibias nahezu vollständig aus – das in den 1950er und 1960er Jahren entworfene Narrativ des kolonialen Genozids blieb folglich bis zum Ende der DDR verbindlich. Heute gilt Horst Drechsler gar als Begründer gegenwärtiger Forschungspositionen. »Die Genozidthese«, so konstatiert etwa der Historiker Boris Barth im Jahr 2004, »wurde von dem undogmatischen DDR-Historiker Horst Drechsler entwickelt.«23 Diese Einschätzung deutet bereits darauf hin, dass sich die bundesrepublikanische und internationale Rezeption der DDR-Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia vor dem Hintergrund politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen erheblich veränderte und die DDR-spezifische Kolonialhistoriografie eine entscheidende Rolle in einer vielschichtigen Wissensgeschichte spielt.
III.2 S chreibbedingungen Im Jahr 1955 wurden die Aktenbestände des Reichskolonialamtes von der Sowjetunion in die Archive nach Merseburg und Potsdam zurückgebracht, wo sie seit 1956 zugänglich waren. Hierdurch entstand eine sehr spezifische Forschungssituation in der DDR. Erst der exklusive Zugang zu den zentralen Dokumenten der deutschen Kolonialgeschichte ermöglichte eine quellenbasierte, sozialismusgemäße Kolonialgeschichtsschreibung. In Verbindung mit den Unabhängigkeitsbewegungen und dem politischen Kontext des Kalten Krieges führte auch die Archivsituation dazu, dass Afrika bereits in den 1950er Jahren 20 | Markov: Studien zur Kolonialgeschichte, 1960, S. 1100. 21 | Büttner: »Einige Bemerkungen zur Rolle und Geschichte der deutschen Afrikanistik«, 12.5.1961, in: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/249, Blatt 91. 22 | Die Jahre 1945 bis 1957/58 werden als »verschiedene Phasen umfassende Etablierungszeit der zweiten deutschen Geschichtswissenschaft« verstanden, die ihren symbolträchtigen Höhepunkt auf dem Historikertag in Trier fand, der 1958 eine Trennung der west- und ostdeutschen HistorikerInnen bedeutete. Sabrow: Das Diktat des Konsenses, 2001, S. 428. 23 | Barth: Genozid, 2004, S. 128.
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wieder Aufnahme in die Forschung und Lehre der Karl-Marx-Universität in Leipzig und der Berliner Humboldt-Universität fand. Allerdings stand bereits früh fest, dass nur eine der beiden Universitäten die Afrikanistik systematisch ausbauen und verstetigen sollte.24 Für Felix Brahm resultierte aus dieser Situation eine erhebliche »Eigendynamik und Konkurrenzsituation«25, in der sich die Leipziger Afrikanistik im Jahr 1960 durchsetzten konnte. Die Etablierung der Afrikanistik, und die damit in der DDR institutionell verbundene Forschung zur deutschen Kolonialgeschichte, verzögerte sich jedoch zunächst an beiden Universitäten. Trotz der politischen Relevanz der Afrikawissenschaften verhinderte der eklatante Fachkräftemangel zunächst eine kritische Revision der Kolonialgeschichte und trug wesentlich dazu bei, dass sich im wissenschaftlichen Diskurs diejenigen Forschungsthemen, Darstellungs- und Repräsentationspraktiken halten konnten, die kaum mit den politischen Ansprüchen in Einklang zu bringen waren. Mit der Wiederaufnahme des Universitätsbetriebes standen nur wenige Wissenschaftler zur Verfügung, die als politisch unbelastet galten und für eine dem sozialistischen Weltbild gemäße Interpretation der afrikanischen Geschichte eintraten. In Berlin hatte diese Situation zur Folge, dass ältere, im Kolonialrevisionismus sozialisierte Afrikanisten – etwa Diedrich Westermann – die vakanten Lehrstühle besetzten. Dabei wurde in Kauf genommen, dass die Lebensläufe und Forschungsstile der Professoren nicht konform mit dem Wissenschafts-, Menschen- und Geschichtsbild der DDR waren. Besonders auffällig wird dies an der Berufung Diedrich Westermanns Nachfolgers, Ernst Dammann, im Jahr 1956. Ernst Dammanns wissenschaftliche und politische Vita hätte »den Idealvorstellungen [der DDR, C.B.] wohl kaum stärker entgegenstehen können: Ein Westdeutscher bürgerlicher Herkunft, mit enger Bindung zur Mission, und zudem, dies war den DDR-Behörden ebenfalls bekannt, erheblich vorbelastet aus der NS-Zeit.«26 Nicht zuletzt sein fehlendes Bekenntnis zur DDR und seine Bemühungen eine klassische, philologisch orientierte Afrikanistik zu rehabilitieren, machten ihn als Wissenschaftler problematisch und mündeten schließlich in seinen Wechsel nach Marburg im Jahr 1961.27 24 | Vgl. hierzu umfassend die Aktenbestände des Universitätsarchiv Leipzig: UAL R 58; UAL R 388. 25 | Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 206. 26 | Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, 305f. Vgl. Eckert: Historische Forschung, 2010, S. 15f. 27 | In einem Bericht über die Entwicklung der Afrikanistik an der Humboldt-Universität wird die Problematik angedeutet: »Die Entwicklung des Instituts zeigte, daß trotz mitunter auftretenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Genossen des Instituts und Professor Dammann, die durch grundsätzlich verschiedene ideologische Haltungen verursacht wurden, eine Reihe sichtbarer Erfolge in Lehre und Forschung, wie auch in
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Parallel hierzu zeichneten sich am Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte Bemühungen ab, eine entschieden sozialistische Afrikanistik zu begründen und die Kolonialgeschichte als zentrales Forschungsfeld zu etablieren. Der Historiker Walter Markov konnte dort bereits in den 1950er Jahren die »Vergleichende Kolonialgeschichte« einführen.28 Eine gegenwartsbezogene Regionalwissenschaft Asiens und Afrikas wurde durch die Leipziger Orientalistik geschaffen, die ebenfalls ausgebaut wurde. 1958 wurde schließlich die Abteilung Afrikanistik am Institut für Orientalistik eröffnet, die im symbolträchtigen ›Afrikajahr‹ 1960 in das selbstständige Afrika-Institut umgewandelt wurde.29 Mit der Gründung des Afrika-Instituts erreichte die Institutionalisierung der Afrikawissenschaften schließlich ihren Höhepunkt, der zugleich als Fanal für die wissenschaftliche Beschäftigung gelten kann. Die Kolonialhistorikerin Thea Büttner konstatiert etwa: »From that time African history became increasingly acceptable as an academic subject, being dealt with beyond this by a small group of historians at history departments and African studies centres at various Universities […].«30 Kommissarischer Direktor des Instituts war in den ersten drei Jahren der Historiker Kurt Büttner, ein Assistent Walter Markovs, der zur kolonialen Geschichte Ostafrikas forschte. Dann übernahm Walter Markov selbst die Direktion. Durch die beiden Historiker erfuhr das Institut eine stark geschichtswissenschaftliche Ausrichtung, obwohl mit dem Afrika-Institut eine multidisziplinäre, an den Area Studies orientierte Afrikanistik lanciert werden sollte. Damit sollte sich die sozialistische Afrikanistik auch methodologisch von der zunächst weiterhin stark linguistisch ausgerichteten »bürgerlichen Afrikanistik« Westdeutschlands unterscheiden.31 Zur disziplinären Aufteilung zugunsten der Geschichtswissenschaft trug auch bei, dass die Kolonialgeografie in der DDR als politisch diskreditiert galt und der Ethnologie nur eine schwache wissenschaftliche Stellung zugesprochen wurde. Zeitgleich wurde im Jahr 1961 die Deutsch-Afrikanische Gesellschaft der DDR gegründet, »die auf den guten, humanistischen Traditionen unseres Volkes« beruhen sollte und »den völligen Bruch mit der imperialistischen und koloniader Gesamtentwicklung des Instituts erzielt worden sind.« Bericht zur Entwicklung und den Aufgaben der Afrikanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, in: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/249, Blatt 13. 28 | Vgl. Middell: Weltgeschichtsschreibung 2005, 843ff. 29 | Vgl. hierzu auch Vertrag über die Bildung eines Forschungszentrums zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, in: UAL, R 1137, Bd. 1: Verträge mit Kooperationspartnern im DDR-Territorium, Blatt 25-31. 30 | Büttner: The Development of African Historical Studies, 1992, S. 135. 31 | Sie setzte sich aus den Fachbereichen Geschichte, Ökonomie sowie Afrikanische Sprachen und Literaturen zusammen. Parallel hierzu existierte eine Arbeitsgemeinschaft »Staat und Recht«. Vgl. Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, S. 309.
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listischen Vergangenheit in Deutschland sowie die Bereitschaft zur allseitigen Zusammenarbeit und Unterstützung für die Völker Afrikas zum Ausdruck bringen soll«.32 Walter Markov wurde im März 1961 zum ersten Präsidenten der neuen Gesellschaft gewählt und konnte so seinen wissenschaftlichen Einfluss stärken. In Berlin, wo sich besonders der Historiker Alfred Meusel für die Kolonialgeschichte einsetzte, wurde die Afrikanistik hingegen im Jahr 1961 in die Sektion der Asienwissenschaften eingegliedert. Hier vertrat lediglich der Historiker Helmuth Stoecker die Geschichte Afrikas, dessen Professur allerdings nicht direkt innerhalb der Afrikanistik angesiedelt war. Zudem konnte er keinen »größeren Schülerkreis für afrikanische Geschichte […] ausbilden. Lediglich zwei Forschungsstudenten beziehungsweise Assistenten befassten sich an der Humboldt Universität vor 1990 zeitweilig mit der Historie Afrikas.«33 Eine Folge der Institutionalisierung der Afrikanistik in Leipzig war die Schaffung verschiedener Publikationsmöglichkeiten. Neben Jahrbüchern und Reihen – vor allem der von Walter Markov herausgegebenen »Studien zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas«34 – war die Gründung von Zeitschriften wichtig, etwa »Asien, Afrika, Lateinamerika«, »EthnologischArchäologische Zeitschrift« und das Jahrbuch des Museums für Völkerkunde zu Leipzig. Auch die »Zeitschrift für Geschichtswissenschaft« widmete ganze Ausgaben den Regionen Asien, Afrika und Lateinamerika.35 In einer Vorlage für die Gründung einer »Zeitschrift für Asien- und Afrikawissenschaften« vom November 1961 werden die verschiedenen Zielsetzungen deutlich, die mit diesen Publikationen verfolgt wurden. Hier heißt es, die »Zeitschrift soll vor allem auch nach außen wirken. Sie soll vor allem in den sozialistischen Ländern, den Ländern Asiens- und Afrikas und bei progressiven Kreisen des kapitalistischen Auslands Zeugnis vom Stand der Asien- und Afrikawissenschaften in der Deutschen Demokratischen Republik ablegen.«36 Die Publikationsmöglichkeiten in den Ländern Asiens und Afrikas waren jedoch stark begrenzt oder – im Falle Namibias – nicht möglich. Dies wird auch an der Korrespondenz zwischen der Kammer für Außenhandel und dem AkademieVerlag ersichtlich, der Ende der 1950er Jahre begann, die Exportmöglichkeiten für wissenschaftliche Literatur in die ehemaligen deutschen Kolonien zu 32 | Deutsch-Afrikanische Gesellschaft in der DDR, 1961, in: DY 30/IV 2/904/131, Blatt 4. 33 | Eckert: Historische Forschung an der Humboldt Universität, 2010, S. 16. 34 | Die Reihe wurde seit 1959 herausgegeben. Neun der 15 Bände befassen sich bis zu Beginn der 1970er Jahre mit der Geschichte Afrikas. 35 | Vgl. Büttner: The Development of African Historical Studies, 1992, S. 135. 36 | Vorlage für die Gründung einer »Zeitschrift für Asien- und Afrikawissenschaften«, 7.11.1961, in: DY 30/IV 2/904/249, Blatt 171.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
erfragen.37 »Ein größerer Absatz deutschsprachiger Literatur erscheint jedoch kaum möglich«, so die Antwort der Kammer für Außenhandel, »da nur wenige afrikanische Wissenschaftler in Deutschland studiert haben, vielmehr in den Uni-Städten Afrikas selbst, bzw. in Amerika und England. Hinzu kommen Importschwierigkeiten, da keines der Länder autonom ist.«38 Folglich war die Kolonialgeschichtsschreibung der DDR in erster Linie für den nationalen Buchmarkt sowie zur Profilierung gegenüber dem »kapitalistischen Ausland« bestimmt. Im Hinblick auf die Sprachnormierungsprozesse der 1950er und 1960er Jahre ist aufschlussreich, dass durch die Publikationsorgane auch eine politisch und wissenschaftlich regelkonforme Beschäftigung sichergestellt werden sollte, die zuvor offenbar nicht gewährleistet werden konnte. Hierzu heißt es: »Viele Kollegen veröffentlichen ihre Beiträge, nicht zuletzt in Ermangelung eines eigenen Organs, in westdeutschen oder anderen westlichen Organen oder sind gezwungen, Verbindungen mit Zeitschriften anderer Disziplinen […] aufzunehmen.«39 Der Personalmangel, der für die Afrikanistik in Leipzig ein ernstzunehmendes oder gar »fast unüberwindliches Problem«40 darstellte, beinhaltete aber zugleich die Chance für eine systematische Neuausrichtung. Schließlich konnte durch die Ausbildung der fehlenden Lehrkräfte auf die inhaltliche, methodische und vor allem personelle Neuausrichtung der Afrikanistik eingewirkt werden.41 In Leipzig lenkte Walter Markov systematisch die Ausbildung junger HistorikerInnen, die aufgrund der engen institutionellen Anbindung und der ideologisch vorgegeben Orientierung an einem gemeinsamen »Denkstil« ein idealtypisches »Denkkollektiv« bildeten.42 Die Auswahl des akademischen Nachwuchses, der im Fachgebiet der Afrikanistik eingesetzt werden sollte, erfolgte dabei mit Bedacht. Konkret hieß es etwa in den späten 1950er Jahren, es müsse »eine zentrale Aufgabe sein, in dem Fachgebiet Afrikanistik Kader heranzubilden, die unserem Arbeiter- und Bauernstaat treu ergeben
37 | Vgl. die umfassende Korrespondenz in BBAW, Akademie-Verlag 550. 38 | Korrespondenz zwischen dem Akademie-Verlag und der Kammer für Außenhandel, 26.11.1959, in: BBAW, Akademie-Verlag 550. 39 | Vorlage für die Gründung einer »Zeitschrift für Asien- und Afrikawissenschaften«, 7.11.1961, in: DY 30/IV 2/904/249, Blatt 171. 40 | Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, S. 310. 41 | Vgl. Bericht zur Entwicklung und den Aufgaben der Afrikanistik an der HumboldtUniversität zu Berlin, DY 30/IV 2/904/249, Blatt 15ff.; »Hans-Joachim Böhme: »An den Rat der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität. Empfehlung für die sozialistische Entwicklung der Asien- und Afrikawissenschaften, in: UAL, R 58/20. 42 | Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 1980.
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sind und in den verschiedenen Funktionen eingesetzt werden können.«43 Die wissenschaftlichen Karrieren der KolonialhistorikerInnen, die in den 1950er und 1960er Jahren ausgebildet wurden, ähneln sich daher. Sie wurden in der Regel zwischen 1927 und 1930 geboren und hatten ihre Ausbildung an Hochschulen der DDR absolviert. Promoviert oder habilitiert wurden sie generell bei etablierten Professoren, die keine ausgesprochenen Spezialisten für Kolonialhistoriografie waren. Es ist bezeichnend, dass der überwiegende Teil der HistorikerInnen zuvor zu einem Themenbereich der Mediävistik gearbeitet hatte.44 Scheinbar galt die vorige Beschäftigung mit dem Mittelalter als Qualifikation für die Erforschung Afrikas, denn auch im sozialistischen Geschichtsverständnis galt die Annahme, dass sich die »Entwicklung« Afrikas in Analogie zur europäischen Geschichte vollziehen musste. Die Paradigmen der mediävistischen Forschung waren daher innerhalb eines allochronen Diskurses auf die Erforschung Afrikas übertragbar. Es fällt ferner auf, dass alle NachwuchshistorikerInnen zumindest formal über einen ausgesprochen ›sozialistischen‹ und ›antifaschistischen‹ Lebenslauf verfügten, den auch die jeweilige Familiengeschichte stützte. Die Biografien werden in Würdigungen, Nachrufen und Berufungsakten immer wieder thematisiert und so zum Garanten einer engagierten, sozialistischen Geschichtsschreibung mit erheblichem Authentizitäts- und Legitimationsanspruch.45 Aufgrund ihres Alters und ihrer wissenschaftlichen Lebensläufe repräsentiert der wissenschaftliche Nachwuchs geradezu idealtypisch die »Auf baugeneration«, der Mary Fulbrook eine »unbestrittene Generationeneinheit« und langfristige, akademische und politische Einflussnahme attestiert, denn innerhalb der »Funktionseliten waren sie am
43 | Briefwechsel zwischen Prof. Dr. Martin und dem Staatssekretariat für das Hochund Fachschulwesen, 2.10.1958, in: UAL R 58, Blatt 3; vgl. »Hans-Joachim Böhme: »An den Rat der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität. Empfehlung für die sozialistische Entwicklung der Asien- und Afrikawissenschaften, in: UAL, R 58, 20. 2.1960, in: UAL, R 58, Blatt 15. 44 | Stellvertretend sei hier auf die 1930 geborene Thea Büttner verwiesen. Nach ihrem Studienabschluss 1953 wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine Geschichte in Leipzig. 1957 promovierte sie bei Ernst Werner zu dem Thema: »Die Circumcellionen, eine sozial-religiöse Bewegung.« Erst im Zuge ihrer Habilitationsschrift widmete sie sich der Geschichte Afrikas. 1966 wechselte Thea Büttner an das Afrika-Institut der Karl-Marx-Universität. Eine ähnliche wissenschaftliche Karriere hat auch Horst Drechsler durchlaufen, der bei Friedrich Schneider und Karl Griewank über die Universitäten des Mittelalters promovierte. 45 | Zu fragen ist hierbei allerdings im Einzelfall, ob die Lebensläufe geschönt wurden. Vgl. Hirschinger: Fälschung und Instrumentalisierung antifaschistischer Biographien, 2007; Ahbe: Politik und dramatisierende Selbstdeutung, 2006.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
stärksten und längsten vertreten«.46 Kurt Pätzold verweist wegen der Karrieremöglichkeiten in der jungen DDR ferner auf eine besondere Loyalität gegenüber dem sozialistischen System.47 Wenngleich dieser Befund aufgrund der innerwissenschaftlichen Hierarchien zwischen Leipzig und Berlin nicht zu verallgemeinern ist, kann zumindest für die HistorikerInnen um Walter Markov von einer hohen Loyalitätsbereitschaft ausgegangen werden. Der jungen Generation kam auch Symbolfunktion zu, denn sie sollten den politischen und wissenschaftlichen ›Neubeginn‹ nach Innen und Außen dokumentieren und sich als junge, sozialistische NachwuchshistorikerInnen von der reaktionären bürgerlichen Geschichtswissenschaft des Westens abheben.48 Deutlich wird dies etwa an Helmut Stoeckers Ausführung über »Die deutsche Geschichtsschreibung der Gegenwart über die imperialistische Kolonialpolitik«, die er 1959 veröffentlichte.49 Hierin inszeniert er einen ideologischen und generationellen Bruch zwischen der Kolonialhistoriografie der BRD und DDR. Die »bürgerlichen Historiker der älteren Generation in Westdeutschland« werden der »jungen marxistischen Geschichtswissenschaft der DDR« gegenübergestellt.«50 Afrikanische HistorikerInnen arbeiteten kaum am Institut, lediglich der Nigerianer Modilim Achufusi promovierte im Jahr 1960 bei Walter Markov über die koloniale Eroberung des Sokoto-Kalifats.51 Er gehörte auch zu den ersten Mitarbeitern der neuen Abteilung.52 Walter Markovs SchülerInnenkreis erforschte anhand der Akten des Reichskolonialamtes die deutsche Kolonialgeschichte innerhalb der geschilderten geschichtspolitischen Interessenskonstellation. Die intensive Auswertung der Archivbestände seit den 1950er Jahren mündete in Monografien, zahl-
46 | Fulbrook: Generationen und Kohorten in der DDR, 2006, S. 124ff. Vgl. Pätzold: Persecution and the Holocaust, 1995, S. 291ff. Beispielhaft ist hierfür etwa die Biografie des 1930 geborenen Heinrich Loths, der 1951 aus Westdeutschland in die DDR emigrierte. Er holte dort sein Abitur nach und studierte anschließend Geschichte. Im Februar 1959 nahm er eine Assistentenstelle am Afrika-Institut der Universität Leipzig an und wurde 1961 mit einer Arbeit über das Thema »Die Destruktive Rolle der Rheinischen Missionsgesellschaft beim Prozess der Staatenbildung in Südwestafrika (1842-1893) promoviert. Vgl. Lebenslauf Heinrich Loth, in: SAPMO-BArch, DR 3/6263, Blatt 8-9. 47 | Vgl. Pätzold: Persecution and the Holocaust, 1995, S. 291. 48 | Die Inszenierung einer neuen Generation von jungen AfrikanistInnen findet sich auch in selbstinszenatorischen Fotografien. Vgl. hierzu die Fotografien in Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, S. 308, 314. 49 | Stoecker: Die deutsche Geschichtsschreibung der Gegenwart, 1959/60, S. 71-75. 50 | Ebd., S. 73. 51 | Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, S. 317. 52 | Ebd., S. 307.
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reiche Artikel, etwa 40 Doktorarbeiten und etliche Qualifikationsschriften.53 Die Verpflichtung gegenüber dem sozialistischen Forschungsprogramm zeigt sich etwa darin, dass sich im Verzeichnis unveröffentlichter Dissertationen, also der nicht systemkonformen Arbeiten, keine findet, die sich mit der deutschen Kolonialgeschichte befasst.54 Die wichtigsten Arbeiten verfassten Historiker, die zudem auch institutionell eng eingebunden waren.55 Das koloniale Tansania wurde von Kurt Büttner und Fritz Ferdinand Müller bearbeitet, Peter Sebald und Alfred Rüger widmeten sich dem kolonialen Kamerun und Manfred Nussbaum bearbeitete die Bestände zum kolonialen Togo. Im Jahr 1962 publizierte Franz Ferdinand Müller zudem eine Quellensammlung, die allerdings primär das koloniale Tansania fokussierte.56 Das koloniale Namibia wurde von Heinrich Loth, der sich zudem eingehend mit der Missionsgeschichte befasste, und Horst Drechsler bearbeitet.57 Heinrich Loth und Horst Drechsler publizierten in den späten 1950er Jahren und zu Beginn der 1960er Jahre verschiedene Aufsätze zur Geschichte des kolonialen Namibias. 1958 und 1961 veröffentlichten sie jeweils einen Artikel in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift »Urania« und richteten sich so mit ihren Entwürfen des kolonialen Namibias an eine breitere Öffentlichkeit.58 1959 wurde auch in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität ein Referat Horst Drechslers über »Die deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika« abgedruckt.59 Doch vor allem Horst Drechslers 1966 erstmals publizierte Habilitationsschrift »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Der Kampf der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus 1884-1915«, die von Walter Markov und Heinz Tillmann betreut worden war, ist zentral für die Neuverhandlung 53 | Vgl. Büttner: The Development of African Historical Studies, 1992, S. 135. Aus Sicht der Verantwortlichen war die Zahl weitaus höher: »Seit 1971 wurden von den wissenschaftlichen Kadern unserer Disziplinen [AALA] allein an den Universitäten und Hochschulen über 140 Monographien und mehr als 1400 wissenschaftliche Artikel veröffentlicht und weit über 100 Dissertationen A und rund 30 Dissertationen B verteidigt.« Rede zur Gründung des AALA, 6.11.1979, in: UAL R 1166, Blatt 320. 54 | Vgl. Bleek/Mertens: Bibliographie der geheimen DDR-Dissertationen, 1994. 55 | Ausnahmen bilden die Arbeiten Thea Büttners und Jollanda Ballhaus’. 56 | Müller: Kolonien unter der Peitsche, 1962. 57 | Büttner: Die Anfänge der deutschen Kolonialpolitik in Ostafrika, 1959; Müller: Deutschland – Zansibar – Ostafrika,1959; Stöcker: Kamerun unter deutscher Kolonialherrschaft, 1960; Loth: Die christliche Mission in Südwestafrika, 1963; Loth: Die Ketzerbewegung in Südwestafrika, 1959/60; Loth: Die politische Zusammenarbeit der christlichen Mission, 1959; Loth: Vom Schlangenkult zur Christuskirche, 1985. 58 | Drechsler: Die großen Aufstände, 1958; Loth: Auf den Spuren des deutschen Imperialismus, 1961. 59 | Drechsler: Die deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika, 1959.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
der Geschichte des kolonialen Namibias. In den Aktenbeständen finden sich zahlreiche Hinweise auf Horst Drechslers persönliche Haltung gegenüber dem politischen und wissenschaftlichen System der DDR. Seine Karriere lässt zunächst auf ein politisch konformes Verhalten schließen: Er engagierte sich politisch und unterstützte aktiv die Hochschulpolitik der SED. Für Horst Drechslers Engagement und die »vorbildliche Verbindung von Wissenschaft und Politik« wurde ihm »1961 die Medaille für ausgezeichnete Leistungen verliehen«.60 Die Monografie wurde zunächst in der von Walter Markov initiierten Reihe »Studien zur Geschichte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas« mit einer sehr geringen Auflagenstärke von 700 Exemplaren publiziert. In den nachfolgenden Jahrzehnten erschien sie in insgesamt vierzehn nahezu unveränderten Ausgaben. Höhepunkt dieser Publikationsgeschichte waren die mehrsprachigen UNO-Ausgaben der 1980er Jahre. Zeitgleich wurde sie in Südafrika verboten.61 Bis zum Jahr 1989 änderte sich sie Bewertung der Monografie ständig. Über diesen Prozess lassen sich deutsch-deutsche, aber auch internationale Forschungs-, Wissens- und Erinnerungsdiskurse nachzeichnen.
III.3 S pr achnormierungen und neue E rz ählformen Die neu geschaffenen Asien- und Afrikawissenschaften der DDR wurden vor allem in der Konsolidierungsphase der Kolonialhistoriografie in den 1950er und frühen 1960er Jahren mit der Aufgabe konfrontiert, »die konsequente Auseinandersetzung mit jeglichen reaktionären, rassistischen, kolonialistischen und pseudowissenschaftlichen Auffassungen«62 voranzutreiben. Damit war nicht nur ein kritischer Rückblick verbunden, sondern auch die Frage, mit welchen rhetorischen, ästhetischen und narrativen Mitteln eine kritische Kolonialgeschichte geschrieben werden konnte. In der DDR erfolgte die Suche nach neuen antirassistischen und antikolonialen Erzählungen unter den Prämissen der materialistischen Geschichtsauffassung und der Idee, einen gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte wissenschaftlich absichern zu können. Zumindest auf der Ebene des Metanarrativs stand damit in Grundzügen die historische Entwicklung des kolonialen Namibias fest, die innerhalb sozialistischer Entwicklungsmodelle, Kategorien und einer spezifischen Terminologie und Spra60 | Prof. Dessau, Kommissarischer Leiter des Lateinamerika-Instituts, 20.10.1964, in: SAPMO-BArch DR 3/B/10805, Blatt 18; vgl. Walter Markov an den Dekan der Philosophischen Fakultät Rostock, 18.2.1966, in: SAPMO-BArch DR 3/B 10805, Blatt 32. 61 | Horst Drechslers Monografie »was banned in South Africa until recently«. Dedering: The German-Herero War of 1904, 1993, S. 81. 62 | Krüger: Zur weiteren Entwicklung der Asien und Afrikawissenschaften in der DDR, Artikel für das ND, in: SAPMO-BArch DY 30/IV2/904/249, Blatt 70.
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che erzählt werden musste. Grundlegende Vorgaben für die Geschichtsschreibung wurden dabei sowohl vom Rat für Geschichtswissenschaft sowie vom Zentralen Rat für Asien-, Afrika- und Lateinamerikawissenschaften der DDR formuliert. Sie zielten auf eine Orientierung an den ideologischen Grundlagentexten des Historischen Materialismus und einem damit verbundenen sozialismusgemäßen Sprachgebrauch ab, der durch Gutachten des Instituts für Marxismus-Leninismus sichergestellt wurde, was faktisch ein Zensurverfahren darstellte. Diese Orientierung äußerte sich besonders augenscheinlich im »Sandwich-Prinzip«, »wonach empirischen Artikeln als Einleitung und zum Schluß ein theoretischer Tribut an Marx und Lenin voran- bzw. hintanzustellen war«.63 Die Aktenlage suggeriert, dass für die Kolonialhistoriografie direkte, staatlich sanktionierte Mittel und vor allem Zensurmaßnahmen eine eher untergeordnete Rolle in der Durchsetzung des Geschichtsmodells spielten. Scheinbar vollzog sich die Orientierung an der sozialistischen Deutungsfolie und deren Sprachregelungen weitestgehend konfliktfrei. Ein wesentlicher Grund könnte hierbei die enge institutionelle Einbindung und die damit verbundene Arbeit in »Denkkollektiven« gespielt haben, die gegebenenfalls dazu führte, dass die Texte bereits im Vorfeld ideologisch konform gestaltet wurden und eine Nachzensur nicht mehr nötig war.64 Jenseits des marxistisch-leninistischen Metanarrativs und der Forderungen nach einer antikolonialen Geschichtsschreibung prägte jedoch ein durchaus positivistisches Geschichtsverständnis den Umgang mit den Akten des Reichskolonialamts. Sie dienten als Grundlage jedweder Kolonialhistoriografie, zumal Forschungsreisen in das formal südafrikanische Südwestafrika nicht möglich waren. Die archivbasierte Quellenarbeit stellte auch in der DDR den methodologischen Stand der Forschung dar. Folglich setzte die »Autorität« der Quellen, so Konrad Jarausch, der »ideologischen Fiktionalisierung immer wieder gewisse Grenzen«.65 Die Orientierung an den Quellen führte in der Kolonialgeschichtsschreibung jedoch auch dazu, dass die Darstellungs- und Interpretationsmöglichkeiten der Vergangenheit inhaltlich, rhetorisch und narrativ durch koloniale Vorstellungswelten und Diskurse begrenzt wurden und somit eine koloniale Form der »ideologischen Fiktionalisierung« fortgeführt wurde. 63 | Fulbrook: DDR-Geschichtswissenschaft und Geschichtspolitik, 1998, S. 421. 64 | Vgl. Konrad H. Jarausch, der die Sprachnormierung der DDR als »ein intellektuelles Resultat des gesellschaftlichen Großexperiments der SED« auffasst. Für ihn gilt: »Der Orientierungseffekt einer solchen Sprachnormierung war erheblich, gerade weil er den Beteiligten so wenig bewußt war.« Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 273. 65 | Konrad Jarausch führt hierzu aus: »Als Erben der Rankeschen Tradition, die ›ein umfangreiches und gründliches Quellenstudium‹ erforderte, mußten auch DDR-Historiker bei der Konstruktion des ›richtigen Geschichtsbildes‹ die inhaltlichen Aussagen der Dokumente berücksichtigen.« Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 269.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
Neben den Aktenbeständen in Potsdam und Merseburg stellten populäre Texte des Kolonialismus und Kolonialrevisionismus eine wichtige Quelle für HistorikerInnen der DDR dar. Hieran wird deutlich, dass die »populären Wissenstraditionen« des Kolonialismus und Kolonialrevisionismus weiterhin in der DDR zirkulierten und ihnen eine erhebliche Bedeutung zugesprochen wurde. Normativ sollten sie als Grundlage kritischer Erzählungen fungieren. Doch auf den schwierigen Umgang mit dem literarischen Erbe des Kolonialismus deutet bereits das Literaturverzeichnis in Horst Drechslers Monografie. Hier finden sich zahlreiche populäre Texte, die den apologetischen Diskurs um das koloniale Namibia prägten, etwa Maximilian Bayers »Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika«, Ada Cramers »Weiß oder Schwarz« oder Gustav Frenssens »Peter Moors Fahrt nach Südwest«.66 Sie werden unter der Rubrik »Darstellungen« angeführt, so dass die sozialistische Forschungsliteratur der 1960er Jahre gleichwertig neben apologetischen Texten steht. Der Umgang mit den im Verzeichnis angeführten Texten wird erst anlässlich der Neuauflage kritisch bemängelt. Der Historiker Helmut Stoecker äußert sich in einem Gutachten zum »Quellen- und Literaturverzeichnis« und kritisiert: »Die Bezeichnung ›Darstellung‹ trifft nicht für alle genannten Werke zu. Besser wäre ›Literatur‹. Auch sollten Erinnerungen, Reiseberichte etc., die Quellencharakter haben, in einem besonderen Unterabschnitt aufgeführt werden.«67 Mit der Quellensituation untrennbar verbunden war auch die Frage, wie der normative Bruch mit kolonialen und rassistischen Vorstellungswelten konkret Niederschlag in Darstellungs- und Erzählformen der gebundenen Geschichtsschreibung finden sollte. Eine solche Vorgabe fehlte jenseits des verbindlichen Metanarrativs und der damit verbundenen spezifischen Terminologie und Sprache. Entscheidend vorangetrieben wurde die Auseinandersetzung durch Walter Markov, der die »Überwindung des Eurozentrismus der bürgerlichen Geschichtsschreibung«68 forderte. Dieses Postulat stellte zeitgenössisch ein Novum dar. Für die Historiker Felix Brahm und Adam Jones gilt daher, der »von Walter Markov und seinem Schülerkreis ausgehende kritische Ansatz, der bewußt eine eurozentrische Perspektive vermeiden wollte, war in dieser Zeit zukunftsweisend und hatte eine erhebliche internationale Ausstrahlwirkung, auch auf Teile der westdeutschen Historikerschaft«.69 Die Suche nach neuen Erzählformen lässt sich dabei auch in einem internationalen, vorwiegend linken akademischen Diskurs verorten, der sowohl Westals auch Ostdeutschland umfasste: »Immanuel Geiss considered two writers 66 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 298-304. 67 | Gutachten von Helmuth Stoecker an den Dietz-Verlag, in DY 30/16417, Blatt 51. 68 | Markov: Studien zur Kolonialgeschichte, 1960, S. 1100. 69 | Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, S. 306. Vgl. zur Rolle Walter Markovs auch Middell: Weltgeschichtsschreibung 2005.
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in particular – Basil Davidson and Jean Suret-Canal whose writings had partly been translated and published in both West and East Germany – as particular important in stimulating interest in African history and opening new horizons from a pronounced anticolonialist and antiracist point of view.« 70 In der DDR wurde daraufhin gefordert, dass besonders »auf dem Gebiet der Literatur und Geschichte unbedingt afrikanische Quellenmaterialien herangezogen werden müssen«.71 »Denn«, so wird in einem Bericht zu der Entwicklung und den Aufgaben der Afrikanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin ausgeführt, »man wird den afrikanischen Völkern und ihren Traditionen nicht gerecht, wenn diese Probleme nicht aus der Sicht der Völker selbst, sondern nur aus europäischer Sicht betrachtet werden«.72 Auch Horst Drechsler problematisiert die Quellenlage für die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia, indem er hinsichtlich der Quellen aus dem Reichskolonialamt mahnt, »dabei darf man freilich nicht vergessen, daß es sich bei den Dokumenten ausschließlich um Aufzeichnungen der Kolonialherren, also der Feinde der Afrikaner, handelt«.73 Da »afrikanische Quellenmaterialien« kaum verfügbar waren, wurden vor allem kolonialismuskritische Quellen erschlossen, die in der DDR gleichsam ›wiederentdeckt‹ wurden. Mit ihnen wurde versucht, quellengestützt Gegenerzählungen zu entwerfen, denen aber zwangsläufig eine Weiße Perspektive zugrunde lag. Die ›Wiederentdeckung‹ betraf vor allem Texte, die den kolonialen Genozid offen thematisieren und verurteilen, denn obwohl das Wissen über den kolonialen Genozid besonders seit dem Ersten Weltkrieg zum Teil systematisch überschrieben und verdrängt wurde, misslang eine vollständige Amnesie. In Horst Drechslers Monografie finden sich etwa Autoren wie der Marburger Pfarrer Philipp Horbach, der bereits 1904 den deutschen Kolonialismus kritisiert und explizit abgelehnt hatte.74 Ferner finden sich drei Publikationen von Moritz Julius Bonn.75 Der linksliberale Wirtschaftshistoriker war zu Forschungszwecken nach ›Südwestafrika‹ gereist und wurde »einer der schärfsten Kritiker Lothar von Trothas während des Krieges gegen die Herero und Nama«.76 Er lehnte jede Besiedelung Afrikas durch Weiße grundlegend 70 | Büttner: The Development of African Historical Studies, 1992, S. 134. Vgl. Davidson: The African Past, 1964; Davidson: Vom Sklavenhandel zur Kolonialisierung, 1966. 71 | Bericht zur Entwicklung und den Aufgaben der Afrikanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, in: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/249, Blatt 15. 72 | Ebd. 73 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 5. 74 | Der Marburger Pfarrer Philipp Horbach: »Wir hatten ebensowenig als irgendeine andere europäische Macht ein Recht, von einem Land in Afrika Besitz zu ergreifen.« Horbach: Reichskanzler, Missionare und Herero-Aufstand, 1904, S. 29. 75 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 299. 76 | Stuchey: Die europäische Expansion, 2010, S. 283.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
ab und prägte durch seine Schriften den Begriff der Dekolonisation. Mit dem englischen »Report on the Natives of South-West Africa and their Treatment by Germany«, der 1918 veröffentlicht wurde, konnte eine weitere wertvolle Quelle für eine kritische Gegendarstellung erschlossen werden. Horst Drechsler geht in seinen Ausführungen zur verwendeten Literatur explizit auf den 1918 veröffentlichten britischen »Report on the Natives of South-West Africa and their Treatment by Germany« 77, das »Blue Book«, ein, das im Zuge des Kolonialrevisionismus zeitweilig im Zentrum der Auseinandersetzungen um die Ereignisse im kolonialen Namibia stand. Für Horst Drechsler stellte es eine der wichtigsten Quellen dar: »Wenn wir, indem wir die Sekundärliteratur Revue passieren ließen, bisher gewissermaßen Fehlermeldung erstatten mußten, so gibt es doch ein Buch, das der Wirklichkeit relativ nahekommt.« 78 Er verweist in seinem Literaturüberblick auch auf die erinnerungspolitische Geschichte des »Report« und führt hierzu aus: »Gerade dieses Buch wurde bezeichnenderweise bisher von keinem deutschen Autor benutzt, ja es wurde vielmehr systematisch totgeschwiegen.« 79 Für die konkrete rhetorische, ästhetische und narrative Gestaltung wissenschaftlicher Texte boten sozialistische Kolonialromane eine wichtige Vorlage, denn in der DDR wandten sich zunächst Schriftsteller der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte zu. Sie waren nicht von der Institutionalisierung der Kolonialhistoriografie abhängig und konnten ihre Texte schon sehr viel früher veröffentlichen. Gemäß den Verlagsakten geschah dies auch in Reaktion auf die Deutungsdominanz kolonialrevisionistischer Literatur, deren Vorstellungswelten auch in der DDR als Teil des kulturell verankerten Wissens über das koloniale Namibia weiterhin bestand hatten. Zugleich schlossen die DDR-Romane an die Erzählkonventionen der Kolonialliteratur an. Sie adaptierten unter sozialistischen Vorzeichen die Erzählmuster der Abenteuer- und Memoirenliteratur, die – so lässt sich mit Hayden White argumentieren – »den Rezipienten als Teil ihres kulturellen Erbes vertraut sind«.80 Für HistorikerInnen boten die Kolonialromane auf ihrer Suche nach neuen Erzählformen dennoch inhaltliche, rhetorische und narrative Anregungen. Maximilian Scheers populärwissenschaftlicher Roman »Schwarz und Weiss am Waterberg« aus dem Jahr 1952, der anlässlich des ›Afrikanischen Jahres‹ in einer überarbeiteten Textfassung erneut erschien, nimmt hierbei eine besonders wichtige Stellung ein. Der Roman wurde im Hinblick auf marxistische Metanarrative, Sprache, Rhetorik und seinem Beitrag zur Geschichtspolitik wegweisend für die institutionalisierte Historiografie. Maximilian Scheers Buch – so erläutert der Klap77 | United Kingdom: Report on the Natives of South-West Africa, 1918, S. 61f. 78 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 19. 79 | Ebd. 80 | White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk, 1994, S. 106f.
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pentext – »ist das erste Werk, das zu den verschütteten Quellen der deutschen und britischen Kolonialpolitik in Südwestafrika vorgedrungen ist«.81 Mit dem Roman sollten die ideengeschichtlichen Hintergründe der nationalsozialistischen Diktatur aufgedeckt werden, die Scheer im Kolonialismus verortete. Maximilian Scheer thematisierte und narrativierte erstmals einen Kausalzusammenhang zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Genozid. Der Roman beruht auf der Auswertung von Quellen in der »›Bibliothèque National‹ in Paris, der Parlamentsbibliothek der französischen Kammer, der ›Public Library‹ in New York, der Bibliothek des ›Council on African Affairs‹ in New York, und auf stenographischen Protokollen der Reichstagsdebatten um die Jahrhundertwende und die Mandatsberichte der Südafrikanischen Union an den Völkerbund«.82 Damit beanspruchte Maximilian Scheer für seinen Roman hohe Authentizität, die ihm auch von Fachkreisen der DDR zugebilligt wurde. Der populärwissenschaftliche Roman wurde in der Geschichtswissenschaft als Fanal für eine neue Ära der Kolonialhistoriografie rezipiert. Heinrich Loth verweist 1961 in seinem Artikel »Der deutsche Militarismus in Südwestafrika« auf Scheers Roman. Auch Horst Drechsler geht in seiner Monografie »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft«, die er vierzehn Jahre nach Scheers Roman veröffentlichte, explizit auf »Schwarz und Weiss am Waterberg« ein. Unter allen historiografischen Darstellungen hebt Drechsler nur Scheers Roman als positives Beispiel hervor: »In diesem Buch wird mit publizistischen Mitteln ein lebensechtes Bild vom Kampf der Herero gegen den deutschen Imperialismus gezeichnet, das erfüllt ist von Sympathie für die gerechte Sache der Afrikaner.« 83 Noch 1978 gilt für den populärwissenschaftlichen Autor Alfred Babing, dass »Schwarz und Weiss am Waterberg« zum »ersten Afrikabuch der jungen DDR« 84 wurde. Welche Bedeutung der Roman als Maßstab für ein ideologisch und geschichtspolitisch konformes Metanarrativ hatte, wird auch daran deutlich, dass ein Textauszug Maximilian Scheers Eingang in die Geschichtsbücher der DDR fand.85 Ein Jahrzehnt später veröffentlichte Ferdinand May den Roman »Sturm über Südwest-Afrika. Eine Erzählung aus den Tagen des Hereroaufstandes«, der Kinder und Jugendliche als Lesepublikum adressierte.86 Der Roman ist inhaltlich und sprachlich an »Schwarz und Weiss am Waterberg« angelehnt, aber ebenso an die ersten Ergebnisse der Geschichtswissenschaft, zu deren Popularisierung er beitrug. Bereits die Erstauflage erschien mit 25.000 Exemplaren, weitere Auflagen 81 | Scheer: Schwarz und Weiß, 1955, Klappentext. 82 | Ebd., S. 150. 83 | Drechsler: Südwestafrika, 1984, S. 24. 84 | Babing/Bräuer: Namibia, 1979, S. 197. 85 | Vgl. Bonna: Die Erzählung in der Geschichtsmethodik, 1996, S. 172-178. 86 | May: Sturm über Südwest-Afrika, 1962.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
folgten.87 Auch in Ferdinand Mays Roman finden sich zahlreiche Verfahren der Authentizitätsgenerierung. Historisch verbürgte Personen sind die Handlungsträger des Romans, direkt und indirekt zitierte Quellenfragmente bürgen in der Textlogik für den Wahrhaftigkeitsanspruch der Erzählung. Begünstigt wurden intertextuelle Bezüge zwischen Literatur und akademisierter Historiografie durch das spezifische System der DDR, in dem »die Grenze zwischen Historikern und Politikern, zwischen Fachwissenschaft und Geschichtspolitik kaum trennscharf zu ziehen war«.88 Folglich war die Trennlinie zwischen den Textgattungen durchlässig. Historiografische und literarische Texte einten inhaltliche, narrative und rhetorische Konventionen, die zur Vermittlung eines ›richtigen‹ Geschichtsbildes dienen sollten. WissenschaftlerInnen und SchriftstellerInnen waren einem – für alle Textgattungen verbindlichen – marxistischen Geschichtsbild verpflichtet, das als didaktisches Mittel der Erziehung zum sozialistischen Menschen und zugleich als Ausdruck des sozialistischen Weltbildes fungierte. Für die Erziehung zum sozialistischen Menschen wurde ferner besonderer Wert auf eine dem Sozialismus gemäße Veränderung der Sprache gelegt, denn in »bewusster Abgrenzung zur Bundesrepublik«, so Konrad Jarausch, »verlangte der Auf bau eines besseren, sozialistischen Deutschlands eine systematische Veränderung der Sprache als eigenes Kommunikationsmedium neuer Werte und Inhalte«.89 Populäre und akademische Texte sollten zur Entwicklung und Etablierung eines gattungsübergreifenden, antirassistischen und antikolonialen Vokabulars beitragen. Sichergestellt wurde diese Sprachnormierung durch die Gutachten- beziehungsweise Zensurverfahren, die »keinen kategorialen Unterschied zwischen wissenschaftlichen und populären, zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Texten«90 machten. Dies schlug sich auf der Ebene der Schreibpraxis nieder. SchriftstellerInnen hatten Zugriff auf das Archivmaterial, wurden durch die Gutachterpraxis auf die Einhaltung eines »richtigen« Geschichtsbildes kontrolliert und dazu angehalten, »zahlreiche zeitgenössische Quellen« zu benutzen, um »zu einer der geschichtlichen Wahrheit entsprechenden Darstellung zu gelangen«, wie in einem Gutachten Horst Drechslers über Ferdinand Mays Roman »Sturm über Südwestafrika« ausgeführt wird.91 HistorikerInnen waren wiederum aufgefordert, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse einem breiten 87 | Druckgenehmigung, Verlag Neues Leben, 31.8.1962, in: SAPMO-BArch DR 1/ 5035, Blatt 361. 88 | Sabrow: Beherrschte Erinnerung und gebundene Wissenschaft, 2003, S. 162. 89 | Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 261. 90 | Sabrow: Geschichtsdiskurs und Doktringesellschaft, 2000, S. 26. 91 | Gutachten Horst Drechsler über Ferdinand Mays Roman »Sturm über Südwestafrika« DR 1/5035, Druckgenehmigungsvorgänge alphabetisch nach Autoren, Mas-Maz 1953-1965, S. 350. Vgl. hierzu auch Martin Selbers Roman »Krieg unter Palmen«. Der
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Publikum zugänglich zu machen und populärwissenschaftliche Darstellungen oder gar Romane zu publizieren. In einer Empfehlung für die sozialistische Entwicklung der Asien- und Afrikawissenschaften an der Karl-MarxUniversität aus dem Jahr 1960 heißt es: »Von besonderer Bedeutung ist die Schaffung und Herausgabe von populärwissenschaftlichen Arbeiten über die Sprache, Geschichte, Literatur, Wirtschaft und Kultur des betreffenden Landes mit dem Ziel, unsere werktätigen Menschen mit deren gesellschaftlichen Problemen vertraut zu machen.«92
Metanarrativ und Erzählkonventionen im Widerspruch In kolonialen und kolonialrevisionistischen Erzählungen wird die »Vernichtung« der Herero über miteinander verflochtene Erzählstränge legitimiert, die das koloniale Projekt und den kolonialen Genozid im Gesamtnarrativ plausibel und logisch erscheinen lassen. Sie basieren auf einem allochronen Geschichtsbild, das eine Fortschrittserzählung ermöglicht, und einem sozialdarwinistischen Entwicklungsmodell, das auf der Kategorie ›Rasse‹ beruht und den Krieg gegen die Herero naturalisiert. Im Folgenden gilt es aufzuzeigen, welche Bedeutung den Forschungsbedingungen und der Anwendung eines sozialistischen Geschichtsbildes, mitsamt seiner Begrifflichkeiten und Wertungen, für den Entwurf des kolonialen Namibias zukam. Von besonderem Interesse ist, wie koloniale Konzepte und Erzählungen innerhalb eines marxistisch-leninistischen Metanarrativs verhandelt wurden. Für den Entwurf einer antikolonialen und antirassistischen Geschichtsschreibung erwies sich die Orientierung an den ideologischen Grundlagentexten des Historischen Materialismus als durchaus problematisch, denn Karl Marx hatte sich in seinen Artikeln über Indien aus dem Jahr 1853 noch ambivalent über den Kolonialismus geäußert.93 Ihm zufolge ist der Kolonialismus eine unumgängliche Begleiterscheinung des Kapitalismus. Er kritisiert zwar die Gewaltformen des Kolonialismus, aber er hält den Kolonialismus innerhalb einer von Antagonismen vorangetriebenen Fortschrittsgeschichte der Menschheit für grundsätzlich progressiv und notwendig. Erst der Kolonialismus integriert die Kolonisierten in den Kapitalismus, schafft die Möglichkeit der Befreiung aus feudalen Verhältnissen und eröffnet so langfrisHistoriker Fritz Ferdinand Müller, weist immer wieder auf die Auswertung der Archivbestände durch Martin Selber hin: Bundesarchiv DR 1/5074, Blatt 46-58. 92 | An den Rat der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität. Empfehlung für die sozialistische Entwicklung der Asien- und Afrikawissenschaften an der KarlMarx-Universität, Leipzig, 20.2.1960, in: UAL, R 58, Blatt 16. Ähnlich in: UAL, R 1137, Bd. 1, Blatt 25-31. 93 | Vgl. zur Eurozentrismuskritik an Marx: Anderson: Marx at the Margins, 2010.
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tig die Möglichkeit der Revolution. Da Karl Marx geografische Räume außerhalb Europas jedoch weitestgehend als geschichtslos und statisch betrachtete, muss für ihn die Revolution zwangsläufig vom europäischen Zentrum ausgehen. Außereuropäische Gesellschaften werden so als Nachzügler einer ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung konzipiert, an der sie erst durch den Kolonialismus teilhaben können. Hier findet sich sehr deutlich die Idee der temporalen und geographischen Exklusion, die allerdings nicht essentialistisch-biologistisch, sondern ökonomisch begründet wird. Eine Veränderung dieser Position zeichnet sich erst mit Wladimir Iljitsch Lenins Ausführungen zum Kolonialismus und Imperialismus ab, die für die ostdeutsche Kolonialhistoriografie zur theoretischen und narrativen Leitlinie wurden.94 Die Orientierung an Lenins Schriften spiegelt sich deutlich in Literaturverzeichnissen und Metanarrativen der ostdeutschen Kolonialhistoriografie. Hier wird der Kolonialismus gemäß Lenin grundlegend kritisiert, das Recht zum Widerstand gegen die Kolonialherrschaft betont und die Bedeutung der Kolonien für die Revolution herausgestellt, denn ihr wurde eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Imperialismus und die zu erwartende Weltrevolution zugesprochen. Der ›Aufstand‹ der Herero und Nama gegen eine per se illegitime Kolonialherrschaft musste daher theorieimmanent als das zentrale Ereignis des kolonialen Namibias erzählt werden. Hieraus resultiert ein verbindliches Metanarrativ, demzufolge der deutsche Kolonialismus als Teil des kapitalistischen Systems entlarvt werden musste, da sich dessen »Fortschritt auf Kosten der unterdrückten Menschen vollzieht«95 und die koloniale ›Schutzherrschaft‹ zur systematischen Entrechtung der afrikanischen Bevölkerung führte. In der Sprache der marxistisch-leninistischen Geschichtstheorie ist die Zeit vor dem »Aufstand« durch eine »systematische Expropriation« gekennzeichnet.96 Die Schaffung von Reservaten – durch die den Herero bewusst wurde »wie ihr Landbesitz immer mehr zusammenschrumpfte«97, die Kreditverordnung des Jahres 1903 und der Bau der Otavibahn hätten schließlich dazu geführt, dass den Herero immer weniger Land zur Verfügung stand und sie sich akut in ihrer Existenz bedroht sahen. Der legitime Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft war die Folge. Innerhalb einer sozialistisch gewendeten Kolonialgeschichte führen die Herero und Nama als Proletarier und Gegner des Finanzkapitals einen Freiheitskrieg gegen die VertreterInnen des Imperialismus, der den Gesetzen des Klassenkampfes folgt. Eine sozialistische Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia konnte nur entstehen, weil der gesetzmäßige Verlauf der Geschichte in Lenins Schriften zum 94 | Vgl. Institut für Marxismus-Leninismus: Lenin, Werke, Bd. 26, 1961. 95 | Weinberger: Die deutsche Sozialdemokratie und die Kolonialpolitik, 1967, S. 412. 96 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 150. 97 | Ebd.
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Kolonialismus auch für Afrika Geltung besaß. Damit war das methodische und begriffliche Instrumentarium, mit dem die Geschichte Europas beschrieben wurde, auch für die Geschichte Afrikas gültig. Im Selbstverständnis der DDR-Geschichtswissenschaft musste dies zu einem Bruch mit der »in allen imperialistischen Staaten früher festzustellenden Tendenz, die kolonialunterdrückten Völker als außerhalb der geschichtlichen Betrachtung stehend, als geschichtsunfähig und bestenfalls der beschreibenden Völkerkunde und der Sprachwissenschaft würdig anzusehen«, führen, die sich »in Westdeutschland weitgehend bis heute erhalten«98 habe, wie Helmuth Stoecker Ende der 1950er Jahre ausführte. Das materialistische Geschichtsmodell basierte auf der Konstruktion von gesetzmäßigen, beschreib- und differenzierbaren, sozio-ökonomischen Entwicklungsstufen, die auch in der Geschichte des kolonialen Namibias nachzuweisen waren. In der Umsetzung dieses Modells werden Schwarze Menschen nach sozio-ökonomischen Verhältnissen klassifiziert. Für den Transfer und die Zirkulation von Wissen ist hierbei entscheidend, dass diese Entwicklungsstufen dem kolonialen Hierarchiediskurs entstammten und mit Hilfe der marxistischen Terminologie nur in ein sozialistisches Narrativ übersetzt wurden. Bereits einleitend greift Horst Drechsler in seiner Monografie verschiedene »Völker« heraus, die er gemäß ihrer »Siedlungsgebiete« kategorisiert. »Die wichtigsten Völker sind, entsprechend den genannten Siedlungsgebieten, die Ovambo, die Herero und die Nama.«99 Die Gesellschaft der Herero wird gemäß der Stufenfolge des marxistischen Geschichtsbildes als eine urkommunistische Gesellschaftsform beschrieben, die sich zum Zeitpunkt der »kolonialen Invasion« im »Stadium des Übergangs zum Nomadenfrühfeudalismus« befand.100 Damit wird ihnen eine besondere Stellung innerhalb der kolonialen Ordnung zugesprochen, die sich aus ihrer vermeintlich höheren ökonomischen Entwicklungsstufe ergibt. Sie werden in allen Texten der DDR-Historiografie als die »most advanced tribes in Southern and Central Namibia«101 konstruiert. Im Kontrast zu den »wichtigsten Völker[n]« werden andere Gruppen generalisierend in früheren, »urgesellschaftlichen« Entwicklungsstufen verortet, denen damit zugleich eine marginalisierte Stellung zugeschrieben wird: »In verschiedenen Stadien der Urgesellschaft lebten damals noch die Bergdama und die Saan (»Buschmänner«), die sich in Abhängigkeit von Herero und Nama befanden.«102 Während im kolonialen Diskurs ein essentialis98 | Stoecker: Die deutsche Geschichtsschreibung der Gegenwart, 1959/60, S. 71-75, S. 73. 99 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 23. 100 | Ebd., S. 24. 101 | Loth: From Insurrection to an Organised Liberation Struggle, 1969, S. 9. 102 | Drechsler: Südwestafrika,1966, S. 25.
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tisch begründetes, evolutionistisches Stufenmodell die Suprematie der EuropäerInnen über die AfrikanerInnen festschrieb – die Kategorie »Rasse« bildet den Wesenskern dieses Modells –, hatte selbige innerhalb einer sozialistisch gewendeten Kolonialgeschichte normativ keinerlei explanatorische Funktion. Dennoch werden in den Texten der DDR erneut jene Gruppen konstruiert, denen bereits in der Benennungs- und Herrschaftspraxis des kolonialen Diskurses eine zentrale Rolle für die Aufrechterhaltung von Hierarchievorstellungen zukam. Die biologistisch-rassistischen Kategorien des Kolonialismus werden lediglich in eine ökonomische Hierarchie übersetzt. Hierin spiegelt sich eine unschlüssige Haltung gegenüber dem Konzept ›Rasse‹, das seit den 1950er Jahren auch international intensiv verhandelt wurde, wie etwa die Diskussion um das »Statement on Race« belegt.103 Auch in der DDR setzte sich trotz gegenteiliger Rhetorik nur zögerlich ein monogenetischer Ansatz durch. In der »Urania«, der »Monatsschrift über Natur und Gesellschaft«, die ein interessiertes Laienpublikum ansprechen sollte, wird 1962 mit einem durchaus überraschten Unterton festgestellt: »In der wissenschaftlichen Diskussion wird heute sogar ernstlich die Frage aufgeworfen, ob nicht Afrika überhaupt die Wiege der Menschheit sei.«104 Der Begriff ›Rasse‹ fand auch Eingang in die Verfassung der DDR und zeugt damit von der Virulenz des Konzepts. Noch 1985 findet sich im DDR-Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache unter dem Lemma »Rassen« der Eintrag: »große Gruppe von Menschen mit gemeinsamen charakteristisch erblichen Körpermerkmalen, die auf ursprüngliche gemeinsame geographische Herkunft zurückzuführen sind […].«105 Entscheidend ist hierbei, dass Rassismus nicht zwingend auf das Konzept »Rasse« rekurrieren muss, sondern auch dann bestehen kann, wenn eine explizite, biologisch und damit ›wissenschaftlich‹ begründete Rassentheorie verworfen oder gar die Existenz verschiedener Rassen rundum verneint wird. Rassismustheoretiker wie Etienne Balibar, Stuart Hall oder Martin Barker haben in diesem 103 | Die Frage, ob es verschiedene Menschenrassen gebe, wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit international ambivalent beantwortet: Während Rassismus zumindest in der offiziellen Rhetorik international abgelehnt und geächtet wurde, bedeutet dies nicht, dass auch das biologische Konzept verschiedener Rassen verworfen wurde. Seit 1950 hat die UNESCO vier »Statements on Race« erarbeitet, die dem Begriff »Rasse«, auf den Menschen angewendet, jegliche wissenschaftliche Fundierung absprechen. Die Statements entstanden in den Jahren 1950, 1951, 1964 und 1967, wurden jedoch erst 1969 als Sammelpublikation veröffentlicht. Bereits die erste Version aus dem Jahr 1950 löste eine breite wissenschaftliche Kontroverse aus, die zur Folge hatte, dass die Debatte um die zweite Version auch publizistisch Niederschlag fand. Vgl. hierzu Banton: UNESCO, 2004, S. 431f.; UNESCO: The Race Concept, 1952. 104 | Krebs: Über die Geschichte Afrikas, 1962, S. 63. 105 | Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache, 1985, S. 2946.
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Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass an die Stelle der »Rasse« eine essentialistische Auffassung von Klasse, Geschlecht, Nation, Religion oder Kultur trete, die dann die Grundlage für die Exklusion und Abwertung einzelner Gruppen bildet.106 Dies geht oftmals mit Entwürfen scheinbar neutraler Konzepte einher, die es ermöglichen, rassistische Wissens- und Ausgrenzungspraktiken zu verschleiern. Relevant für die Kolonialhistoriografie ist, dass die Entstehung dieses neuen Rassismusdiskurses in den 1960er Jahren den diskursiven Rahmen der Repräsentationspraxis formt.107 Mit dem Modell ökonomischer Entwicklungsstufen wird auch das Konzept der ›Entwicklung‹ als leitendes Paradigma beibehalten, das nun in eine sozialistische Gesellschaftsordnung münden soll, die den Zukunftsentwurf Namibias in paternalistischer Geste bereithält. Unwillkürlich wird mit dem sozialistischen Entwicklungsmodell immer auch die vermeintliche Rückständigkeit Afrikas inszeniert und der allochrone Diskurs reproduziert, der eine Differenz zwischen EuropäerInnen und AfrikanerInnen und die Legitimation eines fortschrittbringenden Kolonialismus begründet. Deutlich wird dies anhand der namibischen Geschichte des 19. Jahrhunderts, die im kolonialen Diskurs durch sozialdarwinistische Rassenkämpfe charakterisiert ist, die nur ein Eingreifen von außen beenden kann. Erst in der Logik dieses Narrativs kann der Kolonialismus als Fortschritts- und Zivilisationsmission legitimiert werden. Vor allem Heinrich Loth entwarf in seiner Monografie »Die christliche Mission in Südwestafrika«, die 1963 als neunter Band in den von Walter Markov herausgegebenen »Studien zur Kolonialgeschichte und Geschichte der nationalen und kolonialen Befreiungsbewegung« erschien, eine andere Erzählung über das koloniale Namibia im 19. Jahrhundert. Er versucht gemäß Lenin zu zeigen, dass die Kämpfe des 19. Jahrhunderts keinesfalls Ausdruck ahistorischer Gewaltexzesse, sondern Teil des universellen, historischen Staatenbildungsprozesses sind: »Die im 19. Jahrhundert in Südwestafrika geführten Kämpfe zwischen Herero und Nama waren typischer Ausdruck für die Doppelgesichtigkeit der in der frühen Klassengesellschaft sich vollziehenden Staatsbildung. Gewalt und Krieg ist aus dem Prozeß der frühen Staatsgründungen in Afrika ebensowenig wegzudenken wie in den parallelen Fällen in der europäischen Geschichte.«108 Die Vorstellung eines fortdauernden »Rassenkampfes« und des hieraus abgeleiteten »Zivilisierungs- und Missionierungsauftrags« weist folglich auch Horst Drechsler in Anlehnung an Heinrich Loth als kolonialapo106 | Barker: New Racism, 1981; Hall: Rassismus als ideologischer Diskurs, 1989. In diesem Zusammenhang haben sich in der Rassismusforschung die Termini »Rassismus ohne Rassen«, »kultureller Rassismus« oder »New Racism« durchgesetzt. Vgl. umfassend Räthzel: Theorien über Rassismus, 2000. 107 | Ebd. 108 | Loth: Die christliche Mission in Südwestafrika, 1963, S. 10.
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logetische Auffassung der »bisherigen Geschichtsschreibung« zurück.109 Stattdessen werden innerhalb des sozialistischen Narrativs die Kriege des 19. Jahrhunderts neu bewertet. Sie seien die »Voraussetzung einer frühfeudalen Staatsgründung« gewesen, und daher eine »progressive Entwicklung«, die erst durch das »Einwirken deutscher Missionare und durch die deutsche Kolonialaggression zunichte gemacht wurde«.110 Folglich gilt: »Die deutsche Kolonialeroberung ist keineswegs der Anfang der südwestafrikanischen Geschichte; auch nicht im Sinne eines Neubeginns.«111 Heinrich Loth argumentiert, »daß das Eingreifen der Rheinischen Mission und der deutschen Kolonialmacht nicht das Ereignis, sondern die Ursache für die fehlgelenkte innere Entwicklung, die Zerstörung der Staatsbildungstendenzen und der Stagnation der gesellschaftlichen Verhältnisse Südwestafrikas war«.112 Mit dieser Interpretation der vorkolonialen Geschichte Namibias wird die Legitimation des kolonialen Projekts grundlegend infrage gestellt und implizit die Idee des sozialdarwinistisch begründeten, unausweichlichen – durch den kolonialen Genozid lediglich beschleunigten – Untergangs der Herero zurückgewiesen. Doch Heinrich Loth und Horst Drechsler wählten in ihren Arbeiten zugleich eine Erzählperspektive, die »die deutsche Kolonialeroberung« durchaus als »Anfang der südwestafrikanischen Geschichte« im »Sinne eines Neubeginns« erscheinen lässt.113 Das sozialistische Narrativ bleibt an jenen Epocheneinteilungen und temporalen Erzählstrukturen orientiert, die kritisiert und auf rhetorischer Ebene zurückgewiesen werden. Siegfried Krebs bemängelt etwa 1959 in der »Urania«: »Die bürgerliche Geschichtsschreibung behandelt Afrika, von einigen wenigen verdienstvollen Arbeiten abgesehen, vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Geschichte der kolonialen Eroberungen.«114 Doch dieses Charakteristikum der bürgerlichen Geschichtsschreibung findet sich auch prominent in Horst Drechslers Monografie. Bereits das erste Kapitel, das die Überschrift »Das Eindringen der deutschen Kolonialherren in Südwestafrika (1884-1892)« trägt, reproduziert koloniale Denk- und Darstellungsmodi. Obwohl die Eroberung des kolonialen Raums negativ bewertet wird, schreibt Horst Drechsler erneut eine Weiße Eroberungsgeschichte, deren Erzähllogik entscheidend durch die Memoiren- und Soldatenliteratur geprägt ist. Deutlich wird dies auch in der entlarvenden Semantik: Die Entscheidung, die erste Phase des deutschen Kolonialismus als das »Eindringen der deutschen 109 | Ebd., S. 134. 110 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 9; ähnlich bei Babing/Bräuer: Namibia, 1979, S. 27. 111 | Loth: Die christliche Mission in Südwestafrika, 1963, S. 7. 112 | Ebd., S. 134. 113 | Ebd., S. 7. 114 | Krebs: Über die Geschichte Afrikas, 1962, S. 63.
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Kolonialherren« zu überschreiben, reproduziert eine männliche Perspektive, in der weiblich attribuierte Kolonien durch männliche Kolonisatoren entdeckt und durchdrungen werden. Diese Perspektivierung bedingt zugleich, dass die Geschichte und Geschichtlichkeit Namibias erst mit dem deutschen Kolonialismus beginnt. Damit wird eine zentrale koloniale Denkfigur reproduziert. Gestützt wird dieses Erzählungslogik durch die räumlich-geographische Inszenierung des kolonialen Namibias, das in literarischen und akademischen Texten weiterhin als leerer, isolierter Raum dargestellt wird, obgleich Alfred Babing diese Raumbeschreibung im Jahr 1979 als »Lüge vom herrenlosen Land« bezeichnen wird.115 Horst Drechslers Monografie wird jedoch in allen vierzehn Ausgaben mit dem Satz eröffnet »Südwestafrika ist eines der abgeschlossensten Gebiete Afrikas«.116 Dieser Topos wird in allen Texten mit der vermeintlichen Leere des kolonialen Namibias verbunden, denn »Südwestafrika war ein äußerst dünn besiedeltes Land: bei einer Größe von 835.000 qkm betrug die Einwohnerzahl etwa 170.000.«117 Naturalisiert wird diese Vorstellung durch drei Karten, die im Anhang aufgeführt werden.118 Zwei von ihnen sind hier abgebildet. Wie aus den Akten hervorgeht, wurden die Karten »nach detaillierten Angaben des Verfassers nach einer alten Karte, deren Herkunft nicht zu ermitteln war, gezeichnet.«119 Das mit der topografisch-historischen Karte »Südwestafrika (um 1907)« entworfene Bild Namibias reproduziert zentrale Raum- und Landschaftsvorstellungen des kolonialen Diskurses: Die afrikanische Leere und Isoliertheit, die erst mit dem fortschrittsbringenden Eisenbahnnetz durchbrochen werden kann, steht im Kontrast zur Raum- und Landschaftskonstruktion der Metropole und diente im kolonialen Diskurs der umfassenden Legitimation des kolonialen Projekts. Die von Horst Drechsler verwendete Karte ist nahezu identisch mit jener Karte, die sich in Oskar Hintragers Monografie findet. Auf der Ebene des discours werden so unwillkürlich zentrale Vorstellungswelten des Kolonialismus reproduziert.
115 | Babing/Bräuer: Namibia,1979, S. 26. 116 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 23. 117 | Drechsler: Die deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika, 1959, S. 53. 118 | Drechlser: Südwestafrika,1966, S. 370-372. 119 | Hausmitteilung des Akademie-Verlags von Abteilung 10 GIII, Abt. Herstellung, 18.4.1966, in: BBAW 1627, nicht paginiert.
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Abbildung 4
Drechsler: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, 1966, S. 371.
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Abbildung 5
Drechsler: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, 1966, S. 372.
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Die in der Monografie abgedruckten Karten unterlagen – wie alle Karten der DDR – den Zensurmechanismen des Vermessungs- und Kartenwesens im Ministerium des Innern.120 Das Ministerium und der Akademie-Verlag legten besonders viel Aufmerksamkeit auf die thematische Karte mit dem Titel »Die Landgesellschaften in Südwestafrika (nach 1900)« und fügten nachträglich Änderungen ein, wie aus der Korrespondenz mit Horst Drechsler hervorgeht.121 Auch wenn aus daraus nicht hervorgeht, welche Korrekturen eingefügt wurden, wird anhand der Karte und ihrer Legende evident, dass sie das marxistisch-leninistische Metanarrativ stützen sollte, indem sie die ökonomische Ausbeutung durch Land- und Minengesellschaften inszeniert. Damit bricht die Karte einerseits mit kolonialdiskursiven Darstellungsmustern, vereinnahmt die koloniale Land- und Raumvorstellung jedoch zugleich innerhalb des sozialistischen Metanarrativs. Obgleich die weiteren Kapitel Überschriften tragen, die auf das marxistisch-leninistische Metanarrativ verweisen – »Der allmähliche Übergang des Landes und des Viehs der Herero und Nama in den Besitz deutscher Siedler (1893-1903); Die großen Aufstände; Die Ruhe des Friedhofs« – werden sie inhaltlich anhand der verschiedenen Gouverneure und ihrer jeweiligen Dienstzeiten periodisiert und charakterisiert.122 Die damit verbundene Konzentration auf die ›großen Männer‹ der Geschichte liegt nicht nur quer zu den Vorgaben des idealtypischen Geschichtsbildes, sondern reproduziert die Erzählstruktur kolonialer Texte, in denen die Eroberung, Zivilisierung und Missionierung als männliche Erfolgsgeschichte erzählt wird. Hier lässt sich an Konrad Jarausch anschließen: »In vielen Gebieten, wie der Periodisierung, die sie lediglich marxistisch etikettierten, behielten sie weitgehend bürgerliche Einteilungen bei, um diese mit umgekehrten Vorzeichen weiter zu nutzen.«123 Für den angestrebten Bruch mit kolonialen Vorstellungswelten kam den Entwürfen Schwarzer Menschen eine zentrale Funktion zu. In seinen theoretischen Schriften hatte Lenin eine Interessenskongruenz zwischen Arbeiterklasse und Kolonisierten betont, die als theoretische Leitvorgabe für die narrative Ausgestaltung Schwarzer Entscheidungs- und Handlungsoptionen fungierte. Bereits im Kaiserreich war die Idee einer gemeinsamen politischen Klassenzugehörigkeit für die linke Kritik am Kolonialismus und der Kriegsführung Lothar von Trothas ein wesentliches Argument für die sofortige Beendigung des Krieges. Diese Position fand auch Eingang in die Archivbestände des Reichsko120 | Zur Kartografie der DDR Unverhau: Staatssicherheit und Kartenverfälschung in der DDR, 2006. 121 | Hausmitteilung des Akademie-Verlags von Abteilung 10 GIII, Abt. Herstellung, 18.4.1966, in: BBAW 1627, nicht paginiert. 122 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, ohne Seitenangabe. 123 | Jarausch: Die DDR-Geschichtswissenschaft, 1997, S. 29.
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lonialamtes. So hatte etwa Karl Kautsky, der in den Texten der DDR eine wichtige Stellung einnimmt, »das Verhältnis von Kolonisatoren und Kolonisierten mit demjenigen zwischen Kapitalisten und Proletariern« parallelisiert und eine »analoge Interessens- und Bewusstseinslage« postuliert. »Kautsky«, so argumentiert Christian Koller, »vollzog damit semantisch wie auch theoretisch eine Entwicklung nach, die in der tagespolitischen Diskussion um den Hererokrieg in sozialdemokratischen Kommentaren implizit zum Tragen gekommen war, nämlich die Gleichsetzung des Aufstandes in Deutsch-Südwestafrika mit den Befreiungskriegen europäischer Völker sowie dem proletarischen Klassenkampf.«124 Diese Analogie ermöglichte nicht nur die Rehabilitation der antikolonialen Linken der SPD, sondern die historische Begründung der solidarischen Haltung der DDR gegenüber dem Unabhängigkeitskampf der South-West Africa People’s Organisation (SWAPO). Schließlich galt nach Walter Markov eine »objektive Interessensgleichheit zwischen den sozialistischen Staaten und den um ihre Befreiung kämpfenden Völkern«, die darauf gründete, »daß Arbeiterklasse und nationale Befreiungsbewegung natürliche Verbündete sind«.125 In Konsequenz musste in der Repräsentation die trennende »Rassenzugehörigkeit« des kolonialen Diskurses durch eine gemeinsame Klassenzugehörigkeit ersetzt werden.126 Der Nachweis sollte über das ökonomische Entwicklungsmodell erbracht werden, musste aber auch in kleinteiligen Narrativen plausibilisiert werden, die zugleich die Identifikation mit den Schwarzen, in der Regel männlichen, Protagonisten und ihren Handlungen und Beweggründen erleichtern sollten. Dies hatte zur Folge, dass die Berücksichtigung der afrikanischen Perspektive zu einer Leitvorgabe der Kolonialhistoriografie wurde.127 Aufgrund der Quellenlage wurde eine Schwarze Erzählperspektive jedoch lediglich in literarischen Texten dezidiert eingefordert. Ferdinand Mays Roman etwa ist in weiten Teilen aus der Perspektive der »Hererofrau Kukura«128 verfasst und kann daher als Versuch gelesen werden, neue Erzählperspektiven zu erproben, die den Schwarzen AkteurInnen die Handlungshoheit zuschreiben. Horst Drechsler kritisiert jedoch in einem Gutachten aus dem Jahr 1961 – und damit mitten in der Arbeit zur Abfassung seiner Monografie –, dass Ferdinand May das fiktionale Potenzial der Textgattung nicht ausgeschöpft habe: »Da im Gegensatz zu einer wissenschaftlichen historischen Darstellung der Roman die Möglichkeit bietet, vorhandene Lücken in der Überlieferung zu schließen, wäre eine striktere Berücksichtigung der 124 | Koller: Eine Zivilisierungsmission der Arbeiterklasse?, 2005, S. 241f. 125 | Markov: Probleme des Neokolonialismus, 1961, S. 37. 126 | Vgl. Koller: Eine Zivilisierungsmission der Arbeiterklasse?, 2005. 127 | Bericht zur Entwicklung und den Aufgaben der Afrikanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin, in: SAPMO-BArch DY 30/IV 2/904/249, Blatt 15. 128 | May: Sturm über Südwest-Afrika, 1962, S. 5.
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Afrikaner erwünscht gewesen. Ich gebe jedoch gerne zu, daß die schwierige Literaturlage in dieser Hinsicht prohibitiv wirkte.«129 Für wissenschaftliche Texte schien ein grundlegender Perspektivenwechsel jedoch ausgeschlossen. Lediglich die Quellensprache und die mit ihr transportierten Stereotype und Klischees waren Teil der Auseinandersetzung um eine antirassistische Kolonialhistoriografie. Dies lässt sich wiederum anhand der Gutachterpraxis aufzeigen. »Dringend« empfahl der Historiker Fritz-Ferdinand Müller in seinem Fachgutachten zu Martin Selbers historischem Roman »Krieg unter Palmen« im Jahr 1961, »daß der Autor Termini wie Neger, Eingeborene und Schwarze in allen Fällen vermeidet, in denen er nicht die Diktion der Kolonialherren wiedergibt«.130 Horst Drechsler unterzieht wiederum Ferdinand Mays Roman einer »historischen Detailkritik«. Seinem Gutachten wird »eine Liste mit Berichtigungen und Präzisierungen beigefügt, die May bei der Überarbeitung des Manuskripts gute Dienste geleistet hat«.131 So merkt Horst Drechsler an, »der Begriff ›Pavian‹ ist möglichst zu vermeiden, da er gewöhnlich als Schimpfwort für Afrikaner gebraucht wurde«.132 Auch die mehrfache Gleichsetzung von Hererofrauen mit Ölsardinen wird angemahnt; Horst Drechsler empfiehlt Ferdinand May »dringend, derartige diskriminierende Andeutungen zu eliminieren«.133 Aufschlussreich ist das Gutachten auch hinsichtlich des Verständnisses der eigenen Wissenschaftssprache, die Horst Drechsler als unproblematisch oder gar vorbildlich kennzeichnet. In seinem 1958 erschienenen Beitrag in der »Urania« fordert Horst Drechsler auf rhetorischer Ebene, dass Kolonialgeschichte heute nur noch mit »glühender Parteinahme für die Sache der unterdrückten Völker geschrieben werden«134 solle. Horst Drechsler ließ Ferdinand May den Beitrag als Erzähl- und Sprachvorlage zukommen. Sein eigener Text fällt hinter diesem programmatischen Anspruch jedoch in weiten Teilen zurück. Bereits mit seiner Überschrift – »Die großen Aufstände der Hereros und Hottentotten in Südwestafrika«– reproduziert er die Sprache kolonialer Texte, die er zugleich kritisiert, da sie »ohne Ausnahme vom Standpunkt der Kolonisatoren« verfasst seien und die Sicht der »Eingebornen« fehle. Doch auch Horst Drechsler gelingt es nicht, diesen Perspektivenwechsel in der narrativen Gestaltung seines Textes zu vollziehen. Sein Artikel ist hinsichtlich 129 | Gutachten vom 27.11.1961, DR 1/5035, Blatt 354. 130 | Müller: Gutachten zu: »Krieg unter Palmen«, in: SAPMO-BArch, DR 1/5075, Blatt 54. 131 | Havemann: Gutachten zu »Sturm über Südwest«, in: SAPMO-BArch, DR 1/5035, Blatt 350. 132 | Drechsler: Gutachten zu »Sturm über Südwest«, 27.11.1961, in: SAPMO-BArch, DR 1/5035, Blatt 356. 133 | Ebd., Blatt 357. 134 | Drechsler: Die deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika, 1959, S. 255.
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der Zeit- und Handlungsstruktur in die »Etappen der deutschen ›Schutzherrschaft‹« gegliedert. Auch wenn der Begriff der »Schutzherrschaft« in kritische Anführungszeichen gesetzt wird, sind Weiße Akteure die personifizierten und narrativ ausdifferenzierten Protagonisten seiner Geschichte. AfrikanerInnen werden in erster Linie gemäß ihrer vermeintlichen »Stammeszugehörigkeit« als Einheit aufgefasst. Lediglich vier Afrikaner werden namentlich genannt. Anführer der Aufstände sind noch ganz selbstverständlich die »Häuptlinge« der »Eingeborenen«, darunter die Herero und die »Hottentotten«. Die Sprache der Quellen wird somit in weiten Teilen übernommen. Dies gilt ebenso für die Bebilderung des Artikels, in dem koloniale Beschreibungs- und Repräsentationspraktiken ungebrochen weitergeführt werden. Eine der vier abgedruckten Fotografien ist besonders griffig zu fassen, sie stammt aus dem klassischen Repertoire ethnografischer Sammlungen und bedient alle kolonialen Klischees.135 Die fotografische Inszenierung zeigt sieben Personen, die gemäß der Bildlegende »eine Hererogruppe in ihrer typischen Kleidung, dem ledernen Lendenschurz«136 repräsentieren sollen. Die in Ganzkörperportraits abgebildeten Personen stehen in einer Reihe, wobei zwei Männer von fünf Frauen verschiedener Altersklassen flankiert werden. Durch die inszenierte Anordnung wird der Blick auf die weitgehend unbekleideten Körper freigegeben. Der Bildhintergrund, eine verlassene Steppenlandschaft, inszeniert zugleich eine afrikanische Landschaft, die durch Weite und scheinbar unbesiedeltes oder gar ›leeres‹ Land gekennzeichnet ist, und somit eine koloniale Raumvorstellung zitiert, die der Rechtfertigung der Kolonisation diente.137 Die Bildunterschrift ist gänzlich unkritisch und folgt dem kolonialen Duktus: »Die Frauen tragen als Schmuck um den Hals und die Handgelenke Perlenschnuren, um die Beine schwere Metallringe und auf dem Kopf, als Zeichen dafür, daß sie verheiratet sind, die dreizackige Lederhaube. Die Männer tragen stets den Kiri bei sich (Wurf und Schlagstock).«138 Die ausführliche Bildlegende erinnert stark an einen Eintrag aus dem Koloniallexikon, der im Wortlaut nahezu identisch ist.139 135 | Drechsler: Die großen Aufstände, 1958, S. 257. 136 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 57. 137 | Vgl. Noyes: Colonial Space,1992. 138 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 57. 139 | »Der seltsame Kopfschmuck mit den drei »Eselsohren« wird vom weiblichen Geschlecht von der Verheiratung an getragen. Zu den Scheibchen aus Straußeneischalen treten oft und gern Schnüre aus polyedrischen Eisenperlen verschiedener Größe, so daß das Gewicht eines solchen Mieders auf 20 Pfd. und mehr steigen kann. Die Ringsätze aus Eisenperlen für Unterarm und Unterschenkel nahmen früher oft eine Ausdehnung an, daß sie jene Gliedmaßen fast ganz umhüllten.« »Herero«, in: Deutsches Koloniallexikon, Bd. 2, 1920, S. 57.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
Das Bild ist Teil jener kolonialen Inszenierung, die besonders vor 1945 in der Metropole vorherrschte, um die vermeintliche kulturelle und zivilisatorische Rückständigkeit der Herero zu belegen. Damit einher ging die Befriedigung eines voyeuristischen Blicks, der einen oftmals sexualisierten Exotismus ansprach. Nicht zuletzt in der zeitgenössischen Bildunterschrift wird ein zentrales Argument für den Einsatz kolonialer Gewalt aufgegriffen. Der Verweis auf die potenziell gewalttätigen Männer, die »stets den Kiri bei sich tragen«, greift einen kolonialen Topos auf, der auf die vermeintliche Vergewaltigung und Ermordung deutscher Frauen und Kinder durch die Herero verweist und bedeutend für die Legitimation des Krieges und Genozids wurde. Besonders die potenzielle Ermordung Weißer Frauen durch die Herero wurde bereits in zeitgenössischen Texten immer wieder angedeutet und diente als Bedrohungsszenario zur Rechtfertigung des Kolonialkrieges. Mit Verweis auf zeitgenössische Gegenerzählungen betont Horst Drechsler auf Textebene hingegen, dass die Herero, im Gegensatz zu den Soldaten der deutschen »Schutztruppe«, Frauen und Kinder verschonten und eine »ausgesprochen humane Kriegsführung« betrieben.140 Gerade das Spannungsverhältnis zwischen Text- und Bildebene verweist darauf, dass sich die Auseinandersetzung mit kolonialen Texten und Vorstellungswelten zwischen Bruch und Persistenz kolonialdiskursiver Muster bewegte. Im Jahr 1961, und damit drei Jahre später, veröffentlichte Heinrich Loth, Mitglied des neu gegründeten Afrika-Instituts in Leipzig, ebenfalls in der »Urania« einen Artikel, der sich einer anderen Sprache bediente. Der Artikel zeigt deutlich die Folgen der Institutionalisierung für die Sprache der Kolonialhistoriografie. Die Darstellung und Bezeichnung der AfrikanerInnen distanzierte sich von der Quellensprache. Gemäß der Forderung nach der Berücksichtigung der afrikanischen Perspektive veränderte sich das Beschreibungsvokabular. Heinrich Loth schreibt nun von »Nama« und verweist auf den diskriminierenden Gehalt des Begriffs »Hottentotten«, den er der »Kolonialapologetischen Literatur« zuweist.141 Auch den Begriff »Eingeborene« ersetzt er durch »Bevölkerung des Landes«, den Quellenbegriff »Kolonialvölker« setzt er in Anführungszeichen.142 Die AfrikanerInnen stilisiert er zu Gegnern des »Finanzkapitals«, die »hervorragende Führer« in einer »heroischen Epoche der Geschichte« schließlich zum »siegreichen afrikanischen Befreiungskampf« lenken. In diesen Formulierungen verdeutlichen sich die Bemühungen, eine gemeinsame »Klassenzugehörigkeit« zu konstruieren. Auch das ikonografische Repertoire war in Heinrich Loths Aufsatz ein anderes. Bebildert ist sein Artikel unter anderem mit einer Fotografie, die aus einem ganz anderen kolonialen Wissensarchiv stammt: Drei spärlich beklei140 | Drechsler: Die großen Aufstände, 1958, S. 176. 141 | Loth: Auf den Spuren des Imperialismus, 1961, S. 26. 142 | Ebd.
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dete Schwarze Männer hängen stranguliert von den Ästen zweier Bäume. An den Fuß- und Handgelenken sind Knebelspuren erkennbar. Den Hintergrund bilden mehrere Kolonialbauten. Die Fotografie hat weniger inszenatorischen, sondern vielmehr dokumentarischen Charakter. Kommentiert wird das Bild durch die Bildunterschrift: »Von deutschen Kolonialtruppen gehenkte Herero«143. Die abgedruckte Fotografie stellt in mehrfacher Hinsicht ein starkes visuelles und politisches Argument gegen die Verklärung des Kolonialismus dar, da im Artefakt des Bildes selbst eine Geschichte eingeschrieben ist. Die Fotografie wurde bereits 1918 von der britischen Regierung im »Blue Book« veröffentlicht, das mittels fotografischer Evidenz die Kolonialgräuel der deutschen Truppen belegen sollte.144 Da der Report während des Kolonialrevisionismus als »politische Hetzschrift« diskreditiert wurde, verweist das Bildzitat nicht nur auf eine kolonialismuskritische Gegenerzählung, sondern auch auf die Geschichte der Marginalisierung oder gar die »damnatio memoriae«145 kolonialer Gewalt während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, gegen die die DDR-Historiografie anschrieb. Im DDR-Kontext kann die Fotografie sogar als zweifache politische Vereinnahmung der Geschichte der Herero und Nama gelesen werden. Ihre Auswahl ist kein Zufall, da sie in ihrer Ikonografie an die Darstellung des kommunistischen Widerstands erinnert. Die symbolisch verdichtete Erhängung der ›Partisanen‹ eröffnet die Möglichkeit, die Herero als ›Märtyrer des Klassenkampfes‹ und damit als Helden zu inszenieren. Darüber hinaus verweist sie möglicherweise auf die politische Situation der SWAPO, deren Unabhängigkeitsbestrebungen vom südafrikanischen Regime gewalttätig unterdrückt wurden. Die Fotografie erfährt damit eine mehrfache Umdeutung. Ursprünglich wurde sie von der ›Schutztruppe‹ aufgenommen, um die erfolgreiche Niederschlagung des Aufstandes zu dokumentieren, dann im »Blue Book« als Beweis für die Taten der deutschen Kolonialherrschaft abgebildet, schließlich als Beleg für das sozialistische Narrativ verwendet. Der Gründungsmythos der DDR und der Unabhängigkeitskampf der SWAPO werden so mittels einer ursprünglich kolonialdiskursiven Fotografie in Kontext gesetzt. Das Bemühen um sozialismusgemäße, antikoloniale und antirassistische Erzählungen seit den 1960er Jahren findet in der Konstruktion Schwarzer Helden ihren Höhepunkt. »Wer gilt wem als Held?«146 fragt Heinrich Loth im Jahr 1968 in seiner Monografie »Griff nach Ostafrika«. Die Antwort, so führt Heinrich Loth aus, sei »eine Sache der Weltanschauung, des Klassenstand-
143 | Ebd., S. 27. 144 | Silvester/Gewald: Words cannot be found, 2003, S. 334. 145 | Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 115. 146 | Loth: Griff nach Ostafrika, 1968, S. 13.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
punktes«.147 Er thematisiert damit zugleich eine zentrale Frage der DDR-Historiografie für die Dekonstruktion kolonialer Erzählungen und die narrative Sympathielenkung. Die Heldengeschichte kann als eine typische Erzählstrategie gelesen werden, die als erzählerisches Stilmittel und geschichtspolitisches Instrument vielfach Verwendung fand, um das marxistisch-leninistische Geschichtsbild zu belegen, den »Befreiungskampf der afrikanischen Patrioten zu unterstützen« und ihnen bei »der Herausbildung ihres nationalen Geschichtsbildes«148 zu helfen. Anlässlich eines Überblicks über die »Forschung zur Geschichte Afrikas« bilanzierten Helmuth Stoecker und Walter Markov im Jahr 1970 die Leistungen der DDR-Historiografie. Dabei galt ihnen die vermeintlich antikoloniale und antirassistische Inszenierung männlicher Schwarzer Kolonialhelden als wesentlicher Beleg für einen Perspektivenwechsel, denn »das Wirken bedeutender Führer von nationalen Widerstandskräften in Afrika selbst sichtbar zu machen, rechnen sich die Historiker der DDR als Aufgabe an: Orabi Pascha und Mustafa Kamil in Ägypten, Jacob Morenga in Südwestafrika, Rudolf Manga Bell in Kamerun«.149 Die Konstruktion Schwarzer Widerstandskämpfer war zudem entscheidend der politischen Gegenwart und antizipierten Zukunft Namibias verpflichtet. Mit ihnen wurde ein Gründungsmythos entworfen, der die Bewegung der SWAPO stärken und zugleich ihre Anführer legitimieren sollte, was mit den zunehmenden Auseinandersetzungen innerhalb der Widerstandsbewegung dringend notwendig wurde. Bereits Mitte der 1950er Jahre hatten sich mehrere marxistisch orientierte Befreiungsbewegungen in Südwestafrika gebildet, die die DDR informell unterstützte, um die Bonner Hallstein-Doktrin zu umgehen. 1957 wurde die OPO, die Ovamboland People’s Organisation, gegründet, wenig später folgte die SWANU, die South West African National Union.150 Politisch dominant wurde schließlich ab 1960 die SWAPO, die sich aus der OPO entwickelt hatte. Da sich die SWAPO in erster Linie aus Ovambo zusammensetzte, hatte sie zunächst Schwierigkeiten sich als dominante Partei zu etablieren. Ein Problem, das die SWAPO in den 1960er Jahren zunehmend durch Gewalt löste. Gewalttätig wurde auch der Widerstand gegen die südafrikanische Besatzung. Als Horst Drechsler seine Monografie 1966 veröffentlichte, kam es zum ersten Zusammenstoß zwischen der SWAPO und dem südafrikanischen Militär. Vor diesem Hintergrund und der daraus resultierenden kontroversen Beurteilung der Unabhängigkeitsbestrebungen wurde 147 | Ebd. 148 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 8. 149 | Markov/Nimschowski/Stoecker: Forschung zur Geschichte Afrikas, 1970, S. 754. 150 | Im Gegensatz zur SWAPO setzte sich die SWANU vor allem aus städtischen Intellektuellen und StudentInnen zusammen, die sich nicht in erster Linie für die nationale Unabhängigkeit Namibias einsetzten.
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die Legitimation der Führungselite der SWAPO zu einem politisch dringlichen Anliegen, um die Unabhängigkeitsbewegung zu stabilisieren. Hierzu wurde ein Helden- und Widerstandsepos bemüht, das den Widerstand der Herero und Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft als frühe Form jenes »Freiheitskampfes« inszenierte, der als historisches Vorbild für die SWAPO und ihre Führer auf den »siegreichen afrikanischen Befreiungskampf«151 verweisen sollte, wie Heinrich Loth bereits 1961 ausführte. Auch Horst Drechslers Monografie aus dem Jahr 1966 steht ganz im Zeichen dieses Narrativs, denn für ihn können »Veröffentlichungen, die die großen Traditionen des Kampfes der Herero und Nama gegen den deutschen Imperialismus vor dem ersten Weltkrieg herausstellen, für die Südwestafrikaner in ihrem Kampf um politische Unabhängigkeit eine große Hilfe sein«.152 Horst Drechslers Monografie wurde daher, ebenso wir die kurze Zeit später veröffentlichte Dissertation seines westdeutschen Kollegen Helmut Bley, als hochgradig politisch gelesen. »These two books had a tremendous impact upon the manner in which the outside world percieved Namibia and South Africa’s occupation of the territory.«153 Dass Geschichtsschreibung eine Form politischer Intervention sein kann, wurde auch vom südafrikanischen Regime gesehen. Hier wurde das Buch Horst Drechslers kurzerhand verboten.154 Aus erzähltheoretischer Perspektive ist aufschlussreich, dass mit der männlich konnotierten Heldengeschichte eine Erzählform gewählt wurde, die es ermöglichte, die Handlung und Beweggründe der Schwarzen Akteure mittels eines kulturspezifisch vertrauten Narrativs zu plausibilisieren. Das kolonialismuskritische Moment ist dabei nicht nur inhaltlich gegeben, sondern auch in der Erzählform selbst begründet, denn die Heldengeschichte diente bereits im kolonialen und kolonialrevisionistischen Diskurs der Konstruktion Weißer Helden. Diese Erzählungen wurden in der DDR zum Ausgangspunkt für quellengestützte Entwürfe von Gegenerzählungen. Die kolonialen Widerstandskämpfer mussten keineswegs ›erfunden‹ werden, da die Inszenierung und Repräsentation des vermeintlich ›Anderen‹ im Kolonialismus durchaus von Ambivalenzen geprägt sind. Sowohl koloniale als auch kolonialrevisionistische Texte folgen keinen eindeutigen Repräsentationsformen, obgleich den Herrschafts- und Machtfantasien des kolonialen Diskurses idealtypisch eine binäre Struktur zugrunde liegt, die den AfrikanerInnen im hegemonialen Diskurs als defizitäres und unterlegenes Objekt repräsentiert. Die narrativen und bildlich-visuellen Repräsentationen der Herero und Nama in den Quellentexten der DDR-Historiografie verweisen vielmehr auf ambivalente Repräsentationsformen und die Subversion 151 | Loth: Auf den Spuren des deutschen Imperialismus, 1961, S. 26. 152 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 7. 153 | Silvester/Gewald: Words cannot be found, 2004, S. 70. 154 | Dedering: The German-Herero War of 1904, 1993, S. 81.
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binärer Oppositionen. Eine theoretische Erklärung für die mehrdeutigen Repräsentationsformen des Kolonialismus bietet Homi Bhabha.155 Im Gegensatz zu Edward Said, der ein binäres Repräsentationsmodell kultureller Stereotypen zum entscheidenden Konstituens des Orient-Diskurses erklärt, weist Homi Bhabha darauf hin, dass die kolonialen Herrschaftsbeziehungen komplexer sind und Momente des Widerstands, der Uneindeutigkeit und der Gefährdung kolonialer Machtverhältnisse – durchaus unintendiert – in Repräsentationen des ›Anderen‹ evident werden können. Diesen seien daher eine komplexe Ambivalenz mit eingeschrieben, die bereits die koloniale Repräsentationspraxis des Kaiserreichs bestimmte und in der DDR unter neuen Vorzeichen gedeutet wurde. Exemplarisch lässt sich dies an der DDR-spezifischen Inszenierung Jakob Morengas nachvollziehen, dessen Vita in Monografien und Aufsätzen als symbolisch verdichtete, heroische Heldengeschichte erzählt wurde, die zahlreiche Anknüpfungspunkte zum politischen Geschehen bot. Sam Nujoma, der erste Vorsitzende und Präsident der SWAPO, dessen Vorwort Horst Drechslers Monografie »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft« seit den 1980er Jahren vorangestellt war, empfand vor allem eben dessen Inszenierung Morengas für die Konstruktion historisch begründeter Nationalhelden bestimmend: »Diese originäre Annäherung wird den namibischen Patrioten helfen zu erkennen, wer von den vergangenen und gegenwärtigen Führern unseres Volkes in die Liste der Nationalhelden Namibias gehört. Dies ist eine wichtige Sache für die Herausbildung eines nationalen Geschichtsbildes in unserem Volke; und ich hege keinen Zweifel daran, daß, wenn die Identifizierung erfolgt ist, solche Namen wie der von Jakob Morenga in jener ruhmreichen Liste enthalten sein werden.«156
Die geschichtspolitische Bedeutung der Inszenierung Jakob Morengas für die Unterstützung der SWAPO, wird auch anhand zweier Aufsätze deutlich. Ein Jahr nach Erscheinen seiner Habilitationsschrift befasste sich Horst Drechsler in einem Aufsatz, den er zunächst für einen »Sammelband der DDR-Afrikanisten für den Internationalen Kongress in Dakar«157 verfasst hatte, nochmals dezidiert mit Jakob Morenga. Der Aufsatz wurde in der renommierten, von Walter Markov herausgegebenen Reihe »Études Africaines – African Studies – Afrika-Studien« gedruckt, die dreisprachig erschien und international rezipiert wurde. Programmatisch verweist bereits der Titel des Aufsatzes »Jacob Morenga: A new kind of South-West African leader« auf eine politisierte Interpretation, die Morenga explizit als historisches Vorbild der SWAPO inszeniert. 155 | Vgl. Bhabha: Verortung der Kultur, 2000. 156 | Drechsler, Südwestafrika, 1984, 11f. 157 | Veröffentlichungen Horst Drechsler, in: DR/3/B 10805, Blatt 12.
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Die Umkehrung des kolonialen Heldenepos findet sich auch in Heinrich Loths 1975 erschienenem Aufsatz: »Ein General gibt auf. Jakob Morenga – General Lothar von Trotha«. Obgleich der Aufsatz nicht vollständig frei von kolonialen Klischees und Hierarchien ist – wie bereits im Titel deutlich wird, der lediglich von Trotha einen militärischen Rang zuspricht, – ist er ein Versuch, mit der Weißen Heldengeschichte des deutschen Kolonialismus zu brechen, indem er die typischen Attribute des Helden Jakob Morenga zuweist. Die Figur des heroischen Schwarzen Widerstandskämpfers wurde jedoch, wie bereits erwähnt, nicht erst in den 1960er Jahren konstruiert, sie ist bereits in den frühen Texten des Kolonialismus und Kolonialrevisionismus angelegt. Jakob Morenga galt im kolonialen Diskurs als gefährlicher Akteur, da er das Klischee des inferioren Schwarzen radikal infrage stellte, und damit die fragile Konstruktion kolonialer Hierarchien erschütterte. Er gefährdete die koloniale Ordnung nicht nur aufgrund der militärischen Erfolge, die er gegen die Kolonialtruppen erzielen konnte, sondern auch aufgrund seiner Bildung. Er sprach drei Sprachen und gab nach seiner Festnahme im Mai 1906 zahlreiche Interviews, die ihn auch in der Metropole als politischen Akteur in Erscheinung treten ließen. Die zeitgenössische Charakterisierung als »schwarzer Napoleon« und erbitterter Feind der Deutschen zeugt von der ambivalenten Haltung gegenüber Jakob Morenga, dessen Bekanntheitsgrad sich auch durch Postkarten mit seinem Portrait steigerte. Mit Franz Jungs kurzer Erzählung »Morenga« aus dem Jahr 1913 wurde er sogar zum Thema der seltenen literarischen Kolonialismuskritik.158 Der Text erschien 1913 in der Zeitschrift »Die Aktion« und kann als eine »politisch wie ästhetisch besonders radikale Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialpolitik« gelesen werden.159 Für Ulrike Lindner gilt, dass Jakob Morenga bereits zeitgenössisch den »Status eines Mythos« erreichte.160 In der DDR wurde Jakob Morenga unter anderen gesellschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Vorzeichen erneut als »Mythos« vereinnahmt. Nach Heidi Hein-Kircher zeigt sich hier deutlich die wandelbare Funktion des Mythos, der »[d]urch seine semantische Struktur einem erheblichen Deutungswandel, d.h. einem Wandel der Interpretation der Vergangenheit, unterliegt, so dass er in geänderten gesellschaftlichen Kontexten auch seine Funktionen wechseln kann«.161 Besonders relevant für die heroischen Erzählungen der DDR ist, dass Jakob Morenga in den soldatischen Berichten, die als Quellen fungierten, ausführlich und ambivalent geschildert wird. Im Generalstabsbericht wird mit Verweis auf 158 | Vgl. Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 87-95. 159 | Ebd., S. 88. 160 | Lindner: Koloniale Begegnungen, 2011, S. 268. 161 | Hein-Kircher: Überlegungen zu einer Typologisierung von politischen Mythen, 2009, S. 409.
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seine Sprachkenntnisse, seinen »Großmut« und seine »Zuverlässigkeit« betont, er sei »eine ganz ungewöhnliche Erscheinung unter den Negern«.162 Diese Zuschreibungen lassen Jakob Morenga als einen ebenbürtigen Gegner erscheinen und ermöglichen so den Angehörigen der »Schutztruppe« sich selbst aufzuwerten. Ambivalente Zuschreibungen blieben daher auch nach 1949 in soldatischen Memoiren weiter bestehen. Sie finden etwa bei Paul von Lettow-Vorbecks Biografie aus dem Jahr 1957 in einer Textpassage Ausdruck, in der Oberst Deimling und Jakob Morenga verglichen werden: »Zwei ebenbürtige Gegner: in den Karasbergen der selbstgelernte, getriebene, mit hundert Wassern gewaschene eingeborene Führer, ihm gegenüber der im Generalstab durchgebildete, moderne Truppenführer Oberst Deimling.«163 Auch wenn die Charakterisierung die beiden Klischees der ›rationalen Moderne‹ und des ›intuitiven Afrikas‹ bedient, wird eine Hierarchisierung mit Verweis auf die »ebenbürtigen Gegner« nahezu aufgehoben. Ähnliche Passagen finden sich in Oskar Hintragers Darstellung, der den Ausbruch des »Hottentottenaufstandes« auf den »ungewöhnlich gebildeten« Jakob Morenga zurückführt. In der Historiografie der DDR werden die militärischen Erfolge gegen die deutsche Kolonialherrschaft zu frühen Wurzeln der südwestafrikanischen Befreiungsbewegung und Jakob Morenga zum »Meister der Guerillakriegführung, der die Deutschen in keiner Weise gewachsen waren«.164 Der »schwierige Spagat zwischen der Sprache der Vergangenheit und den Parolen der Gegenwart«165 ließ sich leicht lösen, da selbst der Terminus »Guerillakrieg« bereits in kolonialen Texten Verwendung fand.166 Für die geschichtspolitische Legitimation der SWAPO konnte auch Jakob Morengas Familiengeschichte instrumentalisiert werden. Als Sohn einer Herero und eines Nama konnte er als historisches Beispiel für die Überwindung von »Stammesdenken«167 gelten, denn, so Horst Drechsler, »Morengas Leute setzten sich aus Nama und Herero zusammen, was ungewöhnlich war.«168 Weiter heißt es: »Für Morenga gab es kein enges Stammesdenken: Nicht Nama gegen Herero, sondern Nama und Herero gegen den deutschen Imperialismus! An diesem einmal für richtig erkannten Grundsatz hielt er konsequent fest.«169 Mit der geradezu appellativen Satzstruktur wird auch auf den politischen Konflikt zwischen den Unabhängigkeitsbewegungen Namibias verwiesen, den Horst Drechsler in seinem Ausblick thematisiert: »Die Spaltung der 162 | Generalstab: Die Kämpfe der deutschen Truppen, Bd. 2, 1907, S. 5. 163 | Lettow-Vorbeck: Mein Leben, 1957, S. 85. 164 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 205. 165 | Ebd., S. 269. 166 | Leutwein: Elf Jahre Gouverneur, 1906, S. 525. 167 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 206. 168 | Ebd. 169 | Ebd.
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südwestafrikanischen Unabhängigkeitsbewegung in zwei rivalisierende Organisationen erfüllte alle Freunde der südwestafrikanischen Unabhängigkeit mit tiefem Bedauern. Es werden daher zahlreiche Versuche besonders von afrikanischen Staatsmännern gemacht, die Spaltung zu überwinden.«170 Mit Jakob Morenga wurde eine Gründungs- und Identifikationsfigur angeboten, die ein vereintes Namibia symbolisierte und auf die sich deshalb die SWAPO ideal berufen konnte. Für Alfred Babing gilt Ende der 1970er Jahre etwa, die »SWAPO knüpft direkt an Lehren an, die schon von einigen Kämpfern gegen das Kolonialregime des kaiserlichen Deutschland gezogen worden waren. Männer wie Jakob Morenga hatten bereits damals erkannt, daß die Überwindung der Stammesgrenzen unbedingt Voraussetzung für den Erfolg ist.«171 Gestützt wurde diese Inszenierung auch durch die Darstellung des Widerstandskampfes, der aus Sicht Horst Drechslers in erster Linie daran scheiterte, dass Herero und Nama nicht gemeinsam gegen die deutsche Kolonialherrschaft kämpften. »Es entbehrt nicht der Tragik, daß Herero und Nama nicht gemeinsam, sondern nacheinander zu den Waffen griffen, um das verhaßte Joch abzuschütteln.«172 Auch der Führer der namibischen Befreiungsbewegung und erste Vorsitzende der SWAPO, Sam Nujoma, verweist in seinem Vorwort zu Horst Drechslers Monografie zur Legitimation des Alleinvertretungsanspruchs der SWAPO dezidiert auf diesen historischen Fehler, der im Hinblick auf den Kampf der SWAPO gegen das südafrikanische Regime nicht wiederholt werden dürfe. »Horst Drechsler arbeitet auch, völlig zu Recht, den Friedensschluß zwischen diesen beiden Teilen des namibischen Volkes heraus und den tiefen Einschnitt, den dieser in der Geschichte Namibias in dem Sinne bildete, daß er zu einer völligen Umgruppierung der Kräfte führte. Sowohl die Herero als auch die Nama kämpften nunmehr gegen die deutschen Kolonialherren.«173
Genozid erzählen Gemäß der in der DDR verbindlichen Imperialismustheorie Lenins mussten Kolonialismus und nationalsozialistischer Faschismus als ineinandergreifende Entwicklungen aufgefasst werden, da sie als Phänomene des weltumspannenden Kapitalismus verstanden wurden. Folglich konnte die Kolonialgeschichte als Vorläufer des Nationalsozialismus erzählt und kolonialer und faschistischer Genozid miteinander verknüpft werden. Im Rückgriff auf Au170 | Ebd., S. 287. 171 | Babing/Bräuer: Namibia, 1979, S. 270. 172 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 166. 173 | Drechsler: Südwestafrika, 1984, S. 10; 1985, S. 11f. Das Vorwort wurde bereits 1980 ergänzt, als die Monografie mit dem Titel »Let us die fighting« ins Englische übersetzt wurde.
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gust Bebel und die »deutsche Sozialdemokratie« galt das Diktum: »Die Gräuel der Kolonialherrschaft seien keine zufälligen Erscheinungen, sondern gesetzmäßige Folgen des ganzen Systems der kapitalistischen Ausbeutung.«174 Ähnlich konstatiert die DDR-Historikerin Gerda Weinberger im Jahr 1967: »Die Verbrechen der deutschen Kolonialbeamten waren für die revolutionären Sozialisten nicht Vergehen einzelner, besonders bösartiger Individuen, sondern Ausdruck des in Deutschland herrschenden Systems.«175 Da nach der ebenfalls verbindlichen Faschismus-Definition von Georgi Dimitriow galt, dass der Nationalsozialismus nicht als dezidiert deutsches Phänomen, sondern als eine Spielart des Faschismus verstanden werden müsse, konnte der koloniale Völkermord nahtlos in diesen theoretischen Bezugsrahmen eingepasst werden. Damit wurde die Frage der Singularität des nationalsozialistischen Genozids theorieimmanent ebenso ausgeblendet wie eine systematische, vergleichende Untersuchung genozidaler Strukturen. Dieses theoretische Bezugssystem blieb auch deshalb verbindlich, weil eine eindeutig marxistische Theorie des Genozids in der DDR nicht entwickelt wurde und »das Thema in den großen Theoriedebatten der 1960er und 1970er Jahren vollständig fehlt«.176 Doch auch wenn koloniale Gewalt und nationalsozialistischer Völkermord in der Imperialismustheorie der DDR theorieimmanent als Kausalzusammenhang konstruiert werden konnten, mussten die Verbindungslinien narrativ und rhetorisch plausibilisiert werden. Die Verbindung des kolonialen Genozids mit dem Holocaust war auch erinnerungspolitisch durch den DDR-spezifischen Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus vorgegeben und wurde in Abhängigkeit vom Gründungsmythos der DDR erzählt. Dieser entwickelte sich auch als Reaktion auf die ›Vergangenheitsbewältigung‹ und Zeitgeschichtsschreibung der BRD, die zunächst vor allem durch Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter mit ihren bereits im Titel programmatischen Arbeiten »Die deutsche Katastrophe« und »Die Dämonie der Macht« geprägt war.177 Der Nationalsozialismus wurde als ›Unfall der Geschichte‹ und unerklärlicher Moralverlust interpretiert, der nicht in die deutsche Geschichte einzupassen war und sich daher einer weitgreifenden Historisierung entziehen musste. Folglich wurde er aus den langen Entwicklungslinien der Nationalgeschichte herausgeschrieben. Ein ganz anderer Blick auf die nationalsozialistische Vergangenheit setzte sich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren in der DDR durch. Alexander Abuschs viel gelesenes 174 | Weinberger: Die deutsche Sozialdemokratie und die Kolonialpolitik, 1967, S. 412. 175 | Ebd., S. 414. 176 | Barth: Genozid, 2004, S. 37. 177 | Vgl. Finke: Der Dämon kam über uns, 2008; Berg: Der Holocaust und die westdeutschen Historiker, 2004.
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Buch »Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte« steht paradigmatisch für den erinnerungspolitischen Diskurs der DDR. Hierin zeichnet Alexander Abusch die deutsche Geschichte von Luther bis Hitler als eine kontinuierliche, unumkehrbare Fehlentwicklung nach. Erst mit dem Kriegsende 1945, so Alexander Abusch, konnte diese Entwicklung zumindest in der Sowjetischen Besatzungszone überwunden werden. Innerhalb dieser konstruierten long durée erscheint die Gründung der DDR als Höhepunkt in der Überwindung eines jahrhundertelangen Irrwegs. Die DDR verstand sich vor diesem Hintergrund als das ›neue bessere Deutschland‹, das aus dem sozialistischen und kommunistischen Widerstand gegen Imperialismus, Kolonialismus und Faschismus hervorgegangen war. Vor dem entlastenden Selbstbild einer Opfergesellschaft konnte in der DDR historische Verantwortung ebenso abgelehnt werden wie die selbstkritische Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte des Nationalsozialismus beziehungsweise seinen Nachwirkungen, die per definitionem in der DDR nicht vorhanden waren. Im Gegensatz dazu wurde die Bundesrepublik als direkter Nachfolgestaat des Hitler-Regimes, der Weimarer Republik und des Kaiserreichs angesehen. Nationalsozialismus, Holocaust und kolonialer Genozid wurden als Entwicklungen der fehlgeleiteten Gesellschaft im Westen interpretiert. Aus Sicht der DDR stellte sich die BRD ihrem kolonialen und faschistischen Erbe nicht, sondern versuchte es systematisch zu verdrängen. Im Gegensatz hierzu nahm die Historiografie der DDR für sich in Anspruch, den Nachweis zu erbringen, dass Kolonialismus und nationalsozialistischer Faschismus als ineinandergreifende Entwicklungen aufgefasst werden müssen. Eine Möglichkeit dies zu belegen, bot die Erzählung des kolonialen Genozids, die narrativ auf das engste mit der Erinnerungspolitik und Nationalgeschichtsschreibung der DDR verzahnt war. Der stark nationalgeschichtliche Rahmen der DDR-Historiografie wurde durch die fehlenden Vorgaben der Sowjetunion begünstigt. Obgleich mehrere »Mitarbeiter und Doktoranden« aufgrund des Lehrkräftemangels nach Moskau und Leningrad geschickt wurden, »um sich an den dortigen, gut ausgestatteten Regionalinstituten weiterzubilden«178, spielten die Forschungsmaximen und -ergebnisse der Sowjetunion für die DDR-spezifische Ausgestaltung der Geschichte des kolonialen Namibias kaum eine Rolle. Deutlich wird dies an dem 1954 erstmals erschienenen ethnografischen Werk »Narody Afriki«, das von Dmitri Alexejewitsch Olderogge und Iwan Izosimowitsch Potechin redigiert wurde und 1961 zweibändig in deutscher Übersetzung unter dem Titel »Die Völker Afrikas. Ihre Vergangenheit und Gegenwart« erschien. Es war die erste zusammenfassende Darstellung afrikanischer Geschichte aus marxistischer Sicht. Thea Büttner verweist 1992 auf den Einfluss der zwei Bände, »which aquired the character of a manual and greatly influenced training and 178 | Brahm/Jones: Afrikanistik, 2009, S. 310.
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research in African history studies in East Germany«.179 Die Herausgeber erheben mit dem Buch den Anspruch, »zum ersten Mal in der russischen und sowjetischen Wissenschaft […] die Geschichte und Ethnographie der Völker Afrikas auf Grund der marxistisch-leninistischen Methodologie darzustellen«.180 Konzipiert wurden »Die Völker Afrikas« als Teilband der »Völker der Welt« (Narody mira), die »als für das Volk im allgemeinen geschriebene Arbeit« und damit als kanonisches Wissen verstanden wurden.181 Besonders für die Entwicklung und politische Instrumentalisierung der Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia in der DDR ist hierbei relevant, dass die deutsche Kolonialgeschichte in »Die Völker Afrikas« kaum thematisiert wird. In der Übersicht zum »Kolonialbesitz der imperialistischen Staaten«182 fehlt Deutschland gar gänzlich, da der Referenzzeitpunkt der Übersicht 1937 ist. Vor allem wird das koloniale Namibia nicht in einem eigenständigen Kapitel behandelt, sondern innerhalb der Geschichte Südafrikas verortet.183 Das Kapitel über Südafrika wurde in der sowjetischen Ausgabe von Iwan Izosimowitsch Potechin bearbeitet, die deutsche Ausgabe wurde von Diedrich Westermanns ehemaliger Assistentin, Dr. Ursula Hintze, überarbeitet. Obgleich Ursula Hintze im Vorwort darauf verweist, dass die »bedeutenden Veränderungen«184 dazu führten, »die deutsche Ausgabe des Buches in vielen Abschnitten neu zu fassen und zu ergänzen«, bleibt das erste Erscheinungsjahr 1954 der politische Bezugspunkt des Buches, das somit eine deutliche Tendenz zum Veralten aufwies.185 Doch gerade die fehlenden Vorgaben aus der Sowjetunion ermöglichten es, die deutsche Kolonialgeschichte erinnerungspolitisch zu vereinnahmen. Richtungsweisend für die Narrativierung des kolonialen Genozids wurde Maximilian Scheers semiwissenschaftlicher Roman »Schwarz und Weiß am Waterberg« aus dem Jahr 1952. Maximilian Scheer verfasste die Geschichte des kolonialen Namibias nicht nur innerhalb des marxistisch-leninistischen Metanarrativs, sondern verwendete eine spezifische sozialistische Termino179 | Büttner: The Development of African Historical Studies, 1992, S. 133. 180 | Olderogge/Potechin: Die Völker Afrikas, Bd. 1, 1961, Vorwort zur sowjetischen Ausgabe, S. XI. 181 | Sicard: Rezension zu: Olderogge/Potechin, 1962, S. 247; Olderogge/Potechin: Die Völker Afrikas, Bd. 2, Klappentext. 182 | Olderogge/Potechin: Die Völker Afrikas, Bd. 1, 1961, S. 27. 183 | Dies mag auch erklären, warum das Werk nicht im Literaturverzeichnis Drechslers aufgeführt wird. 184 | Olderogge/Potechin: Die Völker Afrikas, Bd. 1, S. VIIII. 185 | Vgl. hierzu auch die zeitgenössische Einschätzung Harald von Sicards: »Es ist ein gewagtes Unternehmen, die Übersetzung eines 1954 erschienen Afrikabuches im Jahr 1961 herauszugeben, denn zwischen diesen beiden Jahren liegt für Afrika eine ganze Geschichtsepoche.« Sicard: Rezension zu: Olderogge/Potechin, 1962, S. 247.
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logie, mit der er konkrete sprachliche Bezüge zwischen beiden Ereignissen herstellte. Nachfolgende Erzählungen greifen dies immer wieder auf, so dass Scheers Terminologie schließlich zu einem festen Beschreibungstopos wird. Gerade dabei wird deutlich, wie sich über divergente Textformen hinweg ein spezifisches, politisiertes Vokabular ausbildete und wie stark die Geschichtsschreibung der DDR damit intertextuell verflochten war. Vierzehn Jahre nach Erscheinen von Maximilian Scheers Roman entwarf Horst Drechsler dann in »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft« eine Erzählung, in der er die Ereignisse der Jahre 1904 bis 1907 erstmals unmissverständlich Völkermord« beziehungsweise »Genozid« klassifizierte.186 Diese Klassifizierung beruht in der Logik der Erzählung auf einer spezifischen Darstellung des Krieges gegen die Herero. Dieser sei kein militärisch rechtfertigbarer Kolonialkrieg gewesen, denn nach der Schlacht am Waterberg habe keine Notwendigkeit für die Verfolgung der Herero in die Omaheke bestanden. Laut Horst Drechsler wurde der Völkermord an den Herero bewusst, willentlich und wissentlich herbeigeführt, wie ihm der überlieferte »Vernichtungsbefehl« bezeugt: »Es ist aber nicht so gewesen, daß, wie man häufig lesen kann, die Herero durch die Kämpfe am Waterberg vernichtet wurden. Die Verluste der Herero in diesen Kämpfen waren vielmehr relativ gering. Die Vernichtung der Herero war eine Folge der Trothaschen Maßnahmen nach den Kämpfen am Waterberg, für die keine militärische Notwendigkeit vorlag.«187 Motiviert sei dieser Entschluss nicht durch militärische Überlegungen gewesen, sondern durch politische und rassistische. Damit greift er jene Erzählung über den Krieg gegen die Herero auf, die vor 1919 dominant war und durch die Archivbestände wieder zugänglich wurde: Bevor es im Zuge der Verhandlungen von Versailles zu einer umfassenden damnatio memoriae des Kolonialkrieges kam, wurde die rassistisch begründete Vertreibung der Herero in die Omaheke offen thematisiert. Ferner belegt Horst Drechsler anhand der Quellen, dass nur ein kleiner Teil der Herero und Nama die »Ausrottungspolitik« überlebt hatte. Darüber hinaus sei die Sterbequote in den Konzentrationslagern eklatant hoch gewesen. In Anlehnung an Maximilian Scheer beziffert Horst Drechsler die Zahl der Ermordeten auf 80.000 Herero und 20.000 Nama. Diese Angaben bleiben richtungsweisend für die gesamte nachfolgende Historiografie und wurden in den 1980er Jahren Gegenstand der Kontroversen über den Völkermord. Horst Drechsler folgt implizit den Bestimmungskategorien der 1951 in Kraft getretenen »Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord«, allerdings ohne auf Raphael Lemkins Genozid-Definition zu
186 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 15, 150, 183, 199, 242. 187 | Ebd., S. 183.
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verweisen, die dieser zugrunde lag.188 Die DDR ratifizierte die Konvention erst im März 1973.189 In ihr wird Völkermord unter anderem als eine Handlung definiert, »die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«.190 Gemäß der Konvention ist eine Verjährung des Straftatbestandes ausgeschlossen. Um Analogien zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Genozid herauszustellen, wurde in allen Texten der DDR ein spezifisches lexikalisches Repertoire bemüht.191 Möglich wurde dies durch das Quellenmaterial. Begriffe wie ›Konzentrationslager‹, ›Gefangenenlager‹, ›Vernichtung‹ oder ›Ausrottung‹ waren Teil der kolonialen Terminologie im Sprechen und Schreiben über die Ereignisse, die im Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus ihre spezifische politische und gesellschaftliche Relevanz erhielten. Hierzu trug wesentlich bei, dass die Sprache des Nationalsozialismus in der DDR bereits früh als konstitutiver Teil des Herrschaftsapparates analysiert wurde.192 Die Rezeption von Victor Klemperers 1947 erschienener »Lingua Tertii Imperii« in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR zeugt davon. Der Begriff der ›Vernichtung‹ und die biologistische Metapher der ›Ausrottung‹, die bereits im kolonialen Diskurs dazu dienten, den kolonialen Genozid zu charakterisieren, konnten deshalb bereits in den 1950er Jahren als zentrale Konzeptwörter der nationalsozialistischen Ideologie aufgefasst und auf ihre historische Semantik hin befragt werden. Victor Klemperers Analyse der »unbewältigten Sprache« des »Dritten Reichs« ist im Hinblick auf die Kolonialgeschichtsschreibung auch deshalb aufschlussreich, weil er an zwei Stellen dezidiert auf den sprachlichen und ideologischen Konnex zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus verweist.193 Die Sensibilisierung für die Sprache des Kolonia188 | Raphael Lemkin kategorisiert die Ereignisse bereits in seinen unveröffentlichten Werken über den Kolonialismus als Genozid. Vgl. Schaller: Raphael Lemkin’s view of European colonial rule, S. 532. Inwiefern dies Horst Drechsler bekannt war, ließ sich allerdings nicht rekonstruieren. 189 | »Lemkin definiert Völkermord als koordinierte und geplante Vernichtung einer nationalen, religiösen oder rassischen Gruppe durch eine Vielzahl von Handlungen, die zum Ziel haben, die essentiellen Grundlagen für das Überleben der Gruppe zu zerstören.« Vgl. Chalk/Jonassohn: Genozid, 1998, S. 295. 190 | Internationales Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, Artikel 2. 191 | Vgl. Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 264. 192 | Davon zeugt vor allem die enorme Rezeption von Victor Klemperers Tagebuch »Lingua Tertii Imperii«, in dem er die Funktion der Sprache im »Dritten Reich« analysiert. Vgl. Fischer-Hupe: Victor Klemperers LTI, 2001, S. 263. 193 | »Ich habe das Wort nur als Junge gehört, und damals hatte es einen durchaus exotisch-kolonialen und ganz undeutschen Klang für mich: Während des Burenkriegs
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lismus und Nationalsozialismus hatte jedoch nicht zur Folge, dass die Begriffe im Zuge der umfassenden Sprachnormierung tabuisiert wurden. Gerade an der Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia wird deutlich, dass Konzeptwörter des Rassismus, wie ›Vernichtung‹ oder ›Ausrottung‹, weitergeführt wurden. Damit sollte vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch rhetorisch auf ideologische Bezüge zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus verwiesen werden. Besonders deutlich wird der rhetorische Gegenwartsbezug in der Verwendung der Begriffe ›Völkermord‹ und ›Genozid‹, die Horst Drechsler erstmals im Zusammenhang mit der Geschichte des kolonialen Namibias verwendete. Die koloniale Gewalt wird als »organisierter Völkermord«194 bezeichnet und ganz explizit in Kontinuität zum nationalsozialistischen Völkermord gesetzt, denn der Krieg gegen die Herero und Nama »war der erste Krieg, in dem der deutsche Imperialismus die Methoden des Genozids praktizierte, in denen er es später zu trauriger Berühmtheit brachte«.195 Im Gegensatz zu gegenwärtigen Debatten intendierte die Verwendung des Begriffs Völkermord in der DDR-Historiografie keine juristische Dimension, obwohl Völkermord seit der 1951 verabschiedeten »Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes« rechtlich als Straftatbestand definiert war. Bei den Debatten, die 1948 zur Konvention führten, bestand innerhalb der UNO Einigkeit darüber, dass Völkermord zur Geschichte der Menschheit gehöre. Damit wurde negiert, dass eine faschistisch-nationalistische Ideologie konstitutiv für Völkermord sei.196 Doch die politische Anerkennung des kolonialen Genozids wurde in den 1960er Jahren ebenso wenig verhandelt wie mögliche Forderungen nach Res-
war viel die Rede von den Compounds oder Konzentrationslagern, in denen die gefangenen Buren von den Engländern überwacht wurden. Dann verschwand das Wort plötzlich aus dem deutschen Sprachgebrauch. […] Ich glaube, wo künftig das Wort Konzentrationslager fallen wird, da wird man an Hitlerdeutschland denken und nur an Hitlerdeutschland.« Klemperer: LTI, 1966, S. 44f. »Strafexpedition ist das erste Wort, das ich als spezifisch nazistisch empfand. […] es klang so kolonial, man sah ein umstelltes Negerdorf, man hörte das Klatschen der Nilpferdpeitsche.« Klemperer: LTI, 1966, S. 52. 194 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 242. 195 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 15. 196 | Vgl. Barth: Genozid, 2004, S. 15.
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titution.197 In Bezug auf die Geschichte Kolonialnamibias ist der Begriff daher in erster Linie eine erinnerungspolitische Intervention.198 In diesem Zusammenhang kommt auch der sprachlichen Thematisierung der Konzentrationslager vergangenheitspolitische Bedeutung zu. Der Begriff stammt aus den Quellen, findet in den Akten des Reichskolonialamtes jedoch nur sehr spärlich Verwendung.199 Auch im Generalstabsbericht und Gustav Frenssens Bestseller »Peter Moors Fahrt nach Südwest« kommt er nicht vor. Daher kann sein Gebrauch durchaus als erinnerungspolitische Entscheidung gelesen werden, die auch auf unterdrücktes Wissen verweist. Schließlich war das Wissen über die Konzentrationslager und die dort herrschenden humanitären Zustände bereits im Kolonialismus, den Verhandlungen von Versailles und dem Kolonialrevisionismus Gegenstand politischer Debatten. Die Lager wurden verharmlost oder gar negiert, während sie vor allem im englischen »Report on the Natives of South-West Africa and their Treatment by Germany« in einem gesonderten Kapitel – »The treatment of the Hottentotts in war and of the Hereros and Hottentotts after surrender« – ausführlich beschrieben wurden.200 Bereits in der 1919 herausgegebenen »Erwiderung auf das englische Blaubuch« wurden die Zustände in den Konzentrationslagern Gegenstand intensiver Rechtfertigung, die mit einer Zurückweisung der Augenzeugenberichte und zeitgenössischer Fotografien einherging.201 In den Begriff des ›Konzentrationslagers‹ ist zugleich eine hohe erinnerungspolitische Symbolik eingeschrieben, die deutlich auf den Nationalsozialismus verweist, wie bereits in Maximilian Scheers »Schwarz und Weiß am Waterberg«. Zur deren Charakterisierung verwies er als pars pro toto auf Auschwitz und Buchenwald: »In dieser Heiterkeit brüllt schon die Bestie von Auschwitz und Buchenwald.«202 Dieser Bezug ist nicht willkürlich, sondern rekurriert auf die spezifische ›Vergangenheitsbewältigung‹ der 1950er Jahre. Auschwitz galt vor allem unmittelbar nach Kriegsende und im Zuge der Berichterstattung über die Frankfurter Auschwitz-Prozesse in den 1960er und 197 | Dass der Konvention über das postnationalsozialistische Deutschland hinaus keine politischen und juristischen Konsequenzen folgten, hängt auch damit zusammen, so Boris Barth, dass die 1951 verabschiedete Konvention »in den folgenden 30 Jahren faktisch in Vergessenheit« geriet. Barth, Genozid, 2004, S. 18. 198 | In der englischen Übersetzung des DDR-Übersetzers Bernd Zöllner wird der Terminus »genocide« verwendet, wenn in der deutschen Originalausgabe der Begriff des Völkermordes steht. Vernichtungspolitik wird mit »policy of extermination« übersetzt. 199 | Vgl. Sylvester/Gewald: Words cannot be found, S. XXIV. 200 | Vgl. hierzu United Kingdom: Report on the natives of South-West Africa, 1918, S. 97-102. 201 | Vgl. Reichskolonialamt: Die Behandlung der einheimischen Bevölkerung, 1919. 202 | Scheer: Schwarz und Weiß am Waterberg, 1952, S. 98.
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70er Jahren als Metapher für die von den Nationalsozialisten begangenen Verbrechen.203 In ähnlicher Weise galt dies für den Ort Buchenwald, der nach Kriegsende für viele Deutsche die erste Konfrontation mit den Konzentrationslagern des nationalsozialistischen Regimes bedeutete. Vor allem in der DDR wurde die 1958 eröffnete Gedenkstätte Buchenwald der zentrale Erinnerungsort an den Nationalsozialismus und den kommunistischen Widerstand. Folglich war der Begriff in der Erinnerungskultur der DDR mit bestimmten Bedeutungszuweisungen verbunden.204 Aber auch in der akademischen Geschichtsschreibung wurde der Begriff nicht neutral verwendet, sondern fungierte als assoziatives Bindeglied zwischen Nationalsozialismus und Kolonialismus. Bereits in Heinrich Loths 1961 veröffentlichtem Urania-Artikel wird eine Kontinuität zwischen Kolonialverbrechen und Nationalsozialismus mit den »Vernichtungslagern« des Nationalsozialismus begründet: »Die Überlebenden des Vernichtungsfeldzugs wurden in Konzentrationslagern eingesperrt. In den Geheimakten befinden sich eingehende Berichte über die grauenvollen Zustände in diesen Lagern. Die Verantwortlichen für die Todeslager spalteten sich in zwei Richtungen, die eine grausige Parallele zu den Hitlerfaschisten und ihren Vernichtungslagern aufweisen: die eine, die das Massensterben in den Lagern und die systematische Ausrottung vorbehaltlos unterstützten, die andere, die befürchteten, daß ›es später eine große Not mit eingeborenen Arbeitern geben wird, die sich anderorten jetzt schon recht fühlbar macht.‹« 205
Damit werden die kolonialen Konzentrationslager zwar nicht mit den Arbeitsund Vernichtungslagern des Nationalsozialismus gleichgesetzt, aber eine historische Parallele und Kontinuität benannt. In Horst Drechslers Monografie kommt der Beschreibung der Konzentrationslager ebenfalls eine zentrale Funktion für die Narrativierung von Kontinuitäten zwischen nationalsozialistischem und kolonialem Genozid zu. Welche Bedeutung er dem Quellenbegriff des Konzentrationslagers für seine Argu203 | Vgl. Zur DDR-Rezeption der Auschwitz-Prozesse Dirks: Die Verbrechen der anderen, 2005. 204 | Fritz Cremers 1958 eingeweihtes Denkmal für den Widerstand der Häftlinge im KZ Buchenwald steht geradezu ikonografisch. »Höchst zielstrebig wurde in den zu Nationalen Gedenk- und Mahnstätten erklärten Objekten die Absicht verfolgt, sie von Orten des Leidens und der Verfolgung zu Gedenkstätten der antifaschistischen Kämpfer und Helden umzufunktionieren, letztere damit letztlich auch zu Siegern der Geschichte zu verklären, wobei die wirklichen Toten vergessen wurden.« Groehler: Umgang mit der »Reichskristallnacht«, 1995, S. 289. 205 | Loth: Auf den Spuren des deutschen Imperialismus und Militarismus, 1961, S. 28.
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mentation zumisst, wird an einer Passage evident, in der er hervorhebt, dass es sich bei den nach dem Krieg eingerichteten Lagern nicht um »Reservate« handelte, »sondern um Konzentrationslager (Hervorhebung von mir – H.D.) für die einstweilige Unterbringung und Unterhaltung der Reste des Hererovolkes«.206 In der Erzählung selbst fällt auf, dass die Beschreibung der kolonialen deutlich an die Ikonografie der nationalsozialistischen Konzentrationslager angelehnt ist. So heißt es etwa, dass die Herero beim Eintreffen in den Konzentrationslagern »nur noch aus Haut und Knochen bestanden«.207 »Diese nahezu verhungerten Herero« so führt Horst Drechsler weiter aus, »wurden nach kurzer Zeit zu schwerster Zwangsarbeit verwandt.«208 Doch auch der Widerstand in den Konzentrationslagern, der durchaus als Referenz an den kommunistischen Widerstand im Konzentrationslager Buchenwald gelesen werden kann, wird subtil thematisiert: »Die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen veranlaßten immer wieder kriegsgefangene Herero zur Flucht. So mußte Trotha zum Beispiel am 10. März melden, daß wieder 30 kriegsgefangene Herero trotz Stacheldraht und Bewachung geflohen seien.«209 Aufgrund der medialen Präsenz des nationalsozialistischen Völkermords konnte die Ikonografie der nationalsozialistischen Konzentrationslager bemüht werden, um assoziative Bezüge zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus herzustellen. Dies wird an einer Textpassage deutlich, in der Horst Drechsler den Überfall auf Hornkranz im Jahr 1893 schildert. Mit Verweis auf die Akten führt Horst Drechsler eine Beutegutliste der Kolonialsoldaten an, »die nur ähnlichen Listen aus faschistischen Konzentrationslagern vergleichbar ist. Diese makabre Liste enthielt unter anderem: 1 Harmonium, 212 Paar Steigbügel, 74 Hufeisen, 44 Gebisse, 12 Kaffeekessel, 12 gußeiserne und 3 hölzerne Kaffeemühlen, 51 Löffel, 38 Gabeln, 48 Scheren, 1 Schiefertafel, 9 Blechteller, 25 Blechbecher, 3 Plätteisen, 3 Geigen, 1 Opernkucker [sic!].«210 Obwohl Imperialismus und Faschismus strukturell miteinander in Beziehung gesetzt und »die Verbrechen deutscher Kolonialbeamter« daher nicht als »Vergehen einzelner, besonders bösartiger Individuen, sondern als Ausdruck des in Deutschland herrschenden Systems«211 betrachtet wurden, dienten aktenkundlich gestützte personelle Bezüge zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Genozid als weitere Erzählstrategie, um entsprechende Verbindungen zu unterstreichen. Die ›Entdeckung‹ personeller und struktureller 206 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 196f. 207 | Ebd., S. 243. 208 | Ebd. 209 | Ebd. 210 | Ebd., S. 80. 211 | Weinberger: Die deutsche Sozialdemokratie und die Kolonialpolitik, 1967, S. 414.
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Kontinuitäten schilderte Maximilian Scheer in seiner Autobiografie ausführlich: »Meine Studien des Feindes haben mich zu überraschenden Personalkenntnissen und Verknüpfungen geführt. Der Vater Görings war der erste Reichskommissar in Südwestafrika gewesen. Der Gauleiter Ritter von Epp war wegen seiner gerühmten Leistungen bei der Ausrottung der Herero in Südwestafrika zum Hauptmann befördert worden […]. Und mit den Kolonialtruppen in Südwestafrika, Ostafrika und Kamerun hatten Männer gehaust, von denen sich nicht weniger als acht zu Mitgliedern des Nazireichstags hochgemordet hatten. War das ein Zufall? Das konnte kein Zufall sein. […] Hier in den Kolonien, schien jedenfalls eine giftige Wurzel der deutschen Todesnessel, genannt Nazismus, erkennbar zu sein.« 212
Maximilian Scheers »Studien des Feindes« schlugen sich deutlich in seiner Erzählung nieder. Sie weist auf militärische Karrieren hin, die bruchlos im Nationalsozialismus fortgeführt werden konnten: »Der Offizier, den General von Trotha am Waterberg außer der Reihe zum Hauptmann befördert, ist der Oberleutnant Franz Epp, der künftige General von Epp und Nazi-Statthalter von Bayern.«213 Auch für Ferdinand May ist Franz Epp eine beachtenswerte historische Person, auf die er in einer Fußnote zum Romangeschehen eingeht: »Dieser Oberleutnant Epp befehligt 1919 ein Freikorps und war als General Ritter von Epp Hitlers Statthalter in Bayern.«214 Der Verweis auf den niedergeschlagenen Spartakusaufstand ermöglichte es, eine ganz konkrete Verbindungslinie zwischen dem kolonialen Genozid und dem Gründungsmythen der DDR zu ziehen. Mehrfach werden von Maximilian Scheer auch generationelle Kontinuitäten thematisiert, etwa anhand der Familie Woermann und von Tippelskirch, die auch Horst Drechsler in seiner 14 Jahre später erschienenen Monografie aufgreifen wird.215 Zu einem zentralen Topos wird die Charakterisierung des Reichskommissars Ernst Heinrich Göring als »Vater des nationalsozialistischen Fliegermarschalls und Kriegsverbrechers«.216 Wenige Seiten später, geschildert wird wie Göring sein Kommissariat niederlegt, heißt es: »Drei Jahre nach dieser Flucht wird der künftige Feldmarschall des ›Dritten
212 | Scheer: Ein unruhiges Leben, 1975, S. 138. 213 | Scheer: Schwarz und Weiß am Waterberg, 1952, S. 86. 214 | May: Sturm über Südwest-Afrika, 1962, S. 281. 215 | »Woermann – aus seiner Familie kommt der Staatssekretär gleichen Namens im Auswärtigen Amt der Nazis. Von Tippelskirch – aus seiner Familie kommt der Botschaftssekretär gleichen Namens der Nazis.« Scheer: Schwarz und Weiß am Waterberg, 1952, S. 106. Vgl. hierzu auch Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 257ff. 216 | Scheer: Schwarz und Weiß am Waterberg, 1952, S. 31.
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Reiches‹ geboren.«217 Der Verweis auf die Funktionselite des Nationalsozialismus wurde in den Texten der DDR immer wieder aufgegriffen, um Kontinuitäten zu belegen.218 Aber auch in Texten der Bundesrepublik wurde die Charakterisierung Ernst Heinrich Görings übernommen.219 Bereits 1969 verwendete sie der Historiker Robert Cornevin in seinem Beitrag zur deutschen Kolonialgeschichte, der in »Colonialism in Africa 1870-1960« erschien, das von den konservativen amerikanischen Historikern Lewis H. Gann und Peter Duignan herausgegeben wurde.220 Eine wichtige Rolle innerhalb der Erzählungen der DDR kommt ferner Lothar von Trotha zu, den Maximilian Scheer richtungsweisend für nachfolgende Texte als »Verwandter des Admirals von Trotha, der sich im Dritten Reich der ›Ehrenführer der Hitlerjugend‹ nennt,«221 charakterisierte.222 Die Frage, ob Lothar von Trotha wissentlich und willentlich die »Vernichtung« der Herero anstrebte, war bereits im kolonialen Diskurs von Bedeutung und wurde in der DDR-Historiografie eindeutig beantwortet. Horst Drechsler führt hierzu aus: »Es war aber nicht – wie Leutweins Sohn glaubte annehmen zu dürfen – Unfähigkeit des Generals, die zu dieser Truppenaufstellung führte, sondern es war wohldurchdacht, ja geplant, daß die Herero nach Südosten durchbrechen und in ihr Verhängnis laufen sollten.«223 Für Horst Drechsler galt: »Trotha kannte nur ein Ziel: Die Vernichtung der Herero.«224 Trotha habe dieses Ziel zu erreichen gesucht, »indem er die Herero in die Omaheke trieb. Ein solches
217 | Ebd., S. 51. 218 | Drechsler: Die großen Aufstände der Hereros und Hottentotten, 1958, S. 256; Drechsler: Die deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika, 1959, S. 53; Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 331. 219 | Unter dem Portrait Heinrich Görings: »Dr. jur. Heinrich Ernst Göring (1838-1913), Vater des späteren NS-›Reichsmarschalls‹ Hermann Göring«. Graudenz/Schindler: Deutsche Kolonialgeschichte, 1984, S. 47. 220 | Oktober 1885: Treaty with Dr Heinrich Ernst Goering (The father of the Nazi Reichsmarschall Hermann Goering). »It was largely because of the long-standing hostility between the Herero and the Nama, which had existed for more than a hundred years, that the Germans succeeded in establishing themselves in South West Africa.« Cornevin: The Germans in Africa, 1969, S. 386. 221 | Scheer: Schwarz und Weiß am Waterberg, 1952, S. 82. 222 | »Jahrzehnte vor der Erfindung des totalen Krieges durch die deutschen Faschisten praktizierte er ihn schon auf einem Teil des Herrschaftsbereichs des deutschen Imperialismus. Er wird übrigens später zum ›Ehrenführer der Hitlerjugend‹ ernannt.« Babing/Bräuer: Namibia, 1979, S. 102. 223 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 182. 224 | Ebd.
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Verbrechen kann man nur als Völkermord bezeichnen.«225 Für die kritische Historiografie nach 1966 war Horst Drechslers Schuldzuweisung maßgebend, denn er folgerte abschließend: »Die Vernichtung der Herero war eine Folge der Trothaschen Maßnahmen nach den Kämpfen am Waterberg, für die keine militärische Notwendigkeit vorlag.«226 Vor dem Hintergrund des marxistisch-leninistischen Metanarrativs mag erstaunen, dass Lothar von Trothas Vernichtungsbefehl und der Völkermord als individuelle Entscheidung erzählt werden. Doch die historische Figur Lothar von Trothas fungierte als Personifizierung des preußischen Adels, Militarismus, ›Junkertums‹ und falsch verstandenen Kolonialheldentums. Dabei ist die Charakterisierung Lothar von Trothas wiederum kolonialen Texten entlehnt. Bereits zeitgenössisch war die Kriegsführung von Trothas nicht nur unter den entschiedenen Kriegsgegnern umstritten. Otto von Bismarck empfing ihn nach seiner Rückkehr nicht, militärische Kreise mieden ihn, und das, obwohl ihm der Orden ›Pour le Mérite‹verliehen worden war. Vor allem aber stand Lothar von Trotha im Zentrum der sozialdemokratischen Kritik am Kolonialkrieg. August Bebel ächtete seine Kriegsführung 1905 mit den Worten: »Eine solche Kriegsführung kann jeder Metzgerknecht treiben, dazu braucht man nicht General oder höherer Offizier zu sein.«227 Auch im englischen »Report on the Natives of South-West Africa« wird Lothar von Trothas Vorgehen – eventuell im Rückgriff auf August Bebels Terminologie –kritisch beschrieben. Hier heißt es, »he decided to butcher this now disorganised, leaderless, and harmless tribe […].«228 Begriffliche Variationen und Metaphern für den »Metzgerknecht« wurden in der DDR-Historiografie zum stehenden Topos. Horst Drechsler bezieht sich bereits 1958 auf August Bebel: »Der Untergang des Herero-Volkes ist unauflöslich verknüpft mit dem Namen v. Trotha, einem Schlächter in Generalsuniform.«229 Und in seiner Monografie: »Er, der als Schlächter der Herero in die Geschichte eingehen sollte, verschwand sang- und klanglos am 19. November 1905 vom Schauplatz seiner Untaten.«230 Günther Mager bezeichnete Lothar von Trotha 1966 in seiner Dissertation polemisch als »Metzgerknecht Trotha«231. Im Sammelband »Drang nach Afrika« aus dem Jahr 1977 wurde der Topos weitergeführt und
225 | Ebd., S. 183. 226 | Ebd. Vgl. auch S. 184. 227 | Stenographische Berichte des deutschen Reichstages, 123. Sitzung, 30.1.1905, S. 4104. 228 | United Kingdom: Report on the Natives of South-West Africa, 1918, S. 60. Vgl. auch S. 58, 59, 61. 229 | Drechsler: Die deutsche Kolonialpolitik in Südwestafrika, 1959, S. 55. 230 | Drechsler: Südwestafrika,1966, S. 219. 231 | Mager: Die deutsche Sozialdemokratie und die Aufstände, 1966, S. 126.
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von »einem Schlächter in Generalsuniform«232 geschrieben. In den historiografischen Texten der DDR wird bezeichnenderweise August Bebel die Rolle zugeschrieben, von Trotha in seine Schranken gewiesen und den Völkermord im kolonialen Namibia beendet zu haben. In Horst Drechslers Monografie muss der Kaiser General von Trotha »schließlich abberufen; die von August Bebel geführte Kampagne der Wahrheit und Humanität hat ihre aufrüttelnde Wirkung getan.«233 Die Inszenierung August Bebels verweist bereits sehr deutlich darauf, dass in die Geschichte des kolonialen Namibias auch die Geschichte der »revolutionären deutschen Sozialdemokratie« eingeschrieben wurde. Damit konnte die DDR eine historisch begründete »antikoloniale Außenpolitik« für sich reklamieren, die sich »auf die ruhmreichen Traditionen der deutschen Arbeiterklasse im Kampf gegen den deutschen Imperialismus und Militarismus stützt«.234 Um diese Position zu begründen, wurde vor allem auf kolonialismuskritische und kolonialreformerische Texte und Reichstagsreden zurückgegriffen, die im Kontext der ›Hottentottenwahlen‹ entstanden waren. So ließ sich eine antikoloniale Tradition der revolutionären deutschen Sozialdemokratie konstruieren, in deren Nachfolge sich die DDR sah: Die »deutsche Sozialdemokratie war die einzige Partei in Deutschland, die dem Kolonialmilitarismus konsequent die Stirn bot und die Verbrechen der Soldateska vor der deutschen Öffentlichkeit entlarvte«235, schrieb etwa Horst Drechslers Doktorand Günter Mager im Jahr 1966. Vor allem August Bebels Kritik am Kolonialsystem wurde in Einzeluntersuchungen und Monografien immer wieder zitiert.236 »Denn«, so bereits Maximilian Scheer in seinem Roman, nur »Bebels Sozialdemokratie legt die Wahrheit bloß: die Wahrheit über Südwestafrika und über alle deutschen Kolonien, die gleichermaßen verheert werden.«237 Horst Drechsler betonte die Rolle August Bebels noch deutlicher: »Erzberger war jedoch kein grundsätzlicher Gegner der imperialistischen Kolonialpolitik; er bekämpfte nur deren Auswüchse. August Bebel hingegen erklärte namens der deutschen Sozialdemokratie unmißverständlich: ›Meine Herren! Das Recht zum Auf-
232 | Stoecker: Drang nach Afrika, 1977, S. 51. 233 | Drechsler: Südwestafrika, 1984, S. 83. 234 | Loth: Auf den Spuren des deutschen Imperialismus, 1961, S. 30. 235 | Mager: Die deutsche Sozialdemokratie, 1966, S. 121. 236 | Vgl. Mager: Die deutsche Sozialdemokratie, 1966; Weinberger: Die deutsche Sozialdemokratie und die Kolonialpolitik, 1967. 237 | Scheer: Schwarz und Weiß am Waterberg, 1952, S. 60.
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Deutsche Kolonialgeschichte(n) stand, das Recht zur Revolution hat jedes Volk und jede Völkerschaft, die sich in ihren Menschenrechten aufs alleräußerste bedroht fühlt.‹« 238
Die Verlagsgutachten legen nahe, dass die antikoloniale Haltung der männlichen Sozialdemokraten und ihre Kritik am Kolonialkrieg zu einem verbindlichen Element der Kolonialgeschichtsschreibung stilisiert werden sollte. Anlässlich der populärwissenschaftlichen Neuauflage der Monografie Horst Drechslers kritisierte Helmuth Stoecker im Jahr 1983 etwa, dass die Leistungen der deutschen Sozialdemokratie im Kampf gegen den Kolonialismus nicht ausreichend gewürdigt werden: »Der Kampf der deutschen Sozialdemokratie, insbesondere August Bebels und Georg Ledebours, gegen den Kolonialkrieg in Südwestafrika sollte in einem Unterabschnitt zusammenhängend dargestellt und gewertet werden. Die knappen Ausführungen auf S. 74f., 157 und 180 geben keinen hinreichenden Aufschluß über die Haltung der Partei in dieser Frage. Besonders in einem vom Parteiverlag zu veröffentlichenden Buch wäre dies aber eigentlich nötig.« 239
Die Schriften der vermeintlich kompromisslosen Kolonialgegner waren jedoch nicht ohne Weiteres in ein Narrativ des Antikolonialismus und Antirassismus einzupassen, denn die Kriegsgegner des sozialistischen Lagers stellten die Logik der ›Kulturmission‹ ebenso wenig grundsätzlich in Frage wie die Aporien des Rassismus. Sie sprachen sich vielmehr in erster Linie für eine Reform des kolonialen Projekts aus.240 In einer weiteren Reichstagsrede führte August Bebel aus, »daß Kolonialpolitik betrieben wird, ist an und für sich kein Verbrechen. Kolonialpolitik zu treiben kann unter Umständen eine Kulturtat sein; es kommt nur darauf an, wie die Kolonialpolitik getrieben wird. […] Kommen die Vertreter kultivierter und zivilisierter Völkerschaften, wie es z.B. die europäischen Nationen und die nordamerikanischen sind, zu fremden Völkern als Befreier, als Freunde und Bildner, als Helfer in der Not, um ihnen die Errungenschaften der Kultur und Zivilisation zu überbringen, um sie zu Kulturmenschen zu erziehen, geschieht das in dieser edlen Absicht und in der richtigen Weise, dann sind wir Sozialdemokraten die ersten, die eine solche Kolonisation als grosse Kulturmission zu unterstützen bereit sind.« 241 238 | Drechsler: Südwestafrika, 1984, S. 142. Ähnlich bei Babing: »Am 19. Januar entlarvte August Bebel vor dem deutschen Reichstag die Kolonialpolitik des deutschen Imperialismus und erklärte: Jedes Volk hat das Recht zum Aufstand gegen die Verletzung seiner Menschenrechte.« Babing/Bräuer: Namibia, 1979, S. 360. 239 | Gutachten von Stoecker an den Dietz-Verlag Berlin, in: DY 30/16417. 240 | Vgl. Koller: Eine Zivilisierungsmission der Arbeiterklasse?, 2005, S. 236. 241 | Stenographische Berichte des Reichstages, 131. Sitzung, 1.12.1906, S. 4057.
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Es resultiert daher aus einer bewusst selektiven Auswahl der Zitate, dass August Bebel in den Texten der DDR-Historiografie als radikaler Kritiker des kolonialen Projekts erscheint. Über weite Strecken wurde hierbei ein »politischer Mythos« bedient oder geschaffen, der »dem ›Wegerzählen‹ von Kontingenz und der Reduzierung von Komplexität«242 diente. Zugleich setzte aber auch hier »die Autorität der Quellen einer ideologischen Fiktionalisierung immer wieder gewisse Grenzen«.243 Die Einstellung der Sozialdemokraten war durchaus erklärungsbedürftig. Bereits Günter Mager problematisiert ihre »unklare Haltung zum Kampf der Herero«, die er mit der »zunächst nicht vorhandenen Klassenposition gegenüber den deutschen Ansiedlern« erklärt.244 »Sie sagten ›wir‹ (die Deutschen) und ›sie‹ (die Afrikaner) und nicht ›wir‹ (die Proletarier) und ›sie‹ (die Bourgeoisie und Kolonialherren).«245 Und auch HistorikerInnen der DDR, wie Gerda Weinberger, betonten dass die Sozialdemokraten keinesfalls »prinzipielle Gegner der Kolonialpolitik«246 gewesen seien. Diese schwierige Quellenlage wurde pragmatisch gelöst. In einem Verlagsgutachten zu Fritz Müllers Monografie »Deutschland – Zanzibar – Ostafrika« aus dem Jahr 1959 sprach man sich schließlich aufgrund der problematischen Quellensituation dagegen aus, die Rolle der SPD näher auszuführen: »Die Stellung der SPD ist vom Autor auf Drängen des Verlages bereits noch einmal durchgearbeitet worden. Wie uns auch Dr. Stoecker, Dozent für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der Humboldt-Universität, mitteilte, hat die SPD in der damaligen Zeit mit Ausnahme der im Buch fast schon über Gebühr behandelten Reichstagsreden und sonstigen kleineren Aktionen keine profilierte antikoloniale Haltung eingenommen. Aus diesem Grunde wird in dieser Frage eine nochmalige Überarbeitung nicht sehr sinnvoll sein, da ein noch stärkeres Ausschlachten der wenigen vorhandenen Materialien die Rolle der SPD überbewerten würde.« 247
Die Geschichte der SPD und besonders der KPD wurde auch in der Erzählung des kolonialen »Aufstands« thematisiert. Die umfassende Rechtfertigung des Widerstandes der Herero – und später der Nama – in der Kolonialhistoriografie der DDR impliziert Analogien zur Geschichte der kommunistischen Aufstände in Deutschland, aus denen die zentralen Märtyrerfiguren der DDR hervor242 | Bizeul: Politische Mythen, 2006, S. 7f. 243 | Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 269. 244 | Mager: Die deutsche Sozialdemokratie, 1966, S. 142. 245 | Ebd. 246 | Weinberger: Die deutsche Sozialdemokratie und die Kolonialpolitik, 1967, S. 414. 247 | Verlag Rüttgen und Loening an das Ministerium für Kultur, 7.4.1959, in: DR/1/ 3390, Blatt 136.
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gingen. Theoretisch rückgebunden werden konnte das Recht zum Aufstand auch durch zahlreiche Schriften Lenins, der besonders die Rolle und Funktion des Aufstands innerhalb des marxistischen Gedankengebäudes theoretisch erfasste und mit positiven Zuschreibungen versah.248 Möglich wurde diese erinnerungspolitische Analogie wiederum durch koloniale Texte, in denen der ›Aufstand der Herero‹ ausführlich geschildert und ambivalent beurteilt wird. Bereits koloniale Quellen führen den »Aufstand« und »Befreiungskampf« der Herero auf einen besonderen »Freiheits- und Unabhängigkeitssinn«249 zurück und würdigen ihn durchaus als heroische Tat. So wird im Generalstabsbericht betont, die Herero seien bereit »für ihre Unabhängigkeit und Freiheit alles hinzuopfern«250 oder »den letzten Verzweiflungskampf um ihre Selbstständigkeit«251 zu führen, wie es in Maximilian Bayers autobiografischer Erzählung heißt. Anhand einer Passage aus Gustav Frenssens Roman »Peter Moors Fahrten nach Südwest« wird deutlich, dass auch im kolonialen Diskurs die Frage nach einem moralischen Recht auf Widerstand verhandelt wurde. Gustav Frenssen konstruiert in seinem Roman einen Dialog, in dem er dieses Thema aufgreift: »Sie kamen auch auf die Ursachen des Aufstandes; und ein Älterer, der schon lange im Lande war, sagte: ›Kinder wie sollte es anders kommen? Sie waren Viehzüchter und Besitzer und wir waren dabei, sie zu landlosen Arbeitern zu machen; da empörten sie sich. Sie taten dasselbe, was Norddeutschland 1813 tat. Das ist ihr Befreiungskampf.‹« 252
Der »Befreiungskampf« der Herero und Nama wird auch von Horst Drechsler als aussichtslos gekennzeichnet. Damit reproduziert er einerseits koloniale Herrschafts- und Machtvorstellungen, die nicht zuletzt auf der Vorstellung eines vermeintlich natürlichen Untergangs der Herero und Nama gründen, andererseits wird die Aussichtslosigkeit zum Argument für den moralischen Sieg, den die afrikanischen »Freiheitskämpfer« errungen haben, denn »moralisch«, so wird in einem Bericht über Horst Drechslers Habilitationsschrift ausgeführt, »siegt nicht ›Weiß‹, sondern ›Schwarz‹ am Waterberg«.253 Damit geht eine Heroisierung der Schwarzen »Freiheitskämpfer« einher, die durchaus an die »Sakralisierung und Mythisierung des Opfers von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht« erinnert. Auch im Gründungsmythos der DDR konnte 248 | Vgl. Lenin: Werke, Bd. 26, 1961, besonders Vorwort S. VII. 249 | Generalstab: Der Hottentottenkrieg, 1907, S. 2. 250 | Ebd., S. 299. 251 | Bayer: Mit dem Hauptquartier in Südwestafrika, 1909, S. 10. 252 | Frenssen: Peter Moors Fahrt nach Südwest, 1906, S. 67. 253 | Markov/Nimschowski/Stoecker: Forschung zur Geschichte Afrikas, in: Historische Forschungen in der DDR, 1960-1970. Analysen und Berichte; zum XIII. Internationalen Historikerkongreß in Moskau 1970, S. 746-762, S. 753f.
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die »Niederlage der deutschen Linken«, so argumentiert Barbara Könczöl, »in einen moralischen Sieg umgewandelt werden und über die Inszenierung der Erinnerung ein Ursprungsmythos der aus dem Feuer der Revolution geborenen Partei geschaffen werden«.254 Die theoretische und narrativ begründete Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus innerhalb eines stark nationalgeschichtlichen Metanarrativs eröffnete ferner die Möglichkeit, die Geschichte des kolonialen Namibias als Teil der ritualisierten Erinnerungskultur an den Nationalsozialismus und Metapher für den Gründungsmythos der DDR zu lesen:255 den kommunistischen und antifaschistischen Kampf gegen den Nationalsozialismus.256 Besonders in der Konsolidierungsphase der DDR, in der die Texte entstanden, nahm dieser eine zentrale Funktion für die sozialistische »Invention of Tradition«257 ein. Dies zeigt sich in narrativen Analogien und rhetorischen Stilmitteln, die als feststehende Topoi den politisch-historischen Sprachgebrauch prägten, und daher als metaphorische Bezüge dechiffriert werden konnten. Ähnlich wie der kommunistische, antifaschistische Widerstand während des Nationalsozialismus wurde der koloniale Widerstand als »Verzweiflungs- und Freiheitskampf« erzählt.258 Horst Drechsler führt hierzu aus: »Die großen Aufstände von 1904 bis 1907 bildeten den Höhepunkt des langwierigen Kampfes der Herero und Nama, doch trugen sie von Anfang an den Charakter eines Verzweiflungskampfes, da am Ausgang der Kämpfe kein Zweifel bestehen konnte.«259 Doch die »Südwestafrikaner« leisteten »heldenhaften Widerstand«.260 Für die Analogiebildung zwischen kommunistischem Widerstand und kolonialem Genozid ist ferner entscheidend, dass die Geschichte des kolonialen Namibias über weite Teile als Klassenkampf zwischen expropriierten Herero und dem wilhelminischen 254 | Könczöl: Märtyrer des Sozialismus, 2008, S. 74. 255 | »Nur wenige Deutsche hatten Widerstand gegen die NS-Diktatur geleistet. Insofern konnte der antifaschistische Gründungsmythos der DDR nicht über individuelle, in der alltäglichen Kommunikation zirkulierende – daher: kommunikative Erinnerung – hergestellt werden. Vielmehr blieb er auf kulturelle Vermittlungsformen wie Rituale, Denkmäler, Literatur und Bildende Künste angewiesen, um überhaupt erst Eingang in das kollektive Gedächtnis der DDR-Bürger zu finden. Daraus erklärt sich der exzessive Einsatz solcher Vermittlungsformen, um den Mythos der von der Geburt der DDR aus dem antifaschistischen Widerstand in den Köpfen der DDR zu verankern.« Wolfrum: Die beiden Deutschland, 2002, S. 143. 256 | Vgl. Groehler: Zur Geschichte des deutschen Widerstandes, 1992, S. 411. 257 | Ranger/Hobsbawm: The Invention of Tradition, 1992. 258 | Stoecker: Drang nach Afrika, 1977, S. 50f. 259 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 6. 260 | Ebd., S. 5.
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Finanzkapital präsentiert wurde. Denn die »Ursachen des Aufstandes sind eindeutig: Die systematische Expropriation und ihre völlige Rechtlosigkeit hatten die Herero zur nationalen Erhebung gegen den deutschen Imperialismus getrieben«.261 Gemäß der Faschismustheorie des Marxismus wurden die Herero und Nama folglich auch aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit und politischen Haltung ermordet. Darüber hinaus können die Bezüge zur Geschichte der DDR als literarische Strategie der Sympathielenkung für die historischen Personen und die Angehörigen der marxistischen Befreiungsbewegung SWAPO gelten. Mehr noch: In der narrativen Gestaltung der geteilten Geschichte des Klassenkampfes gegen den westlichen Imperialismus beziehungsweise Faschismus kann auch der Versuch gesehen werden, Alterität mit literarischen Mitteln aufzuheben. Liest man die Geschichte des kolonialen Namibias konsequent als Erinnerung an den nationalsozialistischen Völkermord, lässt sich dieses Narrativ wiederum an die Erinnerungskultur und -politik der DDR rückbinden, die die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus und ihre Opfer weitestgehend ausblenden.262 In der DDR setzte sich seit den 1950er Jahren eine Hierarchisierung der Opfergruppen durch, die, dem politischen Programm der SED entsprechend, den ununterbrochenen kommunistischen Widerstand zur Bezugsgröße des nationalen Geschichtsbewusstseins machte und andere Opfergruppen aus der Erinnerung ausschloss.263 Die Geschichte der deutschen Kolonialherrschaft aber, deren Kennzeichen »ein gesetzlich verankerter Rassismus«264 war, eröffnete die Möglichkeit, Rassismus, rassistische Verfolgung und den Holocaust zu thematisieren, und damit zugleich einen Aspekt des Nationalsozialismus zu verhandeln, der in der DDR zu diesem Zeitpunkt tabuisiert war und erst mit der 1973 veröffentlichten Arbeit Klaus Drobischs expliziter Gegenstand einer Monografie wurde.265 Im Entstehungskontext der Arbeit Horst Drechslers stellte der Eichmann-Prozess im Jahr 1961 eine Zäsur in der Erinnerung an den Holocaust dar. In der DDR wurde der Prozess zwar in erster Linie dazu genutzt, die faschistischen Kontinuitäten innerhalb der Bundesrepublik herauszustellen, »doch unter der Glocke dieser Propagandakampagne hatte das Thema Judenverfolgung überhaupt erst 261 | Ebd., S. 150. 262 | »Der Nationalsozialismus unterschied sich von allen anderen faschistischen Bewegungen bekanntlich dadurch, daß er den überall präsenten Antisemitismus mit eliminatorischer Konsequenz betrieb – genau diesen Wesenskern verschwieg indes die ostdeutsche Erinnerung, weil man den Holocaust in das Klassenschema preßte.« Wolfrum: Die beiden Deutschland, 2002, S. 144. 263 | Vgl. Groehler: Umgang mit der »Reichskristallnacht«, 1995, S. 289; Danyel: Der vergangenheitspolitische Diskurs, 2005. 264 | Markov: Probleme des Neokolonialismus, 1961, S. 19. 265 | Drobisch: Juden unterm Hakenkreuz, 1973.
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eine Chance, in der DDR an die Öffentlichkeit zu gelangen«.266 Zu fragen ist daher, ob mit der Erzählung kolonialer Gewalt auch der nationalsozialistische Genozid zu einem Zeitpunkt mitverhandelt wurde, zu dem er in der offiziellen Geschichtsschreibung noch tabuisiert war, denn während »der 50er Jahre war der Holocaust überhaupt kein Thema in der DDR«.267 Hier ließe sich mit Conrad Jarausch argumentieren, dass die »normierte Oberfläche« der DDRTexte »weitgehend ihre innere, oft spannungsgeladene Botschaft« verbirgt.268 Doch unterhalb der »normierten Oberfläche« lassen sich rhetorische Bezüge zum Holocaust finden. Neben den bereits ausgeführten Narrativen und terminologischen Bezügen wird dies anhand einer Passage evident, in der Horst Drechsler die Ausschreitungen gegenüber den Herero als Pogrome bezeichnet, die in eine staatlich organisierte Deportations- und Vernichtungspolitik mündeten: »Aus den Akten geht einwandfrei hervor, daß es sich bei den eben skizzierten Deportations- und Vernichtungsplänen in Bezug auf die Nama nicht um Phantasieprodukte einiger weniger ›Verrückter‹, sondern um die offizielle Politik der deutschen Regierung handelte [Hervorhebung im Original].«269 Vor allem den Pogromen weist Horst Drechsler durch die gewählte Zwischenüberschrift, »Pogromstimmung und Gräuelpropaganda gegen die Herero«270, einen besonderen Stellenwert innerhalb der Textpassage zu. Auch im Fließtext konstatiert er eine »Pogromstimmung der deutschen Siedler im Hereroland gegenüber den Herero […]«.271 Inwiefern spielte Horst Drechsler aber mit dem Begriff des ›Pogroms‹ auf eine spezifisch jüdische Verfolgungsgeschichte während des Nationalsozialismus an? Denn im Gegensatz zur Bundesrepublik, in der mit den Termini ›Kristallnacht‹ und ›Reichskristallnacht‹ der nationalsozialistische Sprachgebrauch lange Zeit fortgeführt wurde, wurde in der DDR in der Regel der Begriff ›faschistische Pogromnacht‹ verwendet, um den ersten Höhepunkt der Judenverfolgung zu benennen.272 Drechslers terminologische Entscheidung ist folglich keineswegs arbiträr, sondern kann als Beitrag zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit gelesen werden. Die geschichtspolitische Instrumentalisierung der Kolonialgeschichtsschreibung greift als alleinige Erklärung für die Subtexte der DDR-Historiografie möglicherweise dennoch zu kurz. Vor allem im Hinblick auf die Inter266 | Wolfrum: Die beiden Deutschland, 2002, S. 144. Zur politischen Instrumentalisierung des Eichmann-Prozesses in der DDR siehe Krause: Der Eichmann-Prozeß, 2002, S. 208-243. 267 | Wolfrum: Die beiden Deutschland, 2002, S. 145. 268 | Jarausch: Texte der DDR, 1998, S. 262. 269 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 247. 270 | Ebd., S. 150. 271 | Ebd., S. 200. 272 | Vgl. Groehler: Umgang mit der »Reichskristallnacht«, 1994.
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pretation des kolonialen Genozids gilt es, auch Biografien und die politische Sozialisation der HistorikerInnen zu berücksichtigen. Aufgrund ihrer Generationenzugehörigkeit waren sie durch die Erfahrung des Nationalsozialismus entscheidend geprägt und ihr persönlich motivierter Blick auf die deutsche Kolonialgeschichte gegebenenfalls beeinflusst. Der Konnex von Biografie und Wissenschaft ist bei dem Kolonialhistoriker Helmuth Stoecker besonders anschaulich. Helmuth Stoeckers Lebenslauf ist familiär und persönlich stark durch Verfolgung und den Widerstand gegen den Nationalsozialismus geprägt.273 Sein Vater, Walter Stoecker, war ein kommunistischer Politiker, der 1938 im KZ Buchenwald an Typhus starb. In der DDR galt er als eine Ikone des antifaschistischen Kampfes.274 Die Familiengeschichte und Helmuth Stoeckers Verfolgung während des Nationalsozialismus werden in einer Festschrift dezidiert bemüht, um sein Interesse an der Geschichte des Kolonialismus zu begründen. Faschismus und Kolonialismus werden dabei in einen gemeinsamen Deutungszusammenhang gestellt.275 Ähnliche biografische Topoi finden sich bei fast allen KolonialhistorikerInnen.276 Auch wenn den Biografien oftmals instrumentelle Funktion zukam und sie gegebenenfalls fingiert wurden, bleibt zu fragen, inwiefern der Nationalsozialismus, und die damit möglicherweise einhergehende Verfolgungs- und Gewalterfahrung, die Forschungsinteressen, Deutungen und Schwerpunktsetzungen innerhalb der Kolonialhistoriografie geprägt haben. Kurt Pätzold betont etwa, dass »the rising generation of historians« sich auch aus biografischen Gründen der Erforschung und erinnerungspolitischen Verhandlung des Nationalsozialismus zuwandten. »These historians«, so Kurt Pätzold, »sought answers to the questions life had ›drummed‹ into them during their childhood and youth.«277 Jenseits der DDR-spezifischen nationalstaatlichen Vergangenheitsbewältigung kann in der Thematisierung von Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus auch der Versuch gesehen werden, die Ideen und Forderungen Schwarzer Intellektueller aufzugreifen, die in der Nachkriegszeit um die Anerkennung der kolonialen Gewalt und des Völkermords kämpften. So wurde die Frage, in welchem Verhältnis Holocaust und Kolonialismus stehen, unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg durch W. E. B. Du Bois thematisiert, der in einer engen persönlichen und akademischen Beziehung mit 273 | Stoecker/Stoecker: Socialism with Deficits, 2000. 274 | Helmuth Stoecker, in: ZfG 28/11 (1980), S. 1122-1123. 275 | Ebd. 276 | Vgl. hierzu etwa Thea Büttner 60 Jahre, in: ZfG 38 (1990), S. 547. Heinrich Loth, in: ZfG 38/1 (1990), S. 744. Helmuth Stoecker, in: ZfG 28/11 (1980), S. 1122-1123. Helmuth Stoecker, in: ZfG 33/11 (1985), S. 1027-1028. Ferner in selbstverfassten Lebensläufen und Berufungsakten. Vgl. SAPMO-BArch DR 3/B. 277 | Pätzold: Persecution and the Holocaust, 1995, S. 292.
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Deutschland stand, da er von 1892 bis 1894 an der Berliner Friedrich-Wilhelm Universität studiert hatte. W. E. B. Du Bois erhielt 1959 den Lenin-Preis und stand mit Forschungseinrichtungen der DDR in Kontakt.278 Schon 1947 schrieb er: »There was no Nazi atrocity – concentration camps, wholesale maiming and murder, defilement of women or ghastly blasphemy of childhood – which Christian civilization or Europe had not long been practicing against colored folk in all parts of the world in the name of and for the defense of a Superior Race born to rule the world.«279 Auch Aimé Césaire gehörte neben CLR James, George Padmore und Oliver Cox zu jenen Schwarzen Intellektuellen, die eine Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus postulierten.280 Er bemerkte bereits 1950 über den Holocaust: »It is not the humiliation of man as such, it is the crime against the white man, the humiliation of the white man, and the fact that he [Hitler] applied to Europe colonialist procedures which until then had been reserved exclusively for the Arabs of Algeria, the coolies of India, and the blacks of Africa«.281 Auch die marxistische SWAPO nahm das Narrativ vom Völkermord als sinnstiftenden Gründungsmythos an. Die damit eingeschriebene ideologische Kontinuität zwischen Kolonialismus, Nationalsozialismus und südafrikanischem Regime sollte als politisches Argument für die Anerkennung der Unabhängigkeitsbewegung dienen. Das wird etwa an Sam Nujomas Vorwort für die zweite Auflage von »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft« deutlich, in dem er sich die Vergangenheitsdeutung der DDR aneignete und zugleich mittels seiner politischen Autorität legitimierte. Er betont darin, dass »namibische Revolutionäre Zeit finden sollten, das Buch zu lesen«.282 Für ihn ist vor allem »die genaue Enthüllung der entsetzlichen Grausamkeiten, mit der General Lothar von Trotha seinen berüchtigten Vernichtungsfeldzug gegen die Herero und Nama durchführte«, ein wichtiger Grund, »warum das Buch weit verbreitet und sorgfältig gelesen werden sollte, besonders von Namibiern, in deren Gedächtnis die Folgen des Trothaschen Vernichtungsfeldzuges noch sehr lebendig sind«.283 Dabei sollte der koloniale Völkermord Bezugspunkt der eigenen Geschichte werden, da mit ihm »sehr gute Kenntnisse nicht nur über den Kampf des Volkes von Südwestafrika gegen den deutschen Kolonialismus, sondern auch über die Namibier von heute in der Feuerprobe eines nationa278 | Du Bois: Die Panafrikanische Bewegung, 1958/59. 279 | Du Bois: The Word on Africa, 1965, S. 23. Vgl. weiterführend Rothberg: Holocaust Memory and the Color Line, 2009. 280 | Vgl. Zimmerer: Nationalsozialismus postkolonial, 2009. 281 | Césaire: Discours sur le colonialisme, 1950, zitiert nach Zimmerman: Anthropology and Antihumanism, 2001, S. 246. 282 | Drechsler: Südwestafrika, 1985, S. 11. 283 | Ebd.
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len Befreiungskampfes gegen die illegale Okkupation unseres Landes durch Südafrika erworben werden«.284 In den Ausführungen Sam Nujomas wird zugleich deutlich, dass sich der koloniale Völkermord auch deshalb als Gründungsmythos anbot, weil mit ihm eine politisch brisante Kontinuität zum Apartheidregime Südafrikas postuliert werden konnte, die nach der Erfahrung des Nationalsozialismus ein internationales Eingreifen in den Konflikt geradezu erzwingen musste. Gemäß der marxistischen Faschismustheorie bestand eine zwingende ideologische Parallele zwischen Nationalsozialismus und Apartheidsystem, das sich mit dem südafrikanischen Regierungswechsel 1948 durchgesetzt hatte und seit 1950 durch die »faschistische Regierung Malan«285 repräsentiert wurde, wie es etwa in der Berliner Zeitung aus dem Jahr 1952 heißt. Auch Horst Drechsler stellt Daniel François Malans »faschistische Rassenpolitik der Apartheid«286 im Ausblick seiner Monografie in eine Entwicklungslinie von Kolonialismus und Nationalsozialismus. Damit folgte er den Richtlinien des Zentralkomitees der SED. Schließlich verstieß die Regierung Malans »gegen die elementarsten Menschenrechte« und betrieb »einen Rassismus wie einst unter Hitler«, wie in einem Bericht des Zentralkomitees der SED konstatiert wurde.287 Historisch begründet wurde diese Kontinuität in den Texten der DDR mit dem immer wieder angeführten Verweis auf den spezifisch deutschen Beitrag zum südafrikanischen Apartheidregime, denn Südwestafrika – respektive Namibia – wurde mit und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Sammelbecken für überzeugte Nationalsozialisten, die die politischen und ökonomischen Geschicke des Landes maßgeblich bestimmten.288 Bereits Maximilian Scheer hatte diese Situation im Jahr 1952 ausführlich beschrieben: »Doch eines ändert sich im Land: Die Südafrikanische Union erhält einen neuen Verbündeten. Es sind jetzt jene Kolonialdeutschen, die die Eingeborenen ins Unglück stürzten; die als Verächter der Neger schreiende Anhänger der Hitlerschen Rassentheorien wurden; die schon Nazis waren, bevor Hitler hochgespült wurde, und die es blieben, als er Deutschland in Trümmer gestürzt hatte.«289 Ähnlich urteilt Horst Drechsler: »Die Machtübernahme der Faschisten in Deutschland hatte binnen kurzem zur Folge, daß die Mehrzahl der deutschen Siedler in Südwestafrika zu Faschisten wurde.«290 Diese Vorwürfe waren nicht aus der Luft gegriffen. Tatsächlich hatte sich zwischen 1932 284 | Ebd., S. 12. 285 | Berliner Zeitung, 24.1.1952. 286 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 283. 287 | Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Internationale Beziehungen, Bericht über Namibia, in: DY 30/IV 2/20, Blatt 8. 288 | Vgl. Hagemann: Nationalsozialismus, 1991. 289 | Scheer: Schwarz und Weiß am Waterberg, 1955, S. 138 290 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 282.
III. Ein »unver fälschtes Afrikabild«
und 1934 ein südwestafrikanischer Ableger der NSDAP etabliert, den die Mandatsregierung jedoch 1934 aufgrund des großen Zulaufs verbieten ließ.291 Doch vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Südwestafrika, wie bereits erwähnt, Zufluchtsort für NationalsozialistInnen, die sich mit der rassistischen Apartheidpolitik Daniel François Malans identifizieren konnten und, so Horst Drechsler, »den Ausschlag dafür [gaben], daß Malan seine faschistische Rassenpolitik der Apartheid in der Südafrikanischen Union – und damit auch in Südwestafrika – einführen konnte«.292
III.4 Z wischenfa zit Die sozialistische Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia ist durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Normativ galt es, konsequent mit rassistischen und kolonialen Darstellungsformen zu brechen, was jedoch unter dem Einfluss des marxistisch-leninistischen Metanarrativs nicht eingelöst werden konnte. Dies erstaunt vor der umfassenden Problematisierung der Quellensituation und der kritischen Reflexion kolonialdiskursiver Sprache, die ihren Höhepunkt in Walter Markovs Forderung fanden, den ›Eurozentrismus‹ zu überwinden. Die narratologische Analyse kleinteiliger Erzählformen, welche die Logik der Erzählung unterhalb der normierten Oberfläche des marxistischleninistischen Geschichtsbildes prägen, zeigt jedoch deutlich, dass auch die Texte der DDR kolonialen Erzähllogiken und Kategorien verhaftet blieben und koloniales Wissen in weiten Teilen unwillkürlich reproduzierten. Koloniale Texte blieben in der DDR prägend, was die Bedeutung der Darstellungsebene und kulturell verankerter Erzählformen für die Vermittlung von historiografischem Wissen dokumentiert. Entlang der Leitlinie des sozialistischen Geschichts-, Gegenwarts- und Zukunftsmodells wurden zwar sozialistische Terminologien und Bewertungen eingeführt, grundlegend neue Narrative entstanden jedoch nicht. Es liegt die These nahe, dass die AutorInnen selbst nicht in der Lage waren, die Konventionen ihres Sprechens und Schreibens konsequent zu reflektieren. So entsteht der Eindruck, dass koloniale Erzählungen durch das marxistisch-leninistische Metanarrativ und die sozialistische Sprache lediglich überformt wurden. Letztlich blieb auch die sozialistische Geschichtsschreibung einer epistemischen Ordnung verhaftet, die die Weiße, männliche, europäische Geistes- und Kulturgeschichte und deren Meistererzählungen als unhinterfragte Normen setzt. Die Erzählvorlage des marxistisch-leninistischen Geschichtsbildes, die enge Einbindung in Denkkollektive sowie die 291 | Vgl. Eberhardt: Zwischen Nationalsozialismus und Apartheid, 2007. 292 | Drechsler: Südwestafrika, 1966, S. 283.
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umfassende Sprachnormierung trugen hierzu entscheidend bei, indem sie die Erzählmöglichkeiten einschränkten. Es zeigte sich, dass das narrative und begriffliche Instrumentarium der ›klassensolidarischen Geschichtsschreibung‹ europäischen Fragestellungen und Konzepten entlehnt war, die eine sozialistisch-eurozentrische Geschichtsschreibung nach sich zogen. Hinzu kam eine umfassende geschichtspolitische Instrumentalisierung der Geschichte des kolonialen Namibias, die ebenfalls dazu beitrug, eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den Quellen zu verhindern und grundlegend neue Narrative zu entwickeln. Dennoch bleibt zu konstatieren, dass die Erinnerung an die deutsche Kolonialgeschichte in der DDR problematisiert und die revisionistische Legendenbildung kritisiert wurde. Darüber hinaus wurden verdrängte oder systematisch fast vollständig vernichtete Quellen und das mit ihnen transportierte Wissen in der DDR »wiederentdeckt« und der Forschung zugänglich gemacht. Dies ermöglichte eine Neubewertung des Kolonialismus, die sich eng an den Quellen vollzog. Wie noch zu zeigen sein wird, produzierte die Geschichtswissenschaft der DDR dadurch auch international rezipierbare Ergebnisse. Dies betrifft vor allem die aufgezeigte Verbindung zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus und die These des kolonialen Völkermords. Obgleich beide Aspekte nicht von der vergangenheitspolitischen Interessenslage zu trennen sind, gelang es der DDR-Historiografie, die Frage nach der historischen Verortung des Nationalsozialismus zu adressieren und die geschichts- und gesellschaftspolitische Relevanz der Kolonialgeschichte hervorzuheben. Welche Bedeutung den provokanten Ergebnissen der DDR-Wissenschaft in der BRD zugesprochen wurde und inwiefern sie dort und international Kontroversen anregten, wird im Folgenden gezeigt.
IV. Kontroversen in der BRD
Wissen im Generationenkonflikt
In der Bundesrepublik vollzog sich die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit Namibias unter anderen Voraussetzungen, zeitversetzt und sehr viel heterogener als in der DDR. Im Gegensatz zur DDR wurden die Kontroversen um die Deutung der Geschichte des kolonialen Namibias nicht primär staatlich gelöst, sondern offen ausgetragen. Besonders in den 1960er Jahren existierten unterschiedliche Deutungsangebote parallel und in Konkurrenz zueinander, die auch den kolonialen Genozid auf unterschiedliche Weise thematisierten. Die Verhandlung, Zirkulation und Diffusion von akademischem Wissen stand dabei in vielfältigen Austauschprozessen zu anderen Wissensformen und Diskursen. Folglich kann die Produktion von akademischem Wissen auch in der BRD nicht hermetisch betrachtet werden. Nicht zuletzt führte die verzögerte akademische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte dazu, dass sich zunächst weiterhin männliche Autoren an der Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia beteiligten, die nationale, neokoloniale, apologetische und antimarxistische Positionen vertraten. Dabei konnten sie auf personelle Netzwerke zurückgreifen, die bereits in den 1950er Jahren für die akademische Anerkennung der autobiografischen Historiografie Oskar Hintragers und der wissenschaftlichen Arbeiten Diedrich Westermanns sorgten. Die dezidiert geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem kolonialen Namibia, die seit den 1960er Jahren einsetzte, war entscheidend durch die politischen Rahmenbedingungen aber auch durch individuelle Positionen gegenüber dem Apartheidregime und den Unabhängigkeitsbestrebungen Namibias beeinflusst. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Rolle dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Generationenkonflikt beziehungsweise -wechsel für die Auseinandersetzung mit kolonialem Wissen zukam und welche Bedeutung den Vergangenheitsentwürfen der DDR für die Historiografie der BRD beizumessen ist.
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IV.1 N eue M edien und E rz ählformen – »H eia S afari « Die breite öffentliche Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit wurde auch in der BRD nicht von der institutionalisierten Geschichtswissenschaft angestoßen. Während in der DDR Literaten eine kritische Darstellung initiierten, löste in der Bundesrepublik der zweiteilige Dokumentarfilm »Heia Safari – die Legende von der deutschen Kolonialidylle«, der am 5. und 10. Oktober 1966 in der ARD ausgestrahlt wurde, eine intensive Debatte über das koloniale Deutschland aus. Sie führte zur Produktion einer Diskussionssendung, die dann am 9. und 10. Februar 1967 gezeigt wurde.1 Der Dokumentarfilm verfolgte das Ziel, die »Legende von der deutschen Kolonialidylle« zu entkräften, wie der Autor Ralph Giordano einleitend erklärt. Unter »Legende« versteht er die einseitig positive Erinnerung an den deutschen Kolonialismus, die sich als Reaktion auf die in Versailles erhobenen Vorwürfe durchgesetzt hat. Vor allem anhand von Text- und Bildquellen die vor dem ersten Weltkrieg entstanden waren, versucht der Film »die Kluft zwischen geschichtlicher Vorstellung und geschichtlicher Wirklichkeit zu schließen«, und damit die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus zu korrigieren.2 Hierzu bietet die Sendung einen Überblick über die koloniale Expansion und Eroberungen seit dem 15. Jahrhundert, die militärische Eroberung des kolonialen Kameruns, Namibias und Tansanias im 19. Jahrhundert sowie die Niederschlagung anti-kolonialer Aufstände. Der zweite Teil des Films beschreibt die kolonialen Herrschaftsmethoden. Anschließend wird die »Entstehung der Legende und ihre Folgen bis heute«3 rekonstruiert, die in der Logik des Films in die neokoloniale Haltung der Bundesrepublik mündet. Abschließend wird ein Afrikabild entworfen, das durch eine positiv bewertete Emanzipation gekennzeichnet ist: Der Film schließt mit Bildern der Universität Dar es Salaam und einem Interview mit dem somalischen Schriftsteller William Syad, bevor er mit Musik und dem Slogan »Afrika ist mündig geworden« endet. Für Ralph Giordano ist die »Legende von der deutschen Kolonialidylle« zugleich »das letzte große Tabu unserer jüngeren Geschichte, das Hätschelkind ganzer Generationen, eine verschleppte nationale Krankheit«.4 Deutlich klingt hier an, dass Ralph Giordano die positive Erinnerung an den deutschen ›Kolonialismus‹ als generationelle Perspektive und »Generationenproblem«5 versteht. 1 | Der Dokumentarfilm wurde im Haus des Dokumentarfilms in Stuttgart gesichtet. Die Diskussionssendung wurde – ebenso wie die Akten zu beiden Sendungen – im Archiv des WDR in Köln eingesehen. 2 | Heia Safari – für und wider, 1967, 0:35. 3 | Giordano: Transkribiertes Schlußwort, in: HA WDR 12396, nicht paginiert. 4 | Ebd. 5 | Ebd.
IV. Kontroversen in der BRD
Bereits der Titel »Heia Safari« kann als provokante Chiffre für die Monopolisierung der Kolonialerinnerung durch die revisionistische Memoirenliteratur gelesen werden, deren Inhalte Ralph Giordano zu überschreiben sucht. Der Titel verweist zunächst auf eine im Liedgut verankerte Verklärung der deutschen Kolonialzeit und ihrer soldatischen Helden.6 Das populäre Lied »Heia Safari« entstand während des Ersten Weltkriegs im kolonialen Tansania. Mit ihm wurden die vermeintlichen Leistungen und Entbehrungen der ›Schutztruppe‹, der Mythos des »treuen Askari« 7 und die Errungenschaften des Kolonialismus besungen. Daran angelehnt erschien im Jahr 1920 unter dem Titel »Heia Safari! Deutschlands Kampf in Ostafrika« ein autobiografischer Roman des preußischen Generals Paul von Lettow-Vorbeck, den er »Der deutschen Jugend« widmete. Es handelte sich um die überarbeitete und gekürzte Fassung seiner »Erinnerungen aus Ostafrika«, die im selben Jahr erschienen waren. Paul von Lettow-Vorbeck verarbeitet darin seine Kriegserlebnisse im kolonialen Tansania während des Ersten Weltkriegs, rühmt den deutschen Kolonialismus und propagiert die Rückgewinnung der deutschen Kolonien mit dem Verweis auf die »koloniale Schuldlüge«. Paul von Lettow-Vorbeck wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einer der Heldenfiguren des Kolonialrevisionismus stilisiert. Diese Inszenierung überstand auch die politische Zäsur des Zweiten Weltkriegs unbeschadet und seine Bücher fanden weiterhin erheblichen Zuspruch. Sein Kinder- und Jugendbuch »Heia Safari« wurde bis ins Jahr 1952 mehrfach aufgelegt. Knapp 300.000 verkaufte Exemplare belegen, dass ihm für die kollektive, männlich-soldatisch geprägte Erinnerung an den Kolonialismus eine hohe Bedeutung beizumessen ist.8 Lettow-Vorbeck blieb in der Bundesrepublik bis weit in die 1960er Jahre eine zentrale soldatische Identifikationsfigur, die, so Sandra Maß, »angesichts seiner vermeintlichen Distanz zum Nationalsozialismus sogar zum Vorbild der Bundeswehr zu taugen schien«.9 Die jährliche Ehrenwache in der nach ihm benannten Hamburger Lettow-Vorbeck-Kaserne hielt die Erinnerung an ihn und den deutschen Kolonialismus als positives nationales und soldatisches Identifikationsmoment ebenso aufrecht wie die Rede des damaligen Verteidigungsministers Kai Uwe Hassels anlässlich seines Todes im Jahr 1964. Paul von Lettow-Vorbecks 1957 veröffentlichte Lebenserinnerungen und die ihm entgegengebrachte Verehrung waren für Ralph Giordano ein wesentlicher Anstoß für die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte.10 In 6 | Eine filmische Referenz stellt ferner Martin Riklis Dokumentarfilm »Heia Safari. Bericht über eine Ostafrika-Expedition« aus dem Jahr 1928 dar. 7 | Vgl. umfassend Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, 2009. 8 | Vgl. Schilling: Postcolonial Germany, 2014, S. 26. 9 | Maß: Weiße Helden, schwarze Krieger, 2006, S. 300. 10 | Vgl. Giordano: An den Brandherden, 1990.
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seinen Lebenserinnerungen widmet sich Paul von Lettow-Vorbeck auch dem Krieg gegen die Herero. Im kolonialen Namibia hatte er als Adjutant unter Lothar von Trotha an der Schlacht am Waterberg und deren militärischer Planung teilgenommen. Offen und im Sprachduktus des Kolonialrevisionismus beschreibt er Ende der 1950er Jahre die Kriegsführung der »Schutztruppe«. Die Herero seien »in Massen zugrunde gegangen, soweit sie nicht über die Grenze in die britische Kalahari flohen«.11 Selbst die Kriegsführung Lothar von Trothas, dem »wegen seines rücksichtslosen Durchgreifens von mancher Seite Vorwürfe gemacht« wurden, heißt er explizit gut: »Ich glaube, daß ein Aufstand solchen Umfangs erstmal mit allen Mitteln ausgebrannt werden muss. Der Schwarze würde in Weichheit nur Schwäche sehen.«12 Das »Generationenproblem«13, das vor allem in der Diskussion um die Sendung deutlich zutage trat, war bereits im Produktionsprozess angelegt. Die Produzenten der Sendung waren – ebenso wie die kolonialismuskritischen HistorikerInnen der DDR und BRD – in erster Linie Angehörige einer Generation, die zu jung für eine aktive Beteiligung am Nationalsozialismus waren und zugleich die Zäsur des Zweiten Weltkrieges bewusst miterlebt hatten. »Die zu dieser Alterskohorte zählenden Journalisten«, so Ekkehard Michels, »nahmen die durch die Umerziehungspolitik der westlichen Besatzungsmächte angebotenen Perspektiven bereitwillig an und wollten sich aktiv am Auf bau einer pluralistischen, auch kontrovers diskutierenden Gesellschaft beteiligen.«14 Der WDR bot ihnen die Möglichkeit sich kritisch mit der deutschen Geschichte zu befassen. Damit war auch ein erinnerungspolitisches und didaktisches Programm verbunden, das charakteristisch für das bundesdeutsche Fernsehen seit den späten 1950er Jahren war.15 Aber auch in den Printmedien war diese Generation zunehmend vertreten und rezipierte die Sendung ausgesprochen positiv. Walter Jens veröffentlichte etwa unter seinem Pseudonym »Momos« einen Beitrag in der Wochenzeitung Die Zeit, in dem er konstatiert: »Ein Mann namens Ralph Giordano, ein kluger und mutiger Mann, hat eine Legen-
11 | Lettow-Vorbeck: Mein Leben, 1957, S. 81. 12 | Ebd. 13 | Giordano: Schlusswort zur Diskussionssendung, 9.2.1967, in: HA WDR 12369, nicht paginiert. 14 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 470. 15 | »Im WDR stand für diese liberale, experimentierfreudige 45er Journalistengeneration der Chefredakteur des Sehfunks, Franz Wördemann, sowie der Leiter der Redaktion Politik und Zeitgeschichte, Dieter Gütt.« Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 471.
IV. Kontroversen in der BRD
de, das schöne Märchen von der deutschen Kolonialidylle in Afrika, zerstört – das verzieh man ihm nicht.«16 Wie bereits im Hinblick auf die junge Historikerschaft der DDR lässt sich auch bei Ralph Giordano vermuten, dass seine durch politische Verfolgung und Antisemitismus geprägte Biografie eine kritische Interpretation der deutschen (Kolonial-)Geschichte beförderte. Laut Ekkehard Michels ist »Heia Safari« die Dokumentarsendung der 1960er Jahre, »die wohl die stärksten Zuschauerproteste hervorrief«.17 Diese Proteste waren stark von der Generationszugehörigkeit abhängig. Jüngere ZuschauerInnen rezipierten die Sendung überwiegend positiv. Die ältere Generation fühlte sich hingegen von der kritischen Darstellung der deutschen Kolonialvergangenheit provoziert. Nach der Ausstrahlung des Films meldeten sich in erster Linie Zeitzeugen, die »als Soldat, Beamter, Siedler oder Kaufmann in den deutschen Kolonien gelebt«18 hatten, und deren Nachkommen mit mehreren hundert Zuschriften zu Wort.19 Sie beklagten die aus ihrer Sicht fehlerhafte Darstellung durch die »Neuzeithistoriker«, die »Geschichtskenntnis auf neue Art vermitteln«.20 Da Ralph Giordano in »Heia Safari« auf Interviews mit deutschen Zeitzeugen verzichtet hatte, fühlten sie sich nach der Ausstrahlung der Sendung offenbar berufen, ihr Wissen über den Kolonialismus in die Debatte einzubringen. Vor allem der »Traditionsverband ehemaliger Schutz- und Überseetruppen« (TSÜ) befasste sich in seinen Publikationen mehrfach mit »Heia Safari« und verstand sich dabei als Sprachrohr der »Gruppe lebender Menschen, die in ihrer Mehrzahl jene Zeitepoche aus eigener Anschauung kennen«.21 Verwiesen wurde besonders auf die Werke Hans Mayers, William Harbutt Dawsons22 und »vor allem auf die Bücher von Dr. Heinrich Schnee«.23 Dem TSÜ dienten sie als »wissenschaftliche Quellen, die im In- und Ausland 16 | Momos: Legenden müssen nicht sein, in: D ie Z eit, 17.2.1967. Zum Pseudonym Leonhardt: Tausendundkein Momos, in: D ie Z eit, 22.2.1985. 17 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 469; vgl. Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 178: Heia Safari hat »empörte Reaktionen unter den ARD-Zuschauern hervorgerufen«. 18 | Klaus von Bismarck im Nachtrag zu Heia Safari – für und wider, 1967, 1:53. 19 | Vgl. die Leserzuschriften in: HA WDR 470-474. 20 | Meyer: Heia Safari, 1966, S. 12. »Etwa drei Viertel der Zuschriften äußerten sich negativ über die Sendung, ein Viertel positiv. Zu ungefähr 90 Prozent kamen sie von männlichen Zuschauern.« Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 480. 21 | Meyer: Heia Safari, 1966, S. 16. 22 | William Harbutt Dawson hatte unter anderem die Werke Heinrich Schnees übersetzt und in England herausgegeben. Immer wieder trat er für die Rückgabe der deutschen Kolonien ein. Vgl. Dawson: Rückgabe der Kolonien an Deutschland, Berlin 1925. 23 | Meyer: Heia Safari, 1966, S. 13.
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seit langem anerkannt sind und nicht einfach als ›Legende‹ abgetan werden können.«24 In der Argumentation der TSÜ werden – in Anlehnung an diese »wissenschaftlichen Quellen« – die vermeintlichen Modernisierungsleistungen des Kolonialismus betont, koloniale Gewalt mit Verweis auf ihre historische Rechtmäßigkeit und die Verbrechen anderer Kolonialmächte relativiert und die vermeintliche Loyalität der ›Askari‹ im Ersten Weltkrieg als Beweis ›guter‹ Kolonialherrschaft angeführt. Zudem stieß die Sendung auch auf politische Widerstände. Der 1906 geborene CDU-Politiker Eugen Gerstenmaier, der zu diesem Zeitpunkt das Amt des Bundestagspräsidenten und den Vorsitz der Deutschen Afrika-Gesellschaft innehielt, und der 1915 geborene CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß versuchten die Ausstrahlung des zweiten Teils zu verhindern, indem sie dem WDRIntendanten Klaus von Bismarck telefonisch ihre Ablehnung kundtaten.25 An den Auseinandersetzungen, die »Heia Safari« begleiteten, wird deutlich, welche politische Brisanz die kritische Auseinandersetzung mit der Erinnerung an den deutschen Kolonialismus hatte und in welchem erinnerungspolitischen und gesellschaftlichen Klima Historiker in den 1960er Jahren zur deutschen Kolonialgeschichte arbeiteten. Diese Historiker und ihr gesellschaftspolitischer Auftrag wurden in »Heia Safari« direkt adressiert. Ralph Giordano, der Autor der Sendung, verstand »Heia Safari« als Aufforderung an die westdeutsche Geschichtswissenschaft, die längst überfällige Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte einzuleiten. In seinem Schlusswort führt er hierzu aus: »Das Fernsehen kann nicht das Medium sein, das Fachgelehrten die Arbeit abnimmt. Aber es kann die Geschichtswissenschaft aufrufen, endlich Licht in eine erst teilweise durchleuchtete Geschichtsepoche zu bringen.«26 Nach Ekkehard Michels eilte Ralph Giordano mit seinem Dokumentarfilm »der westdeutschen Historiographie zum Kolonialismus um einige Jahre voraus, denn es war die junge Historikergeneration wie etwa der 1938 geborene Pogge von Strandmann und der 1935 geborene Helmut Bley, die gerade erst begonnen hatten, sich auf Basis der Primärquellen dieses Themas anzunehmen. Allerdings lag 1966 noch keine der Studien vor.«27 Die Sendung lässt sich jedoch keinesfalls von der akademischen Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte trennen, denn Hartmut Pogge von Strandmann und andere Historiker waren an »Heia Safari« als wissenschaftliche Berater und Diskutanten beteiligt und popularisierten über die Sendung erste Ergebnisse ihrer Forschung. Im Selbstverständnis Ralph Giordanos füllte die Sendung – 24 | Ebd., S. 12f. 25 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 480. 26 | Giordano: Schlusswort zur Diskussionssendung, 9.2.1967, in: HA WDR 12369, nicht paginiert. 27 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 474f.
IV. Kontroversen in der BRD
unter bewusster Ausblendung der DDR-Historiografie – eine Wissenslücke, da »auch die Historiker noch kein abschließendes Urteil über Erfolg und Versagen der deutschen Kolonisation in Afrika gefunden haben«.28 Dabei wurde »Heia Safari« auch von der ostdeutschen Forschung über den deutschen Kolonialismus inspiriert. Formal setzte bereits die bewilligte Drehgenehmigung im Potsdamer Archiv die Auseinandersetzung mit den sozialistischen Forschungsergebnissen voraus.29 Doch vor allem die Interpretation und Darstellung des kolonialen Genozids zeugt deutlich von einem Wissenstransfer zwischen DDR und BRD. Indem Ralph Giordano die DDR-Forschung systematisch ausblendet, erweckt die Sendung zugleich den Eindruck, dass es sich um die erste kritische Auseinandersetzung mit der Thematik handelt. Damit greift Ralph Giordano auch jenen Kritikern vor, die sich in ihrer Ablehnung der Sendung auf deren »kommunistische Beeinflussung«30 berufen. Nicht nur inhaltlich, sondern auch im Hinblick auf die Biografie des Autors, der nach dem Zweiten Weltkrieg Mitglied der KPD wurde und erst 1961 mit »Die Partei hat immer Recht«31 öffentlichkeitswirksam mit seiner kommunistischen Vita brach, war die Sendung angreif bar. »Ralph Giordano«, so kritisiert etwa Heinrich Meyer in einer Stellungnahme des TSÜ, folgt »haargenau der Linie, die östliche Schriftsteller eingeschlagen haben.«32 Ganz konkret kritisiert er hinsichtlich der Darstellung des kolonialen Namibias und des Genozids, dass sich Ralph Giordano »eng an den Ausführungen von Maximilian Scheer in ›Schwarz und Weiß am Waterberg‹ (Petermänken-Verlag, Schwerin) anschließt«.33 Die Kritik des TSÜ macht zugleich deutlich, wie verbreitet das in der DDR generierte Wissen über das koloniale Namibia in der BRD war. Obwohl »Heia Safari« als »kalkulierte Provokation«34 konzipiert wurde, verfolgte die Sendung mindestens populärwissenschaftlichen Anspruch. Schließlich war es Ralph Giordanos Ziel »die Kluft zwischen geschichtlicher Vorstellung und geschichtlicher Wirklichkeit zu schließen«.35 Dieser Anspruch schlug sich konzeptionell in seinen Bemühungen um eine ausgewiesen wissenschaftliche Expertise nieder. Giordano versuchte zunächst Fritz Fischer als historischen Berater für die Sendung zu gewinnen, der zu diesem Zeitpunkt nicht nur ein ausgewiesener Experte für Überseegeschichte war, 28 | Giordano: Schlusswort zur Diskussionssendung, 9.2.1967, in: HA WDR 12369, nicht paginiert. 29 | Anruf von Herrn Giordano, ohne Datierung, in: HA WDR 11746, nicht paginiert. 30 | Meyer: Heia Safari, 1966, S. 13. 31 | Vgl. Giordano: Die Partei hat immer recht, 1961. 32 | Meyer: Heia Safari, 1966, S. 13. 33 | Ebd. 34 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 489. 35 | Heia Safari – für und wider, 1967, 0:35.
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sondern aufgrund der sogenannten Fischer-Kontroverse auch Erfahrung im Umgang mit öffentlich ausgetragenen wissenschaftlichen Debatten über die Geschichte des Kaiserreichs aufweisen konnte.36 Für einen durchaus kalkulierten geschichtspolitischen Eklat schien er die ideale wissenschaftliche Besetzung. Fritz Fischer lehnte Ralph Giordanos Anfrage jedoch ab und verwies auf seinen Doktoranden, Hartmut Pogge von Strandmann, der zu diesem Zeitpunkt in Oxford an seiner Dissertation über die deutsche Kolonialpolitik arbeitete und auch mit den Aktenbeständen in Potsdam durch Archivaufenthalte vertraut war.37 Zwischen Hartmut Pogge von Strandmann und Ralph Giordano entwickelte sich eine intensive Zusammenarbeit. Pogge von Strandmann tauschte sich während der Produktion aber auch mit Fritz Fischer aus und diskutierte mit ihm den Spagat zwischen wissenschaftlicher und populärer Darstellung. »Die wissenschaftliche Beratung der Sendung«, so Hartmut Pogge von Strandmann nach seinem ersten Treffen mit Ralph Giordano im Februar 1966 an Fritz Fischer, »wird wohl noch einige Schwierigkeiten bringen, da es wohl nicht ganz leicht sein wird, den historischen Standpunkt mit dem eines Fernsehautors in Einklang zu bringen.«38 Der wissenschaftliche Anspruch der Sendung schlägt sich sowohl auf inhaltlicher als auch inszenatorischer Ebene nieder. Im Film kommen Schwarze Historiker zu Wort, womit der Eindruck entsteht, dass vornehmlich Afrikaner mit der kritischen Aufarbeitung des Kolonialismus befasst seien. Vor allem Adalbert Owuna, ein junger Historiker aus Kamerun, der zur Drehzeit über die Kolonialgeschichte Kameruns forschte, wird prominent als Experte inszeniert.39 Hartmut Pogge von Strandmann wird in der Dokumentation lediglich im Abspann genannt, er tritt nicht als Weißer Experte auf und ist erst in der anschließenden Diskussionssendung im Februar als Historiker vertreten. Während die Produktion des Films Weißen, europäischen Männern oblag, bricht Ralph Giordano hier zumindest in der Filmlogik mit den Konventionen kolonialer beziehungsweise europäischer Wissensproduktion. Inhaltlich zeugen der Rückgriff auf koloniale Quellen und die verschiedenen Verfahren der Authentizitätsgenerierung vom wissenschaftlichen Anspruch der Sendung. Erst nach dem Ersten Weltkrieg, so die Argumentation, sei systematisch versucht worden, den deutschen Kolonialismus als Fortschritts- und Zivilisierungsmission zu verklären, um so auch das vermeintliche Recht auf die Rückgewinnung der ehemaligen deutschen Kolonien zu begründen. Belegt wird dies mit Verweis auf den Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik und 36 | Vgl. Jarausch, Der nationale Tabubruch, 2003, S. 20-40. 37 | Vgl. Strandmann: The Kolonialrat, 1970; Strandmann/Smith: The German Empire in Africa and British Perspectives, 1967. 38 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 474. 39 | Owona: La naissance du Cameroun, 1973.
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dessen »uferlose völlig unkritische Rechtfertigungsliteratur, die die Vorstellung bis heute bestimmt hat«.40 In der Argumentation der Sendung wird als zentrales Argument gegen die »Koloniallegende« angeführt, dass die Kenntnis der brutalen Herrschaftsmethoden zum kanonischen Wissen über die deutschen Kolonien vor dem Ersten Weltkrieg gehörte. Dies wird anhand der umfassend herangezogenen Quellen belegt. Den kolonialen Texten und Bildern, die vor 1919 entstanden sind, wird eine besondere Authentizität zugesprochen. In der Folge werden zeitgenössische Fotografien, Literatur und Akten zum Teil mit Bandnummern und Seitenzahlen angeführt.41 Die Sendung wird so als intersubjektiv nachprüf bar inszeniert und erinnert stellenweise aufgrund der bemühten Authentizitätsverfahren an eine »filmische Dokumentation mit Fußnotenapparat«.42 Damit ist sie durchaus an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlichem und populärem Erzählen angesiedelt. Gleichzeitig läuft »Heia Safari« Gefahr, mit den Quellen und der Verwendung der Quellensprache genau die Perspektive und Interpretation zu reproduzieren, die der Film zu dekonstruieren sucht. Dies wird besonders bei der Inszenierung des kolonialen Namibias und der Erzählung des kolonialen Genozids deutlich. In der Sendung wird die Kriegsführung gegen die Herero in Anlehnung an die Texte der DDR als »der erste Völkermord unseres Jahrhunderts« bezeichnet und die Zahl der ermordeten Herero auf 80.000 Menschen beziffert.43 Belegt wird die These des Völkermords mit einem Narrativ, das die Kriegsführung Lothar von Trothas als unverhältnismäßige Reaktion auf den Aufstand der Herero in den Mittelpunkt stellt und die Ermordung der Herero als »Ausrottungsstrategie« charakterisiert. Gemäß dem Konzept der Sendung bleibt die Darstellung narrativ und visuell eng an den Quellen orientiert, die für die Authentizität der Darstellung bürgen und zugleich die »Legendenbildung« belegen sollen. Der »Aufstand« der Herero, der »den dreijährigen kolonialen Grosskrieg«44 einläutet, dient auch in »Heia Safari« als Exposition für die Narrativierung des kolonialen Genozids. Einleitend wird die bisherige Erzählung des »Aufstands« als Teil der »Legende« präsentiert, denn es gelte »heute noch die Argumentation dieses Originalsprechers: ›Im Jahr 1904 entfachte der Herero Samuel Maharero den großen Herero-Aufstand. Im tiefsten Frieden wurden Farmer, Händler und Soldaten hinterrücks ermordet. General von Trotha rächte die feige Tat und schlug die Herero vernichtend in der gro40 | Heia Safari – für und wider, 1967, 0:50. 41 | Diese Verfahren gelingen jedoch nur bedingt, denn der Mangel an Originalaufnahmen führte dazu, dass die Bildauswahl »zum Teil fehlerhaft oder bewusst irreführend« ausfiel. Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 479. 42 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 479. 43 | Hier und im Folgenden: Transkript der Sendung in WDR: 11746, nicht paginiert. 44 | Ebd.
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ßen Schlacht am Waterberg.‹«45 In durchaus kritischer Absicht wird versucht, dieses Narrativ, das der Rechtfertigung des Krieges gedient hatte, als zeitgenössische, politisierte Wertung der Ereignisse zu kennzeichnen. Problematisch ist hierbei nicht nur das zeitgenössische Zitat, das im Kontext der Sendung nicht zweifelsfrei als historische Aussage verstanden werden kann, sondern auch dessen Bebilderung. Die Zuschauer sehen parallel zum Text einen nicht näher gekennzeichneten Friedhof. Die Materialität der Gräber bezeugt in der Textlogik die Ermordung der Weißen und reproduziert damit ein prominentes Argument für den Krieg gegen die Herero. Die Passage über den kolonialen Genozid wird mit einem Portrait Lothar von Trothas und folgendem Text des Kommentators eingeleitet: »Aber dann entsendet das Reich den Mann, dessen Namen mit dem ersten Völkermord unseres Jahrhunderts verbunden bleiben wird, den Anhänger der physischen Rassenvernichtung, Besieger der Wahehe und Teilnehmer gegen Chinas Boxeraufstand: General von Trotha!«46 Damit wird Lothar von Trotha zugleich zum Hauptverantwortlichen für den kolonialen Völkermord. Der Genozid an den Herero wird nicht szenisch, sondern über eine Quellenkollage inszeniert. Visuell wird der gesprochene Text zudem durch die Quellenbände, eine Aufnahme des Reiterstandbildes und Landschaftsaufnahmen flankiert. Die ZuschauerInnen erfahren vom »blutigen Gefecht am Waterberg vom 11. August 1904« und General von Trothas »Erlass an die Herero«, der wörtlich zitiert wird. Die Interpretation dieser Quelle gibt wiederum der Sprecher vor: »Das Ziel aller militärischer Maßnahmen von Trothas ist die Vernichtung der Hereros.«47 Die drastischen Folgen werden in Anlehnung an Passagen des Generalstabsberichts über Augenzeugenberichte erzählt und durch die Einblendung des Generalstabsberichts als authentisch ausgewiesen. Bezüge zum nationalsozialistischen Genozid werden nicht direkt thematisiert. Lediglich die Sprache der kolonialen Quellen verweist semantisch auf die Sprache und Ideologie des Nationalsozialismus – etwa mit den Begriffen der »Ausrottung« und »Vernichtung«. Eine Kontinuität wird jedoch durch die Rahmenerzählung vorgegeben. An Paul von Lettow-Vorbeck werden personelle und ideologische Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus als sinnstiftender Erzählrahmen gesetzt, die den kolonialen Genozid zugleich deutlich in der ›Vergangenheitsbewältigung‹ der Bundesrepublik verorten. Kontinuitäten werden aber vor allem durch die Charakterisierung der Ereignisse als »der erste Völkermord unseres Jahrhunderts« betont. Hierdurch wird der koloniale Genozid mit dem nationalsozialistischen Genozid verknüpft. Diese Verbindung bot für Teile des Fernsehpublikums, auch jene, die 45 | Ebd. 46 | Ebd. 47 | Ebd.
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nicht »notwendigerweise pro-kolonial eingestellt oder direkt in die Kolonialpolitik involviert gewesen waren«, Anlass zur Kritik.48 In Anbetracht der kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus in Politik, Fernsehen und Literatur wollten sich »viele Fernsehzuschauer nicht um noch eine Illusion hinsichtlich der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert beraubt sehen«.49 Der Zuschauer Bruno Blessin moniert etwa, dass Ralph Giordano das Thema der deutschen Kolonialgeschichte »über das heute kaum noch gesprochen wird, höchstens noch von der älteren Generation« populistisch missbrauche, um an »das heute so beliebte Thema NS-Verbrecher« anzuschließen.50 Dr. Georg Winkelmann argumentiert ähnlich, wenn er an Ralph Giordano schreibt: »Wir sind uns alle der traurigen Schuld unserer letzten Geschichte des Naziregimes bewusst, doch sich immer wieder in trostloser Weise an den Pranger zu stellen […] erscheint nicht nur sinnlos, sondern auch unwürdig.«51 [Hervorhebung im Original] Auch der »Familienverband derer von Trotha« wandte sich mit der Bitte an den WDR-Intendanten Klaus von Bismarck, »daß die Ergänzungssendung von den beiden nicht mehr unter uns weilenden Generälen von Lettow-Vorbeck und von Trotha jeglichen Makel nimmt«52 . Dies hing auch damit zusammen, dass die im Film geübte Kritik an Lothar von Trotha enormen Widerhall fand. So wurde im Münchner Stadtrat ein Antrag zur Umbenennung der »Von Trotha-Straße« gestellt, über den die Süddeutsche Zeitung berichtete.53 Als Reaktion auf die Zuschriften wurde am 19. Dezember 1966 die Diskussionsrunde »Heia Safari – Für und Wider« in Köln aufgenommen und am 9. und 10. Februar 1967 ausgestrahlt. Die knapp zweistündige Sendung war in Podiumsdiskussion und offenes Publikumsgespräch unterteilt. Die Programmleitung des WDR hatte »aus der Gruppe der Kritiker die 60 qualifiziertesten Briefschreiber eingeladen«54, an der Diskussion teilzunehmen. Letztlich bestand das Publikum aus 28 überwiegend älteren Männern und zwei Frauen. Dem Publikum stand eine Expertenrunde gegenüber. Der Leiter der Redaktion für Politik und Zeitgeschichte, Dieter Gütt, der Autor Ralph Giordano und Hartmut Pogge von Strandmann repräsentierten die Produzenten der Sendung. Wolf von Loeben vertrat die Deutsche Afrika-Gesellschaft, Martin Krämer den Deutschen Afrikaverein in Hamburg und Herbert Abel das Über48 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 481f. 49 | Ebd. 50 | Zuschrift von Bruno Blessin, Oktober 1966, in: HA WDR 00469, nicht paginiert. 51 | Zuschrift von Georg Winckelmann, Oktober 1966, in: WDR 00473, nicht paginiert. 52 | Schriftwechsel zwischen dem Familienverband und Klaus von Bismarck vom 29.11.1966, in: HA WDR 00473, nicht paginiert. 53 | »Von-Trotha-Straße soll verschwinden«, in: Süddeutsche Zeitung, 25.10.1966. 54 | Heia Safari – für und wider, 1967, 1:54.
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seemuseum in Bremen. Die Moderation oblag dem 1927 geborenen Historiker und Politikwissenschaftler Franz Ansprenger, der von Klaus von Bismarck im Nachwort zur Sendung »als völlig unabhängiger Fachmann und Gesprächsleiter«55 präsentiert wurde. Im Vorfeld hatte der WDR die Zusammenstellung des Podiums diskutiert. Zur Debatte standen: Ernst Dammann und Egmont Zechlin, den Pogge von Strandmann als »hitzig und national eingestellt« charakterisierte56, aber auch Karl Diedrich Erdmann, die »Primaballerina der deutschen Historikerzunft«, Heinz Gollwitzer, Henri Brunschwig und Rudolf von Albertini, der als »jung« und »kritisch« galt.57 Ferner hatte man an den 1913 geborenen Walter Görlitz gedacht, der zu diesem Zeitpunkt die Leitung des Ressorts für Kulturpolitik in der Hamburger Redaktion der Zeitung »Die Welt« inne hatte und an einem Buch über den Generalstab arbeitete.58 Noch im Juli 1966 hatte sich Ralph Giordano für folgendes »Quintett« ausgesprochen: »Professor Albertini als Diskussionsleiter – Zechlin und Ansprenger als ›Gegenpartei‹ – Pogge und ich als ›Partei‹.«59 Zechlin sagte dann aber mit der Begründung ab: »An sich und grundsätzlich würde ich gern an der von ihnen vorgeschlagenen Sendung ›Heia Safari‹ teilnehmen. Aber nach reiflicher Überlegung erscheint mir das Thema doch etwas zu kompliziert, und ich möchte im Augenblick doch lieber die Finger davon lassen.«60 Das Thema erwies sich in der Diskussionssendung tatsächlich als kompliziert. Den miteinander streitenden Parteien gelang es kaum, einen konstruktiven Dialog zu führen. Das Publikum blieb der ›Koloniallegende‹ verhaftet, wies die Kritik am deutschen Kolonialismus mit den besonderen zivilisatorischen und kulturellen Fortschrittsleistungen zurück und belegte damit zugleich die These der Sendung. Aufschlussreich für die Verhandlung des kolonialen Genozids ist die Sendung vor allem deshalb, weil unwillkürlich immer wieder ein Konnex zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Herrschaftsmethoden entstand. Vor allem Dieter Gütt betont diesen Zusammenhang immer wieder. Auf die Wortmeldung eines Publikumsgastes, der die Prügelstrafe beschreibt und darauf verweist, dass »ein Europäer niemals selber geprügelt« habe, antwortet Gütt: »Das ist wie der Kapo im KZ!«61. Be55 | Ebd. 56 | Ralph Giordano an Dieter Gütt, 3.7.1966, in: HA WDR 11746, nicht paginiert. 57 | Ebd. 58 | Walter Görlitz veröffentlichte zahlreiche populärwissenschaftliche, militärhistorische Überblickswerke und konnte in den 1950er Jahren mit der Bearbeitung militärhistorischer Themen eine Nische in einem diskreditierten Themenfeld besetzten. Vgl. Epkenhans: Walter Görlitz und Walther Hubatsch, 2010. 59 | Ralph Giordano an Dieter Gütt, 3.7.1966, in: HA WDR 11746, nicht paginiert. 60 | Egmont Zechlin an Dieter Gütt, 3.8.1966, in: HA WDR 11747, nicht paginiert. 61 | Heia Safari – für und wider, 1967, 1:05:00.
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merkenswert ist auch, dass die Zahl der ermordeten Herero eine zentrale Stelle in der Diskussion einnimmt. Auch wenn der Begriff des Völkermords nicht fällt, sondern der kolonial und nationalsozialistisch konnotierte Begriff der »Vernichtung« verwendet wird, findet die Diskussion ganz deutlich vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Genozids statt. Das zeigt die Diskussion um die Opferzahlen. So wird in Frage gestellt, ob »tatsächlich 100.000 Herero vor 1904 in Deutsch-Südwestafrika« gelebt hätten. Ein »Augenzeuge« aus dem Publikum argumentiert, dass von einer »Vernichtung der Herero«62 nicht gesprochen werden könne, da bereits vor dem Krieg lediglich 40.000 Herero in der Kolonie gelebt hätten und folglich lediglich 20.000 Herero umgekommen sein könnten. Ähnlich argumentiert Wolf von Loeben: »Tatsache ist, das Hererovolk ist in keiner Weise ausgerottet worden. Es gibt keine so intakte Eingeborenengruppe in Südwestafrika heute wie die Hereros.«63 Weiter führt er aus, »die Zahl der damals zurückgekehrten Hereros ist genau dieselbe bis zum heutigen Tage geblieben.« Durchaus brisant sind seine Ausführungen zur politischen Situation der Herero in den 1960er Jahren. »Es ist ihnen gelungen«, so Wolf von Loeben, »sich bei der UNO Gehör zu verschaffen, es ist nicht zu übersehen, dass sie sehr wohlhabend sind.« Während Franz Ansprenger nur anmerkt, »über die Zahlen wollen wir uns nicht unterhalten«, greift vor allem Dieter Gütt vehement in die Debatte ein und zieht Parallelen zur Leugnung und Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermords an den europäischen Juden: »Ich meine doch, dass die Zahlen wichtig sind. Es entsteht jetzt der Streit, sind 60 oder 70 oder 40.000 Hereros umgekommen, nicht wahr? Und das kann doch bei Gott nicht die Frage sein. Das erinnert einen ja geradezu, nicht wahr, an die unverantwortliche Frage, sind 6 Millionen Juden umgekommen oder sind es nur 4,5 Millionen Juden gewesen. Was ändert das an diesem grauenhaften und historisch unvorstellbaren Vorgang, der praktischen Vernichtung eines ganzen Volkes?« 64
In dieser Debatte klingt bereits die Frage der Vergleichbarkeit der beiden Ereignisse und die damit verbundene Diskussion um die Singularität des Holocaust an, die vor allem in den 1980er Jahren die historiografische Auseinandersetzung mit dem kolonialen Namibia entscheidend prägen sollte. Ende der 1960er Jahre schuf die Sendung »Heia Safari« in der Bundesrepublik zunächst einen ersten Resonanzboden für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Thematik und wurde auch in Fachkreisen genau verfolgt. Helmut Bley, der fast zeitgleich einen Vortrag zur Geschichte des 62 | Heia Safari – für und wider, 1967, 1:35. 63 | Hier und im Folgenden: Heia Safari – für und wider, 1967, 44:30-50:00. 64 | Ebd.
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kolonialen Namibias in Oxford hielt und dessen Doktorarbeit zu diesem Zeitpunkt bereits unveröffentlicht vorlag, nahm in einem Leserbrief des Sonntagsblatts ebenfalls zu »Heia Safari« und der darin aufgestellten Kontinuitätsthese Stellung. »Per Telefon gehen Morddrohungen an den Mann [Ralph Giordano, C.B.]«, so Helmut Bley im Oktober 1966, »der sich, in konsequenter Reihenfolge, des ›Faschismus‹, ›Stalinismus‹ und nun des Kolonialismus annahm.«65 Für Helmut Bley stellte der Film auch retrospektiv eine Zäsur für seine eigene Forschungsarbeit dar, wie er 1983 in einem Beitrag zur »unerledigten deutschen Kolonialgeschichte« ausführt.66 Wie bereits Maximilian Scheers Roman in der DDR fungierte die Sendung in der BRD stellenweise als Substitut für die zu diesem Zeitpunkt fehlende wissenschaftliche Auseinandersetzung. Hartmut Pogge von Strandmann erkundigt sich etwa im Januar 1967 »ob es irgendeine Möglichkeit gibt, den Film für eine Vorführung im Kreise von Oxforder Historikern zu bekommen. Es gibt hier ja eine Reihe von Historikern, die sich mit Kolonialfragen beschäftigen und die auch ein besonderes Interesse für den deutschen Kolonialismus haben.«67 Darüber hinaus fand der Film auch Eingang in die akademische Auseinandersetzung. So kritisiert der Historiker Ernst Gerhard Jacob etwa im Kontext einer Rezension, dass der Autor auch »Heia Safari« in seine Überlegungen hätte miteinbeziehen sollen.68 Anhand einer Rezension Hans-Ulrich Wehlers zu Helmut Bleys Monografie in der Wochenzeitung Die Zeit wird deutlich, dass »Heia Safari« für kritische wissenschaftliche Arbeiten als Deutungsrahmen fungierte. »Noch im vergangenen Jahr«, so führt Hans-Ulrich Wehler einleitend aus, »hat die Diskussion nach einer Fernsehsendung über die deutschen Kolonien vor 1918 gezeigt, welche Assoziationen hierzulande dadurch hochgespült werden: die Vorstellung vom patriarchalisch strengen, aber gerechten deutschen Regiment über ergebene Eingeborene, von den treuen Askari, vom sauberen Farmhaus und deutscher Kulturmission, in Urwald und Steppe – sie geistern noch immer herum.«69 Die Bedeutung von »Heia Safari« muss vor dem Hintergrund eingeschätzt werden, dass das damalige Leitmedium Fernsehen »in der breiten Bevölkerung die Themen vorgab, über die man sprach«.70 Im Hinblick auf die Geschichtsvermittlung wurden »die älteren literarischen Erzählformen als Leitmedien von 65 | Zuschrift von Helmut Bley, im: Sonntagsblatt, 16.10.1966. 66 | Bley: Unerledigte Kolonialgeschichte, 1983, S. 15. 67 | Brief von Hartmut Pogge von Strandmann an Dr. Helmut Drück, 28.1.1967, in: WDR 00 473. 68 | Vgl. Jacob: Rezension zu: Trappe, 1972, S. 418. 69 | Wehler: Wider die deutsche Koloniallegende, in D ie Z eit, 25.10.1968, S. 56. 70 | Michels: Geschichtspolitik im Fernsehen, 2008, S. 468. Er führt hierzu weiter aus: »1960 besaßen 25 Prozent der Haushalte einen Fernseher, 1966 bereits 60 Prozent;
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Geschichtsbildern« zunehmend abgelöst. Die Analyse von Fernsehsendungen ist daher nach Lutz Raphael »unbedingt notwendig, wenn man ein realistisches Bild breitenwirksamer Geschichtsbilder gewinnen möchte«.71 Doch anstatt einseitig den Bedeutungsverlust zu beklagen, den das traditionelle Medium der Geschichtswissenschaft – das Buch – erfuhr, wird gerade an »Heia Safari« deutlich, dass sich besonders die junge Historikergeneration in den 1960er Jahren aufgeschlossen gegenüber den Möglichkeiten des Mediums zeigte und »Heia Safari« als Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem kolonialen Namibia gelesen werden kann. Dies gilt besonders für die Diskussionssendung im Februar 1967, die zu einer regelrechten Bühne akademischer Debatten wurde.
IV.2 K olonialgeschichte als kritische S ozialgeschichte »Endlich ein westdeutscher Beitrag zur deutschen Kolonialgeschichte!« Als zwei Jahre nach der Ausstrahlung von »Heia Safari«, im Jahr 1968, Helmut Bleys »Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika. 1894-1914« veröffentlicht wurde, löste der Autor damit aus zeitgenössischer Sicht die von Ralph Giordano angekündigte kritische Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte durch die westdeutsche Geschichtsschreibung ein. Die Monografie galt den Rezensenten als Zäsur. »Endlich«, so etwa Franz Ansprenger, »meldet sich ein westdeutscher Historiker in der wissenschaftlichen Debatte über die Revision der deutschen Kolonialgeschichte zu Wort.« 72 Und auch der Schweizer Historiker Rudolf von Albertini leitet seine Rezension mit den geradezu erleichterten Worten ein: »Endlich ein westdeutscher Beitrag zur deutschen Kolonialgeschichte!« 73 Diese Erleichterung spiegelt die Vorstellung, dass die bundesdeutsche Kolonialhistoriografie seit 1968 dabei war, »den Vorsprung, den die mitteldeutsche in dieser Hinsicht innehat, aufzuholen«, wie der Historiker Winfried Baumgart feststellte.74 Darüber hinaus galt »Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika« als Beleg für das Wiederanknüpfen an die internationale Forschung, denn, so Rudolf von Albertini abschließend in seiner Rezension, »mit ihr [der Studie] hat die westdeutsche Forschung den Anschluß an die internationale Forschung hergestellt zudem erfreute sich das neuartige Fernsehen einer allgemein höheren Glaubwürdigkeit als andere Medien.« 71 | Raphael: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme, 2003, S. 63. 72 | Ansprenger: Rezension zu: Bley, 1969, S. 209. 73 | Albertini: Rezension zu: Bley, 1969, S. 449. 74 | Baumgart: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1971, S. 469.
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– hoffen wir, daß der Vf. der Afrikageschichte treu bleiben kann und unter jüngeren Historikern Gefolgschaft finden wird!« 75 Hier klingt auch an, dass der Generationenwechsel, der sich in den 1960er Jahren vollzogen und den »Anschluß an die internationale Forschung« forciert hatte, ebenfalls mit Erleichterung wahrgenommen wurde. Ermöglicht wurde er nicht zuletzt durch den sukzessiven Einflussverlust und das Ableben der Kolonialeliten in den 1950er und 1960er Jahren. Ihre Deutungshoheit und Expertise wurde auch deshalb infrage gestellt, weil die fehlende geschichtswissenschaftliche Kolonialhistoriografie seit Anfang der 1960er Jahre zunehmend als Problem galt. »Unsere ›Experten‹«, kritisiert etwa Egmont Zechlin in einem seiner Seminare, »sind in der Mehrzahl Dilettanten […].« »Immer wieder«, so Zechlin weiter, »betonen sie das Andenken, das die Eingeborenen an das ›glanzvolle Zeitalter europäischer Kolonisation‹ bewahrt haben.« 76 Die Ablösung der »Dilettanten« und die dezidiert wissenschaftliche Beschäftigung mit Afrika setzte in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren ein und führte dazu, dass die deutsche Kolonialgeschichte eine wissenschaftliche Konjunktur erlebte, die vor allem durch junge, männliche Historiker getragen wurde.77 Für Franz Ansprenger belegte vor allem Helmut Bleys Studie den Bruch mit einer revisionistischen und kolonialapologetischen Historiografie, die durch eine »younger generation of West German historians« vorangetrieben wurde.78 Während in der DDR die Forschung zur Kolonialgeschichte zentralisiert und mit einem dezidiert antikolonialen Programm versehen wurde, fehlten vergleichbare Vorgaben und Institutionalisierungsbemühungen in der BRD. Dort wurde die deutsche Kolonialgeschichte an verschiedenen Lehrstühlen erforscht und geschrieben. Doch auch ohne übergreifendes Forschungsprogramm entwickelte sich in den 1960er und 1970er Jahren ein bestimmter »Denkstil«. Ferner fällt auf, dass die bundesrepublikanische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte von einer Generation getragen wurde, die nicht im Nationalsozialismus sozialisiert, aber durch die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit geprägt worden war. Ihre poli75 | Albertini: Rezension zu: Bley, 1969, S. 451. 76 | Referat Frl. Staiger: »Wie rechtfertigt die marxistisch-kommunistische Geschichtsschreibung ihre Afrikaforschung. Kritische Auseinandersetzung mit Büttner und Müller«, in: Zechlin: Hauptseminar, WS 60/61, in: SAH, 364-13, Afrika, M1 58A 3/1, Blatt. 4. 77 | Die Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte war stark durch wissenschaftliche Konjunkturen geprägt. Dies zeigt sich etwa darin, dass dem Pazifischen Raum und China deutlich weniger Aufmerksamkeit zukam. Aber auch die wissenschaftlichen Werdegänge der HistorikerInnen verweisen hierauf: Der überwiegende Teil wandte sich Mitte der 1970er Jahre von der Kolonialgeschichte ab. 78 | Ansprenger: Rezension zu: Bley, 1968, 601.
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tische Positionierung ist dem linken, kritischen Spektrum zuzuordnen. Die politische Haltung hatte wiederum Auswirkungen auf den Zugang zu den Akten des Reichskolonialamtes in Potsdam, der durch die zuständigen Behörden der DDR geregelt und an die zu erwartenden Ergebnisse der Forschung gebunden war. Die Konjunktur der Kolonialhistoriografie war auf das Engste mit den politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verschränkt, die sich in den 1960er Jahren erheblich wandelten und die Forschungsbedingungen über die Kolonialgeschichte Namibias direkt oder indirekt prägten: Die sogenannte 68er-Bewegung und ihre Kritik an der bundesrepublikanischen Afrikapolitik, die ›Vergangenheitsbewältigung‹ und der sich abzeichnende politische Umbruch hin zur sozialliberalen Koalition waren entscheidende Faktoren dafür, dass auch in der Bundesrepublik nach einer neuen Interpretation der Geschichte des kolonialen Namibias gesucht wurde. Gleichzeitig blieb die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte bis weit in die 1970er Jahre ein brisantes Thema, das in wissenschaftliche Auseinandersetzungen und Hierarchiekämpfe mündete. An der Universität Hamburg, an der Helmut Bley studiert und bereits 1965 mit seiner Arbeit »Der Kampf um die koloniale Sozialordnung in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914. Obrigkeit, Gesellschaft und Stamm« bei Egmont Zechlin promoviert hatte, verdichteten sich die zum Wandel führenden Faktoren wie unter einem Brennglas. Kolonialgeschichte war an der Universität Hamburg zunächst ein unterrepräsentiertes Thema, das auch akademisch eine regelrechte Amnesie erfuhr. Damit steht die Universität stellvertretend für die westdeutsche Forschungslandschaft, denn eine akademische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte stagnierte in der gesamten Bundesrepublik aufgrund von politischen, aber auch personellen und institutionellen Schwierigkeiten. Die Reputation der Kolonial- und Afrikawissenschaften hatte wegen ihrer ideologischen Verstrickung mit dem Nationalsozialismus gelitten. Besonders im ersten Nachkriegsjahrzehnt vermieden etablierte Professoren daher die Auseinandersetzung mit der Geschichte Afrikas, da »eine historische Beschäftigung mit Afrika beziehungsweise mit der Kolonialgeschichte in der Nachkriegszeit schnell den Anschein eines politischen Reaktionismus hervorrufen konnte«.79 Dies galt auch für die Forschung an der Hamburger Universität, deren institutionelle und personelle Kolonialtradition nach dem Zweiten Weltkrieg als problematisch wahrgenommen wurde.80 Egmont Zechlin etwa, der Doktorva79 | Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 108. 80 | Das vor dem Zweiten Weltkrieg renommierte Institut für Afrikawissenschaften in Hamburg galt aus angloamerikanischer Perspektive noch im Jahr 1970 als »once powerful center of african studies«. Wright: The Germans in South-West, 1970, S. 459. Vgl. weiterführend Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 105-111.
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ter Helmut Bleys, übernahm nach der Wiedereröffnung der Hamburger Universität 1948 den Lehrstuhl Gustav Adolf Reins für »Übersee- und Kolonialgeschichte und Geschichte des Deutschtums im Ausland« – der den als politisch unbedenklich geltenden Titel »Überseegeschichte« erhielt.81 Egmont Zechlin hielt jedoch nur selten Vorlesungen mit afrikaspezifischen Themen und reüssierte seit den 1950er Jahren vor allem mit dem Hans-Bredow-Institut für Medienforschung, dessen Leiter er bis 1967 war. Afrika- und kolonialgeschichtliche Themen fanden sich nur selten im Vorlesungsverzeichnis des Hamburger Seminars.82 Die Vernachlässigung des Themas führte auch Egmont Zechlins Nachfolger, Günter Moltmann, fort. Er übernahm Ende der 1960er Jahre den Lehrstuhl für Überseegeschichte und verlagerte den Schwerpunkt auf amerikanische Geschichte.83 Die zunehmende politische Bedeutung Afrikas seit dem ›Afrikanischen Jahr 1960‹ und die Forschungsergebnisse der DDR führten dennoch seit den 1960er Jahren zu einer verstärkten Berücksichtigung der Kolonialgeschichte. In Egmont Zechlins Seminaren wurde die Beschäftigung mit der Kolonialgeschichte immer wieder mit dem wissenschaftlichen Vorsprung der DDR begründet, die offenbar als Ansporn für eine ›bessere‹ Kolonialgeschichte diente. »Und wenn ich Ihnen nochmals die zentrale Bedeutung, die die Afrikawissenschaft in der Ostzone hat (Leipzig), und von der wir im Laufe der Sitzung vielleicht noch hören werden, ins Gedächtnis rufen darf«, so Egmont Zechlin einleitend in seiner ersten Hauptseminarsitzung im Wintersemester 1960/61, »so erscheint die Beschäftigung mit Afrika für uns um so drängender notwendig.«84 Anhand der Akten aus seinen Seminaren wird deutlich, dass die von Egmont Zechlin negativ bewertete Kolonialhistoriografie der DDR Teil des akademischen Curriculums war und die StudentInnen mit den Ergebnissen der DDR-Forschung vertraut waren. Die Abgrenzung gegenüber der sozialistischen Forschung wurde regelrecht eingeübt, denn die »kritische Berücksichtigung der marxistischen Interpretationen« gehörte für Zechlin zu den »Richtlinien für Seminararbeiten«85 und zahlreiche Referate und Hausarbeiten hatten die ideologischen Prämissen der »ostzonalen« Forschung zum Gegenstand.86 81 | Vgl. zur Berufung Egmont Zechlins Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 104. 82 | Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 59. 83 | Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 111. 84 | Zechlin: Hauptseminar, 2.11.1960, in: SAH 364-13, Hist. Sem, M1 58 A 3/4, S. 1f. 85 | Ebd., S. 6. 86 | Exemplarisch: Referat Frl. Staiger: »Wie rechtfertigt die marxistisch-kommunistische Geschichtsschreibung ihre Afrikaforschung. Kritische Auseinandersetzung mit Büttner und Müller«, 3. Seminarsitzung vom 30. November/Referat: Herr Schöne: »Die wirtschaftlichen Triebkräfte der deutschen Kolonialexpansion im Spiegel der Bücher
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Hierbei wurde nicht nur eine fachliche Auseinandersetzung um die Methoden und Ergebnisse der DDR-Geschichtswissenschaft geführt, sondern immer auch eine politische Ebene mitverhandelt. Schließlich richtete sich die kritische Kolonialhistoriografie der DDR nicht nur gegen die nostalgische Verklärung der Kolonialgeschichte in der Bundesrepublik, sondern auch konkret gegen deren Afrikapolitik. Diese politische Dimension der Kolonialhistoriografie schlägt sich ebenfalls direkt in der Ausbildung der Historiker durch Egmont Zechlin nieder. Der 1896 geborene Egmont Zechlin, der den Kolonialismus also miterlebt hatte, pflegte ein Geschichtsbild, das der deutschen Kolonialgeschichte kaum Bedeutung beimaß. Noch im Wintersemester 1960/61 begründete er in seinem Hauptseminar »Afrika und die Politik der europäischen Großmächte« die »Aktualität des Themas ›Afrika‹« über die Dekolonisationsbewegungen, deren Bedeutung vor allem für »Engländer und Franzosen als unmittelbar von den afrikanischen Vorgängen Betroffenen als selbstverständlich erscheint, bei uns in Deutschland aber doch auf Bedenken stossen könnte«.87 Egmont Zechlin, der ein »gespaltenes Verhältnis zur Emanzipationsbewegung«88 hatte und es bis in die 1960er Jahre ablehnte, Afrika vor dem Prozess der Dekolonisation eine eigenständige Geschichte zuzuerkennen, stellte sich noch 1960 die Frage: »Wie weit sind wir überhaupt mit angesprochen in der Auseinandersetzung zwischen ehemaligen Kolonialherren und Kolonialvölkern?« 89 Egmont Zechlin begründet nationale Gegenwartsfragen aber nicht mit der eigenen kolonialen Vergangenheit, sondern mit politischen und wirtschaftlichen Interessen: »Gerade die gegenwärtige Tagung der ›Afrika-Gesellschaft‹ Bonn macht deutlich«, so Egmont Zechlin, »wie sehr die Aufmerksamkeit der afrikanischen Politiker besonders auch auf Deutschland gerichtet ist.«90 Damit vertrat Egmont Zechlin eine Deutung der Kolonialvergangenheit, in der politisch opportune und wissenschaftliche Perspektiven auf die ehemaligen Kolonien durchaus zusammenfielen. Da sich die Bundesrepublik nicht als ehemalige Kolonialmacht verstand, wurde die spezifisch deutsche Kolonialgeschichte weitestgehend ausgeblendet. So versuchte sich die Bundesrepublik als Bündnispartnerin anzubieten, der im Gegensatz zu den Kolonialmächten im Selbstverständnis mit antikolonialem Habitus auftreten und historisch unbelastete ›Entwicklungshilfe‹ leisten konnte. Eine solche Sicht wurde auch durch die Forschungssituation gestützt, die sich Anfang der 1960er Jahre erheblich wandelte. Mit dem ›Afrikajahr 1960‹ von Müller, Hallgarten, Jerussalimski und Müller«, 7. Seminarsitzung, 18.1.1961, in: Zechlin: Hauptseminar, WS 60/61, in: SAH, 364-13, Afrika, M1 58A 3/1, S. 4. 87 | Ebd., S. 1f. 88 | Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 108. 89 | Zechlin: Hauptseminar, 2.11.1960, in: SAH 364-13, Hist. Sem, M1 58 A 3/4 S. 1f. 90 | Ebd.
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nahm das wirtschaftliche und politische Interesse an Afrika deutlich zu und die erste Hälfte der 1960er Jahre wurde »geradezu die ›goldene Gründerzeit‹ für nahezu alle Dritte-Welt-bezogenen Forschungs- und Institutionsinitiativen in der Bundesrepublik«.91 Im Kontext der Universität Hamburg war die Beschäftigung mit Afrika stark durch wirtschaftspolitische Interessen geprägt, denn aufgrund der ablehnenden Haltung der Universität gegenüber den politisch diskreditierten Kolonial- und Auslandswissenschaften war die akademische Beschäftigung mit Afrika vor allem durch außeruniversitäres Engagement möglich.92 »Hamburgische Mäzene«93, so Armelle Cressent, spielten hierbei eine wichtige Rolle.94 Egmont Zechlin gehörte beispielsweise zu den Gründern des Afrikawissenschaftlichen Komitees im Mai 1960, das sich »aus Persönlichkeiten der mit Afrika verbundenen wissenschaftlichen Disziplinen sowie Vertretern der Handelskammer und des Afrika-Vereins zusammen[setzte]«.95 Ihre Mitglieder verpflichteten sich »der Hamburger Tradition in Wirtschaft und Wissenschaft, den allgemeinen deutschen Interessen zu dienen«.96 Aber auch Institutionen wie das Weltwirtschaftsarchiv, das Deutsche Übersee-Institut oder das Deutsche Institut für Afrika-Forschung waren in unterschiedlichem Maße der Privatwirtschaft, dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit verpflichtet.97 Für die Vergangenheitsentwürfe über das koloniale Namibia war entscheidend, dass die politische Haltung gegenüber dem südafrikanischen Apartheidregime und dessen Okkupation Namibias auch durch wirtschaftliche Beziehungen und Handelsabkommen bestimmt wurde. Rohstoffvorkommen standen hierbei im Zentrum der Interessen. Aber auch die vermeintliche Verantwortung für die deutschsprachigen SiedlerInnen, die weiterhin in Südwestafrika lebten, beeinflusste die positive bundesrepublikanische Haltung zum 91 | Hofmeier: Institut für Afrika-Kunde, 1988, S. 216. 92 | Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 220. 93 | Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 106. 94 | Bereits 1949 wurde auf Initiative der Handelskammer – die sich vor allem für die Möglichkeiten der überseeischen Exportwirtschaft interessierte – und dem Hamburgischen Weltwirtschaftsarchiv, das 1908 als zentrale Forschungsstelle des »Kolonialinstituts« in Hamburg gegründet wurde, eine auslandskundliche Arbeitsgemeinschaft eingerichtet. 95 | Memorandum, ohne Datum, in: SAH 364-13, Abl. 2002/04, S. 225. 96 | Ebd. 97 | Vgl. Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 106-110; Gerstenmaier: Unsere Aufgabe, in: Afrika heute, 1957, besonders S. 7; Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 224ff.; Bley: Afrikapolitik und der Einfluss der Sozialwissenschaften, 2005, S. 3.
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Apartheidregime. Ferner galt die südafrikanische Regierung als Garant für die Verhinderung eines sozialistischen Umsturzes durch die von der DDR unterstützte, marxistische SWAPO, die in der BRD bis in die späten 70er Jahre auf Kritik und dezidierte Ablehnung traf.98 Erst als die Bundesregierung im Jahr 1977 Mitglied der sogenannten Kontaktgruppe wurde, revidierte sie ihre politische Position.99 Aufgrund der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Südafrika und der ablehnenden Haltung gegenüber der marxistischen SWAPO ist zu fragen, inwiefern die institutionalisierten »Wechselwirkungen von Afrika-Wirtschaft und -Wissenschaft«100 und die damit verbundene finanzielle Forschungsförderung seit den 1960er Jahren Niederschlag in den Forschungsergebnissen fanden oder zumindest als ›Schere im Kopf‹ die Bewertung von Apartheid und Unabhängigkeitsbemühungen prägten. Der politisierte Kontext führte in jedem Fall dazu, dass jegliche Forschung über das koloniale Namibia mit einer politischen Standortbestimmung in der sogenannten Südafrika-Frage einherging. In Hamburg entstanden so zwei polarisierte Lager, die zugleich einen Generationenkonflikt abbildeten.101 Als Gegengewicht zur älteren, der Unabhängigkeitsbewegung kritisch bis ablehnend gegenüberstehenden, etablierten Forschergemeinschaft entwickelte sich ein junges Denkkollektiv, das sich kolonialismuskritisch und vor allem gegen das südafrikanische Apartheidsystem aussprach. Ein früh geschaffenes Netzwerk war für die Durchsetzung dieser Positionen entscheidend. Für den akademischen Nachwuchs, der bei Egmont Zechlin zu kolonial- und afrikahistorischen Themen arbeitete, wie Helmut Bley, Hans-Detlef Laß, Harald Voss oder Imanuel Geiss, wurde der 1911 geborene Günther Jantzen zu einer wichtigen Bezugsperson.102 Er griff in den 1960er Jahren zahlreiche afrikabezogene Themen auf und war damit »bis 1967 praktisch der einzige Lehrende, der über Afrika Veranstaltungen anbot«.103 Obgleich Günther Jantzen durch seine Tätigkeit während des Nationalsozialismus politisch diskreditiert war, galt er als progressiver Historiker und Vor98 | Vgl. Ansprenger: Politische Geschichte Afrikas, 1999, S. 115f.; Brenke: Die Bundesrepublik Deutschland und der Namibia-Konflikt, 1989. 99 | Gegen Ende der 70er Jahre zeichnete sich die Unabhängigkeit Namibias ab. Eine internationale Lösung wurde auch von der sogenannten Kontaktgruppe, bestehend aus der Bundesrepublik Deutschland, Kanada, USA, Großbritannien, Frankreich forciert. Grundlage war die Resolution 435 der Vereinten Nationen, die Wahlen unter internationaler Aufsicht vorsah. 100 | Vgl. Jantzen: Wechselwirkungen von Afrika-Wirtschaft und -Wissenschaft, 1965. 101 | Vgl. Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 140. 102 | Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 109f. 103 | Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 60.
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bild.104 Im Gegensatz zu Egmont Zechlin äußerte sich Günther Jantzen schon in den 1950er Jahren »euphorisch zur Unabhängigkeit Afrikas«105 und trat für eine moderne Afrikanistik beziehungsweise Kolonialgeschichte ein. Bereits 1956 schlug er die Gründung eines »Deutschen Afrika-Instituts« vor, das als Gegengewicht zur konservativen »Deutschen Afrika-Gesellschaft« fungieren sollte, die im Jahr 1956 durch den damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier ins Leben gerufen und seitdem geleitet wurde. Methodisch förderte er die aktuellen, internationalen Strömungen der Afrikanistik und reiste in den 1960er Jahren in die USA, um sich mit dem interdisziplinären Programm der area studies vertraut zu machen.106 Für Imanuel Geiss hatte »Dr. Jantzen in mühevoller Kleinarbeit – über sein ursprüngliches Interesse hinaus – eine kleine Gruppe von Historikern am Hamburger Seminar herangezogen, die wirklich ein Interesse an afrikanischer Geschichte in einem modernen und progressiven Sinn [Hervorhebung im Original] hat«.107 Diese Gruppe befasste sich auch unabhängig und parallel zum institutionellen Curriculum mit afrikabezogenen Themen, wie Armelle Cressent schreibt: »Da das Angebot an Lehrveranstaltungen über Afrika in den Geistes- und Kulturwissenschaften nicht den Bedürfnissen Afrika-Interessierter entsprach, hatte sich ein wichtiges Forum über Afrika parallel zum universitären Angebot organisiert. Es handelte sich um eine Studentengruppe, die von Mühlberg, Laß und Duve initiiert wurde.«108 Diese Gruppe wurde zur Grundlage langfristiger Netzwerke, wie Helmut Bley resümiert: »Das waren Leute, die uns Anregungen gebracht haben, die uns später noch gefördert haben mit Gutachten.«109 Im Laufe der 1960er und 1970er Jahre setzte sich die junge Generation zunehmend gegenüber jener etablierten Forschergemeinschaft durch, die sich in der »Südafrika-Frage« für die Apartheidpolitik aussprach oder diese zumin104 | Günther Jantzen war durch seine Tätigkeit während des Nationalsozialismus politisch diskreditiert und lehrte nach der Wiedereröffnung der Universität Hamburg zunächst lediglich nebenberuflich als Lehrbeauftragter am Historischen Seminar. Von 1955 bis 1969 war er hauptberuflich Syndikus der Handelskammer Hamburg, seit 1970 Geschäftsführender Direktor des Deutschen Übersee-Instituts und Vorsitzender der Stiftung Deutsches Übersee-Institut. Er verfasste zahlreiche Gutachten für das BMZ und die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Vgl. Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, S. 111; Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 99-104. 105 | Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 109. 106 | Vgl. Brahm: Wissenschaft und Dekolonisation, 2010, S. 220-224. 107 | Unveröffentlichter Brief von Imanuel Geiss, Dezember 1972, in: BUH, Personalakte Imanuel Geiss. 108 | Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 122. 109 | Ebd., S. 123.
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dest stillschweigend akzeptierte, und damit zugleich dem politischen Kurs der Bundesrepublik folgte. Im Hinblick auf die Durchsetzung ihrer wissenschaftlichen und politischen Positionen profitierte der akademische Nachwuchs auch von der sogenannten 68er-Bewegung, die in Hamburg besonders nachhaltig universitäre und personelle Strukturen veränderte, und damit das Klima für die Rezeption und langfristige Anerkennung kritischer Narrative mitbestimmte.110 Da die Kolonialgeschichte verschiedene linkspolitische Themen miteinander verband, wurde sie in Hamburg zu einem intensiv diskutierten Gegenstand innerhalb der Studentenbewegung, an dem die klassischen marxistischen Faschismusdeutungen aus den 1920er bis 1940er Jahren, die gerade wiederentdeckt wurden, erprobt und bearbeitet werden konnten.111 Teile der Hamburger Studentenbewegung versuchten, die koloniale Vergangenheit der Hamburger Universität, die Kontinuität kolonialer Denkmuster und -stile in den Wissenschaften sowie die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit der afrikabezogenen Forschung aufzudecken. Symbolträchtig wurde die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe im sogenannten ›Denkmalsturz‹. Fast zeitgleich mit der Veröffentlichung von Helmut Bleys Dissertation fand auf Initiative des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in der Nacht zum 1. November 1968 der Sturz des Wissmann-Denkmals auf dem Universitätsgelände statt. Die Bronzeskulptur wurde erstmals 1905 im kolonialen Tansania aufgestellt und zeigt den ehemaligen Gouverneur von Tansania, Hermann von Wissmann, in Herrschaftspose über einem vermeintlich treuen Askari und einem erlegten Löwen, der sinnbildlich für die Eroberung Afrikas steht. Das Ensemble wurde 1922 auf dem damaligen Gelände des Hamburger Kolonialinstituts aufgestellt, nachdem es in Folge des Ersten Weltkriegs nach Deutschland zurückgebracht wurde. Der Denkmalsturz richtete sich gegen die als neokolonial wahrgenommene Politik der Bundesrepublik, die Wissenschaftstradition und den Lehrbetrieb der Universität wie auch gegen das als überkommen wahrgenommene Geschichtsbild, das in den 1960er Jahren zunehmend wissenschaftlich infrage gestellt wurde.112 Ingo Cornelis verweist darauf, dass der Denkmalsturz von Studenten initiiert wurde, die zuvor durch Fritz Fischer und andere Historikern inspiriert wurden, »who 110 | Außerhalb Hamburgs trug die Studentenbewegung auch zur Gründung der »Vereinigung von Afrikanisten in Deutschland« (VAD) in Marburg bei, die 1969 als Gegengewicht zur »Deutschen Morgenländischen Gesellschaft« (DMG) gegründet wurde. Vgl. Brahm: 40 Jahre Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland, 2009. 111 | Vgl. Schildt: Faschismustheoretische Ansätze, 2011, S. 270. 112 | Bereits am 8. August 1967 hatte der SDS erstmals dazu aufgerufen das Wissmann-Denkmal vor dem Institut zu stürzen. Ein weiterer Versuch misslang in der Nacht zum 27. September 1967. Vgl. Cornils: Denkmalsturz, 2010, S. 197.
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had radically broken with the established view of recent German history«.113 Als juristische Schritte gegen die Denkmalstürzer eingeleitet wurden, fungierte Imanuel Geiss als Gutachter und Helmut Bley als Sachverständiger in der öffentlichen Hauptverhandlung.114 Helmut Bley betont retrospektiv, dass sein wissenschaftliches Umfeld in Hamburg durch eine Generation geprägt war, die »ähnliche politische Sozialisierungsprozesse durch Afrika-Aufenthalte oder das Universitätsstudium in den Umbruchjahren 1965-1974«115 durchlaufen hatte. Wenngleich Helmut Bley den »Umbruchjahren« eine wichtige Rolle für Sozialisierungsprozesse und akademische Karriere zuweist, distanzierte er sich zugleich noch 1996 deutlich von der Studentenbewegung: »Ich glaube nicht, daß die Studentenbewegung uns wirklich geprägt hat und Antiimperialismus und dergleichen. Wir hatten nachher gute Kontakte. Die haben uns auch mit freundlichen Augen angesehen, aber wir waren sicherlich anders.«116 Thomas Welskopp betont, dass die linke Position der jungen Historikergeneration von der Studentenbewegung abgegrenzt werden müsse, da ihre Positionen »in diesem intellektuellen Zusammenhang vor allem Emanzipation und Reform bedeutete«.117 Weiter führt er aus, dass es unzutreffend sei, »diese Position als 68er-Phänomen einordnen zu wollen«. Im Gegensatz zur »Studentenbewegung stellte sie die Systemfrage nicht, blieb aber bei anderen Strömungen der Linken diskursfähig, sofern die Debatte (auch: Theoriedebatte) auf akademischem Terrain ausgefochten werden konnte«.118 Trotz Diskrepanzen zwischen Wissenschaft und Studentenbewegung entwickelten sich aus dem Umfeld der sogenannten 68er-Bewegung langfristig wirksame Netzwerke, die besonders in den 1980er Jahren für die Erinnerung an das koloniale Namibia relevant wurden. Die jüngere Generation der mit Afrika befassten WissenschaftlerInnen grenzte sich in einem weiteren, entscheidenden Punkt von der älteren ab: in ihrer Haltung gegenüber der kritischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Gerade in Hamburg wurde durch die Fischer-Kontroverse und die sogenannte 113 | Ebd., S. 200. Karl-Heinz Roth, einer der Initiatoren des Denkmalsturzes, bezieht sich dabei dezidiert auf die »ersten kritischen historischen Studien zur deutschen Kolonialherrschaft aus dem Umfeld Fritz Fischers, und die haben wir verschlungen«. 114 | Vgl. Schütt: Der Denkmalssturz, 1992, in: TAZ, 7.8.1992; Schütt: Der WißmannProzeß, 1978. Das Denkmal wurde anschließend im Magazin deponiert und erst 1987 im Zuge der Ausstellung »Männersache – Bilder, Welten, Objekte« wieder gezeigt. Zeller: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewußtsein, 2000, S. 212. 115 | Bley: Afrikapolitik und der Einfluss der Sozialwissenschaften, 2005, S. 4. 116 | Interview mit Helmut Bley vom 19.12.1996, in: Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 130. 117 | Welskopp: Identität ex negativo, 2011, S. 113. 118 | Ebd.
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68er-Bewegung ein Klima geschaffen, das eine Neubewertung der deutschen Kolonialgeschichte innerhalb der deutschen Nationalgeschichtsschreibung beförderte. Helmut Bley schrieb sich mit seiner Arbeit über das koloniale Namibia nachdrücklich in die spezifische ›Vergangenheitsbewältigung‹ der 1960er Jahre ein. Dies hatte erhebliche Folgen für das Metanarrativ und die wissenschaftliche und politische Rezeption der Arbeit. Im Jahr 1961 hatte Fritz Fischer in »Griff nach der Weltmacht« einen neuen Blick auf die Geschichte des Kaiserreiches angeregt und damit nicht nur eine fachwissenschaftliche, sondern eine umfassende öffentliche Diskussion um die Deutung der Nationalgeschichte angestoßen, die »erste große historische Nachkriegsdebatte«119 entfacht und die »nationalkonservative Deutungshegemonie«120 aufgebrochen. Fritz Fischers vergleichende Analyse der Kriegszielprogramme des Ersten und Zweiten Weltkrieges hatten ihn zu der These einer Kontinuität der neueren deutschen Geschichte veranlasst, da »bestimmte Denkformen und Zielsetzungen« über den ersten Weltkrieg hinaus »weiterhin wirksam geblieben sind«.121 Seine These zur Kriegszielpolitik und die daraus abgeleitete besondere Verantwortung oder gar Kriegsschuld für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs, rief bei konservativen und national gesinnten Historikern einen revisionistischen Reflex hervor, der zu einer Polarisierung der westdeutschen Historikerzunft führte.122 Fritz Fischer konnte in Wissenschaft und Öffentlichkeit vor allem deshalb eine erhebliche Wirkung entfalten, weil mit der Neubewertung des Kaiserreichs auch die erinnerungspolitische Frage nach Kontinuitäten der deutschen Nationalgeschichte – und damit die Ursachen des Nationalsozialismus – verhandelt wurden. Die mediale Inszenierung der ›Fischer-Kontroverse‹ führte ferner zu großer Bekanntheit Fritz Fischers. Gerade an den Bemühungen Ralph Giordanos, Fritz Fischer als wissenschaftlichen Berater beziehungsweise Diskutanten für die Dokumentarsendung »Heia Safari« zu gewinnen, wird deutlich, dass Fritz Fischer in den 1960er Jahren gleichsam als moralische Instanz für den kritischen Umgang mit der deutschen Nationalgeschichte betrachtet wurde. Helmut Bley konnte die ›Fischer-Kontroverse‹ als Assistent in Hamburg direkt mitverfolgen, und sie musste auch für ihn zu einer wissenschaftlichen Standortbestimmung führen. Obgleich seine Doktorarbeit von Fritz Fischers wissenschaftlichem Gegenspieler Egmont Zechlin betreut wurde, dessen Assistent Bley zu diesem Zeitpunkt war, ist sie inhaltlich von dessen Position weit entfernt. Auf Interviewbasis schildert Armelle Cressent, dass Helmut Bley 119 | »Fischer-Kontroverse«, in: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung«, S. 151-153. 120 | Welskopp: Identität ex negativo, 2011, S. 112. 121 | Fischer: Griff nach der Weltmacht, 1961, S. 12. 122 | Vgl. Große Kracht: Fritz Fischer und die Kontinuitäten deutscher Geschichte, 2007; Jarausch: Ein Buch wie ein Sprengsatz, 2004.
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zunächst eher unfreiwillig in das akademischen Milieu Egmont Zechlins Eingang fand: »Er interessierte sich für die Zeit des Kaiserreichs und wollte deshalb bei dem Historiker Fritz Fischer an einer Vorlesung teilnehmen, die aber von Studenten überfüllt war. Da Egmont Zechlin im gleichen Semester ein kolonialgeschichtliches Seminar anbot, ebenfalls über das ›Kaiserreich‹, besuchte Bley diese Veranstaltung und wählte ein Referatsthema zu Namibia.«123 Dieses Seminar wurde wiederum zum Ausgangspunkt seiner Doktorarbeit, deren Betreuung Egmont Zechlin übernahm. Doch Helmut Bleys Arbeiten und sein wissenschaftliches Umfeld kennzeichnen ihn vielmehr als »FischerSchüler«.124 Für Volker Berghahn gilt, dass die »Fischer-Schule«, etwa Imanuel Geiss, Peter-Christian Witt, Barbara Vogel, Dirk Stegmann, Volker Ullrich, Peter Browsky,125 nicht nur die »Fischer-Schüler« im engeren, institutionalisierten Sinne umfasste, sondern auch jene HistorikerInnen, die »durch ihre Arbeiten einen wichtigen Beitrag zu den historischen Problemstellungen geleistet haben, die gewöhnlich mit der »Fischer-Schule« verbunden werden«.126 »Dies«, so Volker Berghahn weiter, »trifft auch zu auf die Zechlin Schüler Klaus Saul und Helmut Bley, die mit Fischers Assistenten zusammenarbeiteten und zum Teil befreundet waren.«127 Die ›Fischer-Kontroverse‹ fungierte außerdem als »Impulsgeber für die Etablierung einer kritischen Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik«.128 Sebastian Conrad spricht in diesem Zusammenhang von einem »takeoff der Sozialgeschichte seit der Fischer-Kontroverse«129, die auch für die Kolonialhistoriografie einen wichtigen theoretischen Rahmen setzte. Mit dem Metanarrativ des negativen deutschen Sonderwegs »gelang der Sozialgeschichte der sechziger Jahre ein politisch wirkungsmächtiges Umschreiben der Geschichte«.130 In der Folge wurde dem Kaiserreich – und damit auch dem Kolonialismus – ein erinnerungspolitisch relevanter Platz in der bundesrepublikanischen Nationalgeschichte zugewiesen. Helmut Bley kann dabei als typischer Vertreter der jüngeren, kritischen Generation von SozialhistorikerInnen gelten, die sich in den 1960er und 1970er Jahren herausbildete und mit HansUlrich Wehlers 1966 erschienener »Modernen deutschen Sozialgeschichte« gleichsam ein erstes Programm erhielt. Obgleich Helmut Bley im Vorwort darauf verweist, dass der »speziell sozial- und geistesgeschichtliche Schwerpunkt 123 | Interview mit Helmut Bley vom19.12.1996. Cressent, S. 113f. 124 | Berghahn: Ostimperium und Weltpolitik, 2006, S. 2. 125 | Ebd., S. 5. 126 | Ebd., S. 2. 127 | Ebd., S. 5. 128 | »Fischer-Kontroverse«, in: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung«, S. 151-153. 129 | Conrad: Auf der Suche nach der verlorenen Nation, 1999, S. 36. 130 | Langewiesche: Über das Umschreiben der Geschichte, 2006, S. 71.
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der Fragestellungen« den Anregungen der »sozialgeschichtlichen Forschungen Prof. Dr. Otto Brunners«131 zu verdanken seien, grenzt er sich zugleich von der ersten Generation von Sozialhistorikern nach dem Zweiten Weltkrieg ab.132 Ohne im Literaturverzeichnis auf die Vertreter der modernen Sozialgeschichte oder Historischen Sozialwissenschaften zu verweisen, die zum Zeitpunkt der Abfassung der Arbeit aufgrund mangelnder Publikationen noch kaum zitierfähig waren, hält er sich an zentrale Prämissen der kritischen Sozialgeschichte: Die Arbeit folgt einem Metanarrativ, das den »Nationalsozialismus zum wichtigsten moralisch-politischen Bezugspunkt der Geschichtsschreibung«133 erklärt, der zugleich den historisch gewachsenen Höhepunkt eines negativen deutschen Sonderwegs darstellt. Helmut Bleys Arbeit und seine politische und wissenschaftliche Tätigkeit weisen ihn zudem als Vertreter einer politisierten Geschichtswissenschaft aus. Auch hierin knüpft er an das Programm der kritischen Sozialgeschichte an, die sich »nicht nur als neue, überlegene Position im eigenen Fach«, sondern auch als »politisch relevante Wissenschaft« verstand, die sich in die politischen Debatten der 1960er und 1970er Jahre einmischte.134 Dies lässt sich schlaglichtartig anhand der »International Conference on South West Africa« beleuchten, die im März 1966 – und damit kurz vor der Ausstrahlung von »Heia Safari«– stattfand. Darüber hinaus wird durch die Konferenz deutlich, welche politische Bedeutung der Kolonialgeschichte Namibias beigemessen wurde.
Historiografisches Wissen als Politikum Die viertägige »International Conference on South West Africa« im März 1966 wurde von einem Gremium verschiedener südafrikanischer und britischer Antiapartheidbewegungen initiiert. Sie wollten damit auch politischen Druck auf die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes ausüben, dessen Entscheidung über die Fremdverwaltung Südwestafrikas durch Südafrika wenige Monate nach der Konferenz anstand.135 131 | Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 17. 132 | Seit den 1980er Jahren und vor allem auf dem Historikertag 1998 wurde kritisch diskutiert inwieweit die zentralen Protagonisten der ersten Generation von Sozialhistorikern – neben Otto Brunner vor allem Theodor Schieder und Werner Conze – mit dem Nationalsozialismus verstrickt waren und mit der Volksgeschichte zur Stabilisierung des Regimes beitrugen. Vgl. Schulze/Oexle: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, 1999; Oberkrome: Volksgeschichte, 1993; Raphael: Von der Volksgeschichte zur Strukturgeschichte, 2002; Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte, 2002. 133 | Metzger: Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken, 2011, S. 225. 134 | Welskopp: Identität ex negativo, 2011, S. 114. 135 | Vgl. Segal: South West Africa, 1966.
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Finanziert wurde die Konferenz vom Londoner African Bureau, dem Antiapartheid Movement und etwa 100 Privatpersonen aus dem politischen und öffentlichen Leben. Darunter befanden sich symbolisch wichtige Personen wie Leonard Bernstein und Martin Luther King, der den politischen Bogen zur afroamerikanischen Emanzipationsbewegung spannte. Unter dem Vorsitz Schwedens tagten Vertreter aus 32 Nationen.136 ›Südwestafrika‹, das erst seit 1968 offiziell in Namibia umbenannt wurde, wurde durch Vertreter der SWAPO und der »South-West African National Union« repräsentiert. Die offiziellen Regierungsvertreter und politischen Beobachter waren überwiegend Gesandte ihrer jeweiligen Botschaften. Die Ergebnisse der Konferenz wurden veröffentlicht und als Empfehlung an die jeweiligen Regierungen und die UN gesendet.137 Damit war den Beiträgen eine politische Rezeption sicher, die auch die große Aufmerksamkeit erklärt, die dem deutschen Beitrag von Helmut Bley zukam. Er hielt auf der Konferenz unter dem Titel »German South West Africa after the Conquest 1904-1914« einen Vortrag, in dem er sich mit der Sozialstruktur im kolonialen Namibia nach dem Krieg gegen die Herero und Nama und ihren Langzeitfolgen für Südwestafrika befasst. Der Vortrag basierte auf dem dritten Kapitel seiner bis dahin unveröffentlichten Dissertation »Der Kampf um die koloniale Sozialordnung in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914. Obrigkeit, Gesellschaft und Stamm«, mit der er 1965 promoviert wurde.138 Die Konferenz fiel in die Amtszeit des CDU-Außenministers Gerhard Schröder, der als Bundesminister des Inneren einen Verbotsantrag gegen die KPD durchgesetzt hatte.139 Eine offizielle westdeutsche Teilnahme lehnte die Bundesregierung ab, da die Konferenz unter Kommunismusverdacht stand.140
136 | Neben den USA und der Sowjetunion waren auch Kenia, Äthiopien, Sierra Leone, Marokko, Nigeria, Tansania, Tunesien, die »Vereinigte Arabische Republik« und Zambia vertreten. 137 | »The findings and recommendations of the four special commissions were unanimously adopted by the closing plenary session of the conference and were then dispatched, with the expert papers, to all governments and the United Nations, where they have played a not insignificant part in recent debates and decisions.« Segal: South West Africa, 1966, Vorwort, ohne Seitenangaben. 138 | »The paper is based on Die koloniale Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika 1894-1914, part III Dissertation, Hamburg University 1965, Helmut Bley.« Bley: German South West Africa, 1966, S. 51. 139 | Vgl. Eibl: Politik der Bewegung, 2001. 140 | Vgl. hierzu Fernschreiben an das Auswärtige Amt aus Washington vom 23.3.1966, Betr.: International Conference on Southwest Africa, in: PA AA B 34, Bd. 678, nicht paginiert.
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Auch die Parteien entsandten aus diesem Grund keine Vertreter.141 Die Konferenz wurde dennoch durch Angehörige der Deutschen Botschaft in London aufmerksam beobachtet, die ihre Eindrücke zeitnah nach Bonn weiterleiteten. Aus den Akten des Auswärtigen Amtes wird deutlich, dass die im Zuge der Konferenz absehbare kritische Deutung der deutschen Kolonialvergangenheit bereits im Vorfeld für Aufmerksamkeit sorgte. Der Veranstalter und Antiapartheidaktivist Ronald Segal wandte sich im November an den damaligen Bundeskanzler, Ludwig Erhard, um Vertreter der Bundesregierung zur Konferenz im März 1966 einzuladen, denn, so Ronald Segal »we would enormously appreciate it if your Government would be officially represented«.142 Er fügte – »for your urgent attention« – auch ein »background paper which examines the history of South West Africa« bei, dessen Autor ungenannt bleibt.143 Der Krieg wird hierin als »war of independence« bezeichnet, der in einen »genocide« mündete. Beide Termini sind nachträglich mit Farbstift unterstrichen worden, so dass davon ausgegangenen werden kann, dass sie die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zogen. Ebenfalls unterstrichen sind weitere Formulierungen, die das Narrativ des kolonialen Genozids stützen, etwa eine Passage über die Anzahl der Überlebenden – »only 15.000 survived of the original 80.000-strong tribe«. Auch der Verweis auf die Intention der deutschen Politik wurde im »background paper« hervorgehoben. Hier heißt es: »The breaking of the tribes was conscious German policy.« Gestützt wir dies mit dem Verweis auf das englische »Blue Book«, in dem die »German atrocities were revealed«.144 Ohne expliziten Hinweis deutet das »background paper« mit seinem Narrativ und seiner Terminologie auf die Historiografie der DDR. Vertreter der Bundesregierung waren offenbar alarmiert, denn die gewalttätige Geschichte der deutschen Kolonialzeit, die von Ronald Segal in seinem »background paper« skizziert wurde, passte nicht in einen historisch-politischen Selbstentwurf, der die Bundesrepublik als modernisierungs- und fortschrittsbringenden politischen Partner präsentieren sollte, dessen kurze Verstrickung in den Kolonialismus als folgenlos oder gar als positiv präsentiert werden sollte. Auch Helmut Bleys Vortrag wurde daher besondere Aufmerksamkeit zuteil.
141 | Umfassender Schriftwechsel über die potenzielle kommunistische Beeinflussung der Konferenz in: PA AA B 34, Bd. 678. Besonders: Fernschreiben an das Auswärtige Amt aus London vom 6.4.1966: Betr.: Konferenz über Südwestafrika in Oxford vom 23.-26. März 1966, Verschlußsache, in: PA AA B 34, Bd. 678, nicht paginiert. 142 | Ronald Segal an Ludwig Erhard, 30. November 1965, in: PA AA B 34, Bd. 678, nicht paginiert. 143 | Ebd. 144 | Ebd.
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Ziel des Vortrags war es, einen »sketch of the historical background« zu bieten und die »social and psychological consequences« des Kriegs gegen die Herero und Nama auszuführen.145 Vor allem die Darstellung des Kriegs führte jedoch zu einer geschichtspolitischen Kontroverse. Als übergeordnetes, strukturelles Erklärungsmodell für den Ausbruch des Kriegs bestimmt Bley eine umfassende »cultural crisis«146, die durch die kontinuierliche Zerstörung der indigenen Sozialstruktur hervorgerufen wurde und durch die Rinderpest, die gewaltsame Regelung der »succession of the chieftainship of the tribe« und das Vordringen der weißen Siedler forciert wurde. Helmut Bley erweitert zugleich das bisherige, koloniale Erklärungsmodell für den Aufstand. Nicht nur Rinderpest, Kreditverordnungen und wirtschaftlicher Aufschwung hatten die Lebensbedingungen der Schwarzen verändert und bedroht, sondern auch sozialpsychologische Faktoren. Die umfassende soziale und politische Diskriminierung, die sich etwa in der politischen Entrechtung, ungleicher juristischer Behandlung und rassistischen Praktiken niederschlugen, hatten das Vertrauen der Schwarzen Bevölkerung in das koloniale System grundlegend erschüttert und als tiefgreifende Ursache zum Aufstand gegen die Kolonialherrschaft geführt. Er betont mehrfach, dass Leutwein vor einem Krieg gewarnt hatte. Eine bewusste Entscheidung der Siedler und der Kolonialverwaltung, den Krieg gegen die Herero herbeizuführen, verneint Helmut Bley und betont, dass der Kolonialkrieg sich unsystematisch entwickelte und ohne die gezielte Intention der Vernichtung verfolgt wurde. Implizit ist damit ein wichtiges Distinktionsmerkmal gegenüber dem nationalsozialistischen Völkermord angeführt, das Helmut Bley auch in seiner Wortwahl betont: »It may be stated quite categorically that neither the German authorities in South West Africa nor the settlers had intended to wage such a total war. The war simply burst its bank and found its own level.«147 Den Siedlern und der Kolonialverwaltung wird keine Verantwortung für den Kriegsverlauf zugesprochen, da sie die Kontrolle über die Ereignisse bereits im Frühling 1904 verloren hätten: »And so it was that in the spring of 1904 the settlers and the Colonial Departement lost control over the course of the war in South West Africa.«148 Während »Wilhelm II and the German General Staff under Graf von Schlieffen regarded the ›uprising‹ as the first ›war‹ since 1871 and dealt with it as a purely military matter« wird Lothar von Trotha in Helmut Bleys Vortrag zum Verantwortlichen für einen »war of extermination«, dessen Ziel die »systematic extinction of the whole of the Herero tribe« war.149 Belegt wird Lothar von Trothas »strategy of extermination« 145 | Bley: German South West Africa, 1966, S. 38. 146 | Ebd. 147 | Ebd., S. 37. 148 | Ebd., S. 40. 149 | Ebd.
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mit einem Quellenzitat, das zugleich deutlich macht, dass die von Bley gewählte Terminologie den Quellen entlehnt ist: »Von Trotha wrote to von Schlieffen to explain his methods: ›I believe that this nation must be destroyed as a nation … This uprising is no less than the first stage of a racial war …‹«150 Folgt man Helmut Bleys Narrativ, so muss Lothar von Trothas »strategy of extermination« als individuelle Entscheidung gedeutet werden, die lediglich von Heinrich von Schlieffen unterstützt wurde, denn auch er sprach sich für die »annihilation of one of the parties«151 aus. Für Bley steht fest, dass »Reichskanzler von Bülow, under the influence of the Rheinische Mission, the German Reichstag and public opinion both at home and abroad, opposed this policy of extermination. Von Bülow won the Kaiser over, forced von Schlieffen to challenge his line and relieved von Trotha of his command in November 1905.«152 Auch die Siedler hätten sich aus ökonomischem Kalkül für einen politischen Kurswechsel eingesetzt, denn von Trothas »strategy destroyed both the agricultural workers and the livestock«.153 Der »war of extermination« wird folglich als individuelle Entscheidung Lothar von Trothas gewertet und damit nicht zwingend in einen strukturellen Zusammenhang zum nationalsozialistischen Genozid gestellt. Auch der erinnerungspolitisch aufgeladene Begriff »genocide« wird von Helmut Bley in seinem Vortag nicht verwendet.154 Erst im Rahmen seiner Monografie leitet er aus der sozialen Situation der Nachkriegszeit, als die Siedler ihr »absolute desire for social supremacy«155 in Form einer umfassenden »subjugation of the Africans as a labouring class«156 auslebten, eine strukturelle Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus ab. Hannah Arendts Totalitarismustheorie dient ihm hierbei als theoretisches Fundament. Sie fehlt in seinem Vortrag ebenso wie ein direkter Bezug auf den negativen deutschen Sonderweg. Kern der anschließenden politischen und diplomatischen Debatten, in die sich sowohl das Auswärtige Amt als auch die deutsche Botschaft Südafrikas einschalteten und in der zeitweilig Helmut Bleys Ausschluss aus der Univer150 | Ebd. 151 | Ebd. 152 | Ebd., S. 40f. 153 | Ebd., S. 41. 154 | Erst in den 1980er Jahren nimmt er im Vorwort zu einer von der evangelischen Kirche herausgegebenen Publikation zum deutschen Kolonialismus für sich in Anspruch explizit Parallelen zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Völkermord benannt zu haben: »Wer im Ausland auf Parallelen zwischen dem Völkermord an den Hereros und den Juden und Polen hinwies, bekam es mit Zensurabsichten des Auswärtigen Amtes zu tun.« Bley: Unerledigte Kolonialgeschichte, 1983, S. 15. 155 | Bley: German South West Africa, 1966, S. 42. 156 | Ebd.
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sität gefordert wurde, waren einzelne Quellenbegriffe.157 Sie stellten für die Zeitgenossen einen geschichtspolitischen Affront dar, da sie als Chiffren für den nationalsozialistischen Genozid gelesen wurden. Die verwendeten Quellenbegriffe »total war«, »military dictatorship«, »war of extermination«, »great racial war«, »strategy of extermination«, »systematic extinction« und »annihilation«158 wurden vor dem Hintergrund der ›Vergangenheitsbewältigung‹ der 1960er Jahre als bewusste sprachliche Entscheidungen gewertet. Zudem fand die Konferenz im unmittelbaren Kontext des zweiten Auschwitz-Prozesses statt, der am 14. Dezember 1965 begonnen hatte und bis zum 16. September 1966 verhandelt wurde. Gerade in der englischsprachigen Presse der 1960er Jahre waren die von Helmut Bley verwendeten kolonialen Quellenbegriffe eine übliche Terminologie, um die nationalsozialistischen Verbrechen zu beschreiben, über die in den Prozessen geurteilt wurde.159 Helmut Bleys Vortrag wurde vor allem für die deutsche Botschaft in Pretoria zum Anlass intensiver Korrespondenzen mit dem Auswärtigen Amt und der Botschaft in London. Die zeitgenössischen Beobachter verstanden Helmut Bleys Ausführungen explizit als Beitrag zum nationalsozialistischen Völkermord, denn »Formulierungen wie ›war of extermination‹, die hier sofort das grauenhafte Bild der Judenvernichtung in den deutschen Konzentrationslagern wachrufen, müssten von einem jungen deutschen Historiker bei der Darstellung der deutschen Kolonialgeschichte auf einer derartigen Konferenz vermieden werden«.160 Der Beitrag verstieß aus Sicht der Botschaft gegen das Gebot einer national-patriotischen Deutung der eigenen Nationalgeschichte, denn »Herr Dr. Bley hätte sich jedoch, wie die Botschaft London zutreffend ausführt, bewußt sein müssen, daß seine Ausführungen auf der o.a. Konferenz nicht historisch, sondern rein politisch, und zwar gegen die Bundesrepublik
157 | Für Helmut Bley führte sein Vortrag, »in die Nähe zum Berufsverbot, obwohl der damalige Leiter der Kulturabteilung im Auswärtigen Amt durch Aktenweitergabe an die ›Hamburger Behörden‹ die Möglichkeit zur publizistischen Gegenoffensive bot und die Universitätsleitung und der akademische Lehrer, Egmont Zechlin, die Autonomie der Wissenschaft auch im Falle eines umstrittenen Assistenten verteidigte«. Bley: Afrikapolitik und der Einfluß der Sozialwissenschaften, S. 7. 158 | Bley: German South West Africa, 1966, S. 36-42. 159 | Vgl. Eichmann denies sending Jews to polish Wasteland. »Not told of Extermination Plan«, in: The Times, 12.7.1961, S. 8; Eichmann denounces attempt to exterminate the Jews. »One of the gravest Crimes in History of Mankind«, in: The Times, 14. Juli 1961, S. 9. 160 | Deutsche Botschaft London an das Auswärtige Amt: Ausführungen des Historikers Dr. Bley von der Universität Hamburg, Verschlußsache, 5.4.1966, in: PA AA B 34, Bd. 678, nicht paginiert.
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Deutschland, ausgewertet werden würden«.161 Vor allem aufgrund der verwendeten Terminologie wurde sein Beitrag als suggestiv und unwissenschaftlich abgewertet: »Im übrigen sollte man von deutschen Historikern, wenn sie im Ausland auftreten, erwarten, daß sie sich bei der Darstellung längst vergangener Begebenheiten, nicht einer Ausdrucksweise bedienen, die der Gegenwart entnommen ist, unliebsame Assoziationen provoziert und Geschichte nicht im Zusammenhang mit der entsprechenden Gesamtepoche sieht.«162 Mit einer gewissen Ironie kommentiert die Deutsche Botschaft in Pretoria den Konferenzbericht der Londoner Botschaft: »Selbstverständlich steht es einem jungen deutschen Historiker frei, geschichtliche Zusammenhänge so darzustellen, wie es ihm richtig erscheint.«163 Aus Perspektive der Botschaft ist offenbar nicht denkbar, dass die von Helmut Bley geschilderten »geschichtlichen Zusammenhänge« möglicherweise »richtig« sein könnten. Eine Vergleichbarkeit oder Kontinuität zwischen den beiden Epochen der deutschen Geschichte lag scheinbar außerhalb der möglichen Vergangenheitsentwürfe. Vor dem Hintergrund der Konferenzziele wurden Helmut Bleys Ausführungen zugleich als Kritik an der bundesrepublikanischen Südafrikapolitik verstanden. Bereits im Vorfeld wurden politisch motivierte »Ausfälle gegen die Bundesrepublik«164 befürchtet, die man in Helmut Bleys Vortrag bestätigt sah. »Nach diesem Referat«, so berichtete Joachim Voss im Namen der Friedrich-Ebert Stiftung an verschiedene Botschaften der BRD, »drohten bei den afrikanischen Teilnehmern gewisse Animositäten gegen Deutschland im allgemeinen und die Bundesrepublik im besonderen aufzuleben«.165 Vertreter der deutschen Botschaft in London zeigten sich besorgt: »Auch wenn Dr. Bley, wie uns Herr Voss von der Friedrich-Ebert-Stiftung berichtete, auf der Konferenz mehrfach betont hat, die politischen Aspekte der Südwestafrika-Frage interessieren ihn nicht, er spreche vielmehr nur als Historiker, so geben seine Äusserungen im Rahmen einer rein politischen, auf Afrika abgestellten Konferenz mit starken Linkstendenzen dennoch zu erheblichen Bedenken Anlass.«166 161 | Botschaft der Bundesrepublik Deutschland an das Auswärtige Amt Bonn. Ausführungen des Historikers Dr. Bley von der Universität Hamburg, 24.6.1966, in: PA AA B 34, Bd. 678, nicht paginiert. 162 | Ebd. 163 | Ebd. 164 | Bericht von Joachim Voss über die Konferenz in Oxford, 12.4.1966, in: PA AA B 34, Bd. 678, nicht paginiert. 165 | Ebd. 166 | Deutsche Botschaft London an das Auswärtige Amt: Ausführungen des Historikers Dr. Bley von der Universität Hamburg, Verschlußsache, 5. April 1966, in: PA AA B 34, Bd. 678, nicht paginiert.
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Helmut Bley versucht in seinem Vortrag auch zu belegen, dass der Krieg gegen die Herero und Nama zur entscheidenden historischen Zäsur für »far-reaching repercussions on the social structure of the territory«167 wurde. Damit wird die politische Situation »Südwestafrikas« auch als Resultat der deutschen Kolonialherrschaft präsentiert. Kolonialismus, Nationalsozialismus und südafrikanisches Regime erscheinen so als zusammenhängend. Dieses Narrativ kann auch als Unterstützung der SWAPO und der moralischen Legitimation des bewaffneten Widerstands gelesen werden, dessen Berechtigung in den 1960er Jahren seitens der Bundesregierung negiert wurde. Die historisch begründete Analogie zwischen Nationalsozialismus und südafrikanischem Regime wurde in Helmut Bleys Ausführungen nur angedeutet. Doch innerhalb der Antiapartheid- und Unabhängigkeitsbewegung war sie ein zentrales Argument. In seinem Vorwort betont etwa Ronald Segal die Verantwortung der Welt gegenüber den rassistischen Praktiken Südafrikas. Den gedanklichen Bogen zum Nationalsozialismus spannt er dabei, indem er auf das Versagen der internationalen Gemeinschaft im Falle Südafrikas verweist: »There has never been an international responsibility so clearly and widely acknowledged, and so flagrantly, so contemptuously defied.«168 Für sein Publikum dürfte diese moralische Ermahnung assoziativ an das Versagen gemahnen, den nationalsozialistischen Genozid nicht verhindert zu haben, den Ronald Segal mit den »ovens of Belsen« abschließend anspricht: »If a country the size and strength of South Africa can safely flout all semblance of international morality and authority, why should countries larger and stronger than she bother to behave any differently? That way leads from the trenches of Flandern and the ovens at Belsen to the atomic Armageddon.«169 Die deutsche Botschaft befürchtete die Aufnahme von Helmut Bleys Vortrag in den Konferenzbericht, »der mit Sicherheit der Organisation für Afrikanische Einheit vorgelegt wird und in allen afrikanischen Staaten Verbreitung finden wird.«170 Deshalb regte sie an, »zu prüfen, wie derartige für das deutsche Ansehen in Afrika höchst nachteiligen Vorkommnisse in Zukunft durch ein engeres Zusammenwirken der Universitäten mit dem Auswärtigen Amt vermieden werden können«.171 Der Vortrag fand dennoch Eingang in den Konferenzbericht.
167 | Bley: German South West Africa, 1966, S, 35. 168 | Segal: South West Africa, 1966, Vorwort, ohne Seitenangaben. 169 | Ebd. 170 | Deutsche Botschaft London an das Auswärtige Amt: Ausführungen des Historikers Dr. Bley von der Universität Hamburg, Verschlußsache, 5. April 1966, in: PA AA B 34, Bd. 678, nicht paginiert. 171 | Ebd.
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Kolonialgeschichte als Zeitgeschichte Obwohl ein westdeutscher Beitrag »in der wissenschaftlichen Debatte über die Revision der deutschen Kolonialgeschichte«172 offenbar dringend erwartet wurde, verzögerten Schwierigkeiten bei der Verlagsfindung die Publikation der Doktorarbeit Helmut Bleys bis in das Jahr 1968 und verweisen darauf, dass trotz der überschwänglichen Rhetorik eine kritische, sozialhistorische Interpretation der deutschen Kolonialgeschichte, die zudem eine Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus postulierte, möglicherweise auch auf Vorbehalte stieß. Erst drei Jahre nach Fertigstellung wurde die Arbeit schließlich unter dem leicht abgewandelten, neutraleren und auf das Programm der Sozialgeschichte verweisenden Titel »Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika. 1894-1914« in der von Werner Jochmann, Karl-Heinz Janssen und Bernd Nellesen herausgegebenen Reihe »Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte« verlegt. Eine englischsprachige Publikation im Heinemann Verlag folgte 1971. Teile der Arbeit konnte Helmut Bley bereits zuvor in zwei englischsprachigen Aufsätzen veröffentlichen. Neben seinem in Oxford gehaltenen Vortrag schrieb er mit »Social Discord in South West Africa, 1894-1904« einen Aufsatz zur frühen Kolonialgeschichte Namibias. Er erschien im Sammelband »Britain and Germany in Africa. Imperial Rivalry and Colonial Rule« und verwies zugleich auf Helmut Bleys akademisches Netzwerk, denn im selben Band erschienen auch Beiträge von John Iliffe, Ralph A. Austen und Hartmut Pogge von Strandmann.173 Bereits die Publikation in der Reihe »Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte« im Jahr 1968 gibt Hinweise auf die zeitgenössische, wissenschaftliche Verortung der Arbeit innerhalb der bundesrepublikanischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Bei der Reihe handelt es sich um das zentrale Publikationsorgan der 1960 gegründeten und von Werner Jochmann geleiteten »Forschungsstelle für die Geschichte des Nationalsozialismus in Hamburg«. Kennzeichnend für die Forschungsstelle war in den 1960er Jahren der Ansatz, die Vorstellung des Nationalsozialismus als »Betriebsunfall der Geschichte« zu revidieren, der Sonderwegthese zu folgen und die Forschung über Ursachen und Vorläufer des Nationalsozialismus mit der Reichsgründung 1871 beginnen zu lassen.174 Die Publikation in der Reihe verweist ferner auf das Forschungsumfeld und wissenschaftliche Netzwerk um Fritz Fischer, als dessen Assistent Werner Jochmann in den Jahren 1953 bis 1960 gearbeitet hatte. Zuvorderst erstaunt jedoch, dass die Arbeit nicht in der von Rudolf von Alber172 | Ansprenger: Rezension zu: Bley, 1969, S. 209. 173 | Bley: German South West Africa, 1966; Bley: Social Discord in South West Africa,1967. 174 | Vgl. Büttner: Werner Jochmann, 2005.
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tini und Heinz Gollwitzer herausgegebenen Reihe zur »Kolonial- und Überseegeschichte« erschien. Diese wurde als Gegengewicht und in Konkurrenz zu der von Walter Markov herausgegebenen Reihe »Studien zur Kolonialgeschichte und Geschichte der nationalen und kolonialen Befreiungsbewegungen« betrachtet, in der aus der zeitgenössischen Perspektive Franz Ansprengers »endlich eine westdeutsche ›Konkurrenz‹ zur einschlägigen Aktivität der DDR-Historiker sichtbar wird«.175 Mit der Reihe fand »die wachsende Anzahl von Einzeluntersuchungen, die oft aus Dissertationen entwachsen sind« und an ganz unterschiedlichen Lehrstühlen entstanden waren »einen Rahmen«.176 Hierzu gehörte etwa die Arbeit der 1938 geborenen Karin Hausen über das koloniale Kamerun, die von Heinz Gollwitzer betreut wurde.177 Aber auch der 1944 geborene Albert Wirz und der im selben Jahr geborene Klaus Bade publizierten zu Beginn der 1970er Jahre dort.178 Die Veröffentlichung von Helmut Bleys Doktorarbeit in der Reihe war geplant und bereits angekündigt.179 Die Monografie sollte ursprünglich als vierter Band der Reihe unter dem Titel »Der Kampf um die koloniale Sozialordnung in Deutsch-Südwestafrika 18941914, Obrigkeit, Gesellschaft und Stamm« erscheinen und wäre aufgrund des dadurch entstehenden Paratextes sehr viel deutlicher innerhalb der Kolonialhistoriografie verortet gewesen. In der 1968 publizierten Monografie finden sich die Bemühungen um eine Publikation in der Reihe lediglich als Dank an Rudolf von Albertini. »Prof. Dr. Rudolf von Albertini«, verdanke Bley, »wertvolle Hinweise für die Überarbeitung des Manuskripts.«180 Als Helmut Bleys Monografie im Jahr 1968 in der »Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte« veröffentlicht wurde, befand sich die westdeutsche Nationalgeschichtsschreibung im Umbruch. Die Vorstellung eines negativen Sonderwegs, der zur historischen Verortung und Aufarbeitung des Nationalsozialismus diente, setzte sich seit den 1960er Jahren als zentrales historiografisches Metanarrativ durch, und wurde von einer Forschergemeinschaft getragen, die in den 1960er Jahren die ältere, politisch und wissenschaftlich konservative Generation ablöste. Innerhalb dieses Metanarrativs konnte auch der deutsche Kolonialismus und besonders die Geschichte des kolonialen Namibias als eine Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus erzählt werden, denn dieses Metanarrativ war bereits durch die Sonderwegthese vorgegeben. 175 | Ansprenger: Rezension zu: Albertini, 1968, S. 434. 176 | Dülffer: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1981, S. 460. 177 | Hausen: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1970. 178 | Wirz: Vom Sklavenhandel zum kolonialen Handel,1972; Bade: Friedrich Fabri und der Imperialismus, 1975. 179 | Im Umschlag zu Albertinis Monografie »Dekolonisation«, die 1966 als erste Monografie in der Reihe erschien, wird auf Helmut Bleys zukünftige Publikation verwiesen. 180 | Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 17.
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Dieses enge nationalstaatliche Narrativ stand wiederum einer »modernen Kolonialgeschichte«, die – so führt der Historiker Rudolph von Albertini im Jahr 1970 aus – »weniger die Kolonialmacht und deren Expansion nach Übersee«, sondern »die jeweilige ehemalige Kolonie selbst« zum Gegenstand habe, ebenso im Weg wie das marxistisch-leninistische Geschichtsbild im Osten.181 Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des kolonialen Namibias fand ferner innerhalb eines wissenschaftlichen Denkkollektivs statt, dem eine deutlich entspannte Haltung gegenüber den Forschungsergebnissen der DDR attestiert werden kann. Hierzu trug auch ein Umbruch innerhalb des intellektuellen Klimas der Bundesrepublik bei. Spielarten marxistischen Denkens wurden in der Bundesrepublik in der ›Neuen Linken‹ und der ›Frankfurter Schule‹ aufgegriffen und weiterentwickelt. Wenngleich die »neue Sozialgeschichte«, so Thomas Welskopp, »den orthodoxen Marxismus-Leninismus der DDR jedoch deutlich auf Distanz hielt«182, nahm die grundsätzliche Zurückweisung der – zuvor weitestgehend als ideologisch diskreditierten – Forschung der DDR in der Folge deutlich ab. An die Stelle antikommunistischer Reflexe traten zunehmend differenzierte Urteile über die gebundene Kolonialhistoriografie der DDR. Hans-Ulrich Wehler stellt in einer Rezension die Kolonialhistoriografie der DDR und der BRD gleichwertig nebeneinander und betont die bislang unberücksichtigten Leistungen der DDR-Historiografie, da »die begründete Kritik, die in den vergangenen zehn Jahren von F. F. Müller, H. Drechsler, H. Stoecker u.a. an dieser deutschen Koloniallegende geübt worden ist, bisher bei uns nur selten zur Kenntnis genommen worden ist, vermutlich, da es sich um Historiker aus der Deutschen Demokratischen Republik handelt, deren Aktenkenntnis geflissentlich übergangen wird«.183 Das Verhältnis zwischen der Kolonialhistoriografie der DDR und der BRD entwickelte sich in den 1960er Jahren von grundlegender Ablehnung hin zu einer produktiven wissenschaftlichen Konkurrenz, denn die wissenschaftlichen Kontroversen über die ›richtige‹ Darstellung der Geschichte des kolonialen Namibias scheint immer weniger an den Systemgrenzen orientiert gewesen zu sein. Die kritische Sozialgeschichte, die sich gemäß ihrem Selbstverständnis als gesellschaftspolitisch und methodisch überlegene wissenschaftliche Position verstand, machte diesen Anspruch sowohl gegenüber den konservativen Histo181 | Albertini: Einleitung, 1970, S. 12. 182 | »In zumindest äußerlicher Anlehnung an die ›kritische Theorie‹, wie sie vor allem Jürgen Habermas ausarbeitete, machte die neue Sozialgeschichte eine kritische Sicht auf die Nationalgeschichte salonfähig, die mit Karl Marx und Max Weber operierte und sich den marxistisch-leninistischen Ansätzen gegenüber aufgeschlossen zeigte, den orthodoxen Marxismus-Leninismus der DDR jedoch deutlich auf Distanz hielt.« Welskopp: Identität ex negativo, 2011, S. 113. 183 | Wehler: Wider die deutsche Koloniallegende, in: D ie Z eit, 25.10.1968, S. 56.
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rikern der BRD als auch gegenüber der DDR geltend. Dabei wiesen die wissenschaftlichen und politischen Ziele der jungen HistorikerInnen aus DDR und BRD durchaus Gemeinsamkeiten auf. Die HistorikerInnen der DDR befänden sich laut Franz Ansprenger im Jahr 1968 in einem »fight«. Er sei »directed against the ›bourgeois‹ German historians of the past and especially the West Germans of the present, who are accused of having obscured the facts of history, and whitewashed the crimes of their government against the people of South-West Africa. This accusation is largely correct for the past which ended around 1960. The younger generation of West German historians has risen to the challenge, as shown by a recently published book, Helmut Bley’s Kolonialherrschaft und Sozialstruktur in Deutsch-Südwestafrika, 1894-1914.«184
Doch nicht nur die Kritik an kolonialrevisionistischen Positionen und Narrativen verweist – trotz unterschiedlicher ideologischer Ausgangspositionen – auf einen politischen Grundkonsens zwischen den jungen Historikergenerationen in DDR und BRD. Auch die Unterstützung der namibischen Unabhängigkeitsbewegung und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus können hier angeführt werden. Für die westdeutsche Kolonialhistoriografie ist daher besonders seit den 1960er Jahren zu fragen, inwiefern die Ergebnisse und Narrative der DDR-Historiografie auch Eingang in wissenschaftliche Texte der BRD fanden. Wissenstransfer und gleichzeitige Abgrenzung prägten auch den Umgang Helmut Bleys mit der Kolonialhistoriografie der DDR. In einer Rezension zu Horst Drechsler in der konservativen »Historischen Zeitschrift« fällt Helmut Bleys Urteil grundsätzlich positiv aus: Es sei Horst Drechsler gelungen, die »zählebige Koloniallegende« zu zerstören, und damit eine »wichtige Aufgabe« zu erfüllen.185 In seiner Monografie führt Helmut Bley neben der Quellenedition Franz Ferdinand Müllers vor allem Horst Drechslers Monografie als wichtige Referenz an. Vor allem in der Darstellung des Krieges verweisen alle Fußnoten auf Horst Drechslers Monografie, denn der Krieg sei »[d]etailliert von Drechsler rekonstruiert« worden.186 Im Paratext der Fußnoten wird deutlich, dass die Arbeit Horst Drechslers durchaus als Wendepunkt der Kolonialgeschichtsschreibung verstanden wurde, in deren Folge populärwissenschaftliche oder apologetische Texte durch die akademische Geschichtsschreibung verdrängt würden: »Die bekannten Vorgänge sind jetzt von Drechsler sorgfältig aufgrund der Akten rekonstruiert worden. Die älteren Arbeiten: A. Neubert, Die Schutzherrschaft in Deutsch-Südwestafrika 1884-1903, maschr. 184 | Ansprenger: Rezension zu: Bley, 1968, 601. 185 | Bley: Rezension zu: Drechsler, 1968, S. 134. 186 | Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 355.
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Diss. Würzburg 1954 und O. Hintrager, Südwestafrika in der deutschen Zeit, München 1955, sind dadurch überholt.«187 Zugleich grenzt sich Helmut Bley inhaltlich und methodisch deutlich von der Arbeit seines ostdeutschen Kollegen ab. In seiner Rezension zu Horst Drechsler, der zwei Jahre vor Helmut Bley seine Monografie veröffentlichen konnte, und damit bereits einen erheblichen Vorteil im wissenschaftlichen Publikationswettbewerb hatte, bereitet Helmut Bley auch die Veröffentlichung seiner sozialgeschichtlichen Monografie durch rhetorische Abgrenzung vor. So kritisiert er, die Monografie gehöre der »eher traditionelleren politischen Kolonialgeschichte an, nun in marxistischer Umkehrung der Akzente.«188 Noch deutlicher wird der Bezug zu seiner eigenen sozialgeschichtlichen Untersuchung, wenn Bley konstatiert, man vermisse bei der Lektüre »eine Analyse des europäischen Sozialverhaltens«.189 Sie steht in Helmut Bleys Monografie im Mittelpunkt. Im Vorwort umreißt Helmut Bley das Thema und die Fragestellung seiner Arbeit: »Dreißig Jahre deutscher Kolonialverwaltung in Südwestafrika führten zu einer Unterjochung der Afrikaner unter eine europäische Siedlergesellschaft. Dabei wurden die Mittel der politischen, ökonomischen und sozialen Organisation eingesetzt, die Europäern an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zur Verfügung standen. Die Verflechtung eines unbedingten Herrschaftsanspruches der kolonialen Minderheit mit dem Prozeß der Europäisierung in Übersee ist das Hauptthema der Untersuchung.«190
Es soll »versucht werden«, so Helmut Bley weiter, »die Problematik zu entfalten, die der offenkundigen Radikalisierung der politischen und sozialen Konflikte in SWA zugrunde liegt und von der vor allem die Zeit während und nach dem Herero- und Namakrieg 1904-1907 bestimmt worden ist«.191 In der Nachkriegsmentalität der Siedler erkennt Helmut Bley Ursprünge totalitärer Herrschaft. Im Gegensatz zu Horst Drechslers Monografie wird der Bezug zum nationalsozialistischen Regime somit nicht in erster Linie über den Krieg gegen die Herero und Nama hergestellt, sondern über die Menschenbehandlung nach 1907: »Die Machtverteilung in Afrika ließ eine Verabsolutierung von Vorstellungen und Methoden der modernen Kontrolle zu, die dazu führten, daß in SWA die Schwelle des Totalitären bereits überschritten wurde. Das ist eine Bestätigung, wenn nicht sogar Verschärfung der Thesen Hannah Arendts, daß in der Kolonialpolitik in Afrika Ursprünge totaler Herrschaft zu finden seien.«192 187 | Ebd., S. 319. 188 | Bley: Rezension zu: Drechsler, 1968, S. 134. 189 | Ebd. 190 | Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 13. 191 | Ebd. 192 | Ebd., S. 314.
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Hannah Arendts Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« und ihre These, dass die Verbindung von Rassismus und Bürokratie totalitäre Herrschaft erst ermöglicht, sind hierbei zentrale Bezugspunkte, auf die er sich im Vor- und Nachwort, aber auch in den Zwischenüberschriften – »Totalitäre Aspekte der Menschenbehandlung«193 – explizit bezieht. Die Totalitarismustheorie ermöglicht zugleich eine Abgrenzung gegenüber der Faschismustheorie der DDR. Das totalitarismustheoretische Fundament der Arbeit wird vor allem im dritten Teil mit Beispielen kolonialer Herrschaftspraxis belegt. Helmut Bley zeigt auf, dass die soziale Situation für Schwarze Menschen nach 1907 durch bürokratisierte Kontrollversuche, Willkür und Rassismus gekennzeichnet war, der sich vor allem in den bis 1913 durchgeführten Strafprozessen zeigt. Weitere Beispiele für »totalitäre Aspekte der Menschenbehandlung« sind die Einführung von »Paßmarken«194 und ein »System des Arbeitszwanges«, das »einer Zwangsarbeit nahe[kam].«195 Helmut Bley interessiert sich hierbei für »sozialpsychologische Auswirkungen«196 und »jene Phänomene […] in denen sich die psychischen, geistigen und moralischen Zerstörungen widerspiegeln, die mit einer solchen Kolonisation verbunden waren«.197 Diese Anklänge an die Psychohistorie sind durchaus zeithistorisch zu lesen und in Erklärungsmodelle einzuordnen, die seit den 1960er Jahren herangezogen wurden, um die sozialpsychologische Grundlage faschistischer Gesellschaftsstrukturen zu verstehen. Für die afrikabezogene Forschung gingen ferner seit den 1960er und vor allem den 1970er Jahren von frühen postkolonialen Denkern wie Antonio Negri, Stuart Hall und Antonio Gramsci, Franz Fanon und Octave Mannoni wichtige Impulse für die Reinterpretation kolonialer Gewalt unter sozialpsychologischen Aspekten aus. Die beiden letztgenannten finden sich in Bleys Literaturverzeichnis.198 Das Gesamtnarrativ läuft folglich nicht auf den kolonialen Genozid zu, sondern fokussiert die »Nachkriegszeit mit ihrem Wechselverhältnis von sozialem Chaos der ›Eingeborenen‹ und dem Sozialverhalten der Deutschen«.199 Dies findet in der Gewichtung der Erzählzeit Niederschlag. Der Kolonialkrieg und der damit verbundene koloniale Genozid werden mit 30 Seiten recht knapp erzählt.200 Das Hauptaugenmerk der Studie liegt auf strukturellen Prozessen
193 | Ebd., S. 260. 194 | Ebd., S. 211. 195 | Ebd., S. 212. 196 | Vgl. ebd., S. 168 197 | Ebd., S. 313. 198 | Ebd., S. 377-386. 199 | Ebd., S. 17. 200 | Ebd., S. 189-208.
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vor dem »Aufstand« im Jahr 1904 und den sozialen Entwicklungen nach den Kriegen gegen die Herero und Nama. Erst retrospektiv nimmt Helmut Bley für sich die ›Entdeckung‹ des kolonialen Genozids in Anspruch. In einem Interview mit Armelle Cressent schildert Helmut Bley im Jahr 1996, wie ein Seminar Egmont Zechlins für ihn zum Ausgangspunkt seines späteren Dissertationsthemas wurde: »In diesem Seminar habe ich ein Referat über Südwestafrika übernommen und entdeckt, daß dort ein Genozid stattgefunden hat [Hervorhebung von Armelle Cressent], und zwar vor Hitler, und das war 1956-1957 natürlich eine sehr anregende Angelegenheit […].«201 Rückblickend kategorisiert Helmut Bley die Ereignisse als Genozid und stellt eine Kontinuität zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Völkermord her. Die von Helmut Bley geschilderte ›Entdeckung‹ könnte auch der forschungsinternen Konkurrenz um die Entwicklung der Genozidthese geschuldet sein, denn obgleich Helmut Bley retrospektiv für sich in Anspruch nimmt, »entdeckt« zu haben, dass im kolonialen Namibia »ein Genozid stattgefunden hat«, verwendete er den Begriff in seinen Publikationen nicht. Dies erstaunt auch deshalb, weil die Begriffe Völkermord und Genozid nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik – etwa durch die Sendung »Heia Safari« – Teil des Sprechens über das koloniale Namibia geworden waren. Weder die Frage, ob die Kriegsführung Lothar von Trothas in einen Genozid mündete, noch die Frage nach Kontinuitäten zwischen dem kolonialen Namibia und dem Nationalsozialismus oder der südafrikanischen Apartheidpolitik werden explizit beantwortet.202 Bezüge zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Genozid werden in den Passagen über die Kriegsführung und ihre Folgen lediglich angedeutet. Lothar von Trothas Vernichtungsbefehl wird etwa im Hinblick auf die entlarvende Sprache näher betrachtet, ohne dezidiert auf den Nationalsozialismus zu verweisen: »In der terminologischen Unsicherheit des Wechsels vom militärischen Begriff des ›geschlagenen Feindes‹ zum politischen Resumé der ›Vernichtung des Hererovolkes‹ bestätigte sich die Befürchtung Leutweins. Sie weist vor allem aber darauf hin, daß neben dem rein militärischen Kalkül eine zweite politische Ebene der Kriegsführung bei dem Militär vorhanden war.« 203
Mit Verweis auf die quellengestützten Ergebnisse Horst Drechslers betont er, dass als Folge der »Kriegsführung sowie der Kriegsgefangenenbehandlung […] 201 | Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 117. 202 | Dennoch nimmt er für sich in Anspruch: »Ohne den Begriff Genozid zu verwenden, habe ich in meiner Arbeit den Vernichtungskrieg in Namibia analysiert.« Bley: Afrikapolitik und der Einfluß der Sozialwissenschaften, 2005, S. 7. 203 | Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 203.
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von den geschätzten 60-80.000 Herero 1906 nur noch 16.000 lebten und damit zwischen 75 und 80 % der Herero umgekommen waren«.204 An dieser Stelle wird die Übernahme zentraler Ergebnisse der DDR-Forschung besonders evident, denn die aus der DDR-Historiografie übernommenen Opferzahlen wurden seit den 1980er Jahren im Zuge der Auseinandersetzung über die Kategorisierung der Ereignisse als Genozid Gegenstand kontroverser Debatten. Im Gegensatz zur Historiografie der DDR leitet Helmut Bley aus den Opferzahlen in seiner Monografie nicht explizit einen Völkermord an den Herero ab. In Anlehnung an die Quellensprache schreibt Helmut Bley von einer »Vernichtungspolitik gegen die Herero«205, die »verheerende« und »furchtbare« Folgen206 hatte und den »Weg in den Radikalismus«207 ebnete. Weitere Begriffe, die einen Konnex zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Genozid herstellen, wie »totale Vernichtung«208 oder »Gefangenenlager«, sind aus den Quellen übernommen. Direkte sprachliche Bezüge zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus, wie sie in den Publikationen der DDR über personelle Bezüge oder den direkten Verweis auf nationalsozialistische Konzentrationslager hergestellt wurden, fehlen. Auch der Begriff des Konzentrationslagers wird von Helmut Bley nicht verwendet. Erst Mitte der 1980er Jahre, und damit in einem gewandelten geschichtspolitischen Kontext, verwendet Helmut Bley den Begriff in einem Lexikonartikel über Namibia.209 Inhaltlich und sprachlich konnte sich Helmut Bley damit deutlich gegenüber der Historiografie der DDR abgrenzen, die von ihm als hochgradig narrativ und polemisch wahrgenommen wurde. Vor allem die unverhohlene Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung und die rhetorischen Sympathiebekundungen mit den afrikanischen Akteuren wurden als wissenschaftlich unredlich ausgelegt. Helmut Bley kritisiert an Horst Drechslers Monografie in seiner Rezension die offenkundige Stilisierung des Narrativs und »moralisierende Vorwürfe«210, die dem »Wunsch geschuldet sind ›die großen Traditionen des Kampfes der Herero und Nama gegen den deutschen Impe-
204 | Ebd., S. 190f. 205 | Ebd., S. 191. 206 | Ebd., S. 192. 207 | Ebd. 208 | Ebd., S. 190. 209 | »In den Konzentrationslagern starben durch bewußte Vernachlässigung ~ 45 % der Gefangenen.« Bley: Namibia, 1984, S. 229. 210 | »Die Vorgeschichte der großen Herero- und Namakriege gegen die Deutschen 1904-1907 ist zur Geschichte des Vieh- und Landraubes durch die deutschen Siedler stilisiert und überwiegend als eine raffiniert angelegte Aggressionsstrategie der Verwaltung geschildert worden.« Bley: Rezension zu: Drechsler, 1968, S. 134.
IV. Kontroversen in der BRD
rialismus‹ hervorzuheben«.211 Das Programm der Sozialgeschichte impliziere hingegen »methodologische Vorbehalte gegenüber der Erzählung«212 und den Versuch, den eigenen Theoriebezug in einer möglichst neutralen, analytischen Sprache abzubilden. Doch gerade die von Helmut Bley angestrebte Neutralität und der starke theoretische Rahmen lassen deutlich werden, welche Rolle »blinde Passagiere« spielen, die der »akademischen Ordnung des Wissens«213 bereits inhärent sind und jene Vorstellungswelten und Axiome reproduzieren, vor denen der koloniale Genozid bereits im kolonialen Diskurs gedacht und legitimiert werden konnte. Innerhalb der Sozialgeschichte fungierte die »Theorie als ein neuer überindividueller, wissenschaftlich objektivierter Sehepunkt«, die »eine Commonsense-Erzählung auf der Grundlage von Quellen mit der Aura von Augenzeugenschaft« ablösen sollte.214 Gerade für das Umschreiben der ›Koloniallegende‹, die sich auf Memoiren- und Augenzeugenberichte stützte, war mit dem theoretischen Programm der Sozialgeschichte ein erhebliches Potenzial für einen Bruch mit vertrauten Erzählungen verbunden.215 Dies schlägt sich in der Auseinandersetzung mit den kolonialen Quellen nieder. Wie seine Kollegen in der DDR reflektiert Helmut Bley die problematische Quellensituation, die quellengestützte Erzählmöglichkeiten stark einschränke: »Quellen, die Auskunft über die Afrikaner geben«, so Helmut Bley einleitend in seiner Quellenkritik, »sind spärlicher erhalten. Direkte schriftliche Äußerungen liegen in den Briefen vor, die an die deutsche Verwaltung gerichtet waren oder ihr bei Kampfhandlungen in die Hände fielen. Sie werden ergänzt durch die Gesprächsaufzeichnungen, die vor allem die Missionare, aber auch Verwaltungsbeamte und Siedler gemacht haben.«216 Helmut Bley reflektiert ebenfalls, dass diese Quellen nicht objektiv sind, sondern eine zentrale Rolle innerhalb des kolonialen Herrschaftsdiskurses spielten: »Allerdings muss hier eine zusätzliche historische Quellenkritik einsetzen. Die auf allgemeine Fragestellungen ausgerichtete Ethnologie hat nicht immer die ihren Forschungen zugrunde liegenden Quellen nach dem konkreten historischen Anlaß ihrer Entstehung 211 | Ebd. 212 | Langewiesche: Über das Umschreiben der Geschichte, 2006, S. 68. 213 | Conrad: Doppelte Marginalisierung, 2002, S. 151. 214 | Langewiesche: Über das Umschreiben der Geschichte, 2006, S. 70. 215 | Helmut Bley konnte für kurze Zeit die Akten des Reichskolonialamtes in Potsdam einsehen. Ferner umfasst sein Quellenverzeichnis Aktenbestände des Bundesarchivs in Koblenz, das Archiv der rheinischen Missionsgesellschaft, das Personenarchiv des Weltwirtschaftsarchivs Hamburg sowie amtliche Veröffentlichungen und Serien, Zeitungsartikel und private Nachlässe. Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 376-380. 216 | Ebd., S. 14.
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gefragt, auch nicht nach der politischen Absicht, die Europäer mit ihrer Veröffentlichung oft bezweckten.«217 Auf begrifflicher Ebene findet diese Quellenkritik Niederschlag in Anführungszeichen, die als kolonialismuskritische Marker für einzelne Begriffe fungieren. Hierzu gehören etwa die Begriffe »Schutzverträge«, »Eingeborenenverordnung« und »Eingeborenenpolitik«. Gleichzeitig werden in der Monografie zahlreiche koloniale Begriffe und Kategorien verwendet, die dichotome Kategorien, pejorative Stereotype und rassifizierte Weltbilder reproduzieren. Die Gesellschaften Afrikas werden mit den Bezeichnungen »Stamm« und »Stammesgesellschaft« innerhalb eines asymmetrischen Benennungsverfahrens als historisch rückständig und unterlegen konstruiert. Gleiches gilt für die unreflektiert fortgeführten Begriffe »Häuptling«, »Eingeborene« und »Eingeborenenkrieg«.218 Mit Verweis auf die Quellen verwendet Helmut Bley noch in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1967 selbst die Bezeichnung »Hottentotten in preference to ›Nama‹«.219 Doch auch nachdem der diskreditierende Begriff in seiner Monografie wegfiel, bezeichnet er die »Namastämme« weiterhin als »kriegerische Halbnomaden«, die zugleich unwillkürlich mit den »Hirtenstämmen« der Herero in ein hierarchisches Verhältnis gesetzt werden.220 1996 reflektiert Helmut Bley seinen damaligen Sprachgebrauch: »It goes without saying that my work reflects the terminology, research questions and the state of the art of colonial and African historiography […].«221 Zeitgenössisch wurde Bleys Terminologie jedoch nicht als problematisch empfunden. »Bley warns us«, so heißt es etwa in einer Rezension, »that his sources ›are almost entirely derived from the European side‹. This imbalance in sources does not affect the fairness and objectivity of the book. The tale of African sufferings and of resistance to colonial rule, based largely on brute force, is well told by the author.«222 Mit diesem Zitat wird zugleich eine Diskrepanz zwischen dem moralisch gebotenen Metanarrativ des afrikanischen Widerstands, das bezeichnenderweise als »tale« gekennzeichnet wird, und den kolonialen Quellen benannt. Damit 217 | Ebd. 218 | Ebd., S. 19. 219 | Bley: Social Discord, 1967, S. 609. 220 | »Der überwiegende Teil der Namastämme verweigerte überhaupt den Abschluss von Verträgen, da das deutsche Landfriedensgebot diesen kriegerischen Halbnomaden die bisherigen Existenzgrundlagen zu sehr beschnitt, während die Hirtenstämme der Herero wiederholt militärischen Schutz durch England, dann 1885 durch Deutschland anstrebten […]«, S. 21. 221 | Bley: Namibia under German Rule, Einleitung ohne Seitenangabe. Zum Begriff und Konzept des Tribalismus nimmt Bley in einer gesonderten Publikation Stellung. Vgl. Bley: Tribalismus, 1986. 222 | Gambari/Hugh: Rezension zu: Bley, 1971, S. 484.
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wird die Erzählung über das Leid der AfrikanerInnen – trotz des Verweises auf »fairness and objectivity« als fiktives Erzählmuster gekennzeichnet. Das Nachwirken kolonialer Episteme wird jedoch nicht nur an einzelnen Begriffen deutlich, mit denen koloniale Vorstellungswelten gleichsam verdichtet transportiert werden, sondern auch anhand verschiedener Textpassagen. Trotz einer theoretisch begründeten Kritik am Augenzeugenbericht und der Auseinandersetzung mit der ›Koloniallegende‹ werden immer wieder koloniale Narrative zitiert. Sie zeugen davon, dass die Logik kolonialer Texte und ihre vermeintlich natürlichen Erzählformen auch unterhalb kritischer Metanarrative bestehen bleiben. Den dritten Teil seiner Monografie leitet Helmut Bley mit einer Passage über den Ausbruch des Krieges ein. Mit dieser Passage soll erklärt werden, warum nach dem Krieg gegen die Herero und Nama die »Schwelle des Totalitären bereits überschritten wurde«.223 Dabei folgt Helmut Bley narrativ und rhetorisch den zeitgenössischen Darstellungen in weiten Teilen: »Der Krieg der Herero gegen die Deutschen begann in der zweiten Januarwoche 1904. Über 100 deutsche Männer, Ansiedler und Soldaten der Stationsbesatzungen, wurden überraschend getötet, die Eisenbahn Windhuk-Swakopmund an mehreren Stellen zerstört und die Telegraphenverbindungen unterbrochen. Der Aufstandsentschluß der Herero leitete eine mehr als dreijährige Periode blutiger Auseinandersetzungen in SWA ein. Im Oktober 1904 schlossen sich die Nama dem Kampf gegen die Kolonialmacht an, allerdings erst, nachdem die Herero in der Schlacht am Waterberg als Machtfaktor ausgeschaltet worden waren.« 224
Für die Passage wird keine Fußnote angeführt, so dass davon ausgegangen werden kann, dass sich das Narrativ als allgemeingültiges Wissen verselbstständigt hat. Es ist eng an jenes Narrativ angelehnt, das im kolonialen Diskurs den Krieg gegen die Herero als Wiederherstellung und Wahrung von Ordnung, Zivilisation und Fortschritt rechtfertigt. Auch wenn diese Passage im Verlauf der Erzählung relativiert wird und die schwerwiegenden Folgen des Krieges und der Nachkriegszeit deutlich herausgestellt werden, ist gerade die Exposition des dritten Kapitels symptomatisch für den Umgang mit kolonialen Narrativen, die über weite Teile und an zentralen Stellen der Erzählung reproduziert werden. Folgt man der Logik des Narrativs, dann erscheint auch die drastische militärische Offensive am Waterberg durchaus nachvollziehbar: »Bis in den Juni 1904 behaupteten die deutschen Truppen nur die Verbindungslinien im Hereroland, reparierten die Bahn und sicherten die Ortschaften. Die Versuche, die 223 | Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 314. 224 | Ebd., S. 189.
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Deutsche Kolonialgeschichte(n) Hauptgruppen der Herero im Kampf zu schlagen, scheiterten in der Regel schon dadurch, daß die deutschen Truppen beim Anmarsch angegriffen, häufig sogar umklammert wurden und in verlustreichen Gefechten nicht selten von Vernichtung bedroht waren oder sich zurückziehen mußten.« 225
Die »deutschen Truppen«, die sich um den Wiederauf bau der Infrastruktur bemühten, werden in dieser Passage durchaus positiv repräsentiert. Entscheidend für subtile Legitimationsnarrative ist jedoch der Topos der potenziellen »Vernichtung« der Truppe. Hier folgt Helmut Bley kolonialen Textwelten, in denen die Gefahr der »Vernichtung« der Truppe es ermöglichte, den Kampf gegen die Herero zu einer existenziellen Konfrontation zu stilisieren. Noch deutlicher finden unterschwellige Legitimationsnarrative im nachfolgenden Unterkapitel »Die Bedeutung der Tötungen«226 Niederschlag. Hier beschreibt Helmut Bley detailliert die Tötungen deutscher Siedler durch die Herero, um anhand der psychologischen und sozialen Auswirkungen zu erklären, warum sich die Kriegsführung und das Sozialverhalten radikalisieren konnten. Bley bezieht sich hierfür auf die Memoirenliteratur von Conrad Rust, Helene Falkenhausen, Margarete von Eckenbrecher und Kurt Schwabe. In der Erzählsequenz bleibt er der Quellensprache verhaftet und reproduziert narrativ, rhetorisch und ästhetisch zentrale, kolonialdiskursive Topoi der Legitimation.227 »Es ist unmöglich, ein gerechtes Wort für diese unangekündigten Tötungen zu finden«, so Helmut Bley einleitend, »und es ist zu befürchten, daß schon bewusstes Vermeiden des Wortes Mord zu Mißverständnissen führen wird.«228 Weiter führt er über die Ermordung der Siedler aus: »In der Regel töteten die Herero die deutschen Männer nicht in einem Blutrausch oder aus Leidenschaft. Es wurde auf Befehl gehandelt. Dabei haben Beratungen über das Schicksal Einzelner stattgefunden. Allgemein wurden aus politischen Gründen nur deutsche Männer umgebracht und neben Frauen und Kindern nur die Missionare verschont; vier deutsche Händler standen unter dem besonderen Schutz der Herero. Rituelle Quälereien und formlose Grausamkeiten gingen ineinander über. […] Der Versuch der Herero, oft war es Dienstpersonal, anonym zu töten, verursachte unerträgliche, undurchsichtige Manöver und spiegelte häufig vor, daß noch Gelegenheit zu geistesgegenwärtigen Fluchtversuchen sei. Die chancenlose Isoliertheit des einzelnen Weißen in einem vorübergehend von den Herero völlig kontrollierten Gebiet ließ eine fürchterliche Gelassenheit bei dem blutigen Werk zu. Es gab aber auch die plötzliche Tötung im Schlafe oder beim Handschlag zum Morgengruß. Tötungen fanden abseits im Busch 225 | Ebd., S. 190. 226 | Ebd., S. 214-218. 227 | Ebd., S. 358. 228 | Ebd., S. 215.
IV. Kontroversen in der BRD unter Ausschluß der Angehörigen, aber auch in triumphierender Brutalität vor den Augen der Frauen und Kinder statt.« 229
Auch in der Darstellung und Bewertung Lothar von Trothas bleibt Helmut Bley eng an kolonialrevisionistischen Deutungen orientiert, die die Eskalation des Kolonialkrieges vornehmlich als individuelle Fehlentscheidung des Generals erzählen. Dies ermöglicht es, den kolonialen Genozid als militärische Überreaktion eines einzelnen Militärs darzustellen. Damit bleibt Helmut Bley, ebenso wie sein ostdeutscher Kollege Horst Drechsler, eng am Narrativ der Quellen orientiert. Mit einer sozialhistorischen Interpretation hätte Helmut Bley mit diesem Narrativ brechen und strukturelle Faktoren – die rassistischen und militaristischen Strukturen des Kaiserreiches – hervorheben können.230 Doch auch Helmut Bley folgt einem individuellen Erklärungsansatz, in dem es von Trotha gelingt, sich gegenüber Theodor Leutwein durchzusetzen und eine »Militärdiktatur«231 zu errichten: »Leutwein konnte sich nicht durchsetzen. Die Vernichtungsschlacht im europäischen Sinn wurde durchgeführt. Nach Moltkeschen Gesichtspunkten des getrennten Aufmarsches kam es zur Kesselschlacht am Waterberg am 11. August 1904, mit dem Plan, das Gros der Hererokrieger gefangen zu nehmen. Gefangenenlager für über 800 Mann waren bereits vorbereitet. Den Herero gelang der Durchbruch nach Osten.«232 Sowohl inhaltlich als auch sprachästhetisch ist diese Passage eng an zeitgenössischen militärischen Texten orientiert, deren Duktus und Terminologie übernommen wird. Obgleich der sozialhistorische Ansatz aufgrund seiner theoretischen Ausrichtungen einen erheblichen Wandel in Fragestellungen, Perspektiven, und rhetorisch-narrativen Entscheidungen zur Folge hatte, wurde die Geschichte des kolonialen Namibias in erster Linie im Metanarrativ des deutschen Sonderwegs und als Beitrag zur Geschichte des Kaiserreiches geschrieben. Im Hinblick auf den Forderungskatalog einer ›modernen Kolonialgeschichte‹ hatte dieses nationalstaatliche Metanarrativ erhebliche Folgen für den historischen Entwurf des kolonialen Namibias: Eine Schwarze Perspektive wird dezidiert nicht angestrebt, sondern eine Weiße, eurozentrische Erzählperspektive und -logik beibehalten. Die positive Rezeption der Monografie wurde entscheidend durch den Paradigmenwechsel im Umgang mit der deutschen National- und Kolonialgeschichte geprägt: Da sich die Sonderwegthese und ihr »politisch-didaktischer
229 | Ebd., S. 216. 230 | Vgl. Langewiesche: Über das Umschreiben der Geschichte, 2006, S. 68. 231 | Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 205, 200. 232 | Ebd., S. 203.
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Impetus«233 nach innerwissenschaftlichen Kontroversen und Hierarchiekämpfen durchsetzte und »in den informellen Grundkonsens der Bundesrepublik«234 einfloss, fungierte sie als wissenschaftliche Bewertungsfolie der Kolonialgeschichtsschreibung.235 Zudem gelang der kritischen Sozialgeschichte in den 1960er Jahren die Institutionalisierung und damit die Stärkung ihres wissenschaftlichen Netzwerkes.236 Für Franz Ansprenger ist etwa die These, dass die Zustände im kolonialen Namibia als »Vorform des rassistischen Totalitarismus« verstanden werden müssen »dank B. mit so viel solidem historischen Material untermauert, daß wir sie vorerst anerkennen dürfen: eine der Wurzeln für den national-rassistischen Totalitarismus liegt in der Kolonialpolitik der Jahrhundertwende.«237 Im Jahr 1973 fand die kritische Darstellung des kolonialen Namibias und vor allem die Kontinuitätsthese auch Eingang in Hans-Ulrich Wehlers »Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918«. Zumindest für HistorikerInnen des linken Spektrums wurde eine Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus hierdurch zu normativem Wissen. Hans-Ulrich Wehler wollte die Bismarckzeit als Vorgeschichte des Nationalsozialismus verstanden wissen und postulierte einen Zusammenhang zwischen den Strukturen des Kaiserreiches und den Entwicklungen im 20. Jahrhundert. Damit brach er mit dem heroisch-triumphalen Zivilisierungsnarrativ und beförderte das Interesse am Kaiserreich zur Erklärung des Nationalsozialismus. Zahlreiche Publikationen, die Kaiserreich und Nationalsozialismus miteinander verbanden, erschienen in der Folge in den 1970er Jahren.238 In »Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918« wird auch das koloniale Namibia von Hans-Ulrich Wehler zur Untermauerung der Sonderwegthese angeführt. Wie im Literaturverzeichnis deutlich wird, lehnt Wehler sich in seiner Interpretation und Darstellung des kolonialen Namibias vordergründig an Helmut Bleys Monografie an, die er im Oktober 1968 in der Wochenzeitung Die Zeit geradezu überschwänglich rezensiert hatte.239 Die Passage, die auch in den nachfolgenden Ausgaben des kommerziell ausgesprochen erfolgreichen Werks immer wieder wortgleich abgedruckt wird, ist inhalt233 | Welskopp: Identität ex negativo, 2011, S. 116. 234 | Wehler: Der deutsche »Sonderweg«, 2003, S. 114. 235 | Wehlers Publikationen werden auch zur Deutungsfolie, vor der die Publikation Karin Hausens besprochen wird: »This is a book which deserves an honored position within the recent array of monographs on German colonialism. […] Hausen’s central argument explicitly parallels the interpretation of German colonialism advanced in Hans-Ulrich Wehler’s writings on the Bismarckian era.« Austen: Rezension zu: Hausen,1972, S. 612f. 236 | Vgl. Etzemüller: Sozialgeschichte als politische Geschichte, 2002. 237 | Ansprenger: Rezension zu: Bley, 1969, S. 210 238 | Vgl. Bade: Friedrich Fabri und der Imperialismus, 1975; Hillgruber: Ostimperium, 1972; Schmitt-Egner: Kolonialismus und Faschismus, 1975. 239 | Wehler: Wider die deutsche Koloniallegende, in D ie Z eit, 25.10.1968, S. 56.
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lich und sprachlich sehr kritisch angelegt, wenngleich eine nationalgeschichtliche, Weiße Perspektive beibehalten wird:240 »Eine militärische Entwicklung außerhalb der Reichsgrenzen muß hier jedoch noch erwähnt werden. Bereits im ersten Krieg des wilhelminischen Deutschlands wurde eine Frühform des totalen Kriegs praktiziert: bei der Niederschlagung des großen HereroAufstands von 1904/07 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Die Militärregierung, die dort anstelle des Verwaltungsgouverneurs das Regiment übernahm, unterdrückte die Erhebung der viehzüchtenden Eingeborenen, die gegen die Okkupation des besten Landes durch deutsche Siedler aufbegehrten, mit dem brutalen Einsatz aller Mittel. Nicht mehr der Sieg, sondern die ›Vernichtung‹, wie es in enthüllender Sprache hieß, wurde ihr Ziel. Sie führten daher bewußt einen ›Kampf ohne Friedensmöglichkeit‹. Fast die Hälfte der Eingeborenen wurde getötet, z.T. durch zielstrebige Vertreibung in die wasserlose Omaheke-Wüste; ein Viertel wurde deportiert und in den Gefangenenlagern einer durchaus planmäßigen Vernichtungspolitik ausgesetzt. Nachdem die direkten Ausgaben auf fast 590 Mill. Goldmark angestiegen waren, schuf die Schutztruppe ›Ruhe und Ordnung‹ – in weiten Gebieten die Ruhe des Friedhofs, um den herum unter Schwarzen und Weißen Haß und Furcht regierten.« 241
Abschließend heißt es mit deutlichem Bezug auf den Nationalsozialismus: »Nur noch in der Schlußphase des amerikanischen Sezessionskrieges ist im 19. Jahrhundert die Kriegsführung eines westlichen Staates in solchem Ausmaß radikalisiert worden. Dieser deutsche Kolonialkrieg bestätigte die schlimmsten Befürchtungen, die erst von der liberalen, dann von der sozialdemokratischen Kritik an den Folgen kolonialer Herrschaft gehegt worden waren. Die Gestalt des Krieges einer nahen Zukunft zeichnete sich hier deutlich ab.« 242
Auffällig ist dabei, dass zentrale Begriffe aus Horst Drechslers und Heinrich Loths Arbeiten übernommen werden, ohne auf die Kollegen aus der DDR zu verweisen. Sowohl die »Frühform des totalen Kriegs« als auch »Deportation in Gefangenenlager« und die »Ruhe des Friedhofs« sind Begriffe der DDR-Historiografie, die auch in der von Hans-Ulrich Wehler verfassten Passage entscheidend die Darstellung und Interpretation des Kolonialkrieges prägen. Gerade an diesem kanonischen Werk der deutschen Sozialgeschichte wird deutlich, dass die westdeutsche Historiografie durch die Geschichtsschreibung der DDR geprägt wurde. 240 | In der »Deutschen Gesellschaftsgeschichte« findet sich die Passage nahezu wortgleich. Vgl. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, 2007, S. 1120. 241 | Wehler: Das Deutsche Kaiserreich, 1973, S. 157. 242 | Ebd., S. 157f.
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Seit den 1970er Jahren wandelt sich die Darstellung des kolonialen Namibias auch in normativen Texten. Im Brockhaus aus dem Jahr 1973 erfährt sie eine erste semantische Verschiebung und der Krieg gegen die Herero wird erstmals als »grausam unterdrückter Aufstand« bezeichnet.243 Das Wissen über das koloniale Namibia fand auch Eingang in das Curriculum. So thematisiert das 1977 erstmals aufgelegte Geschichtsbuch »Fragen an die Geschichte, Band 3« den deutschen Kolonialkrieg gegen die Herero. In dem Lehrbuch »Geschichtliche Weltkunde« aus dem Jahr 1980 werden die »Hererokriege« eingehender behandelt. Einem kolonialapologetischen Textauszug aus dem Gebhardt wird eine Passage aus Helmut Bleys Monografie gegenübergestellt, die mit der Überschrift »Vernichtungskrieg« eingeführt wird.244 Helmut Bleys Arbeit wurde jedoch nicht nur innerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft rezipiert. Auf der Suche nach einer historisch begründeten nationalen Identität und der Verortung des Nationalsozialismus kam der Geschichtswissenschaft in den 1960er Jahren auch im öffentlichen Bewusstsein eine entscheidende Bedeutung zu. Nach dem Erscheinen der Monografie wandten sich vorwiegend ältere Männer in Leserbriefen an Die Zeit und die Wochenzeitschrift »Der Spiegel« gegen eine Interpretation der deutschen Kolonialgeschichte, die diese als Vorläufer des Nationalsozialismus diskreditierte. Damit ähnelt die Reaktion auf Helmut Bleys Publikation den Leserbriefen, die den WDR in Folge von »Heia Safari« erreichten. Es liegt jedoch nahe, zu vermuten, dass die Leserbriefe nicht aufgrund der tatsächlichen Lektüre der Monografie ausgesprochen impulsiv ausfielen. Vielmehr trugen die stellenweise provokativen Buchbesprechungen in »Der Spiegel« und Die Zeit erheblich dazu bei, dass Helmut Bleys Thesen Widerstand hervorriefen. Die Besprechungen, die Helmut Bleys Thesen erinnerungspolitisch verschärft und geradezu polemisierend wiedergeben, zeugen von einer erheblichen Transformation historiografischen Wissens durch das Medium der Wochenzeitung und der Wochenzeitschrift. Dies wird besonders an der Auseinandersetzung mit der Monografie im März 1969 deutlich. Hier heißt es in einem Artikel der Zeitschrift »Der Spiegel« unter anderem: »30 Jahre bevor Adolf Hitler seinen Rassenwahn in Deutschland zur Staatsdoktrin erhob, praktizierten Beamte und Farmer des deutschen Kaiserreiches in ihrer Kolonie Südwestafrika darwinistische Herrenmenschenlehren.«245 Sprachlich sind die Ausführungen deutlich an die historiografischen Texte der DDR angelehnt. Die akademische Beglaubigung des Artikels wird über Helmut Bley und dessen Doktorvater hergestellt: »Diese Legende vom guten deutschen Kolonialherrn zerstörte jetzt der Ham-
243 | Brockhaus, Bd. 17, 1973, Lemma: »Schutzgebiete«, S. 83-84, Zitat S. 83. 244 | Danner/Hug: Geschichtliche Weltkunde, 1980, S. 160. 245 | Südwestafrika. Deutsche Gesittung, in: Der Spiegel, 3.3.1968.
IV. Kontroversen in der BRD
burger Helmut Bley, ein Schüler des Historikers Egmont Zechlin.«246 Gerade der Verweis auf Egmont Zechlin, der den Lesern der Zeitschrift »Der Spiegel« aufgrund der Fischer-Kontroverse als konservativer Historiker geläufig gewesen sein dürfte, kann hier als Versuch gelesen werden, diese Deutung der Kolonialgeschichte als normatives Wissen zu präsentieren. Für die Bebilderung des Artikels wurde auf ein Portrait Gouverneur Leutweins zurückgegriffen sowie auf die Fotografie eines kolonialen Truppenplatzes. Ein weiteres Bild zeigt AfrikanerInnen in offenen Eisenbahnwaggons. Zusammen mit der Bildunterschrift »… das väterliche Züchtigungsrecht: Gefangene Hereros in Südwestafrika« und dem Gesamtnarrativ des Textes verweist das Bild ikonografisch auf die nationalsozialistischen KZ-Transporte. Die Rezension von Helmut Bleys Arbeit in »Der Spiegel«, in der Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus deutlich benannt werden, verweist darauf, dass sich Ende der 1960er Jahre die Historiografie über das koloniale Namibia erheblich gewandelt hatte.
IV.3 Z wischenfa zit Die westdeutsche Auseinandersetzung mit der Geschichte des kolonialen Namibias wurde im Gegensatz zur DDR-Historiografie wesentlich durch die Generationenzugehörigkeit geprägt. Die politische Haltung gegenüber der bundesrepublikanischen Südafrika-Politik, der marxistischen Unabhängigkeitsbewegung und der »Aufarbeitung des Nationalsozialismus« trennte in Hamburg zwei Forschergenerationen voneinder. Mit Aleida Assmann lässt sich gerade für die jungen, überwiegend männlichen Kolonialhistoriker konstatieren: »Jede Generation entwickelt ihren eigenen Zugang zur Vergangenheit und lässt sich ihre Perspektive nicht durch die vorangehende Generation vorgeben.«247 Welche wissenschaftspolitischen Folgen sich hieraus ergaben, wurde anhand der Konferenz in Oxford herausgearbeitet. Der spezifische Gegenwartsbezug der 1960er Jahre bedingte es, dass die Verortung des Nationalsozialismus in der westdeutschen Geschichte zunehmend den Blick auf das koloniale Namibia sowohl in populären als auch wissenschaftlichen Texten bestimmte. Die Sonderwegthese fungierte hierbei als Metanarrativ, in dessen Abhängigkeit auch die Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus plausibilisiert werden musste. Die hieraus resultierende Verbindung von Kolonialismus und Nationalsozialismus wurde besonders im anglophonen Ausland als nationale Perspektive wahrgenommen. Die amerikanische Historikerin Marcia Wright liest Helmut Bleys Arbeit als Beitrag zur deutschen ›Vergangenheitsbewältigung‹. Obgleich ihn die his246 | Ebd. 247 | Assmann: Der lange Schatten, S. 27.
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torische Beweisführung nicht vollständig überzeugt, räumt sie ein, »if the intended audience is mainly German, then this national focus is not only appropriate, but well chosen«.248 Mit einem kritischen Gesamtfazit kommt auch der konservative Historiker Lewis H. Gann zu dem Schluss, dass die westdeutsche Beschäftigung mit der deutschen Kolonialgeschichte der Vergangenheitsbewältigung geschuldet sei, da »many German historians were overwhelmingly preoccupied with the bitter past«.249 Dieser nationalgeschichtliche Gegenwartsbezug führte dazu, dass ein grundlegender Bruch mit eurozentrischen Erzählmitteln nicht erfolgte. Der Blick auf populäre historiografische Texte machte deutlich, dass auch die westdeutsche Geschichtswissenschaft in den 1960er Jahren als »teiloffenes System« verstanden werden kann. Den aufstrebenden Historikern kam zunächst keine Vorreiterrolle in der Vermittlung eines »neuen Geschichtsbildes« zu. Der Dokumentarfilm »Heia Safari« übernahm diese Funktion, indem er die ›Koloniallegende‹ zu dekonstruieren und überschreiben suchte und die These des kolonialen Völkermordes für ein breites Publikum auf bereitete. Gerade an »Heia Safari« und der Thematisierung des kolonialen Genozids wurde zudem sichtbar, dass die Kolonialgeschichtsschreibung der DDR zumindest unterschwellig in den 1960er Jahren zunehmend als Alternative zur westdeutschen Historiografie betrachtet wurde. Das akademische Verhältnis der ost- und westdeutschen Geschichtswissenschaft ist dabei durch die Pole Austausch und Abgrenzung gekennzeichnet. Dies schlug sich auch inhaltlich-narrativ nieder. Neben offener Ablehnung, die vor allem die ältere westdeutsche Historikergeneration formulierte, wurde anhand der Kolonialhistoriografie bereits in den 1960er Jahren sichtbar, dass »das Bild einer klaren Hierarchie zwischen pluraler und gelenkter Wissenschaft in den siebziger und achtziger Jahren allmählich seine Konturen [verlor]« und sich stattdessen die Vorstellung »tendenzieller Gleichwertigkeit«250 durchsetzte. Die Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Geschichtsschreibung und vor allem die Adaption historiografischen Wissens erfolgte jedoch indirekt und wurde zumeist nicht im Literaturverzeichnis abgebildet. Hieran anknüpfend lässt sich im nachfolgenden Kapitel fragen, welche Relevanz politische Zäsuren – etwa die sozialliberale Koalition, die Anerkennung der DDR und die bundesrepublikanischen Unterstützung der namibischen Unabhängigkeit – für die Zirkulation von historiografischem Wissen zwischen der DDR und BRD in den 1970er und 1980er Jahren zukam. 248 | Wright, The Germans in South-West Africa (Review), 1970, S. 460. 249 | Gann: Rezension zu: Bley, 1973, S. 124. 250 | Jarausch/Middell/Sabrow: Störfall DDR-Geschichtswissenschaft, 1998, S. 23. Zu einem ähnlichen Schluss kam Jost Dülffer im Jahr 1981. Vgl. Dülffer: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1981, S. 461.
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Die Suche nach einem verbindlichen Narrativ
Das Jahr 1984 wurde in der DDR und der BRD zur erinnerungspolitischen Zäsur, die eine erneute Auseinandersetzung mit dem kolonialen Namibia anstieß. Sie fand in einem gewandelten gesellschaftspolitischen Kontext und vor dem Hintergrund einer politischen und wissenschaftlichen Annäherung zwischen den beiden Staaten statt, die wesentlich zur Zirkulation von Wissen über nationale Grenzen hinweg beitrug. Anhand der unterschiedlichen Texte, die um das Jahr 1984 erschienen, lässt sich zeigen, dass die Erzählung des kolonialen Genozids in den linken Kreisen der Bundesrepublik zunehmend adaptiert wurde. Zugleich verschob sich der Deutungsrahmen: Während die Erzählung des kolonialen Genozids in den 1960er Jahren vor allem eine historische Fehlentwicklung hin zum Nationalsozialismus belegen sollte, wurden nun die Herrschaftsmethoden des deutschen Kolonialismus und darin angelegte Parallelen zum Nationalsozialismus innerhalb der Nationalgeschichte Namibias verortet und als Bedingung des südafrikanischen Regimes präsentiert. Parallel zu diesen Entwicklungen blieb die im »im heutigen Sprachgebrauch gängige These vom kolonialen Völkermord«1 nicht unwidersprochen, was zu einer erneuten Konjunktur kolonialer Darstellungs- und Legitimationsverfahren aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führte.
V.1 W issenszirkul ation Mit der sozial-liberalen Koalition und besonders seit Beginn der 1970er Jahre zeichnete sich ein Wandel in der westdeutschen Namibia-Politik ab. Die sozialliberale Koalition unterstützte die Unabhängigkeitsbemühungen Namibias, die seit den 1970er Jahren auch international forciert wurden: 1971 bestätigte 1 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik, 1974, S. 186.
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der internationale Gerichtshof in Den Haag die Unrechtmäßigkeit der südafrikanischen Okkupation Namibias. Zwei Jahre später, im Jahr 1973, wurde die SWAPO von den Vereinten Nationen als authentische Vertretung des namibischen Volkes anerkannt. Im selben Jahr traf sich Willy Brandt mit Sam Nujoma und ein Jahr später wurde schließlich eine Delegation der SWAPO im Auswärtigen Amt und im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit empfangen, um über die Finanzierung eines Gesundheits- und Bildungszentrums zu diskutieren. Ein grundlegender Kurswechsel setzte 1977 ein. Mit der Mitgliedschaft der BRD in den Vereinten Nationen und dem Sicherheitsrat »konnte sich die Bundesrepublik […] dem internationalen Disput um die Unabhängigkeit Namibias nicht länger entziehen«.2 Die westlichen Sicherheitsratsmitglieder begannen, sich in der politisch-diplomatischen Namibia-Initiative, der sogenannten Kontaktgruppe, zu engagieren.3 Ausschlaggebend für den Kurswechsel waren außerdem die politischen Entwicklungen in Südafrika beziehungsweise Namibia: Der Schüleraufstand in Soweto im Jahr 1976, die Ermordung Steve Bikos im Jahr 1977 und der Angriff auf den SWAPO-Stützpunkt in Cassinga am 4. Mai 1978 hatten auch in der westdeutschen Öffentlichkeit zu Kritik am Apartheidsystem und zur Unterstützung der namibischen Unabhängigkeitsbewegung geführt. Vor allem der südafrikanische Luftangriff auf ein Ausbildungs- und Flüchtlingslager der SWAPO in der angolanischen Stadt Cassinga, bei dem etwa 600 Menschen umkamen, löste eine Welle internationaler Solidarität aus und intensivierte die Bemühungen der Vereinten Nationen um eine politische Lösung des Konflikts. In der Folge verabschiedeten die UN im September 1978 die Resolution 435, eine Aufforderung an Südafrika, die Truppen aus Südwestafrika abzuziehen und freie, durch die Vereinten Nationen überwachte Wahlen abzuhalten.4 Die BRD unterstützte die Unabhängigkeit Namibias daraufhin auch offiziell. Sam Nujoma wurde 1980 in Bonn mit protokollarischen Ehren empfangen; 1981 und 1982 folgten weitere Besuche. Mit der Anerkennung der SWAPO und der Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung veränderte sich auch die Perspektive auf die Geschichte des kolonialen Namibias. Die bisherige Forschung wurde nun an der politischen Gegenwart gemessen. Für Armelle Cressent ist die »Südafrikafrage« ganz zentral, um den »Untergang« einer »Forschergemeinschaft« und die Durchsetzung einer anderen zu erklären.5 Auch Helmut Bley führte dies in einem 2 | Brenke: Die Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 1. 3 | Sie bestand aus der Bundesrepublik Deutschland, Kanada, den USA, Großbritannien und Frankreich. 4 | Die Demokratische Turnhallenallianz gewann die Wahlen mit 82 %. Aus Protest gegen die Wahlbedingungen, die durch einen ethnischen Zensus Weiße begünstigten, boykottierten SWAPO, Namibia National Front und SWAPO-Demokraten die Wahlen. 5 | Cressent: Die Afrikaforschung an der Universität Hamburg, 1997, S. 133.
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Interview im Jahr 1996 aus, als er über »südafrikafreundliche« Wissenschaftler urteilt: »Da haben sie historisch unrecht gehabt. Wir haben es richtig gesehen [Hervorhebung im Original].«6 Doch obwohl sich das politische und damit auch wissenschaftliche Klima zu Beginn der 1970er Jahre wandelte und der akademische Nachwuchs, der in den 1950er und 1960er ausgebildet worden war, im Zuge der Hochschulreformen zunehmend den Lehrbetrieb übernahm, blieben weitere Studien zur Geschichte des deutschen Kolonialismus nahezu aus.7 Dieses Ergebnis steht in Diskrepanz zur allgemeinen Zunahme der Afrikahistoriografie. Hartmut Pogge von Strandmann konstatierte im Jahr 1970 einen »fast-growing body of works which […] have been published in both East and West Germany as well as in the English-speaking world«.8 Auch Imanuel Geiss kommt in seinem Literaturbericht »Afrika« im Jahr 1985 zu dem Schluss, dass die Publikationen zur Geschichte Afrikas eine kaum zu überblickende Fülle angenommen hätten, die »es dem einzelnen, ohne institutionellen Rückhalt, inzwischen unmöglich macht gegen die Informationsflut auch nur anzulesen, geschweige denn sie zu rezensieren oder gar zu verarbeiten«.9 Dennoch blieb die Geschichte des deutschen Kolonialismus innerhalb der »Fülle historischer Neuerscheinungen«10 ein Randgebiet. Im Jahr 1986 resümierte Peter Grupp in der »Neuen Politischen Literatur« über die deutsch-deutsche Publikationstätigkeit anlässlich des Jahres 1984, das als hundertster ›Jahrestag‹ des Beginns des deutschen Kolonialismus galt, dass »das Ausmaß der ›Hitler- oder Preußenwelle‹ nicht erreicht wurde und die Zahl der Neuerscheinungen überschaubar geblieben ist«.11 Völlig unbeachtet blieb der von den Vereinten Nationen 1985 verabschiedete »Whitaker Report«, obwohl er den Vernichtungskrieg gegen die Herero in einem offiziellen UN-Dokument als Genozid kategorisierte.12 Zur akademischen Leerstelle trug bei, dass die Fördermittel der Afrikainitiativen seit den späten 1960er Jahren wieder deutlich abgenommen hatten. »Spätestens seit Mitte der 70er Jahre«, so der damalige Direktor des Instituts für Afrika-Kunde in Hamburg, Rolf Hof6 | Ebd. 7 | Ebd., S. 60. 8 | Strandmann: The German Role in Africa, 1970, S. 381. 9 | Geiss: Literaturbericht Afrika, 1985, S. 53. 10 | Ebd. 11 | Grupp: Deutschland und der Kolonialismus, 1986, S. 105. 12 | Vgl. »The ›Whitaker Report‹ confirmed in the mid-1980s already such conclusion by listing the German war against the Herero as the first genocide of the 20 th century. It is the so far most explicit document produced within a United Nations body on the notion of genocide as a relevant definition with far reaching implications also in terms of international law. It therefore represents to some extent an official international frame of reference.« Melber: How to come to Terms with the Past, 2005, S. 140.
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meier, »ging es eigentlich überall nur noch um einen oft mühsamen Kampf zur Erhaltung des ›Status quo‹.«13 Für die dezidiert geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung kam hinzu, dass sich die afrikabezogenen Themenfelder hin zu tagespolitischen Themen verschoben, nicht zuletzt deshalb, weil die Zusammenarbeit mit Politik und Wirtschaft eine deutliche Intensivierung erfuhr. Dies hing wiederum damit zusammen, dass sich »die Unterschiede zwischen Afrikawissenschaftlern, AA, BMZ und GTZ seit 1977/78 verringerten« und die außeruniversitären Organisationen ein grundlegender »linksdrift« erfasste.14 So wurde beispielsweise die konservative »Deutsch-Afrikanische Gesellschaft« im Jahr 1978 aufgelöst. Noch im selben Jahr erfolgte die Gründung des progressiveren Deutschen Afrika-Vereins als Nachfolgeorganisation.15 Besonders in Hamburg standen Wissenschaft und Politik traditionell in einem speziellen Verhältnis. Helmut Bley beschreibt retrospektiv in seinem Essay »Afrikapolitik und der Einfluss der Sozialwissenschaften«, dass »eine Generation von politisch engagierten Wissenschaftlern […] mit Texten, Memoranden, Büchern und vor allem auch mit Gesprächen mit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) sowie den parteinahen Stiftungen den Kontakt zur Afrikapolitik gesucht [habe]«.16 Auch Helmut Bley selbst befasste sich seit den 1970er Jahren vorwiegend mit den politischen Aspekten der Südafrika- und Namibiafrage.17 Diese Situation führte dazu, dass das ›Jubiläum‹ in der Bundesrepublik von sehr unterschiedlichen Gruppen publizistisch genutzt wurde. Vor allem populärwissenschaftliche Texte, die zeitgenössisch als »an example of publishing in order to catch the centennial market«18 bewertet wurden, profitierten von der erinnerungspolitischen Zäsur.19 Eine weitere publizistische Gruppe 13 | Hofmeier: Institut für Afrika-Kunde, 1988, S. 216. 14 | Bley: Afrikapolitik und der Einfluss der Sozialwissenschaften, 2005, S. 4. 15 | Vgl. Brahm: 40 Jahre Vereinigung für Afrikawissenschaften, 2009, S. 7. 16 | Bley: Afrikapolitik und der Einfluss der Sozialwissenschaften, 2005, S. 2f. 17 | Bley: Probleme um Namibia, 1976; Bley: Die Bundesrepublik, der Westen und die internationale Lage, 1978; Bley: Die politische, soziale und wirtschaftliche Situation in Namibia, 1976. 18 | Breitinger: Rezension zu: Graudenz/Gründer, 1984, S. 730. 19 | Hierzu gehört etwa die »Geschichte der deutschen Kolonien« des 1941 geborenen Wilfried Westphal, das der Verlag im Klappentext als »Standardwerk zur deutschen Kolonialgeschichte« anpries. Es erschien 1985 in erster Ausgabe – und damit ebenfalls rechtzeitig zum Erinnerungsjahr. Doch das vermeintliche Standardwerk schaffte es nicht, innerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft als ernstzunehmender Beitrag rezensiert zu werden. »So ist es zumindest eine Übertreibung, wenn das Buch von Wilfried Westphal als ›Das Standardwerk über die Geschichte der deutschen Kolonien‹, und der Verfasser als ›anerkannter Fachmann für die Geschichte der europäischen Kolonialreiche‹ vorgestellt werden.« Grupp: Deutschland und der Kolonialis-
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bildeten kolonialrevisionistische, überwiegend männliche, Autoren, die sich in ihren Arbeiten vor allem gegen die »im heutigen Sprachgebrauch gängige These vom ›Völkermord‹ an den Herero«20 wandten. Und schließlich wurde das Erinnerungsjahr auch von der Antiapartheid- und Solidaritätsbewegung politisch vereinnahmt, deren Anliegen es war, die deutsche Kolonialzeit innerhalb der namibischen Geschichte zu schreiben. Auch in der DDR änderte sich der Umgang mit der Geschichte des kolonialen Namibias, die gemäß dem marxistischen Geschichtsverständnis bereits als umfassend erforscht galt und auch aufgrund der politischen Rahmenbedingungen zunehmend von der Forschungsagenda verschwand. Mit der schrittweisen Anerkennung der DDR auf internationaler Ebene seit Ende der 1960er Jahre und ihrem Beitritt zur UNO im Jahr 1973, konnte die DDR die Unabhängigkeitsbewegung als souveräner Staat militärisch und politisch auf direktem Wege unterstützen. Kritische Publikationen über das südafrikanische Regime und die politische Situation der NamibierInnen nahmen zu. Die Geschichte des kolonialen Namibias wurde dabei zwar als Teilaspekt behandelt, eine eigenständig neue Forschung fand jedoch nicht statt. Dies mag auch daran liegen, dass Horst Drechsler seit Ende der 1960er Jahre nicht mehr über das koloniale Namibia arbeiten und veröffentlichen konnte.21 Ein Jahr nach der Publikation seiner Habilitationsschrift trat Horst Drechsler eine Professur am Lateinamerikanischen Institut der Universität Rostock an und befasste sich in der Folge in erster Linie mit dem lusophonen Afrika.22 Die Gründe für den Wechsel gehen aus den Akten nicht hervor, neben Horst Drechslers Sprachkenntnissen sind auch politische Gründe nicht auszuschließen, denn spätestens seit Ende der 1960er Jahre, und damit mit dem Wechsel nach Rostock, scheint sich Drechsler zunehmend vom Wissenschaftsbetrieb und dem politischen System der DDR zu distanzieren. In den Akten finden sich zahlreiche Beschwerden über Horst Drechslers fehlendes Engagement oder gar seine offene Ablehnung gegenüber den Maximen der mus, 1986, S. 110. »Dieses Buch ist keinesfalls ›das Standardwerk über die Geschichte der deutschen Kolonien‹, wie der Verlagstext es verheißt […].« Baumgart: Rezension zu: Westphal, 1985, S. 444. 20 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik, 1974, S. 186. 21 | Erst nach 1990 konnte Horst Drechsler seine Forschung zur Geschichte des kolonialen Namibias fortsetzen. 1996, und damit genau dreißig Jahre nach seiner Monographie, erschien im Stuttgarter Franz Steiner Verlag mit »Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft. Die großen Land- und Minengesellschaften (1885-1914)« der zweite Band seiner Geschichte des kolonialen Namibias. 22 | Vgl. N.N.: Horst Drechsler, 1986; N.N.: Horst Drechsler, 1992; Drechsler: Germany and South Angola, 1960; Drechsler: Deutsche Versuche das deutsch-englische Abkommen, 1961; Drechsler: Pax Lusitana?, 1961; Drechsler: L’Allemagne et L’Angola du Sud, 1962; Drechsler: The Germans in Angola, 1963.
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Hochschulpolitik. So werden in einem Bericht an das Ministerium für Hochund Fachschulwesen »Auseinandersetzungen mit Gen. Prof. Drechsler« bemängelt, »die sich auf ungenügende erzieherische Einflußnahme auf die Studenten, Schwierigkeiten bei der Nachwuchsentwicklung, wenig Initiative und Ausstrahlungskraft in ihm übertragenen Funktionen, Überbetonung individualistischer Tendenzen bezogen«.23 Auch Drechslers »Schriftgutverkehr« und vor allem der »Publikationsaustausch mit dem nichtsozialistischen Ausland« missfiel den Behörden der DDR, die in der Folge die Forschungs-, Lehr und Publikationstätigkeit Horst Drechslers stark reglementierten.24 Die personelle und politische Situation führte dazu, dass das historiografische Wissen der 1950er und 1960er Jahre in der DDR verbindlich blieb. Allerdings änderte sich die Rezeption der sozialistischen Historiografie in den 1970er Jahren erheblich. Vergangenheits- und Gegenwartsentwürfe der DDR zirkulierten seit den 1970er Jahren auch offiziell über die Grenzen des Kalten Krieges hinweg. Möglich wurde dies, weil die ostdeutschen Publikationen dem politischen Kurs der UNO entsprachen und sich ost- und westdeutsche Vergangenheitsentwürfe über das koloniale Namibia zunehmend annäherten.25 Hinzu kam, dass gerade die »marxistisch beeinflusste französische Revolutionsforschung, die Erforschung des Kolonialismus und der Befreiungsbewegungen im spanischsprachigen Raum und die historische Afrikaforschung« vor allem in »westlichen Diskussion außerhalb der Bundesrepublik« bereits seit den 1960er Jahren »vorbehaltlos als seriöse[r] Beitrag zu eigenen Fragekomplexen« galten. Selbst in »der nordamerikanischen Geschichtswissenschaft«, so Konrad Jarausch, Matthias Middel und Martin Sabrow, »begegnete man der zweiten deutschen Geschichtswissenschaft seit ihrer Herausbildung mit einer deutlich unverkrampfteren Haltung als in der Bundesrepublik«.26 Diese Situation erleichterte die internationale und westdeutsche Anerkennung der DDR-Forschung. 1979 veröffentlichten Alfred Babing und Hans-Dieter Bräuer »Nambia«, einen Report über die aktuelle politische Situation. Er entstand unmittelbar im Kontext des Luftangriffs auf Cassinga im Jahr 1978 und den Afrikareisen Erich Honeckers im Jahr 1979.27 Der Bezugspunkt des Reports ist die damalige politische Situation in Namibia. Der »Völkermord in der Omaheke«28 bildet 23 | Prof. Dr. Brauer an das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, 5.8.1983, in: SAPMO-BArch DR 3/B/10805, Blatt 68. 24 | Ebd., Blatt 69. 25 | Vgl. Jarausch/Middell/Sabrow: Störfall DDR-Geschichtswissenschaft, 1998, S. 23. 26 | Ebd., S. 24. 27 | Hierbei traf er auf die Vertreter der Befreiungsbewegungen Namibias, Zimbabwes und des Afrikanischen Nationalkongresses. Vgl. Verlag der Nation. Verlagsgutachten zu Namibia, 14.2.1979, in: SAPMO-BArch DY 17/3694 Blatt 209. 28 | Babing/Bräuer: Namibia, 1979, S. 79
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den historischen Ausgangspunkt einer »Apartheid mit brauner Tradition« 29, so der Titel des neunten Kapitels. Neben Horst Drechsler wird auch Helmut Bleys Arbeit »Afrika und Bonn« angeführt.30 Der Report erschien 1980 in einer englischen Ausgabe, die »als Solidaritätsleistung der DDR« von Erich Honecker »am 22. Februar dem SWAPO-Präsidenten Sam Nujoma als symbolischer Ausdruck dieser Solidaritätsaktion« übergeben wurde.31 Vor allem wurde »Namibia« aber auch international positiv rezipiert.32 1980 erschien das Buch schließlich in gekürzter Form und unter dem Titel »Namibia. Kolonialzeit, Widerstand, Befreiungskampf heute. Ein Report« in der »Kleinen Bibliothek« des westdeutschen Kölner Pahl-Rugenstein Verlags. Auch Heinrich Loths auf seinen Arbeiten der 1960er Jahre beruhende Schrift »From insurrection to an organised liberation struggle«, die 1979 ebenfalls vom Solidaritätskomitee der DDR herausgegeben wurde, war als englischsprachige Publikation nicht allein für den Buchmarkt der DDR bestimmt.33 Gleiches gilt für den Sammelband »Drang nach Afrika«, der 1977 von Helmuth Stoecker und Eberhard Czaya herausgegeben wurde und auch einen Beitrag Horst Drechslers beinhaltet. Der Sammelband wurde international und vor allem in der Bundesrepublik als wichtige Überblicksdarstellung gewertet und zeugt damit von einem deutlichen Wandel in der Wahrnehmung und Bewertung der ostdeutschen Forschungsergebnisse und ihrer Repräsentation. Selbst in der konservativen »Historischen Zeitschrift« geht Alfred Wirz zunächst grundsätzlich positiv auf »Drang nach Afrika« ein: »Der Sammelband vermittelt einen willkommenen Überblick über das bislang in der DDR zur Erforschung der deutschen Kolonialgeschichte Geleistete, ein Gebiet, auf dem die DDR-Historiker als Pioniere gewirkt und, wenn man in Anlehnung an ihre Sprache so sagen darf, wissenschaftliche Monopolprofite erwirtschaftet haben.«34 Der Amerikaner Woodruff Smith will in den Beiträgen Helmuth Stoeckers gar eine deutliche wissenschaftliche Annäherung zwischen West- und Ostdeutschland stehen, 29 | Ebd., S. 182. 30 | Ebd., S. 364. 31 | Rezension in ›Neues Deutschland‹, 27./28.2.1982, in: SAPMO-BArch DY 17/3694, Blatt 214. 32 | Denn das Buch »fand sofort nach Erscheinen im April d.J. die besondere Aufmerksamkeit internationaler Kreise (UN-Ausschüsse), der SWAPO, der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und breiter Leserschichten in der DDR«. Verlagskorrespondenz zu: ›Namibia‹, 1980, in: SAPMO-BArch DY 17/3694, Blatt 220. 33 | Loth: From Insurrection to an Organised Liberation Struggle, 1979. 34 | Wirz: Rezension zu: Stoecker, 1979, S. 192. »Als ernüchternde Schlussfolgerung bleibt deshalb, daß trotz der großen Arbeit des Stoecker-Teams eine überzeugende marxistische Darstellung deutscher Kolonialgeschichte noch immer aussteht.« Wirz: Rezension zu: Stoecker, 1979, S. 194.
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denn Helmuth Stoecker »follows the standard East German Marxist line that German expansion resulted ultimately from the needs of ›monopolistic‹ big business, but he has carefully adapted this explanatory scheme to take into account the work of Hans-Ulrich Wehler and his school.«35 Horst Drechslers Monografie »Südwestafrika in der deutschen Kolonialzeit« aus dem Jahr 1966 kam im Kontext des Jubiläums eine besonders wichtige Stellung zu, denn sie wurde in den 1980er Jahren mehrfach und in verschiedenen Kontexten erneut veröffentlicht und zur politisch anerkannten, identitätsstiftenden historiografischen Erzählung für Namibia, die weltweit Verbreitung fand. Bereits Ende der 1970er Jahre bemühte sich der Verlag Zed Press in London um eine Lizenzausgabe, die 1980 umgesetzt wurde.36 Horst Drechslers Arbeit konnte nach 1980 auch in den USA erworben werden, denn »350 gebundene und 600 broschierte Exemplare sind für die USA bestimmt«.37 Konrad Jarausch betont hinsichtlich der Zirkulation des in der DDR produzierten historiografischen Wissens, dass »ostdeutsche Arbeiten kaum in den englischen Sprachraum vor[drangen]«.38 Offenbar gilt dies jedoch nicht für die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia, denn im englischsprachigen Forschungskontext galt: »Although previously only available in German, Drechsler’s study of 1966 has long been a classic and an English edition is most welcome.«39 Die Monografie erschien unter dem Titel »Let us die fighting« mit einem Vorwort Sam Nujomas und wurde daraufhin in Südafrika verboten.40 Als Präsident der SWAPO inszenierte Nujoma sich als Repräsentant der Schwarzen NamibierInnen und eignete sich Horst Drechslers Deutung der Geschichte an. Das ausführliche veränderte auch den Paratext der Monografie, denn es verschaffte ihr zugleich Authentizität und Legitimation. Bereits drei Jahre vor dem ›Jahrestag‹ wandte sich Horst Drechsler an den SED-eigenen Dietz-Verlag, um die Druckgenehmigung einer Broschüre zu erwirken, die er »auf Wunsch des Dietz-Verlages und im Hinblick des 100. Jahrestages der Eroberung Südwestafrikas«41 geschrieben hatte. »Im Jahr 1984«, so begründet Horst Drechsler sein Anliegen,
35 | Smith: Rezension zu: Stoecker, 1983, S. 122. 36 | Dr. Tesche, Stellungnahme zum Druckgenehmigungsantrag, in: BBAW 2950 (2), ohne Datierung, nicht paginiert. 37 | Akademieverlag an Drechsler, 14.12.1983, in: BBAW 2950, ohne Blattangabe. 38 | Jarausch/Middell/Sabrow: Störfall DDR Geschichtswissenschaft, S. 24. 39 | Alnaes: Rezension zu: Drechsler, 1983, S. 290. 40 | Vgl. Dedering: The German-Herero War of 1904, 1993, S. 81. 41 | Vermerk über ein Gespräch mit Prof. Dr. Horst Drechsler und Kollegin Schneider, 8.5.1984, in: BBAW 2946 (3), nicht paginiert.
V. 1984 »jährt sich zum hundertsten Male der Beginn der deutschen Kolonialexpansion sowie zum sechzigsten Male der Ausbruch der großen Aufstände in Südwestafrika. Es steht zu erwarten, daß diesen Ereignissen in der BRD durch Veröffentlichungen nostalgisch gedacht wird. Deshalb ist es notwendig, daß 1984 in der DDR Publikationen erscheinen, die ein ungeschminktes Bild von der deutschen Kolonialherrschaft zeichnen.« 42
Unter dem leicht veränderten Titel »Aufstände in Südwestafrika. Der Kampf der Herero und Nama 1904 bis 1907 gegen die deutsche Kolonialherrschaft« erschien 1984 eine populärwissenschaftliche, knapp 160 Seiten starke Ausgabe, die sich an »breite Leserkreise, besonders Jugendliche« wenden sollte und einen sehr eingeschränkten wissenschaftlichen Apparat enthielt.43 Im Gegensatz zu 1966, als die Erstauflage von 700 Exemplaren erschien, wurde die populärwissenschaftliche Ausgabe in 8000facher Auflage gedruckt.44 Aufgrund der Vorgaben der Reihe erschien »Aufstände in Südwestafrika. Der Kampf der Herero und Nama 1904 bis 1907 gegen die deutsche Kolonialherrschaft« mit 45 Schwarz-Weiß-Bildern und einer Karte. Mit einem Verkaufspreis von 5,20 Mark war die Publikation erheblich günstiger als die 36 Mark teure wissenschaftliche Monografie und in kurzer Zeit vergriffen.45 Für die Überarbeitung fragte Horst Drechsler beim Verlag nach Uwe Timms Roman und den Arbeiten Gert Sudholts, Jon M. Bridgmans und Helmut Bleys an.46 Es ist davon auszugehen, dass sich Horst Drechsler mit den erwähnten Titeln auseinandergesetzt und zumindest Helmut Bleys Darstellung gelesen hat. Allerdings werden die Titel von Horst Drechsler nicht in den Fußnoten erwähnt. Um eine umfangreiche Übersetzung der Monografie Horst Drechslers anlässlich des ›Jahrestags‹ zu erwirken, wandte sich die UNO an den AkademieVerlag. Der Erfolg der englischen Ausgabe und die internationalen politischen Rahmenbedingen hatten dazu geführt, dass sich die Rezeption der Monografie innerhalb weniger Jahre grundlegend gewandelt hatte. »Inzwischen«, so der Fachgebietsleiter des Akademie-Verlags an Horst Drechsler im Jahr 1983, »zeigt sogar die UNO Interesse an einer Veröffentlichung in Englisch, Französisch und Spanisch. Außerdem hat ein Verlag in Heidelberg (KIVOUVOU Ver42 | Schreiben an den Verlag von Horst Drechsler, 18.8.1981, in: SAPMO-BArch DY 30/16417, nicht paginiert. 43 | Antrag auf Titelannahme 1651, 6.5.1982, in: SAPMO-BArch DY 30/16417, nicht paginiert. 44 | Ebd. 45 | Brief von Horst Drechsler an Herrn Wießner (Dietz-Verlag), 10.9.1985, in: SAPMOBArch DY 30/16417, nicht paginiert. 46 | Brief an Horst Drechsler vom Lektorat Geschichte, 9.7.1982, DY 30/16417, nicht paginiert.
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lag) die Absicht, eine deutschsprachige Ausgabe vorzubereiten.«47 Die Anfrage der UNO kam für den Akademie-Verlag und Horst Drechsler überraschend und führte zu erheblichen Schwierigkeiten und Verzögerungen im Produktionsprozess, denn die populärwissenschaftliche Ausgabe sollte parallel mit den UNO-Exportausgaben erscheinen.48 Obgleich zwischen der Erstausgabe und den UNO-Ausgaben knapp 15 Jahre liegen, wurden keine grundlegenden Änderungen gewünscht. In den Akten des Akademie-Verlags heißt es zur Überarbeitung: »Ansonsten machten sich nur noch einige bibliographische Erweiterungen und wenige Korrekturen notwendig.«49 Für die deutsche Ausgabe wurden 2000 Exemplare angesetzt, für die englischsprachige 10.000.50 Die spanischen UN-Ausgaben sind stark an der englischen Ausgabe orientiert, die als Übersetzungsvorlage diente. Die französische Ausgabe folgte in der Übersetzung der deutschen Erstausgabe. Erst 1986 folgte eine russischsprachige Ausgabe.51 Der Genozid an den Herero und die Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus wurden damit politisch zu einer normativen Vergangenheitsdeutung, die besonders im linken Spektrum der Bundesrepublik Akzeptanz fand, das die Antiapartheidbewegung und Unabhängigkeit Namibias unterstützte.
V.2 N arr ative und D arstellungskonventionen im W andel Solidaritäts- und Antiapartheidbewegungen hatten sich in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren etabliert und konnten anlässlich des ›Jahrestages‹ verschiedene Publikationen vorlegen. 1971 wurde die »Informationsstelle südliches Afrika« als gemeinnütziger Verein mit Sitz in Bonn eingerichtet, der von der evangelischen Kirche, der Dritte-Welt-Bewegung und JournalistInnen finanziert wurde.52 Formal wurde die bundesdeutsche Antiapartheidbewegung 1974 gegründet und zunächst von studentischen Initiativen und der evangelischen Kirche unterstützt, die in der BRD die Solidaritäts- und Anti-
47 | Akademieverlag an Drechsler, 14.12.1983, in: BBAW 2950, nicht paginiert. 48 | Vgl. Brief von Horst Drechsler an Herrn Wießner (Dietz-Verlag), 10.9.1985, in: SAPMO-BArch DY 30/16417. 49 | Dr. Tesche, Stellungnahme zum Druckgenehmigungsantrag, in: BBAW 2950 (2), ohne Datierung, nicht paginiert. 50 | Vermerk über ein Gespräch mit Prof. Dr. Horst Drechsler und Kollegin Schneider, 8.5.1984, in: BBAW 2946 (3), nicht paginiert. 51 | Drechsler: Jugo-zapadnaja Afrika, 1987. 52 | Vgl. Bley: Afrikapolitik und der Einfluss der Sozialwissenschaften, 2005, S. 8.
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apartheidbewegungen maßgeblich mittrug.53 In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre bekannten sich Gewerkschaften, politische Gruppen und Parteien – besonders die SPD und die Friedrich-Ebert-Stiftung – ebenfalls offensiv zur Antiapartheidbewegung. Bereits zuvor hatte das Forschungsinstitut der FriedrichEbert-Stiftung kritische Publikationen gefördert, die der Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung dienen sollten. In den Texten, die im Umfeld der Antiapartheidbewegung entstanden waren, wurde die Geschichte des kolonialen Namibias nicht in erster Linie quellengestützt erforscht, sondern geschrieben, um in Anlehnung an das Solidaritätsprogramm der DDR die Unabhängigkeit Namibias zu unterstützen, die koloniale Geschichte der Bundesrepublik zu kritisieren und das Apartheidsystem anzuprangern. Dies geschah vor allem mittels populärwissenschaftlicher Darstellungen, der Zusammenstellung von Unterrichtsmaterialien sowie Quellensammlungen.54 Inhaltlich näherte sich die westdeutsche Antiapartheidliteratur deutlich den Vergangenheitsentwürfen der DDR an. Entscheidend ist, dass das Narrativ des kolonialen Völkermords zum zentralen Bezugspunkt der Antiapartheidliteratur wurde, denn eine Erzählung, die den kolonialen Genozid als Vorläufer des nationalsozialistischen Genozids und der Apartheidpolitik Südafrikas verortet, konnte die Unterstützung der Unabhängigkeits- und Antiapartheidbewegung zum moralischen Gebot erheben. Geradezu exemplarisch für die westdeutsche Solidaritätsliteratur ist »Mythos Deutsch-Südwest. Namibia und die Deutschen«, das von dem Lehrerehepaar Ludwig und Helga Helbig geschrieben wurde, die in den 1960er Jahren als Lehrer in Namibia tätig gewesen waren und sich in der Bundesrepublik für die Unterstützung der SWAPO einsetzten.55 Das populärwissenschaftliche Werk wurde 1983 im Beltz-Verlag veröffentlicht und breit rezipiert.56 Einleitend verorten sie das Buch innerhalb ihrer eigenen Lebensgeschichten und der Auseinandersetzung mit kolonialen Wissensbeständen: »In unserer Schulzeit während der nationalsozialistischen Ära hörten wir zum ersten Male von den Herero und ›Hottentotten‹, von der ›glorreichen‹ Schlacht am Waterberg, von den Heldentaten deutscher Soldaten und der Aufbauarbeit deutscher Siedler im Lande zwischen Kuene und Oranje, zwischen Atlantik und Kalahari. Im Deutschunter53 | Prominent wurde etwa die Evangelische Frauenarbeit in Deutschland, die 1976 unter dem Slogan »Kauft keine Früchte der Apartheid« einen Boykott südafrikanischer Nahrungs- und Genussmittel initiierte. Vgl. Stelck: Politik mit dem Einkaufskorb, 1980. 54 | Helbig/Melber: Erziehung gegen Apartheid, 1988; Nestvogel: Afrika und der deutsche Kolonialismus, 1987; Hinz/Patemann/Meier: Weiss auf schwarz, 1986; Hubrich/ Melber: Namibia, 1977. 55 | Vgl. Helbig: Imperialismus, 1976; Helbig: Der koloniale Frühfaschismus,1988. 56 | Vgl. Schölch: Mythos Deutsch-Südwest, 1984.
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Deutsche Kolonialgeschichte(n) richt lasen wir Auszüge aus Hans Grimms Roman ›Volk ohne Raum‹, und wir begeisterten uns für den ›deutschen Raum Südwest‹. Mit dem Zusammenbruch von 1945 zerbrach auch diese Legende in unseren Köpfen.« 57
Der Begriff »Völkermord« wird in »Mythos Deutsch-Südwest. Namibia und die Deutschen« ebenso verwendet wie die Kategorisierung des kolonialen Genozids als der »erste Völkermord«.58 Auch der Begriff »Konzentrationslager« wird benutzt.59 Deutliche Anklänge an die Texte der DDR finden sich in der Charakterisierung Lothar von Trothas als »Schlächter«60 oder derjenigen Jakob Morengas, der »erst in den letzten beiden Jahrzehnten von Historikern ›entdeckt‹ worden« sei. »Er stellt«, so weiter, »einen neuen Typus des namibischen Freiheitskämpfers dar«.61 Deutlich wird hier auf Horst Drechslers Aufsatz »Jakob Morenga. Ein neuer Typ des afrikanischen Freiheitskampfes« verwiesen, wenngleich Horst Drechslers Arbeiten nicht im Literaturverzeichnis angeführt werden. Die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und der ›Koloniallegende‹ nimmt in »Mythos DeutschSüdwest. Namibia und die Deutschen« eine zentrale Stellung ein, aber auch die »Südafrika-Frage« und die Unabhängigkeit Namibias werden thematisiert. Beispiele für die explizite historiografische Unterstützung der namibischen Unabhängigkeitsbewegung finden sich in den Publikationen des Historikers Werner Hillebrecht, der zusammen mit dem 1950 geborenen Deutschnamibier, SWAPO-Mitglied und Afrikanisten Henning Melber die Unabhängigkeitsbewegung in Publikationen der »informationsstelle südliches afrika« (issa) im Rückgriff auf die Geschichte legitimierte.62 In der 1981 herausgegebenen kommentierten Quellensammlung »Kolonialismus und Widerstand«, die »sich vor allem an Jugendliche der Sekundarstufe 1«63 richtete, wurde der Krieg gegen die Herero in einer Überschrift explizit als »Völkermord« kategorisiert.64 Bezüge zwischen dem Nationalsozialismus und dem südafrikanischen Apartheidregime werden unter anderem über den Abdruck einer Fotografie herge57 | Helbig/Helbig: Mythos Deutsch-Südwest,1983, S. 9. 58 | Ebd., S. 10, 12, 169. 59 | Ebd., S. 158. 60 | Ebd., S. 152. 61 | Ebd., S. 164. 62 | Hillebrecht/Melber/Melber: In Treue Fest, 1985; Hubrich/Melber: Namibia, 1977; issa: Schwerpunkt: Namibia, 1983; Melber: Namibia, 1981. Vgl. zu den Biografien Zimmerer: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, 2003, S. 269. 63 | Melber: Kolonialismus und Widerstand, 1981, S. 6. 64 | Kapitel 2.3: »Aus kolonialgeschichtlichen Quellen: »… bis zur völligen Niederwerfung der Eingeborenen« – die kulturverpflichtete Aufgabe des Völkermordes«, Melber: Kolonialismus und Widerstand, 1981, S. 53.
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stellt, die den Schriftzug »Suum Cuique« über einer Straße in Katutura, dem »Soweto von Winhoek«65, zeigt. Die Textunterschrift lautet: »›Suum Cuique‹ – Jedem das Seine, lautet zynischerweise der Wahlspruch Windhoeks. Auf dieser Straße werden jeden Tag die schwarzen Arbeiter auf LKW’s und in Bussen zwischen Katutura und ihrem Arbeitsplatz in der Stadt hin- und hergekarrt.«66 Das veränderte historiografische Selbstverständnis der westdeutschen SWAPO-UnterstützerInnen wird besonders anhand der 1984 veranstalteten internationalen Konferenz »Namibia 1884-1984. 100 years of foreign occupation – 100 years of struggle« deutlich. Sie wurde anlässlich des ›Jahrestags‹ von dem Namibia Support Committee gemeinsam mit der SWAPO in London organisiert, um Aufmerksamkeit für die Unabhängigkeitsbewegung zu generieren. Aus der Bundesrepublik nahmen Historiker und AktivistInnen der Unabhängigkeitsbewegung teil, die sich mit ihren Beiträgen deutlich politisch positionierten.67 Das Panel zum Thema »Historical Perspectives« wurde mit 18 Beiträgen gestaltet. Zwei stammten aus der Bundesrepublik: Werner Hillebrechts »How to find out what has been written about Namibia«68 und »Struggles on the Namibian countryside, 1915-50. Some preliminary notes« von Wolfgang Werner.69 Ein Beitrag von Horst Drechsler diente als Diskussionsgrundlage des historischen Panels.70 Es handelte sich dabei um einen Abdruck der ersten sieben Seiten seiner englischsprachigen Monografie, die auf der Konferenz als zentrale historiografische Publikation gehandelt wurde.71 Im Konferenzbericht und den Berichten über einzelne Workshops zur Geschichtsschreibung wurde immer wieder betont, dass sich auch wissenschaftliche Fachkreise politisch positionieren sollten, denn »activists and scholars do not inhabit different worlds«.72 Gefordert wurde nicht nur die Reevaluierung der Kolonialhistoriografie, sondern die bewusste Politisierung der Geschichte. Terence Ranger, der das ideologiekritische 65 | Melber: Kolonialismus und Widerstand, 1981, S. 85. 66 | In der ebenfalls von Henning Melber und der issa herausgegebenen Quellensammlung »In Treue fest, Südwest! Eine ideologiekritische Dokumentation von der Eroberung Namibias über die deutsche Fremdherrschaft bis zur Kolonialapologie der Gegenwart« werden in einem gesonderten Kapitel Quellen zum nationalsozialistischen Kolonialrevisionismus angeführt, die das Südafrikanische Regime in einen deutlichen Konnex zum Nationalsozialismus stellen. Melber: Kolonialismus und Widerstand, 1981, S. 85. 67 | Anwesend waren Helga und Ludwig Helbig, Werner Hillebrecht, Henning Melber, Helgard Patemann, Ursula Schmidt und der damalige Geschäftsführer der Bundestagsfraktion der Grünen, Michael Vesper. Vgl. Wood: Namibia, 1988, S. XXXIIIf. 68 | Hillebrecht: How to find out what has been written, 1988. 69 | Werner: Struggles on the Namibian countryside, 1988. 70 | Drechsler: German Imperialism at the Turn of the Century, 1988. 71 | Williams: Report of the Conference, 1988, S. 743. 72 | Ebd., S. 744.
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Konzept der »Invention of Tradition« geprägt und im gleichnamigen Sammelband aus dem Jahr 1983 auch anhand des kolonialen Afrikas belegt hatte, betonte etwa »the importance of recovering the past as a means for a people to gain control of their future«.73 Eine unpolitische, rein akademische Geschichtsschreibung wurde auf der Konferenz zurückgewiesen, es galt: »Namibia could not afford research just for the pursuit of intellectual pleasure or academic qualifications.« 74 Problematisiert wurde in diesem Zusammenhang »the tyranny of academic historians« 75, da deren Geschichtsverständnis, »a matter of making judgements, about the sequence and significance of events, in a particular intellectual and political context« 76, den Interessen der Unabhängigkeitsbewegung gegebenenfalls zuwiderlaufen könne. Wie eine adäquate Geschichtsschreibung aussehen könnte, wurde vor allem im Hinblick auf den Umgang mit den kolonialen Quellen und Wissensbeständen sowie der Entwicklung einer »›resistance‹ perspective« diskutiert.77 Der Krieg gegen die Herero wurde auf der Konferenz zu einem grundlegenden historischen Bezugspunkt der gegenwärtigen Unabhängigkeitsbewegung stilisiert, wie etwa bei Alexander Neville: »The war is one of the main links between the early resistance to the imposition of colonial rule and the present struggle for national liberation waged by the SWAPO.« 78 Damit verbunden ist eine deutliche Verschiebung der Perspektive: Die deutsche Nationalgeschichte und der Nationalsozialismus verlieren ihre eminente Bedeutung im Narrativ, diese nimmt die namibische Geschichte ein. Ein Resultat der westdeutschen historiografischen Hilfe für die SWAPO war auch das Erscheinen von »Our Namibia. A social studies Textbook« im Jahr 1984.79 Die englischsprachige historisch-politische Landeskunde für die im Exil lebenden namibischen SchülerInnen entstand in Zusammenarbeit mit einer Projektgruppe der Universität Bremen, dem »UN Institute for Namibia« sowie dem »Department of Education and Culture« der SWAPO. Die Publikation konnte pünktlich zum ›Jahrestag‹ 1984 in einer Auflage von 3000 Stück herausgeben werden.80 NamibierInnen und deutsche UnterstützerInnen der Unabhängigkeitsbewegung beteiligten sich innerhalb der Projektgruppe an 73 | Ebd., S. 746; Ranger: The Invention of Tradition in Colonial Africa, 1983. 74 | Williams: Report of the Conference, 1988, S. 747f. 75 | Ebd., S. 747. 76 | Ebd. 77 | Ebd.; Hillebrecht: How to find out what has been written, 1988, S. 73-80. 78 | Neville: The Namibian War of Anti-colonial Resistance, 1988. 79 | Eine weitere Auflage folgte 1986. 1987 erschien mit »One Namibia – One Nation. The History of Our Country« eine weitere Publikation, die aus dem Projekt in Bremen hervorgegangen war. Ihr schloss sich mit »Ein Land, eine Zukunft. Namibia auf dem Weg in die Unabhängigkeit« ein Jahr später eine deutsche Ausgabe an. 80 | Melber: Our Namibia, 1984, S. I.
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der Abfassung und Gestaltung des Buches, das vom SWAPO-Aktivisten Henning Melber zusammengestellt wurde.81 »Our Namibia« ist als Versuch zu lesen, einen dezidiert Schwarzen Geschichts- und Zukunftsentwurf für die heranwachsende Generation bereitzustellen, wie im Vorwort erläutert wird: »›Our Namibia‹ is a textbook written especially for teaching social studies to Namibian pupils in upper primary and lower secondary classes. Furthermore, it is the very first Namibian school book and has been compiled essentially by Namibians for Namibians.«82 Auch für Tore Linné Eriksen ist das Buch »the first systematic attempt in the field of Social Studies to reflect our Namibian past and present within the framework of a new educational system that is helping in the making of an independent Namibia.«83 Das Buch, das in erster Linie aus Quellenzitaten zusammengesetzt ist und keine weiterführenden Literaturangaben macht, bricht mit zahlreichen Lese- und Sehgewohnheiten. Es greift damit auch die seit den 1970er Jahren virulente Debatte um europäische Deutungsmacht und eurozentrische Perspektiven innerhalb der afrikanischen Nationalgeschichtsschreibung auf. Zahlreiche afrikanische Forschergemeinschaften emanzipierten sich seit den 1970er Jahren programmatisch von der westlichen Geschichtsschreibung und legten mit ihren Werken den Maßstab für eine genuin afrikazentrische Historiografie.84 Dieser Einfluss wird daran deutlich, dass Geschichte und Gegenwart Namibias in der ersten Person Plural und aus Schwarzer Perspektive erzählt wird. Kolonialdiskursive Fotografien werden vermieden und durch Zeichnungen ersetzt. Wenn koloniale Fotografien Verwendung finden, dann sorgen kritische 81 | Zur Projekt-Gruppe gehörten neben Henning Melber: Billy Modise (Social and Educational Division, U.N. Institute for Namibia, Lusaka/Zambia), Prof. Dr. Manfred O. Hinz (University of Bremen), Nangolo Mbumba (research-fellow, University of Kassel), Helgard Patemann (research-fellow, University of Bremen), Traugott Schöfthaler (research-fellow, MPI for Human Development), Dorothea Litzba (secretarial assistant). Mit Dr. Mose Tjitendero (Social and Educational Division, U.N. Institute for Namibia, Lusaka/Zambia), Shikongo Akwenye (Department of Education and Culture, SWAPO of Namibia) und Nghidimondjila Shoombe (Representative SWAPO of Namibia, Bonn) waren drei namibische SWAPO-Mitglieder als Berater vertreten. Melber: Our Namibia, 1984, S. II. 82 | Ebd., S. V. 83 | Eriksen: The Political Economy of Namibia, 1989, S. 50. 84 | Vgl. Temu/Swai: Historians and Africanist History, 1981; Ki-Zerbo: Die Geschichte Schwarz-Afrikas, 1979; Jewsiewicki/Newbury: African Historiographies, 1986; Vansina: Knowledge and Perceptions, 1986; Kum’a N’dumbe: Hitler Voulait L’Afrique,1979; Marx: Völker ohne Schrift und Geschichte, 1988. Das Interesse an einem solchen Perspektivwechsel fand auch Niederschlag in der Erschließung neuer Quellen. Wolfgang Reinhard veröffentlichte im Jahr 1982 etwa die bis dahin vergessenen »Witbooi-Papers«. Reinhard: Afrika den Afrikanern! Aufzeichnungen eines Nama-Häuptlings, 1982.
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Bildunterschriften dafür, dass deren Macht- und Herrschaftsfunktion deutlich wird. Immer wieder werden sie auch als Grundlage für die kritische Auseinandersetzung mit kolonialen Wissens- und Darstellungsformen herangezogen und damit Kritik und Dekonstruktion zugänglich gemacht. Selbst das Kartenmaterial bricht mit eurozentrischen Darstellungskonventionen. So zeigt die erste Illustration eine Weltkugel, deren Mittelpunkt nicht Europa, sondern Afrika ist.85 Der historische zweite Teil des Buches ist keine Darstellung der deutschen Kolonialgeschichte, sondern »Our Namibian Past. The History of our People«.86 Die deutsche Kolonialgeschichte wird innerhalb der namibischen Geschichte verortet, wenngleich ihr weiterhin ein besonders geschichtsmächtiger Status zugesprochen wird, der bis in die Gegenwart nachwirkt: »The long road of suffering walked down by the people of Namibia is closely connected to the history of Germany and hence that of the Federal Republic of Germany. […] Even today, it is still Germans living in Namibia who determine the future of the country.«87 Der Aufstand steht im Zentrum der Erzählung und wird als »first kind of national liberation struggle« 88 charakterisiert, dessen Ausgang im Gesamtnarrativ zugleich als Erklärung für die »Origins of Apartheid« 89 dient. Der Widerstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft wird so mit der Unabhängigkeitsbewegung der SWAPO parallelisiert. Der kommentierende Text ist eng an der Semantik der DDR-Texte orientiert. Es gilt: »Whites expropriated the Namibians.«90 Auch Lothar von Trotha wird in Anlehnung an die DDR-Historiografie charakterisiert: »The name of this commander with the mentality of a butcher was von Trotha.«91 Und schließlich ist auch »Jacob Morengo – in many sources and reports incorrectly referred to as Morenga«, in Anlehnung an Horst Drechsler, »a new kind of Namibian leader«.92 In der Erzählung des »German-Namibian War«93 und der Nachkriegszeit wird jedoch kein sprachlicher Bezug zum Nationalsozialismus oder zum Apartheidregime hergestellt. Zwar ist ein Unterkapitel in Anlehnung an ein Quellenzitat als »The Extermination of the Herero Nation«94 überschrieben, doch Begriffe wie Genozid oder Konzentrationslager fehlen im Fließtext, der sich in erster Linie aus 85 | Melber: Our Namibia, 1984, S. 2. 86 | Ebd., S. 63-94. 87 | Ebd., S. VI. 88 | Ebd., S. 72. 89 | Ebd., S. 90. 90 | Ebd., S. 72. 91 | Ebd., S. 74. 92 | Ebd., S. 81. 93 | Ebd., S. 72-90. 94 | Ebd., S. 74.
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zeitgenössischen Quellenzitaten zusammensetzt.95 »Our Namibia« fand in der deutschsprachigen Ausgabe als »Lernbuch Namibia. Deutsche Kolonie 18841915. Ein Lese- und Arbeitsbuch«96 gemäß den Lehrplänen für das Bundesland Bremen als »Lese- und Arbeitsbuch für den gesellschafts- und politikkundlichen Unterricht der Sekundarstufe I« im Schulunterricht Verwendung.97
Postkoloniale Erzählformen Eine besondere Rolle für die westdeutsche Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte und für die Zirkulation von Wissen zwischen den beiden deutschen Staaten kam einem Roman zu, dessen Erzählung in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen positiv rezipiert wurde und die bisherigen historiografischen Darstellungskonventionen herausforderte. »Zu Anfang der achtziger Jahre«, so Sabine Wikle, »wird in der Bundesrepublik eine zögerliche und längst überfällige Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte eingeläutet, an der der Schriftsteller Uwe Timm als Intellektueller wie auch als engagierter und in der Studentenbewegung ehemalig Aktiver sich mit der Vorlage eines Bildbandes und dann später des Romans Morenga beteiligt hat.«98 Auch wenn die »zögerliche und längst überfällige Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte« keineswegs erst Anfang der 1980er Jahre eingeläutet wurde, ist im Hinblick auf den Jahrestag 1984 aufschlussreich, dass die gesellschaftspolitische Debatte über die Geschichte des kolonialen Namibias in der Bundesrepublik entscheidend durch den 1940 geborenen Schriftsteller Uwe Timm und seinen Roman »Morenga« geprägt wurde. Der Roman wurde kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 1978 ein Bestseller. Auf die erste Auflage, die im kollektiv geführten Verlagsprojekt der AutorenEdition veröffentlicht wurde, erfolgten in der BRD bis 1985 vier weitere Auflagen bei Rowohlt, beziehungsweise Kiepenheuer & Witsch; zahlreiche Übersetzungen folgten. Bereits 1983 erreichte der Roman eine Auflage in Höhe von 16.000. Für die Generierung und Anerkennung von Wissen über das koloniale Namibia anlässlich des Erinnerungsjahres 1984 kommt dem Werk Uwe Timms daher besondere Bedeutung zu. Auch innerhalb der bundesrepublikanischen Fachwissenschaft wurde »Morenga« rezipiert, schließlich sei der Roman »auf gutem Quellenstudium beruhend« und konnte daher
95 | Ebd., S. 72-86. 96 | Patemann: Lernbuch Namibia, 1984. 97 | Gatter: Schulbücher und Friedenserziehung, 1989, S. 131. 98 | Wikle: Afrika geschildert aus Sicht der Weißen, 2001, S. 335. Sabine Wikle irrt hinsichtlich der Erscheinungsfolge der beiden Werke.
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auch Eingang in Literaturüberblicke finden.99 Im Hinblick auf historiografisches Erzählen und die Zirkulation von Wissen ist ferner relevant, dass Uwe Timm mit seinem »historisch-dokumentarischen Roman«100 die Grenzen zwischen Literatur und historiografischem Erzählen aufweicht, in seinen Werken akademische Wissensbestände aus Ost- und Westdeutschland adaptiert und zugleich neue Formen des Erzählens entwickelt. In der DDR wurde Timms Roman bereits im Jahr 1979 – und damit ein Jahr nach der westdeutschen Erstpublikation im Verlagsprojekt der AutorenEdition – ohne inhaltliche Änderungen in einer Auflage von 15.000 und mit einem Valutabedarf von 9000 DM im Aufbau-Verlag veröffentlicht.101 Uwe Timm, der von 1973 bis 1981 Mitglied der DKP war,102 hatte den Verlag bereits in der Konzeptionsphase des Romans angesprochen. »Als Timm uns vor Jahren […] gesprächsweise dieses Thema vorsetzte«, so die renommierten Lektorinnen Angela Drescher und Alice Berger im Jahr 1978, »schien der Stoff uns doch ziemlich entlegen, und auch sein persönliches Motiv, die zwingende Vorstellung, Bewußtseinsschutt aus eigener Kindheit beiseite räumen zu müssen, wollte nicht recht überzeugen.«103 Die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus wurde vor allem als westdeutsches Thema aufgefasst, das aus dem spezifischen Umgang mit der deutschen Kolonialvergangenheit in den 1950er Jahren und dem Nachwirken kolonialer Texte resultierte: »Das mochte junge Leute in der BRD angehen, die, wie der Autor, in den fünfziger Jahren über Antiquariate, danach vermittels Heftchenliteratur Zugang hatten zu ›Heia Safari‹, der ›Platz an der Sonne‹, zu Fremdenlegion [sic!].«104 Jedoch erfuhr der Konflikt um die Unabhängigkeit Namibias mit dem Erscheinen des Buches Ende der 1970er Jahre in Folge des Angriffs auf den SWAPO-Stützpunkt in Cassinga am 4. Mai 1978 einen zeitweiligen Höhepunkt und die Gutachterinnen hofften, dass »von diesem Buch direkt aktuelle Wirkungen ausgehen könnten, daß es bei seinem Erscheinen als eine gewichtige Stimme mitzählen würde, da die Welt gerade zu der Zeit mit dem erregenden Thema konfrontiert werde, welches der wirklichen Volksinteressen entsprechende Weg zur endgültigen Selbstständigkeit
99 | Dülffer: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1981, S. 469. Uwe Timms Bildband »Deutsche Kolonien« findet sich in Horst Gründers Bibliografie. Gründer: Deutsche Kolonialgeschichte, 1985, S. 263. 100 | Mack: »Morenga« ohne Morenga, in: D ie Z eit, 8.3.1985, S. 56. 101 | Druckgenehmigung: Uwe Timm: Morenga, 5.12.1978, in: SAPMO-BArch DR 1/2117a, Blatt 441. 102 | Hamann/Timm: Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt, 2003, S. 450. 103 | Verlagsgutachten: Uwe Timm: Morenga, 1978, in: SAPMO-BArch DR 1/2117a, Blatt 449. 104 | Ebd.
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Namibias sei«.105 Schließlich räumte das Gutachten auch die historiografische Leerstelle in der DDR ein, denn »Timm holt in ›Morenga‹ geschichtliche Ereignisse herauf, die außer in der Fachliteratur kaum mehr Beachtung finden, und macht sie für das Bewusstsein der heutigen effektiv«.106 Dem Roman wurde seitens der Gutachterinnen textpragmatisch ein hoher historiografischer Wahrheitsgehalt zugesprochen. Die von Uwe Timm verwendeten Erzählmittel, sein marxistisches Geschichtsbild und die Orientierung an der Historiografie der DDR bürgten für den epistemologischen Status des Romans. Der »ideologische Standpunkt des Autors«, so heißt es im Gutachten weiter, »fußt in angewandter marxistischer Geschichtssicht. In der Wertung der historischen Ereignisse und Figuren stimmt er mit Darstellungen von DDR-Historikern überein (so mit Heinrich Loth: Propheten – Partisanen – Präsidenten, Berlin 1975; Horst Drechsler: Südwestafrika unter deutscher Kolonialherrschaft, Berlin 1966).«107 Betont wurde insbesondere, dass der Roman eng an Horst Drechslers Konzeption Jakob Morengas als »kollektiver Held« und verbindliche Identifikationsfigur für die namibische Unabhängigkeitsbewegung orientiert ist.108 Uwe Timms Interesse an der historischen Figur »Jakob Morenga«, der Geschichte des kolonialen Namibias und dem kolonialen Genozid ist laut Stefan Hermes »in ein Verhältnis zu politischen Debatten zu setzen, die Mitte der 1970er Jahre in bestimmten Milieus der Bundesrepublik geführt wurden«.109 Bereits Anfang der 1970er Jahre trat Uwe Timm der Antiapartheidbewegung in München bei.110 »Sein Engagement«, so Stefan Hermes weiter, »hing wesentlich mit der Anteilnahme der westdeutschen Linken an den kolonialen Kriegen in Afrika zusammen, die während und in Folge der sich zunehmend internationalistisch generierenden Studentenbewegung zu beobachten war.«111 Uwe Timm, der Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes war und im Umbruchjahr 1968 zeitweilig in Hamburg lebte, hatte sich bereits 1974 in seinem Roman »Heißer Sommer« mit dem Nach- und Weiterwirken kolonialer Vorstellungswelten und der westdeutschen Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus befasst. Der Roman verarbeitet etwa den Wissmann-Sturz und setzte damit der Hamburger Studentenbewegung und ihrem antikolonialen Engagement ein literarisches Denkmal. Thematisiert wird auch 105 | Ebd., Blatt 452. 106 | Ebd., Blatt 449. 107 | Ebd., Blatt 452. 108 | Bereits Jost Hermand hat nachgewiesen, welche zentrale Bedeutung die DDRHistoriografie – und besonders der Entwurf Jakob Morengas – in Timms Roman spielt. Vgl. Hermand: »Afrika den Afrikanern!«, 1995, S. 50. 109 | Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 179. 110 | Hamann/Timm: Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt, 2003, S. 451. 111 | Hermes: Fahrten nach Südwest, 2009, S. 179.
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die Zirkulation von kolonialrevisionistischer Literatur über die Zäsur des Zweiten Weltkriegs hinaus, nämlich anhand von Paul von Lettow-Vorbecks autobiografischem Roman »Heia Safari«, der bereits mit Ralph Giordanos Dokumentarfilm im Jahr 1966 zum Ausgangspunkt einer Gegenerzählung wurde. »Als Junge«, so Ullrich Krause, der Protagonist und Denkmalstürzer in »Heißer Sommer«, »hatte er einmal zum Geburtstag ein Buch bekommen. Sein Vater hatte es, wie er damals extra betonte, mit einiger Mühe in einem Antiquariat aufgetrieben: Heia Safari. Von Lettow-Vorbeck. Ullrich hatte es in wenigen Tagen verschlungen und sich vorgestellt, wie er mit einem Trupp ihm treu ergebener Askari die Engländer in die Flucht schlug.«112 »Morenga« kann als erster »postkolonialer« Roman gelesen werden, der formalästhetisch wie inhaltlich an die Genre- und Wissenstraditionen autobiografischer Abenteuerromane und kolonialer Feldzugberichte anschließt. Uwe Timm gelingt jedoch die kritische Subversion des Genres und so kommt ihm auch aus der gegenwärtigen Forschungsperspektive eine herausragende Stellung zu.113 Der Protagonist Gottschalk, Oberveterinär und Sohn eines Kolonialwarenhändlers, reist ins koloniale Namibia um dort als Tierarzt seinen Beitrag zur Niederschlagung des »Namaaufstandes« zu leisten. Dabei wird er mit der Ambivalenz des Kolonialsystems zwischen Modernisierungsanspruch und brutalen Herrschaftsmethoden konfrontiert. In Unterveterinär Wenstrup findet er einen Kritiker des Kolonialsystems, dessen Haltung ihn zunehmend überzeugt. Auch Oberveterinär Gottschalk distanziert sich mehr und mehr von der Kolonialideologie und ihren Praktiken. Noch vor seiner Abreise nach Deutschland trifft er Morenga, dessen Persönlichkeit ihn einnimmt. Schließlich sympathisiert Gottschalk mit Morengas politischen Motiven. Das Alleinstellungsmerkmal des Romans ist jedoch nicht der Plot und die kolonialismuskritischen Protagonisten, sondern die Erzählmittel: Uwe Timm collagiert in seinem Roman auktoriale Erzählpassagen, fiktive Tagebucheinträge und Quellenzitate, die mit Seitenangaben im Fließtext angegeben werden und damit einen hohen Authentizitätsanspruch suggerieren.114 Uwe Timm geht mit der bundesrepublikanischen und der sozialistischen Erzählung gleichwertig 112 | Timm: Heißer Sommer, 1974, S. 148. 113 | Holdenried: Neukartierungen deutscher Kolonialgebiete, 2011, S. 129. »Timm’s novel, which follows Andersch in clearly breaking with ›the tradition of the German colonial novel‹, marks the transition from the ›Third World‹ discourse of the 1960s to contemporary postcolonial concerns […].« Göttsche: Remembering Africa, 2013, S. 69f. 114 | Exemplarisch: Generalstabswerk wird mit Seitenangaben zitiert, S. 35, 37, zeitgenössische Zeitungsinterviews (Cap Times vom 29.5.1906), S. 36, der Aktenbestand des Gouvernements von Deutsch-Südwestafrika, S. 135, Frieg Dernburgs aus dem Auswärtigen Amt. Kolonial-Abteilung vom 26. 2.1907, S. 136.
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um und hebt damit auch die Konkurrenz zwischen beiden historiografischen Strängen literarisch auf, indem er die beiden Erzählungen zusammenführt. Dies wird nicht nur inhaltlich, sondern auch formal deutlich: Auszüge aus den beiden Werken werden mehrfach mit Seitenangaben zitiert.115 Das literarische Erzählmittel der vielstimmigen und multiperspektivischen Collage führt zur Infragestellung der linearen akademischen Erzählung. Auch wenn Uwe Timm weiterhin in erster Linie Weiße Quellen verwendet, bietet dieses Erzählverfahren die Möglichkeit, ein grundlegendes Problem historiografischen Erzählens aufzuzeigen und aufzubrechen: Die Schwierigkeit, dass in Quellenauswahl, Anordnung, Wertung und Metanarrativen immer auch Hierarchien transportiert und festgeschrieben werden. Uwe Timm löst dieses Problem, indem er verschiedene Darstellungen desselben Ereignisses gleichwertig nebeneinander stellt. Darüber hinaus begegnete Uwe Timm mit den Möglichkeiten des Romans zumindest teilweise einem Desiderat, dass sich aus den Quellenbeständen ergeben hatte. Dies wurde auch von Helmut Bley positiv rezipiert: »Was etwa dem Historiker Helmut Bley, der über Deutsch-Südwest intensiv gearbeitet hat, an meinem Roman gefallen hat, ist die Möglichkeit, die Mentalitäten und die Gefühle auszuleuchten, in diesem Fall speziell die der Kolonisatoren.«116 Uwe Timm, der im Jahr 1976 zu Recherchezwecken nach Namibia gereist war,117 verzichtete jedoch bewusst darauf, die »Mentalitäten und die Gefühle« Schwarzer Menschen darzustellen, da für ihn galt, eine »solche Einfühlungsästhetik wäre selbst ein kolonialer Akt«.118 Der koloniale Genozid nimmt im Roman eine zentrale Stellung ein, obwohl die Rahmenhandlung den Krieg gegen die Nama thematisiert und der Krieg gegen die Herero nicht in die unmittelbare Erzählzeit fällt.119 Deutlich wird dies an einer Textpassage des ersten Kapitels, die die Ankunft Gottschalks im kolonialen Namibia beschreibt. Sie fungiert gleichsam als moralisches Grundmotiv des Romans. Gleich nach Gottschalks Ankunft in Windhuk wird er am »Rande des Orts«120 zu einem »Konzentrationslager« geführt, dessen auktoriale Beschreibung neutral und objektiv anmutet und hierdurch als nichtfiktional gekennzeichnet wird:
115 | Timm: Morenga, 1978, S. 38 und S. 39, ohne Angabe auch S. 365, hier folgt Timm besonders deutlich Drechslers Narrativ und Semantik. 116 | Hamann/Timm: Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt, 2003, S. 455. 117 | Ebd., S. 450. 118 | Ebd., S. 452. 119 | Retrospektiv benennt Uwe Timm sein Anliegen, den kolonialen Genozid und eine Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus zu betonen, ausführlich. Vgl. Hamann/Timm: Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt, 2003, S. 455-459. 120 | Timm: Morenga, 1978, S. 22.
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Deutsche Kolonialgeschichte(n) »Unmittelbar neben dem Viehkraal war eine große freie Fläche mit Stacheldraht eingezäunt worden. Davor Posten mit aufgepflanzten Bajonetten. Hinter dem Zaun konnte Gottschalk Menschen hocken sehen, eher Skelette, nein, etwas in der Mitte zwischen Menschen und Skeletten. Zusammengedrängt saßen sie da, meist nackt, in der stechend heißen Sonne. Wie sehen die denn aus, sagte Gottschalk und starrte hinüber. Das ist unser Konzentrationslager, erklärte Moll, nach den neuesten Erkenntnissen der Engländer im Burenkrieg errichtet. Aber das sind ja Frauen und Kinder, sagte Gottschalk.«121
In einem sich kurz darauf anschließenden Gespräch zwischen Gottschalk und Wenstrup wird die »Ausrottung der Eingebornen« von Wenstrup als systematische Absicht der Kolonialisten entlarvt und damit ein wesentlicher Aspekt der Genozidthese aufgegriffen. »Woran die sterben, sagte Gottschalk später zu Wenstrup: Ruhr, Typhus und Unterernährung. Die verhungern. Nein, sagte Wenstrup, man läßt sie verhungern, das ist ein feiner, aber doch entscheidender Unterschied. Gottschalk vermutete lediglich ein Versagen subalterner Dienststellen. Wenstrup hingegen behauptete allen Ernstes, dahinter stecke System. Welches? Die Ausrottung der Eingeborenen. Man will Siedlungsgebiet haben.«122
Uwe Timm bedient sich für den Entwurf dieser Szene kolonialer Bild- und Schriftquellen, aber dennoch ist die verwendete Semantik keineswegs zufällig. Sie knüpft mit Begriffen wie »Stacheldraht«, »Konzentrationslager«, »Skeletten« und »Frauen und Kinder« bewusst an jene assoziativen Bilder- und Sprachwelten an, die für die Beschreibung der nationalsozialistischen Konzentrationslager seit den 1960er Jahren ikonografisch wurde. Mehrere Kapitel später wird dieser Bezug in einem Gespräch Gottschalks mit Leutnant Elschner aufgegriffen. Elschner diskutiert mit Gottschalk die Vorzüge und Schwierigkeiten der »Lager«, in denen die »Hottentotten« gefangen gehalten werden und die eine Alternative zu ihrer »Dezimierung«123 darstellen: »Hier kann in einem kleinen, überschaubaren Maße erprobt werden, was später in einem weit gefährlicheren und größeren Fall anzuwenden sei.«124 Elschner bezieht sich mit seiner Zukunftsversion auf »einen Guerillakrieg in einer bevölkerungsreichen Kolonie, Kamerun oder Ostafrika, oder aber, noch brisanter, an einen Kleinkrieg im europäischen Großkrieg, also in Frankreich oder Russ-
121 | Ebd., S. 23. 122 | Ebd., S. 27. 123 | Ebd., S. 334. 124 | Ebd., S. 335.
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land.«125 Die für die Figuren des Romans noch undenkbare nationalsozialistische Herrschaft wird mit der zuvor stattfinden Charakterisierung Elschners durch den auktorialen Erzähler in eine ideologische und vor allem personelle Kontinuität zur Kolonialherrschaft gestellt, die auch typisch für die narrative Strategie der DDR-Historiografie ist: »Elschner hatte tatsächlich das Zeug zu einem großen Strategen und hätte wahrscheinlich fünfunddreißig Jahre später die Operationspläne für Walküre und Barbarossa mitentwickelt, wenn ihm nicht im Jahre 1906 eine Hottentottenkugel das rechte Knie zerschmettert hätte.«126 Mit Elschners anschließenden Ausführungen, wie im kolonialen Namibia »neues Kriegsmaterial«127 erprobt werden könne, charakterisiert sich dieser selbst als »Ingenieur«.128 Seine grausamen Beispiele – »man läßt vor den Augen der Eltern ein Kind erschießen, fragt, wo das Versteck der Rebellen ist, kommt keine Antwort, erschießt man zwei Kinder, dann vier, dann acht und so weiter, bis jemand das Versteck preisgibt«129 – und seine Forderung nach einer effizienteren, technisierteren Kriegsführung mit »Statistiken über Verhörmethoden« erinnert stark an die Terrordiktatur des Nationalsozialismus, deren Schrecken in der Reaktion Gottschalks gespiegelt wird: »Es war die Sachlichkeit, die scheinbare Abwesenheit jeglicher Emotionen in Elschners Überlegungen, die Gottschalk erschreckten.«130 »Morenga« konnte in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik auch deshalb richtungsweisend für die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Namibia werden, weil der Roman 1985 vom WDR verfilmt, als bundesdeutscher Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale im Februar 1985 gezeigt und anschließend als dreiteilige Fernsehfassung im März desselben Jahres von der ARD ausgestrahlt wurde.131 Die Regie übernahm der »DDR-Regisseur Egon Günther«132, wie in der Rezension in der Zeitschrift »Der Spiegel« durchaus politisierend bemerkt wurde. In der DDR wurde der Film nicht gezeigt. Mit Ken Gampu als Morenga und Jacques Breuer als Veterinär Wenstrup war der Film mit Stars der 1980er Jahre besetzt.
125 | Ebd. 126 | Ebd., S. 333f. 127 | Ebd., S. 335. 128 | Ebd., S. 336. 129 | Ebd., S. 335. 130 | Ebd., S. 336. 131 | Morenga wurde in der ARD am 13.3., 17.3. und 20.3.1985 jeweils um 20.15 Uhr gezeigt. 132 | Schulze: Wie Wespen, 1985, S. 204. Egon Günther arbeitete seit 1978 im Westen und lebte mit seiner amerikanischen Frau in München. Er behielt zunächst seinen DDRPass. Vgl. Wagner: »Du bist das Genie«, 2006, S. 249.
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»Morenga« ist der erste »Kolonialfilm« der Bundesrepublik, der sich an einer postkolonialen Bild- und Erzählsprache versucht. Dies liegt zum einen darin begründet, dass das Filmnarrativ eng an Uwe Timms Roman orientiert bleibt und ebenfalls in Collagetechnik eine kritische Kolonialgeschichte erzählt, in der sich ausschließlich negativ gezeichnete deutsche Figuren diskriminierend äußern und ihrer rassistischen Rede entlarvt werden. Vor allem aber entwirft der Film über weite Teile eine Bildsprache, die wesentlich zur Dekonstruktion kolonialer Romantik und wichtiger Legitimationstopoi des kolonialen Projekts beiträgt. Egon Günther bleibt hierbei zunächst eng an kolonialen Bildwelten orientiert, die zeitgleich in populären Publikation zum ›Jahrestag‹, etwa »Die deutschen Kolonien. Geschichte der deutschen Schutzgebiete in Wort, Bild und Karte«133 von Karlheinz Graudenz, unkritisch reproduziert wurden. Egon Günther stellt koloniale Fotografiemotive nach und suggeriert damit zunächst eine hohe historische Authentizität. Um die Weiße Lebenswelt in den Kolonien zu inszenieren, zitiert der Film etwa koloniale Familienbilder, Postkartenmotive, Landschaftsaufnahmen und vor allem Fotografien der »Schutztruppe«. Diese inszenierten, vermeintlich authentischen Momentaufnahmen des kolonialen Archivs werden jedoch im Film aus ihrer zeitlichen Fixiertheit gelöst und kontextualisiert. Das Medium des historischen Spielfilms erzählt das Vor- und Nachher der kolonialen Bilder und dekonstruiert damit die koloniale Idylle und den Weißen Suprematiediskurs. Am deutlichsten findet die Kritik am Kolonialismus und die Dekonstruktion von kolonialen Darstellungskonventionen ihren Ausdruck in der Darstellung der ›Schutztruppe‹. Im Kontrast zur kolonialen und kolonialapologetischen Heroisierung der ›Schutztruppe‹ ›belegt‹ der Film in seiner Bildsprache den Moralverlust der Soldaten, deren Überlegenheit er als koloniale Inszenierung entlarvt. Ordnung und Disziplin der ›Schutztruppe‹ befinden sich in einem stetigen Auflösungsprozess. Das Bild einer überlegenen, heroisch siegenden ›Schutztruppe‹ wird durch vollkommen überforderte Weiße Soldaten überlagert, die als orientierungslos und ›fremd‹ erscheinen. Immer wieder unterstreicht die Bildsprache und die verzerrte Filmmusik die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen. In der Inszenierung der Soldaten wird ihre Entfremdung vom kolonialen Projekt deutlich, das sie teils offen kritisieren. Visuell wird dies durch Alkoholismus und desolate oder fehlende Uniformen dargestellt. Auch andere Symbole militärischer Ordnung – etwa Reiterformationen, militärische Grüße, Tischmanieren und Frisuren – lösen sich auf und verweisen so bildlich auf einen Kolonialismus, der seine eigenen Ideale konterkariert. Inszeniert 133 | Graudenz: Die deutschen Kolonien, 1982. Karlheinz Graudenz wurde Mitte der 1950er Jahre mit dem Bestseller »Das Buch der Etikette«, das er zusammen mit Erica Pappritz veröffentlicht hatte, bekannt. Er verfügte über keine wissenschaftliche Ausbildung. Das Buch wurde dennoch in Fachzeitschriften breit rezipiert.
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werden ferner militärische Niederlagen und der sinnlose Tod der Soldaten. Damit bricht der Film mit einer essentiellen Darstellungskonvention des Kolonialismus und Kolonialrevisionismus. Der Tod Weißer Soldaten war ein visuelles Tabu und kommt im kolonialen Bildarchiv nicht vor.134 Die Sinnhaftigkeit des kolonialen Siedlungsprojekts wird ebenso infrage gestellt wie der Krieg gegen die Herero und Nama, der in der kolonialapologetischen Logik der Sicherung einer vermeintlich florierenden Siedlungskolonie dienen sollte. Besonders deutlich wird dies in der visuellen Inszenierung des kolonialen Familien- und Farmlebens. Auch hier werden koloniale Bildquellen zitiert und kritisch weiter erzählt. Hierzu gehören etwa die 1907 erstmals publizierten Memoiren Margarethe Eckenbrechers, die besonders im Nationalsozialismus eine enorme Popularität erfuhren.135 Unter dem Titel »Was mir Afrika gab und nahm. Erlebnisse einer deutschen Frau in Südwestafrika« veröffentlichte sie ihre verschriftlichten Erlebnisse im kolonialen Namibia und zahlreiche koloniale Familienbilder. Sie dienen im Spielfilm als Ausgangspunkt, um die Geschichte der Familie Lüdemann zu inszenieren und das idyllische koloniale Farm- und Familienleben zu dekonstruieren. Die Ähnlichkeiten zwischen den Filmszenen und den Familienbildern betreffen zahlreiche Motive. Sie reichen vom »Morgenkaffee« auf der Veranda bis hin zur Bibliothek des Farmers und Hauptmanns Lüdemann. Als Katharina Lüdemann erstmals im Film aufritt, zitiert Egon Günther das die Zueignung flankierende Bild aus Margarethe von Eckenbrechers Memoiren. Damit und im Folgenden greift er das Motiv der liebevollen Mutter auf, die in der kolonialen Logik den Erhalt der Kolonie sicherstellt und vor den vermeintlich gewalttätigen Herero und Nama geschützt werden muss.136 Dekonstruiert wird die familiäre Idylle durch die patriarchale Struktur, deren ökonomischer Erfolg ausschließlich auf der Ausbeutung und Diskriminierung der Schwarzen basiert. Die Ermordung des Farmers und lieblosen Familienvaters Lüdemanns während des ›Aufstandes der Nama‹ erscheint so als nachvollziehbares und nahezu positives Ereignis. Frau und Kinder werden in der Narration des Films durch die Nama gleichsam aus einer leidvollen Situation befreit.
134 | Vgl. Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, 2009, S. 155ff. 135 | Im Jahr 1940 erschienen die Memoiren in 8. Auflage. 136 | Vgl. Morenga, Teil 1, 39:45:00 und 1:04:45 sowie Eckenbrecher: Was Afrika mir gab und nahm, 1907, Titelblatt, S. 177 und 225.
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Abbildung 6 & 7
»Morenga«, Regie: Egon Günther, WDR, 1985, Teil 1, 00:39:45 (links); Eckenbrecher: Was Afrika mir gab und nahm, 1907, Tafel 1 (rechts).
Die visuelle Inszenierung der Schwarzen ist nicht frei von Klischees. Das Leben der Nama in einfachen Hütten wird durch die musikalische Untermalung mitunter stereotyp als afrikanische Idylle verklärt. Dennoch bricht der Film zugleich nicht nur inhaltlich, sondern auch ikonografisch mit kolonialen Inszenierungen. Egon Günther zitiert auch hier das Bildrepertoire, das die Position des ›Anderen‹ im kolonialen Diskurs keinesfalls eindeutig festschrieb. Vielmehr lassen sich im kolonialen Bildarchiv ambivalente Repräsentationen finden, die quer zu den absoluten Herrschafts- und Machtphantasien des Kolonialismus liegen. Dass solche »Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten« Niederschlag in kolonialen Fotografien fanden, hat Stefanie Michels an textlichen und bildlichen Repräsentationen Schwarzer Kolonialsoldaten gezeigt.137 Michels konstatiert, dass »binäre Ordnungs- und Normierungsschemata« Teil kolonialer Phantasien seien, während gerade die Fotografien auf ein Spannungsfeld verweisen, »in dem Identifizierungen und Repräsentationen auch uneindeutig und widersprüchlich sowie subversiv sein konnten«.138 Vor allem auf Fotografien, die vor dem ›Aufstand‹ entstanden waren, wurden Afrikaner in Herrscher- und Feldherrenpose inszeniert. Damit unterschieden sie sich 137 | Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, 2009, S. 10f. 138 | Ebd., S. 11.
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in ihrer Bildsprache entschieden von exotisierten und sexualisierten Darstellungen, die zeitgleich kursierten und quer zu deren pejorativer Bildsprache lagen. Auch Egon Günther bedient sich subversiver Fotografien des kolonialen Archivs und entwickelt sie in seiner Filmsprache weiter. Kameraperspektiven in Untersicht weisen Schwarzen Menschen in der Bildsprache Dominanz und Macht zu, mit heroisch anmutenden Bildinszenierungen wird die pejorative Bildsprache des kolonialen Diskurses aufgebrochen. Die Verfilmung von »Uwe Timms historisch-dokumentarischem Roman«139 knüpfte in der Wahrnehmung des Publikums an Ralph Giordanos Dokumentarfilm »Heia Safari« an. »Denn«, so urteilte beispielsweise der Kulturredakteur Hartmut Schulze in »Der Spiegel«, »seit Ralph Giordanos ›Heia Safari‹-Dokumentation vor 18 Jahren sind die Verbrechen der deutschen Kolonialmacht nicht mehr so eindringlich dargestellt worden wie in ›Morenga‹«.140 Der Krieg gegen die Herero wird in der Rezension ganz selbstverständlich als der »erste Völkermord des 20. Jahrhunderts«141 gewertet und als Beitrag zur deutschen ›Vergangenheitsbewältigung‹ aufgefasst: »Im hundertsten Jahr nach der Eroberung von Deutsch-Südwest ist ›Morenga‹ der erste Spielfilm, der dieses Kapitel deutscher Geschichte zum Thema hat – ein Kapitel, das seit 1945 noch konsequenter verdrängt wurde als die Naziherrschaft.«142 »Morenga« wurde nicht als reine Literaturverfilmung, sondern als geschichtspolitische Intervention aufgefasst: »Morenga« sei »kein Experimentalfilm«, so wird abschließend betont, denn der Film »will keine Sehgewohnheiten verändern, sondern ein Geschichtsbild. Und das bei Millionen Fernsehzuschauern.«143 Als Medium dieses neuen Geschichtsbildes sollte der Film nicht nur ein deutsches Publikum adressieren, sondern auch der Unabhängigkeitsbewegung dienen: »Die Swapo-Vertreter, die das Fernsehspiel bereits gesehen haben, wollen es nach Afrika holen.«144
Genderperspektiven Der Film »Morenga« verweist nicht nur auf die eingeschränkten Erzählmöglichkeiten akademischer Texte, sondern auch auf einen weiteren blinden Fleck. Frauen blieben als Akteurinnen im Kolonialismus bis weit in die 1980er Jahre in der DDR und BRD weitestgehend unberücksichtigt. Erst die Monografie »Herrenmenschen. Frauen im deutschen Kolonialismus«, die von der 1944 ge139 | Mack: »Morenga« ohne Morenga, 1985, S. 56. 140 | Schulze: Wie Wespen, 1985, S. 206. 141 | Ebd. 142 | Ebd., S. 204. 143 | Ebd., S. 208. 144 | Ebd., S. 208.
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borenen Martha Mamozai als Diplomarbeit veröffentlicht wurde, thematisiert die Rolle von Frauen im kolonialen Namibia. Die Publikation erschien 1982 im Programm der 1978 geschaffenen Rowohlt-Reihe »Frauen aktuell«. 1989 folgte unter dem Titel »Schwarze Frau, weiße Herrin. Frauenleben in den deutschen Kolonien« eine zweite Ausgabe, 1990 folgte mit »Komplizinnen« ein weiterer Titel zur Thematik. Bereits 1981 hatte Martha Mamozai Teile des Buches im Sammelband »Namibia«145 veröffentlicht, der von dem SWAPO-Mitglied und Afrikanisten Henning Melber herausgegeben worden war.146 »Herrenmenschen« entstand im Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die in den 1970er Jahren in der Bundesrepublik einen Höhepunkt erlebte und zu einem verstärkten wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Interesse an entsprechenden Themen führte.147 In diesem Zusammenhang wurde auch die deutsche Kolonialgeschichte zunehmend außerhalb der mit Afrika befassten Forschungsfelder bearbeitet und unter neuen theoretischen Fragestellungen verhandelt. Vor allem ist »Herrenmenschen« jedoch innerhalb der Frauengeschichtsschreibung zu verorten, die in den 1980er Jahren die männlich dominierte Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik mit neuen Perspektiven, Interpretationen, Darstellungs- und Schreibkonventionen herausforderte. Dies galt besonders für Martha Mamozai, die mit dem Thema der Kolonialgeschichte ein bis dato männlich besetztes Forschungsgebiet für sich beanspruchte.148 Die Beschäftigung mit der Rolle von Frauen während des Kolonialismus ist dabei innerhalb der Auseinandersetzung um die Rolle und Verantwortung von Frauen während des Nationalsozialismus zu verorten: »Frauen haben, das lehrt diese historische Retrospektive, mitgeschwiegen und mitgemacht und müssen deshalb heute mitverantworten.«149 Noch deutlicher wird der Konnex durch die Umschlaggestaltung von »Herrenmenschen«, die rückseitig auf das fast zeitgleich im rororo-Verlag erschienene Buch zur Rolle von Frauen während des Nationalsozialismus verweist. 145 | Mamozai: Der Fall Cramer, 1981. 146 | Zimmerer: Völkermord in Deutsch-Südwestafrika, 2003, S. 269. 147 | Hierzu trug das gesellschaftspolitische Klima und ganz konkret der 40. Jahrestag der »Reichskristallnacht« im November 1978, die Verjährungsdebatte des Jahres 1979 und die Fernsehserie »Holocaust« in den späten 1970er Jahren bei. 148 | Bereits Klaus Theweleits 1977/78 erschienenes, zweibändiges Werk »Männerphantasien«, das trotz seiner deutlichen Verankerung im linken Spektrum ein Bestseller wurde, thematisierte die Frage nach personellen und ideologischen Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Faschismus und verband dabei Faschismus- und Geschlechterforschung. Er setzte sich unter anderem mit soldatisch-autoritären Männlichkeitskonzepten des Kaiserreiches auseinander, um ideologische Kontinuitäten zwischen dem Kaiserreich und dem Nationalsozialismus aufzuzeigen. 149 | Mamozai: Schwarze Frau, weiße Herrin, 1989, S. IV.
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Im Hinblick auf die Zirkulation von Wissen und koloniale Kontinuitäten und Brüche ist »Herrenmenschen« aber vor allem deshalb von Interesse, weil die Perspektive der Frauengeschichtsschreibung dazu führte, dass dezidiert weibliche koloniale Erfahrungen erstmals wieder sichtbar gemacht wurden. Obwohl sich im Kaiserreich zahlreiche Frauen mit Memoirenliteratur an der Interpretation des Kolonialkrieges beteiligten und ihre Rolle im kolonialen Projekt selbstbewusst betonten, geriet das Wissen um weibliche Akteure des kolonialen Projekts in Vergessenheit. Nicht unerheblich ist dabei, dass die populäre und akademisierte Kolonialgeschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend zu einem männlich besetzten Thema wurde, das in den Nachkriegsjahrzehnten von der ohnehin geringen Zahl professioneller Historikerinnen kaum berücksichtigt wurde.150 Die männliche Dominanz hatte auch eine Naturalisierung von geschlechtsspezifischen Wahrnehmungs- und Denkmustern innerhalb der Geschichtsschreibung zur Folge.151 Sie blieben einer Erzählperspektive verhaftet, die die Geschichte des kolonialen Namibias in erster Linie als Handlungsraum männlicher Akteure entwarf.152 Dies liegt auch darin begründet, dass Historiker in der DDR und BRD in ihrer Quellenauswahl vorwiegend auf männliche Autoren zurückgriffen, die in ihren kolonialen Texten weibliche Lebenserfahrungen und -welten aussparten: »Weil die soldatischen Lebenswelten in den Kolonien als männliche Räume inszeniert wurden«, so erläutert Stefanie Michels, »ist die Unsichtbarmachung der vorhandenen weiblichen und familiären Präsenz in diesen Räumen beredt und bemüht.«153 Dies schlägt sich in der zeitgenössischen Memoirenliteratur etwa in der Konzentration auf männliche Akteure nieder, die als Forschungsreisende, Händler, Siedler und Soldaten einen feminisierten und erotisierten Raum erobern und durchdringen. Eine wichtige Ausnahme bildet der Topos der »Weißen Frau als Trägerin der Kultur«154, die als Ehefrau und Mutter den Bestand einer weißen Siedlungskolonie sicherstellte. Und deren Körper – stellvertretend für den als weiß imaginierten Volkskörper – vor Schwarzen Afrikanern geschützt werden musste. Martha Mamozai zeigt in »Herrenmenschen« auf, dass das Projekt des Kolonialismus keine rein männliche Domäne war. Sie kann hierfür auf die umfangreiche, im Kolonialismus extrem populäre Literatur von Frauen zurückgreifen, die bis dahin von Historikern kaum berücksichtigt worden und in 150 | Vgl. Paletschek: Historiographie und Geschlecht, 2007, S. 123. Ein Ausnahme bilden: Schinzinger: Die Kolonien und das Deutsche Reich, 1984; Hausen: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1970. 151 | Vgl. Smith: The Gender of History, 1998. 152 | Vgl. Paletschek: Historiographie und Geschlecht, 2007. 153 | Michels: Schwarze deutsche Kolonialsoldaten, 2009, S. 197. 154 | Walgenbach: Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur, 2005.
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Vergessenheit geraten war. Für das koloniale Namibia bezieht sie sich vor allem auf Margarete von Eckenbrecher, Hedwig Irle, Maria Carow, Helene von Falkenhausen, Else Sonnenberg, Adda von Liliencron, Clara Bockmann und Ada Cramer. In ihrer Autobiografie »Weiß oder Schwarz. Lehr- und Leidensjahre eines Farmers in Südwest im Lichte des Rassenhasses« hatte etwa Ada Cramer im Jahr 1913 die Gewaltexzesse gegen die AfrikanerInnen umfassend gerechtfertigt. Martha Mamozai knüpft an die Lebenserinnerungen dieser Frauen an und bricht mit der Vorstellung, dass Frauen im kolonialen Namibia lediglich den Erhalt der Siedlungskolonie sicherstellten. Damit betont sie die Mittäterschaft von Frauen an einem kolonialen Projekt, das bereits deutlich auf den Nationalsozialismus verweist. In ihrem Kapitel »Kolonialismus, Rassismus, Faschismus. Fragen nach einer deutschen Kontinuität« räumt Martha Marmozai ein, sie könne »keine vollständige Analyse des deutschen Faschismus« leisten, doch sie bezwecke mit dem Kapitel »den Blick auf solche Augenfälligkeiten zu richten, die – zumindest auf den ersten Blick – eine erschreckende Ähnlichkeit aufweisen zwischen Vorgängen in den deutschen Kolonien und im deutschen Faschismus und durch die Zusammenhänge zwischen beiden deutlich werden.«155 Martha Mamozai führt als Beleg an, dass die deutschen »Herrenmenschen« in den Kolonien »die meisten jener Zwangsinstrumente wie Paßmarken, Rassengesetze und ›Endlösungen‹ [erprobten], die bald darauf in Europa zu blutigem Perfektionismus gedeihen sollten – und, vergessen wir nicht, auch zu dem geführt haben, was wir heute als südafrikanische Spezialität ansehen, das Apartheidssystem.«156 Einen »Hauch von Lebensborn« erkennt Mamozai bereits in dem Versuch, systematisch deutsche, unverheiratete »Dienstmädchen« und damit potenzielle Ehefrauen in die ehemaligen Kolonien zu entsenden.157 Es ist aufschlussreich, mit welchen Argumenten die Publikation aus dem wissenschaftlichen Diskurs gedrängt wurde. Aus Sicht ihrer männlichen Kollegen bot »Herrenmenschen« bereits aufgrund der als unwissenschaftlich wahrgenommenen Reihe eine Angriffsfläche. Auch wenn sich Martha Mamozai mit ihrer Publikation in der rororo-Reihe an ein interessiertes Laienpublikum wandte und keine rein fachwissenschaftliche Publikation vorlegte, lässt sich die wissenschaftliche Ablehnung gegenüber der Publikation als gegenderte Reaktion lesen – schließlich standen männlichen Autoren semiwissenschaftliche oder rein populärwissenschaftliche Publikationsformen innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses offen. Martha Mamozais vermeintlich fehlender ›klassischer‹ wissenschaftlicher Werdegang – ihr zweiter Bildungsweg – musste ebenso wie ihr Engagement in der Frauenbewegung als Argument 155 | Mamozai: Schwarze Frau, weiße Herrin, 1989, S. 195. 156 | Ebd., S. III. 157 | Ebd., S. 197.
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gegen den wissenschaftlichen Wert des Buches herhalten. In einer Rezension des TSÜ durch Professor Volker Lohse wird die Vermischung sachlicher und persönlicher Argumente evident: »Diesen Werdegang muss man kennen, um zu erahnen, wie eine Autorin es wagen kann, mit so wenig Wissen um den von ihr behandelten Stoff, mit so wenig Quellenstudium und -kritik ein Buch zu einem so bewegenden, so anspruchsvollem Thema zu schreiben.[…] Es entstand trotz der 290 Fußnoten kein wissenschaftliches Werk.«158 Auch in der »Historischen Zeitschrift« kommt der 1952 geborene Medizinhistoriker Wolfgang Eckart zu dem Schluss, dass die Arbeit der »Entwicklungshelferin, Diplom-Volkswirtin und Diplom-Soziologin«159 historischen Ansprüchen nicht gerecht werde: »Bedauerlich freilich ist – gerade für eine Arbeit, die historischen Ansprüchen gerecht werden möchte –, daß sowohl in den häufig suggestiven Kapitel-Unterschriften, wie auch in der Gesamtintention zu offenkundig Motive und Ziele erkennbar werden, die eher tagespolitisch und hier vor allem frauenspezifischen Problemstellungen entsprechen sollen.«160 Folglich kommt er abschließend zu dem Urteil, »Herrenmenschen« sei lediglich »ein modernen Strömungen folgendes Frauenbuch ›gegen Kolonialismus und Imperialismus‹«.161 Es ist bemerkenswert, dass er die Rezension nutzt, um sein eigenes Forschungsthema vor dem Hintergrund der Arbeit zu profilieren. So kritisiert er, »für positive Bewertungen etwa der Missionstätigkeit oder aber eines wenigstens zum Teil durchaus suffizienten Medizinalwesens in den ehemaligen ›Schutzgebieten‹ des zweiten Kaiserreichs bleibt hier wenig Raum«.162 Erst im Zuge der zweiten Ausgabe, die im Jahr 1989 erschien, wurde die Arbeit Martha Mamozais im Kontext der afrodeutschen Frauenbewegung, die seit den 1980er Jahren die Auseinandersetzung mit afrodeutscher Geschichte sowie postkolonialen Herrschafts- und Machstrukturen angestoßen hatte und in einem engen Netzwerk arbeitete, dezidiert positiv rezipiert.163 158 | Lohse: Rezension zu: Mamozai, 1984, S. 11. 159 | Eckart: Rezension zu: Mamozai, 1983, S. 209. 160 | Ebd., S. 210. 161 | Ebd., S. 211. 162 | Ebd., S. 210. 1989 veröffentlichte Wolfgang Eckart seine 1985 eingereichte Habilitationsschrift: Deutsche Ärzte in China 1897-1914. Medizin als Kulturmission im Zweiten Deutschen Kaiserreich, Stuttgart/New York 1989. 163 | Vgl. Schultz: Racism in the New Germany, 1993, S. 242; Lennox: Divided Feminism, 1995, S. 483. Zu ihren Protagonistinnen gehören Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt. Die Gastprofessur der afroamerikanischen Professorin Audre Lorde an der Freien Universität in Berlin im Jahr 1984, das Erscheinen der Publikation »Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte« im Jahr 1986 sowie die Gründung der Initiative Afrodeutsche Frauen (ADEFRA) und die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) im Jahr 1986 gelten als Zäsur.
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V.3 K ontroversen und koloniale K ontinuitäten Seit den 1970er Jahren hatten sich historiografische Texte, die einen kritischen Blick auf das Kaiserreich warfen und strukturelle Kontinuitäten zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Gewaltverbrechen betonten, auch in Westdeutschland etabliert und trafen in weiten Teilen auf Konsens. Auch wenn kritische Rhetorik und historiografische Darstellung teilweise in erheblicher Diskrepanz zueinander standen, hatten das Kaiserreich und der deutsche Kolonialismus als Referenzpunkt einer unbelasteten deutschen Vergangenheit seine Relevanz verloren. Kritische Narrative und Topoi hatten sich etabliert und waren spätestens seit Beginn der 1980er Jahre auch in der Bundesrepublik politisch anschlussfähig, um die Gegenwart und Zukunft Namibias aus historischer Perspektive zu deuten, und dienten darüber hinaus innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung als sinngebende, politische Erzählung. Im wissenschaftlichen und öffentlichen Sprachgebrauch hatte sich die Bezeichnung Genozid oder Völkermord zumindest in der DDR und der politischen Linken in der BRD durchgesetzt, um die Ereignisse zu kategorisieren und zu politisieren. Gesellschaftspolitisch anschlussfähig wurde eine solche Interpretation nicht nur aufgrund der politischen Entwicklungen in der sogenannten Namibia-Frage, sondern auch aufgrund der erinnerungspolitischen Paradigmen, die den Nationalsozialismus nicht länger als ›Unfall‹ interpretierten. Auch die Konkurrenz zwischen sozialgeschichtlichen und marxistisch-leninistischen Deutungsangeboten hatte nach der Anerkennung der DDR und vor allem in den 1980er Jahren an Schärfe verloren, so dass Darstellungs- und Deutungskonventionen der DDR-Historiografie zunehmend in den westlichen und westdeutschen Wissensdiskurs diffundierten. Gleichzeitig blieb die Kontinuitäts- und Genozidthese in der BRD nicht unwidersprochen. Gegenerzählungen, die sich gegen die Verschiebung von Wissens- und Machtstrukturen im Diskurs über das koloniale Namibia und vor allem gegen die »im heutigen Sprachgebrauch gängige These vom kolonialen Völkermord«164 richteten, entstanden im Zuge des kolonialen ›Jubiläums‹ vor allem außerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft und innerhalb eines kolonialrevisionistischen Netzwerks, das bis in die 1980er Jahre Bestand hatte. Doch anschlussfähig waren sie auch deshalb, weil die Kontinuitäts- und Genozidthese innerhalb der institutionalisierten Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren zunehmend hinterfragt wurde. Welche innerwissenschaftlichen Mechanismen hierbei ausschlaggebend waren und mit welchen sprachlich-narrativen Strategien die Erzählung des kolonialen Genozids verändert wurde, lässt sich am normativen historiografischen Wissen über das koloniale Namibia in den 1980er Jahren aufzeigen. 164 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik, 1974, S. 186.
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Normatives Wissen Der 1939 geborene Münsteraner Kolonialhistoriker Horst Gründer veröffentlichte 1985 sein Lehrbuch »Geschichte der deutschen Kolonien«, das in der Reihe UTB – Uni-Taschenbücher – im Schöningh-Verlag erschien. Horst Gründer galt zu diesem Zeitpunkt als ausgewiesener Experte der Kolonialgeschichte, der sich zuvor mit verschiedenen Publikationen profiliert hatte.165 Vier Jahre zuvor, im Jahr 1981, wurde Horst Gründer bei Heinz Gollwitzer, der sich dem konservativen Spektrum der bundesrepublikanischen Historikerzunft zuordnen lässt, mit einer Arbeit zur Mission und dem deutschen Imperialismus habilitiert.166 Die Veröffentlichung folgte ein Jahr später in der von Heinz Gollwitzer und Rudolph von Albertini herausgegebenen Reihe »Beiträge zur Kolonial- und Überseegeschichte«.167 Die Lehrbücher der UTB-Reihe gelten als wichtige Grundlagenwerke für das Studium der Geschichte und erheben bis heute den Anspruch, den gegenwärtigen Stand der Forschung, eine zeitgemäße Interpretation der Vergangenheit und damit normatives Wissen abzubilden. 2012 wurde die »Geschichte der deutschen Kolonien« in sechster Auflage und bis auf eine ergänzte Bibliografie und eine überarbeitete Einleitung unverändert aufgelegt. Bei Erscheinen wurde die »Geschichte der deutschen Kolonien« in Rezensionen als einer der wenigen dezidiert wissenschaftlichen Beiträge zum ›Jahrestag‹ und »erfreuliche Ausnahme«168 wahrgenommen, die »noch rechtzeitig zum Säkularjahr 1984/85 erschienen ist«.169 Für Peter Grupp, der die Neuerscheinungen zum »Geschichtsjubiläum« erfasste, galt: »Kein anderer zu besprechender Gesamtüberblick erreicht die Bandbreite und Solidität der Gründerschen Arbeit.«170 Nicht nur Peter Grupp rief die »Geschichte der Deutschen Kolonien« zum gegenwärtigen und zukünftigen Standardwerk aus. »Wer sich künftig mit den einstigen deutschen Kolonien beschäftigen will, wird gut daran tun, von G.s Darstellung auszugehen«171, prophezeite etwa auch Wolfgang Reinhard im Jahr 1988. Für den konservativen Historiker stellte die »Geschichte der deutschen Kolonien« auch eine »erfreuliche Abkehr der bisherigen, übermäßig 165 | Hierzu gehörten etwa zahlreiche Artikel für die Neue Deutsche Biographie: Gründer: Lettow-Vorbeck, Paul von, 1985; Gründer: Leutwein, Theodor, 1985; Gründer: Lindequist, Friedrich von, 1985; Gründer: Lüderitz, Adolf, 1987. Bereits 1980 hatte er »Der moderne Imperialismus. Quellen- und Arbeitsbuch für die Sekundarstufe II« publiziert. 166 | Vgl. Kraus: Heinz Gollwitzer, 2007, S. 299. 167 | Vgl. Gründer: Christliche Mission und deutscher Imperialismus, 1982. 168 | Reinhard: Rezension zu: Gründer, 1988, S. 101. 169 | Baumgart: Rezension zu: Gründer, 1986, S. 721. 170 | Grupp: Deutschland und der Kolonialismus, 1986, S. 108f. 171 | Reinhard: Rezension zu: Gründer, 1988, S. 101.
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kritischen Kolonialgeschichtsschreibung dar«, denn positiv bewertet Wolfgang Reinhard, dass Horst Gründer »dem Paradigmenwechsel auf dem Gebiet der ehemaligen ›Kolonialhistorie‹ Rechnung trägt, ohne sich über Gebühr an kurzlebigen Modetrends zu orientieren«.172 Positiv wahrgenommen wurde auch Horst Gründers Auseinandersetzung mit der marxistischen Imperialismustheorie und den Thesen Hans-Ulrich Wehlers. Horst Gründer führt hierzu aus, es sei verfehlt »die Kolonialagitation und Kolonialbewegung seit den ausgehenden 1870er Jahren ausschließlich auf wirtschafts-, sozialgeschichtliche oder gar sozialimperialistische Ursachen zu reduzieren. Nationalpolitische und nationalpsychologische [Hervorhebung im Original] Motive stehen gleichrangig neben den wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Argumenten und sind keineswegs nur eine Funktion derselben.«173
Zu einem sehr viel kritischeren Gesamturteil kommt der 1940 geborene Eckhard Breitinger in einer Rezension zu Horst Gründers Habilitationsschrift »Christliche Mission und deutscher Imperialismus« aus dem Jahr 1984. Hinsichtlich Horst Gründers Interpretations- und Darstellungsmaximen konstatiert er: »Gründer tries to steer a methodologically and ideologically pragmatic course between outright condemnation of imperialist foreign policies by marxist historians and the apologetic beautifications of any missionary historians.«174 Und auch Leonhard Harding kritisiert die Arbeit: »Fragwürdig ist in dieser Arbeit die Behandlung der lokalen Bevölkerung der Kolonien, der die Mission und der Kolonialstaat gegenüberstanden. […] Diese negative Grundeinschätzung afrikanischer Zivilisationen und Entwicklungsprozesse führt notgedrungen zu einer Fehleinschätzung der missionarischen Tätigkeit und stellt den Wert dieses Teils der Arbeit ernsthaft in Frage.«175 Die Bewertung des Kolonialismus fällt in Horst Gründers »Geschichte der deutschen Kolonien« ambivalent aus, denn bereits einleitend präsentiert der Autor ein Geschichtsbild, dem ein Fortschritts- und Modernisierungsnarrativ nach westlichem Vorbild zugrunde liegt. Der Kolonialismus habe für die afrikanischen Staaten einen »Stoß in die Moderne«176 bedeutet. Obgleich dieser »mit tiefreichenden soziokulturellen Krisen und materiellen Verlusten einherging«177, wendet sich Horst Gründer gegen eine Kolonialgeschichtsschreibung, deren Fokus auf den negativen Aspekten des kolonialen Projekts liegt. 172 | Ebd. 173 | Baumgart: Rezension zu: Gründer, 1986, S. 722. 174 | Breitinger: Rezension zu: Gründer, 1984, S. 730. 175 | Harding: Rezension zu: Gründer, 1985, S. 370. 176 | Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 1985, S. 10. 177 | Ebd.
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Für Horst Gründer »würde eine Kolonialhistorie zu kurz greifen, wenn sie die Geschichte der europäischen – und damit auch der deutschen Kolonialherrschaft als reine Ausbeutungsgeschichte [Hervorhebung im Original] schreiben würde.«178 Schließlich stellte der Kolonialismus auch den »Ausgangspunkt für einen letztlich wohl unvermeidbaren sozialen und kulturellen Wandel und eine neue, ›nationale‹ Identitätsfindung«179 dar.180 Dieses Metanarrativ rahmt die Darstellung der Geschichte »Deutsch-Südwestafrikas«, die in einem der sechs Teilkapitel auf 15 Seiten erzählt wird. Bereits eingangs stellt Gründer die These auf, dass dem kolonialen Namibia in der Erinnerungskultur an den deutschen Kolonialismus eine besondere Rolle zukomme. Obwohl die deutsche Kolonialgeschichte wegen der »Kurzlebigkeit des deutschen Kolonialreiches« und der »relativen Folgenlosigkeit dieser historischen Erfahrung für das gegenwärtige politisch-historische Bewußtsein in beiden deutschen Staaten« im »Geschichtsbewußtsein der deutschen und in der deutschen Geschichtsschreibung nach 1945 eher eine nebengeordnete und beiläufige Rolle zu spielen«181 scheine, gelte dies für »das hochpolitische Problem ›Namibia‹« nur bedingt. Aufgrund der wirtschaftlichen Interessen des Westens, der »mehr als 20.000 Deutschsprachigen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika« und der Apartheidpolitik, die ihre »Vorläufer und Wurzeln in der deutschen Eingeborenenpolitik« habe, sei die Geschichte des kolonialen Namibias bis heute aktuell, so argumentiert Horst Gründer.182 Damit stellt er den Gegenwartsbezug ausdrücklich nicht über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und nationalsozialistischem Regime her. Für die Darstellung der Geschichte des kolonialen Namibias greift Horst Gründer fast ausschließlich auf westdeutsche Forschungsliteratur zurück. Horst Drechslers Arbeit wird lediglich zur Kritik in den Fußnoten angeführt, an einer anderen Stelle wird auf Ferdinand Müllers Dokumentation »Kolo-
178 | Ebd. 179 | Ebd. 180 | In einem Vortrag auf der katholischen Akademie Schwarte aus dem Jahr 1984, führt Horst Gründer diesen Aspekt noch weiter aus. Hier betont er, dass auch die »deutsche Kolonialherrschaft […] Ansätze einer ›Entwicklungspolitik‹,« (S. 58) zeigte. Damit eng verbunden ist nicht nur die Aufwertung der deutschen Kolonialgeschichte, deren »fähige Gouverneure […] keinen Vergleich mit der besten Tradition britischer Kolonialbeamten zu scheuen brauchen« (S. 47), sondern auch eine Relativierung der deutschen Kolonialpolitik, die für Horst Gründer »nicht autoritärer als die französische oder belgische Regierungsweise« (S. 57) war. Gründer: Das Deutsche Reich als Kolonialmacht, 1984. 181 | Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 1985, S. 9. 182 | Ebd., S. 9f.
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nien unter der Peitsche verwiesen«.183 Vor allem Helmut Bleys Studie dient als Grundlage der Darstellung, aber auch Oskar Hintragers »Südafrika in der deutschen Zeit« wird zum Nachweis verschiedener »Fakten« über die wirtschaftliche Entwicklung des kolonialen Namibias nach den Kolonialkriegen angeführt.184 Einleitend beschreibt Horst Gründer die vorkoloniale Situation. Hierzu bemüht er den Topos des wertlosen Landes, das zunächst für die Besiedelung als auch für die wirtschaftliche Ausbeutung ungeeignet sei. Die Nama werden als »kriegerische Halbnomaden« bezeichnet, die sich gegen die »Schutzverträge« wehrten. Der »Widerstand der Häuptlinge« gegen die Kolonialherrschaft bleibt in der Erzählung zwangsläufig aussichtslos, da sie sich »freilich aufgrund der präkolonialen Rivalitäten nicht zu einem gemeinsamen Widerstand formieren konnten«.185 Erst durch Reichskanzler von Caprivi werde dieser Zustand verändert, schließlich »entschied er sich für die endgültige Pazifikation der Kolonie«.186 Die »Pazifikation« habe zugleich eine positiv zu bewertende wirtschaftliche und soziale Entwicklung eingeleitet. Auch im beigefügten, für die »Geschichte der deutschen Kolonien« eigens neu erstellten Kartenmaterial wird eine koloniale Fortschrittserzählung reproduziert.187 Die damit verbundene Möglichkeit, die im kolonialen ›Mapping‹ eingeschriebenen Raum- und Machtvorstellungen aufzubrechen, ergreift der Autor nicht. Die sechs Karten, die jeweils eine der ehemaligen deutschen Kolonien repräsentieren sollen, sind dem kolonialen Raumdiskurs verhaftet. Das koloniale Namibia wird gemäß der kolonialen Herrschaftsphantasie als geordneter, abgeschlossener Raum repräsentiert. Orts- und Menschenbezeichnungen folgen den kolonialen Bezeichnungen, topografische und geografische Verzeichnisse fehlen. Der vermeintlich leere Raum wird lediglich durch die eingezeichnete Eisenbahnlinie gegliedert. Damit ›erzählt‹ die Karte eine Geschichte der Modernisierung und Herrschaftsdurchdringung des kolonialen Raums. Die fehlende Jahresangabe enthebt die Kolonialherrschaft ihrer Temporalität und Historizität. Erst die »Katastrophe« der Rinderpest führt in der Erzählung Horst Gründers zu einer unaufhaltsamen negativen Entwicklung, die auch die soziale Situation verschärft. »Überhaupt«, so Horst Gründer, »herrschte bis zur Ka183 | Ebd., S. 112, S. 126. 184 | Vgl. Anm. 18: »Alle Angaben nach O. Hintrager, Südafrika in der deutschen Zeit, München 1955, 115, 117f.« Ebd., S. 206. 185 | Ebd., S. 111. 186 | Ebd. 187 | »Dank gilt […] meinen Mitarbeitern Michael Fröhlich und Andreas Wollasch, die auch bei der Erstellung der Kartenentwürfe und des Registers mitgewirkt haben. Gezeichnet wurden die Karten von Thomas Karling und Ursula Dey«. Vgl. ebd., Vorbemerkungen.
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tastrophe von 1897 ein weitgehend gleichberechtigter, kaum rassistisch eingefärbter Verkehr zwischen den Kolonialeroberern und den Großleuten und Kapitänen mit ihrer großen Verwandtschaft.«188 Aufschlussreich ist die Textsemantik der Passage. In Rekurs auf die christliche Erzählung der zehn biblischen Plagen folgen auf die Rinderpest eine »Malaria-Epidemie« sowie »ein Heuschreckeneinfall und eine Dürreperiode«.189 Dieser Topos findet sich bereits in der Erzählung des Missionars Jakob Irle aus dem Jahr 1909, den Horst Gründer im Literaturverzeichnis anführt.190 Implizit wird damit ein Narrativ zugrunde gelegt, das die Entwicklung des kolonialen Namibias nach der »Katastrophe« von 1897 als deterministisch und – in Anlehnung an die Bibelgeschichte – als gottgewollte Prüfung inszeniert. Eine Dichotomie zwischen Afrika und Europa wird nicht nur inhaltlich, sondern auch durch die koloniale Herrschaftssprache und die ihr inhärenten Hierarchie- und Machtstrukturen weitergeführt. Indem Horst Gründer die Begriffe »Stämme«191, »Häuptlinge«192 und »Eingeborene«193 verwendet, setzt er die AfrikanerInnen in ein allochrones Verhältnis zu den EuropäerInnen. Der Begriff der »Schutztruppe« wird als Quellenbegriff ohne Anführungszeichen verwendet. Die vermeintlich positive Konnotation, die mit dem Präfix ›Schutz-‹ einhergeht, wird so unwillkürlich reproduziert. Das Fortschreiben kolonialer Bezeichnungen muss dabei als bewusste Entscheidung gewertet werden, da sie Mitte der 1980er Jahre bereits hinterfragt worden waren.194 Leonhard Harding kritisierte in seiner Rezension zu Horst Gründers Habilitationsschrift den unkritischen Umgang mit kolonialdiskursiven Begriffen und den darin eingeschriebenen Bewertungen.195 In der Erzählung des kolonialen Genozids folgt Horst Gründer in weiten Teilen Helmut Bleys Monografie, jedoch ohne dessen Metanarrativ zu adaptieren. In Anlehnung an Helmut Bley legt Horst Gründer die unmittelbaren 188 | Ebd., S. 117. 189 | Ebd., S. 115. 190 | Ebd., S. 219f. 191 | Ebd., S. 111. 192 | Ebd., S. 111-127. 193 | Ebd., S. 121. 194 | Vgl. Sadji: Das Bild des Negro-Afrikaners, 1985. 195 | Leonhard Harding kritisiert: »Die Deutung der Missionare (›ungesetzlich‹, ›unchristlich‹, ›Gottlosigkeit‹, ›freche Friedensstörer‹, ›räuberisches Gesindel‹, (S. 124132) wird nicht weiter untersucht […].« Weiter kritisiert er, dass »Gründer zu den selben Einschätzungen neigt wie die Missionare, wenn er von den ›Stammesfehden‹, (S. 116) spricht, von den ›grundsätzlichen Spannungen und Rassengegensätzen‹, (S. 116), vom ›permanenten Kriegszustand‹, (S. 115), vom ›rivalisierenden Tribalismus Afrikas‹, (S. 116) […].« Harding: Rezension zu: Gründer, 1985, S. 370.
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Gründe für den Aufstand der Herero differenziert dar. Er betont, der »Prozeß der zunehmenden politisch-gesellschaftlichen Zerstörung der Häuptlingsmacht und die voranschreitende ›Proletarisierung‹ ihrer Untertanen ging einher mit einer wachsenden Rechtsunsicherheit der Schwarzen und einer im Steigen begriffenen rassistischen Ideologisierung der auch politisch sich stärker artikulierenden Siedlerschicht«.196 Weiter führt er aus, die »soziale und politische Diskriminierung der Schwarzen, insbesondere die totale Rechtsunsicherheit, dürften auch den Hauptgrund für diesen größten Aufstand in der deutschen Kolonialgeschichte bilden«.197 Gleichzeitig tauchen im Text immer wieder Passagen auf, die auf das vermeintliche Selbstverschulden der AfrikanerInnen an der Vorkriegssituation verweisen. So erleichterte laut Horst Gründer die »ruinöse Landpolitik des Oberhäuptlings«198 den Landverlust der Herero. Auch »gewinnsüchtige Häuptlinge«199, die »ebenfalls Land aus ihrem Restbesitz [veräußerten]« werden von Horst Gründer zur Erklärung der Verschärfung der Vorkriegssituation angeführt. Hierdurch wird nicht nur das Metanarrativ des kolonialen Fortschrittsprojekts gestützt, sondern die Verantwortung für den Krieg implizit den AfrikanerInnen angelastet. Die Erzählsequenz über den Ausbruch des Krieges entlehnt Horst Gründer nahezu im Wortlaut Helmut Bleys Monografie: »Völlig überraschend standen die Deutschen der Erhebung gegenüber, die in der zweiten Januarwoche begann. 123 deutsche Männer, Ansiedler und Soldaten wurden in einem Überraschungsschlag getötet, die Eisenbahnlinie Windhuk-Swakopmund an mehreren Stellen zerstört und die Telegraphenverbindungen unterbrochen.«200 In der »Geschichte der deutschen Kolonien« stehen die »z.T. unbeweglichen und unerfahrenen deutschen Truppenkolonnen« den AfrikanerInnen zunächst wehrlos gegenüber, da »eine erste Verstärkung aus Deutschland von 800 Mann weder zahlenmäßig noch hinsichtlich der Ausrüstung und ihres taktischen Verhaltens gegen die kampfentschlossenen, landeskundigen Afrikaner etwas auszurichten vermochte […].«201 In wörtlicher Anlehnung an die Erzählung Helmut Bleys widmen sich die »deutschen Truppen« daher weiter dem Wiederauf bau des kolonialen Projekts, behaupteten »die Verbindungslinien im Hereroland, reparierten die Bahn und sicherten Ortschaften«.202 Erst nach dem »Kommandowechsel im Oberbefehl der Schutztruppe« werden die
196 | Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 1985, S. 117. 197 | Ebd., S. 118. 198 | Ebd., S. 116 199 | Ebd., S. 117. 200 | Ebd., S. 120. Vgl. Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 190. 201 | Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 1985, S. 120. 202 | Ebd. Vgl. Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 190.
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Herero von Lothar von Trotha »in einer Kesselschlacht (11.8.1904) vernichtet bzw. an der Durchbruchstelle in die wasserlose Omaheke getrieben«.203 Bezüge zum nationalsozialistischen Genozid finden sich in der sich anschließenden Erzählpassage in einem längeren Quellenzitat des Generalstabsberichts, in dem die »Vernichtung der Herero«204 thematisiert wird, sowie in den Ausführungen über die Sterblichkeitsrate im Krieg und in den »Lagern«205. Die Begriffe »Vernichtungsstrategie«, »Deportation« und »Zwangsarbeit« fungieren als deutliche semantische Verweise auf den nationalsozialistischen Genozid. Auch in der Bewertung der Nachkriegssituation folgt die Erzählung Helmut Bley. Hier wird argumentiert, dass mit der »völligen Aufhebung der nationalen Identität der Schwarzafrikaner sowie in der praktizierten Politik der ›Zivilisierung‹ der Eingeborenen mit der Nilpferdpeitsche durch die Siedler […] die Schwelle zu totalitärem Denken und Verhalten ohne Zweifel überschritten«206 worden sei. »Insofern sind die Verhältnisse in der ›Siedlungskolonie‹ Südwestafrika noch am ehesten ein Beispiel für die These Hannah Arendts, daß sich bereits in der Kolonialpolitik in Afrika ›Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‹ abzeichneten.«207 Doch anschließend relativiert Horst Gründer diese These und bricht damit mit dem Narrativ Helmut Bleys. Horst Gründer führt aus, dass »ein alle Eingeborenen erfassendes Kontrollsystem nicht erreicht« worden sei.208 Zudem, so argumentiert Horst Gründer im Hinblick auf die soziale und politische Organisation der Nachkriegszeit, »besaßen die Kolonialherren weder einen unbegrenzten Handlungsspielraum noch konnten sie ungehindert ihre Vorstellungen verwirklichen«.209 Horst Gründer wendet sich also in seiner Erzählung letztlich dezidiert gegen die Genozidthese, obwohl er eine Verbindungslinie zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Herrschaftsmethoden aufzeigt. Sprachlich subtiler wird dies an einer Textpassage deutlich, in der er Lothar von Trothas Vorgehen nach der militärisch erfolgreichen Schlacht am Waterberg im August 1904 schildert. »Nach der Ablösung Leutweins setzte Generalleutnant von Trotha […] seine Militärdiktatur und radikale Vernichtungsstrategie durch, in deren Zusammenhang er am 2. Oktober 1904 seine berüchtigte Proklamation an die Herero richtete, die ihnen eine gnadenlose Ausrottung androhte.«210 In 203 | Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 1985, S. 120. 204 | Ebd., S. 120. 205 | Ebd., S. 121. 206 | Ebd., S. 124. Vgl. Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 314-316. 207 | Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 1985, S. 124. Vgl. Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 314-316. 208 | Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, 1985, S. 124. 209 | Ebd., S. 125. 210 | Ebd., S. 122.
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Horst Gründers Erzählung wurde der »Genozid-Befehl Trothas« jedoch nicht umgesetzt, denn er wurde »von Wilhelm II. dahingehend geändert, daß alle sich freiwillig stellenden Herero bis auf ihre Anführer und ›Mörder‹ am Leben bleiben sollten. Auch sein Kettenbefehl, d.h. daß alle sich ergebenden Herero Arbeitsdienst an der Kette leisten sollen, wurde von Reichskanzler Bülow aufgehoben.«211 Folglich kam es laut Horst Gründer nie zu Arbeitsdiensten oder einem kolonialen Genozid, der von Lothar von Trotha zwar angedroht, von Kaiser Wilhelm II. jedoch verhindert wurde. Es ist aufschlussreich, dass Horst Gründer in seinem Grundlagenwerk den Begriff »Genozid-Befehl« verwendet. Er verweist an dieser Stelle auf eine Kontroverse um die Kategorisierung und versucht eine normative Deutung durchzusetzen, die die Genozidthese explizit zurückweist. An dieser Textstelle folgt Horst Gründer nicht der Erzählung Helmut Bleys, der in seiner 1968 erschienenen Monografie ein konträres Narrativ entwirft. Er führt aus, dass es Lothar von Trotha gelang, seine Pläne umzusetzen, da der kaiserliche Gegenbefehl das koloniale Namibia zu spät erreichte.212 Für Helmut Bley gilt: »Die Tatsache, daß Trotha über ein Jahr Zeit hatte, seine Politik durchzuführen und den größten Teil der Herero tatsächlich zu vernichten, bleibt bestehen: nur 12.000 konnten sich in den von dem neuen Zivilgouverneur Lindequist und der Rheinischen Missionsgesellschaft eingerichteten Sammellagern noch einfinden.«213 Horst Gründers Position gegenüber der kolonialen Genozidthese wird zu Beginn der 1980er Jahre an den Debatten über das Münsteraner Train-Denkmal deutlich. Bereits Anfang Dezember 1982 versuchten Mitglieder des Münsteraner Arbeitskreises Afrika (AKAFRIK) das Denkmal um eine Mahntafel zu erweitern, die auf die afrikanischen Opfer des Kolonialismus aufmerksam machen sollte.214 Da dieses Anliegen durch den CDU-Bürgermeister Werner Pier211 | Ebd. 212 | Für ein breites Publikum legte Horst Gründer seine Haltung zur kolonialen Genozidthese im Vorwort zur fünften Ausgabe der »Geschichte der deutschen Kolonien« dar: »Breitere Aufmerksamkeit hat die deutsche Kolonialgeschichte schließlich im Zusammenhang mit dem ›Herero-Nama-Aufstand‹, von 1904/7 erfahren, wobei ältere Thesen vom ›ersten deutschen Völkermord‹, – und im Sinne von Hannah Arendt – zur ›Kontinuität‹, von Kolonialismus und Faschismus kontrovers diskutiert wurden und werden. Angesichts der Einbettung der deutschen Kolonialgeschichte in einen über fünf Jahrhunderte währenden komplexen Prozeß frühneuzeitlicher Expansion, der die Kontinuität sowie die Einheit der westlichen Kolonialgeschichte unterstreicht, spricht indes wenig dafür, im Hinblick auf das deutsche ›Kolonialabenteuer‹, neue ›Kontinuitätsthesen‹, oder gar einen erneuten ›deutschen (kolonialen) Sonderweg‹, zu konstruieren.« Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien, Einleitung zur 5. Auflage, S. 12. 213 | Bley: Kolonialherrschaft und Sozialstruktur, 1968, S. 208. 214 | Vgl. Zeller: Kolonialdenkmäler und Geschichtsbewußtsein, 2000, S. 215-220.
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challa abgelehnt wurde, stellte der AKAFRIK anlässlich des Jubiläums 1984 in Eigeninitiative eine steinerne Mahntafel auf, die die Inschrift trug: »Wir gedenken der Opfer des Völkermordes unter deutscher Kolonialherrschaft in Namibia«.215 »Diese Mahntafel«, so der Historiker Joachim Zeller, »scheint übrigens die einzige Denkmalsinitiative ihrer Art in der Bundesrepublik anläßlich des Geschichtsjubiläums gewesen zu sein.«216 Zu Kontroversen führte der Begriff »Völkermord«. Nachdem Horst Gründer ein Gutachten erstellt hatte, in dem er zu dem Schluss kam, dass es »m.E. nicht vertretbar [scheint], vom deutschen ›Völkermord‹ an den Herero und Nama zu sprechen«217, initiierte der AKAFRIK für den 29. August 1985 eine Podiumsdiskussion, auf der Historiker und Kommunalpolitiker über die Mahntafel und ihre Inschrift debattierten. Neben Horst Gründer und Helmut Bley waren Manfred Hinz und Henning Melber vertreten.218 Die Zusammensetzung der Diskutanten steht stellvertretend für die verschiedenen geschichtspolitischen Positionen in der Bundesrepublik. Bereits auf dem Flugblatt des AKAFRIK wurden die konträren Standpunkte der Diskutanten mittels kurzer Zitate dargestellt. Horst Gründer wurde mit seinem Fazit aus dem Gutachten zitiert. Hier heißt es: »Auf Grund der Haltung von Reichsregierung und des größten Teils der deutschen Öffentlichkeit erscheint es m.E. nicht vertretbar, vom deutschen ›Völkermord‹ an den Herero und Nama zu sprechen.«219 Aus der Stellungnahme, die Horst Gründer für die Podiumsdiskussion vorlegte, geht hervor, dass er den Begriff des »Völkermordes« auch deshalb ablehnte, weil es gelte »einer Inflationierung des Völkermord-Begriffs vorzubeugen und ihn insbesondere für die Kennzeichnung der Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus vorzubehalten«.220 Eine Einigung wurde auf der Konferenz nicht erzielt. Die Mahntafel »verschwand im Keller des Rathauses«.221
Die »gängige These vom ›Völkermord‹ an den Herero« Die Zeitzeugengeneration, der nicht zuletzt aus biografischem Interesse an einer positiven Bewertung des deutschen Kolonialismus gelegen war, hatte seit den 1960er Jahren nach und nach an Bedeutung verloren. Kolonialapologetische Wissenskulturen blieben jedoch weiterhin wirkmächtig. Der Historiker
215 | Zitiert nach: Ebd., S. 216. 216 | Ebd. 217 | Ebd., S. 218. 218 | Ebd. 219 | Ebd. 220 | Ebd., S. 219. 221 | Ebd., S. 216.
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Jost Dülffer resümiert 1981 in einem Literaturüberblick zur deutschen Kolonialhistoriografie: »Die publizistische Lobby ehemaliger Kolonialbeamter und der Kampf gegen die ›Kolonialschuldlüge‹ waren insgesamt so stark, daß in einer breiteren Öffentlichkeit auch nach 1945, vermutlich bis in die Gegenwart hinein, die Legende von der vorbildlichen deutschen Kolonialpolitik fortwirken konnte und auf diesem Sektor der verlorene Zweite Weltkrieg keinen Einschnitt darstellte.« 222
Tatsächlich wirkte die »publizistische Lobby« auch noch in den 1970er und 1980er Jahren nach. An die Stelle der Zeitzeugen traten jedoch männliche Publizisten aus dem rechtspolitischen Spektrum sowie in Namibia sozialisierte HistorikerInnen und JournalistInnen, die sich explizit gegen die Völkermordund Kontinuitätsthese wandten und sie zu widerlegen suchten. Im Hinblick auf koloniale Kontinuitäten ist zu fragen, mit welchen Narrativen und Argumenten diese Gegenerzählungen entworfen wurden. Ferner, in welchem Verhältnis die revisionistischen Texte der 1980er Jahre zum akademischen Diskurs standen. Bereits 1975 versuchte sich der 1943 geborene Gert Sudholt mit »Die deutsche Eingeborenenpolitik in Südwestafrika. Von den Anfängen bis 1904«223 an einer Auseinandersetzung um das in den 1960er Jahren generierte Wissen. Es handelt sich um eine im Jahr 1973 an der Universität München akzeptierte Doktorarbeit, die von dem durch seine Tätigkeit im Nationalsozialismus belasteten, aber in der BRD renommierten Historiker Walter Bußmann betreut wurde.224 Die Arbeit erschien im Olms Verlag als erster Band der Reihe »Historische Texte und Studien«. Trotz der institutionellen Verortung an der Universität München ist die Arbeit im Kontext des Apartheidregimes zu verorten, denn Gert Sudholt lebte in den Jahren 1964 bis 1966 in Namibia, arbeitete als Volontär und Journalist für die konservative, deutschsprachige »Allgemeine Zeitung« in Windhoek und trat dort für die Aufrechterhaltung des Apartheidsystems ein.225 Diese biografischen Bezüge werden auch im Vorwort deutlich, hier dankt Sudholt zahlreichen Wissenschaftlern und Politikern des Apartheidregimes, zu dem sich Gert Sudholt bekennt.226 In der Publikation 222 | Dülffer: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1981, S. 459. 223 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik in Südwestafrika, 1975. 224 | Vgl. Messerschmidt: Walter Bußmann, 2004; Möller: Walter Bußmann zum Gedenken, 1993. 225 | Hillebrecht: Certain Uncertainties, 2007, S. 88. 226 | Etwa dem »Vertreter Südwestafrikas im Senat der Republik Südafrika, dem der Altsenator Dr. Carl Frey« oder dem »Sekretär der Wissenschaftlichen Gesellschaft, Windhoek«, Dr. H.J. Rust, S. 11.
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wird eine Darstellung präsentiert der »bei apologetischer Tendenz« dennoch ein gewisser wissenschaftlicher Wert zugesprochen wurde, da es Gert Sudholt gelang, »wichtiges Material«227 aufzubereiten, wie Jost Dülffer 1981 in einem Überblick zur Kolonialhistoriografie wohlwollend bemerkt. Gert Sudholts Publikation führte nicht zuletzt aufgrund ihrer formalen, wissenschaftlichen Verankerung dazu, dass seine vorgebrachte kolonialrevisionistische Position »einen wissenschaftlichen Anstrich erhielt«228, wie die Historikerin und Schülerin Helmut Bleys, Gesine Krüger, bemängelt. Heute wird Gert Sudholt politisch dem rechtsextremistischen Spektrum zugeordnet.229 Im direkten Kontext des Jubiläums erschien 1982 Hans Germanis »Rettet Südwest«.230 Der 1928 geborene promovierte Historiker lebte und arbeitete unter anderem als Korrespondent für die Zeitung »Die Welt« und die Zeitschrift »Der Spiegel« in Südafrika und Namibia und positionierte sich immer wieder als Kritiker der Dekolonisation Afrikas.231 Sein Schwerpunkt ist die Darstellung der politischen Situation, die Kritik an der UNO und dem neuen politischen Kurs der BRD, die nach Hans Germani ihrer Verantwortung gegenüber Namibia und den deutschsprachigen SiedlerInnen nicht gerecht wird. »Rettet Südwest« ist ein Plädoyer, den bisherigen politischen Kurs zu ändern. Auch wenn Hans Germanis Werk nicht im akademischen Diskurs rezipiert und selbst »im 3. Fernsehprogramm des Bayrischen Rundfunks vernichtend rezensiert«232 wurde, fand es Eingang in die Bundestagsdebatten.233
227 | Dülffer: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1981, S. 468. 228 | Krüger: Kriegsbewältigung und Geschichtsbewußtsein, 2007, S. 12. 229 | »Sudholt subsequently made a name for himself as an extremist right-wing author and publisher, was repeatedly convicted for distributing anti-Semitic publications and with multiple connections to the German neo-Nazi scene which also keeps a close relationship with certain circles among Namibians and South Africans of German origin.« Hillebrecht: Certain Uncertainties, 2007, S. 88. Vgl. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Verfassungsschutzbericht, 2004, S. 93. 230 | Germani: 231 | Als die Leitung des Ressorts für die Kulturpolitik in der Hamburger Redaktion der Zeitung im Jahr 1955 an Walter Görlitz überging, der 1968 auch das Ressort für Zeitgeschichte übernahm, fand sich Hans Germani als Journalist zunehmend an den Rand gedrängt. 232 | Helbig/Helbig: Mythos Deutsch-Südwest, 1983, S. 259. 233 | Abgeordneter Graf Huyn (CDU/CSU): »Trifft es zu, was auf Seite 185 des Buches von Dr. Hans Germani »Rettet Südwest« behauptet wird, daß das Auswärtige Amt kürzlich versuchte, den schwarzafrikanischen Namibia-Politiker Kalangula zu einer linksgerichteten Politik zu beeinflussen […]« Deutscher Bundestag 9. Wahlperiode, Drucksache 9/1916, 13.8.1982, S. 1f.
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Auch »Die Deutschen und ihr Kolonialreich«234 erschien im Jahr 1984, verfasst von dem 1913 geborenen Hans Georg Steltzer. Er trat 1950 in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik ein, und war unter anderem in Pretoria tätig, bevor er seit 1960 die Leitung des Afrikareferats im Auswärtigen Amt in Bonn übernahm und 1962 der SPD beitrat. Ab 1964 war er Botschafter der Bundesrepublik in Ghana und kehrte 1968 wieder nach Bonn zurück, wo er seit 1970 die Kulturabteilung des Auswärtigen Amtes leitete.235 Nachdem er 1978 in den Ruhestand getreten war, betätigte er sich »als Historiker und Schriftsteller und Berater der SPD in Afrika-Fragen«.236 Zeitgleich mit seiner zuweilen autobiografischen Monografie publizierte er in einer Veröffentlichung der Deutschen Afrika-Stiftung, die 1978 als Nachfolgeorganisation der Deutschen Afrika Gesellschaft gegründet worden war, seinen Aufsatz »Die Deutschen und ihr Kolonialreich. 1884 bis 1919 – Aufstieg und Ende«.237 Der Wahrhaftigkeitsanspruch seiner Darstellung – Steltzer war Autodidakt und Zeitzeuge der zweiten Generation – wurde durch die Tätigkeit des Autors als »Botschafter in verschiedenen afrikanischen Ländern« und »Spuren deutscher Kolonialtätigkeit, auf die er in seiner diplomatischen Zeit immer wieder stieß« beglaubigt.238 Obwohl der Rezensent, der Historiker Winfried Baumgart, einräumt, »daß der Autor, von wenigen Ausnahmen abgesehen, seine Ausführungen auf die ältere Literatur stützt, die neuere missachtet und bei der Quellenbenutzung oft aus zweiter oder dritter Hand schöpft«239, kommt er zu einem ausgesprochen positiven Gesamtergebnis: »Das Buch darf als das ausführlichste und umfassendste unter den Studien gelten, die aus Anlaß des hundertsten ›Jahrestags‹ des deutschen Kolonialerwerbs erschienen sind.«240 1989 gelang schließlich Walter Nuhn mit »Sturm über Südwest. Der Hereroaufstand von 1904 – ein düsteres Kapitel der deutschen kolonialen Vergangenheit Namibias« der publizistische Auftakt seiner Beschäftigung mit dem deutschen Kolonialismus. Bereits einleitend inszeniert sich der 1928 geborene Walter Nuhn als Kriegsveteran, der nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft verbracht hat.241 Im Anschluss an sein Studium der Evangelischen Theologie und Anglistik arbeitete er seit 1963 als Übersetzer der Bundeswehr, anschließend war er Mitarbeiter in verschiedenen Behörden der Bundesmarine. Bereits Walter Nuhns Vater war als Marineof234 | Steltzer: Die Deutschen und ihr Kolonialreich, 1984. 235 | Steltzer, in: Munzinger Personen, ohne Seitenangabe. 236 | Ebd. 237 | Steltzer: Die Deutschen und ihr Kolonialreich, 1984, S. 13-26. 238 | Baumgart: Rezension zu: Steltzer, 1985, S. 203. 239 | Ebd., S. 204. 240 | Ebd., S. 203. 241 | Vgl. Nuhn: Sturm über Südwest, S. 396.
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fizier tätig, womit Nuhn sein »Interesse an deutscher Marine- und Kolonialgeschichte« auch biografisch begründet.242 Bis heute ist Walter Nuhn Mitglied im TSÜ, und so darf davon ausgegangenen werden, dass seine Arbeiten durch die Wert- und Normvorstellungen des Verbands geprägt sind. Obwohl Walter Nuhn keine Ausbildung als Historiker absolvierte, hat er zahlreiche Bücher zum deutschen Kolonialismus verfasst, die vor allem im auf militärische Sujets spezialisierten Bernard und Graefe-Verlag erschienen sind.243 Dies gilt auch für »Sturm über Südwest«, dessen Publikation zudem vom Arbeitskreis für Wehrforschung unterstützt wurde.244 Das Buch folgt über weite Teile einer detaillierten kriegsgeschichtlichen Darstellung, die in Auf bau, Themen und Topoi stark an die soldatische Memoirenliteratur erinnert, die auch vorwiegend als Quellengrundlage dient. Dennoch fand das Werk Eingang in den wissenschaftlichen Diskurs und wurde in einschlägigen Zeitschriften rezensiert. Dabei zeigt sich deutlich, dass seine Bewertung von der jeweiligen politischen und akademischen Haltung der Rezensenten abhängig war. Leonard Harding, der seit 1981 die Professur für afrikanische Geschichte in Hamburg innehatte, nutzt seine Rezension als Versuch, Walter Nuhn aus dem akademischen Diskurs auszuschließen. Für ihn ist die »entscheidende fundamentale, unverständliche und nicht akzeptierbare Schwäche des Buches: das Kolonialsystem als solches wird nicht in Frage gestellt […]«. Mit Walter Nuhns Zivilisierungsnarrativ, so Leonard Harding, »wird im Grunde die Kolonialpolitik auf den Kopf gestellt, und der Hererokrieg erscheint nicht mehr als Krieg der Herero gegen die Fremdherrschaft und Unterdrückung, sondern als Aufstand gegen eine Politik, die ihnen den Fortschritt und die Zivilisation bringen soll. In dieser Vereinfachung und Umkehrung der Werte«, so urteilt er abschließend, »liegt das eigentlich Bedenkliche, ja Gefährliche dieses Buches«.245 Der Ausschluss aus dem wissenschaftlichen Diskurs gelingt jedoch nicht, auch Walter Nuhns Nachfolgewerk »Feind überall. Der große Nama-Aufstand (Hottentottenaufstand) 1904-1908 in Deutsch-Südwestafrika (Namibia)«246, das als zweiter Band zu »Sturm über Südwest« gelesen werden kann, wird noch von Horst Gründer in der renommierten »Historischen Zeitschrift« rezensiert.247 Erwähnung finden dabei auch die zuvor veröffentlichten Werke. Die Kritik erfolgt indirekt, indem die 242 | Ebd. 243 | Ebd.; Nuhn: Kamerun unter dem Kaiseradler, 1995; Nuhn: Flammen über Deutsch-Ostafrika, 1998; Nuhn: Feind überall, 2000; Nuhn: Auf verlorenem Posten, 2008. 244 | Bis 2006 erschienen sechs Auflagen. 245 | Harding: Rezension zu: Nuhn, 1989, S. 229. 246 | Nuhn: Feind überall, 2000. 247 | Gründer: Rezension zu: Nuhn, 2001; vgl. Harding: Rezension zu: Nuhn, 1989.
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Arbeit, »eine primär kriegsgeschichtliche Darstellung«, nicht dezidiert als wertvoller historiografischer Beitrag bewertet und moderat das Fehlen »gegenwärtiger Forschungsliteratur« kritisiert wird.248 Zunächst scheint es, als ob revisionistische Positionen seit den 1970er Jahren lediglich am Rande oder außerhalb des akademischen Raums artikuliert werden konnten. Doch auch innerhalb der Fachwissenschaft blieb die Deutung der Geschichte des kolonialen Namibias weiterhin kontrovers. Dies wird auch an Brigitte Laus249 Artikel »Uncertain Certainties« deutlich. Unter diesem Titel veröffentlichte die 1955 in Deutschland geborene und in Südafrika und Namibia lebende Historikerin und Archivarin einen Beitrag, der im April 1989 in der namibischen Fachzeitschrift Mibagus veröffentlicht wurde.250 Brigitte Lau wurde politisch und akademisch dem linken Spektrum zugeordnet, da sie sich als Kritikerin des Apartheidregimes und als Vertreterin kolonialismus- und eurozentrismuskritischer Positionen in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht hatte.251 Umso erstaunter fiel die fachwissenschaftliche Reaktion aus, als Brigitte Lau mit ihrem Artikel als bereits anerkannte Wissenschaftlerin und ihrer damit verbundenen Autorität kolonialapologetische Argumente rehabilitierte, um die Kontinuitäts- und Genozidthese als eurozentrische Denk- und Erzählfigur zu kritisieren.252 Brigitte Lau wendet sich in erster Linie gegen Horst Drechslers Völkermordthese, die sie – in Rückgriff auf postkoloniale Theorieimpulse – als eine europäische Denk- und Erzählfigur verstanden wissen will, die auf der spezifisch deutschen ›Vergangenheitsbewältigung‹ fußt und dabei Annahmen folgt »which are entirely rooted in a Eurocentric consciousness«.253 Brigitte Lau kritisiert ferner, dass eine solche Erzählung die Vernichtungs- und Herrschaftsphantasien der Kolonisatoren reproduziere und die aktive Rolle der Herero und Nama negiere. Das 248 | Gründer: Rezension zu: Nuhn, 2001, S. 802. 249 | Brigitte Lau wurde 1955 in Deutschland geboren und ging dort auch zur Schule. Sie studierte an der Universität Kapstadt Afrikanische Geschichte und Sozialanthropologie und spezialisierte sich auf die vorkoloniale und frühe koloniale Geschichte Namibias. Von 1991 bis zu ihrem Tod im Jahr 1996 war sie Leiterin des National Archives. 250 | Lau: Uncertain Certainties, 1989. »Only two issues of Mibagus ever appeared (in 1988 and 1989) and were distributed as a supplement to The Namibian.« Hillebrecht: Certain Uncertainties, 2007, S. 73. Im Folgenden wird aus dem 1995 erschienenen Nachdruck zitiert: Lau: Uncertain Certainties, 1995. 251 | Vgl. hierzu etwa: Lau: Thank God the Germans Came, 1981; Lau: A Critique of the Historical Sources and Historiography, 1979. Auf der Konferenz »Namibia 1884-1984. 100 Years of Foreign Occupation – 100 Years of Struggle« trat sie dezidiert als Unterstützerin der SWAPO auf. Vgl. Lau: Pre-colonial Namibian Historiography, 1988. 252 | Vgl. hierzu auch Dedering: The German-Herero War of 1904, 1993, S. 81. 253 | Lau: Uncertain Certainties, 1995, S. 39.
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europäische Narrativ des Genozids sei eine falsch verstandene Hilfestellung und aus afrikanischer Perspektive überholt: »The traps of such Eurocentric projections which only seem sympathetic to the African cause but in reality assert the total dominance of the colonisers, have been analysed and pointed out by many African scholars in independent African countries.«254 Die bisherige »mystification of the Herero war«255 restauriere letztlich das Bild des unbesiegbaren Nationalsozialisten und entlaste zudem das Südafrikanische Regime von dessen Verantwortung: »Thus the Nazi German ›Ayran‹ hero is perversely resurrected, and one of the foremost Namibian experiences of the last 25 years, the total militarisation of the country by South Africa, is neatly taken off South Africa’s contemporary shoulders and placed at the doorstep of those turn-of-the century early colonisers.«256 Trotz der zuweilen harschen Kritik an »Uncertain Certainties« veröffentlichte sie den Artikel sechs Jahre später mit einem Vorwort in einem Essayband erneut.257 Brigitte Lau wurde zunächst kaum in der deutschen Forschung rezipiert.258 Erst nach der deutschsprachigen Veröffentlichung ihres Artikels im Jahr 1991 und einem kritischen Artikel des südafrikanischen Historikers Tilman Dederings wurden ihre Thesen diskutiert und die Autorin zunehmend von rechten Gruppen vereinnahmt. Für den deutschen Rezeptionsprozess ist relevant, dass Laus Artikel in einer Phase diskutiert wurde, in der die Debatte bereits im Dezember 1988 durch einen Artikel Gunter Sprauls in der Zeitschrift »Geschichte für Wissenschaft und Unterricht« angefacht wurde, dem Publikationsorgan des Verbands der Geschichtslehrer Deutschlands. Mit seinem Beitrag – »Der ›Völkermord‹ an den Herero. Eine Untersuchung zu einer neuen Kontinuitätsthese« – versuchte er die Völkermordthese systematisch zu widerlegen.259 Zusammen mit der 1989 veröffentlichen, populärwissenschaftlichen Publikation »Sturm über Südwest« von Walter Nuhn schien eine neue Welle der Apologetik heraufzuziehen. In allen Texten steht die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Genozid im Zentrum. Hierin zeigt sich deutlich, dass die Kategorisierung der Ereignisse als Völkermord zu allgemeingültigem Wissen wurde und den historiografischen Diskurs dominierte. Hans Germani will daher einer »der größten Lügen 254 | Ebd., S. 40. 255 | Ebd., S. 39. 256 | Ebd. 257 | Ebd., S. 50. 258 | Werner Hillebrecht führt zu den möglichen Gründen aus: »The rightist response came rather belatedly, and only after Brigitte Lau’s death – probably because, being steeped in colonial tradition, neither issue of Mibagus was widely read by Germans or German Namibians.« Hillebrecht: Certain Uncertainties, 2007, S. 73-95. 259 | Spraul: Der »Völkermord« an den Herero, 1988.
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über die deutsche Kolonialzeit«, nämlich der immer wieder verbreiteten Behauptung, »das kaiserliche Deutschland habe eine ›Ausrottungspolitik‹ betrieben«, mit den »Tatsachen der Geschichte« entgegenwirken.260 Auch Gert Sudholt wendet sich gegen die »im heutigen Sprachgebrauch gängige These vom ›Völkermord‹ an den Herero«.261 Und 1989 versucht Gunter Spraul in seinem Artikel aufzeigen, wie die Auffassung, dass die »deutsche Kolonialpolitik in Zielsetzung und Methoden das Dritte Reich vorweggenommen« habe, »durch Veränderung des Geschichtsbildes ›geschichtsmächtig‹ geworden sei«.262 Gestützt wurde diese Haltung seit Mitte der 1970er Jahre auch durch Netzwerke, Publikationen und Rezensionen aus dem Ausland, etwa den Publikationen der Historiker Lewis H. Gann und Peter Duignan. Aufgrund der institutionellen Anbindung an die konservative, aber einflussreiche Hoover Institution der Stanford Universität, wurde ihren »studies of what they termed ›German Africa‹«263 eine hohe wissenschaftliche Relevanz zugesprochen. Die Infragestellung der Völkermordthese wurde durch die beiden Autoren, die sich auch dezidiert kritisch gegenüber Hans-Ulrich Wehlers Thesen positionierten, entscheidend vorangetrieben.264 Für den amerikanischen Historiker Dennis Laumann gilt sogar, dass »the neo-imperialist school of German colonial history was most forcibly advanced by historians outside the two Germanys«.265 Aus der Sicht Lewis H. Ganns und Peter Duignans beruhte die kritische Einordnung der deutschen Kolonialgeschichte nicht auf wissenschaftlicher Expertise, sondern auf »today’s climate of opinion«.266 Ihre Interpretation der Geschichte unterscheide sich hingegen »from what has now become conventional wisdom in academia«.267 In ihrer Auseinandersetzung mit der Völkermord- und vor allem Kontinuitätsthese steht die von ihnen als »The Arendt-Bley-School«268 bezeichnete westdeutsche Historiografie im Mittelpunkt. Die wissenschaftliche Diskreditierung der Völkermord- und Kontinuitätsthese als Modeerscheinung wurde auch von jenen Historikern positiv rezipiert und akademisch gestützt, die mit ihrer eigenen Forschung die deutsche Kolonialgeschichte weiterhin als Modernisierungs- und Fortschrittsgeschichte stilisierten und sich gegen die These des negativen Sonderwegs stellten. Der 1938 geborene Winfried Baumgart lobte die historiografischen Arbeiten Lewis 260 | Germani: 261 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik, 1974, S. 186. 262 | Spraul: Der »Völkermord« an den Herero, 1988, S. 713. 263 | Laumann: A Historiography of German Togoland, 2003, S. 205. 264 | Vgl. Gann/Duignan: The Rulers of German Africa, S. 226. 265 | Laumann: A Historiography of German Togoland, 2003, S. 205. 266 | Gann/Duignan: The Rulers of German Africa, 1977, S. 239. 267 | Ebd. 268 | Ebd., S. 229.
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H. Ganns und Peter Duignans, die bekannt dafür seien, »daß sie gegen den modischen Trend in der heutigen Kolonialgeschichte und Imperialismusforschung des Westens schwimmen, die Kolonialpraxis der europäischen Länder in Afrika in Bausch und Bogen zu verdammen und jede Schattenseite des kolonialen Engagements Europas aufzuspüren«.269 Vor allem stimmt er ihnen in der Bewertung des kolonialen Genozids zu: »Im Schlußkapitel wird der von Hannah Arendt und Helmut Bley vorgetragenen These widersprochen, daß in der deutschen Kolonialherrschaft einer der Ursprünge des nationalsozialistischen Totalitarismus liege: beide Phänomene unterscheiden sich quantitativ und qualitativ.«270 Dass Winfried Baumgarts Position auch aus der Ablehnung der These vom negativen Sonderweg resultierte, wird an seiner eigenen Forschung deutlich. »Wie ein roter Faden« so Heinz Gollwitzer in einer Rezension zu Winfried Baumgarts 1972 erschienenem Buch »Deutschland und der Imperialismus«, »zieht sich durch B.s. Buch die offene oder implizite Auseinandersetzung mit H.U. Wehler und F. Fischer und seiner Schule«.271 Kaum verwunderlich ist es daher, dass die Rezension Hans Georg Steltzers »Die Deutschen und ihr Kolonialreich« positiv auffällt. Winfried Baumgart sieht sich bestätigt, »daß es im Vergleich zur Politik der anderen Kolonialmächte einen deutschen Sonderweg nicht gegeben hat, daß die gegenteilige Behauptung wohl auf die Versailler ›Kolonialschuldlüge‹ von 1919 und auf die moralisierende, mit einem Vergrößerungsglas operierende Betrachtungsweise so mancher SchreibtischHistoriker zurückzuführen ist«.272 Brigitte Lau erkannte in der Infragestellung des Genozids in den 1980er Jahren gar ein Tabu. »Until today«, so Brigitte Lau in ihrem Essay, »it seems taboo to challenge them, and especially taboo to do so in narratives purporting [sic!] to represent the actual experience of war.«273 Wer dieses Tabu berühre, so Brigitte Lau weiter, werde aus dem akademischen Diskurs ausgeschlossen: »For example, Karla Poewe, the only progressive scholar in over 25 years who has dared, firstly, to challenge the genocide interpretation […] has been effectively marginalised by a silent forum of fellow scholars and writers.«274 Auch für ihre eigene Position innerhalb des akademischen Diskurses sieht Brigitte Lau Macht- und Hierarchiemechanismen greifen. In einem Brief an Werner
269 | Baumgart: Rezension zu: Gann/Duignan, 1979, S. 291. Positiv rezensiert auch Rudolf von Albertini die Arbeiten Lewis H. Ganns und Peter Duignans. Vgl. Albertini: Rezension zu: Gann/Duignan, 1971. 270 | Baumgart: Rezension zu: Gann/Duignan, 1979, S. 291. 271 | Gollwitzer: Rezension zu: Baumgart,1974, S. 164. 272 | Baumgart: Rezension zu: Steltzer, 1985, S. 203. 273 | Lau: Uncertain Certainties, 1995, S. 42. 274 | Ebd., S. 40; Poewe: The Namibian Herero, 1985.
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Hillebrecht vom Mai 1989 kritisiert sie die akademischen Zensurmechanismen scharf: »Ihr seid eine richtige Mafia geworden: wessen Absichten ›gut‹ sind, der hat recht, den darf man auch zitieren, aber wenn die Absichten ›falsch‹ sind, dann muss einem ›schlecht werden‹, wenn man den Mann (oder die Frau) nur liest. Also mit Forschung, Wissen oder auch nur Denken hat das nichts mehr zu tun, das ist Dir hoffentlich klar. Das ist Gruppenterror – und um noch deutlicher zu werden, ein Gruppenterror, den Bundesdeutsche heute dem namibischen Diskurs aufzuzwingen versuchen, in schönster kolonialer Tradition.« 275
Trotz unterschiedlicher politischer und wissenschaftlicher Ausgangspositionen wird die Völkermord- und Kontinuitätsthese in allen Texten mit wiederkehrenden Argumenten und Gegenerzählungen zurückgewiesen. Die vermeintliche Deutungshoheit der gebundenen Geschichtsschreibung der DDR ist hierbei ein zentrales Argument. Für Walter Nuhn gilt, dass dem »Hereroaufstand […] überhaupt keine Monografie im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet worden ist, läßt man einmal die wenigen, zumeist ›ideologisch gefärbten‹ einschlägigen Veröffentlichungen in der DDR außer acht«.276 Gunter Spraul versucht in seinem Artikel nachzuweisen, dass die Monografie Horst Drechslers den gängigen Interpretationen zugrunde liege, die damit wiederum einer politisierten Interpretation der DDR folgen, während die »Fakten« eine solche Darstellung nicht zuließen: »Welche weitreichende Resonanz die Neuinterpretation dieses Kapitels der deutschen Kolonialgeschichte erlangt hat, zeigen einige Neuerscheinungen aus den letzten Jahren. Ob ausgesprochen oder nicht, meist fußt die Darstellung auf dem Material von Drechsler.«277 Auch Brigitte Lau kritisiert, dass die Genozidthese auf »three sets of evidence« und »one assumption first put forward by the East German historian Horst Drechsler in the early 1960s« beruhe. Die Genozidthese sei seit Erscheinen von Horst Drechslers Monografie in den 1960er Jahren »uncritically repeated ever since«.278 Darüber hinaus wird die Ablehnung der Völkermordthese im Rückgriff auf die in den 1980er Jahren virulente Debatte um die Singularität des Holocausts begründet.279 Gunter Spraul lehnt eine Kategorisierung der Ereignisse als Völkermord ab, weil der Begriff »seit dem Zweiten Weltkrieg zu den Begriffen der deutschen historisch-politischen 275 | Brief von Brigitte Lau an Werner Hillebrecht vom 25. Mai 1989, zitiert nach: Hillebrecht: Certain Uncertainties, 2007, S. 74. 276 | Nuhn: Sturm über Südwest, 1989, S. 355. 277 | Spraul: Der »Völkermord« an den Herero, 1988, S. 714. 278 | Lau: Uncertain Certainties, 1995, S. 42. 279 | Vgl. Barth: Genozid, 2004, S. 48-52.
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Sprache [gehört], die besondere Emotionen und Assoziationen auslösen. Der Vorstellungsgehalt ist so sehr von den Praktiken des Nationalsozialismus bestimmt, daß jeder Vergleich damit in Konkurrenz oder in Kollision geraten muß.«280 Weiter stellt er die Frage, ob der »Begriff damit nicht eine Inflationalisierung, die das Unterscheidungsvermögen angesichts der Ungeheuerlichkeiten einer späteren Zeit zu beeinträchtigen vermag, erfährt«.281 Und auch Lewis H. Gann und Peter Duignan verweisen auf die Singularität der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes: »Even at its worst, colonial rule – German or non-German – differed both in its quantity and in its quality from Nazi totalitarism. To confuse the two not only fudges the issue but also subtly excuses the evils of Nazi tyranny.«282 Und schließlich sei die Genozid- und Kontinuitätsthese aus Sicht der Autoren aufgrund des Quellenmaterials wissenschaftlich nicht belegbar.283 In Brigitte Laus Essay, der keine dezidierte Gegendarstellung der Ereignisse, sondern in erster Linie eine Metadebatte über die Quellensituation anbietet, wird dieses Argument ausführlich dargestellt. Sie kritisiert, dass ein Großteil der Quellen zerstört worden sei, die bisherigen scheinbar belegten historiografischen Ergebnisse auf dem »weakest and most fragmented evidence«284 beruhen. Diese Kritik an der bisherigen Historiografie wird für die Autorin zum Ausgangspunkt, um zentrale Momente der Geschichte des kolonialen Namibias zu überschreiben. Die Reinterpretation des »Vernichtungsbefehls« Lothar von Trothas ist hierbei eine zentrale Strategie.285 Der Wortlaut der Quelle wird von Gert Sudholt und Brigitte Lau als zeitgenössische Rhetorik oder »eine Art ›psychologische Kriegsführung‹«286 gewertet. Für Gert Sudholt gilt etwa, dass »die gewiß unerfreuliche Trotha-Proklamation keineswegs einen historischen Sonderfall bezeichnet. Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Kolonialkriege von allen Kolonialmächten in scharfer Denkweise geführt«.287 Der zeitgenössische Quellenbegriff der »Vernichtung«, so argumentiert Gert Sudholt, 280 | Spraul: Der »Völkermord« an den Herero, 1988. S. 726. 281 | Ebd., S. 727. 282 | Gann/Duignan: The Rulers of German Africa, 1977, S. 238. 283 | Ebd. 284 | Lau: Uncertain Certainties, 1995, S. 41. 285 | Lothar von Trotha ordnet hierin an: »Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück, oder lasse auf sie schießen.« Im April 1905 drohte er auch den Nama sie zu vernichten: »Wer hiernach glaubt, daß auf ihn die Gnade keine Anwendung findet, der soll auswandern, denn wo er sich auf deutschem Gebiet blicken lässt, da wird auf ihn geschossen werden, bis alle vernichtet sind.« 286 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik, 1974, S. 189. 287 | Ebd., S. 190.
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sei ein Begriff der »europäischen Generalstabssprache jener Zeit«, der nicht mit der tatsächlichen physischen Tötung gleichzusetzen sei. »Wenn in Trothas Operationsbefehl von ›vernichten‹ die Rede ist, so ist unzweifelhaft damit die Brechung der militärischen Widerstandskraft der Herero gemeint.«288 Als Beleg gilt die zeitgenössische Militärsprache General Moltkes, mit der Lothar von Trotha durch seine Teilnahme in der Schlacht von Sedan 1870 vertraut war, und der Verweis auf die vorbereiteten »Aufnahmelager für 8.000 Gefangene«.289 Tatsächlich kam es laut Gert Sudholt nie zur Ausführung des »Vernichtungsbefehls«, da Lothar von Trotha ihn »acht Wochen nach der Schlacht am Waterberg zu Papier brachte«.290 Auch Brigitte Lau verweist darauf, dass der oft zitierte Vernichtungsbefehl Lothar von Trothas lediglich als zeitgenössische Rhetorik zu verstehen sei. Ebenso erörtert Gunter Spraul das »Problem der Zielsetzung und Anwendung der ›Proklamation‹« ausführlich.291 Der ›Vernichtungsbefehl‹ wird ferner in allen Texten durch die Erzählung der Schlacht am Waterberg im August 1904 relativiert. Für Gert Sudholt kam es damals nicht zu einem militärischen Sieg der Weißen Truppen. In Konsequenz mussten weitere Aktionen folgen. Die Verfolgung der Herero erscheint so als militärische Notwendigkeit und nicht als rassistisch begründeter Befehl Lothar von Trothas. Gert Sudholt betont jedoch, dass die Soldaten nicht in der Lage waren, die Herero zu verfolgen. Damit reproduziert er den in der Memoirenliteratur verbreiteten Topos der ›leidenden Schutztruppe‹: »Die Schutztruppe war zudem in bedenklicher Lage: sie litt stark unter Typhuserkrankungen und Wassermangel.«292 Auch Brigitte Lau verweist auf visueller Ebene auf dieses Argument. Sie verwendet in ihrem Abbildungsteil eine zeitgenössische Fotografie, die die entbehrungsreiche Situation der Soldaten belegen soll. Die Bildunterschrift – »Thirst in the Omaheke: german troopers search for clean portable water to refresh man and beast«.293 Folglich war eine ernstzunehmende Verfolgung der Herero nicht möglich, ihre Flucht in die Wüste wird demnach als Fehleinschätzung erzählt, die Verantwortung für die Folgen der Flucht liegt bei den Herero. Ein Völkermord habe sich zudem auch deshalb nicht zugetragen, so argumentiert Gert Sudholt, da »das Volk der Herero in der Omaheke keineswegs vernichtet wurde, wenn es auch sicherlich starke Verluste erlitt«.294
288 | Ebd., S. 184. 289 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik, 1974, S. 184. 290 | Ebd., S. 187. 291 | Spraul: Der »Völkermord« an den Herero, 1988, 724f. 292 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik, 1974, S. 189. 293 | Ebd., S. 51. 294 | Ebd., S. 185.
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Die historiografisch anerkannte Zahl der ermordeten Herero und Nama wird in allen Texten diskutiert und kritisiert. Gunter Spraul und Brigitte Lau greifen die scheinbar problematischen Opferzahlen als zentrales Argument gegen die These vom Völkermord auf. Sie argumentieren, dass »die genauen Verluste der Herero […] aufgrund der Quellenlage wohl ungeklärt bleiben müssen«.295 Die »geläufigen Angaben von 80.000 ermordeten Herero und 30.000 ermordeten Nama« werden als ideologisch und politisch instrumentalisiert gekennzeichnet, denn sie »gehen einzig auf die Arbeit Horst Drechslers zurück«.296 Auch Walter Nuhn verweist auf die vermeintlich schlechte Quellenlage, die es nicht gestatte, die Zahl der ermordeten Herero genau zu bestimmen: »Wie viele Herero in den Kämpfen tatsächlich gefallen und wie viele etwa im Sandfeld umgekommen sind, ist in Wirklichkeit nie ermittelt worden.«297 Gert Sudholt will belegen, dass die Herero »keinesfalls vernichtet worden sind«.298 Hierzu bemüht er die These, dass sich im August sehr viel weniger Herero am Waterberg gesammelt hätten, denn die »Naturverhältnisse« dort hätten die Versorgung großer Menschen- und Tieransammlungen nicht ermöglicht. »Die Schätzung Rohrbachs, daß am Waterberg 40.000 Herero mit 60.000 Rindern konzentriert waren, muß auch für dortige Naturverhältnisse als beträchtlich übertrieben gewertet werden.«299 Diese Diskussion um die Opferzahlen beruht auf der Vorstellung, dass erst die Ermordung aller Herero und Nama die Kategorie des Völkermordes rechtfertige. Begründet betont Werner Hillebrecht im Hinblick auf Brigitte Laus Argumentation: »This is painfully reminiscent of the line of reasoning of the deniers of the Holocaust, the proponents of the ›Auschwitz lie‹ argument.«300 Neben dem Versuch des dezidierten ›Umschreibens‹ bestand eine weitere kolonialrevisionistische Erzählstrategie darin, den kolonialen Genozid historisch zu relativieren. So entwirft Walter Nuhn vordergründig eine kritische Darstellung des kolonialen Genozids. Er räumt ein, »daß die Absicht des Generals nun tatsächlich die physische Vernichtung des Hererovolkes und damit der Völkermord, Genozid, war«.301 Auch die Frage der Kontinuität zum Nationalsozialismus greift er auf, indem er sprachlich-ideologische Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus aufzeigt. Der »Rassen- und Vernichtungskampf gegen die Herero« verweise bereits auf das »Sprachgut der nationalsozialistischen Ideologie« und umfasse »Ausdrücke wie ›Herren295 | Spraul: Der »Völkermord« an den Herero, 1988, S. 726. 296 | Vgl. ebd., S. 725. 297 | Sudholt: Die deutsche Eingeborenenpolitik, 1974, S. 186. 298 | Ebd., S. 185. 299 | Ebd. 300 | Hillebrecht: Certain Uncertainties, 2007, S. 80. 301 | Nuhn: Sturm über Südwest, 1989, S. 350.
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rasse‹, ›Herrenmenschen‹, ›Untermenschen‹, ›Halbmenschen‹, ›barbarische Wilde‹ u.ä.«.302 Explizit verweist er auf »deutsche Konzentrationslager!«, die sich »ohne weiteres als Vorläufer späterer Konzentrationslager einstufen [lassen]«.303 Doch zugleich wird der koloniale Genozid umfassend relativiert, indem die positiven Aspekte des deutschen Kolonialismus herausgestellt werden.304 Entscheidend für kolonialrevisionistische Kontinuitäten ist, dass innerhalb dieser Argumentation immer wieder auf die ›Kolonialschuldlüge‹ verwiesen wird, die eine ›Entwicklung‹ der Kolonien vorzeitig beendet hätte. »Welches Bild«, so fragt Walter Nuhn, »hätten wohl die deutschen Kolonien geboten, wenn die Geschichte ihnen noch wenigstens ein weiteres Jahrzehnt der Entwicklung zugestanden hätte (d.h., wenn nicht der Erste Weltkrieg dazwischengekommen wäre)?«305 Auch Hans Georg Steltzer dient die Fortschrittserzählung zur umfassenden Rehabilitierung des deutschen Kolonialismus und der Widerlegung der ›Kolonialschuldlüge‹: »Tatsache ist, daß Deutschland so wie alle anderen Kolonialmächte in den Gründerjahren schwerwiegende Fehler gemacht hatte, aber nach den ersten bitteren Erfahrungen einen kolonialpolitischen Weg bestritt, der sich mit dem jeder anderen Kolonialmacht messen konnte.«306 Die »Geschichte der deutschen Kolonialzeit« sei daher »gekennzeichnet von Spannungen und Rückschlägen, aber auch von positiven Entwicklungen, die bis heute in der Struktur wie auch in der Erinnerung der jungen Staaten nachwirken«.307 Systematisch versucht sich Hans Georg Steltzer noch Mitte der 1980er Jahre an der Widerlegung der »Kolonialen Schuldlüge«.308 In einem Aufsatz, der in einem Sammelband der Deutschen Afrika-Stiftung erschien, führt er aus, dass »Deutschland Schandtaten angelastet [wurden], die den Deutschen in den Augen der Weltöffentlichkeit als blutrünstigen Barbaren erscheinen ließen«. Deutschland, so Steltzer weiter, sei »schwerster Verbrechen in seinen Kolonien bezichtigt worden, die offiziell niemals widerrufen worden sind«.309 Im Duktus des Kolonialrevisionismus der 1920er Jahre argumentiert Hans Georg Steltzer in seiner Monografie, dass die »angeblich brutale Unterdrückung der farbigen Bevölkerung in den deutschen Kolonien«310 nicht auf Tatsachen beruhe, sondern als Vorwand gedient habe, um der »Annektie302 | Ebd. 303 | Ebd., S. 351. 304 | Ebd., S. 353. 305 | Nuhn: Sturm über Südwest, 1989, S. 354. 306 | Steltzer: Die Deutschen und ihr Kolonialreich, 1984, S. 25f. 307 | Ebd., S. 13. 308 | Ebd., S. 139. 309 | Ebd., S. 25. 310 | Ebd., S. 139.
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rung seiner Kolonien ein moralisches Mäntelchen umzuhängen«.311 Eine solche kolonialapologetische und -revisionistische Bewertung kolonialer Gewalt wird durch die Rezensionen Winfried Baumgarts, aber auch durch die Texte Lewis H. Ganns und Peter Duignans gestützt.312 Hier wird die »tyranny to the Herero«313 im Gesamtnarrativ durch die positiven Aspekte des deutschen Kolonialismus aufgewogen: »Within thirty years the German colonies moved from the Iron Age into the era of steam power and the internal-combustion engine.«314 Damit fungierte die deutsche Kolonialherrschaft auch als Bindeglied zur gegenwärtigen, positiven Entwicklung, denn die Kolonialverwaltung »laid the foundations of modern educational and medical services in the territories under their control«.315 Daher sei die deutsche Kolonialgeschichte Namibias auch historisch zu relativieren: »To come to more specific issues, the German record of conquest in South West Africa was certainly grim. But the Germans, for all their ruthlessness, were not more brutal against the Herero than the Australians had been in the treatment of the Tasmanians, the Americans of the Apache Indians, or than Hausa were to be in their dealings with Ibo in northern Nigeria, or Hindus and Muslims in the struggles, expulsions, and massacres that beset post-independence India.« 316
Der Krieg gegen die Herero und Nama wird so zu einer unglücklichen Episode innerhalb eines grundsätzlich zu bejahenden und positiv zu bewertenden kolonialen Projekts, das mit dem Versailler Vertrag ein verfrühtes Ende gefunden hatte.
V.4 Z wischenfa zit Mitte der 1980er Jahre erlebte die Debatte um eine ›richtige‹ Interpretation der deutschen Kolonialgeschichte eine Konjunktur. Sie wurde durch den gewandelten gesellschaftspolitischen Kontext und das ›Erinnerungsjahr‹ 1984 ausgelöst. Die politische Anerkennung der DDR und der Wandel in der ›Südafrika-Frage‹ beförderte auch die Zirkulation von Wissen über die Grenzen des Kalten Krieges hinweg und eine Annäherung in den Vergangenheits-, Gegen311 | Ebd., S. 9. 312 | Baumgart: Rezension zu: Steltzer, 1985, S. 203. Vgl. auch Baumgart: Deutsche Kolonialherrschaft in Afrika, 1971. 313 | Gann/Duignan: The Rulers of German Africa, 1977, S. 242. 314 | Ebd., S. 246. 315 | Ebd., S. 208. 316 | Gann: Rezension zu: Bley, 1973, S. 126.
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warts- und Zukunftsdeutungen. Der Geschichtswissenschaft in Ost- und Westdeutschland kam hierbei dennoch eine eher marginale Rolle zu, denn der Diskurs im ›Erinnerungsjahr‹ wurde vor allem von UnterstützerInnen der Unabhängigkeitsbewegung und kolonialrevisionistischen Kreisen dominiert. Die akademische Historiografie wurde in den 1980er Jahren durch diese Texte inhaltlich und im Hinblick auf Erzähl- und Darstellungskonventionen herausgefordert. Im Umfeld der Unabhängigkeitsbewegung wurden nicht nur eine politisierte Geschichte, sondern auch neue Erzählformen gefordert, die bereits durch ›postkoloniale‹ Theorieüberlegungen und Erzählmittel inspiriert waren. Auch in Literatur und Film wurden neue Erzählformen erprobt, Uwe Timms Beststeller »Morenga« und dessen anschließende Verfilmung belegen dies. Doch trotz gewandelter politischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen sind die 1980er Jahre durch konservative und apologetische Tendenzen geprägt, so dass konkurrierende Deutungen nebeneinander bestehen blieben. Vor allem die Widerlegung und das systematische Umschreiben der Kontinuitäts- und Genozidthese standen seit Ende der 1970er Jahre im Zentrum kolonialapologetischer Bemühungen, die auch durch die institutionalisierte Geschichtswissenschaft direkt oder indirekt gestützt wurden.
VI. Fazit
Die vorliegende Untersuchung zeigt aus wissensgeschichtlicher Perspektive auf, wie die Geschichte des kolonialen Namibias in BRD und DDR erforscht, geschrieben und Gegenstand politischer und gesellschaftlicher Kontroversen wurde. Veränderungen und Kontinuitäten, besonders in der Darstellung des kolonialen Genozids, standen dabei im Zentrum der Analysen. Im Folgenden wird zunächst knapp dargelegt, welche Relevanz der methodischen und theoretischen Konzeption der Arbeit für die Analysen zukam. Berücksichtigt wird hierbei auch die Frage, inwiefern das Forschungsdesign auf andere Themen und Fragestellungen übertragbar ist und über den Gegenstand der Arbeit hinaus zu weiteren Überlegungen einlädt. Hieran anknüpfend werden die inhaltlichen Ergebnisse der einzelnen Kapitel zusammengefasst und theoretisch rückgebunden. In einem letzten Abschnitt werden weiterführende Fragen und Ausblicke formuliert. Mittels ihrer theoretischen und methodologischen Prämissen leistet die Studie am Beispiel der Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia einen wissensgeschichtlichen und narratologischen Beitrag zum Forschungsfeld der Historiografiegeschichte, der durch postkoloniale Leseweisen ergänzt wird. Wissensgeschichte, Narratologie und postkoloniale Theorieangebote wurden hierzu in Beziehung zueinander gesetzt. Um aufzuzeigen, wie, wann und warum sich das Wissen über das koloniale Namibia in Texten der DDR und BRD veränderte, wurde zunächst eine wissensgeschichtliche Forschungsperspektive als theoretischer Rahmen gesetzt und um Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Geschichtswissenschaft erweitert. Im Gegensatz zu klassischen wissenschaftsgeschichtlichen Arbeiten, die an disziplinären Grenzen orientiert sind, lag der Fokus hier auf dem durch historiografische Erzählungen konstruierten Wissen über die Geschichte des kolonialen Namibias. Ein konstruktivistischer Wissensbegriff und ein offenes Verständnis der Geschichtswissenschaft begründeten eine textpragmatische Bestimmung historiografischer Texte. Die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia konnte daher ohne disziplinäre Engführung untersucht werden. Darüber hinaus konnten jene Staats- und Epochengrenzen hinterfragt werden,
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die bislang den Blick auf die deutsch-deutsche Kolonialgeschichtsschreibung leiteten. Dieser Forschungsansatz ergänzt bisherige institutionell und wissenschaftsgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten und zeigt grundlegend auf, dass besonders die bisherige, an der westdeutschen Forschung orientierte, lineare Fortschrittserzählung der Kolonialgeschichtsschreibung ebenso revidiert werden muss wie die Prämisse einer grundsätzlichen inhaltlichen und narrativen Differenz zwischen der Geschichtsschreibung der DDR und der BRD. Damit leistet die Arbeit einen Beitrag zu aktuellen Forschungsansätzen, deren Ziel es ist, die »Verflechtung beider deutschen Staaten und Gesellschaften« herauszuarbeiten.1 Zudem zeigen die wissensgeschichtlichen Ergebnisse grundlegend auf, dass das ›teiloffene System‹ der Geschichtswissenschaft auch in den theoretischen und methodischen Grundannahmen ihrer Erforschung berücksichtigt werden sollte. Für die Umsetzung dieser Überlegungen erwies sich die textpragmatische Bestimmung historiografischer Texte als sinnvoll, denn so konnte die starre Dichotomie von fiktionalen und faktualen Textgattungen theoretisch begründet aufgebrochen werden. Wissenschaftliche und populäre Erzählungen konnten in Beziehung zueinander gesetzt und die Zirkulation von Wissen zwischen Historiografie, Literatur und Film herausgearbeitet werden. Die Arbeit eröffnet damit einen übertragbaren, neuen Zugang zur Historiografiegeschichte, dessen Potenzial am Beispiel der Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia deutlich wurde. Die narratologischen Textanalyseverfahren liefern schließlich einen konkreten Vorschlag, wie das in historiografischen Texten generierte Wissen verglichen werden kann. Er ist ebenfalls auf andere historiografische Fragestellungen anwendbar. Zugrunde gelegt wurde hierbei die Prämisse, dass historiografisches Wissen nicht unabhängig von narrativen Mustern und Erzählstrukturen formuliert werden kann, die selbst konstitutiver Teil des Wissens sind. Wissen über die Vergangenheit konnte daher als narratives und wandelbares Konstrukt verstanden und analysiert werden. Mit ihrer Methodologie leistet die Arbeit auch einen Beitrag zum Verhältnis von Narratologie und Geschichtswissenschaft. Die übergreifende Relevanz dieses Zugangs liegt darin begründet, dass narratologische Ansätze bislang kaum auf historiografische Texte des 20. Jahrhunderts angewendet wurden. Nicht zuletzt die fachspezifischen narratologischen Ressentiments, die in den 1970er Jahren unter anderem durch Hayden Whites Studien ausgelöst wurden, haben dazu geführt, dass neue, transdisziplinäre Ansätze der Narratologie bislang kaum rezipiert wurden. Im Hinblick auf das Verhältnis von Narratologie und Historiografiegeschichte lädt die Studie dazu ein, die Möglichkeiten einer historisch-kontextuellen Erzähltextanalyse für die Historiografiegeschichte stärker zu nutzen. 1 | Ihme-Tuchel: Die DDR, 2010, S. 5.
VI. Fazit
Die Denkfigur ›postkolonial‹ ergänzt die Textanalyse schließlich um eine weitere Dimension. Sie ermöglichte es, nach der Verhandlung kolonialer Episteme und Darstellungsformen in den historiografischen Texten der DDR und der BRD zu fragen und anhand sprachlicher Muster konkret aufzuzeigen, auf welche Weise die Geschichtsschreibung der beiden deutschen Staaten durch die koloniale Erfahrung geprägt wurde. Hierdurch leistet die Arbeit einen Beitrag zur Erforschung der langfristigen Nachwirkungen des Kolonialismus auf Politik, Gesellschaft und Wissenschaft in beiden deutschen Staaten, der Anregungen für aktuelle Fragestellungen bietet. Dies betrifft insbesondere die DDR-Forschung, wo bislang vergleichbare Studien fehlen. Die Kombination der theoretischen und methodologischen Ansätze erwies sich als sinnvolles Instrument um inhaltliche Ergebnisse zu erzielen, auf die im Folgenden näher eingegangen wird. Ein offenes Historiografieverständnis erleichterte wesentlich den Zugang zur historisch gewachsenen Ausgangssituation der deutsch-deutschen Kolonialhistoriografie, denn das Wissen über die Ereignisse im kolonialen Namibia wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht durch die Geschichtswissenschaft generiert, sondern hauptsächlich durch populäre Erzählungen und wissenschaftliche Texte angrenzender Disziplinen geprägt. Die damit verbundenen ›akademischen und populären Wissenstraditionen‹ des Kolonialismus und Kolonialrevisionismus waren in beiden deutschen Staaten konstitutiv für die inhaltliche und sprachlich-narrative Auseinandersetzung mit der Geschichte des kolonialen Namibias. Welche Bedeutung der spezifisch ›akademischen Wissenstradition‹ zukam, wurde anhand Diedrich Westermanns 1952 erschienener »Geschichte Afrikas. Staatenbildung südlich der Sahara« herausgearbeitet, das in beiden deutschen Staaten als Standardwerk galt. Der Ethnologe und Linguist forschte, lehrte und publizierte beiderseits der deutsch-deutschen Grenze in der Tradition kolonialer Wissenspraxis und galt trotz seiner wissenschaftlichen Karriere im Nationalsozialismus als Galionsfigur einer integren Afrikanistik, deren Erbe beide Staaten, DDR und BRD, für sich beanspruchten. Wie die Texte Diedrich Westermanns an die wissenschaftlich gestützten Diskurse des Kolonialismus und Kolonialrevisionismus anschließen, konnte durch postkoloniale Überlegungen gezeigt werden. Eine bemerkenswerte Erkenntnis besteht darin, dass koloniale und rassistische Vorstellungswelten vor allem durch scheinbar neutrale Darstellungs- und Erzählmittel transportiert werden. Hiervon ausgehend konnte gezeigt werden, dass koloniale Episteme auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch solche Erzähl- und Darstellungskonventionen vermittelt wurden, die im kolonialen Diskurs entstanden waren. Anhand Diedrich Westermanns Vita und seiner Texte konnte ferner dokumentiert werden, dass die politische Zäsur des Zweiten Weltkriegs auch für die DDR weder strukturell noch inhaltlich einen Bruch für die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia bedeutete.
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Trotz gegenteiliger Rhetorik führte der Personalmangel dazu, dass zunächst weiterhin auf jene Wissenschaftler zurückgegriffen wurde, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den deutschen Kolonialismus legitimiert hatten. In der Bundesrepublik stellte das Ende des Zweiten Weltkriegs aus anderen Gründen zunächst keine Zäsur im Umgang mit dem kolonialen Namibia dar. Innerhalb der Geschichtswissenschaft wurde der deutschen Kolonialgeschichte zeitweilig kaum Relevanz zugesprochen. Die These einer umfassenden ›kolonialen Amnesie‹ hält jedoch einer wissensgeschichtlichen Perspektive nicht stand. Es stellte sich heraus, dass kolonialapologetische Netzwerke auch nach dieser politischen Zäsur weiter existierten und wirkmächtig für die Vermittlung von Wissen über das koloniale Namibia blieben. Institutionen wie der »Traditionsverband der deutschen Schutztruppe«, der seit 1983 auch »Freunde der früheren deutschen Schutzgebiete« aufnimmt und bis in die Gegenwart existiert, förderten dies strukturell. Aber auch das gesellschaftspolitische Klima der jungen Bundesrepublik begünstigte positive Erzählungen über den deutschen Kolonialismus: Im Gegensatz zur DDR war eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus zunächst politisch wenig opportun. Die wirtschaftspolitischen Beziehungen zu Südafrika und das entwicklungspolitische Engagement der BRD sollten ebenso wenig diskreditiert werden wie die zunächst weitgehend unbelastete Geschichte des deutschen Kaiserreiches. Vor diesem gesellschaftspolitischen Hintergrund wurde die Geschichte des kolonialen Namibias zunächst weiter als Fortschritts- und Zivilisationsgeschichte der vermeintlichen Kulturnation erzählt. Für die westdeutsche Auseinandersetzung in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde ersichtlich, dass vor allem populären Texten eine entscheidende Funktion für die Vermittlung und Stabilisierung kolonialdiskursiven Wissens zukam. Beispielhaft stand hierfür Oskar Hintragers 1955 veröffentlichte Erzählung »Südwestafrika in der deutschen Zeit«. Sie war auch deshalb weiterhin anschlussfähig, weil sie inhaltlich und vor allem sprachlich-narrativ an ›populäre Wissenstraditionen‹ anschließen konnte. Mittels narratologischer Analysen wurde veranschaulicht, dass diese Wissenstraditionen auf kulturell langfristig wirksame Erzähl- und Genretraditionen gründen, die bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden waren. Im Kolonialismus und Kolonialrevisionismus wurde das Wissen über die Ereignisse der Jahre 1904 bis 1908 vor allem durch Zeitzeugenberichte, Memoirenliteratur und Romane generiert, deren Erzähl-, Sprach- und Darstellungskonventionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägend blieben. Inhaltlich sind diese Texte durch Erzählverfahren gekennzeichnet, die mittels faktualer Elemente ein hohes Maß an Authentizität suggerieren, und damit die Grenzen zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen teilweise auflösen. Zugleich sind sie an kulturspezifische Erzähltraditionen angelehnt, etwa den Abenteuer- oder Ent-
VI. Fazit
wicklungsroman, die eine breite Identifikation mit den Erzählungen ermöglichten. Der ›Wahrhaftigkeitsanspruch‹ der Memoiren- und Soldatenliteratur beruhte ganz entschieden auf der Autorität der Zeugenschaft. Auch in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre konnten sich aufgrund dieser gewachsenen Erzähltradition weiterhin männliche Zeitzeugen als Experten für die ehemaligen deutschen Kolonien profilieren. Ein zentrales narratologisches Ergebnis besteht darin, dass nicht nur populäre, sondern auch wissenschaftliche Texte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Erzähl- und Darstellungskonventionen der Soldatenund Memoirenliteratur verhaftet blieben: Als Quellen, konventionalisierte Erzählstrukturen oder normatives Wissen über das koloniale Namibia prägten sie historiografische Texte nicht nur auf der Inhalts-, sondern auch auf der Darstellungsebene. Koloniale Vorstellungswelten wurden weiterhin – auch unbewusst, gleichsam als ›blinde Passagiere‹ – durch Sprach- und Erzählkonventionen vermittelt. Selbst in wissenschaftlichen Texten, die Kritik am kolonialen Projekt enthalten, finden sich typische kolonialdiskursive Erzählstrukturen und Stilmittel populärer Texte. Entscheidende Impulse für eine dezidiert wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des kolonialen Namibias gingen zunächst von der DDR aus. Hier wurde in den 1950er Jahren mit dem systematischen Auf bau der sozialistischen Afrikawissenschaften begonnen, deren Ergebnisse jedoch erst Mitte der 1950er Jahre und vor allem seit den 1960er Jahren sichtbar wurden. Vor dem Hintergrund des antirassistischen und antikolonialen Selbstverständnisses galt es, die DDR mit Hilfe der Kolonialgeschichtsschreibung als Bündnispartner für die Unabhängigkeitsbewegung in Namibia anzubieten und zugleich die politische Anerkennung voranzutreiben. Der systematische Aufbau einer sozialistischen Kolonialgeschichte wurde in Leipzig unter der Federführung Walter Markovs in den 1950er Jahren lanciert. In der DDR wurde früh versucht, eine ›eurozentrische‹ Perspektive zu überwinden. Walter Markov benutzte den Begriff ›Eurozentrismus‹ bereits in den 1960er Jahren, um Kritik an der Perspektive der bisherigen bürgerlichen Geschichtsschreibung zu üben. Er verband ihn mit dem programmatischen Anspruch eine antikoloniale und antirassistische Geschichtsschreibung vorzulegen, die die afrikanische Perspektive berücksichtigt. In der Folge wurde das bis dato gültige Wissen über das koloniale Namibia unter wissenschaftlichen und politischen Prämissen infrage gestellt und neu verhandelt. Hierzu wurden auch vergessene oder systematisch verdrängte kritische Texte und Fotografien bemüht, wie etwa das britische »Blue Book«. Es konnte gezeigt werden, dass vor dem Hintergrund der Dekolonisationsbewegungen, der politischen Situation in der DDR und der Institutionalisierung der Afrikanistik eine regelrechte Erzählund Sprachnormierung einsetzte, die alle Texte zur Kolonialgeschichte der DDR durchzieht. Dabei erwies sich aufgrund der engen sozialen Einbindung
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der HistorikerInnen in ›Denkkollektive‹ vor allem die ›Schere im Kopf‹ als wirkungsvoller, indirekter Zensurmechanismus, während eine direkte politische Einflussnahme in den Zensurakten kaum auszumachen war. Ein breites Textverständnis, das auch fiktionale Texte einschließt, ermöglichte es zu zeigen, dass die Historikerschaft der DDR auch von Schriftstellern beeinflusst waren, die in ihren Texten neue Vergangenheitsentwürfe für das koloniale Namibia anboten. Vor allem Maximilian Scheers Roman »Schwarz und Weiß am Waterberg« kommt dabei eine zentrale Stellung zu, weil in ihm erstmals der Bezug zwischen kolonialem und nationalsozialistischem Völkermord explizit thematisiert und narrativ plausibilisiert wurde. Über den gesamten Untersuchungszeitraum wurde deutlich, dass Zirkulationsprozesse zwischen literarischen und wissenschaftlichen Texten besonders in der DDR konstitutiver Teil der akademischen Schreibbedingungen waren: Literarische und wissenschaftliche Texte mussten eine Geschichte erzählen, die dem ›wissenschaftlich gesicherten‹ marxistisch-leninistischen Geschichtsbild entsprach. Sie durchliefen die gleichen Zensurverfahren und HistorikerInnen waren sowohl im Wissenschafts- als auch im Literaturbetrieb tätig. Ausgehend von diesen Ergebnissen lässt sich nach dem bislang kaum erforschten Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung in der DDR fragen. Der Bruch mit kolonialen Wissenschafts-, Wissens- und Texttraditionen gestaltete sich in der DDR dennoch als schwierig. Vor allem aufgrund der engen Orientierung am kolonialen Quellenkorpus aus dem Reichskolonialamt, das sich in Potsdam und Merseburg befand, reproduzieren die Texte der DDR Vorstellungen, Kategorien und Erzählverfahren, die dem kolonialen Diskurs entlehnt sind. Dies wird besonders am Spannungsverhältnisses zwischen kritisch angelegten Metanarrativen und kleinteiligen Erzählsequenzen oder gar einzelnen Begriffen deutlich, die essentiell für die Vermittlung und Legitimation des Kolonialismus waren und das unbewusste Fortwirken kolonialer Episteme in Denken und Sprache offenkundig machen. Entscheidend für das Scheitern eines Perspektivenwechsels war aber in erster Linie, dass der marxistisch-leninistischen Geschichts- und Gesellschaftstheorie ein universeller und gesetzmäßiger Anspruch zugesprochen wurde. Folglich musste die Geschichte des kolonialen Namibias innerhalb sozialistischer Entwicklungsmodelle, Kategorien und einer spezifischen Terminologie und Sprache erzählt werden, die diesen Anspruch abbilden und zugleich belegen sollte. Doch den Prämissen, Kategorien, Narrativen und Begrifflichkeiten der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft war zugleich ein eurozentrisches Geschichtsbild inhärent, denn sie dienten ursprünglich zur Beschreibung europäischer Gesellschaften und ihrer Geschichte. Erst die Analyse der sprachlichen Darstellungsebene der Geschichtsschreibung ermöglichte es zu zeigen, dass mit Erzählungen über das koloniale Namibia – bewusst oder unbewusst – weit mehr thematisiert wurde als die Ereig-
VI. Fazit
nisse selbst. Als zentrale Metanarrative erwiesen sich die Nationalgeschichte der DDR, die staatlich vorgegebene Faschismustheorie und die historische Begründung eines sozialistischen Namibias. Gemäß dem marxistisch-leninistischen Erzählschema wurde der ›Aufstand‹ der Herero und Nama als Beginn des heroischen Befreiungskampfes gegen die illegitime deutsche Kolonialherrschaft und den weltumspannenden Imperialismus geschildert, der langfristig in die Gründung eines sozialistischen Namibias münden sollte. Den Klimax der Erzählungen bildet die Kriegsführung Lothar von Trothas. In den Texten der DDR wird sie erstmals als Völkermord klassifiziert, der gemäß der Faschismustheorie in einer theorieimmanenten Kontinuität zum Nationalsozialismus erzählt wurde. In der narrativen und sprachlichen Umsetzung dieses historiografischen Programms zeigte sich, dass eine Kontinuität zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus vor allem durch rhetorische und semantische Bezüge hergestellt wurde, die ihre logische und sprachliche Begründung in der marxistischen Geschichtstheorie hatten und in der Historiografie der DDR zu stehenden Topoi wurden. Eine weitere Text- und Erzählstrategie bestand in der bewussten Auswahl der Quellenbegriffe wie ›Konzentrationslager‹ oder ›Vernichtung‹. So konnte auf eine begriffliche Kontinuität zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus verwiesen werden, die in der Logik des marxistischen Metanarrativs zugleich eine ideologische Kontinuität bezeugte. Im Deutungskontext des Nationalsozialismus konnte eine solche Interpretation der Geschichte des kolonialen Namibias eine erhebliche erinnerungspolitische Wirkung entfalten. Im Gegensatz zu gegenwärtigen Forschungs- und erinnerungspolitischen Debatten war in der DDR mit der Erzählung des kolonialen Völkermords noch keine juristische Dimension verbunden. Erst mit der Unabhängigkeit Namibias im Jahr 1990 wurde die Kategorie Genozid auch rechtlich relevant. Die Narrativierung des kolonialen als Vorläufer des nationalsozialistischen Genozids erfüllte in der DDR-Historiografie jedoch verschiedene erinnerungspolitische Funktionen: Sie ›belegte‹, dass die positive Bewertung von Kolonialismus und Kaiserreich nicht haltbar war und schrieb zudem der Nationalgeschichte der BRD eine negative Entwicklungsstruktur ein. So bot die Geschichte des kolonialen Namibias die Möglichkeit, das umfassende Scheitern der bundesrepublikanischen Geschichte und Gegenwart darzustellen und ihre Kontinuität zum Faschismus zu betonen, zugleich aber die eigene junge Nation in einem positiven Gegenentwurf von der historischen Schuld freizusprechen. Als Teil der Nationalgeschichtsschreibung diente die Kolonialgeschichte zugleich dazu, die Geschichte der DDR als Scheideweg eines jahrhundertelangen Irrwegs zu erzählen und den Gründungsmythos der DDR zu evozieren. Im Rückgriff auf verdrängte Texte des kolonialen Diskurses konnten insbesondere die Gründungsväter der DDR als vehemente Kolonialkritiker stilisiert werden und eine antikoloniale Tradition der DDR über die Geschichte des kolonialen
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Namibias begründet werden. Auf der Ebene des discours konnte zudem gezeigt werden, dass der koloniale Völkermord in Analogie zur Ermordung der kommunistischen Widerstandskämpfer während des Nationalsozialismus erzählt wurde. Die Geschichte des kolonialen Namibias kann daher inhaltlich und narrativ als Teil der staatlich vorgegebenen Erinnerungskultur der DDR gelesen werden. Die Analyse der Erzählmittel zeigte zugleich, dass auch andere Themen unterhalb der sprachlich normierten Oberfläche adressiert werden konnten. In Horst Drechslers Monografie verweisen zahlreiche terminologische Entscheidungen darauf, dass die Ermordung der europäischen Juden in der Erzählung mitverhandelt wurde, und damit ein Thema, das in der DDR in den 1960er Jahren tabuisiert war. In der Bundesrepublik erlebte die Kolonialgeschichtsschreibung in den 1960er Jahren eine Konjunktur. Die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte des kolonialen Namibias wurde ebenfalls durch Fragestellungen und Entwicklungen der Gegenwart angeregt. Die Dekolonisationsbewegungen und die politischen Entwicklungen in Namibia schlugen sich in Forschungsbudgets, der Gründung von Institutionen und der politischen Aufmerksamkeit für die Geschichte des kolonialen Namibias nieder. Der gesellschaftspolitische Rahmen der 68er-Bewegung schuf dafür spezifische Voraussetzungen. Zunehmend wurde auch in der Bundesrepublik Kritik am südafrikanischen Apartheidregime und der Bonner Haltung gegenüber der »Südafrika-Frage« geübt und gefordert, die Unabhängigkeitsbewegung in Namibia zu unterstützen. Vor allem wurden die Aufarbeitung des Nationalsozialismus und die Neubewertung der deutschen Nationalgeschichte angestoßen. Dies wirkte sich entscheidend auf die Erzählung über das koloniale Namibia aus. Erklärungen für die Katastrophe des Nationalsozialismus wurden zunehmend auch im Kaiserreich gesucht. Der Kolonialismus bekam damit eine ganz neue Relevanz im erinnerungspolitischen Diskurs. Daher war das Interesse an der deutschen Kolonialgeschichte in der Bundesrepublik kein rein akademisches. Noch bevor die Ergebnisse der institutionalisierten Geschichtswissenschaft veröffentlicht und damit sichtbar wurden, forderte Ralph Giordano die Geschichtswissenschaft auf »endlich Licht in eine erst teilweise durchleuchtete Geschichtsepoche zu bringen«. Sein zweiteiliger Dokumentarfilm »Heia Safari« und die anschließende Diskussionssendung entstanden jedoch nicht losgelöst von akademischen Debatten über die deutsche Kolonialgeschichte, denn auch Historiker beteiligten sich an der Produktion und Diskussion der Sendung. So fanden auch unpublizierte Ergebnisse der bundesdeutschen Forschung Eingang in die Sendung und wurden 1966 im neuen Medium Fernsehen einem Massenpublikum zugänglich gemacht. Aber auch die DDR-Forschung wurde im Film indirekt zitiert, was als Beleg gelten kann, dass das Wissen über die Staatsgrenzen hinweg zirkulierte. Der Dokumentarfilm löste in der BRD die erste Kontroverse über die ›Koloniallegende‹ und den ›ersten deutschen Völkermord‹ aus. Aus
VI. Fazit
narratologischer und wissensgeschichtlicher Perspektive konnte anhand von »Heia Safari« gezeigt werden, welche Bedeutung dem Medium Film für die Vermittlung von Wissen zukam. Im Vergleich zu klassischen geschichtswissenschaftlichen Publikationsformen erreichte der Film ein weitaus größeres Publikum und prägte die Debatte über die deutsche Kolonialgeschichte in den 1960er Jahren entscheidend. Aufschlussreich war ferner die Darstellungs- und Erzählweise des Dokumentarfilms. Die Absicherung durch Experten und die dokumentarischen Darstellungsverfahren bedingten die Positionierung der Sendung in Konkurrenz zu klassischen historiografischen Texten. Die dezidiert geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem kolonialen Namibia wurde anhand Helmut Bleys Doktorarbeit analysiert. Sie entstand in Hamburg, und damit an einem Ort, an dem sich in den 1960er Jahren gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Faktoren wie unter einem Brennglas verdichteten. Es wurde deutlich, dass die sogenannte 68er-Bewegung auch einen wissenschaftlichen Generationen- und Hierarchiewechsel einleitete, der die Vorstellung einer ›richtigen‹ Geschichte über das koloniale Namibia veränderte. Für den Großteil der im Kaiserreich sozialisierten Generation war das südafrikanische Apartheidregime und die Besetzung Namibias in ein Weltbild integrierbar, das auf einer scheinbar natürlichen Hierarchie zwischen Schwarzen und Weißen beruhte. Auch die Haltung gegenüber der marxistischen SWAPO und den Unabhängigkeitsbestrebungen Namibias war in großen Teilen an die Generationenzugehörigkeit gebunden. Zudem prägten antimarxistische Reflexe den Umgang mit der Historiografie der DDR, deren Ergebnisse zumeist pauschal zurückgewiesen wurden. Deutlich wurde dies an Egmont Zechlins Seminaren, in denen die Abgrenzung gegenüber der ostdeutschen Kolonialhistoriografie regelrecht eingeübt wurde. Die nachfolgende Historikergeneration teilte dieses Weltbild in der Regel nicht. Ebenso wie ihre ostdeutschen KollegInnen waren sie überwiegend in den 1930er Jahren geboren und durch die indirekte Erfahrung des Nationalsozialismus sozialisiert. Sie unterstützten die marxistische Unabhängigkeitsbewegung, standen dem zweiten deutschen Staat aufgeschlossener gegenüber und beteiligten sich an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus. In der Bundesrepublik konnte die Geschichte des kolonialen Namibias seit den 1960er Jahren ebenfalls in Kontinuität zum Nationalsozialismus verortet und pfadabhängig erzählt werden. Wesentliche Impulse gingen von der kritischen Sozialgeschichte aus, die mit der These des deutschen Sonderwegs ein wichtiges Metanarrativ schuf, das auch für die Geschichte des kolonialen Namibias als Rahmenerzählung fungierte. Gerade Helmut Bleys Arbeit wurde dezidiert als Beitrag zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus gelesen, wie bereits durch die Veröffentlichung in der Reihe »Hamburger Beiträge zur Zeitgeschichte« deutlich wurde. Helmut Bley begründet die Kontinuität nicht primär mit der Kriegsführung Lothar von Trothas. Vielmehr bildet für ihn die so-
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ziale Situation nach dem Krieg gegen die Herero und Nama das Bindeglied. In Anlehnung an Hannah Arendts Totalitarismustheorie sieht er hier die »Grenzen des Totalitären« überschritten. Er wählt damit ein Narrativ, dass auch eine Abgrenzung von den Erzählungen der DDR-Historiker ermöglicht. Es konnte gezeigt werden, dass die Anerkennung der von Helmut Bley aufgestellten Thesen entscheidend von der akademischen Verhandlung der Sonderwegthese und von innerwissenschaftlichen Hierarchien abhing. Dies wurde besonders an der Rezeption Helmut Bleys deutlich, an der die ideologische und politische Spaltung der westdeutschen Historikerzunft ersichtlich wurde. Während der Historiker Hans-Ulrich Wehler die Kontinuitätsthese unterstützte, stellte sie der Münsteraner Kolonialhistoriker Horst Gründer infrage und unterstrich damit die Münsteraner Opposition gegenüber der emanzipatorischen Bielefelder Sozialgeschichte. Mit der kritischen Sozialgeschichte ging ein verändertes Selbstverständnis von Geschichtswissenschaft einher, die nunmehr als Sozialwissenschaft verstanden wurde. Damit war nicht nur ein Metanarrativ verbunden, das die deutsche Geschichte als negativen Sonderweg erzählte, sondern auch eine scheinbar neutrale, analytische Sprache, die zugleich methodologisch eine Abgrenzung gegenüber der DDR bedeutete. Der Versuch, die Geschichte des kolonialen Namibias betont sachlich-analytisch zu erzählen, lässt jedoch sprachliche Spuren des kolonialen Diskurses umso deutlicher hervortreten. Auch für die BRD lässt sich konstatieren, dass selbst jene Texte, die in ihrem Metanarrativ eine kritische Absicht verfolgen, immer wieder Versatzstücke des kolonialen Diskurses zitieren. In Fotografien, kurzen Erzählsequenzen oder einzelnen Begriffen werden koloniale Vorstellungswelten reproduziert, ohne die Logik der Quellentexte zu hinterfragen. Die politische Dimension von Helmut Bleys Interpretation der Geschichte wurde am Beispiel der Konferenz in Oxford herausgearbeitet. Die historiografische Unterstützung der SWAPO und die damit verbundene Kritik an der bundesrepublikanischen Haltung in der sogenannten Namibia-Frage standen unter Kommunismusverdacht und wurden scharf beobachtet. Vor allem gab aber die vermeintlich ›unpatriotische‹ Interpretation der deutschen Nationalgeschichte Anlass zur politischen Intervention. Einzelne Begriffe, die Helmut Bley in seinem Vortrag verwendete, stellten für die deutsche Botschaft einen geschichtspolitischen Affront dar, denn sie wurden als Chiffren für den nationalsozialistischen Genozid gelesen. Helmut Bley konnte mit seinen Ausführungen vor allem deshalb »das grauenhafte Bild der Judenvernichtung« wach rufen, weil die Konferenz im Kontext der ›Vergangenheitsbewältigung‹ der 1960er Jahre stattfand. Bis zum 16. September 1966 wurden die Auschwitz-Prozesse verhandelt. Die Entwicklung einer kritischen Kolonialgeschichtsschreibung in DDR und BRD zeugt von sehr unterschiedlichen Ausgangssituationen. Die Frage
VI. Fazit
einer ›richtigen‹ Darstellung der Geschichte des kolonialen Namibias war entscheidend durch politisch-ideologische Grundannahmen geprägt, die sich auf die Erzählung unmittelbar auswirkten. Die Textanalyse deckte trotz der ideologischen Differenzen, die sich vor allem im Metanarrativ niederschlugen, Ähnlichkeiten auf. In beiden deutschen Staaten versuchte sich eine jüngere Generation von KolonialhistorikerInnen an einer Geschichtsschreibung, deren erzählerischer Fluchtpunkt der Nationalsozialismus war. Sie sollte die Unabhängigkeitsbewegung unterstützen und eine kritische Neubewertung der Kolonialgeschichte leisten. Dabei waren ost- und westdeutsche HistorikerInnen mit Schwierigkeiten konfrontiert, die sich aus der gemeinsamen kolonialen Tradition ergaben. Die Quellen des Reichskolonialamtes, koloniale Romane, zeitgenössische Erzähl-, Forschungs- und Darstellungskonventionen blieben einflussreich bei der Konstruktion einer kritischen Kolonialgeschichte. Sie prägten inhaltlich und sprachlich-narrativ die Möglichkeiten der Erzählung. Gerade der Vergleich narrativer Strukturen der Geschichtsschreibung eines sozialistisch-diktatorischen und eines demokratischen Staats zeigt, welche Bedeutung gewachsenen, scheinbar natürlichen Erzähl- und Darstellungskonventionen zukommt. Die politische Situation im Kalten Krieg scheint Gemeinsamkeiten und der Zirkulation von Wissen auf den ersten Blick kaum zuträglich. Ein wichtiges Ergebnis der Arbeit besteht jedoch darin, die Zirkulation von Wissen über die politischen Grenzen des Kalten Krieges in den Texten der DDR und BRD aufgezeigt zu haben. Diese Prozesse wurden in bisherigen institutions- und wissenschaftshistorischen Arbeiten nicht abgebildet. Damit leistet diese Studie auch einen Beitrag zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der beiden deutschen Staaten. Auf Text- und Darstellungsebene konnte belegt werden, dass kritische Interpretationen und Begrifflichkeiten zwischen den beiden Wissenschaftssystemen zirkulierten. Vor allem die DDR-Historiografie wirkte zunächst auf die Geschichtsschreibung der Bundesrepublik ein – wenngleich sich solche Transferprozesse nicht zwangsläufig in Literaturverzeichnissen niederschlugen. Der politische Umbruch in der BRD im Jahr 1968 und der damit verbundene wissenschaftliche Generationenwechsel trugen wesentlich dazu bei, dass die Vergangenheitsentwürfe der DDR nicht mehr pauschal zurückgewiesen wurden. Über narratologische Textanalysen konnte dargelegt werden, dass sich auch in den Texten der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren Narrative und Lexeme finden, die erstmals in der DDR Verwendung fanden. Die These des kolonialen Völkermordes wurde ebenso aufgegriffen wie rhetorische Bezüge, die etwa der Charakterisierung Lothar von Trothas oder Jakob Morengas dienten. Die positive Rezeption der DDR-Historiografie wurde vor allem im linken Milieu vorangetrieben. Mit der Anerkennung der DDR im Jahr 1973, dem politischen Richtungswechsel in der sogenannten Namibia-Frage und dem 1977 erfolgten Beitritt der BRD zur sogenannten Kontakt-
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gruppe, die die Unabhängigkeit Namibias international forcieren sollte, glich sich die Vorstellung einer ›richtigen‹ Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia immer weiter an. Diese zunehmende Verschränkung von ost- und westdeutschen Erzählungen wurde an Uwe Timms Roman »Morenga« herausgearbeitet, der sowohl Versatzstücke der DDR- als auch der BRD-Historiografie zitiert und in beiden deutschen Staaten als wichtiger Beitrag zur ›richtigen‹ Erinnerung an das koloniale Namibia galt. Für die Verhandlung von Wissen über das koloniale Namibia kommt Uwe Timms Roman eine ähnliche Stellung zu wie Maximilian Scheers Roman »Schwarz und Weiß am Waterberg« oder dem Dokumentarfilm »Heia Safari«: Im Kontext des Erinnerungsjahres 1984 regte Uwe Timm mit seinem Roman eine kritische Debatte über das koloniale Namibia an. Aufschlussreich ist zudem, dass der Roman in einer multiperspektivischen Collagetechnik geschrieben wurde, die ihn als ersten ›postkolonialen Roman‹ ausweist. Die Historiografiegeschichte des kolonialen Namibias kann dennoch nicht als lineare Forschungsgeschichte erzählt werden, die in eine Annäherung der Vergangenheitsentwürfe der DDR und BRD beziehungsweise in zunehmend kritische postkoloniale Historiografien mündet. Im Rahmen der Arbeit wurde stattdessen gezeigt, dass eine Fortschrittserzählung hinterfragt und korrigiert werden muss. Besonders deutlich wurde dies an den Kontroversen der 1980er Jahre, die im Rahmen der Arbeit erstmals ausführlich analysiert wurden. Um das Jahr 1984 wurde die deutsche Kolonialgeschichte erneut thematisiert. Die institutionalisierte Geschichtswissenschaft der DDR und BRD beteiligte sich jedoch kaum an der erinnerungspolitischen Diskussion. In der DDR galt die deutsche Kolonialgeschichte als erforscht und in der Bundesrepublik legte Horst Gründer mit seinem normativen Standardwerk über »Die deutschen Kolonien« eine tendenziell konservative Interpretation vor. Da eine akademische Auseinandersetzung nahezu ausblieb, wurde das Jahr 1984 vor allem von kolonialrevisionistischen Autoren genutzt, die sich an der Widerlegung der Völkermord- und Kontinuitätsthese versuchten. Die akademisch randständige Diskussion der 1980er Jahre erwies sich unter wissensgeschichtlicher Perspektive als ausgesprochen aufschlussreich. Sie belegt, dass auch in den 1980er Jahren noch kolonialrevisionistische Netzwerke bestanden und öffentlich wirksam werden konnten, deren inhaltliche Positionen sich deutlich auf die Wissensbestände des Kolonialismus und Kolonialrevisionismus bezogen. Anhand der bis heute aktuellen Kontroverse um die Geschichte des kolonialen Namibias wird deutlich, dass die Frage, was dort geschah und welche Bedeutung die Ereignisse für die Gegenwart und das nationale Selbstverständnis der neuen Bundesrepublik haben, untrennbar mit Fragen der historiografischen Darstellung verbunden bleiben. Zur Diskussion wie, das heißt mit welchen Narrativen und Begriffen, die Geschichte des kolonialen Namibias
VI. Fazit
angemessen oder gar ›richtig‹ erzählt wird, konnte die Studie auf verschiedenen Ebenen beitragen. So wurde erstmals die historische Dimension dieser Debatte aufgezeigt, die nunmehr seit über hundert Jahren zu politischen und innerwissenschaftlichen Kontroversen führt. Die vorliegende Arbeit leistet mit der Analyse der deutsch-deutschen Kolonialgeschichte(n) ferner einen Beitrag zu der Frage, welche Bedeutung den langfristigen Nachwirkungen des Kolonialismus für Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Sprache zukommt. Die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia ist entscheidend durch kolonialdiskursive Sprach- und vor allem Erzählkonventionen geprägt, die sich zugleich als konstitutiv für die Möglichkeiten historiografischer Vergangenheitsentwürfe erwiesen haben. Das auf der Ebene der narrativen Sinnbildung transportierte Wissen veränderte sich – im Gegensatz zur semantischen Ebene der Texte – ausgesprochen langsam und zeugt davon, welche Relevanz der narrativen Struktur historiografischer Texte beizumessen ist. In der Folge blieben koloniale Episteme als ›blinde Passagiere‹ auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in beiden deutschen Staaten wirkmächtig und bestimmten in scheinbar neutralen Narrativen die Interpretation der Vergangenheit. Inwiefern historiografische Texte auch gegenwärtig an kolonialdiskursive Erzähltraditionen anschließen, eröffnet hieran anschließend weitere Untersuchungsmöglichkeiten. In Anlehnung an die Ergebnisse der Arbeit lässt sich etwa fragen, welche Rolle scheinbar neutralen Raum- und Landschaftsbeschreibungen hinsichtlich der Erzählmöglichkeiten historiografischer Texte zukommt. Im Hinblick auf die Geschichtsschreibung über das koloniale Namibia wurde deutlich, dass koloniale Raum- und Landschaftsvorstellungen eine erzähllogische Eigendynamik entfalten, die die Geschichtsinterpretation in beiden deutschen Staaten wesentlich bestimmte. Das kolonialdiskursive Bild einer kargen, unbesiedelten Landschaft wurde in allen Texten reproduziert und oftmals mit kolonialen Karten und Fotografien als authentisch ausgewiesen. Unwillkürlich wurden damit auch Axiome des kolonialen Diskurses reproduziert, die in kritischen Texten vordergründig dekonstruiert werden sollten. Gerade für die Erzähllogik kolonialer Gewalt sind Raum- und Landschaftsvorstellungen und ihre Erzählungen keineswegs randständig. Im Gegenteil, die damit verbundene Möglichkeit der Fortschrittserzählung ist zentral für die offene oder implizite Legitimation kolonialer Gewalt. Zudem bestimmt die Vorstellung von Raum- und Landschaft die Erzähllogik und Bewertung der Ereignisse: Sowohl das in kolonialapologetischen Texten immer wieder inszenierte Leiden der Soldaten als auch die Beglaubigung des Verdurstungstodes der Herero ist abhängig von der Vorstellung kolonialer Landschaft. Aufschlussreich erwies sich zudem die Analyse historiografischer Entwürfe Schwarzer und Weißer Figuren. In kritischen Texten der DDR und BRD wurde immer wieder versucht, den afrikanischen Akteuren die Handlungsmacht über die Geschichte
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zuzuschreiben. Doch dieser Perspektivenwechsel scheitert nicht nur aufgrund fehlender Quellen, sondern auch wegen der unreflektierten Erzählstruktur. Trotz unterschiedlicher ideologischer Ausgangssituationen folgen sowohl die Texte der DDR als auch die Texte der BRD kulturellen Erzählmustern, die bereits die koloniale Abenteuer- und Memoirenliteratur bestimmten. In den Erzählpassagen kolonialer Gewalt wurde die Prägekraft sprachlich-narrativer Erzähllogiken schließlich besonders deutlich. Hier hat sich gezeigt, dass sich in kritischen Texten zwar Bewertungen und Kategorisierungen auf der semantischen Ebene verändern, die narrative Erzählstruktur der kolonialen Quellen in akademischen Texten jedoch selten grundlegend aufgebrochen wird. Die Vorstellung ›wahrer Tatsachen‹ führt dazu, dass Ereignisse und Ereignisabläufe in immer wiederkehrenden narrativen Strukturen erzählt werden, die eine kritische Erzählabsicht unterlaufen. Die hier vorgestellten Ergebnisse sollen zu weiterführenden theoretischen Überlegungen anregen. Ausgangspunkt ist dabei die Beobachtung, dass seit der Rezeption postkolonialer Theorieangebote in den späten 1990er Jahren auch innerhalb der Geschichtswissenschaft zahlreiche postkoloniale Arbeiten entstehen, die einen grundlegenden Perspektiv-, Methoden- und Darstellungswechsel postulieren. Sie nehmen für sich in Anspruch, koloniale Wissensformationen kritisch zu dekonstruieren und so neue Erzählungen entwerfen zu können. Die eigene Standortgebundenheit wird hierbei in der Regel ebenso reflektiert wie die Spezifika des westlichen Wissenschaftsdiskurses und seiner Darstellungsnormen. In der Regel wird aufgrund dieser Ausgangssituation grundlegend bezweifelt, ob koloniale Diskurse in historiografischen Texten vollständig aufgelöst werden können. Die Problematisierung der Forschungsund Schreibbedingungen, die – wie auch im Rahmen dieser Arbeit – zumeist im Vorwort oder Theorieteil stattfindet, führt jedoch selten zur Erprobung grundlegend neuer Erzählformen, die Darstellungskonventionen der akademischen Geschichtswissenschaft hinterfragen und auf brechen. Aus narratologischer Perspektive ist daher zu fragen, ob nicht sehr viel radikaler als bislang andere Erzählformen gesucht werden müssten. Vergleichbare Problematiken gelten aufgrund ihrer sprachlich-narrativen Natur für alle historiografischen Arbeiten, unabhängig von ihrer inhaltlichen Thematik. Deshalb lädt der hier zugrunde gelegte narratologische Zugang zur Historiografiegeschichte dazu ein, die sprachliche Bedingtheit historiografischer Texte im Forschungs- und Schreibprozess stärker zu berücksichtigen und gegebenenfalls neue Erzählformen zu entwickeln.
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