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German Pages [200] Year 1981
RASCHISMUS D IDEOLOGIE 1 60
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FASCHISMUS UND IDE0U0GIE2 AS 62
In den vorliegenden beiden Bänden „Faschismus und Ideologie" geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit der bisherigen Literatur, um so einen neuen Zugang zum Begreifen der ideologischen Wirkungsmacht des Faschismus zu erarbeiten. Inhalt des 1. Bandes: Das Ideologische in marxistischen Faschismustheorien. Die faschistische Modalität des Ideologischen. Die Reorganisierung des 1. Mai. Erziehung des faschistischen Subjekts. Inhalt des 2. Bandes: Opferritual und Volksgemeinschaftdiskurs. Betriebsgemeinschaft. Gebauter Nationalsozialismus. Literaturverhältnisse. Reichsparteitagsfilm. 15,50 DM (f. Stud. 12,80)
Argument-Vertrieb: Tegeler Straße 6, 1000 Berlin 65
ARGUMENT-VERLAG BERLIN
ARGUMENT-SONDERBÄNDE (AS) Die Taschenbuch-Reihe im ARGUMENT-Verlag AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS
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Materialistische Kulturtheorie und Alltagskultur J a h r b u c h für kritische Medizin 5: BdWi-Gesundheitstagung 1979 Forum Kritische Psychologie 6: Handlungsstrukturtheorie Aktualisierung Brechts Sozialliberalismus oder rechter Populismus? Alternative Wirtschaftspolitik 2: Probleme der Durchsetzung Jahrbuch für Kritische Medizin 6 Materialistische W i s s e n s c h a f t s g e s c h i c h t e : Evolutionstheorie Projekt Automation und Qualifikation V: Automationsarbeit, Empirie 2 Alternative Umweltpolitik Gulliver 8: C o m m o n w e a l t h und Dritte Welt Die Wertfrage in der Erziehung. Schule und Erziehung VIII Forum Kritische Psychologie 7: Therapie PIT: Faschismus und Ideologie 1 Selbstverwaltung. Internationale Sozialismus-Diskussion 1 PIT: Faschismus und Ideologie 2
P r o g r a m m 1981 AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS AS
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Entstehung der Arbeiterbewegung Prävention — Gesundheit und Politik/Soziale Medizin IX Gulliver 9: »Zweite Kultur« in England, Irland, Schottland, USA Forum Kritische Psychologie 8: Handlungstheorie Projekt Automation und Qualifikation VI: Automationsarbeit, Empirie 3 Alternative Wirtschaftspolitik 3: Monetäre Restriktionen PIT: Bereichstheorien Gulliver 10: Frauenstudien Forum Kritische Psychologie 9: Ideologie-Diskussion J a h r b u c h für kritische Medizin 7: Organisierung zur Gesundheit Deutsche A r b e i t e r b e w e g u n g vor d e m Faschismus
Neu im Herbst 1981 Literatur im Historischen Prozeß (Neue Folge) AS 75 Die Ästhetik des Widerstands lesen AS 76 Faschismuskritik und Deutschlandbild im Exilroman Für 1982 sind weitere 3 Bände in Arbeit. A u s w a h l - A b o mind. 3 Bände des laufenden Jahrgangs. Abo-Preis pro Band: 12,80 DM (statt 15,50), f. Stud. 1 1 , - DM (statt 12,80) zzgl. 1,50 DM Versandkosten. Das Argument-BEIHEFT '79 und '80: jeweils ca. 100 B e s p r e c h u n g e n zu den wichtigsten wissenschaftlichen Neuerscheinungen. Je 192 S., 15,50 DM, f. Stud. 12,80 DM. A b o n n e n t e n der Zeitschrift bzw. der AS: 12,80 bzw. 1 1 , - DM. Argument-Vertrieb: Tegeler Str. 6, 1 000 Berlin 65
ARGUMENT-VERLAG BERLIN
Die anhaltende Debatte um das Ende der Weimarer Republik beweist, daß kaum eine Phase in der Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung derart umstritten ist. Allzuoft werden unausgewiesene Interessen wissenschaftspolitisch unmittelbar wirksam. Der vorliegende Band versteht sich als Weiterarbeit an wichtigen, aber bisher vernachlässigten Teilbereichen der Analyse und stellt diese zur offenen Diskussion. Es wird dabei u.a. auf folgende Fragen eingegangen: • Wie sind die Kampfmöglichkeiten des ADGB zu Beginn der Krise einzuschätzen? • Wie veränderten sich die Bedingungen gewerkschaftlicher Politik mit zunehmender Krisendauer? • Welches sind die Ursachen des Scheiterns der Erwerbslosenpolitik der RGO? • Welche Rolle spielte die Diskussion um die Konzepte der Wirtschaftsdemokratie in der Arbeiterbewegung? • Wie wirkten sich die Auseinandersetzungen um die Wehrfrage auf die Sozialdemokratie aus? • Welchen Stellenwert hatte das regionale Bündnis zwischen SPD und KPD in Braunschweig für die Arbeiterbewegung? • Wie wirkungsvoll haben die Arbeitervereine den Faschismus bekämpft?
ISBN 3-88619-018-8
Deutsche Arbeiterbewegung vor dem Faschismus mit Beiträgen von Hildegard Caspar, Georg Fülberth, Eberhard Heupel, Axel Schildt, Eckhard Volker, Hans-Willi Weinzen, Hartmann Wunderer
ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
Redaktion: Heiko Haumann und Axel Schiidt Die Umschlaggrafik entstand unter Verwendung eines antifaschistischen Symbols auf einer der letzten Plakate („Arbeit und Brot", 1933) der SPD vor ihrem Verbot.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Deutsche Arbeiterbewegung vor dem Faschismus / mit Beitr. v. Hildegard Caspar... (Red.: Heiko Haumann u. Axel Schildt). 1 . - 4 . Tsd. - Berlin: Argument-Verlag, 1981. (Das Argument: Argument-Sonderbd.; AS 74) ISBN 3-88619-018-8 NE: Caspar, Hildegard (Mitverf ); Das Argument / Argument-Sonderband
Copyright © Argument-Verlag GmbH Berlin 1981. Alle Rechte - auch das der Übersetzung - vorbehalten. - Redaktion und Verlag: Altensteinsr. 48a, 1000 Berlin 33, Telefon: 030/8314079 - Auslieferung: Argument-Vertrieb, Tegeler Straße 6, 1000 Berlin 65, 030/4619061. Postscheckkonto Berlin West 5745-108, BLZ 10010010. - Satz: ass-fotosatz, Göttingen. - Herstellung: alfa-druck, Göttingen. - Umschlaggestaltung: paju-grafik. - 1.-4. Tausend 1981.
ISBN 3-88619-018-8
Inhalt
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Über die Autoren
Ober die Autoren Caspar, Hildegard, geb. 1953; Studienrätin für Geschichte, Politik und Deutsch in Hamburg. Fülberth, Georg, geb. 1939; Professor für Politikwissenschaft in Marburg. Heupel, Eberhard, geb. 1947; Dr. phil.; Studienrat im Hochschuldienst an der Ruhr-Universität Bochum. Schildt, Axel, geb. 1951; Dr. phil.; z.Zt. Referendar in Hamburg. Volker, Eckhard, geb. 1948; Studienrat in Berlin. Weinzen, Hans Willi, geb. 1953; Dr. rer. pol. Wunderer, Hartmainn; Dr. phil., Gymnasiallehrer in Gronau
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Vorwort Seit über zwei Jahren schlagen die Wellen über der „Marburger Gewerkschaftsgeschichte" (Deppe u.a.) hoch.1 Vor allem die Darstellung der letzten Phase der Weimarer Republik stand als einer der wesentlichen Kritikpunkte im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die anhaltende Debatte illustriert, daß wohl keine Phase in der Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung in ihrem wissenschaftlichen Wert derart umstritten ist wie die Jahre vor dem Faschismus, weil unausgewiesene Interessen wissenschaftspolitisch direkt wirksam sind. Unterschiedliche Interpretationslinien, grobschlächtig etwa im Gegensatzpaar „Integration der sozialistischen Arbeiterbewegung in die bürgerlich-kapitalistische Staats- und Gesellschaftsordnung oder revolutionäre Umwälzung dieser Ordnung" (Steinberg, S. 276) zu fassen, kulminieren angesichts der katastrophalen Niederläge von 1933. Gegenseitige Vorwürfe für die politische Spaltung der Arbeiterbewegung und Verratstheorien erleben periodisch eine Renaissance. Die Debatte scheint generell unabschließbar, und politische Dekrete ändern daran jedenfalls nichts. Die hauptsächlichen Tendenzen und Einflüsse dieser Debatte sollen hier nur kurz benannt werden. Bis in die frühen 60er Jahre standen sich unversöhnlich die (quantitativ umfangreichere) Forschung der DDR und die noch wenigen an der Arbeiterbewegung interessierten Historiker der Bundesrepublik gegenüber. In bezug auf die Endzeit von Weimar lassen sich die Standpunkte deutlich unterscheiden: - In der DDR ging man davon aus, daß die „offen arbeiter- und volksfeindliche Haltung der rechten sozialdemokratischen Führer" „sektiererische Stimmungen unter revolutionären Arbeitern, auch unter Parteimitgliedern und -funktionären" belebt und „berechtigter Haß" die Meinung habe aufkommen lassen, „daß eine Einheitsfront mit der Sozialdemokratie nicht weiter möglich und notwendig sei". (Diehl, S. 22) 2 Die vom VI. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale entwickelte Losung „Klasse gegen Klasse!" und die „Sozialfaschismusthese", vor allem in der Zuspitzung gegen linke Sozialdemokraten, wurden zwar kritisiert (ebd., S. 23f.), aber in charakteristisch halbherziger und damit Erkenntnisse auch der kommunistischen Emigration verschüttender Form: nicht die Partei als ganzes verfolgte eine falsche Politik, sondern sektiererische Kräfte (z.B. Neumann und Remmele - z.T. mit Unterstützung des EKKI; ebd., S. 24f., 26), die aber vor allem von Thälmann zurückgedrängt werden konnten. „Dem Wesen nach" (ebd., S. 28) seien durch die Praxis der KPD, ihren antifaschistischen Kampf, einzelne sektiererische ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Vorwort
Losungen, die eine insgesamt richtige Linie erschwerten (aber nicht verhinderten!), schon vor 1933 überwunden worden. Diese Interpretationslinie ist grundsätzlich auch für die neuere empirisch weiterentwickelte marxistisch-leninistische Historiographie gültig (vgl. etwa Lewerenz, Schleifstein, Mammach). - Aufsätze von Matthias über „das Ende" der SPD und von Bahne über ,,das Ende" der KPD 1933 legten in der Bundesrepublik die in den Grundzügen einflußreichste Interpretationslinie fest 3 : die SPD habe „in der veränderten Welt noch immer die Maßstäbe ihres Handelns dem engen Kreis der Anschauungen und Erfahrungen der Vorkriegssozialdemokratie" (Matthias, S. 101) entnommen, sie sei in einer „traditionalistischen Lähmung" und in „passive(r) Resignation" (ebd., S. 102) erstarrt gewesen. Diese Kritik ist mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse und in unterschiedlicher Ausformung in zahlreiche Arbeiten zur Sozialdemokratie am Ende der Weimarer Republik eingeflossen (vgl. etwa Mommsen 1974). Diese häufig bürokratietheoretisch akzentuierte Kritik steht dabei durchaus in Traditionen der sozialdemokratischen Diskussion vor 1933 selbst, wie sie etwa in den „Neuen Blättern für den Sozialismus" geführt wurde. Wenn auch sehr facettenreich, ist ein wesentlicher Punkt dieser Kritik die Feststellung von retardierenden Momenten im Transformationsprozeß von der „Klassen- zur Volkspartei". 4 Dagegen wurde die KPD als „antidemokratisch" und „aus der Ferne gelenkt" (Bahne, S. 656) sozusagen aus der deutschen Arbeiterbewegung als Fremdkörper ausgegrenzt bzw. lediglich als Störfaktor für die Integration der Arbeiterbewegung angesehen. Die Studentenbewegung bescherte einen Boom von Reprints vor allem von Dokumenten der kommunistischen Bewegung 5 , identifikatorischen Arbeiten zur KPD (etwa v. Plato) und radikaler Reformismuskritik (Heer). Gleichzeitig intensivierte sich auch das Interesse der Fachwissenschaft an einer detaillierten Rekonstruktion der Diskussion insbesondere dör sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, wie es nicht zuletzt die Rezeption sozialdemokratischer Theoretiker in der IWK seit Mitte der sechziger Jahre illustriert. 6 Dennoch bleibt das Problem bestehen, daß die beiden geschilderten Grundlinien in der Wertung der Arbeiterbewegung nur zunehmend subtiler legitimiert zu werden scheinen (Steinberg, S. 276). Als Konsequenz und Lösung wurde deshalb in den letzten Jahren das Postulat erhoben, die Geschichte der Arbeiterbewegung „von unten", wirklich, real in Loslösung von politisch-ideologischer Verfälschung durch Partei- oder Gewerkschaftsspitzen, zu erfassen. Der Begriff „von unten", der auch und besonders für die hier behandelte Phase der Arbeiterbewegung wichtig wird, ist allerdings über die geÄRGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Vorwort
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schilderte oberflächliche Gemeinsamkeit hinaus vieldeutig: Zum einen wird häufig Konzentration auf die Soziologie der Klasse und Bewegung als „wirkliche" oder „andere" Arbeiterbewegung intendiert, nicht als notwendiges ergänzendes Element neben der bislang überbetonten Ideen- und Institutionsgeschichte, sondern als ihre Oberwindung. Dies hätte zum Problem, daß politische Interessen, die man vorn eleminieren wollte, hinten herum sich wieder einfinden, etwa in einer bürokratietheoretischen Kritik an der Führung der Arbeiterorganisationen. Dagegen ist etwa Abendroths „von unten", gerade bezogen auf die Jahre von 1929 bis 1933, stets gebunden an das Ziel einer erfolgreichen sozialistischen Politik durch Herstellung breiter Bündnisse, also eine Reflexion der historischen Diskontinuitäten von Arbeiterbewegung und organisatorischen Führungszentren und in diesem Sinne gegen die „Apologie für die Politik der Spitze irgendeiner Partei oder Gewerkschaft" (Abendroth, S. 12) gerichtet, ohne zu verkennen, daß vorfindliche Strukturen der Arbeiterbewegung in ihrer politischen Qualität den erreichten Stand gesellschaftlicher Auseinandersetzung widerspiegeln und wesentlicher Faktor dieser Auseinandersetzung sind. Dieses Postulat einer kritischen, aber nicht interesselosen wissenschaftlichen Geschichte der Arbeiterbewegung hat eine offene Diskussion zur Voraussetzung, die auf Grundlage empirischer Forschung erstarrte Schemata langfristig überwindet. Dieser Band ist hierzu ein Beitrag, da er versucht, an wesentlichen Problemen einige neue Ergebnisse herauszuarbeiten. Nicht eine umfassende Darstellung ist also intendiert (zur Einführung in den Gegenstand vgl. eine Auswahlbibliographie wesentlicher Schriften), sondern die gezielte Weiterarbeit an besonders wichtigen und vernachlässigten Teilbereichen, von den Autoren mit unterschiedlichen methodologischen und wissenschaftspolitischen Positionen bearbeitet. Im ersten Teil „Arbeiterbewegung und Analyse der Weltwirtschaftskrise" erörtert zunächst Eberhard' Heupel Ziele und Möglichkeiten freigewerkschaftlicher Politik in der Krise. Differenziert wird die Unterschätzung der Kampfmöglichkeiten durch den ADGB zu Beginn der Krise nachgewiesen; andererseits werden aber auch die mit zunehmender Krisendauer ungünstiger werdenden Bedingungen für die gewerkschaftliche Politik einbezogen. Hildegard Caspar untersucht am Beispiel der Erwerbslosenpoltik in Hamburg die Strategie von RGO und KPD, wobei das Scheitern der RGO als inhaltliches Problem gefaßt wird, da die Formulierung einer gesamtgesellschaftlichen Alternative sich allein an der Betroffenheit der Arbeiterklasse, nicht an politischen Kräfteverhältnissen oder gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen orientierte. ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Vorwort
Eine detaillierte Rekonstruktion der Wirtschaftsdemokratiekonzeption von Naphtali sowie der Rezeption und Diskussion in allen wesentlichen politischen Fraktionen der Arbeiterbewegung, die vom totalen Konsens bis zum totalen Dissens reicht, hat sich schließlich die Studie von Hans Willi Weinzen zur Aufgabe gesetzt. Im zweiten Teil „Stategien der Arbeiterbewegung gegen staatlichen Demokratieabbau und Faschismus" untersucht Axel Schildt das relativ vernachlässigte Gebiet sozialdemokratischer Militärpolitik, da die Diskussion der Wehrfrage wesentlich zur Erosion sozialdemokratischer Arbeiterbewegung und -Organisation in der Weltwirtschaftskrise beitrug. Georg Fülberth rückt die Kategorie der Möglichkeit ins Blickfeld, wenn er eine regionale Ausnahmesituation im Verhältnis von SPD und KPD zueinander - die trotz ultralinker Wendung der KPD gepflogenen Verhandlungen zwischen den beiden großen Arbeiterparteien nach der Kommunalwahl 1931 in Braunschweig - zum Gegenstand der Analyse macht. Die Arbeitervereine haben dem Sieg des Faschismus selbst Vorschub geleistet, zumindest aber keinen originären Gegenbeitrag geliefert. Dies ist die provokante These von Hartmann Wunderer, die er in seinem Aufsatz zur Tätigkeit kommunistischer Kulturorganisationen 1929 - 1933 ausführt. Eckhard Volker nimmt diese These zum Anlaß, in seinem Beitrag „Zur ideologischen Wirkungsmacht des deutschen Faschismus" den Ansatz des „Projektes Ideologie-Theorie" zu skizzieren, wie er jn den Studien „Faschismus und Ideologie" (AS 60 und 62, 1980) zum Tragen gekommen ist; er will der Erforschung antifaschistischer Politik Anstöße geben. Es geht um eine Weiterarbeit an wesentlichen Problemen diser so wichtigen Phase der Arbeiterbewegung, die im ARGUMENT an dieser Stelle ihren Anfang findet. Kritik, aber auch neue Beiträge sind erwünscht, die den notwendigen Diskussionsprozeß verbreitern helfen. Anmerkungen 1
Literaturangaben zur Disskussion bis Mitte 1979 vgl. bei Lambrecht; zum jüngsten Stand der Disskussion vgl. die Disskussion um die Referate von Deppe und Skrypczak auf der Konferenz des DGB im Oktober 1979 in Vetter (Hrsg.); Grebing 1980. 2 Vgl. die Jg. 1963-1965 der BzG mit Beiträgen zur Erstellung des Werks „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" und dass., Bd. 4. 3 Anders ist es mit der Gewerkschaftsgeschichte. Die interessante und materialreiche Diss. von Hüllbusch (1958) wurde leider nie gedruckt. ÄRGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Vorwort 4
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Unter diesem Blickwinkel ist auch das Interesse an rechten sozialdemokratischen Oppositionsgruppen zu sehen, die sich in der Weimarer Republik aufnahmebereit für irrationalistische Ideologie zeigten (vgl. Osterath; Martiny). So der KPD-Parteitagsprotokolle, der „Internationale" und der „Linkskurve", um nur einige Beispiele zu nennen. Vgl. als wichtige Dokumentationen sozialdemokratischer Politik auch Schulze und Luthardt (1978).
Literaturverzeichnis Abendroth, Wolfgang: Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und hrsg. von B. Dietrich und J. Pereis, Frankfurt 1976 Diehl, Ernst: Forschungsprobleme aus der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. 4. Hauptperiode: 1917-1945, in: 1917-1945. Neue Probleme der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung in Forschung und Lehre (Wissenschaftliche Redaktion: K. Drechsler u.a.), Berlin 1965, S. 9-39 Grebing, Helga: Zum Artikel von Frank Deppe, Georg Fülberth und Jürgen Harrer: Kritik und Antikritik. Zur aktuellen Diskussion über die Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 25, 1980, S. 1115-1118 Lambrecht, Lars: Gewerkschaftsbewegung und Geschichte, in: Wissenschaft und Arbeitnehmerinteressen (Jahrbuch für Sozialökonomie und Gesellschaftstheorie), Opladen 1980, S. 183-205 Lewerenz, Elfriede: Die Analyse der Faschismus durch die Kl. Die Aufdekkung von Wesen und Funktion des Faschismus während der Vorbereitung und Durchführung des VII. Kongresses der Kommunistsichen Internationale (1933-1935), Frankfurt 1975 Steinberg, Hans-Josef: Beitrag zur "Diskussion: Zwischen Sozialgeschichte und Legitimationswissenschaft", in: Jahrbuch Arbeiterbewegung, hrsg. von C. Pozzoli, Bd. 2, Frankfurt 1974, S. 267-300 Weitere Titel zum Thema in der Auswahlbibliographie.
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10 Eberhard Heupel
Ziele und Möglichkeiten der freien Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise In den vergangenen Jahren hat die Geschichtsschreibung über die deutsche Gewerkschaftsbewegung ein breites öffentliches Interesse über den engeren Kreis der Fachhistoriker hinaus gefunden. Angeregt wurde dieses Interesse durch die Diskussion über das von F. Deppe, G. Fülberth und J. Harrer herausgegebene Buch „Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung". Die Auseinandersetzung wurde sowohl über grundsätzliche methodische Fragen als auch über die Interpretation einzelner Phasen der Gewerkschaftsgeschichte geführt. Auf die einzelnen Argumentationsmuster soll nicht noch einmal eingegangen werden, zumal dies hinsichtlich der Kritiker des Buches im „Argument" bereits geschehen ist (J. Kammler u.a.). Die Diskussion zeichnet sich - sowohl auf Seiten der Gegner und auch auf seiten der Befürworter des Gewerkschaftsbuches - häufig durch eine pauschale und teilweise diffamierende Kritik der jeweiligen Gegenposition aus, die auf die Dominanz politischer Motive und die Komplexität des historischen Gegenstandes gleichermaßen zurückzuführen ist. So geriet die Diskussion größtenteils nicht über die Konfrontation unterschiedlicher Standpunkte und das gegenseitige Ausspielen von Zitaten hinaus (Scharrer, Deppe, Fülberth, Harrer 1979, G. Beier). Lediglich in einem Aufsatz von H. Grebing und in der sich anschließenden Replik der Herausgeber der „Gewerkschaftsgeschichte" wurde versucht, die sachliche Kontroverse in den Mittelpunkt zu stellen (H. Grebing 1979 bzw. F. Deppe, G. Fülberth, J. Harrer 1980). Dieser Umstand ist umso bedauerlicher, als durch diese Kontroverse offene Probleme der Gewerkschaftsgeschichtsschreibung eher verdeckt als geklärt worden sind. Das gestiegene Interesse an der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit wurde aber vor allem durch die vom Bundesvorstand des DGB im Oktober 1979 veranstaltete Wissenschaftliche Konferenz zur Geschichte der Gewerkschaften sichtbar, die zu einer Bestandsaufnahme bisheriger Forschungsergebnisse und zu einer Erörterung offener Fragen führte. Daß bei dieser Konferenz der Anfangs- und der Schlußphase der Weimarer Republik eine zentrale Rolle zufiel, zeigt die Bedeutung gerade dieser Zeitabschnitte für das historische Selbstverständnis des DGB. Bereits während der Weimarer Republik wurde insbesondere von den freien, sozialdemokratisch geführten Gewerkschaften die Auffassung vertreten, daß die politische Demokratie eine unerARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Die freien Gewerkschaften
läßliche Voraussetzung für die gewerkschaftliche Betätigung sei. Die politische Demokratie müsse aber durch die Demokratisierung der Gesellschaft und die wirtschaftliche Mitbestimmung ergänzt werden. Diese Gedankengänge markieren auch heute noch - wenn auch in teilweise abgewandelter Form - Grundpositionen des DGB. Aber nicht nur die Ähnlichkeit (gesellschafts-)politischer Auffassungen läßt eine Beschäftigung mit der Gewerkschaftsgeschichte der Weimarer Republik naheliegend erscheinen, wesentlicher - und politisch brisanter - ist die Frage nach den Ursachen für das Scheitern der Weimarer Republik und der Niederlage der Arbeiterbewegung. Diese Fragestellung verweist nicht nur auf eine Analyse der politischen, sondern auch der ökonomischen und sozialen Situation in Deutschland während der Weltwirtschaftskrise. Gerade der sozioökonomische Aspekt hat im Hinblick auf die gegenwärtige krisenhafte Entwicklung in den kapitalistischen Industriestaaten an Aktualität gewonnen. Die Geschichte der freien Gewerkschaften am Ende der Weimarer Republik wird in meinem Aufsatz als Teil der Geschichte der deutschen Gesellschaft verstanden, d.h. die Politik von ADGB und AfABund wird in Beziehung gesetzt zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur sozialen Lage der Arbeiterschaft, zum Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit und zum politischen System. Ziele und praktische Resultate freigewerkschaftlicher Politik müssen in ihrer Wechselwirkung mit dem gesellschaftlichen und politischen Prozeß analysiert werden, weil nur auf diese Weise eine adäquate Beurteilung gewerkschaftlicher Strategien erfolgen kann. Eine Vernachlässigung dieses methodischen Postulats würde entweder zu einer Ober- oder zu einer Unterschätzung gewerkschaftlicher Aktionsmöglichkeiten führen. Die Realisierung dieses methodischen Ansatzes sprengt freilich den mit dieser Arbeit vorgegebenen Rahmen. Trotzdem werde ich im folgenden wenigstens andeutungsweise jene Faktoren zu berücksichtigen versuchen, die zur Erklärung der gewerkschaftlichen Politik unerläßlich sind. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Analyse der wirtschaftspolitischen Forderungen der freien Gewerkschaften zur Krisenüberwindung. In diesem Zusammenhang soll die Frage der Kontinuität reformistischer1 Programmatik im Vergleich zur Zeit vor 1929 und die Beziehung zwischen den Forderungen zur Krisenüberwindung und der Krisenanalyse erörtert werden. Daran schließt sich die Betrachtung über die Durchsetzungsmöglichkeiten der gewerkschaftlichen Forderungen an. Mit diesem Thema ist das Verhältnis zur SPD und ihrer Tolerierungspolitik gegenüber dem Kabinett Brüning angesprochen. Die Gewerkschaften waren aber nicht nur mittelbar mit ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Eberhard Heupel.
der Politik der Reichsregierung konfrontiert, sondern auch direkt durch die Praxis der staatlichen Schlichtung von Tarifkonflikten. Ohne eine Analyse der gewerkschaftlichen Haltung zur allgemeinen politischen Entwicklung muß daher auch die Tarifpolitik Von ADGB und AfA-Bund bzw. der ihnen angeschlossenen Verbände unverständlich bleiben. Schließlich ist auch darauf einzugehen, ob und gegebenenfalls in welchem Maße die Gewerkschaften versucht haben, durch die Initiierung von Arbeitskämpfen ihre Ziele gegenüber den Unternehmern durchzusetzen. Der Zuspitzung der ökonomischen und politischen Krise im Verlaufe des Jahres 1931 suchten die freien Gewerkschaften durch den Woytinski/Tarnow/Baade (WTB)-Plan und das Programm zum „Umbau der Wirtschaft" zu begegnen. Die Analyse der Motive, die zu diesen wirtschaftspolitischen Aktionsprogrammen führten, und die Beurteilung der Realisierungsmöglichkeiten schließt den Teil über die Politik der freien Gewerkschaften ab. Ohne eine Blick auf die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) ist aber eine differenzierte Einschätzung der Politik von ADGB und AfA-Bund nicht möglich. Die Konkurrenz der RGO beeinflußte nicht nur die Aktionsmöglichkeiten der freien Gewerkschaften gegenüber den Unternehmern und dem Staat. Die Einschätzung der Streiktaktik der RGO liefert auch einen Beitrag zur besseren Beurteilung möglicher Alternativen gewerkschaftlich Politik. 1. Die wirtschaftspolitischen Forderungen der freien Gewerkschaften Die ersten Forderungen zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Krise finden sich in der von ADGB und AfA-Bund gemeinsam herausgegebenen Broschüre „Wirtschaftslage, Kapitalbildung, Finanzen" vom März 1930. Hintergrund der Veröffentlichung waren die wachsenden ökonomischen Schwierigkeiten in Deutschland und die Auseinandersetzung über die Neuverteilung der sozialen Lasten anläßlich der bevorstehenden Verabschiedung des Young-Plans durch den Reichstag (ADGB (Hg.) 1930, Heupel, S. 54 ff., bes. S. 63 ff.). Obwohl die freien Gewerkschaften ähnlich wie das Institut für Konjunkturforschung, auf dessen Analysen sie sich verließen, die Schwere der heraufziehenden Krise noch nicht erkannt hatten, enthielt diese Broschüre bereits wichtige Forderungen, die auch in den folgenden Jahren zur gewerkschaftlichen Programmatik gehörten. An erster Stelle ist das Verlangen nach Erhöhung bzw. Erhaltung der Massenkaufkraft zu nennen. Führende sozialdemokratische Wirtschaftstheoretiker wie Naphtali, Woytinski und Lederer sahen in der ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Die freien Gewerkschaften
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Disproportion zwischen Produktion und Konsumtion einen wesentlichen Grund für die Entstehung von Wirtschaftskrisen. Die Erhöhung der Massenkaufkraft sollte dieses Mißverhältnis beseitigen helfen, indem sie die effektive Nachfrage nach Konsumgütern und vermittelt über die Ausdehnung der Konsumgüterproduktion auch nach Produktionsmitteln stärken sollte. Die sozialpolitische Forderung nach der Erhaltung des sozialen Besitzstandes der Arbeiterklasse bzw. aller Lohnabhängigen war also auch wirtschaftspolitisch legitimiert, d.h. zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik bestand nach sozialdemokratischer Auffassung kein Gegensatz, vielmehr bedingten sie einander, wie es Naphtali folgendermaßen formulierte: „Es besteht kein Zweifel, daß die Arbeiterschaft im Interesse des Tempos der Wiederbelebung der Wirtschaft, im Interesse der Minderung der Arbeitslosigkeit handelt, wenn sie dem Druck auf Senkung der Reallöhne soviel Widerstand entgegensetzt, wie wir nur immer aufzubringen vermögen. (...) Je mehr der Preisdruck den Lohndruck übertrifft, umso größer sind die Chancen, die wirtschaftliche Not zu überwinden. Hier ist also der Punkt, wo der Kampf um die unmittelbare Erhaltung der Lebensbedingungen zugleich ein konjunkturpolitischer Kampf ist, ein Kampf um die Wiedereinschaliung der freigesetzten Arbeitskräfte in den Produktionsprozeß." (Naphtali 1930, S. 27; Hervorhebung im Original).
Wie aus dem Zitat bereits indirekt hervorgeht, war die Forderung nach Erhöhung der Massenkaufkraft durchaus vereinbar mit einer Senkung des Nominallohnes', vorausgesetzt war aber, daß das Preisniveau der Konsumgüter schneller fiel. In diesem Zusammenhang ist auch die Forderung nach einem Zollabbau für agrarische Produkte zu sehen, denn die hohen Agrarpreise für die Grundnahrungsmittel Getreide, Kartoffeln und Zucker belasteten die Arbeiterhaushalte erheblich (vgl. Heupel, S. 69 ff.). Außerdem sollte der Zollabbau dem Zollprotektionismus anderer Staaten entgegenwirken und so Arbeitsplätze in der deutschen Exportindustrie erhalten. Eine wesentliche Rolle in der freigewerkschaftlichen Diskussion über Möglichkeiten zur Krisenüberwindung spielte auch die Kartellund Monopolproblematik. Diese wirtschaftlichen Organisationsformen hätten in mehrfacher Weise zur Verschärfung der Krise beigetragen. Einerseits hätten die überhöhten Gewinne in monopolisierten Branchen zu einer Kapitalfehlleitung geführt. Es sei mehr Kapital als unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten vertretbar in diese Branchen geflossen. Die Bildung überhöhter Preise in den monopolisierten Grundstoffindustrien verteuere überdies die Konsumgüterproduktion und verschärfe die Diskrepanz zwischen Produktion und Konsumtion. Die kritische Einschätzung der konjunkturpolitischen Rolle von Kartellen und Monopolen in der sozialdemokratischen DisARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Eberhard Heupel.
kussion wurde durch den Hinweis auf die relative Stabilität der gebundenen Preise bekräftigt. Die Hochhaltung der Preise verhindere den für eine Wiederbelebung der Wirtschaft unerläßlichen Preisrückgang und trage so zur Verschärfung der Krise bei. Die These von der krisenverschärfenden Wirkung monopolistischer Bindungen war ein Novum in der reformistischen Diskussion der Monopolproblematik, denn bis zur Weltwirtschaftskrise war die Monopolbildung als ein Beitrag zur Organisierung der Wirtschaft gewürdigt worden, die die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise tendenziell beseitige und somit die wirtschaftlichen Krisen mildere (D. Petzina 1980). Bei aller Kritik an den Monopolen forderte die Mehrheit der freigewerkschaftlichen Wirtschaftstheoretiker nicht deren Zerschlagung, sondern ihre Kontrolle durch den demokratischen Staat (vgl. z.B. Naphtali 1931). Unter Übernahme entsprechender Vorstellungen aus der Stabilisierungsphase verlangte ein Gesetzentwurf der SPD, der auch von den freien Gewerkschaften mitgetragen wurde, die Schaffung eines „Reichsamts für Kartell- und Monopolverwaltung", das der politischen Führung des Reichswirtschaftsministeriums unterstehen sollte. Das Kartellamt war mit umfangreichen Befugnissen auszustatten; es sollte selbständig Preisüberprüfungen durch führen und Kartelle auflösen können, sofern sie gesamtwirtschaftliche Interessen gefährdeten (vgl. ADGB-Jahrbuch 1930, S. 210-215). Auch die Forderung nach verstärkter Kapitalbildung findet sich in den Vorschlägen der freien Gewerkschaften. Im Unterschied zu den Unternehmern, die mit dem Hinweis auf die Kapitalbildung den Abbau von Löhnen und Sozialleistungen zu rechtfertigen suchten, hielten die reformistischen Theoretiker die Förderung der Kapitalbildung durchaus mit der Erhöhung der Massenkaufkraft für vereinbar. Alfred Braunthal hatte bereits vor Ausbruch der Krise auf die Bedeutung der „nichtkapitalistischen Kapitalbildung" hingewiesen, worunter er die produktive Verwendung von Ersparnissen aus Lohn- und Gehaltseinkommen verstand. Da erfahrungsgemäß mit der Höhe des Einkommens auch die Sparrate wachse, könne durch eine Erhöhung der Löhne und Gehälter auch die Kapitalbildung gefördert werden. Die Verschiebung der Einkommensverteilung zugunsten der unteren Schichten werde im übrigen der Konsumgüterindustrie besonders zugute kommen, weil sie eine Erhöhung der Nachfrage nach industriellen Massengütern zur Folge haben werde (Braunthal 1929 und 1930). In erster Linie aber erhofften sich die freien Gewerkschaften die Beseitigung des Engpasses an Geld-Kapital durch die Erleichterung des Kapitalimports und die Freigabe der Auslandsanleihen für die Kommunen. Durch eine verständigungsbereite Außenpolitik mit ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Die freien Gewerkschaften
Frankreich und durch die Sicherung der innenpolitischen Stabilität, die eine Bekämpfung des Rechts- und Linksextremismus nötig mache, müßten die erforderlichen politischen Voraussetzungen geschaffen werden. Freilich geriet das Bemühen um eine Verständigung mit Frankreich schon bald in Konflikt mit der Forderung nach einer Revision der Reparationen. Die Reparationen waren während der Stabilisierungsphase weitgehend durch den Kapitalimport ausgeglichen worden. Seit der Kapitalflucht nach den Reichstagswahlen von 1930 und seit der allgemeinen Verschlechterung der ökonomischen Situation, die zum Abruf der kurzfristigen Kredite führte, mußten die Reparationen zu einer Belastung für die deutsche Volkswirtschaft werden. Es war daher einsichtig, daß die freien Gewerkschaften - und trotz einiger Nuancen auch die SPD-Führung - eine Beseitigung der Reparationen wieder in verstärktem Maße propagierten. Entscheidend waren die Modalitäten der Revision. Ein explizit formuliertes Verlangen nach Beseitigung der Reparationen, die den freien Gewerkschaften und der SPD zur Abwehr der Propaganda der Rechtsparteien NSDAP und DNVP sowie der KPD gelegen sein mochte, war angesichts der französischen Vorbehalte gegen einei Neuregelung der Reparationsfrage wie gegen eine Revision des Versailler Vertrages überhaupt zumindest nicht unproblematisch. Die französische Regierung verband im Sommer 1931 ihr Kreditangebot mit politischen Bedingungen, die eine militärische Gleichstellung des Deutschen Reiches verhindern sollten und ein Vorgehen der Reichsregierung gegen die Agitation des Stahlhelm und der NSDAP sowie ein Verzicht auf den Bau des Panzerkreuzers „B" und auf die Revision der Ostgrenze forderten (Belege bei Heupel, S. 78 bzw. S. 295). Zumindest der Verzicht auf den Panzerkreuzerbau und eine Einschränkung der rechtsradikalen Agitation entsprachen den sozialdemokratischen Wünschen viel eher als die Politik der Regierung Brüning, die von der SPD gleichwohl aus Angst vor einem Rechtsruck bis zu ihrem Ende unterstützt wurde. Der Vorschlag einer gesetzlichen Verkürzung der Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden, der die Unternehmer außerdem zur Wiederbesetzung der dadurch freiwerdenden Arbeitsplätze verpflichten sollte, wurde nach den Reichstagswahlen 1930 formuliert. Angeregt wurde dieser Vorschlag durch eine Diskussion in der bürgerlichen Presse. Mit ihrem Vorstoß wollten die reformistischen Arbeiterorganisationen die Diskrepanz zwischen der Mehrarbeit von noch beschäftigten Arbeitern und der Arbeitslosigkeit beseitigen helfen, wobei man sich auf Seiten der Gewerkschaften darüber klar war, daß eine Arbeitszeitverkürzung lediglich ein Mittel zur Linderung der sozialen Folgen der Krise, nicht aber ein Hebel zu ihrer Überwindung sein könne. Im ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Verlaufe der Diskussion in den Gewerkschaften stellte sich die Frage des Lohnausgleichs als das zentrale Problem bei der Verwirklichung einer Arbeitszeitverkürzung heraus. Die Führung der freien Gewerkschaften - hierbei unterstützt von Naphtali und Wisseil hielt das Verlangen nach einem vollen Lohnausgleich für illusorisch. Sie hoffte vielmehr, daß die bei einer Wiedereingliederung von Erwerbslosen freiwerdenden Mittel aus der Arbeitslosenversicherung wenigstens einen Teil des Lohnverzichts wieder wettmachen würden. Allerdings verlangten die freien Gewerkschaften, daß das Arbeitseinkommen insgesamt durch eine Arbeitszeitverkürzung nicht herabgesetzt werden dürfe, was ja auch der Forderung nach Erhaltung der Massenkaufkraft entsprach. Als weitere arbeitsmarktpolitische Maßnahme war die gesetzliche Einführung des neunten Pflichtschuljahres vorgesehen, um die Zahl der jugendlichen Erwerbslosen zu verringern. Bereits in der Denkschrift „Wirtschaftslage, Kapitalbildung, Finanzen" war die Forderung nach einer planmäßigen Konjunkturpolitik der öffentlichen Hand erhoben worden. In erster Linie war an eine gezielte Vergabe öffentlicher Aufträge gedacht. Die Aufträge der öffentlichen Hand wurden vom Institut für Konjunkturforschung für das Jahr 1929 immerhin auf 20 % der gesamten Sachgüterproduktion geschätzt; sie stellten also eine bedeutende volkswirtschaftliche Größe dar. Diese öffentlichen Aufträge sollten gezielt in den Zeiten ökonomischer Krisen vergeben werden, um so die private Wirtschaft anzukurbeln. Wie Brüning hielten aber die freien Gewerkschaften und die SPD am Primat einer ausgeglichenen Haushaltsführung fest. Da die öffentlichen Kassen in der Weltwirtschaftskrise über keine finanziellen Reserven verfügten, bedeutete dieser Grundsatz die Absage an eine Politik der Arbeitsbeschaffung, worüber sich auch die Theoretiker des ADGB keinerlei Illusionen machten (Heupel, S. 84 f.). Außerdem waren einer gezielten Terminierung staatlicher Aufträge durch deren gesetzliche Bindung Grenzen gesetzt. Eine weitere Möglichkeit, auf die Wirtschaft im Sinne einer Konjunkturstabilisierung einzuwirken, sah der Aufsichtsratsvorsitzende der Preussag und Staatssekretär im preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe, Hans Staudinger, in dem Erlaß allgemeiner Richtlinien für die Betriebe der öffentlichen Wirtschaft, um die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Staates im Sinne einer „gemeinwirtschaftlichen" Orientierung zu nutzen (H. Staudinger 1932, S. 106ff ). Die „Produktions-, Kapital- und Konjunkturpolitik" (H. Staudinger, S. 119) der öffentlichen Unternehmungen sollte koordiniert werden, um die durch eine überflüssige Konkurrenz hervorgerufene Unwirtschaftlichkeit und Kapitalverschwendung zu unterbinden. BesondeARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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re Bedeutung kam nach Meinung Staudingers einer Zusammenfassung des Geld- und Kreditverkehrs der öffentlichen Hand zu. Damit knüpfte Staudinger an die Forderung nach Kapitalienkung an, die anläßlich der Bankenkrise 1931 von den freien Gewerkschaften und der SPD erhoben worden war. Da die reformistischen Wirtschaftstheoretiker in der Fehlleitung von Kapital eine der Hauptursachen der Wirtschaftskrise erblickten, war ihre Forderung nach einer zentralen Kapitallenkung folgerichtig. Diese Forderung wurde nach der Kreditkrise im Sommer 1931 mit dem Vorschlag zur Errichtung eines Bankenamtes konkretisiert (vgl. „Richtlinien des ADGB und des AfA-Bundes für das Gesetz über die Errichtung eines Bankenamtes", in: Die Arbeit 1931, S. 750-752). Das Bankenamt sollte das Kreditgebaren der Banken überwachen. Der Zusammenschluß von Banken sollte seiner Genehmigung bedürfen. Wie dem Monopolamt sollte dem Bankenamt ein drittelparitätisch aus Arbeitgebern, Arbeitnehmern und Gebietskörperschaften zusammengesetzter Beirat zur Seite stehen, der zusammen mit dem von der Reichsregierung zu ernennenden Vorstand allgemeine Richtlinien für die Tätigkeit des Bankenamtes erlassen sollte. Von der Tätigkeit des Beirates, insbesondere von den Vertretern der Arbeitnehmer und der Gebietskörperschaften, erhofften sich die freien Gewerkschaften Schritte in Richtung auf eine nach volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten durchzuführende Kapitallenkung. Obwohl eine Verstaatlichung der Banken nach sozialdemokratischer Ansicht das geeignetere Mittel gewesen wäre, verzichteten die reformistischen Arbeiterorganisationen auf diese Forderung, weil sie zum damaligen Zeitpunkt - im Frühherbst 1931 - nicht durchzusetzen sei. So blieb nur die Hoffnung, den Einfluß der öffentlichen Kreditinstitute vergrößern und in „gemeinwirtschaftlichem" Sinne ausnutzen zu können. Die Vorschläge der freien Gewerkschaften (und der SPD) zur Krisenüberwindung zeichnen sich durch einen ambivalenten Charakter aus. Einerseits wollten sie die Wirtschaftskrise unter Wahrung des sozialen Besitzstandes der Lohnabhängigen überwinden, andererseits vermieden sie jeden strukturellen Eingriff in die Dispositionsfreiheit der Unternehmer. Die Konzeption der freien Gewerkschaften ging von der Prämisse aus, die antagonistischen Interessen von Kapital und Arbeit ließen sich auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene harmonisieren. So sollte die Erhöhung der Massenkaufkraft, die ja für den einzelnen Unternehmer zunächst eine Erhöhung der Personalkosten bedeutete, letztlich durch die Vermehrung seines Absatzes infolge der Steigerung der effektiven Nachfrage ausgeglichen werden. Die Kontrolle der Kartelle und Monopole unter gleichbeARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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rechtigter Mitwirkung der Arbeitgeber sollte ebenso wie die Maßnahmen zur Kapitallenkung zur Verstetigung des Wirtschaftsprozesses und damit auch der Unternehmergewinne beitragen. Der Ausbau planerischer Elemente, der den Vorrang gesamtwirtschaftlicher vor privatwirtschaftlichen Interessen sichern sollte, galt den reformistischen Theoretikern zugleich als ein Schritt auf dem Weg zur Oberwindung des Kapitalismus. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung sei gekennzeichnet durch die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel zum Zwecke individueller Gewinnmaximierung. Sie interpretierten das Kapitalverhältnis als eine juristische Kategorie und jede rechtliche Einschränkung als einen Schritt auf dem Wege zur Überwindung des Kapitalismus. Die Betriebe der öffentlichen Hand galten als nichtkapitalistische Inseln im Kapitalismus, weil sie in juristischem Sinne kein Privateigentum waren. Außerdem seien diese Unternehmen an der Bedarfsdeckung der Volkswirtschaft orientiert. Eine entscheidende Rolle bei der allmählichen Überwindung des Kapitalismus war dem demokratischen Staat zugedacht, der es durch seine Verfassung der politischen Arbeiterbewegung ermögliche, in Wahlen die Mehrheit zu gewinnen und die gewachsenen wirtschaftlichen Potenzen des Staates auf dem Gebiet der Wirtschafts-, Finanz- und Handelspolitik sowie der Lohn- und Sozialpolitik zur Lenkung der Wirtschaft in „gemeinwirtschaftlichem" Sinne zu nutzen (vgl. zur reformistischen Staats- und Gesellschaftstheorie Heupel, S. 31 ff, und S. 235ff.). Die einzelnen Vorschläge der freien Gewerkschaften zur Krisenüberwindung standen also in einem engen Zusammenhang mit den allgemeinen Grundlagen der reformistischen Staats- und Gesellschaftstheorie. Dabei ergaben sich - entgegen den Thesen von M. Schneider und R.A. Gates - keine grundlegenden ideologischen Divergenzen zwischen ADGB, AfA-Bund und SPD (vgl. Heupel, S. 63 ff.). Die Skizze der freigewerkschaftlichen Vorschläge zur Krisenbekämpfung widerlegt die Auffassung, die Gewerkschaften hätten keine Konzeption zur Krisenbekämpfung besessen. Einschränkend muß allerdings bemerkt werden, daß die Formulierung der meisten Vorschläge - sieht man einmal vom Massenkaufkrafttheorem und von der Forderung nach einer Kartell- und Monopolkontrolie ab - erst als Antwort auf die entstehenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Krise erfolgte. Das vorwiegend reaktive Verhalten der freien Gewerkschaften (und der SPD) lag in der Unterschätzung des krisenhaften Charakters der kapitalistischen Entwicklung begründet. Da die Wirksamkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen sehr entscheidend von dem Zeitpunkt ihrer Durchführung abhängt, ist hierin sicherlich ein Versäumnis der reforARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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mistischen Arbeiterorganisationen zu sehen. Dagegen scheint mir die Kritik unbegründet, die den gewerkschaftlichen Forderungen „Symptomorientiertheit" vorwirft (Schneider 1978, S. 220). Diese Kritik übersieht, daß die gewerkschaftliche Programmatik an realen Widersprüchen des Kapitalismus anknüpfte, und sie betont in einseitiger Weise die Möglichkeiten defizitfinanzierter Arbeitsbeschaffungsprogramme. Ein wesentliches Manko der skizzierten Vorschläge bestand aber darin, daß sie die Interessenlage der Unternehmer und den Handlungsspielraum des Staates falsch einschätzten. Die freien Gewerkschaften gingen mit ihren Forderungen von einem fiktiven kapitalistischen Gesamtinteresse aus. Akzeptiert man aber die private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel, dann müssen die Maßnähmen zur Krisenbekämpfung an der Interessenlage der Einzelkapitale ansetzen. Obwohl die Interessen der einzelnen Unternehmen in vieler Hinsicht unterschiedlich waren, bestand hinsichtlich des Abbaus von Löhnen und Sozialleistungen doch ein Konsens innerhalb der Unternehmerschaft. Weil die Wirtschaftskrise zu einer Verringerung der Produktionskosten zwang, wurde auf der Ebene des einzelnen Unternehmens der Druck auf die Löhne verstärkt. Dieser Ausweg bot sich um so mehr an, als der Anteil der fixen Kosten, die unabhängig vom Produktionsausstoß die Bilanz der Unternehmen belastete, durch die Rationalisierung gewachsen war. Es war daher kein Zufall, daß das Programm des Reichsverbandes der Deutschen Industrie in fast allen Punkten den Vorstellungen der freien Gewerkschaften widersprach. Dieser Sachverhalt blieb natürlich auch den reformistischen Gewerkschaften nicht verborgen, sie hofften aber, mit Hilfe des Staates die gesamtwirtschaftlichen Interessen durchsetzen zu können. In der These von der Klassenneutralität des Staates lag ein weiterer Fehler der reformistischen Gesellschaftstheorie. Sie ging von dem Primat der Politik aus und übersah, daß die staatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik in ihrer Richtung, wenn auch nicht in ihren einzelnen konkreten Maßnahmen von Erfordernissen des kapitalistischen Reproduktionsprozesses abhängig war. Bei aller Kritik an der reformistischen Wirtschaftsprogrammatik sind jedoch Auffassungen als irrig zurückzuweisen, die dieser eine einseitig systemstabilisierende Funktion bzw. einen „bürgerlichapologetischen Gehalt" zuweisen wollen, wie dies Fülberth/Harrer mit Bezug auf die SPD tun (Fülberth/Harrer 1974, S. 231,234). Eine solche Argumentation verkennt die Ambivalenz der sozialdemokratischen Forderungen, die darin besteht, einerseits den sozialen Besitzstand der Arbeiterklasse wahren und andererseits die Rahmenbedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems nicht veränARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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dem zu wollen. Fülherth/Harrer können die Gegensätzlichkeit der Programme von freien Gewerkschaften und Unternehmern nicht erklären und nicht begreiflich machen, warum sich der Angriff der Unternehmer in der Anfangsphase der Krise vor allem gegen die Sozialpolitik und die freien Gewerkschaften richtete. 2. Die Durchsetzungsmöglichkeiten freigewerkschaftlicher Politik Bei der Realisierung der Forderungen kam dem politischen Zweig der reformistischen Arbeiterorganisationen eine besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl aus historischen als auch aus sachlichen Gründen. Viele Forderungen wie z.B. nach Einführung der 40-Stunden-Wöche oder nach der Durchführung einer wirksamen Karteliund Monopolkontrolle richteten sich unmittelbar an den Staat, d.h. konkret an das Parlament und an die Regierung. Außerdem hatte die Reichsregierung über das Schlichtungswesen die Möglichkeit, auf die Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen direkt Einfluß zu nehmen. Die traditionelle Arbeitsteilung zwischen freien Gewerkschaften und SPD wies in erster Linie der Partei die Aufgabe zu, die Vorschläge zur Krisenbekämpfung politisch umzusetzen. Diese Taktik entsprach auch der historisch gewachsenen Neigung der Gewerkschaften, sich nicht vorwiegend auf die eigene Kraft, sondern auf die der Partei bzw. des Staates zu verlassen. Aus diesem Sachverhalt kann freilich nicht umstandslos auf eine einseitige Determinierung des gewerkschaftlichen Verhaltens durch die SPD geschlossen werden, vielmehr hatte auch die Partei in gewisser Weise auf die freien Gewerkschaften Rücksicht zu nehmen, da letztere einen wesentlichen Faktor für die Erhaltung der sozialdemokratischen Wählerbasis darstellten. Das zeigte sich am deutlichsten zu Beginn der Krise, nämlich beim Sturz der großen Koalition im März 1930. Ausschlaggebend für die Haltung der SPD-Reichstagsfraktion, dem Brüning-Kompromiß und damit dem wahrscheinlichen Abbau der Arbeitslosenversicherung nicht zuzustimmen, waren die Vertreter der Gewerkschaften. Freilich wird man daraus kaum eine Mitverantwortung der freien Gewerkschaften und der SPD für das Ende der parlamentarischen Regierungsform in Deutschland schlußfolgern können, denn die Vorgeschichte des Endes der großen Koalition belegt eindeutig, daß die bürgerlichen Parteien und nicht zuletzt der Reichspräsident Hindenburg die SPD nach der Ratifizierung des Young-Plans aus der Regierung hinausdrängen wollten (vgl. dazu Heupel, S. 103 ff. und die dort angegebene Literatur). Von Seiten der ausschlaggebenden poliARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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tischen Kräfte des Bürgertums bestand keine Neigung mehr, um der Erhaltung des Parlamentarismus willen (sozial-)politische Kompromisse mit der SPD einzugehen. Mit seinem Vorschlag, auf eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu verzichten und damit praktisch die finanzielle Grundlage für die Leistungen zu unterhöhlen, kündigte Brüning das einzige Zugeständnis auf, das der SPD während der Beratungen für den Reichsetat 1930 gemacht worden war. Auch im Juli 1930 lehnte der Reichskanzler jegliches Entgegenkommen an die durchaus kompromißbereite Sozialdemokratie ab und setzte stattdessen die finanz- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf dem Notverordnungswege durch. Auch in diesem Falle mußte die SPD, und zwar in Obereinstimmung mit den freien Gewerkschaften, aus Rücksicht auf ihre Massenbasis für die Aufhebung der Notverordnung stimmen, selbst auf die Gefahr hin, daß der Reichstag aufgelöst und die Notverordnung praktisch unverändert erneut erlassen würde, wie es dann geschah. Die SPD votierte gegen die Notverordnung, weil sie in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise die Befugnisse des Parlaments einschränke und überdies sozialpolitisch einseitig und wirtschaftspolitisch schädlich sei. Das Ergebnis der Reichstagswahlen änderte die objektiven Voraussetzungen für die politische Taktik der SPD. Die Partei konnte sich nun nicht mehr auf die Position einer ausschließlich parlamentarischen Opposition zurückziehen. Eine konsequente Opposition der SPD gegen Brüning hätte dessen Sturz und die weitgehende Ausschaltung des Reichstages zur Folge haben können. Insofern entbehren die Rechtfertigungen für die Tolerierungspolitik nicht einer realen Grundlage, wenn auch die Behauptung des „Vorwärts", Brünings Sturz werde zu einer Machtübernahme durch Hugenberg und Hitler führen, im Oktober 1930 übertrieben erscheint und eher der Legitimation der Partei vor ihren Anhängern diente (vgl. Heupel, S. 145 ff., 347 f.). Die Tolerierungspolitik kann ohne den Rückgriff auf den politischen Erfahrungshorizont der maßgeblichen Entscheidungsträger in der SPD nicht erklärt werden. Bereits im Kaiserreich war für viele von ihnen das Parlament der entscheidende Hebel der Interessenvertretung. Diese politische Orientierung hatte sich in der Partei nach der Abspaltung des revolutionären Flügels verstärkt. Die Einführung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland hatte die Einflußmöglichkeiten für die SPD im Reich, in den Ländern und in den Kommunen vergrößert. Deshalb erschien es der SPD-Führung geboten, in der Weltwirtschaftskrise wenigstens die Grundlagen des parlamentarischen Systems zu sichern. Dafür war sie bereit, sozialpolitische ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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und verfassungsrechtliche Konzessionen zu machen. Obwohl von sozialdemokratischer Seite immer wieder hervorgehoben wurde, die Tolerierung dürfe nicht bedingungslos erfolgen, konnte der Reichskanzler sich in allen Fragen gegenüber der SPD durchsetzen, ohne daß die Partei ihm ihre parlamentarische Unterstützung verweigerte. Dieses Verhalten entsprach der inneren Logik der Tolerierungspolitik. Wenn man nämlich von der Prämisse ausging, daß der Sturz Brünings vermieden werden müsse, um einen politischen Rechtsruck zu verhindern, mußte die Partei in den entscheidenden Kontroversen mit dem Reichskanzler nachgeben, zumal Brüning in diesen Fällen gegenüber der SPD auch das Mittel der Rücktrittsdrohung einsetzte. Das Dilemma für die SPD bestand darin, daß mit der Tolerierung der Brüningschen Notverordnungspolitik die Partei zugleich die Aushöhlung des parlamentarischen Systems hinnahm und damit die Voraussetzungen für ihr eigenes politisches Wirken erschütterte. Die SPD wurde nicht zuletzt durch die Vertagungen des Reichstages in zunehmendem Maße aus dem politischen Willensbildungsprozeß ausgeschaltet. Auch das Weiterbestehen der Preußenkoalition unter Otto Braun war dafür keine Kompensation, da Braun und Severing eher die Partei an Brüning banden als umgekehrt sozialdemokratische Forderungen gegenüber dem Reichskanzler durchzusetzen bestrebt waren (vgl. Heupel, S. 149 ff.). Außerdem büßte die SPD unter ihren Anhängern Vertrauen ein, weil sie wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen der Reichsregierung duldete, die den eigenen Forderungen zuwiderliefen (vgl. Heupel, S. 121 ff., 157 ff.). Die Tolerierungspolitik der SPD trug mit dazu bei, daß ihre parlamentarischen Initiativen, in denen sie die reformistischen Vorschläge zur Oberwindung der Wirtschaftskrise bzw. zur Linderung der Krisenfolgen aufgriff, scheiterten. Das trifft für die Gesetzentwürfe zur Arbeitslosenfürsorge, zur Arbeitszeitverkürzung und zur Kartell- und Monopolkontrolle zu. Zwar verabschiedete der Reichstag eine Entschließung, die die Reichsregierung aufforderte, einen eigenen Gesetzentwurf über eine Verkürzung der Arbeitszeit vorzulegen, doch kam die Reichsregierung dieser Aufforderung nicht nach. Entschließungen des Reichstages zur Effektivierung der Kartell- und Monopolkontrolle sowie gegen die Aushöhlung des Tarifrechts blieben auf die Regierungspolitik ebenfalls ohne nennenswerten Einfluß. Die Führung der freien Gewerkschaften unterstützte die Tolerierungspolitik der SPD-Reichstagsfraktion. So schrieb die „Gewerkschafts-Zeitung", das Organ des ADGB, in einem Rückblick auf das Jahr 1930: ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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„Vor allem dient die Duldung der stillen Diktatur Brünings der Abwehr gegen das Umschlagen in die offene Diktatur, geschieht die Minderung des Rechts des Parlaments zum Schutze des Parlamentarismus. Ging es in den Kämpfen zu Beginn des Jahres noch um Einzelforderungen der Arbeiterschaft, so gilt unsere Sorge jetzt dem Gesamtbestande des staatlichen Lebens, der Erhaltung der Demokratie, der Sicherung des von vielen Punkten bedrohten politischen und sozialen Lebensraumes der Arbeiterbewegung und der Arbeiterklasse." (Gewerkschafts-Zeitung 1931, S. 3; Hervorhebung im Original).
Der stellvertretende Vorsitzende des ADGB, Peter Graßmann, äußerte im Dezember 1930 auf der Sitzung des ADGB-Bundesausschusses die Befürchtung, ein Sturz Brünings werde zu einem politischen Rechtsruck führen, der zu einer Gefahr für die Arbeiterbewegung werden könne (vgl. ADGB-Bundesausschuß, 4. Geschäftsperiode, Protokoll S. 229). Für die Praxis der freien Gewerkschaften hieß das, alles zu unterlassen, was zu einer Zuspitzung der innenpolitischen Situation hätte führen können. Der Verzicht der freien Gewerkschaften auf eine Opposition gegen die Reichsregierung, die über einen verbalen Protest gegen die sozial- und wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Reichsregierung hinausging, zeigte sich besonders in tarifpolitischen Auseinandersetzungen. Lediglich im Jahre 1930 führten Mitgliedsverbände des ADGB größere überregionale Arbeitskämpfe durch, und zwar der Bergbauindustriearbeiterverband im Mansfelder Kupferbergbau und der Deutsche Metallarbeiter-Verband (DMV) in der Berliner Metallindustrie (vgl. Heupel, S. 184 ff.). Die Art und Weise, wie der Berliner Metallarbeiterstreik im Oktober 1930 beigelegt wurde, zeigt sehr deutlich den Einfluß der Tolerierungspolitik der SPD auf das Verhalten des DMV. Der Streik richtete sich gegen einen Schiedsspruch des staatlichen Schlichters, der auf den Abbau der Tariflöhne um 8 % bzw. 6 % lautete. Auf Vorschlag des Reichsarbeitsministers stimmten der DMV und der Verband Berliner Metall-Industrieller der Ernennung einer Schlichterkommission zu, die einen neuen, für beide Seiten verbindlichen Schiedsspruch fällen sollte. Die Kommission bestand aus einem staatlichen Vertreter sowie zwei Persönlichkeiten, die der Unternehmer- bzw. der Gewerkschaftsseite nahestanden. Daß dieser Schiedsspruch inhaltlich fast völlig dem alten glich, konnte angesichts der Zusammensetzung der Kommission nicht verwundern, denn die Reichsregierung hatte in ihrer Regierungserklärung ihre Entschlossenheit zur „Lockerung des Lohn- und Preisgefüges" kundgetan (Verhandlungen des Reichstages, Bd. 444, S. 17 ff.). Der DMV aber hatte sich mit der vorbehaltlosen Zustimmung zum Spruch dieser Kommission die Hände gebunden und konnte ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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keine weiteren Kampfmaßnahmen gegen diese Entscheidung ergreifen. Diese Form der Konfliktregulierung kam de facto einem Streikabbruch gleich, der in politischen Umständen, eben der sozialdemokratischen Tolerierungspolitik, begründet lag. Ein Streik gegen den Lohnabbau war mittelbar auch ein Angriff auf die Lohnpolitik der Reichsregierung und mit der Tolerierung Brünings nicht vereinbar. Der Berliner Metallarbeiterstreik war der letzte Arbeitskampf von überregionaler Bedeutung, den die freien Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der dreißiger Jahre führten. Der Ausstand im Ruhrkohlenbergbau Anfang 1931 und der Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben im November 1932 wurden von der RGO initiiert. Sie scheiterten letztlich an der mangelnden Unterstützung durch die freien Gewerkschaften. Gerade die beiden zuletzt genannten Streiks bestätigen die zentrale Rolle der Verbände von ADGB und AfA-Bund für die Durchführung von Kampfmaßnahmen. Ihre Beteiligung an einem Arbeitskampf war eine der wesentlichen Voraussetzungen für seinen Erfolg. Die Zurückhaltung der freien Gewerkschaften bei der Durchführung von Streiks hatte freilich nicht nur aktuell-politische Ursachen, sondern entsprach auch einer Tradition, die die Regelung von Lohn- und Arbeitsbedingungen primär auf dem Verhandlungswege anstrebte und Streiks als letztes Mittel zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen ansah. Natürlich sind Tarifverhandlungen und Streiks keine sich ausschließenden Gegensätze, denn auch der Streik zielt auf die vertragliche Fixierung seiner Ergebnisse. Er bedeutet aber insofern eine Akzentverschiebung in der gewerkschaftlichen Politik, als er zu einer verstärkten Aktivierung der Mitgliedschaft führt. Damit werden zwar die Durchsetzungschancen gegenüber den Unternehmern erhöht, aber auch die Kompromißmöglichkeiten mit der gegnerischen Tarifpartei eingeschränkt, denn die Mobilisierung der Mitglieder hat auch die Erhöhung ihrer Ansprüche zur Folge. Zur Beurteilung des Streikverhaltens der freien Gewerkschaften sind noch zwei weitere Aspekte wesentlich. Die wachsende ökonomische Krise erhöhte die Zahl der Arbeitslosen und schwächte so die gewerkschaftliche Kampfkraft, weil sowohl die Gefahr von Streikbrüchen wuchs als auch die finanziellen Grundlagen der Verbände durch sinkende Einnahmen und steigende Unterstützungszahlungen an bedürftige Mitglieder erschüttert wurden. Die objektiven Schwierigkeiten wurden zusätzlich durch die Auffassung vieler Gewerkschaftsführer verstärkt, daß die Arbeiter in der Krise nicht streiken könnten. Diese Meinung übte auf die vorhandene Streikbereitschaft vieler Arbeiter einen demobilisierenden Einfluß aus und schwächte so die gewerkschaftliche Kampfkraft. ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Der zweite Aspekt betrifft die Haltung der freien Gewerkschaften zum Schlichtungswesen. Die Schlichtungsverordnung vom 23.12.1923 hatte die Tarifautonomie eingeschränkt. Staatliche Schlichter konnten den Tarifparteien nicht nur Einigungsvorschläge unterbreiten, sondern das Reichsarbeitsministerium konnte die Schiedssprüche für allgemeinverbindlich erklären, d.h. die Zustimmung einer oder beider Tarifparteien ersetzen. Die freien Gewerkschaften, die den demokratischen Staat als Repräsentanten des Gemeinwohls betrachteten, billigten ihm grundsätzlich zu, in die Tarifauseinandersetzungen einzugreifen, wenn sie auch der freien Vereinbarung mit den Unternehmern den Vorzug gaben. Das staatliche Schlichtungswesen werde aber, so hofften die reformistischen Gewerkschaftsführer, den noch vorhandenen Widerstand einiger Unternehmer gegen den Gedanken des kollektiven Tarifvertrages überwinden und die Position der Gewerkschaften in Branchen mit niedrigem Organisationsgrad verbessern helfen. Daß das Schlichtungswesen aber auch ein Hemmschuh für die gewerkschaftliche Organisierung der Lohnabhängigen sein konnte, weil es die „Trittbrettfahrermentalität" bestärke und die Streikmöglichkeiten beschneide, erkannte der stellvertretende ADGB-Vorsitzende Hermann Müller (-Lichtenberg) bereits 1925 (ADGB-Kongreß Breslau 1925, Protokoll S. 270). Die Kritik am staatlichen Schlichtungswesen wurde während der Regierungszeit Brünings noch stärker, weil der Kanzler das Schlichtungswesen als Instrument für den Lohnabbau einsetzte. Trotzdem hielten die freien Gewerkschaften auch weiterhin an ihrer Oberzeugung fest, daß gegen einen für allgemeinverbindlich erklärten Schiedsspruch nicht gestreikt werden dürfe (vgl. Nörpel, 1931). Offensichtlich wollten ADGB und AfA-Bund es vermeiden, durch die Mißachtung bestehender Rechtsvorschriften der Unternehmerforderung nach einer Beseitigung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung Auftrieb zu geben, wovon die Arbeitgeber sich eine bessere Möglichkeit zur Reduzierung der Lohnkosten erhofften. Die Angriffe der Unternehmer auf das Schlichtungswesen hatten bereits in der Phase der relativen Stabilisierung begonnen (für das folgende vgl. Heupel, S. 127 ff ). In der Krise wurden diese Angriffe auf die Grundlagen des kollektiven Tarifvertrages ausgedehnt. So wurden die Belegschaften des Stahlwerks Becker und der Hüttenwerke Ruhrort-Meiderich vor die Alternative gestellt, entweder zu untertariflichen Löhnen zu arbeiten oder die Stillegung des Werkes zu riskieren. Im Falle des Stahlwerks Becker in Willich stimmte der Betriebsrat mit überwiegender Mehrheit einer Betriebsvereinbarung zu, die zu einer Lohnminderung für die Arbeiter und Angestellten führte. Wesentlicher noch waren die arbeitsrechtlichen KonsequenARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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zen der Vereinbarung. Diese war zeitlich so befristet, daß das Stahlwerk Becker zwangsläufig aus der Tarifgemeinschaft des Arbeitgeberverbandes Krefeld ausschied. Deshalb lehnte der DMV diese Betriebsvereinbarung ab. Der Metallarbeiterverband geriet damit in Konflikt mit seinen Mitgliedern, denn auch die freigewerkschaftlichen Betriebsräte hatten die Vereinbarung aus Angst um den Verlust der Arbeitsplätze befürwortet. Das Entgegenkommen der Belegschaft konnte aber nicht verhindern, daß die Zahl der beschäftigten Arbeiter von 2 000 (1930) auf 600 (1932), die der Angestellten von 400 auf 85 absank. Maßgeblich für diesen Rückgang war die Auseinandersetzung über die Marktanteile am Walzdrahtmarkt.2 Demgegenüber war die Schließung der Hüttenwerke Ruhrort-Meiderich, die den Vereinigten Stahlwerken gehörten, eher konjunkturellen Gründen zuzuschreiben. Die Werksleitung hatte der Belegschaft angeboten, gegen eine 20%ige Lohnminderung den Betrieb aufrechtzuerhalten. Auch in diesem Falle lehnte der DMV das Angebot ab, weil es einen Eingriff in laufende Tarifverträge bedeutete. Die Zustimmung des Metallarbeiterverbandes wäre einer Billigung des Vorstoßes der Unternehmer gleichgekommen mit unabsehbaren Konsequenzen für das Tarifvertragssystem insgesamt. Aus zwei Gründen habe ich diese Beispiele erwähnt. Zum einen zeigen sie, wie von Seiten der Nordwestlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller schon frühzeitig auf der Ebene des einzelnen Unternehmens das Tarifvertragssystem auszuhöhlen versucht wurde, zum anderen zeigt der Fall des Stahlwerks Becker, daß die Führung des DMV das Prinzip des kollektiven Tarife Vertrages auch gegen Teile der eigenen Mitgliedschaft verteidigen mußte, wenn diese von Unternehmensleitungen ultimativ unter Druck gesetzt wurden. Es war daher verständlich, wenn die freien Gewerkschaften sich gegen die Einschränkung der Verbindlichkeitserklärung wandten, denn diese hätte das Signal zum allgemeinen Angriff der Unternehmer auf den kollektiven Tarifvertrag gegeben. Die von Repräsentanten der freien Gewerkschaften geäußerte Hoffnung, die staatlichen Schlichter würden mit ihren Schiedssprüchen die Lohnabbauforderungen mildern, erfüllten sich aber nicht. Wie bereits erwähnt, wurde vielmehr das Schlichtungswesen als Instrument zur Durchsetzung der Lohnsenkung benutzt, wenn auch den Wünschen der Unternehmer nicht in vollem Umfange entsprochen wurde. Die Taktik der Reichsregierung hatte freilich zur Voraussetzung, daß sich die tariffähigen Gewerkschaften, also die Hirsch-Dunckerschen, die christlichen und die sozialdemokratisch orientierten Arbeitnehmerverbände, dem Lohnabbau fügten und keine größeren Arbeitskämpfe führten, weil diese die innenpolitische ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Stabilität hätten gefährden können. Die wichtigste Rolle kam dabei den freien Gewerkschaften als den mitgliederstärksten Verbänden zu. Als ein wesentlicher Grund für die Passivität der freien Gewerkschaften wurde bereits die Tolerierungspolitik der SPD genannt. Ein weiterer Faktor war die Hoffnung, daß die Regierung die rechtlichen Grundlagen des kollektiven Tarifvertrages nicht antasten werde. Tatsächlich verzichtete Brüning auf Eingriffe in das Tarifrecht und lehnte die Beseitigung der Verbindlichkeitserklärung ab. Welche Bedeutung die Regierung der Vermeidung von Arbeitskämpfen beimaß, zeigt der Erlaß der Notverordnungen vom 9.1. bzw. 27.9.1931, mit denen besondere Schlichtungsverfahren zur Regelung von Tarifstreitigkeiten im Bergbau in Kraft gesetzt wurden. Angesichts der Bedeutung der Kohle als Energieträger und der starken Position der RGO im Ruhrbergbau wollte die Regierung Auseinandersetzungen im Ruhrgebiet unter allen Umständen vermeiden (Heupel, S. 126). Um dieses politischen. Zieles willen nahm die Regierung auch einen partiellen Dissens mit den Unternehmerverbänden über die Reform des Schlichtungswesens in Kauf. Dieses Zugeständnis Brünings - sofern man angesichts der lohnpolitischen Funktion des Schlichtungswesens davon überhaupt sprechen kann - erwies sich jedoch als zeitlich befristet. Mit der vierten Notverordnung vom Dezember 1931 wurde ein wesentlicher Schritt in Richtung auf die rechtliche Aushöhlung des Tarifvertragssystems getan. Die Verordnung senkte unter Eingriff in laufende Tarifverträge alle Löhne um 10 % bzw. 15 %. Die staatlichen Schlichter setzten die neuen Tariflöhne bindend fest.3 Auf diese Weise waren die Gewerkschaften vom Prozeß der Lohnfindung praktisch ausgeschlossen. Diese Notverordnung veranlaßt©denn auch den Bundesausschuß des ADGB, grundsätzlich über die Tolerierungspolitik zu diskutieren/Führende Vertreter des ADGB-Vorstandes wie Leipart, Graßmann und Eggert traten ebenso wie Tarnow vom Holzarbeiterverband und Husemann vom Bergbauindustriearbeiterverband für eine Fortsetzung der Tolerierungspolitik ein (vgl. Heupel, S. 201). Tarnow räumte zwar ein, die Gewerkschaften und die SPD könnten die Belastungen der Tolerierung nicht mehr lange tragen, lehnte jedoch eine sofortige Änderung der politischen Linie ab. Die Gewerkschaften seien aus eigener Kraft nicht mehr in der Lage, einen Lohnabbau zu verhindern. Stattdessen müsse auf den Reichsarbeitsminister Stegerwald Druck ausgeübt werden, die Verbindlichkeitserklärung zum Schutze der Arbeiter anzuwenden und für die Löhne „eine untere Grenze (zu) sichern". (ADGB-Bundesausschuß, 5. Geschäftsperiode, S. 22). Dagegen erklärte der Vorsitzende des Schuhmacherverbandes, Simon, die Tolerierung Brünings müsse ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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aufgegeben werden, denn der Reichskanzler nutze die politische Situation zur Schwächung von SPD und Gewerkschaften. Für die freien Gewerkschaften komme es vor allem darauf an, das Vertrauen der Mitglieder zu behalten. In dieser kontroversen Diskussion wurde das Dilemma der freien Gewerkschaften in der Weltwirtschaftskrise offensichtlich, nämlich sich entweder auf die Reichsregierung zu verlassen und dabei das Vertrauen der eigenen Mitglieder zu gefährden oder sich in einer Zeit"wachsender Arbeitslosigkeit mehr auf die Machtentfaltung der eigenen Organisation zu besinnen (vgl. Heupel, S. 202 ff.). Diese Problematik galt neben dem ADGB auch für den AfA-Bund. Dessen Vorsitzender Aufhäuser gehörte innerhalb der SPD-Reichstagsfraktion zu den Kritikern der Tolerierungspolitik. Innerhalb des AfA-Bundes stand Aufhäuser mit seiner Meinung nicht allein. Freilich war der Angestelltenbund als Organisation zu schwach, um einen Kurswechsel in der politischen Taktik der reformistischen Arbeiterorganisationen herbeiführen zu können. Die Beurteilung der Taktik der freien Gewerkschaften in der Wirtschaftskrise ist in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten. Stellvertretend seien dazu zwei Meinungen zitiert, die in ihrer zugespitzten Form die Pole der Auseinandersetzung markieren. H. Skrzypczak verteidigt die Position der ADGB-Führung als Ermattungsstrategie, die angesichts der Stärke des kapitalistischen Systems die einzig mögliche Taktik gewesen sei (Skrzypczak, S. 406). Demgegenüber sprechen Fülberth/Harrer von „einem bis zum Streikverzicht gesteigerten wirtschaftsfriedlichen Verhalten der Vorstände" (Fülberth/Harrer 1974, S. 228) und Seifert wirft den freien Gewerkschaften vor, sie hätten es veräumt, „den Widerstand gegen diesen Raubbau (gemeint ist der Lohnabbau, E.H.) zu organisieren" (Seifert 1977, S. 199). Beide Positionen zeichnen sich durch spezifische Einseitigkeiten aus. Skrzypczaks These läuft darauf hinaus, die Gewerkschaften als Opfer wirtschaftlicher Krisen anzusehen und ihnen jeglichen eigenen Handlungsspielraum abzusprechen - außer der Möglichkeit der Anpassungen die sich verschlechternde soziale und wirtschaftliche Lage. Skrzypczak lehnt sich mit seiner Argumentation sehr stark an die Position der ADGB-Führung an und behauptet, die Niederlage der Gewerkschaften 1933 spreche nicht notwendig gegen die Richtigkeit der freigewerkschaftlichen Politik während der Weltwirtschaftskrise (Skrzypczak in: Vetter 1975, S. 224). Nicht wegen ihres politischen Gehaltes, d.h. ihrer Rechtfertigung der Politik der freien Gewerkschaften, ist die Stellungnahme Skrzypczaks problematisch, sondern aus methodischen Gründen. Skrzypczak vernachlässigt nämlich den Aspekt, daß ökonomische Krisen auch eine politische Dimension haben, die ihrerseits wiederum auf die ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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ökonomische Situation zurückwirkt. Konkret gesprochen: Ob und in welchem Ausmaß es während der Krise zu einer Lohnreduktion kommt, hängt auch von der gewerkschaftlichen Gegenwehr ab und wird nicht einseitig durch die ökonomischen Rahmenbedingungen bestimmt. Dasselbe gilt auch für die Krisenüberwindungsprogrammatik der freien Gewerkschaften. Dabei steht natürlich außer Frage, daß auch die Änderung der wirtschaftlichen Bedingungen Rückwirkungen auf die gewerkschaftliche Strategie haben muß. Es ist also bei der Beurteilung der Politik der freien Gewerkschaften nach dem Wechselverhältnis zwischen objektiven und subjektiven, d.h. durch die gewerkschaftliche Strategie gesetzten Bedingungen zu fragen. In dieser Hinsicht ist der Kritik Deppes an Skrzypczak zuzustimmen (Deppe 1979, S. 223). Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die von Deppe zusammen mit Fülberth und Harrer herausgegebene Gewerkschaftsgeschichte diesem methodischen Postulat ebenfalls nicht genügt. Der Autor Seifert - und nur auf dessen Beitrag bezieht sich meine Kritik - unterstellt, durch ihre Weigerung, Streikkämpfe zu führen hätten die Gewerkschaften den Lohnabbau gefördert und die an sich vorhandene Streikbereitschaft der Basis unterdrückt. Die Streiks im Mansfelder Kupferbergbau und in der Berliner Metallindustrie werden nicht analysiert, Belege für eine Linksentwicklung unter der Arbeiterschaft nicht gebracht (Seifert, S. 197) und die Möglichkeiten zur Durchführung von Streikkämpfen überschätzt (z.B. ebd., S. 208,210). Bei seiner Kritik an den reformistischen Gewerkschaftsführern vernachlässigt Seifert - anders als bei der RGO (ebd., S. 192) - die objektiven Schwierigkeiten für die Initiierung von Arbeitskämpfen, so daß hauptsächlich der mangelnde Widerstandswille der Führung für die Niederlage der Arbeiterschaft verantwortlich erscheint. Seifert übersieht ferner, daß sich die objektiven Bedingungen für erfolgreiche gewerkschaftliche Politik im Laufe der Krise verschlechterten. Gerade weil er diesen Aspekt nicht mitbedenkt, kann er den Anteil, den die reformistische Politik an der Verschlechterung der Kampfbedingungen hatte, nicht bestimmen. Wie bei Skrzypczak wird das Wechselverhältnis von objektiven und subjektiven Bedingungen aufgelöst, nur nach der anderen Seite hin. In der Diskussion über den Streik und andere Möglichkeiten ausserparlamentarischer Aktion müssen die jeweiligen ökonomischen und politischen Umstände und die Strategie der freien Gewerkschaften gleichermaßen berücksichtigt werden. Die Analyse der Arbeitskämpfe, die ich an anderer Stelle vorgenommen habe (Heupel, S. 184 ff.), läßt den Schluß zu, daß im Jahre 1930, also zu Beginn der Krise, noch Streiks von überregionaler Bedeutung möglich waren. ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Der Grad der Arbeitslosigkeit war noch nicht zu hoch, die Arbeitslosen erwiesen sich in den Streiks gegen die Mansfeld-AG und gegen den Verband Berliner Metall-Industrieller nicht als Streikbrecher, die finanziellen Ressourcen der gewerkschaftlichen Verbände waren noch nicht erschöpft und der Angriff auf den sozialen Besitzstand der Arbeiterschaft bot eine ausreichende Motivation für die gewerkschaftliche Gegenwehr. Die Niederlage der Arbeiterschaft in diesen Streiks war m.E. keine zwangsläufige Folge der ökonomischen Krise, sondern wesentlich der gewerkschaftlichen Streiktaktik zuzuschreiben. Ich habe bereits auf die politische Bindung der freien Gewerkschaften an die Tolerierungspolitik der SPD hingewiesen. Wie der Ausgang des Berliner Metallarbeiterstreiks zeigte, begrenzte diese Politik auch den Spielraum bei Lohnkämpfen. Die Gewerkschaften konnten keinen Druck auf die Reichsregierung ausüben, weil die freien Gewerkschaften, ähnlich wie die SPD, vor einem Konflikt mit der Reichsregierung zurückschreckten. Gerade weil aber Brüning in der Krise Arbeitskämpfe um jeden Preis vermeiden wollten, hätte die praktizierte Bereitschaft zum Arbeitskampf Brüning kompromißbereit machen können. In diesem Zusammenhang ist auch der mögliche Einwand, die Regierung hätte die Verbindlichkeitserklärung zur Unterbindung gewerkschaftlicher Kampfmaßnahmen gebrauchen können, nicht stichhaltig, denn der Reichsarbeitsminister Stegerwald hütete sich davor, Verbindlichkeitserklärungen auszusprechen, wenn er nicht sicher sein konnte, daß diese auch von den Betroffenen akzeptiert wurden. Der Hinweis auf die parteipolitische Zersplitterung der Gewerkschaftsbewegung kann ebenfalls nicht überzeugen, denn in ökonomischen Fragen bestanden keine Divergenzen zwischen sozialdemokratischen, christlichen, Hirsch-Dunckerschen und kommunistischen Arbeitern, ökonomische Forderungen hätten also einen Hebel zur Mobilisierung der Arbeiterschaft bieten können. Eine solche Taktik hätte möglicherweise auch die politische Bindung der christlichen Gewerkschaften an Brüning und die unrealistische Politik der RGO in Frage gestellt. Es ist allerdings müßig, über die politischen Folgen eines Kurswechsels der freien Gewerkschaften zu spekulieren. Diese Bemerkungen dienten lediglich dazu, Ansatzpunkte für eine Änderung der Politik der freien Gewerkschaften aufzuzeigen, die nicht abstrakt aus Modellen „richtiger" Gewerkschaftspolitik deduziert, sondern aus der Analyse der konkreten Situation des Jahres 1930 gewonnen wurden. Im Verlaufe der Wirtschaftskrise verringerten sich die Handlungsspielräume für die freien Gewerkschaften zusehends. Die Zuspitzung der ökonomischen Situation vergrößerte die Arbeitslosigkeit ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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und erschütterte die Finanzkraft der gewerkschaftlichen Organisationen. Neben diesen objektiven Problemen erschwerten auch subjektive Momente die Durchführung von Arbeitskämpfen. Die passive Hinnahme des Lohnabbaus zu Beginn der Krisq hatte viele Mitglieder resignieren lassen. Sie trug überdies zur Spaltung innerhalb der Arbeiterschaft bei, denn sie verlieh der kommunistischen Kritik an den reformistischen Gewerkschaftsführungen Plausibilität. Die Furcht vor dem möglicherweise steigenden Einfluß der RGO vergrößerte wiederum die Abneigung der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsführer gegen Streiks. Aus den angeführten Gründen lehnte auch die Führung des ADGB um die Jahreswende 1931/32 einen Kurswechsel ab. Eine Änderung der politischen Taktik gegenüber der Reichsregierung hätte auch eine Revision der reformistischen Gewerkschaftspolitik zur Folge haben müssen. Bis dahin lag deren Hauptakzent auf der institutionellen Vertretung von Arbeiterinteressen im Rahmen von Tarifverhandlungen, bei Kontakten zur Stäatsbürokratie und in Arbeitsgerichtsprozessen. Obwohl diese Mitbestimmungsmöglichkeiten im Laufe der Krise eingeschränkt wurden, waren die objektiven Voraussetzungen für einen Kurswechsel schlechter als zu Beginn der Krise. Eine Mobilisierung der Arbeiterschaft war zum damaligen Zeitpunkt sehr viel schwieriger zu erreichen als noch im Jahre 1930. Das Fazit meiner Analyse läßt sich folgendermaßen beschreiben: Zu Beginn der Krise, als ein Kurswechsel bzw. eine entschiedene Gegenwehr unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten gewerkschaftlicher Politik noch möglich war, hielten ADGB und AfA-Bund dies nicht für notwendig, weil sie auf eine schnelle Oberwindung der Krise hofften. Als jedoch nach der Kreditkrise des Sommers 1931 ein Ende der wirtschaftlichen Depression nicht mehr absehbar war, war ein solcher Kurswechsel aus den oben angegebenen Gründen kaum noch möglich. In dieser Situation entwickelten die freien Gewerkschaften neue wirtschaftspolitische Konzepte. Sie setzten mit dem von Woytinski in seinen Grundzügen ausgearbeiteten und von Tarnow und Baade mitverantworteten Plan für eine kreditfinanzierte staatliche Arbeitsbeschaffung (WTB-Plan) und mit ihrer Forderung nach einem „Umbau der Wirtschaftsverfassung" - so die Formulierung von Otto Suhr auf dem vierten Gewerkschaftskongreß des AfA-Bundes im Oktober 1931 - neue Akzente. Die „Richtlinien zur Wirtschaftspolitik", die der AfA-Bund im März 1932 vorlegte, wurden fast unverändert zur Grundlage für das von beiden reformistischen Gewerkschaften getragene „Umbau"-Programm. Angesichts der zunehmenden Verbreitung antikapitalistischer Stimmungen und der wachsenden Popularität planwirtschaftlicher Ideen sollte das „Umbau"-ProARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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gramm die Funktion haben, der eigenen Anhängerschaft einen nichtkapitalistischen Weg aus der Krise zu zeigen und die antikapitalistischen Elemente der faschistischen Propaganda als „scheinsozialistisch" zu entlarven (vgl. Heupel, S. 208 ff.). Inhaltlich war das Programm ein Reflex auf den wachsenden Staatsinterventionismus in der Krise. Im Gegensatz zur Wirtschaftspolitik Brünings forderten die freien Gewerkschaften, der Staat dürfe nicht bei der Sozialisierung privater Verluste stehen bleiben, vielmehr müsse der Staat seine wirtschaftliche Macht zur Errichtung einer planvollen, an den Bedürfnissen der Allgemeinheit orientierten Wirtschaftsordnung nutzen (vgl. Heupel, S. 213 ff.). Um dieses Ziel zu erreichen, schlugen die freien Gewerkschaften die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien und des Bankgewerbes und den Aufbau staatlicher Planungseinrichtungen vor. Durch die Einschränkung der kapitalistischen Konkurrenz sollte die Effektivität der Wirtschaft erhöht und die Krisenanfälligkeit des Wirtschaftsablaufes gemildert werden. Nach sozialdemokratischem Verständnis hätte eine Realisierung des „Umbau"-Programms zugleich einen Schritt auf dem Weg zum Sozialismus bedeutet, denn es sah die Ausdehnung des öffentlichen Sektors und den Einbau planerischer Elemente in die Wirtschaftsordnung vor. Auf die theoretischen Grundlagen des „Umbau"-Programms bin ich an anderer Stelle eingegangen (Heupel, S. 221 ff.). Für unseren Zusammenhang ist die Frage nach den Gründen für die Nichtverwirklichung der sozialdemokratischen Forderungen relevanter. Der Hauptgrund dürfte sein, daß die traditionellen Mittel reformistischer Politik in der Krise nicht mehr griffen (vgl. Heupel, S. 224 f.). Im Sommer 1932 war der Reichstag nahezu bedeutungslos, ebenso wie der vorläufige Reichswirtschaftsrat, in dem die Gewerkschaften eine relativ starke Position innehatten. Die Gewerkschaften konnten auch auf das Präsidialkabinett Papen keinen nennenswerten Druck ausüben, denn sie stellten keinen relevanten Machtfaktor mehr dar. Der Grund hierfür lag nicht nur in der finanziellen Schwäche der Gewerkschaften und in der hohen Arbeitslosigkeit, er war auch ein Resultat der reformistischen Politik in der Krise, die zu einem Auseinanderklaffen zwischen Programmatik und politischer Praxis geführt und so die Glaubwürdigkeit von SPD und freien Gewerkschaften auch in der eigenen Anhängerschaft erschüttert hatte. Diese Schwäche war durch eine Radikalisierung des wirtschaftspolitischen Programms allein nicht zu überwinden. Immerhin hätte eine außerparlamentarische Propagierung des Programms etwa im Rahmen eines Volksbegehrens ein Ansatz für die Revision der politischen Strategie des Reformismus sein können. Ein solcher Versuch aber unterblieb. NeARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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ben den bereits oben zitierten Gründen, die eine Änderung der Strategie der reformistischen Organisation mit der Dauer der Krise zunehmend erschwerten, kam nach dem 20. Juli eine wachsende Kluft zwischen der SPD und Teilen des ADGB hinzu. Nach dem „Preußenschlag" Papens war die SPD für die freien Gewerkschaften als politischer Hebel zur Umsetzung ihrer Forderungen funktionslos geworden, Andererseits waren die freien Gewerkschaften angesichts ihrer organisatorischen und politischen Schwäche gerade auf politische Unterstützung angewiesen. Daher lehnten Teile der ADGBFührung eine kompromißlose Opposition gegen das F>apen-Kabinett und insbesondere gegen die Politik Schleichers ab. Diese Meinungsverschiedenheiten zwischen Parteiführung und Repräsentanten des ADGB standen ebenso einer massenwirksamen Propagierung des „Umbau"-Programms entgegen wie die Fixierung auf den Parlamentarismus, die trotz des Funktionsverlustes des Reichstags noch in der SPD bestand. Die von der SPD eingebrachten Gesetzentwürfe blieben Makulatur. Der WTB-Plan knüpfte theoretisch an die reformistischen Forderungen einer aktiven Konjunkturpolitik an, aber mit dem wesentlichen Unterschied, daß das Prinzip des Haushaltsausgleichs zugunsten einer Kreditfinanzierung der Arbeitsbeschaffung aufgegeben und damit die Arbeitsbeschaffung erst realisierbar gemacht wurde (vgl. Schneider 1975, S. 89 ff.). In der wissenschaftlichen Literatur ist die Diskussion in den reformistischen Arbeiterorganisationen über die Frage der Arbeitsbeschaffung zu einem ideologischen Gegensatz zwischen SPD und ADGB hypostasiert worden (vgl. Schneider 1975, S. 118 ff.; Schneider 1978, S. 226; Gates, S. 189). Wichtiger als die Diskussion über die Finanzierungsmodi erscheint mir aber die Untersuchung der politischen und ökonomischen Realisierungschancen des Planes (vgl. Heupel, S. 231 ff ). Für einen Erfolg der kreditfinanzierten Arbeitsbeschaffung ist neben der Höhe auch der Zeitpunkt der Kreditaufnahme wesentlich. Erst wenn die ökonomische Krise an ihrem Tiefpunkt angelangt ist, können Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Belebung der privaten Investitionen beitragen. Zwar war im Sommer 1932 die Krise an ihrem Tiefpunkt angelangt und infolge der eingeschränkten Lagerhaltung die Nachfrage nach Investitionsgütern in gewissem Ausmaß vorhanden, doch zeigen die Arbeitsbeschaffungsprogramme der Präsidialkabinette Papen und Schleicher, daß die Senkung der Kosten und die Verbesserung der Absatzmöglichkeiten noch nicht ausreichten, um eine nennenswerte Steigerung der Investitionen zu bewirken. Papens Maßnahmen, die Produktionskosten durch die Ausgabe von Steuergutscheinen und ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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die Ermächtigung der Unternehmer zum Lohnabbau zu senken, reichten auch infolge der fehlenden Nachfrage nicht für eine durchgreifende Belebung der Konjunktur aus. Schleichers Konzept einer Arbeitsbeschaffung durch öffentliche Aufträge stieß in Kreisen maßgeblicher Vertreter der Industrie auf Gegenwehr, weil der Kanzler die Unabdingbarkeit der Tarifverträge wiederherstellte und sich um die Unterstützung der Gewerkschaften einschließlich des „linken"Rügeis in der NSDAP bemühte. Daß Schleicher mit dieser Konzeption scheiterte, zeigt indirekt auch die geringen Realisierungsmöglichkeiten des WTB-Planes, dessen sozialpolitische Rahmenbedingungen den Interessen großer Teile der Industrie widersprachen (vgl. dazu Stegmann). Die freien Gewerkschaften und die SPD hatten nach den Septemberwahlen 1930 versucht, die NSDAP von der politischen Macht fernzuhalten, gerade weil sie die Bedeutung der faschistischen Gefahr für die Arbeiterbewegung erkannt hatten. Nicht eine angebliche Unterschätzung der faschistischen Gefahr ist deshalb den freien Gewerkschaften anzulasten (so Deppe 1979, S. 239 f. im Anschluß an Enderle), sondern eine falsche Strategie zu deren Bekämpfung. Die reformistischen Organisationen waren nämlich bereit, den - theoretisch als wirtschaftspolitisch schädlich bekämpften - Lohnabbau hinzunehmen, um das bürgerliche Lager nicht völlig in die Arme des Faschismus zu treiben. Außerdem hofften die Sozialdemokraten, durch diese Taktik die politischen und rechtlichen Grundlagen für ihre reformistische Praxis (Parlamentarismus und Tarifrecht) über die Krise hinwegretten und als Basis für neue sozialpolitische Erfolge in einer ökonomischen Aufschwungsphase nutzen zu können. Diese Hoffnung erwies sich aber angesichts der Schwere und der Dauer der Wirtschaftskrise als illusorisch. Vielmehr wurden durch die Entparlamentarisierung und die Durchlöcherung des Tarifvertragssystems die Grundlagen der reformistischen Politik selbst angegriffen. Diese Entwicklung belegt den Zusammenhang zwischen der Wahrung des sozialen Besitzstandes der Arbeiterklasse einerseits und der Existenz institutioneller Mitbestimmungsmöglichkeiten für die Arbeiterorganisationen andererseits. Letztere sind eine wesentliche Voraussetzung für das Erreichen sozialpolitischer Erfolge. Diese These gilt freilich auch umgekehrt. Ohne praktische Erfolge kann der gewerkschaftlichen Basis der Sinn institutionalisierter Mitbestimmung nur schwer vermittelt werden. Da aber die Einflußmöglichkeiten der freien Gewerkschaften hauptsächlich von ihrer Konfliktbereitschaft gegenüber den Unternehmern und der Reichsregierung abhingen, mußte die passive Hinnahme des Lohnabbaus die Durchsetzungskraft der gewerkschaftlichen Organisation schwächen. Das ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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wiederum gab denjenigen Kräften im Unternehmerlager Auftrieb, die aus ökonomischen und politischen Gründen die Arbeiterbewegung zerschlagen wollten. Die Schwäche der freien Gewerkschaften (wie auch der SPD) in der Endphase der Weimarer Republik ist also nicht unabhängig von deren reformistischer Politik zu sehen, wie dies Mommsen unter Hinweis auf die sozialstrukturellen Veränderungen in der Weimarer Republik und auf die „sozial-ökonomische Großwetterlage" behauptet (Mommsen 1975, S. 395 f.; ders. 1974, S. 110). Freie Gewerkschaften und SPD haben ja durchaus auf die Situation der lohnabhängigen und der selbständigen Mittelschichten reagiert. Ihr Scheitern liegt darin, daß sie ihre programmatischen Ziele nicht in die politische Praxis umzusetzen vermochten. 3. Die freien Gewerkschaften und die RGO Die folgenden Bemerkungen zur RGO-Politik sollen dazu dienen, die Durchsetzungschancen einer ihrem Anspruch nach revolutionären Politik und auch die Möglichkeiten eines gemeinsamen Vorgehens der sozialdemokratischen und kommunistischen Organisationen der Arbeiterbewegung zu untersuchen. Dieser Abschnitt soll sowohl zu einer komplexeren Diskussion gewerkschaftlicher Handlungsmöglichkeiten beitragen als auch hinsichtlich der Frage einer Einheitsfront Legendenbildungen entgegenwirken, die eher auf die nachträgliche Rechtfertigung sozialdemokratischer oder kommunistischer Politik als auf die Klärung historischer Sachverhalte gerichtet sind. Die „Linkswendung" in der Gewerkschaftspolitik der KPD-Führung vollzog sich bereits vor dem Beginn der Weltwirtschaftskrise. Sie ist in Zusammenhang zu sehen mit der auf dem 4. RGI-Kongreß und auf dem 6. Kongreß der Komintern beschlossenen Politik (vgl. Lange, S. 81 ff. und S. 185 ff.). Sie ist aber nicht bloßer Reflex auf die Entwicklung in der Kommunistischen Internationale, sondern auch ein Produkt der politischen und sozialen Entwicklung in Deutschland (vgl. Stolle, S. 266 ff.; Schock, S. 176 ff.; Lehndorff, S. 72 ff.) Während Schock in der ultralinken Politik der KPD vorwiegend eine Widerspiegelung radikaler Strömungen in der Arbeiterschaft sieht, führt Stolle die „Linkswendung" eher auf das Abgrenzungsbedürfnis der KPD gegenüber einem kämpferischer werdenden Verhalten der freien Gewerkschaften iaden Jahren 1927/28 zurück. Auf diese Differenzierungen kann hier nicht näher eingegangen werden. Für unseren Zusammenhang ist aber wesentlich, daß die ultralinke Gewerkschaftspolitik bereits vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise entwickelt wurde. Sie ist also kein Resultat einer materialistischen AnaARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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lyse der ökonomischen und politischen Situation in Deutschland, sondern stellt eine strategische Orientierung auf eine lediglich vermutete politische Entwicklung dar. In Obereinstimmung mit der Kl konstatierte die KPD den Beginn der „dritten Periode in der allgemeinen Krise des Kapitalismus", in der sich die Widersprüche innerhalb des „imperialistischen Lagers" zuspitzen würden und die Gefahr eines Krieges gegen die Sowjetunion wüchse. Außerdem würden sich die Klassenkämpfe in den einzelnen kapitalistischen Ländern verschärfen und zu einer Radikalisierung der Arbeiterschaft führen. Die kommunistische Gewerkschaftspolitik sollte diese prognostizierte Linksentwicklung innerhalb der Arbeiterschaft beschleunigen. Deshalb propagierte die KPD die selbständige Führung von Wirtschaftskämpfen und die Schaffung von selbständigen Streikleitungen „als das Mittel, in den Gewerkschaften die Massen gegen die Streikabwürgetaktik der Reformisten zu sammeln, und als die Methode, die Arbeitermassen selbst in die Vorbereitung, Auslösung und Leitung ihrer Streikbewegungen einzubeziehen, als eine Methode, die Einheitsfront der Arbeiter auf dem Boden eines wirklichen Klassenkampfes von unten her zu bilden" (Heckert, S. 356 f.). War diese Taktik ihrer Intention nach auch auf die Stärkung der revolutionären Opposition innerhalb der freien Gewerkschaften gerichtet, bewirkte sie in der Praxis doch das genaue Gegenteil. So führte z.B. der Streik der Berliner Rohrleger zum Ausschluß dieser Branche aus dem DMV. Als Rechtfertigung für diese Maßnahme diente der Verbandsleitung die Berufung auf den Bruch der Organisationsdisziplin (Jahrbuch des ADGB 1930, S. 253 ff.). Die RGO-Taktik lieferte also für die reformistische Gewerkschaftsführung einen geeigneten Vorwand, sich einer unbequemen Opposition zu entledigen. Von Seiten der RGO wurde der Streik aber als Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Politik gewertet. Er belege, daß auch gegen den Willen der Reformisten Wirtschaftskämpfe entsprechend den Resolutionen des 4. RGI-Kongresses geführt werden könnten, wenn ein revolutionärer Vertrauensleutekörper in den Betrieben vorhanden sei. Außerdem habe der Streik zur Desillusionierung der Arbeiter über die reformistischen Gewerkschaftsführer beigetragen, indem er ihnen „in geradezu bengalischer Beleuchtung die Verbundenheit des sozialdemokratischen Gewerkschaftsapparates mit den Trustkapitalisten" gezeigt habe (Peschke 1929 b, S. 368). Diese Analyse ging freilich mit Stillschweigen über den Umstand hinweg, daß die erhoffte Unterstützung der kommunistischen Taktik innerhalb der freien Gewerkschaften ausgeblieben und damit ein wesentliches Ziel nicht erreicht worden war. ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Die Rechtfertigung für die Taktik der RGO lieferte die These, der Reformismus habe sich in den Sozialfaschismus verwandelt. Die Bourgeoisie könne ihre politische Herrschaft nicht mehr mit demokratischen Mitteln sichern, weil sie gezwungen sei, zur Verbesserung der internationalen Konkurrenzfähigkeit die Löhne der Arbeiter zu senken. Gerade weil die Arbeiterklasse sich gegen den Lohnabbau wehre, sei die Bourgeoisie zur Anwendung faschistischer Methoden gezwungen (vgl. z.B. Peschke 1929 a). Nach Peschke, dessen Thesen hier stellvertretend für viele Stellungnahmen angeführt werden, waren die „Bestrebungen des herrschenden Trustkapitals nach Aufrichtung der faschistischen Diktatur" ein Ausdruck für die Stärke der Arbeiterklasse, die von der Abwehr zur Gegenoffensive übergehe (ebd., S. 409). In dieser Situation müsse auch die Sozialdemokratie zu faschistischen Methoden greifen, um den wachsenden Einfluß der Kommunisten in den Gewerkschaften zu unterbinden. Denn nur wenn die Arbeiterschaft vom Kampf gegen die Bourgeoisie abgehalten werde, könne die SPD ihre Positionen im Staatsapparat sichern und einen Beitrag zur Rettung des kapitalistischen Staates leisten. Als Beleg für den sozialfaschistischen Charakter der SPD und der Führung der freien Gewerkschaften führte Peschke das Vorgehen der Berliner Polizei gegen demonstrierende Arbeiter am 1. Mai 1929 und die Ausführungen von Otto Wels über die Haltung der SPD zur Frage der Diktatur auf dem Magdeburger Parteitag an. Auch in die Betriebe sei das „sozialfaszistische Gift" bereits gedrungen, wie die Zusammenarbeit sozialdemokratischer Betriebsräte mit der Unternehmensleitung bei der Maßregelung kommunistischer Betriebsräte beweise (ebd., S. 413). Aus seinen Überlegungen zog Peschke folgende Schlußfolgerung: „Der Sozialfaszismus ist der Arbeiterklasse gefährlicher, als der offene, gelbe Faszismus (der NSDAP bzw. des Stahlhelm, E.H.), weil die Arbeiter ihn schwerer und weniger deutlich wegen seiner sozialen Verkleidung erkennen. Darum gilt es überall im Betrieb den Kampf nicht nur gegen die offenen Faszisten zu führen, sondern auch gegen die verkappten, unter der Maske des sozialdemokratischen Biedermannes einherstolzierenden Faszisten, die alle Schandtaten der SPD- und Gewerkschaftsführer gegen das Proletariat dekken und mitmachen" (ebd., S. 414).
Die analytische Schwäche des Faschismusbegriffs der KPD, für die letztlich jede politische Kraft außerhalb ihrer eigenen Organisation eine Variante des Faschismus war und die deshalb die Spezifik des Nationalsozialismus verfehlte, braucht an dieser Stelle nicht näher erläutert zu werden (vgl. Lonne, Wieszt, Tjaden). Wesentlich für die Beantwortung der Frage nach den Möglichkeiten eines gemeinsamen Abwehrkampfes der Arbeiterbewegung gegen den FaschisARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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mus ist aber der Hinweis, daß in der kommunistischen Konzeption zwischen der Analyse der politischen Situation in Deutschland, der Sozialfaschismusthese und der Taktik der „Einheitsfront von unten" ein Zusammenhang bestand. Wenn man - wie die KPD/RGO - der Meinung war, daß einerseits die Möglichkeit eines revolutionären Aufschwungs gegeben und andererseits die SPD-und Gewerkschaftsführung untrennbar mit dem kapitalistischen System verbunden sei, dann war die Propagierung der „Einheitsfront von unten" die konsequente Taktik, denn nur durch die Lösung der sozialdemokratischen Arbeiter von ihrer Führung konnten dann die subjektiven Voraussetzungen für eine proletarische Revolution geschaffen werden. Dies? Interpretation verzeichnete die politische Realität in Deutschland zu Beginn der Weltwirtschaftskrise. Die Forderungen der Unternehmer nach Abbau der Löhne und Sozialleistungen zwangen die freien Gewerkschaften in die Defensive und führten zum Sturz der großen Koalition, gerade weil die bürgerlichen Parteien, insbesondere die DVP, glaubten, der gewünschte Sozialabbau sei nur gegen bzw. ohne die SPD durchzuführen (vgl. z.B. Mammach). Die skizzierte strategische Einschätzung und die daraus resultierende Einheitsfronttaktik behielten KPD und RGO - mit einigen zeitlichen Modifikationen - bis zur „Machtergreifung" der Nationalsozialisten bei. Diese These wird durch die Einschätzung der Streikkämpfe von seiten der KPD/RGO bestätigt. Die RGO interpretierte die Tarifkonflikte des Jahres 1930 als Bestätigung ihrer Taktik. Die Haltung des DMV im „Nordwestkampf", der den Arbeitern geraten hatte, sich gegen die Kürzung der übertariflichen Zulagen zwar in den Betrieben zu wehren, der aber nicht gegen den für verbindlich erklärten Schiedsspruch streiken wollte, wurde als „demagogisches Spiel" und Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse gewertet.4 Allerdings wurde die ungenügende organisatorische Verankerung der RGO in den Betrieben und die „ungenügende revolutionäre Festigkeit" der RGO-Anhänger, die die radikalen Phrasen der sozialdemokratischen Betriebsräte nicht entlarvt hätten, ebenfalls kritisiert.5 Die Streiks im Mansfelder Kupferbergbau und in der Berliner Metallindustrie wurden als Beleg für den wachsenden Einfluß der RGO und für den schwindenden Einfluß der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsführung gedeutet (Miller, Peschke 1930). Während dieser Streiks versuchte die RGO selbständige Streikleitungen zu bilden und kritisierte die RGO-Anhänger, die mit sozialdemokratischen Betriebsräten zusammenarbeiteten, als „Opportunisten". An diesem Beispiel zeigt sich, daß es der RGO vorwiegend ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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um die Gewinnung sozialdemokratischer Arbeiter und/oder um die „Entlarvung" sozialdemokratischer Gewerkschaftsfunktionäre ging. Ein solches Verhalten mußte die Spaltung der Arbeiterschaft vertiefen, und zwar gerade zu einem Zeitpunkt, in dem mit dem Berliner Metallarbeiterstreik Ansätze für eine gemeinsame Aktion der Metallarbeiter gegeben waren. Nach dem Berliner Metallarbeiterstreik gingen KPD und RGO noch einen Schritt weiter in Richtung auf die vollständige Spaltung der Gewerkschaftsbewegung, indem sie in Anknüpfung an die Beschlüsse des 5. RGI-Kongresses einen „roten" Metallarbeiterverband gründeten. Die Bildung eigener RGO-Gewerkschaften konnte von der Führung und der Mitgliedschaft der freien Gewerkschaften nur als Spaltungsversuch begriffen werden. Deshalb mußten auch Einheitsfrontangebote von kommunistischer Seite unglaubwürdig wirken. In der „Wendung" der kommunistischen Gewerkschaftspolitik lag allerdings eine gewisse Logik. Wenn die kapitalistischen Widersprüche sich verschärften und die Arbeiterschaft sich radikalisierte, dann war es naheliegend, diesen Prozeß durch die Bildung eigener Organisationen zu fördern, zumal die Führung durch die KPD/RGO als wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung eines revolutionären Bewußtseins angesehen wurde. Obwohl die RGO-Funktionäre die Notwendigkeit betonten, auch weiterhin in den freien, den christlichen und den Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften Fraktionsarbeit zu leisten, führte die Gründung selbständiger RGO-Verbände faktisch zum Ende innergewerkschaftlicher Arbeit. Viele RGO-Anhänger verstanden nicht, weshalb sie weiter in den nichtkommunistischen Gewerkschaften arbeiten sollten, da sie doch jetzt ihre eigenen Verbände hatten. Außerdem erleichterte die Existenz der „roten" Verbände es den Gewerkschaftsleitungen, kommunistische Arbeiter aus den freien Gewerkschaften auszuschließen. Die kommunistische Gewerkschaftspolitik schätzte das Verhalten der Arbeiterschaft falsch ein. In Wirklichkeit konnte nämlich keine Rede von einem „revolutionären Aufschwung" sein. Die RGO überschätzte ihre Rolle bei der Initiierung von Streikkämpfen bei weitem. So schrieb Clara Zetkin in einem Brief an die von der SPD zur KPD übergetretene Maria Reese über ein Einheitsfrontorgan der KPD Anfang 1931: „Dagegen haut der Artikel .Was lehrt uns der Berliner Metallarbeiterkampf?' neben das Ziel, die Rote Einheitsfront der Klasse, der Werktätigen schmieden zu helfen. Er ist vom Geist der RGO diktiert und das bedeutet: Spaltung der Gewerkschaften. Seine Kritik der Gewerkschaftsbürokratie,der Sinzheimeriade, der SPD-Führer konnte schärfer, brandmarkender sein: das würden die Massen als richtig empfinden, verstehen. Allein das aus dem Löwenfell ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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der Kritik herausstehende Eselsohr der Spaltung wird sie stutzig machen in einem Organ, das für die rote Einheitsfront wirbt (...). Falsch, eine gefährliche Selbsttäuschung erscheint mir die Auffassung - sie ist obendrein fett gedruckt - daß der Streik ,den entschlossenen Kampfswillen (sie), die gewaltige Kampfkraft des deutschen Proletariats gezeigt hat*. Die Metallarbeiterschaft hat mit materieller Solidarität und Demonstrationen den Streik außerordentlich schwach unterstützt und nicht einmal die Hunderttausende kommunistische (sie) Wählermasse des 14. September sind mit voller Energie aktiv für die tapferen Kämpfenden eingetreten. Der Einfluß der RGO und der KPD war nicht stark und verwurzelt genug, um sie dazu zu veranlassen."6
Auch die Streiks im Januar 1931, die von der RGO geführt wurden, sind kein Widerspruch zu der vorgetragenen These. Obwohl die RGO über einen relativ starken Einfluß unter der Ruhrbergarbeiterschaft verfügte, gelang es ihr nicht, die Bergarbeiter in größerer Zahl zu einem längeren Streik zu veranlassen. Dabei spielte sicherlich die Haltung des Bergbauindustriearbeiterverbandes und der beiden anderen tariffähigen Gewerkschaften eine Rolle, die den Ausstand als „wilden Streik" ablehnten und die Bergarbeiter zur Weiterarbeit aufforderten. Dieses Verhalten wiederum bestärkte gerade die KPD/ RGO in ihren Ansichten über die „sozialfaschistische" Gewerkschaftsbürokratie. Bedenkt man ferner, daß in einer - allerdings niGht genau feststellbaren - Zahl von Fällen sozialdemokratische Betriebsräte der Entlassung kommunistischer Kollegen nach wilden Streiks zugestimmt haben7 und daß die preußische Polizei die Tätigkeit der KPD und RGO durch das Verbot von Zeitungen und die Beschlagnahme von Flugblättern behinderte8, so muß man auch das Verhalten der Sozialdemokratie für die Aufrechterhaltung der Spaltung in der Arbeiterbewegung mit verantwortlich machen. Dabei darf aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, daß die KPD/RGO durch ihre ultralinke Politik bzw. durch ihre Agitation gegen die Weimarer Republik diese Reaktionen zum Teil mit provoziert hat. Die KPD bzw. die RGO revidierten im Verlaufe der Krise ihre Streikstrategie nicht, obwohl sie selbst feststellen mußten, daß sie größere Streiks nicht auszulösen vermochten. Sie interpretierten dieses Scheitern als Beweis für die relative Stärke der freien Gewerkschaften und für die Schwächen der eigenen Arbeit.9 Die Frage, wie dieser Sachverhalt mit der These von der angeblichen Linkswendung der Arbeiterschaft zu vereinbaren sei, wurde allerdings nicht erörtert. Die zitierten Aussagen der RGO bedeuteten das Eingeständnis des Scheiterns ihrer Gewerkschaftsstrategie. Wenn der Chefredakteur des RGO-Organs „Betrieb und Gewerkschaft", Erich Auer, noch im Februar 1932 von einer wachsenden Radikalisierung der Massen und einer Steigerung ihres Kampfwillens sprach, so kam ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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dies einer glatten Selbsttäuschung gleich (E. Auer). Die Realitätsferne vieler RGO-Spitzenfunktionäre dokumentierte Jeschke auf einer Tagung des RGO-Bezirks Berlin-Brandenburg-Lausitz. Er kritisierte die Funktionäre der eigenen Organisation wegen deren mangelnder Einsatzbereitschaft bei der Abwehr des Lohnabbaus und gab anschließend die Parole des politischen Massenstreiks aus.10 Indem subjektives Versagen der eigenen Anhänger für die Niederlagen der RGO verantwortlich gemacht wurde, lenkte die RGO-Führung von den objektiven Schwierigkeiten, die sich - wie erwähnt im Laufe der Krise erhöht hatten, ab. Nur so konnte die RGO weiter von der These eines revolutionären Aufschwungs ausgehen. Die überdies diskontinuierlichen - Stimmengewinne der KPD können nicht als Beweis für die Richtigkeit der kommunistischen These angeführt werden, denn sie sind eher als Ausdruck des Protestes vor allem gegen die Politik der reformistischen Arbeiterorganisationen zu werten. Gerade ihr Mißverhältnis zur Zahl der von der RGO geführten Streikaktionen, das von der KPD bzw. RGO immer wieder beklagt wurde, belegt, daß an der kommunistischen Basis kaum revolutionäres Bewußtsein vorhanden war. Der Hauptgrund für den erwähnten Realitätsverlust der RGO- und KPD-Führung dürfte in der zunehmenden Isolierung der Kommunisten von den Betriebsarbeitern selbst gelegen haben. Die Entlassung vieler Kommunisten wurde durch die steigende Arbeitslosigkeit und durch die RGO-Taktik der Durchführung selbständiger Streikkämpfe gefördert, so daß die KPD/RGO auf dem Höhepunkt der Krise kaum noch über relevante Positionen in den Betrieben verfügte. Im Frühjahr 1932 mdtelifizierte das ZK der KPD seine Einheitsfronttaktik. Einen Tag nach den Wahlen zum preußischen Landtag, die die Nationalsozialisten einen großen Sieg gebracht hatten, richtete die KPD einen Aufruf an alle deutschen Arbeiter, in dem sich die Partei bereit erklärte, mit allen Arbeiterorganisationen zusammenzuarbeiten, die gegen den Lohn- und Unterstützungsabbau zu kämpfen bereit seien. In dem Aufruf waren auch Angriffe gegen die Politik von SPD und ADGB enthalten, die den „Vorwärts" veranlaßten, die Ehrlichkeit des kommunistischen Angebots in Zweifel zu ziehen („Vorwärts" Nr. 195 v. 26.4.). Die meisten Führer in der SPD und in den freien Gewerkschaften befürchteten, daß die Einheitsfrontparöle nur dazu dienen sollte, die sozialdemokratischen Anhänger zur KPD/ RGO hinüberzuziehen und daß der Kampf gegen die NSDAP nicht im Vordergrund stünde. Diese sozialdemokratischen Zweifel erklären sich aus der kommunistischen Taktik der „Einheitsfront von unten", die auch auf die „Entlarvung" reformistischer Arbeiterführer gerichtet war. Ziel kommunistischer Angriffe waren vor allem linke ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Sozialdemokraten, da deren „Täuschungsmanöver" die Arbeiter vom Übertritt zur KPD abhielten. Andererseits hatten SPD und freie Gewerkschaften die Kommunisten, in denen sie Feinde der Demokratie und „Befehlsempfänger Moskaus" sahen, publizistisch und administrativ bekämpft, so daß im Frühjahr 1932 sehr schlechte Voraussetzungen für die Bildung einer Einheitsfront gegeben waren. Es kam zu keinen direkten Kontakten oder gar Verhandlungen zwischen den angesprochenen Organisationen. Die Diskussion fand in den jeweiligen Presseorganen statt und lief sich bereits in der Frage der Voraussetzungen für eine Einheitsfront fest. Aufhäuser und Künstler - prominente Berliner Sozialdemokraten, die die Tolerierungspolitik wiederholt kritisiert hatten - forderten von der KPD einen „Bürgfrieden", d.h. den Verzicht auf öffentliche Kritik an der SPD bis zum Ende des Reichtstagswahlkampfes (Vorwärts v. 10.6. bzw. v. 15.6.). Diese Forderung wurde von der KPD abgelehnt. Deshalb unternahm auch der Bundesvorstand des ADGB keinen Versuch, zwischen SPD und KPD zu vermitteln (vgl. GewerkschaftsZeitung 1932, S. 412 f.). Die in gegensätzlichen politischen Strategien wurzelnde Feindschaft zwischen reformistischen und kommunistischen Arbeiterführern war zu groß und außerdem durch die Krise noch verschärft worden, als daß eine Einheitsfront eine realistische Alternative hätte sein können (vgl. auch Mommsen 1975, S. 396). Die Spitzen der reformistischen Arbeiterorganisationen riefen die Arbeiterschaft zur Einigkeit gegenüber der faschistischen Gefahr auf aber unter ihrer Führung. An einem organisatorischen Zusammengehen mit kommunistischen Organisationen waren sie zu keiner Zeit interessiert. Die KPD richtete zwar am 20. Juli 1932 bzw. am 30. Januar einen Aufruf zum Generalstreik an SPD und ADGB, doch waren diese Proklamationen nicht glaubwürdig, bedingt durch die ultralinke Taktik von KPD und RGO. Als die SPD am 20. Juli 1932 ihre Position in Preußen kampflos räumte und die KPD bei den Reichstagswahlen Stimmen gewann, vollzog sie wieder eine Linkswendung in der Einheitsfrontpolitik.11 Noch im November 1932 konstatierte das Reichskomitee der RGO einen „revolutionären Aufschwung" und bezeichnete die SPD als die „soziale Hauptstütze der Bourgeoisie".12 Dementsprechend wurde auch für die Betriebsrätewahlen des Jahres 1933 die Parole der Einheitsfront von unten herausgegeben, die mit der schärfsten Kritik an dem „faschistischen Kurs der reformistischen Gewerkschaftsführer" zu verbinden sei.13 Durch ihre verfehlte Einheitsfrontpolitik, die ihrerseits in einer gravierenden Fehleinschätzung der politischen Entwicklung in Deutschland begründet war, haben KPD und ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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RGO die Spaltung innerhalb der Arbeiterschaft vertieft und damit wesentlich zur Niederlage der Arbeiterbewegung beigetragen.14 Die Politik der RGO kann als direkte Umkehrung der freigewerkschaftlichen Strategie in der Weltwirtschaftskrise begriffen werden und so war sie ja auch intendiert. Während die freien Gewerkschaften die Abwehrmöglichkeiten in der Anfangsphase der Krise unterschätzten bzw. nicht ausschöpften, lag der kommunistischen Politik eine Oberschätzung der Aktionsmöglichkeiten der Arbeiterschaft und eine Fehleinschätzung ihres Bewußtseinsstandes zugrunde. Die Aufnahme politischer Losungen in den RGO-Streiks trug eher zur Isolierung der Streikenden als zu einer Solidarisierung der übrigen Belegschaftsmitglieder bei, weil sie in teilweise unverhüllter Form die Führungsrolle der KPD herausstrichen. Dagegen setzten die von den freien Gewerkschaften geführten Arbeitskämpfe bei den ökonomischen Forderungen an. Auf diese Weise war eine geeignete Basis für ein geschlossenes Vorgehen der Belegschaften zu erreichen. Diese Auseinandersetzungen hatten gleichwohl eine politische Dimension, weil es sich um die Frage der Krisenlösung drehte, in die sich angesichts der Bedeutung der beteiligten Tarifparteien auch der Staat einschaltete. Wie bereits erwähnt, zeigte sich an diesem Punkt die zentrale Schwäche der reformistischen Gewerkschaftspolitik, die keinen Konflikt mit dem Staatsapparat eingehen wollte. 4. Resümee Die Frage, ob „die Gewerkschaften die Weimarer Republik (hätten) retten können" (vgl. die Referate von Skrzypczak und Deppe in: Vetter 1980, S. 141 ff., 151 ff.) muß meines Erachtens modifiziert werden. Versteht man unter dem Begriff „Weimarer Republik" den in der Weimarer Reichsverfassung kodifizierten sozialen Kompromiß zwischen den politisch ausschlaggebenden Repräsentanten von Bürgertum und Arbeiterklasse, dann kann das Ende dieser Republik - wie es ja schon Rosenberg getan hat (Rosenberg, S. 211) spätestens mit dem Sturz der großen Koalition festgesetzt werden. Weisbrod hat darauf hingewiesen, daß die Bestrebungen, den sozialen Kömpromiß mit der Arbeiterbewegung aufzukündigen, bereits in der Phase der relativen Stabilisierung begannen (Weisbrod in: Vetter 1980, S. 203). Insofern waren die Voraussetzungen für die Bewahrung der demokratischen Republik von Weimar von bürgerlicher Seite bereits zu Beginn der Krise nicht mehr gegeben. Die freien Gewerkschaften gingen aber ebenso wie die SPD davon aus, daß Teile des Bürgertums, vor allem das Zentrum, an einem, wenn auch vielARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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leicht modifizierten, parlamentarischen System und an der Fortexistenz des kollektiven Arbeitsrechts interessiert seien. Diese Kräfte gegenüber der extremen Rechten zu unterstützen und nicht durch eine rücksichtslose Opposition in die Arme der Nationalsozialisten zu treiben, war die Zielsetzung der Tolerierungspolitik. Diese Politik der SPD band auch die freien Gewerkschaften und schwächte deren Widerstand gegen die Lohnsenkungspolitik der Regierung. Die Taktik der freien Gewerkschaften in den Streikkämpfen im Jahr 1930 ist wesentlich politisch begründet und nicht in erster Linie mit der Arbeitslosigkeit zu erklären. Während des Jahres 1931 verschlechterten sich allerdings die Bedingungen für Streiks, und zwar als Resultat der vorausgegangenen Niederlagen in den Arbeitskämpfen und als Reaktion auf die Zuspitzung der ökonomischen Situation. Mit der Verschärfung der Krise schwanden auch die Voraussetzungen für die Tolerierungspolitik, weil die NSDAP infolge ihres wachsenden Masseneinflusses auch zu einem potentiellen Bündnispartner des Bürgertums wurde und die SPD und die freien Gewerkschaften durch ihre Taktik immer mehr an politischem Einfluß verloren. Der Papen-Staatsstreich in Preußen bildete den Schlußstein dieser Entwicklung. Seit dem 20. Juli 1932 gab es vermehrt Divergenzen zwischen der SPD-Führung und Repräsentanten der freien Gewerkschaften, die wegen ihrer Schwäche die Anlehnung an die Staatsmacht, insbesondere während der Kanzlerschaft Schleichers suchten. Die Frage, ob Leipart sich über den Willen der SPD hätte hinwegsetzen und die Führung des ADGB sich an einer Gewerkschaftsachse" zur Unterstützung der Politik Schleichers hätte beteiligen sollen, verdeckt eher das entscheidende Problem: die freien Gewerkschaften waren ebenso wie die SPD nicht mehr in der Lage, eine Machtübernahme Hitlers zu verhindern. Dieser Sachverhalt ist auch ein Resultat der reformistischen Politik in der Krise (vgl. Heupel, S. 244 ff.). Indem die reformistischen Organisationen vor der Aufgabe versagten, den Nationalsozialismus politisch zu bekämpfen und eine glaubwürdige Alternative zur Politik der Präsidialkabinette,zu entwickeln, trugen sie Mitverantwortung für den Regierungsantritt Hitlers. Aus der Geschichte der freien Gewerkschaften in der Schlußphase der Weimarer Republik lassen sich - wie aus der Geschichte überhaupt - keine unmittelbaren Handlungsanweisungen oder „Lehren" für die gewerkschaftliche Praxis der Gegenwart ziehen. Vor dem Hintergrund der Analyse der Entwicklung der Gesellschaft im allgemeinen und der freien Gewerkschaften im besonderen lassen sich aber Überlegungen formulieren, die für die Konzipierung der gewerkschaftlichen Politik, zumal in einer Krisensituation, releARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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vant sein können. Hervorzuheben ist erstens der Zusammenhang zwischen der Möglichkeit, materielle Konzessionen für die Lohnabhängigen erreichen zu können, und der Möglichkeit institutioneller Mitbestimmung im Parlament und im Rahmen des Tarifvertrags- und Arbeitsrechtssystems. Das zeigt die fast parallele Entwicklung von Lohn- und Sozialabbau einerseits und der Einschränkung des Parlamentarismus bzw. der Aushöhlung des Tarifvertragssystems andererseits. Dieser Sachverhalt wurde auch explizit formuliert in Stellungnahmen von Seiten der Unternehmer zu Beginn der Krise und mit entgegengesetzter Intention - von Seiten der reformistischen Arbeiterorganisationen während des Wahlkampfes 1930. Die Tolerierungspolitik von SPD und freien Gewerkschaften zeigte zweitens, wie fragwürdig es ist, die (vorläufige) Erhaltung der rechtlichen Grundlagen mit materiellen Konzessionen zu erkaufen, weil das in der Regel auch zu einer Schwächung der eigenen Durchschlagskraft führt. Freilich muß eine solche Taktik nicht mit einer Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung enden, denn das hängt von den politischen Zielsetzungen der Gegenseite ab, doch erleichtert sie eine dauerhafte Schwächung der Gewerkschaften. Drittens ist hervorzuheben, daß gerade der gewerkschaftlichen Politik zu Beginn einer Krise entscheidende Bedeutung zukommt. In dieser Phase ist die gewerkschaftliche Position noch relativ am stärksten und die Gewerkschaften haben die Möglichkeit, sich antizipativ auf kommende soziale und ökonomische Probleme einzustellen und sie in ihrem Sinne zu beeinflussen, Wie wichtig ein solches Moment ist, zeigt sich ex negativo in der Praxis der freien Gewerkschaften während der Krise. Die gewerkschaftlichen Krisenbekämpfungsvorschläge waren vorwiegend eine Reaktion auf bereits existierende Probleme. Dieser Umstand erschwerte zusätzlich die Durchsetzung der reforr mistischen Programmatik gegenüber der ökonomisch überlegenen Unternehmerposition. Über die notwendige Voraussetzung für eine solche Taktik, eine einigermaßen verläßliche Einschätzung der ökonomischen Situation, verfügten die freien Gewerkschaften in den Jahren der Krise nicht; sie hinkten eher hinter den Prognosen des Instituts für Konjunkturforschung her. Viertens erscheint es notwendig, die durch die Krise verstärkt auftretenden Spaltungsiendenzen in der Arbeiterschaft zu bekämpfen. Die publizistischen Angriffe gegen den „Mißbrauch" der Arbeitslosenversicherung oder gegen das „Doppelverdienertum" verdeckten die gesellschaftlichen Ursachen der Arbeitslosigkeit und bereiteten die Angriffe auf die Löhne aller Lohnabhängigen bzw. die Entlassung von Arbeitskräften vor. Diese Folgerungen gewinnen in der gegenwärtigen Situation an Aktualität. Sie verweisen - ungeachtet aller politischen und ökonoARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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mischen Unterschiede - auf strukturelle Ähnlichkeiten zwischen der Wirtschaftskrise in den dreißiger Jahren und der Krisensituation in der Bundesrepublik. Anmerkungen 1 Die Begriffe „reformistisch" und „sozialdemokratisch" werden von mir synonym gebraucht. Die Politik von SPD, ADGB und AfA-Bund beruhte auf den gleichen theoretischen Grundlagen. Deshalb erscheint es mir gerechtfertigt, sie unter dem Begriff „reformistische Arbeiterorganisationen" zusammenzufassen. Vgl. zum Reformismusbegriff und zur Kritik gängiger Reformismusdefinitionen Heupel, S. 13 ff. u. S. 235 ff. 2 Die Akten zu diesem Vorgang befinden sich im Preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe, vgl. ZStA II, Rep. 120 BB, VI11, Nr. 3 b, Bd. 13, Bl. 525, Bl. 642 ff., Bl. 727 ff., ebd. Bd. 14, Bl. 49 ff., ebd. Bd. 16, Bl. 372 ff. 3 Vgl. ZStA I, Reichsarbeitsministerium, Nr. 2466, Bl. 108 4 Dokumentation über„die Tätigkeit der reformistischen und christlichen Gewerkschaftsbürokratie und die nationalsozialistischen Untemehmerknechte im Nordwestkampf 1930", in: HStA Düsseldorf, R.D. Nr. 30 645 b, Bl. 138 ff. 5 „Die BL (Bezirksleitung, E.H.) Ruhrgebiet über die Lehren des NordwestKampfes", in: Der Parteiarbeiter 1930, S. 233 f. 6 Vgl. BA Koblenz, Kleine Erwerbungen 379 - 1 , Bl. 13 f. 7 Vgl. zwei Fälle in: ZStA I, Reichsarbeitsministerium, Nr. 393, Bl. 226 f. u. ebd. Nr. 473, Bl. 223 f. 8 Vgl. die Belege in: HStA Düsseldorf, R.D. Nr. 30 656 a und b, passim 9 Vgl. ferner z.B. Kursusmaterial: Revolutionäre Streikführung und Gewerkschaftsarbeit, hg. vom ZK der KPD, in: HStA Düsseldorf, R.D. Nr. 30 642 c, Bl. 115 ff. 10 Vgl. ZStA II, Rep. 120 BB, VI, Nr. 184, Bl. 123 ff. Bei dieser Quelle handelt es sich um einen Observantenbericht. Mögliche Einwände gegen die Aussagefähigkeit dieser Quelle scheinen mir aber unbegründet, weil ein Vergleich mit Rundschreiben der KPD/RGO die Glaubwürdigkeit der Quelle bestätigt. 11 Klarheit in der Einheitsfrontbewegung, in: Betrieb und Gewerkschaft 1932, S. 226-228, hier S. 227:„Das Ziel der Einheitsfrontpolitik ist, die Mehrheit des Proletariats für den revolutionären Klassenkampf zu gewinnen und mit ihr den Widerstand gegen aile Feinde des Proletariats zu organisieren. Können wir aber dieses Ziel erreichen, wenn wir darauf verzichten die Politik der Sozialdemokratie und des ADGB vor der gesamten Arbeiterschaft anzuprangern? Das ist gegenwärtig umso notwendiger, wo die Führer dieser Organisationen mit ihrer Scheinopposition gegen das Kabinett Papen den Versuch machen, neue Illusionen in den Köpfen der Arbeiter zu erwecken." 12 Vgl. HStA Düsseldorf, R.D. Nr. 30 645 k, Bl. 226 ff. 13 Vgl. HStA Düsseldorf, R.D. Nr. 30 645 I, Bl. 76 ff., hier Bl. 77 ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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14 Deshalb muß auch die These Bernhard von Mutius' zurückgewiesen werden, der es der KPD als historisches Verdienst anrechnet, „diese Politik (des Faschismus, E.H.) erkannt (...) und den Kampf gegen diese mit dem Ziel der Einheitsfront vorangetrieben zu haben." (Mutius, S. 244). Diese Argumentation verkennt die inflationäre Verwendung des Wortes „Faschismus" im Sprachgebrauch von KPD und RGO, die - trotz der Differenzierung zwischen „Nationalfaschisten" und „Sozialfaschisten" - zur Legitimierung der ultralinken Taktik der „Einheitsfront von unten" diente.
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Die Politik der RGO. Dargestellt am Beispiel der Arbeitslosenpoiitik in Hamburg 1. Literatur In der neueren Literatur zur Gewerkschaftspolitik der KPD und zur Entwicklung der RGO läßt sich eine Tendenz zur Abkehr von der reinen Organisationsgeschichtsschreibung feststellen. Bei der übereinstimmenden Einschätzung, daß die RGO-Politik zwischen 1930 und 1933 scheiterte, konzentrieren sich die Autoren vor allem auf die Ursachenanalyse dieses Scheiterns, wobei zunehmend weniger der Zusammenhang zwischen Komintern- und KPD-Politik, als die Bedingungsfaktoren der Situation in Deutschland untersucht werden. Als politisch konträre Positionen sind zunächst die Arbeiten von Eisner und Lehndorff zu nennen. Eisner wirft der KPD die aktive Spaltung der Gewerkschaften vor. Sie habe die Einheitsfront mit der Sozialdemokratie durch ihre Sozialfaschismusthese und die Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten unmöglich gemacht. Sie habe in vielen Bereichen ihrer Politik illegal gehandelt und in von ihr provozierten Straßenschlachten despotisches, gewalttätiges Verhalten gezeigt. Eisners Wertung dieser Politik ist eindeutig: angesichts des drohenden Faschismus trifft die Schuld am Scheitern der Gewerkschaftsbewegung die KPD, da sie nur zerstören wollte, aber der Krise nichts Positives entgegenzusetzen hatte. Anders der sozialdemokratisch beeinflußte Teil der Gewerkschaftsbewegung: er verfügte zwar über ein realistisches Krisenbewältigungskonzept, konnte sich aber aufgrund der internationalen Entwicklung, des Krisenverlaufes, des Bewußtseinsstandes der Mehrheit der Bevölkerung und nicht zuletzt der Spaltung der Bewegung nicht durchsetzen. Eisners Einschätzung läuft letztlich auf eine Verteidigung des Reformismus hinaus, der mehr oder weniger zufällig scheiterte: „Verneint man die Möglichkeit einer Neuordnung der Gesellschaft unter dem Blickwinkel der Reduzierung ihrer vielfältigen Wirkungsmechanismen auf die Kategorien Bourgoisie, Proletariat, Klassenkampf mrt der Begründung, daß die aus solch vereinfachter Weltanschauung resultierende Zerschlagung des Bestehenden nicht schon die Gestaltung des Künftigen in sich schließt, sondern vielmehr unmöglich macht, dann wird man die Tatsache der Vergeblichkeit der gewerkschaftlichen Vorschläge zur Behebung der Finanz- und Wirtschaftskrise sowie zum Umbau der Wirtschaft nicht einfach als, Bankrott des Reformismus' abtun können. Denn läßt man beiseite, daß der Begriff Reformismus seine negative Besetzung primär durch die in seiner Definition ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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durchaus nicht enthaltene sozialdemokratische Kriegspolitik 1914/1918 erfuhr, dann bleibt diese Theorie in der Praxis der Versuch, über demokratisch durchzusetzende Reformen den Sozialismus vorzubereiten, wobei der Umbau der Wirtschaft als grundlegende Strukturreform angesehen werden kann." (Eisner, S. 249)
Lehndorff kommt in seiner Arbeit zu politisch entgegengesetzten Aussagen, wobei die Methodik der Arbeit sich nicht wesentlich von der Eisners unterscheidet (beide referieren Fakten, die sich in den von ihnen gesetzten politischen Zusammenhang einreihen, sie analysieren aber nicht systematisch die zugrundeliegende Strategie). Lehndorff unterstellt im Unterschied zu Eisner der KPD den Willen zur Einheitsfront, trotz ihres aktiven Kampfes gegen den Sozialfaschismus: „Die RGI forderte völlig kompromißlos, die revolutionäre Opposition müsse ,überall eigene Listen aufstellen, sie darf nie und nirgends, unter keinen Umständen, eine Vereinbarung mit den Sozialfaschisten eingehen und ihre Kandidaten für keinen Fall auf die sozialfaschistischen Gewerkschaftslisten setzen.1 Es muß noch einmal betont werden, daß derartige Formulierungen sich nicht gegen die Gewerkschaften insgesamt richten sollten. Vielmehr kam es der Opposition ja gerade darauf an, Gewerkschaftsmitglieder, auch sozialdemokratische Arbeiter, für ihre Einheitslisten zu gewinnen,... Das Wort .Einheitsliste sollte also durchaus die angestrebte Einheit aller Arbeiter im Kampf um ihre sozialen und politischen Interessen symbolisieren. Die Frage allerdings, ob die Opposition mit derartigen Formulierungen ihrem Ziel näher kam, darf auf Grund der praktischen Erfahrungen eindeutig verneint werden." (Lehndorff, S. 133 f.)
Lehndorffs Kritik ist eine rein taktische: das Ziel der RGO, der Gewerkschaftsführung sozialdemokratische Arbeiter „auszuspannen", hält er implizit für richtig, da er den Einheitsfrontbegriff der KPD nicht kritisiert. Die organisatorische Verselbständigung der RGO als faktische Gegengewerkschaft sieht er als Reaktion auf die Ausschlußpraxis der Gewerkschaftsführung, die die KPD zwang, sich organisatorische Alternativen für die Ausgeschlossenen zu überlegen. Lehndorffs Wertung ist ebenso einseitig wie die Eisners: Schuld an der Spaltung der Gewerkschaftsbewegung trägt der ADGB, der auf eine Interessenvertretung der Arbeiter in der Krise verzichtete und revolutionäre Arbeiter aus seinen Reihen ausschloß. Das Scheitern der KPD-Strategie begreift er als „Dilemma" zwischen den (von ihm unterstellten) guten Absichten und einer taktisch ungeschickten Durchführung, die durch objektive Faktoren (geringe Verankerung der KPD in den Betrieben) und subjektive Faktoren (radikale, gewerkschaftsfeindliche Stimmungen in der Mitgliedschaft) erschwert wurde.1 ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Peter kritisiert Lehndorffs eindeutige Schuldzuweisung an den ADGB. Auch die kommunistische Bewegung trage Verantwortung für den Sieg des Faschismus, indem sie eine falsche Strategie entwickelte: z.B. verwischte die KPD die Unterschiede zwischen ökonomischem und politischem Kampf und wies den Gewerkschaften die Rolle revolutionärer Organisationen zu. Damit entfernte sie sich von den „Grundpositionen marxistischer Gewerkschaftstheorie" (Peter, S. 53) und trug damit zu ihrem Scheitern bei. Auch die geringe Verankerung der RGO sei nicht als Ursache, sondern eher als Resultat ihrer Politik zu betrachten. Neben objektiven Faktoren (geringe Kampfmöglichkeiten in der Krise, ungleichmäßige Entwicklung in verschiedenen Industriezweigen und Arbeitergruppen) nennt Peter als wesentliche Ursache des Scheiterns der RGO-Strategie, daß die antikapitalistische Radikalisierung der Arbeiterschaft sich auf eine Minderheit beschränkte, deren Stimmung aber von der RGO aufgegriffen wurde: „Das Problem der RGO liegt... also gerade darin, daß die RGO spezifische Momente des Bewußtseins und der Praxis der Arbeiterklasse, die jedoch nicht der Totalität der Klassenauseinandersetzungen jener Periode entsprachen, unmittelbar reproduzierte und zu einer gesamtgesellschaftlich bezogenen Strategie verallgemeinerte. Insofern erschließt sich unter der Oberfläche des Handelns der kommunistischen Organisationsleitung und der RGO-Kader nicht etwa das Wesen einer perfekten bürokratischen Maschinerie. Die RGO war im Gegensatz zu dieser Annahme vielmehr Ausdruck eines theoretischen, politischen und organisatorischen Entwicklungsstandes der revolutionären Bewegung in Deutschland, der mit den außergewöhnlichen Anforderungen, die die Krise an die Arbeiterbewegung stellte, nocht nicht vollständig Schritt zu halten vermochte." (Peter, S. 46 f)
Peter geht damit über die Einschätzung von Deppe/Fülberth/Harrer hinaus, die in der Politik nicht zu viel, sondern zu wenig Führungsfähigkeit zu erkennen glauben, wie sie sich angeblich im Nachgeben gegenüber Stimmungen der Mitgliedschaft ausdrückte. (Deppe/Fülberth/Harrer, S. 582) Träfe diese These zu, käme sie einer teilweisen Entlastung der KPD gleich: ihr Fehler bestände dann darin, das vorgefundene spontane Bewußtsein nicht transzendiert zu haben. Um diese These zu überprüfen, wären umfangreiche Forschungen zur Bewußtseinsentwicklung der Arbeiterklasse in der Krise nötig. Bisher ist leider nur der Anspruch formuliert, daß dies zu leisten sei, es fehlt aber sowohl an einer Methodik als auch an einer Sichtung des dafür geeigneten Materials. Auf der DGB-Konferenz zur Geschichte der Gewerkschaften 1979 nennt Deppe für die Frage, „ob nicht gewisse Zusammenhänge zwischen der politischen SpalARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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tung der Arbeiterbewegung und einer Aufspaltung und Ausdifferenzierung .proletarischer Erfahrung4 nachgewiesen werden können", . d.h. Vermittlungsglieder zwischen objektiven und subjektiven Faktoren gefunden werden können, drei zu untersuchende Problemkreise: neben der Entwicklung bei den Angestellten die Spaltung der Arbeiterklasse in Organisierte und Unorganisierte und in Beschäftigte und Unbeschäftigte. (Deppe, S. 167 ff) Mit der Konzentration auf die Hamburger RGO-Entwicklung und die Arbeitslosenfrage möchte ich zur von Deppe aufgeworfenen Problemstellung einen Beitrag leisten: die lokalgeschichtliche Beschränkung soll helfen, die allgemeine RGO-Problematik zu konkretisieren; mit der Untersuchung der Arbeitslosenpolitik, die bisher in der Literatur nicht auführlich dargestellt wurde, versuche ich Material zu gewinnen zur Überprüfung der These, die KPD-Politik sei Ausdruck spontaner Stimmungen von Teilen der Arbeiterklasse gewesen, wobei die Arbeitslosen in der Regel als besonders radikalisiert angesehen werden. 2. Zur Situation in Hamburg während der Weltwirtschaftskrise 2.1 ökonomische und politische Entwicklung Die Hamburger Wirtschaft stand in der Krise vor spezifischen Problemen, da sie - bedingt durch die starke Konzentration auf die Bereiche Schiffahrt und Handel - zu rund zwei Dritteln vom Ausland abhängig war.2 Zu Beginn der Krise war dies durch die nachwirkenden Auslandsaufträge von Vorteil, z.B. stieg in Hamburg das Umsatzsteueraufkommen des Staates bis 1930 noch an, während es im Reich bereits zurückging. In der Folgezeit wirkte sich die Wirtschaftspolitik Brünings für die Hansestadt jedoch um so katastrophaler aus. Zwar sah das Deflationskonzept vor, durch Herabdrükkung der Preise die Wettbewerbsposition auf dem Weltmarkt zu verbessern und die Ausfuhr zu steigern, die realen Maßnahmen wirkten aber genau in die entgegengesetzte Richtung. Die beiden wichtigsten Beschlüsse in diesem Zusammenhang waren die Einführung der Devisenbewirtschaftung und die Schutzmaßnahmen für die Landwirtschaft. „Die einseitige Rücksicht auf die Interessen der Agrarier führte schon im Sommer 193Ö dazu, daß das Geschäft der Hamburger Getreideimporteure generell um 50 bis 75 % ... schrumpfte. 40-50 % des Personals mußten zu diesem Zeitpunkt entlassen werden ... Trotz intensiver Bemühungen gelang es dem Senat nicht zu verhindern, daß ein ganzer Zweig des Hamburger Handels durch Maßnahmen der Reichsregierung vernichtet wurde." (Büttner, S. 190) ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Die Devisenbewirtschaftung und die importhemmenden Maßnahmen der wichtigsten Handelspartner führten zu einer mengenmäßigen Schrumpfung des deutschen Außenhandels um 44 % im Jahre 1932 gegenüber 1929. Die Situation der Hamburger Handelsfirmen war entsprechend bedrohlich: „1931 reichten allgemein die Betriebseinnahmen nicht mehr, um die laufenden Unkosten und den Schuldendienst zu bestreiten. Zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen nahmen daher die großen Gesellschaften, die als einzige noch Kredite erhielten, immer mehr kurzfristige Leihgelder herein; gleichzeitig wurde das Betriebsvermögen durch die Deflation entwertet, so daß das Mißverhältnis zwischen Eigenkapital und geliehenen Mitteln bedrohlich wuchs." (Büttner, S. 194)
Im März 1932 mußte die Reichsregierung für die Hamburger Reedereien Ausfallbürgschaften in Höhe von 77 MilJ. RM übernehmen. Neuaufträge für die Werften blieben aus, und da auch ein Teil der Flotte still lag, gingen die Reparaturaufträge ebenfalls zurück. Die Hamburger Industrie war 1930 im Schnitt nur noch zu 50-60 %, 1931 zu 40-50 % ausgelastet und steckte in einer tiefen Finanzkrise. Folge war eine Massenarbeitslosigkeit gerade in den traditionellen Hamburger Berufszweigen. So fanden vor der Krise im Hafen täglich 20 000 Menschen Arbeit, 1932 waren es nur noch 10 000. Blohm & Voß reduzierte seine Belegschaft von 10 400 im Jahre 1929/29 auf 2840 im Dezember 1932. Nach einer Betriebzählung im Juni 1933 waren 176 417 Menschen, d.h. fast 15 % aller Hamburger arbeitslos. (Büttner, S. 195 ff) Der Hamburger Staatshaushalt wurde also sowohl von der Einnahmen» wie von der Ausgabenseite her bedroht: Das Steueraufkommen ging ständig zurück, während die Sozialleistungen mit steigender Arbeitslosigkeit ein immer größeres Loch in den Haushalt rissen. Die Reichsanstalt für Arbeit wälzte diese Lasten zusätzlich auf die Gemeinden ab, indem sie ihren Anteil an den Unterstützungsleistungen reduzierte, obwohl mehr Arbeitslose Anspruch auf Leistung hatten. Der Hamburger Senat stand also vor der schwierigen Aufgabe, die ständig steigenden Defizite des Haushalts zu decken. Seine Politik unterschied sich dabei nicht wesentlich von der der Reichsregierung: das nie erreichte Ziel des ausgeglichenen Haushaltes wurde höher gewichtet als evtl. Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur bzw. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Der Senat sparte, wo er nur konnte: im öffentlichen Bauwesen, bei der Instandhaltung von Straßen, öffentlichen Anlagen und des Hafens, bei den Gehältern der Staatsangestellten, bei der Arbeitslosenunterstützung. Durch die Heraufsetzung der Grundsteuer wurden die Mieten erhöht. Die LaARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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sten dieser Politik trugen die unteren Bevölkerungsschichten und Teile der Industrie, z.B. die Bauindustrie, die im Sommer 1931 zu 80-95% unbeschäftigt war (der Wohnungsbau war vor der Krise zu 98% vom Staat gefördert worden), was wiederum einen Anstieg der Arbeitslosigkeit zur Folge hatte. Die politische Basis des Senats war infolgedessen denkbar gering. Bereits bei der Verabschiedung des Etats 1931/32 übertrug die Bürgerschaft ihre Haushaltskompetenz an den Senat, um diesem schnelle Korrekturen in seiner Planung zu ermöglichen. Hintergrund waren aber scharfe Auseinandersetzungen über die Krisenpolitik, die den Senat tendenziell handlungsunfähig gemacht hatten. Mit der Reichsnotverordnung vom 24. August 1931 erhielten die Landesregierungen generell die Befugnis, alle zum Haushaltsausgleich notwendig werdenden Maßnahmen durchzuführen, auch wenn sie im Widerspruch zur Landesverfassung standen. Die Loslösung des Senates von der Hamburger Bürgerschaft wurde durch die Wahlen vom 27. September 1931 erneut dokumtiert und verfestigt: die große Koalition von SPD, DDP und DVP verlor die Mehrheit, der Senat trat zurück, führte aber die Geschäfte weiter, da in der Bürgerschaft keine regierungsfähige Mehrheit vorhanden war. J
2.2.Zur Situation und Verankerung der KPD Zwar war die KPD in der Bürgerschaft vertreten, sie konnte diese Institution aber aufgrund der Aushöhlung des Parlamentarismus im Verlauf der Krise immer weniger als „Tribüne" für wirtschafts- und sozialpolitische Alternatiworstellungen nutzen. Die Arbeit der KPD war also vorwiegend im außerparlamentarischen Raum angesiedelt. Hier wurde sie vom Senat, den die SPD mittrug, massiv bekämpft. Fast alle von der KPD organisierten Demonstrationen und Protestmärsche wurden verboten, sie endeten oft mit Straßenschlachten und Verhaftungen. So wurde z.B. bei einer Hungerdemonstration 1930 ein kommunistischer Bürgerschaftsabgeordneter verhaftet. Das offizielle KPD-Organ, die „Hamburger-Volkszeitung", war im Jahre 1931 insgesamt ein Vierteljahr verboten, Zeitungsverkäufer der kommunistischen Presse wurden bedrängt und z.T. verhaftet. Anläßlich einer Auseinandersetzung um das Hamburger Gewerkschaftshaus erhielt ein Redakteur der HVZ 6 Wochen Gefängnis „wegen Verleumdung der Gewerkschaftsverwaltung". (Hamburger Echo vom 14.4.1930) Da auch die meisten Streiks illegal waren, wurden kommunistische Streikposten oft verhaftet und zu schweren Gefängnisstrafen verurteilt.4 Faktisch befand sich die KPD in Hamburg zu dieser Zeit bereits in einem Vorstadium der Illegalität. ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Vergleicht man die für die KPD abgegebenen Wählerstimmen mit ihrer Verankerung in den Betrieben, so läßt sich eine gegenläufige Tendenz feststellen. Im September 1930 erhielt sie 135 000 Stimmen, am 6. November 1932 166 000 Stimmen (die SPD-Stimmen gingen von 240 000 auf 218 000 zurück). (Bericht, S. 9) Die Entwicklung des Kräfteverhältnisses in den Betrieben muß im Zusammenhang mit der RGO-Entwicklung gesehen werden. Nach dem Reichskongreß der RGO Ende November 1929 organisierte der Bezirk Wasserkante (dazu gehörte neben Hamburg u.a. Lübeck, Kiel, Cuxhaven, Stade, Neumünster, Teile von Niedersachsen und Schleswig-Holstein) im Februar 1930 den ersteh Bezirkskongreß der RGO mit 280 Delegierten, auf dem die Registrierung und Zusammenfassung der oppositionellen Arbeiter und die Herausgabe einer eigenen revolutionären Gewerkschaftspresse beschlossen wurde. (Bericht, S. 27) Nach Einschätzung der Bezirksleitung der KPD Wasserkante verlief die organisatorische Entwicklung der RGO relativ langsam: im Januar 1931 betrug die Mitgliederzahl 2800. Sie stieg bis zum Oktober 1932 lediglich auf 9232 an, wobei insbesondere nach Streiks neue Mitglieder gewonnen werden konnten. (z.B. beim Hamburger Streik der Hoch- und Straßenbahnen angeblich 300). Obwohl die KPD-Leitung zumindest für das Jahr 1931 eine wachsende Verankerung in den Betrieben konstatiert, geht aus den vom ADGB veröffentlichen Zahlen hervor, daß die RGO ständig weiter zurückgedrängt wurde. Die SPD-Zeitung „Hamburger Echo" meldete bereits am 19. März 1930 die „große Pleite der Kommunisten" bei den Hafenarbeitern. Im Unterschied zum Vorjahr, in dem sie einige Gewerkschaftsstellungen besetzt hatten, hätte sie nun „nicht eine einzige gewerkschaftliche Funktion oder Betriebsratskandidatur erobern können." Im ADGB-Jahresbericht für 1930 werden die Ergebnisse der Betriebsratswahlen 1929 und 1930 verglichen: danach ging bei allen bedeutenden Werften (Blohm & Voß, HAPAG, Deutsche Werft, etc.) die Zahl der von der Opposition errungenen Mandate von 24 (1929) auf 17 (1930) zurück, während die freien Gewerkschaften ihre Mandate von 23 (1929) auf 32 (1930) steigern konnten. (Für Blohm & Voß werden auch die Stimmen genannt: 1929 4110 für die Opposition = 14 Mandate, 2676 für die „Freien" = 9 Mandate, 1930 3432 für die Opposition = 13 Mandate, 3064 für die „Freien" = 11 Mandate, d.h. die Opposition verlor 788 Stimmen, die „Freien" gewannen 397 Stimmen). (ADGB Groß-Hamburg, 34. Jahresbericht, S. 56 f) Für das Jahr 1931 stellte die RGO einen sogenannten „Sturmplan" auf, in dem sie sich das Ziel steckte, 250 rote Betriebsratslisten einzureichen. (HVZ vom 10.3.1931) Von den 1584 im Jahre 1930 reARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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gistrierten Hamburger Betrieben mit 161 858 gewerblichen Arbeitern konnten aber nur in 41 Betrieben RGO-Listen aufgestellt werden. Von 37 399 Stimmen (in 42 Betrieben) erhielten die RGO-Listen 7956, die Freien 25 840 und die Nazis 647. Während der ADGB 4446 freigewerkschaftliche Betriebsvertretungsmitglieder registrieren konnte, erhielt die RGO nur 82. Um den Mißerfolg der RGO noch größer erscheinen zu lassen, setzt der Bericht des ADGB die RGOStimmen ins Verhältnis zur Gesamtbelegschaft (161 858). In diesem Falle hätten nur 4,9% für die RGO votiert. (ADGB Groß-Hamburg, 35. Jahresbericht, S. 29 ff) Dieses Verfahren verfälscht zwar die Ergebnisse, da die Zahl der abgegebenen Stimmen nicht berücksichtigt wird, die Zahlen lassen aber erkennen, daß die Verankerung der RGO in den Hamburger Betrieben sehr gering war. Als weitere revolutionäre Alternativen zum ADGB gründete die KPD in Hamburg zwei sogenannte Einheitsverbände: den Einheitsverband der Hafenarbeiter und Seeleute und den Einheitsverband für das Baugewerbe. Sie wurden jeweils im Gefolge eines Streiks gegründet; die KPD versuchte damit die Enttäuschung der streikenden Arbeiter über das Verhalten der reformistischen Gewerkschaftsführung aufzufangen.5 Im Bericht der Bezirksleitung wird über ihre weitere Entwicklung nichts Positives vermerkt: die Fluktuation sei groß, 70 % des EV der Hafenarbeiter seien arbeitslos, die Leitungen beständen ausschließlich aus Genossen, die Mitgliederzahl sie äußerst unbefriedigend. (Bericht, S. 51 f) Setzt man den Mißerfolg im Gewerkschaftsbereich mit den ansteigenden Wähierstimmen für die KPD in Beziehung, muß man sich fragen, „warum sich im gewerkschaftlichen Bereich die Entwicklung radikal-antikapitalistischer und revolutionärer Strömungen nicht mit derselben Intensität und Breite vollzog, wie außerhalb des Produktionsprozesses und der Betriebe." (Peter, S. 42) Angesichts der geringen Kampfmöglichkeiten der Gewerkschaften in der Krise mußte auch der ADGB eine Verringerung seiner Mitgliedszahlen hinnehmen: Während er in Hamburg 1929 noch einen Zuwachs um 50 000 Mitglieder verzeichnen konnten, sank die Mitgliederzahl 1930 um 6% auf 200 900,1931 auf 186 200. (ADGB Groß-Hamburg, 34. Jahresbericht, S. 119,35. Jahresbericht, S. 87) Mit der allgemeinen Krise der Gewerkschaften auch die Mißerfolge der RGO erklären zu wollen, griffe aber zu kurz. Die RGO trat zu einem Zeitpunkt in Konkurrenz mit dem ADGB, zu dem gewerkschaftliche Aktionsmöglichkeiten schon stark eingeschränkt waren. Die KPD machte es sich nicht nur zur Aufgabe, die aus dem ADGB ausgetretenen Arbeiter aufzusaugen, sie wollte darüber hinaus „den freien und christlichen Gewerkschaften Hunderttausende von Mitgliedern" wegnehmen. ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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(Rote Fahne vom 8.1.1931) Dieses Ziel konnte sie nur erreichen, wenn sie über ein den Kampfbedingungen in der Krise adäquateres Konzept als das des ADGB verfügte. Das Scheitern der RGO ist also in erster Linie aus Fehlern in ihrer Strategie zu erklären, wie dies von Wieszt in einer auführlichen Darstellung versucht wird. Einen entscheidenden Teil der Strategie mußte die Arbeitslosenpolitik darstellen. In Hamburg war für den Rückgang des Einflusses in den Betrieben, vor allem im Hafenbereich, die Arbeitslosigkeit in hohem Maße verantwortlich, z.B. wurden allein im Jahre 1931 30 % der auf,,roten Listen" gewählten Betriebsräte entlassen. Die Betriebe wurden systematisch von kommunistischen Kadern gesäubert. (Bericht, S. 55) Große Teile der traditionellen Arbeiterschaft Hamburgs waren als Arbeitslose den politischen Zusammenhängen in den Betrieben entrissen. Wollte die KPD diese Schwächung auffangen, mußte sie versuchen, in der RGO, in der sowohl Arbeiter als auch Arbeitslose organisiert wurden, den Arbeitslosen neue politische Perspektiven aufzuzeigen. 3. Thesen zur Arbeitslosenpolitik der RGO in Hamburg In den folgenden Thesen versuche ich einmal der Frage nachzugehen, ob die RGO-Politik Ausdruck revolutionären Drängens von der Basis war, zum anderen, ob die RGO eine Strategie entwerfen konnte, die das politische Bewußtsein der Arbeitslosen weiterzuentwickeln in der Lage war. Leider standen mir zur Untersuchung dieser Fragen neben mehr oder weniger zufällig erhaltenen Zeitungsausschnitten nur zwei Hauptquellen zur Verfügung: der Bericht der Bezirksleitung Wasserkante der KPD an den Bezirksparteitag vom 5. 12. 1932 und der Jahrgang 1931 der RGO-Zeitung „Der Arbeitslose", „Organ der revolutionären Gewerkschaftsopposition der Bezirke Wasserkante, Nordwest, Niedersachen und Mecklenburg".6 Meine Thesen sind Ergebnis des Quellenstudiums, können aber aufgrund fehlenden Materials zur Bewußtseinsentwicklung nicht über eine Quellenkritik hinausgehen; sie zeigen Widersprüche auf, problematisieren, bleiben aber zum Teil Vermutungen. These 1: Die RGO war nicht fähig, ein der Lage der Arbeitslosen angemessenes Konzept der Interessenvertretung zu formulieren. Sie versuchte vielmehr vergeblich, die Verbindung zur allgemeinen Krisenstrategie der KPD herzustellen. Die Zeitung „Der Arbeitslose" verstand sich als ideologisches Bindeglied aller „Stempelstellenproletarier" und hatte den Anspruch, ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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„den Massen den Weg aus Not und Elend" zu zeigen (4.- März-Ausgabe). Aufgabe der Erwerbslosenbewegung sei es, eine breite Einheitsfront „ohne Unterschied der gewerkschaftlichen und politischen Richtung" herzustellen, dies könne allerdings nur auf dem Boden des Klassenkampfes geschehen: „Da der Kampf der Erwerbslosen ein Teil des Klassenkampfes der Arbeiterschaft überhaupt ist, muß die Erwerbslosenbewegung in engster Anlehnung an die proletarischen Massenorganisationen ihre Aufgabe durchführen, die ebenfalls die Grundsätze des revolutionären Klassenkampfes anerkennen. Die Erwerbslosenbewegung muß somit die Kampagnen dieser Organisation unterstützen, wie sie andererseits auch die Unterstützung in ihrem Kampfe erwartet." (4,-JulirAusgabe)
Der Zusammenhang zum allgemeinen Klassenkampf ist also nach Aussage des „Arbeitslosen" zunächst ein organisatorischer: er drückt sich aus in der Zusammenarbeit der Organisationen, die sich als Bündnisorganisationen der KPD verstehen. Ziel der RGO war bis zum August 1931, an möglichst vielen Stempelstellen Einheitsfrontorgane, die sogenannten Erwerbslosenausschüsse zu gründen. Nach Angaben der KPD-Bezirksleitung gab es im Bezirk Wasserkante ca. 70 Ausschüsse. (Bericht, S. 60) Diese sollten zwar der Konzeption nach Arbeiter verschiedener politischer Gruppierungen umfassen, faktisch bestanden sie jedoch fast ausschließlich aus KPD- oder RGO-Mitgliedem. Bereits in der Zusammenarbeit zwischen KPD und RGO beklagt die Bezirksleitung mangelnde Abgrenzung, da häufig eine Personalunion der Leitungen bestand. „Das hat zwangsläufig zur Folge, daß das Eigenleben der RGO nur ungenügend entwickelt (ist) und für die Arbeiterschaft nicht sichtbar die besondere Rolle der RGO hervortritt.... (Es) wird von vielen unteren Parteileitungen, anstatt der Methode des wirklichen Helfens und Führens der RGO durch die Fraktionen, die bequemere Methode des Kommandierens angewandt." (Bericht, S. 28)
Ähnliche Aussagen lasen sich auch für das Verhältnis zwischen RGO-Gruppe und Erwerbslosenausschuß machen. So wird z.B. in der 2.-Juni-Ausgabe des „Arbeitslosen" geklagt, viele RGO-Mitglieder seien der Ansicht, daß bei Bestehen eines RGO-Ortsgruppenkomitees die Schaffung eines Erwerbslosenausschusses überflüssig sei. Aus diesen Äußerungen kann man schließen, daß der Personenkreis der drei Organisationen im wesentlichen identisch war. Trotzdem hielt die KPD in der Theorie an einer strikten organisatorischen Trennung fest, veröffentlichte in ihren Zeitungen immer wieder Aufrufe zur Herstellung einer „wirklichen Einheitsfront" und gab ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Anweisung, die Leitungen endlich mit Parteilosen zu besetzen, (u.a. Bericht, S. 51) Ein arbeitsloses KPD-Mitglied hatte also, wollte es den Parteibeschlüssen genügen, folgende Aufgaben: 1. Mitarbeit in der KPD-Zelle 2. Mitarbeit in der KPD-Fraktion in der RGO 3. Mitarbeit in der RGO-Gruppe 4. Mitarbeit in der RGO-Fraktion des Erwerbsfosenausschusses 5. Mitarbeit im Erwerbslosenausschuß Da mindestens drei dieser Organe mehrköpf ige Leitungen erforderten, kam auch noch eine Leitungstätigkeit hinzu. Bei dieser Überorganisation kann es nicht verwundern, daß die Mitglieder die Sitzungen einfach zusammenlegten und gemeinsame Leitungen bildeten, zum Ärger der übergeordneten Führung, die die Entlarvung ihrer Einheitsfrontstrategie befürchtete. Der weitgehenden organisatorischen Anbindung der Erwerbslosenausschüsse an RGO und KPD entsprach auch die inhaltliche Konzeption: ein Ziel der Ausschüsse war es, Mitgliederwerbung für die RGO und zu gegebener Zeit auch Wahlkampf für die KPD zu betreiben. Das Vokabular, das bei diesen Aufrufen verwendet wurde, war stark militaristisch gefärbt: „In Verbindung mit der Organisierung des Kampfes gegen die Young-Sklaverei und -Aushungerung ist der Sturmplan (z.T. auch Gefechtsplan genannt, H.C.) durchzuführen. Täglich sind Werbekolonnen einzusetzen, die Diskussionsgruppen organisieren, kurze Ansprachen über den Massenkampf und „Was will die RGO?" halten. Jeder Kollege ist individuell zu bearbeiten und zum Beitritt in die RGO aufzufordern."(4.-März-Ausgabe)
Vor und nach den Septemberwahlen 1931 wurden im „Arbeitslosen" sämtliche Wahlaufrufe der KPD abgedruckt, die Zunahme der KPD-Stimmen wurde breit gewürdigt und begrüßt. (1 .-Oktober-Ausgabe) Über die organisatorische Verbindung hinaus sollte das Bündnis zwischen Arbeitslosen und Arbeitern durch die Beteiligung der Arbeitslosen an Streikkämpfen hergestellt werden. Die RGO ging dabei von der illusorischen Vorstellung aus, durch einfache Negation des Status der Arbeitslosigkeit die Herausdrängung aus den Betrieben zu verhindern und damit die alten Bezüge wiederherzustellen. Diese Strategie führte zwangsläufig zum Aufruf zu illegalen Aktionen, z.B. bei Betriebsrätewahlen: „Die Betriebsrätewahlen sind nicht nur eine Angelegenheit der einzelnen Belegschaften, die auf ihren Betrieb beschränkt bleibt, sie sind vielmehr eine Angelegenheit der gesamten Arbeiterklasse...Die Betriebsräte haben nicht nur die Aufgabe, ihre betrieblichen Angelegenheiten zu regeln, sondern sie
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sind die führenden Organe, die den Kampf der Arbeiter gegen die ständigen Angriffe auf ihre Lebenshaltung seitens der Unternehmer organisieren und führen sollen." (2.-Feb.-Ausgabe)
Unter „gesamter Arbeiterklasse" verstand die RGO auch die Arbeitslosen, was zur praktischen Folge hatte, daß sie Arbeitslose zu Betriebsversammlungen schickte und sie aufforderte, sich an Betriebsrätewahlen und Streikleitungen zu beteiligen, obwohl sie den Betrieben nicht mehr angehörten. Dies führte zu Konflikten selbst unter den eigenen Mitgliedern, Die „roten Betriebsräte", die sich ihrer Aufgabe, den Hauptorganisator der Revolution zu spielen, oft nicht gewachsen zeigten und deshalb das Mißfallen der übergeordneten Leitung erregten 7, handelten auch in diesem Punkt realistischer, z.B. wird im Bericht der Bezirksleitung von einem Fall berichtet, bei dem rote Betriebsräte einem RGO-Vertreter auf einer Betriebsversammlung das Wort entzogen, vermutlich, weil er nicht zum Betrieb gehörte. Die roten Betriebsräte wurden daraufhin aus der RGO ausgeschlossen. (Bericht, S. 34) Die Überfrachtung der Aufgabenbestimmung für die roten Betriebsräte war Ergebnis der revolutionären Krisenstrategie der KPD. Da die Arbeitslosenpolitik dieser Strategie angepaßt bzw. untergeordnet wurde, soll sie hier kurz referiert werden. Exkurs: Die Streikstrategie der KPD Wieszt (S. 459 ff) beurteilt die Streikstrategie der KPD in der Krise als Abwendung von theoretischen Positionen, die von Marx und Lenin zum Verhältnis von ökonomischem und politischem Kampf entwickelt wurden. Lenin bezeichnete den politischen Kampf nicht nur als die entwickeiste, umfassende und realste Form des ökonomischen Kampfes, er betrachtete es vielmehr als Aufgabe der Arbeiterparteien, dem ökonomischen Kampf einen politischen Charakter zu verleihen. Dieses komplizierte Wechselverhältnis wurde in der Diskussion der Komintern zunehmend vereinfacht dargestellt. Auf dem II. Weltkongreß der Komintern vertrat Radek die These, ökonomische Streiks brächten die kapitalistische Kalkulation durcheinander und trügen damit zur Desorganisation des kapitalistischen Systems bei. Der objektiv-revolutionäre Charakter ökonomischer Streiks wurde allerdings noch dahingehend eingeschränkt, daß zu seiner vollen Entfaltung auch subjektive Faktoren beitragen sollten. In der Krisenphase des Kapitalismus sei der Übergang zu politischen Kämpfen aber sehr viel schneller möglich als vorher. Bucharin entwickelte die These Radeks 1926 wie folgt weiter:
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„Die wirtschaftlichen Streiks und der wirtschaftliche Kampf überhaupt wird heute, wo es mächtige Untemehmerorganisationen gibt, die Hand in Hand mit dem bürgerlichen Staat gehen, wo jeder große Streik die Tendenz hat, den gesamten Industreizweig zu erfassen, in einen politischen Kampf verwandelt, gewinnt mehr oder minder ausgeprägten politischen Charakter." (Bucharin, Die kapitalistische Stabilisierung und die proletarische Revolution, Moskau 1926, S. 111)
Damit wird die Verwandlung ökonomischer in politische Kämpfe nicht mehr als Ergebnis der Bewußtseinsveränderung der Streikenden angesehen, sie wird vielmehr von objektiven Faktoren abhängig gemacht: da der Staat stets als Gegner der Streikenden auftritt (z.B. durch polizeiliche Unterdrückung, Schlichtung und staatliche Lohnabbaupolitik) und damit als Vertreter gesamtkapitalistischer Interessen betrachtet werden kann, trage jeder Streik staatsfeindlichen Charakter und stelle einen Angriff auf das kapitalistische System dar. Damit habe jeder ökonomische Kampf Bedeutung für die ganze Klasse, weshalb nun auch ein kleiner Teil derselben stellvertretend für die.Klasse handeln kann. Auf.dem VI. Weltkongreß wurde auch die Beschränkung der Theorie Bucharins auf große ökonomische Kämpfe fallengelassen. „Unter diesen Bedingungen wird jede mehr oder weniger bedeutende Aktion des Proletariats zu* einer Aktion gegen die Staatsgewalt, d.h. zu einer politischen Aktion." (zit. nach Wieszt, S. 502)
Auf der Basis dieser Thesen sprach Losowski auf dem 10. Plenum des Exekutivkommitees der Kommunistischen Internationale (EKKI) von einem einheitlichen »Gesamtsystem des Kampfes der Arbeiterklasse', das den ökonomischen und politischen Kampf als inhaltlich identische, nur formal unterschiedliche Formen enthalte. Die Hauptmethoden ökonomischer Streik, politischer Streik, Aufstand und Bürgerkrieg seien nur verschiedene Etappen des Kampfes und nicht durch „irgendwelche festen Grenzen" voneinander zu trennen. Losowski beruft sich auf Marx: da der Wirtschaftskampf eine Spielart des Klassenkampfes sei, „so sei daraus auch die Marxsche Schlußfolgerung zu ziehen, daß ,jeder Klassenkampf ein politischer Kampf ist. Der Trick, den Losowski in seiner Beweisführung verwendet, ist denkbar einfach. Er operiert mit zwei verschiedenen Klassenbegriffen (Klasse gegenüber dem Kapital, objektiv, - Klasse für sich), erklärt auf diese Weise den ökonomischen Kampf zu einer,Spielart des Klassenkampfes' - nach Marx ist er sozusagen nur eine Vorstufe zu diesem Kampf nimmt dann den Marxschen Satz auf, daß .jeder Klassenkampf ein politischer Kampf sei, um daraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß jeder ökonomische Kampf ein politischer Kampf sei." (Wieszt, S. 504)
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Losowski stützt seine theoretisch unhaltbare Position durch die Sozialfaschismustheorie: der Streik sei um so mehr ein politischer Kampf, als es sich um einen faschistischen Staat handele, der mit der Gewerkschaftsbürokratie verflochten sei. In der Streikstrategie der RGI wurde der Gedanke der verschiedenen Stadien des Klassenkampfes dahingehend konkretisiert, daß die Revolutionäre die Abfolge der Stadien durch Aufstellung entsprechender Forderungen organisieren sollten: „Unter den gegenwärtigen Verhältnissen der scharfen Kämpfe gibt es keine reinen ökonomischen Streiks und kann es solche auch nicht geben, und gerade deswegen müssen die Anhänger der RGI streng darüber wachen, daß die Gelegenheit zur Hebung der Streiks auf eine höhere Stufe nicht verpaßt wird... Die Hauptsache an einem solchen Streik sind seine allgemein klassenmäßigen Forderungen... Die Ursachen derartiger Streiks und ihre Dauer können verschieden sein, das Ziel muß dasselbe sein: nämlich dem bürgerlich-reformistisch-faschistischen Regime einen Schlag zu versetzen und für die revolutionären Klassenverbände die größte Handlungsfreiheit zu erlangen." (Thesen der VI. Session, S. 86)
An diesem Zitat werden drei Elemente eines Politikverständnisses deutlich, daß sich bei der Darstellung der Praxis als grundlegende Misere der RGO erweisen wird: die Funktionalisierung von Teilkämpfen für ein von ihr selbst gesetztes höheres Ziel, die Überbetonung revolutionärer Parolen und die Fixierung auf die eigene Führungsrolle. Die KPD und die RGO übernahmen im wesentlichen die Theorie von Komintern und RGI (vgl. Wieszt, S. 512 ff), was an ihrer Praxis leicht nachgewiesen werden kann. In Anlehnung an das Leninsche Bild des „Hauptkettengliedes" erklärte die KPD die „proletarischen Wirtschaftskämpfe" zum wichtigsten Kettenglied des Klassenkampfes. Sie wurden damit zur Voraussetzung alier weiteren politischen Aktionen erklärt, womit sich die KPD abhängig machte vom Vorhandensein einer ökonomischen Streikbewegung. Dadurch geriet die KPD. in ein doppeltes Dilemma: „Sie trat zum einen mit dem Anspruch auf, die einzige politische und revolutionäre Partei der deutschen Arbeiterklasse zu sein, sie mußte sich aber aufgrund der von ihr befolgten politischen Linie zunächst als bessere Gewerkschaft bewähren, bevor sie ihre politischen Ambitionen in die Tat umsetzen konnte. Zum anderen fand sie aber eine Situation vor, in der eine breite ökonomische Bewegung der Arbeiter - in erster Line infolge der Wirtschaftskrise - nicht existierte." (Wieszt, S. 523)
Die objektiv schwierigen Voraussetzungen für offensive Streiks versuchten die KPD-Theoretiker durch einen Umkehrschluß wegzudiskutieren: ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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„Die Auffassung der Reformisten, daß Streiks in der Wirtschaftskrise erfolglos seien, stellt den Streikkampf als Waffe zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in unserer Zeit überhaupt in Frage... Die ökonomische Wirkung der wirtschaftlichen Streiks auf die Unternehmer läßt im Monopolkapitalismus beträchtlich nach ... Macht man sich den Standpunkt der Reformisten ... zu eigen, so grenzt das an den Verzicht auf den wirtschaftlichen Streik in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus überhaupt... Die Anschauung der klassenbewußten Arbeiterschaft kann in folgendem Satz zusammengefaßt werden: Die politische Kraft der Arbeiterklasse wird ... in der Periode der allgemeinen Krise des Kapitalismus zur dauernden Machtquelle im wirtschaftlichen Streik." (David, S. 233)
Um die falsche Krisenstrategie zu begründen, verzichtet David auf eine marxistische Analyse der Konjunkturkrise und erklärt sie einfach zur dauerhaften Krise. Während in der bisher dargestellten Argumentation ökonomische Kämpfe zu politischen umgemünzt wurden, werden jetzt umgekehrt ökonomische Kämpfe nur mehr möglich, weil es bereits politische Kämpfe gibt. Die theoretischen Spitzfindigkeiten änderten nichts an der Tatsache, daß umfassende Streikbewegungen von der KPD nicht initiiert werden konnten. Nachdem es nach dem 1. Mai 1929 Ansätze einer politischen Streikbewegung in Deutschland gegeben hatte, setzte das 10. EKKI-Plenum den politischen Massenstreik auf die Tagesordnung, der zu einer revolutionären Situation überleiten sollte. Da im Sinne der Stadientheorie der politische Massenstreik durch ökonomische Streiks vorbereitet werden und dann aus ihnen herauswachsen sollte, sah sich die KPD gezwungen, zu jedem Anlaß und unter jeder Bedingung einen Streik hervorzurufen.8 Der Streik wurde zum Allheilmittel der Politik und ersetzte diese tendenziell, da er auf alle Probleme angewandt wurde: zur Abwehr von Unternehmerangriffen, zur Bekämpfung des staatlichen Schlichtungswesens, zur Abwehr von Notverordnungen und zur Bekämfpung des Faschismus. Da in der Theorie die Grenze zwischen politischem und ökonomischem Kampf völlig verwischt worden war, war die KPD auch in der Praxis nicht mehr in der Lage, Bewegungen richtig einzuschätzen. Die Streikbewegungen nehmen auch im Bericht der Bezirksleitung Wasserkante den größten Raum ein. 1930 habe es nur einige kleinere erfolglose Streiks gegeben, die aber alle unter alleiniger Führung der Partei standen (dies wird bereits als Erfolg gewertet). Ende 1931 fand ein großer Hafenarbeiter- und Seeleutestreik statt, an dem sich 154 Schiffe beteiligten. Er mußte abgebrochen werden, weil die Streikfront durch ein geschicktes Manöver gespalten wurde, indem bei den Hafenarbeitern der Tarif verlängert und nur bei den Seeleuten gekürzt wurde (Der Arbeitslose, 2.-Oktober-Ausgabe). ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Für das Jahr 1932 vemerkt der Bericht der Bezirksleitung ein Ansteigen der Streikaktivität: insgesamt seien unter Führung der RGO 54 Streiks durchgeführt worden, davon 28 erfolgreich. Das Erfolgskriterium war aber nicht unbedingt eine Durchsetzung der Forderungen (meist die Rücknahme von Tarifkürzungen), sondern in erster Linie die Verbreiterung des politischen Einflusses der RGO. So wird z.B. der Hamburger Streik cter Hoch- und Straßenbahnen, der ökonomisch erfolglos war, als großer politischer Erfolg gewertet, da 300 Aufnahmen in die RGO vorgenommen werden konnten (Bericht, S. 30 ff). Propagandistisch groß aufgemacht wurde ein siegreicher Streik bei der Kohlenfirma Klockmann/Hamburg, der beweise, ,,daß Lohnabbau unmöglich ist, wenn die Arbeiterschaft geschlossen unter Führung der RGO kämpft". Bei näherem Hinsehen erweist sich dieser Streik aber nicht als so revolutionär, wie die RGO ihn erscheinen lassen wollte: der Unternehmer hatte sich geweigert, die Tariflöhne zu zahlen, und acht dagegen protestierende Arbeiter entlassen. Nach dem relativ kurzen Streik wurden die Entlassenen wiedereingestellt, die Tariflöhne gezahlt und die Überstunden entlohnt. Abgesehen davon, daß er in einer kleinen Firma stattfand, war der Anlaß des Streiks völlig untypisch, da der Unternehmer juristisch im Unrecht war. In der Regel trat die RGO aber gegen gesetzlich verordnete Lohnkürzungen an, womit sie sich auf illegalem Boden bewegte (Der Arbeitslose, 4.-Oktober-Ausgabe). Auch die KPD-Bezirksleitung konnte sich der Problematik der Streikstrategie nicht ganz entziehen. So konstatiert sie als Schwächen der Bewegung die ungenügende und nicht rechtzeitig getroffene Vorbereitung für Streiks, das Fehlen von Vertrauensmännern im Betrieb, Versagen der roten Betriebsräte, ungenügende innergewerkschaftliche Vorbereitung. Als Hauptursache für den regelmäßigen „Streikverrat" der reformistischen Gewerkschaftsführung bei den von der RGO initiierten Streiks nennt sie die „grobe Vernachlässigung der innergewerkschaftlichen Arbeit" durch die Genossen. (Bericht, S. 32) Der politische Massenstreik fand aufgrund dieser desolaten Situation in Hamburg nicht statt. Auf dem Hintergrund dieses Exkurses leuchtet ein, daß es der RGO schwerfallen mußte, für die Arbeitslosen spezifische Kampfformen zu entwickeln, da sie sich am Hauptkampfmittel Streik nur indirekt beteiligen konnten. Aus Angst, daß Arbeitslose zu Streikbrechern werden konnten, und mangels alternativer Handlungsmöglichkeiten, propagierte die RGO die breite Beteiligung der Erwerbslosen bei Streikleitungen, rief zum Streikpostenstehen auf und ermahnte alle Stempelstellen, Solidaritätsadressen für die Streikenden zu verfassen. Durch die 4. Notverordnung der Regierung Brüning wurde ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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der Streikbruch für Erwerbslose allerdings nahezu zur Notwendigkeit, da sie gezwungen wurden, jede Arbeit anzunehmen und im Weigerungsfall jeden Anspruch auf Unterstützung verloren. Ein Versuch, die Streikstrategie auf die spezifische Arbeitslosensituation zu übertragen, stellte die Propagierung des Stempelstellenstreiks dar. Ende 1931 fanden in Hamburg einige Aktionen statt, die im „Arbeitslosen" breit dargestellt und als beispielgebend für das ganze Reich belobigt wurden. Anlaß war die Tatsache, daß einige Berufsgruppen noch dreimal in der Woche stempeln mußten, obwohl in der Regel bereits das einmalige Stempeln pro Woche eingeführt worden war. Um dieser allgemeinen Regelung angepaßt zu werden, traten Bäcker, Angehörige des Gastgewerbes und Arbeiter des Gartenbaus in den Stempelstellenstreik. Nachdem die Bäcker in einer „revolutionären Aktion" zu zwei Dritteln vom Stempeln abgehalten worden waren, meldete der „Arbeitslose" in der 3.-August-Ausgabe einen vollen Erfolg. Der ADGB wollte der RGO den Erfolg nicht gönnen und verbreitete das Gerücht, der Senat habe das einmalige Stempeln sowieso beschließen wollen. Auch die anderen Stempelstellenstreiks endeten mit der Durchsetzung der neuen Regelung. Ebenso wichtig erscheint dem „Arbeitslosen" die Tatsache, daß bei den Gastwirten 70 neue RGO-Mitglieder aufgenommen werden konnten, bei den Bäckern ein Erwerbslosenausschuß gegründet und der Zeitungsumsatz bei allen Gruppen gesteigert werden konnte. Es soll nicht bestritten werden, daß die Aktionen mithalfen, konkrete Verbesserungen für die Arbeitslosen durchzusetzen. Die propagandistische Ausschlachtung erscheint aber wegen Umfang und Anlaß der Aktion fast lächerlich: sie gäben ein glänzendes Beispiel für eine breite Massenmobilisierung (bei den Bäckern waren in der 3. Kampfversammlung 250 Mann anwesend, bei den Gärtnern 160), zeigten, daß siegreiche Kämpfe auch in der Krise möglich seien. Die Aktionen hätten die Kampfkraft außerordentlich gestärkt; damit sei die Waffe des Stempelstellenstreiks zu einer wichtigen Kampfmethode gegen die Arbeitsamtsbürokratie geworden. (2.-Sept.-Ausgabe) Die Bezeichnung „Streik" entsprach in keiner Weise den realen Verhältnissen, da die Arbeitslosen über keinerlei ökonomisches Druckmittel verfügten. Da Streiks in den Betrieben aufgrund der Massenarbeitslosigkeit ihre Durchsetzungskraft ebenfalls weitgehend verloren hatten, erschien der RGO dieser Unterschied wohl nicht mehr so groß. Die Bezeichnung „Stempelstellenstreik" erweckte darüberhinaus den Anschein, als habe die RGO nun endlich auch eine Kampfform für Arbeitslose gefunden, die sich mühelos in die allgemeine Streikstrategie einordnen ließ. ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Gemessen an dem Raum, den die Aufrufe zur Beteiligung an Streikationen im „Arbeitslosen" einnahmen, stand diese Kampfform im Mittelpunkt der Arbeitslosenpolitik. Praktisch kann sie als gescheitert angesehen werden, da es keine Anzeichen für eine relevante Rolle der Arbeitslosen bei den ohnehin nicht zahlreichen Streiks gibt.9 Die abstrakte Übertragung der revolutionären Strategie auf die völlig anders gelagerte Situation der Arbeitslosen mußte schon deshalb mit einem Mißerfolg enden, weil die Negation der Unterschiede diese nicht beseitigen konnte. Die Hilflosigkeit, die in der abstrakten Bestimmung der Arbeitslosen als integralem Bestandteil der Arbeiterklasse zum Ausdruck kam, läßt sich an einem im „Arbeitslosen" abgedrucktenrichtungsweisendenAufruf des RGI illustrieren: „Das Kampfbündnis der Betriebsarbeiter und Erwerbslosen zeigte die größten Fortschritte, wo die Betriebsarbeiter ihre betrieblichen Forderungen mit den Erwerbslosenforderungen verbunden hatten, ihre Vertreter regelmäßig in die Erwerbslosenveranstaltungen entsendet haben und gleichzeitig die Erwerbslosen durch Kundgebungen bei den Betrieben, durch Organisierung von Stoßbrigaden zur Bearbeitung der Betriebe mithalfen, die Aktivität der Belegschaften zu stärken." (Der Arbeitslose, 2.-Sept.-Ausgabe)
These 2: In Teilbereichen war die RGO durchaus in der Lage, konkrete Tagesinteressen der Arbeitslosen zu artikulieren, allerdings konnte sie daraus keine Aktionen entwickeln, die die Bewußtseinsentwicklung förderten und konkrete Verbesserungen bewirkten. Die praktisch relevanteste Form der Arbeitslosenpolitik war die Verhinderung von Exmittierungen. In der Regel war der Anlaß, daß Wohlfahrtsempfänger nicht mehr in der Lage waren, ihre Miete zu bezahlen. Sie wurden z.T. auch von der KPD zum Mietboykott aufgefordert, da die Wohnverhältnisse katastrophal waren. Z.B. wird in der 2.-Okt.-Ausgabe des „Arbeitslosen" von einer geplanten Exmittierung in der Friedrichsladerstraße 42 berichtet, wo sich große Löcher in der Decke befanden, die Decke ständig einzustürzen drohte, kleine Kinder von Ratten angefressen wurden und die Abwässer der oberen Wohnung auf den Küchentisch tropften. Wurde eine Zeit lang keine Miete mehr gezahlt, wurden die Leute samt ihren Möbeln einfach auf die Straße gesetzt. Die Aktion gegen die geplante Exmittierung sah meist so aus, daß schnell einige Leute aus der Nachbarschaft herbeigeholt wurden, um den Gerichtsvollzieher zu vertreiben, was auch in den meisten Fällen gelang. In der Regel konnte allerdings nur ein Aufschub der Exmittierung um 8-14 Tage erreicht werden.10 ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Neben den Erwerbslosenausschüssen der RGO existierte in Hamburg noch ein „unabhängiger" Erwerbslosenausschuß der Angestellten, der sich von der RGO abgrenzte, aber z.T. ähnliche Forderungen zur konkreten Verbesserung der Arbeitslosenlage aufstellte. In einer Resolution erklärte er sich z.B. bereit, jeden Kollegen vor einer Exmittierung zu schützen. (Resolution, v. 24. Sept. 1931, Versammlung der erwerbslosen Angestellten im Coventgarten) Im „Arbeitslosen" werden außerdem eine ganze Reihe konkreter Mißstände beschrieben und angeprangert: Schikanen auf den Stempelstellen, ungerechte Behandlung bei der Bemessung von Zuschüssen, Vergabe offener Stellen an Bevorzugte, die Existenz schwarzer Listen für kommunistische Arbeiter.11 Als Kampfformen werden meist Resolutionen und bei besonders gravierenden Fällen Demonstrationen angeboten. Die Lage der Erwerbslosenausschüsse war insofern besonders schwierig, als sie von der Behörde nicht als Gesprächspartner anerkannt wurden. Deutlich wird die offizielle Haltung in einem Antwortbrief der Hamburger Arbeitsbehörde auf eine Anfrage der Gesellschaft „Pro Honore, Großhamburgischer Ausschuß zur Bekämpfung der Schwindelfirmen e.V.", der ein Bittschreiben des Erwerbslosen-Ausschusses Wasserkante um materielle Unterstützung und Nahrungsmittellieferungen zugesandt worden war. Pro Honore wollte nun wissen, „ob der genannte Erwerbslosenausschuß Wasserkante ein unterstützungswürdiges Unternehmen ist." (Brief vom 5.2.1930) Die Antwort der Behörde vom 6.2.1930 lautete: „Der in Ihrem Schreiben erwähnte Erwerbslosenausschuß Wasserkante steht in enger Beziehung zu der Kommunistischen Partei. Neben ihm besteht noch ein sogenannter unparteiischer Erwerbslosenausschuß, der insbesondere zu Angestelltenkreisen seine Beziehungen pflegt. Beide Erwerbslosenvertretungen müssen abgelehnt werden, denn die Arbeitslosen werden in ihren Interessen durch diejenigen Arbeitnehmervereinigungen (Gewerkschaften) vertreten, denen sie ihrem Fache nach zugehören. Gerade von Seiten dieser Vereinigungen wird mit berechtigtem Nachdruck der Standpunkt vertreten, daß alle Arbeitsloseninteressen nur in ihrer Hand liegen. Die genannten Ausschüsse sind daher abzulehnen. Auch die behördlichen Instanzen wie das Arbeitsamt, das Landesarbeitsamt, der Senat oder die Arbeitsbehörde lehnen jede Verhandlungen mit diesen Ausschüssen ab."
Der Verhandlungs- und Petitionsweg war der RGO also von vornherein verwehrt. Die bornierte Haltung der Behörde, die nur die Politik des ADGB akzeptierte, trug sicher nicht unwesentlich zum Zorn auf die Arbeitslosenpolitik des ADGB bei. Dieser konzentrierte sich allein auf den Verhandlungsweg und versuchte vergeblich, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für HamARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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bürg durchzusetzen (vgl. These 3). Daneben baute er das Unterstützungsprogramm für seine Mitglieder aus, was in den Jahresberichten als besonderer Erfolg gewertet wird. So stiegen die Gesamtausgaben des ADGB für Erwerbslosenunterstützung, Krankenbeihilfe, Invalidität von 4 503 700 RM (1929) auf 5 260 306 RM (1930). (Hamburger Echo vom 28.5.1931) Die RGO konnte aufgrund der geringen Mitgliederzahl nicht mit solcher materiellen Hilfeleistung konkurrieren, sie war in der Regel nocht nicht einmal in der Lage, Streikunterstützung zu zahlen. Darüberhinaus hielt sie die Art des ADGB, die Not der Erwerbslosen zu lindern, für Verrat an einer aktiven Interessenvertretung: „Gerade das Unterstützungswesen, wie es durch die sozialfaschistische Bürokratie in den freien Gewerkschaften aus durchsichtigen Gründen eingeführt wurde, erleichtert jetzt der Brüning-Regierung den Abbau der Sozialunterstützung. Zeigt schon diese Tatsache, daß das Sozialunterstützungsunwesen der Gewerkschaften eine Hilfe für das Unternehmnertum und seine Regierung darstellt, so wird dieser Verrat noch deutlicher, wenn die Arbeiter in der Praxis sehen, daß diese Unterstützungen zur Korrumpierung der Gewerkschaftsmitglieder benutzt werden, um sie für die sozialfaschistische Verratspolitik gefügig zu machen." (HVZ v. 30.5.1931)
Hintergrund dieser scharfen Auseinandersetzung war der Alleinvertretungsanspruch auf beiden Seiten, nur die jeweils eigene Organisation könne die Interessen der Arbeitslosen wirksam vertreten, wobei der ADGB aufgrund der Behördenunterstützung im Vorteil war, ohne deshalb aber etwas zu erreichen. Das Konzept des RGO bot hingegen auch keine reale Alternative: die Mißstände wurden zwar entlarvt, es fehlten jedoch Kampfformen auf mittlerer Ebene, d.h. zwischen Protestresolutionen und Demonstrationen angesiedelt, die man vielleicht Formen der Selbstorganisation nennen könnte. Daß die RGO - mit Ausnahme der Exmittierungsaktionen - hier wenig Phantasie entwickelte, scheint mir kein Zufall zu sein, sondern hängt mit ihrem Konzept der politischen Bewußtseinsentwicklung zusammen. Im politischen Bewußtsein gibt es bei der RGO nur zwei Stadien: das Stadium vor und nach dem Eintritt in eine revolutionäre Organisation. Im ersten Stadium ist der Erwerbslose ein zu Agitierender, im zweiten Stadium ein revolutionäres Subjekt, wobei sich seine gesellschaftliche Praxis jedoch nicht wesentlich verändert hat. In der Agitation wurde deshalb der Schwerpunkt auf die E-nlarvung der Mißstände gelegt. Hatte man die „Abscheulichkeit" des Kapitalismus genügend erfaßt, so erfolgte - im Konzept der RGO - irgendwann der Umschlag in die revolutionäre Aktion, die man daran erkannte, daß sie a) möglichst massenhaft und b) unter Führung der revolutioARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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nären Partei stattfand. Die Führung durch die KPD garantierte bereits die revolutionäre Stoßrichtung der oft nur auf konkrete Tagesfragen bezogenen Kämpfe, da sie in sich die Vermittlung zur gesamtgesellschaftlichen Perspektive herstellte. Eine ähnliche Vernachlässigung der Bewußtseinsebene, die Ausdruck der in These 1 dargestellten Theorie ist, zeigte die KPD auch in der Beurteilung der Unorganisierten. Während sie früher Organisationserfahrungen relativ hoch einschätzte, änderte die KPD nach den Ruhrkämpfen, bei denen sich z.T. nicht organisierte Arbeiter beteiligt hatten, ihre Einschätzung. Im Zuge der Durchsetzung der Sozialfaschismustheorie erschien ihr gerade die mangelnde Organisationserfahrung als Vorteil, weil diese Arbeiter noch nicht von der Gewerkschaftsführung korrumpiert worden waren. Sie übersah dabei, wie auch in der Anlage ihrer Arbeitslosenpolitik, daß spontane Empörung, die sich z.B. in Protestmärschen äußert, nicht mit politisch bewußtem Handeln gleichzusetzen ist. Die Vermittlung zwischen beiden versuchte die RGO nicht durch Organisation alternativer Handlungsmöglichkeiten, sondern durch abstrakte Propaganda für das revolutionäre Ziel zu füllen.
These 3: Der Entwurf einer gesamtgesellschaftlichen Alternative orientierte sich allein an der Betroffenheit durch die Krise. Da die Forderungen gezielt auf ihre Undurchführbarkeit im kapitalistischen System hin formuliert waren, trugen sie vor allem propagandistischen Charakter. Sucht man im „Arbeitslosen" nach Artikeln zur Krisenanalyse, entdeckt man wenige Ausführungen, die in ihrer Argumentation relativ gleich sind und im wesentlichen die Krisenphänomene aufzählen. Beispielhaft sei der Einleitungsartikel für das Jahr 1931 zitiert: „In allen Bereichen Einschränkungen der Produktion, Entlassungen von Arbeitern. Mit weniger Arbeitskräften werden gleichbleibende Produktionsziffern erreicht. Für die Produkte ist nur ein geringer Absatz vorhanden. Die Verelendung der Massen erreicht, daß der Absatz immer kleiner wird. Die Folge ist, Preissturz auf allen Gebieten, während gleichzeitig die Lebenslage der Werktätigen immer teurer wird, und so zu einer weiteren Verelendung großer Schichten des Proletariats führt." (Der Arbeitslose, 1 .-Jan.-Ausgabe)
Mit dem ADGB teilte die RGO die These, daß die fehlende Massenkaufkraft zur Verschärfung der Krise beitrug. Als Gegenstrategie propagierte die RGO die bereits ausführlich dargestellte Konzeption der offensiven Streiks. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wollte sie zwei Mittel einsetzen: die Stärkung der Kaufkraft auch für die Arbeitslosen und die aktive Bekämpfung ihrer Verelendung. ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Für den Bezirkskongreß der RGO im Juni 1931 wurden folgende Forderungen aufgestellt: 1. Einführung einer obligatorischen Arbeitslosenversicherung auf Kosten der Unternehmer und des kapitalistischen Staates 2. Auszahlung der Unterstützung in der vollen Höhe des Lohnes für alle Erwerbslosen während der ganzen Dauer der Erwerbslosigkeit 3. Kurzarbeiterunterstützung bis zur vollen Höhe des Lohnes 4. Siebenstundentag und 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich 5. Kampf gegen Zwangsarbeit und Arbeitsdienstpflicht (Der Arbeitslose, 3.-Mai-Ausgabe)
Während sich diese Forderungen nur an der Not der Erwerbslosen orientierten, veröffentlichte der „Arbeitslose" in der 1 .-Juni-Ausgabe ein umfassendes Arbeitsbeschaffungsprogramm der RGO. Dieses sah vor: I. -
Ausnutzung aller vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten durch Herabsetzung der Altersgrenze auf 60 Jahre Wiederherstellung der alten Löhne (siehe Forderungen 1-5) Untersagung aller Anträge auf Stillegung von Betrieben, Rationalisierung und Entlassungen II. Schaffung neuer Arbeitsmöglichkeiten durch die - Erweiterung des Wohnungsbauprogramms - Erneuerung der Reichsbahn - Instandsetzung der Straßen - Kanalisierung von Flüssen - den Ausbau von Krankenhäusern und anderen sozialen Einrichtungen III. Finanzierung der Arbeitsbeshaffung durch Streichung - der Osthilfe (2 Mrd. RM) - der Militärausgaben (755 Mill. RM) - der Ausgaben für militarisierte Polizei (190 Mill.RM im Reich, 700 Mill.RM in den Ländern) - aller Kirchenzuschüsse - Kürzung der Gehälter und Pensionen der höheren Beamten (350 Mill.)
Während in Abschnitt II Vorschläge formuliert wurden, die so auch hätten vom ADGB stammen können, vertrat die RGO in der Lohnund Unterstützungsfrage eine maximalistische Position, die unter den Bedingungen der Krise völlig unrealistisch war und sich von dem Grundsatz leiten ließ: „Die revolutionäre Gewerkschaftspolitik ist frei von Rücksichten auf die Erhaltung und Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft." (David, S. 249) Daß in Abschnitt III konkrete Finanzierungsvorschläge gemacht werden, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die einzige Kraft, die solche Forderungen unterstützte, die KPD war. Dies deutlich zu machen, war wohl auch die Absicht der Programme: sie waren einerseits für notleidende Arbeitslose einsichtig, andererseits stießen sie wegen ihrer politischen ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Nicht-Durchsetzbarkeit tendenziell an die Grenzen des Systems. Dies entsprach genau dem theoretischen Konzept, wie Tagesfragen mit Systemfragen zu verbinden seien, nämlich in erster Linie propagandistisch: „Wir, Kommunisten und Mitglieder der RGO, sind der Meinung/daß der Kapitalismus in einem Zustand angelangt ist, wo er unfähig geworden ist, Brot und Arbeit zu schaffen. Daher muß er den arbeitenden Menschen auch die Freiheit nehmen und mit Gewaltmaßnahmen gegen die Hungernden auftreten... Unser Kampf um Brot und Arbeit ist nicht der Kampf um nur ein Stück Brot mehr, sondern er gilt der Beseitigung des kapitalistischen Systems." (4.August- Ausgabe)
Die Krisenanalyse wird hier allein auf die Verelendungstheorie beschränkt, die direkte Erkämpfung der politischen Macht durch die KPD scheint der einzige Ausweg aus der Krise, Zwischenetappen werden nicht angegeben. Die Frage einer notwendigen Stabilisierung der Wirtschaft, die sich auch bei einem politischen Machtwechsel gestellt hätte, war für die KPD kein Diskussionspunkt, sie wollte in erster Linie die kapitalistische Wirtschaft zerschlagen. Die positiven Vorstellungen bezog sie nicht aus der Analyse der eigenen Situation, sondern aus der Propaganda für den Aufschwung der Wirtschaft in der Sowjetunion. These 4: Die KPD verzichtete darauf, in der Arbeitsbeschaffungsfrage Bündnisse zu schließen und vergab sich damit gesellschaftliche Einflußmöglichkeiten. Durch eine widersprüchliche Haltung zum Nationalsozialismus machte sich die KPD z.T. unglaubwürdig.
In Hamburg gab es ab 1931 eine Reihe von Gruppen und Organisationen, die mit der prozyklischen Politik des Senates nicht mehr einverstanden waren und eine aktive Konjunkturpolitik forderten. So gab es z.B. zahlreiche Resolutionen und Eingaben der besonders betroffenen Bauwirtschaft, die öffentliche Aufträge durchsetzen wollte. Als die Reichsregierung 1932 ein Arbeitsbeschaffungsprogramm vorlegte, war die Hamburger Industrie sehr unzufrieden, weil ihre spezifischen Probleme überhaupt nicht berücksichtigt wurden. Im April 1932 führte der ADGB einen Krisenkongreß durch, in der ein Arbeitsbeschaffungsprogramm diskutiert wurde. In den Wirtschaftsdebatten dieser Zeit war die Arbeitsbeschaffungsfrage ein Punkt, an dem sich, betrachtet man nur die inhaltliche Seite, ein breites gesellschaftliches Bündnis hätte zusammenfinden können. Diese Vorstellung erweist sich dann als illusorisch, wenn man die politischen AusARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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einandersetzungen in dieser Frage betrachtet. Dies soll an der Reaktion der KPD auf den ADGB-Krisenkongreß gezeigt werden. Der Kongreß forderte die unverzügliche Inangriffnahme öffentlicher Arbeiten, die Vergabe von Aufträgen an private und öffentliche Träger, „die wirtschaftlich nützlich sind und von deren Kostenaufwand ein möglichst großerTeil auf die Löhne entfällt, in erster Linie kommen hierbei in Betracht Straßenerhaltung und Straßenbau, landwirtschaftliche Meliorationen und Siedlungen, Hochwasserschutz, Kleinwohungsbau und Unterhaltung des vorhandenen Wohnraums, Aufträge der Reichsbahn und der Reichspost." (Hamburger Echo vom 14.4.1932)
Im Kommentar der HVZ vom 14.4.1932 werden eigene übereinstimmende Forderungen mit keinem Wort gewürdigt. Die vorgeschlagenen Maßnahmen böten „keineswegs Arbeitsmöglichkeit für die breiten proletarischen Massen". Die KPD rückte allein das Trennende in den Mittelpunkt und dies betraf vor allem die Finanzierungsfrage. Der ADGB hatte vorgeschlagen, verschiedene Steuermittel vorübergehend zur Arbeitsbeschaffung zu verwenden, zusätzlich zu den gesparten Untersützungsleistungen für Arbeitslose. Im Notfall sollte dann noch eine Arbeitsbeschaffungsanleihe durchgeführt werden. Dieser Vorschlag wird von der KPD scharf kritisiert: Mit der „volkstümlichen Arbeitsbeschaffungsanleihe" wolle man dem „werktätigen Volk die angeblich aufgespeicherten Gelder aus den Sparstrümpfen ziehen, was geradezu ein Hohn auf die Not der werktätigen Massen ist." So berechtigt diese Kritik gegen erneute Volkssteuer gewesen sein mag, so war die Absicht dabei, das gesamte ADGB-Programm als „Schwindel" zu entlarven. Ein Vorschlag, daß einige Banken die Vorfinanzierung für das Arbeitsbeschaffungsprogramm übernehmen könnten, sei angeblich schon vor dem Kongreß mit Zustimmung des ADGB vom Reichswirtschaftsrat abgelehnt worden. „Es ist frecher politischer Betrug, wenn die ADGB-Bürokratie trotzdem dieses Heilmittel, das Kernstück ihres ganzen Arbeitsbeschaffungsprogramms vorschlägt. Die ganze Resolution des Krisenkongresses kann dahingehend zusammengefaßt werden, daß man den breiten Massen verlogene Versprechungen macht, daß aber keine Arbeitsmöglichkeit geschaffen wird, und daß die Schuld daran zu guter Letzt dem notleidenden werktätigen Volk selbst zugeschrieben werden soll" (HVZ v. 14.4.1932)
Der (kritisierbare) Versuch des ADGB, realistische Finanzierungsmöglichkeiten zu entwerfen, erschien der KPD bereits als Verrat. Sie übersah dabei, daß es durchaus Berührungspunkte bei den Programmen gab, da z.B. beide die Stärkung der Kaufkraft und die Vergabe öffentlicher Aufträge beinhalteten. Die abstrakte Propaganda ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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für den revolutionären Weg der Arbeitsbeschaffung diente weitgehend der eigenen Selbstbestätigung, weniger aber dem Versuch, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wirklich durchzusetzen. „Wir sagen den Arbeitermassen, daß der kapitalistischen Ausbeuterklasse gegenüber nur durch den schärfsten Kampf etwas erreicht werden kann. In den Arbeitsbeschaffungsforderungen der KPD ... wird die Streichung der Ausgaben für Reichswehr und Polizei, Streichung der Millionenentschädigungen und Abfindungen der Fürsten, Einstellung der Tributzahlungen, Erhebung einer Millionärsteuer gefordert." (ebd.)
Die Bekämpfung der „sozialfäschistischen" Gewerkschaftsbürokratie stand für die KPD so im Vordergrund, daß ein Bündnis auch in dieser Frage unmöglich schien. Hingegen verhielt sie sich gegenüber der NSDAP widersprüchlich: einereits nahm sie für sich in Anspruch, die einzige antifaschistische Kraft zu sein (Der Arbeitslose, 4.-Jan.-Ausgabe), andererseits wird im Bericht der KPD-Bezirksleitung zugegeben, daß die Kommunistische Fraktion in der Bürgerschaft „es nicht immer verstand, sich für die sozialdemokratischen Arbeiter sichtbar von den Nazis abzugrenzen" (Bericht, S. 23) In der Arbeitslosenpolitik finden sich diese Widersprüche ebenfalls: z.B. wird in der 3.-Dez.-Nr. des „Arbeitslosen" von einem Terroranschlag der Nazis auf die Stempelstelle 18 berichtet, bei dem eine „Nazi-Horde" mehrere Plakate abriß. Der Artikel schließt mit dem Aufruf: „Setzt euch gegen den faschistischen Terror zur Wehr! Tretet den Stempelstellenstaffeln bei!" Bereits seit Mitte 1931 tritt der Aufruf zur verstärkten Militarisierung immer mehr in den Vordergrund der Kampfaufrufe. Auf der anderen Seite berichtete der, .Arbeitslose" voller Stolz von der Teilnahme nationalsozialistischer Arbeiter an RGO-Kongressen. Beim „Kampfkongreß der Stempelstellenproletarier Wasserkante" am 24. Oktober 1931 waren 324 Delegierte anwesend, davon 151 parteilos, 107 KPD-Mitglieder, 45 SPD-, 7 NSDAP- Mitglieder und 4 Vertreter der Strasser-Gruppe. Die Einheitsfront zwischen „sozialdemokratischen und nationalsozialistischen sowie kommunistischen Arbeitern im Kampf um Arbeit und Brot" wird im Bericht über den Kongreß besonders hervorgehoben. Als positives Beispiel für eine revolutionäre Einheitsfront werden die Ansichten des NSDAP-Mitgliedes Gläses breit zitiert: er kämpfe gegen den Kapitalismus, lehne die Arbeitsdienstpflicht ab, sei als revolutionärer Nationalsozialist für das Bündnis mit Rußland und schicksalsverbunden mit der Arbeiterschaft im marxistischen Lager. Den heutigen Kurs der NSDAP und die Harzburger Front lehne er ab, da er nicht mehr den Anschauungen der Arbeiter entspreche. (Der Arbeitslose, 2.-Dez.-Ausg.) ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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Die RGO hoffte zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch, Teile der NSDAP für ihre Ziele gewinnen zu können. Daneben befürchtete sie, daß die Arbeitslosen für NS-Propaganda empfänglich waren, und versuchte, dem durch eine „flexible" Gegenpropaganda entgegenzuwirken. Diese trug aber eher dazu bei, die RGO in Mißkredit zu bringen, als daß sie vom Nationalsozialismus beeinflusste Arbeitslose auf den revolutionären Weg brachte, (vgl. Wieszt, S. 565 ff) These 5: Das Scheitern der RGO-Strategie war im wesentlichen die Folge eines ökonomistischen Politikverständnisses. Reflexionen über offensichtliche Mißerfolge fanden in der RGO jedoch nur in Form von Organisationsdebatten statt. Die Lösung wurde in einer verbesserten und ausgedehnteren Organisation gesehen, nicht in einer Korrektur der Politik. Während in den meisten Nummern des „Arbeitslosen" - zumindest 1931 - keinerlei Reflexionen über Kampfformen, Kräfteverhältnisse und Erfolgsaussichten der Kämpfe angestellt werden und in der Regel nur von Erfolgen berichtet wird, findet im August 1931 im Gefolge einer RGI-Tagung in Prag eine Diskussion über Organisationsfragen statt. Die Kritik, die dabei geübt wjrd, überrascht im Vergleich zur sonstigen Aufmachung der Zeitung. „Die Hauptschwäche der Erwerbslosenbewegung hat ihre Ursache in dem Nichtvorhandensein eines unteren Kampfapparates, der eine systematische Kleinarbeit unter den Erwerbslosen entfaltet und die Erwerbslosenausschüsse fest mit den Massen der Erwerbslosen verbindet. Die bestehenden Erwerbslosenausschüsse sind deshalb zum größten Teil Spitzenorganisatjonen, die mit den Massen nur einen mehr oder weniger zufälligen Kontakt haben. Es ist darum auch gar nicht verwunderlich, wenn sich die Tätigkeit solcher Erwerbslosenausschüsse, denen ja die Transmissionen nach unten fehlen, in der Organisierung von Versammlungen, Demonstrationen und in der Erteilung von Rechtsauskunft erschöpft. Die Lehren aus der Vergangenheit beweisen mit aller Deutlichkeit, daß die...Erwerbslosenausschüsse ohne ein ganzes System von Hilfsorganen gar nicht in der Lage sind, die Masse der Erwerbslosen zu mobilisieren, aktiv in den Kämpf um die Verbesserung ihrer eigenen Lage und die Tageskämpfe des revolutionären Proletariats einzubeziehen " (4.-Aug.-Ausgabe)
Die Ursachen für die hier offengelegte Misere der Erwerbslosenbewegung wird im folgenden vor allem in technischen und organisatorischen Schwierigkeiten gesehen: - die Arbeitsnachweise seien dezentralisiert worden, um das Zusammenballen größerer Massen zu verhindern, - das Stempeln selbst geschehe für verschiedenen Gruppen der Erwerbslosen zu verschiedenen Zeiten, wodurch immer nur eine ARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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kleine Gruppe anwesend sei, - es fehle an Räumen für Versammlungen, - die Polizei konzentriere sich an einzelnen Stempelstellen. Durch alle diese Faktoren werde die Arbeit unter den Erwerbslosen sehr erschwert, da sie sich nur ein-bis dreimal in der Woche für einige Minuten in der Stempelstelle aufhielten und daher für Agitation und Propaganda nur selten anzutreffen seien. Die hochtrabende Bezeichnung „Stempelstellenproletarier" wird angesichts dieser Ausführungen zumindest fragwürdig. In der Klage über mangelnde Konzentration der Erwerbslosen steckt ein Widerspruch, weil sie unter dem Gesichtspunkt der Entzerrung bei der Abfertigung für den Arbeitslosen eher ein Vorteil war (wofür sich die RGO also eigentlich einsetzen müßte), und nur unter dem Gesichtspunkt der Agitation nachteilig wirkte. Das dahinter stehende Problem, die tatsächliche Vereinzelung der Arbeitslosen durch die Herauslösung aus den Betriebszusammenhängen, das auch nicht durch das massenhafte Herumstehen auf den Stempelstellen gelöst werden konnte, wird auf diese Weise nur sehr indirekt angesprochen. Die RGI-Tagung in Prag gab in Auswertung der genannten Schwierigkeiten für Deutschland folgende Orientierung aus: zur Festigung der Einheitsfront sollten eine Trennung der Erwerbslosenausschüsse von der RGO erfolgen, selbständige'Leitungen gebildet und die sporadische Arbeit beseitigt werden, der Kampf zur Behebung der Tagesnöte, die Vertretung der kleinsten Tagesinteressen sollte ab sofort stattfinden. Als Konsequenz aus den Organisationsproblemen sollten Basis für die zukünftige Arbeit nicht mehr die Stempelstellen, sondern die Wohnbezirke sein, in denen - ähnlich der Organisation in den Betrieben - Vertrauensleute für die einzelnen Straßenzüge gewählt werden sollten. (Der Arbeitslose, 1 .-Sept.Ausgabe) Ob diese Reformen tatsächlich wirksam wurden und irgendwelche positiven Auswirkungen hatten, kann ich aufgrund des vorliegenden Materials nicht beurteilen. In dem Bericht der KPD-Bezirksleitung wird lediglich erwähnt, daß nach der formellen Trennung der RGO von der Erwerbslosenbewegung letztere fast vollständig zum Erliegen kam, d.h. sich in der Regel nur auf die Kassierung beschränkte. (Bericht, S. 28) Im Widerspruch dazu steht der im „Arbeitslosen" suggerierte Aufschwung der Bewegung gegen Ende des Jahres 1931. So stellte der „Arbeitslose" in der 1 .-Nov.-Ausgabe folgendes Aktionsprogramm des Erwerbslosenausschusses Wasserkante vor: 25.0kt. - 10.Nov. Die Delegierten für den Reichskongreß ergreifen die Initiative und führen eine Berichterstattungskampagne in mindestens 300 ErwerbslosenversammlunARGUMENT-SONDERBAND AS 74
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gen durch und schreiben Briefe an Betriebsräte; Wahl der Delegierten und der Erwerbslosenausschüsse 10.Nov. Abrechnung der Sammellisten zur Finanzierung der Delegierten des Reichskongresses 15. Nov Reichskongreß der RGO 16. - 25.Nov. Berichterstattung in mindestens 700 Versammlungen, Demonstrationen 26.Nov. - 10.Dez. Hungermärsche 11. - 14.Dez. Mobilisierungstage für den Weltkampftag 15.Dez. Weltkampftag der Arbeitslosen, Demonstrationen 16. - 23.Dez. Versammlungen, Kundgebungen, Hungerdemonstrationen 24.Dez. Hungerdemonstrationen unter den Parolen „Nieder mit der Hungerregierung! Wir wollen Arbeit und Brot!"
Selbst in einem Stadium einer entwickelten Bewegung erscheint dieses Programm bereits als Überforderung. Angesichts der zwei Monate voher konstatierten Misere ist